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German Pages 452 [456] Year 2008
Johannes Rößler Poetik der Kunstgeschichte. Anton Springer, Carl Justi und die ästhetische Konzeption der deutschen Kunstwissenschaft
Johannes Rößler
Poetik der Kunstgeschichte Anton Springer, Carl Justi und die ästhetische Konzeption der deutschen Kunstwissenschaft
Akademie Verlag
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Coverabbildung: Karton der Schule von Athen (Mailänder Karton), Druck nach einer Photographie um 1883, Abbildung aus: Anton Springer: „Raffael's ,Schule von Athen'", in: Die graphischen Künste 5 (1883), S. 76 f.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-05-004451-4 © Akademie Verlag G m b H , Berlin 2009 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach D I N / I S O 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Werksatz Schmidt & Schulz G m b H , Gräfenhainichen Einbandgestaltung: Rüdiger Kern, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Vorwort
Vorliegende Studie wurde im November 2006 an der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation verteidigt. Für konstruktive Kritik, zahlreiche Anregungen und die stets verläßliche Unterstützung seit den Anfängen des Projekts bin ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Ernst Osterkamp sehr dankbar. Ebenso danken möchte ich Prof. Dr. Horst Bredekamp für die wertvolle Diskussion und für die Übernahme des Zweitgutachtens. Denkanstöße unterschiedlichster Art gaben Prof. Dr. Peter Betthausen (Berlin), Prof. Dr. Heinrich Dilly (Halle), Prof. Dr. Reiner Haussherr (Berlin), Prof. Dr. Werner Heiland-Justi (Osnabrück), Prof. Dr. Henrik Karge (Dresden), Prof. Dr. Thuri Lorenz (Graz) und Prof. Dr. Gerhard Schuster (München). Danken möchte ich Katja Schöppe-Karstensen (Berlin) für einen Hinweis, mit dem die Dissertation eine wichtige Wendung nahm. Zahlreiche Hilfestellungen leisteten die Mitarbeiter des Archivs der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Handschriftenabteilung der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn und des Zentralarchivs der Staatlichen Museen Berlin. Die Friedrich-Naumann-Stiftung hat das Projekt großzügig mit einem dreijährigen Promotionsstipendium aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert. Mit Diskussion und Hinweisen unterstützt haben mich meine Freunde Florian Borchmeyer, Georg Holzer, Philipp Müller und Jörg Trempler. Stephan Pabst und Martin Dönike waren in der Phase der Fertigstellung eine unersätzliche Hilfe. Andrea Fortmann stand mir mit Geduld und klugem Rat in allen Lebenslagen zur Seite. Mein besonderer Dank gilt meiner Tante Gertraud Hofmann, die diese Arbeit mit größter Geduld begleitet hat. Ihr und meinen Eltern Peter und Elisabeth Rößler, die das Gelingen des Projekts in jeder Hinsicht unterstützten, ist dieses Buch gewidmet. Berlin, im Juli 2008
Inhaltsverzeichnis
Vorwort I. Einleitung II. Realistischer Klassizismus. M e t h o d i k u n d Darstellung bei A n t o n Springer 1. Zwischen Wissenschaft, Politik und Ästhetik: Anton Springer im Kontext 1.1. Zur Forschungssituation und Fragestellung 1.2. Zur Vorgehensweise und Textauswahl 2. Realistische Kriterien der Kunstbetrachtung 2.1. Von der Revolutionsästhetik zum Realismus 1845-1858 2.2. Empirische Kunstwissenschaft und dialektische Konzeption I: Raffael und Michelangelo als Exponenten der Stilsynthese 2.3. Empirische Kunstwissenschaft und dialektische Konzeption II: Zum Verhältnis von Fotografie und Produktionsästhetik
V 1
13
13 19 22 26 26 32 39
3. Idealrealistische Wissenschaft: Die Stanza della Segnatura und die Neubegründung der Ikonographie . . . 3.1. Nachwirkungen der Allegoriekritik: Springers Auseinandersetzung mit den Deutungen Passavants und J. W. J. Brauns 3.2. Realismus und Ikonographie 3.3. Kunstgeschichte nach Texten: Beschreibungs-und Darstellungskonzeptionen 1867, 1878 und 1883 . . a) Die rhetorische Konzeption 1867 b) Die narrative Konzeption 1878 c) Die hermeneutische Konzeption 1883 3.4. Zusammenfassung und Ausblick
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4. Die Reformierung der Kunstgeschichtsschreibung: Anton Springer und das poetologische Denken nach 1848 4.1. Liberale Historiographie und programmatischer Realismus
94 98
51
52 58
Vili
Inhaltsverzeichnis 4.2. „Aus unseren gemeinsamen Gesinnungen heraus geschrieben": Das kulturgeschichtliche „Bild" als Strukturmodell bei Gustav Freytag und Otto Jahn 4.3. Profil einer darstellerischen „Scheidemünze": Springers Bilder aus der neueren Kunstgeschichte (1867) 4.4. Arbeit und Tendenz bei Freytag, Jahn und Springer 5. Anton Springer, der Historiograph: Ästhetische Darstellung im Hauptwerk Raffael und Michelangelo (1878) . . 5.1. Versöhnter Gegensatz. Die Renaissancekonzeption in der Parallelbiographie 5.2. Springer und die realistische Darstellungsreflexion bis 1878 5.3. Evidenz des Lebens. Zur Biographie-Diskussion im Grenzboten-Kreis 5.4. Springer versus Grimm: Dramatische und symbolische Erzählkonfiguration a) Die dramatische Erzählkonfiguration in der Parallelbiographie . . . b) Die symbolische Erzählkonfiguration im Leben Michelangelo's von Herman Grimm c) Conclusio 5.5. Erzählte Kulturgeschichte: Soll und Haben als formales Modell
III. Der „Dolmetsch der Kunst": Carl Justis Diego Velazquez und sein Jahrhundert
(1888)
1. Jenseits von Hegel. Anmerkungen zum intellektuellen Profil Carl Justis 1.1. Zur Forschungssituation und Fragestellung 1.2. Vorüberlegungen auf Grundlage neuer Quellen 1.3. Zur Entstehungsgeschichte des Velazquez im Kontext der kunsthistorischen Spanien-Aufsätze 2. Individualitätsgedanke und Kunstgeschichte. Kontinuität und Wandel in Justis methodischer Auffassung 2.1. Invertierte Theologie. Der anthropologische Entwurf in Winckelmann und seine Zeitgenossen 2.2. Vom „Dolmetsch der Kunst". Die Glosse Kunstgeschichte der Zukunft (1881) im Kontext des Morelli-Streits 2.3. Exkurs: Überwindung des Konflikts zwischen Wissenschaft und Leben. Herman Grimms Rede Goethe im Dienste unserer Zeit (1886) 2.4. Gebrochene Spiegelung im Klassizismus: Goethes Winkelmann und sein Jahrhundert (1805) und Justis Velazquez 2.5. Justis Fiktionen. Der Brief des Velazquez und der Dialog über die Malerei a) Der Brief des Velazquez
103 112 117 125 130 135 142 146 148 157 166 169
183 183 185 189 195 201 201
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Inhaltsverzeichnis
IX
b) Der Dialog über die Malerei c) Conclusio 3. Piatonismus und Geschichtspessimismus 3.1. Dezentrierte Totalität 3.2. Das Siglo de O r o als Wille und Vorstellung 3.3. Die Identität des Künstlers 3.4. Beschreibung des Nunc Stans: Las Meninas als ästhetisches Konzept
243 254
. .
4. Von der Anschauung zur Darstellung. Prinzipien der Bildbeschreibung 4.1. Hermeneutik und Essayistik. Paradigmatische und syntagmatische Strukturierung der Ekphrasis . . . 4.2. Bild und Geschichte 4.3. Der „fluorescirende Stil" 4.4. Rhetorik, Intertextualität und Ästhetik. Justis Beschreibung der Schmiede Vulkans 4.5. Reiten und Bilder beschreiben. Justi interpretiert Velázquez und Pietro Tacca a) Hippologie und Ästhetik b) Empirie und rhetorisches Darstellungsverfahren 5. Ironischer Historismus
255 263 269 275 277 286 289 299 304 309 317 320 323 328
IV. Schlußbetrachtung Vor den „Grundbegriffen": Kunstgeschichte als hermeneutische Disziplin
339
Anhang
347
Dokumente A. Anton Springer an Alfred von Reumont, Leipzig 14.10.1875 B. Carl Justi: Chronik der Velázquez-und Spanienforschung (nach 1891) C. Carl Justi: „Uber die Schopenhauer'sche Philosophie" (1860)
347 347 348 351
. . .
Verzeichnis unpublizierter Quellen
369
Siglen und Abkürzungen
370
Literaturverzeichnis A. Quellen
371 371
B. Forschungsliteratur
381
Abbildungen Abbildungsverzeichnis
407
Register
411
I. Einleitung
Die deutschsprachige Kunstwissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird oft als Phase der Institutionalisierung und des Positivismus, aber auch als Ausdruck einer Geschichtskultur umschrieben, deren Grundlage tief in der Romantik wurzelt. In der Uberlagerung von idealistischer Tradition und technischem Fortschrittsdenken erkennt man eine erhöhte Professionalität und den differenzierten Umgang mit dem kunstgeschichtlichen Gegenstand, zugleich jedoch eine Ära des Ubergangs, in der der Anteil an systematischen Grundfragen von geringer Ausprägung ist.1 Mit Ausnahme von Jacob Burckhardt und Giovanni Morelli sind daher die methodologischen Hintergründe dieser Epoche selten in umfassender Form behandelt worden. 2 Vorbehalte gegen den Historismus und die bildungsbürgerliche Kultur der Gründerzeit haben zudem ein Bild petrifiziert, das zwischen dem Vorwurf des historischen Relativismus und dem der ästhetischen Indifferenz changiert. 3 Die Generation der zwischen 1820 und 1840 geborenen Universitäts-Kunsthistoriker gilt als dezidiert theoriearm und ablehnend gegenüber der Geschichtsphilosophie; nach überwiegender Forschungsmeinung ist sie darum bemüht, das junge Fach von der philosophischen Ästhetik zu trennen und als historische Wissenschaft zu etablieren. 4 Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, erscheinen gründerzeitliche Wissenskonzepte oft von heterogenen Einflüssen und Aporien bestimmt. Angesichts der Tatsache, daß sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Kunstgeschichte zu einer geisteswissenschaftlichen Leitdisziplin entwickelte, kann man daher in Anlehnung an Thomas S. Kuhn von einem sich ankündigenden Paradigmawechsel sprechen.
1 Vgl. Willibald Sauerländer: „Alois Riegl und die Entstehung der autonomen Kunstgeschichte am Fin de Siècle", in: Bauer et al. (Hg.): Fin de Siècle, S. 125-139. 2 Das spiegelt sich auch in Sammelbänden zu bedeutenden Kunsthistorikern wider: So ist der älteste Kunsthistoriker, den der von Dilly herausgegebene Sammelband Altmeister moderner Kunstgeschichte behandelt, der Museumsmann Wilhelm von Bode (1845-1929). Kaum Hinweise auf die frühe deutsche universitäre Kunstgeschichtsschreibung finden sich in dem neuen Band von Pfisterer (Hg.): Klassiker der Kunstgeschichte I. Von Winckelmann his Warburg, der zwar den Anspruch auf eine wissenschaftsgeschichtliche Kanonrevision erhebt, aber für die Zeit zwischen 1850 und 1890 mit der Behandlung Burckhardts und Morellis den Kanon „klassischer" kunsthistorischer Autoren weiter verengt. 3 Vgl. z . B . Schlink: „,Kunst ist dazu da, um in geselligen Kreisen das gähnende Ungeheuer, die Zeit, zu töten' ". 4 Kauffmann: Die Entstehung
der Kunstgeschichte
im 19. Jahrhundert,
S. 30 f.
2
I.
Einleitung
Während sich viele Studien auf die Epochenschwellen u m 1800 bzw. 1900 konzentrieren und daraus oft Erklärungsmuster für das gesamte 19. Jahrhundert ableiten, 5 wurde die Kunstgeschichtsschreibung der universitären Institutionalisierungsphase bisher selten einer ausführlichen Analyse unterzogen. 6 So fällt auf, daß gerade derjenige Zeitraum, in dem sich deutsche Kunsthistoriker als besonders prädestiniert für eine anspruchsvolle Darstellung verstanden, 7 in der Literatur über kunsthistorische Darstellungsformen allenfalls nach Teilaspekten analysiert wurde. 8 Aus linguistischer Perspektive liegt nur die Studie von Marcus Müller ( 2 0 0 7 ) vor, die zwanzig Uberblickswerke zur deutschen Kunstgeschichte von Ernst Förster ( 1 8 5 1 ) bis Robert Suckale ( 1 9 9 8 ) einer vergleichend-diachronen Analyse unterzieht. 9 Ein ähnlicher Befund ergibt sich für den Zusammenhang zwischen Kunstliteratur, Kunstphilosophie und Kunsthistorik: Zwar hat bereits 1984 Stephan Nachtsheim dieses Themenfeld in einem Überblick zu systematisieren versucht und Hubert L o c h e r in seiner grundlegenden und materialreichen Studie viele Texte erschlossen, 10 doch tendieren auch diese Arbeiten dazu, ihren Gegenstand vor allem außerhalb der universitären Kunstgeschichte zu suchen oder sich auf programmatische Stellungnahmen zu beschränken. 1 1 Welchen methodischen Konzepten sind aber ein A n t o n Springer, ein Moriz Thausing, ein Alfred Woltmann
5 Zur Kritik an ausschnitthaften Betrachtungen oder zäsurbetonten Erklärungsmustern der kunsthistorischen Wissenschaftsgeschichte vgl. Bredekamp: „Monumentale Theologie: Kunstgeschichte als Geistesgeschichte", S. 30; Bickendorf: Die Historisierung der italienischen Kunstbetrachtung, S. 11 f; Karge: „Zwischen Naturwissenschaft und Kulturgeschichte", S. 39; Locher: Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst 1750-1950, S. 28 f, 45. 6 Zum institutionsgeschichtlichen Zusammenhang vgl. Heinrich Dillys klassische Studie Kunstgeschichte als Institution, die auch methodologische, kunsttheoretische und politische Hintergründe streift. 7 „Doch eins ist allerdings daneben noch sehr wesentlich: die Kunst des Darstellers. In den Vertretern der Kunstwissenschaft ist zu nicht geringem Theile der Grund für den erfreulichen Umstand zu suchen, daß die neue Disciplin sich der einfach schönen Form mit Erfolg zu bedienen gelernt hat. [...] Jedenfalls muß und darf die allgemeine Verbreitung der Kunst schöner Darstellung im Kreise der Kunstwissenschaft als ein Vorzug der letzteren in Anspruch genommen werden." Bruno Meyer: „Das Aschenbrödel unter den modernen Wissenschaften", in: Deutsche Warte 2 (1872), S. 641-661, S. 643 und 644. 8 Carrier: Principles of Art History Writing·, Kemal/Gaskell (Hg.): The language of art history, Zerner: Ecrire l'histoire de l'art·, ferner Preziosi: Rethinking Art History und Beiträge im Art Bulletin 78 (1996). 9 Müller: Geschichte, Kunst, Nation. Diese systematische Arbeit behandelt aus dem hier betreffenden Zeitraum das fünfbändige Gemeinschaftswerk Geschichte der deutschen Kunst (Bode, Dohme, v. Falke, Janitschek, v. Lützow), Hermann Knackfuß' Deutsche Kunstgeschichte (1888) und Wilhelm Lübkes Geschichte der deutschen Kunst (1890). Fragestellung und Textauswahl betonen die nationale Komponente in der deutschen Kunstgeschichtsschreibung. 10 Nachtsheim: Kunstphilosophie und empirische Kunstforschung 1870-1920; Locher: Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst. 11 Siehe Locher: Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst, S. 45-55. Eine systematische inhaltliche Auswertung dieser zahlreichen programmatischen Schriften sowie ihre Differenzierung nach Anlässen und den darin verfolgten (instituts)politischen Interessen kann im folgenden nicht Thema sein.
I.
Einleitung
3
verpflichtet? Handelt es sich tatsächlich um ein homogenes Positivismus-Paradigma, das Thausing bei seiner Wiener Antrittsvorlesung (1873) mit dem Satz umschreiben wollte: „Ich kann mir die beste Kunstgeschichte denken, in der das Wort ,schön' gar nicht vorkommt" ? 1 2 Wie sind die Verflechtungen mit anderen Disziplinen aufzufassen, den Naturwissenschaften, der Philologie und Geschichtswissenschaft, aber auch der Ästhetik? Von welcher Ästhetik ist hier überhaupt zu sprechen? Inwieweit divergieren solche Epistemologien mit der Kunstgeschichtsschreibung von Herman Grimm oder Carl Justi? Welchen Einfluß nehmen Faktoren der Mentalität, der Konfession oder der politischen Uberzeugung auf das Reden über Kunst? Welche Bedeutung kommt dem Verhältnis zwischen kunsthistorischer Praxis, Kunsttheorie und methodischer Prämisse zu? Schließlich: Wie verhält sich dieser Strukturkomplex zu den Strategien der Versprachlichung von Forschungsergebnissen und der kunstwissenschaftlichen Publikationspraxis, die einer Öffentlichkeit gegenübersteht, in der neben einem emanzipatorischen Bildungsimperativ ein dezidiert nationalstaatliches Bewußtsein vorherrscht? Naturgemäß erhebt die vorliegende Arbeit nicht den Anspruch, diese Fragen vollständig zu beantworten, möchte dazu aber mit der exemplarischen Behandlung von zwei der bekanntesten Kunsthistoriker einen Beitrag leisten. Ausgangspunkt ist die Annahme, daß sich die problemgeschichtliche Signatur der kunstwissenschaftlichen Epoche von etwa 1850 bis 1890 nur selten über explizite Aussagen der betreffenden Autoren erschließen läßt, sondern viel eher über die spezifische Semantik und die formale Struktur ihrer Historiographie faßbar wird. Das, was die Schriften der Kunsthistoriker, und vor allem ihre narrativen und deskriptiven Texte zur Kunst, aussagen, steht in Zusammenhang mit einer Methodenreflexion, die - wird sie nun explizit formuliert oder nicht - hermeneutische Grundfragen berührt und die geschmacks- und ideengeschichtliche Dimension des kunsthistorischen Denkens verrät. Die vorliegende Studie versucht deshalb eine Epistemologie zu beschreiben, in der weltanschauliche Argumentationsmuster eng mit Fragen der Kunstbetrachtung und ihrer Systematisierung verknüpft sind und sich auf die Organisationsstruktur des kunsthistorischen Sachtexts auswirken. In Ergänzung - nicht als Ersatz - zu bildwissenschaftlichen Herangehensweisen 13 soll die vorwiegend literaturwissenschaftliche Analyse Referenzen und Zusammenhänge offenlegen, die zwischen theoretischer Prämisse, methodischer Anwendung und sprachlicher Form bestehen. Im Zentrum der Analyse stehen Anton Springer (1825-1891) und Carl Justi (1832-1912), die als Inhaber der ersten fest etablierten Universitätslehrstühle für Kunstgeschichte von hoher institutionsgeschichtlicher Bedeutung sind. 14 Ihre Hauptwerke Raffael und Michelangelo (1878) bzw. Diego Velazquez und sein Jahrhundert (1888) repräsentieren zwei ver-
12 Thausing: „Die Stellung der Kunstgeschichte als Wissenschaft", in: Ders.: Wiener Kunstbriefe, S. 1-20, S. 5. 13 Nur in Ausnahmefällen werden hier mediengeschichtliche Aspekte wie die Fotografie als Arbeitsmittel oder veränderte Bedingungen des Buchdrucks gestreift. Vgl. Krause et al. (Hg.): Bilderlust und Lesefrüchte. Mediengeschichtliche Ansätze bei Karlholm: The Representation of Art History in Nineteenth-Century; Bruhn: „Abbildungen der Kunstgeschichte". 14 Zu den frühen Lehrstuhlgründungen vgl. Beyrodt: „Kunstgeschichte als Universitätsfach", in: Ganz et al. (Hg.): Kunst und Kunsttheorie 1400-1900, S. 313-333.
4
I. Einleitung
schiedene Konzepte der Kunstgeschichtsschreibung und haben als Standardwerke die Entwicklung des Fachs maßgeblich beeinflußt. Im Unterschied zu dem schon damals äußerst umstrittenen Berliner Lehrstuhlinhaber Herman Grimm (1828-1901), der an der Einheit von Literatur- und Kunstgeschichtsschreibung festhält, stehen Springer und Justi für eine thematisch fest umgrenzte, aber von äußeren Faktoren nicht unbeeinflusste Disziplin und reagieren methodologisch wie darstellungsstrategisch auf den seit der Jahrhundertmitte einsetzenden Empirisierungsschub in den Wissenschaften, dessen Resultat u. a. die Reaktivierung künstlerbiographischer Darstellungsformen ist. Beiden Autoren ist gemeinsam, daß sie durch das Studium fachfremder Disziplinen wie der Philosophie (Springer) und der Theologie/Philosophie (Justi) bzw. durch die zeitgenössische Theoriebildung in der Ästhetik und Geschichtswissenschaft geprägt wurden. Anders als bei Burckhardt, der früh durch Franz Kugler eine fachkundige Anleitung erhielt, präpariert sich Justis und Springers kunsthistorische Auffassung überwiegend in einem autodidaktischen Aneignungsprozeß heraus, in dem zumindest teilweise ein Transfer ,kunstfremder' Denkmuster auf ihre Methodik erfolgt. Systemphilosophische Rudimente bleiben dabei als unterschwelliges methodologisches Substrat vorhanden und nehmen - dies hat man bisher übersehen - eine integrative Aufgabe in der Kunstgeschichtsschreibung Springers und Justis ein. Die Gegenüberstellung beider Autoren soll zu einer genaueren Einschätzung hinsichtlich ihrer Historiographie führen, als sie bisher geleistet wurde. Spätestens seit Wilhelm Waetzoldts Standardwerk Deutsche
Kunsthistoriker
(1921/1924) gelten die Biographien
Carl Justis als das Paradigma einer Kunstgeschichtsschreibung, in der eine sprachlich dichte Erfassung von Kunstwerken, hohe kulturgeschichtliche Sachkenntnis und Vertrautheit mit der Weltliteratur zu einer literarisch ansprechenden Darstellung verschmolzen werden. Berühmt sind die Einflechtungen von fiktionalen Passagen in der Ve/dzgwez-Monographie. Zusammen mit Historikern wie Ranke, Gregorovius und Mommsen nimmt Justi einen festen Platz in der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts ein. 15 Springer hingegen scheint auf den ersten Blick in Kontrast zu Justi zu stehen, da seine Leistungen primär auf dem Gebiet der universitären Lehre und der Ausformulierung einer kunsthistorischen Methodik beruhen. Karin Hellwigs 2005 erschienene Studie über die Entstehung wissenschaftlicher Künstlerbiographik schließt an Waetzoldts Trennung von „Positivisten" (Springer) und „grossen Biographen" (Justi) 1 6 nahtlos an, wenn ihre knappen Ausführungen zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts holzschnittartig zwischen einer „wissenschaftlichen" und einer „literarischen" Kunstgeschichtsschreibung unterscheiden, für die Springer und Justi paradigmatisch stehen sollen. 17 Die Neuauflagen der Biographien Justis sowie die Tatsache, daß von Springer nach 1900 nur noch das Handbuch
zur Kunstgeschichte
in überarbeiteten Fassungen
erschien, geben dieser These vordergründig Recht. D o c h sollte nicht übersehen werden, daß die durch Waetzoldt vermittelte Einteilung einem Verständnis von Literatur diametral entgegensteht, wie es um die Mitte des 19. Jahrhunderts gepflegt wurde. Wenn Waetzoldt Springers „unkünstlerische N a t u r " damit begründet, „daß er sich gegen Lyrik stets spröde 15 Vgl. Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1900, S. 685-687. 16 Vgl. die Zuordnung Springers und Justis bei Waetzoldt: Deutsche Kunsthistoriker 239-276. 17 Hellwig: Von der Vita zur Künstlerbiographie, S. 165, 168-172.
II, S. 106-129;
I.
Einleitung
5
verhalten habe", 1 8 dann macht sich darin eine durch den Symbolismus und Expressionismus hindurchgegangene literaturhistorische Verschiebung bemerkbar, die das Lyrische zum Literarischen schlechthin erhebt und poetologische Traditionen, die Dichtung in ein mimetisches Verhältnis zur Wirklichkeit setzen, tendenziell vernachlässigt - eine Grundprämisse, die, wie noch zu zeigen sein wird, Anton Springers eigenem historiographischen Verständnis nicht gerecht wird. Während sich Hellwigs Studie vor allem auf die Künstlerbiographik zwischen 1728 und 1840 konzentriert, versucht eine andere neuere Uberblicksdarstellung die Sichtweisen der Fachgeschichte zu revidieren. Wie schon der Titel Die Geburt der Kunstgeschichte vermuten läßt, stellt das Buch von Regine Prange (2004) die Kunstgeschichtsschreibung bis zu Alois Riegl und Max Dvorák unter die Kuratel eines äußerst weit gefaßten RomantikBegriffs. 19 Prange kritisiert zu Recht wissenschaftshistorische Sichtweisen, die zwischen philosophischer Ästhetik und Empirie polarisieren; 20 jedoch führt hier die Vernachlässigung der Ideen- und Asthetikgeschichte nach 1830 unbemerkt zu einer Verwissenschaftlichungsthese ex negativo, bei der die weitere Entwicklung des ästhetischen Denkens aus dem Blickfeld gerät. Ganz abgesehen davon, daß hierdurch eine Identitätssetzung von Romantik und Moderne impliziert wird, muß sich der methodisch innovative Kern romantischen Denkens fast zwangsläufig in ein reaktionäres Konzept verkehren, was zu einer Charakterisierung der gründerzeitlichen Biographik mit unterschwellig ideologiekritischem Gestus führt: Die ,,opulente[n] Monographien" Justis, Grimms und Springers werden einseitig zum Ausdruck einer „Ideologie des .großen' Menschen" und der ,,suggestive[n] Mythisierung des Künstlertums". 21 Die monokausale Herleitung der Kunstwissenschaft aus einem „Romantik-Paradigma" bedingt, 22 daß die Eigendynamik und das innovative Potential späterer Theoriebildung unterschätzt werden.
Präzisierung der Fragestellung Nicht in Gegensatz zu einzelnen Wertungen, aber in Distanz zu einer vereinfachenden Kontinuitätsthese und zu einer unnötigen Polarisierung zwischen Wissenschaft und ästhetischer Darstellung möchte die vorliegende Studie die Kunstgeschichtsschreibung Carl Justis und Anton Springers aus ihrem jeweiligen ideengeschichtlichen Standort heraus bestimmen. Es gilt dabei, einen Hinweis Heinrich Dillys aufzunehmen, der mit kritischem Seitenblick auf Waetzoldts Zweiteilung in eine ästhetische und eine historische Epoche der Kunst18 Waetzoldt: Deutsche Kunsthistoriker II, S. 119. 19 Als „romantisch" attribuiert Prange u.a. Burckhardt (der „Romantiker der Renaissance", Die Geburt der Kunstgeschichte, S. 152), Springer (S. 149), Riegl (S. 195). Prange spricht eingangs von einer „überraschend einheitlichefn] Gestalt der Kunstgeschichte", die im 19. Jahrhundert als „Kontinuität" sichtbar werde (S. 9). Zur geringen Stichhaltigkeit einer solchen Kontinuitätsthese für das 19. Jahrhundert vgl. Bohrer: Kritik der Romantik, passim. 20 Es ist zu bedauern, daß Stephan Nachtsheims grundlegende Studie zu diesem Thema bei Prange keine Erwähnung findet. 21 Prange: Die Geburt der Kunstgeschichte, S. 162, 163 und 166. 22 Freilich nicht so petrifiziert, verfolgt diese Sichtweise bereits Bickendorf: Der Beginn der Kunstgeschichtsschreibung unter dem Paradigma,Geschichte'.
6
I.
Einleitung
Wissenschaft danach gefragt hat, „ob nicht in der Zeit zwischen 1830 und 1860 der ästhetische Historismus sich gegen eine historische Ästhetik durchgesetzt hat." 2 3 Bei dieser Frage setzt die vorliegende Studie an: Die Schnittstelle zwischen Historisierung und Ästhetik, 2 4 so ist hier zu ergänzen, findet ihren O r t in den Darstellungskonzeptionen der Kunsthistoriker, die besonders nach 1860 den bewußten Anschluß an die Geschichtsschreibung und die Literatur suchen. Meine erste Hauptthese lautet daher, daß Springers Historiographie in weit stärkerem Ausmaß als bisher angenommen in einer Beziehung zur zeitgenössischen Literatur steht und ein stimmiges Konzept verfolgt, das zwischen empirischer Wissenschaft, systematischer Ästhetik und politischem Bewußtsein vermittelt. Die exponierte Behandlung von Springer als Historiograph legitimiert sich somit vor allem durch ein wissenschaftsgeschichtliches Interesse, nach welchem die Sicht auf einen der Gründerväter universitärer Kunstgeschichte m. E. einer Korrektur bedarf: Springers publizistische Ästhetisierungsstrategien sind ein zentraler Bestandteil seines Methodenentwurfs und konditionieren nicht zuletzt seinen außerordentlichen Erfolg als Kunsthistoriker. Die Hauptthese in bezug auf Carl Justi lautet, daß sich sein kunstschriftstellerisches Verständnis aus einer Vernunft- und wissenschaftsskeptischen Auffassung heraus entwickelt, die im Unterschied zu Springer zu einer autonomen Form von Kunstgeschichtsschreibung führt. Die an der Velazquez-Monographie beobachtbare Pluralisierung von Textformen (Dialog, Brief, Essay) und die rhetorische Konzeption der Bildbeschreibung sind Ausdruck eines verdichteten Verständnisses von Historiographie, das sich in scharfer Abgrenzung zu normativ reglementierten Klassifizierungs- und Ordnungsmethoden konturiert. Zwei Analysefelder sind zu unterscheiden: Erstens sollen die philosophie- und ästhetikgeschichtlichen Hintergründe Justis und Springers möglichst textnah an ihren Schriften erschlossen und in Beziehung zu ihrem Verständnis als Kunsthistoriker gesetzt werden. Wichtig ist hierbei die verstärkte Rücksicht auf die Wechselbeziehung zwischen ästhetischer Tradition, bewußter Reaktivierung und der Neuformulierung durch zeitgemäßere Konzepte, die - vor dem wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund einer zunehmenden Empirisierung und Sachforschung - zu neuen Systematisierungsleistungen von kunsthistorischem Wissen führen. Das daraus resultierende theoriegeleitete Verstehen hat Einfluß auf die kunsthistorische Praxis und trägt zu einem differenzierten Umgang mit der bildenden Kunst bei, wie er zuvor nicht in dieser Weise möglich war. Zweitens wird das Ziel verfolgt, vor dem Theoriehorizont des jeweiligen Autors dessen formalhistoriographisches Konzept zu rekonstruieren. In Anschluß an die Arbeiten Jörn Rüsens und Daniel Fuldas zur Geschichtsschreibung im 19.Jahrhundert werden hier die Vertextungsstrategien als zentrale methodische Operation der (kunst)historischen Sinnbildung verstanden. 25 Dabei können die zu beschreibenden Argumentations- und Systematisierungstechniken, Darstellungsstrategien und Inter23 Dilly: Kunstgeschichte als Institution, S. 85. Das Zitat bezieht sich auf Schlaffer: Studien zum ästhetischen Historismus. 24 Zu dieser Problemstellung vgl. den kritischen Forschungsbericht bei Bickendorf: Die Historisierung der italienischen Kunstbetrachtung, S. 9-32. 25 Von „Logik historischer Sinnbildung" spricht Rüsen in bezug auf narrative Texte, die „zweifellos" in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts vorherrschen: Konfigurationen des Historismus, S. 114 f. Zur Modifikation dieser These in Hinblick auf eine Darstellungsästhetik in der Geschichtsschreibung vgl. Fulda: Wissenschaft aus Kunst, passim.
I. Einleitung
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pretationsmuster in vielfacher Beziehung zu anderen Disziplinen stehen: zur Geschichtsschreibung, zur Literatur oder zur Rhetorik. Der Titel Poetik der Kunstgeschichte soll deshalb verdeutlichen, daß kunsthistorische Sachtexte zwischen 1860 und 1890 Regularien unterliegen können, die nicht allein aus dem dort behandelten Objektbereich der bildenden Kunst und dem damit verbundenen Forschungsauftrag ableitbar sind. Das konzeptionelle Verständnis kunsthistorischen Denkens findet sich zu einem hohen Grad in der ästhetisierten Form der Kunstliteratur wieder. Auch wenn sich viele der folgenden Abschnitte auf Künstlerbiographien konzentrieren, versteht sich die vorliegende Untersuchung ausdrücklich nicht als Beitrag zur Geschichte einer Gattung. In bezug auf Springer, der die Biographie erst spät als Darstellungsform genutzt hat, ist sogar eine Ausweitung des zu untersuchenden Textcorpus notwendig, um den methodischen und historiographischen Stellenwert seines Hauptwerks Raffael und Michelangelo zu erfassen. Das Interesse an Springers Parallelbiographie und an Justis Diego Velazquez und sein Jahrhundert resultiert vor allem aus der Einsicht, daß sich dort die Merkmale späthistoristischer Kunstgeschichtsschreibung bündeln und darstellerische Konzeptionen besonders ausgeprägt sind. Ein wichtiger narratologischer Ansatz ergibt sich dabei aus der klassischen strukturalistischen Opposition von Erzählen und Beschreiben: 2 6 Beide Elemente weisen eine hohe Affinität zu den Aufgabenbereichen der Kunstgeschichtsschreibung auf, indem einerseits das Erzählen als diegetisches Sprachmuster den diachronen Wandel in Form der Stilgeschichte oder individuellen Künstlerentwicklung nachvollzieht, 27 andererseits das Beschreiben zur Bestandsaufnahme der Einzelobjekte vordringt und mit Grundfragen der Werkinterpretation verknüpft ist. 28 Typisch für viele Erzähltexte des 19. Jahrhunderts ist, 29 daß in ihnen der beschreibenden Dimension in Form von mimeti26 Aus Sicht strukturalistischer Erzähltheorie vgl. Genette: „Frontiérs du Récrit". Erzählen bedeutet die diegetische (d. h. entwickelnde) und handlungsbezogene Textebene, welche die Einzelstationen zu einem Gesamt-Syntagma verbindet; Beschreiben das mimetische Element, das auf paradigmatischer Textebene operiert und zur detaillierten Wirklichkeitserfassung dient. Genettes Begriffsbildung, die sich vor allem auf französische Erzähltexte des 19. Jahrhunderts bezieht, wird hier etwas vereinfacht auf kunsthistorische Textsorten angewandt. Zur Verwendung dieser Kategorien in der Kunstgeschichte vgl. Alpers: „Describe or narrate? A problem in realistic representation". 27 Vgl. Jauß: „Geschichte der Kunst und Historie". 28 Zur Bildbeschreibung als kunsthistorische Aufgabenstellung vgl. Baxandall: Ursachen der Bilder, Dessoir: „Anschauung und Beschreibung"; Heffernan: „Speaking for pictures: the rhetoric of art criticism"; Margolis: „Describing and Interpreting Works of Art"; Mitchell: Picture Theory, allgemein historisch vorgehend: Boehm/Pfotenhauer (Hg.): Beschreibungskunst Kunstbeschreibung·, Wagner (Hg.): Icons - Texts - Iconotexts; zur Bildbeschreibung in der Dichtung des ^.Jahrhunderts: Greif: Die Malerei kann ein sehr beredtes Schweigen haben-, zur Entwicklung der wissenschaftlichen Bildbeschreibung zwischen 1850-1900 die knappen Ausführungen von R. Rosenberg: „Von der Ekphrasis zur wissenschaftlichen Bildbeschreibung"; Timm: „Kunstbeschreibung und Illustration in Deutschland im 19. Jahrhundert". Abzugrenzen ist der hier verwendete Beschreibungsbegriff von dem zeitgleichen Verständnis von Beschreibung in den anderen Wissenschaften, vgl. Fellmann: „Wissenschaft als Beschreibung". 29 Zur Kritik an der Beschreibung als konservatives Element in der realistischen Literatur vgl. Lukács: „Erzählen oder Beschreiben?", in: Brinkmann (Hg.): Begriffsbestimmug des literarischen Realismus, S. 33-85.
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scher Detailanschaulichkeit eine Rehabilitierung widerfährt bzw. die seit Lessings Verdikt gegen die Beschreibungspoesie zwar nie ganz durchgehaltene, aber doch im poetologischen Bewußtsein vorherrschende Vorstellung von Erzähltexten als Darstellung sukzessiver Handlungen wieder aufgehoben wird. Hebbel hat diese Aufkündigung des ,Laokoon-Paradigmas' an Stifters Nachsommer erkannt, indem ihm dort das „Aeußerste der Richtung [...] nun endlich" erreicht zu sein schien und sich ihm die „Elemente dieser sogenannten Erzählung" in ideenlose Weitläufigkeit aufzulösen drohten.30 Das Beispiel Hebbels zeigt, daß die Aushöhlung narrativer Texte durch deskriptive Elemente nicht unumstritten war.31 In diesem Sinne verfolgen Justi und Springer in ihren Schreibweisen zwei diametral entgegengesetzte Intentionen: Während ersterer die Kunstbeschreibung als autarkes Medium ästhetischer Erkenntnis stärkt und damit den narrativen Gesamtnexus nahezu aufsprengt, erhält bei letzterem die Kunstbeschreibung einen neuen operativen Stellenwert innerhalb eines dynamischen Textganzen. Neuere Forschungen haben gezeigt, daß in der Künstlerbiographik bis 1840 ein Angleichungsprozeß von Leben und Werk vollzogen wird.32 Im nachfolgenden Zeitraum kommt die Entwicklung der deutschen Künstlerbiographik für zwei Jahrzehnte nahezu vollständig zum Erliegen, so daß offenbar kaum von gattungsgeschichtlicher Kontinuität gesprochen werden kann. Mit dem im Nachmärz einsetzenden Ruf nach mehr Spezialforschung und dem gleichzeitigen Wunsch nach kulturgeschichtlicher Kontextualisierung von Kunstwerken stehen die Kunsthistoriker vor einem neuen darstellerischen Integrationsproblem: Die beiden zwischen 1840 und 1850 vorherrschenden kunsthistorischen Texttypen, zum einen die zur Erschließung europäischer Sammlungen dienende periegetische Literatur,33 zum anderen das nach Epochensystemen und nach nationalen und lokalen Schulen differenzierende Handbuch,34 erweisen sich angesichts komplexerer Aufgabenstellungen als kaum tragfähig. Besonders an den Überblickswerken Schnaases und Hothos zeichnet sich eine formale und inhaltliche Problemstellung ab, die dann in den Arbeiten Springers und Justis zu der zentralen darstellerischen Aufgabe wird: die Frage nach dem Verhältnis zwischen künstlerischem Werk und kulturgeschichtlichem Kontext. Hothos detaillierte Aufschlüsselung nach Paragraphen und Schnaases Verfahren, den kulturgeschichtlichen Exkurs mit morphologischen Kunstentwicklungen zu parallelisieren, gehören in der Nachmärzperiode zu den vielfach kritisierten kunsthistoriographischen Formen, die von der jüngeren Generation als zu schematisch abgelehnt werden. Der radikalen Entledigung dieses Integrationsproblems, wie sie Burckhardt mit der vollständigen Ausscheidung der Kunstgeschichte aus der Cultur der Renaissance in Italien vollzog,35 vermögen Justi und Springer nicht zu folgen, sie wollen es auch gar nicht: Denn am Verhältnis von Werk und historischem Kontext 30 Hebbel: Rez. „Der Nachsommer" (1858), S. 185. 31 Hebbel wiederholt hier Hegels Vorwurf von der Gedankenlosigkeit der Beschreibung. Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 189. 32 Guercio: The Identity of the Artist·, Hellwig: Von der Vita zur Künstlerbiographie. 33 Z.B. Waagen: Kunstwerke und Künstler in England und Paris. 34 Vgl. Karge: „Zwischen Naturwissenschaft und Kulturgeschichte. Die Entfaltung des Systems der Epochenstile im 19. Jahrhundert". 35 Vgl. hierzu Nikolaus Meier: „Kunstgeschichte und Kulturgeschichte oder Kunstgeschichte nach Aufgaben", in: Ganz et al. (Hg.): Kunst und Kunsttheorie 1400-1900, S. 415-437, S. 418.
I.
Einleitung
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zeichnet sich nicht nur die grundlegende hermeneutische Fragestellung nach der Interpretation von Werken der bildenden Kunst ab, 36 sondern auch die Art und Weise, mit der dem zentralen geisteswissenschaftlichen Forschungsimperativ der Zeit, 37 nämlich der Erforschung des in seiner Kultur produktiven Individuums und der psycho-energetischen Struktur seines Schaffensprozesses, entsprochen wird. Wilhelm Dilthey hat diesen Zusammenhang im Vorwort zum Leben Schleiermachers (1870) präzise formuliert: ,,[D]ie Biographie eines Denkers oder Künstlers hat die große geschichtliche Frage zu lösen, wie ganz zerstreute Elemente der Kultur, welche durch allgemeine Zustände, gesellschaftliche und sittliche Voraussetzungen, Einwirkungen von Vorgängen und Zeitgenossen gegeben sind, in der Werkstatt des einzelnen Geistes verarbeitet und zu einem originalen Ganzen gebildet werden, das wiederum schöpferisch in das Leben der Gemeinschaft eingreift." 38 In der synergistischen Verschmelzung von Leben, Werk und Kontext (und nicht allein von Leben und Werk!) wird die Biographie zur zentralen Darstellungsform der Geisteswissenschaften, indem an ihr Fragestellungen wie die künstlerische Produktivität innerhalb des sozialen Zusammenhangs und der Verarbeitung der äußeren Lebenswelt im Kunstwerk konkretisiert werden können. Die Künstlerbiographie der Gründerzeit ist deshalb nicht, wie gängige Klischees nahelegen, als „monumental", „ausufernd", „literarisch", Ausdruck eines hysterischen „Geniekults" oder gar als ein zu vernachlässigender und monströs-überdimensionaler Endpunkt einer Gattungsentwicklung anzusehen, 39 sondern letztendlich als das adäquate Medium, in dem sich die tiefgreifende Methodenreflexion der universitären Gründergeneration abspielt und in dem sich das neue Selbstverständnis der Kunstgeschichte als Teil der Geisteswissenschaften manifestiert. Carl Justi und Anton Springer haben für die damit verknüpften Aufgabenstellungen unterschiedliche Lösungen gefunden. Die vorliegende Studie gliedert sich in zwei Hauptteile, in denen die epistemologisch-darstellungsästhetischen Programme Anton Springers und Carl Justis jeweils gesondert behandelt werden. Im ersten Teil widmen sich die Kapitel 2 und 3 der Genese von Springers 36 Daß hier anhand des Darstellungsaspekts auch ein methodologisches Problem der Kunstgeschichtsschreibung behandelt wird, soll sich von der im Rahmen des iconic turn geführten Diskussion unter den Historikern unterscheiden. Haskeil (Die Geschichte und ihre Bilder), Burke (Augenzeugenschaft) und Roeck (Das historische Auge) betonen unter Einbeziehung der Wissenschaftsgeschichte den historischen Quellenwert von Kunst, argumentieren aber fast .hegelianisch', wenn sie die Kunst auf ihren historischen Abbildcharakter reduzieren. M. E. wird hier aber gerade das zentrale und für die Kunstgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts nicht hintergehbare Problem verkannt, nach welchem es nicht um Kunstwerke als Erkenntnismedium der Geschichte, sondern umgekehrt um die Geschichte (im weitesten Sinne) als Erkenntnismedium für Kunstwerke geht. Unbenommen bleibt natürlich die Tatsache, daß im 19. Jahrhundert die Kunst einem allgemeinen Historisierungsdruck unterliegt. 37 Vgl. Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften, S. 33 (= GS I). 38 Dilthey: Leben Schleiermachers, Vorwort zur ersten Auflage, S. X X X I V (= GS XIII/1). 39 Vgl. die Ausführungen bei Hellwig: Von der Vita zur Künstlerbiographie, S. 162 f und die nicht näher belegte Behauptung ebd., S. 188: „Die Kunsthistoriker der zweiten Hälfte des ^.Jahrhunderts zweifelten verstärkt an der Wissenschaftlichkeit der Künstlerbiographie."
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I. Einleitung
kunsthistorischer Methodik aus der Ästhetik des Realismus: Unter Einbeziehung von Springers Publizistik seit 1845 wird gezeigt, daß zahlreiche Argumentationsmuster und operative Vorgänge seines kunsthistorischen Denkens auf Prämissen beruhen, die aus der posthegelianischen und realistischen Theoriebildung stammen. Diese methodischen Impulse sollen an Springers Systematisierungstechniken von Handzeichnungen und an seinem neuen Verfahren ikonographischer Werkanalyse verifiziert werden. Die Frage nach dem Stellenwert der Kunstbeschreibung ist anhand von drei Textfassungen der Springerschen Deutung von Raffaels Schule von Athen zu klären. Die Kapitel 4 und 5 sollen die darstellungsästhetische Konzeption der Schriften Springers konturieren und ihre Anschlußfähigkeit an zeitgenössische poetologische Modelle belegen: Anhand von Zeitschriftenbeiträgen und des Aufsatzbandes Bilder aus der neueren Kunstgeschichte (1867) zeichnet die Untersuchung nach, wie das Zusammenwirken von wissenschaftlicher Empirisierung und nationalliberalem Gesellschaftsentwurf zu einer Darstellungsstrategie führt, die politische Interessen eng mit der zu vermittelnden Kunstgeschichte verknüpft. Vor dem Hintergrund dieser politisierten Ästhetik ist auch die Parallelbiographie Raffael und Michelangelo in Kapitel 5 zu sehen: In Abgrenzung zu Herman Grimms Leben Michelangelo's (1860/63) werden die formale Ordnung, das Künstlerbild und das Kulturverständnis als historiographisches Gesamtkonzept gedeutet, das in hohen Maßen anschlußfähig an Muster der zeitgenössischen Dichtung ist. Im zweiten Teil steht Carl Justi im Zentrum: Anhand von seinem ersten Hauptwerk Winckelmann. Sein Lehen, seine Werke und seine Zeitgenossen (1866/72) soll zunächst (2.1.) eine erste ideengeschichtliche Einordnung von Justis anthropologischem Grundverständnis vorgenommen werden. In einem zweiten Teilschritt (2.2.) wird der Nachweis geführt, wie Justi in Reaktion auf die Kontroverse um Giovanni Morelli (1880) sein Darstellungsprogramm für die Velazquez-Monographie formuliert. Die gleichermaßen gegen spekulative, entwicklungsgeschichtliche und milieutheoretische Wissenschaftsmodelle gerichtete Polemik Justis hat in der Velazquez-Monographie eine pluralisierte Textstruktur zur Folge, die wie in Goethes Sammelband Winkelmann und sein Jahrhundert (1805) zu einem Verfahren der Perspektivenbrechung beiträgt (2.3. und 2.4.). In Abschnitt 2.5. ist ein besonderes Augenmerk auf die in die Velazquez-Monographie eingefügten Fiktionen, den Dialog über die Malerei und den .Brief' des Velazquez, zu richten: Die Gründe für diesen Verstoß gegen die wissenschaftliche Konvention sind in der Funktion beider Module in der historiographischen Gesamtordnung wie in dem wissenschaftsgeschichtlichen Entstehungskontext der Monographie zu suchen. In Kapitel 3 soll mit der Kunst- und Geschichtsphilosophie Arthur Schopenhauers der weltanschauliche Hintergrund von Justis Velazquez-Monographie erschlossen werden, der nicht nur eine entscheidende Rolle hinsichtlich des Genieverständnisses, der Sicht auf das Werk des Künstlers und der Wertung seines kulturellen Kontexts einnimmt, sondern auch für die konzeptionelle Frage nach der darstellerischen Verbindung von Werk und Kontext bedeutsam ist. An dem Gefälle zwischen platonischem Kunstbegriff und profaner Lebenswelt des Künstlers soll zudem gezeigt werden, daß Justi eine Struktur zu schaffen sucht, die antikausale und antithetische Verknüpfungen zwischen künstlerischem Werk und kulturgeschichtlichem Kontext herstellt. Das vierte Kapitel wendet sich den Bildbeschreibungen Justis zu: Bei dem Versuch der sprachlichen Nachschöpfung von Kunstwerken dringt Justi zu einer dichten rhetorischen Konzeption der Bild-
I. Einleitung
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beschreibung vor. Zusätzlich profiliert werden die Analysen durch die Erschließung eines bisher unbekannten Teilnachlasses von Carl Justi, der neue Einsichten in sein kunsthistorisches Werk gibt. Unter den drei Dokumenten im Anhang, die hier erstmals ediert vorliegen, ist die Transkription von Justis Habilitationsvortrag zu Arthur Schopenhauer aus dem Jahr 1860 hervorzuheben, der als frühes Zeugnis universitärer Schopenhauer-Rezeption vor allem von wissenschaftsgeschichtlicher Bedeutung ist.
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
1. Zwischen Wissenschaft, Politik und Ästhetik: Anton Springer im Kontext Mit Anton Springer wird gemeinhin die methodische Konsolidierung der Kunstwissenschaft und ihre universitäre Institutionalisierung im 19. Jahrhundert verbunden. Als einer der ersten Kunsthistoriker, der in der akademischen Lehre eine systematische Methodik vermittelte, ist sein Beitrag zur Etablierung und gesellschaftlichen Akzeptanzbildung des Fachs kaum zu überschätzen. Auch die Tatsache, daß er nacheinander die drei ersten kunsthistorischen Universitätslehrstühle besetzte,' macht die herausragende Stellung als Gründervater deutlich. Zu seinen Hörern in Bonn, Straßburg und Leipzig zählte fast die gesamte nachfolgende Kunsthistorikergeneration. Zu nennen sind bedeutende Namen wie Konrad (von) Lange, Julius Lessing, Alfred Lichtwark, Richard Muther, Woldemar von Seidlitz, 2 Adolph Goldschmidt, Gustav Pauli, Wilhelm Vöge, Paul Clemen, Max J. Friedländer, Friedrich Sarre, Paul Kristeller, Harry Graf Kessler, aber auch die beiden prägendsten Persönlichkeiten des späthistoristischen Denkens, Heinrich von Treitschke und Friedrich Nietzsche. Indem Springer für den Ausbau fotografischer Sammlungen eintrat, gehörte er zu den Protagonisten einer Empirisierung, die der neuen Universitätsdisziplin den Weg in die bildwissenschaftliche Eigenständigkeit ebnete. 3 Mit diesen organisatorischen und didaktischen Leistungen koinzidieren wegweisende methodische Ansätze: Neuere wissenschaftsgeschichtliche Arbeiten sind sich einig, daß Springer in erheblichen Maßen die Ikonogra-
1 Zur Problematik solcher Kategorisierungen vgl. Dilly: Kunstgeschichte als Institution, S. 174 f. 2 Neben den fünf Erstgenannten bekennen sich als weitere „dankbare Schüler" auf dem Deckblatt der Festschrift Gesammelte Studien zur Kunstgeschichte: Heinrich Brockhaus, der Schweizer Kunsthistoriker Rudolf Rahn, die Theologen Martin Rade und Johannes Ficker, die Archäologen Hugo Blümner, Theodor Schreiber, Otto Benndorf und Friedrich von Duhn; der Kunstverleger Alphons Dürr, der Typograph Heinrich Wallau, Jacob Burckhardts Neffe Jacob Oeri sowie Springers Sohn Jaro Springer. Hubert Janitschek kann nicht zu den Schülern im engeren Sinn gerechnet werden, hat sich aber zeitlebens als solcher bezeichnet. August Schmarsow studierte ein Semester in Straßburg bei Springer. 3 Siehe Bredekamp/Brons: „Fotografie als Medium der Wissenschaft", S. 368 ff; Ratzeburg: „Mediendiskussion im 19. Jahrhundert", S. 39 (Anm. 63).
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
phie Erwin Panofskys mit vorbereitet hat.4 Harry Graf Kessler sah in der Vermittlung formanalytischer Kriterien einen wichtigen Beitrag zur Moderne; selbst Aby Warburg notierte an den Rand eines Aufsatzes in den Bildern aus der neueren Kunstgeschichte „bravo".5 Ebenso kann die Kunsterzieherbewegung Alfred Lichtwarks in Zusammenhang mit Springers Bemühungen um eine popularisierte Wissenschaftsvermittlung gesehen werden.6 Eine konsolidierende Wirkung bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts entfaltete ferner das von Springer begründete Handbuch der Kunstgeschichte, welches, in zahlreichen Uberarbeitungen wiederaufgelegt, zu den wichtigsten kunsthistorischen Lehrbüchern zählte. Der Name Springer suggeriert aber auch: Theorieferne, Trockenheit, Positivismus. Etwas zugespitzt lassen sich drei Punkte formulieren, die das fachgeschichtliche Bild lange bestimmt haben: (a) Wissenschaft versus Politik: Nach dem Scheitern als Journalist in Prag ging Springer den Weg von der Revolution zur universitären Institutionalisierung. Naheliegend ist dabei die Annahme einer resignativen Abwendung von der Politik zur wertneutralen Wissenschaft: Aus revolutionärem Elan entsteht eine entpolitisierte Kunstgeschichte.7 (b) Wissenschaft versus Ästhetik: Springer wandte sich nach 1848 kompromißlos vom Hegelianismus ab und dem empirischen Positivismus zu. Als erster Inhaber eines kunsthistorischen Lehrstuhls (seit 1860) bemühte er sich um eine von der Ästhetik emanzipierte Kunstwissenschaft.8 Mit der Empirisierung der Kunstgeschichte ging auch ihr normierender Anspruch für die Gegenwart verloren.9 (c) Wissenschaft versus literarische Kunstgeschichtsschreibung: Springers kunstgeschichtlicher Positivismus stellt sich als eine an Fakten orientierte und auf eine Gesetzmäßigkeit von Entwicklungen ausgerichtete Methode dar, die ihr Vorbild vor allem aus den Naturwissenschaften bezieht. Ein derartiges .wissenschaftliches' Methodenparadigma steht konträr 4 Roeck: Das historische Auge, Gehurt
der Kunstgeschichte,
S. 28; Prange (Hg.): Kunstgeschichte
1750-1900,
S. 100 f; Dies.: Die
S. 1 4 9 - 1 5 2 ; Horová: „A. H . Springer a methodické problémy dëjin
umëni", S. 279 f. Schon die ältere Literatur hob die Bedeutung des Ikonographen Springer hervor: Vöge: Die Anfänge
des monumentalen
Stiles im Mittelalter,
Vorwort S. X X ; Künstle:
Ikonographie
der christlichen Kunst I, S. 8 ff. 5 Gombrich: Aby Warburg,
S. 70.
6 Fishman: „Alfred Lichtwark and the Founding of the German A r t Education Movement", S. 6 f. 7 Besonders klar formuliert bei Schacherl: „Anton Springer. Von den Parteikämpfen des Tages in die Geschichte der Kunst emigriert"; in der Tendenz auch Waetzoldt: Deutsche
Kunsthistoriker
II,
S. 107 ff; Podro: The Critical Historians of Art, S. 152 f. 8 Z . B . spricht Rothacker von „Hegeischen Eierschalen", von denen sich Springer noch in den späten 1850er Jahren befreien mußte: Einleitung Deutsche
Kunsthistoriker
der Ästhetik
in die Geisteswissenschaften,
S. 147; ähnlich Waetzoldt:
II, S. 113 f; Glockner: Die aesthetische Sphäre, S. 550 f; Pochat:
und Kunsttheorie,
der Kunstgeschichte im Deutschen Idealismus", in: Ganz et al. (Hg.): Kunst und 1400-1900,
Geschichte
S. 542; Wyss: „Der letzte Homer. Z u m philosophischen Ursprung Kunsttheorie
S. 2 3 1 - 2 5 5 , S. 2 4 7 f.
9 Peter Betthausen: Art. „Anton Springer", in: Ders./Feist/Fork (Hg.): Metzler Kunsthistoriker
Lexi-
kon, S. 393: Michelangelo und Raffael verstand Springer in seiner Parallelbiographie von 1878 „als ausschließlich historische Gestalten, irrelevant für die Kunst der Gegenwart."
1. Zwischen
Wissenschaft, Politik und Ästhetik: Anton Springer
im
Kontext
15
zu einer darstellerisch anspruchsvollen Kunstgeschichtsschreibung, wie sie etwa Herman G r i m m und Carl Justi vertreten. 1 0 Daß diese Deutungsmuster gelegentlich selbst in neueren Arbeiten wiederkehren, ist vor allem durch den verlorenen Nachlaß 1 1 und die unzureichende bibliographische Aufarbeitung des Gesamtwerks bedingt. 1 2 Fast als einzige Quelle dienen die im Todesjahr abgeschlossenen Lebenserinnerungen, die das prekäre Verhältnis von Politik und kunsthistorischer Tätigkeit umgehen, methodische Anregungen aus der nachhegelschen
Ästhetik
verschleiern und auch die konzeptionellen Hintergründe der Historiographie nur am Rande streifen. Aus meinem
Leben
ist vor allem eine politische Autobiographie mit apolo-
getischen Zügen: Es ist bezeichnend, daß der Verfasser auf sämtliche Vorwürfe, die in C o n stant von Wurzbachs hämischem wie gut recherchiertem Artikel vorgebracht werden (1878), detailliert eingeht, 1 3 zahlreiche andere, dort unerwähnte Aspekte und personelle Verbindungen aber unterdrückt. 1 4 D e m wütenden „Zerrbild meiner Person" entgegenzu10 Vgl. Hellwig: Von der Vita zur Künstlerbiographie, S. 168-172. 11 Wenige Splitter (Exzerpte, Manuskripte) und An-Briefe sind auf unterschiedliche Institutionen verstreut (ibs. U L B Bonn, Hss.-Abt., S 1310: Zwei Vortragsfragmente zu Cornelius und zwei Exzerpte aus Heinrich Meyers Rezension zu den Einsendungen von Cornelius anläßlich der Weimarer Preisaufgaben 1803 und 1804). Nach einem Hinweis von 1932 ist der Nachlaß „als Ganzes leider auseinandergerissen" und muß „nach den Mitteilungen seiner Angehörigen wohl als verschollen gelten" (Miisebeck: „Anton Springer als nationaler Politiker des deutschen Liberalismus", S. 1). In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts gelangte über den Antiquar Martin Breslauer ein Teilnachlaß mit Briefen Gustav Freytags und Heinrich von Treitschkes an das Reichsarchiv Potsdam; Briefe von ersterem in Auszügen zitiert bei: Zobeltitz: „Freytag und die .Grenzboten'"; von letzterem ein Brief (29. 5. 1866) publiziert in: H. Goldschmidt: „Treitschke, Bismarck und die .Deutsche Geschichte im 19.Jahrhundert'", S. 236 f. Anfragen bei den Nachfolgeinstitutionen des Reichsarchivs blieben ergebnislos, so daß nach heutigem Kenntnisstand mit Kriegsverlust gerechnet werden muß. Zwei Briefe Freytags an Springer, ihre Biographien zu Karl Mathy und Friedrich Christoph Dahlmann betreffend, befinden sich im Archiv der Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, Autogr. 115; Konvolute mittleren Umfangs des notorisch unzuverlässigen Briefschreibers Springer enthalten die Nachlässe von Heinrich Kruse (Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf), Gustav Freytag und Heinrich von Treitschke (beide Staatsbibiothek Berlin). Aufschlußreich ist ferner der zweibändige Antiquariatskatalog von 1892: Baer & Co: Bibliothek des f Herrn Dr. Anton Springer, Professors der Kunstgeschichte an der K. Universität Leipzig. 12 Auswahlbibliographie bei: Horová: „A. H. Springer a methodické problémy dëjin umëni", S. 288 f. Für die frühen kunstkritischen Arbeiten siehe Bucher et al. (Hg.): Realismus und Gründerzeit I, S. 344-349. Stilistische und inhaltliche Gründe der Nr. 15 sprechen allerdings gegen Springers Verfasserschaft (vgl. hierzu die Zuschreibung an Pecht bei Bringmann: Friedrich Pecht (1814-1903), Nr. 91, S. 267). Rezeptionsgeschichtlichen Aufschluß gibt die Aufstellung bei Wurzbach: Art. „Springer, Anton Heinrich", in: Ders.: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Bd. 36, Wien 1878, S. 268-273. 13 Ebd., S. 271: Springer wird dort des politischen Anpasslertums um der Universitätslaufbahn willen bezichtigt. 14 Schon Johann Weichinger wies 1953 darauf hin, daß die Autobiographie stark von einer „Verteidigungstendenz" geprägt sei und zahlreiche Ausblendungen und Beschönigungen enthalte (Anton Springer als Historiker und seine politische Haltung, S. 3, 21, 158 f). So verschweigt Springer ein
16
II. Realistischer Klassizismus. Methodik
und Darstellung hei Anton
Springer
treten (AmL, 265) und das in nationaltschechischen Kreisen kolportierte Diktum vom ,,böhmische[n] Judas" 15 abzuwehren, ist die primäre Motivation des Buchs, was übrigens seinem literarischen und historischen Wert keinen Abbruch tut.16 Die Problematik nur besteht darin, daß Springer seinen Lebenslauf teleologisch konzipiert und damit einer Immunisierungsstrategie unterwirft: Zu erzählen, „[w]ie ich ein Deutscher wurde" (AmL, 2; Hervorhebung im Original), impliziert einen nationalliberalen Werdegang, der sich in fast naturgesetzlicher Notwendigkeit vollzieht. Folgerichtig bricht der Text mit dem Ruf nach Leipzig (1873) ab, gilt ihm doch die „innere Entwicklung" (AmL, 304) vollendet. Mit der vollständigen Assimilierung des Deutschböhmen und Exilösterreichers, treu zu Preußen stehend, zum evangelischen Bekenntnis konvertiert und in der deutschen Wissenschaftslandschaft fest verankert, fällt der Vorhang. Die politische Dimension von Aus meinem Leben hat zu einem eigenwilligen Selbstentwurf geführt: Je mehr sich nämlich die Teleologie zu erfüllen scheint, desto mehr schwindet auch die Bereitschaft, über das kunsthistorische Œuvre zu berichten. Eines der Hauptwerke, die Parallelbiographie Raffael und Michelangelo (1878), fällt ohnehin aus dem Zeitrahmen und wird nur in Zusammenhang mit dem Wurzbach-Artikel gestreift (AmL, 265). Alles in allem läßt Springer fast dreißig Jahre reger wissenschaftlicher Tätigkeit unter den Tisch fallen. Die zunehmende Ausklammerung der Wissenschaft aus dem Politischen provozierte daher in der Weimarer Republik eine paradoxe Forschungslage, die in zwei grobe Stränge unterschieden werden kann: Eine deutschnationale bis nationalistische Rezeptionslinie innerhalb der Geschichtswissenschaft, die den kleindeutschen Publizisten Springer als Wegbereiter der Reichseinigung und „Bahnbrecher Bismarcks" feierte (Westphal, Müsebeck, v. Srbik). 17 Eine zweite, fachimmanente Rezeptionslinie, die Springer als kunsthistorischen Lehrer würdigte, den politischen Hintergrund kaum berücksichtigte oder nur die revolutionäre Frühzeit einbezog.18 Die wenigen differenzierten Hinweise Wilhelm Waetzoldts wurden dabei oft überlagert von den Berichten der Springer-Schüler: Jene befestigten das Bild von einem strengen Universitätslehrer, der die Ästhetik aus der Kunstgeschichte verbannte, eine an naturwissenschaftlichen Gesetzen orientierte Methodik vermittelte und jede Form der populären Darstellung à la Herman Grimm von sich wies. Solche Schilderungen, die einen der begabtesten Ausbilder in den Vordergrund rücken, den die Kunstwissenschaft je besaß, erlauben jedoch nicht unbedingt Rückschlüsse auf dessen schriftliches Zusammentreffen mit Arnold Ruge in London (1850) (ebd., S. 70). Offenbar war ihm der Kontakt zu Ruge, der zeitweilig radikaldemokratisch-sozialistische Positionen vertrat und deshalb nach 1848 zur Feindfigur der konstitutionell eingestellten Liberalen wurde, im nachhinein unangenehm. 15 Palacky's Politisches Vermächtnis. Autorisirte deutsche Uebersetzung. Prag 1872, S. 16. Frantisek Palacky (1798-1876), tschechischer Historiker und Politiker, siehe auch AmL, 129, 162 f, 167 f. 16 Digital greifbar über die von Oliver Simons besorgte CD-Rom Deutsche Autobiographien 16901930 (= Digitale Bibliothek 102). 17 Zitat bei Müsebeck: „Anton Springer als nationaler Politiker des deutschen Liberalismus", S. 60; Westphal: Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus, S. 81-87, 317 f; Srbik: Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart II, S. 103 f. 18 Neben Kesslers Erinnerungen vgl. Rahn: „Erinnerungen aus den ersten 22 Jahren meines Lebens", S. 83-88; Pauli: Erinnerungen aus sieben Jahrzehnten, S. 73-85; Goldschmidt: Lebenserinnerungen, S. 69 ff.
1. Zwischen
Wissenschaft,
Politik und Ästhetik:
Anton Springer im
Kontext
17
Werk. Da sie sich meist auf das letzte Lebensjahrzehnt konzentrieren, steuern sie die Sicht auf Springer selektiv: Sie perspektivieren ihn im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext des Lamprecht-Streits und der Hochphase des sog. Positivismus. Ausschließlich in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden, sind jene Schilderungen von der Historismus-Debatte der Weimarer Republik beeinflußt und können schon deshalb keine zwangsläufige Deutungshoheit beanspruchen. Der Blick durch die Schüler bleibt solange legitim, wie sich die Fragestellung auf das letzte Lebensjahrzehnt oder auf die Entstehung einer ,Springer-Schule' konzentriert, 19 er blendet aber die ideelle Vorgeschichte des wissenschaftlichen Programms aus. Dies betrifft vor allem die Bewertung des dezidiert politischen Wissenschaftlers Springer. So hat man an dessen Vita den Wechsel vom Revolutionär zum Kunsthistoriker betont, doch dabei kaum beachtet, daß an seinem wissenschaftsgeschichtlichen Beitrag exemplarisch deutlich wird, wie Methodenmodelle bewußt auf veränderte politische Konstellationen reagieren. Symptomatisch dafür steht, weil oft unkommentiert zitiert, der plastische Bericht Harry Graf Kesslers, wonach Springer um 1888 als ,,alte[r] Demokrat und großdeutsche[r] Feuerkopf" im Hörsaal auftrat. 20 Die Aura des faszinierenden Hochschullehrers bleibt hier untrennbar mit dem Pathos von 1848 verbunden, wenngleich ein dezidiert kleindeutscher und antirevolutionärer Standpunkt Springers spätestens seit 1852 eindeutig ist.21 Andere Würdigungen polarisieren zwischen dem frühen, politischen Revolutionsjournalisten und einem späten, positivistischen und weitgehend entpolitisierten Wissenschaftler. Entsprechend apologetisch klingen die Hinweise auf die nationalliberalen und manchmal auch antidemokratischen Positionen aus der späteren Zeit Springers. 22 Daß die These vom Rückzug der 48er Liberalen von der Politik ins Private oder Wissenschaftliche „ungenau, ja im wesentlichen falsch" ist, 23 sollte daher als grundlegend für das intellektuelle Profil Springers angesehen werden. Dies betrifft nicht allein die Institutionalisierung des Faches Kunstgeschichte, welche in engem Bezug zur Reichsgründungsphase steht. 24 Eine solche Revision müßte auch die Kunstgeschichtsschreibung als solche umfassen, die wie bei vielen Wissenschaftlern aus Springers Generation einem übergeordneten gesellschaftlichen Programm verpflichtet ist. Springers öffentliche Stellungnahmen zu politischen Debatten bis zum Ende der 70er Jahre zeugen nicht nur von einem breiten Horizont, sie geben zugleich Hinweise auf sein Wissenschaftsverständnis und die damit verbundene weltanschauliche Komponente. Aus der Zeit der Entstehung der Parallelbiographie Raffael und Michelangelo stammen Artikel, die - terminologisch an Heinrich von Treitschke anschließend - gegen die „Cathedersocialisten" und gegen die „Arbeiteraristokratie" pole19 Vgl. Brush: The Shaping of Art History, S. 24-32. 20 Kessler: Gesichter und Zeiten, S. 192 f; Dilly: Kunstgeschichte als Institution, S. 238 und 257; Kultermann: Geschichte der Kunstgeschichte, S. 117 f. Als repräsentativ für Springers nationalliberale Auffassung kann eine Kontroverse mit Georg Gottfried Gervinus gelten: „Dahlmann und Gervinus", in: Im neuen Reich 1/1 (1871), S. 183 f. Zur Sache vgl. Treitschke: Briefe III, S. 300. 21 Grundlegend hierzu die umsichtig argumentierende Dissertation von Weichinger: Anton Springer als Historiker und seine politische Haltung. 22 Kultermann: Geschichte der Kunstgeschichte, S. 118 f. 23 Nipperdey: Deutsche Geschichte I, S. 718. 24 Dilly: Kunstgeschichte als Institution, S. 248 ff.
18
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton
Springer
misieren, sozialdemokratische Tendenzen bekämpfen und für die Reinigung der deutschen Kunst vom französischen Geschmack eintreten. 25 Die „Krankheit des deutschen Volkskörpers" 26 zu heilen, ist Springer eine Mission, die er besonders während seiner Zeit in Straßburg (1872/73) verfolgt: „Wir führen in Straßburg und den Elsäßischen Städten den Krieg mit dem französischen Mädchenpensionat. Das ist die stärkste Einbuße, die das deutsche Wesen im Elsaß erlitt, das größte Hinderniß einer raschen Rückkehr zum alten Volksthum. [...] [D]ie französische Erziehung hat den feinen elsäßer Damen das Verständniß der Heimat vollkommen versperrt[.]" 27 Trotz der unzweifelhaften Zugehörigkeit zum Deutschtum seien die Straßburger Patrizier durch den Pariser Modegeschmack ihrer Identität entfremdet worden. Springer mahnt allen Ernstes zu rücksichtsloser Härte gegen die ,,frivole[] Opposition" 2 8 und empfiehlt ästhetische Umerziehungsmaßnahmen, um die profranzösische Haltung zu brechen. Diese Unerbittlichkeit steht offenbar in enger Verbindung mit einem Vorfall, der sich bei einem Vortrag über eine geplante Kunstgewerbeschule im Elsaß ereignet hatte: Aus Unzufriedenheit mit dem deutschen Kunsthandwerk hatte dort Springer den Rückgriff auf „antike Stilmuster" gefordert, die zur neuen Formstrenge führen sollten. 29 Die Forderung nach einer Reform des Kunsthandwerks erhielt im Elsaß kulturpolitischen Zündstoff, da sie eine Reinigung von Fremdeinflüssen und deshalb eine antifranzösischen Haltung indizierte. Der Vortrag wurde somit von den Straßburger Honoratioren als Affront empfunden, dessen ideologischer Hintergrund in Springers Memoiren gezielt verschleiert, aber aus anderer Quelle bestätigt wird. 30 Die Förderung des Kunsthandwerks im Elsaß sollte hier als nationales Umerziehungsinstrument dienen, um die Verirrungen des modernen französischen Geschmacks zu überwinden und die völkische Resozialisierung der deutschstämmigen Bevölkerung zu erzielen. Das Beispiel zeigt, daß politisches Denken und die Tätigkeit als Kunsthistoriker in einem Wechselverhältnis stehen. Springer hat seine herausragende Position mehrfach genutzt, um aus der kunstgeschichtlichen Vergangenheit handlungsleitende Maximen für die Gegenwart zu gewinnen. Die kunsthistorische Forschung erhält hier eine praktisch-politische Funktion, die in enger Relation zu einem normativen Kunstverständnis steht. Der immer stärker hervortretende nationalliberale Histo-
25 Vgl. Springer: „Die Reform des Kunstgewerbes", in: Im neuen Reich 4/1 (1874), S. 540-553, S. 541. 26 [Springer:] „Gönner und Gegner des Socialismus", in: Im neuen Reich 5/2 (1875), S. 415. Zur Verfasserschaft vgl. Treitschke: Briefe III, S. 418. 27 A. S.: „Sanct Lauth, der jüngste Märtyrer von Straßburg", in: Im neuen Reich 3/1 (1873), S. 677-679, S. 677 f. Gemeint ist Ernst Lauth, seit 14.10.1871 Maire von Straßburg, am 7.4.1873 wegen profranzösischer Gesinnung entlassen. 28 Ebd., S. 679. 29 Vgl. dazu auch den programmatischen Vortrag zur Eröffnung der Leipziger Kunstgewerbeschule 1881: Springer: „Die Stellung des modernen Künstlers zu den Stilmustern". 30 Vgl. AmL, 301 ff, sowie den Bericht bei A. Ernst von Ernsthausen: Erinnerungen eines Preußischen Beamten. Bielefeld, Leipzig 1894, S. 310: „Fragt man aber nach dem tieferen Grunde dieses timeo dañaos et dona fer entes, so war es die vollständige Französisierung der Gebildeten Straßburgs, welche vorerst noch eine Scheidewand zwischen ihnen und uns zog. [...] Zwar hatte die Französisierung Straßburgs erst seit der Revolution begonnen, sie war aber seitdem konsequent und erfolgreich fortgesetzt worden."
1. Zwischen Wissenschaft, Politik und Ästhetik: Anton Springer im Kontext rismus Springers kann deshalb nicht von dem Selbstverständnis
als
19 Kunsthistoriker
getrennt werden. Wurde die Brisanz von Springers Selbstbezeichnung als dreifacher politischer Renegat ( A m L , 1) meist verkannt, ist die Frage nach dem Renegatentum bezüglich der Ästhetik H e gels oft überbetont worden. So hat sein Plädoyer für eine „vollkommene T r e n n u n g " 3 1 zwischen Ästhetik und Kunstgeschichte wesentlich zu der Grundannahme beigetragen, daß parallel zur universitären Institutionalisierung eine methodisch gefestigte und v o m Hegelschen D e n k e n gereinigte Disziplin begründet wurde. Wie die Autobiographie stammt dieses Zitat aus einer Zeit, in der Springer als todkranker Mann darum bemüht war, sein Andenken als einer der Gründerväter der modernen Kunstgeschichte zu sichern. D i e heraufziehende Einfühlungstheorie, wie sie in den achtziger Jahren R o b e r t Vischer unter Berufung auf seinen Vater Friedrich T h e o d o r Vischer mit Invektiven gegen die etablierte Kunstwissenschaft vertrat, mußte zu einem erneuten Abstand Springers zur Ästhetik führen. 3 2 Dies um so mehr, da Springer noch 1879 R o b e r t Vischers umstrittene Monographie zu Luca Signorelli auf Bitten seines ehemaligen M e n t o r s verteidigt hatte. 3 3 M i t der so erzielten Abstandsgewinnung wurde auch hier das politische Schlüsseljahr 1848 zur Ideé fixe: N i c h t nur in Springers Selbstwahrnehmung, sondern auch in seiner R e z e p t i o n dienten die damit verbundenen K o n t e x t e wie die Entpolitisierung einer Generation und der Zusammenbruch des hegelianischen D e n k e n s als Zäsur im Lebenslauf.
1.1. Zur Forschungssituation und Fragestellung M i t der traditionellen Charakterisierung Springers als „Positivisten" und der damit verbundenen B r u c h - T h e s e konkurrieren seit 1975 Ansätze, die die Entstehung einer empirischen Kunstwissenschaft stärker nach ideengeschichtlichen Zusammenhängen und Kontinuitäten zu erklären suchen. 3 4 Von Springers Prager Lehrer F r a n z E x n e r ausgehend, leitet Andela H o r o v á zahlreiche T h e o r e m e aus der formalistischen Ästhetik J o h a n n Friedrich Herbarts ab und verweist dabei auf einen systemimmanenten Widerspruch mit Springers ikonogra31 Springer: „Vischer, Robert, Studien zur Kunstgeschichte" [Rez.], in: Göttingische gelehrte Anzeigen 149/1 (1887), S. 241-256, S. 242. 32 Zu Springers Polemik gegen Robert Vischer vgl. Brush: The Shaping of Art History, S. 28-30. Durch die .moderne' Perspektive auf Vöge und Goldschmidt verkennt die Verf. die gemeinsamen Wurzeln Robert Vischers und Springers. Die Polarisierung ab 1880 erklärt sich aus der jeweils einseitigen Rezeption des älteren Vischer: Während Springer, wie zu zeigen sein wird, erhebliches methodisches Potential aus der Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen der mittleren Periode bezieht (1846-1857), führt Robert Vischer das Spätwerk des Vaters fort, welches auf einem neuen Symbolbegriff fußt und vom Sohn durch die moderne Wahrnehmungspsychologie modifiziert wird. 33 Vgl. A. S.: „Luca Signorelli und die italienische Renaissance" [Rez. zu R. Vischer], in: Im neuen Reich 9/1 (1879), S. 270-272. Zur Sache vgl. Springer an Fr. Th. Vischer, Leipzig, 9.11.1877, UB Tübingen, Md 787 1006. 34 Ich verweise auf ein laufendes Forschungsprojekt von Michel Espagne (Paris), das Springers Methodik im Rahmen seiner Wirkungsgeschichte in Frankreich untersucht.
20
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton
Springer
phischer Methode. 35 Michael Podro konstruiert eine Linie, die von Springer zu Warburg führt; 3 6 Michel Espagne favorisiert den Vergleich mit Hippolyte Taine,37 während Regine Prange konstatiert, Springer habe das romantische Denken ins Empirische überhöht. All diese Hinweise sind ideengeschichtlich gewiß nicht falsch, verkennen aber m. E. das begriffs- und theoriegeschichtliche Kontinuum, in dem sich Springer zwischen 1848 und 1880 bewegt. Problematisch erscheint eine Kontextualisierung mit dem Herbartismus, da dieser zwar in der ästhetischen Diskussion nach 1848 stark präsent war, aber von Springers Tübinger Lehrer und dem führenden Ästhetiker der Zeit, Friedrich Theodor Vischer, abgelehnt wurde. 38 Die Behauptung Pranges, Springer habe „keineswegs mit den romantischen Prämissen der Frühzeit" gebrochen und „ihren historistischen Kern" vielmehr verstärkt, 39 verkennt die spezifische Situation der ästhetischen Debatten in der zweiten Jahrhunderthälfte und schließt dadurch eine Kontextualisierung nach zeitgenössischen Modellen von vornherein aus. Ohne größere Resonanz blieben dagegen die Hinweise von Werner Busch und Stephan Nachtsheim, 40 die auf einen Zusammenhang mit der Ästhetik von Friedrich Theodor Vischer verweisen wie auch ein grundlegender Uberblick zur nachmärzlichen Kunstkritik von Georg Jäger in dem Sammelband Realismus und Gründerzeit,41 der Springer neben Vischer und Hermann Hettner einen prototypischen Status im postrevolutionären Denken zuerkennt, das sich seit den späten 1840er Jahren vom Junghegelianismus zum bürgerlichen Realismus wandelte. 42 Nachfolgende Ausführungen bauen auf der Einschätzung auf, daß Springers politisierte Wissenschaftsauffassung in enger Beziehung zur zeitgenössischen Ästhetik steht. Leitendes Erkenntnisinteresse soll die Frage sein, inwieweit dessen kunsthistorische Arbeiten von einer Methoden- und Darstellungsauffassung geprägt sind, die sich direkt aus der kunst-
35 Horová: „Anton Springer in Prag"; Dies.: „A. H . Springer a methodické problémy dëjin umëni". 36 Podro: The Critical Historians of Art, S. 155-177. Insgesamt ist gegen die These nichts einzuwenden, doch läßt Podro den Werkkomplex Fr. Th. Vischers als relevantes tertium comparationis zwischen Springer und Warburg aus. 37 Espagne: „Anton Springer et Hippolyte Taine". Springer hat sich zu Taine ablehnend geäußert: „Die alten Niederländer mögen dem Himmel danken, daß es Taine nicht gefallen hat, an ihnen seine Kunst paradoxer Einfalle zu erproben, wie an den italienischen Heroen." (usw.). Springer: „Ein neues kunsthistorisches Buch. Selbstanzeige von Anton Springer" [Übs. von Crowe/Cavalcaselle: The early flemish painters], in: Im neuen Reich 5/2 (1875), S. 696-702, S. 699. 38 Vgl. hierzu Vischer: „Uber das Verhältnis von Inhalt und Form in der Kunst" [1858], in: Kritische Gänge IV, S. 204 ff. 39 Prange: Die Geburt der Kunstgeschichte, S. 149. 40 Busch: „Die Antrittsvorlesung Friedrich Theodor Vischers", S. 44 ff; Nachtsheim: Kunstphilosophie und empirische Kunstforschung 1870-1920, S. 32, 55. 41 Jäger: „Der Realismusbegriff in der Kunstkritik", in: Bucher et al. (Hg.): Realismus und Gründerzeit I, S. 9-31. 42 Auf hegelianische Kontinuitäten macht auch Henrik Karge aufmerksam: „Anton Springer und Adolph Goldschmidt: Kunstgeschichte als exakte Wissenschaft?", S. 145: „In jedem Fall bleibt festzuhalten, dass die empirische Ausrichtung des Faches Kunstgeschichte, die Springer so wirkungsmächtig vertreten hat, nicht primär naturwissenschaftlich geprägt war, sondern auf ältere - hier sogar hegelianische Wurzeln - zurückging." Ich danke Prof. Karge für die Diskussion.
1. Zwischen Wissenschaft, Politik und Ästhetik: Anton Springer im Kontext
21
theoretischen und poetologischen Diskussion in Deutschland zwischen 1840 und 1880 ableiten lassen. Erhofft wird dadurch eine präzisere Beschreibung der Genese von Springers Ansatz wie auch der Gewinn von schärferen Differenzwerten innerhalb des kunstwissenschaftlichen „Feldes". Den Positivismus-Begriff gilt es dabei durch den des „Realismus" zu ersetzen: eine Bezeichnung, die Springer gelegentlich selbst für seinen kunstkritischen Standpunkt verwendete. 43 Obwohl „Positivismus" und „Realismus" oft synonym gebraucht wurden, 44 erscheint der letztere Begriff auch der ideengeschichtlich zutreffendere zu sein - und dies aus mehreren Gründen: Zwar finden seit 1848 positivistische Theoreme wie die Forderung nach einer statistischen Verifizierbarkeit von Entwicklungen, die Gesetzmäßigkeit historischer Prozesse und eine allgemeine Kausalitätsbeziehung zwischen den Realien verstärkt in die deutsche Diskussion Eingang, doch ist man bisher den Nachweis einer tatsächlichen Verknüpfung mit dem westeuropäischen Positivismus im Sinne Comtes, Mills oder Buckles schuldig geblieben. 45 Bis Mitte der 50er Jahre lassen sich kaum Belege der Comte-Rezeption in Deutschland finden, weshalb nach gegenwärtiger Forschungslage von einer weitgehend unabhängigen Entwicklung gegenüber der französischen und englischen Diskussion ausgegangen werden muß. 46 Obwohl Springer der Positivismusbegriff spätestens seit 1857 geläufig gewesen sein dürfte, macht er von ihm nicht Gebrauch, so daß keine zwingenden Argumente für die Rezeption eines einheitlich-positivistischen Programms bestehen. Die im Werk erkennbaren Tendenzen deuten vielmehr auf eine andere Entwicklung hin: Springer baut den um 1855 verfolgten Ansatz, die Kunstgeschichte mit statistischen Zusammenhängen zu erklären, 47 nicht aus. Die zwischen 1857 und 1860 erfolgte Abwendung von deduktiv-universalistischen Entwürfen und die Zuwendung zu Spezialstudien verweist darauf, daß Springer wie viele andere konstitutionell-liberal eingestellte Historiker den ,reinen' Positivismus als materialistische oder auch sozialistische Gefahr ansah. 48 Besteht man daher auf einer Deutung Springers als .Positivisten', so hielte dem allenfalls ein äußerst weich definierter Positivismus-Begriff stand, der sämtliche auf .Immanenz' und .Gesetzmäßigkeit' ausgerichtete Wissenschaftsströmungen der Losung .Trend zum Positivismus' unterordnet. Spezifische Faktoren der innerdeutschen Diskussion blieben dadurch ausgeklammert und verhinderten eine distinktive wissenschaftsgeschichtliche Verortung von Springers Position. Stephan Nachtsheim ist deshalb zuzustimmen, wenn „mit einer schematisierenden Betrachtung der Wissenschaftsgeschichte, etwa nach dem Muster: Idealismus - Positivismus - Kritizismus nichts gewonnen ist". 49 Entscheidend sollte vielmehr sein, die Konti43 Springer: Geschichte der bildenden Künste im neunzehnten Jahrhundert, Vorrede, S. IX. 44 So z.B. in dem anonymen Aufsatz Karl Twestens, der den Sozialisten Comte für das bürgerlichliberale Lager salonfähig macht: „Lehre und Schriften Auguste Comte's", in: Preußische Jahrbücher 4 (1859), S. 279-307, S. 287. 45 Vgl. Fuchs: Henry Thomas Buckle, S. 267. 46 Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, S. 163. 47 Vgl. Springer: Kunsthistorische Briefe, Vorwort, S. II; Ders.: Paris im dreizehnten Jahrhunderte, S. 70 ff; Ders.: „Die bildenden Künste in der Gegenwart", S. 750; Ders. [anonym]: „Die östreichische Monarchie in Bezug auf ihre materiellen Kräfte und ökonomischen Verhältnisse", S. 885. 48 Vgl. Riedel: Verstehen oder Erklären?, S. 113-133. 49 Nachtsheim: Kunstphilosophie und empirische Kunstforschung 1870-1920, S. 30.
22
II. Realistischer
Klassizismus.
Methodik
und Darstellung
bei Anton
Springer
nuitäten und Innovationen innerhalb der Entwicklung zu erkennen und ein plausibles Erklärungsmodell zu finden, unter das zahlreiche Einzeltheoreme - seien sie hegelianischen oder .empiristischen' Ursprungs - subsumiert werden können. Statt Schlagworte wie „Gesetzmäßigkeit der E n t w i c k l u n g " , „Gemütsregungen schaffen keine Bauweise" oder das Mikroskop als Metapher für induktive Verfahren selektiv zu zitieren, sollte vielmehr die Funktion dieser Dikta hinsichtlich ihres systematischen Stellenwerts untersucht werden. Die stärkere Einbettung in die realistische Strömung möchte diesem Problem Rechnung tragen: Der Vorzug des Realismus-Begriffs besteht darin, daß er sowohl die Komponenten einer nachhegelschen Theoriebildung und eines zum Nationalliberalismus gewandelten Weltbilds als auch die der kunstwissenschaftlichen Methodik besser umfassen kann. Zudem kann auch die formale Konzeption der kunsthistorischen Texte genauer konturiert werden. Es gilt daher zu zeigen, auf welche Weise Springers kunsthistorische Forschungen von der Leistungsfähigkeit ästhetischer Vorentscheidungen und historiographischer Strukturmodelle abhängen, die aus dem Umfeld des Realismus gespeist werden - dies nicht mehr und nicht weniger, als ζ. B. Passavant als großer Raffael-Forscher im Kontext einer romantischen Kunstauffassung zu sehen ist.
1.2. Zur Vorgehensweise und Textauswahl Angesichts der zahlreichen Realismen, die die europäische Kunstgeschichte und Literatur im 19. und 20. Jahrhundert durchlaufen hat, und angesichts einer Vielzahl von Bestimmungsversuchen 50 ist die folgende Verwendung des Realismus-Begriffs näher einzuschränken. Die Untersuchung greift auf den literaturgeschichtlich bewährten Epochenbegriff des bürgerlichen Realismus zurück, der hier aus systematischen Überlegungen heraus in den des Idealrealismus und in den des programmatischen Realismus unterteilt wird. 51 In ihren Grundlegungen sind beide Theoriekomplexe eng miteinander verwandt, doch bezeichnen sie personell, institutionell und thematisch unterschiedliche Zweige: Philosophiegeschichtlich definiert sich der Idealrealismus als Strömung, die sich seit den späten 1840er Jahren ausbreitet und nach Synthese bzw. gegenseitiger Korrektur des sensualistischen Materialismus Feuerbachs, der Dialektik Hegels und der Naturphilosophie Schellings strebt. 52 Die davon ausgehende Kunstkritik und Ästhetik bemüht sich um den Ausgleich zwischen rohem Realismus und einer abstrakten Idealisierung, in der Malerei verlangt sie eine plastische Durchdringung bei gleichzeitig warmem und lebensnahem Kolorit - also eine Syn50 Von kunsthistorischer Seite vgl. Nerdinger: „Zur Entstehung des Realismus-Begriffs in Frankreich und zu seiner Anwendung im Bereich der ungegenständlichen Kunst"; Schmoll gen. Eisenwerth: „Naturalismus und Realismus: Versuch zur Formulierung verbindlicher Begriffe"; Literaturwissenschaftlich: Brinkmann (Hg.): Begriffsbestimmung des literarischen Realismus-, Eisele: „Realismus-Problematik: Überlegungen zur Forschungssituation"; Oellers/Steinecke (Hg.):,Realismus Zur deutschen Prosa-Literatur des 19. Jahrhunderts·, Interdisziplinär: Koopmann/Schmoll gen. Eisenwerth (Hg.): Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jahrhundert. 51 Vgl. Martini: „Bürgerlicher Realismus in der deutschsprachigen Literatur", S. 224. 52 Zur Verbreitung des Begriffs vgl. Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, S. 168-179.
1. Zwischen Wissenschaft, Politik und Ästhetik: Anton Springer im Kontext
23
these des Hegeischen Gegensatzes zwischen dem klassischen Ideal in der antiken Plastik und dem christlich-romantischen Primat des Malerischen. Springer bringt dieses Prinzip auf den Punkt, wenn er 1858 die Hoffnung ausspricht, daß das Publikum „den Realismus, dem ich das Wort rede, nicht mit einem trockenen Abschreiben der Natur für gleichbedeutend nehmen und mich nicht für jede kecke Farbsudelei, für jede im Namen der Naturwahrheit an der schönen Form verübte Sünde verantwortlich machen" möge. 53 In Beziehung zum Idealrealismus steht die spezifische Ausprägung des programmatischen Realismus, der sich ab 1848 ausbildet und eine literarische Darstellungsästhetik im engeren Sinne vertritt. Stärker als der allgemeine Idealrealismus ist er mit der bürgerlich-liberalen Theoriebildung verwoben und wird vor allem von der Zeitschrift Die Grenzboten propagiert. Das dort vertretene Literaturprogramm mit klassizistischem Einschlag wirkt sich auch auf wissenschaftliche Darstellungskonzeptionen aus, für die Anton Springer paradigmatisch stehen kann. Beiden Richtungen gemeinsam ist ihre abgeleitete Stellung gegenüber dem Junghegelianismus (oder Linkshegelianismus), 54 welcher neben der jungdeutschen Bewegung die dominante Strömung unter den progressiven Kräften im Vormärz war. 55 Idealrealismus und programmatischer Realismus knüpfen an junghegelianische Prinzipien an, indem sie ebenso scharf mit dem Erbe der Romantik abrechnen und eine .objektive' Wirklichkeitsauffassung propagieren. Allerdings schwächen sie den Aufruf zum Umsturz zu einem bildungsemanzipatorischen Programm ab, das auf eine produktive Anknüpfung an die bestehenden Verhältnisse vertraut. In diesem Theoriegeflecht ist die Entstehung von Springers Methodenauffassung anzusiedeln: 56 Seit 1845 publizierte er Kunstkritiken in den junghegelianischen Tübinger Jahrbüchern der Gegenwart, deren herausgebender Redakteur er 1847/48 war. 57 Zeitgleich erfolgten Studium und Promotion in Tübingen 5 8 bei Friedrich Theodor Vischer, auf dessen Aesthetik er sich noch Ende der 50er Jahre beruft. 59 Es wird detailliert zu zeigen sein, daß viele der dort aufgestellten Prinzipien mit den methodischen Ansätzen von Springers späteren kunsthistorischen Arbeiten übereinstimmen. Die Transformation vom Junghegelianismus zum Realismus läßt sich an den Zeitschriften ablesen, für die Springer nach 1848 zahlreiche Artikel politischer, ästhetischer und kulturgeschichtlicher Natur beisteuert. Nach einem revolutionsjournalistischen Interim in 53 Springer: Geschichte der bildenden Künste im neunzehnten Jahrhundert, Vorrede, S. IX. 54 Springer verwendet rückblickend erstere Bezeichnung. AmL, 115, 151. 55 Grundlegend, trotz marxistischer Wertungen: Pepperle: Junghegelianische Geschichtsphilosophie und Kunsttheorie. 56 Produktive An- und Abstoßungen gegenüber der Hegeischen Tradition zeigen drei ähnliche Fälle in der Literaturgeschichtsschreibung nach 1848: Ansel: Prutz, Hettner und Haym, S. 106 ff, passim. 57 Zur allgemeinen Einordnung der Zeitschrift vgl. Pepperle: Junghegelianische Geschichtsphilosophie und Kunsttheorie, passim, ibs. S. 139. 58 Der Tübinger Aufenthalt währte nur von September 1847 bis März 1848. Zu Springers Tätigkeit vgl. Matzerath: Albert Schwegler (1819-1857), S. 214 f; 227; sowie: Briefwechsel zwischen Strauß und Vischer, I, S. 217, Kommentar S. 317. 59 Springer: Kunsthistorische Briefe, S. 7. Vgl. auch ders.: „Die bildenden Künste in der Gegenwart", S. 674.
24
II. Realistischer
Klassizismus.
Methodik
und Darstellung
bei Anton
Springer
Prag und dem vergeblichen Versuch, dort als Universitätslehrer F u ß zu fassen, 6 0 übersiedelte Springer 1852 nach B o n n und publizierte im Deutschen
Museum,
das sein „persönli-
c h e ^ ] F r e u n d [ ] und politische[r] Verwandte[r]" ( A m L , 195) R o b e r t P r u t z herausgab. D e r Weg von den Jahrbüchern
der Gegenwart
z u m Deutschen
Museum
signalisiert den Wandel
vieler 48er zu einem gemäßigten und konstitutionell eingestellten Liberalismus des rechten Zentrums, der sich scharf von demokratisch-revolutionären Zielen abgrenzt. D o c h während das Deutsche
Museum
ein relativ breites politisches Spektrum innerhalb der liberalen Mitte
abdeckte, 6 1 markiert der Wechsel zu den Grenzboten
(1857) die endgültige Verpflichtung
auf einen nationalliberalen Standpunkt mit dezidiert kleindeutscher O p t i o n . 6 2 Zwischen 1871 und 1881 endlich erscheinen über sechzig Beiträge Springers in der Zeitschrift neuen
Reich,
die das literatur- und kunsttheoretische P r o g r a m m der Grenzboten
Im
fortsetzt
und mit einer aggressiv völkischen Haltung verbindet. 6 3 Alle vier Zeitschriften haben zentralen Anteil an der realistischen (und liberalen) Theoriebildung. D i e Ausschließlichkeit, mit der Springer sich jeweils nur einer dieser Zeitschriften widmete, 6 4 kann als wichtiges Indiz für die politische und ästhetische Orientierung dienen. I m Unterschied zur bisherigen Forschung, die sich fast nur auf das F r ü h - (1845 bis ca. 1860) oder auf das Spätwerk (nach 1880) konzentrierte, wird hier ein alternatives D e u t u n g s konzept vorgeschlagen, das eine E i n o r d n u n g Springers nach seinem publizistischen U m f e l d verfolgt. E s geht von der Prämisse aus, daß sich sein Wissenschaftsverständnis zu einem erheblichen Teil innerhalb der realistischen Strömung etabliert, für die die o b e n genannten Zeitschriften paradigmatisch stehen. D e r Schwerpunktsetzung auf dem Zeitraum zwischen 1858 und 1880 kann den prägenden Anteil der realistischen Ästhetik besonders gut verdeutlichen. Zugleich werden mit dieser Phase die entscheidenden Stationen von Springers U n i versitätslaufbahn abgedeckt: Das (zunächst unbezahlte) B o n n e r Extraordinariat im D e z e m ber 1858, dem die Lehrstuhlgründung am 8. J u n i
1860 folgte, 6 5 die prestigeträchtige
Berufung an die neugegründete Universität Straßburg mit der Einweihungsrede v o m 1. Mai 1872 und schließlich der dritte angenommene R u f an die Universität Leipzig 1873. 6 6 D e r F o k u s auf diesen mittleren Lebensabschnitt bedingt, daß die Spätzeit nur mit Seitenblicken (vgl. A b s c h n i t t 3.3 c) gestreift wird. Ausgeklammert sind Themenfelder, die in den Zeitraum nach 1880 fallen, so die Frage nach der R e z e p t i o n der sog. ,exakten' Zuschreibungsverfah60 Vgl. die bei Horová abgedruckten Prager Universitätsakten: „A. H. Springer a methodické problémy dëjin umëni", S. 290 ff. 61 Für das Deutsche Museum grundlegend: Eisele: Realismus und Ideologie, zum politischen Standpunkt siehe dort S. 11. 62 Dementsprechend lehnt Prutz die Grenzboten als Organ der liberalen Bourgeoisie ab und nennt sie rückblickend eine „Hauptstütze unserer damaligen parlamentarischen Rechten". Zit. nach ebd., S. 13. 63 Vgl. Kinder: Poesie als Synthese, S. 192-199. 64 So besteht das Deutsche Museum noch bis 1867; die Grenzboten werden bis 1922 fortgeführt. Auch dort erscheinen nach dem Weggang Gustav Freytags und dem damit verbundenen politischen Kurswechsel 1871 zumindest keine namentlich gekennzeichneten Artikel Springers mehr. 65 Vgl. die Auswertung der Bonner Berufungsakten bei Dilly: Kunstgeschichte als Institution, S. 240. 66 Antritt des Lehrstuhls am 26. April 1873. Vgl. Personalakte Springer. Universitätsarchiv Leipzig, PA 72, S. 28-30 (Zählung im Mikrofilm).
1. Zwischen Wissenschaft, Politik und Ästhetik: Anton Springer im Kontext ren Giovanni Morellis wie auch die späteren Auflagen des Handbuchs
der
25 Kunstgeschichte,
das Springer selbst nur als Auftragsarbeit ansah. 6 7 I m Zentrum der Analyse stehen die beiden kunstwissenschaftlichen H a u p t w e r k e nach ihren Erstfassungen: D i e Aufsatzsammlung Bilder Michelangelo
aus der neueren
Kunstgeschichte
(1867) und die Parallelbiographie Raffael
und
(1878) sollen als Schlüsseltexte für die kunsttheoretische und darstellungs-
ästhetische Verankerung im Realismus verstanden werden. Zusammen sind sie als W e r k gruppe anzusehen, deren Entstehung sich ab ca. 1857 abzeichnet. D i e philologische Erschließung beider Werke kann zeigen, daß Springer in steter Anpassung an die jeweilige politische Situation sich seine universitäre Etablierung auch erschrieben hat. D i e U n t e r s u c h u n g gliedert sich in drei Analysefelder: A u f Abschnitt 2.1., der Springers Ausgangspunkt in der junghegelianischen und frührealistischen Kunsttheorie skizziert, folgt eine R e k o n s t r u k t i o n der methodischen Verfahren nach den idealrealistischen Prinzipien von Vischers Aesthetik.
Dieser zweite Schritt soll zeigen, daß bei Springer die E n t -
wicklungsmuster der künstlerischen Individualstile (2.2.), die Ordnungssystematik
der
Handzeichnungen (2.3.) und die hermeneutischen Prinzipien (3.) in enger R e k u r r e n z zur idealrealistischen und damit nachhegelschen Ästhetik stehen. Letzterer P u n k t läßt sich an Springers Analysen zu dem meistinterpretierten W e r k im 19. Jahrhundert, Raffaels von Athen,
Schule
nachweisen: D r e i Textfassungen von 1867, 1878 und 1883 dokumentieren die
Weiterentwicklung der M e t h o d i k wie auch die bleibende Verpflichtung auf realistische T h e o r e m e . E i n e dritte Stufe erlangt die Analyse mit den Kapiteln 4. und 5.: Sie zeichnen die Entstehung einer Darstellungsauffassung nach, die sich aus dem programmatischen Realismus heraus entwickelt. D a b e i ist zugleich zu berücksichtigen, daß dieser Ästhetik eine (national)liberale Wissenschaftsethik inhärent ist. A u c h hier wird intendiert, die realistischen T h e o r e m e als die entscheidenden Grundlagen in Springers M e t h o d e n - und Darstellungsverständnis offenzulegen, die sich als entwicklungsfähige und modifizierbare K o n stanten
erweisen.
Mit
anderen
Worten:
Anton
Springers
Kunstgeschichtsschreibung
konturiert sich zunehmend als einheitliches Muster mit Systemcharakter, bei dem konsequent die Prinzipien des Realismus auf alle relevanten methodischen und darstellerischen Bereiche übertragen werden.
67 Eine eher untergeordnete Bewertung der diversen Handbuch-Auflagen rechtfertigen folgende Äußerungen Springers: „Populäre Uebersichten besitzen gewiß ihren Werth und Nutzen; [...] Der Fortschritt der Wissenschaft vollzieht sich aber in den monographischen Arbeiten." Springer: „Neue Kunstliteratur" [Sammelrez.], in: Im neuen Reich 7/2 (1877), S. 957-960, S. 959; vgl. auch AmL, 222 f. Zur Einordnung Springers in die Handbuch-Tradition vgl. Locher: Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst 1750-1950, S. 257-262. Zu den späteren Ausgaben des Handbuchs vgl. die Artikel von Katharina Krause in: Dies./Niehr/Hanebutt-Benz (Hg.): Bilderlust und Lesefrüchte, Kat.-Nr. 20, S. 144 ff; Kat.-Nr. 24, S. 155 ff.
26
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
2. Realistische Kriterien der Kunstbetrachtung 2.1. Von der Revolutionsästhetik zum Realismus 1845-1858 Im J a h r 1845 debütiert der zwanzigjährige A n t o n Springer mit einem a n o n y m e n Aufsatz zur M ü n c h n e r Gegenwartskunst. 1 D i e A b r e c h n u n g mit der Kunststadt M ü n c h e n ist gnadenlos und umfassend: N a c h süffisanten B e m e r k u n g e n zu dem dortigen Akademiesekretär R u d o l p h Marggraff, 2 der M ü n c h e n als die Stadt der künstlerischen Wiedergeburt, als neues A t h e n und F l o r e n z gefeiert hatte, legt Springer den „entschiedensten Protest [ . . . ] gegen diese A n m a ß u n g der M ü n c h e n e r Schule, eine nationale und historisch bedeutsame Kunst [zu] h e i ß e n , " ein (S. 1028). D e r historistische Stilpluralismus in der Architektur, M o n u m e n talmalerei und Plastik offenbart ein E n t f r e m d u n g s s y m p t o m , das von zwei fundamentalen Ursachen herrühre: E s bedingt sich erstens durch ein verbissenes Festhalten an christlichen Sujets, die nicht mehr in der Gegenwart präsent sind und deshalb an Glaubensintensität verloren haben. D i e Entfremdung des modernen M e n s c h e n v o m Christentum mittelalterlicher Prägung, so der zentrale Vorwurf, haben die Künstler durch übersteigerte Religiosität zu kompensieren gesucht, eine fatale Fehlentwicklung, die von den Nazarenern ihren Ausgang nahm und seither ohne K o r r e k t u r geblieben sei. D i e M ü n c h n e r K u n s t hat somit drei J a h r hunderte übergangen, hat „vergessen, daß das Christenthum während dieser Periode eine ganz andere Fassung erhalten, daß es aufgehört hat, Gegenstand der K u n s t zu sein" (S. 1032). D e r zweite Vorwurf richtet sich gegen die restaurative Tendenz der M ü n c h n e r Kunstförderung, die, im Widerspruch zum Volksgeist stehend, Springer als „Privatuntern e h m u n g " Ludwigs I. apostrophiert und damit zum Politikum macht. D u r c h die direkte E i n f l u ß n a h m e des M o n a r c h e n werde die K u n s t unfrei und zum A u s d r u c k eines Zwanges, der der politischen Willkür eines Regimes diene, das unter den deutschen Ländern den geringsten Anteil an den liberalen Bestrebungen habe. Wenn dort die Kunst die Z e i t u m stände widerspiegle, dann allenfalls den politischen Ultramontanismus und eine „gräßliche Geistesverwirrung" (S. 1025). M i t diesen Sätzen formuliert Springer jenes U n b e h a g e n am Historismus, wie es in der Kunstkritik des 19. Jahrhunderts allgegenwärtig war. 3 D a s P r o b l e m einer sich selbst entfremdeten Kunst, die nur n o c h in der Zitation abgeleiteter Stile greifbar, durch E k l e k t i zismus im K e r n ausgehöhlt und damit einer selbständigen Mitte beraubt ist, wird hier am Beispiel M ü n c h e n s direkt angegangen. D e r ästhetische Gegenentwurf fällt in seiner theoretischen Fundierung freilich mager aus: In erster Linie erscheint der geforderte K o n n e x zwischen Formideal und „Athem der F r e i h e i t " (S. 1023) als Neuauflage der klassizistischen 1 [Springer:] „Kritische Gedanken über die Münchner Kunst", in: Jahrbücher der Gegenwart 3 (1845), S. 1022-1034. Vgl. hierzu AmL, 65 ff. 2 Zu Marggraffs Stellung zu den Hegelianern vgl. bisher nur Ziemer: Heinrich Gustav Hotho, S. 182 f. Dort irrtümlich als „Robert Marggraff". 3 Vgl. Busch: „Die fehlende Gegenwart".
2. Realistische Kriterien der
Kunstbetrachtung
27
Position Winckelmanns wie auch die Titelgebung („Kritische Gedanken") an die Aufklärung anschließt. In der Ursachenforschung aber gibt sich der Aufsatz radikaler, indem er tatsächlich einen kausalen Bezug zu den politischen Umständen herstellt und darin den Aufruf zum U m s t u r z chiffriert: „Frankreich und Belgien haben gezeigt, daß und wie heutzutage gemalt werden könne. Sie malen Revolutionen; diese geben ihnen den reichen Inhalt, die rege Gegenwart die lebenskräftigen Formen." (S. 1031) Der postulierte Zusammenhang zwischen Wiedergeburt der Kunst, „rege[r] Gegenwart" und revolutionären Sujets kann prototypisch für die junghegelianische Argumentationsstrategie stehen, die sich seit ca. 1839 ausbreitete und für die die Kunstkritiken von Adolf Stahr und Friedrich Theodor Vischer exemplarisch sind. 4 Die Kunst soll demnach ihre Lebenskraft nicht formal aus der Heterogenität vergangener Stile gewinnen, sondern inhaltlich auf historische Gegenstände beziehen, um so auf zukünftige Entwicklungen zu verweisen. Mit diesem antizipationsästhetischen Programm schließt die Kunst zum einen konsequent an historische Entwicklungen an, zum anderen aber prätendiert sie die Vorwegnahme des künftigen Geschichtsverlaufs, indem sie als wirkungsmächtiges Agens in die politische und gesamtgesellschaftliche Dynamik eingreift. Zentral für das junghegelianische Verständnis ist daher die selbstbewußte Erkenntnis, durch die Einsicht in historische Gesetzmäßigkeiten den weiteren Verlauf der Geschichte zu erkennen und daran zu partizipieren. Es geht vor allem darum, die „Entwicklung" zum eigenen „Princip" zu erheben, „die Geschichte mit[zu]leben und mit[zu]machen, [...] daher an sich selbst die Zeit" darzustellen und als „bewußte Praxis der historischen Dialektik" ein „Stück Zeitgeschichte" zu werden. 5 Das leitende Merkmal dieser Revolutionsästhetik ist die Verschränkung von Religionskritik und politischer Gegenwartskritik. Wie der Angriff auf die Münchner Kunst exemplarisch zeigt, wird das liberale Kriterium mit einem religionskritischen Impuls verknüpft. Bereits 1839/1840 hatten Arnold Ruge und Theodor Echtermeyer in dem Manifest Der Protestantismus und die Romantik das zentrale Oppositionspaar formuliert, mit dem die junghegelianische Publizistik einschließlich Springer ganze Abhandlungen bestreiten sollte. 6 Vor dem Hintergrund des spätromantischen Konservativismus der Brüder Schlegel und eines Friedrich von G e n t z 7 radikalisieren sie Hegels Schelte der Romantik als einer „unfruchtbaren Abstraktion der Innerlichkeit" und „selbstbewußten Vereitelung des Objektiven" 8 dadurch, daß sie Mittelalterkult und neukatholische Tendenz zum Ausdruck des restaurativen Denkens erheben und mit aller Härte bekämpfen. Christlich-transzendentes Denken wird somit mit fehlender Lebenspraxis identifiziert, der Katholizismus der Romantiker korrespondiert mit dem neofeudalen Charakter der Gegenwart: „Poesie, Doctrin oder Staat, wer es sei: ist euer Prinzip Romantik, so habt ihr keine Macht über die Welt
4 Neben den Arbeiten Vischers, die im folgenden einbezogen werden vgl. auch Stahr: Christian Ruben's Columbus im Augenblicke der Entdeckung der neuen Welt. 5 Adolf Stahr: „Arnold Ruge. Eine Characteristik", in: Jahrbücher der Gegenwart 5 (1847), S. 385-418, S. 400. 6 Vgl. hierzu: Ansel: Prutz, Hettner und Haym, S. 174-181; Bohrer: Kritik der Romantik, S. 182-202. 7 Vgl. ebd., S. 210-220. 8 Hegel: „Solgers nachgelassene Schriften und Briefwechsel" (1828), in: Ders.: Berliner Schriften 1818-1831, S. 229 und 233.
28
II. Realistischer
Klassizismus.
Methodik
und Darstellung
bei Anton
Springer
und den wahrhaft allgemeinen Geist, der sie regiert." 9 In dieselbe Kerbe schlägt Springer, wenn er gegen den „Wahnwitz des romantischen Uebermuthes" polemisiert und die reaktionäre Politik als „Chimäre der Romantik" 1 0 geißelt. Die Romantik wird pauschaliert zum Ausdruck substanzloser Subjektivität, Weitabgewandtheit und Willkür; als katholisches Prinzip zementiert sie nicht nur die Restauration religiös, sondern fröhnt zugleich einem mittelalterlichen Dualismus aus Transzendenz und Immanenz, der weder zeitgemäß noch entwicklungsfähig ist. Der romantischen Stagnation entgegen wirkt das dynamische Prinzip des Protestantismus. Die junghegelianische Bewegung erklärt sich zum Erben der Reformation, indem sie endgültig mit dem christlich-transzendenten Denken bricht und den Menschen zum handelnden Subjekt in der Geschichte proklamiert. Was in Hegels Deutung der Reformation noch eine Feststellung war, nämlich daß mit ihr die Macht der kirchlichen Institution überwunden und durch die individuelle Glaubensgewißheit ersetzt wurde in dem Sinne, daß der „Mensch [...] durch sich selbst bestimmt [ist], frei zu sein", 11 wird in der revolutionären Fortführung zum aktiven Programm. Bestätigt durch Ludwig Feuerbachs anthropozentristischer Auffassung, nach welcher Gott real nicht existiert und nur eine Projektion der menschlichen Gattungseigenschaften ist, tritt das protestantische Prinzip in die letzte Phase, weil sich nun neben der Gewissensfreiheit des Einzelnen ein breiter Wandel gesellschaftlicher und politischer Emanzipation vollzieht. 12 Das unmittelbare Gewissen des Menschen vor Gott mündet demnach in einen anthropologischen Immanentismus, der sich in der revolutionären Praxis zum kämpferischen Atheismus steigert. Damals selbst noch Katholik, beruft sich Springer ausdrücklich auf den ,,reformatorische[n] Geist" und auf die radikale Kritik am Christentum von Feuerbach und Strauß. 13 In diesem Sinne hat die Gegenwart „die Aufgabe, diese natürliche Entwiklung zu begreifen und dadurch die zukünftige nicht vom Boden aus wachsende, sondern auf der Geschichte, der Zeit selbst fussende vorzubereiten." 14 In der Bewußtwerdung seiner Geschichtlichkeit kommt der Mensch zu sich selbst und erwirkt die Freisetzung von Potenzen, die zu seiner politischen Emanzipation beitragen. Entscheidend für die Wiedergeburt der Künste ist daher nicht der „Taufschein" (also die kirchliche Institution im Sinne Hegels), sondern das protestantische „Princip[] der freien Subjektivität", welches unabhängig von der formalen Konfessionszugehörigkeit im modernen Denken tätig ist. 15 Einer dezidiert christlichen Kunst aber hafte seit der Reformation ein Vergangenheitscharakter an, deren „seelenlose Hülle" „in das Grab zu legen [...] das Geschäft der Gegenwart" sei (S. 1028).
9 Echtermeyer/Ruge: „Der Protestantismus und die Romantik", Sp. 2451. 10 Springer: „Strauß als Politiker", in: Jahrbücher der Gegenwart 5 (1847), S. 1077-1082, S. 1079 und 1078. 11 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 497. 12 Vgl. Echtermeyer/Ruge: „Der Protestantismus und die Romantik", Sp. 1953. 13 [Springer:] „Rudolph Marggraff als Apologet der Münchner Kunst", in: Jahrbücher der Gegenwart 4 (1846), S. 590 f. 14 Springer: Die geschichtliche Malerei in der Gegenwart, S. 5. 15 [Springer:] „Rudolph Marggraff als Apologet der Münchner Kunst", S. 590 und 593.
2. Realistische
Kriterien
der
Kunstbetrachtung
29
Ihre Aufgabe als Totengräber der christlichen und romantischen Kunst nehmen die Junghegelianer mit aller Gründlichkeit wahr. Denn mit dem Ende der christlichen Religion in ihrer althergebrachten Form bestätigt sich Hegels Satz vom Ende der Kunst 1 6 insofern, als die Gegenwartskunst ihre Glaubwürdigkeit verliert, solange sie an christlich-transzendenten Idealen und an den überkommenen Formen des Mittelalters festhält. Das Streben der Romantiker, die verlorene Glaubensgewißheit in der „Sehnsucht" zu sublimieren, führt deshalb zu einem ,,Zustand[] der Unlebendigkeit". 1 7 Angesichts dieser Grundlegung nimmt es nicht wunder, daß in der frührealistischen Kunstkritik die Nazarener die ideale Zielscheibe abgeben wie auch all diejenigen Schulen, die im Verdacht ihrer Nachfolge stehen. Inhaltlich komplexe Bildprogramme wie in Overbecks Triumph der Religion in den Künsten werden als Ausdruck romantisch-subjektiver Willkür kritisiert. Abstrakte Ideenmalerei und fehlender Wirklichkeitsbezug manifestieren sich aus junghegelianischer Perspektive in dem Zwang zur allegorischen Darstellung. 18 In der Allegorie erkennt Vischer eine willkürliche Verbindung von Gedanke und Erscheinung, wenn er an der nazarenischen Bildauffassung moniert, daß sie auf „subjektivefr] Reflexion" beruhe. Diese zwanghafte Subjektivität ist zugleich Resultat einer religiösen Entfremdung: „Die Allegorie hat sich immer eingestellt, wo das Leben einer Religion im Absterben und mit ihm die poetische Potenz im Verwelken war." 1 9 Anstatt, so der Pauschalvorwurf, das Zurückgeworfensein des Menschen auf sich selbst zu akzeptieren und daraus die künstlerischen Konsequenzen zu ziehen, richte sich Overbecks Subjektivität auf das Absolute, welches sich im künstlerischen Ausdruck nicht mehr konkretisieren könne. Wie Vischer, Springer und andere betonen, führt dies zu einer unerfüllten, substanzlosen Subjektivität, die in sinnentleerter Zeichenhaftigkeit einen kalten Rationalismus erzeugt. Damit drohe ein blutleerer Idealismus, in welchem Formensprache und Bedeutungszuweisung divergieren. Die Verwerfung der Allegorie, Romantikverachtung und Religionskritik bilden daher einen Theoriekomplex, der zum entscheidenden Merkmal realistischer Polemik wird. Mehr noch: Für Springer wird diese Abrechnung mit dem romantisch-katholischen Prinzip zum produktiven Motor für die Entstehung eines methodologischen Gegenentwurfs in der Kunstwissenschaft (vgl. Abschnitt 3.I.). 2 0 Seine Kunstkritiken machen dieses Verfahren explizit: Sie richten sich gegen einen „todten, verwaschenen, unwirklichen Idealismus", gegen die „unheilvolle Reflexion" und gegen die Allegorie als dem „alten Krame eines lügenhaften, nichtigen Inhaltes". 21 Der Vorwurf, die Romantiker würden die vernünftige Wirklichkeit verkehren, bestätigt sich in den Bildern Runges und Friedrichs, die „die Romantik in ihrer rohesten F o r m " repräsentieren. Es sei gut, wenn diese gemeinsam ausge16 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II, S. 231. 17 Hegel: „Solgers nachgelassene Schriften und Briefwechsel" (1828), in: Ders.: Berliner Schriften 1818-1831, S. 214 und 229. 18 Zur Allegorie-Kritik bei Vischer und Springer vgl. auch Wagner: Allegorie und Geschichte, S. 14-16. 19 Vischer: „Overbecks Triumph der Religion", in: Kritische Gänge V, S. 11 f und 13. 20 Deutlich wird dies schon in einem Angriff gegen Gustav Friedrich Waagen, dem Springer ein „absolut subjective[s] Verfahren, den förmlichen Offenbarungscharakter [seiner] Methode" unterstellt. Springer: „Die Bildertaufen", in: Gb 17/3 (1858), S. 441-449, S. 443. 21 Springer: Die geschichtliche Malerei in der Gegenwart, S. 11, 19 und 23.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
stellt würden, da sie „dieselbe Zelle im Narrenhause der Romantik bewohnten." 22 An Vischers Polemiken gegen tote Ideenmalerei geschult sind die Angriffe gegen Cornelius und Overbeck, in deren Kunst sich eine „subjektive Vergewaltigung der Erscheinungsformen und gesetzlich giltiger Verhältnisse" manifestiert 23 bzw. die „an der einseitigen Reflexion" kranken, weil sie „mehr mit dem Verstände als mit der Phantasie geschaffen und eben deshalb in unlebendigen, matten Formen durchgeführt" sind.24 Der Vorwurf des erstarrten und kalten Intellektualismus trifft ebenso Wilhelm Schadows paradigmatisches Bild Fons Vitae (1848/52), in welchem sich „der alte Krebsschaden" der Düsseldorfer Malerschule offenbare: nämlich die romantische „Irrlehre" von der Einheit der Künste unter dem Primat der Poesie, nach der „unsere Maler [...] vorzugsweise Dichter" sein wollen und die „malerischen Form [...] nicht klar und deutlich" zum Vorzug kommt. Dieses „warnendef] Beispiel[] gegen die symbolische Malerei" werde evident in der Beschriftung im Bildzentrum, um welche sich die allegorischen Figuren gruppieren. 25 Somit bescheinigt Springer der in der Nachfolge der Romantik stehenden Malerei ihr ästhetisches Scheitern durch formale wie inhaltliche Desintegration: „Warum greifen [die Künstler] aber dann nicht lieber gleich zu dem rechten Material und schreiben Gedichte, und überlassen nicht Menschen, die auf den Ruhm, als Universalkünstler zu glänzen, bereitwillig verzichten, die Malerei?" 26 Bereits Karl Löwith hat in seiner großen Studie darauf hingewiesen, daß die junghegelianische Publizistik in ihrer „kontrastierenden Reflexionsmanier [...] einförmig [ist,] ohne einfach zu sein und brillant ohne Glanz". 2 7 Die umfassende Polemik gegen das Bestehende in Politik, Religion und Kultur, die Gleichsetzungen unterschiedlicher Bereiche und die Einebnung ihrer Grenzen bilden jedoch das ideelle Konzentrat, aus dem der ästhetische Gegenentwurf entwickelt wird. Denn aus der religions- und allegoriekritischen Grundlegung zieht die junghegelianische und später realistische Kunstkritik eine Konsequenz: Hegels Satz vom Ende der Kunst, nach dem der „Gedanke und die Reflexion [...] die schöne Kunst überflügelt" haben,28 wird zwar als Verfallsdiagnose akzeptiert, kann aber für die Zukunft nicht stehen gelassen werden. Dem Theorem von der Kunst als Ausdrucksträger der Religion folgen die Junghegelianer nur insofern, als sie es als Krankheitssymptom anerkennen. Eine Therapie der Misere ist jedoch im Gegensatz zu Hegel möglich und notwendig, indem die christlich-reflexive Auffassung überwunden wird. Vischer weist darauf hin, daß für eine künstlerische Wiedergeburt die Setzung eines modernen Ideals unvermeidbar ist, das ganz auf dem immanenten Denken beruht. 29 Der Neubeginn der Künste prägt 22 Springer: „Die deutsche allgemeine Kunstausstellung in München", in: Gb 17/4 (1858), S. 1-13, 52-70, 110-118, 141-153, S. 4. 23 Ebd., S. 56. 24 Springer: „Die bildenden Künste in der Gegenwart", in: Die Gegenwart 12 (1856), S. 673-810, S. 684. 25 Springer: „Die deutsche allgemeine Kunstausstellung in München", in: Gb 17/4 (1858), S. 148, 113 und 53. 26 Ebd., S. 113. 27 Löwith: Von Hegel zu Nietzsche, S. 79. 28 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, 24. 29 Vgl. Vischer: „Zustand der jetzigen Malerei" [1842], in: Kritische Gänge V, S. 40; ders.: „Kunstbestrebungen der Gegenwart"[1843], ebd., S. 74; u. ö.
2. Realistische Kriterien der
31
Kunstbetrachtung
sich somit aus im - und dies spricht dem innovativen Selbstbild der Junghegelianer Hohn Historienbild. 30 Mit den Geschichtsthemen der belgischen Schule um Louis Gallait und Edouard de Bièfve 31 erlangt die moderne Malerei eine neue, realitätsimmanente Idealität, die quasi in einem Automatismus zwischen Inhalt und Form all diejenigen Muster subsumiert, die dem revolutionären Verständnis entsprechen: Die Wahl des richtigen, geschichtlich prägnanten Moments wie der Kompromiß der Flandrischen Noblen und die Abdankung Karls V. macht die Bewegung des absoluten Geistes in der Geschichte sichtbar und schließt die im protestantischen Prinzip begründete Schönheit auf. Wirklichkeit und Schönheit kommen durch die Wahl der geeigneten geschichtlichen „Stelle" 32 zur Indentität: Der Künstler soll „zum Stoffe herabsteigen, diesen begreifen, dann erst mit Bewusstsein an seine Formirung gehen. Somit tritt der Künstler in ein neues Verhältniss - zur Wissenschaft, deren Ziel die Darlegung der Weltgeschichte als des Complexes der nach einander auftretenden Mächte des menschlichen Geistes bildet." 33 Auch wenn sich Springer später von der Historienmalerei distanziert, bleibt doch die wesentliche Intention erhalten, die durch die reflexive Allegorie oder die politische Repräsentationsästhetik entstandene Kluft zwischen Volk und Kunst durch neue Lebensnähe und Anschaulichkeit in der Darstellung zu schließen: „Unsere Kunst soll lebendig sein, sie soll nicht allein den Gaumen verwöhnter Kenner kitzeln, sondern Speise, Brot des Volkes werden." 3 4 Wenn es noch 1878 heißt, daß Raffael die Figuren „in unmittelbare Action" setzt und der „allegorische Apparat [fortjfällt" (RM, 157), dann stellt Springer seine RaffaelDeutung direkt in die Nachfolge des junghegelianischen Polarisationsmusters von Lebensbezug und toter Allegorie. Demnach soll vor allem die menschliche Gestalt „unmittelbar sinnlich vor unser Auge" treten, indem der Künstler „reiche Anschauungen" und „volle sinnliche Gestalten, lebendiges Fleisch und Blut" darstellt.35 In der Malerei beruht die revitalisierte Auffassung vor allem auf der Restitution der Farbe als freies künstlerisches Ausdrucksprinzip, das, von jeglicher semantischen Konnotation entlastet, sich ganz in den
30 Zur Historienbild-Debatte vgl. Kohle: Adolph
Menzels
Friedrichbilder,
S. 123-194.
31 Zu der im Vormärz zentralen Diskussion vgl. Schlink: Jacob Burckhardt im
Vormärz-,
Koschnick: Franz
Kugler
(1808-1858)
S. 121-135; Busch/Beyrodt (Hg.): Kunsttheorie
als Kunstkritiker
und Malerei,
und die und
Kunsterwartung Kulturpolitiker,
S. 184-206.
32 Zu dem Begriff der „Stelle" in Vischers ästhetischem Konzept vgl. Kinder: Poesie als
Synthese,
S. 99 f. 33 Springer: Die geschichtliche
Malerei
in der Gegenwart,
S. 21. Vgl. hierzu ähnlich Vischer: ,,[W]ir
leben uns in die großen kritischen Momente der Geschichte ein, [...] wir fassen jede Wissenschaft, und die abstrakteste, die Philosophie, zuerst, im weltgeschichtlichen Sinne und holen ihre versäumte Anschließung ans Leben nach." Vischer: „Zustand der jetzigen Malerei" (1842), in:
Kriti-
sche Gänge V, S. 40. 34 Springer: „Die bildenden Künste in der Gegenwart", S. 726. Die Kontinuität im junghegelianischen Denken wird 1863 sogar explizit formuliert: Springers Glosse „Münchner Selbstbekenntnisse" bezieht sich auf die „Kritischen Gedanken" von 1845 und macht geltend, daß sich am Kern seiner damaligen Kritik nichts geändert hat (in: Recensionen
und Mittheilungen
über bildende
Kunst
2
(1863), S. 217 f). 35 Springer: „Die ästhetischen Anregungen in der modernen Bildung", in: Deutsches (1854), S. 7 8 5 - 7 9 9 , S. 790.
Museum
4/1
32
II. Realistischer Klassizismus. Methodik
und Darstellung bei Anton
Springer
Dienst wirkungsästhetischer Aufgaben stellen soll: „Der Realismus in der Malerei aber das heißt: vollkommene Herrschaft über das Colorii, seine Vollendung und feinste Belebung." 36 Jedoch tritt, offenbar in Reaktion auf die französische Pleinairmalerei, im Lauf der fünfziger Jahre immer mehr die Befürchtung ein, als Vertreter eines reinen Kolorismus mißverstanden zu werden, so daß Springer die Notwendigkeit eines idealisierenden Moments immer mehr betont. Das „Ubergewicht des Realismus", welches sich in den Extremen eines „nackte[n] Naturalismus" und dem „Streben nach ausschließlichen materiellen Effecten und virtuoser Technik" manifestiert, ist durch kompositorische Rundung und plastische Begrenzungen zu begegnen;37 der insuffiziente Konturlinearismus der deutschen Klassizisten (Carstens, Waechter, Schick) wiederum mit dem Prinzip der Farbe zu korrigieren. Typisch für die Kunstkritik der fünfziger Jahre, verlangt Springer immer mehr eine Synthese zwischen klassizistischem ,Idealismus' und progressivem .Realismus', indem er die Kontur als verklärendes Korrektiv zu einem reinen Materialismus hervorhebt. In dieser dialektischen Bewegung zwischen Idealismus und Realismus sieht Springer die „nicht zweifelhaft^]" Gewißheit, daß in der deutschen Kunst eine „energische Entwicklung" erwartet werden kann.38 Das idealrealistische Kunstkonzept wird daher von verschiedenen, auf einander abgestimmten Faktoren getragen: Geschichtsphilosophisch ist die Kunst aktiver und gesellschaftsrelevanter Bestandteil der konsequenten Verwissenschaftlichung' aller Lebensbereiche, die in der Reformation ihren Ausgang nahm. Gesellschaftspolitisch fungiert sie als kämpferisches Instrument im geschichtlichen Verlauf und antizipiert die notwendigen Entwicklungen. Künstlerisch schließlich soll sie mehr sein als eine bloße Gehaltsästhetik, indem sie durch formal überzeugende Lösungen eine Autonomie gegenüber der Dichtung erhält. Aus diesen Grundlegungen ergeben sich zentrale Argumentationsmuster, die für Springers Wissenschaftsentwurf zukunftsweisend sind: ein antizipationsästhetisches Programm, welches in der Kunstgeschichte normative, für die Gegenwart handlungsleitende Muster erkennt wie etwa in der Kunst der italienischen Renaissance. Ein hermeneutisches Verfahren, das in Abkehr von spekulativen Konstrukten die kunsthistorische Spezialanalyse stärkt und eine vom Allegorie- und Symbolbegriff unabhängige Lehre von den Bildinhalten entwickelt. Und schließlich ein terminologisches Raster, das zwischen idealen und realen Kräften unterscheidet, die im kunstgeschichtlichen Prozeß vereinigt werden sollen. Die beiden vorläufigen Höhepunkte dieser idealrealistischen Synthese sind Michelangelo und Raffael.
2.2. Empirische Kunstwissenschaft und dialektische Konzeption I: Raffael und Michelangelo als Exponenten der Stilsynthese Springers 1878 erschienene Parallelbiographie Raffael und Michelangelo verdankt zahlreiche methodische Anregungen der oben skizzierten (früh)realistischen Diskussion. In diesem Zusammenhang muß sich fast zwangsläufig das Augenmerk auf die zwischen 1846 36 Springer: „Die bildenden Künste in der Gegenwart", S. 737. 37 Ebd., S. 748. 38 Springer: „Die deutsche allgemeine Kunstausstellung in München", in: Gb 17/4 (1858), S. 65.
2. Realistische
Kriterien
der
Kunstbetrachtung
33
und 1858 veröffentlichte Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen von Springers Förderer und Doktorvater Friedrich Theodor Vischer richten.39 Sie kann als der wichtigste und umfassendste Beitrag zur realistischen Kunsttheorie bezeichnet werden oder, wie es Julius Meyer formulierte, als „Schlußstein aller früheren" und „die Grundlage aller heutigen ästhetischen Forschung", als „Fundamentalbuch der heutigen Wissenschaft des Schönen".40 Dies gilt um so mehr, als die Entstehungsgeschichte des Werks paradigmatisch auf die Probleme verweist, die mit der Ausarbeitung eines posthegelschen Entwurfs verbunden sind. Der spekulative Ausgangspunkt gerät dabei immer stärker in Konflikt mit den übrigen Teilen, so daß Vischer kurz nach Abschluß seines Werks den gesamten Systementwurf in Frage stellt.41 Zweifellos ist daher die Aesthetik von inhaltlichen Brüchen und ausufernder Differenzierung, von empirischer Belegfülle und vom Abrufen klassischer Loci der Kunsttheorie geprägt, die - wie auch die von Band zu Band vorgenommenen Revisionen - es schwierig machen, von einem einheitlichen Konzept zu sprechen.42 Doch ist es vermutlich gerade der eklektische Charakter, der das Werk nach einem zeitgenössischen Urteil zu einem viel benutzten, aber selten zitierten Grundlagentext realistischer Theoriebildung machte.43 Zumindest in bezug auf Springer scheint diese Beobachtung nicht übertrieben, obwohl das persönliche Verhältnis zu Vischer nicht ganz spannungsfrei gewesen zu sein scheint und Springer in den Lebenserinnerungen gezielte Momente der Distanz setzt.44 Sätze der Dankbarkeit finden sich bezeichnenderweise dort, wo man sie nicht erwartet, nämlich in dem Bericht über die Entstehung des Handbuchs der Kunstgeschichte (AmL, 221): Dieses hatte Vischer zunächst an Springer abgetreten, dann aber mit einem Vorwort versehen, in dem er unüberhörbar Kritik an der Konzeption äußerte und mit der Empfehlung von Burckhardts Cicerone einen Affront gegen den Verfasser beging.45
39 Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gehrauche für Vorlesungen. Drei Teile in vier Bänden und einem Registerband, Reutlingen, Leipzig 1846-1851, Stuttgart 1852-1858. Zitiert wird nach der von Robert Vischer herausgegebenen zweiten Ausgabe in sechs Bänden (München 1922 f). Sämtliche Belege wurden mit der Erstausgabe abgeglichen. 40 μ. φ. [=Julius Meyer]: „Die neueste deutsche Kunst", in: Gb 21/2 (1862), 161-177, S. 164. 41 Vischer: „Kritik meiner Ästhetik" [1866/73], in: Kritische Gänge IV, S. 222-419. Vgl. hierzu Glockner: Die aesthetische Sphäre, S. 439-453. 42 Zur sukzessiven Abrückung vom hegelianischen Ausgangspunkt vgl. Oelmüller: Friedrich Theodor Vischer und das Problem der nachhegelschen Ästhetik, passim. 43 Treitschke an Heinrich Bachmann, Göttingen 1.3.1857, in: Treitschke: Briefe I, S. 408. 44 Vgl. AmL, 104 ff, 111. Entrüstet merkt Justi nach der Lektüre der Autobiographie an, daß die „Art, wie er Friedrich Vischer als närrischen Querkopf zur lächerlichen Figur macht," nicht „zu rechtfertigen [ist], angesichts der Aufnahme, die Springer einst in Tübingen gefunden hatte, wie der Bedeutung des Mannes." Justi an Hartwig, Bonn 30.12.1891, in: Justi/Hartwig: Briefwechsel 1858-1903, S. 343. 45 Vischer: Vorwort, in: Springer: Handbuch der Kunstgeschichte, S. IV. Vgl neben der instruktiven Analyse bei Locher: Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst 1750-1950, S. 260 ff auch die deutliche Kritik Vischers im Briefwechsel mit Strauß, Tübingen 1.8.1855, II, S. 88.
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II. Realistischer
Klassizismus.
Methodik
und Darstellung
bei Anton
Springer
Es ist dennoch kein Zufall, daß die vier Bände der Aesthetik noch bis zum Lebensende in Springers Privatbibliothek blieben, 46 während die Werkausgaben Fichtes und Hegels schon 1853 den Weg zum Antiquar fanden (AmL, 208). Wenn Springer über das Studium in Tübingen bemerkt, daß er die Ästhetik-Vorlesungen zwar ,,[a]m längsten" aushielt, doch Vischer mit der „[ajbsichtlich" schweren spekulativen Rüstung des „erster Teil[s] [...] offenbar des Guten zu viel" tat (AmL, 108), so verrät dies die intime Kenntnis von Vischers Hauptwerk, dessen Gliederung ihm offenbar noch nach Jahrzehnten präsent ist. Der Eindruck, daß Springer den spekulativen ersten Teil links liegen gelassen, aber die übrigen Abschnitte um so gründlicher rezipiert hat, bestätigt sich durch ein Zitat, das vermutlich aus dem Jahr 1856 stammt. In Vischers Aesthetik, so Springer, muß nachgelesen werden, wie [a] im Begriffe des Schönen selbst eine nothwendige Bewegung eintritt, welche das Erhabene und Komische als Gegensätze schafft, [b] wie mit Hilfe eines erborgten Scheines das Reich des Naturschönen, die unermeßliche Stoffwelt für die Kunst sich aufbaut, [c] wie dann die Phantasie, zuerst als passive, aufnehmende, [d] dann als active, schaffende betrachtet, mit jenem Scheine Ernst macht und in der Kunst eine neue Welt in das Dasein ruft, [e] welche bei gleicher Objectivität wie das Naturschöne, doch wieder ganz subjectiv ist, [f] das äußere Material blos als die reine Form für das innere Phantasiebild anerkennt, durch welche Processe weiter das Kunstwerk zur vollen Wirklichkeit gelangt, [g] nach welchem Gesetze die abstracte Kunst in die concreten Kunstgattungen sich gliedert u.s.w., so weit eben Vischer's epochemachendes Werk im Drucke fertig vorliegt.47
Auf knappem Raum paraphrasiert Springer die grundlegenden Abschnitte, wobei er den „spekulativen" ersten Teil nur kurz streift (a; §§ 9 - 2 3 1 ) , dem zweiten und dritten Teil dagegen eine große Bedeutung beimißt: Dort geht Vischer zunächst vom Naturschönen aus (b; §§ 232-378), welches die Einbildungskraft allgemein in Bewegung setzt (§§ 379-484). Auf diese Weise entsteht ein neuer Gegensatz von subjektiver und objektiver Existenz des Schönen, der durch den einzelnen Künstler zur Synthese geführt werden soll (c; §§ 487-492). Die individuelle Phantasie des Künstlers steigert sich dabei so lange (d; §§ 493-509), bis sie dazu gezwungen ist, sich mit dem Rückblick auf die Formen der Natur einer Korrektur zu unterziehen (e; §§ 510-513). Als nächstes streift Springer den bei Vischer thematisierten Vermittlungsprozeß von Phantasie und Material (f; §§ 514-532), an den die Gattungslehre (g; §§ 5 5 0 - 9 2 6 ) anschließt. Das, was Vischers Konzept für Springer als methodische Grundlage wertvoll macht, ist folgendes: 48 Den noch auf Hegel basierenden Entwurf einer „Metaphysik des Schönen" korrigiert Vischer in den Anschlußbänden um eine am künstlerischen Material und dem Naturschönen orientierte produktionsästhetische Dimension. Das Besondere mit dem Allgemeinen vermittelnd, verbindet er den phylogenetischen Verlauf von kunsthistorischen Stil- und Künstlerentwicklungen mit der Ontogenese des Einzelwerks und schafft dadurch
46 Vgl. den Eintrag im Lagerkatalog: Baer & Co: Bibliothek des f Herrn Dr. Anton Springer, Bd. 1, Nr. 473. 47 Springer: Kunsthistorische Briefe, S. 7. 48 Martina Sitt macht mehrere Überschneidungspunkte zwischen Jacob Burckhardt und Vischer geltend, was nur eingeschränkt überzeugen kann. Sitt: Kriterien der Kunstkritik. Jacob Burckhardts unveröffentlichte Ästhetik als Schlüssel seines Rangsystems, S. 83-91.
2. Realistische Kriterien der
Kunstbetrachtung
35
ein System, das sich aus einer philosophiegeschichtlich immanenten Entwicklung heraus zur Kunstwissenschaft öffnet bzw. für diese ein Methodenparadigma bereithält, das in gemeinsamer A b k e h r von spekulativen K o n s t r u k t e n induktive Verfahren
freizustoßen
sucht. D e n n dort wie in Springers kunstwissenschaftlicher Explikation verhalten sich Stil und Werkgenese korrelativ zueinander: Das Erkenntnisinteresse richtet sich sowohl auf die D y n a m i k kunstgeschichtlicher Gesamtentwicklungen wie auf die Gesetze der individuellen Werkgenese. D e r wesentliche Punkt, der dieses Modell von einem rein empiristischen P r o g r a m m unterscheidet, ist seine durchgängig dialektische Durchdringung: Indem sich im K u n s t w e r k N a t u r und Geist vereinigen sollen, knüpft Vischer nicht nur an Forderungen Hegels und Schellings an, er differenziert deren Ansatz vielmehr zu einem enzyklopädischen Modell aus, das in dialektischen Bewegungen verläuft. 4 9 D a b e i verwendet Vischer das O p p o s i t i o n s paar von Idealismus und Realismus zur U m s c h r e i b u n g von Stilentwicklungen, in denen jeweils eines der beiden Prinzipien vorherrscht und durch Umschlagspunkte reguliert wird. F ü r die Malerei gilt dabei, daß diese als subjektivste F o r m unter den bildenden Künsten sich besonders gut mit dem ideal-objektiven Charakter der Plastik verbinden kann, sich mit diesem sogar verbinden muß, um nicht in ihrem genuin eigenen Medium, dem KoloristischMalerischen, unterzugehen: Die Einheit von zwei Prinzipien, die das Wesen der Malerei in sich schließt, muß sich aber, obwohl das eine zu bloß relativer Gültigkeit herabgesetzt ist (§ 657), als Keim zweier selbständiger gegensätzlicher Stilrichtungen erweisen, einer echt malerischen und einer mehr plastischen. Beide verirren sich jedoch, wenn sie ihr gegenläufiges Recht nicht anerkennen und nichts voneinander aufnehmen: diese fällt in Härte, Frost oder körperlose Gedankenhaftigkeit, jene in formlose Unbestimmtheit, ja Objektlosigkeit oder in das Gegenteil, sei es allzuscharfe, herbe und unflüssige Wahrheit des Einzelnen bei tiefem Ausdruck, sei es gehaltlose Nachahmung des Wirklichen, die sich weiterhin in das Gebiet der falschen Reize verliert. Die Wechselseitigkeit beider Stile ist die Lebensbedingung der Malerei; das Ziel, das sie sich immer aufs Neue setzt, ihre Vereinigung.50 Paradigmatisch für dieses Prinzip der idealrealistischen Synthese steht bei Vischer die italienische Renaissance. Somit an die junghegelianische Interpretation anknüpfend, wird sie zusammen mit der deutschen Reformation zum Scheidepunkt der Gesamtentwicklung. 5 1 D a es nach Vischer unmöglich ist, eine absolute Synthese des plastischen und des malerischen Prinzips herzustellen, grenzt er den R a h m e n der Synthesebildung nochmals ein: Sie erreicht dann ihre Vollendung, wenn innerhalb der „echt malerischen" bzw. der „mehr plastischen" Entwicklungslinie eine Versöhnung der Gegensätze erzeugt wird: „Ein wahrer lebensfähiger und lebenerzeugender Gegensatz ist aber nur da, w o in jedem Glied auch das entgegengesetzte enthalten ist; also m u ß jede der beiden Richtungen in einem gewissen
49 Vgl. Göbel: Friedrich Theodor Vischer, S. 80 f. 50 Vischer: Aestbetik IV, S. 278, § 676. 51 Vgl. Vischers Plädoyer, im Gegensatz zu Hegel zwischen romantisch-christlicher und modernimmanenter Kunstform zu differenzieren und mit Anbeginn der Neuzeit eine scharfe kunsthistorische Epochengrenze einzuziehen. Vischer: „Plan zu einer neuen Gliederung der Ästhetik" [zuerst: 1843], in: Kritische Gänge IV, S. 174; „Deutsche Kunstgeschichte" [zuerst: 1844], in: Ebd. V, S. 116.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik
und Darstellung bei Anton
Springer
Maße die andere in sich aufnehmen^]" 52 In der historischen Explikation des Entwicklungsprinzips ordnet Vischer die plastisch-dominante Synthese der italienischen Malerei zu. Michelangelo und Raffael bilden dabei die „absolute Linie [...], bis zu welcher die plastische Richtung in dieser Kunst das echt Malerische [der Venezianer] in sich aufnehmen kann". 53 Beide Künstler werden dadurch nicht allein zu den Exponenten der florentinisch-römischen Schule, sondern können zugleich den Anspruch erheben, die Vollender des italienischen Nationalstils zu sein. Ihr Stil fungiert neben der antiken Plastik als transnationaler Wert, weil er der Ausartung ins rein Malerische vorbeugt: „Was die alte Kunst für alle Zeiten ist, das ist dieser Stil vom sechzehnten Jahrhundert an für die weitere Zukunft[.]" Die nachfolgenden, mehr am modernen, malerischen Ideal orientierten Künstler haben „für immer an diesem reinen und ewigen Muster heraufzublicken". 54 Auf eine Zeitachse übertragen, läßt sich der idealrealistische Prozeß der Synthesebildung nach zwei Varianten einteilen, deren Entwicklungsschemata komplementär aufeinander bezogen sind. Während der Umbrier Raffael seine ursprüngliche „Wärme der Farbe" mit dem florentinisch-römischen Formenkanon vereinigt,55 geht umgekehrt der Florentiner Michelangelo als gelernter Bildhauer vom Prinzip des Plastischen aus, das er sukzessive auf die Malerei überträgt. Die Folge dieses Gattungstransfers beschränkt sich nicht allein auf Michelangelos Malerei, in dem Sinne etwa, wie Vasari die Sixtinische Decke mit dem terminus technicus des rilievo charakterisiert; ebenso entscheidend wie stilbildend wirkt sich die Übertragung malerischer Formen auf die Plastik Michelangelos aus. Sich offenbar auf eine Bemerkung Rumohrs beziehend,56 umschreibt Vischer die Eigenart von Michelangelos Plastik mit dem Definitionsmerkmal des Malerischen: „Michelangelo ist malerisch in der Bildhauerei, weil er allen Figuren den bewegten Wurf gibt, er ist skulptorisch in der Malerei, weil er die Form, insbesondere den Muskel, über das stellt, was die Farbe ausdrückt, allein die tiefe Bewegtheit und der Sturm der wirklichen Bewegung, der durch seine Gemälde braust, weist ihnen dennoch ihre Stelle wieder entschieden im malerischen Gebiet an." 57 Michelangelo und Raffael vollziehen damit ihre künstlerischen Syntheseleistungen reziprok: Während Raffael einen ,,plastische[n] Stil der Malerei" erzeugt, der „des echt Malerischen soviel, als immer in dieser Richtung möglich ist, in sich" trägt,58 vertauscht Michelangelo als plastischer Maler und malerischer Bildhauer die Gattungsgesetze, so daß sich sein Individualstil entgegen den beiden Gattungskonventionen definiert. Im Anschluß an Vischers Systementwurf verlaufen die künstlerischen Entwicklungen in Springers Parallelbiographie. Zunächst folgen Michelangelos Skulpturen „noch den Gesetzen der Gattung, welcher sie angehören" (RM, 27; vgl. RM, 233), so daß die Festlegung auf den plastisch-antiken Formenkanon deutlich wird. Der Karton der Badenden deutet erstmals die Aufnahme des Plastischen in die Zeichnung an (RM, 35). In Rom folgt Michel-
52 53 54 55 56 57 58
Vischer: Aesthetik IV, S. 280, § 676. Ebd., S. 437, § 723. Ebd. Ebd., S. 440 f, § 724. Rumohr: Italienische Forschungen, S. 65. Vischer: Aesthetik IV, S. 294, § 681. Ebd., S. 437, § 723.
2. Realistische
Kriterien
der
Kunstbetrachtung
37
angelo konsequent der eingeschlagenen Richtung, indem mit der Sixtinischen Decke eine Synthese der plastischen Formgesetze mit dem Malerischen vollzogen wird. Erkennbar wird dies für Springer durch den abrupten Maßstabswechsel in der Figurengröße nach dem dritten Mittelfeld, mit der sich die rein dramatisch-malerische Auffassung hin zur Plastizität und Ruhe verschiebe (RM, 116, 124). Dadurch entstehe ein ,,Zwischenreich[]" von Malerei und Plastik, „welches Niemand so vollkommen beherrschte wie Michelangelo" (RM, 124 f). Mit dem Juliusgrabmal wiederholt sich der Wechsel im künstlerischen Medium, was nach Springer dazu führt, daß sich der Künstler erneut von gattungsimmanenten Gesetzen entfernt: „Das gleichmässige Mass der Belebung, in der Antike so bewunderungswürdig durchgeführt und auch von Michelangelo in den jüngeren Jahren keineswegs übersehen, schwebt ihm nicht mehr als ideales Ziel vor." (RM, 233) Die Nachdatierung des von Condivi überlieferten Entwurfs des Juliusgrabmals auf die Jahre 1512 und 1513 begründet Springer mit der flächigen Gliederung, die der Sixtinischen Decke ähnle (RM, 233, 235). Wie die Gestalten auf dem Fresco gehören die Sklaven „in formeller Beziehung" einem „Zwischenreich" an, da ihnen „malerische Züge aufgeprägt" seien und die „überlieferten Grenzen der Plastik für Michelangelo" nicht mehr bestünden (RM, 235). Auch bei den MediciGrabmälern knüpft Springer an die These vom schöpferischen „Zwischenreich" (RM, 418) an: Die Statuen fallen, wie Springer insistiert, nicht „aus dem Rahmen der Entwickelung [...] heraus; sie setzen vielmehr die bereits am Juliusdenkmale deutliche Richtung mit leidenschaftlicher Energie fort" (RM, 413). In ihrer Bewegtheit und in der „Betonung des subjektiven Elementes" (RM, 418) übersteigen sie den klassizistischen parenthyrsis-Gedznken vollends (RM, 4 0 5 - 4 0 7 ) und gönnen dadurch der „malerischen Auffassung ein[en] noch grössere[n] Spielraum als in den früheren Sculpturen" (RM, 413). Umgekehrt argumentiert Springer beim Jüngsten Gericht, indem er dort wieder das „Vorwalten des plastischen Sinnes" bzw. die Kraft der „plastischen Phantasie" (RM, 426) konstatiert. 59 Wie beim Juliusgrabmal, das aus „der längeren malerischen Angewöhnung" (RM, 234) hervorgeht, bestätigt sich die spezifische künstlerische Ausdrucksform abermals durch den Wechsel von Material und Gattung: Die jahrzehntelange Abstinenz von der Malerei und von dramatischen Stoffen transformiert die skulpturalen Elemente auf das Fresko (vgl. R M , 426). Die Entwicklungslinie endet mit den ungeliebten Fresken in der Capeila Paolina: Ihre Abwertung begründet Springer damit, daß „die plastische Phantasie nicht das geringste Gegengewicht findet" (RM, 432). In gegenläufiger Linie strukturiert sich die Werkentwicklung Raffaels. Springer schreibt hier die klassizistische Tradition insofern fort, als die Ausmalung der Stanza della Segnatura und die Teppichkartons als die beiden Gipfel in Raffaels Entwicklung gelten (vgl. RM, 286), 60 während die .malerischen', d. h. mehr vom Kolorit beherrschten und im plastischen' Element reduzierten Perioden wie etwa die umbrische Phase und die Fresken in der Sala d'Eliodoro als „Wendepunkt[e]" (RM, 211), aber nicht als absolute Höchstleistungen gewertet werden. Allerdings fallen auch die späteren Werke, die wie die Ausmalung der 59 Vgl. hierzu die völlig gegenläufigen Bewertungen bei Burckhardt und Justi: Burckhardt: Cicerone, S. 872 ff (JBW 3, S. 125 f); Justi: Michelangelo. Neue Beiträge zur Erklärung seiner "Werke, S. 336. 60 Belegreich: Ebhardt: Die Deutung der "Werke Raffaels in der deutschen Kunstliteratur von Klassizismus und Romantik, S. 50 f, 79 f, 122 u. 5.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik
und Darstellung bei Anton
Springer
dritten Stanze und die Farnesinafresken einen unmittelbaren Einfluß der antiken Plastik oder der Groteskenmalerei erkennen lassen, in der Bewertungsskala ab. Die rein plastischen wie die koloritdominierten Phasen korrigieren sich somit in der Entwicklung gegenseitig, bis sie in der Synthese beider Stilprinzipien kulminieren. Für die historiographische Ordnung hat dies eine folgenreiche Konsequenz: In der zeitlichen Uberschneidung des Triumphs der Galatea (1515) mit den Vatikanischen Teppichen (1513-1516) zieht Springer die Behandlung des Freskos in der Farnesina vor, welches „stärker als in allen späteren Werken die echte antike Empfindung" verströme (RM, 265), um erst dann die Entwürfe zu den Teppichen zu behandeln. Im Sinne der damit implizierten Überbietungsstruktur in der dialektischen Stufenleiter vollzieht Raffael die höchste Form der Synthese, da die dort behandelten christlichen Themen zu einer erneuten Verbindung der antik-klassischen Objektivität mit der christlich-romantischen Subjektivität führen, mit der ganz im (post)hegelianischen Verständnis das Malerische und das Kolorit wieder zu ihrem Recht kommen. Der christliche Gehalt der Kartons motiviert zur Wiederanknüpfung an die Farbe, wobei aber sein christlich-transzendenter Charakter verloren geht, da über das beibehaltene plastische Element eine Immanenzgebundenheit hergestellt wird. Die erzielte Einheit des Plastischen mit dem Malerischen erhält erst hier den Status der absoluten Vollendung, die die Gleichrangigkeit Raffaels mit dem klassischen Altertum begründet: „Die Teppichcartons sind die Parthenonsculpturen der neueren Kunst." (RM, 284) Die Gleichwertigkeit beider Künstler beruht somit auf der in jeweils gegenläufiger Richtung angestrebten Amalgamierung zwischen dem Plastischen und dem Malerischen. Ihre Extreme und Berührungspunkte beziehen sich vice versa aufeinander, so daß sich ein normatives Wertungsgefälle zwischen ihnen erübrigt: Michelangelo erzeugt mit der Aufnahme des Malerischen in die Plastik und mit der Aufnahme des Plastischen in die Malerei ein formalästhetisches Pendant zu Raffael, das die Stilantagonismen zwar anders gewichtet, doch ähnlich austariert. Der wesentliche Beitrag dieser Systematisierung ist nicht die Beobachtung von Michelangelos plastischer bzw. reliefartiger Auffassung im Malerischen, die zur longue durée der Kunstkritik gehört,61 sondern vielmehr die begriffliche Umschreibung seiner bildhauerischen Qualitäten. Die ältere Kunstliteratur sah hier relativ einheitlich die Attribuierung mit den Merkmalen des Erhabenen und der Grenzüberschreitung natürlicher Formen vor, die - so die klassizistische Traditionslinie - wesentlich zum Verfall der Bildhauerkunst im 17. Jahrhundert (Bernini) beigetragen habe.62 Natürlich kennt Springer den Topos vom Kunstverderber Michelangelo und hält an ihm fest (RM, 418). Doch weicht er von der Uberlieferung entschieden ab, wenn er die Ursachen für Michelangelos plastische Eigenart in dessen Verhältnis zur Malerei findet. Denn mit der ästhetischen Refiguration vom .malerischen Bildhauer' ist auch die Möglichkeit zur Umdeutung des künstlerischen Phänomens eröffnet: Dort, wo gemeinhin das Grenzüberschreitende, Titanenhafte, bisweilen Dämonische als großer Unsagbarkeitstopos für eine natur- und kanonsprengende Ausdrucksform Michelangelos stand, tritt nun ein sauberes und rationalisiertes Begriffsinstru-
61 Zum Terminus des rilievo in der italienischen Kunsttheorie vgl. mit weiterführender Literatur: Sabine Feser: Art. „Plastizität", in: Glossar zu: Vasari: Kunstgeschichte 62 Vgl. z . B . Winckelmann: Geschichte Erster Theil, S. 61 ff.
der Kunst der Alterthums,
und Kunsttheorie,
S. 255-257.
S. 174; Fernow: Römische
Studien.
2. Realistische Kriterien der
Kunstbetrachtung
39
mentarium, das ein skulpturales Äquivalent zu der traditionellen Umschreibung von Michelangelo als bildhauerischem Maler bildet. Mit dem idealrealistischen Verlaufsmuster schließlich, das weder das Primat der Farbe noch das der Zeichnung zur N o r m erhebt, sondern auf der Gleichwertigkeit beider formalen Komponenten besteht, wird auch der traditionelle Rangstreit zwischen disegno und colore, zwischen terribilità und grazia obsolet. Die Agonalität beider Künstler wird auf den rein ästhetischen Vergleich depotenziert, welcher komplementär statt antithetisch strukturiert ist. Das in der Kunstliteratur tradierte Verfahren des Paragone, das die Künstlernaturen gegeneinander ausspielt und über den Vergleich normative Exempla statuiert, hat damit ein vorläufiges Ende: „Die Zeit hat [...] in dieser Sache ausgleichend und versöhnend gewirkt. [...] Es gibt keine Partei Raffael's und keine Partei Michelangelo's mehr; wir streiten uns nicht mehr, wer grösser und gottesbegnadeter war [...], sondern erkennen einstimmig an, dass die Jahre ihres gemeinsamen Wirkens die glänzendste Periode des italienischen Kunstlebens bilden[.]" (RM, 483)
2.3. Empirische Kunstwissenschaft und dialektische Konzeption II: Zum Verhältnis von Fotografie und Produktionsästhetik Parallel zu den Verbesserungen in der fotografischen und der damit verbundenen drucktechnischen Reproduktion von Kunstwerken ist seit der Mitte der 1850er Jahre die konstante Zunahme des Gebrauchs fotografischer Abbildungen in der kunstwissenschaftlichen Praxis zu beobachten - ein mediengeschichtlicher Einschnitt, der fundamental zu der disziplinären Eigenständigkeit des Fachs Kunstgeschichte beitrug. 63 Zusammen mit vielen anderen Kunsthistorikern war sich Springer des neuen methodischen Potentials sehr bewußt. 64 Wenn auch bei der Reproduktion von Farbwerten zahlreiche Probleme auftraten, 65 bot zumindest die technische Reproduzierbarkeit monochromer Handzeichnungen die Möglichkeit, auf zahlreiche europäische Sammlungen verstreute Blätter erstmals zusammenzuführen und an ihnen - unabhängig von direkter Autopsie, Nachzeichnung oder Gedächtnis des Kunsthistorikers - ein vergleichendes kritisches Verfahren zu vollziehen. Die Vorrede von Raffael und Michelangelo geht demonstrativ auf diesen Umstand ein und es steht außer Frage, daß Springer sein Werk als Beitrag zu einem entscheidenden und bewußt inszenierten Paradigmawechsel verstand, der durch Anwendungsbezogenheit die kunstwissenschaftliche Diskussion über Nutzen und Nachteil der Fotografie beeinflussen sollte. Mit der Verfügbarkeit genauer Abbildungen erschien die Rekonstruktion der Genese einzelner Werke, die synthetische Verkettung von Einzelstudien zu einem einheitlichen Schaffensprozeß und der entwicklungsdynamische Nachvollzug ganzer Werkgruppen möglich; eine methodische
63 Grundlegend: Dilly: Kunstgeschichte als Institution, S. 150-160; Hamber: „The Use of Photography by Nineteenth-Century Art Historians"; Ratzeburg: „Mediendiskussion im 19.Jahrhundert". 64 Vgl. hierzu Springers Broschüre von 1860: Die Arundel-Gesellschaft zur Förderung höherer Kunstkenntniss. 65 Zu den Anstrengungen der Fotoateliers, die Farbenblindheit der Fotografie durch Retouchen zu verbessern bzw. zu den fotochemischen Bemühungen siehe Heß: Der Kunstverlag Franz Hanfstaengl und die frühe fotografische Kunstreproduktion, S. 118-167.
40
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
Option, die Springer mustergültig in den Analysen zu Raffaels Madonnenstudien und den Entwürfen zur Disputa ausführte. Daß die systematische Nutzung des neuen Mediums zum zentralen Moment der Parallelbiographie wurde, bedingte noch ein weiterer Faktor: An keinem anderen Künstler konnte diese Empirisierung besser vollzogen werden als an Raffael, mit dessen Namen die kunstwissenschaftliche Fotografiediskussion eng verknüpft war. Auf Initiative des britischen Prinzgemahls Albert entstand seit 1852 der fotografische Corpus sämtlicher Handzeichnungen des Urbinaten, ergänzt um ausgewählte Kupferstiche der Fresken und Tafelbilder. 66 Anders als Passavants Werkverzeichnis, das sich nach Aufbewahrungsort und Gattungszugehörigkeit gliederte, wurden dort die Einzelwerke nach ihrer ikonographischen Zugehörigkeit und den organischen Kriterien des Schaffensprozesses angeordnet. Systematisiert nach thematischen und zeitlich-stilistischen Merkmalen, sollte die Werkentwicklung für den Betrachter transparent werden. 67 Es ist daher nur folgerichtig, wenn Springer in der Vorrede jenes einzigartige Projekt besonders hervorhebt und Albert von England postum huldigt: Ein erlauchter Fürst, gleich hoch stehend und unvergesslich durch seine politischen Tugenden wie durch seine Kunstliebe und Kunstpflege, fasste der Erste [sie!] den Gedanken, die kunsthistorischen Studien auf diese neuen Hilfsmittel zu gründen und führte ihn in glänzendster Weise aus. Prinz Albert von England Hess in der Bibliothek zu Windsor das ganze Werk Raffael's in Kupferstichen und Photographien, wohl geordnet, jedes Gemälde von den dazu gehörigen Skizzen und Studien begleitet, aufstellen und schuf auf diese Art ein unvergleichlich treues und vollständiges Bild von Raffael's Wirksamkeit und Entwicklung. Nach diesem Muster musste jeder Kunsthistoriker fortan sich richten, auf diesem Wege weiter zu schreiten versuchen. RM, III
Hinter diesen Sätzen scheint auch persönliche Dankbarkeit zu stehen. Als Springer 1857 die Weltausstellung in Manchester besuchte, trug er vermutlich ein Empfehlungsschreiben von Alberts älterem Bruder, Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha, mit sich, das ihm „alle Thüren und Thore" öffnen sollte. 68 In Folge dieser Verbindung erhielt Springer eines der seltenen fotografischen Mappenwerke, das die Raffael-Zeichnungen im königlichen Besitz nach den Aufnahmen des britischen Fotografen Charles Thurston Thompson dokumentierte. 69 So berichtet Springer seinem Bonner Nachfolger Carl Justi, daß die „Bonner Bibliothek [...] auf meine dringende Bitte vor vielen Jahren von Prinz Albert die Windsor-
66 Zur Geschichte der sog. „Ruland-Collection" vgl. Becker/Ruland: „The ,Raphael Collection' of H. R. H. the Prince Consort"; Vorwort Carl Rulands zur limitierten Ausgabe The Works of Raphael Santi Da Urbino-, Montagu: „The ,Ruland/Raphael Collection'". 67 Zur Kritik an Passavants Catalogue Raisonné und den eigenen Ordnungsvorstellungen vgl. Ruland: Vorwort, [ders. (Hg.):] The Works of Raphael Santi da Urbino, S. X X ff, XIX. 68 Springer bat in einem Brief an Gustav Freytag um die Vermittlung durch den Herzog, Bonn 4.7. 1857, StB Berlin, N1 Freytag. 69 Drawings by Raffaelle, in the Royal Collection at Windsor Castle, Photographed by C. Thurston Thompson, London 1858. Exemplar in der ULB Bonn, Signatur: Ε 1Ί35. Widmungsvorblatt: „Geschenk seiner Königlichen Hoheit des Prinzen-Gemahl Prinzen Albert von Sachsen Koburg Gotha an die Bibliothek der Universität zu Bonn. Windsor Castle, den 9ten Februar 1860". Vgl. Abb. 7-9. Zur Entstehung vgl. Gere/Turner: Drawings b y Raphael, S. 10.
2. Realistische
Kriterien
der
Kunstbetrachtung
41
Sammlung zum Geschenk erhalten" 7 0 hatte (vgl. Abb. 7 - 9 ) . Das in limitierter Auflage erschienene, nicht für den Handel bestimmte Prachtwerk mit 52 maßstabsgetreuen Reproduktionen der in Windsor aufbewahrten Raffael-Zeichnungen blieb für lange Zeit die einzige Quelle authentischer Abbildungen, da trotz der Bemühungen von Fotofirmen wie Adolphe Braun (Dornach/Elsaß) die Windsor-Zeichnungen für gewerbliche Zwecke verschlossen blieben. Noch 1882 war ein kompletter Satz fotografierter Raffael-Zeichnungen regulär nicht zu erwerben. 71 Von dieser N o t ist auch die Bitte Springers an Justi getrieben, ihm den entsprechenden Band nach Leipzig zu senden: „Bei der Revision meines Mnsr. über Raffael und Michelangelo sah ich, daß ich die Details einer Handzeichnung nicht mehr ganz genau in der Erinnerung festhalte. [...] Die Photographien nach den Windsorraffaels sind mir hier nicht zugänglich, überhaupt auf dem Wege des Handels nicht zu beziehen. [...] Könnten Sie (oder in Ihrer Vertretung Freund Kekulé) die Umrisse der Figuren auf meine Kosten durchpausen lassen. Das Einfachste wäre, mir den ganzen Band auf eine Woche zu senden." 7 2 Einige Zeit später scheint sich jedoch das Problem von selbst gelöst zu haben: Als 1876 endlich der komplette Corpus der Fotosammlung zu Windsor in einer limitierten Auflage von 100 Exemplaren erschien und an ausgewählte Personen und Institutionen Europas versandt wurde, gehörte zu den glücklichen Empfängern auch Springer. 73 Daß Raffael und Michelangelo 1878 unter äußerst günstigen Bedingungen erscheinen konnte, verdankt Springer somit einem kleinen, aber entscheidenden Vorsprung: Nämlich dem, zu den wenigen privilegierten Kunsthistorikern gehört zu haben, die über fotografische Abbildungen der prominenten Windsorzeichnungen frei verfügen konnten. 7 4 Zusammen mit anderen Mappenwerken und den seit den sechziger Jahren bei Adolphe Braun erhältlichen Reproduktionen 7 5 bildeten sie ein unverzichtbares Anschauungsmaterial, dessen Vorzüge Springer ohne die .idealistischen' Skrupel manch anderer Fachkollegen aner-
70 Springer an Justi, Leipzig, 1. 7., o. J. (ca. 1873-75); ULB Bonn, Hss.-Abt., N1 Justi, S 1711. 71 Vgl. den Abgleich der Passavant-Nummern mit lieferbaren Reproduktionen bei Lübke: RafaelWerk, S. 195-204. 72 Springer an Justi, op. cit. Dahinter steht vermutlich auch das Kalkül, eine der Entwurfszeichnungen zur Disputa in der Parallelbiographie exakt abbilden zu können. Vgl. die lithographische Abbildung in RM, 161. 73 [Carl Ruland (Hg.):] The Works of Raphael Santi da Urbino as Represented in The Raphael Collection in the Royal Library at Windsor Castle, privately printed, 1876. Den Besitz belegt der Antiquariatskatalog von Springers Privatbibliothek: Baer & Co: Bibliothek des f Herrn Dr. Anton Springer, Bd. 1, Nr. 1281. 74 Der deutschen Öffentlichkeit wurde die Ruland-Collection erst mit der Ausstellung ihrer Reproduktion 1879 auf der Brühischen Terrasse in Dresden durch den Kunstbuchhändler Ernst Arnold zugänglich. Vgl. Friedrich Rust: „Ueber die Bedeutung der Vervielfältigung der Bilder Raphaels", in: Im neuen Reich 9/2 (1879), S. 933-945. 75 Vgl. die Liste fotografischer Alben (Stand 1860) in der französischen Ausgabe von Passavants Raphael d'Urbin et son père Giovanni Santi, II, S. 404-406. Die Firma Adolphe Braun begann (nach den Stanzen-Fresken und den Tafelbildern Raffaels) die Reproduktion von Handzeichnungen in den sechziger Jahren. Vgl. Carl Ruland: „Vorrede zum Braun'sehen Catalog 1887", in: Braun: Catalogue Général (1887), S. XXIV. Der Katalog von 1880 (S. 218-238) umfaßt an die 900 lieferbare Nummern zu Raffael.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton
Springer
kannte. 76 Es wäre aber dennoch falsch, den Eintritt der Fotografie in die kunsthistorische Praxis allein als epistemischen Bruch von der Ästhetik zur Wissenschaft zu werten. Springers vorbehaltlose Akzeptanz des neuen Mediums und die Erkenntnis seiner methodischen Chancen ist vielmehr auch das Ergebnis einer Erosion, die seit Mitte der vierziger Jahre in der realistischen Ästhetik stattfand und damit der Fotografie indirekt den Weg in die Kunstwissenschaft ebnete. Denn entscheidend ist hier nicht, daß andere Kunsthistoriker wie Passavant und Waagen ebenfalls ein wissenschaftliches Interesse an der Handzeichnung oder an ihrer fotografischen Reproduktion entwickelten; 77 entscheidend ist vielmehr, daß erst mit dem Vorverständnis eines sensualistischen Schaffensprozesses, der im Sinne Feuerbachs die geistige Tätigkeit des Menschen an seinen Leib bindet und die Komponenten des Materials berücksichtigt, die werkgenetische Verkettung der Einzelabbildungen erzeugt werden kann. Einen im Vergleich zu Springer denkbar schlechten Ausgangspunkt für dieses veränderte Verständnis vom gleitenden Schaffensprozeß bildet dabei Passavants Konzept des Catalogue Raisonné: Indem sich dieser systematisch in zwei Hauptteile gliederte, nämlich nach dem chronologisch geordneten Werkverzeichnis einerseits und den nach Aufbewahrungsort numerierten Handzeichungen andererseits, konnten übergreifende Werkbezüge und eine synthetische Beziehung zwischen den einzelnen Entwurfsstadien kaum transparent gemacht werden. 78 So beschränken sich die Ausführungen zu den Disputa-Entwürfen auf eine einfache Qualitätsopposition von frühem und spätem Stadium. 79 N o c h in der französischen Ausgabe von 1860 blieb Passavants Konzept trotz der Verfügbarkeit des fotografischen Materials indirekt dem nazarenischen Bedürfnis verbunden, die Handzeichnung als autonome Kunstgattung zu würdigen; 80 ein Erkenntnisinteresse, hinter dem die tatsächliche Verkettung der Einzelteile zum gesamtorganischen Schaffensprozeß zurückblieb. Anders, aber ebenso symptomatisch, verfahren noch 1883 Crowe und Cavalcaselle, die zahlreiche Einzelblätter nur in Beziehung auf die stilistische Entwicklung besprechen. Die Entwicklungslinie wird dort allein nach formalen Differenzwerten und nicht nach Bildgattungen konstruiert. 81 Im Verhältnis von Entwurf und Werk ziehen sie - wie auch die Ruland-Collection - das vollendete Werk seiner Entstehungsgeschichte vor.
76 Vgl. Ratzeburg: „Mediendiskussion im 19. Jahrhundert", S. 27 ff. 77 Zu den Verbindungen Passavants bzw. Waagens zu Albert von England vgl. Schröter: „RaffaelKult und Raffael-Forschung", S. 375; lilies: „Gustav Friedrich Waagen, Prinz Albert und die Manchester Art Treasures Exhibition von 1857". 78 Dies betrifft auch den biographischen Fließtext im ersten Band, der die Handzeichnung kaum berücksichtigt. 79 Passavant: Rafael von Urbino und sein Vater Giovanni Santi II, Nr. 295, 560, 207, 374, 379. 80 Zu der Ausgangslage vgl. Busch: „Akademie und Autonomie", passim. 81 Ζ. Β. werden die Porträts Maddalena und Agnolo Donis zwischen die Madonna del Cardellino und die Madonna Tempi eingeschoben (Crowe/Cavalcaselle: Raphael I, S. 206-211); auf diese folgt der Bericht über Raffaels Studien nach Leonardo und Donatello (ebd., 214 f). Im sechsten Kapitel schließen an St. Georg und das Selbstporträt (ebd., S. 218-222) die Madonna Orléans und die Madonna mit der Palme (ebd., 223-226) an. Diese trennt ein Exkurs über den Einfluß Fra Bartolommeos und Michelangelos (ebd., 227-231) von der Madonna Canigiani, auf die wiederum die Grablegung folgt (ebd., ab S. 236) etc. pp.
2. Realistische Kriterien der
Kunstbetrachtung
43
Springer dagegen vereinheitlicht die Elemente der Stilentwicklung und der individuellen Werkentstehung zu einem Gesamtprozeß, wie schon die Vorrede zu Raffael und Michelangelo zeigt: „Man lernte den Stil, die Frucht der Entwickelung und die zur Fertigkeit ausgebildeten Eigenschaften des Meisters kennen, aber nicht die Gesetze begreifen, welche seine persönliche Entwickelung bedingten und der Entstehung der Einzelwerke vorstehen." Die „historisch-genetische Methode" kann dagegen durch die fotografische Reproduktion von Handzeichnungen eine empirische Bestandsaufnahme der Werkgenese sichern, ähnlich wie die Einführung des Mikroskops die „äusserliche Naturbeschreibung in eine organische Naturgeschichte" verwandelt habe (RM, III). 82 Damit stellt Springer das traditionelle Gefalle zwischen Werk und technischer Ausführung auf den Kopf. Stand noch bei Hegel der „Stil" im fundamentalen Gegensatz zu den Bedingungen der künstlerischen Produktion, deren Spuren aus dem Kunstwerk zugunsten des Gehalts aufgehoben, gereinigt, ja getilgt werden sollten,83 wird hier genau das Gegenteil formuliert: Das vollendete Werk, das aus idealistischer Sicht eine in sich selbst genügende organische Schöpfung war, verliert sein ästhetisches Primat, indem der Nachvollzug des künstlerischen Schaffensprozesses zu einem mindestens gleichwertigen Akt erhoben wird. Dadurch wird die Rekonstruktion der Werkgenese zum zentralen Desiderat, das auch in ästhetischer Hinsicht überzeugen soll: Was kann es auch Lockenderes geben, als sich in die unendliche Tiefe des Lebens und der Schönheit, die aus jeder einzelnen Gestalt spricht, zu verlieren? Und dennoch giebt es etwas noch Herrlicheres und das ist: der schöpferischen Kraft, die sich nie genug thut, immer neue Offenbarungen bereit hält, immer wieder durch die Fülle und Fruchtbarkeit der Phantasie überrascht, zu folgen. RM, 130
Frage und Antwort umschreiben in nuce das Verhältnis von Produktionsästhetik und Stil nach realistischem Verständnis: Indem Michelangelos Sixtinische Decke nicht auf ihren theologischen Gehalt und die Offenbarung von Transzendenz, sondern auf die „Tiefe des Lebens" festgelegt wird, konstruiert Springer einen kausalen Zusammenhang zwischen dem realistischen Stil und den in der Immanenz angesiedelten Gesetzen der künstlerischen „Phantasie", die für den Betrachter selbst zur „Offenbarung" werden. Damit ist im Kunstwerk nur dasjenige wahr und objektivierbar, was mit den materiellen Gesetzen der künstlerischen Ausarbeitung vereinbar ist und auf einen immanent verstandenen Lebensbegriff lenkt. Die Sensation der ästhetischen Erfahrung ist nicht mehr die Präsenz des vollendeten und aller Zeitlichkeit entrückten Werks, sondern der in der zeitlichen Ordnung und am Material (Skizzen, Vorstudien etc.) nachvollziehbare künstlerische Schaffensprozeß. Mit der dadurch erzielten Umkehrung der Hierarchie von künstlerischer Produktion und vollendetem Stil wertet Springer die manuelle Tätigkeit des Künstlers eminent auf und macht 82 Springers Mikroskop-Metapher legt die Analogie zu Ernst Haeckels biogenetischem Grundgesetz (1872), das auf Grundlage von embryonalen Untersuchungen Phylogenese (Entwicklung der Art) und Ontogenese (Entwicklung des Einzelorganismus) aufeinander bezieht, nahe. Meine Untersuchung bleibt jedoch ästhetikgeschichtlich immanent, da im vorliegenden Fall der Transfer von naturwissenschaftlichen Epistemen auf die Kunstgeschichte zu vage erscheint. Die nachfolgende Analyse dürfte zeigen, daß Springers Argumentationsweise weniger evolutionistischen, sondern v. a. dialektischen Denkmustern verpflichtet ist. 83 Hegel: Vorlesungen
über die Ästhetik,
I, S. 139, 376 f, 383.
44
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
sie z u m zentralen Gegenstand der ästhetischen Auseinandersetzung. Deshalb sind Raffaels Handzeichnungen „gleich berechtigt" mit den ausgeführten Tafelbildern: „Wir werden gleichsam in die Werkstätte des Meisters eingeführt und sind Zeugen von dem lebendig organischen Schaffen desselben" ( R M , 63). Das Beispiel der Sixtinischen
Decke
zeigt, wie sehr Springers Kunstverständnis auch und
gerade bei einer evident theologischen Ikonographie von einer metaphysikkritischen D o k trin geprägt ist. D e n n auf doppelte Weise erscheint diese K o n s t r u k t i o n von einer ästhetischen Vorgeschichte determiniert: E i n m a l durch die Revision der Hegeischen Trennung des N a t u r s c h ö n e n v o m Kunstbegriff, die seit Mitte der vierziger J a h r e im theoretischen R ü c k griff auf R u m o h r und Feuerbach betrieben wurde. S o forderte H e r m a n n H e t t n e r schon 1845 im polemischen Gestus gegen Hegel, die Ästhetik als Kunstwissenschaft neu zu begründen und dabei auf eine anthropologisch-materialistische Basis zu stellen: „Von Hause aus auf anthropologischen B o d e n gestellt, hat daher die genetische E n t w i c k e l u n g der K u n s t davon auszugehen, daß sie Erzeugniß und somit A u s d r u c k und Bethätigung des menschlichen Geistes ist. D e r M e n s c h als Geist ist das Selbstbewußtsein der N a t u r . " 8 4 Diese Renaturierung des Schöpferischen hat zweitens zur Folge, daß sich die Ästhetik als Erfahrungswissenschaft neu definiert, die den künstlerischen Schaffensprozeß als sensualistische Objektivierung an der konkret-natürlichen Außenwelt und am v o m
Künstler
benutzten Material versteht. Das produktionsästhetische Verständnis ändert sich damit grundlegend: D i e Bindung des menschlichen Intellekts an die leibliche Existenz macht den Schaffensprozeß zu einem komplexen Wechselspiel von äußeren und inneren F a k t o r e n , das, eine optimale Uberlieferungssituation vorausgesetzt, v o m Kunstwissenschaftler direkt an den E n t w ü r f e n nachvollzogen werden kann. Ein direkter Reflex auf die Diskussion der 1840er Jahre und damit das Bindeglied zu Springer ist der zweite und dritte Teil von Vischers Aesthetik: mistische und am rhetorischen inventio-Begriff
Vischer löst dort das akade-
orientierte Produktionsmodell mit einem
neuen Systematisierungsvorschlag ab. D e r sensualistischen U m k e h r u n g des Gefälles zwischen begrifflichem Intellekt und dessen Leibgebundenheit ist geschuldet, daß sich Vischer nicht mehr an der ¿ífez-Tradition orientiert, welche v o m Gehalt ausgeht und ihn sukzessive um formale E i n z e l k o m p o n e n t e n erweitert, sondern die Tätigkeit des Künstlers als dialektischen P r o z e ß versteht, der zwischen den Polen des realistisch N a t u r s c h ö n e n und der idealisierenden Phantasie verläuft. N a c h Vischer gründet die „einseitig objektive Existenz des S c h ö n e n " in der Natur, während die „einseitig subjektive E x i s t e n z des S c h ö n e n " auf der Phantasie des Künstlers beruht. 8 5 Grundlegend für dieses Verständnis ist, daß der Gehalt seine normative Kraft verliert und keiner der beiden Einzelkategorien eindeutig zugeordnet werden kann: E r teilt sich vielmehr auf eine ideale und eine reale Reihe auf, indem religiöse, mythologische und andere als fiktional klassifizierte Vorstellungswelten der idealen Seite zugeschlagen werden, während die reale Reihe diejenigen T h e m e n miteinschließt, die in der
84 Hettner: „Gegen die speculative Aesthetik", S. 180. 85 Die Gliederung in eine reale (Natur) und in eine ideale Reihe (Geist) geht auf Schelling zurück. Zur Schelling-Rezeption Vischers vgl. Göbel: Friedrich Theodor Vischer, S. 50 ff. Zur zeitgenössischen Kritik an Vischers Phantasiebegriff vgl. Cohen: „Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins", S. 179 f.
2. Realistische
Kriterien
der
Kunstbetrachtung
45
Natur und geschichtlichen Welt des Menschen existent sind (Historienbild, Genre u. a.).86 Beide Elemente sind als einzelne insuffizient und müssen vom Künstler in einem dynamischen Prozeß der Bildfindung in Harmonie gebracht werden. Die wesentliche Konstitutionsbedingung ist die Erprobung des ersten künstlerischen Eindrucks am Material, da die Bildschöpfung solange nicht zur ästhetischen Evidenz kommen kann, wie ihr geistiger Anteil nicht an die Determinanten der Materie und des jeweiligen Gattungsgesetzes angepaßt wird. Nach dieser Prämisse sind Bilderfindung und mechanische Realisierung keine getrennten Abläufe, die Materie kein spröder Stoff, den es zugunsten des Gehalts zu domestizieren gälte. Vielmehr bedingen sich beide Komponenten im Gestaltungsprozeß gegenseitig; das Material wird zum notwendigen Bestandteil des Erfindens. Vischer weist deshalb Vorstellungen von schöpferischer Inspiration, die auf einem rein geistigen, „inneren Bild" beruhen, zurück: „Dies ist der Standpunkt Schleiermachers, der die Kunst als eine im Inneren beschlossene (immanente) Tätigkeit auffaßt. Das innere Bild ist ihm das eigentliche Kunstwerk [...]; das Heraustreten ins Außere ist ihm nur ein Zweites, später Hinzukommendes, was als solches auf mechanische Weise wird und daher nicht mit unter den Begriff der Kunst gehört". 87 Mit der Kritik am platonischen Antimaterialismus und an der romantischen Vorstellung einer augenblicklichen Inspiration 88 liefert Vischer die theoretisch-ästhetische Begründung für die Aufwertung der Handzeichnung als Medium psychologischer Erkenntnis. Sie ist direktes Abbild der schöpferischen Phantasie, da diese in ihrer sensualistischen Leibgebundenheit nur in Beziehung zur manuellen Tätigkeit existiert. Alles andere dagegen ist reine Fiktion, und es ist bezeichnend, daß sein ehemaliger Schüler Springer den idealrealistischen Standpunkt noch in Raffael und Michelangelo vertritt: Dies zeigt die durchgängige Polemik gegen die Vorstellung von einer spontanen schöpferischen Bildfindung auch dort, wo keine Entwürfe überliefert sind. So nimmt Springer an, daß die Madonna di Foligno „keine im Augenblick fertige Improvisation" ist, sondern durch „wiederholte Umarbeitung, ein langsames Reifen der Composition" entstand (RM, 212). Eine „in Wahrheit [...] allmählich gereifte Schöpfung der Phantasie" ist auch die Madonna della Sedia, deren „technische Ausführung [...] auf den ersten Blick zu dem Glauben einer raschen Improvisation verleiten" könnte (RM, 217). An anderer Stelle, bei der Großen Heiligen Familie im Louvre, heißt es, daß das „Bild [...] nicht den Eindruck [macht], als wäre es im ersten schöpferischen Drange der Phantasie entstanden" (RM, 352). Daß Springer schließlich noch 1878 (!) in den alten junghegelianischen Atavismus zurückfällt und gegen Wackenroders Vorstellung einer göttlichen Inspiration polemisieren muß, zeigen die abschließenden Sätze zur Sixtinischen Madonna: Kein Gemälde alter Zeit hat so viel begeisterte Herzensergiessungen wachgerufen wie die Sixtinische Madonna. [...] Der Umstand, dass bis jetzt keine Skizze, keine Handzeichnung zur Sixtinischen Madonna nachgewiesen werden konnte, die Röthelvorzeichnung auf der Leinwand selbst 86 So ordnet Vischer die geschichtlichen Stoffe in die reale Reihe ein. Vgl. Vischer: Aesthetik II, S. 263 ff, § 3 4 1 . 87 Vischer: Aesthetik III, S. 13, § 491. 88 Zum Zusammenhang von Neuplatonismus und frühromantischem Denken bei Wackenroder vgl. Kemper: Sprache und Dichtung, S. 211 ff.
46
II. Realistischer Klassizismus. Methodik
und Darstellung
bei Anton
Springer
dem Künstler vielleicht als Vorbereitung genügte, hat den Glauben in romantischen Kreisen geweckt, als ob eine unmittelbare Offenbarung Raffael's Geist erfüllt und in ganz ungewöhnlicher Weise seine Hand geleitet hätte. RM, 293
Die sensualistische Umkehrung von Geist und Materie bedingt auch den Umstand, daß neben der romantischen Produktionsästhetik auch die konturlinearistische Auffassung, die im Sinne des disegnos den Gehalt in der Zeichnung fundiert, an Uberzeugungskraft verliert. Schon 1856 kritisiert Springer eine in der Kontur erstarrte Gehaltsästhetik, wenn er vom Gegenwartskünstler fordert, seine Energie nicht vollständig auf die Vorzeichnung zu konzentrieren und „für die Ausführung des Bildes nur die gelangweilte Phantasie und die ermüdete Hand übrigzulassen. So werden keine Coloristen gebildet." 89 Dem schließt sich zwanzig Jahre später die Zurückweisung eines Verständnisses vom Schaffensprozeß an, das sich streng nach Rubriken gliedert (Gehalt, Komposition, Farbe etc.). Statt von sukzessivdiachronen Schritten in der Werkausarbeitung spricht Springer von „Strahlen von allen Seiten" (RM, 179), die den Gestaltungsprozeß synchron konfigurieren. Idealiter sind daher „Gesetze des künstlerischen Schaffens" nicht an „Recepte der Composition" gebunden (RM, 286), sondern vollziehen sich in gegenseitiger Abstimmung aufeinander, um eine ausgewogene Beziehung aller formalen Elemente zu erzeugen. Auch diese Argumentation schließt terminologisch eng an die Auffassung Vischers an, was sich bisweilen zur ungenierten Übernahme ganzer Satzmuster steigert: So etwa wenn es in der Parallelbiographie heißt, daß sich in Raffaels Phantasie „[unwillkürlich [...] bald die eine Seite [...] bald die andere vorschiebt]" (RM, 179), und Vischer den Schaffensakt dadurch definiert, daß bei ihm „jede dieser Tätigkeiten in der andern enthalten" ist, wobei „bald die eine, bald die andere vorwiegt". 90 Bei dem gleitenden und organischen Ubergang von der prima idea zum Werk, heißt es bei Vischer weiter, ist „die Idee [...] dem Künstler nur Gelegenheit, Schönes zu entwickeln", 91 bei dem er „in einem Zuge, der schaffenden Natur gleich", aus dem „gefühlten Kerne des Stoffs harmonische Formen quellen" 92 läßt. Dieser „Strom der Erfindung" (RM, 160) - und nicht die reflexive Setzung des Gehalts in der Komposition - bedingt auch den Nebeneffekt, daß bei Springer das Beschreiben nach Einzelrubriken keine Anwendung findet. Wie stark sich sensualistische Produktionsästhetik und fotografiebasierte Rekonstruktion des künstlerischen Schaffensprozesses durchdringen, zeigt schließlich das dritte, fast ausschließlich den Madonnen aus Raffaels Florentiner Periode gewidmete Kapitel in der Parallelbiographie (RM, 57-97). An der Ordnung der Studien und Tafelbilder wird deutlich, daß die Begründungsstrategie hinsichtlich werkgenetischer Zusammenhänge einer dialektischen Sichtweise verpflichtet ist, die sich weitgehend an dem erfahrungswissenschaftlichen Modell von Vischers Aesthetik orientiert. Dafür, daß Springer an die dort niedergelegte produktionsästhetische Systematik nahtlos anschließt, sie als anwendungsbezogenes Muster bewußt adaptiert oder zumindest nach längerer Einübungszeit internalisiert hat, sprechen zwei Gründe: Noch Ende der fünfziger Jahre beruft sich Springer auf das 89 90 91 92
Springer: „Die bildenden Künste in der Gegenwart", S. 737. Vischer: „Kritik meiner Ästhetik", in: Ders.: Kritische Gänge IV, S. 388. Ebd., S. 212. Ebd., S. 339.
2. Realistische
Kriterien
der
Kunstbetrachtung
47
,,epochemachende[] Werk" der Aesthetik. Mit der zeitlichen Koinzidenz des Erhalts erster Fotodrucke um 1860 (s.o.) wird die Annahme plausibel, daß Springer bereits zu diesem Zeitpunkt die Abbildungen nach den Theorievorgaben Vischers systematisiert hat. Zweitens ist festzustellen, daß die Reihenfolge in der limitierten Edition des Windsorkatalogs (1876) kaum Schnittmengen mit Springers Ordnungsversuch aufweist. 93 Sieht man von den augenfälligen, damals schon zur Konvention gewordenen Bezügen zwischen Raffaels Einzelblättern und ausgeführten Madonnen ab, kann davon ausgegangen werden, daß Springer das Anschauungsmaterial unabhängig von der Rulandschen Systematik gegliedert hat. Noch wichtiger aber ist, daß Springer mit den Madonnen ein geschlossenes Verlaufsmuster konstruiert, das in der Homogenisierung und argumentativen Verknüpfung der Einzelteile eine hohe Konvergenz zu Vischer aufweist. Zentral für das Madonnenkapitel ist der Wunsch nach einer Erforschung künstlerischer Gesetze im „psychologischen Sinne" (RM, 67): Springer macht deutlich, daß es sich hier nicht um eine Rekonstruktion von chronologischen Entwicklungen und den damit verbundenen Datierungsfragen von Einzelblättern handelt. Es wäre die ,,gröbste[] Verkennung der Menschennatur", wenn das Verständnis von künstlerischer Produktion als „mechanisch regelmässige Stufenleiter der E n t w i c k l u n g " aufgefaßt werden würde (RM, 62). Das praktizierte Beschreibungs- und Ordnungsverfahren differiert somit entschieden von der gleichzeitig etablierten und im naturwissenschaftlichen Positivismus klassisch gewordenen Definition der Beschreibung von Gustav Kirchhoff, nach der für die mechanischen Wissenschaften die Devise gilt, „die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen zu beschreiben, und zwar vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben." 9 4 Eine Vereinfachung im Sinne einer sukzessiven Aufreihung einzelner Entwicklungsstufen ist Springers Sache nicht. Die über die beschriebene Werkreihe erzielte Abspiegelung von Fortschritten in der künstlerischen Entwicklung beruht auf wiederholten Rückgriffen auf die Vergangenheit, auf Potenzierungen schon vorhandener Formen und auf dem Wechselverhältnis ständig anund abschwellender Kräfte. In der Bündelung verschiedener Faktoren deckt die Rekonstruktion des Schaffensprozesses die Gesetze der künstlerischen Psyche auf, wobei sich mit der wiederholten Berufung auf die „Phantasie" ein methodischer Leitbegriff etabliert, der in Vischers Aesthetik von zentraler Bedeutung ist und auf den Springer in der Parallelbiographie immer wieder zurückkommt (RM, 59, 67, 75, 78, 130, 159 f, 218 u. ö.). 95 Raffaels Weg zum vollendeten idealrealistischen Stil verläuft damit nicht in konstanter Progression, sondern, sich dialektisch steigernd, in der produktiven Wechselwirkung einzelner Formen und Einflüsse, die sich „ähnlich wie Kristalle unter gewissen günstigen Bedingungen zusammenschliessen" und sich „durch die Kraft der schöpferischen Phantasie [...] einheitlich [...] durchdringen" (RM, 78). Statt einer „regelrechten]" „Stufenleiter" (RM, 66) werden die Madonnen nach vier Werkreihen und als parallele Entwicklungen gegliedert, die sich gegenseitig beeinflussen und in ihrem jeweiligen Beginnen zeitlich ver93 Vgl. die Synopse Abb. 5 und 6.
94 Kirchhoff: Vorlesungen über mathematische
Physik I, Vorrede S. III. Vgl. hierzu Kaulbach: Philo-
sophie der Beschreibung, S. 53-58. Hochstetter-Preyer: Das Beschreiben, S. 12-15. 95 Dies im Gegensatz zu Kathryn Brush: Springers Terminus „Künstlerphantasie" „was not pursued to any great depth in his scholary practice". Brush: The Shaping of Art History, S. 167.
48
II. Realistischer
Klassizismus.
Methodik
und Darstellung
bei Anton
Springer
setzt sind. D i e Entscheidung für ein viergliedriges Säulenmodell in gestufter Progression ermöglicht die Darstellung eines schöpferischen Ablaufs, der aus dem Wechsel von E r i n n e rung und Verdrängung, in ständiger K o r r e k t u r der formalen wie inhaltlichen Auffassung die W e r k - und Stilgenese dialektisch gliedert. D a b e i steht der Gegensatz zwischen einer deterministischen, die Künste einschränkenden religiösen K o m p o n e n t e und einer freien, autonomen Entfaltung der Kunst mittels einer vitalisierten Darstellung in enger Verbindung zu dem K o n z e p t der idealrealistischen Synthese. D e n n das religiöse M o m e n t der Madonnendarstellung soll gerade nicht in der formalen U m s e t z u n g völlig getilgt und durch den Lebensbegriff substituiert werden: „Es wird ja nicht das Religiöse durch das Profane, sondern nur das Kirchliche durch das Menschliche ersetzt." ( R M , 7 4 ) 9 6 G a n z nach der metaphysikkritischen Auffassung wird somit die ursprüngliche Religiosität der M a d o n n e n einer sensualistischen K o r r e k t u r unterzogen. D e r P r o z e ß verläuft im Wechsel zwischen „subjektiver" Religiosität und „objektiver" Naturerfahrung, die beide als notwendige und unverzichtbare Mittel zur Entstehung eines h o m o g e n e n Stils vorausgesetzt werden. D e r Antagonismus zwischen „idealen" und „realen" Kräften wird somit zur bestimmenden Triebkraft des Verschmelzungsprozesses. In Vischers Aesthetik
beginnt die Ausbildung der Phantasie mit dem „Schönen in einsei-
tig-objektiver E x i s t e n z " , den F o r m e n der Natur. 9 7 Als scheinbar objektiv schöner Stoff in der Außenwelt vorgefunden, reizen sie die künstlerische Phantasie zu einem A k t des Leihens, aus dem eine gesteigerte Tätigkeit der subjektiven Kräfte entsteht. Dementsprechend stellt Springer den vier Madonnengruppen die Florentiner Porträtzeichnungen Raffaels voran, die als vorgefundene natürliche O b j e k t e den schöpferischen P r o z e ß in G a n g setzen ( R M , 6 0 - 6 2 ) . D i e daran anschließende erste Madonnengruppe stimmt mit Vischers D e f i n i tion der Phantasie überein, die als „subjektive Existenz des S c h ö n e n " im Widerspruch z u m objektiven N a t u r s c h ö n e n steht und deshalb ebenfalls notwendig einseitig ist: D e n n „die Phantasie als allgemeine G a b e bringt es nicht z u m vollendeten (inneren) Ideale und bleibt dabei stehen, das Schöne in der N a t u r hineinzuschauen[.]" 9 8 D i e A u f n a h m e der k o n k r e t natürlichen Außenwelt durch die abstrakte künstlerische Phantasie wird laut Vischer dadurch behindert, daß die gehaltsästhetische K o m p o n e n t e der Phantasie von religiösen Vorstellungen beherrscht wird. Wenn Springer bei einer Federzeichnung vermerkt, „daß Raffael zunächst die M a d o n n a mit dem B u c h e i m m e r nur in flüchtigen Zeichnungen ent96 Damit führt Springer die klassizistische Rezeptionslinie fort, nach der das Sinnbild der Mutterliebe den christlich-transzendenten Verweisungscharakter der Muttergottes überragt: Heinrich Meyer: „Uber die Gegenstände in der bildenden Kunst", in: MA 6.2, S. 46: „Wo sie menschlich handelt, auf Erden ist und lebt, da sei sie menschlich, sie werde unschuldig, zart, sanft, so edel und liebenswürdig als möglich gebildet, wie Raphael getan[.]"; vgl. auch Burckhardt: Cicerone, S. 900 QBW 3, S. 146). Ahnlich RM, 58: Raffael „löste die Madonna von dem kirchlichen Boden ab und hob sie aus dem besonderen Glaubenskreise zu allgemeiner menschlicher Bedeutung empor." Vgl. auch Vischers Forderung nach einer Kunstgeschichte, die „in voller Klarheit zeigen" soll, wie die Kunst „ihr inneres Gesetz [...] trieb, das Mythische immer inniger in das menschlich Vertrauliche, ganz real Bedingte hineinzuführen^]" Vischer: Aesthetik IV, S. 304, § 683. 97 Vgl. Vischer: Aesthetik II, S. 3-355, §§ 233-378; zur menschlichen Gestalt als „Inbegriff und Maß aller Schönheit" (S. 189): S. 189-261, §§ 316-340. 98 Vischer: Aesthetik II, S. 358, § 379.
2. Realistische Kriterien der
Kunstbetrachtung
49
warf, auf eine Ausführung in Farben aber verzichtete" (RM, 65 f), dann wird deutlich, daß sich nur auf der Grundlage eines immanenten Lebensbegriffs sich die formalen Qualitäten des Kunstwerks erst entfalten können. Das Gebetbuch als Inbegriff religiöser Reflexion erweist sich damit als inhaltlicher Störfaktor, der den Naturierungsprozeß behindert. Ein erster Vermittlungsversuch beider Komponenten vollzieht sich in der zweiten Madonnengruppe: Ein Entwurf zeigt die Madonna noch nach dem umbrischen Typus, während die Darstellung des Kindes „schon eingehende Naturstudien" offenbart (RM, 67). Die formale Divergenz innerhalb einer einzigen Zeichnung steht in Einklang mit Vischers zweiter Phase der künstlerischen Phantasie: Durch die Akkumulation unterschiedlicher Sinneseindrücke setzt die „Einbildungskraft" „ein gaukelndes Spiel unendlicher neuer Verbindungen" frei." Auffällig ist hierbei, daß Springer das Florentiner Blatt nicht allein als die Vorstudie zur Madonna del Granduca ansieht, sondern auch als ersten Entwurf für die Kleine Madonna Cowper (vgl. Abb. 2-4): Die auch heute noch unstrittige Abhängigkeit innerhalb dieser Werkgruppe 100 erhält hier eine spezifische Kausalbeziehung, indem der Entwurf zum „Keim" beider Bilder bestimmt wird, „in welchem noch unentwickelt beisammen liegt, was die weitere und tiefere Thätigkeit der Phantasie für sich selbständig macht." (RM, 67): Mit der Denkfigur von der Weggabelung wird somit eine lineare Entwicklung hin zur Madonna del Granduca entschieden dementiert. Wesentlich ist hingegen, daß die Zeichnung auf beide Bilder verweist, weshalb in ihr eine Opposition zwischen religiösem Ideal und Naturnähe evident wird: Körperhaltung und Komposition stimmen zwar mit dem „Abglanz alter Heiligkeit" (RM, 72) der Granduca-Madonna überein, doch die zeichnerische Umsetzung des Kindes verweist auf „eingehende Naturstudien", die mit ihrem „liebevollen frischen Blick für das umgebende Leben" die Kleine Madonna Cowper antizipieren (RM, 67). Die Genese zweier Werke aus einem einzigen Blatt entdeckt Springer nur hier. Die Plazierung dieses schöpferischen Moments nach dem ersten Naturierungsansatz in den Porträtstudien und der Gruppe mit dem Buchmotiv entspricht dabei exakt der zweiten Ebene bei Vischer: Die „Willkür" und der unklare „Mischmasch" (!) setzen einen Läuterungsprozeß frei, womit aber noch immer keine idealrealistische Synthese vollzogen worden ist: „Die Willkür der neuen Verbindungen ist nicht Schönheit; diese hebt die Naturformen nicht auf, sondern läutert sie." 101 Erst mit der Läuterung des Religiösen ist bei Vischer der Schritt erreicht, der die Voraussetzung (!) zur eigentlichen Phantasietätigkeit und zur gestalterischen Autonomie schafft.102 Analog dazu begründet Springer die weitere Entwicklung der zweiten Madonnengruppe, die den ,,weite[n] Weg" von der religiös durchdrungenen Madonna del Granduca zu der „menschlich glücklichen Madonna Tempi" dokumentiert (RM, 72): Der Künstler ist nun 99 Vischer: Aesthetik II, S. 386, § 388. 100 Jiirg Meyer zur Capellen nimmt z. B. an, daß sich die Kleine Madonna Cowper aus der Madonna del Granduca entwickelte: Raphael 1, S. 209. Interessant ist hier der Unterschied zu Passavant (Rafael von Urbino II, S. 35, 37, 482), der 1839 keine formale Beziehung zwischen der Madonna del Granduca (Nr. 27) und der Kleinen Madonna Cowper (Nr. 29) vermerkt. Die betreffende Handzeichnung (Nr. 117) gilt dort allein als Vorstudie zur Madonna del Granduca. Ähnlich wie Springer argumentieren Crowe/Cavalcaselle: Raphael I, S. 194. 101 Vischer: Aesthetik II, S. 388, § 388. 102 Vischer: Aesthetik II, S. 398, § 394.
50
II. Realistischer Klassizismus. Methodik
und Darstellung bei Anton
Springer
befähigt, die reale Komponente der Porträtstudien wieder aufzunehmen, was zu einer Verstärkung des Kolorits in der Darstellung führt. Durch die erneut ,,abgelauscht[e]" ,,intime[] Natur" (RM, 72) wird das realistische Prinzip der Farbe dominant. In der produktionsästhetischen Systematik Vischers bildet die „Farbengebung" in der Malerei ,,[d]as dritte, die beiden vorhergehenden in sich aufhebende Moment, womit erst das wahre und ganze Wesen der Malerei in Kraft tritt". 103 Den Wendepunkt markiert hierbei die Madonna aus dem Hause Niccolini (sog. Große Madonna Cowper): „Wie die Innigkeit der Beziehungen sich leise zu lösen beginnt, insbesondere das Kind an Selbständigkeit, frischem Wesen zunimmt, so sind auch die Formen grösser und die Bewegungen freier gehalten und damit in Verbindung das Colorit kräftiger als gewöhnlich behandelt." (RM, 73 f) Mit der dritten Gruppe schließlich wird die koloristische Vorherrschaft durch den erneuten Zugriff des idealen, hier als plastisch-zeichnerisch definierten Elements korrigiert und die Entwicklung zu einem Höhepunkt in der Stilsynthese geführt: 104 Die ideale Komponente greift als inzwischen säkularisiertes Moment ein, indem sie einen „plastischen Zug" und „regelmässigeren Gruppenbau" herbeiführt (RM, 75): Nachdem die ersten starken Eindrücke der Florentiner Kunst sich beruhigt hatten, kam die ideale Natur der Madonnenbilder wieder zu ihrem Rechte; die natürliche Frische, die unmittelbare Lebensfülle der Darstellung wurde festgehalten, aber nicht mehr mit besonderer Stärke betont. Sie sind die selbstverständliche Grundlage, auf welcher sich das neue Ideal aufbaut.
R M , 81
Dieses Ideal besteht in der Verschmelzung beider Elemente: Kolorit und Zeichnung werden miteinander versöhnt, aber auch das Moment des Religiösen mit der Natur: Springer kann jetzt die Wiederkehr des in der ersten Gruppe kritisierten Buchmotivs akzeptieren, da es auf den Studien zur Madonna del Cardellino zugunsten des Vogels langsam „zurückgedrängt" wird (RM, 77, vgl. 79). 105 Das Ordnungsmuster konstruiert damit einen schöpferischen Verlauf, der sich, von einem Antagonismus zwischen Natur und Religion ausgehend, hin zu einer höheren, durch das Ideal modifizierten und renaturierten Darstellungsauffassung entwickelt. Ontogenese und Phylogenese bedingen sich dabei gegenseitig, indem sie von rezessiven und dominanten Kräften getrieben werden. Mit dieser Grundlegung ausgestattet, erscheint der gattungsgeschichtliche Einschnitt eines Biographiekonzepts, das statt eines Kataloganhangs eine kohärente Darstellung des schöpferischen Verlaufs verfolgt, in der medialen Nutzung als das Ergebnis der Fotografie, in seiner spezifischen Begründungsleistung als Ertrag der idealrealistischen Ästhetik. 106
103 Vischer: Aesthetik IV, S. 258, § 669. Der Paragraph überträgt die allgemeinen Kunstgesetze aus Band 2 auf die Malerei. 104 Vgl. Vischer: Aesthetik
IV, S. 278, § 676.
105 Die letzte Gruppe thematisiert dann den Wettstreit mit Fra Bartolommeo (RM, 82 ff). 106 Zu der damit verbundenen Biographie-Diskussion vgl. die Abschnitte 5.2. und 5.3.
3. Idealrealistische
Wissenschaft
51
3. Idealrealistische Wissenschaft: Die Stanza della Segnatura und die Neubegründung der Ikonographie Die Krise der Repräsentation, die mit der Aufklärung die bildenden Künste erfaßte, und die damit verbundene Auflösung traditioneller Bildprogramme hatte nicht zuletzt zur Folge, daß eine verbindliche Ikonographie aus dem Bewußtsein verschwand.1 Auf diesen Verlust hat die Kunst des 19. Jahrhunderts mit einem Wechselspiel von Wiederbelebungsversuchen, Revisionen, Neuentwürfen und Radikalabsagen reagiert,2 das den Prozeß ihrer Entgegenständlichung und Abstraktion noch beschleunigen sollte. In dem Maße jedoch, wie eine inhaltsbezogene Kunst abnahm, machten sich Ansätze zu einer reflektierten Erforschung der Bildinhalte bemerkbar, die zum methodischen Fundament einer modernen Kunstwissenschaft beitrugen. Zwar scheinen solche Tendenzen überdeckt von der durch Wölfflin und Riegl eingeleiteten formalistischen Wende am Fin de Siècle, doch gehörte das Interesse an der Ikonographie und einer daran anschließenden Methodenlehre zu den zentralen und vielversprechenden Projekten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,3 die von Kunsthistorikern wie Karl Schnaase, Gottfried Kinkel und Eduard Kolloff, aber auch von den christlichen Archäologen Ferdinand Piper und Franz Xaver Kraus verfolgt wurden. Springers Beitrag hebt sich unter diesen Ansätzen besonders hervor: In ihm verdichtet sich ein um 1860 vollzogener epistemologischer Wandel insofern, als er paradigmatisch für die realistische Bildauffassung steht und ein neues Problembewußtsein für die Frage nach dem verborgenen Sinn besitzt. Dieser Wandel von einer romantischen zu einer realistischen Bildund Deutungskonzeption läßt sich an der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Stanza della Segnatura zeigen. Insbesondere die Schule von Athen hat seit Bellori zahlreiche Interpreten herausgefordert, zu Thesen provoziert und Raum für ästhetische Projektionen zugelassen.4 Daß gerade der Beitrag Springers in dieser Diskussion einen Meilenstein darstellt, belegt seine Aktualität bis ins späte 20. Jahrhundert.
1 Vgl. Fischer: „Kunstautonomie und Ende der Ikonographie". 2 Vgl. Busch: Die notwendige
Arabeske.
3 Siehe hierzu den grundlegenden Aufsatz von Wojciech Balus: „Gotik ohne Gott? - Die (Wieder)Entdeckung der mittelalterlichen Symbolik und Ikonographie im 19.Jahrhundert". Knappe wissenschaftsgeschichtliche Ausführungen zur Vorgeschichte der ikonographischen Analyse im 19. Jahrhundert bei Bredekamp: „Monumentale Theologie: Kunstgeschichte als Geistesgeschichte", S. 23; Künstle: Ikonographie
der christlichen Kunst I, S. 8 - 1 1 ; Roeck: Das historische Auge, S. 4 3 - 5 0 ;
Wuttke: „ N a c h w o r t " , in: Warburg: Ausgewählte ner Petranu: Inhaltsproblem
und Kunstgeschichte,
Schriften
und Würdigungen,
S. 6 2 5 - 6 3 8 . Vgl. fer-
S. 4 4 - 1 1 2 ; dort zu Springer: S. 8 3 - 8 8 . Weitere
Hinweise zu Springer als Ikonographen siehe unter Abschnitt 1. dieses Kapitels, Fußnote 4. 4 Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Matthias Winner: „Ekphrasis bei Vasari", in: Boehm/Pfotenhauer (Hg.): Beschreibungskunst
- Kunstbeschreibung,
S. 2 5 9 - 2 7 3 , S. 260 ff; Oskar Bätschmann: „Giovan
Pietro Belloris Bildbeschreibungen", in: Ebd., S. 2 7 9 - 3 1 1 , S. 285; Löhneysen: Raffael
unter
den
52
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
Die folgende Fallstudie möchte das Potential offenlegen, welches aus der realistischen Ästhetik heraus zu einer Begründung der wissenschaftlichen Ikonographie beitrug. Die über 30 Jahre andauernde Beschäftigung mit den Fresken der Stanza della Segnatura 5 und die Bedeutung, die ihnen Springer als „Glaubensbekenntniss eines ganzen grossen Jahrhunderts" (RM, 147) beilegt, legitimieren ihre exemplarische Behandlung. Anhand von vier Textfassungen aus dem Zeitraum von 1860 bis 1883 soll ein Prozeß der stetigen Auseinandersetzung rekonstruiert und die daraus entstehende Konsequenz für eine kunstwissenschaftliche Darstellungs- und Methodenauffassung transparent werden. Die Analyse gliedert sich in drei Schritte: Abschnitt 3.1. bemüht sich um den Nachweis, wie aus der antiromantischen Polemik das Bedürfnis nach einer alternativen Raffael-Deutung entsteht. Die Grundlinien von Springers eigener Interpretation untersucht der Abschnitt 3.2.: Der Gegensatz von realistischer Anschauung (Form) und ikonographischer Deutung (Inhalt) wird dort als das zentrale erkenntnistheoretische Problem behandelt. Der dritte Teil (3.3.) lenkt die Perspektive von dem methodisch-ästhetischen Theoriehorizont auf die speziell textuellen Verfahren. Drei über den Zeitraum von 1867 bis 1883 entstandene Textkonzeptionen zur Schule von Athen sollen dabei die zur Methodik analoge Entwicklung in den Darstellungsverfahren aufdecken.
3.1. Nachwirkungen der Allegoriekritik: Springers Auseinandersetzung mit den Deutungen Passavants und J. W. J. Brauns Zeitgleich mit den Studien zur Ikonographie im Mittelalter 6 wendet sich Springer in den späten 1850er Jahren vom systematisierenden Prinzip der Uberblicksdarstellung ab und der werkmonographischen Interpretation zu. Die Broschüre zur Disputa (1860) und die später um die Analyse der Schule von Athen erweiterte Aufsatzfassung 7 zeichnen sich durch ein gesteigertes Interesse an methodologischen Grundfragen der Bilddeutung und einen ikonographisch reflektierten Zugriff auf die Kunst der beginnenden Neuzeit aus.8 Daß hierbei Springer die frührealistische Polemik gegen die Nazarener auf romantisch wirkende Raffael-Deutungen überträgt und realistische Argumentationsmuster für seine Auseinandersetzung mit den Fresken fruchtbar macht, ist angesichts des Entstehungskontextes nicht verwunderlich: Im Jahr 1858 erscheint der dritte Band von Passavants Rafael von Urbino
5 6 7 8
Philosophen, passim, zu Springer: S. 113 f und 136 f; Griener: „Edgar Wind und das Problem der Schule von Athen", zu Springer: S. 81. Ferner: Ebhardt: Die Deutung der Werke Raffaels in der deutschen Kunstliteratur von Klassizismus und Romantik; Hall (Hg.): Raphael's , School of Athens'. Springers erste Vorlesung in Bonn (WS 1852/53) war Raffael gewidmet: AmL, 205; Dilly: Kunstgeschichte als Institution, S. 264. Springer: Ikonographische Studien. Wien 1860. Springer: Rafaels Disputa. Bonn 1860; Erweitert u. d. T. „Rafael's Disputa und Schule von Athen", in: Bilder aus der neueren Kunstgeschichte. Bonn 1867, S. 103-146. Zu Passavants Deutung der Schule von Athen vgl. Schröter: „Raffael-Kult und Raffael-Forschung", S. 367 f.
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Wissenschaft
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und sein Vater Giovanni Santi, der seine Deutung zur Schule von Athen aus dem Jahr 1839 fast wortwörtlich wiederholt. Macht sich dort die nazarenische Herkunft des Verfassers nur noch in Spurenelementen bemerkbar, liegt 1859 mit der Disputa-Schrift des katholischen Theologen Johann Wilhelm Joseph Braun (1801-1863) eine Abhandlung vor, die durch zahlreiche Zitate der Brüder Schlegel ihre romantische Provenienz weit weniger verhehlen kann als die in eine strenge Katalogordnung gezwängten Bildkommentare Passavants. Braun, der als Theologe dem hermesianischen Reformkatholizismus anhing, stand in seiner Jugend in engem Kontakt zu Friedrich Overbeck, Philipp Veit und den Brüdern Schlegel und läßt in seiner Schrift keinen Zweifel daran, wem das Verdienst einer Erneuerung der Gegenwartskunst zuzuschreiben ist. Im Anschluß an Friedrich Schlegels Europa-Aufsätze (1803/05), die das künstlerische Schaffen auf das „religiöse Gefühl, Andacht und Liebe" 9 zurückführen und die Vorbildlichkeit einer christlichen Themenwahl auch für die Gegenwart postulieren,10 macht Braun den Aufstieg und Verfall der Künste von der Religiosität abhängig, die in Raffaels Disputa ihren entwicklungsgeschichtlichen Kulminationspunkt erreicht: „Die Kunst steigt und fällt mit der Religion." 11 Im Sinne der von Schlegel geforderten christlichen Erneuerung der Künste stellt Braun die Einheit von Glauben und ästhetischer Erfahrung als die höchste und angemessenste Form der Kunstrezeption in den Mittelpunkt, welche - in scharfer Abgrenzung zu einer klassizistischen Raffael-Aneignung beim Betrachter ein „Licht der Beseelung" 12 erzeugen soll. Die explizite Prämisse eines „Bunds der Kirche mit den Künsten" 13 , die Abgrenzung eines christlich-transzendentalen Kunstideals gegen die immanent aufgefaßte Antike 14 und die Erkenntnis, daß „nur durch Beziehung auf's Unendliche [...] Inhalt" ensteht,15 lassen Braun die Zweizonenaufteilung der Disputa ganz in der romantischen Tradition als Gesamtdarstellung der christlichen Theologie erscheinen. Braun beschreibt die Figurenanordnung der unteren Zone, konzentrisch vom Altar ausgehend, als „Entwickelungsgeschichte der christlichen Litteratur", 16 die in bezug auf die überzeitliche transzendente Ebene eine zeitliche Entsprechung findet. Vor den vier Kirchenlehrern stehen nächst zum Altar die zwei Vertreter der frühchristlichen Philosophie, Ignatius von Antiochia und der Apologet Justin aus dem 2.Jahrhundert, die den Anfang einer kirchengeschichtlichen Abfolge machen, die sich in chronologischer Reihung bis zu den beiden äußeren Enden des Freskos, also bis zu Raffaels Gegenwart, fortsetzt. Braun kann dabei so gut wie jede Figur namentlich identifizieren und ist sichtlich um den Nachweis einer fließenden zeitlichen Darstellung der Kirchengeschichte bemüht. Wird insgesamt das theologische Verdienst jeder abgebildeten Person notiert und penibelst mit den Lebensdaten versehen, läßt er geflissentlich diejenigen Lebensdaten aus, die aus dem zeitlichen Raster fallen: Beispiels-
9 Schlegel: Gemälde alter Meister, S. 117. 10 Ebd., S. 45. Vgl. hierzu Braun: Raffaels Disputa, S. 153 f. 11 Braun: Raffaels Disputa, S. 7. 12 Ebd., S. 154. 13 Das Zitat von August Wilhelm Schlegels programmatischem Sonett ebd., S. 15. 14 Vgl. ebd., S. 26. 15 Ebd., S. 71. 16 Ebd., S. 97.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
weise steht Gregor VII. (1073-85) zwischen Thomas von Aquin (1225-1274) und Bonaventura (geb. 1221),17 so daß allein hierin die Problematik von Brauns Ansatz deutlich wird. Durch die rhythmischen Entsprechungen, die in ein Verhältnis zur oberen Zone gesetzt werden,18 stellt sich die untere Zone als historische Explikation der Transzendenz dar, aus der eine lückenlose Entwicklungsgeschichte der christlichen Theologie entsteht. Eine nach Inhalten festgelegte Körpersprache - Pico della Mirandola wendet sich von der Humanistengruppe ab und der wahren Theologie zu 19 - fixiert die Einzelfiguren als natürliche Zeichen und semantisch verständliche Repräsentanten des kirchengeschichtlichen Verlaufs. In Passavants Deutung der Schule von Athen, die in ihrem Grundansatz auf der Analyse Ernst Platners (1837) aufbaut, verdichtet sich derselbe kunsttheoretische Ausgangspunkt zu einem methodischen Verfahren. Setzt man die ideelle Verbundenheit Passavants mit der romantischen Vorstellung von der Einheit zwischen den Künsten und der Philosophie voraus, dann wird auch plausibel, weshalb er vehement darauf besteht, daß die Vorstellung von Raffael als schöpferischem und umfassend gebildetem Universalgenie nicht fallen gelassen wird.20 Die intellektuelle Urheberschaft Raffaels ermöglicht die Sicht auf ein komplexes Bildprogramm, ohne von diesem die schöpferische Hand des Künstlers trennen zu müssen. Genau das aber hatte Rumohr wenige Jahre zuvor in den Italienischen Forschungen betrieben (1831), indem er bei der Schule von Athen eine urheberschaftliche Trennung zwischen dem vorgegebenen Gedanken und der Realisierung des Werks angenommen hatte.21 Im Gegensatz dazu setzt Passavant die reflektierende Verstandesoperation mit der formalen Ausführung in eins:22 Raffael ist nicht nur der ausführende Künstler der Schule von Athen, sondern zugleich der Erfinder eines Bildprogramms, in welchem ,,[d]ie Form [...] der gegenständliche Ausdruck der dem Werke eigenen Reflexion [ist], welche sein Wesen bildet." 23 Im Gegensatz zu Springers späterer Deutung sind deshalb die Veränderungen, die Raffael zwischen dem Karton in der Ambrosiana und der Ausführung im Vatikan vornimmt, bei Passavant ein entscheidender Beleg für die Einheit von inhaltlicher Reflexion und ihrer formalen Umsetzung; sie sind für ihn während des Schaffensprozesses vorgenommene ikonographische Präzisierungen, nicht ikonographische Verunklarungen. Aus diesen Gründen kann Passavant die Schule von Athen als ikonologisches System deuten, welches die antike Philosophiegeschichte in direkter Relation auf visuelle Werte überträgt. Wie in Brauns £)?s/>»tó-Abhandlung erhalten dabei fast alle 58 abgebildeten Figuren nach der Reihenfolge ihres historischen Auftretens einen Klarnamen, versehen mit einem Basiskommentar über das jeweilige Verdienst innerhalb der Philosophiegeschichte. Die antike Quelle des Diogenes Laertios, die als inhaltliche Vorlage dient, appliziert Passa-
17 18 19 20 21 22
Ebd., S. 101 f. Vgl. ebd., S. 114. Ebd., S. 109. Zu diesem Kontext vgl. Schröter: „Raffael-Kult und Raffael-Forschung", S. 366 ff, 386 f. Rumohr: Italienische Forschungen III, S. 100. Indiziert wird dies durch die Annahme, daß sich zur Entstehungszeit der Fresken kein Humanist aus Raffaels Umfeld in Rom aufgehalten habe. Passavant: Rafael von Urbino und sein Vater Giovanni Santi, I, S. 138, III, S. 11. 23 Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in: Ders.: Abhandlungen, S. 73.
3. Idealrealistische
Wissenschaft
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vant von links nach rechts auf die Figuren. D i e Schule
von Athen
wird somit zur poetischen
Transformation der Philosophiegeschichte in die Kunst, welche sich mit sämtlichen dem Künstler zur Verfügung stehenden Ausdrucksmitteln expliziert. Zugleich unterminiert Passavants Sicht auf das F r e s k o die in Aristoteles und Piaton zentrierte organische Einheit, indem die Bildorganisation als permanentes Fortschreiten der Philosophiegeschichte aufgefaßt wird. Das ganze Deutungsverfahren wird damit allegorisch: So wie die romantische Allegorese der unerreichbaren Totalität des Absoluten mit einem sukzessiven und nicht abschließbaren Fortschreiten der Reflexion begegnet, entspricht auch die über die antike Quelle gesteuerte Blickführung dem romantischen K o n z e p t des Fragmentarischen: Indem Passavant die Philosophiegeschichte des Diogenes Laertios in Leserichtung von links nach rechts auf das F r e s k o überträgt, erhält es eine Offenheit zu den Bildrändern hin, die für den Betrachter das zeitliche K o n t i n u u m des dargestellten Verlaufs (theoretisch) fortsetzbar macht. Als fragmentarische und digressiv fortschreitende Totalität eröffnet somit Raffaels W e r k die potentielle Aussicht auf das Unendliche; eine K o n z e p t i o n der unabgeschlossenen Geschlossenheit, die sich nach der (früh)romantischen Kunstlehre im Fragmentarischen offenbart, da ,,[n]ur das Unvollständige [ . . . ] begriffen w e r d e n " und „uns weiterführen" kann. 2 4 Passavant wie Braun deuten Schule
von Athen
und Disputa
als künstlerische U m s e t z u n g
eines philosophiegeschichtlichen Verlaufs und damit als sukzessive Bilderzählung. Beide verfolgen ein Interpretationsmodell, das das K u n s t w e r k als lesbares Produkt der schöpferischen Phantasie in Analogie zur Poesie setzt. Beide ziehen aus dieser Prämisse die methodische K o n s e q u e n z , daß ein bis ins Detail ausdeutbares ikonologisches P r o g r a m m möglich ist und nach dem Prinzip der historischen Repräsentation verlaufen muß. Schließlich sind beide Interpretationen dem romantischen Allegoriebegriff verhaftet, der sich als methodischer Subtext bemerkbar macht. Genau an diesen Fundamenten setzt Springers Kritik ein. D e r radikale D u k t u s seiner Einwände zeigt sich schon daran, daß er mit diskreditierender Unscharfe aus den Texten seiner Vorgänger zitiert: Aus Passavants vorsichtiger Vermutung, daß T h e a n o „zwei Finger ihrer H a n d empor[hält], vielleicht [!] die von Pythagoras erfundenen C o n s o n a n t e n angebend", 2 5 wird in Springers Referat die schlichte Feststellung, daß T h e a n o „zwei Finger ihrer H a n d empor[hält], um [!] die von Pythagoras erfundenen C o n sonanten anzugeben". ( B K , 113) Brauns gewitzte B e m e r k u n g zu T h o m a s von A q u i n , „daß man beleibt sein und ein großer Heiliger werden k ö n n e " , 2 6 wandelt Springer in die inkorrekte Entsprechung um, daß bei Braun die „Beleibtheit des T h o m a s von A q u i n o [ . . . ] eine mystische [!] B e d e u t u n g " ( B K , 113) erhalte. Aus den weitschweifigen, manchmal auch abstrusen Detailbeobachtungen Brauns und Passavants entwickelt Springer letztlich seinen grundsätzlichen Verriß an dem gesamten ikonographischen Verfahren: „QJede Figur enthält überhaupt geheimnißvolle Züge, welche nur von Kundigen entziffert werden können. D i e sem freilich, wenn er die Bilder in einer bestimmten Richtung an seinem Auge vorbeiziehen läßt, entrollen sich, in F a r b e gehüllt und mit malerischen Zeichen geschrieben, dort die E n t 24 Novalis: Schriften II, S. 558, Fragment 151. Zum paradigmatischen Stellenwert dieses Zitats vgl. Benjamin, ebd., S. 70. 25 Passavant: Rafael von Urbino und sein Vater Giovanni Santi, I, S. 150. 26 Braun: Raffaels Disputa, S. 101.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik
und Darstellung
bei Anton
Springer
wickelung der griechischen Philosophie, hier die Geschichte der mittelalterlichen Theologie." (BK, 113) Mit der Zurückweisung einer Auffassung, nach der das Kunstwerk keine „Bilderschrift" (BK, 115) sei, wärmt Springer die rund zwanzig Jahre alte realistische Polemik gegen die romantische Allegorie auf, mit der Friedrich Theodor Vischer an Overbecks Triumph der Religion in den Künsten ein ästhetisches Exempel statuiert hatte. Die berühmte und fulminante Kritik aus dem Jahr 1841 enthält in nuce eine methodische Anweisung, wie mittels des realistischen Lebensbegriffs die christlich-transzendentale Bildauffassung überwunden werden kann. Brisanz erhält Springers Nutzung der dort formulierten realistischen Theoreme dadurch, daß Overbeck in seinem programmatischen Bild das zweizonale Kompositionsschema der Disputa bewußt zitierte und kein anderer als sein ehemaliger nazarenischer Weggefährte Passavant das Bild in einer der ersten Amtshandlungen als Direktor des Frankfurter Städels angekauft hatte.27 Overbeck hatte einen Selbstkommentar zu dem komplexen ikonologischen System seines Bildes geschrieben,28 den Vischer in seiner Rezension genüßlich zerpflückte. Die Analogie von Bild und Schrift, der allegorische Entwurf eines Bildprogramms, das in jeder Einzelheit die Entwicklung der Kunstgeschichte auf die christliche Religion bezog, fordert Vischers allegoriekritischen und materialistischen Standpunkt geradezu heraus: „Overbeck trägt selbst die Schuld, wenn wir mehr philosophisch, als ästhetisch zu Werke giengen, er hat einen Katechismus gemalt, er hat mit dem Pinsel eine Abhandlung geschrieben, er disputiert mit der Palette, wir antworten mit der Feder." 29 Overbecks gemaltes „fabula docet" 30 spannte auch hier gemäß der romantischen Kunstlehre den bildschöpferischen Akt mit der inhaltlichen Reflexion zusammen - ähnlich wie in Passavants Interpretation die Fresken Raffaels zum reflexiv-christlichen Paradigma wurden. Springers Angriff auf die Deutungen Passavants und Brauns wiederum überträgt die von Vischer an der Gegenwartskunst konstatierte Reflexivität auf die kunstwissenschaftliche Deutung im engeren Sinne: Ziel des Unterfangens ist es, „den Doktormantel von Rafaels Schultern" zu nehmen, „aber nur, um ihm den Lorbeer des Künstlers fester auf das Haupt zu drücken." 31 Dabei konstruiert er ein zur realistischen Kunstkritik analoges Verfahren, wenn er insbesondere die Farbe als künstlerisch autonomes Mittel zu verteidigen sucht: Hatte Vischer kritisiert, daß auf Overbecks Bild der weiße Mantel Raffaels die „Universalität seines Geistes" symbolisieren sollte, da die Farbe Weiß aufgrund ihrer reflektierenden Kraft „,alles, was man an anderen vereinzelt bewundert, vereinigt findet, wie der Lichtstrahl alle Farben in sich schließt[,]'" 32 so muß auch Springer die Annahme vom Kolorit als Bedeutungsträger zurückweisen: Brauns Identifikation des „Ignatius" wegen dessen ver-
27 Zur Sache vgl. Schröter: „Raffael-Kult und Raffael-Forschung", S. 349. Zur Verbindung zwischen Overbeck und Passavant vgl ebd., S. 329 ff, 344 ff, 369. 28 Nach Schröter ging Overbecks Verfahren des (poetischen) Selbstkommentars auf einen Vorschlag Passavants zurück, ebd., S. 330. 29 Vischer: „Overbecks Triumph der Religion", in: Kritische Gänge V, S. 28. 30 Ebd., S. 8. 31 Springer: Rafaels Disputa, S. 44. 32 Overbecks Selbstkommentar zitiert in Vischer: „Overbecks Triumph der Religion", S. 9.
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meintlich farbsymbolischer Gewandung 3 3 trifft hier ebenso auf Ablehnung, wie Passavants Zuschreibung des sog. Heraklit („der Dunkle") aufgrund seiner grauen Kleidung. 34 Die Verbindung von Figurenidentifikation und des daran anschließenden erklärenden Kommentars auf farbsymbolischer Grundlage setzt Springer dem Vorwurf der Willkür aus: Er richtet sich damit gegen die romantische Sicht auf den Künstler Raffael, der sich nach Friedrich Schlegel durch eine „mehr dichterische als mahlerische Construction der Farbe" 3 5 auszeichnet und deshalb die Selbstbezüglichkeit des Kolorits zugunsten einer Sinn- und Zeichenhaftigkeit aufgibt. Die farbige Hieroglyphe, die einen „unendlichen Gegensatz" 36 und mit ihrem Verweisungscharakter beim Betrachter einen assoziativen Spielraum eröffnen soll, kann hier nicht mehr als methodische Grundlage dienen. War das allegorisierende Verfahren Overbecks auch für Springer (1848) Ausdruck der ,,theilnahmslose[n] Abstraktion", „fleischlose[n] Innerlichkeit" und des „Gefühl[s] persönlicher Nichtigkeit", 37 wird zwölf Jahre später das nazarenische Korrelat in der Raffaelforschung der gleichen Kritik unterzogen. Passavants Blick auf Raffael bleibt für Springer reflexiv und haltloser Spekulation verhaftet, da er sich von der ursprünglichen künstlerischen Einheit mit dem unmittelbaren Leben entfernt. Interpretationsansätze, die die Disputa und Schule von Athen als System von Verweisungen bzw. als poetische Transformation von Geschichtsverläufen deuten wollen, werden so zum Symptom moderner Entfremdung in den Wissenschaften. Die Wiederkehr junghegelianischer Argumentationsmuster zielt damit auf eine Befreiung Raffaels aus der romantischen Deutungshoheit und auf seine Restitution in seine ursprüngliche und unmittelbare Naivität. Die intellektgesteuerten Bilderzeichen, mit denen die Nazarener nach Springer und Vischer unfreiwillig ihre fehlende Glaubenstiefe kompensieren, können somit auch nach wissenschaftlichen Kriterien kein methodischer Ansatz für eine ernstzunehmende Raffael-Deutung mehr sein. Die Demontage des romantischen Standpunkts ist damit von weitreichender Konsequenz: Indem Springer die inhaltliche Determiniertheit formaler Mittel prinzipiell in Frage stellt, insbesondere die Farbe nicht mehr als Denotat auffaßt, sondern für sie einen formalautonomen Selbstbezug reklamiert, werden auch alle anderen Deutungsversuche, die einer ikonologischen Komplexität im Bildprogramm Rechnung tragen wollen, 38 obsolet. Sichtbarer Ausdruck dieses Wandels ist in Springers Aufsatz von 1883 eine schematische Abbildung der Schule von Athen mit manierierten Figuren, deren Legende die diversen Zuschreibungen vermerkt (Abb. 12). Als wollte Springer den Vorwurf der Fragmentierung noch 33 „Das Gold auf seinem bischöflichen Gewände ist das in Liebe glühende Gelb; das grüne die nie täuschende H o f f n u n g und Sehnsucht. Das ist der Ausdruck seiner Briefe, in denen ein Geist der glühendsten Liebe in einer Reinheit, Stärke der Gesinnung weht, die uns über alle irdischen Beziehungen hinaus fortreißt." Braun: Raffaels Disputa, S. 94; zit. in: BK, 113. 34 Passavant: Rafael von Urbino und sein Vater Giovanni Santi, I, S. 150, III, S. 15. Vgl. BK, 113. 35 Schlegel: Gemälde alter Meister, S. 31. 36 Ebd., S. 14. 37 Springer: „Overbecks neueste Arbeiten. Eine Reiseerinnerung", in: Jahrbücher der Gegenwart 6 (1848), S. 49-52, S. 52. 38 Z.B. die Interpretationen Friedrich Adolf Trendelenburgs (1843, vgl. BK, 112) oder Hermann Hettners (Italienische Studien, S. 206-212), die in kritischer Auseinandersetzung mit Passavant Alternativdeutungen zu den Einzelfiguren entwickeln.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik
und Darstellung
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bestärken, bleibt dort die Bildkomposition unausgeführt. Die verbreitete Praxis, komplexe Bildprogramme anhand eines bezifferten, in nazarenischer Manier linierten Konturblatts zu erklären, ζ. B. Overbecks Triumph der Religion in den Künsten oder auch - wie in der Studie Brauns - die Disputa (Abb. 10 u. 11), verläuft hier im Nichts. Die polemische Adaption der Konturblatt-Mode macht damit den epistemischen Wandel auch bildstrategisch deutlich: Im Endeffekt werden sämtliche Vertreter des figuralen Bildkommentars unter die allegorischen Verfahren der romantischen Schule subsumiert - ganz gleich, welcher methodischen Prämisse sie anhängen. Die exponierte Kritik an den romantischen Traditionalisten Passavant und Braun erhält somit einen wissenschaftsgeschichtlichen Signalcharakter: Mit ihr streift Springer die romantisch geprägte Deutungshoheit in der ikonographischen Analyse, die sich weitgehend über den Allegorie-Begriff definierte, als bis dato einzig wirksamen hermeneutischen Zugriff auf Raffael ab. Daß sich diese Polemik zunehmend auf den Intimfeind Herman Grimm verlagern wird, erscheint konsequent: Erwächst doch in Grimms vielgeschmähten Abhandlungen parallel zu Springer ein ebenso neuer Deutungsansatz, der gleichfalls mit dem allegorischen Verfahren bricht und eine grundsätzliche Alternative zu den früheren Interpretationsmodellen zu entwickeln sucht. 39 Mit der gleichen Beharrlichkeit wie Springer reflektiert Grimm über Jahre hinweg die Frage nach einer spezifischen Historizität von Raffaels ikonographischem Programm und wird dabei - aufgrund anderer Prämissen - zu einem diametral entgegengesetzten Ergebnis kommen. Beide Kunsthistoriker konkurrieren damit nach dem Zusammenbruch der romantischen Tradition um eine neue Deutungshoheit in der Raffael-Interpretation.
3.2. Realismus und Ikonographie Springers Neuansatz umfaßt zwei Perspektiven, die in ihrer jeweiligen Problemstellung eng aufeinander bezogen sind. Zum einen steht die Interpretation in Gegnerschaft zu einer transzendierenden Kunstauffassung, die bildexterne Bedeutungen auf das Werk appliziert. Sie beruht statt dessen auf der Prämisse, daß die beiden Wandbilder ohne eine intellektuelle Vermittlungsleistung und in zwangloser Form mit Inhalten in Verbindung gebracht werden können. Zum anderen kommt erschwerend hinzu, daß Springer auf der höchstmöglichen 39 Grimm deutet die Disputa als den Augenblick, in dem die Theologen der unteren Bildzone von der plötzlich offenbarten Gotteserkenntnis überrascht werden. Die komplexe Interpretation der Schule von Athen als Predigt Pauli vor dem Areopag (Apg 17, 16-34) entwickelt er aus mehreren Rezeptionszeugnissen: Dem von Agostino Veneziano 1524 gestochenen Ausschnitt von der linken, als „Evangelisten" bezeichneten Pythagoras-Gruppe, der Beschriftung auf dem Stich von Giorgio Ghisi (1550) und dem Kommentar Vasaris (vgl. Höper: Raffael und die Folgen, S. 62 f). Die Schule von Athen stelle demnach symbolisch den ersten Kontakt zwischen heidnischer Philosophie und christlicher Theologie dar (repräsentiert durch die „Evangelisten" links und den „Astronomen" rechts), dem wiederum die religiöse Glaubensgewissheit der Disputa gegenüberstehe. Die beiden Hauptfresken der Stanza della Segnatura vereinigen sich somit zu einem geschlossenen Programm, gemäß eines Diktums Pico Mirandolas, nach dem die Philosophie nach der Wahrheit forsche, die Theologie die Wahrheit entdecke, die Religion diese aber besitze (vgl. zuerst 1865 in Grimm: „Raphael's Disputa und Schule von Athen, seine Sonette und seine Geliebte", S. 223 und passim).
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formalen Autonomie des Einzelwerks besteht, die im Sinne der realistischen Kunsttheorie primär eine wirkungsästhetische Aufgabe erfüllen soll. Weil sich diese Wirkungsästhetik über einen immanenten Wirklichkeitsbegriff definiert und eine Offenbarung der Transzendenz in der oberen Zone der Disputa nicht gerade das Indiz für eine realistische Kunstauffassung Raffaels ist, muß dabei eine theologische Komponente fast zwangsläufig in den Hintergrund treten. So ist es kein Zufall, daß Springer gerade dem Deutungsversuch der Disputa inhaltlich nichts Substantielles hinzufügen kann und hinter dem selbst gesetzten Anspruch zurückbleibt. Da er den theologischen Gehalt des Wandbildes zugunsten der künstlerischen Autonomie zurückstuft und entwertet, bleibt nur der Ausweg in die betonte Psychologisierung der Figuren. Entscheidend ist demnach nicht die Registratur ihrer Namen (vgl. BK, 142), sondern „das allgemeine ideale Moment", bei dem „lauter scharf ausgeprägte psychologische Charaktere, in lebendiger dramatischer Bewegung begriffen" (BK, 130) sind, sowie die „psychologische^ Schilderung", welche den „Kern der Darstellung" bildet (BK, 124). Auch bei den „namenlosefn] Gestalten" im vorderen Bildraum wird kräftig psychologisiert, wobei Springer mit der klassizistischen Formel des „allgemeine[n] Menschliche[n]" (BK, 121) nicht spart. Allerdings hat sich diese, im Gegensatz zur Gegenstandslehre Goethes und Heinrich Meyers, von der „allgemeinen Menschlichkeit" oder vom „rein Menschlichen" hin zum „allgemeinen Menschlichen" verschoben, d.h. nichts anderes, als daß die gehaltsästhetische und das Bildganze organisierende Themenwahl sich zu einer rein gestaltpsychologischen und sensualistischen Auffassung gewandelt hat, die von der Einzelfigur und ihrem affektsprachlichen Potential ausgeht. 40 Das Primat des Anthropologischen liquidiert den religiösen Gehalt, wenn die Theologen „das allgemein menschliche, das wahrhaft ideale Verhältniß des Gemüthes zur religiösen Erkenntniß am schärfsten aus[drücken]." (BK, 136) In Wendung gegen die romantischen Deutungen - Passavant hatte an der Disputa die Vereinigung von Immanenz und Transzendenz durch die gemeinsame Betrachtung des ,,geheimnisvolle[n] Sacrament[s] des Leibes und Blutes Christi" betont 4 1 - neutralisiert somit Springer das christliche Thema, womit Feuerbachs Grundgedanke von der Vorstellung Gottes als Projektion der menschlichen Gattungseigenschaften sinnfällig wird: „Was der Mensch auch immer nennt und ausspricht - immer spricht er sein eigenes Wesen aus.
40 Die Klage, daß das Kürzel W. K. F. für die Zeitgenossen keine Bedeutung mehr hat, ist in der frührealistischen Diskussion so omnipräsent, daß sie kaum glaubwürdig erscheint. Vgl. Danzel: „Goethe und die Weimarischen Kunstfreunde in ihrem Verhältniß zu Winckelmann" [1846], S. 121; Springer: „Die bildenden Künste in der Gegenwart", S. 677. Springer zitiert Goethes Einleitung in die Propyläen: „Wer zu den Sinnen nicht klar spricht, redet auch nicht rein zum Gemüthe" („Die ästhetischen Anregungen in der modernen Bildung", in: Deutsches Museum 4/1 (1854), S. 785-799, S. 790; vgl. MA 6.2, S. 17). Zur Weimarer Gegenstandslehre siehe Osterkamp: Im Bucbstabenbilde, S. 113-119. 41 Passavant: Rafael von Urbino und sein Vater Giovanni Santi, I, S. 140. Das formale Bildzentrum und der theologische Glaubenssatz fallen in Passavants Deutung zusammen, indem er die Realpräsenz des Logos im Altarsakrament betont, welches die beiden formal geschiedenen Ebenen des Himmels und der Erde miteinander verbindet, ähnlich wie Overbeck auf dem Triumph der Religion in den Künsten die Fontäne als das verbindende Element zwischen Transzendenz und Immanenz konzipiert. Theologischer Lehrsatz und Bild verschmelzen zur konzeptionellen Einheit.
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und Darstellung
bei Anton
Springer
[...] Der N a m e Gottes ist nur der N a m e dessen, was dem Menschen für die höchste Kraft, das höchste Wesen, d. h. für das höchste Gefühl, den höchsten Gedanken gilt." 4 2 Dramatische Bewegtheit und die Repräsentation seelischer Momente ist auch der ästhetische Effekt, nach dem die Schule von Athen in primärer Hinsicht beurteilt wird: D a s Fresko zeichnet sich aus durch die „Gewalt psychologischer Charakteristik" und „der Fülle rein menschlicher, einfach idealer Actionen", von denen der Betrachter „gefangen genommen wird". (BK, 139) Diese Fixierung auf den vitalisierten Aspekt künstlerischer Darstellung führt auf das grundlegende Problem: Bereits im Abschnitt 2.3. zeichnete sich ab, daß mit den veränderten Rahmenbedingungen die akademistische Doktrin vom Primat der Idee ins Wanken geriet und somit der Schaffensprozeß nicht mehr als Dichotomie aus reflektierter Themenwahl und materieller Ausführung aufgefaßt werden konnte. Die Quintessenz dieser Entwicklung ist die Einführung eines neuen Produktionsmodells, welches die ideelle Leistung des Künstlers nicht mehr als den dominanten Faktor anerkennt. Der Schaffensprozeß vollzieht sich vielmehr im apperzeptiven und eidetischen Wechselverhältnis von Denken und Sehen: „Greifbar und anschaulich gestaltet sich bei dem in Wahrheit schaffenden Künstler jede Idee, die er hegt, Denken und Sehen fällt bei ihm zusammen, alles stoffliche Interesse als solches wird zurückgedrängt, der ganze Ideengehalt in durchsichtiger F o r m verkörpert, neben und außerhalb welcher nichts mehr am Kunstwerke besteht, weil Alles in ihr aufgegangen ist." (BK, 121) Inhalt und Stoff werden zurückgedrängt und gehen in der Form auf: Statt des Primats der Gegenstands wähl, das sich im Werk über die Form objektiviert, besteht Springer auf einer Amalgamierung von Inhalt und Form, bei der die anschaulichen (formalen) Kriterien den bloßen „Ideengehalt" absorbieren. Ein derartiger, für das philosophische Denken seit den endfünfziger Jahren nicht untypischer Ansatz 4 3 zieht einen veränderten Werkbegriff nach sich, der sich grundlegend von der Auffassung Hegels unterscheidet: Hatte Hegel in der Einheit von Begriff und Realität dem Begriff eine herrschende Rolle zugestanden und deshalb die Vorstellung vom Schönen als „bloße[] Neutralisation von Begriff und Realität [...], so daß beide ihre Eigentümlichkeit und Qualität verlören, wie Kali und Säure [...] im Salz," 4 4 abgelehnt, vertritt die Produktionstheorie Springers genau dies: Sie invertiert das hierarchische Verhältnis von Inhalt und Form, indem tendenziell der Gehalt in der Form aufgeht und in dieser verschwindet. 45 Hegels „Begriff", der als allseitig integrierende Totalität das Werk bestimmt, verliert somit seine Legitimation; im vollendeten Kunstwerk kommen Inhalt und Form zur Identität. Dabei entspricht Springers Satz von der Aufhebung der Beziehung zwischen abstraktem Ideengehalt und formalästhetischer Ausführung exakt dem Verhältnis von Inhalt und Form, wie es Friedrich Theodor Vischer
42 Feuerbach: „Vorläufige Thesen zur R e f o r m der Philosophie" [1842], in: Kleine Schriften,
S. 142.
43 Zur wissenschaftstheoretischen Diskussion über das wechselseitig durchdrungene Verhältnis von apriorischem Denken und Naturbeobachtung (Helmholtz u. a.) vgl. Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, S. 156. 44 Hegel: Vorlesungen
über die Ästhetik
I, S. 145.
45 Symptomatisch ist die unzulässige Vereinfachung von Hegels Differenzierung zwischen „Begriff" und „ G e d a n k e " , die - typisch für das antispekulative Denken nach 1848 - als abstrakte Elemente synonym gesetzt werden. Vgl. auch Göbel: Friedrich Theodor Vischer, S. 65 f.
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1858 als vorläufiges Resümee seiner Aesthetik definiert hatte: „Der Gehalt ist im Schönen in die reine Form aufgehoben, aber nur in dem Sinn, daß er nicht mehr in seiner Getrenntheit, in seiner Besonderheit wahrgenommen wird; er ist als solcher nicht mehr da, nur weil er ganz in die Form übertragen ist. Das Stoffartige ist in die Form aufgegangen, aber es ist nicht gleichgültig, was aufgegangen ist." 4 6 In der Nachfolge Vischers definiert somit Springer das Bezugssystem zwischen Gehalt und formaler Ausführung neu: In der Weigerung, dem Gehalt weiterhin ein uneingeschränktes Primat einzuräumen, und dem Bestreben, einen konkreten Realismus in der Darstellung walten zu lassen, verhilft er der Form zu einer höchstmöglichen Autonomie, die jedoch weiterhin relational zum gedanklichen Ursprungskonstrukt zu sehen ist. Denn das, was vom Gehalt im Werk übrigbleibt, ist nichts anderes als ein sensualistisch aufgeweichter, quantitativ geringer Anteil, der qualitativ eine entscheidende Funktion erhält: ,,[I]m Gefühle verschwindet jeder bestimmte, objektive Inhalt als solcher und wird zu einer bloßen Dynamik von Reizungsverhältnissen, die sich als unendliche Modifikationen von Lust und Unlust ankündigen[.]" 47 Die Konsequenz, die Vischer daraus zieht, besteht in der Transformation des abstrakten Gedankens in ein konkretisiertes Lebensgefühl, dessen Grundstruktur ambivalent bleibt: „Ich habe gezeigt, daß in das Gefühl aller Lebensinhalt einsinkt und mit der Unterscheidung von Subjekt und Objekt in ihm seine gegenständliche Bestimmbarkeit verliert, daß das Gefühl also inhaltslos ist in einem, inhaltsvoll im andern Sinn[.]" 48 Die neue Asymmetrie zwischen den inhaltlichen Komponenten einerseits und einem radikalen Lebensbezug und Immanentismus andererseits birgt die Gefahr einer De-Semantisierung in sich, die den naiven Blick auf das Kunstwerk für sich reklamiert und den Künstler von einer rein intellektuellen Tätigkeit freispricht. Wird aber dennoch eine Erschließung von Bildinhalten verfolgt, so kann dies nur über ein methodisch reflektiertes Verfahren ermöglicht werden, das zwischen realistischer Wirkung und inhaltlicher Dimension vermittelt. In bezug auf Vischers Aesthetik ergeben sich dabei zwei wichtige Ansätze, auf denen die ikonographische Erschließung der ersten Stanze basiert: (1) Prinzipiell ist jedes Werk verständlich und darf nicht zum „Räthselspiel" degradiert werden. Sein Sinn erschließt sich nicht aus einem allegorischen Verfahren, sondern über ein werkimmanentes Prinzip, welches auf einem einfachen, monistischen Gedanken beruht (dies im Gegensatz zur pluralistisch strukturierten Allegorie) und nahtlos an den allgemeinen Volksglauben anknüpfen kann. Dieses Prinzip findet in Vischers Aesthetik seine Entsprechung in der sog. „allgemeinen Phantasie", aus der der Künstler seine Inhalte schöpft. (2) Eng verwoben mit dieser Konzeption ist der zweite Aspekt: Indem die Form nicht mehr der Träger des Gehalts ist, die vormalige Einheit zwischen künstlerischer Affektsprache und inhaltlicher Bedeutung offenbar nicht ohne weiteres aufrecht erhalten wird, können die konkretisierte Darstellung des (desemantisierten) „Lebensgehalts" und die inhaltliche Konzeption des Kunstwerks nur noch in ein mittelbares Verhältnis gesetzt werden. Die Vermittlungsleistung zwischen den beiden Extremen ist die Aufgabe des künstlerischen Schaffensprozesses: Die „besondere 46 Vischer: „Uber das Verhältnis von Inhalt und Form in der Kunst" [1858], in: Kritische S. 209 f. 47 Ebd., S. 205 f. 48 Ebd., S. 206.
Gänge IV,
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton
Springer
Phantasie" des Künstlers schöpft dabei aus der „allgemeinen Phantasie", wobei sich sukzessive in verschiedenen Stufen der Werkgenese der allgemeine Gedanke im Werk konkretisiert. Die Erforschung des künstlerischen Schaffensprozesses, die durch Vischers Aesthetik und die neuen Reproduktionsbedingungen der Handzeichnung in gleichen Maßen bei Springer ausgelöst wird (vgl. Abschnitt 2.3.), ist somit zugleich ein Verfahren, auf induktivem Weg den ikonographischen Sinn des Kunstwerks zu ermitteln. Zum ersten Punkt: Den theoretischen Anschluß an Vischers Grundgedanken einer sinnstiftenden Volksphantasie sucht Springer gleich zu Beginn seines Aufsatzes von 1867, indem er die Analyse der Schule von Athen und der Disputa in enger Anlehnung an die ästhetische Terminologie Vischers als exemplarisch ausweist: „Diese Werke sind die ewigen Durchgangspunkte für die individuelle, wie für die allgemeine Volksphantasie." (BK, 103) In der Aesthetik definiert Vischer die „allgemeine Phantasie" als kollektive Vorstellung, die „nicht selbstbewußter Akt eines Einzelnen, sondern Werk des dunklen geistigen Bautriebs Vieler ist." 49 Zu diesen Vorstellungen gehören der „Bilderkreis der Religion" 50 , Märchen, Sagen und Mythen, die als tradierte Glaubensinhalte einen (wandelbaren) Bestandteil der kollektiven Identität ausmachen, aber auch im Gegensatz zum rationalen und freien Denken stehen. Ihre Funktion ist auf diese Weise ambivalent: Einerseits partizipieren sie hinsichtlich des Strebens nach einer Idee des Absoluten an einer Teilwahrheit und sind anthropologisch eine Notwendigkeit, andererseits sind sie als Teil des Aberglaubens ein „unfreier Schein", der im geschichtlichen Prozeß korrigiert und dialektisch überwunden werden muß. Damit ist die allgemeine Phantasie fest an historische Entwicklungen gebunden: Sie „schafft aus dieser Stoffwelt ein der jeweiligen Bildungsstufe des Bewußtseins entsprechendes Bild, welches vermöge des unfreien Scheines zu den Gegenständen geschlagen wird". 51 Die Aufgabe des Künstlers besteht nun laut Vischer darin, ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen der ihm eigenen, (individuell) „besonderen" und der „allgemeinen Phantasie" herzustellen. Ihre Einheit ist die Grundbedingung für die kommunikative Beziehung zwischen dem geschaffenen Werk und dem Volksleben sowie für die Verständlichkeit des Werks überhaupt: „Der Genius aber ist auch nichts ohne sein Volk; der Reiz, der Drang zu schaffen, das innerlich Geschaute hinauszustellen an das Licht, ist nur das Gefühl, aus einem Stamm zu sein mit denen, welche auf diese Mitteilung harren; er weiß, daß alle Augen auf ihn warten, und sieht diese Augen innerlich warten, während er sein inneres Bild erzeugt." 52 Die Prädisposition zum schöpferischen Akt ist damit eine naive und natürliche Verwurzelung des Künstlers in seinem ideellen Umfeld, das, volksorganistisch aufgefaßt, anti-reflexiv und anti-intellektualistisch ist. Dieses Theorem vom aus dem Allgemeinen schöpfenden Genie ist der methodische Ausgangspunkt, auf den sich Springers Interpretationen immer wieder beziehen: „Ist es nicht ungleich wahrscheinlicher, daß Rafael auch hier wie überall seinem Genius folgte, aus dem gegebenen Stoffe, einer an sich abstrakten Vorstellung, den künstlerischen Gedanken aushob und diesen als seine eigentliche Aufgabe verkörperte?" (BK, 123) 49 50 51 52
Vischer: Aesthetik II, S. 480, § 416. Ebd., S. 482, § 417. Ebd., S. 480. Ebd., III, S. 5, § 487.
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Der ikonographische Gehalt, den Raffael in der Schule von Athen entwirft, kann ergo nicht aus einem komplexen Bildprogramm bestehen, sondern muß analog zur Volksphantasie als „organisches Ganzes" 5 3 konzipiert sein. U m den Nachweis einer solchen monistischen Inhaltsstruktur bemüht sich Springer in seinen Analysen: In der Version von 1878 repräsentiert die konfigurative Anordnung in einzelne Philosophengruppen die mittelalterliche Tradition der sieben freien Künste, die im humanistischen Denken eine naive Verbindung zwischen antikem Erbe und christlicher Religion eingehen. 54 Die zweite Komponente der Interpretation bilden die in den Zentralraum hineinführenden vier Stufen, die laut Springer den Aufstieg der philosophischen Erkenntnis der sieben Einzelwissenschaften darstellen und somit das scholastische Erbe der artes liberales mit einem Grundgedanken des Renaissance-Platonismus verbinden. Dieses System ist als „allgemeine Ansicht" von Raffaele Zeit (BK, 139) wahrhaft „volksthümlich", indem ein hohes „Interesse dafür vorhanden" war, das „Verhältnis zum religiösen Glauben darin zu ergründen." (BK, 142) Wichtiger Beleg für die These von der Verankerung humanistischen Denkens im Volksglauben ist die Reimchronik von Raffaels Vater Giovanni Santi, in der die Einheit von Antike und Christentum am Beispiel der artes liberales gefeiert wird. Damit steht das humanistische Denken repräsentativ für die gesamte Epoche, auf deren Basis die Kunst Raffaels organisch entsteht: „Aus humanistischen Kreisen entlehnte [...] Rafael den Stoff zu seinem Gemälde, dort holte er sich die Kenntniß des Thatsächlichen, auf welchem seine künstlerische Phantasie weiter baute. Dadurch wird aufgeklärt, was sonst an den Rafaelischen Werken räthselhaft erscheinen könnte[.]" (BK, 141) In der Parallelbiographie wird Springer später den Gedanken an einen prästabilierenden Volksglauben abschwächen und einen unbekannten Gelehrten als Entwerfer des Programms der Stanza della Segnatura vermuten - wichtig wird dabei allerdings die Annahme bleiben, daß keine konkrete Quelle den Anstoß zu dem „Gedankenkreis" der Schule von Athen bildete und sich „die Grundlage" in den Schriften von Gemisthos Plethon bis Marsilio Ficino „immer und immer wiederkehrend und geradezu typisch ausgeprägt" findet (RM, 177). Wer auch immer der Urheber der ikonographischen Konzeption ist, er ist nur der „Dollmetscher weit herrschender und tief wurzelnder Gedanken" (RM, 147). Doch die in den Fresken zum Ausdruck gebrachte naive Einheit von christlicher Theologie und platonischer Philosophie ist nur von kurzer Dauer: Indem Springer die humanistische Konzeption der Stanza della Segnatura als gewöhnlichen, im Volksglauben bereits fest etablierten Stoff ausweist, wird klar, daß die Fresken keine wirkliche ideelle Erneuerung darstellen und im Prinzip von einem anti-innovativen Charakter getragen werden. Das ikonographische Programm ist vielmehr repräsentativ für das Quattrocento und wird als einer der letzten Ausläufer des christlichen Piatonismus begriffen: Die „Reaction gegen den
53 Ebd., II, S. 481, § 417. Vgl. RM, S. 146: Die Stanza della Segnatura „trägt einen einheitlichen Charakter" und ist die „organische Schöpfung einer einzigen Phantasie." 54 Der Interpretationsansatz der artes-liberales-Trzdiúon blieb bis ins späte 20. Jahrhundert hinein wegweisend. Doch haben die zahlreichen Abwandlungen, die der These seitdem widerfahren sind, dazu geführt, daß ihre Kritiker sich desselben Arguments bedienen, mit dem Springer den figuralen Bildkommentar von Bellori bis Trendelenburg dem Vorwurf der Willkür aussetzte. Zur Kritik vgl. Winner: „Disputa und Schule von Athen", S. 39; Most: „Raffael lesen", S. 207.
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Humanismus" ist bereits im vollen Gang, als „Vorboten jener unseligen Richtung, welche ein Menschenalter später siegen und die Blüthe des italienischen Geistes grausam zertreten sollte" (RM, 174). Aus diesem Grund kann Springer Vasaris Interpretation der Schule von Athen zwar einen gewissen Quellenwert zugestehen, aber zugleich als das Ergebnis einer historischen Reflexionsstufe verwerfen, die durch eine ,,falsche[] Seitenwendung auf das besondere Kirchenthum" (BK, 141) einen kirchlich-dogmatischen Charakter erhält und den ursprünglichen Blick auf das Fresko verstellt. Will sagen: Mit dem Anbruch der Gegenreformation ist die ursprüngliche, allgemeine Einheit von Volksglauben und Kirche zerstört, die noch „Rafael und seine humanistisch gebildeten Rathgeber vom allgemeinen religiösen Gedankenkreise behaupteten." (BK, 141) Mit dem Wechsel zu einer rhetorisierten Darstellung in den Künsten im Dienste der Kirche vollzieht die italienische Kunstgeschichte einen Wandel, der nicht mehr durch die realistische Auffassung gedeckt wird und letztendlich das ästhetische Primat an den protestantischen Immanentismus der holländischen Malerei abgeben wird. 55 Die Ausmalung der ersten Stanze steht damit am weltgeschichtlichen Scheidepunkt, der die nachantike Kunstgeschichte in zwei Epochen aufteilt: Bei Vischer geht die „Geschichte der Phantasie mit der Geschichte der Religion Hand in Hand", doch ihr Bund ist „kein dauernder": „Dadurch teilt sie sich sogleich in zwei Abschnitte, die Epoche der religiös bestimmten und der weltlich freien Phantasie." 5 6 Insbesondere Raffael bildet den dialektischen Umschlagspunkt, bei dem der religiöse Inhalt und die lebendige Form zur höchstmöglichen Synthese geführt werden: „Endlich bricht die Knospe, die Jungfrau ist reif und mannbar, das Ideal erreicht; und jetzt, in den Werken eines Phidias und Polyklet, eines Raffael feiern Kunst und Religion den Moment ihrer höchsten Einheit. Aber es ist zugleich der Moment ihrer Entzweiung für immer; die erblühte Jungfrau hat kein Bleiben mehr in den Klostermauern; die Geburt des religiösen Ideals ist die Stunde seines Todes[.]" 5 7 Gemäß dieser geschichtsphilosophischen Implikation muß die Deutung der Stanza della Segnatura in Raffael und Michelangelo gelesen werden: Die „Versöhnung zwischen Religion und Philosophie", die überwundene „Kluft zwischen Wissen und Glauben" besteht nur für einen „kurzen Augenblick" (RM, 174), der zugleich sein Absterben hinsichtlich der Glaubensintensität markiert. Dieses Moment des Zurücktretens des metaphysischen Bezugs und der Absorbierung der „allgemeinen Phantasie" durch die „besondere" des Künstlers erzeugt eine formalästhetische Emanzipation vom religiösen Determinismus, womit der Künstler selbst zum Instrument des Geschichtsprozesses wird. Als nicht mehr geglaubter Mythos stellt der humanistische Gehalt eine innere, kunstautonome Wahrheit her, in der der Künstler den unfreien Glauben der allgemeinen Phantasie überwindet. Die Aufgabenstellung erteilte Raffael „das Recht, ja band ihm die Pflicht ein, den überlieferten, bis dahin todten [!] Stoff noch einmal [!] in der Phantasie zu erzeugen, durch neue Gestalten zu ergänzen, die gegebenen und vorgeschriebenen, sobald es der künstlerische Zweck verlangte, umzuprägen." (RM, 177) Jene Umprägung des absterbenden, abstrakten und allgemein vorgegebenen Inhalts führt zu einem lebendigen und sensualistisch aufgeladenen End55 Vgl. Vischer: „Overbecks Triumph der Religion", in: Kritische Gänge V, S. 21. 56 Vischer: Aesthetik, II, S. 484, § 420. 57 Vischer: „Overbecks Triumph der Religion", in: Kritische Gänge V, S. 20.
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produkt im Sinne des realistischen „Lebensgehalts", der darin besteht, „namentlich den abgeblaßten Gestalten eines verschwundenen Glaubens noch einmal Wärme einzuhauchen." 58 Die „erste und oberste" Aufgabe Raffaels konzentriert sich somit darauf, den toten Stoff durch „Leben und Handlung" zu erneuern und überdies „durch charakteristischen Ausdruck die passiven Träger abstrakter Vorstellungen oder zufälliger Portraite zu wirklichen Männern der That zu erhöhen." (RM, 177). Werkgenese und Produktionsästhetik: Die Deutung der Schule von Athen als programmatische Explikation der sieben freien Künste bliebe unvollständig, wenn nicht auf die Problematik der beiden im vorderen Mittelfeld positionierten Figuren eingegangen werden würde. Die bei Springer ohne Namen versehene und traditionell als Heraklit bezeichnete, sich auf einem Steinquader kauernde Gestalt sowie der auf der Treppe ruhende Diogenes stellen insofern eine Herausforderung an den Interpreten dar, da sie sich als markante Einzelfiguren in das von Springer postulierte ikonologische System nicht einfügen lassen und somit als zentrale Einzelfiguren nur einer formalen Funktion nachkommen. Den wichtigen Beleg für diese These Springers liefern die wenigen erhaltenen Entwürfe: Das im Frankfurter Städel aufbewahrte Blatt zum Diogenes ist allein aufgrund seiner Existenz ein Indiz dafür, daß Raffael an der Figur lange laboriert hat und diese somit nicht aus inhaltlichen, sondern formalen Gründen verwendet. Noch deutlicher wird dieses Verständnis beim Heraklit: Der Mailänder Karton (Abb. 13) zeigt den fast vollständigen Entwurf des Freskos mit Ausnahme des letzteren, was auch hier von Springer als nachträgliche und allein kompositorisch motivierte Einfügung gedeutet wird: Der „Ausfall einer Figur im Carton" berechtige zu der Annahme, „dass dieselbe auf den Inhalt des Gemäldes keinen wesentlichen Einfluss übt" und „erst später aus formalen Gründen hinzugefügt wurde." 5 9 Die beiden Vorarbeiten zeigen, wie die Handzeichnung von Springer in einem induktiven Verfahren zur Aufdeckung ursprünglicher Inhalte genutzt wird. Indem diese nämlich als Dokumente für formal-konzeptionelle Abänderung innerhalb eines fertigen inhaltlichen Programms gelten, können alle im Schaffensprozeß neu hinzukommenden Elemente als ikonographische Leerstellen und formale Lückenfüller vernachlässigt werden. Die Figuren des Heraklit und des Diogenes sind deshalb Teil der künstlerischen Phantasie, nicht aber der gehaltsästhetischen Begründung der Ikonographie im Volk, die sich für den Künstler apriorisch manifestiert. Der erkenntnistheoretische Status des Schaffensprozesses läuft deshalb auf eine Vermittlung zwischen einer abstrakt-ideellen Konzeption des Bildes und einer konkret formalästhetischen Umsetzung hinaus. Was in der Analyse der Schule von Athen aufgrund einer geringen Zahl von Entwürfen nur angedeutet ist, wird bei der Fülle überlieferter Handzeichnungen zur Disputa als systematisch reguliertes Betrachtungsverfahren evident (RM, 158-163). Springer folgt hier Vorgaben, wie sie Vischer im dritten Band der Aesthetik unter dem Abschnitt Die organisierende
58 Vischer: „Bemerkungen zu der Geschichte der modernen französischen Malerei von Dr. Julius Meyer" [1866], in: Ebd., S. 257. 59 Springer: „Raffael's .Schule von Athen'", in: Die graphischen Künste 5 (1883), S. 53-106, S. 76.
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Vorarbeit oder die Komposition (§§ 494-509) niedergelegt hat.60 Das dortige produktionsästhetische Modell definiert sich als sukzessive formalästhetische Emanzipation vom bedeutungsdeterminierenden Grundgedanken, der am Anfang des schöpferischen Prozesses steht.61 Die Freisetzung der formalen Mittel dient dabei zur Erzeugung eines harmonischen Ausgleichs zwischen der monistisch strukturierten Bedeutung und den konkreten Eigenschaften des Bildes. Ihr Ziel ist es, eine „reine Einheit zwischen der Idee als Einheit und dem Bild als Vielheit herzustellen". 62 Der „Stoff" wird somit zum „Hebel [...] für eine Summe von Schönheiten", „indem nicht der angebliche Gegenstand, sondern etwas Anderes, wozu er das Motiv geben muß, der eigentliche Darstellungszweck ist". 63 Entscheidenden Anteil an diesem Verfahren hat der „Akt des Komponierens", der nach mehreren Stadien differenziert wird: Bei diesem „idealen Akt" erstellt der Künstler in mehreren untergeordneten Teilschritten die Konzeption des Bildes, indem er zunächst (a) seine innere Vorstellung als Skizze niederlegt, dann (b) ein richtiges Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen herstellt und zuletzt (c) den so entstandenen Kontrast zwischen den Einzelelementen durch eine rhythmische und lebendige Gliederung ausgleicht. Mit dieser Einteilung greift Vischer nur teilweise auf die Arbeitsschritte der inventio-Lehre zurück 64 (Skizzierung der prima idea, sorgfältige Bearbeitung nach der Natur, kompositionelle Abrundung, Verteilung des Helldunkels und der Farbwerte), er stattet sie vielmehr mit einem idealrealistischen Denkmuster aus, indem die Einzelkategorien nicht als sukzessiver Vorgang, sondern als dialektischer Ausgleichsprozeß zwischen polaren Kräften der idealen Phantasie und der realen Materie gedeutet werden. Vischer betont dabei, daß die ideellabstrakte Komponente der künstlerischen Vorstellung nicht ohne die manuellen Arbeitsschritte und die Uberprüfung auf Basis des Materials vonstatten gehen kann, ja die romantische Auffassung von der bloßen Realisierung einer unmittelbar geoffenbarten Vorstellung eine Fiktion der Ästhetiker ist. Vischers produktionsästhetische Systematik ist grundlegend für Springers Sicht auf die Entwürfe: Angewandt als Ordnungs- und Betrachtungsverfahren, läuft dies auf eine verzeitlichte Vermittlung hinaus, die als produktionsästhetische Umprägung der Bedeutung in die Form verstanden wird. Dementsprechend ist bei Springer das Interesse des Künstlers 60 Mit der folgenden Gegenüberstellung von einzelnen Abschnitten aus Vischers Aesthetik mit der Gliederung der Genese der Disputa in der Doppelbiographie Springers wird intendiert, einen systematischen Begründungszusammenhang aufgrund der realistischen Kunsttheorie nachzuweisen. Die Frage, ob die Anordnung der Entwürfe zur Disputa auch noch mit heutigen werkgenetischen Kriterien konvergent ist, spielt hierbei eine nebengeordnete Rolle. Zur Funktion der Fotografie im Zusammenhang mit der methodischen Erschließung von Raffaels Handzeichnungen vgl. die Ausführungen im Abschnitt 2.3. 61 Vgl. dagegen Untersuchungen des 20. Jahrhunderts, die mit den einzelnen Entwurfsphasen auch inhaltliche Korrekturen annehmen oder diskutieren: Pfeiffer: Zur Ikonographie von Raffaels Disputa, ibs. S. 87. 62 Vischer: Aesthetik
III, S. 24 f, § 495.
63 Ebd., S. 19, § 4 9 3 . 64 Vgl. z. B. Vasari: „Einführung in die drei Zeichenkünste, nämlich Architektur, Malerei und Bildhauerei" (1567), in: Ders.: Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister I (Repr. Schorn), S. »69 ff.
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allein aus formalästhetischen Gründen motiviert: „Alle Vorarbeiten gehen von der gleichen Grundlage aus wie die ausgeführten Bilder und zeigen nur eine allerdings [!] stetige und überaus [!] fruchtbare E n t w i c k l u n g der Composition in formeller [!] Hinsicht." (RM, 146) Bezogen auf die Kompositionsregeln bei Vischer, kann dieser Prozeß an den zahlreichen Vorstudien zur Disputa objektiviert werden: Die ersten beiden Blätter in der Entwicklung (RM, 159) entsprechen dem bei Vischer beschriebenen Ubertragungsakt von der Phantasie auf die Skizze (a): Das innere Bild des Künstlers, das zunächst noch „blaß, verschwommen, schwankend" ist und zu keiner harmonischen Ausgewogenheit zwischen Einheit und Vielheit findet, geht durch „die innere Zeitigung [...] ganz Hand in Hand mit der äußerlichen Darstellung", 65 d. h.: im Entwurf der ersten Skizzen wird die zunächst haltlose Phantasie des Künstlers durch die Erprobung am Material domestiziert und findet erst ihren eigentlichen Niederschlag im materiell Konkreten. In diesem Sinne steuert laut Vischer die Skizze in einem ersten Schritt den „Ubergang der Phantasie zur Kunst", bei der das „Schwanken der Umrisse" 6 6 in ein „quantitativ richtiges Verhältnis" gesetzt wird, „wie es die Qualität des Ganzen fordert". Dieser Akt des „kritischen Messens" 67 des Stoffs an den Widerständen des Materials und der Form schlägt sich in den frühen Entwürfen zur Disputa nieder: Gemäß der bedeutungsdeterminierenden Kraft der ideellen Vorgabe kommt es bei der Sepiastudie in Windsor Castle (Abb. 9) zu keiner Deckung mit der formalen Umsetzung, indem die „Stumpfheit der Formen und die geringe Frische der Zeichnung" auffallend ist (RM, 158). Auch das andere Blatt auf der Entwicklungsstufe bleibt in seiner Konzeption vage, da die Zweireihigkeit der oberen Zone unscharf und die architektonische Kulisse „[unverständlich und unerklärlich" bleibt (RM, 159). Folgt man Vischer weiter, so enthält in diesem Stadium der konzeptionellen Unklarheit „das innere Bild noch zu viel und zu wenig".68 Aufgabe des Künstlers ist es in einem zweiten Schritt (b), auf figürlicher Ebene eine größere Ausgewogenheit zu erstellen. Diese Auffassung vom Akt des Komponierens korreliert bei Springer mit der zweiten Phase im Entwurfsstadium der Disputa: Sie führt zur Reduktion überflüssiger Figuren, Streichung der zweiten Himmelsreihe und der Beseitigung der Scheinarchitektur (RM, 160). Mit dem Erlangen dieser kompositioneilen „Mittelstufe" steht die „Grundlage des Bildes [...] bereits fest" (RM, 160) und die Folge dieser Vereinheitlichung ist die Schaffung von Einzelgruppen, die Springer in einer Federzeichnung aus dem Louvre erkennt. Dieser Schritt im Schaffensprozeß repräsentiert innerhalb der Systematik Vischers dasjenige Moment, bei dem das Bild zu seiner eigentlichen Bestimmung findet, indem nämlich vom Künstler eine „ins Mannigfaltige auseinandergelegte[] Erscheinungswelt" erzeugt wird. 69 Die Hebelwirkung, die die Idee freisetzt, ist eine Entfaltung in ,,genreartige[] Gruppen", 7 0 die sich dem Ganzen unterordnen. Im Schaffensprozeß ist sie als „scheidende Tätigkeit an der gegenwärtigen Stelle" ein unabdingbares Entwicklungsmoment, da von ihr „der organische Fortgang der
65 66 67 68 69 70
Vischer: Aesthetik III, S. 17, § 492. Ebd. Ebd., S. 25, § 495. Ebd. Ebd. Ebd., S. 26.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung hei Anton
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Begriffe" abhängig ist und „von da weiter zu den letzten und höchsten Kompositionsgesetzen zu führen hat." Durch „strenge Sonderung", „klares Auseinanderrücken und Auseinanderhalten" und die „Hebung der Einzelbilder durch den Kontrast" 7 1 konkretisiert der Künstler seine Vorstellung und verhindert damit das Abrutschen der ideellen Konzeption in die haltlose Konturlosigkeit. Ihren Niederschlag findet dieser Schritt bei Springer in der minutiösen Beschreibung der Anordnung von Einzelfiguren: „Ein Jüngling ersteigt die Plattform, auf welcher die Hauptpersonen des Vorganges sich befinden und weist dieselben einer zweiten hinter ihm stehenden Figur. Die Eckgruppe erscheint um eine Person vermehrt, in eine lebendige Action versetzt und selbständiger erfasst. [...] Im Ganzen leitete ihn bei der Zeichnung des frankfurter Blattes das Streben, die Hauptgruppen kräftiger zu betonen, die einzelnen Gestalten im Ausdruck und charakteristischer Bewegung zu vertiefen." (RM, 160) Die kontrastierende Betonung zwischen den Einzelfiguren und Hauptgruppen (Vischers „genreartige[] Gruppen") wird hier zum entscheidenden Merkmal innerhalb der Entwicklung, bei der zugleich alle inhaltlichen Kriterien und Attribute verschwinden, die Springer im vorangegangenen Blatt noch vermerkt hatte. Jene Ausarbeitung in Einzelgruppen und Bildung lebendiger Kontraste aber führt zur Segmentierung, bei der die Komposition zu einer „Fülle von Momenten" 72 zersplittert und die Gesamtordnung vernachlässigt wird. Vischers Bemerkung folgend, daß das „selbständig gewordene Einzelne [...] wieder lebendig ineinander übergehen [...] und die Kontraste [...] sich auflösen" sollen, 73 leitet Springer seine Beschreibung der Disputa-Zeichimngen zum nächsten Stadium über (c): „Darüber trat der Fluss der Linien, der formelle Zusammenhang der ganzen grossen Composition etwas zurück. Beide zu vereinigen, bildete die Aufgabe der nächstfolgenden Entwürfe." (RM, 160) Dies stimmt mit dem letzten Stadium der komponierenden Tätigkeit in der Aesthetik überein: Die Synthese zwischen der Kontrastbildung und Vereinzelung auf der einen Seite und der vernachlässigten Komposition auf der anderen wird dabei durch die Bildung einer natürlich und lebendig wirkenden Motivierung zwischen den Einzelteilen hergestellt, welche sich zu einer rhythmischen Gesamtwirkung zusammenfügen. 74 Vischer bezeichnet hier ebenso wie Springer das verbindende Moment als ,,Fluss[]", womit er das „Kompositionsgesetz [...] wesentlich [als] ein Gesetz der Bewegung" und das Kunstwerk als Ausdruck eines „belebten Ganzen" 7 5 auffaßt. Der „Fluss der Linien" (Springer) oder belebende „Linienzug" (Vischer) 76 fügt somit die vorangegangene Fragmentierung zu einem organischen Ganzen zusammen und stellt eine rhythmische Einheit in der Komplexität her. Folglich reguliert Springer die Beschreibung der dritten Phase allein nach formalen Gesetzen: Auf dinglich-ikonographische Details (Tiara, Bücher), wie sie bei der zweiten Stufe noch vermerkt wurden, wird nun keine Rücksicht mehr genommen. Die Figuren, die auf den beiden Blättern aus der Albertina und der Sammlung Vaughan hinzukommen, dienen hier nur zur Bildung von Übergängen und kompositionellen
71 72 73 74 75 76
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 36, § 498. S. 28, § 496. S. 42, § 499. S. 49 ff, § 500. S. 49 f. S. 52.
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Akzentuierungen. In H i n b l i c k auf die von Vischer geforderte kausale Motivierung zwischen den Einzelfiguren ist die Zunahme von Partizipien und Epitheta der Bewegung und Steigerung auffallend, mit der sich die Aussage verknüpft, daß sich die Gestalten „ungez w u n g e n " miteinander verbinden: Die grösste Neuerung und einen entscheidenden Schritt zur Vollendung der Composition wagte Raffael, indem er zwischen die knieenden Figuren und den lesenden Papst eine mächtige Figur einschob, welche ganz abgesehen von ihrer inhaltlichen Bedeutung den bis dahin todten Raum - die Lehnen des Marmorstuhles waren übermässig sichtbar geblieben - in lebendigster Weise ausfüllt und ungezwungen von einer Gruppe zur andern überleitet. Die drei knieenden Jünglinge, einer hinter dem anderen, sind von einer gewissen Einförmigkeit nicht frei zu sprechen. Auf dem wiener Blatte erscheint der eine ganz in den Hintergrund gedrängt, der andere wird vorschreitend gedacht und beugt sich über den knieenden, um den Vorgang am Altare besser sehen zu können. Die Grundstimmung wurde festgehalten, in die Bewegung aber Mannigfaltigkeit gebracht. Die Hauptfigur in der Eckgruppe zeigte bisher Rückenansicht; sie wurde nun herumgedreht und dadurch zu einer der hervorragendsten Personen des Bildes erhoben. Endlich stellte Raffael noch unmittelbar neben dem Altar, wo ursprünglich wenigsagende Mönchsköpfe herauslugten, eine markige Greisengestalt hin, welche energisch in die Action eingreift und zu den Marksteinen der ganzen Composition gezählt werden muss. RM, 162 D i e Setzung von „Marksteinen" und Hauptfiguren als letztes M o m e n t im A k t des K o m p o nierens entspricht Vischers Vergleich mit der Taktung in der Musik, welche die „fortfließende Tonreihe in wiederkehrende Einschnitte teilt". 7 7 Als Paradigma des sensualistischen Lebensgehalts hat dabei die Musik eine Vorbildfunktion in den Künsten: „Die Musik stellt das verhüllte rhythmische Leben, das Bewegungsgeheimnis in allen übrigen Kunstformen heraus, gibt ihm ausdrückliche F o r m , organisiert es und leiht daher auch zur Bezeichnung aller in diesen Punkt einschlagenden Eigenschaften jeder Kunst das Allgemeine ihrer T e r m i n o l o g i e . " 7 8 Analog hierzu nimmt Springer bei der K o m m e n t i e r u n g der eingeschobenen ,,mächtige[n] F i g u r " - von Braun als Johannes Scotus Eriugena identifiziert 7 9 - seinen expliziten Hinweis auf deren ,,inhaltliche[] B e d e u t u n g " in der späteren Beschreibung des Freskos nicht mehr auf: Diese wie auch die „Hauptfigur in der E c k g r u p p e " (s. o.) und die übrigen vier „idealen F i g u r e n " bilden zusammen mit den Kirchenvätern die „Grundpfeiler und Ecksteine der ganzen C o m p o s i t i o n [ . . . ] welche den Cäsuren eines Verses vergleichbar die einzelnen G r u p p e n ebenso sehr verbinden, wie sie dieselben in deutlicher Gliederung auseinanderhalten." ( R M , 168) I m E n d p r o d u k t des Freskos ordnen sich somit jene sechs Figuren dem vereinheitlichenden G e s e t z des R h y t h m u s unter und erhalten deshalb eine rein formale F u n k t i o n . O h n e Bedeutungsträger zu sein und ohne eine konkrete theologische Legitimation zu besitzen, konstruieren sie eine Bildlogik ohne Programm. D e r R h y t h mus als Träger des Lebensgehalts, der durch den schöpferischen P r o z e ß erzeugt und dabei fast vollständig entsemantisiert wird - dieser Gedanke wird auch hier zu einem entscheidenden F a k t o r in der methodischen Erschließung der
Disputa.
77 Ebd., S. 50. 78 Ebd. 79 Braun: Raffaels Disputa, S. 98. Dies entbehrt nicht der Plausibilität: Die am Boden liegenden Bücher deuten laut Braun auf den Widerruf seiner Lehren hin. Im Gegensatz hierzu fällt bei Springer der Versuch einer Zuschreibung anhand ikonographischer Attribute völlig aus.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik
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3.3. Kunstgeschichte nach Texten: Beschreibungs- und Darstellungskonzeptionen 1867, 1878 und 1883 Die ausführliche und textnahe Gegenüberstellung von Vischers Produktionsästhetik und Springers Auseinandersetzung mit den Fresken in der ersten Stanze war notwendig, um folgendes Ergebnis zu erzielen: Werkgenetische Rekonstruktion und ikonographische Deutung verhalten sich bei Springer komplementär zueinander. Die klare Positionierung in der Streitfrage nach einem inhaltlichen Schöpfer verrät die entscheidende Prämisse, von der alle übrigen Fragen der Interpretation abhängen: Indem der Schaffensprozeß einen vom Intellekt unabhängigen Status erhält und zwischen den Entwurfsphasen die Option des inhaltlichen Eingriffs durch humanistische Berater oder den Auftraggeber nicht erwogen wird, situiert Springer das schöpferische Vermögen Raffaels nicht nur direkt im Volksorganismus, sondern kapriziert sich auch auf die feste Uberzeugung, daß ein ursprünglicher Sinn nur über die Handzeichnung offengelegt werden kann. So heißt es am Ende der Entwicklungsreihe lapidar: „Die Geschichte der Entstehung der Disputa löst alle Schwierigkeiten, welche sich etwa bei einem ersten, unvermittelten Anblick der Freske dem Verständniss entgegenstellen." (RM, 163) Die Handzeichnung mit ihren einzelnen Entwurfsphasen öffnet damit methodisch den Zugang zur Ikonographie, da die frühen Entwürfe in voller Klarheit die ursprüngliche Bedeutungsdetermination freilegen. Die Grundlage für dieses Verfahren bildet die Produktionsästhetik Vischers, die zwischen begrifflich definierter, aber notwendig abstrakt bleibender Ursprungsidee und konkreter Realisierung im Endprodukt polarisiert. Noch in Raffael und Michelangelo behält Springer diese Argumentationsschemata bei und überträgt deren Ordnungssystem auf die Vorstudien. Das Programm der Stanze wird als Ausdruck des Volksgeists gedeutet und damit jede inhaltliche Komplexität zugunsten einer monistischen Gedankenstruktur vermieden. Komplex hingegen ist das Endprodukt des Künstlers, das in der formalästhetischen Explikation einen reinen Lebensgehalt offenbart: Er besteht in der dynamischen Bewegtheit und Dramatik, der lebendig wirkenden Rhythmik und der Affektsprache der Figuren - kurz: in der vitalistisch-sensualistischen Mannigfaltigkeit einer begrifflich vorgeprägten Einheit. Die Dynamik, die der sensualistische Blick auf die Kunst entwickelt, ist dabei wissenschaftsgeschichtlich von außerordentlicher Sprengkraft: Sie führt zu einer Abtrennung der Interpretation von der Beschreibung, die nicht mehr als Träger von inhaltlichen Bedeutungen fungieren kann. Wenn nämlich Springer den Widerspruch von ikonographischer Deutung und realistischer Formalästhetik durch die Rekonstruktion des Schaffensprozesses zu lösen versucht, dann werden auch die Beschreibungen des vollendeten Werks und dessen Inhaltserschließung in ein konträres Verhältnis zueinander gesetzt. Der Beschreibung kommt hierbei im Gefüge des Textes eine tendenziell von der Bedeutung befreite, sich allein auf die realistische Wirkungsästhetik beschränkende Funktion zu. Denn schön, und in diesem Sinne über die Beschreibung poetisch reproduzierbar, ist nicht der abstrakte Gehalt, sondern die materielle Oberflächenstruktur des vollendeten Werks in der sensualistischen Darstellung der Figuren. Springer versteht demnach seine Beschreibungen sehr wohl als poetisch, aber nicht als den adäquaten sprachlichen Modus, über den Sinnzusammenhänge vermittelt werden. Die realistische Beschreibungspraxis stellt damit zwangsläufig ein paradoxes Unterfangen dar: Während durch die ästhetische Depravation des Gehalts eine Anknüpfung an
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die Beschreibungsmodelle der ersten Jahrhunderthälfte prinzipiell verbaut ist, erhebt die Kunstwissenschaft zugleich den Anspruch, einem wirkungsästhetisch definierten Darstellungsmodus der Beschreibung n a c h z u k o m m e n . Dieses D i l e m m a zwischen der Forderung nach einer wie auch immer gearteten Poetizität der Beschreibung und ihrer gleichzeitigen methodischen Regulierung drückt sich nicht zuletzt in Springers N a c h r u f auf Karl Schnaase aus: „Die technischen Fragen [in Schnaases Beschreibungen, J . R . ] traten in den H i n t e r grund, der poetische Gehalt, der v o m Standpunkt allgemeiner Bildung am leichtesten verstanden wurde, empfahl sich der nächsten B e a c h t u n g . " 8 0 H i e r wird dezidiert aus dem B l i c k winkel von 1875 historisiert: D i e postromantische Bildauffassung, über die Beschreibung eine poetische E v o k a t i o n des Gehalts herzustellen und damit die Kunst als Reflexionsmedium anzuerkennen, wird an Schnaase, der in enger Beziehung zur Düsseldorfer Malerschule stand, 8 1 durchsichtig gemacht und als biedermeierliche Angelegenheit denunziert. D e n n der „Standpunkt allgemeiner B i l d u n g " , mit dem Schnaase angeblich nur den Bedürfnissen der Gegenwart n a c h k o m m t , kann nicht Maßstab einer historisch reflektierten Bildbetrachtung sein. J e d o c h hindert dieser grundsätzliche Vorbehalt Springer nicht, Schnaase auch als Beschreibungskünstler die Reverenz zu erweisen: „Die deutsche Literatur ist nicht so reich an lebendigen Beschreibungen von Kunstwerken, in welchen der H a u c h der Phantasie, der jene geschaffen hat, verspürt wird, als daß wir es leichthin übersehen sollten, daß Schnaase auch die Fähigkeit zu malerischer Schilderung in hohem Grade b e s a ß . " 8 2 L e b e n digkeit und Phantasie sind die Schlüsselworte, mit denen Schnaases qualitatives Verdienst um die Beschreibung bezeichnet wird. D a m i t ist ein grundlegendes P r o b l e m bezüglich der Textorganisation umrissen: Wird die Beschreibung als reproduktiver Träger von Inhalten entsemantisiert, hinterläßt sie darstellerisch und methodisch ein Vakuum und fordert - will an ihr als wissenschaftlichem Instrument festgehalten werden - die Neudefinition ihres Aufgabenbereichs heraus. Ihre Position rückt deshalb als untergeordneter Teil in einen textuellen Gesamtzusammenhang, der auf eine zunehmende Funktionalisierung und Spezifizierung innerhalb der Werkanalyse hindeutet. Erkauft wird diese strukturelle U m w a n d l u n g und operative Neudefinition dadurch, daß die Beschreibung letztendlich ihren autonomen Textstatus und ihren Anspruch als interpretierendes M e d i u m verliert. D i e Tatsache, daß Springer insgesamt drei Mal zu einer Deutung der Schule
von Athen
ansetzt, indiziert somit das Problem, daß die realistische
Trennung zwischen Anschauung und Interpretation, zwischen Werkbeschreibung und I k o nographie eine erhebliche darstellerische Herausforderung provoziert, bei der die Beschreibung und die übrigen Teilglieder der Werkanalyse in ein neues Bezugssystem zueinander gesetzt werden müssen. Beachtlich erscheint in diesem Zusammenhang, daß der Abschnitt in Raffael
und Michelangelo
(1878) und der Aufsatz von 1883 in der inhaltlichen Deutung
des Freskos kaum noch Differenzen aufweisen: D e r Aufsatz von 1883 expliziert an sich nur die bereits bekannten Thesen; wie schon 1878 deutet dort Springer die einzelnen Philosophengruppen als artes liberales
und die vier Stufen als ascensus·, er bezieht das Gedankengut
80 Springer: „Karl Schnaase" [Nekrolog], in: Im neuen Reich 5/1 (1875), S. 881-887, S. 882. 81 Vgl. hierzu: Karge: „,Denn die Kunst ist selbst nichts Absolutes...' Karl Immermann, Karl Schnaase und die Theorie der Düsseldorfer Malerschule". 82 Springer: „Karl Schnaase", in: Im neuen Reich 5/1 (1875), S. 881-887, S. 883.
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Methodik
und Darstellung
bei Anton
Springer
des Renaissance-Platonismus in die Interpretation ein und polemisiert wie in dem Aufsatz von 1867 gegen den figuralen Bildkommentar. Unterschiede bestehen in den drei Abhandlungen jedoch hinsichtlich der formalen Textkonzeption, die jeweils ein bezeichnendes Licht auf die Entwicklung des darstellerischen Reflexionsniveaus wirft. Der dreimalige Ansatz zu einer Deutung der Schule von Athen bietet somit die Möglichkeit, die Prinzipien unterschiedlicher Textstrategien bei Springer offenzulegen und für eine historische Typologie kunstwissenschaftlicher Textsorten exemplarisch zu nutzen. Da Springers Kunstbeschreibungen offenbar nur als integrierte Teilglieder von übergeordneten Strukturen Bestand haben, wird hier vorgeschlagen, den jeweiligen epistemischen Status der (paradigmatischen) Beschreibung im Verhältnis zum (syntagmatischen) Textzusammenhang zu sehen. 83 Der Beschreibung kommt somit in den drei Fassungen ein veränderter operativer Stellenwert innerhalb der Gesamtanalyse zu. Unter der Prämisse, daß die jeweilige syntagmatische Textstrukturierung in enger Verbindung mit dem dazugehörigen Argumentationszusammenhang steht, lassen sich die Texte in drei formale Kategorien einteilen: Der Aufsatz von 1867 ist primär diskursiv, d. h. die Sprechintention richtet sich vor allem gegen die Vorgänger in der Deutung. Mit zahlreichen Wiederholungen und didaktisch anmutenden Passagen erhalten dabei der Gedankengang und die anschließende Beschreibung eine rhetorische Funktion. Anders bei dem entsprechenden Abschnitt in der Parallelbiographie: Wird aus gattungsspezifischen Gründen vorausgesetzt, daß auf der syntagmatischen Textebene ein auf Narration und Verzeitlichung basierendes Darstellungsverfahren gestärkt wird, so muß der rhetorische Anteil auf der paradigmatischen Ebene der Beschreibung zugunsten ihrer Eingliederung in einen größeren biographischen Ereigniszusammenhang schwinden. Gegenüber dem rhetorischen Status von 1867, der den impliziten Leser einkalkuliert, ordnet sich die Beschreibung einem immanent verfahrenden Erzählprinzip unter und ist somit Bestandteil eines narrativen Verfahrens. Eine erneute Revision in der Textstrukturierung nimmt Springer fünf Jahre nach der Parallelbiographie vor: Wie zu zeigen sein wird, ordnet er in dem Aufsatz von 1883 die syntagmatische Ebene vollkommen neu, indem diese nun nach hermeneutischen Kriterien reguliert wird - auch dies hat Auswirkungen auf die Beschreibungskonzeption. Die Unterscheidung in verschiedene Textkategorien ist wichtig, um einen ersten Ansatz für die Analyse der Parallelbiographie zu gewinnen: Während der dortige Abschnitt von hoher Aussagekraft für die Darstellungskonzeption der biographischen Gattung ist, gehört der fünf Jahre später erschienene Aufsatz zu den Prolegomena der Kunstgeschichtsschreibung im 20. Jahrhundert.
a) Die rhetorische Konzeption 1867 Die Abgrenzung zu Passavant, um die sich Springers Interpretation zunächst bemüht, kommt in der Verwendung von rhetorischen Mitteln zur Evidenz. Denn Passavant hatte die Schule von Athen im engeren Sinne nicht beschrieben, sondern eine an der antiken Tradition des Sachkommentars 8 4 orientierte, nüchterne und mit der Bezugnahme auf Diogenes Laer83 Zum Verhältnis von Erzählung (Syntagma) und Beschreibung (Paradigma) in der Erzählprosa des 19. Jahrhunderts vgl. Genette: „Frontiérs du Récrit", S. 49-69. 84 Vgl. Friedländer: Jobannes von Gaza und Paulus Silentiarius, S. 32.
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tíos quellenkritisch abgestützte Deutung geliefert, die nicht als poetische Nachschöpfung des Freskos verstanden werden konnte. Während also die inhaltliche Deutung den Grundsätzen einer romantischen Bildauffassung verpflichtet blieb, beschränkte sich sein Beschreibungsverfahren auf die Bestandsaufnahme und erklärende Kommentierung des Bildinhalts und seiner ikonographischen Details. Die von den Romantikern mit großer Verve verfolgte Neukonzeption der Kunstbeschreibung als sprachlich analoge Reproduktion der farbigen Hieroglyphe 8 5 scheint daher nur noch für Passavants ästhetische Grundlegung, nicht aber für dessen Darstellungskonzeption von Relevanz zu sein. Springers Beschreibung dagegen läßt sich als diametral entgegengesetztes Modell zu den Abschnitten in Passavants Rafael verstehen: Mit drei Ausnahmen wird keiner Figur ein Name zugeordnet. Die Beschreibung beschränkt sich rein auf wirkungsästhetische Kriterien. Die Gegnerschaft zu der romantisch-spekulativen Deutung begründet zugleich, weshalb Springer die Beschreibung als Verfahren aufwertet, das einerseits auf höchstmöglicher Werktreue beruht, sich aber andererseits vorsichtig der klassischen Ekphrasis 86 und damit wieder den formalen Strategien einer Rhetorisierung nähert. Der Beschreibung von 1867 kommt dadurch eine primär didaktische Aufgabe zu. Sie ist am Ende des Aufsatzes positioniert und wird mit dem Appell verbunden, „doch dabei [zu bleiben], das Gemälde selbst sprechen zu lassen" (BK, 143). Dadurch wird sie zur Handreichung und Anweisung an den Leser, den spekulativen Reflexionszusammenhang zu überwinden und einer unvoreingenommenen Rezeption offenzustehen. Ähnlich den verknappten Verfahren im Cicerone wird die Beschreibung eine Anleitung zum „Genuß" 8 7 , bei dem keine totale Erfassung der Bildkonzeption angestrebt wird und die skizzenhaften Andeutungen zum Bildaufbau mit Hinweisen zu szenischen Details alternieren: In reichen Gegensätzen und lebendiger Bewegung entfaltet sich im Vordergrunde vor unserem Auge das Treiben der profanen Denker. Mit welcher Hast suchen die Jünglinge in der Gruppe rechts den Sinn der geheimnißvollen Zeichen zu fassen, welche der vorgebeugte Geometer auf die Tafel zeichnet. Mit der gespanntesten Aufmerksamkeit folgt der Eine dem Zuge der Linien, er sieht aber begreift noch nicht, während der Andere bereits die Lösung gefunden hat, der Dritte schon selbst sich anschickt den Erklärer abzugeben. Mit nicht geringerem Eifer ist die gegenüberstehende Gruppe mit dem Niederschreiben und Ablesen beschäftigt. Hier und dort sind die verschiedenen Grade der Erkenntniß mit wenigen markigen Zügen charakterisirt. Unruhig wie die Umrisse der beiden Gruppen fließen, ist auch das unruhige Streben im Ausdruck der einzelnen Gestalten ausgeprägt. Alle diese Astrologen, Geometer und Philosophen mühen sich, ereifern sich, aber das Wort der Wahrheit haben sie nicht gefunden. Dieses Wogen und Strömen, auch noch in den Eckgestalten des oberen Planes fortgesetzt und zwar so, daß sich die Bewegungen kreuzen, der unteren Gruppe
85 Vgl. Osterkamp: Im Buchstabenbilde, S. 232-272. 86 Die in den letzten Jahren etablierte Unterscheidung zwischen rhetorischer Ekphrasis und wissenschaftlicher Deskription kann hier nicht zur Präzisierung beitragen. Wichtig erscheint, daß die Grenzen zwischen beiden Bereichen fließend sind. Deshalb plädiere ich auch hier dafür, von einer einseitigen Oppositionsbildung zwischen .literarischen' und .wissenschaftlichen' Verfahren Abstand zu nehmen und die Beschreibungskonzeptionen in ihrer jeweiligen wissenschaftsgeschichtlichen Konstellation und ihrer jeweiligen Funktion im Text zu sehen. 87 Vgl. hierzu Schlink: „Jacob Burckhardt über den ,Genuß der Kunstwerke'"; Tauber: Jacob Burckhardt: ,Cicerone', S. 2 f.
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links die schreibenden grübelnden Gestalten oben in der rechten Ecke, der unteren Gruppe rechts der demonstrirende Sokrates und seine Genossen oben links entsprechen, wird nun durch Piaton und Aristoteles gebrochen und gelöst. Von einem reichen Chor umgeben treten dieselben aus der Tiefe der prachtvollen Halle hervor, auch sie durch lebendiges Geberdenspiel und eifrige Bewegung ausgezeichnet. Aber wenn auch Aristoteles für die Rechte der profanen Wissenschaft einzutreten scheint, aus Platon's Munde, von der Action der emporgehobenen Hand begleitet, ertönt offenbar das Wort der Wahrheit, der .Göttliche' verkündet Gottes Wesen, offenbart sein Wirken, vereinigt die Astrologie, Geometrie, Philosophie mit der Theologie. BK, 143 f.
Die anleitende Funktion darf den Unterschied zu Jacob Burckhardt nicht verdecken. Im Vergleich mit dem entsprechenden Passus im Cicerone (1855) kristallisieren sich zwei unterschiedliche ekphrastische Verfahren heraus: Den Gegensatz dazu [zur Disputa, J R ] bildet die Schule von Athen, ohne himmlische Gruppe, ohne Mysterium. Oder ist die wunderschöne Halle, welche den Hintergrund ausmacht, nicht bloss ein malerischer Gedanke, sondern ein bewusstes Symbol gesunder Harmonie der Geistes- und Seelenkräfte? Man würde sich in einem solchen Gebäude wohl fühlen! - wie denn nun sei, Rafael hat das ganze Denken und Wissen des Alterthums in lauter lebendige Demonstration und in eifriges Zuhören übersetzt; die wenigen isolirten Figuren, wie der Skeptiker und Diogenes der Cyniker, sollen eben als Ausnahmen contrastiren. Dass die rechnenden Wissenschaften den Vordergrund unterhalb der Stufen einnehmen, ist wieder einer jener ganz einfachen genialen Gedanken, die sich von selbst zu verstehen scheinen. Trefflichste Vertheilung der Lehrenden und der Zuhörenden und Zuschauenden, leichte Bewegung im Raum, Reichthum ohne Gedränge, völliges Zurückfallen der malerischen und dramatischen Motive. (Wichtiger Carton in der Ambrosiana zu Mailand.) 88
In der für Burckhardt typischen lakonischen Kürze verfolgt die zwölf Jahre ältere Passage eine assoziative und sprunghafte Aneinanderreihung der Einzelbemerkungen, so daß eine hart gefügte 89 Satzkette entsteht, die den Sprachfluß empfindlich stört und über die dadurch bewirkte Abruptheit und Unkalkulierbarkeit der gedanklichen Wendungen immer wieder auf die Vergeblichkeit einer sprachlichen Reproduktion von künstlerischen Ausdruckmöglichkeiten verweist. Burckhardts aphoristische Prägnanz läßt die eigentliche Arbeit der Betrachtung für den angeleiteten Leser offen; sie ist Stichwortgeber für ästhetische Eindrücke, die erst vor dem Werk selbst zum Tragen kommen sollen. 90 Im Gegenzug bemüht sich die Beschreibung Springers um eine strenge Anschlußfähigkeit in der Satzfolge. So stellt das Signal der Wortwiederholung einen höheren Zusammenhang zwischen den Betrachtungsebenen her, wenn der Text von der kompositioneilen Anlage der Gruppen zur Einzelgestalt wechselt und somit die idealrealistische Denkfigur von der Einheit der kausalen Motivierung und der kompositioneilen Ordnung umsetzt: „Unruhig wie die Umrisse der beiden Gruppen fließen, ist auch das unruhige Streben im Ausdruck der einzelnen Gestalten ausgeprägt." Die arithmetische Verteilung des Adjektivs „unruhig" auf beide Satzteile hebt die Gegensätzlichkeit der Bewegungen auf. Die Beschreibung verfolgt damit die Strategie, beobachtete Kontrastwirkungen durch höhere Bezüge zu neutralisieren. Zwi-
88 Burckhardt: Der Cicerone, S. 158 (JBW 3, S. 915). 89 Zu der aus der Lyrikanalyse stammenden Begriffsprägung „harte" und „glatte Fügung" siehe: Hellingrath: Pindarübertragungen von Hölderlin, S. 1 ff. 90 Vgl. Tauber: Jacob Burckhardts, Cicerone', S. 8.
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sehen den Kriterien des Umrisses und des (psychologischen) Ausdrucks wird eine Strukturhomologie bemüht, die die lebendige Dynamisierung des Freskos hervorhebt und sie zugleich als immanentes, bildlogisches Gefüge würdigt. Die Gegenüberstellung der Beschreibungskonzeptionen Burckhardts und Springers macht die unterschiedlichen Maßstäbe in der Bewertung des Verhältnisses von Kunst und Sprache deutlich. Burckhardts aphoristische Kommentierung erhebt nicht den Anspruch einer ästhetischen Reproduktion; sie bezieht vielmehr über ihre dialogartige Struktur den Leser als Betrachter ein und gewinnt dadurch an Präsenz, daß sie den Eindruck eines vor dem Werk frei assoziierenden und kommentierenden - der Buchtitel ist bekanntlich Programm - Cicerone simuliert. 91 Diese Präsenz aber ist die des gesprochenen Wortes und des Bildes, womit sie sich durch die Verschriftlichung gleichsam aufhebt und zum Verlust einer bildreproduktiven Sprache führt. Während deshalb Burckhardt in Rückgriff auf die klassische Unsagbarkeitstopik die Funktion der Kunstbeschreibung einschränkt und erkenntnistheoretisch entwertet, letztlich gar zum Beschreibungsverzicht tendiert, 92 geht Springer von einem Beschreibungsbegriff aus, der auf den sprachanalogen Kriterien der sensualistischrealistischen Kunsttheorie basiert und sich weit unbefangener zu der sprachlichen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken verhält. Hermann Hettner 9 3 und Springer formulieren es nahezu identisch, wenn sie die bildende Kunst als ein Analogon zur Sprache bezeichnen, welches ebenso zum kommunikativen Prozeß befähigt ist: „Mit der Kunst ist es [...] wie mit der Sprache bestellt. Aehnlich wie die Sprache nicht blos zur Mittheilung von Gedanken dient, sondern auch Gedanken erzeugt, so sind auch die Offenbarungen der künstlerischen Empfindung nicht allein ein Ausdruck der Freude, sondern sie geben die Freude auch zurück, wecken und schaffen dieselbe." 9 4 Auch dies führt auf Aporien, doch auf gänzlich andere als jene, die der ,Metaphysiker' Burckhardt zu bewältigen hatte. Die dramatisierte Bewegung und ihre psychologische Indikation werden als „Ausdruck" aufgefaßt, dessen Funktion weitgehend darin besteht, der Kunst durch seine sensualistische Intensität eine anthropologische Bestimmung zu geben. Sie stellt die bildende Kunst nicht, wie es die idealistische Traditionslinie befolgen würde, 91 Vgl. ebd. 92 Burckhardt: Cicerone, Vorrede, S. VI (JBW 2, S. 3): „das Beschreiben war nur in so weit meine Aufgabe, als es dazu dienen konnte, auf wesentliches Detail aufmerksam zu machen [...], sonst rechnete ich durchgängig darauf, dass der Leser das in Rede Stehende gesehen habe oder sehen werde." Andere Belege bei Kaegi: Jacob Burckhardt II, S. 487 f. 93 Vgl. Hettner: „Gegen die speculative Aesthetik" [zuerst 1845], in: Kleine Schriften, S. 184: „Die Kunst ist Sprache, nichts als Sprache, aber eine andere als die begriffliche und in diesem speeifischen Unterschiede eine wesentliche und nothwendige Ergänzung des wissenschaftlichen Denkens. Erst Wissenschaft und Kunst zusammengenommen sind der ganze und volle Ausdruck des theoretischen Geistes." Vgl. hierzu Schlott: Hermann Hettner, S. 147-166. Zu der späteren Diskussion einer Kunstsprache bei Semper vgl. Locher: Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst 1750-1950, S. 299-307. Vom romantischen Konzept wäre dies, anders als Gabriele Bickendorf annimmt, aufgrund des fehlenden Inhaltsbezugs abzugrenzen. Siehe Bickendorf: Der Beginn der Kunstgeschichtsschreibung unter dem Paradigma ,Geschichte', S. 36-39. 94 Springer: „Ueber das Gesetzmäßige in der Entwicklung der bildenden Künste", in: Im neuen Reich 3/1 (1873), S. 761-772, S. 763.
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als unsagbares Phänomen außerhalb des Sprachlich-Begrifflichen dar, sondern überbietet das Begriffliche gleichwohl als bessere Sprache, die eine Gefühlssemantik des genuin Anthropologischen vermittelt. Nach dieser Grundlegung, die das emotionale Potential der Kunst bereits im Werk selber anlegt und als kommunikative Bedingung zur menschlichen Außenwelt definiert, verfolgt Springers Beschreibung eine enge Verbindung von dargestellter Körpersprache und ihren emotiven Entsprechungen: In stetem Wechsel alternieren die affektgeladenen Satzanfänge („Mit welcher Hast"; „Mit der gespanntesten Aufmerksamkeit"; „Mit nicht geringerem Eifer") mit den nachgeordneten Kernsätzen, die erst Aufschluß über die identifizierte Szene geben. Dreimal in Folge zieht somit Springer die psychologische Wertung der beschriebenen Haltung der Figuren vor, indem die parallel geschalteten, zum Trikolon gefügten Satzanfänge unmittelbar in das dargestellte Geschehen einführen. Dadurch wird die Gegenstandserfassung eng an Kriterien des psychologischen Ausdrucks gekoppelt: Das jeweils erste Satzpartikel nimmt das affektische Interesse vorweg und schließt erst dann auf die szenische Darstellung zurück. Für das weitere Verfahren ab der zweiten Hälfte der Beschreibung aber reicht es aus, den übrigen Zusammenhang als kompositionelles Gefüge anzudeuten und mit knappen Worten zu skizzieren. Wenn dabei zugleich die als ,Denker'-Typen bekannten Figuren wie der sog. Heraklit geflissentlich umgangen werden, dann heißt dies nichts anderes, als daß die Knabengruppe pars pro toto für das gesamte Fresko als Prinzip generalisiert wird. Springer ist also bei der Erfassung der lernenden Knaben sichtlich darum bemüht, die Szene mit Elementen der Emotionalisierung zu verbinden; ein rhetorisches Verfahren, das schon bei Vasari zur Anwendung kommt und dort als Wechsel zwischen den Affekthöhen und der Erfassung von gegenständlichen Details verstanden werden kann. 95 So nimmt denn auch das Beschreibungsende elegant auf dessen Ekphrase Bezug 96 und deutet an, wie die durch den Anbruch der Gegenreformation kompromittierte Sicht Vasaris in ihrer eigentlichen, quellenkritisch gereinigten Form zu verstehen ist. Durch diese emotive und zugleich handlungsbezogene Figurenbeschreibung inszeniert sich Springer als Vasari redivivus keine schlechte strategische Positionierung für einen Autor, dessen wissenschaftliche Reputation zu diesem Zeitpunkt noch nicht gefestigt ist. Man könnte somit sagen, daß die Teilreaktivierung Vasaris und die damit verbundene selektive Auswahl der lernenden Jünglinge in dem auf Feuerbach zurückgehenden neuen Philosophiebegriff eine adäquate Entsprechung finden: Philosophische Erkenntnis manifestiert sich als dezidiert sensualistische Angelegenheit, bei der „lebendiges Geberdenspiel und eifrige Bewegung" zum konstitutiven Bestandteil des Intellekts werden und die leibliche Existenz der dargestellten Philosophen eine unmittelbare Einheit mit ihrer Vernunfttätigkeit repräsentiert. Das primäre Ziel von Springers Beschreibungsverfahren ist die unmittelbare Verknüpfung von leiblicher
95 Vgl. Alpers: „Ekphrasis und die Kunstanschauung in Vasaris ,Viten'"; in: Boehm/Pfotenhauer (Hg.): Bildbeschreibung - Beschreibungskunst, S. 217-253; Boehm: „Bildbeschreibung. Uber die Grenzen von Bild und Sprache", in: Ebd., S. 23-40, S. 34; Zur Verbreitung eines .gefühlsbezogenen' Beschreibungsverfahrens in der Kunstliteratur des 19. Jahrhunderts vgl. die Belege bei Regine Timm: „Kunstbeschreibung und Illustration in Deutschland im 19. Jahrhundert", S. 340 f. 96 Raffael „begann im Saale der Segnatura ein Bild, worin er darstellte, wie die Theologen die Philosophie und Astrologie mit der Theologie zu vereinigen suchen." Vasari/Schorn, III. 1, S. 194.
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Tätigkeit mit psychologischen Elementen: Das „Treiben der profanen D e n k e r " definiert sich nicht wie bei Passavant durch die Aufstellung spekulativer T h e o r e m e , es wird vielmehr als Erfahrungswissenschaft gefeiert, welche Anschauung und Empirie in den Vordergund rückt. „Die Philosophie ist eine Erkenntnis dessen, was ist", so Ludwig Feuerbach, ,,[d]ie D i n g e und Wesen so zu denken, so zu erkennen, wie sie sind - dies ist das höchste Gesetz, die höchste Aufgabe der P h i l o s o p h i e . " 9 7 Letztlich sind Springers Philosophen zu einer Ansammlung von Praktikern und Erfahrungswissenschaftlern geworden.
b) D i e narrative K o n z e p t i o n 1878 In der Fassung von 1867 spielten die verschiedenen Entwurfsstadien der Schule
von
Athen
nur eine untergeordnete Rolle. I m Lauf der 70er J a h r e ändert sich jedoch Springers Verständnis von der F u n k t i o n der Handzeichnung maßgeblich: In mehreren Stellungnahmen zur M e t h o d i k des Fachs setzt er die R e k o n s t r u k t i o n der Werkgenese in Beziehung zum Beschreibungsbegriff, stets verbunden mit dem Plädoyer, die durch die verbesserte fotografische R e p r o d u k t i o n s t e c h n i k entstandenen Möglichkeiten für die Erschließung der H a n d zeichnung zu nutzen. 9 8 D i e Aufwertung der Handzeichnung als M e d i u m wissenschaftlicher Erkenntnis hat damit auch eine darstellerische K o n s e q u e n z für die Beschreibung: M i t der Einbeziehung der Werkgenese wird sie zum E n d p u n k t innerhalb des rekonstruierten organischen Wachstumsprozesses. D e n n bezeichnend ist, daß Springer die einzelnen Entwürfe niemals in die Beschreibung des vollendeten Werks integriert und in ihr selten auf die Vorläuferblätter B e z u g nimmt. Streng ordnet er die Einzelentwürfe einer E n t s t e h u n g s c h r o n o logie unter. A u f syntagmatischer E b e n e entsteht somit eine teleologische Struktur, bei der sich die paradigmatischen Teilglieder von den ersten nachweisbaren Schritten des Schaffensprozesses bis zum vollendeten Werkganzen (Beschreibung) zu einem fortlaufenden Darstellungsnexus zusammenfügen. Eine auf Verzeitlichung beruhende Nacherzählung der Werkentstehung entlang den einzelnen E n t w ü r f e n wäre aus darstellerischer Hinsicht kein Problem, wenn nicht Springer weitere inhaltliche Aspekte in die Analyse einbeziehen würde. D e r vorherige Abschnitt (3.2.) hat gezeigt, daß neben der Synthese von einzelnen Entwürfen auch die kulturgeschichtlichen K o n t e x t e der „allgemeinen Phantasie" einen erheblichen Bestandteil der realistischen Produktionsästhetik ausmachen. Methodisch stellt sich damit die Frage nach einer darstellerischen Verknüpfung mehrerer Quelleninterpretamente, deren jeweiliger Status innerhalb des Schaffensprozesses unterschiedlich definiert ist. So beziehen sich die aus der humanistischen Literatur geschöpften K o n t e x t e synchron auf das Werk, während die eigentliche, empirisch an den Entwürfen nachvollziehbare Werkgenese eine diachrone E n t wicklungsachse konstruiert. Das dichotome Wechselverhältnis zwischen den Kräften der „allgemeinen Phantasie" des Volkslebens (synchron) und dem werkspezifischen Schaffensp r o z e ß (diachron) muß somit in ein integratives Darstellungsmodell transferiert werden,
97 Feuerbach: „Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie" [1842], in: Kleine Schriften, S. 132. 98 Vgl. Springer: „Ueber das Gesetzmäßige in der Entwicklung der bildenden Künste", in: Im neuen Reich 3/1 (1873), S. 761-772, S. 762 f.
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welches zudem den geschichtsphilosophischen Umschlag (Absterben des humanistischen Gehalts) zur Ausmalungszeit der Stanza della Segnatura berücksichtigt. Diese Korrelation zwischen einer ästhetisch-methodischen Systematik und den Darstellungsverfahren in der ,empirischen' Kunstgeschichtsschreibung läßt sich anhand zweier Aussagen näher konturieren: Bereits Vischer hatte an H o t h o bemängelt (1844), daß eine Abtrennung der kulturgeschichtlichen Exkurse von der individuellen Werkanalyse in darstellerischer Hinsicht unbefriedigend bleibe. Das ,,apriorische[] Konstruieren" „aus philosophischer Liebe zu dem Allgemeinen" 99 führe zu einer Verselbständigung der Exkurse, bei denen die kausale Verbindung zur Kunstgeschichte verfehlt wird. Die Folge ist eine Zersplitterung der Darstellung in „zu viele Abteilungen, Unter- und Unterabteilungen, Erstens, Zweitens, I. II. 1.2. A. B. a. b. α. β. usw. [...] ich steckte in lauter Einleitung und Einleitung." 100 Die Kritik an der fehlenden Synthese zwischen allgemeiner Einleitung und der Untersuchung des Besonderen begründet die Formulierung des darstellerischen Anspruchs an eine Kunstgeschichtsschreibung der Zukunft: Ihre Aufgabe ist es, „Geschichte und Kunstgeschichte ineinander zu verschmelzen", so daß sich „der Stoff organisch von selbst" einteilt. 101 Kultur· und Ereignisgeschichte sind somit integrale Bestandteile der Kunstgeschichtsschreibung; dabei haben sie sich dem Werk (explanandum) als erklärende Ereignisse (explanans) unterzuordnen. Auch Springer war sich dieses Vermittlungsproblems bewußt, wenn er 1881 in einem programmatischen Aufsatz forderte, eine „Brücke" zur ,,greifbare[n] Vermittelung" zwischen der Werkanalyse und den allgemeinen Grundbedingungen (natürliche Umgebung, Einflüsse auf den Künstler) zu bauen. Eine strenge Darstellungsauffassung soll somit den kunsthistorischen Sachtext auszeichnen, indem die „abstracten Einleitungen" zugunsten einer zielgerichteten Skizzierung von kulturellen Kontexten und ihrem Kausalverhältnis zur individuellen Künstlerdarstellung überwunden werden: „Nicht generalisiren, sondern, so weit es möglich ist, individualisiren muß man, wenn man den Künstlerboden beschreiben und den Zusammenhang der künstlerischen Thätigkeit mit der gleichzeitigen Volksbildung enthüllen will." 102 Die gleiche Stoßrichtung von Springers wichtigem Ideengeber erscheint nicht zufällig angesichts der Tatsache, daß die Systematisierung in der Aesthetik ein ähnlich reflektiertes Wechselverhältnis von künstlerischem Werk und dessen kulturellem Kontext verfolgte. In Rücksicht auf die im Abschnitt 3.2. behandelten Zusammenhänge stellt sich damit für Springers Kunstgeschichtsschreibung die Aufgabe, von einer multikausal regulierten ästhetischen Methodik zu einer kohärenten Darstellungsauffassung zu gelangen, bei der die kunsthistorische Spezialuntersuchung ihre theoretischen Ursprünge aus einer expliziten Ästhetik in eine implizite Poetik umwandelt. Dabei war gegenüber dem Aufsatz von 1867 aufgefallen, daß Springer in der Parallelbiographie die terminologische Anlehnung an Vischer zwar weitgehend reduziert hatte, aber die Theoreme von dessen Produktionsästhetik unvermindert ein Fundament der Analyse bildeten, ja bezüglich der Handzeichnung erstmals konsequent angewandt wurden. Was somit in Raffael und Michelangelo verfolgt 99 100 101 102
Vischer: „Deutsche Kunstgeschichte", in: Kritische Gänge V, S. 105 u. 111. Ebd., S. 112. Ebd., S. 110 u. 112. Springer: „Kunstkenner und Kunsthistoriker", in: Im neuen Reich 11/2 (1881), S. 737-758, S. 753.
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wird, ist eine Substitution der ästhetischen Systematik durch ein literarisiertes Verfahren, über das die methodologischen Impulse der realistischen Kunsttheorie sprachlich sublimiert bzw. über das die systematische Auflistung der einzelnen Analyseschritte nach Paragraphen unkenntlich gemacht wird. Ein derartiges Problembewußtsein für wissenschaftliche Darstellungskonzeptionen stellt einen Kernpunkt in der realistischen Theoriebildung dar.103 Denn die Uberwindung der Grenzlinie von theoretischer Ästhetik und empirischer, vom „sächlichen Sinn" 104 geprägter Kunstgeschichtsschreibung hatte Vischer selbst gefordert: „Die Philosophie soll in die Geschichtsschreibung so übergehen, daß sie keinen gesonderten Platz vor und neben dieser einnimmt." 105 Desiderat ist eine Darstellungskonzeption, die nicht etwa methodische Divergenzen zur Ästhetik geltend macht, sondern ihre Ursprünge mittels formaler Vertextungsstrategien verwischt und die multikausalen Ableitungen (Kontext, Werkgenese) in ein einheitliches Sprachmuster transferiert. Durch das Differenzbewußtsein zwischen einer deduktiven, in Paragraphen aufgegliederten Ästhetik (oder besser: Methodenlehre) und ihrer empirischen Verifikation in der kunsthistorischen Spezialstudie entsteht der Handlungsbedarf für eine darstellerische Neukonzeption der Kunstgeschichtsschreibung: Der Anspruch besteht darin, die reflektierte Systematik durch ein kohärent verlaufendes Erzählkonzept zu ersetzen. Die produktionsästhetische Systematik, nach der die Fresken der Stanza della Segnatura erschlossen werden, steht daher in einem engen Bezug zum formalen Erzählschema: Die Kriterien der realistischen Produktionsästhetik werden zu einer Strukturierung des Textes als „historische Erzählung" (RM, 144) genutzt, bei der sich der kulturelle Kontext, die geschichtsphilosophische Implikation, die Werkgenese und die Bildbeschreibung zu einem erzähltechnischen Gefüge im Sinne des Emplotments verdichten. Folgerichtig wird deshalb der Abschnitt zur Schule von Athen nach der klassischen Fabelkonzeption von Anfang, Mitte und Ende konstruiert. 106 Die kunstwissenschaftliche Darstellung besteht damit aus einem in fünf Schritten gegliederten zeitlichen Kontinuum: Ein- und (vom Parnaß) überleitend skizziert Springer den kulturellen Kontext der „Renaissanceperiode", bei der ein „Frühlingswehen durch das italienische Volk" geht (RM, 173). Daß dies zur Entstehungszeit der Schule von Athen nicht mehr selbstverständlich ist, zeigt sich zweitens in dem nachfolgenden Abschnitt, indem dort auf die Kritiker der neuplatonischen Bewegung eingegangen wird (RM, 174 f). In einem dritten Schritt kommt die Erzählung nochmals auf den Humanismus zurück, konkretisiert dessen Lehren und weist auf dessen außerordentliche Popularität hin (RM, 175-177). Nach diesem kulturgeschichtlichen Vorlauf, der im dritten Teil seinen inhaltlichen wie stilistischen Höhepunkt findet, geht die Erzählung zur Werkentstehung über: Die vierte Passage bezieht sich auf die Beschreibung der Entwürfe und exponiert den Mailänder Karton als wichtigstes Zeugnis des Schaffensprozesses (RM, 177 f).
103 Vgl. auch hierzu die Ausführungen Hettners: „Gegen die speculative Aesthetik", in: Kleine Schriften, S. 207 f: Statt spekulativer Konstruktionen wünscht sich Hettner eine „denkende Geschichtschreibung" in der Kunstgeschichte. 104 Vischer: „Deutsche Kunstgeschichte", Kritische Gänge V, S. 105. 105 Ebd., S. 114. 106 Vgl. das Kapitel „Die Fabelkomposition. Eine Lektüre von Aristoteles' Poetik" bei Ricoeur: Zeit und Erzählung I: Zeit und historische Erzählung, S. 54-86.
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Fünftens schließlich mündet die .Geschichte' von der Entstehung der Schule von Athen in ihre Beschreibung ein (RM, 180-186). Zu jeder Erzählung, will sie tatsächlich das Kriterium einer Fabelbildung erfüllen, gehört die Bildung eines Konflikts. Auf entschiedene Weise zeigt sich dieser in der strukturalen Beziehung zwischen dem zweiten und dritten Teil. Springer stellt hier zwei ideengeschichtliche Positionen des Jahres 1507 einander gegenüber: Einmal (dritter Teil) das allgemeine Gedankengut des neuplatonischen Renaissancehumanismus, das die heidnische Philosophie als Bestandteil des Christentums anerkennt, Piaton als „zweiten Moses [...] attische[r] Zunge" feiert und die „fromme Weisheit" (RM, 176) seiner Schüler preist; mit Vischers Terminologie formuliert: die Grundsätze der „allgemeinen Phantasie". Zum anderen (zweiter Teil) zeichnet Springer „ein scharfes Gegenbild [dieses] Gedankenkreises" (RM, 175), das sich in den Schriften von Kardinal Hadrian Castellesi findet und als erstes Indiz für das Absterben des humanistischen Gedankenguts gewertet wird: „Noch unter dem Pontificate Julius' II [...] regte sich ein eifriger Widerspruch gegen die Lehren der Platoniker, drangen eifrige Kirchenfreunde auf die Zerstörung des Cultus der Philosophie. Das wichtigste Zeugnis dieser Reaction gegen den Humanismus, einer der ersten Vorboten jener unseligen Richtung, welche ein Menschenalter später siegen und die Blüthe des italienischen Geistes grausam zertreten sollte, ist in dem Buche des Cardinais von Corneto [d. i. Castellesi] über die wahre Philosophie [...] niedergelegt." (RM, 174) Die Gegenüberstellung des allgemeinen Volksglaubens (Humanismus) mit der Minderheitenposition Castellesis (Vorbote der Gegenreformation) konstruiert - um mit KarlHeinz Stierle zu reden - geradezu ein Musterbeispiel für eine „narrative Opposition": 1 0 7 Inhaltlich gesehen, markiert sie den dialektischen Umschlagspunkt, bei dem der absterbende Gehalt der allgemeinen Phantasie vom Künstler zu einem formalemanzipatorischen Akt genutzt werden kann (s. o.); aus erzähltechnischer Perspektive konstruiert die Oppositionsbildung einen Konflikt, der aus der chronologischen Ordnung der Werkgenese erst eine Erzählung macht. Sie positioniert den Künstler innerhalb des organischen Volkskörpers und immunisiert ihn gleichzeitig gegen den Widerspruch volksfremder Stimmen einzelner. Und genau dies macht sich in der narrativen Gestaltung der antihumanistischen Position Castellesis bemerkbar, bei der zahlreiche Mittel der auktorialen Distanzierung genutzt werden: Neben dem biographischen Exkurs über den Kardinal („Die Persönlichkeit [...] gehört [...]", RM, 174), der somit seine individualistische Stellung betont, wird der gesamte Abschnitt mit verba dicendi durchsetzt, ein dezidierter Referatston angeschlagen („ist darnach von Uebel", RM, 175), die indirekte Rede mit direkten Zitaten abgewechselt (vgl. ebd.). Was hier zum Einsatz kommt, ist nichts anderes als die formalen Mittel der Distanzierung, die in der fiktionalen Prosa wie in wissenschaftlichen Sachtexten in gleichen Maßen üblich sind und von einem stark auktorialen Modus reguliert werden. Mit der Vorstellung der humanistischen Gegenposition jedoch ändert sich das erzähltechnische Verfahren entschieden: Engverwandt und befreundet sind Philosophie und Theologie, beide göttliche Künste, welche den Menschen zur Betrachtung und Verehrung der himmlischen Dinge anleiten. Die rechte Philosophie
107 Stierle: Text als Handlung,
S. 51.
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sagt dasselbe, was die wahre Religion offenbart, die wahre Religion widerspricht niemals der rechten Philosophie, vor allem, wenn sie von dem „göttlichen Piaton", dem „Theologen" Piaton gelehrt und überliefert wurde. Als ein zweiter Moses, die attische Zunge redend, erscheint Piaton; seinen Anhängern aber, den Piatonikern, darf man nachrühmen, dass sie nur wenig von Christen sich unterscheiden. Alles wird bei Plato auf Gott bezogen, alles zu ihm emporgeführt. Piatonismus ist in Wahrheit reine Gottesverehrung. Und Piaton steht nicht allein und unvermittelt als Weltweiser da. Die Vorsehung hat es so gefügt, dass schon im alten Oriente, in Persien wie in Aegypten, die Keime der wahren Weisheit spriessen, die dann zu den Thrakern, Italern und Griechen verpflanzt worden: Zoroaster, Orpheus und Pythagoras, sie alle sind schon als Theologen zu begrüssen, wenn sie auch gezwungen waren, die religiösen Geheimnisse noch in mystischen Zahlen und Zeichen zu hüllen oder unter der Schale poetischer Erdichtungen zu bergen. Die reine und klare Wahrheit lehrte erst Piaton, der nicht allein seine Vorläufer überragt, sondern auch über seine Nachfolger sich erhebt. [...] Und diese fromme Weisheit zeichnete alle seine Schüler aus bis auf Plotin, dessen Schönheit nicht minder strahlte, wie sein Wohlwollen bezauberte. Frauen folgten ihm nach, auf seine Lehren horchend, Eltern brachten ihm ihre Kinder, damit er sie zu einem guten Leben anleite. Ein Aufsteigen von den körperlichen Dingen zu den unkörperlichen, geistigen bis zu Gott, das ist der Inbegriff der Philosophie. Aber auch wer die philosophische Erkenntniss sich aneigenen will, muss ein solches Aufsteigen und Emporklimmen versuchen. Ueber dem Eingange der Academie steht geschrieben: Niemand betrete diese Räume, welcher der Geometrie unkundig! Und die Geometrie ist nicht die einzige Wissenschaft, welche auf die Philosophie vorbereitet^] Eine grössere Reihe von Stufen musste von dem Philosophirenden überschritten werden, ehe er würdig und fähig erschien, die Lehren der höchsten Weisheit anzuhören. Zunächst galt es, die Wissenschaft der Arithmetik zu erproben. Gott selbst hat den Menschen die Zahlen geschenkt, als das nothwendige Mittel, die Ordnung und Gliederung der Dinge zu erkennen. Ihr folgen die Geometrie, welche die Maasse erkennt, die Astronomie, welche die Himmelskörper betrachtet, und die Musik, durch die Nachahmung himmlischer Harmonien entstanden. Näher an die Philosophie rücken die Physik heran, welche die Gattungen, Zusammensetzungen der Körper prüft, die Gesetze der Bewegung und Entwickelung der Thiere beschreibt und die Heilkräfte der Natur ergründet, sowie die Dialektik und Metaphysik. Den Gipfel aber bildet die mit der Platonischen Philosophie zusammenfallende Theologie, die Königin aller Wissenschaften, die überall nur Gott findet und Gott anbetet. RM, 176 f. Die humanistische Auffassung, die hier idealtypisch aus verschiedenen Quellen kompiliert wird, beschränkt sich nicht allein auf das bloße Referat der elementaren Bestandteile von Springers nachfolgender Deutung zur Schule von Athen.
In ihrer blockhaften Präsentation
differiert sie ebenso in der formalen Gestaltung von der Minderheitenmeinung des Kardinals. Sie erstreckt sich über zwei Absätze ohne Quellenangaben im Fließtext, ohne auktoriale Elemente oder andere F o r m e n der Kommentierung. Bis auf zwei in Anführungszeichen gesetzte Textpartikel, die eher evokativen Charakter haben, wird nichts als Zitat ausgewiesen, kein Referenzautor als solcher kenntlich gemacht, nur im Anhang findet sich eine summarische Auflistung der benutzten Quellen (RM, 502 f). Während die CastellesiPassage Zitat und indirekte Rede variiert, läßt sich dieser Unmittelbarkeitsmodus als autonome direkte R e d e 1 0 8 bezeichnen: Was hier ungebremst und ohne Distanzmoment zum Ausdruck kommt, ist eine im Text nicht hinterfragte, weil unmittelbar präsentierte Rede einer personalisierten Kollektivmacht. Angesichts dieser erzähltechnischen Plausibilisie108 Genette: Die Erzählung,
S. 229.
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rungsstrategie ist keine argumentative Begründung mehr möglich, da sich der Interpret eins mit dem sprechenden Volksgeist weiß. Daß dies über die reine Form eines wissenschaftlichen Referats hinausgeht, macht nicht zuletzt die sprachlich-stilistische Gestaltung deutlich, die in formaler Doppelbödigkeit zwischen dem Gestus wissenschaftlicher Objektivität und der leichten wie kunstvollen Simulation eines naiven Tonfalls oszilliert. Schon der erste Hauptsatz, der durch die zwei nur von der Kopula getrennten Wortpaare eine einfache symmetrische Syntax bildet, evoziert mit den vorgezogenen Adjektiven den Eindruck eines Sprechens in medias res; ihm schließt nach einem zäsurartigen Einschnitt der appositional verkürzte und dadurch rhythmisierte zweite Satzteil („beide göttliche Künste") an. Diese Struktur wird etwas komplexer fortgesetzt, indem sich der Folgesatz zunächst in zwei syntaktisch selbständige Teile gliedert, die sich aufeinander chiastisch beziehen („rechte Philosophie"/ „wahre Religion" vs. „wahre Religion"/ „rechte Philosophie"), und sodann wie im ersten Satz in einen nachgeschalteten Gliedsatz einmündet, der den Eindruck der Mündlichkeit mittels der Namenswiederholung (Piaton) verstärkt. Auch der dritte Satz nimmt die Strukturmuster von invertierter Wortfolge, syntaktischer Zweiteilung und Wortwiederholung („Piaton"/,,Platoniker[]") sowie der Präzisierung mittels Apposition bzw. nachgestelltem Partizip auf, bis sich schließlich nach dem anaphorisch eingeleiteten Parallelismus „Alles wird bei Plato auf Gott bezogen, alles zu ihm emporgeführt." die über vier Sätze durchgehaltene Filiation der teils gleichgeordneten, teils antithetischen Zweigliedrigkeit auf den einfachen Aussagesatz verengt: „Piatonismus ist in Wahrheit reine Gottesverehrung." Das Ende des ersten Absatzes unterstreicht ebenso markant die Einheit von Piatonismus und Christentum, wenn mit der Wendung „Frauen folgten ihm nach" und der Unterweisung von Kindern inhaltlich wie formal Merkmale der Evangelien assoziiert werden. Dies alles, sowie proleptische Satzstellungen („[...], sie alle sind"; „[...], das ist der Inbegriff"), erzeugt den Effekt einer lebendigen und volkssprachlichen Unmittelbarkeit, die den intendierten Sinnzusammenhang einer kollektiv erarbeiteten humanistischen .Mythologie' erst zum Tragen bringt. Springer gibt dabei den Gestus der objektiven Präsentation nicht auf und läßt den Text die Grenze zur Geschichtsfiktion (wie etwa in dem berühmten fingierten Brief in Justis Velazquez) nicht überschreiten. Der nach wie vor objektive Anspruch in der Darstellung, der zugleich den Wissenschaftler als solchen im Text verschwinden läßt, bedingt ein Idiom, das in gleicher Distanz zum Gegenstandsbereich des Volksglaubens und dem auktorialen (wissenschaftlichen) Erzähler steht, oder besser: den Verdacht auf eine auktoriale Parteilichkeit gerade durch das Verbergen von auktorialen Mitteln bestärkt. Als objektiv und authentisch wird deshalb dasjenige markiert, was nicht mehr explizit als solches ausgewiesen werden muß, sich vielmehr unmittelbar über einen Erzählmodus präsentiert. Dieses Verfahren ist keine bloße historistische Imitation eines naiven Tonfalls à la Grimms Märchen. Es bekennt sich statt dessen zu einem wissenschaftlichen Stil und hält zugleich mit gezielten Textsignalen den Eindruck einer unmittelbaren Rede des Volksgeists aufrecht. Die Distanzlosigkeit im erzähltechnischen Verfahren weist entschieden auf die .ideologische' Grundierung (Stierle) der Passage hin: Auf Vischers produktionsästhetische Fundierung des Gehalts in der „allgemeinen Phantasie" des Volkslebens bezogen, spricht hier die Volksseele direkt zum Leser. „Das Volksthümliche verlangt ein völliges Zurücktreten des Autors", schrieb schon Berthold Auerbach in einer für die Realismus-Debatte folgenrei-
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chen Programmschrift. 109 Die Annihilierung des Subjektiven auf auktorialer Erzählebene zugunsten einer ,objektiven' und unmittelbaren Darstellung rekurriert damit auf ein zentrales poetologisches Theorem des bürgerlichen Realismus, das in der Ausschaltung des Reflexiven zugunsten des mit dem Schönen gleichzusetzenden Volksgeists seine Erfüllung sieht. Im Gegenzug kann Castellesis Meinung nur in mittelbarer Form dargeboten werden und verweist dadurch auf ihre geringe Tragfähigkeit und Außenseiterposition zu Beginn des Cinquecento. Dessen reaktionäre Haltung gegenüber dem humanistischen Denken diskreditiert sich allein durch die unzureichende Resonanz im Volkskörper. Die narrative Opposition, die auf diese Weise konstruiert wird, verläuft zwischen einer kollektivistischen und einer individualistischen Auffassung und es wird deutlich, daß sich Raffael unter der Prämisse einer Verankerung in der „allgemeinen Phantasie" auf die Seite des ersteren zu stellen hat: Die Schule von Athen entsteht organisch aus dem Volkskörper, als dessen Agent sich der Künstler betätigt. In diesen scheinbar historischen, aber tatsächlich nur formal konstruierten Zusammenhang von Künstler und Volk schreibt Springer seine Analyse der Schule von Athen ein. Verdeckt doch die frontale Oppositionsbildung zwischen individuellen und kollektiven Mächten das eigentliche Problem von Springers Deutung, das ikonographische Programm in einen näheren Bezug zu speziellen Entstehungsmodalitäten zu setzen. Qua Gattungsdefinition ist im Idealrealismus das monumentale Fresko unmittelbarer Ausdruck des Volksgedankens,110 weshalb ein Problembewußtsein für interpretative Zwischenschritte, die etwa einen ikonographischen Berater, die Wünsche des Auftraggebers oder die Funktion der Ausmalung als repräsentatives Raumdekor betreffen, relativ gering ausgeprägt ist. Aus diesem Grund hat Springer alle, d. h. alle für die eigene Interpretation relevanten Punkte mit dem neuplatonisch-humanistischen Referat bereits antizipiert. Wenn der erste Absatz immer wieder auf Piaton zurückkommt und zugleich das Kollektivum „alles" wiederholt, dann verweist die so erzeugte Spannung bereits auf die konzentrische Anlage im Bild, die dann im Folgeabsatz mit den ikonographischen Konstituentien der artes liberales und des platonischen Aufstiegsgedanken gefüllt wird. Indem somit eine strukturale und sprachästhetische Deckungsgleichheit der Volksstimme und des ikonographischen Programms der Schule von Athen hergestellt wird, gelingt Springer der geforderte Brückenschlag zwischen Kulturgeschichte und Kunstwerk. Allerdings kann dieser nur so lange bestehen, wie er auf einem narrativen Konzept beruht. Denn durch die allein erzähltechnisch, nicht argumentativ vorgenommene Exklusion alternativer Positionen wie derjenigen Castellesis (bzw. des impliziten Gegners Herman Grimm) 111 werden solche Interpretationsansätze obsolet.
109 Auerbach: Schrift und Volk, S. 85; Vgl. hierzu Hahl: Reflexion und Erzählung, S. 210. Ebenso typisch die Aussage Heinrich Lees: „Jede wahre Volksrede ist nur ein Monolog, den das Volk selber hält. Glücklich aber, wer in seinem Lande ein Spiegel seines Volkes sein kann, der nichts widerspiegelt als sein Volkf.]" Keller: Der Grüne Heinrich, S. 760. 110 Vgl. ebd., S. 658, Heinrichs Traum von einem überdimensionierten Volksfresko; sowie Vischer: „Die Münchner Kunst. Eine Ergänzung der kritischen Gedanken in den Jahrbüchern der Gegenwart" [zuerst 1846], in: Kritische Gänge V, S. 183. 111 Im Gegensatz zu den Aufsätzen von 1867 und 1883 wird Grimm in der Parallelbiographie vollständig übergangen. Wenn die Parallelbiographie die Verdammung der heidnischen Philosophie
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Mit dem Vorgriff des Sinns antizipiert der Text die Interpretation und die dazugehörige Beschreibung. Um die organische Einheit des erzählten Wachstumsprozesses vollständig zu machen, rekonstruiert der nächste Schritt anhand des Mailänder Kartons und einiger anderer Handzeichnungen die Werkgenese. Sie beginnt mit der Definition der Aufgabenstellungen an Raffael: nämlich der Umsetzung der oben benannten Lehrsätze, und der ,,erste[n] und oberste[n]" Aufgabe an den Künstler, „Leben und Handlung in die Scene zu bringen" (RM, 177). Als Transformation des (abstrakten, noch dunklen) Gehalts in eine vitalisierte Darstellung stellt sich dann auch die Beschreibung der Entwürfe und die des vollendeten Freskos dar, die zwar äußerst detailgenau verfährt, aber in ihrer stilistischen Gestaltung zurückgenommen ist: Sie beginnt mit den Raumverhältnissen und der Erklärung der Apollo- und Minervastatuen, wechselt dann aber bald zu einem minutiösen Verzeichnis der einzelnen Gruppen und der unzweifelhaften ikonographischen Zuordnungen - nicht ohne dabei das identifizierbare Personal auf zwölf Namen zu verringern (vgl. RM, 184). Den Beschreibungsansatz von 1867 baut Springer hierbei konsequent aus, indem er die Figuren nach ihrem szenischen Zusammenhang beschreibt und ebenso am Ende auf Vasari rekurriert. Der Unterschied zu der ersten (rhetorischen) Beschreibung besteht jedoch in dem Versuch, den bildlichen Zusammenhang möglichst als Totalität zu erfassen, die ohne die Andeutung von größeren kompositionellen Zusammenhängen auskommt und sich allein über den Engschluß zwischen den Figuren definiert. Die weitschweifige, aber in der sprachlichen Modulation wenig differenzierte Beschreibung hat hier eine dienende Funktion im größeren syntagmatischen Textgefüge: Methodisch bestätigt sie die zuvor ausgeführte interpretatorische Prämisse, narratologisch schließt sie als Träger des vollendeten Werkgedankens die Fabelkonstruktion ab und ist somit auch ein Endpunkt innerhalb der erzählten Entstehung der Schule von Athen. c) Die hermeneutische Konzeption 1883 Zwei Aspekte bleiben an der Konzeption von 1878 unbefriedigend: Erstens erzeugt der narrative Nachvollzug der Werkgenese eine Redundanz, da der im Humanismus-Exkurs antizipierte Sinn nochmals in die Beschreibung integriert werden muß. Der Beschreibende ist somit gezwungen, ständig Bezüge zu der vorausgehenden inhaltlichen Setzung herzustellen. Unberücksichtigt bleibt zweitens eines der Schlüsselthemen der realistischen Ästhetik, die Farbe: Erstaunlicherweise wurde der für sie reklamierte autonome Selbstbezug in den Fassungen von 1867 und 1878 nicht behandelt, obwohl bereits in den 50er Jahren von Farbtheoretikern wie Friedrich Wilhelm Unger (1810-1876) Ansätze entwickelt worden waren, Raffael als Koloristen besonders zu würdigen.112 Doch Ungers mathematisch-physikalisches, vom Formalismus Herbarts angeregtes Verfahren, durch die Parallelisierung der (1507) durch den .Reaktionär' Castellesi ausführlich behandelt, nach der ,,[n]icht Piaton und Aristoteles, nur Petrus und Paulus [...] unsere Führer sein" sollen (zit. in RM, 175), so ist dies auch als Replik auf Grimm gemeint, dessen Deutung nach Springer unkritisch den gegenreformatorischen Standpunkt übernimmt. 112 Vgl. paradigmatisch die Analysen zur Schule von Athen und zur Heiligen Cäcilie in: Unger: Die bildende Kunst, S. 207 und 218.
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Fraunhoferschen Linien mit Schallwellen Farbharmonien in Noten zu transponieren, 113 erscheint bei näherer Betrachtung nicht mit der realistischen Auffassung vereinbar: Es löst die Form von der menschlichen Gestalt und ihrer Gegenstandswelt, ohne integrierend auf die inhaltliche Dimension zurückzuwirken, so daß für Springer der Ansatz ohne Folgen bleibt. 114 Erst nach der Parallelbiographie scheint sein Interesse, das Kolorit nicht nur zu loben, sondern auch zu beschreiben, wieder erwacht zu sein: Eine kleine Miszelle zu Raffaels Heiliger Cäcilie - dem klassischen Paradigma synästhetischer Kunsttheorie - geht intensiv auf die Farbwirkung ein.115 Auffällig ist auch hier, daß Springer in der harmonischen Gesamtwirkung zwar auch eine inhaltliche Dimension erkennt, doch diese nur als Totaleindruck und in Rekurrenz auf die synästhetische Wirkung beschreibt. Eine nähere inhaltliche Erklärung bleibt der Farbe versagt, ähnlich wie Springer selbst bei Dürers sog. Vier Aposteln eine farbsymbolische Deutung nach der Temperamentenlehre vermeidet: „Der rote Mantel Johannes, der [...] weisse Mantel des Paulus geben den Grundton an und finden in dem gedämpften Kolorit der hinteren Apostel eine leise Milderung." 116 Wenn Springer 1883 anläßlich des Erscheinens des Kupferstichs von Louis Jacoby 117 einen neuen Anlauf seiner Deutung unternimmt, so muß dies auch als Indiz für die insgesamt wenig befriedigende Konzeption in Raffael und Michelangelo gesehen werden. Sowohl die Farbwirkung als auch die Interpretation mußten in ein darstellerisch ausgewogenes Verhältnis zueinander gesetzt werden. Minutiös widmet sich daher Springers letzte Untersuchung zur Schule von Athen dem Kolorit, indem die Beschreibung den Eindruck von Farbwerten durch gehäufte Komposita (grauviolett, hellrot, olivenfarbig, graublau, gelbverbrämt) zu vermitteln sucht: Der helle Luftton umsäumt die Hauptgestalten des Bildes: zwei hochragende Männer, welche aus der Halle bis an den Rand der Platform [sic] herausgetreten sind. Der kahlköpfige Greis mit weissem langen Vollbarte weist mit der rechten Hand nach oben und hält in seinem linken Arm ein geschlossenes Buch, auf dessen Rücken der Titel desselben: Timeo zu lesen ist. Er trägt ein grauviolettes Gewand und darüber, leicht über die Schulter geworfen, einen hellrothen Mantel, während sein Genösse rechts über einem olivenfarbigen Gewände einen grau-
113 Vgl. Nachtsheim: Kunstphilosophie und empirische Kunstforschung 1870-1920, S. 67. Eine mathematisch-synästhetische Farbtheorie formulierte bereits Newton 1704, indem er die sieben Spektralfarben in Bezug zur dorischen Tonleiter setzte. Vgl. Lersch: Art. „Farbenlehre", in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 7, Sp. 255. 114 Zu der geringen Stichhaltigkeit der These Andela Horovás, Springer habe sein methodisches Potential vor allem aus dem Herbartismus bezogen, siehe die Einleitung dieser Arbeit. Vgl. Springers Kritik an Unger: „Der Versuch mißlang, zunächst weil der feinere Farbenmesser und eine malerische Notenschrift mangelt, die Umschreibung von Farbennuancen durch das bloße Wort immer unklar und nebelhaft bleibt." Springer: „Die deutsche allgemeine Kunstausstellung in München", in: Gb 17/4 (1858), S. 110-118, S. 114. Vgl. auch sinngemäß Vischer: Aesthetik IV, S. 263, § 670. 115 Springer: „Ein neuer Stich nach Raffael's Cacilia", in: Im neuen Reich 10/2 (1880), S. 709-712, S. 711. 116 Springer: Albrecht Dürer, S. 155. 117 Vgl. hierzu Langemeyer/Schleier: Bilder nach Bildern, S. 300; Höper (Hg.): Raffael und die Folgen, Nr. F. 2.39; S. 382.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer blauen, gelbverbrämten Mantel zeigt. Derselbe, ein jüngerer Mann mit kurzem Barte und reichem Kraushaar, streckt den rechten Arm gerade aus; seine linke fasst ein Etica betiteltes Buch, welches auf dem vorgebogenen Oberschenkel aufruht. Beide Männer, in lebhafter Unterhaltung begriffen, in Charakter, Geberde und Bewegung Gegensätze bildend, und doch untrennbar zu einander gehörig, erst zusammen das Ideal männlicher Würde und Kraft vereinigend, haben eine Doppelreihe von Genossen durchschritten. Dieselben, zu beiden Seiten der Halle entlang aufgestellt, verfolgen mit ehrerbietigen Blicken die Meister und horchen mit gespannter Aufmerksamkeit auf ihre Worte. An der Spitze der linken Reihe steht ein Jüngling mit langwallendem Haare und über die Brust andächtig gekreuzten Händen. Ein weisser Mantel leicht über die Schulter geworfen, ist über dem Leibe gebauscht und geknotet, so dass Brust und Arm frei bleiben und ein blau und gelb schillerndes Gewand zeigen. Lederne Beinschienen, mit Löwenköpfen geschmückt, umhüllen die Unterschenkel. Der Nebenmann [...] 118
Mit der Restitution der Farbe korrespondiert eine vollständige Trennung der Beschreibung von interpretatorischen Fragen. Vergleicht man die Konzeption von 1883 mit den beiden Vorläufern, so ist festzustellen, daß sich hier die Tendenz von 1867, die Beschreibung auf wirkungsästhetische Kriterien zu beschränken, vollständig durchgesetzt hat. Springer löscht nun sämtliche inhaltlichen Bezüge und konzentriert sich allein auf die Registrierung des Gesehenen. Selbst Aristoteles und Piaton verweigert er die namentliche Erwähnung, indem sie zu „zwei hochragende Männer[n]" werden, „welche aus der Halle bis an den Rand der Platform herausgetreten sind." In Hinblick auf den Leser verfährt Springer damit bewußt antimanipulativ: Es fallen weder Philosophennamen noch Kommentare zu den Buchtiteln; im betont vereinfachten Sprachduktus, z. B. wenn die Erwähnung des Buchtitels Timeo syntaktisch nachgeordnet und damit ein prozeßhafter Vorgang der Wahrnehmung simuliert wird, 119 erzielt die Beschreibung den Effekt einer Unvoreingenommenheit - die didaktische Anweisung an den Leser, die in einem späteren Abschnitt referierten Deutungen von Bellori bis Herman Grimm nur auf der Grundlage eigener Betrachtung zu bedenken, wird hierbei überdeutlich. Konzentrisch von den beiden Hauptfiguren ausgehend, wird der psychologische und ausdrucksbezogene Zusammenhang zwischen den Figuren als feierliche Handlung entfaltet. Figur für Figur schließt Springer dabei die Einzelelemente aneinander, ganz nach der realistischen Forderung, den „Nexus" zwischen den Dingen darzustellen. 120 Die Beschreibung läßt somit keinen assoziativen Spielraum zu: Sie verfolgt die lückenlose und friesartige Aneinanderreihung im natürlichen Zusammenhang der Figuren, der sowohl nach der farblichen Abstimmung, wie auch nach dem sensualistischen Wechselverhältnis in der Ausdruckskonzeption zur Synthese auf mittlerer (figürlicher) Ebene führt. Zur Konturierung des vorausgegangenen ästhetischen Zusammenhangs lohnt sich dabei nochmals ein Seitenblick auf Vischers Polemik gegen den Triumph der Religion in den Künsten, über die das Verfahren Springers erschlossen werden kann: Vischer nutzt dort wiederholt Stilfiguren der 118 Springer: „Raffael's .Schule von Athen'", in: Die graphischen Künste 5 (1883), S. 53-106, S. 62. 119 Stilistisch erscheint dieses Textsignal modern, indem es mit den gleichzeitig aufkommenden Techniken des stream of consciousness vergleichbar ist. Sprachökonomischer wäre: „auf dessen Rücken der Titel [...] Timeo zu lesen ist." Vgl. zur Stilfigur des „Nachtrags": Sowinski: Deutsche Stilistik, S. 141 f. 120 Vgl. Vischer: „Dr. Strauß und die Württemberger", in: Kritische Gänge I, 70.
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Unterbrechung, um Overbecks Bild als mißlungenes und von Reflexion durchsetztes Machwerk zu diskreditieren: „Doch wir geraten immer schon in die Kritik hinein und wollten doch erst sehen und genießen. Wie verkehrt! Aber liegt die Schuld an uns?"; „Doch ja, es ist eine Art Verbindungsglied da, die Fontäne"; „Wie? Ein Werk, das so ganz in den Glauben der guten alten Zeit getaucht, so aus der Quelle der einsten Frömmigkeit geflossen ist [...]?" 121 Die Beschreibung thematisiert somit die Irritation des Betrachters, die aus dem im Bild angelegten Zwang resultiert, reflektieren zu müssen. Was bei Vischer absichtlich mißglückt und in Springers Beschreibung gelingt, ist die Ausschaltung des Betrachtersubjekts zugunsten einer objektiven, realistischen Anschauung. In gewisser Weise erfüllt sich damit in Springers später Beschreibung der Schule von Athen die realistische Utopie eines unverstellten Blicks auf die Kunst. Nicht in Widerspruch dazu steht die Konsequenz, daß mit der realistischen Auslöschung von bildexternen Bedeutungen wie der Namen der Philosophen, mit dem Fehlen einer Zuordnung der einzelnen Gruppen an die freien Künste oder der ascensus-Symbolik ein neues Verfahren in die Kunstgeschichtsschreibung eingeführt wird. Denn bezeichnend ist, daß mit der vollständigen Neutralisierung von Bedeutungen sich auch die Position der Beschreibung innerhalb der Aufsatzordnung verschiebt. Sie hat sich gegenüber der Fassung von 1867 und der Parallelbiographie diametral verändert, indem sie nun nicht mehr am Ende der Abhandlung steht, sondern (nach einer historischen Einleitung) als erster, voranalytischer Schritt und damit rein kognitiver Akt vollzogen wird. Erst dann folgen die weiteren Abschnitte zu den „vorbereitenden Studien" (S. 67), den „älteren Deutungen des Bildes" (S. 78) und schließlich die „Erklärung des Bildes" (S. 94). Die epistemische Funktion der Beschreibung ist somit um 1883 eine grundlegend andere: Die betont bedeutungsneutrale Aufnahme des Gesehenen, die sich daraus ergebende Fragestellung nach dem verborgenen Sinn und die durch die Handzeichnung abgestützte Sinnerschließung werden nun über ein sprachliches Darstellungsmodell transparent gemacht. Die hermeneutische Operation wird über den Textverlauf nachvollzogen und analog zur Vorgehensweise des Kunsthistorikers strukturiert. Dieses explanative Darstellungsmodell, das von der Werkbetrachtung zur Werkinterpretation fortschreitet, nimmt auf frappierende Weise Erwin Panofskys ikonographischen Dreischritt (1932/1939) 122 vorweg: Als vorikonographischer Akt erschließt die Beschreibung zunächst den „Phänomensinn" und beruht allein auf der praktischen Erfahrung des Betrachters. Wie Springer selbst anmerkt, vermeidet sie „mit peinlicher Sorgfalt [...] jede nähere Bezeichnung der einzelnen Gestalten"; es wird „nur geschildert [...], was das Auge unmittelbar in dem Bilde erblickt, und nichts hineingetragen, was erst spätere Erwägungen und Nachrichten lehren." 123 Um auf Panofskys Beispiel der Beschreibung des Isenheimer Altars zurückzugreifen, beschränkt sich das Verfahren „ganz roh [...] auf das Alleraugenfälligste, als die Darstellung eines Menschen [...], der inmitten einer Lichterscheinung mit 121 Vischer: „Overbecks Triumph der Religion", in: Kritische Gänge V, S. 3, 4, 7. 122 Zur methologischen Kritik und zu den unterschiedlichen Konzeptionen Panofskys vgl. Bätschmann: „Logos in der Geschichte. Erwin Panofskys Ikonologie", S. 89 ff; Kaemmerling: „Die Grundlagenprobleme bei der ikonologischen Bedeutungsanalyse bildender Kunst", S. 496-501. 123 Springer: „Raffael's ,Schule von Athen'", S. 78.
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II. Realistischer
Klassizismus.
Methodik
und Darstellung
bei Anton
Springer
ausgebreiteten A r m e n einem Kasten entschwebt, während andere, kriegsmäßig ausgerüstete Menschen teils wie verstört am B o d e n hocken, teils mit Gebärden des Schreckens oder des Geblendetseins zu B o d e n getaumelt sind." 1 2 4 D a m i t dient die vorikonographische Beschreibung der Erfassung des primären oder natürlichen Sujets, welches der Betrachter aufgrund seiner praktischen Erfahrung identifiziert. 1 2 5 A b e r auch im Detail hält das bewußt naiv gehaltene Verfahren Springers den methodologischen Kriterien der vorikonographischen Beschreibung stand. Erstens hinsichtlich der Forderung, daß die Gegenstandserfassung und die Registrierung formaler Mittel wie das Kolorit u n d die K o n t u r nicht voneinander getrennt werden sollen: 1 2 6 D i e kompositioneile Linienführung wie die farbliche K o n z e p t i o n erledigt Springer z u s a m m e n mit der Erfassung der Einzelfiguren, indem er die beiden Ebenen vermengt und dabei keine formanalytische Präzisierung vornimmt. So verzichtet er darauf, an den beiden Zentralfiguren den farblichen Gegensatz zwischen hellrotem U m h a n g und olivgrünem G e w a n d als Komplementärkontrast terminologisch dingfest zu machen. Ferner erfüllt Springer intuitiv P a n o f s k y s Unterscheidung innerhalb des Phänomensinns, der sich in einen „Sachsinn" und „ A u s d r u c k s s i n n " aufteilt: D e r Sachsinn ist tatsachenhaft, da er rein von der Einzelbeobachtung ausgeht. Werden diese Details zusammengefügt und in ein Verhältnis zueinander gesetzt, ergibt sich laut P a n o f s k y die zweite Konstituentie des Phänomensinns, nämlich der „ A u s d r u c k " , welcher psychologische Affekte, Gebärdensprache, dargestellte Handlungen zwischen den Figuren, atmosphärische Stimmungsmomente eines dargestellten Innenraumes etc. in die vorikonographische Beschreibung miteinbezieht. 1 2 7 D e m Sachsinn gegenüber zwar von stärkeren subjektiven Faktoren des Betrachters abhängig, dient der A u s d r u c k vor allem der Klärung von Beziehungen zwischen den identifizierten primären Sujets. P a n o f s k y führt folglich in der Beschreibung des Isenheimer Altars von der tatsachenbezogenen Feststellung der aus einem Kasten schwebenden Gestalt und den „kriegsmäßig ausgerüstete[n] M e n s c h e n " (Sachsinn) unvermittelt z u m Ausdrucksinn über, indem er eine Kausalbeziehung zwischen den beiden Einzelelementen herstellt, die sich in Schrecken und Verstörung der Soldaten manifestiert. E b e n s o verfährt Springer, indem er v o n der N o t i e r u n g der Details z u m G e s a m t g e f ü g e zwischen den Figuren überleitet: Die beiden Zentralfiguren lokalisisiert er zunächst in der Bildarchitektur, registriert dann, fortschreitend v o m natürlichen z u m kulturellen Zeichen (Alter, Bart, Mantel, Buch, Schrift), die rein äußeren Bestandteile (Piaton), schließlich wechselt er mit der Farbe der G e w a n d u n g zu der jüngeren Figur (Aristoteles). A m E n d e ihrer Registrierung werden beide Figuren wieder zusammengeführt, und zwar nach dem Kriteriu m des A u s d r u c k s : Ihre Zwiesprache offenbart ihre charakterlichen Gegensätze, aber auch eine höhere Zusammengehörigkeit, da sie „erst z u s a m m e n das Ideal männlicher Würde und K r a f t " vereinigen. D i e Vorgehensweise strukturiert sich somit nach einer Steigerung v o m natürlichen Zeichen über die allgemeine Kulturtechnik der Schrift bis hin z u m „ A u s d r u c k " .
124 Panofsky: „Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst" [zuerst 1932], S. 87. 125 Vgl. Panofsky: „Ikonographie und Ikonologie" [zuerst 1939], S. 43 ff. 126 Panofsky: „Zum Problem der Beschreibung", S. 86. 127 Vgl. Panofsky: „Ikonographie und Ikonologie", S. 43 f.
3. Idealrealistische Wissenschaft
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All dies zieht das beschreibende Subjekt aufgrund seiner praktischen Erfahrung heran, ohne die Grenze zu einem faktischen Wissen zu überschreiten. Der zweite Teil von Panofskys Dreischritt bemüht sich um die ikonographische Analyse, mit der das ,,sekundäre[] oder konventionelle[] Sujet", gemeint sind Motivkombinationen, allegorische Anspielungen oder Personenbezeichnungen, ermittelt wird. 128 Liest man in Springers Aufsatz die Abschnitte Die vorbereitenden Studien (S. 67-77) und Die älteren Deutungen des Bildes (S. 78-93) nach dieser Kategorie, so findet sich dort ein vergleichbarer Vorgang: Anhand einer Oxforder Zeichnung widmet sich Springer der Athena-Statue (S. 69) sowie deren Pendant des Apollo (S. 72, von dem, wie Springer einräumt, keine Vorstudie existiert); dann, einsetzend mit dem Forschungsbericht zu den älteren Deutungen, beginnt Springer mit der Identifikation der Philosophenporträts aufgrund ihrer Darstellung auf antiken Gemmen, den auf dem Fresko beigefügten Buchtiteln {Etica, Timeo) oder anderer Attribute wie der Harmonietafel des Pythagoras links und der Globen und Zirkel rechts im Bild (S. 78). Damit erweitert Springer die Analyse um eine erste zeichenbasierte Bedeutungsschicht, welche das historische, archäologische und literarische Wissen einbezieht: „Piaton und Aristoteles also, Sokrates und Diogenes, die Gruppen der Arithmetiker und Musiker, der Geometer und Astronomen lesen wir unmittelbar aus der Freske heraus." (S. 78 f) Der Ansatz entspricht Panofskys Vorschlag für den zweiten Analyseakt, eine „T^era-Geschichte" aufzustellen und der Aufgabe nachzugehen, nach welcher „Art und Weise" „unter wechselnden historischen Bedingungen bestimmte Themen oder Vorstellungen durch Gegenstände und Ereignisse ausgedrückt" werden. 129 Als „sekundäre Sinnschicht [...], die sich uns erst auf Grund eines literarisch übermittelten Wissens erschließt, mögen wir die Region des Bedeutungssinns nennen." 130 Panofskys dritter und damit letzter Analyseakt, die „Ikonologische Interpretation", widmet sich der Zusammenfügung der verschiedenen Komponenten zu einer Aussagestruktur und organisierenden Sinnschicht, die die detaillierte ikonographische Bestandsaufnahme in einer höheren Bedeutungssphäre (dem „Wesenssinn") synthetisiert. Eben dies geschieht in Springers Abschnitt Die Erklärung des Bildes (S. 94-99). Dort erst erlangt die Argumentation das Niveau einer Interpretationsleistung, wenn die Philosophengruppen nach den artes liberales eingeteilt und die Stufen als platonischer Aufstieg zur höheren Erkenntnis bezeichnet werden. Zugleich setzt Springer die mittlere ikonographische Ebene in Bezug zum ikonologischen System: Die am Piedestal unter dem Apoll angebrachten Reliefs gliedert er in den Bedeutungszusammenhang ein, indem er auf ihre mythologische Bedeutung hinweist. Der dort dargestellte Angriff von Tityo auf Letho und der nicht näher identifizierte „Kampf nackter Männer darüber" geben den „deutlichen Fingerzeig für das Verständnis" der sich darüber befindenden Gruppen der Dialektiker und Physiker: „Beide Bilder zusammen versinnlichen die auch von Marsilio Ticino vorgetragene Lehre: Die Gesetze des frommen und gerechten Lebens hat Apollo gegeben." (S. 98). Wenn hier Springer die ikonographischen Details (den Panofskyschen „Bedeutungssinn") in einen Bezug zu seinem Kernthema (dem „Wesenssinn") setzt, dann antizipiert auch dies den kunstwissen128 Ebd., S. 39. 129 Ebd., S. 50. 130 Panofsky: „Zum Problem der Beschreibung", S. 87.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton
Springer
schaftlich .modernen' Ansatz zu einer Unterscheidung zwischen Ikonographie und Ikonologie. Er entsteht aus einer unterschiedlichen Klassifikation der bildlichen Strukturen, aus einem Differenzbewußtsein für formale, ikonographische und ikonologische Ebenen. Interdisziplinär verweist dies auf den Transfer hermeneutischer Konzepte, welche die Philologie bereits um 1800 entwickelt hatte: Friedrich Asts Unterscheidung zwischen grammatischer, historischer und geistiger Interpretation (1808) formulierte das Prinzip des hermeneutischen Dreischritts zuerst, das Panofsky für die kunsthistorische Methodik popularisieren sollte.131 Daß Springer dieses Verfahren für sich spät, für die Kunstwissenschaft zu früh adaptiert hat, läßt sich aus der Entwicklung der realistischen Kunsttheorie erklären: Am Beginn stand die pauschale Ablehnung einer ästhetischen Auffassung, welche die Aussagestruktur von Kunstwerken auf einer Einheit von Form und Inhalt gründete. Die Aversion gegen das ikonographische Detail verhinderte zunächst seine integrierte Aufnahme in das Verfahren, setzte aber die Potenzen frei, die das Problembewußtsein für die Differenz zwischen ikonographischem Zeichen und Sinnsystem unterschieden. Nach 15 Jahren Beschäftigung mit der Schule von Athen ist damit Springer methodisch an einem Punkt angelangt, bei der Gegensatz von Inhalt und Form, die Ablehnung der romantischen Allegorese und das Beharren auf einer allgemein-menschlichen Funktion der Kunst bei gleichzeitiger Historisierung eine konzeptionell überzeugende Lösung gefunden haben.
3.4. Zusammenfassung und Ausblick Der bisherige Gang der Untersuchung sollte plausibilisieren, daß Springer bis 1878 in einem ungebrochenen Kontinuum der nachhegelschen Ästhetik steht. Im hohen Grad kompatibel mit dem idealrealistischen Denken erscheinen in Raffael und Michelangelo das geschichtsphilosophische Konstrukt der Renaissance-Periode, die dialektische Ordnungssystematik der Handzeichnungen sowie die Trennung zwischen einer Formal- und Gehaltsästhetik, von der die letztere in einem Volksgeistkonzept gründet. Vischers Aesthetik kommt hierbei die Rolle eines wichtigen Impulsgebers zu, indem ihre systematischen, semantischen und inhaltlichen Begründungszusammenhänge einen wichtigen Beitrag für die wissenschaftliche Konzeption der Parallelbiographie leisten. Aus dem idealrealistischen Ausgangspunkt entsteht somit eine methodische Fundierung der Kunstwissenschaft - wenn auch die Konsequenzen, die Vischer und Springer ab den 60er Jahren daraus ziehen, unterschiedlicher nicht sein können. Denn während Vischer die monumental angewachsene Aesthetik durch einen 131 Ast schloß an die Überlegungen von Christian Daniel Beck (1791) an, ähnliche Ansätze finden sich in den Vorlesungen über die Enzyklopädie der Altertumswissenschaft Friedrich August Wolfs (ed. 1831). Vgl. hierzu Wach: Das Verstehen I, S. 55 f, 71 ff, 106 f. Auf einen Zusammenhang zwischen Ast und Panofsky weist Peter Burke hin. Burke: Augenzeugenschaft, S. 41. M. E. ist zu vermuten, daß Panofsky den ikonographischen Dreischritt durch Wachs Klassiker kennenlernte, dessen erster Band 1926 erschien. Sprachliche Analogien (S. 55 f) legen dies zumindest nahe. Ideengeschichtlich scheint von Relevanz, daß Panofskys Dreischrittmodell vor dem Hintergrund einer ähnlichen Konstellation wie Springers Verfahren entsteht: nämlich nicht allein in Hinblick auf eine ausschließliche ikonographische Fragestellung, sondern auch in Auseinandersetzung mit dem formalistischen Denken. Siehe dazu Lurz: Heinrich Wölfflin, S. 37 f.
3. Idealrealistische
Wissenschaft
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neuen Symbolbegriff radikal vereinfacht, zieht Springer sukzessive eine methodische Scheidewand zwischen Form, Ikonographie und Ikonologie ein. Innerhalb des realistischen Denkens zeichnet sich somit auf unterschiedliche Weise jene Weichenstellung ab, die für die Kunstwissenschaft des 20. Jahrhunderts folgenreich werden sollte: Während Vischers späte Symboltheorie einen entscheidenden Anstoß für Warburgs kulturwissenschaftliche Ikonologie lieferte, 132 ist in Springers Aufsatz von 1883 ein hermeneutisches Modell erkennbar, das fast fünfzig Jahre später als ikonographischer Dreischritt theoretisch formuliert wurde. 133 Im Vergleich zu Jacob Burckhardt wiederum offenbart Springers methodisches Konstrukt seine Grenzen. Denn indem er den italienischen Neuplatonismus zu einer harmonischen Ganzheit entdifferenziert und in strikter Referenz zum Volksgeist sieht, verflacht auch die anthropologische Konzeption: Ehrgeiz, Neid und Mißgunst als Triebfaktoren unter den Humanisten, wie sie Burckhardt in der Cultur der Renaissance entwirft, 134 spielen hier keine Rolle. In harmonischem Einklang fügt sich der christliche Neuplatonismus zu einer homogenen Volksmythologie zusammen, hinter der alle Individuationsmomente verschwinden. Wenn ein zeitgenössischer Rezensent an Burckhardt einerseits das Volksgeistkonzept lobte, aber andererseits der drastischen Zeichnung von aggressiven Einzelcharakteren wie Benvenuto Cellini ablehnend begegnete, dann wird hierin die Irritation deutlich, die von dem Text ausging. 135 Burckhardts Konzeption, welche die Ambivalenz von „Trieb" und „Geist" als anthropologische Notwendigkeit im Schöpferischen akzeptiert, stößt hier auf den Widerstand eines Kulturbegriffs, der unilateral strukturiert ist, indem er den Volksgeist zum normativen und monistischen Axiom erhebt. Damit scheint Springers Auffassung vom humanistischen Denken als Kern der Volksseele stärker geprägt von dem kurz vor Burckhardt erschienenen Werk Georg Voigts (1859), das im Humanismus und in der Wiedererweckung des klassischen Altertums eine einheitliche Bewegung sieht. 136 Methodisch ergibt sich daraus eine klare Differenz zu Burckhardt: Springers Ansatz bezieht keine Überlegungen zum Auftraggeber ein, da die Interpretation sonst Gefahr läuft, ihre Einheitlichkeit zu verlieren. Die malerische Ausstattung der Stanze bleibt vielmehr eine Kollektivleistung, wenn es heißt, daß „zwischen öffentlichem und privatem Leben keine so schroffe Trennung wie in späteren Jahrhunderten" bestand (RM, 145). Die Sensibilisierung für eine ,Kunst132 Vgl. hierzu Warnke: „Vier Stichworte"; Buschendorf: „Zur Begründung der Kulturwissenschaft"; Zumbusch: Wissenschaft in Bildern, S. 222 ff, 232 ff. Podro, der einen ideengeschichtlichen Zusammenhang zwischen Springer und Warburg konstruiert, reißt m. E. die Springer-Belege etwas aus ihrem Zusammenhang. Podro: The Critical Historians of Art, S. 1 5 5 - 1 7 7 . 133 Die unterschiedliche Weiterentwicklung innerhalb der realistischen Strömung erklärt zugleich, weshalb Springer wenige Jahre später die Einfühlungstheorie Robert Vischers brüsk zurückweisen konnte: Sie stellte, aufbauend auf dem Symbolbegriff seines Vaters, zweifellos eine Provokation und einen Verrat an den vormaligen Prinzipien der empirischen Ästhetik dar. 134 Vgl. Hardtwig: „Jacob Burckhardt. Trieb und Geist". Zu Burckhardts Auseinandersetzung mit Raffael und Michelangelo vgl. Seidel: „,Nur künstlerische Gedanken'", S. 79, 87, 94 (Anm. 81). 135 Vgl. [anonym:] „Vermischte Literatur", in: Gb 21/3 (1862), S. 524-528, S. 525 f. 136 Voigt: Die Wiederbelebung des classischen Alterthums. Zu Voigt vgl. Ferguson: The Renaissance in Historical Thought, S. 1 5 9 - 1 6 3 ; Belege für die Rezeption Springers: BK, S. 64; „Humanistische Studien", in: Im neuen Reich 11/2 (1881), S. 990-992.
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
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geschichte nach A u f g a b e n ' ist daher bei Springer relativ gering: Idealiter spiegelt das K u n s t w e r k direkt die kulturelle und geistige Signatur der E p o c h e wider, indem es sich über die identitätsphilosophische Einheit v o n D e n k e n und Sein, v o n schöpferischer Einzelleistung und außerkünstlerischer Realität, definiert: 1 3 7 „Niemals ist es einer Zeit wieder so gut geworden, dass ihr Bekenntniss in so schönen Farben und reichen F o r m e n ausgedrückt wurde, niemals machte aber auch eine Zeit die A n w e n d u n g der schönen F a r b e n und reichen F o r m e n so leicht. D i e culturgeschichtliche Bedeutung [ . . . ] fügt immer n o c h einen neuen R e i z zu ihrem künstlerischen Werthe h i n z u . " ( R M , 188) D u r c h den immanentistischen Zirkelschluß einer festen Relation von Kunst und Kultur wird für Springer die K u n s t zu einer kontextualisierbaren und im geschichtlichen P r o z e ß einkalkulierbaren G r ö ß e . A u c h v o m darstellerischen Standpunkt ist die D i f f e r e n z zu Burckhardt entscheidend: W ä h r e n d B u r c k h a r d t die ursprünglich projektierte Einheit von Kultur- und Kunstgeschichte aufgibt und beide Bereiche voneinander getrennt behandeln muß, setzt Springer den kulturgeschichtlichen E x k u r s in ein synthetisches Wechselverhältnis zum Künstler und seiner P r o duktion, das die Korrelationen zwischen Volk und K u n s t w e r k besonders betont. Schließlich belegte der im A b s c h n i t t 3.3. v o r g e n o m m e n e Vergleich zwischen drei Textfassungen eine kontinuierliche Darstellungsreflexion, die eine enge K o r r e s p o n d e n z zu den methodischen Prämissen aufwies und somit eine immanente E n t w i c k l u n g aus der idealrealistischen Ästhetik nahelegte. Besonders die mittlere Fassung, der Abschnitt aus und Michelangelo,
Raffael
machte deutlich, daß dort die idealrealistische Begründung der I k o n o -
graphie im Volk und die produktionsästhetische Ordnungssystematik zu einem darstellungstechnischen Korrelat gefunden haben, das auf den in den Kapiteln 4 und 5 zu behandelnden K o n t e x t der realistischen Poetik verweist: I n der Erzähltechnik zeigt sich die Tendenz, mittels straff geordneter Oppositionsbildungen thesenhafte Zuspitzungen herzustellen und stilistische Mittel sympathielenkend einzusetzen. Dies geschieht unter Vermeidung von allem Expliziten, Rhetorischen, Diskursiven: D i e Aussage wird direkt in ihrer Präsentation transparent, die Erzählführung ist handlungsbetont und konzentriert sich auf einen immanenten Entwicklungsverlauf. All dies, die Ausschaltung des Reflexiven, eine Erzähltechnik nach S c h w a r z - W e i ß - K o n t r a s t e n sowie durch bestimmte Stilmuster implizierte Parteinahmen, hat bei vielen A u t o r e n des bürgerlichem Realismus K o n j u n k t u r 1 3 8 und stützt die These, daß Springers Wissenschaftsprosa in einem engen Wechselverhältnis zu zeitgenössischen Erzähltechniken steht. Bleibt man deshalb bei dem idealrealistischen K o n t e x t Vischers nicht stehen und fragt nach der literaturtheoretischen Grundlage der gestalterischen Mittel, so ist man auf dezidiert poetologische K o n t e x t e angewiesen. Aus mehreren G r ü n d e n soll das Darstellungsverständnis Springers im folgenden weitgehend getrennt von den poetologischen Auffassungen seines ehemaligen M e n t o r s behandelt werden. I m Gegensatz zu Vischer, der nach 1848 an seinem sozialkritischen und demokratischen Standpunkt für lange Zeit festhält, 1 3 9 vollzieht
137 Vgl. die Ausführungen bei Eisele: Realismus und Ideologie, S. 24 f. 138 Vgl. hierzu Kafitz: Figurenkonstellation als Mittel der Wirklichkeitsauffassung, passim. Sowie den Abschnitt „Thesenhafter Sprachstil" in: Büchler-Hauschild: Erzählte Arbeit, S. 265-269. 139 Aufschlußreich hierzu die politischen Auseinandersetzungen im Briefwechsel zwischen Strauß und Vischer, II, 229, 232, 277, 278 u. ö.
3. Idealrealistische
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Springer sehr bald den Wechsel in das konstitutionell-liberale Lager des rechten Zentrums, skeptisch gegenüber demokratisch-revolutionären Tendenzen eingestellt und kompromißlos an der kleindeutschen Lösung orientiert. Die politische Ausrichtung hat Konsequenzen für die Darstellungsauffassung, die sich zwar nicht radikal, aber doch in entscheidenden Nuancen von Vischer unterscheidet. 140 Im folgenden sind deshalb die Komponenten der Methodik und der Darstellung voneinander getrennt zu betrachten. Zwar stammen beide Bereiche aus der realistischen Theoriebildung, ihre Wechselbeziehungen sind vielfältig und nicht immer säuberlich unterschieden, 141 in ihrer Konkretion bilden sie jedoch zwei eigenständige Felder: Eine Methodik einerseits, die ihren Impuls direkt aus Vischers Aesthetik bezieht, und eine wissenschaftliche Darstellung andererseits, die Springer eher implizit durch seine journalistische Schreibpraxis geläufig ist und erst ab den 1860er Jahren in seinem historiographischen Profil immer stärker hervortritt.
140 So vollziehen die Zeitschriften, in denen Springer seit 1857 publiziert, eine polemische Abgrenzung zu dem an Jean Paul orientierten Prosaverständnis Vischers. Vgl. ζ. B. die Äußerung des Literaturkritikers Julian Schmidt, daß Vischers Stil formlos sei und zum Manierismus tendiere: J. S.: „Englische Novellisten", in: Gb 10/1 (1851), S. 161-172, S. 164; Ähnlich: [Anonym:] „Der philosophische Stil", in: Gb 13/3 (1854), S. 41-48, S. 43 f. 141 Zu diesem Problem vgl. Kinder: Poesie als Synthese, S. 142 u. passim.
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
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4. Die Reformierung der Kunstgeschichtsschreibung: Anton Springer und das poetologische Denken nach 1848 Angesichts eines zunehmenden Problembewußtseins bei der empirischen Erfassung von Stoffmengen stellt die idealrealistische Ästhetik einen letzten Versuch dar, das Schöne als metaphysische G r ö ß e in einer k o m p l e x e r werdenden Welt zu begründen. D e r Zufall als die neu erkannte Wirkungsmacht in der Geschichte läßt zwar die spekulativen E p o c h e n k o n strukte Hegels zusammenbrechen und bei Vischer eine i m m e r stärkere Differenzierung in der Aesthetik
hervortreten; zugleich verlagert sich j e d o c h die metaphysische D i m e n s i o n des
Schönen auf die Fähigkeit des Künstlers, als reaktionsfähiges S u b j e k t die Widrigkeiten der K o n t i n g e n z in den schöpferischen A k t zu integrieren und das K u n s t w e r k zum Ausdruck menschlichen Vermögens zu erheben. 1 D e r schöpferische A k t wird damit als Prozeß
zum
Metaphysikum. Begriffskopplungen wie „indirekte Idealisierung" oder „Verklärung des W i r k l i c h e n " treten als Fermente für den Gegensatz zwischen empirisch harter Welt und anthropologisch definierten schöpferischen Kräften auf. Ahnliche Versöhnungsangebote zwischen Idee und Wirklichkeit, zwischen abstrakter T h e o r i e und faktischer Empirie halten spätestens nach 1848 in die historiographische Diskussion Einzug. Liberal gestimmte H i s t o r i k e r reagieren auf den offenkundig gewordenen Hiat zwischen politischer Idee und ernüchternden Tatsachen analog zur Geschichtsphilosophie und Ästhetik mit dem ausweichenden K o n z e p t des Idealrealismus. D a b e i ist dem Gegensatz von „Materialismus der Naturwissenschaft" und ,,phantastische[m] Idealismus der P h i l o s o p h i e " mit der Synthese bzw. der wechselseitigen K o r r e k t u r zu begegnen, die sich als ,,reale[r] Idealismus der H i s t o rie" konditioniert. 2 M i t dem sicheren G e s p ü r für die Zeichen der Zeit formuliert auch Springer in seiner T ü b i n g e r Dissertation von 1848 die Gedankenfigur v o n der idealrealistischen Vermittlung: I n d e m er die M a c h t des Zufalls gegen die hegelianischen Geschichtsspekulationen ausspielt, befürwortet er eine Geschichtsschreibung, welche ihr Z e n t r u m in der ,,richtige[n] M i t t e zwischen schamloser K o n s t r u k t i o n und roher E m p i r i e " findet, einen Relativismus des ,,unverbundene[n] Nebeneinanderstehen[s] der Elemente der N o t h w e n digkeit und Zufälligkeit in der G e s c h i c h t e " zu verhindern sucht und „die freie Verbindung" dieser F a k t o r e n zu einem Kausalzusammenhang konstruiert. 3 A u c h dies vollzieht sich, garniert mit einem aktuellen B e z u g auf die sich abzeichnende E n t w i c k l u n g der Revolution, in einer doppelten Abgrenzungsbewegung, die sich eben nicht einseitig gegen Hegel wendet, sondern auch der heraufziehenden G e f a h r des Materialismus ihren Tribut zollt. W o r a u f aber gründet die Mittelstellung zwischen Empirie und Spekulation, und welche Auswirkungen hat diese auf das Darstellungsverständnis? D i e integrierende Kraft zwischen Tatsachenbezogenheit und Sinnstiftung findet Springer zunächst in den darstellerischen 1 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, S. 174. Vgl. hierzu genauer Oelmüller: Friedrich Theodor Vischer und das Problem der nachhegelschen Ästhetik, S. 137-162. 2 Max Duncker an Droysen, Halle 12.12.1853, in: Droysen: Briefwechsel II., S. 200 f. 3 Springer: Die Hegel'sche Geschichtsanschauung, S. 4.
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der
Kunstgeschichtsschreibung
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Alternativen H u m o r und Ironie: „Die Ironie und der Humor, das sind Tonarten, in welchen die wahre Philosophie der Geschichte spielt." 4 Selbstverordneter Zynismus angesichts der allmächtig waltenden Kontingenz ist jedoch nicht die letzte Aufgabe, die dem Wissenschaftler im allgemeinen und dem Geschichtsschreiber im besonderen zugewiesen wird. Springers gänzlich unbescheidene Ankündigung, ,,[d]as Erscheinen einer wahren Menschheitsgeschichte vorzubereiten", 5 bleibt zwar naturgemäß unausgeführt, enthält jedoch den wichtigen Hinweis, daß bei aller Resignation angesichts der bestehenden Verhältnisse ein Praxisbezug der Wissenschaften nicht fehlen darf: „Wir haben durch die Bemühung der deutschen Philosophenschulen eine theoretisch freie Weltanschauung gewonnen, nun gilt es auf einem anderen Wege uns die praktische Freiheit zu erwerben und unsere bisherigen Bestrebungen zu ergänzen. Bis dahin mag das Denken ruhen und das Wollen seine Stelle vertreten[.]" Durch das „Auftauchen der realen Interessen der Politik" kann der ,,schiefe[] Weg, den die deutsche Wissenschaft zu nehmen begann", 6 korrigiert werden: Für den politischen Schriftsteller Springer bedeutet dies im Endeffekt nichts anderes, als die Wissenschaften auf eine Funktion festzulegen, die sich dezidiert nicht als wertungsneutral versteht und zugleich die Theorie den empirischen Tatsachen angleicht. Uber eine rein utilitaristische Indienstnahme hinaus kommt die akademische Tätigkeit einer politischen Berufung nach und erfüllt in der Gesellschaft einen moralischen und erzieherischen Auftrag. 7 Wie weite Teile der wissenschaftlichen Eliten kompensiert damit Springer das durch die Kontingenzerfahrung entstandene Theoriedefizit mit dem Ruf nach Realpolitik: Die Forderung, „auf dem Boden der Tatsachen" zu bleiben, 8 stellt zwar das Gefälle zwischen Theorie und Empirie auf den Kopf, verzichtet aber nicht auf die normierende Zielsetzung, aus der empirischen Erhebung einen „handlungsleitenden Historismus" 9 zu konzipieren. Geschichtsschreibung vollzieht sich demnach nicht mehr, so der ubiquitäre Vorwurf an Ranke, aus quietistischer Distanz in gleicher Nähe aller Epochen zu Gott, sondern formiert sich didaktisch im Dienst des zu gründenden Nationalstaats. Die Gewinnung politischer Normen aus der Geschichte für die Gegenwart hatte schon der vormärzliche Junghegelianismus propagiert. Doch während sich dieser mit der Aufdeckung von Entwicklungsgesetzen zufrieden gab und sich damit per se auf der richtigen Seite der Geschichte sah, relativiert sich nun die antizipatorische Funktion der Geschichtsschreibung durch einen pragmatischen Zug. Das handlungsmächtige Agieren gegen den Zufall, bei dem Macht nur durch größere Macht gebändigt wird, ist die neue Losung, wie sie Ludwig August von Rochau in den vielzitierten Grundsätzen der Realpolitik formuliert (1853). Was im Spiel der Potenzen zählt, sind Effizienz und Erfolg, nicht die idealistischen Konstruktionen des revolutionären Vormärzliberalismus, welche letztlich verantwortungs-
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Springer: Die Hegel'sche Geschicbtsanschauung, S. 93. Ebd., Vorwort, S. VI. Ebd., S. V. Zu diesem Wissenschaftsverständnis, das organisch im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang integriert ist: Springer: „Die Wissenschaft nicht in der Gesellschaft", in: Deutsches Museum 1/2 (1851), S. 5 0 3 - 5 1 2 . 8 Vgl. Faber: „Realpolitik als Ideologie", S. 20. 9 Schulin: „Historismus und Teleologie", S. 138.
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los und ethisch bedenklich sind. Wer sich dieser Einsicht stellt, hat sich zu entscheiden: Die Interessen zwischen deutscher „Nationalpolitik" und ,,österreichische[r] Staatspolitik", so Rochau weiter, schließen einander aus, so daß es darauf ankommt, „Partei zu ergreifen für den einen oder andern der streitenden Teile oder aber gegen alle beide." 10 Für den Exilösterreicher Springer, der sich in den 50er Jahren immer stärker dem nationalliberalen Borussianismus nähert, bedeutet dies, daß ein endgültiger Bruch mit dem Habsburgerreich unabwendbar ist. Seine Kommentare zur österreichischen Politik avancieren zum Komplement der nationalliberalen Publizistik mit meinungsbildnerischer Wirkung und kommen der neu verordneten Leitfunktion der Wissenschaften im Dienste der kleindeutschen Lösung nach. Das politische Hauptwerk Geschichte Oesterreichs seit dem Wiener Frieden 1809 (1863/65) ist nach Hermann Bahr (1921) der „Racheakt" eines „kenntnisreichen, aber ,kleindeutsch' erbitterten, parteiischen Mann[es]" und als „Hausbuch des deutschen Bürgertums, besonders in den Provinzstädten, [daran] schuld, daß meine Generation in voller Unkenntnis, ja, in Verachtung Oesterreichs aufwuchs". 1 1 Mit dem Vorwurf der Parteilichkeit trifft Bahr Springers Geschichtsschreibung in ihrem zentralen Selbstverständnis. Der Forderung, in der Historiographie Farbe zu bekennen, ,,keine[m] objectiven, unparteiischen, blut- und nervenlosen" Neutralitätsgebot nachzugeben, sondern durch praktizierte „Vaterlandsliebe und politische[] Ueberzeugung [...] erst die Möglichkeit zu erziehender Kraft und zu fester Kunstform" zu erwirken, 12 kann Springer insofern nachkommen, als er es an didaktischem Temperament und Parteinahme in der Darstellung nicht fehlen läßt. Thematisch bedingt ist jedoch, daß er sich fast zwangsläufig in Gegensatz zu Sybel als Pathologe versteht und deshalb die therapeutische Wirkung seiner Historiographie in Zweifel ziehen muß: „Ich treibe aber nicht Therapie [wie Sybel, JR], sondern pathologische Anatomie auch in der Politik[.]" 1 3 Die Übertragung medizinischer Semantik auf das Feld der Politik macht die organizistische Staatsauffassung Springers und insbesondere die programmatische Verbundenheit zu Friedrich Christoph Dahlmann deutlich. 14 Dieser, seit 1852 in engem Kontakt zu Springer und der konzeptionelle Wegbereiter
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Rochau: Grundsätze der Realpolitik, S. 163 u. 173. Bahr: „Das österreichische Staats- und Reichsproblem", S. 2. Sybel: „Ueber den Stand der neueren deutschen Geschichtschreibung", S. 349. Springer an Freytag, Bonn 30.6.1867, StB, Nl Freytag. Vgl. nochmals: „pathologisch-anatomischen Studien Oestereichs", Springer an Freytag, Bonn 15.10.1868, StB, Nl Freytag. 14 Der sog. „organische", meist mit kleindeutschen Forderungen verbundene Liberalismus orientiert sich im Gegensatz zum südwestdeutschen Liberalismus, dessen Selbstverständnis auf der Grundlage eines Gesellschaftsvertrags basiert und damit stärker aus französischen Traditionen herzuleiten ist, mehr an englischen Vorbildern. In diesem Zusammenhang ist bezeichnend, daß Springer vor 1848 als Mitglied des Tübinger Kreises um Vischer eher dem südwestdeutschen Liberalismus zuzuordnen war. Durch den engen Umgang mit Dahlmann, der als Wortführer der Göttinger Sieben und als herausragender Verfassungstheoretiker in der Paulskirche nach 1848 zum Idol der Nationalliberalen wird, scheint die kleindeutsche Positionierung Springers ideologisch gefestigt worden zu sein. Zur Abgrenzung des „organischen" vom südwestdeutschen Liberalismus vgl. Hardtwig: „Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt", S. 280. Zu Springers Freundschaft mit Dahlmann (1785-1860, seit 1842 in Bonn), dessen Biograph er später wird, vgl. AmL, 216 f; Ders.: Friedrich Christoph Dahlmann, Bd. 1, Vorwort, S. III; Bayer: „Anton Hein-
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der
Kunstgeschichtsschreibung
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der Geschichte Oesterreichs, vertritt ein Staatsmodell, welches in scharfer Abgrenzung zu revolutionär-demokratischen Traditionen und zum Gesellschaftsvertrag französischer Prägung das Bild von einem historisch aus dem Volkskörper gewachsenen Staatengebilde entwirft. Als „leiblich und geistig geeinigte Persönlichkeit" entwickelt sich der Nationalstaat, sukzessiv aufbauend auf den historisch gewachsenen Gegebenheiten, zu einem mit dem Volk amalgamierten Organismus. Wenn nach diesem naturwüchsigen Staatsideal die „Politik [...] Gesundheitslehre [ist], nicht weil sie Gesundheit geben, sondern weil sie die Ursachen der Krankheit entdecken und oft vermindern kann[,]" 1 5 so wird neben Springers Selbstverständnis als Pathologe und Anatom auch die dezidiert parteiliche Position in der Geschichte Oesterreichs plausibel. Erscheint die Nation als ein formgebendes Prinzip für die Geschichte des Vielvölkerstaats von vornherein nicht gegeben, so bleibt nur der Ausweg, die Geschichte Oesterreichs als negative Teleologie und damit in Kontrast zur kleindeutschen Geschichtsschreibung zu konzipieren. 16 Politische Handlungen der Verantwortlichen vollziehen sich - über die Restaurationszeit hinaus - in ständiger Divergenz zum Volk. Damit steht das Staatengebilde repräsentativ für die Intransparenz und Willkür der Kabinettspolitik, die sich in ihrem Katholizismus phantastischen Gedanken ergibt und ohne reale Handlungsfähigkeit bleibt. So ist der Begriff des Metternichschen Systems „nur ein höflicher Ausdruck für die gedankenlose Trägheit"; die „eigentlichen Gedanken", „Ausgangspunkte und Ziele" der österreichischen Politik bleiben der Willkür ausgeliefert. 17 Nicht nur unter Metternich verharrt der Staat in Stagnation, selbst die josephinische Aufklärung erscheint als gutgemeinter, aber willkürlicher Akt ohne Sensibilität für die realen Verhältnisse; ihr Scheitern ist die Quittung für die fehlende Verankerung der Politik im Volksboden (Bd. 1, S. 22). Die Fehlkonstruktion der Habsburgermonarchie besteht in der mangelnden Verbindung zwischen Herrscher und Volk, ja sie ist, was den kleindeutschen Standpunkt Springers besonders hervortreten läßt, von Anfang an eine Geschichte der Entfremdung: „Kein Fürstenhaus trug die Krone Karls des Großen so leicht, fühlte so wenig die Entfremdung des Kaiserthumes vom deutschen Volkswesen und verstand es so gut, bei zunehmender Schwäche der Machtquellen die höchsten Ansprüche festzuhalten wie die Familie der Habsburger[.]" (Bd. 1, S. 4 f) Die hochgehängte Meßlatte Karls des Großen, in scharfer Antithese zu den Habsburgern gesetzt, verrät die nationalpolitische Indikation der „Krankheitsgeschichte" (AmL, 262): Es geht um den ex negativo zu begründenden Führungsanspruch der Hohenzollern, der organisch im Geschichtsverlauf aufkeimt, während die Habsburger durch ihre anorganische und widernatürliche Verbindung zum Volk ihren Anspruch auf die deutsche Krone verspielt haben.
rieh Springer", S. 438 ff. Zur Bedeutung Dahlmanns für die Wissenschaften vgl. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 133 ff; Rothacker: Einleitung in die Geisteswissenschaften, S. 167 f. 15 Dahlmann: Die Politik, S. 36 und 38. 16 Das Werk erscheint in der von dem Verleger Salomon Hirzel initiierten und von Dahlmann mitkonzipierten nationalliberalen Reihe Staatengeschichte der neuesten Zeit. Vgl hierzu AmL, 261-265; Weichinger: Anton Springer als Historiker und seine politische Haltung, S. 106. Zum Programm der Staatengeschichte: Bußmann: Treitschke, S. 113. 17 Springer: Geschichte Oesterreichs seit dem Wiener Frieden 1809,1, S. 277.
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Springer
N u n ist von jeher wissenschaftsgeschichtlicher Konsens, daß zwischen den politischen und kunsthistorischen Arbeiten Springers eine strikte Trennung besteht; daß kleindeutsche Agitation und empirische Kunstforschung sich in parallelen, aber säuberlich voneinander geschiedenen Prozessen vollzogen haben. 18 Springer „versteht die Geschichte der Kunst besser, als die Kunst, Geschichte zu schreiben^]" 19 konzediert dann auch die gewiß nicht allzu freundlich gesinnte Wiener Neue Freie Presse. Bei allen Abgrenzungsmaßnahmen zwischen den beiden Tätigkeitsbereichen wird jedoch ebenso deutlich, daß Springers publizistische Manöver als Akkulturationsversuche im nationalliberalen Milieu und damit als Neupositionierung innerhalb des Common sense der deutschen Wissenschaftslandschaft zu verstehen sind. Im Moment der universiären Desorientierung (1857) wird folglich „das persönliche Mißgeschick", von „slawischen Eltern geboren, deutsch gebildet, ein Oesterreicher von Geburt, ein Deutscher in meinen politischen Interessen, katholisch getauft, protestantisch gesinnt" zu sein und deshalb „zu jener unglücklichen Klasse von Heimatlosen" zu gehören, die in „festbegrenzten Kreisen wie ein Spielball hin und hergeworfen werden", überdeutlich. 20 Derlei Angriffsflächen und Glaubwürdigkeitslücken lassen sich nicht nur wie oben angedeutet - durch ostentatives Renegatentum beheben, sondern verpflichten auch zur Übertragung des Politischen auf die Wissenschaft. Daß das borussianische Weltbild mehr und mehr in einem durchaus förderlichen Wechselverhältnis zur Institutionalisierung der Kunstwissenschaft steht, kann hier nur kurz gestreift werden: Die zunehmende Staatstreue von ,,diese[m] Gothaer, diese[m] Freund Dahlmann's" 2 1 kulminiert in der Annahme des Rufs an die Universität Straßburg, wo er mit nationalem Sendungsbewußtsein die ästhetische Germanisierung des Elsaß vorantreibt. Ebenso wenig zufällig ist, daß die Berufung nach Leipzig ausgerechnet ein durch seine deutschösterreichische Gesinnung marginalisierter Außenseiter der Fakultät mit fadenscheinigen Argumenten zu verhindern sucht. 22
4.1. Liberale Historiographie und programmatischer Realismus Mit dem institutionell prekären Verhältnis von politischer Parteilichkeit und wissenschaftlicher Objektivität korrespondiert die Frage nach Textmodellen der Kunstgeschichtsschreibung im engeren Sinne. Eine nach nationalliberalen und idealrealistischen Vorstellungen 18 Vgl. Dilly: Kunstgeschichte als Institution, S. 238 f. 19 Neue Freie Presse v. 22.9.1865, N o . 383 (Bücherzeitung). 20 Springer an Freytag, Bonn 4.7.1857, StB Berlin, N l Freytag. Springer erhielt erst 1860 mit der Einleitung der ,Neuen Arä' eine Professur für Kunstgeschichte. Vgl. hierzu Dilly: Kunstgeschichte als Institution, S. 240. 21 Treitschke: o.T., Rez. zu Springer: Geschichte Oesterreichs, WA in: Historische und politische Aufsätze IV, Nr. 115, S. 650. 22 Vgl. Heinrich Wuttke an das Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts, Univ. Leipzig, 4.1.1872 (Abschrift), Personalakte Anton Springer, Universitätsarchiv Leipzig, PA 72, S. 10-20 (nach der Paginierung im Mikrofilm). Heinrich Wuttke (1818-1876), Prof. für hist. Hilfswissenschaften an der Universität Leipzig; in der Paulskirche Nachrücker Robert Blums; Befürworter der großdeutschen Lösung, antipreußisch, noch bis 1873 Verbindungen zur österreichischen Regierung (ADB).
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konzipierte Wissenschaft verfolgt in ihren literarischen Darstellungsstrategien ein homogenes Programm, welches über die Einzeldisziplinen hinaus einem übergeordneten nationaldidaktischen Impetus verpflichtet ist. Maßgeblich dürfte hierbei, neben den sporadischen Kontakten zu liberalen Historikern wie Baumgarten, Droysen, Duncker, Sybel oder Treitschke, Springers Verbindung zu Gustav Freytag und der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Grenzboten23 gewesen sein. Das dort vertretene literaturkritische und historiographietheoretische Programm ist nicht nur repräsentativ für das poetologische Denken nach 1848, es trifft die nationalliberale Reflexion zu darstellungsästhetischen Fragen vielmehr im Kern, weshalb die Zeitschrift als tonangebendes Organ im Nachmärz angesehen werden kann. 24 Daß Springers Weg früher oder später zu den Grenzboten führt, ist angesichts der politischen Umorientierung des Bonner Privatdozenten nicht überraschend: Wie Springer selbst hatte sich die Ausrichtung der Zeitschrift von einem durch österreichische Exilanten und großdeutsch dominierten Mitarbeiterstab nach 1848 zu einem strikt kleindeutschen und propreußischen Kurs gewandelt. 25 Unter der Redaktionsleitung von Gustav Freytag und dem Kritikerpapst Julian Schmidt setzt sich ein polarisierendes Programm durch, welches politische Interessen eng mit ästhetischen Fragen verknüpft. Für Schmidt etwa korrespondiert der politische Kampf gegen Osterreich mit der Abwehr von pauschal als „idealistisch" bezeichneten Strömungen, mit denen die romantischen und jungdeutschen Literaturbestrebungen identifiziert werden. „Krank" erscheint der jungdeutsche Ansatz, weil er an großdeutschen Vorstellungen festhält und deshalb jeglicher realpolitischen Grundlage entbehrt. Analog hierzu erzeugen die romantische Literatur und ihre vermeintlichen Adepten wie Gutzkow, Grabbe oder Lenau eine gesellschaftspolitisch wie ästhetisch verwerfliche Wirkung, da sie durch die zersetzenden Kräfte der forcierten „Reflexion" einer gesamtintegrativen und politisch versöhnenden Wirkung im Sinne des organischen Liberalismus entgegenstehen. Der Forderung nach klarer und einfacher Gedankenführung, bei der das als intellektualistisch diffamierte Element des Reflexiven auszuscheiden ist, entspricht die Vorstellung von einer homogenen darstellerischen Konzeption mit klassizistischer Formstrenge und Simplizität. Mit hohem reformatorischen Anspruch diagnostizieren Freytag und Schmidt an den „Märzpoeten" die noch wirksame Tradition der Romantik, durch welche sich politische Prinzipienlosigkeit und darstellerischer „Mangel an Gestaltungskraft" bedingen. 26 Die Folge
23 Im folgenden abgekürzt mit der Sigle: Gb. 24 Vgl. Widhammer: Realismus und klassizistische Tradition, S. 1. Angesichts des hohen Rezeptionsgrades der Grenzboten fällt die programmatische Diskussion zur Geschichtsschreibung im ersten Band der Historischen Zeitschrift 1 (1859) weniger ins Gewicht (vgl. hierzu: Weber: „Geschichte und Nation. Das nationale Princip der deutschen Historiographie 1840-1880", S. 349 ff). Die dort formulierten Theoreme sind m. E. von Schmidt und Freytag früher und ausführlicher behandelt worden. 25 Vgl. Thormann: „Für die .nationale Hälfte des Bewußtseins': Der Beitrag der ,Grenzboten' zur kleindeutschen Nationalstaatsgründung 1871". Zu der grundlegenden Lagerbildung zwischen antiborussischen, großdeutschen Demokraten und propreußischen, erbkaiserlichen Nationalliberalen im Nachmärz und speziell nach 1866 vgl. Nipperdey: Deutsche Geschichte II, S. 25. 26 Jfulian] Sfchmidt]: „Märzpoeten", in: Gb 9/1 (1850), S. 5 - 1 3 , S. 8.
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II. Realistischer
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Methodik
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Springer
dieser negativen Zeiterscheinungen sind antivitale „Skepsis und Blasirtheit"27, die als „Krankheitsfälle des Völkergeistes pathologisch zu behandeln" sind. 28 Man sieht, wie sich die frührealistischen und antiromantischen Asthetizeme der junghegelianischen Kunstkritik von einem revolutionären und oft großdeutschen Pathos auf die preußische Sache verengt haben. 29 Schmidt und Freytag operieren mit dem strengen Binarismus von gesund vs. krank, realistisch/objektiv vs. romantisch/lebensfremd, vital vs. reflexiv, gesellschaftlich versöhnend vs. sozialkritisch, organisch vs. fragmentarisch, protestantisch/säkular vs. katholisch/ultramontan, preußisch/kleindeutsch vs. österreichisch/großdeutsch etc. pp. und erfassen damit sämtliche Lebensbereiche von der Politik über die Wissenschaften bis zur Kunsttheorie. Die Durchsetzungskraft dieses Argumentationsmusters belegt schlagend der politisch-ästhetische Konnex in Springers Geschichte Oesterreichs: Die zersetzenden Elemente der romantischen Reflexion sind nicht mehr überregionale Zeiterscheinungen, sondern können nun genau lokalisiert werden, nämlich „in Oesterreich, das [von der Romantik] zum politischen Ideale auserkoren wurde"; die romantische Strömung habe „die geistige Atmosphäre hier mit ihren halb schiefen halb träumerischen Gedanken erfüllt, und ohne Gegensatz herrschend eine Reihe naiver Anhänger gewonnen." Das Grundmuster allen Übels erkennt Springer in Grillparzers Ahnfrau, in der paradigmatisch die krankhaften Zustände des österreichischen Staats reproduziert werden: ,,[D]en Rückzug seiner Phantasie in abstracte Regionen, das geringe Verständnis männlich-leidenschaftlicher Charaktere haben die unseligen Zustände des Staates, in welchem Grillparzers Bildung wurzelte, verschuldet." 3 0 In der pauschalen und klischeehaften Ablehnung Grillparzers kristallisiert sich die widerspiegelungstheoretische Argumentation des Kunstkonzepts heraus: Es gewährleistet die enge Relation zwischen gesellschaftlich-politischen Zusammenhängen und literarischer Produktion. Wie gut Springer die literaturkritische Klaviatur der Grenzboten beherrscht, zeigt sich schon darin, daß er beim ersten brieflichen Kontakt mit Freytag in die aggressive Polemik gegen die jungdeutsche Literatur miteinstimmt. Offenbar bewußt auf den Adressaten berechnet, nennt er Karl Gutzkow einen „Windbeutel und Sklaven". 31 In der Folgezeit ist der selbsternannte „treue[] Vasall" der Grenzboten32 nicht nur als Kommentator der österreichischen Politik aktiv, 33 er versorgt zudem die Zeitschrift mit kunstkritischen und kunsthistorischen Beiträgen. Im Sinne der Ausrichtung eines „enge[n] Bündniß der Politik und 27 J[ulian] Sfchmidt]: „Die Reaction in der deutschen Poesie", in: Gb 10/1 (1851), S. 17-25, S. 22. 28 [Freytag:] „Styl und Schriftsprache der Deutschen. Ein Wunsch", in: Gb 11/1 (1852), S. 4-8, S. 8. 29 Daß hier ein fließender Ubergang vom Junghegelianismus zum „programmatischen Realismus" besteht, hat schon Friedrich Sengle, Biedermeierzeit I, S. 257 ff, herausgearbeitet. 30 Alle Zitate: Springer: Geschichte Oesterreichs seit dem Wiener Frieden 1809,1, S. 570 f. 31 Springer an Freytag, Bonn 4.7.1857, StB, Nl Freytag. Vgl. hierzu die für das literaturtheoretische Selbstverständnis der Grenzboten konstitutiven Angriffe auf Gutzkow im ersten Quartal des elften Jahrgangs (1852), S. 216-219, 358-360, 437-440, 518-520, 361-365; sowie 9/4 (1850), S. 601-608, u. ö. 32 Springer an Freytag, Bonn 7.5.1870, StB, Nl Freytag. 33 Vgl. die gegenüber anderen Mitarbeitern der Grenzboten auffallend ausführliche Würdigung Springers als ,,eine[n] der wichtigsten und treuesten Mitarbeiter des Blattes" bei Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben, S. 236 f. und Freytags Nachwort in AmL, 347-357: „Anton Springer als Historiker und Journalist".
4. Die Reformierung
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Kunstgeschichtsschreibung
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Wissenschaft" 3 4 sind auch hier die Grenzen zwischen den Bereichen fließend: Der kunstgeschichtliche Beitrag Der gothische Schneider von Bologna entsteht aus dem tagespolitischen Anlaß der österreichischen Berufung des neogotischen Architekten Friedrich (von) Schmidt an die Mailänder Akademie: ein Akt politischer Willkür, da ein Erfolg von der „Vorhandensein gothischer Traditionen" abhinge, welche in Italien „bekanntlich alle verloren gegangen" sind. 35 Als bester Beleg für den aussichtslosen Kampf einer Rehabilitierung der italienischen Gotik dient Springer das Kuriosum des Bologneser Schneidermeisters Carlo Cremona, der Ende des 16. Jahrhunderts einen erbitterten Feldzug für die Wiederaufnahme gotischer Bauformen führt. Die pointiert erzählte Geschichte rechtfertigt sich neben ihrem „großen culturgeschichtlichen Reiz" auch durch ihren „praktischen Werth". 3 6 Die ambivalent strukturierte Rechtfertigung des Beitrags 37 erklärt sich aus dem zentralen Darstellungsgebot der liberalen Programmatik: nämlich nicht explizit, sondern indirekt über die wirklichkeitsnahe Darstellung des Geschehenen den Rezipienten zu beeinflussen; über den „Reiz" der Geschichte appellativ auf die intendierte Botschaft hinzuwirken und somit einen gesamtgesellschaftlichen und praxisbezogenen Beitrag zu leisten (der hier in der Bekämpfung des österreichischen Kulturinterventionismus und in der Diskreditierung der Gotikmode besteht). 38 Konsequenterweise kommt Springer am Ende das Aufsatzes nicht mehr auf den kulturpolitischen Ausgangspunkt zurück, sondern schließt die tragikomische Geschichte dieses „letzten Vertheidiger[s] und Märtyrer[s] der Gothik" mit der Abwandlung des ,,bekannte[n] Sprichwort[s]": „Schneider, bleibe bei deiner Elle." 3 9 Wissenschaftliche Erkenntnis mündet somit in den Volksmund 40 ein und gibt sich als ohnehin schon bekannte Wahrheit zu erkennen, welche in der Nacherzählung des Vorfalls nur ihre geeignete Verifikation findet. Vice versa verfährt der Beitrag An die Adresse der Deutschöstreicher, von dem Springer noch in den Memoiren mit Stolz zu berichten weiß (vgl. AmL, 267): Er dient der Abwehr der in der Wiener Presse erhobenen Boykottaufrufe gegen Freytags Dichtungen, die durch die (teilweise von Springer verfaßten) antiösterreichischen Grenzboten-Artikel provoziert wurden. Wie der Beitrag zur Gotikmode ist der Artikel durch einen abrupten Umschlag der Gedankenführung gekennzeichnet: Die Argumentation schwenkt vom konkreten Anlaß in einen allgemeinen Exkurs zur österreichischen Politik über, so daß der Boykottaufruf gegen Freytag pars pro toto das dahinterstehende 34 35 36 37
Sybel: „Ueber den Stand der neueren deutschen Geschichtschreibung", S. 350. A[nton] Sprfinger]: „Der gothische Schneider von Bologna", in: Gb 17/1 (1858), S. 121-130, S. 122. Ebd., S. 123. Zum Zeitpunkt der Publikation sind alle Quellen längst bekannt. Der Aufsatz basiert im wesentlichen auf den Forschungen Johannes Gayes. Vgl. den quellenkundlichen Bericht in der überarbeiteten Fassung: BK, 169 f. 38 Die Forderung an Osterreich, sich aus Italien zurückzuziehen, ist ein Grundanliegen Springers und der Grenzboten. Siehe hierzu: Springer an Rudolf Haym, Bonn 2. 1. 1860, abgedruckt in: Westphal: Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus, S. 317 f; Freytag: „Die Lage Italiens", in: Gb 17/2 (1858), S. 253-261, S. 261. Vgl. mit weiteren Belegen Portner: Die Einigung Italiens im Urteil liberaler deutscher Zeitgenossen, S. 85 f, 101. 39 Springer: „Der gothische Schneider von Bologna", S. 130. 40 Genauer natürlich: in einen zum geflügelten Wort gewordenen Topos der Kunstliteratur. Kris/ Kurz: Die Legende vom Künstler, S. 134 f.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik
und Darstellung hei Anton Springer
Großpolitikum exemplifiziert. Denn die geistige Verfaßtheit der österreichischen Öffentlichkeit und ihrer Literatur entspricht exakt derjenigen in der Politik: ,,[D]er Herausgeber [d. i. Freytag] wird sich [...] in das Schicksal ergeben, nicht mit ,Rokambolo dem Galeerensträfling' und andern beliebten Feuilletonromanen die Gunst derjenigen Wiener zu theilen, welche durch die Phrasen ihrer Zeitungspresse beeinflußt werden." 41 Auch hier gilt, daß Fragen des Geschmacks und der wissenschaftlichen Erkenntnis mit der übergeordneten politischen Funktion korrespondieren. Das Politische ist ästhetisch, das Ästhetische politisch. Nachfolgende Abschnitte basieren auf der Prämisse, daß Springers kunsthistorische Darstellungskonzeptionen zwischen 1857 und 1878 stark von einem nationalliberalen Historismus geprägt sind, welcher in enger Korrelation mit der literaturtheoretischen Strömung des sog. „programmatischen Realismus" oder auch Realklassizismus steht.42 Abschnitt 4.2. soll dies über den wissenschaftsjournalistischen Kontext der Grenzboten präzisieren. Ausgehend von dem Selbstverständnis eines organischen Liberalismus beschreibt er anhand einiger Beiträge Otto Jahns und Gustav Freytags die übergreifende Formation dieses wissenschaftsethischen Standpunkts. Zwar sind in der Publizistik nach 1848 die Genrebezeichnungen „Bild" bzw. „populärer Aufsatz" omnipräsent, so daß sich allein hierdurch keine spezifische Rekurrenz auf die Gre«z¿Oíe«-Programmatik und ihr Umfeld rechtfertigen ließe, doch können die dort angewandten Textstrategien und die darüber vermittelten Inhalte als typische Merkmale des Zeitschriftenprogramms angesehen werden und die Einordnung Springers in dieses publizistische Feld plausibilisieren. Diese Kontextualisierung verfolgen die Punkte 4.3. und 4.4., die das kunsthistorische Hauptwerk der 1860er Jahre behandeln {Bilder aus der neueren Kunstgeschichte, 1867). Alle drei Abschnitte sollen zeigen, wie Freytag, Jahn und Springer auf die neuen wissenschaftlichen Anforderungen des Empirismus mit veränderten Darstellungsmodellen reagieren. Dabei ist die realistische Poetik, wie sie Gustav Freytag und Julian Schmidt vertreten, in hohem Maß kompatibel mit dem nationalliberalen Geschichtsdenken; 43 wegen der Dominanz ideologischer Gemeinsamkeiten und personeller Verbindungen erscheint es deshalb nicht sinnvoll, Springers kunsthistorische Darstellungskonzeption isoliert nach fachinternen Kriterien der Geschichts- bzw. Kunstwissenschaft zu betrachten. Dies trifft vor allem dann zu, wenn die Frage nach einer formalen Darstellungstechnik in den Mittelpunkt gerückt wird. Mit der 41 Springer: „An die Adresse der Deutschöstreicher", in: Gb 25/4 (1866), S. 89-95, S. 89. 42 Die durch Friedrich Sengle etablierte Bezeichnung „programmatischer Realismus" verfolgte ursprünglich die Absicht, anhand der Literaturkritik der Grenzboten und ihres Umfeldes eine verbindliche Theorie des poetischen Realismus herauszubilden. Problematisch erscheint hierbei die theoretische Subsumption einer ganzen literarischen Epoche, die dem von den Grenzboten gepflegten Selbstbild als Speerspitze des Realismus nachkommt. Die Bezeichnung Realklassizismus, forciert verwendet von Helmuth Widhammer, schwächt diesen Alleinvertretungsanspruch etwas ab und präzisiert dadurch den programmatischen Realismus als Strömung, ohne ihn als normative Umschreibung des gesamten Realismus zu petrifizieren. 43 Zur diskurstheoretischen Fundierung vgl. Fulda: „,Nationalliberaler Historismus'. Politische Motivation und ästhetische Konsequenzen einer Konvergenzphase von Geschichtsschreibung und historischem Roman".
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Analyse von Raffael und Michelangelo schließlich (5.) soll Springer als Historiograph der ,großen Form' gewürdigt werden. Auch hier verfolgt die Untersuchung eine Einordnung der Parallelbiographie in die Theoreme des programmatischen Realismus. Sie zieht die Konsequenzen aus der zuvor beschriebenen Darstellungsreflexion und will die Berührungspunkte mit der zeittypischen (fiktionalen) Erzähltechnik aufzeigen. Wenn auch hier der Bezug zu Gustav Freytag gesucht wird, dann soll dies ausdrücklich nicht geschehen, um einen ideologisch belasteten Autor durch einen wissenschaftsgeschichtlichen Kontext zu nobilitieren. Ebensowenig verfolgt die Untersuchung in umgekehrter Weise die wissenschaftliche Diskreditierung Springers. Die offenkundig sozialbiologistischen und antisemitischen Bezüge in Freytags literarischem Werk könnten nur dann zur Disposition stehen, wenn sich in Springers Historiographie die entsprechenden Referenzen finden ließen.44 Aus diesem Grund würde sich, trotz zahlreicher Belege für eine gegenseitige Rezeption, eine ,einflußphilologische' bzw. biographistische Argumentation im besten Fall zur Polemik versteigen. Eine Fortführung der ideologiekritischen Lektüre von Freytag 45 und ihren Transfer auf Springer kann die vorliegende Untersuchung deshalb nicht leisten. Ihr primäres Ziel ist hingegen die darstellungstheoretische Profilierung seiner Texte, sowie der Nachweis, daß die wissenschaftstheoretische Konzeption in einem Verhältnis zu ideellen Konstrukten und formalen Prinzipien steht, die sich über die zeitgenössische Literatur und Poetik besonders gut konturieren lassen.
4.2. „Aus unseren gemeinsamen Gesinnungen heraus geschrieben": Das kulturgeschichtliche „Bild" als Strukturmodell bei Gustav F r e y t a g und O t t o Jahn Das ganzheitlich-totalisierende, schlichte Weltbild der Grenzboten beruht in seiner internen Struktur auf einem Programm, das seinen Mitarbeitern eine strikte Unterordnung nach den darstellerischen Prinzipien der Wochenschau abverlangt. Der Anspruch, eine didaktische Zeitschrift für Politik, Wissenschaft und Kultur des deutschen Volks zu sein, objektiviert sich über ein Revuekonzept, nach welchem eine prismaartige Erfassung der Lebensbereiche in thematischen Einzelrubriken verwirklicht werden soll. In Anschluß an die deutschen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts und die zeitgenössischen englischen Wochenschriften bemühen sich Freytag und Schmidt um ein journalistisches Modell der „engen Verflechtung des politischen, wissenschaftlichen und literarischen Diskurses", 46 - vom kri-
44 Die nationalliberale Ausrichtung definiert sich bei Springer im Unterschied zu Freytag allein durch soziale und kulturelle Gemeinsamkeiten eines Volkes, die im nationalen und bürgerlich emanzipierten Kulturstaat zu vollenden sind. Springers Position zum Antisemitismus vgl. A m L , 234 f. 45 Die germanistischen Untersuchungen mit ideologiekritischer Ausrichtung werden hier nur teilweise einbezogen, ihre konzise Verwendung findet sich bei Hartmut Steinecke: „Gustav Freytag: .Soll und Haben' (1855). Weltbild und Wirkung eines deutschen Bestsellers", dort (m. E. etwas zu apologetisch) zum Judenbild: S. 141. 46 Thormann: „Der programmatische Realismus der .Grenzboten' im Kontext von liberaler Politik, Philosophie und Geschichtsschreibung", S. 68.
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bei Anton
Springer
tischen Verständnis her der deutschen Aufklärung, vom Inhalt her der nationalstaatlichen Einigung Deutschlands verpflichtet. Dabei räumen die Herausgeber vor allem den Beiträgen zur Kulturgeschichte eine Schlüsselfunktion ein. Die exponierte Stellung kulturhistorischer Themen bietet die Möglichkeit, die Bedeutung der politischen Ereignis- und Staatengeschichte zugunsten einer Sicht auf gesamtgesellschaftliche Prozesse einzuschränken und auf diese Weise erzieherisch auf das Volk einzuwirken. Dementsprechend versteht Freytag Wissenschaftler und Tagesschriftsteller als „die wahren Führer der Nation", 47 weil sie durch die exemplarische Darstellung kollektiver Gesamtleistungen indirekt zu kulturellen Errungenschaften anleiten und damit den besten Nährboden für politische Veränderungen schaffen.48 Entscheidend ist hierfür, daß die populäre Vermittlung kulturgeschichtlicher Inhalte von den wissenschaftlichen Einzeldisziplinen arbeitsteilig vollzogen wird: Erst die Spezialisierung auf kulturelle Teilbereiche befähigt den Wissenschaftler und sein Publikum, „von der Gegenwart aus in einer wenig unterbrochnen Continuität zurückzublicken bis in die entfernteste Vergangenheit unserer Nation, und wir verdanken solches reiche Wissen vorzugsweise den Disciplinen, welche neben und mit der deutschen Sprachwissenschaft seit dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts heraufgewachsen sind." 49 Der geweitete Blick auf komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge erfordert eine gesteigerte Absicherung der Einzelforschung durch empirische Studien. Die in den Grenzboten angestrebte Symbiose von populärer Wissensvermittlung und politisch-erzieherischer Intention verfährt daher nach einem einheitlichen Darstellungsmuster. Das von Freytag seit 1855 favorisierte Konzept des kulturhistorischen „Bildes", aus dem später die vielgelesenen Bilder aus der deutschen Vergangenheit hervorgehen, findet gerade bei den borussianisch eingestellten Historikern eine breite Rezeption 50 und etabliert sich bei den Grenzboten als disziplinenübergreifendes Verfahren zur Präsentation von kulturgeschichtlichen Einzelstudien. Seiner programmatischen Ausrichtung nach definiert sich das „Bild" im Gegensatz zur alternativen Bezeichnung des „Essays": Während der Essay in
4 7 Freytag: „Jacob Kaufmann" [Nekrolog], in: Im neuen
Reich
1/2 (1871), S. 6 7 0 - 6 7 6 , S. 676. Zu
Freytags Selbstverständnis vom Priester- und Fürstenamt des Gelehrten vgl. die grundlegende Studie von Renate Herrmann: Gustav Freytag. Bürgerliches Nationalbewußtsein,
Selbstverständnis
und
preußisch-deutsches
S. 1 0 8 - 1 1 2 .
48 Zur allgemeinen Tendenz der Kulturgeschichte zwischen 1840 und 1860 vgl. Dilly/Ryding: „Kulturgeschichtsschreibung vor und nach der bürgerlichen Revolution von 1848". Der Aufsatz verkürzt die Kulturgeschichte zu einem oppositionellen Programm gegen die .offizielle' Geschichtsschreibung, die sich in rechtshegelianischer Tradition als Staatsgeschichtsschreibung versteht. Zentral für das nationalliberale Verständnis von Kulturgeschichte ist m. E. dagegen, daß eine Synthese zwischen Staatspolitik und Volk angestrebt wird; die im folgenden behandelten Fälle können zudem nicht den Anspruch erheben, in ausschließlicher Opposition zu den herrschenden Zuständen zu stehen. 49 [Freytag:] „Neue Literatur der deutschen Alterthumswissenschaft", in: Gb 19/4 (1860), S. 6 6 - 7 6 , S. 70. 50 Zur Rezeption der Bilder aus der deutschen
Vergangenheit
in den Wissenschaften vgl. Steinhausen:
„Gustav Freytags Bedeutung für die Geschichtswissenschaft"; Bußmann: Treitschke, Herrmann: Gustav Freytag. wußtsein, S. 56.
Bürgerliches
Selbstverständnis
und preußisch-deutsches
S. 113, 423; Nationalbe-
4. Die Reformierung
der
Kunstgeschichtsschreibung
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seinen digressiven und assoziativen Verfahren als per definitionem reflexives Medium gelten muß und sich damit schwer in die doktrinäre Programmatik der Grenzboten einfügt, bezeichnet der Terminus des „Bildes" eine wirklichkeitsnahe und auf empirischer Grundlage beruhende Wissensvermittlung, die in formadäquater Abspiegelung der vergangenen Realität einen authentischen und lebensnahen Effekt erzeugen soll. Springer bringt diese widerspiegelungstheoretische Fundierung auf den Punkt, wenn er sein Buchprojekt Bilder aus der neueren Kunstgeschichte ankündigt: Die Aufsatzsammlung neuen Typs wünscht er sich „auf Grundlage der Autopsie, mit Benutzung aller historischer Quellen und in der Form möglichst rein und abgerundet, so daß der Gegenstand der Darstellung sich in jener Form widerspiegelt".51 Zwischen Form und Inhalt wird hier nicht unterschieden: Das darstellungsästhetische Postulat setzt ganz auf das sprachoptimistische Vertrauen, mittels stilistischer Klarheit eine höchstmögliche inhaltliche Transparenz zu erzeugen und somit eine Einheit zwischen faktischem Befund und sprachlichen Ausdruck herzustellen. Auch die Gre«z£oie«-Programmatik vindiziert in Rückgriff auf das rhetorische upturn eine mittlere Stillage für die Wissenschaftsprosa: ,,[D]er Stil ist doch nicht blos eine äußerliche Form, welche den Inhalt deckt, sondern er ist der Ausdruck, der dem Inhalt adäquat sein muß." 5 2 Die Textsorte des „Bildes" kommt dieser Forderung nach einer empirischen und antispekulativen Darstellung entscheidend entgegen. Monadenhaft öffnet sich das „Bild" zur Vergangenheit und repräsentiert dadurch einen Teilbereich der angestrebten, aber für die Wissenschaften nicht mehr einholbaren Totalität. Die Abtönung des Reflexiven, empirische Gegenstandsbezogenheit, populäre Wissensvermittlung und nationalliberale Interdisziplinarität machen somit die epistemischen Merkmale des „populären Aufsatzes" oder des „Bildes" der Grenzboten aus. Wie stark Springer in diesem Kontext steht, läßt sich am Beispiel seines Bonner Mentors Otto Jahn verdeutlichen, der den Privatdozenten nicht nur mit Freytag bekannt gemacht, sondern auch selbst in enger Abstimmung mit dem Grenzboten-Herausgeber seine „populären Aufsätze" nach dem Bilder-Modell strukturiert hat.53 Freytag und Jahn, beide durch ihr Studium bei Karl Lachmann mit der philologischen Textkritik bestens vertraut, reflektieren die Frage nach einer empirischen Gegenstandsbezogenheit bei gleichzeitigem quellenkritischen Bewußtsein, welches über ein literarisches Konzept gebündelt und wirkungsästhetisch eingesetzt werden soll. Darüber, daß die Wertschätzung in wissenschaftlicher wie darstellerischer Hinsicht überaus einvernehmlich ist, legt nicht nur der Briefwechsel Zeugnis ab. Für Jahn ist das Selbstverständnis, Teil eines organischen Liberalismus zu sein, konstitutiv, wenn er sich um eine Funktionsbestimmung der Altertumsforschung innerhalb der deutschen Wissenschaftslandschaft bemüht: „Das Bewußtsein einem großen Ganzen anzugehören, das Bestreben in jeder Thätigkeit den Blick auf dieses Ganze, für das man wirkt, gerichtet zu haben, erhöhet und adelt die Kraft, allein nur wer im Einzelnen tüchtig sein, mit klarem
51 Springer an Hermann Härtel (?), Berlin, 7. Februar o. J. (1863 oder 1864), StB Berlin, Sammlung Härtel. 52 [Anonym:] „Der philosophische Stil", in: Gb 13/3 (1854), S. 41-48, S. 45. 53 Ergänzungsbedürftig, weil ohne den Bezugsrahmen der Grenzboten: Kytzler: „Jahns populäre Aufsätze ,Aus der Alterthumswissenschaft'", in: Calder et al. (Hg.): Otto Jahn (1813-1868), S. 96-105.
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II. Realistischer
Klassizismus.
Methodik und Darstellung
bei Anton
Springer
Blick die nächste Pflicht zu erfüllen sich bemüht, wird in der Wissenschaft wie im Leben Dauerndes wirken." 54 Diese Auffassung von einer nationalliberal grundierten Arbeitsteiligkeit zwischen den Einzeldisziplinen55 kommt besonders dann zum Ausdruck, wenn auch die fiktionale Prosa explizit als Teil jenes großen Ganzen einbezogen wird. Der Erfolg von Freytags Roman Soll und Haben (1855) ist ihm ein „Zeichen, daß [das Buch] aus unseren gemeinsamen Gesinnungen heraus geschrieben ist und daß diese doch noch Wurzel und Boden haben."56 Ebenso ist für Jahn Freytags Auffassung zur Geschichtsschreibung die Maxime schlechthin. Die Ubersendung eines neuen Bandes der Bilder aus der deutschen Vergangenheit bietet Anlaß zur darstellungstheoretischen Reflexion und spielt überdies auf die damit verbundene akademische Geselligkeitskultur an:57 „Auswahl, Anordnung, Auffassung und Darstellung ist so ganz nach meinem Sinn[.] [...] Ich habe dabei wieder viel an unsere alten Gespräche über Poesie und Historie gedacht."58 Freytag wiederum attestiert einem Aufsatz Jahns „edle Popularität": „Ich habe immer gesagt, Sie sind im Geheimen ein großer Journalist. Schade, daß Sie in ihrer Wissenschaft noch mehr sind." 59 Für die Redaktion der Grenzboten ist Jahns Darstellungsverständnis das Richtmaß, nach dem sich sämtliche wissenschaftlichen Disziplinen auszurichten haben: „[D]as neue Werk entspricht auch den an den wissenschaftlichen Lehrstil zu richtenden Geschmacksanforderungen, als deren Meister wir Otto Jahn verehren[.]" 60 In den gleichen Tenor fällt Springer, wenn er Jahns Grenzboten-Aufsatz zu Ludwig Richter als musterhaft für die moderne wissenschaftliche Darstellung bezeichnet.61 Aus dem wissenschaftlich-literarischen Dreieck zwischen Freytag, Jahn und Springer ergibt sich ein publizistisches (wie institutionelles)62 Interaktionsfeld, das deutliche Spuren 54 Jahn: „Bedeutung und Stellung der Alterthumsstudien in Deutschland" [Rede 1859], in: Aus der Alterthumswissenschaft, S. 50. 55 Angesichts der Tatsache, daß die klassische Altertumswissenschaft bis dato den Rang einer Leitdisziplin beansprucht, ist Jahns vergleichsweise bescheidene Positionsbestimmung der Archäologie und Altphilologie von hoher Signifikanz: Ihr Führungsanspruch tritt im Hinblick auf die nationale Einheitsbestrebung freiwillig zurück. Sie ordnet sich institutionell, methodisch und darstellungstheoretisch dem großen politischen Ziel unter und begründet dadurch die prinzipielle Gleichrangigkeit der Einzelwissenschaften. 56 Jahn an Salomon Hirzel, Bonn 8 . 7 . 1 8 5 5 , in: Otto Jahn in seinen Briefen, S. 96. 57 Zu den personellen Überschneidungen zwischen dem Mitarbeiterstab der Grenzboten und Freytags Kitzing-Runde, der Jahn in seiner Leipziger Zeit (1847-1854) angehörte und der daraus entstehenden „ideologischefn] Einheit" (S. 76) mit informeller Kommunikationsstruktur vgl. Herrmann: Gustav Freytag. Bürgerliches Selbstverständnis und preußisch-deutsches Nationalbewußtsein, S. 76-79. 58 59 60 61
Jahn an Frey tag, Bonn 1 5 . 2 . 1 8 6 2 , in: Otto Jahn in seinen Briefen, S. 204. Freytag an Jahn, Leipzig 2 7 . 3 . 1 8 6 8 , D A I Berlin, NI Otto Jahn. [Anonym:] J u l i u s Meyers Künstler-Lexikon" [Rez.], in: Gb 29/1 (1870), S. 4 6 5 - 4 6 8 , S. 467. Springer: „Otto Jahn. Gedächtnißrede, gehalten im archäologischen Auditorium der Bonner Universität am 25. October 1869", in: Gb 28/4 (1869), S. 2 0 1 - 2 1 3 , S. 206; Ders.: „Zum achtzigsten Geburtstage Ludwig Richters", in: Zeitschrift für bildende Kunst 18 (1883), S. 377-386, S. 377; Ders.: „Kritische Wanderungen", in: Im neuen Reich 6/1 (1876), S. 4 7 6 - 4 9 1 , S. 481. 62 Springer lernte Freytag 1857 durch Otto Jahn kennen. Freytags bald darauf folgendes Angebot, Springer als Nachfolger Hettners nach Jena zu vermitteln, schlägt Springer nach Rücksprache mit
4. Die Reformierung
der
Kunstgeschichtsschreibung
107
in ihren Texten hinterlassen hat. Alle drei fassen ihre in den Grenzboten erschienenen Artikel später in Buchform zusammen: Freytag in den über mehrere Auflagen monumental anschwellenden Bildern aus der deutschen Vergangenheit (EA: 1858; erw. 5. Aufl.: 1867), Springer in den Bildern aus der neueren Kunstgeschichte (1867; erw.: 1886) und Jahn in der Sammlung Aus der Alterthumswissenschaft. Populäre Aufsätze (1868). 6 3 Auf Springers Buch, das schon im Titel ein prinzipielles Einverständnis mit der realistischen Programmatik signalisiert, ist weiter unten zurückzukommen (4.3. und 4.4.). Die Analogien zu Freytag erscheinen hier etwas diffiziler als bei Jahn, der im Gegensatz zu Springer seine populären Aufsätze auch in Einzelheiten nach dem von Freytag vorgegebenen Strukturmodell konzipiert. 64 Die Adaption von formalen wie technischen Merkmalen ist hier evident: Explizit beruft sich Jahn in dem Aufsatz zu der Renaissance-Autobiographie des Benediktinerabts Johannes Butzbach auf Freytags „allgemein bekannt[e]" „naive Schilderung" der Lebensgeschichte des fahrenden Schülers Thomas Platter. 65 Über die folgende Nacherzählung von Butzbachs Autobiographie gilt es, den „seltsamen Eindruck", den der Bericht über Platter bei den Lesern Freytags hinterläßt, durch ein Pendant zu plausibilisieren, nämlich „wie das, was uns jetzt so schwerlich begreiflich erscheint, einst an der Tagesordnung war." 6 6 Der Prätext Frey tags wird somit von Jahn ganz im Sinne der Arbeitsteiligkeit der nationalliberalen Wissenschaftsauffassung zu einem individuell ausgeprägten Teil des kulturgeschichtlichorganischen Ganzen objektiviert. Wie Freytag nutzt Jahn das Verfahren, die vorgegebene Quelle in bearbeiteter Form zu präsentieren: Butzbachs Bericht will er lediglich „aus seiner Handschrift [...] nacherzählten]", „freilich" mit beträchtlichen Kürzungen, wobei der Historiker „ihm Unrecht thun [würde], wenn er ihn nicht in der Muttersprache einfach Jahn aus (Springer an Freytag, Bonn 4.7.1857, StB Berlin, N1 Freytag). Jahn bittet daraufhin Freytag (Bonn 8.7.1857, StB Berlin, N1 Freytag), das Gerücht einer möglichen Berufung aufrecht zu erhalten („Je officiöser [...] desto besser"), um für Springer eine bessere Verhandlungsbasis in Bonn zu erhalten (was offenbar tatsächlich als Druckmittel eingesetzt wurde. Vgl. Akten der Universität Bonn, GStA PK, VI. HA, Hauptabteilung A 76 Va, Sekt. 3, Nr. 40, Bd. 3, S. 359). Eine diskrete wie engagierte Kollekte für die Finanzierung von Springers Italienreise belegt der Briefwechsel Freytag/Jahn: An Freytag, Bonn 26.8.1868, in: Otto Jahn in seinen Briefen, S. 234; unpubliziert: Freytag an Jahn, Siebleben, 3.7.1868; 24.7.1868; 20.9.1868; o. O., o. D.; DAI Berlin, NI Otto Jahn. 63 Von 13 Aufsätzen des Bandes erschienen zehn zuerst in den Grenzboten. Die von Gerson Schade erstellte Bibliographie verzeichnet insgesamt 21 Grenzboten-Beitri%e Jahns. In: Calder et al. (Hg.): Otto Jahn (1813-1868), S. 258-276. 64 Direkt auf Freytag geht der Titel des Sammelbandes zurück (vgl. Freytag an Jahn, Siebleben 25.8. 1868, DAI, NI Jahn). Vgl. auch die Rezension in den Grenzboten·, „fast immer sind die Mitarbeiter durch den Antheil, welchen einzelne Aufsätze [in den Grenzboten] fanden, und durch den bescheidenen Mahnungen der Redaction [!] allmählig so weit gekommen, daß ihnen selbst die geschriebenen Stücke in inneren Zusammenhang traten, und der Entschluß reifte, das zerstreute zusammenzuschließen, und für ein geschlossenes Ganze zu vertiefen. So geschah es auch mit dem vorliegenden Buche." 9 [= Freytag]: „Ein neues Buch von Otto Jahn", in: Gb 27/4 (1868), S. 241-244, S. 241. 65 Vgl. Freytag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit I (1859), 56-87; zuerst: Gb 14/4 (1855), S. 420-431. 66 Alle Zitate: Jahn: „Bildungsgang eines deutschen Gelehrten am Ausgang des 15. Jahrhunderts", in: Aus der Alterthumswissenschaft, S. 405 (= Gb 27/1 (1868), S. 481-493, S. 481).
108
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
und ohne classische Reminiscenzen reden ließe." 67 Ähnlich legitimiert Freytag sein Verfahren: Der ,,unvermeidlich[e]" „Uebelstand" der sprachlichen Unverständlichkeit zwingt zur freien Übertragung mit der „Verpflichtung, dies so treu als irgend möglich zu thun und wenigstens Einiges von der alten Farbe zu bewahren."68 Trotz aller Authentizitätsbeteuerungen bearbeiten beide Verfasser die Quellen mehr als selektiv: Etwa dann, wenn die Paraphrasen der beiden Lebensberichte mit einer plötzlichen Abbreviatur enden: „So weit Thomas Platter. Noch lange dauerte sein Kampf um das Leben. [...] [W]ie tüchtig er war, die stäte Ausdauer und frohe Kraft fehlte seinen Unternehmungen."69 Unisono Otto Jahn: „Wir verfolgen die geistliche und litterarische Laufbahn des Johannes nicht weiter. Er war ein fleißiger Schriftsteller in Prosa und in Versen." 70 Das Individuum mündet hier in den Volksorganismus ein, indem es durch Tüchtigkeit bzw. Fleiß zu einem Teil desselben wird. Von Interesse ist damit nicht etwa eine Erfassung der Gesamtbiographie, sondern das sozialgeschichtliche Phänomen, hinter dem Tausende anderer Lateinschüler stehen, das in ,,steigende[r] Bewegung" zur Reformation führt und letztlich zur Identitätsstiftung des deutschen Volks beiträgt.71 Solche Verfahren der Quellenklitterung versagen dem historischen Text seine individuelle Ganzheit zugunsten einer höheren Totalität. Die Suche nach dem Lachmannschen Urtext, in dem die historischen Verunklarungen von Überlieferungen bereinigt sein sollen, schlägt nun um in die halbfiktionale Verklärung der Quelle, indem diese durch selektive Auswahl und Emendation von allem Individuellen zum volkstypischen Repräsentanten umgemodelt wird. Stillschweigend wird das philologische Primat der Rekonstruktion von literarischen Archetypen zum Zeugen des Volksgedankens transformiert; die ursprüngliche textliche Reinheit zum Ausdruck der kollektiven Volksseele überformt. Dieses Verfahren der Quellenpräsentation offenbart sich noch stärker in Jahns Aufsatz Eine antike Dorfgeschichte·. Hier ist die Begründung für die Auswahl aus dem historischen Referenztext ebenso deutlich wie anbiedernd von Freytags „Bild" über das Landleben in der Merowingerzeit abgekupfert. Dies zeigt sich daran, daß die mitgeteilte Geschichte eine „selbst erlebte" (Freytag) bzw. „selbsterlebte" (Jahn) ist und zugleich das wertende Kriterium angewandt wird, daß Gregor von Tours in ,,behagliche[r] Weise" und Dion Chrysostomos mit „Behagen an der realistischen Wiedergabe des täglichen Lebens" erzählen.72 Mitteilenswert sind die beiden Passagen, weil sie jeweils die älteste auf Augenzeugenschaft beruhende schriftliche Überlieferung einer Dorfgeschichte darstellen, wobei sie aus ihrem textuellen Zusammenhang bewußt gelöst und vom rhetorischen Schmuck befreit werden.73 Pars pro toto stehen damit die Berichte des Gregor von Tours und des Dion Chrysostomos für einen
67 68 69 70 71 72
Ebd. Freytag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit I (1859), Vorrede, unpag. Freytag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit I (1859), S. 86. Jahn: Aus der Alterthumswissenschaft, S. 420 (vgl. Gb 27/1 (1868), S. 493). Freytag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit I (1859), S. 86. Freytag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit, 5. Aufl., I (1867), S. 310; Jahn: „Eine antike Dorfgeschichte", in: Aus der Alterthumswissenschaft, S. 59 und 55 (vgl. Gb 26/3 (1867), S. 361-377, S. 362). 73 Vgl. Freytag, ebd.; Jahn, ebd., S. 59.
4. Die Reformierung
der
Kunstgeschichtsschreibung
109
bestimmten Entwicklungsabschnitt in der Volksgeschichte, von den beiden Historiographen dadurch begründet, daß sie jeweils die ältesten Textzeugen eines naiven Lebens auf dem Dorf sind. Die Entstehung des populären Aufsatzes erklärt sich auch dadurch, daß eine auf Totalität sämtlicher entwicklungsgeschichtlicher Tendenzen abzielende Darstellung wie der eines Handbuchs zwar noch projektiert, aber nicht mehr ausgeführt wird. Dem wiederholt geäußerten Wunsch Freytags, die Bonner Vorlesungen zur Archäologie nach Mitschriften zu edieren, 74 kommt Jahn nur noch insofern nach, als er Springer damit beauftragt, einen Stenographen zu finden. 75 Das Publikationsvorhaben verläuft jedoch trotz anfänglicher Erfolge im Sand, so daß Jahn einige Teile der Vorlesung zu Einzelaufsätzen verarbeitet. Neben äußeren Umständen für das Scheitern der Überblicksdarstellung 7 6 bedingt sich die Konzentration auf die .kleine' Gattung durch mehrere wissenschaftsgeschichtliche Faktoren. So setzt Jahns Plädoyer für die Einheit von Altphilologie und Archäologie die quellenkritisch fundierte Werkanalyse ins Zentrum des wissenschaftlichen Verfahrens. Die antiken Schriftquellen dienen als Interpretamente für die archäologische Detailuntersuchung, jedoch derart, daß die literarisch überlieferten Inhalte in ein homogenes Raster transformiert und im Sinne der Lachmann-Wolfschen Kollektivtheorie als allgemeiner, vom Volksorganismus prästabilierter ikonographischer Gehalt vorausgesetzt werden können. Am besten läßt sich dieses Verfahren an Jahns Aufsatz zum Apoll von Belvedere erfassen: 77 Jahn schließt sich hier einer seit 1860 vorherrschenden Meinung an, 78 daß der vatikanische Apollo als Produkt der nachklassischen Periode am Ende einer ikonographischen Uberlieferung steht, deren ältesten Belege auf Homer zurückzuführen sind. Der Rückgriff auf Homer und die revidierte Datierung als kaiserzeitliches und keineswegs klassisches Werk, welches im Gegensatz zur Deutung Winckelmanns als .modisch' determiniert erscheint, macht den Apoll von Belvedere zum Produkt eines komplexen historischen Prozesses, der eine zeitliche Spanne von fast einem Jahrtausend umfaßt. Kern der Neuinterpretation ist der Bruch mit der etablierten Annahme, daß die Gottheit als Bogenschütze in Aktion tritt. In der feh-
74 Freytag an Jahn, 15.11.1865, abgedruckt in: Cancik: „Otto Jahns Vorlesungen .Grundzüge der Archäologie' (Bonn, Sommer 1865)", in: Calder et al. (Hg.): Otto Jahn (1813-1868), S. 29-56, S. 55 f. 75 Springer an Freytag, Bonn 5. August, o. J. (1865), StB Berlin, N1 Freytag: Auch hier wird ein arbeitsteiliges Konzept deutlich: Nach dem Besuch des Collegs widmete der Stenograph „6-7 Stunden der Reinschrift, brachte sein Pensum regelmäßig zu Jahn, daß dieser es durchcorrigiere. Jede Woche erbat ich die letzteren, mir die bereits durchgesehenen Hefte zu geben, damit ich Sie mit denselben überrasche. Wer aber damit zögerte, war Jahn, der mir übrigens zugesagt hat, nächste Woche das ganze opus, das zu einem riesigen Umfange angewachsen ist, nach Sigleben zu senden. [...] Sie werden mit der Arbeit des Stenographen zufrieden sein, daß der Inhalt der Vorlesungen Sie [...] fesseln wird, versteht sich von selbst und über die allerdings bedeutenden Kosten zu klagen, ist es zu spät, denn ich habe das Geld bereits ausgegeben^]" 76 Vgl. Cancik: „Otto Jahns Vorlesungen", in: Calder et al. (Hg.): Otto Jahn (1813-1868), S. 37; Ehrhardt: „Otto Jahn als Direktor des Akademischen Kunstmuseums", in: Ebd., S. 57-76, S. 68 ff. 77 Jahn: „Der Apoll von Belvedere", in: Aus der Alterthumswissenschaft, S. 265-282 (vgl. Gb 26/4 (1867), S. 41-49). 78 Vgl. Overbeck: Geschichte
der griechischen
Plastik II, S. 252-261, 270 f.
110
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
lenden linken H a n d hält A p o l l nach Jahns R e k o n s t r u k t i o n die Aigis, eine mit dem H a u p t der G o r g o versehene magische Waffe, die in der Ilias von Zeus an A p o l l o verliehen wird. 7 9 D e r ausführliche B e z u g auf H o m e r und die E r w ä h n u n g v o n Belegen aus späteren J a h r h u n derten macht J a h n s Verbundenheit mit den textkritischen Verfahren L a c h m a n n s deutlich: Ausgehend v o m Archetypus H o m e r s durchläuft die Ikonographie v o m Aigisträger A p o l l eine Filiation von U m d e u t u n g e n und Verunklarungen, deren letztes Glied das W e r k im Vatikan bildet. D i e ikonographische Erschließung des Sinns baut somit auf der R e k o n s t r u k tion eines komplexen historischen Prozesses auf; stilistische und philologische Kritik bilden zwei sich ergänzende methodische Module, die den Ursprungsgehalt des K u n s t w e r k s aufdecken. D a s K u n s t w e r k wird hier seiner modischen Einflüsse entkleidet, um
seinen
ursprünglichen, tradierten Sinn besser erkennbar zu machen (S. 281 f). D a m i t aber steht der Gehalt des K u n s t w e r k s in Divergenz zur stilistischen Gestaltung: D a sich J a h n s Interpretation verschiedener zeitlicher E b e n e n bedienen m u ß und einen Gegensatz von formaler A u s führung und Bedeutung hervorhebt, kann eine darstellerische Einheit, die nach einer idealistischen Auffassung den kunsthistorischen Stil als zeitliches Integral von F o r m und Inhalt versteht, nicht mehr aufrecht erhalten werden. E b e n dies wäre aber die zentrale Prämisse einer an spekulativem Systemdenken
orientierten
Kunstgeschichtsschreibung,
die mit
Hegel die zeitliche G e b u n d e n h e i t des Kunstwerks in Bezug zum Gehalt setzt: K u n s t ist demnach „weder dem Inhalte n o c h der F o r m nach die höchste und absolute Weise", sondern als äußerlich realisierte Idee an die Bewegung der Idee des A b s o l u t e n gebunden, d.h.: sie repräsentiert formal wie inhaltlich eine auf das Zeitliche beschränkte Totalität und steht diesbezüglich in fester Relation zur Geschichte. 8 0 M i t dem Zusammentreffen der beiden unterschiedlichen Bereiche der Philologie und genuin archäologischen Interessen wird die darstellerische Praxis in der F o r m des H a n d buchs problematisch. O f f e n k u n d i g divergent ist das Verhältnis zwischen überindividuell verfahrender Textkritik und präziser Werkanalyse, zwischen deduktiver Scheidung des quellenkritisch Wesentlichen v o m Unwesentlichen einerseits und der I n d u k t i o n des im W e r k manifestierten künstlerisch Individuellen andererseits. D i e K o n z e n t r a t i o n auf das E i n z e l w e r k bei gleichzeitiger Stärkung des kulturhistorisch Allgemeinen sprengt somit den darstellerischen N e x u s eines traditionellen H a n d b u c h - M u s t e r s auf. D i e stilgeschichtliche D e d u k t i o n tritt zugunsten der individuell fundierten Einzelanalyse zurück, da sich diese in vielen Fällen nur n o c h in D i f f e r e n z zur Stilentwicklung verhält. D i e empirische Erfassung des kunsthistorischen Gegenstands vollzieht sich daher nur n o c h in loser Verbindung zum normativ vorausgesetzten, aber depotenzierten Stilbegriff. Andererseits aber droht die w e r k b e z o g e n e Analyse in den kulturgeschichtlichen K o n t e x t aufzugehen. Das K u n s t w e r k definiert sich weniger über die kunsthistorisch immanenten F a k t o r e n des Stilwandels, sondern über den (v. a. textkritisch erschlossenen) K o n t e x t der allgemeinen Kulturgeschichte. M i t u n t e r entfaltet die Einzelstudie ein Eigenleben, das als A b w e i c h u n g von der stilgeschichtlichen N o r m erfahren wird. E s stellt sich letztendlich die Frage, welche Teile des G a n z e n überhaupt n o c h den allgemeinen Stilbegriff begründen. D a s darstellungspraktische Ergebnis ist eine in fragmentierten Einzelstudien gebrochene Totalität, die zwar auf stil79 Vgl. Ilms XV, 229 ff, XXIV, 20 f; Art. „Aigis", in: Der neue Pauly I, Sp. 324 f. 80 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 23; vgl. S. 151.
4. Die Reform.ieru.ng
der
Kunstgeschichtsschreibung
111
geschichtliche Tendenzen referiert, aber nicht mehr zu einer Darstellung im Sinne der einheitsstiftenden Ideenlehre kommen kann. Genau hierin springt das Bilder-Modell als formale Substitution der Überblicksdarstellung ein. Freytag hat dies im nachhinein durch die nicht mehr zeitgemäße spekulative Konstruktion von kulturhistorischen Abhandlungen gerechtfertigt: Alle culturgeschichtlichen Werke, welche die ungeheuere Masse des Stoffes in systematischer Eintheilung zu bewältigen versuchen, entgehen schwer dem Uebelstand langweilig zu werden, und gleichen in ihrer Schilderung alter Sitten, Gebräuche, Lebensgewohnheiten zuweilen großen Trödelläden mit alten Kleidern, zu denen die Menschen fehlen, die einst damit bekleidet waren. In den Bildern ist die entgegengesetzte Methode gewählt. Es sind, wo es immer möglich war, einzelne Menschen aus alter Zeit herauf geholt, welche sich selbst dem Leser werth zu machen suchen, und der Verfasser beschränkt sich darauf, bescheiden von der Seite auf ihre Tracht, ihr Gebahren und Wesen hin zu weisen. Vielleicht lernt der Leser auf diesem Wege am meisten von dem Charakter der alten Zeit kennen, obgleich nicht selten dem Zufall überlassen bleibt, was gerade aus der Fülle des Stoffes hervorgehoben wird. 81
Es ist mehr als billig, hierin eine hegelkritische Wendung gegen apriorisches Konstruieren von Epochen zu sehen. Die quellenkritisch fundierte Kulturgeschichtsschreibung führt auch bei Freytag zur Friktion mit „spekulativen" Epochenkonstrukten. Wenn Freytag die „entgegengesetzte Methode" der exemplarischen Behandlung empfiehlt, so reflektiert dies auch den textorganisatorischen Stand der Kulturgeschichtsschreibung überhaupt. Sie will nicht abstrahieren, sondern exemplarisch darstellen auf Basis der Quellen, wobei bereitwillig in Kauf genommen wird, daß „nicht selten dem Zufall überlassen bleibt, was gerade aus der Fülle des Stoffes hervorgehoben wird." Das Wissen, auf Zufallsprodukte angewiesen zu sein und deshalb auch willkürliche Fundstücke in das 5z7¿er-Konzept aufzunehmen, erzwingt die Integration von atypischen Elementen in ein differenzierendes Entwicklungsparadigma, welches die Ungleichheit des Gleichzeitigen zu seinem beherrschenden Spannungsfeld erhebt. Somit kalkuliert das Fortschrittsmodell der nationalen Kulturgeschichtsschreibung die Abweichung von der N o r m als zentrale Triebfeder der Entwicklung ein, die in dialektischen Polaritäten von an- und abschwellenden Kräften die Verwirklichung der Volksteleologie vollzieht. Ahnlich verhält es sich mit den populären Aufsätzen Jahns: Daß Idealität der ,,wesentliche[] Charakterzug der antiken Kunst" sei, möchte Jahn gerne zugeben, aber nur insofern, als selbst diese durch unterschiedliche kulturelle Faktoren relativiert wird: Die Setzung prototypischer Epochenmerkmale ergänzt sich durch konservative wie progressive Kräfte, die gleichzeitig auftreten können und somit keinem objektiven tertium comparationis unterliegen: „Bei einem Theil der Künstler wie des Publicums lebt die alte Anschauungsweise fort und wird wohl auch um so energischer festgehalten, je entschiedener sie der der Zeitströmung entgegen ist." 8 2 Die differenzierte Sicht auf die Epoche wirkt somit zerstörerisch auf die abstrahierte Epochenkonstruktion. Sie kann nur dadurch aufrecht erhalten werden, indem man sie als schwache Setzung toleriert und die Einzelstudien in paradigmatischer Reihung aufeinanderbezogen werden. 81 Frey tag: Erinnerungen aus meinem Leben, S. 277. 82 Jahn: „Die alte Kunst und die Mode", in: Aus der Alterthumswissenschaft, S. 161-179, S. 168).
S. 229 (= Gb 27/3 (1868),
112
II. Realistischer
Klassizismus.
Methodik
und Darstellung
4.3. Profil einer darstellerischen „Scheidemünze": Springers Bilder aus der neueren Kunstgeschichte
bei Anton
Springer
(1867)
Freytags wie Jahns Konzeption des kulturgeschichtlichen Bildes läßt sich nach drei Gesichtspunkten zusammenfassen: Erstens bedingt sie sich in wissenschaftsethischer Hinsicht durch den übergeordneten und politischen Anspruch, die populäre Vermittlung von Wissen als nationale Aufgabe zu betreiben und die neu entstandenen Einzelwissenschaften in ein einheitliches, sich gegenseitig ergänzendes Paradigma zu überführen. Zweitens durch ein gemeinsames Darstellungsmodell, das in Reflexion auf den nationaldidaktischen Impetus eine leichte Rezipierbarkeit von Sachtexten erwirken will und deshalb nach einer weitgehend einheitlichen formalen Rezeptur verfährt. Kulturgeschichtliches Bild und populärer Aufsatz gründen drittens auf der Basis einer epistemologischen Voraussetzung, die den neuen Bedingungen des Empirismus verpflichtet ist, die spekulativen Epochenkonstruktionen ad acta legt und das diffizile Wechselverhältnis von individuellem Einzelfall und kollektiver Identitätsbildung unter ein organologisches Entwicklungsmuster zu subsumieren sucht. Diese drei Kriterien lassen sich auf zwei Grenzboten-Beiträge Springers anwenden, die als Nucleus der späteren Bilder aus der neueren Kunstgeschichte anzusehen sind. Dabei ergeben sich Koinzidenzen mit dem biographisch-institutionellen Rahmen: Falls es einer personellen Vermittlung quellenkritischer Methodik bedürfte, so wird dies durch Springers engen Umgang mit Jahn, der seit 1854 an der Bonner Universität lehrte, unterstützt worden sein. 83 Nach dem Intermezzo einer projektierten „Kunststatistik" 8 4 Mitte der 50er Jahre wendet sich Springer gegen Ende des Jahrzehnts der quellenkritisch fundierten Einzelanalyse zu. Die daraus resultierende (vorläufige) Verabschiedung darstellerischer Universalkonzeptionen wie des Handbuchs (1855), der Kunsthistorischen Briefe (1852-57) und des Überblickswerks zur Gegenwartskunst (1856) korreliert zeitnah mit dem Eintritt in den Grenzboten-Kreis (ab 1857). Bereits zuvor ist das Interesse an einer populär ausgerichteten wissenschaftlichen Darstellung vorhanden, etwa dann, wenn sich Springer in den Kunsthistorischen Briefen auf Alexander von Humboldts Kosmos beruft. 85 Mit der Konzentration auf die empirische Einzelforschung wird jedoch das einheitliche Konzept einer kunstgeschichtlichen Weltbeschreibung, das die Kulturgeschichte als verlängerten Arm der Natur begreift, hinfällig. Dagegen bleibt der Anspruch, auf populäre Darstellungsmodelle zu rekurrieren, ein zentrales Anliegen Springers und fügt sich zwanglos in die GrenzbotenProgrammatik ein. Die quellenkritisch gestützte Analyse und ein einheitliches Darstellungskonzept bilden somit zusammen das entscheidende Merkmal der methodischen Neuorientierung seit 1857 und lassen sich nicht voneinander trennen.
83 Vgl. Springer: „Otto Jahn. Gedächtnißrede", in: Gb 28/4 (1869), S. 201-213; Bayer: „Anton Heinrich Springer", S. 149: Durch Umgang mit Jahn habe Springer seine Methode „wesentlich geläutert". Ferner: Waetzoldt: Deutsche Kunsthistoriker, II, S. 119 f. 84 Springer: Kunsthistorische Briefe, Vorwort, S. II. 85 Springer: Kunsthistorische Briefe, S. 8. Vgl. auch Waetzoldt: Deutsche Kunsthistoriker II, S. 112 f. Zu der topischen Berufung auf den Kosmos in der populären Wissenschaftsliteratur und seiner allgemeinen Einordnung in die Methodendiskussion vgl. Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert, S. 243-264.
4. Die Reformierung
der
Kunstgeschichtsschreibung
113
So ist es nur folgerichtig, wenn in den beiden Grenz boten-Heiträgen Der gothische Schneider von Bologna (1858) und Das Nachleben der Antike im Mittelalter (1862) wie bei Freytag und Jahn eine spekulative Totalitätsvorstellung von homogenen Epochen geradezu paradigmatisch destruiert wird: Einmal mit dem Schneider von Bologna, der als untypischer Repräsentant der italienischen Gotik zum Ende des 16. Jahrhunderts in seinem aussichtslosen Kampf eine beachtliche Zahl von Unterstützern findet und sich somit als reaktionäre und traditionalistische Kraft gegen die allgemeine kunstgeschichtliche Entwicklung stemmt.86 Zum anderen mit dem wissenschaftsgeschichtlich wegweisenden Aufsatz zur mittelalterlichen Rezeption der Antike, 87 der noch stärker mit den konventionellen Epocheneinteilungen bricht, indem er gegen die Vorstellung von einem dem Altertum entfremdeten und barbarischen Mittelalter polemisiert.88 Das übergeordnete Leitbild beider Artikel ist die kritische Überwindung spekulativer Gemeinplätze. Polar zur üblichen Sicht auf das Mittelalter und den Manierismus konzipiert, markieren sie den Abschluß einer Jahrzehnte andauernden fachinternen Diskussion, die seit Hegels Ästhetik eine immer stärkere Differenzierung kunsthistorischer Epochenmodelle anstrebte. In bewußter Gegnerschaft zu konventionellen Epocheneinteilungen stellen sie diese mit gezielten Normabweichungen in Frage. Damit zieht Springer mehr als zehn Jahre nach seiner Dissertation die Konsequenz aus den schon damals formulierten Einwänden gegen Hegel. Dort hatte er angemerkt, daß die Vorstellung von einer Manifestation des absoluten Weltgeists in der Form eines Durchlaufens verschiedener geschichtlicher Stadien der empirischen Bestandsaufnahme der historischen Realität nicht entspreche. „Der [...] Irrthum H E G E L S besteht [...] darin, dass ihm die Weltgeschichte eine einzelne Stufe des Geistes neben anderen bildet, statt dass dieselbe jeder Stufe organisch sich anschliesst und dieselbe durchdringt." 89 Dagegen beinhaltet jede Epoche in ihrer Summe Restbestände der Vergangenheit, so daß nie von einer homogenen Entwicklungsstufe gesprochen werden könne. Die beiden Grenzboten-Aufsätze belegen die
86 „Den Schneider allein hätte man ausgelacht und zum Schweigen gebracht, im Rücken gedeckt von der gesammten Einwohnerschaft Bolognas wurde er eine unabweisbare Autorität." Afnton] Spr[inger]: „Der gothische Schneider von Bologna", in: Gb 17/1 (1858), S. 129. Noch deutlicher in der Buchfassung: „Mit den gangbaren Ansichten von der Entwickelung der italienischen Kunst stimmt das freilich schlecht." BK, 148. 87 M. W. ist Springer tatsächlich der erste Kunsthistoriker, der so fundamental das Mittelalterbild kritisiert. Grundlegend dazu vgl. Pagliai: „Anton Springer e il problema della sopravvivenza dell'Antico nel Medioevo"; zur Rezeption durch Warburg vgl. Gombrich: Aby Warburg; S. 70; für die Revision des Mittelalters im 20. Jahrhundert vgl. Ferguson: The Renaissance in Historical Thought, S. 329-385. Im Ansatz formuliert auch Burckhardt Einwände, vgl. Kaegi: Jacob Burckhardt III, S. 589. 88 „Die Kunstthätigkeit der neueren Völker Europa's umfaßt nach der gewöhnlichen, längst im Bewußtsein der Gebildeten übergegangenen Annahme, zwei scharf von einander getrennte, ja einander geradezu entgegengesetzte Perioden." Wer sich dem Mittelalter jedoch unbefangen nähert, „erkennt vielleicht zu seiner größten Ueberraschung, daß die Antike niemals, am wenigsten in den angeblich schlimmsten Zeiten der mittelalterlichen Barbarei aufgehört hat, einen nachhaltigen Einfluß auf die künstlerische Phantasie zu üben." [Springer:] „Das Nachleben der Antike im Mittelalter", in: Gb 21/1 (1862), S. 489-499, S. 489 u. 490. 89 Springer: Die Hegel'sche
Geschichtsanschauung,
S. 16.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton
Springer
zuvor vollzogenene theoretische Abkehr vom linearen Entwicklungsverständnis auch in der kunstwissenschaftlichen Praxis. Beide Beiträge verfolgen somit die Widerlegung einheitlicher bzw. die Revision falscher' Epochenvorstellungen, indem sie den Gegensatz zwischen konkret-empirischem Befund und spekulativ-abstrakter Konstruktion dingfest machen. Entscheidend ist in beiden Fällen das Interesse an einem Rezeptionsphänomen (Antike im Mittelalter bzw. italienische Gotik um 1580). Auch dies geht konform mit dem Grenzboten-Programm, welches in der Rezeptionsforschung ein entscheidendes Movens für die Kulturgeschichtsschreibung sieht: Durch „Detailuntersuchungen" soll deutlich werden, wie „in den kleinen Kreisen menschlicher Thätigkeit [...] der Zusammenhang zwischen der antiken Welt und dem Mittelalter am sichtbarsten" wird; statt wie Gibbon von einer Barbarisierung Europas nach dem Zusammenbruch des Römerreichs zu sprechen, soll „die Auflösung der römischen Welt in [!] die deutsche" erzählt werden. 90 Wie Springer in dem fünf Jahre später erscheinenden „Nachleben"-Aufsatz und im Gegensatz zu Hegel versteht hier Freytag sein Fortschrittsmodell kumulativ-organisch. Kulturelle Reste der Vergangenheit werden als Triebkräfte des Fortschritts wirksam, indem sie vom Volksgeist in naiver und unbewußter Weise aufgegriffen und produktiv verarbeitet werden. So spricht er programmatisch von einem „unaufhörliche[n] Umbilden und Neuschaffen, [...] ein[em] geheimnißvolle[n] Zerfließen und Zusammenballen luftiger Phantasiegebilde" und von ,,viele[n] Processe[n] des Geistes und Gemüths, welche uns niemals ganz durchsichtig werden können." 9 1 Ebenso erzielt bei Springer die Aneignung fremder Einflüsse die „Wiederholungen und Nachahmungen" der Antike im Mittelalter, die „[fjreilich [...] auch als dunkle und unbewußte [sie!] Erinnerungen, auf irgend welchen weiten und verschlungenen Wegen übermittelt, angesehen werden" können. 92 Dieses Denkmuster von der gegenseitigen Durchdringung und Abstoßung einzelner Epochen verweist bereits auf den späteren kulturgeschichtlichen Ansatz Karl Lamprechts, dessen Initial-Ornamentik Springer 1883 wohlwollend rezensierte. 93 Die an Springers Grenzboten-Beiträgen ablesbare Abwendung von spekulativen Konstrukten ist auch darstellungstechnisch von Relevanz: Mit der Verlagerung von einem immanenten und diachronen Entwicklungsdenken auf die synchrone, kulturhistorische Synthese treten für Springer Divergenzen zutage, die sich der planen Konstruktionslogik 90 [Freytag:] „Ein Stück alte Leinwand", in: Gb 16/2 (1857), S. 386-390, S. 387 f und 386. 91 [Freytag:] „Neue Literatur der deutschen Alterthumswissenschaft", in: Gb 19/4 (1860), S. 66-76, S. 71. 92 [Springer:] „Das Nachleben der Antike im Mittelalter", S. 490 (nicht in der Buchfassung). 93 Springer: „Initial-Ornamentik des Vili, bis XIII. Jahrhunderts. [...] Von Dr. Karl Lamprecht [...]" [Rez.], in: Cöttingische gelehrte Anzeigen 145/2 (1883), S. 769-784, S. 771: „Auf einer großen Fläche des Bodens, auf welcher sich dieselbe entwickelt, lagen übereinander mehrere Volksschichten. Bleiben die einzelnen Schichten ohne Zusammenhang oder durchbrechen die unteren Schichten gleichsam mit ihren Spitzen die obere Decke und schieben sich zwischen den jüngeren Formationen ein? Continuität der Entwickelung oder wiederholte neue Ansätze der Bildung, das ist das Grundproblem, von dessen Lösung die richtige historische Schilderung der altgermanischen Kunstthätigkeit abhängt. [...] Wie weit gieng die Zerstörung, in welchem Verhältnis steht die dritte Stufe zur ersten? Ist sie mit derselben identisch oder birgt sie trotz der mannigfachen Verwandtschaft doch auch neue Elemente in sich?"
4. Die Reformierung
der
Kunstgeschichtsschreibung
115
der H a n d b ü c h e r nicht mehr unterordnen lassen. Wie bei Jahns populären Aufsätzen tritt an die Stelle einer kohärenten Darstellung, die die zeitliche E n t w i c k l u n g in ihrer Totalität erfaßt und nach dem Muster linearer Abfolgen strukturiert, eine methodische Komplexitätsverdichtung, welche durch die Betonung des faktischen Zufallsbefunds eine abstrahierte zeitliche O r d n u n g s s t r u k t u r aus den Fugen geraten läßt. U m eine Fragmentierung epochenhomogener Totalitätsvorstellungen in empirische Detailstudien, die z w a r aufklärerisch für eine differenzierte Sicht auf die Dinge werben, aber den Leser am Ende in heilloser Desorientierung zurücklassen, ist es Springer dennoch nicht zu tun. A u s den beiden Aufsätzen entsteht letztendlich der Wunsch nach einer neuen Kohärenzbildung: „Eine umfassende Arbeit über die neuere Kunst, etwa in der Art, daß ein Uberblick über die mittelalterliche Kunst als Einleitung gegeben wird, die Zeit seit dem 15.Jahrh. eingehend behandelt, [ . . . ] gehört seit Jahren zu meinen Lieblingsplänen." 94 Daß Springer offenbar schon 1862 in dem Mittelalter-Aufsatz über ein Buchkonzept nachdenkt, bei dem die mediävistische Antikenrezeption als organischer A u s g a n g p u n k t für die Renaissance betrachtet wird, macht dort die einleitende Bemerkung deutlich, die „Verwandtniß [ . . . ] der A l t e r t h u m s k u n d e " mit dem Renaissancekünstler „vorläufig [!] auf sich beruhen" lassen zu wollen. 9 5 Das Ergebnis dieses Lieblingsprojekts ist die methodische und darstellerische „Scheidemünze" ( A m L , 268) der Bilder aus der neueren Kunstgeschichte. Will man das Aperçu eines Rezensenten ernstnehmen, nach dem sich die Bilder Freytags und Springers nicht allein im Titel, sondern „in der That [ . . . ] an Gehalt, Form und Richtung vergleichen" lassen, 96 so richtet sich das A u g e n m e r k auf Analogien in der Gesamtkonzeption. Gustav Freytag hat seine Bilder aus der deutschen Vergangenheit nach einem klaren formalen Konzept strukturiert. Das Problem, eine Kultur- und Alltagsgeschichte „aus dem Leben der Kleinen" 9 7 trotz empirischer Quellenbezogenheit in eine zusammenhängende Verlaufsform einzufügen u n d so einen reinen Aggregatscharakter von Detailstudien zu vermeiden, löst Freytag in der Buchfassung mit einem zyklischen Modell, das die ursprünglichen Einzelbilder aus den Grenzboten nach einem Prinzip von „ A u f s c h w u n g " und „Abspannung" 98 anordnet. Schon in der Ausgabe von 1859 zentriert er die Einzelstudien des ersten Bandes u m das biographische „Bild" zu Martin Luther; 9 9 in den späteren Fassungen baut er dieses Verfahren konsequent aus, indem in den neu h i n z u g e k o m m e n e n Bänden z u m Mittelalter u n d der A u f k l ä r u n g die Abschnitte zu Karl dem Großen und Friedrich II. dieselbe strukturbildende Funktion erhalten. 1 0 0 Die Kulturgeschichte des deutschen Volks 94 Springer an Hermann (?) Härtel, Berlin, 7. Februar o.J. (1863 oder 1864), StB Berlin, Sammlung Härtel. 95 [Springer:] „Das Nachleben der Antike im Mittelalter", in: Gb 21/1 (1862), S. 489. 96 [Anonym:] o. T., Rez. zu Springer: Bilder aus der neueren Kunstgeschichte, in: Preußische Jahrbücher 21 (1868), S. 6 0 7 - 6 1 0 , S. 607. 97 Freytag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit II (1859), S. 401. 98 Freytag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit I (1859), S. 350. 99 „Doctor Luther", sechstes von zwölf Bildern in Band 1 der EA, der das 15. und 16. Jahrhundert behandelt, in: Freytag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit I (1859), S. 1 1 9 - 1 7 0 . 100 „Karl der Große", sechstes von elf Bildern. Freytag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit, 5. Aufl. (1867) I, S. 3 1 6 - 3 5 1 . „Aus dem Staat Friedrich des Großen", fünftes von zehn Bildern, ebd., IV, S. 221-280.
116
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
entzieht sich daher einer linear-aufsteigenden Teleologie, sie verläuft vielmehr in an- und abschwellenden Kräften, die jeweils in einer Zentralgestalt kulminieren. Freytags Strukturprinzip zyklischer Kulturperioden richtet sich folglich nach dem wiederkehrenden Muster einer Pyramide, an deren Spitze zwar die große Persönlichkeit als Vollstrecker des Volksgeistes steht, doch nicht den Anspruch erheben kann, mit ihrer alleinigen Leistung „Geschichte gemacht" zu haben.101 Karl der Große, Luther und Friedrich II. sind keine Geschäftsführer des Weltgeists (Hegel), sondern transitorische Ubergangsgestalten, in denen sich über lange Zeiträume wirksame Kräfte der deutschen Sozial- und Mentalitätsgeschichte personell manifestieren, aber auch zugleich ihren Umschlagpunkt erreichen. Dies macht sich besonders dadurch bemerkbar, daß die Lebensabschnitte nach drei Phasen gegliedert werden, von denen der jeweils letzte Teil in Resignation umschlägt.102 Die Konsequenz von Freytags Verfahren ist freilich, daß sein ursprüngliches Konzept der reinen Alltags- und Mentalitätsgeschichte unvermeidlich an bestimmten Stellen auf die Ereignisgeschichte umspringt. Im Endeffekt gewährleistet es jedoch die Möglichkeit, die paradigmatischen Einzelelemente zu einem syntagmatischen Ganzen zu strukturieren und nach Höhepunkten zu akzentuieren. Jenes pyramidale Schema findet sich auch in der Erstausgabe von Springers Bildern, wenn man die ersten fünf Abhandlungen in ihrem Zusammenhang betrachtet: Das Nachleben der Antike im Mittelalter Die Anfänge der Renaissance in Italien Leon Battista Alberti Rafael's Disputa und Schule von Athen Der gothische Schneider von Bologna
(S. 1-28), (S. 29-68), (S. 69-102), (S. 103-146), (S. 147-170).
Inhaltlich fällt auf, daß der Aufsatz zu Alberti die einzige biographische Abhandlung in der Folge ist, sowie, daß die beiden äußeren Enden schon in ihrem Titel auf einen rezeptionsgeschichtlichen Ansatz verweisen. Sieht man von dem stark erweiterten Aufsatz zu Raffael ab, so sind die beiden (überarbeiteten) Beiträge aus den Grenzboten die einzigen Abhandlungen, die schon zuvor publiziert wurden. Als Eckpunkte der Reihe übernehmen sie hier eine für die Geschichte der Renaissance aufbauende bzw. absteigende Funktion; sie konstruieren den sanften Anfang und das abrupte Ende einer Periode der Altertumsrezeption. Den Mittelpunkt der Reihung bildet Alberti: Um ihn gruppieren sich die vier Aufsätze konzentrisch, indem sein Lebenslauf ein „anschauliches Bild [sie!] von dem engen Zusammenhange zwischen dem Humanismus und der Renaissance" vermittelt und dadurch zeigen kann, „wie die allgemeine Culturströmung auf die besondere Kunstrichtung einwirkt".
101 Zur Abgrenzung zwischen Treitschkes Diktum von den großen Männern, die Geschichte machen, und Freytags anthropologischem Entwurf am Beispiel der Bismarck-Rezeption vgl. Bußmann: Treitschke, S. 422-442. 102 Vgl. zu Luther: Freytag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit I (1859), S. 120 f; zu Karl dem Großen: 5. Aufl., I (1867), S. 348 f; zu Friedrich II.: Ebd., IV, S. 379. Für Freytags Konzept ist daher bestimmend, daß die große Einzelpersönlichkeit früher oder später notwendig in einen tragischen Konflikt mit den kollektiven Kräften gerät, da die Naturgesetze des Volksganzen im Gegensatz zum starken Einzelindividuum stehen.
4. Die Reformierung
der
Kunstgeschichtsschreibung
117
(BK, 71) Alberti bildet somit das transitorische Moment zwischen der ideengeschichtlich ausgerichteten Abhandlung über die Anfänge der italienischen Renaissance und ihrer späteren künstlerischen Umsetzung in Raffaels Fresken. 103 Wie Freytags Luther repräsentiert das Universalgenie Alberti das Ergebnis eines aufbauenden Entwicklungsprozesses, weshalb sich in seiner Biographie das ,,wahre[] Musterporträt eines Renaissancekünstlers, in welchem Phantasie, Verstand und Willen sich gegenseitig stützen und tragen[,]" enthüllt. 104
4.4. Arbeit und Tendenz bei Freytag, Jahn und Springer Die strukturelle Analogie zwischen den Werken Freytags und Springers zeigt die Reaktion auf ein darstellerisches Vakuum, welches der Empirisierungsschub ab Mitte der 50er Jahre verursacht. Das Problem, zwischen Tatsachenempirismus und literarischer Gesamtform zu vermitteln, wird hierbei durch die konstruktive Anordnung der Einzelstudien gelöst. Gestalterisch ersetzt dieses Muster das idealistische Kohärenzmodell der Ideenlehre. Integrierend ist hier nicht mehr, wie es Wilhelm von Humboldt formulierte, das Aufzeigen der „Summe des Daseyns" durch Ideen, 105 also der darstellerische Anspruch auf die Unterordnung des Besonderen unter eine sich im geschichtlichen Verlauf offenbarende allgemeine Totalität, sondern die tektonische Konfiguration von relativ disparaten Einzelstudien, die über keine ideelle Stringenz mehr verfügen. Mit dieser formalen Lösung ist jedoch die Frage nach einer epistemologischen Gemeinsamkeit der ß/Wer-Modelle noch nicht beantwortet. Die Allusion an den Buchtitel Freytags und das damit verbundene Grenzboten-Programm signalisiert vielmehr die Verpflichtung auf ein gemeinsames Wissenschaftsparadigma, das der von Freytag etablierten Kulturgeschichtsschreibung inhärent ist: Zentral für dieses Verständnis ist ein Arbeitsbegriff, 106 welcher eine integrierende Funktion zwischen dem Einzelnen und seinem kulturellen Kontext übernimmt. Als organisierendes Regulativ vermittelt er zwischen Individuum und Volksleben, indem durch ihn das kulturgeschichtliche Konzept des Wandels in der Kontinuität zu einem organischen Wechselverhältnis verschmolzen wird. Die Kategorie der Arbeit ist für Freytag der zentrale Motor für die nationale Identitätsstiftung, wobei der Beitrag des Einzelnen in einem steten Wechselbezug zum Volkskollektiv und dem daraus erwachsenden Kulturstaat zu sehen ist. Die Freiheit des Individuums gründet sich damit primär auf Unterordnung und ist in ihrer höchstmöglichen Verwirklichung synonym mit der nationalen Identität zu verstehen: „Der Mann und das Volk! In dem unaufhörlichen Einwirken des Einzelnen auf das Volk und des Volkes auf den Einzelnen läuft das Leben einer Nation. Je kräftiger, vielseitiger und eigenartiger die Indivi103 Zu dem geschichtsphilosophischen Moment in Springers Analyse der Stanza della Segnatura, der das Absterben des humanistischen Gehalts für die künstlerische Emanzipation notwendig macht (und somit nicht identisch mit ideengeschichtlichen Höhepunkten ist), vgl. die Ausführungen im Abschnitt 3.2. 104 BK, 71. Vgl. hierzu Freytag über Luther: ,,[D]ie Lebenskraft von Millionen erscheint zusammengefaßt in einem Mann." Freytag: Bilder I (1859), S. 121. 105 Humboldt: „Ueber die Aufgabe des Geschichtschreibers", S. 37. 106 Zur Orientierung vgl. Werner Conze: Art. „Arbeit", in: Geschichtliche Grundbegriffe I, S. 154— 215, ibs. S. 186 ff.
118
II. Realistischer Klassizismus. Methodik
und Darstellung bei Anton
Springer
duen ihre Menschenkraft entwickeln, desto mehr vermögen sie zum Besten des Ganzen abzugeben, und je mächtiger der Einfluß ist, welchen das Leben des Volkes auf die Individuen ausübt, desto sicherer wird die Grundlage für die freie Bildung des Mannes." 107 Es ist bezeichnend, daß dasselbe zirkuläre Argumentationsmuster von der gegenseitigen Potenzierung der allgemeinen und individuellen Kräfte bei Springer auftaucht. Die Autonomie des Künstlers wird zwar grundsätzlich bejaht, wenn es heißt, „daß er den rechten Weg schon finden wird", sie wird aber sogleich mit einem restriktiven Konditional einschränkt: Der Künstler ist nämlich erst dann auf dem rechten Weg, „wenn [!] ihn die Volksbildung, die ihn mitträgt, auf die er sich stets zurückbezieht, nicht daran hindert." (BK, 376 f) Einen geradezu klassischen Betriebsunfall in der symbiotischen Verbindung von Künstler und Volk stellt der gotische Schneider dar: Wenn die Abhandlung mit dem Aufruf endet, der Schneider solle bei seiner Elle bleiben, dann drückt sich darin in nuce das nationalliberale Konzept eines organologischen Gesellschaftsbildes aus, nach dem jedes Teilglied eines Volkes der ihm zugewiesenen sozialen Aufgabe nachzukommen hat. Nicht genieästhetische Grenzüberschreitung, sondern strikte soziale Abzirkelung korrespondiert mit wahrhaftem Schöpfertum und bildet die Grundlage blühender Kulturperioden. Als ob das nicht deutlich genug wäre, bekräftigt der nachfolgende Schlußsatz nochmals die Einheit von sozialer Ordnung und schöpferischer Produktivität: „Die Kirche S. Petronio harrt aber bis zu dieser Stunde der Vollendung." (BK, 168) Der Fehltritt des Schneiders, seine stümperhaften Ausführungen zur Gotik und die dadurch ausgelöste Massenbewegung repräsentieren damit das Ausscheren aus einer gesellschaftlichen Handlungsnorm und haben weitreichende Konsequenzen: Die Mißachtung der ihm durch sein Schneiderhandwerk auferlegten sozialen Funktion führt zu lähmender Tatenlosigkeit und gesellschaftlicher Unproduktivität. Der Arbeitsbegriff als ethische Kategorie der individuellen wie nationalen Identitätsstiftung wird hier zum zentralen Wertungsmaßstab von vitalen wie ästhetischen Interessen, indem geglückte Produktivität ohne einen Bezug zum sozialen Zusammenhang nicht mehr denkbar ist: Kulturelle Einzelleistungen stehen in enger Verbindung zur Nation, da immer die „letzte Bedingung aller andern Tüchtigkeit [...] die politische Bildung des Einzelnen und des Volkes durch den Staat" bildet.108 Dadurch besteht die Tendenz, daß über den leistungsethisch konditionierten Kulturbegriff die Einzelkünste zugunsten eines übergreifenden Kulturorganismus nivelliert werden. Wenn es nach Freytag die „Aufgabe der Wissenschaft [ist], das schaffende Leben der Nationen zu erforschen", 109 so definieren Springer und Jahn folgerichtig die künstlerische Schaffenskraft auch aus der Fähigkeit zur gesellschaftlichen Subordination. Der künstlerische Geniegedanke tritt zugunsten des großen einen Ganzen zurück, welches im Volksleben sein neues Fundament findet. Bei Jahn ist der „Künstler unauflöslich mit seiner Zeit und seinem Volk vereinigt, [...] die künstlerische Anschauung steht unter dem Einfluß der gesammten geistigen Atmosphäre." 110 Noch deutlicher sind die emphatischen Hinweise Springers in 107 Freytag: Bilder aus der deutschen
Vergangenheit,
5. Aufl. (1867), IV, S. 1.
108 Ebd. 109 Freytag: Bilder aus der deutschen
Vergangenheit
II (1859), S. 405.
110 Jahn: „Die alte Kunst und die Mode", in: Aus der Alterthumswissenschaft, (1868), S. 1 6 1 - 1 7 9 , S. 162).
S. 222 (= Gb 2 7 / 3
4. Die Reformierung
der
Kunstgeschichtsschreibung
den Bildern aus der neueren
Kunstgeschichte:
119
Das gesamte Buch ist getragen von dem Ver-
trauen auf einen kunstgeschichtlichen Fortschritt auf der Grundlage des Volks, das „gleichsam als Mitschöpfer" und „im großen nationalen Organismus" ( B K , 374, 377) tätig wird. Die Entwicklungsfähigkeit der Kunst bedingt sich demnach durch eine „glückliche Wechselwirkung" zwischen Künstler und Volk ( B K , 361). Raffael, Dürer, Rembrandt und L u d wig Richter spiegeln in ihren Werken die jeweils vollzogene nationale Sinnstiftung in geläuterter F o r m wider, so daß die bildende Kunst als „die wichtigste Offenbarung des Volksgeistes" und als ,,verklärte[s] Spiegelbild" der Nation apostrophiert werden kann ( B K , 362, 359). Die Widerspiegelung des Volksgeistes durch den Künstler und dessen soziale Einordnung innerhalb des nationalen Zusammenhangs erfordern zugleich die Neudefinition seines Aufgabenbereichs. Von Signifikanz ist, daß Jahn und Springer offenbar eine Stelle aus Schillers letztem Kallias-Briei
aufgreifen, in der vor dem Verstoß gegen die harmonische Einheit
von künstlerischem Subjekt, nachzuahmender Natur und darzustellendem Stoff gewarnt wird, 1 1 1 diese aber zugunsten der realistischen Forderung nach einer Zurücknahme des Übersteigert-Individuellen
modifizieren. H o m o l o g im Argumentationsmuster
grenzen
Jahn und Springer zunächst das Kunstschaffen von einem einseitigen und lebensfremden Idealismus ab und differenzieren sodann ihre Vorstellung vom geglückten Schaffensprozeß aus: Aus dem Nichts, ganz bedingungslos frei zu schaffen ist dem Menschen nicht beschieden. Der schaffende Künstler ist gebunden an die Gesetze der menschlichen Natur, vermöge welcher er schafft, an die Gesetze der ihn umgebenden Natur, welcher er nachschafft, an die Gesetze des Stoffes, in welchem er schaffend bildet. Diese Gesetze aber, so mannichfaltig und verschiedenartig die Erscheinungen sind, in welchen sie sich offenbaren, sind ihrem Wesen nach dieselben, und das Schaffen des Künstlers beruht darauf, daß er sie als identische gemeinsam in Wirksamkeit setze. Wenn eins derselben verletzt wird oder einseitig vorwiegt, entsteht eine Störung im Proceß des künstlerischen Schaffens, welche ein vollendetes Kunstwerk nicht zu Stande kommen läßt. 112 Wenn Springer diese Passage in seinem Nachruf auf Jahn zustimmend zitiert," 3 mutet dies fast als Eigenlob an, da sie mit den programmatischen Schlußsätzen in den Bildern neueren
Kunstgeschichte
aus der
weitgehend übereinstimmt:
Der Wahn muß schwinden, als ob es eine absolute Kunst gebe, die durch keine Schranken und Gesetze gebunden ist, die Willkür des Einzelnen allein zur Richtschnur nimmt, die Wahrheit muß wieder lebendig werden, daß zwischen dem technischen Materiale, dem Ideenkreise und dem Formengerüste ein festes Band, ein inniges Wechselverhältniß bestehe, das nicht ungestraft umgangen werden kann. BK, 377 1 1 4
111 Schiller: Kallias, 28. Februar 1793, in: Sämtliche Werke V, S. 428 f. 112 Jahn: „Die alte Kunst und die Mode", in: Aus der Alterthumswissenschaft, S. 223 (= Gb 27/3 (1868), S. 162). 113 „Aus diesen und ähnlichen Worten spricht nicht die bloße Gelehrsamkeit, sondern die reiffste Wissenschaft." Springer: „Otto Jahn. Gedächtnißrede, gehalten im archäologischen Auditorium der Bonner Universität am 25. October 1869", in: Gb 28/4 (1869), S. 201-213, S. 209 f. 114 Vgl. fast wortwörtlich Springer: „Die deutsche allgemeine Kunstausstellung in München", in: Gb 17/4(1858), S. 141-153, S. 152.
120
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
Den Hinweis auf einen harmonischen Ausgleich der Trias von Inhalt, Form und Material verbinden beide mit der Warnung vor der Betonung der Extreme, die einer Grenzverletzung gleichkommen, da sie dem immanenten Charakter der Kunst zuwiderlaufen. In beiden Fällen wird diese Regelwidrigkeit mit der „Willkür des Einzelnen" bzw. der Naturüberschreitung identifiziert. Genauer: In der Vorstellung von der gestörten Harmonie des Schaffensprozesses manifestiert sich das realistische Feindbild des reflektierenden Künstlers, der seine Inhalte selbst erschafft und sich deshalb nicht in die ästhetische Begründung des Volks eingliedert. Für dieses mißglückte Modell des Künstlertums, das den Künstler als Außenseiter der Gesellschaft stigmatisiert, liefern Springers Bilder Belege genug: Die Tragik eines Asmus Jacob Carstens besteht bezeichnenderweise nicht in der fehlenden Anerkennung durch das Publikum, sondern in der fast selbstverschuldeten Entfremdung vom Volk; in der Unfähigkeit oder in den ungünstigen Bedingungen, trotz hoher Begabung keine Stoffe entwerfen zu können, die im Volksleben verankert sind (BK, 359). So ist es im Gegenzug für den Renaissancekünstler ein „hohes Glück" (BK, 55), im Volkshumanismus einen Zulieferer von Sujets zu finden, welcher ihn von der Last eigenständigen Denkens befreit. Für Springer läuft dies, - wie schon in der Analyse seiner Deutungen der Schule von Athen gezeigt - auf ein arbeitsteiliges Verhältnis zwischen Künstler und Volk hinaus. Das Bilder-Konzept Springers resultiert folglich aus der ideengeschichtlichen Aufwertung des künstlerischen Schaffensprozesses und der damit verbundenen Begründung des Ästhetischen im Volk (siehe Abschnitte 2.3. und 3.2.). Gegenüber den kunsttheoretischen und philosophiegeschichtlichen Kontexten des Idealrealismus enthält es jedoch einen entscheidenden Funktionszuwachs, welcher vor allem über die formale Konzeption des Werks transportiert wird. Veränderte sich durch die realistisch-sensualistische Produktionsästhetik die Vorstellung vom schaffenden Künstler insofern radikal, als der idealistische Kunstbegriff entmystifiziert bzw. depotenziert wurde, kommt der Schaffenskraft nun selbst eine neue sakrale Größe zu, die sich fest über nationalliberales Gedankengut profilieren läßt. Der Ausgangspunkt von Freytags Bilder-Konzept erklärt sich aus dem Konnex von wissenschaftlicher Tätigkeit und der Sakralisierung ihres Gegenstandes: Die Forderung an die Wissenschaft, „das schaffende Leben der Nationen zu erforschen", verknüpft Freytag zugleich mit dem Hinweis, dabei „das Göttliche in der Geschichte" zu suchen115 - das arbeitsbasierte Kulturverständnis wird somit durch einen metaphysisch aufgeladenen Volksbegriff legitimiert. Analog zu der allgemeinen Stoßrichtung von Freytags Sammelwerk verhält sich das konzeptionelle Verständnis der kunsthistorischen Bilder. Sind der Künstler und sein Werk naturwüchsig mit dem Volk verbunden und der Funktion nach ein Medium der Nation, dann mißt ihnen Springer einen sittlichen Wert bei, welcher das genuin ästhetische Terrain verläßt und die künstlerische Aktivität primär sozialanthropologisch definiert: Der auf seinen genuinen Tätigkeitsbereich beschränkte Künstler wird zum Teilglied eines gesamtgesellschaftlichen Organismus - so wie jedes andere arbeitende Individuum auch. Damit integriert, wie Wolfgang Hardtwig grundlegend für das nationalliberale Denken in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts formuliert hat, die Kategorie der Arbeit „alle Aktivitäten in einen umfassenden Handlungszusammenhang, in dem jeweils die eine
115 Freytag: Bilder aus der deutschen
Vergangenheit
II (1859), S. 405 bzw. 5. Aufl. (1867), I, S. 26.
4. Die Reformierung
der
Kunstgeschichtsschreibung
121
nur durch die andere möglich sein" soll. Durch ihre „quasi-sakrale Weihung" macht die Arbeit „den Menschen zum selbstmächtigen Schöpfer seiner Welt." 116 Mit der Arbeit als Kern der nationalen Identität vermitteln die Bilder-Konzepte ihre zentrale Botschaft. Springers Aufsatzsammlung wird zu einer didaktischen Anweisung „an das Volk, die sogenannten Gebildeten, welche von der Kunst bald unmögliche, bald unwürdige Dienste verlangen." (BK, VI)117 Und sie endet mit dem Hinweis, daß es Aufgabe des Volkes ist, dem kommenden Künstler den Weg zu ebnen: Diese Aufgabe besteht im „Vertrauen zum Leben, Glauben an die Zukunft", sowie in der „Läuterung der volksthümlichen ästhetischen Begriffe" (BK, 377). Wie im gesamten borussianischen Geschichtsverständnis und im besonderen in Freytags Bildern verfolgt damit Springers Aufsatzsammlung die Strategie, über die indirekte Einflußnahme auf das Volk die realpolitische resp. kunstgeschichtliche Rahmenkonstellation zu verändern. Angesprochen sind eben nicht die individuellen Leistungen des Politikers bzw. Künstlers, jene „Resultate einzelner Männer", sondern die kollektiv erarbeiteten ,,organische[n] Schöpfungen eines höhern Lebens, welches zu jeder Zeit nur durch das Individuum zur Erscheinung kommt und zu jeder Zeit den geistigen Gehalt der Individuen in sich zu einem mächtigen Ganzen zusammenfaßt." 118 Appellativ wenden sich deshalb die Bilder aus der neueren Kunstgeschichte als Hausbuch an das deutsche Volk. Und ähnlich wie Freytags Bilder aus der deutschen Vergangenheit erhalten sie vor dem Hintergrund der Reichsgründungsphase einen dezidierten Aktualitätsbezug: Wenn Freytag seinem volkserzieherischen Drang dadurch nachkommt, daß die exemplarischen Fälle einen Verweisungscharakter auf „die Bewegung und allmähliche Umwandlung einer höheren geistigen Einheit" erhalten und die daraus entstehende „Empfindung [...] uns muthig und arbeitsam" machen soll,119 findet sich bei Springer analog zu diesem pädagogischen Darstellungsprogramm eine Konzeption, mittels der Kulturgeschichte einen adhortativen Effekt zu erzielen. Ein Jahr nach dem Sieg von Königgrätz (1866) wird es für den neugeborenen Preußen Springer zu einer Herzensangelegenheit, die nationale Mission der Wissenschaften mit dem historiographischen Verfahren zu verbinden. Die Bilder aus der neueren Kunstgeschichte werden zu exemplarischen Handlungsanweisungen, die der ästhetischen Volksbildung dienen und dadurch indirekt den Prozeß der nationalstaatlichen Einigung unter der Führung Preußens beschleunigen sollen. Kunstwissenschaftiche Publikationspraxis begreift sich hier als Arbeit am und für das Volk: Während Springer die „thörichte[] Anmaßung, den Künstlern Wegweiser und Richtschnur zu sein," (BK, VI) zurückweist, steht dem - wie in der Kulturgeschichtsschreibung Freytags - umso mehr die Hoffnung auf
116 Hardtwig: „Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt", S. 296, 294, 295. 1 1 7 Die Gleichsetzung von Bildungsbürgertum und Volk bzw. die Vollendung der Volksteleologie im Bildungsbürgertum ist bei den programmatischen Realisten Konsens: Vgl. Freytag: Bilder, 5. Aufl. (1867), VI, 489: „Wir aber haben das Recht zu hoffen, denn wir leben mitten in mannhafter Arbeit, den alten Gegensatz zwischen Volk und Gebildeten aufzuheben"; weiter unten, S. 491 f: „Denn in dem deutschen Bürgerthum liegt die edelste Kraft, die Führerschaft auf dem Gebiet idealer und praktischer Interessen." 118 Freytag: Bilder aus der deutschen 119 Ebd., S. 402 u. 401.
Vergangenheit
II (1859), S. 403.
122
II. Realistischer Klassizismus. Methodik
und Darstellung
bei Anton
Springer
eine indirekte Beeinflussung gegenüber, mit der ein gesamtgesellschaftlicher Bildungsprozeß in Bewegung gesetzt und ein Humus für die kommende Kunst im nationalstaatlichen Rahmen bereitet werden kann: „Den großen Kunstgenius können wir nicht wecken, wir müssen harren, bis er kommt, wohl aber ziemt es uns, seine Wege zu bahnen, seine Wirksamkeit vorzubereiten." (BK, 377) Neben zahlreichen expliziten Gegenwartsbezügen in den Einzelaufsätzen läßt sich die Indienstnahme für nationale Zwecke auch an der Gesamtstruktur des Sammelbandes ablesen. Der entscheidende übergeordnete Punkt ist nach Freytag die Erzeugung einer ,,bestimmte[n] Tendenz", die über das Anordnungsmuster erkennbar wird. Es gilt dabei, die Aufsätze „nicht [...] zufällig aneinander" zu reihen,120 sondern in ein Bezugssystem zu setzen, in welchem die Einzelglieder im syntagmatischen Zusammenspiel einen gegenwartsund handlungsbezogenen Sinn generieren. Im diametralen Gegensatz zu einem „wie es eigentlich gewesen" (Ranke) legitimiert Freytag dieses Reihungsverfahren durch das „Recht der Lebenden", die Geschichte nach den Bedürfnissen der Gegenwart zu deuten und in ihr einen „Verlauf zu [...] erkennen, der unserer Vernunft und der Sehnsucht unseres Herzens entspricht". 121 Die intuitive und auf Gegenwartsinteressen gerichtete Kategorie der .Tendenz' („Vernunft", „Sehnsucht unseres Herzens") ist eng auf den wissenschaftlich objektivierenden Entwicklungsgedanken („Verlauf") bezogen. Die .Tendenz' überträgt das Vergangene auf die Gegenwart und erhebt es zur exemplarischen Handlungsnorm; sie konstruiert mittels der Reihung episodischer Einzelglieder ein Entwicklungsmuster, das als unabgeschlossen gilt und das nationale Ziel antizipiert. Damit steht die (Kunst)Geschichte im Sold der Gegenwart. Nach der Devise, daß es „Recht und Pflicht" von „jede[r] Zeit" ist, „die Geschichte vergangener Perioden neu zu schreiben nach ihrem Bedürfniß", 122 kann sie sich nach der Aufgabe des Totalitätsanspruchs und der daraus resultierenden Unverbindlichkeit eine Auswahl der behandelten Themen leisten und unliebsame Gegenbeispiele bewußt ausblenden. Bei Springer läßt sich dieses Verfahren anhand der polaren Konzeption zwischen Antike und Gotik verdeutlichen, wobei letzterer eine denkbar schlechte Position zukommt: Dies zeigt sich schon daran, daß weder ein so bedeutendes entwicklungsgeschichtliches Moment wie der Übergang von der romanischen zur gotischen Baukunst thematisiert wird, noch daß überhaupt die gotische Architektur als ein Paradigma für die nationale Identitätsstiftung in Erwägung gezogen wird. Es wäre zudem ein leichtes gewesen, die Studie zur Pariser Kunst des 13. Jahrhunderts in überarbeiteter Form in die Aufsatzsammlung aufzunehmen.123 Solche Auslassungen zeigen, wie die .Tendenz' als selektives Verfahren das inhaltliche Programm des Buches sanktioniert: In den gesamten Bildern gilt die Gotik ausschließlich als Exempel für einen falsch verstandenen Laiengeschmack, welcher in formalästhetischer Kompetenzüberschreitung die Kunst in ein rationalistisches Korsett zwängt und auf den Gesamtprozeß innovationshemmend einwirkt (vgl. BK,
120 2 [= Freytag]: „Ein neues Buch von O t t o Jahn", in: Gb 2 7 / 4 (1868), S. 2 4 1 - 2 4 4 , S. 241. 121 Freytag: Bilder aus der deutschen
Vergangenheit,
5. Aufl. (1867), VI, S. 492 f.
122 Ebd., S. 493. 123 Zum Zusammenhang von bürgerlicher „Kommunalbewegung" und Kathedralgotik vgl. Springer: Paris im dreizehnten
Jahrhunderte,
S. 8 9 - 9 1 .
4. Die Reformierung
der
Kunstgeschichtsschreibung
123
164). 1 2 4 D i e polemischen Spitzen gegen die G o t i k als modische und nostalgische Erscheinungsform des 19. Jahrhunderts kulminieren schließlich im letzten Aufsatz zur G e g e n wartskunst, in dem nochmals auf den Schneider von B o l o g n a angespielt wird: „Stil und M o d e , Architekten und Schneider, welche letztere allerdings nach Willkür und Belieben neue F o r m e n erfinden k ö n n e n , m u ß man eben auseinander halten." ( B K , 3 5 1 ) 1 2 5 In diesem Sinne ist die Abhandlung z u m gotischen Schneider mehr als nur ein humoristisches Kabinettstück: W i e die abgeänderte Einleitung zeigt (vgl. B K , 147), hat Springer die antiösterreichische Agitation von 1858 durch einen neuen Aktualitätsbezug ersetzt, der auf die ästhetische Neubegründung des deutschen Nationalstils abzielt: E r erhebt den mahnenden Zeigefinger gegen die modische Willkür, welche nicht besser als von einem Schneidermeister repräsentiert werden könnte. G a n z anders beim Aufsatz z u m N a c h l e b e n der Antike im Mittelalter: D e r Aneignungsp r o z e ß antiker F o r m e n wird z u m entwicklungsgeschichtlichen Inzitament, das über das Mittelalter hinausweist: D e n n der Verlust typisch mittelalterlicher F o r m e n ist der eigentliche (kollektive) Mehrgewinn: ,,[W]as der Künstler verliert, gewinnt die volksthümliche Kunstbildung." ( B K , 21) D i e Antike nachzuahmen heißt hier, ihren F o r m e n k a n o n subsidiarisch für die eigene Autonomiewerdung einzusetzen, welche sich aus der Parallelität von formaler Unabhängigkeit des Künstlers und der kollektiven Identitätsstiftung des von ihm darzustellenden Gehalts definiert. W ä h r e n d bei der N a c h a h m u n g gotischer Muster die „Summe der Motive, in welcher sich die erfinderische Phantasie des Künstlers selbständig bewegen kann, [ . . . ] nicht g r o ß " erscheint und „auch geistreichen Einfällen, genialen N e u e rungen [ . . . ] eine enge G r e n z e gesetzt" ist ( B K , 164), ermöglicht der Rückgriff auf die A n tike die Freisetzung von Potenzen, die die v o m Volk vorgearbeiteten Inhalte gehaltsästhetisch umsetzen (vgl. B K , 37, 43, 55 f, 164). D e s h a l b ist auch in der Gegenwart die „Stabilität das oberste G e s e t z " ( B K , 373) für den künstlerischen Fortschritt: D e r konsolidierende Rückgriff auf die Antike tariert das Gleichgewicht zwischen Künstler und Volk aus, indem der Künstler mittels der mechanischen N a c h a h m u n g klarer F o r m e n einem reinigenden Reduktionismus unterzogen wird, was ihn wiederum z u m naiven Aufgreifen volkstümlicher Stoffe befähigt. N u r die Antike bietet somit die Aussicht auf die Herstellung einer Identität von N a t i o n und bildender Kunst. N a c h dem Muster von Identität und Nichtidentität verhalten sich Antike und G o t i k zur deutschen Gegenwartskunst. Wenn Springer mit dem Aufsatz zum Bologneser Schneider die G o t i k nur als Anachronismus behandelt und damit aus seinem Entwicklungsverständnis 124 Vgl. auch folgende, beliebig erweiterbare Seitenhiebe in den Bildern: „Volkstümlichkeit im trivialen Sinne des Wortes" (BK, 53); der „gothischef] Zopf" wird „von dem beschränkten Handwerksverstande ungemein hoch gehalten" (S. 193); dementsprechend das Urteil über die nebulösen Vorstellungen des ,,enthusiastische[n]" Schneiders, der seinen „Kopf mit Triangulirungen und Quadraturen erfüllt" hat (S. 153). Allg. zu der Diskussion vgl. Kramp: Heinrich Heines Kölner Dom, S. 87, 90-99; Zu Springers Beziehungen zum Dombauverein und der Abwehr der ultramontanen Vereinnahmung vgl. AmL, 237 f. Distanziert ist auch Springers Artikel: „Zum 15. October. Die Vollendung des Kölner Domes", in: Im neuen Reich 10/2 (1880), S. 577-581. 125 Vgl. hierzu Jahn: „Die alte Kunst und die Mode", in: Aus der Alterthumswissenschaft, S. 225 f (= Gb 27/3 (1868), S. 165): Die Mode steht als „Ausdruck der Willkür und Laune" im strikten Gegensatz zum Ideal.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton
Springer
ausblendet, dann bedingt sich diese Entscheidung aus der Einsicht, daß die Gotik keine handlungsleitende Vorgabe für die Gegenwart mehr sein kann. Die .Tendenz' in der Auslassungs- und Anordnungsstrategie in den Bildern wird nun klar: Mit dem seit 1844 gefestigten Kenntnisstand über die Abhängigkeit der deutschen Gotik von der Ile de France sowie mit der großdeutsch bzw. romantisch besetzten Bewegung des Kölner Dombauvereins (mit Friedrich Wilhelm IV. als Unterstützer) erklärt sich, warum für den Boisserée-Freund Springer die Gotik politisch diskreditiert und als Fremdeinfluß aus der nationalen Kunstentwicklung auszuscheiden ist. Statt dessen sollen die Antike und ihre verwandten Formen wie die Renaissance nicht nur den „Formensinn" lenken (BK, 101), sondern auch unterstützend im Prozeß nationaler Identitätsbildung eingreifen. Jedenfalls kündigt die Äußerung, daß ,,[m]annigfache Anzeichen [...] darauf schließen [lassen], daß der Renaissancestil uns [...] am nächsten steht" (BK, 375), einen geschmacksgeschichtlichen Wandel an,126 der die gründerzeitliche Neorenaissance tatsächlich zur ästhetischen N o r m der Repräsentationsarchitektur und der (groß)bürgerlichen Wohnkultur erheben wird. Dort stehen, eingerahmt von kannellierten Bücherregalen, Gustav Freytags sämtliche Werke und Springers Bilder aus der neueren Kunstgeschichte.
126 Zur Gegenwartsbezogenheit der Renaissance vgl. aus demselben Jahr den skeptisch gestimmten Essay Carl Schnaases: „Die italienische Renaissance" [Rez. zu Burckhardt: Geschichte der Baukunst], in: Zeitschrift für bildende Kunst 2 (1867), S. 156-166. Schnaase argumentiert in seinem Plädoyer für die Renaissanceforschung wissenschaftsimmanent und enthält sich ästhetischer Zukunftsvisionen: „Wie selten ist richtige Einsicht in die Gegenwart, und wie leicht die Täuschung, die auf Grund oberflächlicher Aehnlichkeit Entferntes dem Gegenwärtigen gleichstellt. Es kommt darauf an, diesen Schein der Gegenwart zu überwinden, die Leistungen selbst und zugleich auch das relativ Fremde in ihnen genauer zu ergründen, mit einem Worte, statt der technischen oder dilettantischen Arbeit, die eigentlich geschichtliche zu beginnen." S. 156, vgl. auch S. 166.
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5. Anton Springer, der Historiograph
5. Anton Springer, der Historiograph: Ästhetische Darstellung im Hauptwerk Raffael und (1878)
Michelangelo
Mit einer gewissen Enttäuschung hat Wilhelm Waetzoldt darauf hingewiesen, daß das kunsthistorische Werk Springers nicht über diejenige Lesbarkeit verfüge, welcher der Ruf eines begnadeten Rhetors und Schulbildners vorauseilt. 1 Anders als bei den großen Historiographen Burckhardt, Justi und Grimm fände sich dort die penetrante Grundtendenz, das Publikum für die .wissenschaftliche' Behandlung der Kunstgeschichte bekehren zu wollen. So sehr der Vorwurf einer Uberdidaktisierung wenigstens auf die frühen Arbeiten zutreffen mag, bei Konsultation der zeitgenössischen Kritik ergibt sich ein anderer Befund: Springers Schriften gelten dort fast einhellig als vorbildlich für die wissenschaftliche Darstellung. Schon 1858 verstieg sich ein Grenzboten-Rezensent zu der Behauptung, Springers Kunstbeschreibungen seien vergleichbar mit der Prosa Winckelmanns und Lessings, da sie „glücklich zwischen der Scylla tönender, aber leerer Phrasen und der Charybdis einer trockenen Specification von Details" hindurchsteuerten. 2 1859 attestierte der Literaturkritiker Robert Prutz, daß Springers kunsthistorische Texte „in einer höchst anregenden, blühenden und geistvollen Sprache abgefaßt" sind, zudem „das Darstellungstalent des Verfassers ja hinlänglich bekannt ist und einen Hauptzweig seiner Schriften bildet." 3 Indem kunsthistorisches Thema und sprachliche Präsentation zu einem Gesamtkonzept vereint werden, urteilte Max Jordan acht Jahre später, „kommt jeder Erfolg des Historikers in zwiefachem Sinne dem Aesthetiker zu statten." 4 Schließlich feierte die Kritik die Parallelbiographie als „Meisterwerk kunstgeschichtlicher Darstellung", als „literarische Schöpfung, die [...] in der Form jene plastische Anschaulichkeit und lebensvolle Wärme besitzt, die aus einer dem künstlerischen Vermögen analogen Begabung entspringt." 5 Das Buch sei nicht nur bahnbrechend in der Forschung, sondern auch im ,,historische[n] Stil im vollsten und größten Sinne des Wortes. [...] Zu der eindringenden Kritik ist ,der Glanz und Schimmer' einer meisterhaften Darstellung hinzugefügt." 6 Und Eugène Müntz formulierte in seiner Raffael-Bibliographie bündig: „Travail de premier ordre, qui se recommande par la nouveauté des recherches autant que par le charme du style." 7
1 Waetzoldt: Deutsche Kunsthistoriker II, S. 120. Vgl. ebd. die Abwertung von Springers Biographik: S. 127 f. 2 [Anonym:] „Anton Springer. [Rez zu:] Geschichte der bildenden Künste im 19.Jahrhundert", in: Gb 17/1 (1858), S. 4 6 5 - 4 7 0 , S. 467. 3 R. P.: „Literatur und Kunst", in: Deutsches Museum 9/2 (1859), S. 4 0 0 - 4 0 4 , S. 403. 4 M. J.: „Springers Bilder aus der neuern Kunstgeschichte", in: Gb 26/4 (1867), S. 75-77, S. 77. 5 λ.: „Raffael und Michelangelo", in: Im neuen Reich 7/2 (1877), S. 999. 6 Carl v. Lützow: „Neue Raffaellitteratur", in: Zeitschrift für Bildende Kunst 19 (1884), S. 9 1 - 1 0 0 , S. 92. 7 Müntz: Les historiens et les critiques de Raphael 1483-1883, S. 53.
126
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
Daß das Darstellungsverständnis Springers nicht als marginal, sondern als zentraler Bestandteil seines Wissenschaftsentwurfs angesehen werden sollte, geht aus den bisherigen Ergebnissen hervor: Die realistische Poetik und nationalliberale Historiographie definiert sich demnach als appellatives und handlungsleitendes Konzept, das vor allem durch technisch-formale Ausdrucksmittel Mechanismen der Sympathielenkung freisetzen will (vgl. Abschnitt 4.). So enthält das Bilder-ÌAoàeM eine nationaldidaktische Implikation, die den Aufgabenbereich der Kunstgeschichte in der Gegenwart ansiedelt und somit dem wissenschaftlichen Text einen dezidiert politischen Auftrag zuweist. Ferner stehen die idealrealistische Begründung der Ikonographie im Volk (vgl. Abschnitt 3.2.) und die handlungsleitende Funktion der Kunstgeschichtsschreibung in einem engen Wechselverhältnis zueinander: Ein Werk wie die Schule von Athen wirkt bei Springer deshalb normierend für die Gegenwart, weil es die Einheit von Künstler und allgemeiner Phantasie mustergültig repräsentiert. Wenn hierbei dem Volksgeist immer mehr eine bewußt aktive Rolle im geschichtlichen Prozeß zugesprochen wird, so markiert dies den wesentlichen Unterschied zwischen der historischen Rechtsschule und der nationalliberalen Konzeption bei Dahlmann, Droysen oder eben Springer:8 Während der ,romantische' Volksgeist in der Deutung Savignys als qualitativ gleichbleibende, aber stets unbewußte Größe an der historischen Entwicklung partizipiert, bleiben die nationalliberalen Historiker der Tradition Hegels verhaftet, indem sie von einer bürgerlichen Emanzipationsteleologie ausgehen, deren Fortschritt sich in Abstimmung mit der nationalen Einigung manifestiert: Die Bewußtheit des Einzelnen in seinem Gesamtzusammenhang gilt als zentrales Movens zur Verwirklichung sittlicher Mächte.9 Springer folgt dieser teleologischen Konzeption in den Bildern aus der neueren Kunstgeschichte, wenn die Einzelaufsätze sukzessive von der Unbewußtheit zur Bewußtheit des Volks fortschreiten und am Ende die kunstgeschichtliche Vergangenheit auf die Gegenwart beziehen. In der formalen wie ideellen Ausrichtung stellt die Parallelbiographie Raffael und Michelangelo den Kulminationspunkt von Springers nationalliberal geprägter Methodenund Darstellungsreflexion dar. Fragt man nach dem konzeptionellen Unterschied zu den elf Jahre früher erschienenen Bildern aus der neueren Kunstgeschichte, so ist dort eine Verschiebung von der strukturgeschichtlichen Kulturanalyse zur handlungsbetonten Zeiterfahrung zu konstatieren:10 Gegenüber der Kulturgeschichte tritt nun das biographische Individuum in den Vordergrund und erweitert daher das ursprüngliche Konzept um ein narratives Element, das sich dem Ereigniszusammenhang zwischen Künstlergeschichte und Politik zuwendet. Denn nicht nur Michelangelo und Raffael werden hervorgehoben, mit den Päpsten Julius II. und Leo X. wird auch ein politischer Faktor akzentuiert, der in der Konzeption von 1867 noch fehlte. Die Individualhistorie reguliert so verstärkt die formale Ordnung, was schon äußerlich die Einteilung nach zwei Büchern, nämlich Bis zum Tode Julius' II. und Vom Regierungsantritt Leo's X. bis zu Michelangelo's Tode, verdeutlicht. 8 Vgl. Hock: Liberales Denken im Zeitalter der Paulskirche, S. 51 ff. 9 Vgl. Droysen: Historik (Leyh), S. 305: „Wie hier so überall ist es das Bewußtsein, der Wille der Einheit, welcher Art sie denn sei und in welcher Form sie sich darstelle, worin das Wesen des Volkes besteht. Dies Bewußtwerden, das Wollen der Einheit ist ein geschichtliches Ergebnisf.]" 10 Zu dieser Unterscheidung vgl. Rüsen: Konfigurationen des Historismus, S. 114-121.
5. Anton Springer, der
Historiograph
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Damit folgt Springer durchaus einer kunsthistoriographischen Konvention, er signalisiert aber zugleich den Wandel in der Darstellungsauffassung, die sich von der strukturgeschichtlichen Betonung des Volksgeists als schöpferischen Teilhaber (1867) hin zu seiner personalisierten Form entwickelt hat: „Die lebendigen Persönlichkeiten, welche die Bestrebungen der Zeitgenossen kraftvoll zusammenfassen oder mutig in neue Bahnen lenken, kann der Historiker nicht missen. Ohne Heroenkultus gibt es keine Geschichtschreibung." (1887) 1 1 Die Aktivierung der Gattung Biographie und der damit verbundenen Aufwertung des Erkenntnisinteresses an Tathergängen entspricht der allgemeinen Tendenz, in den großen Männern das potenzierte Abbild des Volksgedankens zu erblicken. Das zentrale formale Merkmal von Springers Hauptwerk aber ist sein besonderes Erzählkonzept: Dies wird schon dadurch evident, daß es sich grundlegend von der seit der Antike etablierten Gattungskonvention der Parallel- und Sammelbiographien unterscheidet. Denn anders als bei Plutarch und dessen Nachfolgern, wo die Lebensbeschreibungen separat aufeinanderfolgen, etabliert Springer ein Ordnungsmuster von zwei wechselnden biographischen Erzählsträngen. Wie zahlreiche Rezensenten einhellig bemerkten, 12 war diese Verflechtung zweier unabhängiger Biographien zu einem Gesamtnexus in der internationalen Kunstliteratur ein Novum. 1 3 Ein Blick auf andere künstlerbiographische Synopsen des 19. Jahrhunderts bestätigt, daß diese ausnahmslos dem Plutarchschen Strukturprinzip der bioi paralleloi verpflichtet sind. Die Lebensbeschreibungen folgen in getrennten Abschnitten aufeinander, meist gerahmt vom Proömion und der Synkrisis, 14 was eine prinzipielle Ergebnisoffenheit impliziert und im Nebeneinander der Charaktere die Unterschiede und Gemeinsamkeiten abwägt. 15 Eine solche statische Summierung zweier autonomer Lebensbeschreibungen verfolgen sowohl die aus dem Jahr 1846 stammende Kompilation aus der englischen Ubersetzung von Quatremère de Quincys Raphael (1824) und der Michelangelo-Biographie Richard Duppas (1806) 1 6 als auch die ultrakatholisch beleumundete und mit den Präraffaeliten sympathisierende Darstellung Michel-Ange et Raphael
11 Springer: „Vischer, Robert, Studien zur Kunstgeschichte" [Rez.], S. 244. 12 λ. [Wilhelm Lang?]: „Raffael und Michelangelo", in: Im neuen Reich 7/2 (1877), S. 999 f; Aflfred] v. Reumont: „Kunstgeschichte. Anton Springer: Raffael und Michelangelo", in: Literarische Rundschau 4 (1878), Sp. 78-94, 527-538, Sp. 78 f; Eugène Müntz: „Raphaël et Michel-Ange par Μ. Α. Springer", in: Gazette des Beaux-Arts 21/2 (1879), S. 173-184, S. 174; Moriz Thausing: „Anton Springer, Raphael und Michelangelo", in: Repertorium für Kunstwissenschaft 3 (1880), S. 427-435, S. 428 f; Carl v. Lützow: „Neue Raffaellitteratur", in: Zeitschrift für Bildende Kunst 19 (1884), S. 91-100, S. 92; H[ubert] Jfanitschek]: „Raphael und Michelangelo von Anton Springer", in: Repertorium für Kunstwissenschaft 7 (1884), S. 194-196, S. 194. 13 Im Lehen Michelangelo's von Herman Grimm werden ähnliche Ansätze erkennbar. Grimm flicht dort mehrere Raffael-Episoden in die Michelangelo-Erzählung ein. Von einer Parallelhandlung kann bei Grimm dennoch nicht gesprochen werden, da sich diese Einzelsequenzen kaum von anderen Exkursen unterscheiden. 14 Vgl. hierzu Focke: „Synkrisis". 15 Zu Plutarch vgl. Leo: Die griechisch-römische Biographie nach ihrer literarischen Form, S. 146-177; Duff: Plutarch's,Lives', passim und ibs. S. 252-262. 16 Titel: Michael Angelo and Raphael. Nach der Auflage London 1891.
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II. Realistischer
Klassizismus.
Methodik und Darstellung
bei Anton
Springer
(1867) von Alexis-François Rio (1797-1874).17 Auch die gleichzeitig mit Springer erschienene Parallelbiographie des Bostoner Gelehrten Charles Callahan Perkins (1823-1886) orientierte sich am dyadischen Muster Plutarchs.18 Die Tatsache übrigens, daß sich keines dieser Werke in Springers gut sortierter Privatbibliothek nachweisen läßt,19 erhärtet die Vermutung, daß er ihnen offenbar weder wissenschaftlich noch darstellerisch eine Relevanz beigemessen hat. Ein Zusammenhang scheint nur mit der mehrfach aufgelegten Trilogie Michel-Ange, Léonard de Vinci, Raphael (1861) des Pariser Kunsthistorikers Charles Clément (1821-1887) zu bestehen: Acht Jahre vor dem Springerschen Werk erschien ihre deutsche Ubersetzung bei E. A. Seemann in Leipzig als Supplementband der Sammlung Kunst und Künstler des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, dem Vorläufer der von Robert Dohme herausgegebenen Reihe Kunst und Künstler des Mittelalters und der Neuzeit, als dessen Teil die Doppelbiographie Springers konzipiert war.20 Vermutlich hat der relative Erfolg von Cléments Werk für Verlag und Herausgeber den Ausschlag gegeben, mit dem Text Springers erneut das konzeptionelle Wagnis der Parallelbiographie einzugehen. In Clément den tatsächlichen Anreger für Springers Konzeption zu sehen, fällt indes schwer: Von den äußerst knappen Kunstbeschreibungen und der fehlenden Berücksichtigung der Handzeichnung ganz zu schweigen, weicht die formale Anlage entschieden von derjenigen Springers ab. Monolithisch voneinander getrennt, summieren sich die drei Künstlerviten zum Aggregat. Synkritische Zusammenfassungen, welche komparativ eine Bilanz der drei Lebenswerke ziehen könnten, versagt sich Clément ebenso wie eine erkennbare ideelle Linie zwischen den drei Künstlern. Das einzige verbindende Element scheint die Biographie des um eine Generation älteren Leonardo zu sein. Sie ist als zweiter Teil zwischen den Lebensläufen Michelangelos und Raffaels eingefügt und drückt dadurch die Stellung Leonardos als formales tertium comparationis beider Künstler aus. Die Exzeptionalität der alternierenden Parallelhandlung sowie zahlreiche weitere darstellerische Merkmale sind, so die Hauptthese dieses Abschnittes, die direkte Konsequenz aus der poetologischen Reflexion des programmatischen Realismus. Daß die Hochphase der Literaturkritik Freytags und Schmidts im Erscheinungsjahr 1878 längst vorbei ist, darf hier nicht irritieren: Im allgemeinen setzt sich in der nationalliberal geprägten Geschichtsschreibung die Tendenz fort, die formalen Prinzipien der Grenzboten mehr oder weniger zur offiziellen Richtlinie des wissenschaftlichen Schreibens zu erheben. In den Preußischen 17 Rio: Michel-Ange et Raphael. Avec un supplément sur la décadence de l'école romaine. Paris, Freiburg i. Brg. 1867. Michelangelo: S. 1-95; Raffael: S. 97-228; Supplément: S. 229-268. 18 Perkins: Raphael and Michel Angelo. A critical and biographical Essay. Boston 1878. Die Bibliographie von Müntz (Les historiens et les critiques de Raphael, S. 46) führt noch ein Werk von Alexandre Dumas (1845) an, das aus einer Artikelserie zu italienischen und flämischen Künstlern zusammengestellt wurde. Douglas Munro: Alexandre Dumas Père. A Bibliography of Works. Published in French, 1825-1900. N e w York, London 1981, S. 147, 150 ff. 19 Vgl. die betreffenden Nummern bei Baer & Co: Bibliothek des f Herrn Dr. Anton Springer, Bd. 1, Nr. 1 1 6 9 - 1 1 9 4 und 1 2 1 6 - 1 2 9 5 . Quatremère de Quincys Historie de la vie des ouvrages de Raphaël besaß Springer in der Erstausgabe: Nr. 1273. 20 Charles Clément: Michelangelo. Leonardo. Raffael. Übs. v. C. Clauß. Leipzig 1870 (= Kunst und Künstler des 16., 17. und 18.Jahrhunderts, Supplementband). Französische Ausgabe im Besitz Springers, vgl. Baer & Co: Bibliothek des f Herrn Dr. Anton Springer, Bd. 1, Nr. 1018.
5. Anton Springer, der
Historiograph
129
Jahrbüchern, dem zentralen Publikationsorgan der konstitutionell-liberalen Historiker seit 1858, ist dies weitgehend ein Konsens, der kaum noch einer näheren Explikation bedarf. 21 Im besonderen wiederum erklärt sich die verspätete Adaption realistischer Darstellungsverfahren bei Springer durch zwei einfache biographische Argumente: Wie Billette im Nachlaß Freytags nahelegen, scheinen mit Springers Ruf nach Leipzig (1873) die vielfältigen Beziehungen, die zwischen beiden Autoren seit 1857 bestanden, intensiviert worden zu sein. Bedeutsam ist, daß zur Entstehungszeit der Parallelbiographie für Springer die Dichtungen Freytags längst eine hohe Wertschätzung erlangt haben, indem sie neben seinem LudwigRichter-Kult und der Verehrung für die ,,erztönende[]" Geschichtsschreibung Heinrich von Treitschkes 2 2 zum festen Bestandteil seines nationalliberalen Geschmacksprofils gehören. Etwa wenn es nach der zweimaligen Lektüre von Freytags Lebenserinnerungen heißt, daß „es uns [so] mit allen Ihren Werken [geht]. Wir halten uns an diese, wie an gute, alte Freunde, und wenn wir uns von der litterarischen Misere, die ja auch zeitweise durch akademische Lesezirkel' usw in unser Haus einbricht, recht gründlich erholen wollen, dann greifen wir zu Freytag. Einen oder den anderen Band würden Sie sicher auf unseren Tischen aufgeschlagen finden." 2 3 Mit dem Eintritt in den Leipziger Kreis um Freytag koinzidiert ein publizistischer Zusammenhang: Nachdem Freytag 1871 Herausgeberschaft und Redaktion der Grenzboten niedergelegt und aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit dem Verleger seine Anteile an der Zeitschrift verkauft hatte, projektierte er die Zeitschrift Im neuen Reich, die unverändert an den darstellungstheoretischen Grundsätzen der 50er und 60er Jahre festhält und in derselben Dogmatik das einmal für richtig Erkannte vertritt. Das Anwerbungsschreiben an Springer macht unmißverständlich klar, was „unserm Volke nicht fehlen darf": Nämlich eine Zeitschrift, deren Mitarbeiterstab die Themen „recht stolz und kriegerisch" behandelt: „Gute Besprechungen, Aufsätze von den Besten, festes Urteil, Mangel an Ehrfurcht vor dickem Wesen, moralische Pauken an den deutschen Mitmenschen, Hochmut, Bosheit, zuweilen Mordlust, kurz, was so der Journalist zum Leben braucht." 2 4 Der Empfänger dieser Aufforderung ließ sich offenbar nicht zweimal bitten: Seine gegenüber den Grenzboten noch verstärkte Mitarbeit mit Rezensionen, politischen Kommentaren und kunsthistorischen Miszellen bezeugt, daß Springer mit Gustav Freytag und dem Verleger Salomon Hirzel 2 5 das geschmackspolitische Bekenntnis zur realklassizistischen Poetik und den damit untrennbar verbundenen ideologischen Implikationen teilte. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf zwei Thesen: Erstens, daß bei Springer die italienische Renaissance einen paradigmatischen Charakter erhält und die Paral21 Rein äußerlich verdeutlicht dadurch, daß Julian Schmidt nach dem Ausscheiden aus der Grenzboten-Redaktion ab 1864 in den Preußischen Jahrbüchern publiziert. Zu den dortigen Beiträgen Springers vgl. Westphal: Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus, S. 320 sowie die Register zu den Preußische Jahrbüchern. Bis auf eine Kunstkritik erschienen dort nur Beiträge zur österreichischen Frage und zum Panslawismus. 22 Springer: „Salomon Hirzel" [Nekrolog], in: Im neuen Reich 7/1 (1877), S. 281-284, S. 283. 23 Springer an Freytag, Leipzig 26.1.1886, StB Berlin, N1 Freytag. 24 Freytag an Springer, 9.11.1870. Zit. in: Fedor von Zobeltitz: „Freytag und die ,Grenzboten'", in: Vossische Zeitung vom 23. Mai 1923, Abend-Ausgabe, Nr. 240. 25 Vgl. hierzu Springers Nekrolog, der zugleich das personelle Feld des Verlegers absteckt: „Salomon Hirzel", in: Im neuen Reich 7/1 (1877), S. 281-284.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
lelbiographie in enger Referenz zu seinem nationalliberalen Weltbild gesehen werden muß (5.1. und 5.3.). Zweitens, daß dieses Gedankengut mit einer formalen Konzeption verbunden bleibt, deren historiographisches Verfahren aus der realklassizistischen Theoriebildung stammt und Springer über seine journalistische Praxis geläufig war (5.2. bis 5.5.). 5.1. Versöhnter Gegensatz. Die Renaissancekonzeption in der Parallelbiographie Wenn im Jahr 1878 Raffael und Michelangelo erscheint, dann ist dies, trotz Springers ostentativer Beschwörung des Mikroskops als neues Wissenschaftsparadigma (RM, III), auch ein letzter Triumph des Idealrealismus und der realklassizistischen Darstellungsauffassung. Er bedingt sich vor allem dadurch, daß sich dort die italienische Renaissance zu einem politischen wie kulturellen Leitbild verdichtet, das bei zunehmender Skepsis gegenüber der Reichsgründung den utopischen Blick auf eine Einheit der Gegensätze freigibt. Daran ändert auch die sich abzeichnende wissenschaftsgeschichtliche Erosion durch den naturwissenschaftlich betonten Positivismus nichts: Trotz der Rezeption von Lamprechts nomothetischem Ansatz in der Kulturgeschichte, trotz der intensiven Auseinandersetzung mit der .naturwissenschaftlichen' Methode Morellis hält Springer auch noch nach 1880 an dem Grundsatz fest, daß die italienische Hochrenaissance nicht wertneutral zu historisieren, sondern als adäquate ästhetische Verständigungsform für eine zukünftige deutsche Nationalkultur zu behandeln ist. Deutsche Reformation und italienische Kunstgeschichte gehören, so Springer noch 1881 mit deutlich junghegelianischem Zungenschlag, zusammen: „Es ist, als ob in jedem von uns die Ueberzeugung, daß sich Renaissance und Reformation gegenseitig ergänzen und in ihrer Vereinigung das höchste Lebensideal bilden, zu einer persönlichen Empfindung verdichtet würde."26 Auch der technokratische Nationalklassizismus mit seiner ästhetischen Läuterungsfunktion bleibt davon unberührt: „Wir müssen alles aufbieten, um das Interesse an der deutschen Renaissance nicht zu einer bloßen Modesache herabsinken zu lassen. [...] Neben der Antike bleibt die italienische Renaissance doch immer die beste Schule des Geschmackes."27 Derart explizite Hinweise finden sich bezeichnenderweise verstärkt nach dem Erscheinen der Parallelbiographie und müssen als Reflex auf die sich ab Mitte der 70er Jahre verschärfende innenpolitische Lage verstanden werden.28 Die Renaissance wird zum ästhetischen und politischen Fluchtpunkt unerreichbarer Ziele und aufgrund der zunehmenden Verzweiflung über die deutsche Politik und die Spaltungstendenzen im deutschen Liberalismus überbetont: „Der weltgeschichtliche Traum einer einheitlichen Welt, welche Gegensätze versöhnt und harmonisch verknüpft, schien in der That Leben zu gewinnen." (1883) 29 Bis in seine Einzelheiten ist dieser Satz bemerkens26 Springer: „Humanistische Studien", in: Im neuen Reich 11/2 (1881), S. 990-992, S. 990. 27 A. S.: „Italienisches Skizzenbuch", in: Im neuen Reich 9/1 (1879), S. 511 f, S. 512. 28 Vgl. ζ. B. die Springerschen Beiträge „Dunkle Wolken", in: Im neuen Reich 6/1 (1876), S. 1-8; „Die Politik der nationalliberalen Partei", in: Im neuen Reich 8/2 (1878), S. 453-459; „Die Secessionisten", in: Im neuen Reich 10/2 (1880), S. 405-409; „Unsere Lage", in: Im neuen Reich 11/1 (1881), S. 1-6. 29 Springer: „Raffael's .Schule von Athen'", S. 58.
5. Anton Springer, der
Historiograph
131
wert: In der „Einheit der Gegensätze" kein Hegelsches T h e o r e m zu erkennen, sondern in ihr eine „weltgeschichtliche" und somit anthropologisch feststehende G r ö ß e zu hypostasieren, markiert die entscheidende Blindstelle in Springers D e n k e n und weist auf die semantische Verhaftung in der hegelianischen und nationalliberalen Theoriebildung hin. Zugleich wird dieser versöhnte Gegensatz als „Traum" erkannt und dadurch als eigenes politisches Ideal historisiert. F ü r einen junghegelianisch geprägten und von nationalliberalen H o f f n u n gen teilweise desillusionierten Wissenschaftler wie Springer signalisiert dies ein M o m e n t der persönlichen A b r ü c k u n g : In der Hochrenaissance spiegelt sich das unvollendete P r o j e k t einer modernen deutschen Nationalkultur. D i e resignative Verklärung der italienischen Renaissance zur versöhnten und sittlichen E p o c h e steht am E n d p u n k t eines Paradigmawechsels, dem die Italienrezeption spätestens seit den 1860er Jahren unterliegt. D e n n vor dem Hintergrund des R i s o r g i m e n t o erweitert sich die klassische Italientopik u m einen dezidierten Praxisbezug: Italien ist nicht mehr „Gegenstand unserer romantischen Sehnsucht [...], das Land des blauen Himmels, der P o m e r a n z e n , der M a r m o r b i l d e r " , sondern auch zum politischen und sittlichen Vorbild für die unmittelbare
Gegenwart
geworden. 3 0 M i t der Reichseinigung
1860/61
unter
der
Führung des Hauses Savoyen entsteht für die realpolitisch und kleindeutsch orientierte Historiographie ein Leitbild, 3 1 in dem sich die Selbstkritik des deutschen Liberalismus prototypisch spiegelt: „Wie ganz anders hatte man die ähnliche Aufgabe in Italien angegriffen, wie ganz anders hatten M ä n n e r von den verschiedensten Principien dort für die nationale Sache sich z u s a m m e n g e f u n d e n ! " 3 2 schreibt der Historiker H e r m a n n Baumgarten in einem Schlüsseltext der liberalen Theoriebildung.
I m Risorgimento
manifestiert sich die in
Deutschland vermißte energetische Aktionseinheit von Adel und Volk, in der Wahrnehmung machtstaatlicher Interessen erwächst im Königreich P i é m o n t eine Führungsrolle, in deren ,,bewußte[r] Arbeit des Menschenwillens [ . . . ] der tiefe G r u n d der oft geschilderten Verwandtschaft" zu Preußen liegt. 3 3 W ä h r e n d sich aber die deutschen Liberalen in F r a k t i o nen zersplittern, sticht die italienische Freiheitsbewegung durch den M u t zur Versöhnung und der Zurückstellung persönlicher Interessen hervor: „ [ A u s g e z e i c h n e t durch sittliche Reinheit, [ . . . ] vereinigen sich die edelsten Elemente bitter verfeindeter Parteien zu gemeinsamem W i r k e n . " 3 4 Bezeichnend ist somit, daß die ehemals junghegelianische Position, die die Renaissance als Emanzipation v o m Christentum, Beginn der bürgerlichen Freiheiten und K e i m der modernen Wissenschaften antizipationsästhetisch auf die Gegenwart bezog, in eine neue K o n s t r u k t i o n transformiert wird, die ihr Telos im modernen Nationalstaat findet. So stellt
30 Wilhelm Lang: „Zur neueren Geschichte Italiens", in: Preußische Jahrbücher 20 (1867), S. 428-438, S. 428. 31 Vgl. grundlegend Portner: Die Einigung Italiens im Urteil liberaler deutscher Zeitgenossen, passim. Vgl. ferner Petersen: „Politik und Kultur Italiens im Spiegel der deutschen Presse", S. 13; sowie die Aufsätze zum 19. Jahrhundert in: Ders.: Italienbilder Deutschlandbilder. 32 Baumgarten: „Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik", in: Preußische Jahrbücher 18 (1866), S. 455-515, 575-628, S. 496. 33 Treitschke: „Cavour" (1869), in: Ders.: Historische und Politische Aufsätze II, S. 243-402, S. 255. 34 Treitschke: „Bundesstaat und Einheitsstaat" (1864), in: Ebd., S. 77-241, S. 230.
132
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
Treitschke, wie in Springers handlungsleitendem Renaissance-Entwurf, einen Bezug zwischen dem 16. Jahrhundert und der Gegenwart her, wenn er in der Moderne die Aufgabe sieht, „die Ernte einzuheimsen von den Saaten des Zeitalters der Reformation, die kühnen Ideen und Ahnungen jener gedankenschweren Epoche zu gestalten und im Völkerleben zu verwirklichen." (1879) 35 Dabei tritt die Autonomisierung des menschlichen Subjekts zugunsten der sittlichen Gemeinschaft und des einheitlich-versöhnten Volkswillens zurück bei einem gleichzeitigen Glauben an Führungspersönlichkeiten wie Cavour oder Bismarck, die jenen sittlichen Zustand durch die Schaffung des Machtstaats erst bewerkstelligen. Die Nationenbildung resultiert folglich aus der ,,sittliche[n] Verjüngung des Volksgeistes", 36 aber nicht aus dem Volksgeist allein: Bei Hegel ansetzend und ihn zugleich überwindend, ergibt sich ein strukturhomologer Komplex aus den Faktoren Volk, Staat und Staatsmann. Definierte Hegel den modernen Staat aus der Vereinigung der griechischen Polis (substantielle Allgemeinheit) mit der christlichen Religion (subjektive Einzelheit), 37 so überträgt der nationalliberale Entwurf diese Gedankenfigur auf das politisch handelnde Individuum, wenn ihm die Aufgabe einer Herstellung des sittlichen und machtstaatlichen Zustands zugewiesen wird. In der Parallelbiographie läßt sich jene Symbiose von hegelianischer Staatsphilosophie und nationalliberaler Umdeutung am Papsttum der Hochrenaissance zeigen: Antik-objektive These und romantisch-subjektive Antithese potenzieren sich zu einer Einheit, indem der phantastische, handlungsunfähige Idealismus eines Nikolaus V. („blosse Traumgebilde", „luftige Phantasie", RM, 99) und das brutale „Cäsarenthum" Sixtus' IV. und Alexanders VI., das sich beim „Wegräumen des mittelalterlichen Schuttes" als „oberste Schicht der Antike" freilegt (RM, 100),38 eine Synthese eingehen. Unter dem Pontifikat Julius' II. erreicht das dialektische Dreiphasenmodell der Renaissance den Ausgleich der politischen Extreme. So erregen Giulio Secondos Pläne „wohl Staunen, aber nicht Unglauben, denn weit entfernt von phantastischen Träumen, hielt er stets für die Erfüllung seines Willens reiche Mittel bereit." (RM, 101) Theoriefernes und ergebnisorientiertes Handeln wird hier ethisch konnotiert, weshalb sich in der Durchsetzungsfähigkeit des zweiten Rovere-Papstes das Idealbild des Realpolitikers manifestiert. Die Rückeroberung der verlorenen kirchlichen Gebiete, die Eindämmung der französischen Hegemonialansprüche und die gleichzeitige Beschränkung des eigenen Territoriums auf Italien machen ihn zum Vorläufer des modernen Nationalstaatsgedankens: 39 ,,[A]ls den Papst, der Petrarcas Lehre von den völkerscheidenden Alpen gleichsam zum Wahlspruch erhoben, rühmen ihn die Freunde des nationalen Staates." (RM, 102) In Julius II. realisiert sich die Einheit von Exekutive und 35 36 37 38
Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert I, S. 192. Treitschke: „Bundesstaat und Einheitsstaat", wie oben, S. 230. Vgl. Löwith: Von Hegel zu Nietzsche, S. 264. Kulturgeschichte wird hier bezeichnenderweise ins Metaphorische transferiert, was die Handlungseinheit von Politik und Kultur besonders gut hervorhebt. Springer spricht an anderer Stelle von „realistischen Anschauungen" in der Politik des 15. Jahrhunderts. Vgl. RM, 223. 39 Das Urteil über Julius II. ähnelt hier der ideell verwandten Darstellung bei Gregorovius, wenngleich dieser sein Urteil wesentlich differenzierter vorträgt: Die „Idee der italienischen Nationalunabhängigkeit" ist bei einem Papst „freilich nur eine zweifelhafte Tugend". Gregorovius: Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter III, S. 406.
ß. Anton Springer; der Historiograph
133
Volkswillen, wie sie von den konstitutionell-liberalen Theoretikern von Dahlmann bis Rochau als Alternative zur demokratischen Mitbestimmung empfohlen wurde, denn: „Was ihn [...] beschäftigte, war mit grossen, allgemeinen Interessen verflochten und darnach angethan, ihm Ruhm zu erwerben." (ebd.) Die leitende Maxime des Allgemeinwohls verbindet sich zudem mit einer Situationsethik, die angesichts kontingenter Einbrüche höchst flexibel und ohne Rücksicht auf Freund und Feind die Bündnisse wechselt: „An der Spitze des Heeres, das aus ehemaligen Feinden gebildet, gegen die früheren Freunde zu Felde zog - so rasch hatten die politischen Interessen alle Verhältnisse verschoben - stand der Papst in eigener Person, gleich dem rauhesten Kriegsmanne mit seiner ganzen Seele nur bei Schlachten und Belagerungen." (RM, 117) Die Machtpolitik des Papstes zeichnet sich schließlich durch die Fähigkeit aus, die ausgefochtenen Konflikte in ein sofortiges Versöhnungswerk zu überführen: „Dem Streite folgte, nachdem der Papst seinen Willen durchgesetzt hatte, die Versöhnung auf dem Fusse nach." (RM, 102) Der aus dem geschichtsphilosophischen Reservoir entlehnte Begriff der „Versöhnung" evoziert somit eine höhere Naivität, die der gesamten Epoche - im scharfen Gegensatz zu Burckhardts anthropologischer Konzeption von „gut" und „schlecht" 4 0 - das Signum der Sittlichkeit aufdrückt. Zweifellos schimmert in Springers Zeichnung des Rovere-Papstes die Gestalt Cavours durch, denn die Ambivalenzfigur jener „bewundernswürdigen Mischung diplomatischer Verschlagenheit und schöpferischer Energie" 4 ' taucht auch in der liberalen Publizistik auf. Die semantische Verknüpfung mit dem Schöpferischen rückt den Mitbegründer des italienischen Staats in die Nähe des Künstlers, eine Konnotation, die ebenso Springer herstellt: Als Mäzen denkt Julius ,,ehrerbietig[] von der Kunst", weil „sie den Weltmächten, den idealen Ordnungen des Lebens" frei huldigt (RM, 229). Damit schaltet Springer die Kunstgeschichte analog zur versöhnenden Kraft der Realpolitik: Ganz in Hegelscher Tradition stehend, wird die Kunst als visualisierter Ausdruck des „wahrhaft vernünftig gegliederten Staat[es]" und ideale Vermittlung der Gegensätze gedeutet, 42 mehr noch: Das für Kunst und Staat gleichermaßen geltende Theorem der Versöhnung wird für die historiographische Konzeption geradezu formprägend, wenn sich mit den Kapiteln V und VI die Sixtinische Decke und die Fresken in der Stanza della Segnatura synoptisch gegenüberstehen. Als lesbar gewordene Parallele abbrevieren damit die beiden Hauptleistungen die Dekade unter Julius II., da sich ihr ästhetischer Antagonismus in eine friedliche Koexistenz auflöst. Zugleich referiert dieser versöhnte Gegensatz auf die politische Welt. Mit Hegel argumentiert, faßt hier die Kunst als Einheit im Gegensatz dasjenige zusammen, dessen sich der Geist im Staat bewußt geworden ist; 4 3 in der nationalliberalen Umprägung wiederum stellt die Person des Schöpfer-Politikers Julius das verbindende Glied zwischen versöhnter Kunst und versöhntem Staat her. Denn indem der Name des Papstes repräsentativ für die Epoche steht, wird er selbst zum Künstler: Ahnlich wie Heinrich von Treitschke bezüglich Cavours ausführt, formt er als Staatsmann ein Bleibendes für die Nachwelt und ist deshalb als ,,Held[] des
40 Vgl. Hardtwig: Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt, S. 50. 41 So das Urteil über Cavour bei Baumgarten: „Der deutsche Liberalismus", S. 485, vgl. S. 482, 496.
42 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 136. 43 Vgl. Schnädelbach: Hegels praktische Philosophie, S. 138.
134
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
nach außen gerichteten Willens" dem Künstler ebenbürtig. 44 Ein solches politisches Künstlertum wird möglich, indem Julius' machtpolitische Stärke die Prinzipien des idealen Denkens und realen Handelns vereinigt und dadurch einen gesamtnationalen Organismus ins Leben ruft. Der Beginn des Cinquecento wird für Springer zur „schönsten Zeit der Menschheit" (RM, 218), zum ,,Knotenpunkt[] weltgeschichtlicher Entwickelung" (RM, 103) und zum „Heldenalter der italienischen Kunst" (RM, 101), weil sich Politik, Kultur und Kunst zu einer nationalen Handlungseinheit potenzieren. Mit der elementaren Tatkraft des Künstler-Staatsmanns Julius kontrastiert das vernichtende Urteil über den Nachfolger Leo X. Zwar hat dessen ästhetische wie politische Abwertung seit Carlo Fea 45 in der Kunstliteratur Tradition, doch ist bezeichnend, daß Springer seine Sicht gegenüber den genutzten Referenzwerken der älteren historischen Schule (Ranke, Reumont) radikalisiert. Die umfangreiche Darstellung Alfred von Reumonts bemüht sich um ein ausgewogenes Urteil; durchaus tragische Züge erhält dort die Differenz zwischen der Handlungsintention des verhinderten ,,Friedensfürst[en]" 46 und den politischen Ergebnissen; Urteile der Zeitgenossen werden durch auktoriale Eingriffe korrigiert; relativierende Signalwörter („freilich") deuten Leos religionspolitische Verstrickungen (Luther) als mildernde Umstände; schließlich wird der Papst sogar zur Zentralgestalt des ersten Jahrhundertdrittels erhoben - der Abschnitt von Julius II. bis Clemens VII. trägt den Titel Das Zeitalter Leos X.47 Der Objektivismus Reumonts versucht sich ganz in der rankeanischen Tradition, Leo wird in seiner historischen Individualität hervorgehoben und im Kontext der Zeit gedeutet: 48 „Ein reines Urtheil ist nur möglich, wenn man Jedweden nach dessen eigenem Standpunkt, nach dem ihm innewohnenden Bestreben würdigt." 4 9 Das Pochen auf eine personengebundene Moralität zeigt den Unterschied zu einer Methodenauffassung nationalliberaler Prägung auf, welche die individuelle Handlungsintention und psychologische Charakteristik gegenüber dem historischen Resultat herabsetzt. 50 Auch dieser Grundannahme bleibt Springer verpflichtet, wenn er dem Imperativ einer ethischen Prinzipienfestigkeit im historischen Urteil nachkommt und sich in den Wertungen bis zur Schmähung steigert. 51 Der ,,arbeitsscheu[e]" Papst, der ,,[z]u einem thatkräftigen Wesen [...] überhaupt nicht geschaffen" ist (RM, 224), leitet eine Entfremdung vom 44 Treitschke: „Cavour", wie oben, S. 246. 45 Rede am 1 7 . 2 . 1 8 2 2 vor der Accademia Archeologica in Rom: „Parallello di Giulio II. con Leone X.", in: Fea: Notizie Intorno Raffaele Sanzio da Urbino, S. 4 4 - 8 0 ; vgl. auch Rumohr: Italienische Forschungen, S. 567 f, 581. 46 Reumont: Geschichte der Stadt Rom. Bd. 3.2, S. 79. 47 Vgl. ebd., S. 3-468. 48 Vgl. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 9 1 - 9 8 . 49 Ranke: „Einleitung zur historisch-politischen Zeitschrift" (1832), in: Ders.: Sämmtliche Werke, Bd. 49/50, S. 3 f. 50 Vgl. den Abschnitt zur „psychologischen Interpretation" in Droysens Historik (Leyh), S. 187-194, ibs. S. 194: „Mir, dem einzelnen, ist meine Wahrheit das Gewissen; die Historie läßt es dem einzelnen unangetastet[.]" 51 Vgl. auch hierzu Gregorovius: Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter III, S. 441 f, S. 486. Allerdings wird dort Leo X. in die Nähe der Borgia (S. 441) und eines herzlosen „Machiavellismus" (S. 486) gerückt.
5. Anton Springer, der Historiograph
135
Volksleben ein, etwa wenn es heißt, daß der „volksthümliche Hauch [...] verweht", „selbst die leiseste Berührung mit dem Volksboden, unerlässlich für die Erhaltung wahrer Lebenskraft^] verloren" ist und die humanistische Hofpoesie wie ein „künstlich erzeugte[r] Stoff, welchen Anatomen in todte Körper einspritzen," wirkt (RM, 226). Statt der freien Verherrlichung der sittlichen Mächte unter Julius, dessen Person sich „niemals [...] zudringlich vor[schiebt]" oder eine „grob höfische Huldigung" zuläßt (RM, 228), herrscht unter Leo das Primat der „Decorationspoesie" (RM, 224). Und auch in der bildenden Kunst deuten sich erste Verfallserscheinungen an. Die junghegelianische Aversion gegen die politische Repräsentationsästhetik wirkt hier nach, wenn konstatiert wird, daß sich unter Leo die „politische Anspielung in die monumentale Kunst" eindrängt und sie dadurch zu „einem leichtfertigen Räthselspiele" erniedrigt (RM, 196). Die Polarisierung zwischen dem volkstümlichen, naiven Realismus unter Giulio und dem herrscherpanegyrischen, reflexiven und auf die Familieninteressen der Medici gerichteten Zwang unter Leo ist für die Anlage der Parallelbiographie konstitutiv: Die Kapitel IX und X nehmen das in den Kapiteln V und VI angewandte Strukturmuster von der Parallelisierung Michelangelos und Raffaels wieder auf, indem sich nun Michelangelos Arbeit am Juliusgrabmal und Raffaels Teppichkartons gegenüberstehen. Der Unterschied ist nur, daß die Kapitelfolge statt eines versöhnten Gegensatzes das Auseinanderbrechen der römischen Kunstwelt formal ausdrückt: Michelangelos tiefster Moment der Erniedringung, der im Abbruch der Arbeit durch die Intervention Leos gipfelt, verläuft parallel zu Raffaels höchstem Triumph.
5.2. Springer und die realistische Darstellungsreflexion bis 1878 Schon 1851 heißt es in den Grenzboten, daß ,,[d]ie deutsche Kunstgeschichte [...] in die Klasse von Büchern [gehört], deren Empfehlung unser Blatt mit Vorliebe unternimmt." 5 2 Aufgrund der darin zahlreich erschienenen Rezensionen zu kunstgeschichtlichen Werken ist zu vermuten, daß kein anderes Journal so sehr auf die Kunstgeschichtsschreibung der 1850er und 60er Jahre eingewirkt hat. Die darstellungsästhetische Durchsetzungsfähigkeit der dort vertretenen Theoreme in der sich gerade vorsichtig etablierenden Disziplin erklärt sich nicht zuletzt aus der speziellen publizistischen Konstellation zwischen 1848 und 1867:53 Die zwischen 1850 und 1858 einzige nennenswerte deutschsprachige Fachzeit-
52 [Freytag:] „Bücherschau", in: Gb 10/4 (1851), S. 318-320, S. 320. 53 Zu den kunsthistorischen Zeitschriftengründungen vgl. Dilly: Kunstgeschichte als Institution, S. 215,228-232; Locher: Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst 1750-1950, S. 70-81. Die wichtigsten deutschen Gründungen zwischen 1848 und 1876: Deutsches Kunstblatt: 1850 (bis 1858); Zeitschrift für bildende Kunst·. 1866; Jahrbücher für Kunstwissenschaft 1868 (bis 1875); Repertorium für Kunstwissenschaft: 1876. Sieht man von einigen lokal begrenzten Spezialzeitschriften zur Denkmalpflege, der Zeitschrift für christliche Kunst (1841-68) oder den Recensionen und Mittheilungen über bildende Kunst (1861-1865) ab, so hatten die allgemeinen Revue-Zeitschriften wie die Grenzboten zwischen 1858 und 1866 im deutschen Sprachraum eine Monopolstellung. Vgl. auch: μ. φ. [=Julius Meyer]: „Die neue Zeitschrift für bildende Kunst und ihr Publikum", in: Gb 25/1 (1866), S. 355-358.
136
II. Realistischer Klassizismus. Methodik
und Darstellung bei Anton
Springer
schrift, das Deutsche Kunstblatt, ist zwar ebenso der realistischen Ästhetik verpflichtet, vertritt aber mit einem großdeutschen und methodologisch pluralen Herausgeberstab von Eitelberger bis Passavant und Ernst Förster einen kompromißbereiten Kurs. Diskutiert werden dort vor allem praxisorientierte Themen, wie z.B. Fragen der Künstlerbildung und der Akademiereform,54 weniger dagegen die konzeptionelle Prinzipienfrage einer kunstwissenschaftlichen Darstellung. Im Unterschied zu den Grenzboten vertritt das Deutsche Kunstblatt - hierin dürfte sein baldiges Eingehen begründet sein - noch jene Einheit von Künstlern und Kunstkennern, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Konvention war, während der habilitierte Altgermanist Freytag seine Zeitschrift als Organ begreift, in dem ein dezidiert akademischer und um fachliche Professionalisierung bemühter Mitarbeiterkreis publiziert. Dabei stellen die Grenzboten aufgrund ihres politisch-literarischen Profils normative Richtlinien auf, welche in den Rezensionen stets wiederkehren und mit technisch-formalen Anmerkungen verbunden werden. Besprechungen zu Burckhardt, Grimm, Lübke, Kugler und auch Springer folgen dieser Direktive, was nicht nur unterstützend auf Springers kunstgeschichtliche Darstellungsverfahren, sondern auch auf andere regelmäßige Zuträger wie den Kunstkritiker Ludwig Pietsch oder die Kunsthistoriker Julius Meyer und Max Jordan gewirkt haben mag.55 Die weitreichende Wirkung des Programms läßt sich an Springer nachweisen, der noch lange nach der Glanzzeit jene Positionen offensiv vertritt. So gut wie alle seine darstellungsrelevanten Theoreme der siebziger Jahre weisen eine hohe Konvergenz mit der realistischen Literaturkritik 56 auf, deren Merkmale sich hier zusammenfassen lassen: (1) Einheit von Inhalt und Ausdruck: „Schon die Form, der matter of fact Stil nimmt für ihn ein. Alles persönliche, subjective tritt vollständig zurück, auf die Sache ausschließlich
54 Typisch sind schon in Lehrsätzen gehaltene Artikelüberschriften wie „Den Anfang des Kunststudiums macht man am besten mit einem reichhaltigen, aber überschaulichen Werke" (Deutsches Kunstblatt
2 (1851), S. 41 f). Insgesamt besteht eine stärkere Tendenz zur staatlichen Regulierung,
wie die positive Aufnahme der Schrift zur Akademiereform von Ernst Guhl oder Franz Kuglers Plädoyer für eine staatliche Förderung der Künste (1847) belegen. Dem steht die nationalliberalrealistische Position der Grenzboten
gegenüber, die eine etatistische Einflußnahme ablehnt und
zwischen gesamtgesellschaftlichen Aufgaben und der spezifischen Rolle des Künstlers differenziert. Z u m kulturpolitischen Konzept Kuglers vgl. Koschnick: Franz Kunstkritiker
und Kulturpolitiker,
Kugler
(1808-1858)
als
S. 1 9 9 - 2 2 4 (z. B. Stärkung des Ministers in der Akademie, Hei-
nitz als Vorbild, S. 208). 55 Zu Pietschs engem Umgang mit Julian Schmidt vgl. die Ausführungen in dessen Autobiographie Wie ich Schriftsteller
bin, S. 400 ff; zu Jordan, an dem ein Transformationsprozeß von
geworden
dem nationalliberalen think tank der Grenzboten
hin zum Museum verdeutlicht werden könnte,
vgl. bisher nur Hofmann: Gustav Freytag als Politiker, Journalist
und Mensch. Julius Meyers unter
dem Kürzel μ. φ. erschienene Kritiken sind zusammengefaßt in: Meyer: Zur Geschichte der Modernen
und
Kritik
Kunst.
56 Grundlegend zum programmatischen Realismus: Hahl: Reflexion
und Erzählung·,
Widhammer:
Tradition-, Kinder: Poesie als Synthese·, ferner: Eisele: Realismus
Realismus
und klassizistische
Ideologie;
Rhöse: Konflikt und
Versöhnung.
und
5. Anton Springer, der
Historiograph
137
gerichtet erscheint jedes Wort", schreibt Springer über Joseph Archer Crowe. 5 7 Das Diktum entspricht exakt den literaturkritischen Prinzipien der programmatischen Realisten: Der Stil soll von allen Subjektivismen und „alle[m] Prunk und alle[r] Rhetorik" 5 8 zugunsten der objektiv erfaßten Außenwelt gereinigt werden und somit eine gestalterische Plastizität generieren, die auf Eindeutigkeit und Klarheit abonniert ist. Daß dieser Klarheit ein epistemischer Wert zukommt, der untrennbar mit der wissenschaftlichen Leistung verbunden ist, macht eine Bemerkung Springers zu den Brüdern Goncourt deutlich. Diese würden durchaus „ein brauchbares Material liefern, wenn die Autoren nicht die leidlichsten Manieristen wären, die das moderne Frankreich geboren hat." ( B K , 282) Erst die Einheit von Inhalt und Ausdruck garantiert wissenschaftliche Erkenntnis, indem sich auch hier empirische Forschung und Darstellung gegenseitig bedingen. Die normative Erhebung der mittleren Stillage 59 zieht die Forderung nach einer Reduktion von allem Manieriert-Rhetorischen, den Abbau von überflüssigem Dekorum und einer plastischen Gestaltung nach sich. (2) Strenge Strukturierung nach dem Kausalnexus: ,,[U]m das Ideal der Historiographie zu erreichen," muß man, wie der Rezensent Springer ironisch anmerkt, „in jedem Augenblicke von allen erdenklichen Dingen zugleich reden, man muß in jedem Kapitel das Disparateste unterbringen und vor Allem die Erzählung älterer Ereignisse auf die Beschreibung ihrer Consequenzen erst folgen lassen." 6 0 Die Orientierung am Faktischen (1) ist also keine Lizenz zur Faktenanhäufung. Ahnlich erhebt die realistische Literaturkritik die Forderung nach einer Ausscheidung des Zufälligen zugunsten einer einheitlichen Orientierung am Kausalnexus. Symptomatisch für diese Darstellungsauffassung ist eine Rezension zu Herman Grimms Lehen Michelangelo's: Eine „[u]nbillige Autorengrausamkeit" zeige sich in Grimms Bemerkung über den Florentiner Verschwörer Niccolo Valori, der „zum Tode und zu ewigem Gefängniß verurtheilt" worden sei. 61 Grimm verwahrt sich in einer Replik gegen den Vorwurf der unlogischen Ereignisverkettung, indem er dem Rezensenten die Bildungslücke vorhält, von den bei Burckhardt beschriebenen Umständen der späteren Begnadigung des Delinquenten nichts gewußt zu haben. Während Grimm auf der Korrektheit seiner Angabe insistiert und damit seine wissenschaftliche Ehre verteidigt, argumentiert der Grenzbotenkritiker rein darstellungsimmanent im Sinne der sprachlichen Transparenz und Folgerichtigkeit.
57 Springer: „Ein neues kunsthistorisches Buch. Selbstanzeige von Anton Springer" [zu: Übersetzung v. Crowe/Cavalcasselle: The early flemish painters], in: Im neuen Reich 5/2 (1875), S. 696-702, S. 699. 58 [Anonym:] „Neue historische Schriften" in: Gb 13/2 (1854), S. 161-178, S. 162. 59 Widhammer: Realismus und klassizistische Tradition, S. 7. 60 Springer: „Kaiserlich königliche Geschichtschreibung", in: Preußische Jahrbücher 18 (1866), S. 85-92, S. 87. 61 [Anonym:] „Herman Grimm's Michelangelo in dritter Auflage", in: Gb 28/1 (1869), S. 381-383, S. 382 bzw. Grimm: Lehen Michelangelo's I, S. 417; Grimm: „Erklärung", in: Gb 28/1 (1869), S. 478.
138
II. Realistischer
Klassizismus.
Methodik und Darstellung
bei Anton
Springer
(3) Reinheit des Stils: So wie die Realklassizisten kritisieren, daß „beständige Citate aus fremden Dichtern" 62 den einheitlichen Erzählnexus stören, spricht sich Springer trotz der Bewunderung für die fachliche Leistung gegen die stilistische Gestaltung in Justis Winckelmann aus: „Er häuft in der auffälligsten Weise Fremdwörter namentlich französischen Ursprungs." Dies und die sprunghafte Verwendung von Zitaten der Weltliteratur verhinderten bei Justi die Lesefreundlichkeit, da „sie die Sammlung des Lesers hemmen und ihn mit seinen Gedanken unaufhörlich zu wandern zwingen." 63 Damit folgt Springer dem durchgängig vertretenen Grenzboten-Wunsch nach der Begründung eines einheitlichen Nationalstils, der sich von allen Fremdeinflüssen abgrenzt. Besonders die Historiographie steht dort im Verdacht der Imitation der antiken Geschichtsschreibung: So sei ein „hervorragender Historiker" in Deutschland, der den Stil des Tacitus nachahmte, durch diese sprachliche Entfremdung dunkel geworden (obscuritas); selbst Droysen habe zu starke stilistische Anleihen aus dem Griechischen genommen und dadurch an Verständlichkeit eingebüßt.64 Die Rückbesinnung auf die genuin nationalen Eigenheiten des Deutschen wird zur notwendigen Bedingung wissenschaftlichen Schreibens. (4) Ausscheidung des Anekdotischen und Aphoristischen: 1875 kritisiert Springer die Philosophie de l'art dans les Pays Bas von Hippolyte Taine als „Feuerwerk mehr oder weniger geistreicher Aperçus", von dem „Niemand fachmäßige Belehrung, höchstens pikante Unterhaltung" erwarte.65 Uber ein Werk zur österreichischen Geschichte bemerkt er - die politische Gegnerschaft zu dem Verfasser geht mit der formalen Kritik einher - , daß ein anekdotisches Erzählverfahren zur „formellefn] Roheit" und zum Unwahren führe, und vergleicht den Text ironisch mit der Anekdotik Karl August Varnhagens: „In Varnhagen erblickt der Verfasser offenbar das Muster eines Historikers, ihm hat er dies Interesse an Skandalgeschichten abgelauscht, von ihm den Glauben angenommen, daß in einem historischen Buche das Pikante vor dem wahrhaft Begründeten den Vorzug verdiene." 66 Auch bei den Grenzboten-Autoren sind die Polemiken gegen das „Pikante" und gegen literarische Kleingattungen wie die Anekdote, den Aphorismus, das Aperçu Legion: So gebe es bei Gutzkow „niemals eine organisch gegliederte Individualität, sondern immer nur Aggregate aus empirisch aufgenommenen, anekdotischen Portraitzügen und willkürlichen Einfällen." 67 Nach Schmidt haben supranaturalistische Romantiker wie Jacobi, die beiden Schlegel und Novalis nur „in Aphorismen gedacht", deshalb „auch in Aphorismen, in Fragmenten gestaltet", was eine zusammenhängende Vermittlung der Inhalte unmöglich machte.68
62 63 64 65
[Anonym:] „Französische Literatur", in: Gb 10/3 (1851), S. 481-494, S. 484. Springer: „Justi's Winkelmann", in: Im neuen Reich 3/2 (1873), S. 281-288, S. 282 und 281. [Anonym:] „Droysen, Geschichte der preußischen Politik", in: Gb 14/4 (1855), S. 401-410, S. 409. Springer: „Ein neues kunsthistorisches Buch. Selbstanzeige von Anton Springer" [Ubersetzung v. Crowe/Cavalcasselle: The early flemish painters], in: Im neuen Reich 5/2 (1875), S. 696-702, S. 699. 66 Springer: „Rogge, Oesterreich von Villagos bis zur Gegenwart" [Rez.], in: Im neuen Reich 3/2 (1873), S. 389-392, S. 389 und 390 f. 67 [Anonym:] „Die Ritter vom Geist. Roman in neun Büchern von Karl Gutzkow. Zweite Auflage. Leipzig, Brockhaus", in: Gb 11/2 (1852), S. 41-63, S. 55. 68 J[ulian] S[chmidt]: „Die Reaction in der deutschen Poesie", in: Gb 10/1 (1851), S. 17-25, S. 23.
5. Anton Springer, der Historiograph
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(5) Rationalisierung der Gesamtstruktur·. Die Polemik gegen literarische Kleinformen verweist zugleich auf die eminente Bedeutung der Gesamtstruktur, die im programmatischen Realismus zu den „ersten Kriterien fast jeder Rezension" 6 9 gehört. Gewünscht wird eine Geschlossenheit im Aufbau, welche die Gefahr, sich „zu leicht empirisch in die Breite des Stoffs [zu] verlieren", mit der „Energie der zusammenfassenden Idee" 70 bekämpft (Vischer über Springer!) oder, wie es Julian Schmidt bezüglich der Anforderungen des neuen Romans formuliert, mit der „Energie der Composition" „aus dem schönen Stoff" ein „durchgreifendes Kunstwerk" 7 1 erzeugt. Ganz dieser Direktive verpflichtet, vermißt Springer an Justis Winckelmann „die geschlossene Einheit der Erzählung": „Die sinnige und geistvolle Natur des Verfassers erfreut, man kann aber das Bedenken nicht unterdrücken, daß der einheitliche Eindruck des Buches darunter leidet." 72 Damit wird das literarische wie historische Werk als organisches Gebilde definiert, das analog zum Stilverständnis nach dem Prinzip der Einfachheit und Klarheit strukturiert werden soll. Wie stark hierbei die realistische Programmatik die topische Unterscheidung zwischen res fictae und res factae einebnet, zeigt die dezidierte Anwendung ihrer poetologischen Grundsätze auf die Kunstgeschichtsschreibung. Schon früh taucht in den Grenzboten die Forderung nach einer Ausgewogenheit in der Form, die Warnung vor dem Abdriften ins Detail oder Allgemeine und der Wunsch nach Homogenisierung des Verhältnisses von Kunstentwicklung und allgemeiner Kulturgeschichte, nach sprachlicher Folgerichtigkeit und Gegenstandsbezogenheit sowie nach der Vermeidung von übertriebener Rhetorik in der Kunstbeschreibung auf. 73 Insbesondere Springer argumentiert durchgängig auf der Basis des realklassizistischen Gegensatzes von Immanenz und Reflexion, was sich selbst in der gemeinsamen Pflege von Feindbildern wie Herman Grimm bestätigt. So verfährt der zentrale Vorwurf gegen Grimm, sein Leben Raphaels bestehe „statt der zusammenhängenden Erzählung [aus] eine[r] Reihe von Reflexionen", 74 analog zu dem Urteil Julian Schmidts über Grimm als Geschichtsschreiber, dessen „Reflexionen [ . . . ] nicht selten bedeutender als die Behandlung selbst" sind, so daß die „Subjectivität" des Verfassers „zu stark herv o r t r i t t ] " und die Erzählung von der „Blässe des Gedankens" „angekränkelt" ist. 75 Forder69 70 71 72 73
Widhammer: Realismus und klassizistische Tradition, S. 143. Vischer: Vorwort zu Springer: Handbuch der Kunstgeschichte, S. III. Schmidt: „Adalbert Stifter. [Rez. zu:] Der Nachsommer", in: Gb 17/1 (1858), S. 1 6 1 - 1 7 2 , S. 172. Springer: „Justi's Winkelmann", in: Im neuen Reich 3/2 (1873), S. 281-288, S. 282 f. Siehe [anonym:] „Neue Schriften über bildende Kunst", in: Gb 13/1 (1854), S. 4 5 6 - 4 6 0 u. 13/2, S. 1 3 6 - 1 3 9 ; [Freytag:] „Neue Bücher über bildende Kunst", in: Gb 14/2 (1855), S. 137-142; [Anonym:] „Die Bedeutung der Kunstgeschichte für unsre Zeit", in: Gb 14/1 (1855), S. 287-295; [Anonym:] „Kunstgeschichte", in: Gb 15/1 (1856), S. 9 2 - 9 7 (S. 95 zu Springer); [Anonym:] „Anton Springer. [Rez. zu:] Geschichte der bildenden Künste im 19. Jahrhundert", in: Gb 17/1 (1858), S. 4 6 5 - 4 7 0 ; I. M.: „Lübkes Verdienste um die Kunstgeschichte", in: Gb 25/4 (1866), S. 263-269; [Anonym:] „Lübke's Kunstgeschichte", in: G b 27/4 (1868), S. 1 4 6 - 1 4 9 ; u.ö.
74 Springer: „Raphaelstudien. (H. Grimm, das Leben Raphael's von Urbino. Berlin 1872)" [Rez.], in: Zeitschrift[ür bildende Kunst 8 (1873), S. 65-80, S. 65. 75 Schmidt: „Hermann [sic!] Grimm's .Unüberwindliche Mächte'", in: Preußische Jahrbücher 20 (1867), S. 1 5 5 - 1 6 9 , S. 159 und 169. Zum distanzierten Verhältnis zwischen Grimm und Schmidt vgl. Strasser: Herman Grimm. Zum Problem des Klassizismus, S. 62.
140
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton
Springer
ten im Jahr 1854 die Grenzboten für die Geschichtsschreibung eine „feste plastische Hand, die uns die Vergangenheit als lebendige Gegenwart verzaubert", 76 rekurriert Springer 1877 bei der Beurteilung von Freytags Werken auf dasselbe Theorem, nach dem mittels einer Einheit von Inhalt und Form die Präsenz des Vergangenen evoziert werden soll: Freytag verwandle „stets die Klumpen historischer Gelehrsamkeit in das flüssige Gold der Poesie, [...] Und weil alle diese Gestalten Mark und Blut besitzen, werden sie [...] natürlich in plastische Formen gekleidet." 77 Springers Parallelbiographie kommt diesen Kriterien auf besondere Weise nach. Auf der Ebene der epischen Integration setzt sie das Ideal einer Verbindung der Einzelteile durch fließende Ubergänge um. Ein solches gleitendes Formverständnis vertritt Springer noch im Dürer, wenn er dort auf den ,,historische[n] und litterarischefn] Sinn" hinweist, der einen ,,lebendige[n] Fluss der Erzählung" einfordert. 78 Das historiographische Ideal der lückenlosen Verschränkung wird an den Nahtstellen zwischen den biographischen Handlungseinheiten von Michelangelo und Raffael besonders deutlich, wenn das jeweilige Sequenzende mit fast voraussagbarer Regelmäßigkeit den anderen Erzählstrang ankündigt: Mit dem Satz „So trat der Urbinate zum ersten Male in die Kreise Michelangelos" (RM, 37) schließt das erste Kapitel und leitet zu Raffael über, indem Springer auf Vasaris Bericht von Raffaels Besichtigung von Michelangelos Karton der Badenden rekurriert. Das fugenlose Ubergehen setzt sich am Ende des ersten Raffaelabschnitts fort: „Michelangelo und Leonardo hatten schon früher Florenz verlassen, jetzt folgte ihnen auch Raffael." (RM, 97), und ebenso diesmal zu Beginn von Kapitel VI - beim Wechsel von der Beschreibung der Sixtinischen Decke zu Raffaels Ankunft in Rom: „Die gangbare Tradition weckt den Schein, als wäre Michelangelo zu der Zeit, als Raffael zuerst die Schwelle des Vaticans überschritt, längst in Rom eingebürgert gewesen." (RM, 141) Verben der Aktion (treten; verlassen; folgen; überschreiten) und räumliche Markierungen verweisen darauf, daß der Text trotz der Simultanität in der Parallelhandlung eine kontinuierliche Bewegung von Raum und Zeit evoziert, die dem dynamischen Erzählideal der realklassizistischen Prosa nahekommt. Mit dem sprachlich gleitenden Kontinuum korrespondiert schließlich eine Strategie der Visualisierung, bei der die Holzstiche von Raffaels beiden Papstporträts zu Beginn von MichelangeloHandlungen positioniert werden (RM, 98, 221). Indem Raffaels Werke in den biographischen Abschnitten zu Michelangelo gleichsam wildern, wird auch hier ein einheitlicher Zusammenhang hergestellt, der an die „liaison des scènes" im klassischen Drama erinnert, also dem dramentypischen „Engschluß der Handlung und lückenlose[n] Szenenfolge" 79 entspricht. Zu einem zeitlichen Fluß und einer (manchmal auch nur scheinbaren) Motivationskette werden auch die übrigen Einzelglieder verknüpft. War die Forderung nach einer darstellerischen Homogenisierung von Kultur- und Kunstgeschichte schon in den 1850er Jahren in
76 77 78 79
[Anonym:] „Neue historische Schriften", in: Gb 13/2 (1854), S. 161-178, S. 162. Springer: „Prachtwerke des Kunsthandels", in: Im neuen Reich 7/2 (1877), S. 917-920, S. 918. Springer: Albrecht Dürer, S. 161. Klotz: Gechlossene und offene Form im Drama, S. 27 und 65.
5. Anton Springer, der Historiograph
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den realistischen Kritiken zu kunstgeschichtlichen Werken ubiquitär,80 so liebt es Springer in der Parallelbiographie, die Bildbeschreibungen in Beziehung zum kulturhistorischen Zusammenhang zu setzen. Zum Beispiel integriert er die Beschreibung von Raffaels Juliusporträt in den papstbiographischen Exkurs und erzeugt so einen unbemerkten Übergang zur Charakterzeichnung, dessen Anschaulichkeitsmodus zwischen den Ebenen von Beschreibung und historischer Erzählung schwebt: „So wie er dasitzt, die Arme leicht auf die Lehnen des Stuhles gestützt [...]. Ein gar gewaltiger Herr, unablässig thätig und mit grossen Plänen beschäftigt, auf den Niemand Einfluss gewinnen kann, der dagegen Alle beherrscht. [...]" (RM, 101) Ferner verzahnt Springer die einzelnen Beschreibungen, wenn er zum Beispiel von Michelangelos Auftrag für die Piccolomini-Kapelle in Siena zur Kolossalstatue des David überleitet: „Die Natur des Gegenstandes mochte ihn wenig gelockt und ihm das Aufgeben des Werkes leicht gemacht haben. Das grösste Hinderniss war aber jedenfalls eine neue zusagendere Bestellung, welche er kurz darauf erhielt." (RM, 22) An diesen gleitenden Ubergängen, von denen sich die formal abgezirkelten und rhetorisch akzentuierten Velázquez-Ekphrasen Carl Justis wesentlich unterscheiden, zeigt sich, daß Springer auch hier dem Beschreibungsverständnis der realklassizistischen Kritik nahekommt: Der Widerwille gegen eine „Kunstgeschichte in Sonettenform" 81 ähnelt dem ästhetischen Verdikt eines Julian Schmidt, welcher der romantischen Kritik vorwirft, „Dithyramben" zu singen und nur auf „Witz und die Phantasie des Kritikers" aus zu sein. Wenn dieser der romantischen Beschreibungspoesie den Satz entgegenhält, daß „die Prosa[] den Proceß des Denkens" 82 abzubilden habe, dann ist dies signifikant für die Vorgeschichte von Springers Formverständnis: Die in Lessings Laokoon vollzogene Abgrenzung zur Beschreibungspoesie wird hier insofern reaktiviert, als daraus die Forderung an die Kunstkritik entsteht, lyrisch getönte oder rhetorische Stilmuster zu vermeiden. Dem Anschein, über eine kongeniale Evokation das Kunstwerk in der Beschreibung poetisch reproduzieren oder überbieten zu wollen, setzt die realklassizistische Auffassung das Gesetz der Prosa entgegen: „Der romantischen Kritik kommt es weniger darauf an, ihrem Gegenstand gerecht zu werden, als etwas Geistreiches darüber zu sagen. Sie liebt daher die Bilder, die Nuancen, überhaupt die colorirte Sprache[.]" 83 Ähnlich wie bei Hermann Hettner, der schon 1845 dieselben Argumente gegen eine sprachschöpferische Wiedergabe des Bildgehalts ins Feld führte und sich damit implizit gegen einen poetologisch eigenständigen Beschreibungsbegriff aussprach,84 wird durch das Festhalten am Sukzessionsprinzip die Beschreibung als formal eigenständige Textform ausgehöhlt. Hier kündigt sich, sieht man von der nach wie vor ästhetischen Intention dieser Forderung ab, ein Ubergang zum positivistischen Beschreibungsbegriff an, der 80 Vgl. z.B. [anonym:] „Die Bedeutung der Kunstgeschichte für unsre Zeit", in: Gb 14/1 (1855), S. 287-295, S. 294 f: „Wir haben jetzt gelernt, die Kunstgeschichte ebenso als ein Moment der allgemeinen Culturgeschichte , d. h. als ein einzelnes Symbol von der allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes aufzufassen, wie jede andere Geschichte." 81 Springer: „Ein neues kunsthistorisches Buch. Selbstanzeige von Anton Springer" [Ubersetzung v. Crowe/Cavalcasselle: The early flemish painters], in: Im neuen Reich 5/2 (1875), S. 696-702, S. 700. 82 [Schmidt:] „Vorwort zum neuen Semester", in: Gb 11/3 (1852), S. 1-9, S. 2. 83 [Anonym:] „Studien zur Geschichte der französischen Romantik", in: Gb 9/2 (1850), S. 41-50, S. 42. 84 Hettner: „Gegen die speculative Aesthetik", S. 183.
142
II. Realistischer
Klassizismus. Methodik und Darstellung
bei Anton
Springer
das Kausalitätspostulat des Erklärens mit dem des Beschreibens in eins setzt und die Beschreibung als geeigneten Modus wissenschaftlicher Verfahren ansieht, der aufgrund seines exakt regulierten Vorgehens sprachliche Dunkelheiten zu umgehen sucht.85
5.3. Evidenz des Lebens. Zur Biographie-Diskussion im
Grenzboten-Kreis
„[Vollendete Kunst", führt Julian Schmidt gegen Herman Grimm an, „weiß die Spuren dieser inneren und äußeren Arbeit bis zu einem gewissen Grade zu verwischen und den Schein zu erregen, als sei das Product der Eindrücke auf die Seele des Verfassers ein wirkliches, dem Leser gegenüberstehendes Bild." 86 Ebenso formuliert Springer seinen Einwand gegen Justi: „[E]in historisches Buch, namentlich eine Biographie, [ist] einer Kunstschöpfung gleich zu achten, daß das schwere Rüstzeug der Arbeit, nachdem das Werk vollendet ist, nirgends das Auge treffen darf, der spröde Stoff überwunden, die Darstellung durchsichtig sich zeigen muß." 87 Ironischerweise wird hier für die wissenschaftliche Darstellung gerade dasjenige negiert, was der idealrealistische Forschungsimperativ mit der Rekonstruktion der Werkgenese einforderte (siehe Abschnitt 2.3.): Denn wenn Schmidt und Springer vom wissenschaftlichen Autor die Verdrängung aller produktionsästhetischen Spuren und sein Verschwinden hinter dem organisch geformten Textkörper verlangen, dann bezeugt dies einen Widerspruch, welcher der realistischen Ästhetik inhärent ist: Die Ablehnung der creatio ex nihilo als schöpferisches Prinzip bedeutet nicht, daß die Spuren des eigenen (literarischen, künstlerischen, wissenschaftlichen) Schaffens offengelegt werden sollten; deren Verdrängung ist sogar unerläßlich für ein wissenschaftliches Darstellungskonzept, das sich dem verbalisierten Nachvollzug der Werkgenese verschrieben hat. Wenn sich jedoch Springer im obigen Fall sogar auf die biographische Gattung bezieht, dann wird daran deutlich, daß die Disjunktion von Dargestelltem und Darstellung nur eine scheinbare ist: Der Lebensbezug dient als idealer vereinheitlichender Konnex zwischen beidem, der erst mit dem Zurücktreten des Autors zur vollen Sichtbarkeit kommt. Die enge Beziehung zwischen werkgenetischer Rekonstruktion und biographischer Form resultiert zugleich aus dem mediengeschichtlichen Einschnitt der Fotografie, der ja gerade im Bereich der monochromen Handzeichung die Wertschätzung als kunsthistorisches Arbeitsmedium widerfährt. Laut Springer ermöglicht die Fotografie eine „ununterbrochene Unterstützung des Wortes durch das Bild" (und nicht umgekehrt!), die „stets gleichzeitig zum Auge und Ohre spricht" und somit die Gefahr verhindert, „sich von der Wissenschaft zu entfernen. Im Gegentheile; der der Lehre durch die Gegenwart des Bildes auferlegte Zwang, bei der Sache zu bleiben, und dann wieder den Impuls, welcher dem Auge verliehen wird, das geschaute und erklärte Bild zu zergliedern und von neuem aufzu85 Vgl. Kaulbach: Das Beschreiben, S. 52 ff, ibs. S. 64. Vgl. hierzu die Abgrenzung von Springers Beschreibungsverständnis von der Definition des Physikers Gustav Kirchhoff in Abschnitt 2.3. 86 Schmidt: „Hermann Grimm's Unüberwindliche Mächte'", in: Preußische Jahrbücher 20 (1867), S. 155-169, S. 159 und 169. 87 Springer: „Justi's Winkelmann", in: Im neuen Reich 3/2 (1873), S. 281-288, S. 282.
5. Anton Springer, der Historiograph
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bauen, [ist] der wesentlich demonstrirende Charakter der Kunstgeschichte^]" 8 8 Wie in der universitären Lehre, so auch in der historiographischen Praxis: Aufgrund der neuen und authentisch wirkenden Allpräsenz des Anschauungsmaterials kann Springer eine stabile Wort-Bild-Beziehung postulieren, die auf darstellerischer Ebene mit der realistischen Forderung nach einer ungekünstelten, rhetorisch zurückgenommenen Anschaulichkeit verschmilzt. 89 Eine gute Uberlieferungslage vorausgesetzt, stattet die fotografisch abgestützte Rekonstruktion des Schaffensprozesses das biographische Modell mit einem hohen Plausibilitätswert aus, so daß die Werkgenese zum zentralen Bestandteil der historiographischen Ereignisverkettung wird. So geben die Handzeichnungen und Skizzen die „Gedanken des Künstlers in durchsichtiger Klarheit wieder" und stellen in der Abfolge ihrer Beschreibung eine gleitende Verknüpfung her, indem sie ,,[u]ngezwungen" aufeinander überleiten (RM, 239). Jenseits der klassischen Vorstellung von rhetorischer Anschaulichkeit (enargeia) steigert sich damit die biographische Erzählung zur direkten Evidenz, die durch die Synthese der Einzelteile scheinbar höchste Transparenz erzeugt. Gerade dies, ein prozessualisierter Darstellungsbegriff und die lebensnahe Widerspiegelung des Einzelnen, konveniert mit dem realistischen Programm: Dem editionswissenschaftlichen Kriterium der Authentizität 9 0 nicht unähnlich, wird die Verbindung des wissenschaftlichen Gegenstandsbereichs der Kunstgeschichte mit der poetologischen Forderung nach wirklichkeitsnaher Darstellung zum ästhetisch anspruchsvollen Verfahren. Die künstlerische Produktion als Ereignis, das noch den Werkbegriff überbietet, zu würdigen, heißt in letzter Konsequenz, den Schaffensprozeß nicht einfach .aufzuschreiben', sondern vor dem geistigen Auge des Lesers erneut zu beleben. Auf dem Umweg von Authentizität und Wirklichkeitsnähe findet die Rekonstruktion der Werkgenese in der Biographik ein formales Korrelat, welches mit den höchsten Merkmalen der Wirkungsästhetik geadelt wird. Damit erhält die in die Biographie inkorporierte Darstellung des Schaffensprozesses das Signum des Authentischen - ein Faktum, das in der historiographischen Diskussion disziplinübergreifend konstatierbar ist: Egal, ob es sich hierbei um Theodor Wilhelm Danzels Lessing (1850), der in Reaktion auf die kritische Edition Lachmanns entsteht, 91 um Otto Jahns Mozart (1856-59), der den Schaffensprozeß emphatisch feiert, oder um Springers Raffael und Michelangelo handelt: Das organische Herauswachsen des künstlerischen Individuums aus seinem kulturellen Umfeld erscheint für die Realisten durch nichts vitaler, als wenn es durch Werkgenese plausibilisiert wird.
88 Springer: „Ueber das Gesetzmäßige in der Entwicklung der bildenden Künste", S. 762 f. 89 Es geht deshalb nicht um die Auflösung des kunsthistorischen Textes zugunsten von Abbildungen, wie es die Vorrede von Raffael und Michelangelo nahezulegen scheint (vgl. RM, S. I f), sondern um eine konzeptionelle Durchdringung von Wort und Abbildung. In diesem Sinne fordert Springer in späteren Jahren die Dämpfung von zu intensiven Farbreproduktionen, damit ein einheitlich fließendes Gebilde aus Text und Illustration entsteht. Vgl. Springer: „Die Aufgaben der graphischen Künste", S. 11. 90 Vgl. Klaus Grubmüller/Klaus Weimar: Art. „Authentizität", in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft I, S. 168 f: Der Begriff wird hier allein vom editionswissenschaftlichen Standpunkt gefaßt. 91 Zu Danzel vgl. Kruckis: ,Ein potenziertes Abbild der MenschheitS. 92 ff.
144
II. Realistischer
Klassizismus.
Methodik
und Darstellung
bei Anton
Springer
So ist es kein Zufall, daß Springer O t t o Jahns vierbändigen W. A. Mozart als das „bisher unerreichte Muster einer kunsthistorischen Biographie" bezeichnet hat. 92 In Hinblick auf die Vermutung, daß sich Springer offenbar schon Ende der 50er Jahre mit dem Gedanken trug, die Parallelbiographie zu schreiben, 93 und angesichts der Tatsache, daß gleichzeitig die Darstellungskonzeption des Mozart im Zirkel Jahns und Freytags ausgiebig diskutiert wurde, scheint eine enge Beziehung zwischen den biographischen Modellen Jahns und Springers zu bestehen. Nicht nur, daß Jahn ursprünglich ein ähnliches Projekt wie Springer plante, nämlich eine Trilogie aus Mozart, Beethoven und Haydn, die ein „Stück deutscher Kunst- und Culturgeschichte" 9 4 ergeben sollte; auch die für den programmatischen Realismus typische Bemühung um „ein lebendiges Stück Kunstgeschichte", das die „Musik ohne Beschreibung, Epitheta, Novellen usw." verständlich machen soll, 95 ist unverkennbar. Eine Analogie zu Springers Raffael-Bild besteht schon im Entwurf des Schöpferischen: Als leistungsbetonte, vitale Genies und zugleich mit einem liebenswerten Sozialverhalten ausgestattet, vermitteln Raffael wie Mozart das Bild von einer unproblematischen, im Einklang mit Natur und Lebenswelt stehenden Existenz, deren „Thätigkeit in jedem Moment als der Ausfluß der vollendeten Kraft und Gesundheit der gesammten Organisation zu empfinden ist". 96 Die schöpferische Disposition besteht in der ,,wunderbare[n] Fähigkeit zu wachsen und ohne Schädigung des Kernes der eigenen Natur eine offene Empfänglichkeit für fremde Eindrücke zu bewahren und das Brauchbare davon in sich aufzunehmen" (RM, 208 f) bzw. in der Begabung, äußere Einflüsse durch die „eigene Schaffenskraft zu beleben", „unmittelbar in sich" aufzunehmen und „dem eigenen Wesen" zu assimilieren. 97 Und ähnlich wie Springer vertritt Jahn eine sensualistische Auffassung vom Schaffensprozeß, nach der sich sämtliche Faktoren zu einer Einheit zusammenschließen: „[B]ei dem Hervorbringen eines wahren Kunstwerks [durchdringen sich] in jedem Moment Erfinden und Arbeiten, Schaffen und Ausbilden, Wollen und Können untrennbar untereinander". 98 Die Produktivität beider Künstler - ihre Analogiesetzung ist im 19.Jahrhundert topisch 99 - entfaltet sich im freien Spiel und mildert somit einen agonalen Gegensatz zur gesellschaftlichen Ordnung. Wahres Schöpfertum gründet hier auf Moralität und redlicher Lebensführung. Wenn Jahn sehr folgerichtig bedauert, daß Mörikes Mozart-Novelle (1855) „die Seite des leichten Lebemannes" zu stark hervorkehrt und „eine Art des Componirens" beschreibt, die „seiner künstlerischen Natur so fern wie möglich lag", 100 dann entspricht 92 Springer: „Otto Jahn. Gedächtnißrede, gehalten im archäologischen Auditorium der Bonner Universität am 25. October 1869", in: Gb 28/4 (1869), S. 201-213, S. 204. 93 So nachzulesen bei Janitschek: „Anton Springer als Kunsthistoriker", in: AmL, 377 f. 94 Jahn an Hermann Härtel, Bonn 12.12.1855, in: Otto Jahn in seinen Briefen, S. 113. 95 Jahn an Hermann Härtel, Bonn 1.12.1855, sowie an Gustav Hartenstein, Bonn 31.12.1855, in: Ebd., S. 110 und 119. 96 Jahn: W. A. Mozart III (1858), S. 430. 97 Ebd., 11 (1856), S. 300. 98 Ebd. 99 Vgl. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, MA 19, S. 338 (16.12.1829), ferner: S. 266 (11.10.1828), S. 606 (11.3.1828). Weitere Belege siehe Oskar Fischel: Art. „Santi (Sanzio), Raffaello", in: Thieme/Becker Bd. 29, S. 445. 100 Jahn: W. A. Mozart IV (1859), S. 296.
5. Anton Springer, der
Historiograph
145
dies entschieden der als realistisch propagierten Auffassung von einem Künstlertum, welches sich über gesellschaftliche Eingliederung definiert, somit jegliche Problematik der künstlerischen Existenz verdeckt und nicht zuletzt die Möglichkeit eines schöpferischen Augenblicks wie in Mörikes berühmter Pomeranzenszene dementiert. 101 Darüber hinaus wird, indem Jahn den Charakter Mozarts glättet und mit seiner Lebenswelt harmonisiert, in prototypischer Weise die Beziehung zwischen Wissenschaft und nationalliberaler Ethik deutlich: Zentral ist hier nicht das „romantische Vorurtheil, welches gern im Gefühl des Contrastes zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit" schwelgt, sondern ganz im Gegenteil die Grundüberzeugung, daß das Individuum, um schöpferisch zu sein, an der „vernünftigen Ordnung und Sitte" partizipiert. 102 Jene Sätze Julian Schmidts über Jahns Buch - sie erscheinen bezeichnenderweise in demselben Quartalsband der Grenzboten wie Springers Aufsatz zum gotischen Schneider - umschreiben präzise den Forschungsauftrag, mit dem die Kunstwissenschaften gegen die „leeren Fictionen eines sentimentalen Künstlerthums" vorzugehen haben. In das „Innere des Herzens" 1 0 3 empirisch einzudringen, bedeutet zugleich, den von den Romantikern angeblich überbetonten Konflikt zwischen Poesie und Leben zu entschärfen und ihm positive, .realistische' Beispiele entgegenzusetzen. Damit positioniert sich die wissenschaftliche Künstlerbiographik um die Mitte des ^ . J a h r h u n derts in direkter Konkurrenz zum Künstlerroman, der nach dem Urteil Schmidts zwischen trivialer Verklärung und Desillusionierung pendelt: Die realklassizistische Antwort auf diesen Mißstand kann nur die strenge Verpflichtung auf eine kausalitätsbasierte Darstellung sein, die den falschen Illusionen von künstlerischer Produktivität die Spitze abbricht. Und richtig: Gottfried Kellers Grünem Heinrich weiß man entgegenzusetzen, daß „in der Poesie [...] das Gesetz der inneren Causalität noch in viel höherem Grade [gilt], als in der sogenannten Wirklichkeit." 1 0 4 Bezeichnend an der Rezension ist nicht nur, daß sie Keller als irrationalistisch diffamiert, sondern auch, daß der kausalen Motivierung des Dargestellten eine ethische Konnotation zukommt, die der nationalliberalen Forderung nach positiven (Künstler)Helden gerecht wird. Die Abneigung gegen problematische Charaktere wirkt sich auch auf Springers Michelangelo-Konzeption aus. 105 Anders als bei Raffael, bei dem die „Wechselfälle des Schicksals, die dramatischen Wendungen, die scharfen Einschnitte in der persönlichen Entwicklung"
101 Zu dem Kreativitätskonzept in Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag vgl. Blamberger: Das Geheimnis des Schöpferischen oder: Ingenium est ineffabileS. 130-149. 102 J[ulian] S[chmidt]: „W. A. Mozart von Otto Jahn [...]" [Rez.], in: Gb 17/1 (1858), S. 21-31, S. 24. 103 Ebd., S. 21 und S. 24. 104 [Anonym:] „Neue Romane. [Rez. zu:] Der grüne Heinrich, Roman von Gottfried Keller", in: Gb 13/1 (1854), S. 401-405, S. 405. 105 Zur deutschen Michelangelo-Rezeption vgl. Seibt: „Michelangelo in Deutschland. Von Winckelmann bis Thomas Mann"; Seidel: „,Nur künstlerische Gedanken'. Die Bedeutung Michelangelos in Jacob Burckhardts .Kunst der Renaissance'". Von Verbiederung und Übertragung eines „bürgerlichen Tugendkodex" auf Michelangelo in der deutschen Rezeption um 1870 spricht Christine Tauber in ihrem Aufsatz ,„Mit einem Kranze aus dem Laube unserer hercynischen Wälder...'", S. 278.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton
Springer
fehlen und dessen Leben man am besten mit der Beschreibung seiner Werke erzählt, 106 kann die Michelangelo-Handlung für eine differenzierte erzählerische Gestaltung genutzt werden (siehe Abschnitte 5.4 (a) und 5.5.). Jedoch wird auch hier - wie in Jahns Mozart - das Künstlerbild zugunsten eines leistungsethischen Ideals korrigiert. Denn entscheidend ist, daß Springer in Michelangelo einen homogenen, sittlichen Charakter konstruiert, der hinsichtlich der Faktenauswahl an einen normierten Realitätsbegriff gebunden ist. Die Momente der Demütigung und die Leidenstopik, die die Michelangelo-Viten Vasaris und Condivis mit hagiographischen Zügen ausstatten, 107 werden von Springer in weiten Teilen ausgeblendet. Es fehlen feste Bestandteile der Anekdotik oder historisch verbürgte Details wie die Prügel des Vaters, die physische Züchtigung durch Julius II. oder der Faustschlag Pietro Torrigianos. Dem erdverhafteten Moralismus der Realklassizisten kommt außerdem entgegen, daß die Charakteristik Michelangelos als religiöser Schwärmer an Relevanz verliert: Die Spekulation über eine geistige Nähe zu Savonarola, dessen Predigten in den Biographien von John Harford (1858) und Herman Grimm (1860) ausschweifend besprochen und zitiert werden, 108 fehlt bei Springer vollständig. Mit der Ausscheidung dieser biographischen Elemente und der daraus resultierenden sittlichen Tatbezogenheit korrespondiert die Entproblematisierung des Gewaltmenschen Michelangelo: So ist die Parallelbiographie darum bemüht, die Reizbarkeit des Helden auf ein Mindestmaß zu reduzieren bzw. diese immer im sozialen Zusammenhang zu erzählen. An die Stelle des Hauptcharakterzugs der terribilità tritt schließlich das Bild des fürsorglichen Familienmenschen und Privatmanns. Wenn es gegen Ende der Parallelbiographie heißt, daß in Michelangelos „Familiensinn" der „Grundzug seines Charakters" zu erkennen ist und dieser „allein den Schlüssel zum Verständniss seines Handelns" bietet (RM, 462), dann ist dies nicht nur als Reflex auf Milanesis Edition der Briefe an die Familie zu verstehen, es gliedert sich auch nahtlos in die poetologischen Axiome des realistischen Bildungsromans ein, welcher die Entwicklung des bürgerlichen Helden im Telos der Familie münden läßt.109 Die verflachte Humanisierung von Michelangelos Charakter auf einen ethischen Kern währte freilich nur eine kurze Dauer, bis die pathologischen Züge im Michelangelo-Kult der Jahrhundertwende Wiederaufleben sollten.
5.4. Springer versus Grimm: Dramatische und symbolische Erzählkonfiguration In der argumentativen Doppelbödigkeit bemerkenswert übereinstimmend mit den Axiomen der zeitgenössischen Literaturkritik hat Springer dem realklassizistischen Vermittlungspostulat zwischen wirklichkeitsnaher Darstellung und ästhetisierter Gesamtkom106 „Raphael's Leben sind seine Werke; wer jenes erzählen will, merkt bald, daß er nichts Besseres, ja kaum etwas Anderes thun kann, als diese zu beschreiben." Springer: „Raphaelstudien. (H. Grimm, das Leben Raphael's von Urbino. Berlin 1872)" [Rez.], in: Zeitschrift für bildende Kunst 8 (1873), S. 65-80, S. 65. 107 Siehe hierzu passim Pon: „Michelangelo's ,Lives': Sixteenth-Century Books by Vasari, Condivi, and Others". 108 Vgl. Harford: The Life of Michael Angelo Buonarroti with Translations of many of his Poems and Letters, II, S. 158-216; Grimm: Lehen Michelangelo's, I, S. 111-120, 207-220. 109 So z. B. bei Vischer: Aesthetik VI, S. 178, § 879. Vgl. dazu Kinder: Poesie als Synthese, S. 99 f.
5. Anton Springer, der
Historiograph
147
position in der Vorrede zu Raffael und Michelangelo entsprochen. Dort avanciert der fotografische Katalog zum höchsten wissenschaftlichen Ideal, da er eine Zukunft ermöglichen soll, in welcher „alle Mühsal erwägender kritischer Forschung beendigt, jeder wichtige Zweifel gelöst, jede Ungewissheit über das vergangene Leben gehoben sein wird." (RM, I) Mit der Perfektionierung kunstwissenschaftlicher Abbildungsapparate bricht somit ein postreflexives Zeitalter an, das alle Kritik aufhebt, d. h. im realistischen Klartext: die Probleme der Gegenwart endgültig löst und das gegenständliche Denken zur reflexionsfreien Anverwandlung bringt. Die in den technischen Fortschritt projizierte Heilserwartung verfällt aber sogleich in einen dezidiert poetologischen Diskurs, indem der Folgesatz unvermittelt einen Zusammenhang zum imaginierten Wissenschaftsideal herstellt: „Die Erzählung umkleidet dann ein reizender naiver Schein, die Ereignisse werden einfach, klar und durchsichtig, so wie sich dieselben entwickelt haben müssen, geschildert, die ganze Wahrheit, von keinen kritischen Grübeleien belastet, lebendig, in verklärter Form, mit dramatischer Wirkung ausgesprochen." (ebd.) Die Einfachheit in der Darstellung, bei gleichzeitigem Abbau des Kritisch-Reflexiven, verbindet sich hier mit einem Materialienbezug, der eine naive Lebendigkeit suggeriert. Zu diesen beiden Elementen, der in den fotografischen Abbildungen fixierten Gegenständlichkeit und der darin fundierten gedanklichen Transparenz, tritt nun ein drittes hinzu, welches die Kette der Fakten künstlerisch überwölbt und nur dadurch einen einheitlichen Zusammenhang garantiert: „Dieses Ideal der Geschichtsschreibung, ihren Anfängen nicht unähnlich, nur dass jetzt mit künstlerischen Mitteln erreicht wird, was damals in unmittelbar naiver Weise geschah, steht noch in weiter Ferne." (RM, II) In der Berufung auf die antike Historiographie und in der gleichzeitigen Abgrenzung zu ihr wird die hohe Erwartung an die kunsthistorische Darstellung deutlich: Sie überwindet einerseits die Reflexion, da frei von „kritischen Grübeleien", und kehrt zu ihren Anfängen zurück, andererseits erreicht sie ein höheres Niveau als diese, indem sie durch die formale Konzeption die alte Naivität substituiert. Der terminologisch evidente Widerspruch in der unterschiedlichen Verwendung des Naiven kann hier nur im Kontext der realistischen Programmatik gedeutet werden: Denn durch die künstlerisch-technische Gestaltung und den mit ihr entstehenden naiven Eindruck auf der Rezeptionsebene kristallisiert sich die wirkungsästhetische Funktion der kompositorischen Ordnung heraus. Während die naive Unmittelbarkeit als überwunden gelten soll, evozieren die modernen „künstlerischen Mittelf]" einen ,,reizende[n] naive[n] Schein" (RM, I) - als „Schein" und in „verklärter Form" ist somit das Naive nur noch mittelbar und läßt sich nur durch formal-technische Kunstgriffe erzeugen. Mit der Differenzierung zwischen reflexionsfreiem Realitätsbezug und kompositorischer Gesamtform erhebt die Vorrede von Raffael und Michelangelo einen formalen Dualismus zum Darstellungsprinzip, der sich narratologisch nach zwei Kriterien einteilen läßt: 110 einmal nach der Kategorie der kausalen Motivierung, die die kunstgeschichtlichen Tatsachenzusammenhänge folgerichtig verkettet; und einmal nach der Kategorie der kompositioneilen Motivierung, welche den kunsthistorischen Nexus einer „künstlerischen" Ordnung unterwirft. In Raffael und Michelangelo erschließt sich diese kompositioneile Motivierung über die Parallelhandlung, deren Grobstruktur sich durch alternierende Kapi110 Vgl. hierzu Martinez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie,
S. 111 und 114.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik
und Darstellung
bei Anton
Springer
telpaare auszeichnet. Der Umstand, daß sich Springer auf eine „dramatische Wirkung" der Kunstgeschichtsschreibung beruft, legt nahe, dieses Prinzip mit einem gattungspoetologischen Kontext zu verbinden.111 Diese Vermutung soll an folgenden Postulaten verifiziert werden (Abschnitt a)): Eine dramenanaloge Konzeption müßte an Verweisungen und Textsignalen erkennbar sein, die sich zwischen beiden Handlungssträngen ergeben und dadurch eine struktural-inhaltliche Beziehung erzeugen. Als formales Regulativ würde dann die Parallelhandlung ein nach Phasen gegliedertes Modell der gegenseitigen Steigerung und Kontrastierung bewirken. Neben diesen räumlichen und zeitlichen Parallelfaktoren kämen Elemente zur Geltung, die im referentiellen Gefüge gezielt Signale setzen und dadurch den dramatischen Effekt verstärken. Natürlich steht außer Frage, daß viele dieser biographischen Stationen auch nach heutigen Kriterien unstrittige Forschungsmeinung sind. In ihrer spezifischen Zusammenführung erhalten sie jedoch eine bedeutungsstiftende Funktion, die untrennbar mit einem anthropologischen Entwurf verbunden ist. Damit wird die Parallelbiographie von einem poetologischen Gerüst stabiliert, das rezeptionsleitend ist und einen maßgeblichen Aufschluß über Springers Wissenschaftskonzeption gibt. Diese These soll der Abschnitt b) zusätzlich plausibilisieren: Auch das Leben Michelangelo's von Herman Grimm findet in Raffael ein parallel erzähltes Pendant zu Michelangelo. Die dortige Konzeption unterscheidet sich jedoch ideell und formal von den Grundsätzen bei Springer. Der Gegensatz zwischen beiden Autoren beruht auf zwei unterschiedlichen Transfer- und Verarbeitungsformen kunsthistorischen Wissens, die sich am Kontrast ihrer argumentativen und darstellerischen Strategien aufzeigen lassen.
a) Die dramatische Erzählkonfiguration in der Parallelbiographie Eine dramenpoetologische Verbindung zur Parallelbiographie erfordert zunächst ein Abstecken des historiographischen Feldes, innerhalb dessen das Verhältnis von Geschichtlichkeit und Drama diskutiert wird. Zwei prominente Aussagen belegen, daß die liberale Geschichtstheorie zwar eine von Hegel herrührende Tradition 112 fortschreibt, für ihre formale Realisierung aber höchst unterschiedliche Optionen bereithält. Die Darstellungstypologie in Droysens Historiknl führt das tragische Element der Geschichte im subalternen Bereich: Das Tragische bildet eine von vier Unterkategorien in der „erzählenden Darstellung", die wiederum zusammen mit der „didaktischen", „diskussiven" und „untersuchenden" Form vier Grundtypen ausbildet. Indem hiermit das Tragisch-Katastrophische auf eine spezifische Fragestellung verpflichtet wird, ist es nicht als allgemeines Formgesetz generalisierbar. Als tragisch und katastrophisch definiert Droysen interpretatorisch gefilterte, geschichtliche Ereignisse, in denen partielle Wahrheiten sozialer, sittlicher oder politi111 Die Forderung nach einer Übertragung dramatischer Gesetze auf die Prosa ist für den programmatischen Realismus typisch. Vgl. Widhammer: Realismus und klassizistische Tradition, S. 9, 184. 112 Vgl. White: Metahistory,
S. 1 1 1 - 1 7 5 ; zum Gattungsprimat des Dramas in der Poetik zwischen
Vor- und Nachmärz vgl. Tschopp: „Inszenierte Geschichte. D e r Zusammenhang zwischen Dramenform und Geschichtsauffassung als theoretisches und praktisches Problem im ^ . J a h r h u n dert". 113 Vgl. grundlegend: Rüsen: Konfigurationen
des Historismus,
S. 2 2 6 - 2 7 7 .
5. Anton Springer, der
Historiograph
149
scher Natur in Konflikten ausgetragen werden. Die geschichtliche Wirklichkeit selbst wird dadurch nach ästhetischen Merkmalen konzipiert; 1 1 4 die Frage nach einer formalen G e schlossenheit aber bleibt davon unberührt: „Der künstlerische Gedanke ist etwas anderes als der historische, der sich uns in der Forschung als der Gesichtspunkt, unter dem eine Reihe von Geschehnissen und Tatsachen zusammenzufassen und zu verstehen ist, ergeben hat." 1 1 5 Anders als die Konzeption Droysens, die mit dem Tragisch-Katastrophischen vor allem die Beschreibung von historischen Krisenerfahrungen im Blick hat, positioniert sich eine Geschichtsschreibung, die im wesentlichen von der realklassizistischen Auffassung geprägt ist und am Beispiel von Freytags Technik
des Dramas
(1863) konkretisiert werden
kann. Der dort verfolgte Entwurf stellt einen verbindlichen Regelkanon auf, dessen Versatzstücke aus der klassizistischen Dramendiskussion eklektisch zusammengefügt werden. 1 1 6 Schon aufgrund des lehrbuchartigen Charakters erscheint dieses Werk für die Parallelbiographie von Bedeutung, noch bemerkenswerter ist die Tatsache, daß Freytag in formaler Hinsicht eine Analogie zur Geschichtsschreibung bemüht: D e r Geschichtsschreiber wird „bei der Komposition seines Werkes durch Gesetze des Schaffens bestimmt, welche zahlreiche Analogien mit den Kompositionsgesetzen des Dichters haben." 1 1 7
Im
Gegensatz zum Dichter, der aus der Fülle geschichtlicher Stoffe geeignete Themen herausgreift und dadurch seine individuelle Phantasie in Bewegung setzt, dient ihm die kompositionelle Abrundung des Stoffs zur besseren Strukturierung des Materials und der Rezipierbarkeit des Historischen. Durch „sein Wissen und seine Kunst" kann er „aus dem rohen Stoffe ein höchst imponirendes Bild [...] schaffen, den mächtigsten Eindruck auf die Seele des Lesers hervorzubringen." 1 1 8 Beide, Freytag wie Droysen, bemühen die Analogie von Drama und Geschichte, doch gehen sie damit grundverschieden um. Droysen erhebt die imaginative Tätigkeit des Historikers zum erkenntnistheoretischen Problem und trennt deshalb deutlich den fiktionalen vom wissenschaftlichen Bereich. Auf diese Weise werden nach Themen und Methoden strukturierte und differenzierte Darstellungsformen notwendig. Ihre Konzeptionen werden von der Gattungspoetik gelöst und Teil einer methodisch regulierten Geschichtswissenschaft. 1 1 9 Für Freytag hingegen besteht nur ein gradueller Unterschied zwischen geschichtlicher Einbildungskraft und Fiktion. E r kann auf einer gattungsübergreifenden, „dramatischen" F o r m beharren und dadurch der Geschichtsschreibung einen wirkungsästhetischen Faktor beimessen. Mit dem Transfer von dramatischen Ordnungsmustern auf die Geschichte 114 Vgl. Schiffer: Theorien
der Geschichtsschreibung
und ihre erzähltheoretische
Relevanz,
S. 111.
115 Droysen: Historik (Hübner), S. 284 (die UnZuverlässigkeit der Hübnerschen Ausgabe, die auf der Fassung der letzten Vorlesung von 1882/83 beruht, abgerechnet). Ahnlich, wenn auch nicht ganz so prononciert, lautet die Parallelstelle in der von Peter L e y besorgten historisch-kritischen Ausgabe der Erstfassung von 1857: Droysen: Historik (Leyh), S. 231 f. 116 Eine grundlegende Studie zu Freytags Technik des Dramas,
die den wissenschaftsgeschichtlichen
Entstehungskontext, die dort systematisierten Traditionszusammenhänge und die Rezeptionsgeschichte rekonstruieren würde, ist Desiderat. Wenige Hinweise bei Burdorf: Poetik der S. 2 1 9 - 2 2 2 . 117 Freytag: Die Technik des Dramas,
S. 12.
118 Ebd., S. 12. 119 Rüsen: Konfigurationen
des Historismus,
S. 267, u. ö.
Form,
150
II. Realistischer
Klassizismus.
Methodik und Darstellung
bei Anton
Springer
bildet er zugleich ein theoretisches Fundament, welches auf die dramatische Konfliktbildung zwischen Individuum und seiner Welt rekurriert. Das Drama ist die adäquate Ausdrucksform für das in seiner Lebenswelt handelnde Subjekt. Gerade hierin liegt der wesentliche Punkt, der den Freytagschen Ansatz von Droysens Historik und anderen ,dramatischen' Historiographiekonzeptionen im 19. Jahrhundert 120 unterscheidet: Droysen trennt die biographische Form von der tragischen, weil er im Tragischen vor allem einen Geschichtshorizont erkennt, der sich auf gesamtgesellschaftliche Umbruchssituationen bezieht. Für Freytag dagegen findet das Drama eine personengebundene und zugleich anthropologisch generalisierbare Bestimmung, die den Konflikt zwischen Individuum und Lebenswelt als produktives und letztendlich positives Merkmal menschlichen Tuns definiert. Von diesem Fundament ausgehend, kann eine dramatische Formauffassung besonders für eine biographische Geschichtsschreibung attraktiv werden. Wilhelm Dilthey hat in seiner Rezension zur Technik des Dramas auf „eine der seltenen wirklichen ästhetischen Entdeckungen" hingewiesen, die Freytag in der Analyse dramatischer Bauprinzipien gemacht habe.121 An Aristoteles, Lessing und Hegel anschließend, definiere er das Grundmerkmal aus der Spannung zwischen dem „Spiel" des Helden und dem „Gegenspiel" der ihm feindlichen Kräfte: „Der Bau des Dramas soll diese beiden Gegensätze des Dramatischen zu einer Einheit verbunden zeigen, Ausströmen und Einströmen der Willenskraft, das Werden der That und ihrer Reflexe auf die Seele, Satz und Gegensatz, Kampf und Gegenkampf, Steigen und Sinken, Binden und Lösen."122 Die Neuheit dieser Formulierung besteht in ihrer radikal technischen Interpretation: Hatte Hegel im Drama deshalb die höchste Gattung gesehen, weil sich in ihm das individuelle Subjekt (Lyrik) und das Objekt der substantiellen Allgemeinheit (Epos) vereinigen und dadurch zur dialektischen Einheit gelangen,123 faßt Freytag diese Gattungsmerkmale sehr konkret als formale Bausteine auf. Das Subjekt des Spiels und das Objekt des Gegenspiels werden auf das Drama gleichmäßig verteilt, wodurch eine strikte formale Zweiteilung entsteht. Dieser formale Antagonismus läßt sich nach zwei Typen - und diese bezeichnen nach Dilthey die ästhetische Entdeckung - differenzieren: Im ersten Typus dominiert das „Spiel" bis zur Hälfte, danach überwiegt das „Gegenspiel", bei dem die Handlungsautonomie des Helden rapide absinkt. Der Held herrscht damit im ersten Teil vor, seine leidenschaftliche Spannung steigert sich bis zu dem Punkt, an dem die Reaktion der Außenwelt eintritt und er den Verhältnissen unterliegt.124 Der zweite Typus verkehrt die Abfolge von Spiel und Gegenspiel: Er stellt den Helden zunächst „in verhältnißmäßiger Ruhe unter Lebensbedingungen dar", von dort aus wird sein Handeln durch fremdbestimmende äußere Einflüsse zunehmend gereizt, bis er ab der zweiten Hälfte „in leidenschaftlichem Drange, begehrend, handelnd
120 Vgl. z.B. Philipp Müller: „Der junge Jacob Burckhardt im Kontext: Geschichtswissenschaft als Gegenwartskunst". 121 Dilthey: „Die Technik des Dramas" [Rez. zu Freytag, 1863], S. 338. 122 Freytag: Die Technik des Dramas, S. 91. 123 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 476 f. 124 Ohne näher darauf einzugehen nennt Freytag die Beispiele Antigone, Aias, Jungfrau von Orleans und Wallenstein. Freytag: Die Technik des Dramas, S. 93.
5. Anton Springer, der
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abwärts bis zur Katastrophe stürzt." 125 Beide Versionen sehen einen Konflikt zwischen Individuum und Außenwelt vor, doch bedingt sich das Scheitern der Protagonisten auf unterschiedliche Weise: Während im ersten Dramentypus der Protagonist zunehmend in der Handlungsfähigkeit eingeschränkt wird und den Widrigkeiten der Außenwelt unterliegt, geht im zweiten Typus der ab der Peripetie autonom handelnde Held an seiner eigenen Natur zu Grunde. Freytags Dramentypen lassen sich auf die Handlungsstränge von Springers Parallelbiographie übertragen. Eine solche polare Handlungskonzeption betrifft die Komponenten im Individualstil, welcher sich mit dem Element des „Spiels", also der Handlungsfähigkeit des Helden, identifizieren läßt. Eine dichotome Struktur beider Künstlerentwicklungen wird schon an den Wertungen der Hauptwerke deutlich: Während Raffaels schöpferische Kraft in der ersten Stanze „noch immer im Steigen begriffen ist" (RM, 188) und deshalb erst spät zur vollen Blüte gelangt, hat Michelangelo mit der Sixtinischen Decke seine künstlerische Individualität bereits vollständig ausgeprägt (RM, 140). Umgekehrt sind die Bewertungen der späteren Hauptwerke gehalten: Raffaels Teppichkartons sind der unbestrittene Höhepunkt; bei den Medici-Grabmälern in der Sakristei von San Lorenzo merkt Springer dagegen kritisch an, daß das heutige Urteil distanzierter ist (vgl. RM, 418), wie auch beim Jüngsten Gericht sein skeptischer Unterton deutlich bleibt (vgl. Abschnitt 2.2.). Damit läßt sich die Michelangelo-Handlung dem Konstruktionsprinzip des ersten Dramentyps zuordnen: Wenn sich nämlich im vorderen Teil der Parallelbiographie der Charakter Michelangelos durch „Eifersucht und [...] Ehrgeiz" „bis zur Ungerechtigkeit" steigert (RM, 31), dann entspricht dies dem „Aufsteigen des leidenschaftlichen Kampfes" gegen die Außenwelt, bei dem der „Hauptcharakter" „siegreich" „die volle Energie seines Gefühls und Wollens [...] zu einer ,That' koncentrirt". 126 Spätestens ab der Buchmitte kommt jedoch Michelangelos treibende Kraft zum Erliegen und er selbst wird zum Getriebenen, indem, mit Freytag gesprochen, „eine Umkehr der Handlung" eintritt und sich die Reaktion der Außenwelt zum dominanten Faktor entwickelt: 127 Es gehört hier wenig Phantasie dazu, im Gegenspiel die Eingriffe der Medici zu erkennen, die durch die Behinderung der Arbeit am JuliusGrabmal, durch wankelmütige Auftragspolitik bei der Fassade von San Lorenzo oder durch die Florentiner Unruhen (1527-1530) Michelangelos Leben direkt oder indirekt beeinflussen. Der zweite Teil der Michelangelo-Handlung bezeichnet daher den Eintritt in eine Welt ,,mannigfache[r] Wirren" (RM, 365), die die Handlungsfähigkeit des Künstlers stagnieren läßt. Mehrfach bemüht hier Springer den dramatischen Terminus des Verhängnis (RM, 248, 365, 366): Die Medici und die Florentiner Verhältnisse werden hier so dominant, daß eine „Lähmung seiner Wirksamkeit" (RM, 390) eintritt und „viele Jahre hin[gehen]", in denen Michelangelo „gewiss nicht unthätig" ist, „aber nicht vorwärts" kommt (RM, 376). Mit der Passivität und Unfreiheit Michelangelos korrespondiert die dynamische Entwicklung Raffaels. Im Sinne des zweiten Dramentypus, welcher von der Prädominanz des Gegenspiels zum Spiel wechselt, verläuft sie zunächst in hohem Einklang mit der Lebenswelt. Die „Construktion [...] stellt den Helden beim Beginn in verhältnißmäßiger Ruhe unter 125 Ebd., S. 93 f. Beispiele: Oedipus, Othello, Emilia Gaietti, Clavigo, Kabale und Liebe. 126 Ebd., S. 93. 127 Ebd.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik
und Darstellung bei Anton
Springer
Lebensbedingungen dar", bei denen die „fremden Gewalten einen Einfluß auf sein Inneres" nehmen.128 Die Steigerung der äußeren Gewalt kommt in der Interpretation der Stanza d'Eliodoro zum Ausdruck: In ihr manifestiert sich eine erhebliche Einschränkung der Schaffenskraft, indem Raffael aufgrund des päpstlichen Drucks in der Vertreibung Attilas einen ,,falsche[n] Spiegel in der Gegenwart" erzeugt (RM, 196). Die Dominanz des Spiels tritt hingegen in der zweiten Buchhälfte ein: Mit den Teppichkartons überwindet Raffael die äußeren Zwänge vollständig; als freies, jegliche Determination überwindendes Individuum wird er zur Zentralgestalt des römischen Kulturorganismus. Bestachen die Fresken der ersten Stanze vor allem durch ihre „culturgeschichtliche Bedeutung" (RM, 188) und somit durch ihre homogene Bindung an Zeit und Raum, sind nun die Entwürfe für die vatikanischen Teppiche der Ausdruck ,,vollkommene[r] Freiheit" (RM, 288), der „freie[n] Verwendung" der Sujets (RM, 282) und des „freien Spielraum[s]", indem sich die „schöpferische Kraft allseitig ungehindert bewegen" kann (RM, 288). Die Häufung sinnverwandter Ausdrücke um das Wortfeld der Freiheit hebt den Gegensatz zu Michelangelos künstlerischer Stagnation umso deutlicher hervor: Während Michelangelos Wille durch die Medici gebrochen wird und immer mehr in die Hemisphäre des Zwangs und der Kontrolle gerät, kulminiert in den Teppichkartons der teleologische Gang von Raffaels künstlerischer Freiheit. Setzt man die Erzählstränge Michelangelos und Raffaels zueinander in Bezug, dann kristallisiert sich eine Struktur heraus, die beide Entwicklungen über ein kompositionelles Schema verbindet, dessen Bau fast lehrbuchartig die Kriterien des Dramas erfüllt. Eine axialsymmetrische Anordnung beider Handlungen wird erkennbar, wenn die komplementär aufeinander bezogenen Entwicklungen als Sinnkonfiguration gesehen werden, die auf einen alles entscheidenden Höhepunkt zulaufen. „Allen Glanz der Poesie, alle dramatische Kraft wird der Dichter anzuwenden haben, um diesen Mittelpunkt seines Kunstwerks lebendig herauszuheben." 129 Die Technik des Dramas empfiehlt, im formalen Mittelpunkt die Peripetie und das „tragische Moment" zusammenfallen zu lassen; also eine durchgängig axialsymmetrische Konstruktion, die wie im Zentralkonflikt von Maria Stuart zugleich den Handlungsumschlag einleitet. In der Parallelbiographie wird eine solche peripetische Funktion am Ubergang von Kapitel I X und X deutlich: Der Umschlagpunkt befindet sich in der Erstauflage nahezu exakt in der Buchmitte und ist mit Merkmalen der Schicksalssemantik und Dramatisierung versehen. Springer läßt dort das neunte Kapitel mit der Entscheidung Leos X. ausklingen, Michelangelo für die Gestaltung der Fassade von San Lorenzo nach Florenz zu schicken: „Die Wahl des Papstes traf Michelangelo. ,Michelangelo, der mit grosser Liebe darangegangen war, das Grabmal Julius' II. zu machen, leistete allen möglichen Widerstand.' Da aber der Papst auf seinem Willen bestand, so liess ,Michelangelo weinend ab vom Grabmal.'" Nach einer kurzen Skizze der näheren Umstände schließt das Kapitel mit den Worten: „Die Uebernahme der Arbeit an der Fassade von San Lorenzo drückte nicht allein das Grabmal Julius' II. wieder in den Hintergrund; sie hatte für Michelangelo noch die andere verhängnissvolle Folge, dass sie ihn viele Jahre von Rom entfernte. Hier blieb von nun an Raffael als Alleinherrscher zurück." (RM, 248) 128 Ebd. 129 Ebd., S. 111.
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Das Ende von Michelangelos römischer Zeit wird in Rekurrenz auf Condivi 130 in wenigen Sätzen zusammengerafft und dadurch dramatisiert. Indem die Stelle als ein Ereignis mit ,,verhängnissvolle[r] Folge" ausgewiesen wird, beschwört sie das Moment des Tragischen, welches den Helden des Dramas in eine „verhängnisvolle Befangenheit versetzt" 131 und die weitere Handlungsabfolge plausibilisiert. Denn drei Eigenschaften muß das tragische Moment laut Frey tag haben: „1) Es muß wichtig und folgenschwer für den Helden sein, 2) es muß unerwartet aufspringen, 3) es muß durch eine dem Zuschauer sichtbare Kette von Nebenvorstellungen in vernünftigem Zusammenhange mit früheren Theilen der Handlungen stehen." 132 Das Unerwartete und Uberraschende wird durch das abrupte Abreißen der Michelangelo-Handlung markiert, welche bis zum Tod Raffaels aussetzt. Folgenschwer und wichtig erscheint die Entscheidung des Papstes, weil sie zu einem gewaltsamen Akt der Entwurzelung aus dem römischen Kulturorganismus führt. Das Ereignis wirkt schließlich organisierend auf die gesamte weitere Erzählung, da es für beide Biographien zahlreiche Konsequenzen hat und somit eine „Kette von Nebenvorstellungen" motiviert: Die durch den Ortswechsel bewirkte „verhängnissvolle Folge" deutet nicht nur Michelangelos weiteres künstlerisches Scheitern voraus, die Weichenstellung ist ebenso folgenreich für Raffael; denn erst jetzt konzediert Springer relevante Anregungen durch Michelangelo, die in Raffaels Stilentwicklung den Umschlag zur plastischen Auffassung herbeiführen (RM, 256; 259). 133 Die schicksalhafte Verknüpfung beider Lebensläufe zum Textmittelpunkt setzt Springers These strukturell um, indem auch formal ein Zusammenhang zwischen der Abwesenheit Michelangelos von Rom und dem plastischen Umschlag in Raffaels Schaffen konstruiert wird. Denn Raffaels Spätwerk gründet schlicht und ergreifend auf der Tatsache, daß sich Michelangelo aus dem römischen Kulturorganismus entfernt hat: „Michelangelo's Abwesenheit führte ihm plastische Aufgaben zu." (RM, 303) Wie in der Verknüpfungstechnik des Dramas ergibt sich mit dem Mittelpunkt eine „Handlungs- oder Geschehensinterferenz, bei der eine Handlung oder ein Geschehen der einen Sequenz gleichzeitig eine Handlung oder ein Geschehen in einer anderen Sequenz konstituiert oder auslöst." 134 Die Peripetie bildet zugleich den archimedischen Punkt, der von zwei Hälften, eine zur Mitte steigende und eine nach der Mitte abfallende, umlagert wird. Michelangelos Arbeit am Juliusgrabmal (Kap. IX) und Raffaels Teppichkartons (Kap. X) umschließen diese Peripetie konzentrisch, indem sie die Polarität der Charaktere und ihre unterschiedliche schöpferische Disposition in kondensierter Form repräsentieren. Was bei Michelangelo die „Tragödie seines Lebens" (RM, 377) 135 ist, gipfelnd in dem erniedrigenden Befehl Leos und dem aufwühlenden Abbruch der Arbeit am Juliusgrabmal, ist für Raffael der höchste künst-
130 Condivi: Das Leben 131 Freytag: Die Technik
des Michelangelo des Dramas,
Buonarroti,
S. 53.
S. 93.
132 Ebd., S. 83. 133 Zuvor war immer wieder deutlich geworden, daß Michelangelo und Raffael in der Dekade unter Julius II. als zwei selbständige und voneinander unbeeinflußte Künstler tätig sind, wie auch die „Atelieranekdoten" von ihrer Rivalität (RM, 141) ihre Glaubwürdigkeit verloren haben. Vgl. RM, 106 f, 141, 189, 256, 3 5 4 , 3 7 1 f. 134 Pfister: Das Drama,
S. 289.
135 In Anschluß an Condivi: Das Leben
des Michelangelo
Buonarroti,
S. 66.
154
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
lerische Triumph: Deutlich wird dies daran, daß direkt an Michelangelos räumliche und schöpferische Isolation die Raffaelhandlung mit einem „Reigen" (RM, 254) der Porträts anschließt (RM, 250-255), somit die gehobene Stellung Raffaels am Hof Leos akzentuiert und ein harmonischer Ausgleich zwischen künstlerischem Werk und äußerer Umwelt anschaulich wird. Doch auch für Raffael ist die Entfernung seines Antipoden letzten Endes „verhängnissvoll[]". Denn das Vakuum, das Michelangelo in Rom hinterläßt, führt nicht allein zur vollkommenen Verwendung aller zur Verfügung stehenden Ausdrucksmittel und einer künstlerischen Monopolstellung, es trägt auch den Kern von Raffaels Verderben in sich: Auf die „Seelenruhe" (RM, 249), mit der er im Zenit seines Schaffens steht, folgt eine fiebrige Steigerung der Ausdruckskraft und Rastlosigkeit, mit der er „ganz nahe die Welt Michelangelo's" berührt: „Heisser war seine Phantasie geworden und erregter sein Sinn." (RM, 359) Die Anspannung sämtlicher Kräfte, die Grenzüberschreitung von der naturverhafteten und vitalen Schöpferkraft zu Michelangelos Subjektivismus und die „herrschende Stellung in der römischen Kunstwelt" (RM, 294) begründen somit den frühen Tod Raffaels: Indem Springer die überlieferten Todesursachen wie das römische Sumpffieber oder eine durch sexuelle Ausschweifung zugezogene Infektion zurückweist und allein die physische Überlastung geltend macht, verschwindet nicht nur das biographische Individuum vollständig in seinem Werk; die im letzten Raffael-Kapitel (XI) vollzogene Amalgamierung des Malerischen und des Plastischen zu einer künstlerischen Totalität und die damit verbundene Konzentration der römischen Kunst auf eine einzige Person werden hier zur natürlichen Ursache des schnellen Ablebens. Das Lebensende Raffaels erklärt sich somit indirekt durch das Fehlen des ausgleichenden Korrektivs Michelangelo. Es ist in dem Moment erreicht, in dem Raffael tatsächlich zum „Alleinherrscher" geworden ist: „Die unbegrenzte Thätigkeit war nur bei massloser Anstrengung durchzuführen. Sie hatte bereits seine Seelenstimmung aus dem Gleichgewicht gebracht, sie brach auch seinen Körper. [ . . . ] Die Wollust des Schaffens hat ihm Mark und Bein versehrt, das Uebermass der Arbeit die Lebenskraft geraubt." (RM, 363 f) Immerhin: Die Entfernung Michelangelos aus Rom beschenkt Raffael mit dem schönsten Tod, den man sich aus nationalliberaler Perspektive vorstellen kann: Den der Arbeitsüberlastung. 136 Damit löst die Peripetie eine ganze Kette von Ereignissen aus. Erfolg und Mißerfolg, Freiheit und Zwang, schließlich Tod und lähmende Passivität resultieren aus der Fehlentscheidung Leos X., Michelangelo aus dem römischen Umfeld zu entfernen. Aber auch formal korrespondiert sie mit dem Gesamtentwurf, der sich analog zu den fünf Akten im Drama verhält. Nimmt man die räumlichen und politischen Veränderungen als Gliederungsmaßstab, lassen sich fünf Kapitelgruppen unterscheiden: Die ersten drei Kapitel behandeln als Exposition die vorrömische Zeit und damit die Jugendgeschichte beider Künstler. Darauf folgt, analog zu dem im zweiten Akt verfolgten Prinzip der „Steigerung", der in vier Kapitel gegliederte Abschnitt zur römischen Periode unter Julius II.; in ebenfalls vier Kapiteln behandelt die dritte Gruppe die künstlerische Tätigkeit im Rom Leos X., wie 136 Es ist sicher kein Zufall, daß die aus dem Nachlaß herausgegebe Dürer-Biographie, an der Springer noch einen Tag v o r seinem Tod gearbeitet haben soll, mitten im Text abbricht. Als Epitaph markiert die Stelle programmatisch das nationalliberale Vermächtnis: Arbeiten ist eine sittliche Verpflichtung bis zum Schluß.
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Historiograph
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in einem dritten Akt gruppieren sie sich als innerer Ring um die Peripetie. Etwas asymmetrisch zur Kapitelordnung, aber durch den frühen Tod Raffaels kaum anders lösbar, zieht das elfte Kapitel in der Raffaelhandlung die Merkmale einer fallenden Handlung vor. Nach dem Tod Raffaels wechselt der Schauplatz nach Florenz, wo Michelangelo zwischen 1517 und 1534 für die Medici tätig ist. Dieses Kapitelpaar (XII und XIII) läßt sich mit den Konstituentien des vierten Akts, des „Falls" oder der „Umkehr", identifizieren: Bis in die Wortwahl hinein mit der Definition in der Technik des Dramas übereinstimmend, nach der mit der fallenden Handlung „das Schicksal [...] Macht über den Helden [gewinnt], seine Conflicte [...] einem verhängißvollen Ausgang zu[wachsen], der sein ganzes Leben ergreift", 137 nennt dort Springer Michelangelos Verbindung zu den Medici den „Keim zu den schweren Conflicten, welche sein ganzes späteres Leben vergifteten und die in Florenz zugebrachten Jahre für seine Kunst wie für seinen persönlichen Charakter verhängnissvoll erscheinen lassen." (RM, 365) Die letzten drei Kapitel der Parallelbiographie schließlich, werden durch die erneute räumliche Veränderung von dem Florentiner Teil geschieden und behandeln die letzten Lebensjahrzehnte Michelangelos in Rom. Neben diesen metonymischen Relationen nach Raum und Zeit bestätigt sich eine dramenanaloge Struktur auch durch metaphorische Relationen, 138 die sich durch Korrespondenzen zwischen den Erzählsträngen ergeben. Sie beziehen sich auf partielle Merkmalsgleichheiten bzw. Merkmalsdifferenzen zwischen den Handlungssträngen und basieren dadurch auf dem Prinzip der Wiederholung oder Variation von ähnlich strukturierten Erzählmustern. Diese Akzentsetzungen, die sich auf beide Handlungen gleichmäßig verteilen, regulieren als Knotenpunkte das Gefüge der Parallelstruktur und erzeugen dadurch ein semiotisches Verweisungssystem, das entscheidend zu einer formalen Interdependenz mit dem klassischen Drama beiträgt. Eine erste Stufe der Aszendenz bilden zwei Knotenpunkte in der ersten Kapitelgruppe: Expositiorisch kündigen sie eine unterschiedliche Auffassung in der künstlerischen Konfliktbewältigung an, indem der Raffael-Abschnitt die Herausforderung durch Fra Bartolommeo hervorhebt und somit ein Pendant zu Michelangelos Streit mit Leonardo konstruiert. Bezeichnend ist, daß beide Handlungsstränge die eventuelle Einflußnahme durch weitere Künstler undiskutiert lassen, ja selbst die seit Vasari virulente Frage nach Raffaels Anregungen durch Michelangelos Karton der Badenden elegant umgangen wird wie auch andere Konflikte aus Michelangelos vorrömischer Zeit ausgespart werden. Durch das Aussieben von überflüssigem oder den Gesamtnexus störendem Quellenmaterial kann die kompositorische Regulierung erst erzeugt werden: Die Parallelkonflikte mit Leonardo bzw. Fra Bartolommeo stehen exemplarisch für zwei Verhaltensmuster, die den wesentlichen Unterschied in der künstlerischen Disposition vorwegnehmen. Löst sich der Konflikt mit Fra Bartolommeo in produktiv-freundschaftlicher Weise und gegenseitiger Potenzierung der Kräfte, was Raffaels Fähigkeit zur frei verarbeitenden Aufnahme von äußeren Einflüssen vorausdeutet, pointiert Springer die Auseinandersetzung mit Leonardo dadurch, daß sie Michelangelo erstmals in wörtlicher Rede zitiert und somit das im aggressiven Selbstbehauptungsakt angelegte Individuationsmoment hervortritt (vgl. RM, 137 Freytag: Die Technik des Dramas, S. 115. 138 Vgl. Martinez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, son).
S. 115 (in Anschluß an Roman Jakob-
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik
und Darstellung bei Anton
Springer
31). Beide als „Wettstreit" (RM, 30; 83) apostrophierte Stellen leiten einen „entscheidende[n] Umschwung" (RM, 30) bzw. eine „Aenderung der Malweise" (RM, 82) ein, womit sie dem ,,erregende[n] Moment" entsprechen, durch das „in der Seele des Helden ein Gefühl oder Wollen aufsteigt" 139 und die dramatische Handlung in Bewegung gesetzt wird. Jeweils zum Ende der biographischen Sequenz positioniert, bilden sie wie in Freytags Dramentheorie den „Uebergang von der Einleitung zur aufsteigenden Handlung". 140 Noch stärker tritt diese über Analogien verfahrende Knotenpunkttechnik in der nächsten Kapitelgruppe (IV-VII) hervor: Die Sixtinische Decke verdankt ihren künstlerischen Wert der Tatsache, „dass es Roms Einfluss war, welcher das Erfassen grosser und kühner Gedanken erleichterte" (RM, 114) und für die Ausmalung der Stanza della Segnatura „entnahm [Raffael] seine Kraft dem Boden, den er betrat" (RM, 189). Die beiden Hinweise, zu Beginn bzw. zum Ende des jeweiligen Kapitels positioniert, nehmen damit eine klammernde Funktion ein, welche die beiden Hauptwerke unter dem Pontifikat Julius' II. zwar in eine indirekte Beziehung zueinander, aber in kein Abhängigkeitsverhältnis voneinander setzt. Dadurch, daß ihre Gebundenheit an den römischen Kulturraum hervorgehoben und zugleich die autonome Unabhängigkeit beider Künstler betont wird, verweisen sie bereits auf den Zentralkonflikt zur Buchmitte, aus dem die räumliche Trennung der Antipoden resultiert. Die Kapitel IV und VII wiederum, welche die Abschnitte zur Sixtinischen Decke und den Fresken der ersten Stanze umschließen, nehmen das Konfliktmotiv aus der Frühzeit wieder auf, steigern es aber gegenüber der Exposition dadurch, daß sie statt des Künstlerwettstreits das Verhältnis zu den Päpsten behandeln (RM, 106 f/206): Erzählt das vierte Kapitel Michelangelos Streit mit Julius und seine Flucht nach Bologna, wird im sechsten Kapitel mit der Stanza d'Eliodoro bereits die Problematik antizipiert, die im Pontifikat Leos X. angelegt ist. Nach der Peripetie wird das Verfahren einer analogen Signalsetzung noch gesteigert, indem sich Springer an zwei Stellen naturmetaphysischer Gleichnisse bedient: „Warnte doch selbst die Stimme der Natur", heißt es, als die französischen Truppen sich Florenz nähern: „In der auf Staatskosten unterhaltenen Löwengrube sprengte der Löwe den Käfig und zerriss die Löwin. In diesem mörderischen Streite der Wappenthiere der Republik sprach sich das Schicksal des Staates aus." (RM, 389 f) In Folge dieser katastrophischen Ereignisse ergreift Michelangelo eine „gewaltige Furcht" (RM, 391), die ihn aus Florenz fliehen läßt. Michelangelos Getriebenheit ab der zweiten Buchhälfte hat sich in der Verkehrung der Naturgesetze zum Adynaton überhöht - in ihm symbolisiert sich die agonale Stellung Michelangelos zum überhandnehmenden Gegenspiel. Im Gegenzug beweist Raffael seine Spieldominanz noch im Tod: „Selbst die Erde schien den Verlust mitzufühlen und erschrak über den plötzlichen Tod des Göttersohnes [...]. Der vaticanische Palast, der Schauplatz seiner Thaten, zeigte Risse und drohte mit dem Einsturz." (RM, 364).
139 Freytag: Die Technik des Dramas, S. 105. 140 Ebd., S. 107.
5. Anton Springer, der
Historiograph
b) Die symbolische Erzählkonfiguration im Leben Michelangelo's
157 von Herman Grimm
Vergleicht man die Parallelbiographie mit dem Leben Michelangelo's von Herman Grimm (EA: 1860/63), 141 wird die Spannbreite der Wirklichkeitskonzeptionen und der damit verbundenen Künstlerentwürfe deutlich. Wesentliche Unterschiede bestehen schon im Umgang mit den Quellen. Anläßlich der Briefedition Gaetano Milanesis und der Dokumentensammlung Aurelio Gottis (1875) hatte Grimm die Frage aufgeworfen, wie es um die Authentizität der frühen Michelangelo-Biographen bestellt sei und inwieweit die dortige Uberlieferung mit den neuen Dokumenten zur Deckung gelange. Während Grimm der Michelangelo-Vita Vasaris die Glaubwürdigkeit aberkennt, stellt er ausgewählte Passagen bei Condivi den entsprechenden Briefzitaten gegenüber und kommt zu dem Schluß, daß Condivi zwar in geraffter Form und unter Auslassung von Details erzähle, deshalb aber in seinem historischen Gehalt nicht wertlos sei. Zwischen ihm und der brieflichen Uberlieferung existiere kein tatsächlicher Widerspruch, sie seien vielmehr qualitativ nach ihrer Darstellungsform zu unterscheiden, die bei Condivi darin bestünde, daß seine „Erzählung [...] die schärfer zugespitzte Pointe hat." 142 Diese Beobachtung gibt einen wichtigen Anhaltspunkt für die Erzählverfahren bei Grimm und Springer. Grimm greift stets, wenn es die Quellenlage erlaubt, auf die Briefe Michelangelos zurück, während Springer sein Michelangelo-Bild an entscheidenden Stellen an Condivi anlehnt. Dadurch wird bei Springer die Handlung im wesentlichen aus der Sicht des alten Michelangelo perspektiviert und eine Sinnstiftung ex post möglich, die teleologisch fundiert ist und analog zur Wertung in der Werkentwicklung verfährt. Die vierzig Jahre währende Arbeit am Juliusgrabmal wird zur „Tragödie"; das spannungsreiche Verhältnis zu den Medici zum Lebenskonflikt; das gescheiterte Bauprojekt der Fassade von San Lorenzo zum Sinnbild für die Willkür Papst Leos. Die verstärkte Rekurrenz auf Condivi bedingt bei Springer eine Erzähldisposition, die Verknappungen und Wendepunkte als Mittel der Akzentsetzung und Steigerung einsetzt, ja sogar differenzierte Sachverhalte auf monokausale Erklärungsmuster reduziert. Dadurch wird der Künstler in ein agonales Verhältnis zur Lebenswelt gesetzt und die Bildung dramatischer Konflikte verstärkt. Von diesem Standpunkt aus ist der faktisch-historische Informationsgehalt von Springers Werk erstaunlich gering. Die Ereignisverkettung konzentriert sich auf Eckdaten und Geschehnisse und scheidet alle historischen wie biographischen Akzidentien aus. Springer pointiert auf Konflikte hin, Grimm tendiert zu einer gedehnten Darstellung von Zeitabläufen, die stärker auf die Erfahrung der geschichtlichen Totalität abzielen - so ließen sich die alternativen Erzählkonzepte umschreiben, mit denen eine unterschiedliche Nutzung der Quellen verbunden ist. Die bekannte Warnung Macaulays mißachtend, daß eine zu große Detailfülle die wahre Sicht auf die Geschichte verstellt,143 entfaltet Grimm das 141 Im folgenden wird in runden Klammern nach der ersten Auflage und mit Angabe des Bandes zitiert. 142 H. G.: „Ueber die Glaubwürdigkeit der gleichzeitigen Biographien Michelangelo's", in: Preußische Jahrbücher 38 (1876), S. 329-338, S. 338. 143 Macaulay: „Geschichte" (1828), in: Stern (Hg.): Geschichte und Geschichtsschreibung, S. 88: „Eine Geschichte, die in jeder Einzelheit wahr ist, kann doch als Ganzes falsch sein."
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
Lebensbild vor einer breiten historischen Folie, zitiert Dokumente in extenso und räumt rivalisierenden Künstlern wie Baccio Bandinelli breite Exkurse ein, 144 die den biographischen Nexus scheinbar sprengen. Kulturgeschichtliche Totalität erzeugt die Monographie durch eine ungebremste Materialfülle, die - trotz Grimms immer stärker werdender Skepsis gegen einen relativistischen Faktenhistorismus - in den späteren Fassungen noch zunimmt. Die Gründe für diese inhaltlichen Revisionen liegen auf der Hand: Von Auflage zu Auflage sieht sich Grimm dazu gezwungen, auf die veränderte Quellensituation nach 1860 und 1875 angemessen zu reagieren und die Biographie nach dem neuen Forschungsstand zu aktualisieren. Durch die Zugänglichkeit von Michelangelos Teilnachlaß in London (I860) 145 und die zum Michelangelo-Jubiläum 1875 publizierten Dokumente aus dem Florentiner Nachlaß 146 kann und muß Grimm eine Fülle neuer Details präsentieren, die gegenüber dem ersten Band der Erstausgabe den empirischen Zuwachs von Daten belegen. Ein solches additives Erweiterungsverfahren steht nicht im Widerspruch mit dem biographischen Darstellungskonzept: Es ist bezeichnend, daß im zweiten Kapitel dem ausführlichen quellenkundlichen Bericht eine geschichtsphilosophische Reflexion vorangeht, die den „Trieb, Geschichte zu studiren", aus historischen „Fluctuationen" erklärt. Dieser aus dem Nebeneinander von Bedeutendem und Unbedeutendem entstehenden Irritation kann jedoch abgeholfen werden: ,,[D]ie großen Männer der Geschichte" bilden in dem Feld der Daten „die Anhaltspunkte für den in den unendlichen Thatsachen herumtastenden Geist; wo sie erscheinen, werden die Zeiten licht und verständlich, wo sie fehlen, herrscht unverwüstliche Dunkelheit[.]" (Bd. 1, S. 66) Durch dieses biographische Konzept kann die Frage nach der Ausscheidung faktischer Akzidentien zugunsten einer höheren Ereignisverkettung umgangen werden: Wenn nach Carlyle durch das „ewig arbeitende Chaos von Sein" die Erstellung eines Kausalverhältnisses von Ursache und Wirkung schlicht unmöglich ist, 147 so bleibt nur die Orientierung an den Heroen, die vor einer chaotischen Grundierung der Ereignisfülle umso klarer hervortreten. Noch stärker als durch Carlyle ist die Gesamtkonzeption der Biographie von der Essayistik Ralph Waldo Emersons und damit vom amerikanischen Transzendentalismus geprägt, mit dem sich Grimm seit 1855 intensiv auseinandersetzte. 148 „Ich habe versucht mein Buch über Michel Angelo in Ihrem Sinne zu schreiben, jedes Blatt so, dass es die Probe hielte 144 Grimm: Leben Michelangelo's I, S. 412 ff und II, 69-74. 145 150 Briefe Michelangelos im Teilnachlaß im Britischen Museum, von Grimm ab dem 2. Band eingearbeitet. Vgl. hierzu den quellenkundlichen Bericht ebd., II, S. 3-42. Die Nachträge wurden in den späteren Auflagen des ersten Bandes integriert. Vgl. allgemein zur Quellenlage um 1860: Carlo Milanesi: „L'Archivio Buonarroti", in: Archivio Storico Italiano NF 13/1 (1861), S. 1 6 0 163. 146 Le Lettere di Michelangelo Buonarroti, hg. von Gaetano Milanesi; Aurelio Gotti: Vita di Michelangelo Buonarroti, Bd. 2 (dokumentarischer Anhang zur Biographie). Beides von Grimm ab der 5. Auflage (1879) eingearbeitet. 147 Carlyle: „Ueber Geschichte", S. 234. 148 Zu Grimm und Emerson vgl. den anthroposophisch gefärbten Essay von Friedrich Hiebel: Biographik und Essayistik, S. 97-120. Noch problematischer, da Grimm als „idealistisch" ausgewiesen wird, ist die Darstellung bei Burdorf: Poetik der Form, S. 302-306: Grimm verkörpere exemplarisch das „bildungsbürgerliche mainstream-Denken" (S. 305).
5. Anton Springer, der
Historiograph
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w e n n ich es Ihnen vorläse" 1 4 9 schrieb G r i m m bei der Übersendung des ersten Bandes an Emerson. Eines solch expliziten Hinweises hätte es sicher nicht bedurft, denn zu deutlich sind die transzendentalistischen Bezüge im Leben Michelangelo's angelegt. Drei Gesichtspunkte sind es, die dort fundamental in die Darstellungsauffassung eingreifen und in gegenseitiger Verschränkung das ideelle Gerüst bedingen: Produktionsästhetisch und künstlerbiographisch eine spirituelle Verbindung von Seele u n d Weltallheit; kunstphilosophisch ein naturverhafteter Symbolbegriff; narratologisch schließlich eine enge Verschränkung von Erzählverfahren und Rezeptionsästhetik, durch die der auktoriale Erzähler als Vermittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart gestärkt w i r d . In ihrer Gesamtheit bilden die drei Kriterien einen anthropologischen Entwurf, der oft als irrational u n d unwissenschaftlich kritisiert wurde, in der konsequenten A u s f ü h r u n g aber eine durchaus zentrale ideengeschichtliche Stellung im späthistoristischen Denken beanspruchen darf. 150 Der erste Punkt betrifft die biographische Konstruktion des Verhältnisses zwischen Künstler und A u ß e n w e l t . Trotz des gesteigerten Gegensatzes zwischen bloßer Ereignisgeschichte und exorbitantem H e l d e n t u m ist Michelangelo nicht von der A u ß e n w e l t separiert. G r i m m weist den Vorschlag zurück, den Buchtitel in „Michelangelo und seine Zeit" abzuändern, da Individuum u n d Kontext „eins bei ihm" sind: „Je erhabener der Geist eines Mannes ist, je mehr erweitert sich der U m k r e i s den seine Blicke berühren, und w a s sie berühren w i r d ein Theil seines Daseins." (Bd. 2, S. 4) Damit hebt G r i m m den Dualismus zwischen Ich u n d Welt de facto auf und subsumiert Ereignis- und Kulturgeschichte unter einem biographischen Erfahrungszusammenhang, der sich über Michelangelos Zeitgenossenschaft definiert. Die Formulierung von der tentativen Verbundenheit des Subjekts mit der A u ß e n w e l t zitiert den plotinischen Gedanken vom übergreifenden Prinzip zwischen Welt-Allheit und individueller Seele, der zugleich ein Schlüsseltheorem in Emersons Essayistik ist. Wenn es dort heißt, daß die „Machtvollkommenheit des Menschen [ . . . ] in der M e n g e seiner Verbindungen" besteht und das Leben durch ein „System der Berührungen" bestimmt ist, 151 dann korrespondiert dies mit G r i m m s Vorstellung von den „zahlreiche[n] Fäden [...], die von diesem M a n n e [Michelangelo] nach allen Seiten hin ausliefen, oder die von den Erscheinungen seiner Zeit ausgehend sich ihm vereinigten." (Bd. 2, S. 3) Die Geschichte kann erst zu „Fleisch werden in dem w a h r e n und verständigen Menschen", in welchem sich die „Strahlen des Weltalls" zu „einem Brennpunkt sammeln." 152 Ihre eindrucksvollsten Formulierungen findet Grimms produktive A n v e r w a n d l u n g des Emersonschen Denkens in dem programmatischen Abschnitt über Michelangelos Verhält-
149 Grimm an Emerson, Berlin 25.10.1860, in: Correspondence between Ralph Waldo Emerson and Herman Grimm, S. 50. 150 Voreingenommen wie in der wissenschaftlichen Rezeption folgenreich: Hamann/Hermand: Gründerzeit, S. 54 f u. ö.; Schlaffer/Schlaffer: Studien zum ästhetischen Historismus, S. 90 f. Neuere Literatur zu Grimm, die auch auf die Tätigkeit als Kunsthistoriker eingeht: Schlink: „Herman Grimm (1828-1901). Epigone und Vorläufer"; Staengle: „Herman Grimm und die deutsche Literatur"; Beyer: „Lichtbild und Essay. Kunstgeschichte als Versuch". Ferner: Goldammer: „Herman Grimm im Berliner Antisemitismusstreit". 151 Emerson: „Geschichte" bzw. „Natur", in: Ders.: Versuche, S. 27 und S. 407. 152 Ebd., S. 29.
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II. Realistischer
Klassizismus.
Methodik
und Darstellung
bei Anton
Springer
nis zur antiken Plastik. Grimm, der angebliche Klassizist, 153 löst dort den Rangstreit zwischen Antike und der durch Michelangelo repräsentierten Moderne überraschend eindeutig: „Michelangelo tauschte ich nicht ein gegen Phidias. [...] Wo sich seine Kunst mit der der Griechen vergleichen läßt, steht sie tiefer, wo der Vergleich aber aufhört, liegt ein Fortschritt" (Bd. 2, S. 215). Indem hier das tertium non datur das tertium comparationis aussticht, schiebt Grimm alle klassizistischen Bedenken gegen den ,Kunstverderber' Michelangelo beiseite. Denn entscheidend ist nicht ein normatives Bewertungskriterium wie der Kanon des Polyklet, sondern die rezeptionsästhetische Frage nach der sympathischen Beziehung des gegenwärtigen Betrachters zum Werk: „Es wäre, als sollte ich mein eigenes Kind für ein fremdes hingeben, auch wenn das fremde frischer, stärker und glänzender erschiene." (ebd.) Damit verkehrt Grimm den kulturkritischen Gegensatz von einer natürlichen Antike und einer denaturierten Moderne ins Gegenteil: Während die antike Plastik ein über Jahrhunderte erarbeitetes Formenreservoir immer von neuem reproduziert und verfeinert, bedingt die Einsamkeit Michelangelos eine schöpferische Unabhängigkeit, die sich durch eine direkte Naturnähe auszeichnet. Anders als bei den Griechen, die immer nur eine „ideale Stufenleiter" (Bd. 2, S. 210) bestimmter Entwicklungsphasen des Menschen zeigten, haben die Skulpturen Michelangelos „etwas Individuelles", das sich in Michelangelos unvoreingenommenem Umgang mit der Natur offenbart. Die Besonderheit des David154 erklärt sich aus einer dargestellten „Mittelstufe[] zwischen Knabenalter und Jünglingsthum", deren Proportion aus der skalierten Wahrnehmungskonvention der Antike herausfällt und gerade deshalb umso wahrer erscheint. In ihm stellt Michelangelo keine Verzerrung der Körpermaße dar, sondern beweist die genaue Kenntnis der menschlichen Natur aus unabhängiger Anschauung, er „meißelt was er sieht" (Bd. 2, S. 211). Gleichsam in Pervertierung des Pygmaliontopos nennt Grimm die Wirkung der antiken Plastik starr, kalt und unbelebt: „Aus Rafaels Madonnen-Augen sehen uns Blicke an, die wir verstehen, wer aber erhoffte das von griechischen Gestalten? Die Griechen, die für sich und ihr Jahrtausend gearbeitet, vermögen unser Herz nicht auszufüllen." (Bd. 2, S. 213 f) Der Gedanke von der Entfremdung des modernen Betrachters von der Antike liest sich wie eine Weiterentwicklung von Emersons Essay Art. Einem Wort Newtons folgend, bezeichnet dort Emerson die antiken Bildwerke als ,,steinerne[] Puppen" mit „kalte[m] und unwahre[m] Ansehen". 1 5 5 Ihre formale Perfektion entfremdet sie aus dem wahren Lebenszusammenhang der Natur, wodurch ein Gegensatz zwischen Kunst und Wirklichkeit entsteht, den es jedoch nicht zu verschärfen, sondern zu überwinden gelte. Der Künstler soll, verkündet Emerson, „die Kunst in's Reich der Natur hinübertragen, und ihre getrennte und contrastirende Existenz zerstören." 1 5 6 Dieser Forderung nach einer zur Schöpfung re-emanierenden Kunst kommt die Grimmsche Interpretation von Michelangelos Tageszeiten in der Neuen Sakristei von San Lorenzo nach: Schon allein ikonographisch dazu prädestiniert,
153 Mit wichtigen bibliographischen Hinweisen: Strasser: Herman Grimm. Zum Problem des Klassizismus. 154 Zur Rezeptionsgeschichte des David vgl. Summers: Michelangelo and the Language of Art, S. 341 f. 155 Emerson: „Kunst", in: Ders.: Versuche, S. 266. 156 Ebd., S. 267.
y Anton Springer, der
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Historiograph
da nach Emerson die Kunst „Beziehung zum Morgen, zur Sonne und zur Erde" haben soll,157 wird sie hier zum Sinnbild einer Kunst, die den Gegensatz von natura naturata und natura naturans aufhebt: Dies zeigt sich einerseits an dem Verständnis von einer .beseelten' Darstellung der Aurora·. „Bei der Aurora leuchtet aus jeder Bewegung, wohin man sieht, das Gefühl, das sie erfüllt. Im Kampfe gegen eine unendliche Müdigkeit des Körpers und der Seele erblicken wir sie." (Bd. 2, 215 f) Der formale Gegensatz von bewegtem Aufstreben und Zurückfallen des Körpers erzeugt eine Naturnähe, die über ein rein mimetisches Nachahmungskonzept hinausgeht: Die Aurora repräsentiert - anders als die antiken Bildwerke die Totalität der Schöpfung in sich. Mit der abbildhaften Vorstellung einer beseelten Schöpfung zitiert Grimm den Gedanken von der plotinischen All-Seele erneut. Zugleich aber bindet er ihn zurück an ihren eigentlichen Schöpfer Michelangelo, indem er dem non finito eine spezielle Würdigung widerfahren läßt.158 Der unvollendete Zustand der Liegefigur ist hier Beleg für die Einheit zwischen Künstler und göttlich geschaffener Natur, da sich nicht nur der unabgeschlossene Schaffensprozeß, sondern auch die Einheit von Kunst und natürlicher Ordnung in der Verbindung von rohem, unbehauenem Stein und dem Herauswachsen der Plastik bestätigt: Michelangelos platonisches Diktum von der Vorgefertigtheit der künstlerischen Idee im Steinblock wird somit transzendentalistisch vereinnahmt, wenn es heißt, daß „sich die Figur vor unseren Augen dem Steine zu entwinden" scheint (Bd. 2, 216). In Anschluß an Emerson ist damit Grimms Vorstellung von der schöpferischen Erfahrung eng auf die Realität bezogen. Der Künstler soll seinem natürlich eingegebenen Selbstvertrauen folgen, deshalb nicht nachahmen, sondern selbst Teil des natürlichen Zusammenhangs werden: „Stehe auf eigenen Füßen; ahme niemals nach." heißt es bei Emerson, aber auch: „Charakter ist Natur in höchster Form." 1 5 9 Mit dieser Renaturierung des Subjekts ist zugleich die Sensibilisierung für das Göttliche in der Immanenz gegeben, die auf den zweiten zentralen Punkt in der Grimm-Emersonschen Konzeption führt, nämlich den Symbolbegriff. Prinzipiell weist Emerson jeder Existenzform eine höhere Bedeutungsebene zu: „Wir sind Symbole und leben in Symbolen; der Künstler und das Werk, Werkzeuge, Worte und Dinge, Geburt und Tod, alles sind Embleme; aber wir sympathisiren mit den Symbolen, und verblendet durch den ökonomischen Gebrauch der Dinge, wissen wir nicht, daß sie Gedanken sind." 160 Hinter diesem Leitsatz verbirgt sich ein ähnlicher Skeptizismus wie bei Carlyle, der sich gegen eine kausalbasierte und vernunftorientierte Wirklichkeitsauffassung wendet. Emerson geht jedoch noch weiter, indem er die realen Gegebenheiten nicht als Chaos des Seins abwertet, sondern ihnen einen transzendentalen Wert beimißt, der subjektiv erfahrbar ist. Auf den Künstler übertragen, steht dieser zwar außerhalb der Kausalverhältnisse und des zielorientierten Handelns der praktischen Vernunft; seine schöpferische Kraft aber bezieht sich auf die höheren Werte des Wirklichen und besteht in der intuitiven
157 Ebd., S. 266. 158 Zum non finito in der Michelangelo-Rezeption vgl. Rosenberg: Beschreibungen nungen der Skulpturen Michelangelos, S. 101 ff.
und
Nachzeich-
159 Emerson: „Selbstvertrauen" bzw. „Charakter", in: Ders.: Versuche, S. 63 und S. 348. Vgl. dazu auch die Schilderung Savonarolas als opfermutiger Nonkonformist, der inmitten von Dunkelheit nur seiner eigenen Stimme und Natur gehorcht: Grimm: Lehen Michelangelo's I, S. 113 und 210 f. 160 Emerson: „Der Dichter", in: Ders.: Versuche, S. 286.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik
und Darstellung
bei Anton
Springer
Erkenntnis derselben: Alles, vom Gegenständlichen bis zum geschichtlichen Ereignis, ist Emblem und muß in seiner geistigen Potenz nur erkannt werden. Das Leben ist daher „keine Dialektik", 1 6 1 womit Emerson ein Verständnis von Erfahrung vertritt, das im intuitiven und spirituellen Erkennen der Zufälle gründet: „Jeder Augenblick unterweist uns und jeder Gegenstand: denn die Weisheit ist jeder Form eingegeben." 1 6 2 In seiner Subjektzentriertheit hebt der Künstler das agonale Verhältnis zur objektiven Außenwelt auf. Er überwindet die konventionelle, materiell-praktische Wahrnehmung und erkennt das Symbolische in den Dingen. Diese Grenzüberschreitung zu einer geistig durchdrungenen Realität bedingt sich durch die Befähigung zur Sympathie. In der Beschreibung von Michelangelos Mose kommt Grimm auf die porträtähnlichen Züge mit Papst Julius zu sprechen: „Es ist als wäre diese Gestalt die Verklärung all der gewaltigen Leidenschaften, die die Seele des Papstes erfüllten, das Abbild seiner idealen Persönlichkeit[.]" Etwas weiter unten heißt es dann: „Was meißelte Michelangelo in diese Gestalt hinein! Sich selbst und Giulio: beide scheinen sie drinzustecken." (Bd. 1, S. 404 und 405 f) Die Verschmelzung beider Persönlichkeiten erhebt das Bildwerk zum Symbol und damit zur sympathetischen Einheit. Zeichenhaft steht es im historischen Prozeß und repräsentiert mehrere Ebenen zugleich. D a der Plastik auf diese Weise ein Erkenntniswert zukommt, in dem sich die Dimension des Menschlichen konzentriert, verhält sie sich historisch wie transhistorisch zum Betrachter. Das führt bei Grimm zu einer aporetischen Disposition, welche die historischen Prozesse wie deren überzeitliches anthropologisches Substrat immer simultan denkt: Die Kunst symbolisiert das Allgemein-Menschliche und das spezifisch Historische zugleich. Der dritte Gesichtspunkt - der des Erzählverfahrens - bestätigt die weitreichende Wirkung des transzendentalistischen Einflusses: Das Leben Michelangelo's wird getragen von einer bipolaren Wirklichkeitskonzeption, die sich aus einer rein materiellen Komponente und einer höheren, spirituell erfahrbaren Realitätsebene definiert. In diesem Zusammenhang ist bezeichnend, daß Phrasierungen wie „Es ist, als wäre [...]" in gehäufter Form auftreten. Die Einflechtung dieser auktorialen Setzungen stellt immer wieder einen intuitiven Erfahrungsbezug her, der einen historistisch evokativen Gestus der Beschwörung des Vergangenen übersteigt und der immanenten Darstellung der Vergangenheit eine zweite, transzendentale Ebene der Sinnstiftung beimißt. Dieses Verfahren der Bedeutungszuweisung, welches im Erzählnexus den Eindruck eines spontanen Umgangs mit der Geschichte simuliert, gilt insbesondere für das Verhältnis zwischen beschriebenem Kunstwerk und erzähltem Verlauf der Geschichte. Dadurch, daß sich im Kunstwerk die „sympathetische Beziehung" (Emerson) als schöpferischer Erkenntnisakt über die Zeichenhaftigkeit der Dinge einstellt, besteht im Leben Michelangelo's eine äußerst stabile Einheit von Kunst und Außenwelt. Deutlich wird dies an einem Exkurs zu Raffaele Fresken in der Stanza d'Eliodoro: Im Gegensatz zu Springer, der in dem entsprechenden Abschnitt die herrscherpanegyrische Aufgabenstellung durch die Päpste als offenkundige Einschränkung von Raffaels schöpferischer Freiheit und damit als unzulässige Intervention von Seiten der Politik wertet (RM, 206, vgl. 226-228), zieht Grimm eine Gefährdung der Kunstautonomie nicht in Erwägung. Die vier Wandbilder werden hier mit der politischen Ereignisgeschichte 161 Ders.: „Erfahrung", in: Ebd., S. 314; vgl. auch S. 322: „ N u r durch Zufälle kommen wir vorwärts." 162 Ders.: „ N a t u r " , in: Ebd., S. 412.
5. Anton Springer, der
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so eng verknüpft, daß eine Problemstellung im Sinne Springers gar nicht erst aufkommen kann. Die Messe von Bolsena, die Vertreibung des Heliodor, die Befreiung Petri und die Flucht Attilas sind Symbole, die sich analog zu politisch-religiösen Ereignissen wie das Fronleichnamsfest 1511, die Vertreibung der Franzosen aus Italien und der glückliche Verlauf der Feldzüge manifestieren. Das Schaffen des Künstlers wird damit zur geschichtlichen Handlung auf höherer Ebene; wie im Emersonschen Denken vollzieht sich im Kunstwerk ein bewußter Akt der Zeichensetzung. Die Bestimmung des Künstlers besteht demnach in der Verkündigung und Bejahung der „Schönheit der Dinge, welche eine neue und höhere Schönheit wird, sobald man sie ausdrückt." 163 Dieser optimistischen Verbindung von Wirklichkeit und Kunst verhaftet, bleibt Grimms Text frei von Fragen nach einer Beziehung zwischen Aufgabenstellung und Ausführung. Raffaels Leistung besteht vielmehr im „symbolische[n] Zusammenfassen dessen, was die Zeit im Moment am tiefsten bewegte und dem Volke verständlich war." (Bd. 1, S. 377) Uber seine höhere Wirklichkeitserfahrung wie durch seine allumfassende Nähe zur Außenwelt transformiert er die geschichtliche Kontingenz zur Geschichtsmetaphysik, indem er in der Kunst die im geschichtlichen Ereignis einwohnende und verdeckte tiefere Bedeutung sichtbar macht. Den Bezug zur Geschichte löscht Grimm deshalb nicht aus: Er überhöht vielmehr partielle Elemente der geschichtlichen Kontingenz zu einem überzeitlichen Wert. Durch diese symbolische Verschmelzung im Kunstwerk stellt sich ein ideales Substrat ein, in welchem die Geschichte als solche nicht ausgeschieden, sondern als positiver Faktor gutgeheißen wird. Diese ästhetische Grundlegung ist es, die das ideell-narrative Gerüst von Grimms Michelangelo prästabiliert. Wenn zu Beginn der Episode über die Stanza d'Eliodoro der theoretische Satz 164 dekretiert wird, daß im Papsttum „ein Element der Unverwüstlichkeit" liegt (Bd. 1, S. 374), so wird diese Idee des ewigen Papsttums in den vier Fresken erst manifest: Indem sie sich qualitativ unterschiedslos in den Erzählnexus eingliedern, konfigurieren sie als sichtbare Zeugnisse den geschichtlichen Verlauf. Dadurch kann Grimm eine stabile Referenz zwischen Kunst und Ereignisgeschichte aufbauen, die in den vier Wandbildern die symbolische Dimension der Geschichte repräsentiert. Diese immanenzüberschreitende Exklusivität der Kunst bei gleichzeitiger Verankerung in einem Erzählzusammenhang bedingt sich durch die Grundannahme, daß die künstlerische Kreativität auf der allgemeinmenschlichen, aber beim Künstler besonders ausgeprägten Befähigung für sympathetische Beziehungen beruht. Seine Begabung besteht in einem affirmativen Verhältnis zur Außenwelt und immunisiert ihn gegen Faktoren des äußeren Zwangs. Deshalb kann Raffael unbeschadet „mit dem Papste mitten in den Ereignissen" stehen (Bd. 1, S. 377), deshalb muß Michelangelo, um schöpferisch zu sein, im Moses einen Akt der Sympathiebildung zu Julius II. vollziehen. Auf diese Weise bestätigt sich die geschichtsmetaphysische Dimension der Kunst durch einen anthropologischen Kern: Die vom Weimarer Klassizismus herrührende Formel des „Allgemein Menschlichen" verlagert sich von einer primär gehaltsästhetischen und sujetabhängigen autonomen Geschlossenheit des Kunstwerks zur transzendentalistischen Deutung, die mit der interpretatorischen Offenheit und Mehrschichtigkeit eines künstlerischen Symbolakts operiert. Werk, schaffender Künstler und politisch-kulturelle 163 Ders.: „Der Dichter", in: Ebd., S. 281. 164 Vgl. hierzu Scheffel/Martinez: Einführung
in die Erzähltheorie,
S. 99 f.
164
II. Realistischer Klassizismus. Methodik
und Darstellung bei Anton
Springer
Außenwelt sind keine divergenten Faktoren, die nur durch glückliche Wechselwirkung zur Ubereinstimmung kommen, sondern aufeinander harmonisch abgestimmte Teilwahrheiten, die im künstlerischen Schaffensprozeß zusammengeführt und symbolisch verschmolzen werden. Mutatis mutandis tut sich dabei eine Analogie zur Ideenlehre Rankes und dem damit verbundenen Erzählverfahren auf:165 Kunstwerke dienen der symbolisch-konfigurativen Verknüpfung, sie sind Träger idealer, überzeitlicher Werte und Offenbarungen geschichtlicher Ideen. Im festen Vertrauen auf die unerschütterliche künstlerische Kraft Michelangelos und Raffaels dechiffriert die erzählte Abfolge von Kunstwerken den höheren Sinn der Geschichte. Die Kunst wird dadurch zur ideellen Abbreviatur für das geschichtliche Geschehen.166 Wie bei Ranke ist die Metaphysik der Geschichte inhärent, aber „Gottes Finger" in der Geschichte 167 wird nicht mehr in der gleichmäßigen Offenbarung geschichtlicher Ideen erkannt, sondern bedarf einer Vermittlung durch die großen Männer, ohne die der metaphysische Kern der Realität verborgen bleibt, wie Grimm an Raffael und Goethe bezeugt: „Alles was sie berühren, ist Gold, ist schön, als wiese Gottes Finger darauf hin und eine geheime Stimme flüsterte: ,sieh es nur an und erkenne es', und ich hätte Kraft es zu erkennen so lange sie es mir zeigen." 168 So kommt es, daß die detaillierte Darstellung Grimms (zumindest theoretisch) beliebig erweiterbar wird, ohne ihren ideellen Kern tatsächlich zu gefährden. Ein Künstlerbild, das subjektzentriert ist, aber zugleich seine Subjektivität zur Bedingung der wahren Erkenntnis des Weltzusammenhangs erklärt, kann darstellerisch nur dadurch plausibilisiert werden, daß es die Totalität der Außenwelt durch einen umfangreichen Detailbezug einholt. Die darüber konstruierte Zeiterfahrung bedingt auch, daß das Verhältnis von Lebenswelt und Werkentwicklung weit unstrukturierter erzählt wird als bei Springer: Während dieser ganze Werkgruppen zusammenfaßt und mit blockhaften Exkursen zur Kultur- und Ereignisgeschichte verbindet, integriert jener die Kunstbeschreibungen stärker in ein historisches Kontinuum, um die schöpferische Befähigung Michelangelos als geschichtliche Erfahrung nachzuvollziehen. Welche fundamentalen Konsequenzen die divergenten Erzählordnungen Springers und Grimms haben können, zeigt sich am besten an einem in der Entstehungsgeschichte komplexen 169 wie in der Deutung umstrittensten Fälle, nämlich den Medicigräbern in der Neuen Sakristei von San Lorenzo: Zwischen 1520 und 1534 entstanden, koinzidiert das Hauptwerk aus Michelangelos Florentiner Periode mit der Vertreibung seiner Auftraggeber aus Florenz (1527-1530). Eng mit den Florentiner Unruhen verknüpft ist die Frage nach der inhaltlichen Beziehung zwischen den Sitzfiguren Giulianos und Lorenzos de' Medici und den vier Liegefiguren der Tageszeiten, die - so die Kunstliteratur seit Vasari - als Klagefigu-
165 Grimms Hauslehrer war Ranke. 166 Vgl. Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 292. 167 „In dem entscheidenden Augenblick tritt allemal ein, was wir Zufall oder Geschick nennen, und was Gottes Finger ist." Ranke: Geschichten der germanischen und romanischen Völker, S. 139. Vgl. hierzu Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 303. 168 Grimm: „Ralph Waldo Emerson", in: Ders.: Neue Essays über Kunst und Literatur, S. 4 f. 169 Zur ungeklärten Entstehungschronologie der sieben Skulpturen vgl. Goez: „Annotationes zu Michelangelos Mediceergräbern", ibs. S. 240 f.
5. Anton Springer, der
Historiograph
165
ren für den frühen Tod der beiden Herzöge, als Allegorie für die gute Regierung (17. Jahrhundert) oder, mit der Entdeckung Michelangelos als freiheitsliebender Republikaner in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Kritik an den Medici rezipiert wurden. 170 Bezeichnend ist, daß sich beide Autoren nicht unbedingt thesenstark in der Streitfrage positionieren: Springer beschreibt die Sitz- und Liegefiguren zusammen in einem Abschnitt, der an die Florentiner Unruhen anschließt. Das Verhältnis zwischen den Grabstatuen der beiden Medici und den Tageszeiten kann er daher als geschlossenes ikonographisches System, als Allegorie (RM, 408-413), behandeln 171 - worin aber die allegorische Konzeption besteht, bleibt in Springers Interpretation weitgehend ungeklärt. Die Verwendung des Allegoriebegriffs signalisiert auch hier eine ästhetische Abwertung und den Ausdruck eines unfreien Verhältnisses zwischen Künstler und Auftraggeber (vgl. Abschnitt 2.1.): Aufgrund des abstrakten, kunstfremden Gehalts ist der Künstler genötigt, einen kompensatorischen Akt der formalen Bezwingung zu begehen, entsprechend jenem Grundthema des Konflikts zwischen Kunstautonomie und äußerer Einflußnahme, wie es Springer an zahlreichen anderen Stellen, z. B. anhand der Stanza d'Eliodoro, expliziert: Die allegorische Konzeption fordert Michelangelo dazu heraus, formal schöpferisch zu werden, nämlich „durch die Kraft der Formen und den leidenschaftlichen Ausdruck den ursprünglich dürftigen Inhalt vergessen zu machen" (RM, 412). Im Gegensatz zu Springer behandelt Grimm die Fürstenfiguren und die Tageszeiten in zwei voneinander getrennten Abschnitten. Grimm fügt hier die Erzählung von den Florentiner Unruhen zwischen den Beschreibungen der beiden Grabstatuen (Bd. 2, S. 60 ff) und der Tageszeiten (Bd. 2, S. 200-203; 215-222) ein. Die formale Trennung der Werkgruppe suggeriert, daß einzelne Ausarbeitungsphasen in Beziehung zu den äußeren Ereignissen stehen. Dadurch differenziert Grimm nach der jeweiligen politischen Situation und deutet die Herzöge wie die Tageszeiten als zwei selbständige Akte der Symbolbildung. Die Statuen Giulianos und Lorenzos werden zunächst als persönliche Danksagung Michelangelos an das Haus Medici interpretiert: „Michelangelo hat sie so hoch erhoben als sie sich erheben ließen, und, indem er die Nachkommenschaft seines alten Gönners Lorenzo und dessen Bruders so darstellte, Alles was er in ihrem Hause an Wohlthaten empfing, in einer Weise vergolten die mehr als königlich ist." (Bd. 2, S. 62) Nach dem Abschnitt zur Florentiner Revolution, während der die Arbeit an den Grabmälern ruht, fährt Grimm fort: „Endlich kam er nun aus seiner Verborgenheit hervor und ging still an die Arbeit für die Sacristei. [...] Er mühte sich ab in krankhafter Hast. Er mußte arbeiten, um sich zu betäuben." 172 170 Vgl. zur allg. Einordnung Rosenberg: Beschreibungen Michelangelos,
und
Nachzeichnungen
der
Skulpturen
S. 18-41. Rosenberg listet insgesamt 25 verschiedene Deutungen auf und macht
darauf aufmerksam, daß mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an die Stelle von monokausalen Deutungen komplexere Interpretationsansätze treten. Mit einem bloßen Wandel von einer kennerschaftlich-poetischen Kunstliteratur zu einer „Kunstwissenschaft"
(Hervorhebung von
Rosenberg, S. 39) läßt sich dies jedoch nur unzureichend erklären. 171 Zu Springers Interpretation vgl. auch Seidel: „,Nur künstlerische Gedanken'. Die Bedeutung Michelangelos in Jacob Burckhardts .Kunst der Renaissance'", S. 75, 87, 94 (Anm. 81). 172 Vgl. hierzu den Prätext Condivis, den Grimm für seine Zwecke umwandelt: „Wie Michel Angelo dies hörte, kam er hervor, und obwohl es schon an die 15 Jahre war, dass er keinen Meissel angerührt hatte, machte er sich doch an's Werk mit solchem Eifer, dass er in wenigen Monaten alle
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
166
(Bd. 2, S. 200) Freilich ist auch bei Grimm die Wiederaufnahme der Arbeit an den Grabmälern die Bedingung für Michelangelos Amnestie - indem aber hier dessen Tätigkeit primär psychologisch motiviert ist, wird deutlich, daß der wahre Künstler selbst in Zwangssituationen seine intuitionsbasierte Handlungshoheit nicht verliert. Gemäß Emersons Satz, daß „[diejenigen unserer Handlungen, die aus dem freien Willen hervorgehen, [...] immer die besten" sind,173 überhöht Michelangelo auch hier seine historische Erfahrung quasi in Eigentherapie zum Symbol: „Er wollte symbolisch die Zeit darstellen und bildete in den vier Figuren, den Morgen, den Abend, den Tag und die Nacht." (Bd. 2, 201) Grimm führt die Werksegmente der Liege- und Sitzfiguren nicht zusammen. Er simuliert dadurch darstellerisch einen Abstand ihrer Entstehung und zeichnet eine Zeiterfahrung nach, die die Vorstellung von einem spontanen Handeln des Künstlers bewirkt. Das Problembewußtsein für eine einheitliche Ikonologie des Gesamtensembles ist daher nicht vorhanden: Als symbolische Zeugnisse im Geschichtsprozeß repräsentieren die Statuen der Herzöge einen grundsätzlich anderen Moment im Leben Michelangelos als die Tageszeiten. c) Conclusio Anthropologisch, produktionsästhetisch und poetologisch läßt sich die Opposition zwischen Springer und Grimm wie folgt zusammenfassen: Von einer Hegeischen Tradition ausgehend, thematisiert Springer ein antithetisches Verhältnis zwischen künstlerischem Individuum und Lebenswelt. Etwa wenn es heißt, daß im Bau von St. Peter die Idealvorstellungen und die ,,reale[] Baugeschichte selbständig einher [gehen]" und sich dort „ein schroffer Gegensatz zwischen der harten Wirklichkeit und dem gegen jede Schranke ankämpfenden Schöpferdrange der Künstler" offenbart (RM, 298) Jener Gegensatz zwischen Subjekt und empirischer Wirklichkeit ist nach Hegel eine anthropologische Notwendigkeit, da er menschliches Handeln und insbesondere schöpferische Produktivität konditioniert: Aufgrund seiner geistigen Natur gerät der Mensch in den Widerstreit mit der „Prosa der Welt" 174 und wird dazu gezwungen, diesen Gegensatz in einem dialektischen Prozeß von Aktion und Reaktion aufzuheben. Alles menschliche Handeln zielt demnach auf die Uberwindung des Gegensatzes; durch die Endlichkeit des Menschen aber bricht er immer wieder von neuem auf.175 Auf dieser Basis begründet Hegel das Gattungsprimat des Dramas: Es bildet die „höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt", da es „schlechthin auf kollidierenden Umständen, Leidenschaften und Charakteren" beruht.176 Dieser mustergültige Konnex von dramatischer Form und Anthropologie wirkt in Springers Präferenz für eine dramatische Konzeption nach: Die Notwendigkeit des Konflikts des Künstlers mit seinem lebensweltlichen Zusammenhang bedingt einen sensualistisch gesteuerten Prozeß der
173 174 175 176
die Statuen fertig hatte, die in der Sacristei von San Lorenzo zu sehen sind, wozu er mehr von der Furcht angetrieben war als von der Liebe." Condivi: Das Leben des Michelangelo Buonarroti, S. 58. Emerson: „Verstand", in: Ders.: Versuche, S. 241. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 199. Vgl. ebd., S. 136. Ebd., III, S. 474 und 475.
5. Anton Springer, der Historiograph
167
schöpferischen Objektivierung an der Außenwelt, bei dem die Antipoden Michelangelo und Raffael unterschiedliche Muster der Konfliktbewältigung repräsentieren. Absolute Freiheit realisiert sich nach Hegel nur dort, wo das zweckorientierte Handeln des einzelnen mit der „substantiellen Allgemeinheit" zur Deckung kommt. Während deshalb die Mediceer-Gräber Michelangelos ,,sittliche[] Persönlichkeit" in einen „herben Conflict" bringen (RM, 377), hält Raffael dem äußeren Druck immer besser stand: „Raffael ertrug den ihn [sie!] auferlegten Zwang, welcher die Stellung Leo's X . zur Kunst nur allzu deutlich zeichnet, jetzt vielleicht leichter als in früheren Jahren." (RM, 317) Wenn Raffael kurz danach in der Loggia di Psiche auch eine „persönlich freie That" (RM, 340) vollzieht, markiert dies die ideale Vermittlung der Gegensätze des subjektiven Besonderen mit dem objektiven Allgemeinen: Die Vernunft des Willens kommt in Raffaels Werken zur Wirklichkeit, indem sich die „konkrete Freiheit des Individuums als Indifferenz von positiver Freiheit und Zwang" realisiert. 177 Mit Hegel gesprochen, ist Raffaels „absolute Freiheit [...] über diesen Gegensatz wie über jeden und jede Äußerlichkeit erhaben und schlechthin alles Zwangs unfähig, und der Zwang hat gar keine Realität." 1 7 8 Während sich also Michelangelos Widerwille gegen die Medici zum Verhängnis entwickelt, löst Raffael den Gegensatz zur Lebenswelt durch freiwillige Integration. In der darstellerischen Konsequenz heißt dies, daß Springer einem radikalen Formklassizismus anhängen kann, dessen Gesamtkonstruktion dramatische Gesetze befolgt. Im Drama kann die geeignete Objektivationsform gefunden werden, welche die produktive Antithese von Künstler und Wirklichkeit repräsentiert. Der sensualistischen und konfliktbetonten Künstlerauffassung steht die spirituelle und harmonisierende Konzeption bei Grimm gegenüber, die im integrierenden Symbol mündet und auch Konsequenzen für die historiographische Konzeption hat. Poetologisch setzt Grimm der realistischen Forderung nach objektiver Widerspiegelung der Verhältnisse einen Erfahrungsbegriff entgegen, und zwar einen doppelten: Auf der auktorialen Erzählebene durch den einfühlenden und nachschöpferischen Nachvollzug des Geschehens, wobei Rankes „Wie es eigentlich gewesen" auf ein rohes Uberlieferungsmaterial zurückgestuft wird, das erst im Bewußtsein einer totalen Geschichtserfahrung seinen Wert erhält: „Unsere Geschichtsbücher erhalten sehr genau den Inhalt einzelner Fächer der Geschichte, aber ein Gefühl des großen allgemeinen Stromes entbehren sie." 1 7 9 Auch auf der intradiegetischen Ebene des Protagonisten ist dieser Subjektbezug dominant: Die schöpferische Disposition des Künstlers bedingt sich durch einen geistigen Bezug zu seiner Lebenswelt, die in der Summe potentieller Einzelerfahrungen zum Hort ewiger Spiritualität wird. Dieser transzendentalistischen Auffassung ist geschuldet, daß Grimm die Handlungsautonomie Michelangelos nie ernsthaft in Frage stellt. Die schöpferische Verarbeitung der Außenwelt und der damit verbundene intuitive Erfahrungsbegriff bedingt eine Unverwundbarkeit des Künstlers, die auch das Verhältnis zu den Medici entproblematisiert. Verhängnisvoll sind bei Grimm die Entscheidungen eines Leo X . oder Clemens VII. nie: „Indessen Leo war Papst und Michelangelo Michelangelo, es verstand sich von selbst, daß trotz allem einem
177 Schnädelbach: Hegels praktische Philosophie, S. 39. 178 Das Hegel-Zitat in ebd., S. 39 bzw. Hegel: Jenaer Schriften 1801-1807, S. 477. 179 Grimm: „Ralph Waldo Emerson", in: Ders.: Neue Essays zu Kunst und Literatur,
S. 8.
168
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton
Springer
solchen Manne zu thun gegeben werden mußte." (Bd. 1, S. 422) 180 Der voraussetzungslos souveräne Umgang mit dem Gegebenen bedingt hier eine Vorstellung vom Schöpferischen, die grundlegend optimistisch gestimmt ist. So wird dann auch die Entscheidung Leos, Michelangelo für die Fassadengestaltung von San Lorenzo nach Florenz zu schicken, betont undramatisch geschildert: Die Übernahme des Auftrags entspricht hier dem Wunsch Michelangelos; die daraus resultierende Aufschiebung des Juliusgrabmals stellt Michelangelo nur vor das Problem der Vertragsbrüchigkeit; schließlich bedeutet der Weggang nach Florenz keinen Abbruch am Grabmal, sondern erlaubt es Michelangelo, seine Arbeit daran kontinuierlich fortzusetzen. Springers knapper, peripetieartiger Schilderung von Michelangelos Entfernung aus Rom steht eine genaue Rekonstruktion der Ereignisse gegenüber, die mittels der Familienbriefe die monatelange Auflösung des römischen Hauswesens en detail wiedergibt und im Vergleich zu Springer ein ausgewogeneres Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit herstellt.181 Etwas schematisiert, reduzieren sich beide Entwürfe auf folgende Oppositionen: Anthropologisch vertritt Springer die Notwendigkeit des Konflikts zwischen Individuum und seiner Welt, der durch soziale Eingliederung produktiv gelöst wird. Dem setzt Grimm die Handlungsmächtigkeit des subjektzentrierten Menschen entgegen, der nur aufgrund seiner eigenen Intuition wahrhaftiges Handeln generiert. Seine Würde bewahrt der Mensch im intuitiven Erkennen des Göttlichen in der Realität. Freiheit bedingt sich somit bei Grimm aus der spirituellen Erfahrung des Wirklichen, bei Springer aus dem Akzeptieren der Verhältnisse. An diese sozial-anthropologischen Prämissen schließen die Künstlerkonzeptionen an: Während bei Springer die Verarbeitung des Gehalts und des Materials in die künstlerische Form einmündet und sich die Kunst durch einen dialektisch-sensualistischen Prozeß zwischen Subjekt und Objekt realisiert, hebt der Michelangelo Herman Grimms alle Differenz im affirmativen Symbolbegriff auf. Beide Entwürfe sind daher ausgesprochen intellektfeindlich und situieren den Künstler im naiven und naturverhafteten Handeln, doch gelangen sie dabei zu unterschiedlichen Lösungen. Springers Konzept ist sensualistisch: Es basiert auf einem Verständnis des Manuellen, welches die Kunstautonomie vor allem formalästhetisch begründet. Der Gehalt bleibt dabei als prästabilierender Faktor wichtig, aber verliert seine Dominanz. Grimm hingegen definiert die künstlerische Begabung spirituell und argumentiert deshalb primär nach gehaltsästhetischen Kriterien: Schöpferische Erfahrung ist Teil einer göttlichen natura naturans, weshalb sich die Frage nach einer Realisierung durch das Material kaum stellt. Der Stoff erscheint hier auf den ersten Blick zurückgestuft, er ist aber durchaus wichtig, da ihm, wie im aristotelischen hyleGedanken, bereits die Form einwohnt.182 Auf der Ebene der Darstellung verfolgt Springer im pointierten Erzählen die dramatische Ausdrucksform der Kollisionsbildung; Grimm
180 In einen Parallelismus der friedlichen Koexistenz löst G r i m m sogar den Streit zwischen Leonardo und Michelangelo auf: „So sehen wir Michelangelo hier zeichnen, Lionardo dort malen und Florenz nach innen und außen in zufriedenstellenden Verhältnissen." Grimm: Leben Michelangelo's I, S. 263. 181 Vgl. Grimm: Leben Michelangelo's 3. Aufl., S. 116-119. 182 Vgl. Panofsky: Idea, S. 9 f.
I, S. 422 ff. Verstärkt in den späteren Auflagen, vgl. Bd. 2 der
β. Anton Springer, der
169
Historiograph
wiederum nutzt Kunstwerke als narrative Knotenpunkte, um in ihnen seine zwischen Immanenz und Transzendenz pulsierende Wirklichkeitsauffassung symbolisch zu integrieren. Geschichtliche Ereignisse bewegen sich dort in gleichbleibender Parataxe, d. h. die Darstellung ihres prinzipiell kontingenten Charakters ist eine Notwendigkeit, um den sinnhaft handelnden Künstlerhelden vor der Gleichheit der Ereignisse zu positionieren. Beide Autoren generalisieren schließlich ihren Künstlerentwurf zum anthropologischen Idealmodell, das Teil ihres emanzipatorischen Wissenschaftsverständnisses ist: Springer verfolgt ein sozialethisch-integratives Programm, das auf Verantwortung und Pflichtbewußtsein rekurriert; Grimm fundiert sein Menschenbild in der spirituellen Erfahrung des Selbst. Wo dieser die frohe Botschaft verkündet, daß in jedem Menschen ein Michelangelo angelegt ist, verweist jener nicht minder beunruhigend auf die Aussicht, daß aus jedem Michelangelo ein guter Staatsbürger werden kann.
5.5. Erzählte Kulturgeschichte: Soll und Haben als formales Modell Abschließend gilt es, die Parallelbiographie noch stärker in poetologische Konzepte einzubinden, womit zugleich ihr nationalliberaler Manifestcharakter wie auch die gesamte Textanlage als typische Ausprägung der realistischen Ästhetik erkennbar werden soll. Dabei wird die Nähe zum fiktionalen Muster des Romans bewußt gesucht, indem sich die Analyse nochmals der Parallelkonzeption zuwendet. Das Erzählen in alternierenden Handlungssträngen kann, so die hier zu explizierende These, als typisches Merkmal des realistischen Romans gelten, da dort forciert epische Organisationsprinzipien ausgebildet werden, die durch simultan geschaltete Parallelhandlungen und „immanente Figurenkonstellation[en]" einen „sinnhaften Zusammenhang mit dem soziokulturellen Kontext" herstellen. Dadurch wird nicht mehr, wie es die Wilhelm Meister-Tradition vorgeben würde, „das Streben nach einer verbindlichen allgemeinen Wahrheit" ausgedrückt, sondern mehrere Figuren werden „auf eine nur relative Wahrheit des begrenzten historischen Ausschnittes" bezogen.183 Konsequent setzen solche Verfahren die in der realistischen Romantheorie verbreitete Forderung nach einem ,,poetische[n] Culturgemälde" 184 bzw. der Darstellung des Individuums in den Kulturzuständen um,185 indem sie zugleich mit der Konzentration auf zwei oder drei Protagonisten an Hegels Definition des modernen Romans als „bürgerlichen Epopöe" anknüpfen.186 Mit dem Kunstmittel einer alternierenden Handlungsführung und der kontrastierenden Anordnung mehrerer, in ihrer Charakterzeichnung repräsentativ wirkenden Hauptfiguren wird die (an sich zum Statischen tendierende) Kulturgeschichte in einen narrativen Prozeß überführt. Parallelkonzeptionen im Roman erfüllen somit eine doppelte Funktion: Sie erzielen einerseits über die Kontrastwirkung den Effekt einer kulturellen Totalität, andererseits mittels der erzählerischen Form die Zeichnung von individualisierten 183 Kafitz: Figurenkonstellation 184 Friedrich Beck: Lehrbuch söhnung,
als Mittel der Wirklichkeitsauffassung,
S. 87.
185 Vischer: Aesthetik 186 Hegel: Vorlesungen
S. 2 und 13.
der Poetik. München 1862, S. 23. Zitiert nach: Rhöse: Konflikt und Ver-
VI, S. 179, § 880. über die Ästhetik I I I , S. 392.
170
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton
Springer
Charakteren. In diesem Zusammenhang ist bezeichnend, daß Springer in der Vorrede zur zweiten Auflage ähnlich argumentiert. Die Parallelhandlung wird dort nicht etwa nach kunstwissenschaftlichen Kriterien, sondern nach der Beziehung beider Künstler auf die Kulturgeschichte gerechtfertigt: „Wie das Glück der Renaissance nicht von ihrem Unglück zu trennen ist, so lassen sich auch die beiden Meister nicht scheiden. Sie gehören zusammen, und erst wenn man sie gemeinsam betrachtet, erkennt man vollkommen ihre Stellung und Bedeutung in der Geschichte des italienischen Volkes." 187 Als Agenten kultureller Tendenzen erhalten damit Michelangelo und Raffael einen Verweisungscharakter zum allgemeinen Renaissance-Kontext. Der Zusammenhang von kunsthistoriographischem Programm und zeitgenössischer Romanpoetik soll in drei Schritten nachvollziehbar werden: 1. In der Rekonstruktion von Springers Darstellungsverständnis, welches sich explizit auf die realistische Romantheorie bezieht; 2. In der Beschreibung eines konkreten Erzählparadigmas wie Gustav Freytags Roman Soll und Haben, zu dem die Parallelbiographie konzeptionelle und epistemologische Analogien aufweist; 3. Im mikrostrukturellen Vergleich von erzähltechnischen Merkmalen und Textsignalen bei Freytag und Springer. 1. Poetologische
Vorüberlegung:
Im Jahr 1854 postuliert Springer eine epistemische Ver-
wandtschaft zwischen Roman und Geschichtswissenschaft: Man kann es beklagen und misbilligen, man kann aber die Thatsache nicht wegleugnen, daß der Roman beinahe die einzige Form bildet, in welcher die Gegenwart die historische Dichtung zu genießen im Stande ist. Das moderne Epos ist der Roman, und dieser nur ein neuer Beleg der Richtigkeit des berühmten Satzes, daß das moderne Schicksal durch die Politik, durch die Macht des Endlichen und Zufälligen bestimmt wird. Die unmittelbare Verkettung allgemeiner Ereignisse mit dem Kleinen und Zufälligen, das Herauskehren der privaten Persönlichkeit an dem historischen Helden, das Einkleiden des Weltgeistes in die menschliche Haustracht, oder wenn ein philosophischer Ausdruck gestattet ist, das Betonen des Umstandes, daß auch das Höchste und Erhabenste im Leben an das Endliche und Natürliche gebunden ist, das sind die bezeichnenden Merkmale des Romans im Gegensatz zur ältern epischen Dichtung. Einen verwandten Zug, einen ähnlichen Naturalismus kann selbst die Wissenschaft der Geschichte nicht ableugnen. Die Quelle der Verkettungen bildet hier allerdings nicht die Phantasie, sondern Urkunden und Memoiren. Indem aber die historische Wissenschaft aus der Richtung der Gebirge und dem Zuge der Ströme, aus klimatischen Erscheinungen und aus der Beschaffenheit der landschaftlichen Umgebung die Volkszustände und den Gang der Ereignisse zu erklären versucht, indem sie den Einfluß bestimmter Persönlichkeiten auf die Entwicklung allgemeiner Zustände schildert, diese auf jene, ihren Charakter, ihre Lebensverhältnisse zurückführt, von allen Ideen und Anschauungen die natürliche Entstehung zu erzählen weiß, zeigt sie deutliche Anklänge an die in der neuern historischen Dichtung herrschenden Grundsätze. 188
Der Passus ist eine tour d'horizon durch die zeitgenössische Romantheorie: Zunächst unterscheidet Springer wie Hegel den modernen Roman vom antiken Epos, wonach sich ,,[d]ie Zufälligkeit des äußerlichen Daseins [...] in eine feste, sichere Ordnung der bürgerlichen 187 Springer: Raffael und Michelangelo, 2. Aufl., Vorrede, I, S. IV. 188 Springer: „Die ästhetischen Anregungen in der modernen Bildung", in: Deutsches (1854), S. 785-799, S. 797.
Museum
4/1
5. Anton Springer, der
Historiograph
171
Gesellschaft und des Staats" verwandelt hat. 1 8 9 D e r R o m a n thematisiert demnach die E n t wicklung des Individuums in einer geordneten Welt. D a s Hegeische T h e o r e m v o m R o m a n wird dann empirisiert, was ebenso typisch für die zeitgenössische Diskussion ist, die den R o m a n zum adäquaten Darstellungsmittel der Wirklichkeit erhebt. 1 9 0 Aus dem gleichen J a h r stammen Definitionen Julian Schmidts und Gustav Freytags, w o n a c h sich der „ R o m a n [ . . . ] durch seine F o r m als N a c h a h m u n g der Wirklichkeit zu e r k e n n e n " 1 9 1 geben soll. F e r n e r setzt die Feststellung v o m B e z u g zwischen menschlichem Individuum und ,,Weltgeist[]" wie auch die postulierte Affinität zur G e s c h i c h t e eine Vertrautheit mit den H i s t o r i e n r o m a nen Walter Scotts (bzw. mit dessen deutschen Nachfolgern) voraus, in denen der fiktionale Durchschnittsheld vor einer wahrhaftigen historischen Kulisse agiert. N a c h der T h e s e v o m R o m a n als Paradigma der modernen Wirklichkeitsauffassung leitet Springer auf die „Wissenschaft der G e s c h i c h t e " über, deren empirische M e t h o d e in Verbindung mit der Poetik stehe. D a m i t postuliert er eine K o n v e r g e n z von D i c h t u n g und Geschichtswissenschaft auch im darstellerischen Verfahren. Springer erwähnt die historische Quellenkritik und die daraus hervorgehende pragmatische Ereignisverknüpfung, dann jedoch hypostasiert er einen Automatismus, der den R o m a n als die formale Explikation der Geschichtsschreibung schlechthin versteht. Indem dieser nämlich das Verhältnis des Einzelschicksals zur großen Politik wie auch dessen sozialen und natürlichen K o n t e x t thematisiert, ist er das geeignete Rekurrenzmodell, auf das sich die biographische G a t t u n g beziehen kann. D u r c h die formale Anerkennung des R o m a n s als widerspiegelungs- und milieutheoretisches Darstellungskonzept hebt Springer auch hier die G r e n z e n zwischen fiktionaler und wissenschaftlicher Prosa auf. O f f e n b a r in U n k e n n t n i s der gleichzeitigen poetologischen Diskussion in Frankreich statuiert Springer einen unmittelbaren K o n n e x zwischen R o m a n und Milieutheorie. In H i n blick auf die Parallelbiographie erscheint relevant, daß dieses T h e o r e m in der Gattungsdiskussion wie in Springers historiographischem Verständnis von erstaunlicher Kontinuität ist: So sucht die R o m a n t h e o r i e Friedrich Spielhagens ( 1 8 7 3 ) dezidiert die N ä h e zu den Wissenschaften. 1 9 2 U n d konfrontiert man Springers Sätze von 1854 mit einer Aussage aus dem J a h r 1881, so scheint es, daß er j e t z t den ursprünglichen B e z u g zum R o m a n weggelassen hat, aber den K e r n des alten C r e d o s nochmals bestätigt: N e b e n dem Aufzeigen der künstlerischpsychologischen Entwicklung hat die ,,historische[] Darstellung" „auch die Luft, welche die Künstler und Künstlergeschlechter athmen, die U m g e b u n g , in welcher sie sich bewegen, die Einflüsse, von welchen sie getroffen werden, das E r b e , welches sie verwalten und ver-
189 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II, S. 219. 190 Vgl. Steinecke: Romantheorie und Romankritik in Deutschland I, S. 47 ff; Ruckhäberle/Widhammer: Roman und Romantheorie des deutschen Realismus, S. 128. 191 [Julian Schmidt:] „Das romantische Epos" [Rez. zu Gottschall: Carlo Zeno], in: Gb 13/1 (1854), S. 8-19, S. 11. 192 Vgl. Spielhagen: „Das Gebiet des Romans", in: Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, S. 41: Die Verwandtschaft „beruht auf der Eigenthümlichkeit der epischen Phantasie, den Menschen immer auf dem Hintergrunde der Natur, immer im Zusammenhang mit - in der Abhängigkeit von den Bedingungen der Kultur, d. h. also so zu sehen, wie ihn die moderne Wissenschaft auch sieht."
172
II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
mehren, zu schildern." 193 Aus verständlichen Gründen - handelt es sich doch hier um den Versuch, die Kunstwissenschaft als selbständige Disziplin zu proklamieren - wird die Analogie zwischen Historiographie und Roman nicht mehr bemüht; in der substantiellen Forderung nach einer Kontextualisierung des historischen Subjekts aber stimmen beide Aussagen von 1854 und 1881 nahezu überein. Ihre Konvergenz läßt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen kunstwissenschaftlicher Darstellungsauffassung und Romanpoetik vermuten. Der theoretische Anschluß an die Romanpoetik steht nicht unbedingt in Widerspruch zu den Ausführungen über die dramatische Erzählauffassung in Raffael und Michelangelo (vgl. Abschnitt 5.4a)). 194 In bezug auf den realklassizistischen Kontext ist die Verbindung von dramatischer Form und Roman sogar zwingend. In pointierter Antithese zum jungdeutschen und demokratischen Vielfigurenroman, der als „Roman des Nebeneinanders" (Gutzk o w ) die Forderung nach einer sozialen und kulturellen Epochentotalität mit einem additiven Erzählkonzept nachkommt, erhebt die realklassizistische Literaturkritik Formgesetze zur Norm, die sich dezidiert am Drama orientieren. Demnach soll die Fabel nicht „vielfach durchbrochen" werden, sondern sich durch einen ,,festgeschürzte[n] Knoten, [eine] feste Composition, [eine] spannende Katastrophe" und die straffe Zusammenfassung der einzelnen Fäden 195 strukturieren. Mit dem Transfer dramentechnischer Formmerkmale auf den Roman kann das Verhältnis von Individuum und Außenwelt grundlegend anders thematisiert werden: Die „innere Einheit, der Zusammenhang der Begebenheit in dem Roman muß sich entwickeln aus den dargestellten Persönlichkeiten und dem logischen Zwange der ihm zu Grunde liegenden Verhältnisse." 196 Die Erzähltechnik wird somit von einem am Romanhelden orientierten, diegetischen Einheitsprinzip beherrscht, welches das kulturelle und soziale Umfeld eng auf die Figur bezieht. Es gilt also festzuhalten: Springers Darstellungsreflexion weist auch hier eine Analogie zur zeitgenössischen Romandiskussion auf, deren Grundlagen sich in der Publizistik der 1850er Jahre ausbildeten. Diese formale wie ideelle Einheit mit dem Roman definiert sich aus folgenden Merkmalen: dem dramatischen Bau, der Parallelhandlung, dem einheitlich geführten Handlungsprinzip und dem Wunsch nach einer adäquaten Ausdrucksform für die kulturgeschichtliche Gesamtschau. 2. Die Parallelbiographie und der realistische Roman: Das einschlägige Produkt dieser poetologischen Reformdiskussion stellt zweifelsohne Gustav Freytags Roman Soll und Haben (1855) dar. Wenn auch fragwürdig erscheint, ob der von Julian Schmidt ausgerufene paradigmatische Stellenwert des Romans tatsächlich für den gesamten bürgerlichen Realismus generalisierbar ist, 197 so muß doch konzediert werden, daß der Text trotz skeptischer
193 Springer: „Kunstkenner und Kunsthistoriker", in: Im neuen Reich 11/2 (1881), S. 752. 194 Zur Verbindung zwischen Roman und Drama vgl. grundlegend Lukács: Der historische Roman, S. 143-160; dort auch zur Parallelhandlung im Roman, S. 148 f. 195 [Freytag] „Willibald Alexis", in: Gb 10/1 (1851), S. 401-404, S. 404. 196 [Freytag:] „Isegrimm, Roman von Willibald Alexis", in: Gb 13/1 (1854), S. 321-328, S. 323. 197 Ein Jahr nach Erscheinen von Soll und Haben deklariert Julian Schmidt in der 3. Auflage seiner Literaturgeschichte den Roman zum Neubeginn einer literarischen Epoche. Vgl. Geschichte der Deutschen Literatur im neunzehnten Jahrhundert III, S. 295-311.
5. Anton Springer, der
Historiograph
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und warnender Stimmen 1 9 8 in kurzer Zeit zu einem der meistgelesenen Gegenwartsromane avancierte und die Auflagenzahlen bis 1880 rapide anstiegen. 199 Hinzu kommt, daß es sich um das erste literarische Werk handelt, das zahlreiche Rezensenten unabhängig voneinander als „realistisch" bezeichneten. 200 In der realklassizistischen Poetik markiert daher Soll und Haben einen wesentlichen Einschnitt: Dort kulminieren die Forderungen nach einer linear strukturierten Handlungsführung, einem sorgfältig konstruierten Aufbau, einer transparenten Motivation der Figuren, einer Vermittlung zwischen Detailrealismus und formstrenger Komposition wie auch die Wirkungsintention, einen erzieherischen Beitrag für die nationalstaatliche Einigung zu leisten. Formal führt der Roman mehrere poetologische Merkmale zu einem eklektischen Modell zusammen: Der Forderung nach einer objektiven Widerspiegelung der Verhältnisse kommt er insofern nach, als er an die Tradition des Bildungsromans anknüpft und damit die Vermittlung von subjektivem Einzelschicksal und objektiver Lebenswelt thematisiert. Auf kompositioneller Ebene verfolgt der Text eine strenge formale Umsetzung, die sich an der Romantechnik Walter Scotts orientiert. Mit beiden literarischen Vorbildern konvergent gehen formstrenge Prinzipien, die aus der klassischen Dramenpoetik stammen. Wie Freytag in einem Selbstkommentar schreibt, sind „die Theile der Handlung [...] in der Hauptsache dieselben wie im Drama: Einleitung, Aufsteigen, Höhepunkt, Umkehr und Katastrophe." 2 0 1 Die Verbindung von Bildungs- und Dramenkonzeption realisiert sich in der Zuspitzung zu Konflikten, die schrittweise gesteigert werden, wie in der axialsymmetrischen Zentrierung der Handlung um einen Höhepunkt, der sich analog zur Peripetie des Dramas verhält. Der dramatische Aufbau besteht schließlich in der Verknüpfung mehrerer, weitgehend unabhängig voneinander geführter Handlungsstränge. Mit diesen poetologisch-technischen Merkmalen koinzidiert auf inhaltlicher Ebene die für den nationalliberalen Historismus typische Verschränkung von Objektivität und Parteilichkeit. 202 Ahnlich den Bilder-Konzepten Springers und Freytags (vgl. Abschnitt 4.4.) verfolgt Soll und Haben eine Wertauffassung, welche sich über einen leistungsbetonten und sozial integrierenden Arbeitsbegriff definiert und zum staatstragenden Verhalten anleiten soll. Dabei erfüllt sich der realistische Objektivitätsanspruch bei gleichzeitiger Erzeugung 198 Für die gattungspoetologische Einordnung grundlegend Rhöse: Konflikt und Versöhnung, S. 117-145; zur Rezeption ebd., S. 126-134. Die problematische und unterschwellig rassistische Zeichnung der Figuren entging selbst Freytags Freunden nicht: „ich [...] bin ergriffen und gerührt worden, und recht erfreuet worden durch die ernste, tüchtige, bürgerliche Gesinnung des Ganzen. Adlige, Juden und Pohlen werden Ihnen weniger Dank wissen." Jahn an Freytag, Bonn 6.5.1855, in: Otto Jahn in seinen Briefen, S. 94. 199 Bis 1885 erreicht der Roman eine Auflage von 91000 Exemplaren. Vgl. Carter: „Freytag's Soll und Haben. A Liberal Manifesto as a Best-Seller", S. 328. Ahnliche Berechnungen bei Kienzle: Der
Erfolgsroman, S. 46 f und S. 124, Anm. 80. 200 Vgl. Steinecke: „Gustav Freytags ,Soll und Haben' - ein .realistischer' Roman?", S. 108 f. 201 Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben, S. 261. 202 Vgl. Fulda: .„Nationalliberaler Historismus'. Politische Motivation und ästherische Konsequenzen einer Konvergenzphase von Geschichtsschreibung und historischem Roman", S. 192; zum geschichtswissenschaftlichen Problem: Mommsen: „Objektivität und Parteilichkeit im historiographischen Werk Sybels und Treitschkes".
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik
und Darstellung bei Anton Springer
einer parteilichen .Tendenz' in einem konsequent durchgehaltenen Konzept der Parallelisierung: Dem redlichen, arbeitssamen und integrationsfähigen Kleinbürgersohn Anton Wohlfahrt steht der jüdische, maßlos ehrgeizige und von materiellen Obsessionen gesteuerte Veitel Itzig gegenüber, der parallel zu Wohlfahrt am selben Ort - der ungenannte Schauplatz ist Breslau - eine Kaufmannslehre beginnt. Obwohl sich die Antipoden nur an drei Stellen begegnen, sind doch ihre Entwicklungen komplementär aufeinander bezogen: Mit der gleichen rigorosen Konsequenz, mit der Itzig aufgrund seiner Intrigen scheitert und dadurch einen selbstzerstörerischen Mechanismus freisetzt, wird der durch Herausforderungen und naive Fehltritte zum verantwortungsbewußten und emanzipierten Staatsbürger gereifte Wohlfahrt Teilhaber des Komptoirs T. O. Schröter. Eine dritte, ebenso linear konstruierte Handlung verfolgt der Roman mit der Familiengeschichte des Freiherrn von Rothsattel, dessen Schicksal mit den beiden anderen Protagonisten untrennbar verknüpft ist: Während zunächst Itzig das Vertrauen des Freiherrn mißbraucht und ihn absichtlich mit waghalsigen Spekulationsgeschäften in den Ruin führt, ordnet Wohlfahrt dessen Verhältnisse neu, nicht ohne dabei die bittere Erfahrung der gesellschaftlichen Schranken zwischen bürgerlicher Existenz und Junkertum zu machen. Freytags Erzählkonzept befolgt damit das realistische Gebot, die Kulturgeschichte als integralen Bestandteil der Darstellung zu verstehen: Die drei Stereotypen von Adel, Bürgertum und Judentum, in ihrer Extremzeichnung nur gemildert durch Nebenpersonen, konfigurieren aufgrund ihres als repräsentativ ausgewiesenen Charakters ein soziales wie kulturelles Gefüge. Der nationalliberalen Ethik kommt dies insofern nach, als mit dem Aufstieg des Vollwaisen Wohlfahrt zum Kaufmann ein exemplarischer Fall der sozialen Eingliederung statuiert wird, der sich auf Leistungsfähigkeit und moralische Integrität gründet, während der mit deutlichen Dekadenzmerkmalen gezeichnete Adel Rothsattels wie auch das nicht assimilationsbereite Judentum Itzigs sich durch ihr Fehlverhalten als lebensunfähig erweisen sollen. Aus der Präferenz des an bürgerlich-liberalen Werten orientierten und den Extremen abholden Durchschnittshelden ergibt sich die handlungsleitende Maxime des Romans: Vor dem Hintergrund sozialer und politischer Verunsicherung im Nachmärz antizipiert er den ökonomisch verantwortungsbewußten und staatstragenden Bürger als den stabilisierenden Faktor der Zukunft. 203 Auch wenn sich fiktionale Texte dem methodischen Zugriff einer sinnstiftenden Eindeutigkeit prinzipiell entziehen mögen, stellt sich angesichts dieses Befunds eine solche methodische Frage bei Soll und Haben nur bedingt. Aufgrund des programmatischen Anspruchs und der proklamierten Mustergültigkeit entsteht hier eine Fiktionalität des Expliziten, die sich auf die stereotype Figurenzeichnung wie die teleologische Gesamtkonzeption niederschlägt. Die Vereinbarkeit mit der wissenschaftlichen Darstellungsauffassung Springers bedingt sich somit aus denselben Gründen, die den Roman nach heutigem ästhetischen Konsens uninteressant und trivial machen: Die petrifizierte technisch-formale Struktur, die klischeehaften Figurenkonstellationen und das Beharren auf einer Folgerichtigkeit in der Handlung können auf Springers wissenschaftliches Verfahren analog bezogen werden. Vier Kriterien sind demnach dem Roman Freytags und der Parallelbiographie Springers gemein:
203 Vgl. Büchler-Hauschild: Erzählte Arbeit, S. 74 u. ö.
5. Anton Springer, der Historiograph
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(a) Beide Texte verfolgen das Prinzip der Verschränkung von selbständigen Handlungen durch ein alternierendes Erzählkonzept, bei dem der Wechsel von räumlicher Koinzidenz und Divergenz als Organisationsmittel genutzt wird. So findet sich eine Parallelisierung von Geschehenssträngen, wie sie Springer in den strukturhomologen Relationen zwischen Michelangelo und Raffael andeutet, in der Konzeption der „Doppelhelden" Wohlfahrt und Itzig wieder.204 (b) Mit dem Prinzip der Parallelisierung ist die Kulturkonzeption eng verbunden: Die polar-konfigurative Anordnung ergibt in beiden Fällen eine Sinnstruktur, bei der das jeweilige Verhältnis der Person zur Lebenswelt nur eine Teiltotalität des epochalen Gesamtentwurfs repräsentiert. Der Abschnitt zu den Bilder-Konzepten (4.2.-4.4.) hatte gezeigt, daß deren Strukturen den Verlust spekulativer Universalentwürfe kompensieren und einen Zusammenhalt zwischen den empirischen Einzelstudien nur durch formale Bezüge erzeugen können. Mit der narrativen Umsetzung im Roman bzw. in der Biographie verhält es sich ähnlich: Statt die italienische Renaissance oder die deutsche Kulturgemeinschaft als eine Kulturtotalität normativ zu beschreiben, tritt die Perspektivierung der Lebenswelt durch die Einzelfigur. Damit konfigurieren die Antagonisten in Soll und Haben wie die Künstler Michelangelo und Raffael kulturgeschichtliche Gesamtzusammenhänge, die nicht mehr als solche explizierbar sind, sondern nur durch gegensätzliche Prototypen und daraus resultierende Handlungsalternativen definiert werden können. Die Figurenpaare Itzig/ Wohlfahrt bzw. Raffael/Michelangelo bewegen sich in ihrer Konstellation divergent, doch immer wieder mit der ihnen zustehenden stereotypen Folgerichtigkeit. So sind laut Freytag sämtliche Figuren „unter dem Zwange der erfundenen Handlung geschaffen und scheinen gerade deshalb hundert wirklichen Menschen zu gleichen, welche unter ähnlichen Verhältnissen leben und handeln müßten." 205 Ebenso mechanistisch ist das Prinzip, mit dem Springer die beiden Handlungsstränge aufeinander bezieht: Raffaels äußerst linearem, dialektischen Gang vom Malerisch-Subjektiven zur Synthese mit der objektiv-plastischen Form steht Michelangelos Verfahren der entgegengesetzten Synthesebildung gegenüber, welche zu dem heterogenen Ergebnis einer plastischen Malerei und malerischen Plastik führt (vgl. Abschnitt 2.2.). Die divergenten Entwicklungen bedingen sich im wesentlichen durch die unterschiedliche charakterliche Disposition: Bei Raffael durch eine hohe Anpassungsfähigkeit bei gleichzeitiger Wahrung der schöpferischen Autonomie; bei Michelangelo durch sein polarisierendes Verhältnis zur Außenwelt. (c) Der kompositorische Aufl?au ist in beiden Fällen am Drama orientiert. Schon der junge Fontane hatte bemerkt, daß Soll und Haben aus der „Verschmelzung dreier Dramen", nämlich aus zwei Tragödien und einem bürgerlichen Schauspiel, besteht. 206 Wie in der Parallelbiographie wird das zentrale Peripetiemoment durch die räumliche Trennung der Antipoden bewirkt: Wohlfahrt verläßt das Schrötersche Comtoir und folgt den Rothsattels als Insolvenzverwalter in das ungesicherte polnische Aufstandsgebiet, eine Entscheidung, die wie bei Springer im Textmittelpunkt positioniert ist und ebenso wie dort eine „verhäng204 Vgl. hierzu Kafitz: Figurenkonstellation
als Mittel der Wirklicbkeitsauffassung,
205 Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben, S. 265. 206 Fontane: „Soll und Haben. Ein Roman in drei Bänden" [Rez.], S. 297.
S. 57-90.
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik und Darstellung bei Anton Springer
nissvolle Folge" (RM, 248; vgl. hierzu Abschnitt 5. 4 a)) vorausdeutet: „So kam er in der Fremde mit der Familie des Freiherrn in eine neue Verbindung, welche für ihn und die Rothsattel verhängnisvoll werden sollte." 207 Bezeichnenderweise wird dabei der raumsemantische Gegensatz zwischen Breslau und dem polnischen Aufstandsgebiet ebenso scharf konturiert wie von Springer die Differenz zwischen Rom und Florenz: Polen und Florenz sind jeweils Räume der Anarchie und Unfreiheit, da sie als revolutionäre und instabile Gebiete keine Voraussetzungen für eine dauerhafte Produktivität gewährleisten. „Rom allein [blieb] die rechte Stätte seiner Thätigkeit", da die dortige „unbezwingbare Macht der Verhältnisse" dem „Wunsch des Papstes, die Kunst im höfischen und persönlichen Dienste zu verwenden", „immer die Spitze ab[bricht]" und „die Kunst in ideale Gleise" zurückleitet (RM, 365). Ahnlich wird bei Freytag die Macht der Verhältnisse zitiert, die Wohlfahrt angesichts seiner Erfolge nicht mehr akzeptieren will: „Ich glaube nicht gern an die Macht der Verhältnisse", sagt Anton Wohlfahrt in hybrider Selbstüberschätzung, kurz bevor er die Ersatzfamilie des Comtoirs verläßt und in die Dienste des Freiherrn von Rothsattel tritt.208 Daß Michelangelo in Florenz aus der Sicht Springers künstlerisch eher scheitert, liegt wie im Fall Wohlfahrts daran, daß er sich mit dem Ortswechsel aus der bewährten sittlichen Ordnung entfernt und zugleich ein unfreies Verhältnis eingeht. (d) Ein viertes gemeinsames Moment schließlich ergibt sich aus der ethischen Grundierung: dem nationalliberalen Arbeitsbegriff. Das auf Julian Schmidt zurückgehende Motto, der Roman solle „das deutsche Volk da suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit", 209 verbindet die ethisch-erzieherische Absicht mit dem poetologischen Axiom eines handlungsbetonten und dynamisierten Erzählverfahrens. Das Implikat des nationalliberalen Arbeitsbegriffs stützt hierdurch ein narratives Konzept ab, indem es als energetisches Prinzip den Darstellungsablauf strukturiert. Damit unterscheidet sich Freytags Werk scharf vom sozialkritischen Tendenzroman der Jungdeutschen,210 während Springer mit der Transparentmachung des Schaffensprozesses ebenso programmatisch Stellung gegen den platonischen bzw. romantischen Inspirationsgedanken bezieht. Daher spiegelt sich mutatis mutandis Freytags „Poesie des Geschäftes" 211 in Springers Werk: Die erzählerische Engführung geht dort bisweilen so weit, daß sich die Michelangelo-Handlung ganz auf die geschäftliche Dimension konzentriert. Konstitutives Merkmal der Handlung ist Raffaels „Freude am Schaffen" (RM, 376) sowie Michelangelos „florentiner Kaufmannsgeist" (RM, 366), den die Verträge und der geschäftliche Briefwechsel dokumentieren (RM, 239-248). Abstrahiert man daher beide Texte auf ihren weltanschaulichen Kern, so zeigt sich der im realistisch-nationalliberalen Denken vollzogene Traditionsbruch, welcher der Arbeit ein e per se (leistungs)ethische und damit auch ästhetische Funktion zugesteht. In der koordinierten Abstimmung dieser Kategorien wird der gemeinsame Erzählentwurf erkennbar, was auf den letzten Analyseschritt führt. 207 208 209 210 211
Freytag: Soll und Haben, S. 397. Ebd., S. 437. Ebd., S. 7. Vgl. Büchler-Hauschild: Erzählte Arbeit, passim. Freytag: Soll und Haben, S. 326.
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5. Anton Springer; der Historiograph
3. Erzähltechnische Interdependenzen: Ein struktur- und argumentationshomologes Vorgehen zu Freytag weist schon das Verhältnis zwischen Prolog und Erzählanfang auf. Im Unterschied zu den Monographien Justis und Grimms, die in einer essayistisch gehaltenen Vorrede das persönliches Bekenntnis zum Künstler thematisieren und somit eine Einheit zwischen Gegenwart und Kunstgeschichte herstellen, konzentriert sich Springer in seiner Vorrede allein auf Fragen der Methodik und Darstellung. Dadurch trennt er säuberlich zwischen einem immanent erzählten Gegenstandsbereich der Kunstgeschichte und einem Paratext, 212 der sich auf die Gegenwart und Zukunft des Fachs Kunstgeschichte konzentriert. Ebenso verfährt die Vorrede Freytags, indem sie auf die gegenwärtige politische Lage eingeht und damit das erzieherische Programm des Romans offenlegt. Erstaunlich ist, daß beide Autoren die Entstehung ihres Werks mit dem Haus Coburg verbinden und damit auch ein indirektes politisches Bekenntnis abgeben: In Erinnerung eines politischen Gesprächs während der Ausarbeitung des Romans dediziert Freytag Soll und Haben an Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha; Springer hingegen erwähnt dessen Bruder, den britischen Prinzgemahl Albert, als Protegée der Kunstwissenschaft. Die postume Verneigung gegen den Begründer des Windsor-Katalogs indiziert wie bei Freytag die Verpflichtung auf die Gothaer Partei bzw. auf das mit dem Nationalliberalismus eng verbundene Haus Coburg. 213 Die Erzählanfänge des Romans und der Parallelbiographie setzen dagegen eine klare Zäsur zu den gesellschaftspolitischen und methodologischen Aktualisierungen in den Vorreden: Ganz im Sinne des immanenten Darstellungsideals der programmatischen Realisten geht Freytag sofort in medias res, wenn er, vom unmittelbaren Kontext des Geburtsorts des Helden ausgehend, die Handlung entwickelt: Ostrau ist eine kleine Kreisstadt unweit der Oder, bis nach Polen hinein berühmt durch ihr Gymnasium und süße Pfefferkuchen, welche dort noch mit einer Fülle von unverfälschtem Honig gebacken werden. In diesem altväterlichen Ort lebte vor einer Reihe von Jahren der königliche Kalkulator Wohlfahrt [...]." 214
Der Erzählanfang antizipiert in nuce die Zukunft des Helden: Die Berühmtheit des Orts wegen seines Gymnasiums und seiner ,,süße[n] Pfefferkuchen" verweist auf das Ideal von Bildung und kaufmännischem Umgang mit Qualitätsprodukten, eine Verbindung, die Wohlfahrt später in der Diskussion mit dem gelehrten Stubenhocker Bernhard Ehrenthal zu seiner ethischen Maxime erheben wird. 215 Ebenso wird mit dem raumsemantischen Gegensatz von der behüteten und geordneten Welt schlesischer Städte und dem bildungsfernen, polnischen Gebiet ein grundlegendes Thema der Handlung gestreift. Nach ähnlichem Muster verfahren die Anfänge der Biographien von Michelangelo und Raffael: Springer konstruiert dort ein genetisches Handlungsdispositiv, das ebenso wie bei Freytag das Milieu des Protagonisten zu seinem Schicksal werden läßt und nicht - wie bei Justi und Grimm -
212 Zur Funktion des Vorworts als „Paratext" vgl. Genette: Paratexte. Buches, S. 157-227.
213 Vgl. hierzu Nipperdey: Deutsche 214 Freytag: Soll und Haben, S. 11. 215 Siehe ebd., S. 239 f.
Geschichte
1800-1866, S. 623.
Das Buch
vom
Beiwerk
des
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II. Realistischer Klassizismus. Methodik
und Darstellung
bei Anton
Springer
einen quasimetaphysischen Ausbruch des Künstlers aus den Determinanten und einer kontingenten Welt nahelegt. Die reflexive und leicht reizbare Veranlagung Michelangelos kündigt sich schon an, indem die Zerrissenheit des politischen Florenz im 15. Jahrhundert thematisiert wird. Mit dem Gegensatz zwischen Cosimo de' Medici und Savonarola, die Beginn und Ende des Cinquecento „bewachen" (RM, 3), weist Springer Florenz als .reflexiven' Kulturraum aus, der durch Extreme gekennzeichnet ist. Ahnlich verhält sich der Beginn des Kapitels Raffael's Jugend und Lehrzeit, wenn die Erzählung sogleich die Charakteristika der umbrischen Landschaft skizziert und diese mit Wertungen verknüpft, die zentrale Merkmale von Raffaels künstlerischem Werk antizipieren: Polar zu dem inhomogenen, von politischen und kulturellen Wechseln geprägten Florenz bildet „Raffaels's Heimath" einen abgeschlossenen Naturraum, in welchem die „Gegensätze der Natur, rauhe waldreiche Bergkämme, fruchtbare milde Thäler nahe aneinander" rücken (RM, 38). 216 Mit der räumlichen Beschreibung, die Gegensätzlichkeiten auf natürliche Weise vereint, korrespondiert die politische Situation, die ebenso mit den Merkmalen des Natürlichen konnotiert ist: Denn die „Abwesenheit wilder Parteileidenschaften" (RM, 39) ermöglicht nicht nur stabile Gewaltherrschaften, sie und die natürliche Umgebung bedingen zugleich einen belebten, naturwüchsigen Humanismus, der die „grossen Männer der Vergangenheit nicht als blosse Personificationen abstracter Begriffe fasst, [...] sondern als selbständige lebendige Personen verherrlicht" (ebd.). Damit läßt Springer nicht nur die Merkmale der klassischen Kunstform im Sinne Hegels anklingen, nach der die antiken Götter ein Teil der Natur sind, sondern verweist bereits auf Raffaels künstlerische Zukunft: Der als natürlich ausgewiesene „Heroencultus" (ebd.) bedingt die naive Disposition Raffaels, aufgrund deren er später das humanistische Programm in der Stanza della Segnatura umsetzen wird. Aber nicht allein das organisch-immanente Herauswachsen des Individuums aus seinem Ursprungsort ist mit dem Erzählideal Freytags vergleichbar, auch andere Erzählmuster stehen in hohem Einklang mit dem Roman. In diesem durchläuft Anton Wohlfahrt eine Kette von Kollisionen, deren episodische Binnenordnung sich nach einem einheitlichen Erzählregulativ strukturiert. Dabei bestätigt sich immer wieder das Modell der produktiven Konfliktlösung: Die sittlich-soziale Ordnung wird empfindlich gestört, indem der Held in Widerspruch mit den gesellschaftlichen Umständen gerät; die Prosa der Verhältnisse zwingt ihn jedoch dazu, seine Ansichten zu revidieren und/oder handelnd einzugreifen. Er löst somit den Konflikt produktiv und nähert sich dadurch immer mehr dem Ideal einer sittlichen Persönlichkeit an. Das zweite Buch führt dieses Verfahren in fast brachialer Weise vor Augen: Auf einer frühen Konfliktstufe gerät Wohlfahrt in den exklusiven Salon der Frau von Baldereck, wo die Tanzstunde der städtischen Oberschicht stattfindet. Die dortige Akzeptanz verdankt er unwissentlich seinem Freund, dem Freiherrn von Fink, der zuvor das Gerücht von einer geheimen adligen Abkunft Wohlfahrts gestreut hat. Die Grenzüberschreitung der sittlich-sozialen Ordnung verführt den Helden zu einer leichtsinnigen Lebensführung, läßt ihn gegen den Kaufmannskodex verstoßen und entfremdet ihn zu216 Der enge Beziehung der Landschaft auf die Biographie Raffaels erscheint hier allein narratologisch motiviert zu sein - ganz im Unterschied zu Passavant, der mit seiner Verbindung von Landschaftsprospekt und Erzählanfang zugleich seine autopsiebasierte Deutungshoheit gegenüber Rumohr markiert. Vgl. Osterkamp: „Raffael-Forschung von Fiorillo bis Passavant", S. 421.
5. Anton Springer, der
Historiograph
179
sehends von den kleinbürgerlichen Kollegen im Comtoir; als er jedoch von den Machenschaften Finks erfährt, verabschiedet er sich aus dem Salon und stellt dadurch die alte Ordnung wieder her. Die Essenz dieser Konfliktstufe ist, mit Hegel gesprochen, die Vernunft des Willens, die angesichts ihrer Selbsterkenntnis zu ihrer sittlichen und sozialen Bestimmung in der Wirklichkeit gelangt: 217 „,Es ist merkwürdig', dachte Fink, [...] ,bei welchen Gelegenheiten die verschiedenen Menschen lernen, den eigenen Willen zu gebrauchen.'" Die Beobachtung Finks, dem die Rolle des Erziehers und Verführers zugleich zukommt, wird wenige Sätze später durch einen Erzählerkommentar objektiviert: „Anton bewegte sich mit mehr [!] Freiheit und gewöhnte sich, auch Fink gegenüber einen eigenen Willen [!] zu haben." 2 1 8 Die Emanzipation von dem Freund gebiert sogleich den nächsten Konflikt: Er beruht darauf, daß Fink die Schwester von Wohlfahrts jüdischem Freund Bernhard Ehrenthal, Rosalie, verführt. Wohlfahrt besteht auf der Lösung des entehrenden Verhältnisses: „Aber er [Wohlfahrt] blieb fest. Auch jetzt, wo der erste Zorn verraucht war, fühlte er, daß er nicht anders handeln konnte. Diese Uberzeugung rührte ihm das Herz." Die Prinzipientreue, welche die Wahrung der sittlichen Ordnung über die private Freundschaft stellt, führt Wohlfahrt zu einem emotionalen Konflikt, der nur noch durch das Einlenken Finks gelöst werden kann: „Er erkannte daraus, daß Anton fest war, und die Waagschale, worin Rosalie saß, fuhr in die H ö h e . " 2 1 9 Die Beendigung der Liaison führt auch hier zu einem verbesserten Resultat, welches das Sittliche in enge Beziehung zum sozialen Zusammenhang setzt: Fink, der Sonderling des Comtoirs, wünscht vom Prinzipal mehr Verantwortung und integriert sich stärker in das Geschäftsleben. Erzähltechnisch unterstützt werden beide Passagen durch die Wiederholung von einzelnen Schlüsselwörtern („Willen", „fest"), die in anderer Perspektive aufgegriffen werden und somit - sozusagen als nationalliberale Duftmarken - auf das zentrale Objektivierungsmoment verweisen. Freytags abgestufte Erzählweise nach dem Prinzip einer produktiven Konfliktlösung findet sich in Springers Parallelbiographie wieder. Von dem erzähltechnisch konstruierten Konflikt und dem Aufbau in fünf Teilen in dem Abschnitt zur Schule von Athen war schon die Rede (siehe 3.3 b)). N o c h deutlicher tritt dieses Prinzip in der Michelangelo-Episode zutage, die von dem ersten Abbruch der Arbeit am Juliusgrabmal berichtet. Die Entscheidung des Papstes, die Arbeit an seinem Grabmal auszusetzen und statt dessen den Bau von St. Peter zu finanzieren, beruht auf seinem Grundsatz, die politische Energie „stets mehr auf das Allgemeine, den Staat oder die Kirche Umfassende zu richten, als auf die einzelnen persönlichen Interessen." (RM, 106) Julius entscheidet somit zugunsten des Staats als sittlicher Mitte und gegen sein privates Repräsentationsbedürfnis. Bezogen auf die Werkentwicklung Michelangelos ist dies sogar eine Notwendigkeit, da Michelangelo dadurch gezwungen wird, ebenfalls der Allgemeinheit zu dienen und gegen seinen ursprünglichen Willen, sich nur der Bildhauerei zu widmen, die Sixtinische Decke malt. Dieses polare Muster von individuellen Einzelinteressen und Gemeinwohl strukturiert die nachfolgende Erzählung: In Reaktion auf die demütigende Abweisung durch den Papst verläßt Michelangelo fluchtartig Rom, erlangt dann, nach der Einnahme Bolognas, bei Julius II. Gnade und 217 Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 136. 218 Freytag: Soll und Haben, S. 204 und 205. 219 Ebd., S. 257.
180
II. Realistischer
Klassizismus.
Methodik
und Darstellung
bei Anton
Springer
erhält den Auftrag zu dem Guß einer Papststatue in Bologna, die als Machtdemonstration gegen die aufständische Bevölkerung errichtet und nach wenigen Jahren bei erneuten Unruhen zerstört wird. Entscheidend ist, auf welche Weise die Episode narrativ umgesetzt wird: Eine Briefstelle aufgreifend, geht Michelangelo „mit dem Gefühle, als hätte er einen Strick um den Hals nach Bologna" (RM, 109),220 um sich dort mit dem Papst zu versöhnen. ,,[G]leichsam zum Ersätze" für das Grabmal erhält Michelangelo nun den Auftrag für die Statue, welche nun „den lebendigen Papst in seiner ganzen Herrlichkeit [...] verkörpern" soll (ebd.). Nach dem Bericht über ihren aufwendigen Guß (1508), folgt als dramatischer Abspann der Hinweis auf ihre Vernichtung im Jahr 1511. Ganz nach dem stilistischen Repetitionsprinzip Freytags 2 2 1 greift dort Springer nochmals die obige Formulierung auf, wendet sie aber von der Innenperspektive Michelangelos zur äußeren Realität: „Am 30. September 1511 wurde der Statue des Papstes ein Strick um den Hals gelegt und sie von ihrem hohen Standorte herabgestürzt." (RM, 111) Die Wiederholung in anderem Zusammenhang, vom Metaphorischen ins Konkrete gewendet, erhält unter der ethischen Prämisse der substantiellen Allgemeinheit ihren speziellen Sinn: Die Papststatue als Ausdruck des unterdrückten Volkswillens kann nicht von Lebensdauer sein, da - nach kunstkritischen Kriterien des Realismus gedacht - die Plastik als öffentliche Denkmalskunst „vor allen [anderen, J. R.] Künsten mit dem Volke in engen Beziehungen" (1856) 222 steht. Die Wiederholung des Textsignals ist hier sinngenerierend: Michelangelo sieht das Schicksal eines erneut aufgezwungenen Auftrags voraus, im Gegensatz zu dem vorangegangenen Konflikt um das Papstgrabmal aber mit dem moralischen Fortschritt, als Künstler in Zusammenhang mit dem Volkswillen zu stehen. Der emotionale und entwicklungspsychologische Drehmoment ist derselbe wie in der Episodenfolge im Konflikt zwischen Wohlfahrt und Fink: Der auf die subjektiven Eigeninteressen gerichtete Wille des Protagonisten wird zunächst von den äußeren Umständen gebrochen, dann aber schlägt die Handlungsführung dialektisch um, indem die Hauptfigur durch den Gewinn eines wahrhaft sittlichen Bewußtseins eine Selbständigkeit erlangt, die dem Sozialen zugewendet ist. „Man sage nicht", so die Leitthese am Beginn von Soll und Haben, „daß unser Leben arm ist an poetischen Stimmungen, noch beherrscht die Zauberin Poesie überall das Treiben der Erdgeborenen. Aber ein jeder achte wohl darauf, welche Träume er im heimlichsten Winkel seines Herzens hegt, denn wenn sie erst groß gewachsen sind, werden sie leicht seine Herrn, strenge Herrn!" 2 2 3 Damit wird Hegels Romandefinition vom „Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse" 224 in die realistisch220 Michelangelo an Giovanfrancesco Fattucci, Florenz, Januar 1524, in: Le Lettere
di
Michelangelo
Buonarroti, S. 426 f. 221 Vgl. auch die Wiederholungen in Soll und Haben: 621 f: „,Ziemlich auf geradem Wege von drüben', erwiderte Fink, in die Ferne weisend" / .„Teufel!" rief Fink, ,das sieht nicht aus, wie ein gerader Weg, und auch nicht wie ein offenes Geständnis;'" ebd., 781 f: „auf der Straße hab ich's gehört, als ich in mein Loch kriechen wollte" / ,„So?' schrie der Alte giftig. .Meinst du, daß ich ins Loch kriechen werde um deinetwillen [...]!"' 222 Springer: „Die bildenden Künste in der Gegenwart", S. 726. 223 Freytag: Soll und Haben, S. 14. Zur Verbindlichkeit dieser Sentenz für den ganzen Roman vgl. auch Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben, S. 265.
224 Hegel: Vorlesungen
über die Ästhetik III, S. 393.
y Anton Springer, der
Historiograph
181
liberale Auffassung integriert: Auch hier zwischen lebensfremder Reflexion und wirklichkeitsverbundenem Tatvitalismus polarisierend, deutet Freytag das Diktum Hegels als unüberbrückbaren Gegensatz zwischen einer immanenzgebundenden Poetisierung des Lebens einerseits und den wirklichkeitszersetzenden Trugbildern andererseits. Der wahren Poesie des Lebens steht die Gefahr gegenüber, daß die persönlichen Wünsche dem Individuum einen produktiven Eingang in den sozialen Zusammenhang verweigern. Diese Dämonisierung unerfüllbarer Wünsche bzw. Warnung vor einem sentimentalen Verhältnis zur Wirklichkeit ist eines der zentralen Motive des Romans: Die Gläubigkeit Itzigs an magische Geheimpapiere, die ihn reich machen sollen, der Freiherr, welcher an „alten Familienerinnerungen leide[t]", 2 2 5 aber auch Wohlfahrts Gutgläubigkeit, seine Fasziniertheit von der Aristokratie und sein immer wieder aufflackerndes erotisches Interesse an der RothsattelTochter Lenore werden als Gefährdungen thematisiert, die zur .romantischen' Grenzüberschreitung reizen und durch die Abweichung von der gesellschaftlichen Norm zur Unproduktivität führen. Auf signifikante Weise tritt dieselbe Opposition zwischen praktischer Vernunft und enthusiastischer Realitätsferne in der Charakterzeichnung Michelangelos hervor. „In Michelangelo's Leben", schreibt Springer, „kommt alles anders, als man es erwartet. Der grosse Bildhauer leistet sein Bestes als Maler; die Werke, zu welchen er gezwungen wird, gelingen; was er selbst mit Begeisterung ergreift, bleibt unvollendet oder verdirbt." (RM, 439) Der Weg vom reinen Bildhauer zum plastischen Maler und malerischen Bildhauer steht Michelangelos eigenem Lebensentwurf entgegen, der seine künstlerische Bestimmung in der Skulptur sieht. Schon im Jugendkapitel wird auf den Ausspruch des alten Michelangelo verwiesen, wonach „es ihm nicht vergönnt gewesen, sich ausschliesslich der Sculptur zu widmen." (RM, 27) Diese Divergenz zwischen „Poesie des Herzens" und der „Prosa der Verhältnisse" thematisieren insbesondere die Episoden zum Juliusgrabmal: Wie bei den Figuren in Soll und Haben wird der Held durch die eigenen obsessiven Wünsche gehemmt, die fixe Idee steht dabei in einem unmittelbaren Konnex mit der Abnahme der Schaffenskraft, was die Einschränkung der individuellen Freiheit nach sich zieht: „Stets stand, einem Gespenst gleich, das längst begonnene und immer wieder unterbrochene Denkmal Julius' II. ihm vor Augen. Es raubte ihm die Freude am Schaffen und die Freiheit zu schaffen[.]" (RM, 376) Die Dämonisierung des Grabmals zum „Gespenst" stempelt Michelangelos Begehren zur Gefahrenquelle des schöpferischen Vermögens und deutet den tragischen Lebenskonflikt ambivalent: Das Juliusgrabmal scheitert nicht allein an den Verhältnissen, an den Fehlentscheidungen der päpstlichen Politik und den quälend langen Verhandlungen mit den Rovere-Erben, sondern ebenso an Michelangelos Unfähigkeit, sich in die Verhältnisse produktiv einzufügen, denn ihm fehlt „der Muth, dasselbe entweder allen äusseren Hindernissen zum Trotze rüstig weiterzuführen oder entgiltig aufzugeben." (RM, 376) Es wäre sicher übertrieben, aus dem Gesagten auf ein eindeutig intertextuelles Verhältnis und eine bewußte Adaption von Freytags Erfolgsroman zu schließen. Die Korrespondenz mit Freytags Roman setzt weltanschauliche Prämissen voraus, an deren Entstehung beide Autoren maßgeblich beteiligt waren. Umso mehr aber bildete das einschlägige nationallibe225 Freytag: Soll und Haben, S. 479.
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II. Realistischer Klassizismus.
Methodik
und Darstellung
bei Anton
Springer
rale Profil auch die Basis ihrer gegenseitigen Verständigung und Rezeption und umso mehr mußte dies zu einer koordinierten Verschränkung von Wissenschaft und Dichtung führen. Die „innere Versöhnung der entgegengesetzten Charaktere", 2 2 6 die nach Freytag durch die kompositorische Ordnung im Roman gelöst werden sollte, gelang Springer mit der narrativen Verschränkung der Antipoden Michelangelo und Raffael. Damit schließt Springers Historiographie zugleich an die Forderung nach einer modernen, allgemein verständlichen und gesellschaftlich versöhnenden Mythologie an: Die Kunst sollte demnach durch die Darstellung der Geschichte „uns mit den wilden äußeren K ä m p f e n " versöhnen und sich in „den Dienst von humanen Kräften" stellen ( B K , 207). Springers kompositorische Verflechtung der Antipoden Michelangelo und Raffael durch die große, verklärende Form birgt damit zugleich ein politisches Vermächtnis: Sie appelliert an die Aussöhnung der Parteien und formuliert den Glauben an die Zukunft der Kunst im deutschen Nationalstaat.
226 [Freytag:] „Isegrimm, Roman von Willibald Alexis", in: G b 13/1 (1854), S. 321-328, S. 324.
III. Der „Dolmetsch der Kunst": Carl Justis Diego Velazquez und sein Jahrhundert (1888)
1. Jenseits von Hegel. Anmerkungen zum intellektuellen Profil Carl Justis D i e realklassizistische Geschichtsschreibung v o m N a c h m ä r z bis zur Gründerzeit wurde vor allem durch ein A x i o m geprägt: die Vermittlung zwischen den kausal aufeinander b e z o genen Einzelteilen einerseits und dem auf Gesamtwirkung berechneten kompositorischen Zusammenhang andererseits. Dieses komplementäre Verhältnis von Detailerkenntnis und formaler Geschlossenheit war mit zwei für die idealrealistische
Darstellungsauffassung
grundlegenden G e d a n k e n verbunden: Erstens wurde diese Organisationsform von einer Epistemologie verantwortet, die ihre Wurzeln in der Identitätsphilosophie hatte und in ihrem K e r n den G e d a n k e n von der Subordination der Einzelforschung unter das G a n z e beibehielt. In dem Darstellungstheorem von der großen, verklärenden F o r m lebte der holistische Geschichtsgedanke Hegels fort, nach welchem Zeugnisse des Individuellen immer Ausdruck einer übergeordneten epochalen Struktur bedeuteten. Zweitens konnte dieses Historiographiemodell so lange stabil sein, wie es von einem tendenziell optimistisch-teleologischen Geschichtsbild reguliert wurde. E s blieb daher weitgehend von der Wahl des historischen Sujets abhängig, das aufgrund seines positiven Gehalts die Forderung nach Verklärung inhaltlich unterstützte. D i e darstellungspraktische Forderung nach der Vermeidung auktorialer Eingriffe und der Ausscheidung von quellenkritischen Exkursen war damit nicht nur aus ästhetischen, sondern auch aus einer schlicht politischen Prämisse motiviert: Sie sollte möglichst ungestört die Beziehung zwischen Einzelnem und G a n z e m zur Wirkung bringen und zudem den Gegenwartsbezug einer meist nationalliberalen Parteilichkeit verschleiern. Zumindest für diejenigen Kunsthistoriker, die sich u m eine darstellerische Synthese aus K u n s t - und Kulturgeschichte bemühten, scheint der Grundsatz von der E p o c h e n h o m o g e nität lange Zeit unantastbar gewesen zu sein. N o c h 1880 k o n n t e H u b e r t Janitschek dieses vitalistische Kulturmodell auf die F o r m e l bringen, nach welcher ,,[d]er Parallelismus aller Geistesoffenbarungen in Perioden gesunder, kräftiger Entwickelung [ . . . ] nicht bezweifelt w e r d e n " könne. 1 Unhinterfragt bilden W e r k und K o n t e x t eine Einheit, wie auch die Q u a lität von K u n s t w e r k e n in einer normativen Beziehung zur vitalen Kulturkonstellation steht.
1 Hubert Janitschek: „Italienische Studien. Zur Geschichte der Renaissance. Von Hermann Hettner" [Rez.], in: Repertorium für Kunstwissenschaft 3 (1880), S. 219.
184
III. Der „Dolmetsch der Kunst"
Eine derartige Auffassung ist freilich schlecht mit einer Kunstgeschichtsschreibung vereinbar, die sich Kunstwerken widmet, die in einem Zeitalter des Verfalls und der höfischen Dekadenzkultur entstanden. Es ist (noch heute) ein Gemeinplatz der Spanienforschung, daß die Künste im Siglo de Oro mit einer Periode des wirtschaftlichen und politischen Niedergangs koinzidierten; daß Calderón und Lope, Velazquez und Murillo parallel zu dem Staatsbankrott und Verlust der Hegemonialstellung der spanischen Monarchie ihre Tätigkeit entfalteten. Aus diesem Grund hätte sich eine Kunst- und Kulturgeschichte zu einem Land, das nach kleindeutscher communis opinio schuld am Dreißigjährigen Krieg und damit an der politischen Instabilität Deutschlands war, für eine nationalliberal perspektivierte und an handlungsleitenden Maximen orientierte Geschichtsschreibung denkbar schlecht geeignet. U m einem Thema wie Velazquez 2 darstellerisch gerecht zu werden, war im Sinne der wissenschaftlichen .Aufmerksamkeit' ein anderer Ansatz notwendig, der von der Hegelschen Vorstellung einer Epochentotalität noch mehr Abstand nahm und die Subordination künstlerischer Qualitäten unter ein widerspiegelungstheoretisches Modell verweigerte. Justis Skeptizismus gegenüber jeder Form von Entwicklungs- und Milieutheorie, sein Insistieren auf der Autonomie des künstlerischen Subjekts, das ihm den Vorwurf des .Geniekults' und ,Geistesaristokratismus' einbrachte, wie auch seine kulturpessimistische Grundhaltung konnten daher zu einem durchaus produktiven Umgang mit der Kunstgeschichte führen. Ohne diese veränderten rezeptionsleitenden Faktoren, so steht zu vermuten, wäre die deutsche Entdeckung von Velazquez anders verlaufen. Die ideengeschichtliche Konstellation, die das kunsthistorische Verständnis Carl Justis prägte, war deshalb anders gelagert als jene, auf der der sieben Jahre ältere Anton Springer ein systematisches Programm aufbauen konnte. Springers Methodenbewußtsein wurde im wesentlichen durch das junghegelianische Immanenzdenken und die vorrevolutionäre Religionskritik bestimmt. Doch das, was der junge Springer mit Emphase als Befreiung aus beengenden katholischen Verhältnissen begrüßt hatte, wird für seinen im protestantischen Pfarrhaus sozialisierten Bonner Nachfolger zur persönlichen Katastrophe: Der 1854 für das theologische Examen abgefaßte Lebenslauf 3 ist das Dokument eines zutiefst verunsicherten und von Selbstzweifeln gequälten 21jährigen, der angesichts eines überquellenden Theorieangebots im Protestantismus theologisch resigniert hat. Die Spannbreite der absoluten Wahrheiten, die der Bericht rekapituliert, reicht von der landeskirchlichen und erweckungsbewegten Orthodoxie seines Erziehers August Friedrich Christian Vilmar über den eschatologischen Irvingianismus des Marburger Renegaten Heinrich Wilhelm Josias v. Thiersch, Sympathien für den Zwinglianismus bis hin zur angeregten Lektüre der religionskritischen Schriften der Tübinger Schule, in deren Tradition auch der spätere Doktorvater Eduard Zeller stand. 4 Im Rückblick hat Justi diese Zeit der verlorenen Glaubensgewißheiten als entscheidende Weichenstellung empfunden und damit seinen radikalen Verzicht auf Syste2 A u s philologisch-historischen Gründen wird im folgenden Justis meist akzentlose Schreibweise spanischer Eigennamen („Velazquez"; „Calderón") übernommen. In den wenigen Fällen, in denen zwischen historistischer und heutiger Sehweise zu differenzieren ist, wird bei letzterer die Akzentsetzung verwendet („Velázquez"; „Calderón"). 3 Carl Justi: Lebenslauf v. 20. Mai 1854 (Typoskript), HSTA Marburg, Bst. 340 Justi Nr. 103. 4 Ebd., S. 10, 23 (Vilmar), 24 ff, 34 ff (Thiersch), 47 (Zwinglianismus), 70 ff (Zeller).
1. Jenseits von Hegel. Anmerkungen zum intellektuellen Profil Carl Justis
185
matik begründet. O h n e deshalb unnötig biographistische oder gar psychologisierende Schlüsse auf das Werk ziehen zu wollen: Justis als schwere persönliche Krise empfundener Z u s a m m e n b r u c h von theologischen und philosophischen Systementwürfen kann erklären, weshalb seine Leistungen auf methodologischem G e b i e t denkbar schwach sind und er im Gegensatz zu Springer keine Schule begründet hat. 5
1.1. Zur Forschungssituation und Fragestellung Abgesehen von den zweifelhaften Verdiensten in der universitären Lehre, durch die Justi seit G o m b r i c h ein Schattendasein in der W a r b u r g - F o r s c h u n g 6 führt, gilt Justi unstrittig als einer der bedeutendsten Vertreter der Kunstgeschichtsschreibung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Indem sich wissenschaftliche Forschungsleistung und sprachliche Q u a lität durchdringen, zählt seine Historiographie zu einer F o r m von Wissenschaftsprosa, die sich dem Verdacht populärwissenschaftlicher Darstellung entzieht. D i e Monographien zu Winckelmann, Velazquez und Michelangelo sowie Aufsätze zu E l G r e c o und B o s c h haben einen festen Platz in der Disziplingeschichte. Seine F o r s c h u n g zur Kunst auf der Iberischen Halbinsel gilt als Pionierleistung, die bis heute Bestand hat. Vergleichbar mit J a c o b B u r c k hardt ist die kulturgeschichtliche Ausrichtung, die jedoch in Gegensatz zu diesem im künstlerbiographischen Ansatz z u m Ausdruck k o m m t . Als virtuos gilt Justis U m g a n g mit Zitaten aus der Weltliteratur, die nicht nur auf eine Bildung polyhistorischen
Ausmaßes
verweisen, sondern zugleich integrativer Bestandteil seiner Sprachauffassung sind. Zentral scheint zudem die autobiographische Färbung von Justis Texten zu sein, in denen Reiseerfahrung und Autopsie oft mit der historischen Analyse verschmelzen, was sich - wie im Fall Winckelmanns - bis zur autobiographischen Identifikation mit dem Forschungsgegenstand steigern kann. 7 T r o t z d e m vermittelt die wissenschaftshistorische
Auseinandersetzung mit Justi ein
uneinheitliches Bild. Schwierigkeiten begegnen schon bei der deskriptiven Modellbildung in bezug auf Justis Biographik: W ä h r e n d Ludwig Curtius in ihr das „Programm einer soziologischen G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g " 8 und damit die Anregung der französischen Milieu5 Soweit bestimmbar, hatte Justi während seiner Lehrtätigkeit zwei Promovenden: Den späteren Schubert-Forscher Ludwig Adolph Scheibler 1880 mit einer Arbeit zur Kölner Malerschule, 1898 den Neffen Ludwig Justi mit einer Arbeit über Dürer. Außerdem habilitierten sich Henry Thode, Paul Clemen und Eduard Firmenich-Richartz am Cabinet
für neuere
Kunst,
wie das Institut bis zu
Justis Emeritierung hieß. Den zahlreichen Berichten über Justis geringe Begabung in der akademischen Lehre stehen wenige positive Aussagen gegenüber. August Schmarsow bezeichnete Justi als seinen „eigentlichefn] und fast einzige[n] Lehrer in der Kunstwissenschaft [...], indem er sich entschloß, mit mir allein Vasari zu lesen" (Schmarsow in: Jahn (Hg.): Die Kunstwissenschaft
wart in Selbstdarstellungen, 6 Gombrich: Aby
Warburg,
der
Gegen-
S. 136). S. 4 3 - 4 5 , 7 1 - 7 4 ; Roeck: Der junge
Aby
Warburg,
S. 42, 65 f, 9 5 - 9 9 ,
Espagne: „Le Laocoon de Lessing entre Carl Justi et Aby Warburg". 7 Beyer: „Leben in Gegenwart des Vergangenen"; Osterkamp: ,„Vixi'. Spiegelungen von Carl Justis Italienerfahrung"; Voss: „Carl Justi - Cappel oder Capri". 8 Curtius: „Carl Justi und sein .Winckelmann'", S. X X X .
186
III. Der „ Dolmetsch der Kunst "
theorie zu erkennen glaubte, wies Richard Hamann darauf hin, daß die Subjektkonstruktion und Kulturgeschichte in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander stünden.9 Vage bleiben postulierte Analogien zum Bildungsroman10 oder Vergleiche mit literarischen Vorbildern,11 die sich von Montaigne, Hume, Voltaire, Goethe, Ranke bis hin zu Kellers Grünem Heinrich n, Flauberts Salammbô13 und Zolas L'Œuvre14 erstrecken. Auf Amüsement, Ablehnung oder die naive Annahme einer „Literarisierung" stoßen die fiktionalen Elemente in der Velazquez-Biographie. Schwer scheint schließlich die Hypothek des Vortrage Amorphismus in der Kunst zu lasten, in dem Justi seine kulturkritische Abneigung gegen die Kunst der Moderne offenlegt und den Entartungs-Begriff verwendet - professoraler ästhetischer Konservativismus wird hier schnell veranschlagt,15 was bisweilen zu vereinfachten Kategorisierungen führt. Systematische Überlegungen zu der den Schriften Justis zu Grunde liegenden Methodik, zur Darstellungskonzeption und zu den publizistischen Rahmenbedingungen sind dagegen selten. Es ist auffallend, daß die wichtigsten Beobachtungen zu den Darstellungsverfahren und literarischen Vorbildern von Carl Neumann, Artur Weese, Wilhelm Waetzoldt und Paul Clemen gemacht wurden,16 die, wiewohl Kunsthistoriker, den Literarisierungsaspekt besonders stark betont haben. Die wissenschaftshistorische oder methodologische Kontextualisierung fällt dagegen gering aus. Vermutlich durch diese Grundlegung haben die Beobachtungen über Justis „Literarizität" bis heute eine ästhetisierende Sichtweise bewirkt und integrierend-wissenschaftshistorische Ansätze eher vernachlässigt. „Fälschungen" bzw. fiktionale Elemente in Justis Historiographie werden als Indiz für das Literarische schlechthin angeführt und so ein nicht näher spezifizierter subjektiver Eindruck mit der wissenschaftshistorischen Wertung vermengt. Topisch scheint in diesem Zusammenhang die Forschungsmeinung zu sein, der Historist Justi habe sich „mit der vergangenen Epoche dermaßen vertraut" gefühlt, „daß er glaubte, diese aus eigener Phantasie zu Recht erschaffen zu dürfen." 17 Solche Erklärungsmuster implizieren unweigerlich den Vorwurf des Verlusts von wissenschaftlicher Distanz. Die Diagnose einer „Literarisierung" durch „Aneignung" gerät zur Argumentsubstitution, so daß das Bezugsfeld zwischen erkenntnistheoretischer Voraussetzung und historiographischer Konzeption unbeachtet bleibt.
9 Hamann: „Literaturbericht. Geschichte der künstlerischen Kultur. Neuzeit. Eröffnungsbericht", S. 468 ff. 10 Fuhrmann: „Winckelmann, ein deutsches Symbol", S. 277. 11 Z. B. Paul Clemen, der den Stil Justis dahin charakterisiert, daß er „Ranke und zugleich Voltaire als Pole kennt" (Carl justi, S. 19). Noch Francis Haskeil sagt, daß sich Justis Biographien „nur schwer einordnen lassen, so vertraut scheint er mit allen Aspekten der Kunst und des Lebens in den dort behandelten Epochen gewesen zu sein." Haskell: Die Geschichte und ihre Bilder, S. 327. 12 Pieper: „Zu Carl Justis /Winckelmann'", S. 265. 13 Curtius: „Carl Justi und sein .Winckelmann'", S. X X X I . 14 Hamann-MacLean: „Carl Justi", S. 59. 15 Kultermann: Geschichte der Kunstgeschichte, S. 126. 16 Clemen: Carl Justi. Gedächtnisrede zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages, Neumann: „Carl Justi"; Waetzoldt: Deutsche Kunsthistoriker II, S. 239-276; Weese: „Carl Justi". 17 Hellwig: „Velazquez in Rom", S. 280.
1. Jenseits von Hegel. Anmerkungen zum intellektuellen Profil
CarlJustis
18 7
Die substantiellste Auseinandersetzung mit Justis Spanienforschung stammt von dem Romanisten Dietrich Briesemeister. Ausgehend von der These, Justis Selbstverständnis sei von dem „humanistischen Idealtyp des litterator"18 bestimmt, unterzieht der Ende 2007 erschienene Aufsatz die Ve/dzg«ez-Monographie einer Lektüre, deren Ergebnisse in vielerlei Hinsicht diskussionswürdig sind: (1) Briesemeister überwindet die Diskrepanz zwischen Literatur und Wissenschaft dadurch, daß er Justis intime Kenntnis der Literatur des Siglo de O r o als einen entscheidenden Faktor im Erkenntnisprozeß anerkennt. 19 Literaturhistorisches Wissen werde demnach prägend für Justis Velazquez-Aneignung und deren interpretatorische Grundlage, wie Justis breite Nutzung literarischer Quellen belege. (2) Damit verbunden ist eine weitere These: Das im humanistischen Kunstdiskurs des spanischen 16. und 17. Jahrhunderts omnipräsente ut pictura poesis-Denken werde von Justi gleichsam operativ umgesetzt, 20 wodurch Forschungsgegenstand und Methode unmerklich eins zu werden scheinen. Briesemeister konstatiert somit einen epistemologischen Transfer von den humanistischen Ideen des 17. Jahrhunderts zu Justis Historiographie. Zitiertechnik und Formen der Intertextualität erweisen sich hier als eine Reaktivierung der z. B. von Calderón bemühten Parallelisierungen von Kunst und Dichtung. Wegweisend seien diese Strukturmerkmale für die Diskussion einer „wechselseitigen Erhellung der Künste" bei Walzel und Wölfflin. 2 1 (3) Schließlich habe die Annäherung an die Literatur des Siglo de O r o auch darstellerische Folgen: Insbesondere Justis Dialog über die Malerei wird als imitatio der von Justi geschätzten literarischen Vorlagen betrachtet. 22 Briesemeister bietet eine stringent argumentierende Alternative zu dem oben beschriebenen Dilemma, indem bei Anerkennung von Justis Forschungsleistung auch die historiographische Ebene berücksichtigt wird. Lektüre, Forschung, Interpretation und Darstellung scheinen bei Justi nur noch in Ubergängen faßbar und tendentiell nivelliert. In gewisser Weise wirkt damit Justis wissenschaftliche Praxis wie eine radikale Umsetzung des Rankeschen Diktums, sein eigenes Ich vollständig auslöschen zu wollen im Anschauen der Geschichte. Die Velazquez-Monographie wäre damit prototypisch für ein schon im 19. Jahrhundert aufkommendes Verständnis von Historismus, das bis heute das Bild von der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts geprägt hat. Doch bergen solche Beobachtungen auch problematische Gesichtspunkte in sich: (1) Eine ,Verinnerlichungs'-These, die die historische Distanz kontemplativ im Lebensentwurf des humanistischen litterators aufhebt, scheint m. E. auf Justi nicht in den Maßen zuzutreffen, wie bisher angenommen. Justis Spanienaneignung ist nicht ausschließlich affirmativ: Sie geht vielmehr von einem Differenzbewußtsein von Vergangenheit und Gegenwart aus, hält kritisch Abstand zum untersuchten Objekt und läßt keineswegs nur Sympathie für das Siglo de O r o erkennen. Darstellungsmittel der Ironie, des Kommentars und der Perspektivierung von Urteilen setzen Signale der Distanz und inhaltlichen Brechung: Dies gilt für Justis Bewertung der Kunsttheorie Pachecos ebenso wie für seine Ausführungen zu Calderón. Auch fallen im Vergleich 18 Briesemeister: „Carl Justi und die spanische Kulturgeschichte des .Siglo de O r o ' " , S. 64. 19 Ebd., S. 7 3 - 7 9 , S. 83, 85 f. 20 Ebd., S. 7 3 - 7 6 . 21 Ebd., S. 74. 22 Ebd., S. 6 7 - 7 0 .
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III. Der „ Dolmetsch
der Kunst "
zu Rankes Die Osmanen und die spanische Monarchie die scharfen Urteile über die spanische Politik auf, die eine hohe Distanz zum Dargestellten erkennen lassen. (2) In diesem Zusammenhang erweist sich auch die von Briesemeister ins Spiel gebrachte Konzeption eines (fast programmatisch) adaptierten ut pictura /weszi-Modells nicht in allen Punkten als tragfähig: Bereits im ersten Buch der Monographie wird Justis Kritik am Kunstdiskurs des 16. und frühen 17. Jahrhunderts spürbar und somit das referierte Gedankengut von der anschaulichen Malerei des Velazquez implizit abgegrenzt. Antiquarische Gelehrsamkeit der manieristischen Kunsttheorie und die damit verbundene allegorisierende Malerei erscheinen in auffallendem Gegensatz zu Velazquez selbst, den Justi als Maler des Nichtdiskursiven per se würdigt und mit dessen „faselnden Schwiegervater[]" Pacheco (I, 119) kontrastiert. Justis Zitiertechnik, die u. a. Shakespeare, Goethe, Heine und Byron bemüht und damit eindeutig über einen historischen Kolorismus hinausgeht, scheint ihren funktionalen Stellenwert gerade aus der Inkommensurabilität und Unbeschreibbarkeit von Kunstwerken zu beziehen - sie ist übrigens schon fester Bestandteil der Winckelmann-Biographie, so daß ihre spezifische Ableitung aus der spanischen Literatur nur punktuell zutreffen kann. (3) Ähnlich sollten Justis Quellenfiktionen bewertet werden: Auch wenn es sich bei dem Dialog über die Malerei und dem sog. Brief des Velazquez um ein kompilatorisches Arrangement von Versatzstücken aus der spanischen Kunstliteratur handeln mag, sagt dies letztendlich nichts über die Motivation, die epistemologische Grundlegung und die Funktion jener Passagen innerhalb des kunsthistorischen Sachtextes aus. Die fiktionalen Elemente der Velazquez-Monographie sind keine isolierten Phänomene der historisierenden Nachahmung, sondern erfüllen, so die noch zu explizierende These, eine erkenntnisleitende Aufgabe im historiographischen Gesamttext. Die Gefahr liegt jedenfalls nahe, daß mit dem Postulat einer Identität von Gegenstand und Methode ein zirkuläres Verhältnis entsteht, das den konzeptionellen Charakter von Justis Historiographie ausblendet. Der in der Grundtendenz richtig konstatierte diachrone Kulturtransfer vom Siglo de Oro zum Späthistorismus bedarf deshalb der Ergänzung nach Kontexten, die direkt auf Justis Theorie-Umfeld zurückgehen und die Strategien und Deutungsmuster seiner Velazquez- und Spanien-Aneignung offenlegen. Methodisch soll deshalb im folgenden eine stärkere Grenze zwischen dem von Justi untersuchten Objektbereich spanischer Kunst und Kultur und den ideengeschichtlichen bzw. (kunst)philosophischen Prämissen gezogen werden. Denn obwohl Justi offiziell jede theoretische Voreingenommenheit negiert, verbirgt sich hinter dieser Anti-Programmatik ein erkenntnistheoretisches Problembewußtsein, das philosophischen und theologischen Traditionen zugeordnet werden kann und zugleich auf wissenschaftshistorische Zeitströmungen reagiert. Maßgebend soll zweitens die Analyse der Textorganisation sein, die eng mit diesem ideengeschichtlichen Subtext einhergeht. Die vorliegende Arbeit setzt hier voraus, daß Justi seine Urteile wesentlich stärker perspektiviert und Zitate situationsbezogen einsetzt. Drittens erscheint angemessen, zunächst von der Winckelmann-Biographie als wichtigem Teil von Justis Gesamtwerk auszugehen, vor allem deshalb, um mehr Klarheit über die Frage nach Kontinuität oder Bruch im wissenschaftlichen Œuvre Justis zu gewinnen.
1. Jenseits von Hegel. Anmerkungen
zum intellektuellen
Profil Carl Justis
189
1.2. Vorüberlegungen auf Grundlage neuer Quellen Im Rahmen dieser Fragestellungen erweist sich ein wiederaufgefundener Teilnachlaß 23 Carl Justis als besonders hilfreich. Neben den Beständen in Bonn 2 4 und Marburg 2 5 existiert in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ein drittes, von der neueren Forschung nicht berücksichtigtes Konvolut. Die 70 Einheiten umfassende Sammlung stammt aus dem Besitz Ludwig Justis, der als mißtrauischer kunsthistorischer Sachwalter seines Onkels nur wenigen Kollegen Einsicht in die Materialien gewährte. 26 Bis in die 1950er Jahre war in Fachkreisen die Existenz dieser Dokumente bekannt, 27 doch sie gerieten durch die deutsche Teilung in Vergessenheit und wurden offenbar auch nach der Wende mit Ausnahme von Mitgliedern der Familie Justi nicht genutzt. 28 Da zahlreiche Einheiten im Bonner Bestand Kriegsverlust sind, bietet dieser dritte Teilnachlaß wichtige Ergänzungen in der Beschäftigung mit Justis Werk. Neben persönlichen Dokumenten enthält er von Justi selbst angelegte „Sammlungen" zu seinen Publikationen mit Dokumenten der Rezeption, Vorarbeiten zur Winckelmann- und Velazquez-Biographie, Vortragsmanuskripte zu Winckelmann (1864), Correggio (1876) und Murillo (1875-9), Vorlesungsskripten zur kunsthistorischen Methodik und Ästhetik (ca. 1875-1890), desweiteren relativ ungeordnete Entwürfe und Arbeitsmaterialien. Besonders die Frühzeit ist durch Vorlesungsmitschriften sowie durch Exzerpte und Aufsatzübungen zur Weltliteratur und Philosophie (ca. 18551862) gut belegt. In der Vielfalt der Dokumenttypen gibt das Konvolut ferner Aufschlüsse über Arbeitstechniken und Arbeitsschritte. Zudem vermittelt es einen konsistenten Eindruck über Justis Selbstbild als Wissenschaftler, indem die sog. „Sammlungen" Züge auto-
23 Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin. Nachlaß Carl Justi. 24 Zu Justis Hauptnachlaß in Bonn vgl. ergänzend zu Clemen (Carl Justi, S. 66) Leppla in: Justi/Hartwig: Briefwechsel 1858-1903, S. 23 f. Bezüglich Justis Spanienforschungen siehe die kursorische Nutzung des Bonner Nachlasses bei Hellwig: „Neu und unerforscht" und „Carl Justi y los comienzos de los estudios". Aufgrund der veränderten Nachlaßsituation und der Einsicht der Briefe Justis an Wilhelm (von) Bode im Zentralarchiv der Staatlichen Museen Berlin kommt die vorliegende Arbeit zu teilweise anderen Bewertungen. Siehe hierzu die gesonderten Ausführungen im Abschnitt 1.3. 25 Zum Marburger Bestand vgl. neben der Ubersicht bei Leppla (ebd.): Voss: „Carl Justi - Cappel oder Capri". 26 Vgl. mehrere Briefe von Ludwig Dehio, Eduard Justi und Herbert von Einem an Ludwig Justi und Briefkonzepte Ludwig Justis an dieselben den Teilnachlaß betreffend um 1955/56. Archiv der BBAW, Nl. Nachlaß Ludwig Justi Nr. 35. 27 So macht Gustav Glück in seinem Aufsatz auf den Teilnachlaß aufmerksam („Carl Justi. Persönliche Erinnerungen", S. 232). L. Justi zitiert ausführlich aus dem Bestand, ohne ihn nachzuweisen (L. Justi: „Carl Justi (1832-1912)"). Waetzoldt bedankt sich bei L. Justi für die Nutzung einiger Briefe (Wilhelm Waetzoldt an L. Justi, Berlin 17.1.1924. Archiv der BBAW, Nl. Nachlaß Carl Justi Nr. 62). 28 Selbst die Forschung zu Ludwig Justi hat das Konvolut lange übersehen. Vgl. die diesbezüglich unzuverlässigen Informationen (1999) in dem sonst gründlich gearbeiteten Kommentar zu L. Justi: Werden - Wirken - Wissen, II, S. 54 f. Für zahlreiche Hinweise danke ich Prof. Werner HeilandJusti, Sprecher der Erbengemeinschaft Ludwig Justi.
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III. Der „Dolmetsch der Kunst"
biographischer Kommentierung tragen und oft Übersichten zur Entstehungsgeschichte eines Werks enthalten. Aus dem Berliner Bestand lassen sich erste Hinweise über Justis Methoden- und Historiographieverständnis gewinnen. Entgegen der weitverbreiteten Meinung hat Justi immer wieder versucht, seinen theoretischen Standpunkt über die Aufgaben der Kunstwissenschaft zu formulieren (vgl. auch Abschnitt 2.2.). Eine Blattfolge von methodischen Anmerkungen zwischen 1875 und 1890 läßt eindeutig den Wunsch nach einer Systematisierung einzelner methodischer Themenfelder erkennen und wurde vermutlich auch als Skript in der kunsthistorischen Lehre eingesetzt. Nach Justi beruht die Tätigkeit des Kunsthistorikers auf „zwei Hauptpfeilern: einem literarischen Theil und auf Autopsie und Kennerschaft." 29 Hierin der seit Rumohr standardisierten historisch-kritischen Methodik folgend, setzt Justi den „literarischen Teil" mit der Quellenkritik gleich: Unpublizierte wie gedruckte Uberlieferungszeugnisse sind auf ihre historische Glaubwürdigkeit zu prüfen und mittels eines kombinatorischen Verfahrens möglichst in Einklang zu bringen. Interessant ist, daß Justi die Frage nach dem Transfer von zeittypischen schriftlichen Zeugnissen auf Kunstwerke hinsichtlich einer ikonographisch-ikonologischen Deutung, wie sie Springer theoretisch formuliert und praktisch vollzogen hatte, nicht berührt. Die Quellenkritik bleibt streng auf das Gesamtoeuvre eines Künstlers bezogen: Mit ihrer Hilfe erstellt der Kunsthistoriker einen Kanon von sicher zuschreibbaren Werken, auf den dann der zweite, kennerschaftliche Teil aufzubauen hat: Dieser verhält sich komplementär zur quellenkritischen Forschung, indem sich der Kunsthistoriker möglichst auf die konkrete Anschauung der Originale konzentriert. Dem genauen Einprägen und Differenzieren der formalen Merkmale soll die Erstellung von Werkzusammenhängen und die Zuordnung nach Schulen und Nationalitäten folgen. Schließlich sind kulturgeschichtliche Kontexte einzubeziehen, doch sind diese nur „Licht und Nährstoff" für eine „Pflanze deren morphologische] Eigenthüml[ichkeit] aber in dem Keim präformirt" liegt. 30 Die Vorstellung vom Kunstwerk als präformierten Organismus verbindet Justi mit dem Grundsatz, daß die Wissenschaft der Kunst cnebst Aufst. und Ubersicht großer Gruppen u allgemeiner Züge> ganz auf der bestimmten u nie ganz zu erschöpfenden Erkenntnis des Individuellen fußt. Was man die Manier eines Künstlers nennt, ist mit Worten oder Begriffen sowenig deutlich zur Anschauung zu bringen, wie eine Physionomie, gleichwohl müssen wir es als unsere Aufgabe betrachten, der Anschauung so viel als möglich mit den Mitteln der Sprache adäquat zu werden. [...] A b e r auch der vollständige Begriff einer Manier enthält noch nicht den Inhalt der einzelnen Kunstwerke: diese sind keineswegs bloß Exemplare einer Species; vielmehr sind diese wiederum als eigentlich individuell Ganze zu faßen, von denen man sich eine eigene Methode der Darstellung, ja e[inen] eigenen Stil zu erfinden hat. 31
29 Blattfolge „Allgemeine Bemerkungen über das wiss. Studium der Malerei", fol. 1 recto, Archiv der B B A W N l . Carl Justi 29/1. 30 Ebd., fol. 3 verso. 31 Ebd., fol. 2 verso. Der in spitzen Klammern wiedergegebene Teil bezeichnet eine nachträgliche Einfügung.
1. Jenseits von Hegel. Anmerkungen
zum intellektuellen Profil CarlJustis
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Den Verweis auf die weitere Aufgabe, neben dem Individuellen auch das Allgemeine zu berücksichtigen, hat Justi gerade noch eingefügt; in den Folgesätzen wird der Gedanke dahin konkretisiert, daß Kunstwerke „keineswegs bloß Exemplare einer Species" sind und sich in ihrer Eigenwertigkeit einer begrifflich erfaßbaren „Manier" nicht unterordnen lassen. Daran schließt die Forderung an, die Werke zu beschreiben, und zwar nach allen zur Verfügung stehenden Mitteln der Sprache, welche sich nach der Eigengesetzlichkeit des künstlerischen Objekts zu richten hat; eine Auffassung, die Justi immer wieder bekräftigte: „Das was eigentlich Hauptsache ist: die Beschreibung der Gemälde", stöhnt er während der Fertigstellung des Velazquez, „ist nicht nur das mühsamste, sondern auch das Unbefriedigendste, da man doch nie das Auge des Künstlers sich anbilden kann, u das Langweiligste für den Leser! Aber che volete? aus den Künstlern ist nichts herauszubekommen." 3 2 Der Kern von Justis Lehre ist ausgesprochen konservativ und folgt den Grundsätzen der Historischen Schule. - Das Insistieren auf dem Primat der Anschauung und der damit verknüpfte Imperativ, für diese eine sprachlich analoge Fassung zu finden, macht zugleich deutlich, in welchen Maßen Justi den darstellerischen Aspekt als zentrales Anliegen versteht. Dies bestätigt sich nochmals in einer Tirade gegen die Kunstschreiberei der Gegenwart: Während früher hochgebildete historisch=philos.= u auch als Menschen bedeutende Gelehrte mit geringer Autopsie und schwacher Kennerschaft, Geschichte geschrieben haben, so haben wir in neuerer Zeit unbedeutende Schreiber, von wenig humaner Bildung, bloße Specialisten, Dokumentensammler u. Konnaisseurs, die höchstens im Stande gewesen wären, einen räsonnierenden Catalog zu stellen, Geschichte schreiben sehen, theils weil ihr Ehrgeiz k. Ruhe läßt, theils auf Antrieb specul. Buchhändler. Diese sind also arm und dürftig an Gedanken, Combination wie in der Sprache, u eig. unlesbar, d. h. als Nachschlagbücher schätzenswerth, denn es sind eigentlich Cataloge in Sauce gebracht, die ihr Aussehen ein Geschichtswerk gibt. Unsere Zeit ist überhaupt reich an Büchern die ohne Beruf geschrieben sind[.] 33
Sich in die Tradition von Winckelmanns Kampf gegen die „Skribenten" stellend, verbindet Justi seine Forderung nach einer künstlerischer Darstellung mit der Ablehnung des bloßen Kompilatorentums. Auch wenn daran keinerlei darstellungsbezogene und programmatische Forderungen anschließen, so zeigt das Manuskript doch, wie stark Justi sein theoretisches Defizit durch Polemik kompensiert und auf ein Darstellungs- und Sprachbewußtsein verlagert, das zumindest teilweise das zuvor formulierte Primat der quellenkritischen Forschung in die Schranken weist. Der Angriff auf „bloße Specialisten, Dokumentensammler u. Konnaisseurs" weist darauf hin, daß die Berufung auf Kennerschaft und historische Kritik in einem gewissen Spannungsverhältnis zu Justis Darstellungskonzeptionen steht. Letztlich bestätigen die Aufzeichnungen, daß sich Justis methodologische Interessen aus einer dezidierten Abneigung gegen normierte Entwürfe einseitig auf ein Darstellungs- und Sprachbewußtsein konzentrieren, welches eine explizite Bezugnahme auf weltanschauliche oder ästhetische Modelle verweigert. Bekannt ist, daß Justi Indexlisten von „Hegelianismen" und anderen Begriffen führte, um den kunsthistorischen Text möglichst frei von einer 32 A n Charlotte Broicher, Bonn 1 6 . 1 2 . 1 8 8 7 , Staatsbibliothek Berlin, sog. „Nachlaß Justi". 33 „Allgemeine Bemerkungen über das wiss. Studium der Malerei", fol 2 recto, Archiv der BBAW, Nl. Carl Justi 29/1.
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III. Der „Dolmetsch der Kunst"
weltanschaulich belasteten Terminologie zu halten. 34 Distanz zu deduktiven Konzeptionen läßt sich auch erreichen, indem das Textverständnis inhaltliche Differenzen, inszenierte Momente des Spontanen und ironische Effekte einkalkuliert, somit darstellerischen Grundformen nachgibt, die gattungstheoretisch in den Bereich des Essays, epistemologisch in den Bereich der Dezentrierung von Totalität verweisen. Justis Behauptung, daß die Lektüre von Werken wie der Kritik der reinen Vernunft den ,,einzige[n] Nutzen" hat, „daß man lernt einem langen geschlossenen Gedankengang zu folgen" und daß „die Philosophie der essays wie auch der Bacons, Humes, Montaignes, Schopenhauers Parerga nicht nur interessanter ist sondern klüger macht", 35 ist deshalb besonders aufschlußreich: Das Primat des Essays rückt den individuellen Erfahrungsbezug in den Mittelpunkt wie auch die permanente Infragestellung und Neuperspektivierung eines Themas. Diese Grundfigur vom die Tatsachen erkennenden und sogleich erneut hinterfragenden Subjekt scheint auch sonst bestimmend für Justis argumentativen Umgang mit der Kunstund Kulturgeschichte zu sein. Bildlich läßt er sich kaum besser verdeutlichen als an den sorgfältig angelegten Sammlungen im Nachlaß, in denen Justi die Rezeptionszeugnisse zu seinen Werken zusammengeführt hat. In dem Dokumentationsband zu der VelazquezMonographie 3 6 ist beispielsweise Herman Grimms Anzeige in der Deutschen Rundschau eingeklebt; zusätzlich hat sie Justi mit einem Zitat aus dessen Homer-Essay versehen; 37 wenige Seiten später erfolgt - anscheinend ohne Bezug auf den Velazquez - ein weiterer Sonderdruck Grimms zur Situation des Fachs Kunstgeschichte an den deutschen Universitäten. Dessen Deckblatt trägt Justis blaffendes Notât: „Blechmusik!" Eine ähnliche Abwehr der äußeren Vereinnahmung wird in der Sammlung zum Murillo verfolgt: 38 Dem Dankschreiben des kaiserlichen Hofmarschallamts für die Ubersendung des Buchs fügt Justi einen Zeitungsausschnitt bei, in dem prominente Teilnehmer einer Umfrage „Geburtstagswünsche für den Kaiser" formulieren: Viele wünschen Wilhelm II. ein besseres Kunstverständnis. Bezeichnend ist auch der Zusammenhang von Selbstkommentierung und Collage in der Dokumentation zu Justis skandalösem Vortrag Amorphismus in der Kunst: Indiskret hatte der einflußreiche Ministerialdirektor Friedrich Althoff Justis kulturkritischen Rundumschlag dem Kaiser zugespielt, der ihn wiederum auf einer Soirée des Reichskanzlers von Bülow publik machen ließ.39 Justis kommentarloser Akt der Gegenwehr besteht im Einkleben einer Karikatur aus dem Ulk (Abb. 18): Ein von gähnenden Künstlern 34 Fritzsche: „Uber Carl Justi", S. 77: „Justi hat mir von sich erzählt, daß er eine Liste zu vermeidender Hegelianismen angelegt und über dem Schreibtisch aufgehängt hatte." Vgl. auch Justi an Charlotte Broicher, Bonn 3.2.1895, Staatsbibliothek Berlin, sog. „Nachlaß K. Justi": „Als ich vor mehr als einem Menschenalter anfing dicke Bücher zu schreiben, hatte ich mir eine kleine Proscriptionsliste von Worten gemacht, von denen ich meinen Stil unbefleckt erhalten wollte. Dazu gehörte .Weltanschauung' [...] und .Entwicklungsphase', in meinem letzten Buch werden Sie das Wort schwerlich einmal finden". 35 36 37 38 39
An Ludwig Justi, Bonn 14.1.1898, Archiv der BBAW, Nl. Ludwig Justi 604/1. „Sammlung Velazquez", Archiv der BBAW, Nl. Carl Justi 52. Siehe dazu die Ausführungen Anfang Kap. 3. „Sammlung Murillo", Archiv der BBAW, Nl. Carl Justi 50. „Sammlung Amorphismus", Archiv der BBAW, Nl. Carl Justi 30. Zum Hintergrund der Affäre vgl. L. Justi: Werden - Wirken - Wissen, S. 69; Pallat: Richard Schöne, S. 334.
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umringter dozierender Althoff ernennt sich zum „Professor der Gunstgeschichte", während im Hintergrund ein entmachteter Heinrich Wölfflin durch den verriegelten Türspalt lugt. Uberschrieben ist die Karikatur mit den Sätzen: „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. Artikel 20 der preussischen Verfassung", womit Justi Position gegen die politische Instrumentalisierung seiner Meinung als Hochschullehrer bezieht. Auf einer anderen Doppelseite derselben Dokumentation (Abb. 19) hat Justi durch die Montage von Presseausschnitten die Protagonisten und Gegner der Moderne vereint: Im Zentrum der linken Buchseite klebt das berühmte Vorstandsbild des Deutschen Künstlerbundes (u. a. Liebermann, Klinger, Kessler), darunter finden sich die Porträts von zwei Gegnern der Avantgarde: Anton von Werner und Wilhelm von Bode. In Antithese zu den Porträts sind die zwei Zeitungsausschnitte auf der rechten Seite zu verstehen: Dem Gruppenbild des progressiven Künstlerbundes ordnet Justi horizontal die Meldung von der antimodernen Polemik des Berliner Bildhauers Reinhold Begas zu („Ein Künstlerstreit"), während er unten eine Zeitungsnotiz zu Emil Noldes Austritt aus der Berliner Secession positioniert, die dem konservativen Pol v. Werners und v. Bodes gegenüberliegt. Ohne selbst Stellung beziehen zu müssen, setzt Justi mit dieser Bild-Text-Konstellation kaiserzeitliche Avantgarde und Reaktion in ein chiastisches Verhältnis und arrangiert ein Panorama der kulturpolitischen Meinungen um 1910. Dieser innerdeutschen Polarität kann offenbar nur ein Korrektiv aus internationaler Perspektive Einhalt gebieten: Das dominierende Element der Collage ist die Farbreproduktion von Whistlers Selbstporträt, welches die linke Buchseite ausfüllt. Alles überragend und den Extremen abhold scheint Whistler denjenigen modernen Künstler zu repräsentieren, der als lachender Dritter den Streit im Satirischen aufhebt: 40 In dessen Person konnte Justi nicht nur seine Gegnerschaft zu Ruskin wiedererkennen,41 das Porträt zitierte auch formal den Demokrit von Velázquez, womit zugleich der impressionistischen Vereinnahmung des Spaniers Einhalt geboten wurde. So dilettantisch Justis Verfahren der collagierenden Kommentierung erscheinen mag: Sein Versuch der Selbsthistorisierung indiziert, daß Momente der Äquidistanz und der Kombination, der Offenlegung von Analogien und Gegensätzen, der Perspektivenbrechung und Ironisierung auch maßgebliche Strukturmerkmale seines Verständisses als Kunstschriftsteller sind. Ordohistoriographisch läßt sich diese bildlich-konfigurative Vorgehensweise so reformulieren, daß Justi im Unterschied zu der realklassizistischen Auffassung eine Textstruktur zu schaffen sucht, die Individuelles mit Individuellem koordiniert und nicht Ähnliches allgemeinen Grundsätzen subordiniert. Das Oppositionspaar von Subordination und Koordination der Geschichte geht auf das 38. Kapitel in der Welt als Wille und Vorstellung zurück, wo Schopenhauer die These vertritt, daß die Geschichte nicht nach den allgemeinen Gesetzen der Subordination betrachtet werden kann und deshalb keine Wissenschaft sei.42 Burckhardt hat diese Unterscheidung zu Beginn seiner sog. Weltgeschichtlichen Betrachtungen übernommen, 43 und sie kann für die gesamte Traditionslinie 40 Dies bestätigt sich durch Justis Aussage, der Amorphismus-Wonrs.g
Carl Justi, S. 35). 41 Vgl. Amorphismus in der Kunst, S. 21. 42 W W V I I . S . 563 f, Kap. 38.
sei „stark satirisch" (Clemen:
43 Burckhardt: Über das Studium der Geschichte, in: JBW X, S. 133, 354.
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der Historischen Schule gelten, die sich gegenüber der Geschichtsphilosophie Hegels selbständig behauptet hat.44 Im Unterschied dazu scheint sich bei Justi die Auffassung von der koordinierenden Tätigkeit der Geschichtsschreibung radikalisiert zu haben: Die beiden Paradebeispiele für seine Literarizität, der Kunstdialog (I, 85-104) und der fingierte Brief (I, 284-290) im Velazquez, spielen in den Jahren 1631 und 1629, sie befinden sich aber in der Monographie an zwei unterschiedlichen Stellen, so daß die Auffassung von einer progressiven Erzählkontinuität nicht gültig zu sein scheint.45 Auch die Abänderungen in der zweiten Auflage (1903) belegen einen äußerst flexiblen Umgang mit der historiographischen Ordnung: Die Binnenstruktur des 5. Buchs hat Justi vollständig neu konzipiert, ohne daß er dabei die Einleitungen der betreffenden Einzelabschnitte substantiell verändern mußte. Von vornherein wurde hier das in der jeweiligen Bildbeschreibung manifeste künstlerische und historische Einzelphänomen derart gestärkt, daß ein übergeordnetes Subsumptionsmodell sei es ideell oder rein kompositorisch gedacht - nur eine nebensächliche Relevanz besaß. Solche Anhaltspunkte machen die Vermutung plausibel, daß Justi seine Texte nach Kriterien der Simultanität und der Räumlichkeit strukturiert, die den jeweiligen Teilstücken ihre prädikative Zuordnung zum Ganzen versagen. Auch theoretisch formuliert Justi dieses Prinzip durchgängig: Schon in der Dissertation von 1859 heißt es, daß die Einzelabschnitte der Platonischen Dialoge nicht „blosse Glieder einer zusammengesetzten Untersuchung" sind, sondern „als selbständige Ganze von eigner Anlage und Färbung erscheinen, und statt ein allgemeines Thema schematisch abzuhandeln, sich jedesmal eine ihnen angemessene Form aus sich selbst bilden".46 Fünfzig Jahre später wird im zweiten Michelangelo-Band der Verzicht auf eine schematische oder entwicklungsgeschichtliche Darstellung nach „formale[n] Elementen" mit einem Diktum Friedrich Rückerts begründet, nach welchem die Abfolge der beschriebenen Werke „planetarisch" aufzufassen sei: „Man sieht die Handlung nicht fortschreiten, und doch ist zuletzt das Ziel erreicht; die Darstellung geht nicht vorwärts, sondern dreht sich im Kreise: die Anordnung ist eben planetarisch."47 Dieser Dominanz des ,Planetarischen' ist vermutlich geschuldet, daß die Rezeptionszeugnisse zum Velazquez ein höchst uneinheitliches, von der wissenschaftsgeschichtlichen Konstellation her fast paradoxes Bild ergeben. So äußerte ausgerechnet Dilthey seine Enttäuschung darüber, daß Justi statt eines Überblickswerks zur spanischen Kunstgeschichte ,nur' eine Biographie verfaßt habe,48 während Wölfflin, der Propagator einer Kunstgeschichte ohne
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Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831-1933, S. 59 f. Vgl. Rüsen: Konfigurationen des Historismus, S. 120 f. Justi: Die aesthetischen Elemente in der platonischen Philosophie, S. 21. Zit. in: Justi: Michelangelo. Neue Beiträge zur Erklärung seiner Werke, S. 6 f. Originalzitat aus: Rückert: Die Makamen des Hariri (Die Verwandlung des Abu Seid von Serung), „An die Leser". 48 Dilthey an Graf York, [Dezember 1888], in: Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul York von Wartenburg 1877-1897, S. 75. Dieses Urteil wiederholte Dilthey in den Berliner Salons und wurde Justi zugetragen. Wie Charlotte Broicher berichtete, wäre eine „spanische Kunstgeschichte" „mehr nach seinem [Diltheys] Sinn gewesen, als diese biographische Form" (an Justi, Berlin 8.1.1889); Broicher merkt an, daß der Velazquez „keine leichte Lektüre" sei und erhebliche Konzentration erfordere. In: „Sammlung Velazquez", Archiv der BBAW, Nl. Carl Justi 52.
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Namen, das Buch als die „wahrscheinlich [...] vollkommenste Malerbiographie, die überhaupt existiert", bezeichnete.49 Beide Urteile stehen jeweils in Gegensatz zur theoretischen Auffassung ihrer Urheber und müssen irritieren. Sie sind ein schlagender Beleg dafür, daß der Text auf rezeptionsästhetische Probleme führt, die ein traditionelles Lektüreverständnis erschweren.
1.3. Zur Entstehungsgeschichte des Velazquez im Kontext der kunsthistorischen Spanien-Aufsätze Folgende Untersuchung stellt die 1888 erstmals erschienene Künstlermonographie Diego Velazquez und sein Jahrhundert in den Mittelpunkt der Analyse. Auf das dreibändige Werk über Winckelmann folgend, ist dieses zweite Hauptwerk Justis das erste mit rein kunsthistorischer Thematik. Vollzog Justi noch mit der Niederschrift des Winckelmann einen mühsamen Ablösungsprozeß von der Philosophie, ohne ihren institutionellen Rahmen zu verlassen,50 setzt kurz nach der Berufung auf den Bonner kunsthistorischen Lehrstuhl 1872 seine intensive Beschäftigung mit der Kunst Spaniens ein.51 Institutions- und Historiographiegeschichte stehen somit in einem unmittelbaren Zusammenhang. Thematisch verwandt mit der Velazquez-Monographie sind desweiteren zahlreiche Aufsätze zur Kunst auf der Iberischen Halbinsel, die Justi ab 1880 publiziert. Bei der konzeptionellen Erschließung von Diego Velazquez und sein Jahrhundert sind daher mehrere Faktoren zu berücksichtigen: Die theoretische Vorgeschichte, die disziplinare Rahmenkonstellation und zeitgleich entstandene Publikationen nehmen Einfluß auf die Textgenese, die sich über einen Zeitraum von 15 Jahren erstreckt. Näheren Aufschluß über die Entstehungsgeschichte gibt eine mit „Velazquez" betitelte Kladde im Berliner Nachlaß: 52 Das Dokument zeigt, daß Justi sehr früh mit der systematischen Erschließung des Themas begann. Laut Einbandetikett wurde das Arbeitsbuch am „25.X. 1873", also wenige Monate nach der ersten Spanienreise (1872/73), angelegt.53 67 Doppelseiten sind jeweils einem Jahr zwischen 1599 und 1665 gewidmet (Abb. 16 und 17); auf ihnen hat Justi biographierelevante Auszüge aus Palomino oder Cean Bermudez, aber auch diverse historische und kunstgeschichtliche Daten notiert. Die Konzentration auf den Zeitraum zwischen dem Geburtsjahr des Künstlers (1599-1660) und dem Todesjahr Philipps IV. (1605-1665) macht deutlich, wie früh die konzeptionelle Entscheidung fiel, die 49 Wölfflin: „Velazquez" [1899], in: Ders.: Kleine Schriften (1886-1933), S. 130. 50 Nach der Habilitation am 4.2.1860 wurde Justi am 15.2.1867 zum außerordentlichen und am 9.1. 1869 zum ordentlichen Professor für Philosophie mit dem Lehrauftrag für Archäologie und Kunstgeschichte in Marburg ernannt. 1871 folgte er Wilhelm Dilthey auf den Lehrstuhl für Philosophie in Kiel, am 22.5.1872 auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte in Bonn. 51 Auf der ersten Seite seiner Dokumentation zur Entstehungsgeschichte der Velazquez-Monographie hat Justi die Anfrage Springers (Bonn, 16.1.1872) bezüglich des vakanten Bonner Lehrstuhls eingeklebt. „Sammlung Velazquez", Archiv der BB AW, Nl. Carl Justi 52. 52 Kladde „Velazquez" (1873), Archiv der BBAW, Nl. Carl Justi 61. 53 Erste Aufzeichnungen erfolgten offenbar zwei Tage später: Auf der Seite zum Jahr 1599 hat Justi das Datum „27. X. 1873" notiert.
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III. Der „Dolmetsch der Kunst"
Biographie des Hofmalers im politischen und kulturellen Zusammenhang darzustellen. 54 Unwahrscheinlich ist daher die These, daß das Werk als Kompromiß f ü r ein gescheitertes H a n d b u c h der spanischen Kunstgeschichte zu werten sei.55 Das Gegenteil bestätigt sich durch eine im nachhinein angelegte und auf Tagebucheinträgen basierende Chronik der Velazquez-Aneignung auf den vorderen Seiten der Arbeitskladde (vgl. Anhang, Dok. B): N e ben Forschungsaufenthalten und Reisen werden dort diverse Erlebnisse und Entschlüsse vermerkt, so etwa der rot markierte Eintrag „* 15. October 1873 in Stuttgart: Biographie V.z" Die weiteren Einträge belegen, daß Justi auf der Grundlage des im Arbeitsbuch geschaffenen Faktengerüsts äußerst planvoll vorging: N a c h einem ersten Aufenthalt in L o n d o n legte er ganz nach dem methodischen Zweisäulenmodell von Quellenforschung und Kennerschaft die Priorität auf die Sondierung der Archive in Venedig, Florenz und Modena im Spätsommer 1874 und im Frühjahr 1875.56 Vor dem Antritt weiterer Spanien-Reisen zog es also Justi vor, anhand des Quellenmaterials eine Sichtweise zu gewinnen, die sich auf die exakte Kenntnis der außenpolitischen Perspektive gründete. 57 Auch dies spricht gegen den Plan einer Uberblicksdarstellung zur spanischen Kunst, welche f ü r die stilgeschichtliche Konstruktion die Prioritäten auf eine möglichst umfassende und schnelle Autopsie der Originale in Spanien legen müßte. Vorgehen, hohes Interesse am diplomatischen Geschehen und die Konzentration auf italienische Gesandtschaftsberichte erinnern vielmehr an die Rankeanische Tradition, die ihre Geschichtsforschung „aus den Relationen der Augenzeugen und den echtesten unmittelbarsten U r k u n d e n aufbauen" 5 8 wollte. Auf der Grundlage des archivalisch erschlossenen Geschichtsfundus intensivierte Justi ab 1875 die Phase der CEuvre-Bearbeitung durch mehrere Spanien-Reisen. Allerdings geriet die Ausführung der Velazquez-Biographie zunehmend durch erweiterte Forschungsinteressen ins Stocken. An der zu Beginn der achtziger Jahre erschienenen Aufsatzfolge zur Kunstgeschichte auf der Iberischen Halbinsel zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert ist auffallend, daß sich an ihr ebenso wenig eine Tendenz zur kohärenten Gesamtdarstellung „von den Miniaturen des 10. Jhts bis auf Goya" 5 9 erkennen läßt. Justis vom Konkurrenzdenken nicht freie, starke Abneigung gegen den Spanienabschnitt im zweiten Band von Karl Woer-
54 Daß dies mit Recht als innovativ gelten muß und Martin Warnkes Forschungen zum Hofkünstlertum gewissermaßen vorwegnimmt, führt Regine Prange aus: Die Geburt der Kunstgeschichte, S. 173 f. 55 Hellwig: „Neu und unerforscht", S. 214; Dies.: „Carl Justi y los comienzos de los estudios sobre arte español el Alemania", S. 16 und 22 f. Die als Beleg angeführte Briefstelle lautet: „Ich habe indeß auf der Fahrt nach Segovia überlegt, wie ich den Plan meines [!] Buches mehr kürzen und abrunden, und dann demnächst abschließen könne." An die Mutter, Madrid 19. 10. 1879, in: Justi: Spanische Reisebriefe, S. 124. Daß sich dies auf ein Kompendium zur spanischen Kunstgeschichte beziehen soll, ist aus dem Zitat nicht ersichtlich. 56 Wie stark Justis Darstellung von der italienischen Perspektive geprägt ist, zeigen die scharfen Urteile über Monterey, der als Vizekönig von Neapel und „unersättliche]/] moderne[r] Verres" das Land ausraubt (II, 240). 57 Dies schließt natürlich die diplomatischen Vorgänge, die den Künstler betreffen, mit ein. Vgl. die im Anhang des Bandes abgedruckten Quellen (II, 395-411). 58 Ranke: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Vorrede, S. X. 59 Justi an Bode, Bonn 27.10.1882, SMB-ZA, NI. Bode 2811.
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manns Geschichte der Malerei (1882) 6 0 verstärkte vermutlich den polemischen Impuls gegen ein „Handbuch" zur spanischen Kunstgeschichte und die Befürwortung von monographischen Ansätzen. Insofern sind die später in den Miscellaneen aus drei Jahrhunderten spanischen Kunstlebens zusammengefassten Aufsätze eine methodisch schlüssige Ergänzung zum Velazquez·. Mit dem Begriff „Kunstleben" schließt der Titel programmatisch an die anti-spekulative und lebensphilosophische Diskussion der Jahrhundertwende an, nicht ohne sich dabei zur (alt)philologischen Tradition an der Bonner Universität - „Miscellaneen" erinnert an einen Buchtitel Polizians, des Gründervaters der humanistischen Textkritik - zu bekennen. Methodologisch hellsichtig sind Justis Beobachtungen zum „Kulturtransfer", mit denen er sich aus dezidiert anti-normativer Perspektive künstlerischen Austauschprozessen zuwendet. Künstler wie die lombardische Bildhauerfamilie Gazini, der Niederländer Peter de Kempeneer (Pedro Campaña) oder El Greco sind nicht nur Einwanderer in Spanien, sie verstehen es auch, die künstlerischen Fremdeinflüsse aufzunehmen und zu einem neuen Stilbewußtsein zu amalgamieren. An Peter Burkes Überlegungen zu einem transeuropäischen Netz der Renaissance von Zentrum und Peripherie 61 erinnert eine Feststellung Justis, nach der der Lombarde Domenico Gazini fernab von der „centralen, toscanischen Bewegung" an der „italienischen Peripherie [...] die hervorragendste Figur gewesen" sei „unter der Chorage des Renaissancestils." 62 Aus Transferprozessen entstehende Heteronomien entdeckt Justi auch bei gebürtigen Spaniern: Der van Eyck-Schüler Luis Dalmau verbindet in seinem Brunnen des Lebens „ausgesprochene Züge flandrischer und spanischer Cultur": 6 3 Die Beispiele ließen sich fortsetzen, weshalb eine Folgerung Justis programmatisch gelesen werden kann: „Erwägt man, daß das Einleben in eine fremde Formenwelt keine Sache von Monaten ist, so kann man wohl die Frage aufwerfen, was denn unser Jahrhundert des Culturaustauschs vor dem Mittelalter voraus hat?" 6 4 Ohne dabei in ein romantisches Konzept der „Künstlerwanderung" zurückzufallen, antizipiert Justi wie kaum ein anderer Kunsthistoriker vor ihm methodische Gedanken des „Kulturtransfers". In der radikalen Individualisierung der Kunstgeschichte und in der Zurückdrängung einer statisch-topographischen Stilgeschichte nach Landschaften und Schulen geht das ideelle Fundament der Miscellaneen-Aufsätze von einem Lebensbegriff aus, der die Sichtweise auf eine pluralisierte Kunstgeschichte öffnet und am Beispiel Spaniens gesamteuropäische Dynamiken in das Zentrum kunstwissenschaftlicher Analyse rückt. Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, wenn Halldor Soehner in seinem Bericht zur kunsthistorischen Spanien-Forschung im 19. Jahrhundert den Vorwurf formuliert, Justi habe in Spanien ein künstlerisch zu besiedelndes „Kunstkolonialgebiet" 6 5 ohne autochthone Tradition in der Kunstentwicklung gesehen. Ins Positive gewendet, weist Dietrich Briesemeister auf Wortfelder des Kulturaustauschs im Velazquez hin und stellt diese Belege
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Woltmann / Woermann: Geschichte der Malerei II, S. 353-362 Burke: Die europäische Renaissance, S. 26 ff. Justi: Miscellaneen aus drei Jahrhunderten spanischen Kunstlebens I, S. 128. Ebd., S. 295 Ebd., S. 312. Soehner: „Die Geschichte der spanischen Malerei im Spiegel der Forschung", S. 297. Vgl. ebd., S. 283.
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III. Der „Dolmetsch der Kunst"
für eine Künstler-Deutung im Sinne des Kulturtransfers zur Disposition.66 Beide Sichtweisen treffen problemlos auf die Miscellanee».-Aufsätze und weitgehend auf Justis Gesamtsicht der spanischen Kultur zu. Doch werden in seiner Velazquez-Deutung tatsächliche künstlerische Fremdadaptionen und Übertragungen kaum berücksichtigt. Justi weist diese sogar entschieden zurück, so daß anzunehmen ist, daß die von Briesemeister genannten Stellen auf die Forschungsergebnisse in den Miscellaneen-Aufsätzen anspielen sollen und als gezielte Distanzierungsmaßnahmen von einer nationalistischen Velazquez-Deutung zu lesen sind. Die darin manifeste methodische Diskrepanz ist dennoch lösbar: Beide Werke, der Velazquez und die Miscellaneen, rekurrieren auf Individualitätstheoreme, diese werden jedoch mit unterschiedlicher Konsequenz angewandt. Wird insgesamt das HandbuchModell einer spanischen Kunstgeschichte als unscharfe Verallgemeinerung oder gar Kompilation zurückgewiesen, bleiben für Justi auf der Ebene des künstlerischen Individualitätsgedankens insofern alternative Interpretationsweisen bestehen, als der Lebensbegriff wahlweise indigene und exogene Faktoren in der Künstlerentwicklung miteinschließt. Den nur scheinbaren Widerspruch von Velazquez' genuin spanischer Identität und künstlerischer Autonomie einerseits und der erhöhten Aufmerksamkeit für künstlerische Austauschprozesse andererseits löst Justi deshalb publizistisch: durch die säuberliche Trennung nach den Texttypen „Aufsatz" und „Biographie", aber auch durch die differenzierte Textstruktur der Velazquez-Monographie selbst. Ab 1882 wendet sich Justi wieder verstärkt dem Projekt der Velazquez-Biographie zu.67 Die Niederschrift des ersten und zweiten Buchs erfolgt innerhalb der ersten Jahreshälfte 1883; 68 im Juli arbeitet er am Kapitel zur ersten italienischen Reise.69 Im Spätsommer 1884 verkündet er optimistisch, „das Schwerste" sei „gemacht", und plant für den Winter die Vollendung des Manuskripts,70 die sich jedoch bis mindestens Juni 1886 verzögert.71 Auch wird die Abfassung des Textes durch Reisen - so noch im Herbst 1886, wo Justi im Prado technische Details zu klären versucht72 - und daraus entstandene Anreicherungen unterbrochen. Durch die wiederholte Autopsie der Originale, die er in Notizbüchern festhielt, unterzog Justi die Bildbetrachtung über einen Zeitraum von 15 Jahren der mehrfachen Revision, die immer wieder mit dem historischen Wissenszuwachs abgeglichen wurde. Komplementär zu diesem Anreicherungsverfahren und sukzessiven Verbesserung der Werkbeschreibungen ist die langwierige Suche nach einem geeigneten Verleger seit 1883 zu sehen: Trotz der Angebote führender Kunstverlage wie Seemann in Leipzig, Grote in Berlin und Spemann in Stuttgart entscheidet sich Justi am Ende für den kunsthistorisch weitge66 Briesemeister: „Carl Justi und die spanische Kulturgeschichte des ,Siglo de O r o ' " , S. 6 0 - 6 4 . 67 Im November 1882 erwähnt Justi die Velazquez-Biographie gegenüber Bode erstmals brieflich. Justi an Bode, Bonn 1 7 . 1 1 . 1 8 8 2 , S M B - Z A , Nl. Bode 2811. 68 Justi an Bode, Bonn 1 3 . 3 . 1 8 8 3 , ebd. 69 Justi an Bode, Bonn 2 2 . 7 . 1 8 8 3 , ebd. Vgl. auch: „Die Arbeit über V. habe ich nun bis zur ersten Reise nach Italien 1630 incl. vollendet; aber werde erst im Sommer an die Fortsetzung gehen können", Justi an Bode, Bonn 2 2 . 2 . 1 8 8 4 , SMB Kunstbibliothek Berlin, Nl. Bode, C 1/13. 70 Justi an Bode, Marburg 9 . 8 . 1 8 8 4 sowie St. Petersburg 2 6 . 8 . / 7 . 9 . 1 8 8 4 , beide Briefe SMB Kunstbibliothek Berlin, Nl. Bode, C 1/13. 71 Justi an Bode, Bonn 2 8 . 6 . 1 8 8 6 , S M B - Z A , Nl. Bode 2811. 72 Ebd.
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hend unerfahrenen Bonner Universitätsdrucker Friedrich Cohen, vor allem auch, um die Qualität der Holzstiche direkt vor Ort überwachen zu können. 73 Aus der Entstehungsgeschichte der Velazquez-Monographie ergeben sich folgende Anhaltspunkte: Wie der Vergleich mit den Miscellaneen-Aufsätzen zeigt, hat Justi kaum ernsthaft den Ansatz zu einer Gesamtdarstellung verfolgt, sondern suchte konstant den Anschluß an die bereits mit Winckelmann und seine Zeitgenossen verfolgte monographische Darstellungsform. Die Beschreibung autochthoner Stilentwicklungen oder systematischkunsthistorische Entwürfe fielen gegenüber Forschungsinteressen zurück, die sich vor allem auf interkulturelle Kreuzungen oder auf künstlerautonome Handlungskonzepte konzentrierten. Forschungsansatz und Verfahren führten zugleich zu darstellungstechnischen Problemen: Zum einen konnte die isolierte Behandlung historischer und künstlerischer Einzelphänomene nicht ohne weiteres zur Kohärenz gebracht werden, was Justi zu einer differenzierten Verwendung der Textformen zwang. Zum anderen bedingte die aufwendige archivalische Quellenforschung eine sukzessive Materialerweiterung, die zur inhaltlichen und formalen Heteronomie führte. Konsequent verfolgte Individualitätskonzeption, Quellenanreicherung und präsentatorische Probleme stehen in einem kausalen Zusammenhang: „Nur wer selbst Versuche gemacht hat, solche halbverschollene Künstlerexistenzen aus dem Schutt der Vergangenheit wieder auszugraben, kann ermessen, was für ein Gewebe von Studien gemacht sein muß, ehe diese wenigen Blätter geschrieben werden konnten." 74 Die von Justi bemühte Metapher des „Gewebes" verweist auf ein entscheidendes Merkmal der Textkonstitution: Die von Redundanzen nicht freie, zur Digression neigende und in den Überleitungen manchmal unstimmig wirkende Velazquez-Monographie ließ ihn am Ende resigniert feststellen, daß es „kaum ein Buch zu nennen [ist], sondern eine locker verbundene Reihe von kleinen Artikeln. Ich möchte diese im Inhaltsverzeichnis wie Baedeker mit * bezeichnen, d. h. die welche lesbar sind." 75 Darstellerisch ergab sich die Schwierigkeit, heterogenes Material und über einen großen Zeitraum entstandene Textbausteine zusammenzuführen, was zur Folge hatte, daß de facto die traditionellen, .„organischen' Prinzipien der Textorganisation" aufgehoben und zugunsten einer desintegrativen „Textur" ersetzt wurden, die ein „strukturgeleitetes Verstehen" im Sinne der hermeneutischen Zirkelbildung vom Einzelnen zum Ganzen behindert.76 Trotz einer auf den ersten Blick unstimmig wirkenden Darstellungskonzeption möchten nachfolgende Ausführungen nicht der Gleichsetzung von Relativismus und Historismus 77 das Wort reden und dadurch die These von einer Versatzstückästhetik oder Modernität von Justis Velazquez forcieren. 78 Ebenso sollen nicht ungeprüft Deutungsmuster übernommen werden, die Justis darstellerisches Konzept vorschnell als ästhetischen Traditionalismus abqualifizieren oder gar über eine Kongenialitätsthese mit den Forschungsgegenständen gleichsetzen. Den Biographen Winckelmanns, Velazquez' und Michelangelos, den inten73 Justi an Bode, Bonn 15.5.1887, SMB-ZA, Nl. Bode 2811. 74 Justi an Bode, Bonn 27.10.1882, ebd. 75 Justi an Charlotte Broicher, Bonn 11.3.1888, Staatsbibliothek Berlin, sog. „Nachlaß Karl Justi".
76 Baßler: Die Entdeckung der Textur, S. 147 und 13. 77 Vgl. Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. 78 Vgl. dazu Baßler et al.: Historismus und literarische Moderne.
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siven Beobachter Hieronymus Boschs, El Grecos und Murillos wahlweise als Platoniker, Klassizisten, Romantiker, Realisten, Schellingianer oder Hegelianer zu interpretieren, scheint angesichts der eigentlichen Problemstellung wenig attraktiv. Entscheidend für die Sicht auf Justi sollte vielmehr sein, daß in seinen Texten neben der historistischen Komponente Vernunft- und deduktionsskeptische Topoi und ein vermittelter Piatonismus zur Geltung kommen. Die Untersuchung vollzieht sich in fünf Schritten: Ein erster Analyseschritt zeichnet zunächst die vor-kunsthistorische Darstellungsauffassung Justis anhand seines ersten Hauptwerks Winckelmann, sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen nach (2.1.). Leitend ist die These, daß Justis erste Biographie von Argumentationsmustern beeinflußt wurde, die auf seine theologische Herkunft verweisen. Dem schließen Vorüberlegungen zum kunsthistorischen Darstellungsverständnis an, das um 1880 an Kontur gewinnt (2.2.). Auf diesen beiden Ausgangspunkten aufbauend, widmet sich das zweite Analysefeld der koordinierenden Textstruktur von Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Vor dem Hintergrund von Herman Grimms Vortrag Goethe im Dienste unserer Zeit ist hier die historiographische Reaktivierung eines Biographiemusters zu plausibilisieren, das in Goethes Sammelband Winkelmann und sein Jahrhundert Modellcharakter erhält. In einem weiteren Teilschritt (2.4.) widmet sich die Analyse den fiktionalen Passagen im Velazquez: Dabei ist nach der Funktion des von Justi fingierten .Briefs' und des Dialogs über die Malerei im Gesamttext zu fragen. Kapitel 3 soll die Beziehungen zur Kunstphilosophie Arthur Schopenhauers in Justis Werk offenlegen und den Nachweis führen, daß in dessen geschichtspessimistischer und anthropologischer Konzeption der systematische Ort begründet liegt, von dem aus sich nicht nur die von Justi an Velazquez konstatierte Genie- und Produktionsästhetik entfalten kann, sondern an der sich auch Teile der formalhistoriographischen Struktur und der Kunstbetrachtung orientieren. Ein weiteres Untersuchungsfeld widmet sich demjenigen Bereich, den Justi als die darstellerisch schwierigste und wichtigste Aufgabe erachtet hat: der Bildbeschreibung als solcher. Der abschließende letzte Teil (5.) behandelt mit den Strategien der Ironisierung eine weitere zentrale darstellerische Konzeption in Justis Historiographie.
2. Individualitätsgedanke
2.
und
Kunstgeschichte
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Individualitätsgedanke und Kunstgeschichte. Kontinuität und Wandel in Justis methodischer Auffassung
2.1. Invertierte Theologie. Der anthropologische Entwurf in Winckelmann
und seine
Zeitgenossen
Im August 1832, dem Geburtsmonat seines Enkels Carl, ersteigert Karl Wilhelm Justi Nicolas Dorignys berühmten Reproduktionsstich nach Raffaels Transfiguration. Nach dem Tod des Großvaters geht der Stich in den Besitz des Enkels über; im Februar 1855 gibt er den thematischen Anstoß zu Justis Probepredigt über die Verklärung Christi am Berg Tabor nach Matthäus 17, 1-9. 1 Acht Jahre später arbeitet der Privatdozent der Philosophie einen seiner ersten kunsthistorischen Vorträge aus, der sich Raffaels Transfiguration widmet und der nach weiteren sechs Jahren - dazwischen liegt der erste Italienaufenthalt, der mit der Besichtigung des Originals verbunden ist - als Broschüre erscheint. Auf diese Weise manifestiert sich in Dorignys Stich für Justi ein autobiographisches Verhältnis von Kontinuität und Ubergang: Familiäre Disposition, Theologie und Orientierung hin zur Kunstgeschichte verschmelzen zu einem Reflexionskontinuum. Der Vorbesitzer des Stichs, selbst angesehener Marburger Theologe und Herausgeber eines hessischen Künstlerlexikons, weckt beim Enkel das Interesse für Literatur und bildende Kunst; 2 auf das Priester-Examen, das Justi in der Predigt inhaltlich mit der frühen Kunsterfahrung verknüpft, folgt die Zuwendung zur Kunstphilosophie. Auf die Promotion über Piatons Ästhetik und den damit verbundenen Erwerb der venia legendi mit einem Vortrag zu Schopenhauer (1859/60) folgt wiederum das Projekt der Winckelmann-Biographie - in ihren Abfassungszeitraum fallen auch Vortrag und Broschüre über die Verklärung Christi. Der letzte Teilband des Winckelmann bildet den Schlußstein dieser „zwanzigjährigen theologisch-philosophischen Aera", was Justi symbolisch mit dem Verkauf der theologischen und philosophischen Bibliothek besiegelt. 3 Und doch bleiben Konstanten erkennbar: Enigmatisch gerinnt der Stich der Transfiguration zum Sinnbild des Ablösungsprozesses, indem er am Anfang und am Ende dieser Lebensphase steht; er deckt für Justi - und nur für Justi! - den eigenen Lebenswandel auf, der, wie 1 Siehe Justis Aufzeichnungen in der „Sammlung Raffael", Archiv der BBAW, NI. C. Justi 46. Das Predigtmanuskript ist dort beigefügt. 2 Zu Karl Wilhelm Justi vgl. Gabriele Dolff-Bonekämper: Die Entdeckung des Mittelalters. Studien zur Geschichte der Denkmalserfassung und des Denkmalschutzes in Hessen-Kassel bzw. Kurhessen im 18. und 19. Jahrhundert. Darmstadt, Marburg 1986 (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 61), S. 96-113. 3 „Es war im Jahr 1872 als sich mir unerwartet der Posten in Bonn aufthat, für den ich damals nur wenig vorbereitet war. Damals schloß ich für immer ab mit einer zwanzigjährigen theologisch-philosophischen Aera, wie der KaufMann im Evangelium verkaufte ich alles was ich hatte, u. a. meine Bibliothek, und das Sigel dieser Wendung war der letzte Band Winckelmann. Ich war so kühn als 40er ein neues Leben anzufangen." Justi an Bode, Badgastein 9.9.1904, SMB Kunstbibliothek Berlin, Nachlaß Bode, C 1/13.
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die zeitliche Koinzidenz von Erwerb des Stichs und der Geburt seines Nachbesitzers assoziieren läßt, von Beginn an vorbestimmt scheint. Das Beispiel zeigt, daß autobiographische Bezüge dem Leser von Justis Werken oft verborgen bleiben, aber dennoch für die Erklärung des Œuvre nicht unwichtig sind. Die Liste der Datenkonjunktionen und der damit verbundenen Selbstdeutungen ist bei Justi lang und ließe sich beliebig erweitern: Vor allem in der Person Winckelmanns spiegelt er seinen eigenen Lebensweg. In der Niederschrift der Winckelmann-Biographie vollzieht sich nicht nur, wie Ernst Osterkamp gezeigt hat, 4 die Ablösung von Theologie und Philosophie, den Lebensweg des Begründers der modernen Archäologie analogisiert Justi auch mit seiner eigenen Hinwendung zur Kunstgeschichte und letztendlich zur Spanienforschung. So sieht Justi am 8. Dezember 1867, 5 also an Winckelmanns 150. Geburtstag, erstmals das für ihn so entscheidende Porträt von Papst Innozenz X. in der Galería Doria, das seine Beschäftigung mit Velazquez ausgelöst haben soll. Eine weitere Koinzidenz zeigt sich für Justi nach dem Abschluß des Winckelmann: In der Vorrede zum zweiten Band der Velazquez-Monographie geht er auf den Tod des deutschen Kaisers Friedrich ein, dem er zuvor das Buch gewidmet hatte. Dem ehemaligen Winckelmann-Biographen muß dies fast zwangsläufig als „seltsame Fügung" (II, S. V) erscheinen: Ähnlich wie bei Winckelmann, der die Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) Kurfürst Friedrich Christian von Sachsen dediziert hatte, verstirbt der Monarch noch vor Vollendung des Drucks. Zufallsgläubigkeit und Datenfetischismus sind auch in anderer Weise bestimmend: In Justis Sammlung zu seinem 80. Geburtstag ist zwischen den Gratulationsbriefen die Zeitungsmeldung von Wilhelm von Bodes 40jährigem Dienstjubiläum an den Berliner Museen eingeklebt, das ebenfalls auf den 2. August 1912 fällt. 6 Zeitlebens bleiben für den Kunsthistoriker Justi die Fixierung auf Daten und die Ableitung aus zufälligen Analogien das zentrale Moment der Selbstdeutung - der ihnen beigemessene Erkenntniswert wird schon manifest in den penibel geführten Tagebuchtabellen, die kein Ereignis, keine Lektüre aus Justis Tagesablauf auslassen (vgl. Abb. 15). Der Zufall in seiner punktuellen Ereignishaftigkeit offenbart dem ehemaligen Theologen ein erkenntnisstiftendes Moment, in dem sich der deus absconditus dem eigenen Subjekt zeigt und ihm allein aus der persönlichen Lebenserfahrung verständlich wird. Ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu erlangen, offenbart sich in der Forschungstätigkeit der Lebenslauf als Mysterium. Die Prägung aus protestantischen Kontexten ist hier evident: Die Strukturmuster erinnern an die intuitionsbasierten Erweckungserlebnisse des Pietismus, nur scheinen sie angesichts des Bezugspunktes der Kunstgeschichte weitgehend säkularisiert. Anders formuliert: In Justis Abkehr von der Theologie wird der ursprünglich metaphysische Bezug zu einer allgemeinen Anthropologie transformiert, die die Grundlage für einen Struktur-
4 Osterkamp: ,„Vixi'. Spiegelungen v o n Carl Justis Italienerfahrung", passim. 5 Vgl. Justi an Sophie Sthamer, Bonn 3 . 2 . 1 8 8 3 , U L B Bonn, Hss.-Abt., Nl. Carl Justi S 1723 sowie die Chronik der Entstehung der Velazquez-Monographie (Dokument Β im Anhang). Zu Justis widersprüchlichen Angaben bezüglich des genauen Datums siehe auch Abschnitt 4.3 der vorliegenden Arbeit. Auf dem Totenbett soll Justi sein Sterbedatum, wieder ein 8. Dezember, mit einem befriedigten „Winckelmannstag!" quittiert haben. 6 „Sammlung 80. Geburtstag", Archiv der BBAW, Nl. Carl Justi 10.
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komplex von Forschung, persönlicher Erfahrung und Zufallsgläubigkeit bildet. In Justis Historiographie sind somit Aneignung des Historischen und Selbstdeutung eng aufeinander bezogen, ohne daß beide Komponenten zur inhaltlichen Deckung kommen - in dem Sinne etwa, daß Justi ein dogmatischer Anhänger von Winckelmanns Ästhetik wäre. Der Forschungsprozeß kommt vielmehr einer Selbstoffenbarung gleich, mittels der die historische Person Winckelmann zum Medium der Selbstreflexion wird. Winckelmann ist damit Exponent eines anthropologischen Entwurfs, der sich mittelbar im Forschenden spiegelt. Der eigenwillige Konnex von historischer Biographik und Selbsterfahrung bezieht seine Legitimation aus anthropologischen Überlegungen, die eng mit der theologischen Tradition des 19. Jahrhunderts verknüpft sind. Die Anthropologie Friedrich Schleiermachers - als System wenig originell, aber in der Breitenwirkung äußerst erfolgreich - gewährleistet hierbei ein erkenntnistheoretisches Modell, das sowohl die Sicht auf das zu historisierende Subjekt als auch die autobiographische Komponente des Forschenden einbezieht. Darauf, wie stark Schleiermachers Reden Über die Religion (1799) und die Schrift Monologen (1800) seine theologische Frühzeit geprägt haben, hat Justi mehrfach hingewiesen. Im Lebenslauf zum Priesterexamen von 1854 und in einem drei Jahre später verfaßten, das Dissertationsprojekt betreffenden Schreiben an Eduard Zeller hebt er die Bedeutung des dort explizierten Bildungskonzepts hervor. 7 Sieht man davon ab, daß solche Bekenntnisse aufgrund ihres amtlichen Charakters durchaus von strategischer Natur sein können, wird die Konzentration auf diesen Aspekt insofern plausibel, als Justis Argumente mit zeitgleichen Tendenzen der Marburger Universitätsphilosophie übereinstimmen, 8 die unter Berufung auf Kant und Schleiermacher eine Wende zur Erkenntnistheorie vollziehen. 9 So hebt Zeller 1859 hervor, daß von Schleiermachers philosophischen und theologischen Leistungen „die fruchtbarsten Keime" ausgegangen sind; obwohl „Eklektiker, wenn auch einer der geistreichsten und selbständigsten Eklektiker, die es gegeben hat", sei sein Werk von „epochemachender Bedeutung". 10 Dem individualethischen Ansatz der Monologen ähnelt auch das Argumentationsmuster, mit dem Justi 1862 seine eigene Abwendung von der Philosophie begründet: Von der Skepsis gegenüber „metaphysischen Theorien" und dem ,,Systemmachen[]" bleibe zwar die „Anfertigung einer Metaphysik zu meinem Privatbedürfnis" unberührt, „Einzelfächer von mehr stofflichem Interesse" wie die „Philosophie der Kunst" passten hingegen besser „zu meiner geistigen Konstitution wie zu meinen Antezedentien." 11 Justi schließt 7 „Die Lehre der Monologen regt an zu wahrer Selbsterkenntniss, sie erweckt unsre thätigen Kräfte [...]. Wer diesen tiefsinnigen Worten einmal mit der andächtigen Aufmerksamkeit des Schülers zugehört hat, den werden sie auch immer von Muthlosigkeit und Trägheit, von Weltschmerz, von eitlem Klagen über Vergangenes, von vergeblichem Sehnen nach dem fernen und zukünftigen befreien." Lebenslauf v. 20. Mai 1854 (Typoskript), S. 69 f, HSTA Marburg, Bst. 340 Justi Nr. 103. Ähnlich Justi an Eduard Zeller, 30.10.1857. masch. Abschrift, Ni. E. Jacobs, SB Berlin 40. 8 Zu diesem Kontext vgl. Sieg: Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. Speziell zu Justi als Professor für Philosophie zwischen 1867 und 1871: Ebd., S. 59-61 und 72-74. 9 Vgl. dazu Köhnke: „Uber den Ursprung des Wortes Erkenntnistheorie". 10 Zeller: „Friedrich Schleiermacher. Zum zwölften Februar", S. 179, 185, 180. 11 Justi an Hartwig, Marburg 29.8.1862, in: Justi/Hartwig: Briefwechsel 1858-1903, S. 114. Hartwig bezeichnet in seinem Antwortbrief Schleiermacher als „Führer der gesamten Theologie des 19. Jahrhunderts". An Justi, Messina 14.10.1862, in: Ebd., S. 118.
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hier an Schleiermachers Grundprämisse an, nach der dem religiösen Bewußtsein apriorisch konstruierte Systeme per se fremd sind und die sittliche Bestimmung des Menschen nicht in der Befolgung einer normativen Pflichtethik und „Systemsucht", 12 sondern in der Ausprägung seiner individuellen und natürlichen Disposition begründet liegt. Die Absage an das Systemmachen bedingt schließlich den im Winckelmann internalisierten anthropologischen Entwurf: Die dort zitierten philosophischen Topoi können zwar nicht Anspruch auf eine ausschließlich theologische Provenienz erheben, lassen aber vor der Folie der Monologen eine spezifische Sinnbildungsleistung erkennen. Zentraler Ausgangspunkt der Monologen ist die argumentative Verknüpfung von protestantischer Prädestinationslehre 13 und idealistischem Bildungsbegriff. Der Einzelmensch stellt demnach eine Entität für sich dar und ist deshalb zur Realisierung seines von ihm selbst intuitiv zu erfassenden Kerns verpflichtet. Das korrelative Moment zur Außenwelt besteht darin, daß das Individuum im Sinne von Leibniz' repraesentatio mundi als Mikrokosmos den Makrokosmos in modifizierter Form spiegelt. Schleiermacher greift zudem Spinozas Lehre von der Akkommodation des Individuums gegenüber dem Universum auf, indem er den Grundsatz aufstellt, „dass jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente". 14 Damit tritt der Einzelne in eine Wechselbeziehung zum Universum und modifiziert die von außen kommenden heteronomen Einflüsse nach seiner genuinen Anlage. Die äußeren Bezüge werden vom Inneren akkommodiert, indem die empirische Erscheinungswelt mit ihm abgeglichen und gesteigert wird. Aus der unüberschaubaren Menge der Daten sollen „Berührungspunkte" gewonnen werden „mit Allem was schon in mir war." 15 Je besser es dem Subjekt gelingt, die äußere Kontingenz nach seiner eigenen inneren Anlage zu verarbeiten, desto mehr kann es die Abhängigkeit von den äußeren Umständen überwinden. Schleiermacher ging es darum, faßt Eduard Zeller in seinem Aufsatz zusammen, daß „wir dem Beruf treu bleiben, den unsere Stellung im Weltganzen uns anweist; denn der Einzelne ist das, was er ist, immer nur dadurch, daß er an diesem Ort des Ganzen gestellt ist". 16 Ähnlich formuliert Justi, wenn es im Winckelmann heißt: „Eigentlich aber versteht es sich ja von selbst, daß das Universum mithelfen muß, damit auch der kleinste Theil seine Stelle einnehme und sich durch die Welt bringe." (W II/l, 5) Mit der Berufung auf das „Universum" greift Justi auf den Gedanken von der All-Einheitslehre zurück, der in den Reden Über die Religion von zentraler Bedeutung ist und auch an anderen Stellen der Winckelmann-Biographie zitiert wird: So besteht Winckelmanns Begabung vor allem in dem „festen Tact [...] für das ihm Wahlverwandte"; er rezipiert dasjenige aus seinem Umfeld, für das „er nach seiner Vis repraesentativa universi prädestinirt ist" (W I, 244). Mikro- und Makrokosmos, Individuum und Universum stehen in wechselseitiger Beziehung, ohne daß sich diese 12 Schleiermacher: Uber die Religion,
S. 64.
13 Zeller nennt in seinem Aufsatz den Vorbestimmungsglauben der reformierten Dogmatik, den herrnhutischen Glauben an die Vorsehung und Leibniz' prästabilierte Harmonie als maßgebliche Einflüsse. Zeller: „Friedrich Schleiermacher", S. 187. 14 Schleiermacher: Monologen,
S. 40 (zitiert wird nach den Seitenzahlen der Erstausgabe).
15 Ebd., S. 57. 16 Zeller: „Friedrich Schleiermacher", S. 190.
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Wechselseitigkeit für den Biographen näher spezifizieren ließe. Da die Individualität Winckelmanns zugleich Teil und Ausdruck des Universums ist, scheinen in seiner Person zwar die „wundersamen Beziehungen [...] zwischen dem innern Leben des Einzelnen [...] und dem großen Ganzen, in dem er ein Teil ist" evident zu werden; „dieser Zusammenhang" bleibt aber zugleich „in der Regel verborgen", da er sich dem Betrachter nur in ,,Fragmente[n]" und „Streiflichtern" offenbart, die „zufällig und deshalb wunderbar" sind (W 11/1,5). Die scheinbaren, der wissenschaftlichen Erkenntnis sich entziehenden Zufälle der empirischen Erscheinungswelt sind es somit, die zu einem Selbstausbildungsprozeß des Individuums beitragen. Das anthropologische Modell Schleiermachers sieht daher im Anschluß an Spinoza eine selbständige Akkommodation des Äußeren in einem natürlich angelegten Individuationsprinzip begründet und versteht letztlich die Willensfreiheit des Einzelnen als „das ursprüngliche, das erste und innerste" 17 . Auch an diese Vorstellung von der Entwicklung des Menschen „aus dem Innersten seiner Organisation" 18 knüpft Justi nahtlos an, wenn er von „inneren Organe[n]" spricht, die sich „geheimnißvoll" formen (W I I / l , 87), und davon, daß sich Winckelmann vom „Instinct einer sich selbst vertrauenden Natur" leiten ließ (W I, 448). Das „Göttliche" seiner Natur liegt deshalb in ihm selbst begründet, nämlich in der „ursprünglichefn] Organisation einer geistigen Monade", die „den höheren Geist einer Bestimmung entgegenfführt], von der er oft selbst nichts weiß" (W I, 446). Nicht zuletzt realisiert sich diese Selbstbestimmung dadurch, daß sich das Individuum seiner Freiheit bewußt wird: Was hilft die allgemeine Freiheit ohne die Freiheit des Ich, ohne das Recht (das wir uns vor allem selbst ertheilen müssen), frei von lästigem Sollen jeder Art, nach den Gesetzen zu leben, die aus unserer individuellen Natur fließen, die freilich für Niemand als für uns gültig sind, und die wir vielleicht Niemanden bewegen können anzuerkennen; - obwohl dafür auch Niemand uns zwingen kann, andere Gesetze anzuerkennen. W I, 224
In kritischer Wendung gegen eine allgemeine Pflichtethik (und damit gegen den Willen als objektives Vernunftprinzip, wie ihn Hegel versteht,) schließt Justi an Schleiermachers Grundlegung von der in der Willensfreiheit verankerten Moralität an, was zugleich mit dem Imperativ zur Selbstbildung einhergeht: Die im Individuum prädisponierte Substanz kann sich nur entfalten, wenn sie sich, frei von äußeren Zwängen, aus sich selbst heraus in einem permanenten und aktiven Prozeß entwickelt. Die Aufgabe des Menschen besteht laut Schleiermacher darin, seine im Milieu angelegte Determination zu durchbrechen, weshalb er einen Gegensatz von natürlich-freiem Willen auf der einen Seite und dem „Schicksal" der Umstände auf der anderen Seite statuiert: „Nie kann solchem Wollen sein Gegenstand entzogen werden," heißt es in den Monologen, „und es verschwindet beim Denken eines solchen Willens der Begrif des Schiksals." 19 An dieses Oppositionspaar knüpft Justi an, wenn er Winckelmanns Ingenium unabhängig von einer „Causalitätsgruppe" bestimmen will und die „Zufälligkeiten, auch Schicksal genannt, nur [als] das Material" deutet, „aus dem er sein
17 Schleiermacher: Monologen, S. 19. 18 Schleiermacher: Über die Religion, S. 139. 19 Schleiermacher: Monologen, S. 105.
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geistiges Sein aufbaut." Das „Naturell" Winckelmanns ist damit „Hauptsache" und das, „was er den Umständen zu verdanken schien", das „Werk seiner Wahl" und „Act der Selbstbestimmung" (WI, 446). Die Individualitätskonzeption der Monologen bleibt jedoch nicht bei der Wechselbeziehung zwischen Mikro- und Makrokosmos stehen; im Prozeß der entelechialen Selbstausbildung vollzieht sie sich vielmehr nach klar strukturierten Schritten. Im Leben Schleiermachers (1870) stellt Dilthey die These auf, daß die Einteilung der Monologen nach Lebensphasen eine hohe Affinität zum Bildungsroman aufweist und zudem als romanhaftes Surrogat von Schleiermachers eigenem Leben anzusehen sei.20 Justi, der Anfang 1869 während seines römischen Aufenthalts und der Vorarbeit zum zweiten Winckelmann-Bmd mit Dilthey zusammentraf,21 scheint zu einer ähnlichen Auffassung zu tendieren, wenn er die Bildungsphasen Winckelmanns einem Deutungsschema unterwirft, dessen argumentative Verknüpfung mit den Monologen übereinstimmt. Der erste Schritt zur Selbsterkenntnis ist nach Schleiermacher das passive Anschauen des Universums. Mit dem „Sinn und Geschmack fürs Unendliche" 22 erschließt sich jedes Individuum divinatorisch die Idee des Göttlichen, gefährdet sich aber zugleich, da die Erfahrung von totaler Kontingenz dazu verführen kann, den äußeren Umständen zu erliegen und seine Entscheidungen nach vermeintlichen Zwängen zu richten. Daher bleibt das Individuum in diesem Stadium einem unfreien und unvollendeten Zustand verhaftet: „Wer [...] nur äussere Erscheinung kennt und sieht [...] bleibt der Zeit und der Notwendigkeit ein Sklave, was er sinnt und denkt, trägt ihren Stempel, ist ihr Eigenthum." 23 Wie eng Justi an diese Voraussetzung anschließt, verdeutlicht sich an seiner Interpretation der Exzerpte im Pariser Winckelmann-Nachlaß:24 So ist bezeichnend, daß das Ergebnis von Justis Einsichtnahme „über alles Erwarten gering" ist,25 er aber seine Enttäuschung über fehlende Anknüpfungsmöglichkeiten in der Biographie ins Positive wendet: Indem Justi die detaillierten und umfassenden Exzerpte als zeittypische Zeugnisse des Enzyklopädismus der mittleren Aufklärung interpretiert, werden sie für ihn zum sichtbaren Ausdruck jenes Gefühlszustandes von erfahrender Weltallheit, der in den 20 Dilthey: Leben Schleiermachers, S. 460. In dieser Beziehung steht ebd., S. 299 die berühmte Stelle, die dem literaturwissenschaftlichen Begriff „Bildungsroman" zum Durchbruch verholfen hat: „Ich möchte die Romane, welche die Schule des Wilhelm Meister ausmachen [...], Bildungsromane nennen. Goethes Werk zeigt menschliche Ausbildung in verschiedenen Stufen, Gestalten, Lebensepochen." 21 Vgl. Justi an die Familie, Rom 16.1.1869, in: Briefe aus Italien, S. 257: „Er ist die erste Person, mit der ich wieder einmal Gespräche über philosophische und literarische Dinge habe pflegen können." Jahre später äußert sich Justi über Dilthey: „Mir ist er, wie ich Ihnen wol schon geschildert, aus Rom u Neapel als eine ungewöhnlich ausgiebige, belebende ja inspirierende, von Phantasie u Verstand, beides in eigenthümlicher Mischung, überquellende Persönlichkeit im Gedächtnis. Zu seinen Schriften habe ich nie eine Beziehung finden können." Justi an Charlotte Broicher, Bonn 3.2.1891, sog. „Nachlaß K. Justi", StB Berlin. 22 Schleiermacher: Uber die Religion, S. 53. 23 Vgl. Monologen, S. 12 f. 24 Zu diesem Problem aus moderner Perspektive vgl. grundlegend Décultot: „Theorie und Praxis der Nachahmung". 25 Justi an Hartwig, Marburg 18.5.1864, in: Justi/Hartwig: Briefwechsel 1858-1903, S. 136.
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Monologen und den Reden über die Religion als kritischer Moment der Individuation geschildert wird. Ahnlich Schleiermachers passivem Anschauen des Universums liefert sich Winckelmann als „Excerptor [...] ohne Plan und Ziel" einer absoluten Kontingenzerfahrung aus; er versenkt sich „in die unabsehbaren, wildverwachsenen Niederungen der Polymathie" (W I, 178) und in die „Welt" von Bayles Enzyklopädie (W I, 114). Doch trotz „aller Ziellosigkeit seiner gelehrten Irrfahrten" und „völliger Unkenntniß seiner eigentlichen Bestimmung" (W I, 244) liegt darin der Schlüssel zu Winckelmanns späterem Erfolg begründet: Dadurch, daß das „Spontane in ganz unverhältnißmäßigem Ubergewicht gegen das Receptive" überwiegt, gelingt es Winckelmann, „die Abhängigkeit [...] in Freiheit" zu verwandeln (W I, 446). Für das Erlangen der inneren Unabhängigkeit ist freilich erst eine Selbstläuterung notwendig. Folgt man dem anthropologischen Konzept der Monologen, so muß der für die Selbstausbildung notwendige, aber ambivalente Schwebezustand der passiven Anschauung dadurch überwunden werden, daß sich das Subjekt angesichts des Unendlichen seiner göttlich gesetzten Individualität bewußt wird. Die durch Erfahrung gesättigte genuine Eigenart soll sich in einem Akt der Selbstbeschränkung verfestigen und jede Abhängigkeit von außen ablegen. In diesem zentralen, alles entscheidenden Moment der Selbstdetermination liegt jede weitere innere Unabhängigkeit begründet. Als Erkenntnisakt führt er zu der eindeutigen Trennung zwischen innerer Bestimmung und äußeren Faktoren: Das Individuum weiß nun, „was Welt ist und was Mensch", und hat damit „das grosse Räthsel, wie beide zu scheiden sind", für sich selbst gelöst. 26 Hinter diesen erstbestimmenden Willen gibt es keinen Weg zurück: „Ein einziger freier Entschluss gehört dazu ein Mensch zu sein: wer den einmal gefasst, wirds immer bleiben". 27 Überraschend nahe an dieser Konzeption ist die Begründung, mit der Justi den entscheidenden Moment in Winckelmanns Entwicklung motiviert: Die in der Erzählregie zentrale Schlüsselstelle des ersten Bandes thematisiert nicht etwa Ereignisse wie den (institutionellen) Eintritt in die Gelehrtenwelt als Bibliothekar Bünaus, die Dresdner Frühschrift der Gedancken über die Nachahmung oder das Skandalon von Winckelmanns Konversion, sondern den aus dem autonomen Inneren gefaßten Entschluß: Winckelmann steht am „critischen Wendepunkt seines Lebens" in dem Augenblick, in dem er zwischen dem Plan für ein polyhistorisches Werk zur griechischen Kulturgeschichte und der Wendung zur Kunst abwägt. Diese Scheidewegsituation, in der sich Winckelmann „einen Augenblick lang etwas ganz Anderes für das Ziel genommen hat" (W I, 214), markiert zugleich die Gefährdung, durch selbstverschuldete Unkenntnis der Intuition den äußeren Umständen zu erliegen.28 Doch die Entscheidung gegen die Polymathie befreit Winckelmann aus einer „Verkettung von Umständen" (W I, 215), die sonst seine Tätigkeit zum Erliegen gebracht hätten. Die Scheidung zwischen individueller Prädestination und dem in den Umständen begründeten Polyhistorentum entspricht Schleiermachers Aufforderung nach einer Trennung zwischen Ich und Welt, auf der die „Achtung gegen
26 Schleiermacher: Monologen,
S. 15.
27 E b d . , S. 35. 28 So die Warnung bei Schleiermacher: ,,[S]orge dich selbst nicht zu verlieren, und weine, wenn du dahin treibst im S t r o m e der Zeit". Ebd., S. 29.
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mich und das Gefühl der Freiheit ruht". 29 In Justis Biographie führt dies zu einem Ergebnis, das den inneren Bildungsprozeß Winckelmanns weitgehend abschließt: „Er hatte sich selbst und die Einheit des Lebensziels gefunden." (W I, 445) 30 Das letzte Stadium in Schleiermachers Bildungsprogramm baut auf dieser Unrevidierbarkeit des erstbestimmenden Willens auf. In der freien und intuitionsbasierten Aktivität gelangt der Mensch nicht nur zu der in ihm prädisponierten schöpferischen Autonomie, er wird zugleich ein produktiver Teil der Menschheit in ihrer Gesamtheit, da er nun seine individuellen Anlagen im Rahmen einer „Gemeinschaft der Geister" 31 realisiert. Diese Forderung nach einer produktiven Zuwendung des Individuums zu einer ihm gleichwertigen Gemeinschaft erfüllt sich für Winckelmann in Italien: Die Begegnungen mit Mengs, Muzell-Stosch und Kardinal Albani, der Eintritt in die römische Konversation (W II/l, 32), werden zu Teilen einer „Spirale von Innen nach Außen" (W II/2, 407), in der die Rückwendung des Subjekts zur Außenwelt begründet liegt. Ahnlich wie Diltheys zeitgleiche Schleiermacher-Biographie entsteht Justis Winckelmann im Kontext einer um sich greifenden methodischen Verunsicherung, die sich nicht mehr an geschichtsphilosophische Systementwürfe gebunden sieht. Die Generationsgenossen und ehemaligen Theologen Dilthey und Justi suchen beide den Fluchtpunkt in der wissenschaftshistorischen Aufarbeitung und in den zentralen disziplingeschichtlichen Wendepunkten - in Winckelmann als erstem modernen Archäologen, 32 in Schleiermacher als Neubegründer der protestantischen Theologie. Die historiographische Nutzbarmachung der Schleiermacherschen Anthropologie führt zugleich den Anspruch einer kritischen Analyse mit sich, die dem Objektbereich biographischer Historie die Möglichkeit zur Gegenwartsund Selbstreflexion 33 zugesteht. Damit ist Historiographie zur Vollzugsform historischer Selbsterkenntnis und methodischer Verortung geworden, und zwar derart, daß sich die ursprüngliche Intention von Schleiermachers Monologen, nämlich die Anleitung zur Selbsterkenntnis und zur praktischen Umsetzung des erkannten Lebensentwurfs, auf die historische Forschung übertragen läßt. Biographisches Darstellen heißt hier, historische Objektivität und kritische Reflexion in Form eines erzählten Aneignungsprozesses transparent werden zu lassen. Wenn Justi zu Beginn von der „Abrechnung seiner [d. i. Winckelmanns] geistigen Hinterlassenschaft" (W 1/1,2) spricht und statt der Konjunktion „mit" eine ungewöhnliche Genitivkonstruktion verwendet, dann ist dies programmatisch zu sehen: „Abrechnung" bedeutet hier nicht explizite Verwerfung, sondern eine kontinuierliche Auseinandersetzung, in der sich der Nachvollzug der Geschichte im kritisch denkenden Forschersubjekt spiegelt. Gegenüber der realklassizistischen Auffassung Springers hat damit Justis Historiographie ihr selbstkritisches Potential zurückerobert - freilich um den Preis ihrer methodischen Stabilität. 29 Ebd., S. 61. 30 Vgl. auch: ,,[E]r hatte sich selbst gefunden, er hielt sich nun auch fest." (W II/l, 4) und eine Stelle in den Monologen, S. 110: „Bestimmt und klar seh ich den Inhalt meines Lebens vor mir." 31 Schleiermacher: Monologen, S. 17. 32 Vgl. Dilly: Kunstgeschichte als Institution, S. 22 f. 33 Zu den Anspielungen auf die aktuelle politische Entwicklung in Italien in der ersten Auflage des Winckelmann vgl. Osterkamp: ,,,Vixi'. Spiegelungen von Carl Justis Italienerfahrung", S. 257 ff.
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Justis historiographischer Darstellung ist auf diese Weise eine Reflexionsbewegung inhärent, die bei Relativierung des Vergangenen gleichzeitig dessen Anerkennung in sich birgt. Mit dieser epistemologischen Doppelbödigkeit wird, wie Michael Jaeger in Bezug auf Dilthey erkannt hat, Historiographie zum Mittel der Daseinssteigerung 34 und verliert zugleich ihren vitalistischen Unterton. Besonders verbürgt wird dieses Moment durch die Aufarbeitung der Wissenschaftsgeschichte in Form von Biographien, indem dort über den Umweg der Anthropologie historisch-immanente Abfolge und kritische Gegenwartsreflexion zusammenfallen. Justis Auseinandersetzung mit Winckelmann ist daher nicht einseitig das Dokument eines sich vom Theologen zum Kunsthistoriker wandelnden Wissenschaftlers, sie birgt zugleich eine eminente Kritik an der klassizistischen Ästhetik in sich. 35 Inhaltliche Kritik und anthropologische Affirmation bilden daher zwei Seiten einer Medaille: Die im Nachvollzug der Historie gegebene Horizonterweiterung subsumiert die geistige Kontinuität und den Wandel des Verfassers als historiographischen Erfahrungszusammenhang. Deutlich wird diese Strategie an dem Nachfolgeprojekt: Wenn gleich zu Beginn der Velazquez-Monographie das Diktum des Erzklassizisten Anton Raphael Mengs zitiert wird, der Spanier repräsentiere das ,,beste[] Muster des natürlichen Stils" (I, 3), überspielt Justi nicht allein einen thematischen Bruch zwischen beiden Biographien und stellt eine Werkkontinuität zur Winckelmann-Biographie her. Mit dem Zitieren von Mengs' Anerkennung geht Justi zugleich auf Distanz zur klassizistischen Ästhetik, indem er seine eigene Forschungskontinuität in der zu Velazquez gegensätzlichen Gestalt des klassizistischen Eklektikers spiegelt: Mengs sah sich demnach „nicht ohne Aufregung [...] Einem gegenüber, der von allen die ihm bisher vorgekommen, ihm selbst am unähnlichsten war." (I, 3) Zugleich aber wirkt das anthropologische Strukturmodell im Velazquez fort: Wenn es dort heißt, der Künstler sei „überhaupt ein Mann der nicht wünscht, sondern will" (I, 251), lehnt sich Justi ebenso deutlich an Schleiermacher an, für den bloßes Wunschdenken einer Kapitulation vor der Kontingenz gleichkommt. 36 Im Rahmen der Schleiermacherschen Anthropologie, ihres pantheistischen Bildungsmodells und ihrer gegenwartsbezogenen Reaktivierung wird deshalb deutlich, wie stark Justis Auffassungen vom biographischen Subjekt und von historischer Reflexion in einem protestantischen Traditionszusammenhang stehen. Dennoch handelt es sich im "Winckelmann nicht um die bloße Adaption eines theologischen Modells: 3 7 Die Erzählung ist vielmehr Ausdruck einer Systemtransformation, in der durch das Zitieren bestimmter Denkfiguren zugleich deren alter Wahrheitsanspruch exekutiert wird. So heißt es in bezug auf diese Kon34 Jaeger: Autobiographie und Geschichte, S. 51 ff. 35 So ist man Justis kritisch-räsonierendem Unterton bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein mit Befremden begegnet. Vgl. die gegen Justi gerichtete Streitschrift von Heinrich Fischer: Lessings Laokoon und die Gesetze der bildenden Kunst. Berlin 1887; Baumecker: Winckelmann in seinen Dresdner Schriften, S. 1 - 8 , 1 5 3 - 1 5 8 (S. 157: bemängelt die „laxen Kritiken" im Winckelmann). 36 „O freilich, wenn Entschlüsse nur Wünsche sind, so ist der Mensch des Zufalls Spiel!" Schleiermacher: Monologen, S. 100. 37 In seinem Lebenslauf hebt Justi hervor, daß er durch die Monologen zur Lektüre Spinozas (S. 83) und Goethes (S. 69) angeregt wurde, der ihm zuvor als „gewissensloser Epikuräer" erschien (S. 32). Schleiermacher bildet somit den Ausgangspunkt und Schlüssel für Justis Auseinandersetzung mit Goethe. Lebenslauf v. 20. Mai 1854 (Typoskript), HSTA Marburg, Bst. 340 Justi Nr. 103.
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zeption, daß „emeritirte Wahrheiten" „auch für uns noch einen Sinn behalten" können „als dichterische Bezeichnung unserer bescheideneren Ansichten vom Leben" (W II/2, 5). Den im Winckelmann eingestreuten Philosophemen kommt die Aufgabe einer erzähltechnischen Gelenkfunktion zu, die, herabgesunken zum bloßen Zeichen, Teil einer textimmanenten Sinnstiftung werden. Bezeichnend sind deshalb die Schlußsätze, mit denen Justi die Biographien zu Winckelmann und Velazquez unterschiedlich akzentuiert: So lebt Winckelmann fort „in Gott, dem Urquell des Schönen, dessen Abglanz er hier gesucht und geahnt hat" (W II/2, 440). Im Velazquez taucht der Gottesbezug nicht mehr auf, indem dort der biographische Topos vom Fortleben des Lebenswerks im Diesseits 38 bemüht wird: In Velazquez' Werken ist „ein unvergängliches Licht festgebannt", das „wie ein Strahl schon erloschener Sonnen durch die Nacht des Weltraums in unser Auge dringt." (II, 394) An die Stelle einer nicht näher definierten Gottesvorstellung ist die bildende Kunst als religiöses Surrogat getreten.
2.2. Vom „Dolmetsch der Kunst". Die Glosse Kunstgeschichte der Zukunft (1881) im Kontext des Morelli-Streits Es ist schon jetzt absehbar, daß die individualethisch fundierte Substanzlehre von der selbstbestimmten Herausführung aus der Kontingenz einen maßgeblichen Leitsatz bildet, durch den Justi sein kunsthistorisches Programm gegen die Argumente der Einfluß- und Kontextforschung immunisieren konnte. Denn mit der Berufung auf den Bonner Lehrstuhl 1872 und der thematischen Konzentration auf die Kunstgeschichte Spaniens scheint zwar der Umbruch vom Philosophen zum Kunsthistoriker vollzogen; der methodische Kern bleibt jedoch von Prämissen bestimmt, die vom individuellen Eigenwert historischer Erscheinungen ausgehen. Diesen Standpunkt hat Justi in ausgesprochen polemischer, fast schon banalisierter Form vor dem Hintergrund einer kunstwissenschaftlichen Kontroverse um 1880 bekräftigt. Die durch die kennerschaftlichen Forschungen Giovanni Morellis ausgelöste Debatte stellte die Frage nach dem Verhältnis zwischen äußerem Einfluß und künstlerischer Veranlagung mit einer Vehemenz, die die deutschen Kunsthistoriker in zwei Lager spalten sollte. Bekanntlich ging Morellis „Indizienparadigma", 39 mit dem Zuschreibungen anhand der spezifischen Formung des Faltenwurfs, der Hände oder der Ohren vorgenommen werden sollten, von Details aus, welche vom Künstler vernachlässigt und deshalb als .sicheres' individuelles Merkmal der Faktur gedeutet wurden. In scharfer Wendung gegen Crowe und Cavalcasele, die jedes Werk als Summe vorausgegangener Einflüsse verstünden, stellte Morelli mit seinem vergleichsbasierten und angeblich exakteren Verfahren den Künstler als autonom schöpferisches Subjekt in den Mittelpunkt: „Das, was in einem Kunstwerke uns vor allem interessirt und packt, ist schliesslich der Mensch selbst, der darin 38 „Alles, was wir an Agricola geliebt, was wir an ihm bewundert haben, bleibt und wird bleiben in den Herzen der Menschen auf ewige Zeit, durch den Ruhm seiner Taten. Denn viele Gestalten der Vergangenheit wird das Vergessen verschütten, als seien sie ihm nicht berühmt und bekannt gewesen." Tacitus: Agricola, S. 77 (Kap. 46). 39 Vgl. hierzu Ginzburg: „Spurensicherung", S. 63.
2. Individualitätsgedanke
und
Kunstgeschichte
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steckt." 40 Selbst jede Kopie, die der Schüler an den Werken des Meisters vornimmt, erweist sich dabei als Manifestation der künstlerischen Eigenständigkeit. So ist für Morelli die Zuschreibung eines Blattes in Lille als Kopie Raffaels nach einem Blatt Peruginos das Indiz für die frühe Autonomie des Künstlers: ,,[D]iese flüchtige Nachbildung des jungen Raffael bekundet auf eine schlagende Weise die volle Selbständigkeit und Superiorität, die er schon zu jener Zeit seinem ehemaligen Meister gegenüber sich erworben hatte." Die Kopie nach Perugino offenbare nämlich „die sinnvollen Modificationen, die der junge Raffael in dem Originale seines Meisters einzuführen für gut erachtete". 41 Nicht zuletzt beruhte Morellis Erfolg auf dem polemischen Grundgestus seiner Argumentation.42 Mit dem Pseudonym Ivan Lermolieff und der damit verbundenen Fiktion eines russischen Autodidakten trugen Morellis Schriften nicht nur selbstparodistische Züge, die inszenierte Außenseiterrolle bewirkte auch, daß sich der Angriff auf die „beiden berühmten Kunstkritiker" Crowe und Cavalcaseli 4 3 um so wirksamer arrangieren ließ. So ging Morelli im Vorwort zu Die Werke italienischer Meister auf die Forschungen seiner Vorgänger ein, deren „wohlverdienten Ruhm" 44 er nicht schmälern wolle, doch schaltete er der Demutsbezeugung den Bericht über ein Gespräch mit zwei kunsthistorisch ambitionierten Dilettanten vor, von denen der eine als Journalist ohne Aufgabenbereich, der andere als gescheiterter „Zimmermaler" apostrophiert wurde.45 Diese in der Russen-Fiktion gespiegelte Karikatur des wissenschaftlichen Gegners war es somit auch, die zu dem immensen Erfolg von Morellis Schriften und zu einer Polarisierung in der Wissenschaftslandschaft beitrug, die sich auf die Verteidiger der Kontext- und Einflußforschung einerseits und die Befürworter einer von externen Faktoren gereinigten schöpferischen Individualität andererseits aufteilte. In nuce wird diese Konstellation an den Positionen Wilhelm von Bodes und Justis erkennbar: Bode, verärgert über die von Morelli vorgenommenen Abschreibungen der Raffael-Handzeichnungen im Berliner Besitz, 46 schreibt an Justi: „Morellis Buch habe ich mit gleichem Interesse, wie Sie, gelesen, aber kann dasselbe nicht so unbedingt loben, wie Sie es thun. Zunächst ist die Art, wie er gegen CuC. polemisirt, geradezu unanständig (z.B. die Anspielungen im Vorwort) um so mehr, da Morelli durch dieses Buch wie wir Alle - unendlich viel gelernt hat, wenn er es sich auch jetzt nicht mehr gesteht. Die Schwäche des Buches - von der Unsicherheit der Benennungen, die ,Beeinflussungstheorie' usw. - tadelt er mit Recht", doch wirken, wie Bode fortfährt, das inszenierte Lagerdenken und die „.Methode', in erster Linie aus Nebensachen zu urtheilen", geradezu „lächerlich". 47 Genau dies aber, die Abneigung gegen Einflußdenken und eine Einheit von Künstler und 40 Lermolieff [d. i. Morelli]: Die Werke italienischer Meister, S. V. 41 Ebd., S. 376. 42 Ich folge hierin Jürgen Stenzel: „Rhetorischer Manichäismus. Vorschläge zu einer Theorie der Polemik". 43 Lermolieff [d. i. Morelli]: Die Werke italienischer Meister, S. IX. 44 Ebd. 45 Ebd., S. VI f. Dies entspricht dem arbeitsteiligen Konzept des Duos: Cavalcaselles Aufgabe bestand v. a. im Zeichnen von Kunstwerken, während Crowe die schriftliche Ausarbeitung übernahm. 46 Vgl. die daran anschließende Kontroverse: Lippmann: „Raffael's Entwurf zur Madonna del Duca di Terranuova und zur Madonna Staffa-Connestabile"; Morelli: „Perugino oder Raphael?". 47 Bode an Justi, Berlin, 19.11.1880, U L B Bonn, Hss.-Abt., Nl. Carl Justi S 1702.
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III. Der „Dolmetsch der Kunst"
Werk ist der Grund, weshalb Justi trotz aller Distanz in Einzelfragen mit Morelli sympathisiert: „Morelli mißfällt die Jagd nach .Einflüssen', die Manier, bei allem an alles .erinnert' zu werden". 4 8 Ein zentraler Punkt der Kontroverse betrifft die Bewertung von Raffaels Frühwerk und insbesondere die Frage, inwieweit dieser einen Anteil an den von Pinturicchio ausgeführten Fresken in der Dombibliothek von Siena hatte. Aufgrund einer N o t i z bei Vasari, die Pinturicchio Gewinnsucht und fehlende Begabung unterstellt, war die ältere Kunstliteratur davon ausgegangen, daß die in Florenz aufbewahrten Entwürfe von Raffael stammen und Pinturicchio nur die Ausführung des Zyklus übernommen hatte. Morelli macht dagegen wie vor ihm schon andere Kunsthistoriker 4 9 - geltend, daß Vasaris Verweis auf Pinturicchios „Gewinnsucht" und der daraus resultierende Plagiatsvorwurf keine plausiblen Argumente für eine Zuschreibung an Raffael sind. Vasari behandle den Pinturicchio mit der schreiendsten Ungerechtigkeit und Parteilichkeit. [...] Zu seinen Fresken in der Libreria des Domes von Siena läßt er sodann den fünfzigjährigen, erprobten Meister Pinturicchio sich vom zwanzigjährigen Raffael die Skizzen und sogar die Cartons machen u. s.w. (Vasari V, 265). Dieses herbe Urtheil des Aretiners wird nun während mehr als drei Jahrhunderten von der langen, immer anwachsenden und unabsehbaren Procession der Kunstforscher litaneimäßig wiederholt. Ich will damit den Pinturicchio keineswegs in Allem freisprechen; ich weiß gar wohl, daß die Gewinnsucht auch ihn manchmal liederlich und gewissenlos machte, allein war dies nicht auch bei Pietro Perugino und bei andern berühmten Malern der Fall? 50 Morellis Rehabilitierung Pinturicchios pocht damit auf die Schaffensautonomie des Künstlers gegenüber der Anekdotik Vasaris, die mittels des inkriminierenden Habsuchts-Topos versucht, Pinturicchios kunstgeschichtliche Bedeutung zu schmälern. 5 1 Sein Argument für die Zuweisung der Kartons an Pinturicchio ist einfach und von rein formanalytischen Kriterien geleitet: D a sie stilistisch noch zu stark v o m Quattrocento geprägt sind, können sie nicht von Raffael stammen. Indem Morelli eine hohe stilistischen Divergenz zwischen Raffael und Pinturicchio konstatiert, wird zugleich der junge Raffael v o m Determinismus der umbrischen Schule befreit. 5 2 Die natürliche Anlage seiner Begabung offenbart eine unabhängige, aus sich selbst heraus erzeugte künstlerische Entwicklung. 48 Justi an Hartwig, Bonn 10.2.1890, in: Justi/Hartwig: Briefwechsel 1858-1903, S. 319. 49 Vgl. Passavant: Rafael, I, 72; Waagen (Dt. Kunstblatt 2 /1851, S. 159); Burckhardt: Cicerone, 3, S. 98 [839]. Nachweise zitiert nach dem Kommentar ebd., S. 355.
JBW
50 Lermolieff [d.i. Morelli]: Die "Werke italienischer Meister, S. 308 f. 51 Habsucht und Neid Pinturicchios kulminieren in der Anekdote von dessen Tod: Während einer Auftragsarbeit im Kloster entdecken die Mönche eine Truhe voller Dukaten: ,,[E]r beneidete das Glück der armen Mönche so heftig, [...] daß er an sonst nichts mehr dachte und aus Verdruß endlich starb." Vasari/Schorn: Lehen der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister bis zum Jahre 1567 II/2, S. 329. Vgl. auch Vasaris Urteil über Agnolo Gaddi, der neben der Kunst Handel treibt: „Begier nach Geld versperrt vielen Geistern den Weg, die ein hohes Ziel erreichen würden, wenn nicht Trachten nach Gewinn in den ersten und besten Jahren ihr Fortschreiten hinderte." (ebd. I., S. 330). 52 Wilhelm Lübke weist darauf hin, daß die ältere Raffael-Forschung noch von einem „nazarenische[n] Liebeshauch" erfüllt war, so daß Werke der umbrischen Schule als diejenigen Raffaels angesehen wurden. Lübke: Rez. zu Morelli: Werke italienischer Meister, in: Zeitschrift für bildende Kunst 16 (1881), S. 121-126, S. 125.
2. Individualitätsgedanke
und Kunstgeschichte
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Der Streit um die künstlerischen Befähigungen Pinturicchios spitzt sich zu, als August Schmarsow im selben Jahr eine Untersuchung zu den Fresken in der Dombibliothek publiziert, die zu einer konträren Bewertung kommt. Sie folgt insofern der älteren Tradition, als sie im Rückgriff auf Vasari Raffael zum Schöpfer der Kartons bestimmt. Die Vorgehensweise, die im 20. Jahrhundert durch eine Studie Panofskys weitgehend bestätigt werden sollte, 53 beruht auf der Kombination aus Formanalyse, Ikonographie und Textkritik: Schmarsow geht von der literarischen Vorlage des ikonographischen Programms aus, das auf den Entwürfen noch klar erkennbar ist, aber auf dem Fresko im ikonographischen Detail und in den Beschriftungen entschieden abweicht. Die ikonographischen Ubertragungsfehler sind damit entscheidende Indizien für eine Auseinanderdividierung der Künstleridentität; Entwurf und Ausführung teilen sich auf einen wissend zeichnenden und einen unwissend ausführenden Künstler auf, was letztlich dazu führt, daß die qualitativ hochstehenden Entwürfe dem Urbinaten zugeschlagen werden. Es ist übrigens bezeichend, daß ausgerechnet Springer dieser These vehement widerspricht: 5 4 Dessen methodisches System hatte ja Form und Ikonographie in ein asymmetrisches Verhältnis zueinander gesetzt, wonach die formale Ausführung des Künstlers immer auch eine Emanzipation von inhaltlichen Determinanten bedeutete, wobei sich im Schaffensprozeß stets die naive Grunddisposition durchzusetzen hatte. Entscheidender aber ist folgendes: Obwohl Schmarsow belegen will, daß Raffael ein „unvergleichlich reicherer Künstlergenius war", 5 5 begreift er im Gegensatz zu Morelli die Künstlerentwicklung nicht als Ausbildung schon vorhandener Anlagen, sondern konstruiert das Frühwerk als exogen-teleologisches Modell, bei dem die äußeren Faktoren wie der umbrische Einfluß zum entscheidenden Entwicklungsmoment für die künstlerische Begabung werden: ,,[E]s kommt nur darauf an," heißt es an anderer Stelle, „nicht blos Namen aufzuzählen, sondern eine Charakteristik dieser Erscheinungen als lebendigen Factor in die Jugendzeit Raphaels einzuführen." 5 6 In einem weiteren Aufsatz schreibt er auch das umstrittene venezianische Skizzenbuch Raffael zu, das ebenfalls die biographische Grauzone von Raffaels Jugend neu mit Leben erfüllen soll: „Unmittelbarer als irgendwo begegnen wir dem heranwachsenden Knaben hier, wo er auf Spaziergängen um Urbino, auf weiteren Ausflügen in die Gebirgsthäler ringsum das neue Taccuino an der Seite führt." 5 7 Damit repräsentieren die Raffael-Forschungen Schmarsows und Morellis zwei divergente Modelle des künstlerbiographischen Vorverständnisses: Ein kontextualistisch-teleologisches, das in Anschluß an Crowe und C a v a l c a s e l i die künstlerische Individuation im Rahmen des Zeitstils deutet, und ein exklusiv-entelechiales, das vor allem daran interessiert ist, die künstlerische Persönlichkeit vor der Dominanz seiner Umwelt zu verteidigen und
53 Panofsky: „Raffael und die Fresken in der Dombibliothek zu Siena" (1915), in: Ders.: Deutschsprachige Aufsätze II, S. 779-804. 54 Vgl. Springer: „Raphael's Jugendentwicklung und die neue Raphaellitteratur", in: Repertorium für Kunstwissenschaft 4 (1881), S. 3 7 0 - 4 0 0 , S. 396 ff. 55 Schmarsow: Raphael und Pinturicchio in Siena, S. 19. 56 Schmarsow: „Raphael's Skizzenbuch in Venedig", in: Preußische Jahrbücher 48 (1881), S. 122-149, S. 134. 57 Ebd., S. 133.
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III. Der „Dolmetsch
der Kunst"
schon die ersten künstlerischen Versuche als unbewußte, aber einzigartige Akte der Selbstbehauptung zu werten. Während Schmarsow mit seinen Zuschreibungen an Raffael den Formenkanon des Jugendwerks tendenziell ausweitet und damit einen amalgamierenden Bildungsweg rekonstruiert, der diverse Einflüsse verarbeitet, sucht sich Morelli dem künstlerischen Individuum, das sich von früh auf im Schaffensprozeß manifestiert, zu nähern. Sein Zuschreibungsverfahren orientiert sich an den formalen Differenzen zwischen den einzelnen Künstlern und konstruiert in sich abgeschlossene Werkgruppen. Beide Alternativen erscheinen in sich plausibel, aber sind mit entsprechenden Leerstellen behaftet: Das kontextualistische Modell Schmarsows gibt willig Pinturicchios künstlerische Eigenständigkeit auf und ordnet den jungen Raffael uneingeschränkt dem Quattrocento-Stil der umbrischen Schule zu. Ferner rekurriert er unkritisch auf den Habsuchts-Topos Vasaris: In seinen zwischen 1880 und 1882 erschienenen Studien zieht sich das Vorurteil gegen den „gewiegten Unternehmer" 5 8 Pinturicchio, der angeblich seine fehlende Begabung durch die Anregungen Peruginos und Raffaels höchst eigennützig zu kompensieren weiß, kontinuierlich durch. Anders Morelli: Sein methodischer Schwachpunkt besteht nicht nur in einer ungenügenden Berücksichtigung der Quellen, 59 sondern vor allem in dem homogenisierten Verständnis von Individuum und Werk, das die Bedeutung der äußeren Faktoren möglichst zu umgehen sucht und damit den Künstler aus seinem kunsthistorischen Kontext zu isolieren droht. Vor dem Hintergrund dieser polemisch geführten Debatte ist bezeichnend, wann und auf welche Weise sich Justi einschaltet: Er sieht sich offensichtlich erst zu einer Stellungnahme gezwungen, als Schmarsow auf seine Monographie zu den Libreria-Fresken weitere Aufsätze zum Verhältnis zwischen Pinturicchio und dem jungen Raffael folgen läßt. 60 Der Grund, weshalb er sich so spät und anonym äußert, ist nicht ohne Brisanz: Ziert doch die erste Seite von Schmarsows umstrittenem Buch eine Zueignung an Justi, die „in dankbarer Verehrung" 61 an die erhaltene Förderung erinnern soll. Es ist anzunehmen, daß diese Widmung vor dem Hintergrund des schwelenden Methodenstreits nicht unbedingt auf die Gegenliebe des Adressaten gestoßen ist, da hier sein Name mit einer Arbeit verbunden wird, die durch eine dominante Einfluß-Argumentation gekennzeichnet ist. Als aber Schmarsows Aufsatz über Groteskendekorationen erscheint (1881), gibt es für Justi offen58 Schmarsow in: Jahn (Hg.): Die Kunstwissenschaft
der Gegenwart
in Selbstdarstellungen,
S. 140.
59 Vgl. dazu Bickendorf: „Die Tradition der Kennerschaft: Von Lanzi über Rumohr und Waagen zu Morelli", in: Agosti et al. (Hg.): Giovanni
Morelli e la cultura dei conoscitori, I, S. 2 5 - 4 7 , und wei-
tere Beiträge im selben Band. 60 Wie eng Justi den Schulterschluß mit Morelli sucht, zeigt schon die rückblickende Bewertung der Glosse: Als er von einer Entgegnung Morellis auf seine Kritiker erfährt, sieht er darin den eigenen Standpunkt bestätigt: „Nun thut es mir leid, daß ich schon voran gegangen bin: indeß, Du siehst daran, daß der Gegenstand zur Satire aufforderte." A n die Mutter und Schwester, Madrid 1 6 . 1 1 . 1881, in: Justi: Spanische Reisebriefe,
S. 163; Morelli an Richter, Mailand 5 . 5 . 1 8 8 3 , in: Bw. Morelli/
Richter, S. 256: „Der Aufsatz Kunstgeschichte der Zukunft' von Professor Justi hat mich ungemein ergötzt - es ist feine Ware." Vgl. auch Johann Georg Dreydorff an Justi, Leipzig, 2 9 . 1 1 . 1 8 8 1 , U L B Bonn, Hss.-Abt., Nl. Carl Justi, S 1703,2: „Springer hat sich über den Artikel königlich amüsiert; auch auf den Verfasser gerathen . . . " 61 Schmarsow: Raphael und Pinturicchio
in Siena, unpag. Deckblatt.
2. Individualitätsgedanke
und
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Kunstgeschichte
bar kein Halten mehr: Schmarsow degradiert dort ein Retabel Pinturicchios zu einer Gemeinschaftsarbeit mit Perugino. Ein deutliches Abrückungssignal scheint durch eine Replik geboten. Justi sucht dabei den Schutz in der Anonymität und nur wenige Vertraute wie B o d e 6 2 werden über die Verfasserschaft aufgeklärt. Der Stein des Anstoßes ist ein harmloser Satz über Peruginos A^iràzZà-Retabel in der Villa Albani, der sich wie ein „Fliegenstich" „entzündet" hat: „Ich halte diese Arbeit", schreibt Schmarsow, „für eines jener C o m pagniegeschäfte des Perugino und Pinturicchio, von denen Vasari erzählt". 6 3 Der stilistische Verstoß, der einen Begriff aus der Geschäftswelt auf die Kunst überträgt, kommt Justi einem Sakrileg gleich. Denn in Anbetracht von Schmarsows These von der Gemeinschaftsarbeit erscheint die Autonomie des geliebten Werks nicht nur gefährdet, sondern auch die unreflektierte Verwendung des profanen Begriffs „Compagniegeschäfte" offenbart für ihn ein Denken, das das künstlerische Subjekt auf eine ökonomische Komponente reduziert: Stiefel und Cigarren wird Jedermann unbedenklich von den Herren der Compagniegeschäfte beziehen; aber nur ein Tropf wird an Gemälde, die Geisteswerke sein sollten und Compagniegeschäfte sind, eine Minute verlieren. [ . . . ] Wozu also in einem zweifelhaft civilisirten Lande uncomfortable Touren machen [...]: um solcher Propheten willen, die doch bei Licht besehen nichts als Speculanten waren? 6 4
In Rückgriff auf Kants Unterscheidung von handwerklicher „Lohnkunst" und der „freien" Kunst als interesselose Tätigkeit des autonomen Künstlers 6 5 verteidigt Justi letztere gegen das Einflußdenken und gegen (prä)soziologische Analysen: „Geschäft und Kunst finden sich zwar oft in derselben Person beisammen, sind und bleiben aber doch Sachen, die man wohlthut, mit jedem Tacte auseinander zu haken, den man von Jemand, der sich zum Dolmetsch so delicater Dinge wie die Kunst ist, erkühnt, das Recht hat zu verlangen." 6 6 Im folgenden vermeidet Justi die offene Parteinahme für Morelli und beschränkt seine Kritik auf den darstellerischen Aspekt. Die Tradition der Kunstschriftstellersatire fortführend, 6 7 konzentriert er sich auf die Kritik einer banalisierten (Wissenschafts)sprache nach dem Muster von Schopenhauers Polemiken gegen ,Sprachverhunzung' 6 8 . Es gilt nämlich, einen „wahrhaft Schopenhauerschen Vorsatz von Galle [ . . . ] gegen die ,Kunstschrei-
62 Justi an Bode, Marburg 6 . 8 . 1 8 8 1 , S M B - Z A , Nl. Bode 2811: „ich bitte Sie, da Sie meine Hand (nach meinem letzten Brief) gleich erkennen werden, mich gegen Niemanden zu verrathen. Gemeint ist es äußerst harmlos, aber Difficile est satiram non
scribere."
63 L . T . [d.i. Carl Justi]: „Die Kunstgeschichte der Zukunft", S. 324. Zitiert aus Schmarsows Aufsatz: „Der Eintritt der Grotesken in die Dekoration der italienischen Renaissance", S. 138. Pikantes Detail ist, daß Justi seine Polemik gerade Bode ankündigt, der als Herausgeber des Jahrbuchs für die Redaktion von Schmarsows Aufsatz mitverantwortlich war. 64 [Justi:] „Die Kunstgeschichte der Zukunft", S. 326. 65 Kant: Kritik der Urteilskraft,
§ 43, Β 176 sowie § 46, Β 1 8 1 - 1 8 3 .
66 [Justi:] „Die Kunstgeschichte der Zukunft", S. 329. 67 Z . B . die Sammlung gängiger Kunstkritikerphrasen von Johann Hermann Detmold: Anleitung Kunstkennerschaft
zur
(1834). Die Abhandlung hält den satirischen Ton nicht immer durch und neigt
zu kunsttheoretischen Exkursen, die an der Kritik der Urteilskraft zitiert (II, 273). 68 Schopenhauer: „Ueber Schriftstellerei und Stil", § 281, SW 5, S. 600.
geschult sind. Im
Velazquez
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III. Der „Dolmetsch der Kunst"
ber'" anzusammeln,69 um dem kunsthistorischen Sprachvandalismus entgegenzutreten. Justis Ausführungen entwickeln sich dadurch zu einer Generalabrechnung, wobei, parallel zur Etablierung von Morellis Induktionsmodell, vor allem das ältere kennerschaftliche Verfahren, Werke nach einem intuitiv erfaßten Totaleindruck zu beschreiben, an methodischer und sprachlicher Evidenzkraft verliert: Als Beispiel dienen die Bildkommentare im Handbuch der Geschichte der Malerei (1862) des ,,europaberühmte[n] Universalgemäldekenner[s]" Waagen:70 ,,[I]n dem Abschnitte von den Holländern des Zeitraumes 1600-1690" benutze Waagen auf 76 Seiten „das Prädikat Klarheit 177 mal, Wärme 145 mal [...], geistreich 39 mal, Goldton 32 mal, und merkwürdiger Weise fleißig nur 31 mal, vielleicht weil sich bei Holländern das von selbst versteht." 71 Waagens Vorliebe, wertende Attribute wie „geistreich" und „meisterhaft" mit wirkungsästhetischen („glänzend") und technischen („fleißig impastirt") Epitheta in einer virtuosen Kombinatorik zu verbinden,72 stößt hier auf harsche Ablehnung, implizieren doch wertende Adjektive wie „meisterhaft" und „geistreich" eine normativ vorgefaßte und nicht näher begründete Vorstellung von künstlerischer Begabung, die Waagen mit dem apodiktischen Gestus des wissenden .Kenners' verkündet. Justis Kritik an Waagens Beschreibungstechnik überrascht nicht: Das Verfahren, mit knappen Worten zwischen Inhalt, Form und Technik zu vermitteln, trägt indirekt zur Nivellierung der im Werk begründeten Originalität bei, was die Aussagefähigkeit von dessen Beschreibungen überhaupt in Frage stellt. Denn in ihrer knappen Formelhaftigkeit unterscheiden sich Waagens Kommentare zu Velazquez kaum von denen zu Rembrandt oder Tizian, so daß eine Differenzierung hinsichtlich der künstlerischen Spezifik weitgehend verfehlt wird. Um die Tendenz dieses Verfahrens noch mehr ad absurdum zu führen, schlägt Justi ironisch vor, in Zukunft alle Bildbeschreibungen in mathematische Formeln zu fassen, was den Umfang der Galeriekataloge und Künstlermonographien auf ein Minimum reduzieren könnte: „Die Beschreibung der Bilder wird [...] immer mehr die Schärfe und Kürze der Formel annehmen".73 Durch „dergleichen Raumersparnis" würden aus den „sonst für den Verfasser so mühsamen und für den Leser so langweiligen Inhaltsangaben der Bilder überraschend compendiose Formulare" entstehen.74 Die positive Folge wäre, heißt es weiter, die Anerkennung des Fachs Kunstgeschichte als eigenständige universitäre Disziplin durch die „bisher etwas reservierten alten Facultäten", die das „Bedürfnis einer präciseren Kunstsprache in unseren Galleriekatalogen und Compendien" 75 wohlwollend goutieren würden. So simpel das polemische Muster auch konstruiert ist, so kann es doch Aufschluß über den verdeckten Zusammenhang von methodischem und darstellerischem Entwurf geben. 69 70 71 72
Justi an Bode, Marburg 27.12.1882, SMB-ZA, Nl. Bode 2811 (in anderem Zusammenhang). [Justi:] „Die Kunstgeschichte der Zukunft", S. 327. Ebd. Waagens Wertungsverfahren erinnert an den Vorschlag Baxandalls, die logische Konstitution von Kunstbeschreibungen auf „Vergleichswörter" („meisterhaft"/„geistreich"), Ursachenwörter („fleißig impastirt") und Wirkungswörter („glänzend"/„warm") zu reduzieren. Baxandall: Ursachen der Bilder, S. 31. 73 [Justi:] „Die Kunstgeschichte der Zukunft", S. 327. 74 Ebd., S. 328. 75 Ebd., S. 327.
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Denn indem Justi seine Position auf den sprachlichen Aspekt verengt, gewinnen auch die Vorüberlegungen zum eigenen historiographischen Vorhaben an Kontur. Zwischen 1880 und 1881 publiziert Justi die ersten längeren Aufsätze, mit denen er sich nach einer Pause von acht Jahren in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zurückmeldet. Seit 1872 Inhaber eines kunsthistorischen Lehrstuhls, beruht seine Bekanntheit fast ausschließlich auf der Winckelmann-Biographie, zudem ist der Druck, sich vor dem preußischen Kultusministerium für die bewilligten Reisestipendien mit dem Nachweis publizierter Forschungsergebnisse zu rechtfertigen, offenbar groß. 76 Eine reflektierte Beschäftigung mit der Kunstliteratur und die ehrgeizige Positionierung als kunsthistorischer Schriftsteller liegen somit auf der Hand - der Abgrenzungsimpuls richtet sich dabei gegen die eigenen Fachkollegen, deren wissenschaftliche Diktion und Darstellungsverfahren schwerwiegende Defizite verraten. Aus diesem Grund .argumentiert' Justi in der Glosse Kunstgeschichte der Zukunft auf drei Ebenen: Die Kritik betrifft erstens die stilistischen „Fehler", wie Schmarsows Wort von dem „Compagniegeschäfte", das Einflußdenken verrät und die Autonomie des künstlerischen Subjekts gefährdet. Eng verwoben mit dem sprachstilistischen Kriterium ist ein zweiter Aspekt: Die Kritik an „Formeln" zeigt, daß Justi auf einer weiteren Argumentationsebene die Frage nach einem adäquaten Beschreibungsverfahren tangiert. Nicht zufällig richtet sich die Polemik gerade gegen Waagens Kompendien zu den europäischen Galerien, die bis dato als einzige Quelle einen umfassenden Überblick zu den Velázquez-Werken außerhalb des Prados bieten und die Justi für die systematische Erschließung des Œuvres immer wieder nutzen muß.77 Wenn Waagen ein Porträt von Velázquez in der figürlichen Stellung als „bequem", dessen „im vollen Licht genommene[n] jugendliche[n] Kopf in einem wunderbar-klaren, warm-bräunlichen Ton meisterhaft und sehr fleissig impastirt", 78 beschreibt, so verfährt er genau nach derjenigen Weise mit Velázquez, die Justi Jahre später in der Vorrede der Monographie mit großer Vehemenz für unzulänglich erklären wird (I, 4): Er beschreibt das Kunstwerk als „Formel", bestehend aus einer Reduktion auf Einzelaspekte. Drittens formuliert Justi auf der Ebene der darstellerischen Makrostruktur seine Gegnerschaft zum Katalog, indem er die seit dem Ersten kunstwissenschaftlichen Congress 79 in Wien 1873 verbindlichen Standards für die Inventarisierung von Gemälden in die Schranken weist: Als starres Korsett egalisiert der Katalog die Inkommensurabilität der einzelnen Kunstwerke. Zwar scheint eine systematische Erschließung des Gesamtwerks - wie Justi später über das Velazquez-Werkverzeichnis von Charles Curtis formuliert - dem „Ideal, welches der heutigen Kunstgelehrsamkeit" vorschwebt, „sehr nahe" zu kommen (I, 18), doch kann diese „Galerenkette der Langeweile" (I, 19) als historiographisches Ordnungsmuster nicht überzeugen. Durch den Anspruch auf Vollständigkeit und Systematik 76 Vgl. Hellwig: „Neu und unerforscht", S. 214. 77 Das Œuvre-Verzeichnis von Charles Curtis erschien erst 1883. In Justis Velazquez-Beschreibungen herrscht die Tendenz vor, sich gegenüber den Bildkommentaren Passavants und Waagens, „unserer verdienten Meister" (I, 19), abzugrenzen: I, 363, 367, II, 126 u. ö. Vgl. auch: „Was er [Woermann] sagt ist noch flüchtiger u verworrener als die Skizzen bei Passavant." Justi an Bode, Berlin 23.7. 1881, SMB-ZA, Nl. Bode 2811. 78 Waagen: Kunstwerke und Künstler in England. Erster Theil (1837), S. 335. 79 „Erster kunstwissenschaftlicher Congress in Wien, 1. bis 4. September 1873", in: Mittheilungen k. k. Oesterreich. Museums für Kunst und Industrie 8 (1873), S. 455-460; 468 ff.
des
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III. Der „Dolmetsch
der Kunst"
wird das künstlerische Schaffen zu einer Reihe reduziert, die eine originäre Spezifizierung verhindert. Analog zur formal-darstellerischen Komponente wird auch die methodologische Prämisse in bezug auf den künstlerischen Entwicklungsgang deutlich. Die Positionen Morellis und Schmarsows zeigen, wie zwei divergente Künstlerkonzepte die methodischen Verfahren der Kunstwissenschaft um 1880 strukturieren. Während Schmarsow in seinen Arbeiten das Jugendwerk Raffaels anhand verschiedener Kontexte rekonstruiert, tritt Morelli entgegengesetzt für einen homogenisierten Werkgedanken ein, bei dem die äußeren Einflüsse für die Entwicklung des Künstlers sekundär sind und nur die individuellen, künstlerspezifischen Details als eindeutige Merkmale der malerischen Faktur gedeutet werden. Auf diese Weise stehen sich innerhalb des kunstwissenschaftlichen Feldes zwei unterschiedliche biographische Konstruktionsmodelle gegenüber, an die wiederum zwei biographische Muster gebunden sind: Das teleologisch-kontextualistische Modell weist als Erzählform eine Affinität zum Bildungsroman auf, da dort das Individuum in einem konstanten dialektischen Prozeß mit der äußeren Lebenswelt steht.80 Das entelechial-exklusive Modell isoliert hingegen den Künstler aus seinem Kontext und gesteht ihm von Beginn an eine autonome Handlungsfähigkeit gegenüber der Umwelt zu (Morelli). An Justis Präferenz für Morelli wird deutlich, daß der Bildungsroman als kontextualistisch verstandenes Modell nur einen bedingten Wert für die wissenschaftliche Darstellung haben kann. Anders verhält es sich mit einer Vorstellung vom Künstler, der sich von Geburt an aus sich selbst heraus entwickelt und in seiner Umwelt nur nach „antwortenden Gegenbildern" sucht. Aus diesem Grund, so die nachfolgende These, greift Justi im Velazquez weniger auf den Bildungsroman zurück, sondern nutzt als Muster den von Goethe herausgegebenen Sammelband Winkelmann und sein Jahrhundert (1805), der den Lebensweg Winckelmanns entelechial strukturiert. Zur Verdeutlichung dieses Verfahrens ist nachfolgender Exkurs (2.3.) notwendig.
2.3. Exkurs: Uberwindung des Konflikts zwischen Wissenschaft und Leben. Herman Grimms Rede Goethe im Dienste unserer Zeit (1886) Mit der antikontextualistischen Haltung rückt Justis Biographieverständnis in die Nähe von Konzeptionen, die auf Distanz zu konventionellen Erzählmustern gehen und in der kunsthistorischen Gattungsdiskussion der 1880er Jahre mehr Gewicht erhalten. So löst Robert Vischer in bewußter Gegnerschaft zu einem werk-integrativen Einheitsmodell den Erzählnexus des Luca Signorelli (1879) in systematische Rubriken auf, die zunächst zehn Lokalschulen, dann die Lehrer und Vorbilder, die Lebensbeschreibung und schließlich einen Abschnitt zu Signorellis Phantasie im Verhältnis zur Renaissance behandeln.81 Gerade gegen eine solche Zersplitterung des Lebens- und Werkzusammenhangs hatte sich jedoch Justis Polemik gerichtet, da er in der Sortierung nach Einzelkriterien den Verlust ästheti80 Sofern man Hegels Definition der „bürgerlichen Epopoe" folgen will, die im 19. Jahrhundert kaum angefochten ist. 81 Erst dann folgen zwei exemplarische Werkinterpretationen, ein Werkkatalog und die Nachfolger.
2. Individualitätsgedanke
und
Kunstgeschichte
219
scher Werte befürchtete. In manchen Punkten vergleichbar mit Justi ist dagegen die Position Herman Grimms, dessen Vortrag Goethe im Dienste unserer Zeit ein anthropologisch fundiertes Biographiemodell entwirft, das sich zwar nicht als dezidierter Beitrag zu einer kunsthistorischen Darstellungsdiskussion ausweist, aber in seinem programmatischen Charakter und seiner exponierten Vortragssituation von wissenschaftsgeschichtlicher Signalwirkung ist. Grimm hielt den Vortrag 1886 auf der ersten ordentlichen Versammlung der Goethe-Gesellschaft, 82 also zwei Jahre vor dem Erscheinen von Justis Werk, das zu diesem Zeitpunkt fast abgeschlossen war. Entgegen der berühmten Rektoratsrede Goethe und kein Ende (1882), in der der Physiologe Emil du Bois-Reymond Stellung gegen eine morphologische Wissenschaftsauffassung bezieht und für den offenen Bruch mit goethezeitlichen Epistemen plädiert, 83 sind für Grimm in der Lebensleistung Goethes sämtliche modernen Wissenschaften präfiguriert, da sie in dessen Werkganzem als vorspezialisierte Disziplinen organisch aufeinander bezogen sind: „Was an Begriffen und Thatsachen unsere Zeit erfüllt, hat in Goethe seine Geschichte gehabt. Es ist, als habe seinem Geiste nichts begegnen können, das nicht einen festen Platz darin erhalten hätte, um, wie eine in den ihrer Natur am meisten zusagenden Boden versetzte Pflanze, sich in gesteigertem Wachsthum weiter zu entfalten." 84 Zugleich ist diese Erfüllung von Goethes Erbe von einem Gefühl der Entfremdung getrübt, denn mit der Ausdifferenzierung der Wissenschaften und dem damit verbundenen Verlust der Ganzheit tritt auch ein ethisches Vakuum ein. Dieser Verlust läßt sich am besten an der Goethephilologie selbst ablesen: Für Grimm besteht kein Zweifel, daß sich in bezug auf Goethe ein Symptom einstellt, das eine Begleiterscheinung seiner fortgeschrittenen wissenschaftlichen Aufarbeitung ist; denn trotz der Kenntnis jeder biographischen Einzelheit ist „unser Gefühl geistiger Verbindung mit ihm weniger wirksam, als es sein müßte". 85 Zwischen Wissenschaft und Leben klafft ein Spalt, der mit der empirischen Kenntnis des Details aufgerissen ist und für die Nachwelt die anthropologische Ganzheit Goethes zerstört hat. Was Grimm damit einfordert, ist nichts anderes als die Wiedergewinnung eines mit Goethe identifizierten anthropologischen Ganzheitsideals, das durch ein palingenetisches Biographiemodell erlangt werden soll. Dem entstandenen ethischen Vakuum muß mit einer morphologischen Rekonstruktion des .ganzen Menschen' begegnet werden, was Grimm vor allem als darstellerische Aufgabe begreift. Im Analogieschluß wechselt er von der Gegenwart zur Situation um 1805, indem er das damals erschienene Sammelwerk Winkel-
82 Gehalten am 2. Mai 1886 in Weimar. Zitiert wird nach der Erstpublikation: Herman Grimm: „Goethe im Dienste unserer Zeit", in: Deutsche Rundschau 47 (1886), S. 434-450. Unveränderter Wiederabdruck in: ders.: Aus den letzten fünf Jahren. Fünfzehn Essays, S. 1-24 (Seitennachweise in eckigen Klammern). 83 WA in: Reden von Emil du Bois-Reymond in zwei Bänden, II, S. 157-183, vgl. z. B. S. 174 f. „Mehr als GOETHE'S wirkliche Leistungen nützen konnten, schadete aber die falsche Richtung, welche er der damals durch die sogenannte Naturphilosophie schon hinlänglich betörten deutschen Wissenschaft vielleicht einprägte." 84 Grimm: „Goethe im Dienste unserer Zeit", S. 436 f [6]. 85 Ebd., S. 435 [2],
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III. Der „Dolmetsch
der
Kumt"
mann und. sein Jahrhundert als wichtigsten literarischen Bezugspunkt anheimstellt.86 Das Buchprojekt, an dem neben dem Herausgeber Goethe auch die Kunsthistoriker Heinrich Meyer und Carl Ludwig Fernow sowie der Altphilologe Friedrich August Wolf mit Beiträgen beteiligt waren,87 dient hier als darstellerisches Paradigma seines Wissenschaftsgedankens. Denn mit der Beschreibung von Struktur und Gehalt von Winkelmann und sein Jahrhundert verbindet Grimm die Forderung nach einer neuen Goethe-Biographie, die unter der Mitarbeit einzelner Fachgelehrter die Spezialdisziplinen des Universalmenschen Goethe herausarbeiten soll.88 Ein besonderes Augenmerk gilt dabei Goethes Beitrag Skizzen zu einer Schilderung Winkelmanns. In diesem, stellt Grimm emphatisch fest, „empfangen wir auf nur fünfzig Seiten eine besondere Leistung. Der Aufbau eines neuen Menschen!" 89 Die knappen und fragmentartigen Kapitel von Goethes Beitrag dienen als methodischer Ausgangspunkt, da diese mit abstrakt gehaltenen Uberschriften die einzelnen Aspekte der Biographie Winckelmanns sukzessive aufschlüsseln. Dabei ufert Grimms Vision von einem Goethe-Buch mit dem Titel Goethe und sein Jahrhundert notgedrungen zu einem monumental angelegten Projekt aus: „Wenn ich an Ueberschriften von Kapiteln denken wollte, wie .Winckelmann und sein Jahrhundert' sie enthält, so würde .Goethe und sein Jahrhundert' deren eine grenzenlose Menge in Aussicht stellen." 90 Mit seinem Wunsch verfolgt also Grimm eine doppelte Strategie: So wie Goethe den Jahrhundertmenschen Winckelmann aufzuarbeiten hatte und damit ein kritisches Resümee über die eigene Gegenwart ziehen konnte, soll sich nun die Welt der Wissenschaft dem Jahrhundertmenschen Goethe zuwenden und darüber hinaus richtungsweisend in alle Wissenschaften hineinwirken. Der Sammelband dient als epistemologisches Modell, in dem der ganzheitliche Wissenschafts86 Die bisher einzige vollständige, von Helmut Holtzhauer besorgte Neuedition ist philologisch mangelhaft. Deshalb wird im folgenden nach der Münchner Ausgabe zitiert, obwohl dort auf den Abdruck von „Winkelmanns Briefen an einen Landsmann, Schulfreund und Hausgenossen" verzichtet wurde. Eine editorisch problematische Entscheidung, da dem Sammelband in seiner Gesamtkonzeption Werkcharakter zukommt. 87 Goethe steuerte die Dedikation und Vorrede (MA 6.2, S. 195 ff) sowie das Vorwort und den ersten Teil zu den „Skizzen einer Schilderung Winkelmanns" bei (ebd., S. 348-381). Von Meyer stammen der lange Abschnitt „Entwurf einer Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts" (ebd., S. 201-230, 245-348) und der zweite Teil der „Skizzen zu einer Schilderung Winkelmanns" (ebd., 381-389), die Winckelmann als Kunsthistoriker würdigen; von Wolf der dritte Teil der „Skizzen" (ebd., S. 389-400), der auf die philologischen Leistungen Winckelmanns eingeht. Fernow beteiligte sich innerhalb Meyers „Entwurfs einer Kunstgeschichte" mit dem knappen Beitrag „Bemerkung eines Freundes" (ebd., S. 230-244). Ferner ist als (unfreiwilliger) Autor Wilhelm von Humboldt zu nennen, dessen Rombrief in die Skizzen Goethes eingeschoben ist (an Goethe, 23.8.1804, ebd., S. 360 f). Mit den erstmals publizierten Briefen Winckelmanns an Berendis (vgl. ebd., Kommentar, S. 1056 f) beläuft sich die Zahl der Beiträger auf sechs. 88 Offenbar steht die Forderung in Zusammenhang mit dem interdisziplinären Projekt Wilhelm Scherers, das als Pendant zur Sophienausgabe eine universale Goethe-Biographie von Gelehrten aus sechs Fachrichtungen plante (vgl. Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1900, S. 687). Zu der Ausführung des Vorhabens kam es nicht, Scherer starb wenige Wochen nach Grimms programmatischem Vortrag. 89 Grimm: „Goethe im Dienste unserer Zeit", S. 436 [4]. 90 Ebd., S. 437 [6],
2. Individualitätsgedanke
und
Kunstgeschichte
221
anspruch und die literarische Form zu einem einheitlichen Darstellungsmuster verschmelzen. Denn in dem darüber transportierten anthropologischen Entwurf findet Grimm den Garant für die Sicherung der Kontinuität von der Vergangenheit bis zur Gegenwart. Der „Aufbau des neuen Menschen", den Goethe in der Auseinandersetzung mit der Person Winckelmanns vollzogen hatte, wird zu einer Form der Geschichtsbetrachtung, die im Sinne des von der Weimarer Klassik angestrebten Ideals des Allgemein-Menschlichen 91 die historische Distanz zu überwinden hilft. Grimms These von der Erfüllung Goethes in der Gegenwart bleibt ambivalent, da sich hinter dem Wunsch nach einer Reaktivierung Goethes als ,Wissenschaftsparadigma' eine massive Historismus-Kritik verbirgt. Justis Freund Otto Hartwig mag während des Vortrags der Atem gestockt haben,92 als Grimm ausgerechnet in Winckelmann, sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen das moderne Pendant zu Goethe und damit den Kristallisationspunkt seiner Gegenwartskritik sucht. Der Vergleich zwischen Goethe und Justi liegt zunächst auf der Hand, stellen doch beide Werke die bislang prominentesten Beiträge zur Winckelmann-Biographik dar; aber mit dem Lob an Justi verbindet Grimm deutlich seine Vorbehalte gegen die darstellungstechnische Praxis seiner Zeit. Er stellt zwar fest, daß Justis Buch neben der Biographie „Goethe's eine ausgezeichnete Stelle in unserer Literatur einnimmt" und „sein Thema im Sinne der heutigen Geschichtschreibung erschöpft" hat,93 doch weist er zugleich darauf hin, daß sich Justis Darstellungsmuster von demjenigen Goethes fundamental unterscheidet: „Die einzelnen Kapitel des Buches runden sich wie zu Monographien ab, und doch schließt das Ganze bis zu den letzten furchtbaren Scenen sich einheitlich zusammen." 94 Somit bildet der Winckelmann Justis das formale Gegenstück zu Winkelmann und sein Jahrhundert: Durch die chronologische Ordnung und den Totalitätsanspruch wird eine formale und organologische Geschlossenheit erzeugt, während Goethe im Prolog explizit darauf hingewiesen hatte, daß sich der Sammelband nur als halbe Biographie und damit als fragmentarische Annäherung an das Leben Winckelmanns verstünde.95 Eng verbunden mit dem Hinweis auf die formalen Unterschiede ist auch die Beobachtung zum inhaltlichen und stilistischen Dekorum der beiden Biographien: Der Goethe-Text 91 In diesem Sinne äußert sich auch Goethe über die Schiller-Biographie Thomas Carlyles. Goethe an Carlyle, Weimar 20.7.1827: „Offenbar ist das Bestreben der besten Dichter und ästhetischen Schriftsteller aller Nationen schon seit geraumer Zeit auf das allgemein Menschliche gerichtet." Weimarer Ausgabe, 4. Abt., Bd. 42, S. 268 f. 92 Wie aus dem Briefwechsel mit Justi hervorgeht, traf Hartwig auf der Goethe-Tagung 1886 mit Grimm persönlich zusammen. Die Erwähnung von Justi in dem Festvortrag hat Hartwig bezeichnenderweise (zumindest brieflich) seinem Freund verschwiegen. Vgl. Justi/Hartwig: Briefwechsel 1858-1903, S. 303. In Justis Nachlaß ist ein Sonderdruck von Grimms Vortrag erhalten, vgl. ULB Bonn, Hss.-Abt., Nl. Carl Justi, S 2621 b: Winckelmannia 2. 93 Grimm: „Goethe im Dienste unserer Zeit", S. 435 [2 und 3]. 94 Ebd., S. 436 [3]. 95 Vgl. Goethes Rechtfertigung: ,,[S]o erscheint auch hier nur die Hälfte des entworfenen Ganzen. Weil jedoch in gegenwärtigem Falle die Hälfte vielleicht mehr als das Ganze geschätzt werden dürfte, indem der Leser durch Betrachtung dreier individueller Ansichten desselben Gegenstandes mehr gereizt und zu eigener Herstellung dieses bedeutenden Lebens und Charakters aufgefordert wird" (MA 6.2, S. 348).
222
III. Der „Dolmetsch der Kunst"
zeichnet sich aus durch die „Abwesenheit alles dessen, was Costiim genannt werden könnte" 9 6 und ruft deshalb beim Leser das Gefühl hervor, „Winckelmann nahe getreten zu sein, wie man denen im Leben nahe tritt, die man als bedeutende Männer zu kennen glaubt, ohne nach ihren Schicksalen zu forschen". 97 Das darstellerische Prinzip, das Grimm hier besonders hervorhebt, ist also eine inhaltliche Reduktion auf das Wesentliche im Sinne des rhetorischen Ideals der brevitas: Durch die Abstraktion der Figur Winckelmanns auf ihre charakteristischen Eigenschaften entsteht eine Plastizität, die den „ganzen Menschen" in die Gegenwart zurückruft und sein Verdienst und Wirken im Heute bewußt werden läßt. Dagegen „versinkt" nach Beendigung der Lektüre Justis „die Welt wieder, die Justi mit so großer Kunst heraufbeschworen und in die er uns mitten hinein versetzt hatte". 98 Die historistische Gedankenfigur von gleichzeitigem Beschwören und Versinken des unwiederbringlich Vergangenen in der Gegenwart wird nach Grimm am Werk Justis evident: Bei Justi entsteht die Entfremdung von der Person Winckelmanns durch die historische Distanz, die nur dadurch ausgeglichen werden kann, indem man die Kenntnis von Goethes Text voraussetzt. 99 In der Deutung Grimms stehen sich somit historisierende und personale Rekonstruktion des Vergangenen in den Werken Justis und Goethes diametral gegenüber. Während Goethe den Charakter Winckelmanns Schicht für Schicht freilegt, nach abstrakten thematischen Gesichtspunkten gliedert und dabei auf eine chronologische Erzählung fast gänzlich verzichtet, bestärkt das historische Kolorit von Justis Biographie das Gefühl der Entfremdung von der Vergangenheit: Das „Costüm" des Historischen verhindert die überzeitliche Erkenntnis; wie ein Trauerschleier überziehen Materialfülle und Detailreichtum die biographische Darstellung und verhindern damit die eigentliche anthropologische Einsicht. Das Drama, das sich somit nach Grimms Verständnis im gründerzeitlichen Wissenschaftsbetrieb abspielt, ist der unlösbare Konflikt zwischen Wissenschaft und Leben, zwischen der Entfremdung vom Vergangenen und seiner gleichzeitigen Wahrnehmung aus der Perspektive der Gegenwart. Ahnlich wie Nietzsche in Vom Nutzen und Nachteil der Historiefür das Leben formuliert er damit eine dezidierte Kritik am historistischen Denken überhaupt, das folgerichtig als unvereinbar mit der biographischen Gattung erkannt wird. Die empirische Auffassung pochte auf eine objektivierbare Erkenntnis durch die Evidenz der Realien, doch schwächte sie zugleich die Rolle des erkennenden wie des behandelten Subjekts. So hatte die konsequente Anwendung der Widerspiegelungstheorie in der realistisch geprägten Literatur zur Folge, daß jede personale Erfahrung zugunsten der empirischen Erscheinungen ausgeschlossen ist und sich ihr Darstellungsverständnis funktional auf die treue Wiedergabe der realen Lebensverhältnisse festlegt. Mit dieser literarischen Reduktion von Subjektivität korrespondiert im wissenschaftlichen Bereich das methodische und dar-
96 Grimm: „Goethe im Dienste unserer Zeit", S. 437 [4]. 97 Ebd., S. 437 [4], 98 Ebd., S. S. 437 [4], 99 Vgl. die Fußnote Grimms: „Es kann hierin kein Vorwurf für Justi liegen, der die Kenntniß des Goethe'schen Buches bei seinen Lesern voraussetzt und stets darauf zurückkommt" (S. 437 [5]). Grimm stellt somit das Verhältnis v o n „Biographie" und biographischem Essay auf den Kopf, setzt doch eigentlich Goethes Text die Kenntnis der Winckelmann-Vita voraus.
2. Individualitätsgedanke
und Kunstgeschichte
223
stellerische Problem einer wie auch immer gestalteten Biographie. Der biographischen Gattung bleibt so lange ein methodischer und darstellerischer Widerspruch inhärent, wie der Totalitätsanspruch auf die Einheit von personaler Subjektivität und ihrem Verhältnis zur Außenwelt bei gleichzeitiger Präsentation des empririsch Erhebbaren aufrechterhalten wird. Grimm diagnostiziert damit ein zentrales Symptom einer Biographik, die den methodischen Fortschritt des ,Positivismus' reflektiert hat: Da die innere Entwicklung des Subjekts wissenschaftlich nicht objektiviert werden kann, höhlt ein zu strenger Faktenbezug die Biographie innerlich aus. Andererseits erscheint die Verwendung eines immanent schlüssigen Erfahrungsmodells, wie es der goethezeitlichen Autobiographie und dem fiktiven Bildungsroman zugrundeliegt, angesichts der Unhintergehbarkeit des Faktischen nicht mehr möglich: Erweist sich doch eine solche Annahme als wissenschaftliches Phantasma, da sie eine formale Vermittlung zwischen Verifizierbarkeit des Faktischen und dem Schematismus von Bildungskonzeptionen nicht einlösen kann. Vor diesem Hintergrund aber wird eine Rückbesinnung auf den Sammelband Winkelmann und sein Jahrhundert interessant, da er einen Ausweg aus dem erkenntnistheoretischen Dilemma bietet: Bezeichnend ist, daß Grimm nicht im Wilhelm Meister oder in Dichtung und Wahrheit das biographische Ideal der Zukunft sieht: Formale Gestaltungsmuster, die primär auf narrativer Kohärenz beruhen, haben offenbar ihre Attraktivität für die biographische Gattung verloren. Denn während die Fiktion des Bildungsromans und die Autobiographie das immanente Erfahrungsmodell mittels chronologischer Sukzession umsetzten, stellt sich für eine wissenschaftliche Biographie die grundlegende erkenntnistheoretische Frage nach der Objektivierbarkeit von Erfahrung, die bei einem Ausnahmemenschen wie Winckelmann auf zusätzliche Widerstände stoßen muß. Auch dort läßt sich der ausgezeichneten Uberlieferung des Lebenswegs zum Trotz - rein empirisch die Darstellung der biographischen Individuation nicht rechtfertigen. Transzendentalphilosophisch formuliert, ist die Erkenntnis des wissenschaftlichen Gegenstands (d. h. von Winckelmanns Leben), getrübt und kann dem erkennenden Subjekt nicht vermittelt werden. Die grundlegende Einsicht, daß prinzipiell keine Realität außerhalb der Erfahrung konstruierbar ist und damit die Außenwelt der eigentlichen Erkenntnis verwehrt ist, verschärft sich vor dem Hintergrund des anthropologischen Ideals des „ganzen Menschen", das die Position Goethes einnimmt. Eine Lösung dieses erkenntnistheoretischen Problems hat Goethe in Auseinandersetzung mit Kant u. a. in der Schrift Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt vorgeschlagen (1792/1798): Da die wissenschaftliche Erkenntnis des einzelnen beeinträchtigt ist, empfiehlt er die Objektivierung des Erfahrungsbereichs durch die Gemeinschaftsarbeit, gemäß der Maxime, „daß das Interesse mehrerer auf Einen Punkt gerichtet etwas Vorzügliches hervor zu bringen im Stande ist." Dies gilt neben dem diskutierten Bereich der Optik auch für „so viele[] ander[e] menschliche[] Unternehmungen". 100 In der Einleitung in die,Propyläen' (1798) wird dann das Prinzip der wissenschaftlichen Arbeitsteilung konsequent auf die Ästhetik und Kunsttheorie übertragen. 101 Nur die gemeinschaftliche Ein-
100 MA 4.2, S. 324. 101 Zu Goethes analogem erkenntniskritischen Verhältnis von klassizistischer Autonomieästhetik und naturwissenschaftlicher Anschauung in den neunziger Jahren vgl. Wolf: Streitbare Ästhetik, S. 460.
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III. Der „Dolmetsch
der Kunst"
bringung von Erfahrungswissen, welches durch die Einzelbeiträge der Autoren die klassische Kunstposition zu einem intersubjektiven Substrat verdichtet, kann somit dem Anspruch auf Objektivität entgegenkommen: „Was uns hierin eine stärkere Zuversicht zu geben vermag, ist die Harmonie, in der wir mit mehreren stehen, ist die Erfahrung, daß wir nicht allein, sondern gemeinschaftlich denken und wirken." 102 Nach Schillers Tod und den zweifelhaften künstlerischen Ergebnissen der Weimarer Preisaufgaben103 wird die Winckelmann-Biographie zum resignativen, aber durchaus mit den ursprünglichen Intentionen behafteten Projekt der Weimarischen Kunstfreunde: Der Lebensweg Winckelmanns steht geradezu exemplarisch für die Erfüllung des klassizistischen Programms, das aufgrund fehlender Akzeptanz in der Gegenwart gescheitert ist. Dabei spiegeln sich in der formalen Struktur des Sammelwerks die einzelnen Erfahrungsbereiche des anthropologischen Bildungsideals der Propyläen wider: Als mediale Aneignungsformen für das klassizistische Bildungskonzept nennt Goethe in der Einleitung in die ,Propyläen' erstens das Gespräch zwischen Freunden, zweitens den Briefwechsel, der „schon besser die Stufen eines freundschaftlichen Fortschrittes" dokumentiert und „jede[s] Moment des Wachstums [...] fixiert", sowie drittens „[kjurze Aufsätze", die als „schönes Hülfsmittel eigner und fremder Bildung" fungieren sollen. In dem Sammelband werden somit Winckelmanns erstmals publizierte Briefe an Berendis als „Stufen eines freundschaftlichen Fortschritts"104 vorgelagert und erhalten auf diese Weise eine entschieden didaktische Funktion. „Kurze Aufsätze" werden durch die Spezialbeiträge Friedrich August Wolfs und Meyers am Ende des Bandes repräsentiert. In Dialog - wenn auch nur im übertragenen Sinne - treten Goethes Skizzen nicht allein durch ihre dialogisch strukturierten Einzelabschnitte, sondern vor allem durch den zitierten Brief Wilhelm von Humboldts, der als Fremdtext den klassischen Topos von Rom als unvergänglichem Organismus gegenüber dem Rahmentext Goethes objektiviert. Ebenso findet sich in Heinrich Meyers Beitrag zur Kunstgeschichte des 18. Jahrhunderts das Moment der dialogischen Brechung, indem Fernows „Bemerkungen eines Freundes" in den Text montiert sind. Mit der kunstpolitischen Intention, über den Umweg einer diversifizierten Textstruktur ästhetisch auf die Gegenwart einzuwirken, korreliert die erkenntnistheoretische Aufgabenstellung einer objektivierbaren Lebensbeschreibung: Wenn die biographische Erfassung des Jahrhundertmenschen Winckelmann einer objektiven Vermittlung angenähert werden soll, dann durch die Aufteilung auf verschiedene Autoren, die sich in der formalen Struktur der Biographie spiegelt. Die Lösung des Problems liegt in einer strikten Gliederung in verschiedene darstellerische Bereiche, die in ihrer funktionalen Komplementarität ein entwicklungspsychologisches Erzählmuster ersetzen. Das formale Modell akzeptiert damit die Unhintergehbarkeit des biographischen Subjekts, indem der Gegensatz von Betrachter und seinem Gegenstand durch die Polyperspektive aufgehoben wird: Die vorangestellten Briefe an Berendis substituieren als authentische Quelle die empirisch nicht nachvollziehbare innerpsychische Erfahrung; komplementär dazu repräsentiert Meyers kunstgeschichtlicher 102 M A 6.2, S. 10. 103 Vgl. Osterkamp: „,Aus dem Gesichtspunkt reiner Menschlichkeit'. Goethes Preisaufgaben f ü r bildende Künstler 1 7 9 9 - 1 8 0 5 " , S. 322. 104 M A 6.2, S. 11.
2. Individualitätsgedanke
und
225
Kunstgeschichte
Entwurf in klarer Abgrenzung zur Persönlichkeit Winckelmanns den Bereich der äußeren Welt, während schließlich Goethes Skizzen den Lebensweg Winckelmanns nach den Kriterien der Gegenwart bewerten. Jeder Darstellungsmodus erfüllt dadurch eine bestimmte Funktion im Gefüge des Sammelbandes und dient einer perspektivischen Engführung: Die Bereiche des brieflichen ,Innen' und des von Meyer historisierten .Außen' werden in den Skizzen Goethes zum „Exemplarischen" 105 zusammengeführt. Das formale Verfahren beruht somit auf dem mehrfachen Wechsel des Darstellungsmodus und der Perspektivenbrechung. Wenn Grimm in seinem Vortrag die erstaunliche Bemerkung macht, daß Justis Winckelmann-Biographie auf den Skizzen Goethes aufbaue und nur im Verhältnis zu diesen richtig gelesen werden könne, 106 dann verweist dies auf den neuen Stellenwert, der einem essayistischen Verfahren gegenüber narrativen Modellen beigemessen wird. Als ein in inhaltliche Rubriken gegliederter essayistischer Text fungieren Goethes Skizzen als Paradigma eines historischen Verstehens, bei dem die narrative Progression zugunsten der phänomenologischen Erfassung einer singulären biographischen Entität aufgegeben wird. Wie bereits die rhetorische Analyse Reinhard Schulers gezeigt hat,107 gliedern sich in Goethes Text die ersten vier Themenabschnitte Eintritt, Antikes, Heidnisches und Freundschaft nach einem dualen Argumentationsmuster, welches von der zunächst allgemein gesetzten anthropologischen Kategorie auf den konkreten Fall Winckelmanns überleitet. Der Einsatz von bewußt reflektorischen Formen verdrängt somit die lineare Darstellung handlungs- und entwicklungspsychologischer Kausalbeziehungen. 108 Aus der Perspektive von Grimms Vortrag wird in Goethes Skizzen ein kausal-narratives Entwicklungsmodell durch eine implizit vorhandene Verstehenslehre ersetzt, da sich der exzeptionelle Charakter Winckelmanns jedem am Kausalnexus orientierten Erklärungsmuster entzieht. Der Rückgriff auf Winkelmann und sein Jahrhundert bedeutet in historiographiegeschichtlicher Konsequenz die Abkehr von an der aristotelischen Gattungspoetik orientierten Darstellungsmodellen, wie sie etwa Gervinus postuliert hatte.109 Daraus resultiert eine Aufwertung der Geschichtsschreibung, deren formale Muster nun nach gegenstands105 Vgl. auch Schuler: Das Exemplarische
bei Goethe, passim und S. 166.
106 Vgl. die Fußnote Grimms: „Es kann hierin kein Vorwurf für Justi liegen, der die Kenntniß des Goethe'sehen Buches bei seinen Lesern voraussetzt und stets darauf zurückkommt" (S. 437 [5]). Grimm stellt somit das Verhältnis von „Biographie" und biographischem Essay auf den Kopf, setzt doch der kondensierte Text Goethes die Kenntnis der Winckelmann-Vita voraus. 107 Schuler: Das Exemplarische bei Goethe, S. 97 f, 112, hier S. 98: „ D a s Individuum [...] erscheint nicht mehr als ein in sich selbst verschlossenes, einziges, einmaliges, sondern im Licht der Goetheschen Deutung als ein allgemeines, als Verkörperung jener höchsten Form der Weltbezogenheit." Schuler spricht deshalb von einem Verzicht auf „Konstruktion fiktiver linear-kausaler Abläufe" (ebd., S. 137). Vgl. hierzu auch Scheuer: Biographie, S. 48. 108 Eine narrative ,Bewegung' kommt bezeichnenderweise erst spät in den Text, nämlich zu jenem Zeitpunkt, in dem das heikle Thema von Winckelmanns Konversion problematisiert wird, d. h. durch eine kausale Ereignisverkettung plausibiliert und erklärt werden muß. So wird der Abschnitt Katholizismus vom „zuständlichefn] Präsens" durch ,,erzählende[s] Imperfekt abgelöst". Schuler: Das Exemplarische bei Goethe, S. 126. 109 Vgl. Gervinus: „ G r u n d z ü g e der Historik", in: Ders.: Schriften
zur Literatur,
S. 49 f.
226
III. Der „Dolmetsch
der Kunst"
adäquaten Anforderungen strukturiert werden. Diese neue Differenzierung der Darstellungsmodi, wie sie etwa Droysen in der Historik entwickelt, vermeidet die Anlehnung an poetologische Modelle und sucht nach einem Ausweg, der sowohl in erkenntnistheoretischer Hinsicht den Entwicklungsbegriff durch eine Verstehenslehre ersetzt, als auch formal die historiographische Organisationsstruktur in ein eigenständiges Darstellungsverständnis (apodeixis) überführt. ,,[W]enn der Gedanke seiner [d.i. Gervinus] Grundzüge der Historik der ist," so Droysen, „die Parallelen des Epos, der Lyrik und des Dramas in der Geschichtsschreibung nachzuweisen, so ergeben sich dabei immerhin viele geistvolle Bemerkungen, aber sie folgen nicht aus dem Wesen und Begriff unserer Wissenschaft und ihrer Methode." 110 Im Unterschied zu Droysen schlägt jedoch Grimm anhand von Goethes Sammelband keine systemimmanente Konzeption der Geschichtsschreibung vor, sondern eine diversifizierte Textstruktur, die eine friedliche Koexistenz der gegenläufigen Wissenschaftsmodelle garantiert. Die Stärke und gleichzeitige Schwäche von Grimms Vorschlag besteht genau genommen darin, daß das Entwicklungsparadigma nur teilweise seine erkenntnistheoretische Funktion einbüßt: Demnach würde sich Meyers Entwurf zu einer Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts als Entwicklungsmodell zu Goethes Skizzen komplementär verhalten, so daß durch die biographische Ausnahme (Skizzen) die Regel von der historischen Entwicklung ( E n t w u r f ) bestätigt werden kann. Diese funktionale Abhängigkeit der unterschiedlichen Darstellungsmodi und der damit verbundenen erkenntnistheoretischen Programme verdeutlicht Grimms Mittelstellung zwischen Scherer und Dilthey: 111 Was das biographische Subjekt und sein Werk anbelangt, gibt es kein Zurück zu einem unkritischen Empirismus, jedoch bleibt es dem Historiker unbenommen, das äußere Umfeld des außergewöhnlichen Individuums nach empirisch-kausallogischen Gesetzen zu erschließen.
2.4. Gebrochene Spiegelung im Klassizismus: Goethes Winkelmann und sein Jahrhundert
(1805) und Justis
Velazquez
Grimms zweifacher Rückgriff auf Goethe - ethisch im Sinne des anthropologischen Entwurfs, epistemologisch im Sinne der Form - resultiert aus einer scharfen Trennlinie zwischen „Verstehen" und „Erklären", die in der geisteswissenschaftlichen Diskussion der 1880er Jahre bestimmend wird.112 Die formale Konstruktion von Winkelmann und sein Jahrhundert, welche zwischen einer übergeordneten Entwicklung der Kunstgeschichte und der Biographie Winckelmanns differenziert, kann hier vor allem deshalb als historiographisches Modell attraktiv werden, weil sich in ihr eine Unterscheidung zwischen erklärbaren und verstehens-orientierten Gegenstandsbereichen abzeichnet. Denn indem bei Goethe die erklärungsbedürftige Vorgeschichte mit dem Unerklärlichen der Persönlichkeit kontrastiert, fixiert sich die biographische Konzeption des „Inneren" auf die Aufgabe des Verste110 Droysen: Historik (ed. Leyh), S. 217. 111 Zur Biographiediskussion zwischen Scherer, Dilthey und Grimm vgl. Kindt/Müller: „Dilthey gegen Scherer", S. 702 ff. 112 Vgl. Makkreel: Dilthey, S. 41 ff.
2. Individualitätsgedanke hens jenes indivuum
und ineffabile.
227
Kunstgeschichte
Ähnlich argumentiert Justi in seinen Biographien, wenn er
durchgängig auf der ,,sekundäre[n] Bedeutung der sogenannten Entwicklungsgeschichte" (I, 124) insistiert. Entscheidend dabei ist, daß Justi zwischen einem modernen E n t w i c k lungsdenken im Sinne Karl L a m p r e c h t s 1 1 3 und dem der Hegelnachfolge nicht differenziert. So heißt es in der zweiten Auflage des Velazquez,
der Entwicklungsgedanke habe „im ver-
floßenen Säculum, von Hegel bis Darwin, fast wie eine Zwangsvorstellung, auch die Kunstliteratur beherrscht, aber zuweilen eher von der Ermittelung des wahren Zusammenhangs der Dinge abgelenkt" (I 2 , S. X X V I I I ) . E b e n s o stereotyp positioniert sich Justi gegenüber seinen Habilitanden H e n r y T h o d e und Paul C l e m e n , denen er den Vorwurf
macht,
„Hegel'sche Maximen in der Geschichtsauffassung zu b e f o l g e n " 1 1 4 bzw. in Anschluß an die Evolutionstheorie mit einem „phylogenetischen S t a m m b a u m " zu argumentieren. 1 1 5 D a h e r ist, im Unterschied zur Historischen Schule, die eine Kausalisierung zwischen Individuum und geschichtlichem K o n t e x t nie kategorisch ausschloß, 1 1 6 bei Justi die skeptische Haltung gegenüber milieutheoretischen und entwicklungsgeschichtlichen
Deduk-
tionen zentral; ein U m s t a n d , der um die Jahrhundertwende von so unterschiedlichen Wissenschaftlern wie den Kunsthistorikern Carl N e u m a n n und Richard H a m a n n , dem national-konservativen L a m p r e c h t - G e g n e r G e o r g von B e l o w und dem früh für Stefan G e o r g e eintretenden Germanisten Richard M o r i t z M e y e r einhellig erkannt wurde. 1 1 7 D i e Ausscheidung kontextualisierbarer und milieutheoretischer Bezugsgrößen aus der engeren Biographik tritt als ideelles K o n s t r u k t um so deutlicher hervor, wenn es vor dem H i n t e r grund von Schopenhauers Polarisierung zwischen dem menschlichen Individuum, das in sich eine individuelle Idee darstellt, und der in der äußeren Erscheinung begründeten E n t wicklungsgeschichte gesehen wird. In einem essayistischen E i n s c h u b über die Frage nach der Einwirkung äußerer F a k t o r e n auf Velazquez übernimmt Justi fast wörtlich die Argumentation aus der Welt als Wille und Vorstellung:
Wie dort beruft er sich auf den scholasti-
schen Okkasionalismus, 1 1 8 nach dem die U m s t ä n d e zwar Auslöser für eine Erscheinung sind, diese aber nur als „Gelegenheitsursachen", „causae
occasionales"
(I, 124), für die
O f f e n b a r u n g eines an sich unerklärlichen und schon vorgeformten Charakters dienen. Das Genie, so Justi, wird „nicht erworben, nicht durch ein glückliches Zusammentreffen äusse-
113 Vgl. hierzu Roeck: Der junge Aby Warburg, S. 50, 65. 114 So Thode in einer Entgegnung an Justi, Bayreuth 9. 8. 1886, ULB Bonn, Hss.-Abt., Nl. Carl Justi S 1713: „Auch für mich sind ja allgemeine Begriffe, wie der der .Renaissance' ganz vage, mit denen man sich aber doch abfinden muss. Indem ich ihn durch mein Buch scheinbar zu erweitern suchte, versuchte ich ihn zu vernichten, da er aber nach meiner Uberzeugung ein irriger und zu irrigen Auffassungen neigender ist." Zum Hintergrund des Briefs vgl. Szylin: Henry Thode (1857-1920), S. 49 f. 115 Justi an Bode, Bonn 19.8.1893, SMB-ZA, Nl. Bode 2811. 116 Vgl. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 257. 117 Neumann: „Justi's Velazquez"; Hamann: „Literaturbericht. Geschichte der künstlerischen Kultur. Neuzeit. Eröffnungsbericht", S. 468 ff; Below: „Karl Justi über die Entwicklungstheorie", S. 950-954; Meyer: Rez. zu Carl Justi: Michelangelo. Neue Beiträge zur Erklärung seiner Werke, in: Euphorion 20 (1913), S. 507 f. 118 Vgl. WWV I, S. 205, § 26. Schopenhauer gebraucht in Anschluß an Malebrachne die französische Form causes occasionnelles.
228
III. Der „Dolmetsch
der Kunst"
rer Umstände hervorgebracht" (I, 122); jene dienen nur dazu, dessen „ursprüngliches und unveränderliches Wesen zum Hervortreten zu reizen" (I, 124). In den späteren Fassungen heißt es, daß sich der Künstler im „Spiel von Anziehung und Abstoßung [...] vielmehr als Beherrscher der Umstände und der Umgebung, denn als ihr Produkt" zeige (I2, 94). 119 Velázquez' Umgang mit Rubens ist nach Justi ein Beispiel für „jene Begegnungen, wo man durch eine grosse Persönlichkeit gezwungen wird, sich ihrer zu erwehren, wo das Gefühl der Fremdartigkeit den Instinkt der Eigenartigkeit weckt, und da wo andere sich selbst verlieren, [man] den Muth eigenen Wegs und eigener Ueberzeugung fasst." (1,253) Die Grundtendenz, die sich schon in Justis Winckelmann-Biographie abzeichnete, zeigt sich hier in verstärkter Form: Entgegen einem berechenbaren Kausalgesetz stoßen die Umstände die Tätigkeit des Willens an, nicht aber dessen substantielle Prädisposition. In dem individuellen und angeborenen Willen auf der einen, der absoluten äußeren Kontingenz auf der anderen Seite besteht somit das entscheidende Oppositionspaar. Im scharfen Gegensatz zu Springers Widerspiegelung des Kontexts im Künstler oder zu milieutheoretischen Erklärungsmustern läßt sich dort der lebensweltliche Kontext nicht auf einen einheitlichen Nenner reduzieren, er zwingt vielmehr zur Darstellung einer absoluten Kontingenzsituation, zum „Cultus der Zufälligkeiten" (I, 23), der die schöpferische Begabung nicht erklären kann. So heißt es noch 1909 über Michelangelos Freundschaften mit Vittoria Colonna und Tommaso Cavalieri: „Der Zufall hat sie herbeigeführt. Kein Zufall aber war es wohl, daß beide Freunde von Adel waren." 120 Die Gleichzeitigkeit von Affirmation und Negation des Zufalls verdeutlicht, daß sich die schöpferische Autonomie nur durch eine im Individuum begründete Wahlfreiheit ausbildet (Michelangelos aristokratisches Naturell als Prädisposition für zufällig herbeigeführte Schlüsselbegegnungen). Es ist daher konsequent, wenn die lebensweltliche Ausgangsposition von Velazquez eine Totalität darstellt, die sich durch Heterogenic auszeichnet und sich durch keine Kategorie vereinheitlichen läßt: Mit der betont detaillierten Beschreibung der Kultur Sevillas setzt Justi den jungen Künstler einem Universalzusammenhang aus, der durch das rhetorische Mittel der enumeratio besonders starke Kontingenzsignale vermittelt: In den Gemächern [...] standen Schränke mit Marketeriearbeit aus Cedern- und Rosenholz, Ebenholz und Elfenbein, Schildpatt und edlem Metall, die feinsten indischer Arbeit aus Goa; chinesische Emailgefässe, farbenprächtige Vögel der Tropen. Um die Wände liefen Azulejos mit Metallreflexen, flandrische und mexikanische gewirkte Tapisserien, curduanische Ledertapeten wurden dort aufgehängt, und den Boden bedeckten persische Teppiche. I, 27
Das, was man mit Hofmannsthal als „Triumph der Möbelpoesie" bezeichnen könnte und in der kumulativen Anhäufung dem Interieur eines historistischen Künstlerateliers gleicht,121 hat in bezug auf die argumentative Strategie eine zentrale Funktion: Gesteigert in die lebensweltliche Dimension, bilden die kulturelle Vielfalt und das Chaos der Erscheinungen die indirekte Basis für die spätere Kreativität des Velazquez. Die Stadt zeichnet sich aus durch einen stilpluralistischen Rausch „figürlicher und ornamentaler Phantastik", bei dem „selbst die christlichen Tempel [...] ein Gemisch von Moschee und Kirche" sind (I, 27). 119 Ähnlich in der Erstfassung schon das Urteil zu Murillo, I, 412. 120 Justi: Michelangelo.
Neue Beiträge,
121 Vgl. Langer: Das Münchner
S. 379.
Künstleratelier
des Historismus,
passim.
2. Individualitätsgedanke
und
Kunstgeschichte
229
Ohne chronologische Richtigkeit reiht Justi einzelne Ereignisse aus der Geschichte Sevillas aneinander und leitet jene Passage mit der temporal unbestimmten Konjunktion „zuweilen" ein, was den Eindruck einer Zufallswelt noch verstärkt (I, 29). Die autonome Behauptung des handlungsmächtigen Subjets gegenüber der kontingenten Lebenswelt ist der zentrale Ausgangspunkt in den Skizzen zu einer Schilderung Winkelmanns·. Goethe unterscheidet dort zwischen drei anthropologischen Grundtypen, die sich aus ihrer Beziehung zur Lebenswelt verstehen lassen: Den „gewöhnlichen Menschen" stattet die Natur mit der ,,köstliche[n] Mitgift" aus, die durch „jenen lebhaften Trieb" gekennzeichnet ist, „von Kindheit an die äußere Welt mit Lust zu ergreifen, sie kennen zu lernen, sich mit ihr in Verhältnis zu setzen, mit ihr verbunden ein Ganzes zu bilden". Dieses Sozialisationsmodell verhält sich weitgehend rezeptiv zur Lebenswelt; Bildung und Individuation unterliegen dem Einfluß und der Abhängigkeit von Außen, während - zweitens „vorzügliche Geister öfters die Eigenheit" besitzen, sich zurückzuziehen, „eine Art von Scheu vor dem wirklichen Leben zu empfinden [...] und auf diese Weise das Vortrefflichste nach innen bezüglich zu leisten." Der dritte Typus dagegen, der des „besonders begabten Menschen", verarbeitet selbständig die Einflüsse der äußeren Welt, da seine charakterliche Disposition von Natur aus derart angelegt ist, daß sie in der „äußeren Welt die antwortenden Gegenbilder" sucht: Das „Innere" steigert sich „völlig zum Ganzen und Gewissen" und man kann „versichert sein, daß auch so ein für Welt und Nachwelt höchst erfreuliches Dasein sich ausbilden werde." Daher lagen in Winckelmann „selbst [...] die Keime eines wünschenswerten und möglichen Glücks." 122 Die von Glückssemantik getragene Prämisse der im Individuum selbst angelegten Befähigung und der entelechieartigen Selbstausbildung findet sich auch im Velazquez·. „Allein Velazquez gehörte zu den glücklichen, einfach und bestimmt angelegten Naturen, die von Anfang ihrer selbst und zielbewusst ihren Lebensweg gehn" (I, 250). Die Ähnlichkeit von Justis Auffassung mit der ,okkasionalistischen' Position Schopenhauers und der Geniekonzeption Goethes kann erklären, weshalb im Velazquez jene formale Trennung von Entwicklungsgeschichte und Individualbiographie vollzogen wird, die auch in Winkelmann und sein Jahrhundert besteht: Das erste Buch über die Malerschule von Sevilla verweist insofern auf eine darstellungstechnische Analogie zu Goethes Sammelband, als Justi hier wie Heinrich Meyer mit seinem Entwurf zu einer Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts einen langen Exkurs zur kunsthistorischen Vorgeschichte einschaltet. Spätestens im Sommer 1883 hat sich Justi zu dieser Trennung in einen vorgelagerten Jahrhundertexkurs und einer nachfolgenden biographischen Erzählung entschieden: U m die Erzählung nicht durch fortwährende episodische „Verkröpfungen", wie mir ein Kritiker im Schwäb. M e r k u r seiner Zeit vorgeworfen hat, zu unterbrechen, habe ich eine Art Einleitung vorausgeschickt, die jeder, der mit dem Taufschein beginnen will, überschlagen kann. In ihr ist die Rede von Sevilla, den Epochen der Malerei dort, den hervorragendsten Malern, am ausführlichsten von denen die ihn [Velazquez] beeinflußten, - von den Kunsttendenzen u. Controversen am Anfang des 17. Jahrhunderts. Ich hoffe hier viel Neues zu sagen, u habe alles was ich dort selbst gefunden habe, anzubringen versucht. 1 2 3
122 Alle Zitate in: M A 6.2, S. 349 f. 123 Justi an Bode, B o n n 22. 7. 1883, S M B - Z A , N l . Bode 2811.
230
III. Der „Dolmetsch der Kunst"
Das Systematisierungsproblem, das sich schon in Justis Winckelmann-Biogrzphie ankündigte, nämlich die Verknüpfung von schöpferischer Einzelindividualität und ihrer lebensweltlichen Kultur, hat hier Justi mit einer neuen Sortierung des Materials gelöst. Bezeichnend ist, daß Justi die Entscheidung in Reaktion auf die Kritik an seinem biographischen Erstling trifft. Winckelmann, sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen hatte Justi darstellungstechnisch noch als Einheitsmodell konzipiert: Die Anziehungskraft der Persönlichkeit Winckelmanns rechtfertigt „die biographischen Episoden unseres Buches [...]. Es giebt manche Sterne geringerer Größe, die zwar nicht so viel verdienen, wie ein eigenes Denkmal, aber auch nicht so wenig, wie die mageren Daten und Zahlen biographischer Encyklopädien. Sie gruppieren sich am besten um ein großes Gestirn." 124 Das historiographische Modell der Ranke-Schule, bei dem die Ideenlehre zur Herstellung formaler Kohärenz dient und eine erzähltechnische Subsumption des Besonderen unter das Allgemeine erzielt, 125 wirkte hier insofern nach, als Justi eine ideelle Zentrierung um die Hauptgestalt verfolgt, der sich alle übrigen Nebenfiguren und Exkurse unterordnen. Ranke hatte dieses Verfahren selbst in Justis Darstellung wiedererkannt und gerühmt: „Sie haben aus trockenen Auszügen ebensoviele lebendige Beweisstücke für die Geistesgeschichte Ihres Helden gemacht: indem Sie die Beziehung des Einzelnen auf das Ganze verstehen und darlegen[.]" 126 Im Winckelmann verfolgte somit Justi noch ein Modell, das die kulturgeschichtliche Kontextualisierung mit dem biographischen Subjekt verband. Dieses Darstellungsverfahren zeichnet sich zwar durch seine integrative Struktur aus, gefährdet aber zugleich die formale Kohärenz durch eine zu starke Dominanz von Episoden und Exkursen, die sich gegenüber der narrativen Gesamtlinie potentiell verselbständigen. Mit dem Velazquez revidiert Justi das Darstellungsparadigma Rankes, denn die technische Konsequenz ist ein Umbau der historiographischen Ordnung von einer rein integrierend-narrativen Biographie weg zu einer klaren Unterscheidung in einzelne darstellerische Bereiche, die nach jeweiligen inhaltlichen Aspekten festgelegt und aufeinander bezogen werden. Dies hat zur Folge, daß der biographische Nexus nicht mehr auf erzählerischer Kohärenz basiert, sondern sich vor allem durch Konstruktivität auszeichnet: Das formale Modell von Diego Velazquez und sein Jahrhundert verfolgt eine konfigurative Anordnung nach einzelnen Textsorten, die untereinander ein funktionales Gesamtgefüge erzeugen. Dabei tragen der Exkurs über die Malerschule von Sevilla, der fingierte Brief des Velazquez und der Dialog über die Malerei zu dieser Konstruktivität bei. Statt der darstellungstechnischen Kohärenzstiftung durch die Ideenlehre kommt nun der reflektierte Einsatz der genera mixta zur Anwendung. Die Scheidung in darstellerische Module führt zu einem ähnlichen Ergebnis wie in Winkelmann und sein Jahrhundert: Beide Jahrhundertexkurse bilden, wie schon Herman 124 Anonyme Selbstrezension Justis zum Winckelmann, o.T., in: Preußische Jahrbücher 19 (1867), S. 18-39, S. 35 f. 125 Vgl. Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 276 f. 126 Leopold von Ranke an Justi, Marburg 9.12.1866, ULB Bonn, Hss.-Abt., NI Justi, S 2621 a. Justi hatte offenbar die ersten beiden Bände einige Tage zuvor an Ranke überreicht. Vgl. auch E. Hitzig an Justi, o. D., ebd.: „Er weiß übrigens von Ihrem Besuch u. sieht ihm mit großer Freude entgegen, denn aus Ihren Schriften sind Sie ihm bereits wohl bekannt."
2. Individualitätsgedanke
und
Kunstgeschichte
231
Grimm zu Meyers Entwurf angemerkt hat, einen inhaltlich autonomen Abschnitt, „vorgetragen ohne Rücksicht" auf die im Zentrum des eigentlichen Interesses stehende Person. 127 Und ebenso wie Heinrich Meyer verfolgt hier Justi eine Kontrastierung der Lebensbeschreibung mit der unmittelbar vorangegangenen Vergangenheit, indem er die kunstgeschichtsteleologische Fundierung des Jahrhundertabschnitts analog strukturiert: Der Bericht über die Kunstentwicklung in Sevilla setzt mit einer absteigenden Linie ein, die durch eine Zerfallsphase im 16. Jahrhundert gekennzeichnet ist. Während die Kunst des spätmittelalterlichen Andalusiens noch als „rein spanisch" (I, 40) angesehen werden kann, weicht sie abrupt vom richtigen Weg ab, der „einem langen Jahrhundert frostig-gelehrter Manier Platz" macht (I, 41). Durch den Einfluß des florentinisch-römischen Manierismus entsteht eine Abhängigkeit, durch die die Künstler „Sinn und Takt für das Nationale verloren hatten" (I, 51). Erst gegen Ende des Jahrhunderts kann Justi mit der Kunst Juan de Roellas wieder einen Lichtblick entdecken, während die Velázquez-Lehrer Herrera und vor allem Pacheco noch in der veralteten manieristischen Kunstauffassung verhaftet bleiben. Justi konstruiert damit die kunstgeschichtliche Entwicklung als absteigende Linie, bei der die Kunst zunehmend fremden Einflüssen unterliegt und sich von ihrem ursprünglichen Charakter entfernt - ein Entwicklungsmodell, das ebenso Meyer in seinem Entwurf anwendet: Auch dieser setzt mit einer Phase des kunstgeschichtlichen Niedergangs ein, denn mit dem Manierismus „schien der Kunst, durch ausartende Entfernung von Natur und Wahrheit, ein plötzlicher Verfall zu drohen." 128 Was hier interessiert, ist allein die formale Umkehrung des organologischen Wachstumsmodells aus Anfang, Höhepunkt und Niedergang, das spätestens seit Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums als kunsthistorisches Ordnungsparadigma gilt und dem die nachfolgende Kunstgeschichtsschreibung weitgehend gefolgt ist: 129 So gliedert sich Passavants Abriß über Die christliche Kunst in Spanien (1853) diametral entgegen zu dem Verfallsmodell Justis, indem sich die Entwicklungsgeschichte der spanischen Kunst konstant steigert und in Velázquez kulminiert.130 Im Gegenzug scheint für den Winckelmann-Sammelband Goethes wie für Justis Velazquez wichtig zu sein, daß in Rückgriff auf Vasaris Einleitung zu den Viten die Kunstentwicklung als deszendent dargestellt wird. Die kunstgeschichtliche Entwicklung bietet sich bei Justi (wie bei Meyer) als eine auf die Spitze gestellte Pyramide dar, deren Erzählverlauf regressiv von einem Höhepunkt ausgeht; die Wiederherstellung der Kunst deutet sich erst kurz vor dem Auftreten der außergewöhnlichen Persönlichkeit Velazquez (bzw. Winckelmann) an. Wendet man sich von dem Jahrhundertexkurs im ersten Buch ab und der eigentlichen Biographie zu, wird erkennbar, wie stark das Deutungsmuster von der außergewöhnlichen Persönlichkeit mit diesem Ordnungskonzept zusammenhängt. Indem sich nämlich die Exkurse über die beiden Lehrer des Velazquez, Herrera und Pacheco, im ersten Buch befinden und damit aus dem biographischen Haupttext ausgegliedert sind, vermeidet Justi nicht 127 Grimm: „Goethe im Dienste unserer Zeit", S. 436 [3]. 128 MA 6.2, S. 203. 129 Vgl. Belting: „Vasari und die Folgen", in: Ders.: Das Ende der Kunstgeschichte, S. 63-91; Jauß: „Geschichte der Kunst und Historie", in: Koselleck/Stempel: Geschichte - Ereignis und Erzählung, S. 175-209. 130 Passavant: Die christliche Kunst in Spanien, S. 98 ff, u. ö.
232
III. Der „Dolmetsch
der Kunst"
nur die von ihm befürchteten „episodischen Verkröpfungen", er kann damit auch die These von der Autonomie des künstlerischen Subjekts durch entsprechende narrative Mittel plausibilisieren. Denn die so erzeugte (formale) Polarisierung von Außen- und Innenwelt legitimiert ein Erzählverfahren, das mittels des technischen Kunstgriffs der „fiktionalisierenden Perspektivierung"131 eine schein-psychologische Introspektion in den jungen Künstler ermöglicht. „Was mag der siebzehnjährige im stillen gedacht haben, als er ihm [Pacheco] dabei zusah? Warum war der gute Mann nicht bei jenen kleinen Bildnissen berühmter Zeitgenossen geblieben, statt sich mit seiner schwachen Barke auf diess hohe Meer zu wagen?" (I, 113). Der Vergleich von Pachecos zweifelhaftem Kunstschaffen mit dem verlorenen Schiffer auf hoher See verstärkt die Perspektivierung zusätzlich: Der barocken Bildlichkeit nicht unähnlich, simuliert er eine sprachliche Annäherung an die historische Gestalt des Velázquez. Nach ähnlichem Muster verfährt der Bericht über das Lehrjahr bei Herrera: Auch hier wird die künstlerische Ausbildung zum bewußten Akt der Selbstbehauptung, der mittels einer Introspektion in die Velazquez-Figur konstruiert wird: „Was konnte einem solchen Lernbegierigen der verwilderte .Michelangelo von Sevilla' nützen, der nur noch namenlose Riesen von undefinirbarem Charakter nach seinem Ebenbilde ins Dasein rief, die in Wolken hausen und von Wolkenlicht umflossen sind." (I, 112) Die perspektivierte Detailanschaulichkeit erzeugt somit eine scheinbar biographisch relevante Information, welche die Bildungskonzeption nur simuliert, aber einen auf Tatsachen gründenden Informationsgehalt nicht mehr vermitteln kann. Dadurch erklärt sich, weshalb in Justis Velazquez vielleicht manche introspektive Stelle romanhaft wirken mag, aber dem Text die Aufnahme eines stringenten Romanmusters prinzipiell verwehrt ist: Denn nicht die biographische Entwicklung im dialektischen Prozeß einer Selbstfindung zwischen Irrtum und Erkenntnis, sondern die konstante und lineare Suche nach „antwortenden Gegenbilder[n]" bestimmt als leitendes Prinzip den Lebenslauf. Goethes Winkelmann und Justis Velazquez ist deshalb ein entscheidendes Strukturmerkmal gemein: Beide Texte zeichnen sich, jeweils verschieden bedingt, durch einen schwachen erzählerischen Nexus aus. Während Goethe fast gänzlich auf eine erzählerische Aufbereitung des Lebens Winckelmanns verzichtet, muß bei Justi eine auf Narration begründete Biographie letztendlich scheitern, da die desolate Quellenlage - bei gerade einem einzigen erhaltenen Brief aus der Hand von Velázquez - keine sinnvolle Aufbereitung in erzählerischer Sukzession ermöglicht. Trotz der diametral entgegengesetzten Ausgangslage statuieren beide Texte eine zirkuläre Identifikation der Biographie mit dem Werk: „[D]as Leben eines Künstlers [liegt] in seinen Werken, dies sind seine Thaten",132 schreibt Justi und ähnlich formuliert Goethe, daß Winckelmanns „Werke, verbunden mit seinen Briefen, [...] eine Lebensdarstellung, [...] ein Leben selbst" sind.133
131 Vgl. Jauß: „Der Gebrauch der Fiktion in Formen der Anschauung und Darstellung der Geschichte", S. 433 f. 132 A n Friederike Justi, Sevilla 9 . 5 . 1 8 9 0 , Spanische Reisebriefe, S. 367. 133 M A 6.2, S. 370 (Skizzen).
2. Individualitätsgedanke
und Kunstgeschichte
233
2.5. Justis Fiktionen.
Der Brief des Velazquez und der Dialog über die Malerei Mit Winkelmann und sein Jahrhundert gelesen läßt sich die Struktur von Justis Velazquez als Antwort auf ein Systematisierungsproblem verstehen, welches das Verhältnis zwischen Künstler und kultureller Lebenswelt außerhalb von kausalen Erklärungsmodellen setzen wollte. Ganz nach der rhetorischen Forderung des in utramque partem dicere134 macht sich daher in der Darstellungskonzeption der Velazquez-Monographie der Ansatz bemerkbar, sich einem exzeptionellen Sachverhalt mit dem dialogischen Prinzip der Perspektivenvielfalt zu nähern. In besonderer Weise wird dieses Verfahren an zwei Passagen deutlich: Gemeint sind der fingierte Brief (oder das „Reisejournal") des Velazquez und der Kunstdialog ,,[a]us dem Spanischen" (I, 85), die ohne Hinweis auf einen fiktionalen Status in die Monographie eingeflochten wurden. Beide Textstellen sind nicht ohne Brisanz: Mit dem Rückgriff auf die rhetorische Tradition in der antiken Geschichtsschreibung, die das Fingieren von Quellen nach dem Wahrscheinlichkeitsgebot erlaubte, 135 hatte Justi gegen einen zentralen Leitsatz der Historischen Schule verstoßen, der spätestens mit der Etablierung von historisch-kritischen Standards durch Niebuhr und seit Rankes Verdikt gegen das „Erdichten, auch nicht im Kleinsten", 136 Konsens geworden war. Sei es, daß Justis Autorität in der kunsthistorischen Spanienforschung für lange Zeit uneingeschränkt gültig war, sei es, daß sich das (wissenschaftliche) Leseverhalten um die Jahrhundertwende geändert hatte, 137 für 15 Jahre blieben beide Textstellen von der Öffentlichkeit so gut wie unbeachtet. Erst nach der Jahrhundertwende regte sich Unmut: „Es handelt sich nicht nur um Justi allein, sondern auch um die Ehre deutscher Wissenschaft," schrieb der Archäologe Adolph Michaelis an seinen Bonner Kollegen Georg Loeschcke in einem Brandbrief aus Straßburg, „und 134 Cicero: De oratore 3, 80. 135 Zum Einsatz fingierter Reden in der antiken Geschichtsschreibung vgl. Momigliano: Studies Historiography, S. 2 1 1 - 2 2 0 .
in
136 Ranke: „Von Guicciardini, Beaucaire, Mariana, Fugger, Sleidan und Giovio" (1824), in: Ders.: Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber (= S W 34), S. 24. Zum methodischen Hintergrund vgl. Riisen: Konfigurationen des Historismus, S. 268 ff; ferner: Hebekus: Kilos Medien, S. 45. 1 3 7 Der fingierte Brief wurde mehrfach als Quelle zitiert: Paul Kristeller: Andrea Mantegna. Berlin, Leipzig 1902, S. 313; Frizzoni: „Impressioni romane di Diego Velazquez", passim; Pastor: Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance. III, 2, S. 999 u. 1004; Friedrich Pollak: Lorenzo Bernini. Stuttgart 1908, S. 22 ff, 30; Heinrich Bergner: Das barocke Rom. Leipzig 1914, S. 86. Mit der Ausnahme Pastors fällt auf, daß es sich hierbei um Kunsthistoriker handelt, die ihre methodischen Interessen nicht so stark auf die Textkritik richteten. Kristeller hatte bei Springer studiert und war somit von der philologischen Ausbildung her eher mit der breiten Sondierung von indirekten (kulturgeschichtlich relevanten) Quellen als mit künstlerbiographischen Archivstudien befaßt. Friedrich Pollaks Buch zeigt deutliche Einflüsse Wölfflins. Frizzoni gehörte dem Umkreis Morellis an, der die quellenkritische Methode vernachlässigte. Wohl eher als Hommage an Justi hat Walther Rehm einen Passus aus der Wmc^e/mann-Biographie in den Dokumentationsband zu den Winckelmann-Briefen aufgenommen: „Im Collegio Romano", in: Winckelmann: Briefe IV, Nr. 122a, S. 220 f (=W II/l, S. 130 ff); vgl. Rehms Kommentar, S. 495: „Als strenge historische Quelle kann also dieses Stück nur teilweise gelten; immerhin sei es als hübsches historisches Detail hier eingereiht."
234
III. Der „Dolmetsch
der
Kunst"
Justi muß am meisten daran liegen, die aufklärende Erklärung zu geben." 1 3 8 Drei Jahre zuvor hatte sich der Mantegna-Spezialist Paul Kristeller darüber gewundert, daß das von Velazquez berichtete römische Besichtigungsprogramm kaum an einem Vormittag zu bewältigen sei, - und zitierte trotzdem die Ausführungen zu Mantegnas vatikanischen Fresken „ohne jeden A r g w o h n " , da er davon ausgegangen war, Velazquez „müsste Morgens u m 5 U h r mit der Messe begonnen h a b e n . " 1 3 9 Selbst nachdem Justi mit einer launigen Erklärung in der Kunstchronik
öffentlich Abbitte
geleistet hatte, verstummte die Entrüstung nicht, 1 4 0 wenngleich er damit Brief und Dialog in ein Licht rückte, durch das seither das Argument für seine literarischen' Qualitäten als Kunstschriftsteller gestützt wurde. 1 4 1 Die Frage, ob das Mißverständnis trotzdem einkalkuliert wurde, ist dennoch berechtigt: Im zweiten Band hatte Justi anhand der sog.
Memoria
des Velazquez mit allen Mitteln der historischen Textkritik vorexerziert, wie man „Mystifikationen" entlarven konnte (II, 2 4 4 - 2 6 1 ) - A n t h o n y Graftons These, daß die besten Fälscher zugleich oft ihre besten Kritiker sind und gefälschte Dokumente erst in Kombination mit philologischer Kritik an Glaubwürdigkeit gewinnen, scheint sich hier zu bestätigen. 1 4 2 So trägt der .Brief' des Velazquez typische Merkmale der Plausibilisierungsstrategien von Fälschungen: Kaum freie Erfindungen enthaltend, hat er Pasticcio-Charakter 1 4 3 und wurde
138 Adolph Michaelis an Georg Loeschcke, Straßburg 21.1.1906 (Abschrift Justis). In: „Sammlung Velazquez", Archiv der BB AW, Nl. Carl Justi 52. Daß zwei der prominentesten Archäologen der Wilhelminischen Ära Justi zu einer öffentlichen Erklärung drängten, ist sicher auch durch Vorkommnisse in ihrer eigenen Disziplin bedingt. 139 Paul Kristeller an Justi, Berlin 14.1.1902, in: „Sammlung Velazquez", Archiv der BBAW, Nl. Carl Justi 52. Dort auch zwei Briefe Auguste Bréals (1904), der in seiner Monographie (1919) Justi der Fälschung bezichtigte: Bréal: Velazquez, S. 11-19; vgl. auch in Anschluß an Bréal den Artikel von Pierre Mille: „Un faussaire boche", in: Le Temps 1.2.1920 (Beigabe L. Justis in: „Sammlung Velazquez", Archiv der BBAW, Nl. Carl Justi 49). 140 Diesen Rezeptionsstrang zeichnet wiederholt Karin Hellwig auf Basis des Berichts von Antonio Muñoz, „Le impressioni romane del Velázquez e la mistificatione di un critico tedesco" (1917) nach: „Carl Justi y los comienzos de los estudios sobre arte español el Alemania", S. 52 f; „Velazquez in Rom", S. 278 ff; „Das Schweigen des Velázquez. Kunsthistoriker als .Fälscher': der Fall Justi". Die These, daß sich die Entrüstung vor allem im Ausland und aus nationalistischen Gründen entfachte, wird durch die Dokumentation im Berliner Nachlaß und durch den oben zitierten Brief von Adolph Michaelis bestätigt, der als Straßburger Ordinarius eine anti-deutsche Welle befürchtete. Michaelis wußte von Vorgängen in Paris, wo von einem beschwichtigenden Brief Justis Fotografien hergestellt worden waren und fürchtete zu Recht, daß „bei irgend einer Gelegenheit Gebrauch von dem Brief gemacht werden würde" (Michaelis an Loeschcke, Straßburg 21.1.1906, s.o.). 141 Waetzoldt: Deutsche Kunsthistoriker II, S. 263 f; Kultermann: Geschichte der Kunstgeschichte, S. 125; Hüttinger: „Stilpluralismus im Werk von Roberto Longhi", in: Ders.: Porträts und Profile, S. 225 f. Dazu, daß man die Kriterien Fiktionalität und Literarizität mit guten Gründen auseinanderhalten sollte, vgl. Searle: „Der logische Status des fiktionalen Diskurses", in: Ausdruck und Bedeutung, S. 80 ff (Comics sind fiktional, aber nicht unbedingt literarisch; die Bibel ist literarisch, aber nicht für jeden Leser fiktional). 142 Grafton: Fälscher und ihrer Kritiker, 143 Ebd., S. 48.
S. 91.
2. Individualitätsgedanke
und
Kunstgeschichte
235
wie der Dialog mit einem wissenschaftlichen Apparat versehen. Justi erlaubt sich sogar, beide Elemente zu verbinden, wenn er im Brief mit eckigen Klammern auf eine Referenzstelle im Dialog verweist (I, 285, bzw. I, 88). Kommentierte sich hier ein Fälscher selbst? Attraktiv wäre aber auch der Umkehrschluß: Die Annahme, daß Velazquez seinen Schwiegervater Pacheco aus Rom mit Informationen über Künstler und Kunstwerke versorgt hat, die dieser in sein Werk El Arte de la Pintura aufnahm (vgl. I, 14), könnte die These stützen, daß sich Justi um die Rekonstruktion eines authentischen Urtextes bemühte, und zwar aus einer ähnlichen Motivation heraus wie Niebuhr, der aus späteren Quellen den verschollenen Bericht des Fabius Pictor zum Punischen Krieg herausschälen wollte. 144 Die dritte Deutungsversion, nämlich die eines dezidiert fiktionalen Status, ließe sich mit Schopenhauers Skepsis gegen die Repräsentationsfähigkeit der modernen Geschichtsschreibung rechtfertigen, die gegenüber der historistischen Konvention eine auffallende Außenseiterposition einnimmt: Aristoteles' Lehre von der höheren Wahrheit der Poesie aufgreifend (Poetik 1451 b), nennt er die Historiographie der Alten vorbildlich, da sie die Lückenhaftigkeit der historischen Uberlieferung durch erfundene Reden schließe. Der Geschichtsschreiber gleiche somit die Unvollständigkeit der pragmatischen Ereignisverkettung durch seine Intuition aus, wodurch wenigstens auf diese Weise eine höhere poetische Wahrheit zur Geltung komme.145 Fiktionale Texte setzen zwischen Verfasser und Publikum das Einverständnis voraus, daß sie als solche erkennbar und rezipierbar sind. Vor dem Hintergrund der kommunikativen Rahmenbedingungen des Entstehungskontextes ist anzunehmen, daß zumindest Justis engerer Adressatenkreis die Abschnitte schnell als fiktional erkennen konnte: Wie Justi selbst sagt, „bekam ich oft bei Gesprächen [...], wenn die Rede auf den Reisebrief kam, zu hören, wie bald man hinter der hispanischen Maske das Gesicht des wahren Autors erraten habe - nicht bloß mit allen kritischen Hunden gehetzte Gelehrte, sondern auch ungelehrte Damen von Geist und Witz." 1 4 6 Genau dieser Hinweis verrät die Betriebsblindheit Justis, unter deren Vorzeichen ,Brief' und Dialog stehen: Zu den ,,ungelehrte[n] Damen von Geist und Witz" gehörten philologisch gebildete und als anerkannte Übersetzerinnen tätige Frauen wie Charlotte Broicher oder Therese Leo, 147 mit denen Justi korrespondierte oder in deren Salons er regelmäßig zu Gast war. Mit den von „allen kritischen Hunden gehetzte[n] Gelehrte[n]" sind vermutlich Bonner Kollegen wie die Altphilologen Hermann Usener und Franz Bücheler gemeint, zu denen Justi Anschluß suchte 148 und in deren „Kollegialisches 144 145 146 147
Siehe hierzu Droysen: Historik (Hübner), S. 131. Vgl. WWV I 343 f, § 51. Justi: „Das Tagebuch des Velazquez", in: Kunstchronik N F 17 (1905/06), Sp. 246. Charlotte Broicher (geb. 1848): Befreundet mit Ernst und Clara Curtius, Adolph von Harnack, zur Jahrhundertwende im Umfeld des Kreises um Reinhold und Sabine Lepsius, Übersetzerin Ruskins. Therese Leo (1841-1915), Schwester des Göttinger Altphilologen Friedrich Leo, tätig als Übersetzerin, unterhielt in Bonn einen Salon, in dem Justi regelmäßig verkehrte.
148 Bücheler und Usener sind vermutlich die einzigen Gelehrten, denen Justi mit vorbehaltlosem Respekt begegnete. Vgl. Cohen: „Carl Justi", S. 262. In diesem Sinne schreibt Michaelis an Loeschcke (wie oben): „Mir scheint aber, irgend ein guter Freund Justis müßte ihn veranlassen an irgend einer Stelle eine offene Erklärung über den Umfang dieser erfundenen Aktenstücke zu geben [...]. Wer könnte das thun? Sie? Bode? Ich kenne den Kreis von Justis näheren Freunden nicht; lebte Usener noch, würde ich mich an ihn gewandt haben."
236
III. Der „Dolmetsch
der
Kunst"
Kränzchen" er nach dem Erscheinen der Ve/¿ízg«ez-Biographie aufgenommen wurde. 149 Justi schrieb deshalb nicht für ein „literarisch verbildetes" Publikum, 150 sondern für die Bildungselite des Kaiserreichs, die ihr methodologisches Verständnis direkt von Humboldt und Welcker ableitete und die Kulturwissenschaften auf der Basis der philologischen Textkritik gründen ließ. 151 Die Bonner Rektoratsreden Büchelers (1878) und Useners (1882) machen dies explizit: Sie postulieren offensiv das methodologische Primat der Philologie für alle historischen Wissenschaften und sehen in der Textkritik eine Schlüsselqualifikation, auf deren operativer Grundlage die Einzeldisziplinen - die Kunstgeschichte inklusive 152 sich zu bewähren haben. Philologisches Arbeiten, d. h. das Herstellen von textkritisch gereinigten Quellen, überhöht demnach nicht nur die Wissenschaft zur Kunst, 153 es qualifiziert auch zum schnellen Erkennen von Fälschungen: Laut Bücheler ist „heute leicht auszumachen", ob „ein Schriftwerk antik oder modern" ist, denn man könne schnell erkennen, „wenn ächte und unächte, ursprüngliche und zusätzliche Massen in einem Werk gehäuft sind", und dann der „verschiednen Geister Arbeit und Eigentum" auseinanderlegen. 154 Bücheler ist sich deshalb gewiß: „[Sjollte ein mit der grössten denkbaren Fülle von Kenntnissen ausgerüsteter Falsarius heute uns berücken, der morgende Tag müsste ihn entlarven." 155 Daß Justis Monographie in diesem Kontext entsteht, zeigt nicht allein die umständliche und ausführliche textkritische Auseinandersetzung mit der plump gefälschten Memoria des Velazquez im zweiten Band, sondern auch der,Brief': Mit einem Griff zu den Hauptquellen der barocken Kunstgeschichte konnte ein philologisch geschulter Leser den kompilatorischen Charakter sofort erkennen und seinen Verdacht zur Gewißheit erhärten. Die verspätete Aufregung über Justis ,Philologenwitz' erklärt sich deshalb auch aus den veränderten Vorstellungen von dem, was eine methodisch gefestigte Kunstwissenschaft zu leisten habe: Mit der Ablösung des .kulturwissenschaftlich' profilierten und komplexen Paradigmas .Philologie' als interdisziplinärer Grundlage aller Geisteswissenschaften durch das effizientere Paradigma einer spezialisierten, objektbezogenen und formgeschichtlichen Kunstwissenschaft 156 um 1900 waren die Rezeptionsanforderungen von Justis .Brief' und Dialog
149 Justi wurde 1889 in das „Kollegialische Kränzchen" aufgenommen. Vgl. Braubach: „Wissenschaftliche Freundeskränzchen im Bonn des 19. und 20. Jahrhunderts", S. 427-431. 150 Hellwig: Von der Vita zur Künstlerbiographie, S. 165: „Das Bürgertum des fortgeschrittenen 19.Jahrhunderts war kein Augenpublikum, sondern ein literarisch verbildetest·]" I s t e i n Publikum, das Menzel, Leibi und Courbet schätzt, literarisch verbildet? 151 Vgl. hierzu Adolf Köhnken: „F. G. Welcker und die Bonner philologische Tradition", in: Calder et. al. (Hg.): Friedrich Gottlieb Welcker, S. 79-104. 152 Usener: Philologie und Geschichtswissenschaft, S. 28 f. 153 So ist nach Usener die Grammatik die „grundlage aller philologischen thätigkeit", „nicht die buchmässige, sondern die lebendige, nicht Wissenschaft, sondern kunst". Ebd., S. 25. 154 Bücheler: Philologische Kritik, S. 22. 155 Ebd., S. 19. 156 Vgl. die These Thomas S. Kuhns, nach der ein komplexes Methoden-Paradigma durch ein vereinfachtes verdrängt wird und damit auch ältere Fragestellungen ins Abseits geraten. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 26, 57 u. ö. Zum Wandel in der Altphilologie nach 1900 vgl. Henrichs: „Philologie und Wissenschaftsgeschichte. Zur Krise eines Selbstverständnis-
2. Individualitätsgedanke
und
Kunstgeschichte
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nicht mehr gegeben. Formanalyse und die einsetzende kritische Aufarbeitung des Historismus trugen dazu bei, daß die philologische Kompetenz und damit auch das schnelle Erkennen von Adaptionen oder Ironiesignalen in Texten unter den Kunsthistorikern tendenziell eher abnahm; eine Schlüsselqualifikation, die für die Generation Justis noch eine Selbstverständlichkeit war. Der Paradigmawechsel in der Kunstwissenschaft hatte somit den philologisch basierten „Fiktionsvertrag" (Eco) gekündigt. Wer hingegen um 1888 mit der Bonner Seminaratmosphäre vertraut war und zudem die auf Winckelmann-Feiern ständig rekapitulierten Topoi kannte,157 der stieß, unter Anwendung der textkritischen Mittel von recensio und emendatio, unter Umständen auf einen Palimpsest, der den Brief des Velazquez indirekt mit Humboldt verknüpfte und damit auf die nach Bonner Verständnis maßgeblichen Traditionen verwies. a) Der Brief des Velazquez Humboldts Brief vom 23. August 1804, den Goethe in die Skizzen zu einer Schilderung Winkelmanns einschaltete, objektiviert jenen klassizistisch-anthropologischen Konnex zwischen Romerfahrung und ganzheitlicher Ausprägung der Persönlichkeit, der wesentlich dazu beitrug, daß der Sammelband zu einem der neuhumanistischen Schlüsseltexte im 19.Jahrhundert wurde. Die Aufnahme des Briefs ist dort erzähltechnisch entscheidend: Exakt an der Textstelle, an der mit Winckelmanns Ankunft in Rom die Phase der Vervollkommnung beginnt, gibt Goethe seine auktoriale Deutungshoheit auf und wechselt mit Humboldt von der historisierenden Perspektive zur Gegenwart, womit die implizite Aufforderung zur Winckelmann-Nachfolge manifest wird: ,,[N]och läßt er [Winckelmann] nichts Einzelnes auf sich eindringen," schreibt Goethe, „das Ganze wirkt auf ihn mannigfaltig, und schon fühlt er die Harmonie voraus, die aus diesen vielen, oft feindseligen Elementen zuletzt für ihn entstehen muß." 158 Dem folgt der Bericht Humboldts, welcher den im Ort begründeten Schwebezustand von Aktivität und Passivität am Subjekt der Gegenwart bestätigt. Die Romerfahrung bleibt damit nicht einer immanent-biographischen Darstellung inhärent, sie objektiviert sich vielmehr in der dialogischen Struktur zwischen Goethes Rahmentext und Humboldts eingefügtem Brief, welcher, in Antithese zur zuvor kritisierten romantischen Entgrenzung, der Phantasie eine schöpferische Kraft zubilligt. Der organische Lebenszusammenhang von antiken Ruinen und ihrer natürlichen Uberwucherung provoziert die Phantasie zur Vergegenwärtigung des Vergangenen:159 ,,[E]s ist ein gewaltsames Hinreißen in eine von uns nun einmal, sei es auch durch eine notwendige Täuschung, als edler und erhabener angesehne Vergangenheit; eine Gewalt, der selbst, wer ses". Daß die von Wölfflin inspirierte kunsthistorische Barockforschung vor allem formanalytisch arbeitete und Archivalien nur punktuell (statt wie bei Justi umfassend und aus kulturgeschichtlichem Gesamtinteresse) sondiert hat, sollte hierbei ebenso als Faktor dieses Rezeptionsphänomens veranschlagt werden. 157 Zu der zentralen Rolle des Winckelmanns-Tags in Bonn vgl. Borchardt: „Friedrich Leo", S. 267. 158 MA 6.2, S. 360 (Skizzen). 159 Vgl. Beyer: „Leben in Gegenwart des Vergangenen. Carl Justi, Jacob Burckhardt und Ferdinand Gregorovius in Rom vor dem Hintergrund der italienischen Einigung".
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III. Der „Dolmetsch der Kunst"
wollte, nicht widerstehen kann, weil die Öde, in der die jetzigen Bewohner das Land lassen, und die unglaubliche Masse von Trümmern selbst das Auge dahin führen." 160 Damit erstellt Goethe fünfzig Jahre nach Winckelmanns Ankunft in Rom mit der Hilfe Humboldts ein Korrespondenzverhältnis zur Gegenwart: Die in Winckelmann manifeste Ausprägung der Persönlichkeit durch die Aufnahme einer mannigfaltigen Totalität wiederholt sich am Exempel Humboldts; ja sie wird auch für die Zukunft als erstrebenswert erachtet, da in Rom nicht nur der Ort der Freiheit und Individuation erkannt wird, sondern auch die römische Topographie die Kontinuität des Vergangenen in der Gegenwart gewährleistet. Dem Aufruf zur Winckelmann-Nachfolge ist Justi auf mehrfache Weise nachgekommen. Nicht nur, daß er in dessen Entwicklungsgang vom verkrachten Kandidaten der Theologie zum Kunstschriftsteller das eigene biographische Muster in hohen Maßen wiederfand,161 auch seine Schilderungen Roms von den ersten Aufenthalten 1867-69 stehen ganz in der klassizistischen Tradition und sind kaum ohne die prästrukturierende Wirkung Humboldts und Goethes denkbar. In den Reiseaufzeichnungen nimmt Justi den Humboldtschen Gedanken auf, wenn er die Inkommensurabilität der ewigen Stadt aus der Einheit von Ruine und Vegetation erklärt, deren übermächtige Erhabenheit die Phantasie einerseits bezwingt und zugleich zur schöpferischen Aktivität herausfordert: „Seine Wüsten, seine Ruinen, das Chaos seiner Statuen, seine Tempel, das sichselbstüberlassensein der zerstörenden und neubauenden Zeiten, das alles lädt die Phan[t]asie in ganz anderer Weise ein zur Thätigkeit." 162 Wie bei Humboldt wird die historische Einbildungskraft fest an den römischen Kulturorganismus gebunden; er begrenzt und entgrenzt die geistige Spannkraft zugleich. Dadurch, daß die fragmentarische Präsenz der vergangenen Jahrhunderte den Betrachter zur geschichtlichen Reflexion nötigt, entsteht ein historisch-imaginatives Band, das in der Spannung von Nähe und Distanz, Umschöpfung und Zerstörung die Kontinuität zum Vergangenen sichert. Fast gleichzeitig wird aber auch der Scheincharakter dieser Wahrnehmung erkannt: So wie Humboldt darauf hinweist, daß es „nur eine Täuschung" ist, „wenn wir selbst Bewohner Athens und Roms zu sein wünschten" und deshalb das Altertum ,,[n]ur aus der Ferne, nur von allem Gemeinen getrennt, nur als vergangen [...] uns erscheinen" muß,163 stellt Justi fest, daß „Rom [...] zugleich eine Stätte der vergangenen Herrlichkeit [ist], die herzustellen die Phantasie ablehnt, und von der doch noch genug da ist, um einen Anhalt, eine Ahnung zu geben." 164 Vor diesem Hintergrund muß der im Romkapitel des Velazquez abrupt auftauchende (I, 284-290) Reisebrief165 des Künstlers zunächst ernüchtern: „Das Ganze war viel zu sorglos hingeworfen", schrieb Justi rückblickend, „um als ernstliches Pseudotagebuch aufmerksame Leser zu teuschen [ . . . ] - was einen allein dabei interessierte, war seine faktisch authen160 MA 6.2, S. 360 (Humboldt an Goethe). 161 Vgl. Osterkamp: ,„Vixi'. Spiegelungen von Carl Justis Italienerfahrung in seiner Biographie Johann Joachim Winckelmanns", S. 244 u. ö. 162 An Friederike Justi, Florenz 31.5.1868, in: Briefe aus Italien, S. 187. 163 MA 6.2, S. 361 (Humboldt an Goethe). 164 An Friederike Justi, Florenz 31.5.1868, in: Briefe aus Italien, S. 187. 165 Justi spricht rückblickend von einem Tagebuch, obwohl der Abschnitt adressatenbezogen geschrieben ist.
2. Individualitätsgedanke
und
Kunstgeschichte
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tische Daten, daß es wirklich aus belegten historischen Splittern gleichzeitiger Quellen zusammengesetzt war." 1 6 6 In der Tat ist der Bericht eine Interpolation aus verschiedenen Quellen, die das Jahr 1629 zu einem „Mosaik" 1 6 7 über Rom unter Urban V I I I . zusammenfügen. So ist auffallend, daß dort zahlreiche Ereignisse auftauchen, die Justi auf den Seiten seines Velazquez-Arbeitsbuchs zu den Jahren 1629 und 1630 notiert hat. 168 Die Auswahl der meist aus Baglione oder Baldinucci entnommenen Textstellen zeigt, wie sehr Justi auch hier darauf bedacht ist, die Nennung von direkten Einflüssen auf den Künstler zu umgehen. Die aufgesuchten Orte gehören entweder zur Konvention jedes damaligen Besuchsprogramms (St. Peter, Raffaels Stanzen, Fresken Zuccaris und Albanis) bzw. sie sind, wie die Restaurationswerkstatt von Giottos Navicella (I, 286), ohne jeglichen Bezug zum Schaffen des Künstlers. Uber Velazquez selbst erfährt man nichts - oder nur das, was ohnehin schon im Rahmentext erwähnt wurde ( z . B . die Audienz beim Kardinalnepoten Francesco Barberini). Ein Ironiesignal setzt Justi mit dem verächtlichen Kommentar des spanischen Höflings Velazquez zu der Anekdote über Guido Reni, der damit prahlte, selbst vor Päpsten den Hut aufzubehalten: „Die Geschichte vermehrte noch meine Abneigung gegen diesen Spieler, der sich meiner Ansicht nach von allen seiner Schule am meisten von der gesunden Wahrheit entfernt hat, in der Farbe gewiss, aber auch im übrigen." (I, 287) Ähnlich verhält es sich mit den im Brief auftretenden Personen, denn Velazquez scheint sogleich den Rat eines Jesuitenpaters aus Salamanca zu befolgen, die römischen Künstler nicht aufzusuchen, da sie von den Kardinälen zu sehr verwöhnt würden (I, 287): Die beiden einzigen Künstler, mit denen er Bekanntschaft schließt, sind zwar historisch verbürgt, aber für Justis Publikum kaum überprüfbar. Die ironische Pointe ihres Auftretens gründet schlicht und ergreifend auf der Tatsache, daß von ihnen so gut wie keine Werke erhalten sind. Der Komödiendichter mit dem D o n Quichottesk anmutenden Namen Sancho de Paz, 1 6 9 dem Velazquez in der Antecamera des spanischen Gesandten Monterey begegnet, und der bayerische Miniaturschnitzer (!) Sigmund Laire (Gismondo Tedesco) 1 7 0 verkünden zwar äußerst beredt den Topos von der römischen Künstlerrepublik, in letzter Konsequenz beschränkt sich ihre Funktion jedoch darauf, ein weiterer Beleg für Justis Generalthese zu sein, daß der Genius nicht von den Umständen bestimmt wird und sein Schöpfertum in Verbindung zu den Gelegenheitsursachen steht, die nur dazu da sind, „sein ursprüngliches und unverändertes Wesen zum Hervortreten [zu] reizen" (I, 124). Wie stark hierbei das Zufällig-Authentische zur schöpferischen Grundlage von Justis eigener Darstellungsauffassung wird, zeigt folgender Vorgang: Im Archivio Fiorentino hatte Justi offenbar erfolglos das bei Pacheco erwähnte Schreiben Montereys an den 166 Entwurf zu der Erklärung „Das römische Tagebuch des Velazquez", Archiv der BBAW, Nl. Carl Justi 49. 167 Ebd. 168 Vgl. „Studienbuch Velazquez", Archiv der BBAW, Nl. Carl Justi 61. Auf der Seite zum Jahr 1630 vermerkt Justi links die Details von Velazquez' römischem Aufenthalt, rechts einige im .Brief' erwähnte Ereignisse wie Albanis Altarbild in Santa Maria della Pace und den Tod von Antonio Tempesta. Abb. 17. 169 Zu de Paz vgl. Benedetto Croce: I Teatri di Napoli. Secolo XV-XVIII. Neapel 1891, S. 91 f. Die von de Paz geleitete Schauspielertruppe war seit 1620 in Neapel tätig. 170 Die Grundlage bildet: Baglione: Le Vite de' Pittori Scultori et Architetti I, S. 353 [255].
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III. Der „Dolmetsch
der
Kunst"
Großherzog von Toskana gesucht, welches um Erlaubnis für Velazquez' Aufenthalt in der Villa Medici bat; 1 7 1 er stieß aber auf ein anderes Dokument, das eine ähnliche Angelegenheit betraf: Im Justi-Nachlaß befindet sich die Transkription eines von Monterey unterschriebenen Briefs, der den Komödianten Sancho de Paz nach Florenz und Wien empfiehlt (Abb. 21). 172 Die personelle Koinzidenz mit Monterey und die inhaltliche Ähnlichkeit zwischen eigentlich gesuchtem und zufällig aufgefundenem Schreiben setzt Justi produktiv um, 1 7 3 indem er sein neu hinzugewonnenes Wissen um die Existenz des Komödianten in Form einer Antecamera-Situation inszeniert: 1 7 4 So berichtet Velazquez in dem .Brief', daß er beim Warten in der Antecamera Montereys mit de Paz zusammentrifft, der gerade im Begriff ist, „sich eine Empfehlung an den Grossherzog von Florenz [zu] holen" (1,284). Die Transformation von der Trouvaille zu ihrer Verlebendigung ist deshalb so bemerkenswert, weil hier Justi sein ursprüngliches Quellendesiderat durch ein Analogon substituiert: Das Dokument, von Justi in der Abschrift diskret als besondere Köstlichkeit launenhafter Überlieferung verwahrt, weitete nicht nur den Blick hinsichtlich der historischen Vorstellungskraft, im Text wirkte es als scheinbare Redundanz unterstützend für die historiographische Auffächerung der römischen Lebenswelt um 1630: Es stellte das authentische Bild der Zeit her, indem es en passant den alltäglichen Geschäftsgang in der spanischen Gesandtschaft thematisierte. Wenn aber Justi in der nachfolgenden Beschreibung der Schmiede Vulkans die komödienhafte Umsetzung des Sujets hervorhebt und den ethnischen Phänotyp der Modelle auf die Bediensteten der spanischen Gesandtschaft in R o m zurückführt (I, 304), dann konstruiert er eine indirekte und fast verborgen bleibende Beziehung, die auf das Gespräch mit dem „feinen Mann [= Sancho de Paz], dem ich sein Handwerk nicht anmerkte" (1,284), zurückverweist. Die mit dem ,Brief' implizierte römische Selbstfindung als genuin spanischer Maler erweist sich damit als das Ergebnis einer Zufallskonstellation im doppelten Sinne: hinsichtlich Justis eigener historiographischer Umsetzung von archivalischen kontemplativen „Ruhepausen" (1,19) zu einem aktiv-schöpferischen Prinzip, das den Zufall ins Fiktionale transformiert, und hinsichtlich der biographischen Subjektkonstruktion des Künstlers, die die Kontingenzerfahrung zur Grundbedingung seiner künstlerischen
171 Vgl. die an den Brief anschließende Ubersetzung von Pachecos Bericht: „ U n d so ersuchte er den Grafen Monterey, er möge doch bei dem H e r z o g von Florenz zu erreichen suchen, dass ihm dort zu wohnen gestattet werde. Zwar war es nothwendig, an den H e r z o g selbst zu schreiben, dieser aber erlaubte es." (I, 290) 172 Monterey an den Großherzog von Toskana (?), R o m , 21.6.1630, Transkription Justis, vorne eingelegt in der „Sammlung Spanische Kunst", Archiv der BBAW, Nl. Carl Justi 34. 173 Vgl. ähnlich Justis Vorwort zu den Miscellaneen aus drei Jahrhunderten spanischen Kunstlebens I, S. VI: „Die Anregung zur Abfassung dieser Miscellen lag [...] in der entdeckten Gelegenheit ein Stückchen Vergangenheit lebendig zu machen, zu sehen wie es einst zugegangen ist. Nicht für ein Thema ist nach den Quellen geschürft worden, sondern die sich darbietende Q u e l l e reizte zur Anfassung des Themas." 174 Mit Velazquez' Hinweis, daß er in der Antecamera „etwas lange warten" mußte (I, 284), spielt Justi womöglich auf die Briefe Winckelmanns an, in denen dieser davon berichtet, sich dem langen Warten in der Antecamera von Kardinal Archinto widersetzt zu haben (vgl. W I I / l , 111). Zur dieser Situation und den damit verbundenen Implikationen vgl. Disselkamp: Die Stadt der Gelehrten, S. 318-325.
2. Individualitätsgedanke
und Kunstgeschichte
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Leistung macht. Insofern wird die Parallelschaltung von schöpferischer Archivforschung mit Velazquez' römischer Selbstfindung nicht nur zur autobiographischen Selbstbespiegelung Justis, sondern auch zum Ausdruck seines gesamten methodischen, historiographischen und produktionsästhetischen D e n k e n s : ,,[D]er Zufall soll einen Bereich
haben,
Gegensätze und Ähnlichkeiten offenbaren können, die oft neue G e d a n k e n anregen."
175
Bestärkt wird das Kontingenzmodell durch die Art und Weise, mit der die besuchten Stationen miteinander verknüpft werden. D u r c h Anschlüsse wie „Meine Ungeduld, den grössten Tempel der Christenheit zu sehen" (I, 285), „ A m folgenden Tag in der Früh hörte ich die h. M e s s e " (I, 286), „ D a es Zeit war aufzubrechen" (I, 287), „ N a c h d e m wir in einer Hosteria an Piazza N a v o n a gespeist hatten" (I, 288), die in ihrer lockeren Reihung entfernt an M o n taignes Italien-Tagebuch ( 1 5 8 0 / 8 1 ) 1 7 6 erinnern, erhält die T e x t k o n z e p t i o n einen zusätzlichen Signalcharakter. D e n n wie bei Montaigne erzeugt der distanziert-interessierte Blick des Flaneurs die Vorstellung von einer Reiseerfahrung, die sich über die kontemplative A u f nahme zufälliger Daten und Erlebnisse definiert. D e r G l e i c h m u t , mit der dieser fiktive Velazquez das G e h ö r t e und Gesehene referiert, unterstützt indirekt Justis Deutung v o m kontemplativen, der reinen Anschauung verpflichteten Hofmaler. Aus diesem G r u n d erscheint in H i n b l i c k auf den biographischen R a h m e n die F i k t i o n von hoher Relevanz: Indem sie die K o n t i n g e n z als Erfahrung des Genius regelrecht inszeniert, findet sich dort mutatis sein Jahrhundert
mutandis
das anthropologische Modell von Winkelmann
und
wieder, da die lose Reihung der Ereignisse formal jene Grundbedingung
markiert, die erst eine wahrhaft schöpferische Produktion ermöglicht. D e r Besuch gestaltet sich als schöpferische Initiation auf Grundlage der vita contemplativa,
zu der Justi am Ende
des R o m - A b s c h n i t t s ein schöpferisch-aktives Pendant setzt: Die Beschreibung der Vulkans
Schmiede
(I, 3 0 1 - 3 0 8 ) spiegelt exakt jenes Paradox des nicht-erfahrbaren Erfahrenen im
künstlerischen Ergebnis. M i t anderen Worten: Das biographische Entelechie-Prinzip, nach dem das autonome Innere die äußere Lebenswelt produktiv umsetzt, bestätigt sich in der polaren Gegenüberstellung von Brieffiktion und Bildanalyse. D e r von G o e t h e in Winkelmann
und sein Jahrhundert
so wirkungsvoll inszenierte T o p o s
der Selbstfindung in R o m sollte aber auch einen B e z u g zur Gegenwart erfüllen und über die engere Aufgabe der Biographik hinausgehen, indem H u m b o l d t s B r i e f als historische „ F u g e " 1 7 7 die Kontinuität zwischen Vergangenem und Gegenwart sicherte. In den Reisebriefen und Tagebuchaufzeichnungen von 1 8 6 7 / 1 8 6 9 stellte sich Justi in diese Tradition, indem er sie in seine autobiographische Selbstdeutung aufnahm und bewußt nacherlebte. E i n e solche Auffassung wird jedoch dann zum Problem, wenn der E i n b r u c h von Veränderung evident ist und das die Geschichte betrachtende Subjekt sich der eigenen Gegenwart
175 „Moderne Irrtümer" (Typoskript), S. 30. Archiv der BBAW, NL Carl Justi 39. 176 Daß Montaignes Reisetagebuch nur wenig essayistische Reflexionen enthält und sich durch seinen nüchternen Bericht vom Hauptwerk der Essais unterscheidet, wurde bald nach seinem postumen Erscheinen kritisiert. Vgl. Falke: „Nachwort" [1908], in: Montaigne: Tagebuch einer Reise durch Italien, S. 336. 177 Zur Entstehung dieser historistischen Denkfigur am Ende des 18. Jahrhunderts vgl. Dockhorn: „Epoche, Fuge und ,\mnaûo'", passim.
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III. Der „Dolmetsch
der Kunst"
nicht mehr sicher weiß. So schien um 1888 für viele Zeitgenossen die Präsenz des Vergangenen durch die Modernisierung Roms, die sich seit der Erhebung zur Reichshauptstadt 1871 in Form zahlreicher städtebaulicher Maßnahmen bemerkbar machte, akut gefährdet.178 Die Einzwängung von St. Peter und Vatikanpalast durch kasernenartige Neubauten, die vollständige archäologische Freilegung des Forum Romanum, die Zerstörung des Gartens der Villa Ludovisi und die nach Pariser Vorbild verbreiterten Corsi veränderten das Stadtbild derart, daß das vormalige historische Kontinuum nicht mehr gegeben schien.179 Daß sich die Umwandlung zur Terza Roma bereits während Justis Rom-Initiation 1867/69 ankündigte, wird in nichts sinnfälliger als in der Tatsache, daß sich ihm der genius loci nicht am Ort selbst, sondern erst in den Uffizien vor einer Vedute Paninis offenbart.180 Erst aus der Distanz, vor dem gerahmten Bild und damit in historisierender Abrückung, kann er dem klassischen Muster der römischen Selbstfindung Rechnung tragen. Zwanzig Jahre später sind es in der Velazquez-Monographie erneut Veduten, welche den endgültigen Verlust der gelebten Einheit von Antike, Barock und Moderne vor Augen führen und besiegeln: „Es ist ein Stück des alten Campo Vaccino, das nun längst verschwunden ist." (I, 300) Die Bildbeschreibung zum Garten der Villa Medici nimmt den Faden des fingierten Briefs wieder auf, wenn es in Anspielung auf den dort geschilderten Besuch im Belvedere heißt (I, 289), daß Velazquez „einer Bekannten aus dem Belvedere [begegnete]: der Cleopatra-Ariadne. Sie schien ihn beruhigen zu wollen, dass er jenen unvergleichlichen Ort verlassen." (I, 297 f) Doch auf die am Bild gefühlte Einheit zwischen Natur und belebter Statue folgt Justis Trauer und Ernüchterung über das Vergangene: „Werden die Statuen in die sicheren Säle gerettet und die Ruinen abgeräumt, so ist der Zauber dahin, und man versteht nicht mehr, wie diese Steine Mignon mitleidig ansehen konnten." (I, 299)181 Der elegisch gestimmte Rahmen des Rom-Kapitels kehrt die kulturkritische Dimension des fingierten Briefs hervor: Das „Flußbett" der Ewigen Stadt, dessen kulturellen Ströme sich immer wieder durch die „Erborgung fremden Lebens"182 füllten, war innerhalb von zwanzig Jahren durch „die zerstörenden Sandwehen der neuesten Zeit" versiegt (I, 283). Im Brief des Velazquez konservierte Justi das noch 1867 erfahrene historische Kontinuum ein
178 Zu diesem Problemfeld vgl. Beyer: „Leben in Gegenwart des Vergangenen. Carl Justi, Jacob Burckhardt und Ferdinand Gregorovius in Rom vor dem Hintergrund der italienischen Einigung"; Osterkamp: „,Vixi\ Spiegelungen von Carl Justis Italienerfahrung", S. 254-260; Tauber: Jacob Burckhardts, Cicerone', S. 6 2 - 6 8 ; 84-87. 179 Vgl. dazu die Stellungnahmen von Gregorovius („Der Umbau Rom's", 1886) und Herman Grimm („Die Vernichtung Rom's", in: Aus den letzten fünf Jahren, S. 250-271). Einen umfassenden Uberblick zu den Umwandlungen seit 1850 gibt Werner Weisbach: „Stadtbaukunst und Terza Roma", in: Preußische Jahrbücher 157 (1914), S. 7 0 - 1 0 0 . 180 A n Friederike Justi, Florenz 3 1 . 5 . 1 8 6 8 , in: Briefe aus Italien, S. 187: „Als ich gestern in den U f f i zien ein Gemälde mit römischen Ruinen von Pannini sah, da fühlte ich wieder so lebhaft, wie dieser Ort mit keinem in der Welt verglichen werden kann." 181 Damit ist Humboldts Klage, daß ,,[w]ir [...] immer einen Ärger [haben], wenn man eine halb versunkene [Ruine] ausgräbt, es kann höchstens ein Gewinn für die Gelehrsamkeit auf Kosten der Phantasie sein", traurige Gewißheit geworden. M A 6.2, S. 361. 182 Justi: Briefe aus Italien, S. 282 (Tagebuch).
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und
Kunstgeschichte
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letztes Mal, wenn er dort dessen Wachsen und Vergehen thematisierte: Mantegnas Fresken im Vatikan (I, 290) waren schon 1780 für den Bau des Braccio Nuovo zerstört worden; um 1879 wurde die Fassade von San Giacomo degli Spagnoli (heute: Nostra Signora del S. Cuore) bis zur Unkenntlichkeit renoviert, aus der Kapelle San Diego die Fresken Francesco Albanis entfernt (I, 286); auch hatte Justi noch den seit 1477 stattfindenden Markt auf der Piazza Navona erlebt („Buden"; I, 288), der 1869 auf den Campo dei Fiori verlegt wurde. Andererseits berichtete Velazquez vom Entstehen jener barocken Schlüsselwerke unter Urban VIII. wie der Barcaccia von Pietro und Lorenzo Bernini, die seither das Stadtbild bestimmen (I, 288). Der Brief bezog somit seine Legitimation aus der Umbruchserfahrung von der gefühlten Einheit eines kulturellen und zeitlich überlagerten Organismus hin zur dynamischen Modernisierung. War den antiken Historikern das Erfinden von Reden bedeutender Staatsmänner erlaubt, wenn sie dies mit ihrer eigenen Augenzeugenschaft beglaubigen konnten, 183 so beglaubigte Justi mit der „hispanischen Maske" 1 8 4 in einem letzten Akt das noch 1867 von ihm erlebte kulturelle Kontinuum: „Die Zeit der Borghese, Ludovisi, Barberini lebt noch heute (leider muss man jetzt verbessern: lebte bis ganz vor kurzem)" (I, 283). Dieser im Rahmentext vorgeschaltete Kommentar macht deutlich, daß der ihm nachfolgende ,Brief' eine bewußte Maßnahme der Kontinuitätssicherung ist, die aus einem klassizistischen Argumentationsmuster heraus das barocke Rom zum letzten Mal in seiner lebendigen Erfülltheit beschreibt. Daß Justis Phantasmagorie zugleich am Anfang der kunstwissenschaftlichen Erforschung des römischen Barock stand und sein VelazquezBrief gelegentlich als Quelle diente, gehört zu den Pointen der Wissenschaftsgeschichte. b) Der Dialog über die
Malerei
Ähnlich wie die Brieffiktion fällt der Dialog über die Malerei (I, 85-104) 1 8 5 zunächst wegen seines Interpolationscharakters auf. Wie Justi in einer Fußnote vermerkt, ist das „Gespräch [...] mit Benutzung der Malerkunst des Pacheco, der unter dem Namen Eutifron eingeführt ist, verfertigt worden, wie die nachgewiesenen Stellen beweisen." (I, 85) Auch in der formalen Umsetzung scheint sich der Abschnitt an konventionellen Mustern der Kunstliteratur
183 Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges, Bd. 1, S. 31 f; Vorwort I, 22: Von den (im Text eingestreuten) Reden „die wörtliche Genauigkeit wiederzugeben war schwierig sowohl für mich, wo ich selber zuhörte, wie auch für meine Gewährsleute von anderwärts; nur wie meiner Meinung nach ein jeder in seiner Lage etwa sprechen mußte, so stehn die Reden da, in möglichst engem Anschluß an den Gesamtsinn des in Wirklichkeit Gesagten." 184 Justi: „Das Tagebuch des Velazquez", Sp. 246. 185 Mit den gattungsgeschichtlichen Implikationen von Justis Dialog hat sich bisher nur Dietrich Briesemeister beschäftigt („Carl Justi und die spanische Kulturgeschichte des .Siglo de Oro'"). Briesemeister nimmt an, daß der Abschnitt nach den spanischen Lehrdialogen (Carducho) konzipiert ist und daß Eutifron-Pacheco seinen Schüler und Schwiegersohn Velazquez gegen die El Greco-Mode verteidige (S. 69 f). Folgende Ausführungen sollen dem ersten Punkt nicht widersprechen, nur eine weitere Dimension aus der Sicht des 19. Jahrhunderts hinzufügen; in der Bewertung der Eutifron-Figur nehmen sie eine Modifikation vor.
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III. Der „Dolmetsch der Kunst"
zu orientieren. Von drei Nebenfiguren abgesehen, sind es wie im Lehrdialog 186 zwei Teilnehmer, die einen grundlegenden kunsttheoretischen Antagonismus repräsentieren und die gegensätzlichen Positionen aus dem ersten Buch der Monographie nochmals aufnehmen: Während Eutifron-Pacheco für die traditionellen Grundsätze einer heiligen Malkunst, für die Nachahmung der florentinisch-römischen Vorbilder und für ein methodisches Vorgehen im Sinne des disegno-Geàa.nkens plädiert, verehrt sein Schüler Trasimaco den Greco und schätzt die am venezianischen Kolorit geschulte Richtung. Insofern nimmt also Justi den in Lodovico Dolces Aretino (1557) thematisierten Rangstreit zwischen Zeichnung (Florenz, Rom; Michelangelo) und Farbe (Venedig; Tizian) auf, überwindet aber das Polaritätsprinzip zugleich, wenn sich sein Dialog in einem wesentlichen Punkt von der humanistisch geprägten Dialogliteratur 187 unterscheidet: Die Dialoge Dolces, d'Ollandas (1548) oder Carduchos (1633) dienen der didaktischen Vermittlung von kunsttheoretischen Lehrsätzen, wodurch stets einer der Proponenten die Deutungshoheit beibehält und mit einer klaren Argumentationsführung ausgestattet wird. 188 Justi hingegen inszeniert das Gespräch als freien Austausch zwischen den Figuren, womit ein Anschluß an die romantische Tradition des Symphilosophierens gegeben scheint. An diesen Kontext erinnert auch, daß der Dialog en passant ein ganzes Gattungssystem durchläuft: Indem er mit der Beschreibung der (zuvor besichtigten) Architektur beginnt, dann von der Plastik („Marmorgestalten" I, 86) über die Literatur (Bibliothek, I, 88) zur Malerei (Kunstkammer, I, 90 ff) fortschreitet und endlich in der Musik (I, 104) mündet, 189 stellt Justi wie in August Wilhelm Schlegels Gemähide-Gespräch (1799) die Künste in eine universale Beziehung zueinander. Es handelt sich daher, so die hier zu explizierende These, um eine äußerst virtuose Verknüpfungs- und Montageleistung, in der ein durchaus von Justi geschätzter Prätext 190 in einem neuen Sinnzusammenhang aufgeht. Für die Untersuchung wesentlich erscheinen vier Punkte: (1) Welche Aussagekraft hat der Dialog für Justis wissenschaftliches Programm und wie ist dies in Beziehung auf die Gesamtstruktur der Künstlermonographie zu sehen? (2) In welche Konzepte der Dialogtradition läßt sich Justis Dialog primär einordnen? (3) Wie geht Justi dabei mit dem Prätext Pachecos um? (4) Welchen heuristischen Stellenwert nimmt der Passus ein? (1) Eine wichtige strukturale - und damit keineswegs überflüssige - Vermittlungsleistung vollbringt Justis Dialog im Kontext der monographischen Gesamtanlage: Zwischen dem ersten Buch über die andalusische Malerschule und dem zweiten Buch über die Jugend
186 Zur Dialogtradition in der Kunstliteratur vgl. Tönnesmann: „Filarete im Dialog", S. 153, Anm. 2; Schlosser: Die Kunstliteratur, S. 113 (Filarete), 206 (Pomponius Gauricus), 210 (Paolo Pino), 216 ff (Doni), 246-250 (d'Ollanda), 307 f (Raffaele Borghini), 349-354 (Dolce). 187 Siehe hierzu den grundlegenden Band Guthmüller/Müller (Hg.): Dialog und Gesprächskultur in der Renaissance. 188 Zu diesem Themenkomplex vgl. Tietze: „Francisco de Hollanda und Donato Gianottis Dialoge und Michelangelo". Auch in Carduchos Diálogos ist der Meister der Wortführer (vgl. Hellwig: Die spanische Kunstliteratur im 17. Jahrhundert, S. 167). Zum Muster bei Piaton vgl. Szlezák: „Gespräche unter Ungleichen. Zur Struktur und Zielsetzung der platonischen Dialoge". 189 Vgl. Schopenhauers Rangsystem, das mit der Architektur als der schwerfälligsten und material bezogensten Gattung beginnt und mit der höchsten Form, der Musik, endet (WWV § 43, § 52). 190 Vgl. I, 69-74.
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und Kunstgeschichte
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des Künstlers piaziert, hat er eine katalysierende F u n k t i o n und schließt damit eine Lücke, der nach Justis antideduktiver Auffassung mit den herkömmlichen Kriterien der Wissenschaft nicht b e i z u k o m m e n ist: nämlich die Kluft zwischen dem kunst- und kulturgeschichtlichen L e b e n s k o n t e x t Sevillas einerseits und dem durch keinen Einfluß erklärbaren Verismus des Velazquez andererseits. Es handelt sich also um genau diejenige Systemstelle, von der Springer gefordert hatte, eine strenge Kausalbeziehung zwischen Allgemeinem und B e s o n d e r e m herzustellen. 1 9 1 N a c h dieser Auffassung blieben individuelle Erscheinungen von einem holistischen Kulturkonzentrat abhängig, w o m i t das künstlerische Werk von einer allgemeinen Prämisse deduziert wurde. Justis historiographisches P r o g r a m m verweigert dagegen die Subordination
der Künstlerpersönlichkeit
unter einen
ganzheitlich
normierten Kulturentwurf und bezieht mit der Wahl des Dialogs eine dezidierte G e g e n position: Dessen historiographischer Stellenwert besteht darin, den vereinheitlichenden Kausalnexus durch ein darstellerisches Mittel zu substituieren, womit, an dem sensiblen U b e r g a n g zwischen K o m p e n d i u m und Einzelbiographie stehend, das Verhältnis zwischen beiden Bereichen kompositorisch gelöst wird. D a m i t k o m m t dem Dialog als historiographisches Mittel eine konzeptionell entscheidende Aufgabe zu. E r stellt eine antihierarchische Beziehung zwischen Kultur und Künstler her, ohne dabei dem Wunsch nach einer Verknüpfung beider Bereiche völlig nachzugeben. Gerade an dieser koordinierenden und nicht subordinierenden F u n k t i o n von Justis D i a log wird die N ä h e zu antispekulativen Wissenschaftsentwürfen deutlich, für die Schleiermachers Überlegungen z u m Gespräch paradigmatisch stehen. In bezug auf Justi erscheinen sie deshalb aufschlußreich, weil dort das Verhältnis von Individuum und Allgemeinheit grundsätzlich anders beantwortet wird als bei Hegel und damit dem Dialogischen ein hoher erkenntnistheoretischer Wert z u k o m m t . 1 9 2 Das entscheidende Distinktionsmerkmal gegenüber Hegel ist die Auffassung, daß das „Verhältniß des Einzelnen zur Totalität [nicht] unmittelbar realisiert w e r d e n " kann. 1 9 3 In kritischer Wendung gegen spekulative Systeme erhält das Gespräch eine ausgleichende F u n k t i o n , da seine Inhalte „unmittelbar v o m Einzelnen zum E i n z e l n e n " wandern. 1 9 4 Weil ein Wissenszusammenhang nie auf der sinnlich erfahrbaren, äußeren O b e r f l ä c h e besteht, ist die Erstellung eines Verhältnisses zwischen den Phänomenen nur über die Gesprächsführung bzw. Dialektik möglich: „Ein Zusammenhang ist nie äußerlich nachzuweisen, er muß innerlich gefunden werden. W ä r e der Z u s a m m e n hang zwischen Ursache und Wirkung äußerlich durch sinnliche G e w i ß h e i t nachzuweisen, so k ö n n t e gar kein Streit entstehen. Es bleibt also nichts anderes übrig, als daß der Z u s a m menhang uns nur durch die Gesprächsführung e n t s t e h t . " 1 9 5 M i t dieser Auffassung korrespondiert der kulturtheoretische E n t w u r f : 1 9 6 D i e an ihre Subjektivität gebundenen Indivi-
191 Springer: „Kunstkenner und Kunsthistoriker", in: Im neuen Reich 11/2 (1881), S. 737-758, S. 753. Vgl. den Abschnitt 3.3. b) im vorderen Teil dieser Arbeit. 192 Vgl. Pleger: „Die Kunst der Gesprächsführung. Zu Schleiermachers Hermeneutik und Dialektik", S. 132 ff. 193 Schleiermacher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, S. 366. 194 Ebd. 195 Schleiermacher: Dialektik, S. 60. 196 Vgl. dazu Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 35-64.
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III. Der „Dolmetsch der Kunst"
duen setzen im dialogischen Zusammenspiel eine (nicht abschließbare) Dynamik des kulturellen Wandels frei, ohne dabei ihre individuelle Substanz zu verlieren. Somit vertieft Schleiermacher seine Gesprächstheorie dadurch, daß er ihr im Rückgriff auf das romantische Symphilosophieren einen wesentlichen Faktor in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht zugesteht. Die „freie Geselligkeit" ist die Grundlage aller freien kulturellen Strukturen, in ihr findet die „Pluralität der Sphären" 197 eine harmonische Vereinigung, so daß sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem „simultane[n] Konnex" 1 9 8 durchdringen. Justis großes Interesse an der Dialogliteratur ist offenbar diesem Grundgedanken verpflichtet: So bewertet er im Winckelmann die italienische Gelehrtenkonversation als ein entscheidendes Merkmal der italienischen Kultur (W I I / l , 32 u. 117 f).199 Ahnlich wird im Velazquez verfahren: In dem Exkurs zum alten Madrid integriert Justi einen Passus zu den Diálogos von Vicente Carducho, welche er als Ausdruck ,,lebhafte[n] Kunstverkehr[s]" und geselliger Sammlerkultur deutet (I, 172). Dort (I, 174) und in dem Kunstdialog, dessen Schauplatz die Casa de Pilatos ist (s. u.),200 dient als idealer Ort der Gesprächs- und Kulturzirkulation das Haus, welches nach Schleiermachers Sittenlehre die zentrale Gelenkstelle allen kulturellen Handelns ist.201 (2) Rückblickend bezeichnete Justi den Dialog über die Malerei als einen Versuch, in dem „des alten Pacheco unlesbare Arte de la pintura, in einer platonischen Anwandlung, zu einem Dialog vertont war." 202 Nimmt man die Berufung auf den platonischen Archetypus als weiteres Indiz, so kann der Passus in Hinblick auf die für das gesamte 19. Jahrhundert maßgebliche Platon-Interpretation Schleiermachers gelesen werden, in deren Tradition Justis eigene Platon-Deutung von 1859 steht. Zentraler philosophiegeschichtlicher Ausgangspunkt seiner Dissertation ist die Annahme eines grundlegenden Dualismus der Dialoge: Durch die Existenz zweier philosophischer Schulen, der eleatischen Lehre von der Einheit des Seins und der Heraklitschen Lehre der Vielfalt der Natur, ist Piaton dazu gezwungen, zwei divergente Richtungen in ein harmonisches System zu integrieren. Dasselbe Szenario findet sich im Dialog über die Malerei in Hinblick darauf wieder, daß in der Erstfassung 203 die beiden Hauptkontrahenten Platoniche Namen tragen: Eutifron, Für-
197 Schleiermacher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, S. 366. 198 Reble: Schleiermachers Kulturphilosophie, S. 211. 199 Justis Exemplar von Niccola Passeris Dialog zwischen Winckelmann und Mengs (Del Metodo di studiare la Pittura, e delle cagioni di sua decadenza, 2 Bde., Neapel 1795) befindet sich heute in der Staatsbibliothek Berlin (Besitzvermerk: „C. Justi 13/XII 67"). 200 Zur Casa de Pilatos vgl. Justis Ausführungen im Velazquez I, 27 und in dem Aufsatz „Die Lombarden in Sevilla II. Die Aprile aus Carona" (zuerst 1892), in: Miscellaneen aus drei Jahrhunderten spanischen Kunstlebens, Bd. 1, S. 166-169. 201 „In diesem ganzen Umfang also ist die freie Geselligkeit nothwendig an das Haus gebunden[.]" Schleiermacher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, S. 368; vgl. Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 45 ff. 202 Entwurf zu der Erklärung in der Kunstchronik (1904), in: „Sammlung Velazquez", Archiv der BBAW, Nl. Carl Justi 49 (vorne im Band eingelegt). 203 Ab der zweiten Auflage (1903) hat Justi bis auf die Figur Tisbes das Personal umbenannt: Eutifron in Francisco, Trasimaco in Lope; die Nebenfiguren des Architekten Calimaco in Perez und des Hausmeisters Filostrato in Jusepe. Filostrato ist natürlich als Führer durch das Grundstück ein
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und
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Sprecher der konservativen, vom Manierismus geprägten Kunstauffassung und theologisch versiert, steht als selbsternannter Vertreter der „Einheit der alten Zeit, die der Einheit des Glaubens glich," (I, 95) in der Nachfolge von Piatons Euthyphron (,der Gerade Denkende'), dessen Frömmigkeit in dem gleichnamigen Dialog von Sokrates erschüttert wird. Sein Schüler hingegen, der junge Maler Trasimaco, erinnert in seinen ketzerischen Ansichten an die sophistische und sensualistische Position des Trasymachos im Staat·. Indem er dafür eintritt, endlich „auch Maler [zu] bekommen, die wie der Autor der Geschichte des sinnreichen Junkers der Mancha, nur sich selbst ähnlich sind" (I, 96), redet er einer Emanzipation von der florentinisch-römischen Schule und einem starken Wirklichkeitsbezug das Wort. Die Gegenüberstellung von einer monistisch-transzendenten und einer pluralistischimmanenten Ansicht zitiert ein Deutungsmuster, das seit Schleiermacher für die Sicht auf Piaton grundlegend ist. 204 In Anschluß an Eduard Zeller 2 0 5 modifiziert Justis Dissertation diesen Gedanken insofern, als die historische Ausgangslage als Vorbedingung für die künstlerische Organisationsstruktur von Dialogen verstanden wird. In der dialektischen Konzeption manifestiert sich demnach ein Ordnungssystem, das die Schulgegensätze zu einer höheren harmonischen Einheit verbindet. Da die Form des Dialogs eine nicht mehr explizierbare, höhere Wahrheit vermittle und die alten Gegensätze aufhebe, schlössen sich formal heterogene Textabschnitte zu einer „musikalischen Form der Harmonie" 206 zusammen. Die Dialoggattung als solche erhält hier einen heuristischen Wert, da „nur auf diesem Wege [ . . . ] alles, was kunstmässig ist, entdeckt" werde und dadurch das Eine im Vielen zur Evidenz komme. 2 0 7 Zugleich aber überschreitet Justi mit dem Postulat einer Übertragung musikalischer Elemente auf die Dialogform den ursprünglich rein methodologisch geprägten Ansatz Schleiermachers: Im Gegensatz zu diesem soll die Gattung des Dialogs nicht mehr als rein technische Kunstform {ars) zur Ideenerzeugung dienen 2 0 8 und sich in ihr eine autonome ästhetische Struktur herausbilden; denn „wie der Musiker die Kunst der Verbindung der Töne, so übt der Dialektiker die Kunst der Gemeinschaft der Begriffe." 209 Ästhetische und hermeneutisch-kunstmäßige Ebene werden voneinander geschieden, so daß Justi zu einer graduell anderen Bewertung in der Form-Inhalt-Beziehung kommt: Die Form bleibt zwar Träger von nicht-explizierbaren Inhalten, in ihrer koordinierenden Struktur überschreitet sie zugleich den philosophischen Gehalt, indem sie die „echtgriechische[n]" 2 , ° Merkmale der pythagoräischen Harmonielehre als autonomes Formprinzip hypostasiert.
204 205 206 207 208 209 210
entfernter Verwandter des Philostrat, Autor der Eikones. Calimaco erinnert an den alexandrinischen Bibliothekar Kallimachos (305-240), Verfasser des ersten Bibliothekskatalogs (Pinakes), wenn er einen Bericht über den Rundgang gibt (I, 86). Vgl. Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 258-266. Justis Mitschriften der Platon-Übungen bei Zeller (1853) befinden sich im Archiv der BBAW, Nl. Carl Justi 17. Justi: Die aesthetischen Elemente in der platonischen Philosophie, S. 45. Ebd., S. 101 f. Vgl. Kobusch: „Die dialogische Philosophie Piatons (nach Schlegel, Schleiermacher und Solger)", S. 218. Justi: Die aesthetischen Elemente in der platonischen Philosophie, S. 41. Ebd., S. 45.
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III. Der „Dolmetsch der Kunst"
In Justis rund dreißig Jahre später entstandenem Dialog ist die harmonische Vermittlungsleistung von pluralistischer Wirklichkeit und höherer Wahrheit das zentrale Strukturmoment: Ebenso wie die polare Figurenkonstellation spiegelt die situative Einbettung der Gesprächsführung den Gegensatz von Pluralismus und Monismus wider. Mit Sorgfalt gewählt ist der Schauplatz des Kunstgesprächs: In der Casa de Pilatos, Stadtresidenz des Herzogs von Alcalá, befand sich nicht nur die bedeutendste Kunstsammlung Sevillas, 211 in der Architektur manifestiert sich auch das Prinzip andalusischer Erscheinungsvielfalt, indem heterogene Elemente aus Gotik, Renaissance und maurischem mujedar-Stil zusammentreffen (Abb. 20): Waren wir nicht im weltbeherrschenden kaiserlichen Rom, und im fernen Osten an der Stätte der Passion, und in den mit dem Reich der Mauren längst versunkenen Schlössern der Almohaden! Der grosse Patio mit seinen luftigen, wenn auch ungleichen Bogen, den vierundzwanzig Säulen, dem Janusbrunnen in der Mitte, und den vier hehren Marmorgöttinnen in den Ecken, gleich Feen, welche die Geheimnisse dieses Wunderalcazar aufschliessen sollen; die schattigen runden Nischen der oberen Galerie mit den vierundzwanzig Büsten römischer Kaiser [sie! 212 ]; der Garten mit der Grotte der Susanna, den Brunnen und den drei Hallen, mit den Mauern voll Inschrifttafeln und Reliefs des ehrwürdigen Alterthums; die Heroen und Götter auf Säulenschäften von Porphyr, Verde und Marmor; die Halle des Prätoriums von Jerusalem, mit den schimmernden Azulejos, den Wappenschildern darin und der vergoldeten Alfarje-(getäfelten) Decke; der Hahn des Petrus; die Kapelle, noch erbaut in der alten Weise der Crestería; das Treppenhaus mit der Kuppel und ihrer Artesonadowölbung (Stalaktiten); endlich die alten und neuen Juwelen christkatholischer Malerei; - wahrhaftig, hier verstehe ich zum erstenmale nicht, warum wir uns über die Kürze des Lebens beklagen. Denn haben wir nicht Jahrhunderte durchlebt? Der diess Werk ersann, muss etwas von der heimlichen Kunst des Don Yglano von Toledo besessen haben. I, 86
Die Überlagerung verschiedener kulturtopographischer und historischer Ebenen macht den Palast zu einem dem Zeitlichen entrückten Imaginationsraum, aber auch zum Ort der mikrokosmischen Widerspiegelung der Kultur Sevillas. Die damit verknüpfte Vorstellung vom zyklischen Austausch der kulturellen Sphären verdichtet sich nochmals kreismetaphorisch in der Rekapitulation einer Legende, nach welcher die Urne Trajans im 16. Jahrhundert von Rom in die Casa gelangte und die Asche des gebürtigen Altsevillaners versehentlich über das Grundstück verstreut wurde (I, 87). Die Zirkulation der kulturellen Ströme stößt zunächst auf die breite Akzeptanz der Gesprächsteilnehmer; doch nach der gemeinsamen Betrachtung einer Kopie der Aldobrandinischen Hochzeit (I, 89) wird der antiquarische Konsens jäh durchbrochen, indem die politischen Hintergründe der schnellen Abberufung des Herzogs als Vizekönig von Neapel thematisiert werden (I, 90). 213 Mit dem Bericht über die höfischen Intrigen gegen den Herzog - der in dritter Generation für den regen Kulturtransfer zwischen Sevilla und Italien mitverantwortlich ist und als großer Humanist geschildert wird - ist dem kunsttheoretischen Streit ein präzises Signal vorgeordnet, das auf den unauf211 Zur Rekonstruktion der Sammlung siehe Brown/Kagan: „The Duke of Alcalá: His Collection and Its Evolution". 212 Die Kaiserbüsten sind, wie man auf Abb. 20 erkennen kann, in den Tondi der unteren, nicht oberen Galerie des Patio Grande aufgestellt. 213 Dieses Ereignis hat Justi in seinem Velazquez-Studienbuch auf der Doppelseite zum Jahr 1631 oben rechts vermerkt. Archiv der BBAW, Nl. Carl Justi 61.
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haltsamen Niedergang des spanischen Weltreichs hindeutet und im Rahmentext der Monographie leitmotivisch wiederkehrt. Die Anzeichen des abrupten Wandels und der Zerstörung des Kulturkreislaufs verändern den Bezugsrahmen des Gesprächs schlagartig: Sie offenbaren den Vergangenheitscharakter absoluter Wahrheiten, wie sie noch von Eutifron-Pacheco repräsentiert werden, und machen deutlich, daß angesichts der Verlusterfahrung einer politischen und kulturellen Stabilität sich eine neue ästhetisch-philosophische Weltsicht ankündigt. Diese Denkfigur von der Koinzidenz zwischen allgemeiner Krise und künstlerischer Innovation entspricht exakt dem geschichtsphilosophischen Konstrukt, das Justi seiner Platon-Deutung unterlegt: Die Geburt des hellenistischen Denkens resultiert dort aus dem Niedergang der alten Polis; der damit einhergehende Wahrheitsverlust zwingt Piaton dazu, divergierende philosophische Sichtweisen in sein System künstlerisch zu integrieren. 214 Der mit der Krisenstimmung einhergehende Verlust von verbindlichen Wahrheiten kommt in Justis Dialog dadurch zum Ausdruck, daß die Gesprächsteilnehmer Mühe haben, die Ikonographie eines weiteren Bildes zu identifizieren (I, 91 f). Bezeichnerweise handelt es sich um ein künstlerisches Zufallsprodukt, das die Base des Hausmeisters, eine gewisse Guadalupe de Ynsausti é Iztueta, 215 gemalt hat und, wie es zunächst scheint, Georg als Drachentöter darstellt. Zur Überraschung aller erkennt jedoch derpictor doctus Eutifron in dem Bild die Befreiung der Andromeda durch Perseus 2 1 6 und weist mit antiquarischem Scharfsinn nach, daß die Legende vom Heiligen Georg keine historische Wahrheit habe und deshalb in der Malerei höchstens als „Sinnbild" für die Uberwindung des Bösen erlaubt sei. Die Kollision zweier ikonographischer Konzepte und die daraus resultierende Uberbietung durch den Mythos ist in erkenntnistheoretischer Hinsicht entscheidend: Wie Justi in seiner Dissertation ausführt, hat der Mythos bei Piaton Offenbarungscharakter, 2 1 7 da er nicht allein unlösbare Wahrheitsprobleme fiktional einkleide, sondern aufgrund seiner Stellung zwischen Allegorie und D o g m a die „angemessene Darstellung des dem Wissen unangemessenen Seins" 2 1 8 repräsentiert. Damit erhält die Verwechslung von christlicher und heidnischer Ikonographie eine hohe Signalwirkung: Indem das Auseinanderbrechen der alten Einheit von Kunst und Theologie bestätigt wird, erhält der Mythos die Funktion eines poetischen Mediums zur Erkenntnis von Wahrheit; einer Wahrheit, die nicht mehr sagbar und letztlich nur im Verismus von Velazquez zu finden ist, dessen schöpferisches Geheimnis unter anderem darin besteht, „nach der Methode des Cervantes" den „Mythus beim Wort" 2 1 9 zu nehmen. (3) Erst an dieser Stelle, an der politische Krise, Zufall (unbekanntes Kunstwerk) und Mythos aufeinandertreffen, kann das künstlerische Streitgespräch entfaltet werden - und 214 Justi: Die aesthetischen
Elemente
in der platonischen
Philosophie,
S. 11.
215 Im Register der Ve/iZZ^wez-Monographie nicht aufgeführt. Eine Künstlerin dieses bzw. eines ähnlichen N a m e n s konnte nicht ermittelt werden. 216 Dieses Thema hat Pacheco 1645 als Teil des Deckenfreskos in der Bibliothek der C a s a de Pilatos tatsächlich ausgeführt. 217 Vgl. Justi: Die aesthetischen
Elemente
in der platonischen
Philosophie,
S. 82-100.
218 Ebd., S. 84. 219 So bei den Trinkern
(los borrachos)·.
„ N a c h der Methode des Cervantes nimmt er den Mythus
beim Wort." (I, 258); ähnlich in der Beschreibung zur Schmiede Mythus beim Wort." (I, 306)
Vulkans:
„ E r nahm wieder den
250
III. Der „Dolmetsch der Kunst"
dies nicht ohne Ironie: Indem der Wahrheitsgehalt des antiken M y t h o s unangetastet bleibt, ist Eutifron gezwungen, sich von seinen eigenen theologischen Grundsätzen zu lösen, womit die Argumentation in G a n g gesetzt wird, die - ganz nach dem Muster von Piatons prinzipienfestem E u t y p h r o n - den Proponenten in Widersprüche verwickelt. Dies zeigt sich vor allem an dem Verfahren, mit dem Justi den Prätext Pachecos szenisch umsetzt und damit in einen neuen Sinnzusammenhang transferiert. U m die künstlerische Beurteilung des Bildes gebeten, reagiert Eutifron verhalten: E[utifron:] O ja!.. Ganz brav!.. Freilich, ob die Sache auch in der That und Wahrheit sich so ausgenommen hat? Ich habe seit meinen frühen Jahren mit besonderer Neigung aus Büchern und dem Mund gelehrter Herren, besonders denen in der Casa profesa, gar vieles in Betreff der Wahrheit und des wörtlich authentischen Sachverhalts {puntualidad) der profanen Fabeln wie der heiligen Geschichten zu erforschen und zu erfahren getrachtet. Die, welche mir bei diesem Unternehmen meines Lebens geholfen haben zu nennen, würde mich Zeit und Gedächtniss im Stich lassen. Auch unser Herzog hat mir, als er Vicekönig von Catalonien war, im Jahre 1622, werthvolle Zeugnisse in uralten Bildwerken geschickt für die grösste meiner Entdeckungen, die Darstellung des Gekreuzigten mit vier Nägeln. - So erinnere ich mich grade über unsre Fabel ein Gespräch gehabt zu haben mit dem würdigen D. Francisco de Rioja, der Ehre dieser Stadt, dem tiefsinnigen Dichter, gelehrten Chronisten S. Majestät und Beisitzer des heil. Uffiz. Ti[sbe:] Seine reizenden Silvas über Nelke, Rose und Jasmin weiss ich auswendig.
I, 92 f
Bemerkenswert ist die Figurencharakterisierung durch verschiedene Sprechweisen. D e r Vorgang zeichnet sich dadurch aus, daß der Gegensatz zwischen der komplexen, auch formal z u m Manierismus tendierenden A u s f ü h r u n g des Meisters und Tisbes Spontaneität einen komischen E f f e k t generiert. Eutifrons langes, durch autobiographische Anmerkungen gestreckte Abschweifen führt zur Inadäquatheit zwischen Ausdrucksweise und eigentlich Gemeintem, 2 2 0 denn er driftet in den unkontrollierten Redefluß ab und entfernt sich unbemerkt v o m ursprünglichen Thema. D e m steht der kurze Einwurf als natürliches Pendant gegenüber: Tisbe - als weibliche Sprecherin Garant f ü r eine von der Rhetorik unverstellte Rede 2 2 1 - unterbricht die antiquarischen A u s f ü h r u n g e n Eutifrons assoziativ, so daß die natürliche Leichtigkeit eines verinnerlichten H u m a n i s m u s („weiß ich auswendig") mit umständlicher Gelehrsamkeit kontrastiert. D e r Einwurf dient zugleich als retardierendes Moment, da er zurück z u m T h e m a leitet: E[utifron:] Da erfuhr ich zu meinem Erstaunen, dass diese Andromeda gar keine Griechin, sondern eine Aethioperin war. Wie ungenau ist es also, sie weiss und schön zu malen, - wie hier geschehen ist. Indess dass die Maler die Lügen vermehren, ist nicht so erstaunlich, und in der Poesie kann man eher Toleranz üben als in den Geschichten unseres Glaubens. II. Die Alten und die Jungen. Ti[sbe:] Wie muss man es nur anfangen, um solche Fehler zu meiden, und sich vor dem Unglück einer Censur des heiligen Amts zu behüten? I, 93 220 Vgl. dazu die zentrale These von Wolfgang Preisendanz, welche im realistischen Erzählen „beständig ein Spannungsverhältnis von Darbietung und Sachverhalt" konstatiert: Humor als dichterische Einbildungskraft, S. 13. 221 Schlieben-Lange: „Vom Glück der Konversation", S. 152.
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und Kunstgeschichte
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Die Pointe besteht darin, daß Eutifron in seinem Wahrheitsdogmatismus gar nicht mehr in der Lage ist, das Bild nach seinen künstlerischen Werten zu beurteilen, und die Frage nach der antiquarischen Korrektheit zum Hauptkriterium erhebt. Darauf setzt Tisbe die Situationskomik fort: Diesmal nimmt sie zwar Eutifrons Überlegungen auf, die umständlichrhythmisierte Syntax markiert aber, daß sie an ursprünglicher Spontaneität verloren hat. Szenische Ironie entsteht auch an anderen Stellen. Etwa dann, wenn der progressiv denkende Trasimaco für ein Kunstideal plädiert, das dem konservativen disegno- und electioGedanken Eutifrons fern steht: Tr[asimaco:] Ich bestreite dass die neue Manier weniger Kunst ist. [...] Wir arbeiten mehr mit dem Kopf, um was wir schauen, das innere Gemälde, mit sowenig A r m - und Zeitarbeit wie möglich auf die Leinwand zu bringen. Omnes artes in meditatione consistant, damit man sehe, dass ich auch citiren kann. E[utifron:] Deshalb halte ich es auch, beiläufig bemerkt, für erlaubt, an Festtagen zu malen. Fray Bartolomé de Medina, Professor zu Salamanca bestätigt diess, weil die Malerei eine freie, keine knechtische Beschäftigung sei. I, 102
Die Spitze des Schülers gegen die humanistisch-gelehrte Uberfrachtung wie die Fürsprache für den direkten Auftrag der Farbe auf die Leinwand nimmt Eutifron gar nicht wahr und assoziiert sogleich die theologische Komponente. Justis dialogische Aufbereitung von Pachecos Lehren besteht daher in der ironischen Zuspitzung durch die konkrete Gesprächssituation, in welcher Eutifron-Pacheco aus der Äußerung des Gegenspielers die falschen Schlüsse zieht. Aber auch Eutifrons Gegenspieler Trasimaco kann nicht den Anspruch auf absolute Deutungshoheit erheben. Eutifrons Kritik an den borrones (I, 99), den pastos aufgetragenen und auf Fernwirkung berechneten Pinselstrichen, steht in Einklang mit Justis VelazquezDeutung, wonach sich dessen Bilder vor allem durch eine dünn lasierte Farboberfläche auszeichnen (vgl. II, 277). Ebenso wird Eutifron zum Sprecher von Justis ImpressionismusKritik, wenn er ausführt, daß die Bravourmalerei nur als Lizenz für technisch routinierte und durch Erfahrung und Alter gereifte Künstler wie Tizian eine Berechtigung habe (I, 101).222 Im Gleichgewicht halten sich auch die Positionen hinsichtlich einer nationalen Essenz in der Malerei: Trasimacos Wunsch nach einer genuin andalusischen Identitätsstiftung setzt Eutifron eine transnationale und, wenn man so will, autonomieästhetische Kunstdefinition entgegen: „Es giebt keinen königlichen Weg zur Meisterschaft, auch keinen andalusischen. Die grössten, die in Wahrheit übermenschlichen Genies haben auch übermenschlich gearbeitet. Kunst bleibt Kunst." (I, 102) Damit entspricht die Aquidistanz der Positionen nicht nur der Polarität von immanenter Lust (Trasimaco) und höherer Erkennt222 Eutifron: „Bejahrte Maler kommen ganz natürlich auf solche borrones, um sich die Arbeit zu erleichtern. Aus Altersschwäche, und weil das ermüdete Auge und die zitternde Hand nicht lange bei der peinlichen Vertreibung der Farbe aushält." (I, 99) Vgl. hierzu die gegen Manet gerichteten Sätze in Amorphismus in der Kunst, S. 15 f: „Dagegen ist bekannt, daß das Alter zu lockerem, skizzenhaften Traktament neigt. [...] Diese Altersmanier ist zum teil eine Anpassung an die abnehmende Sehkraft. [...] Ihre [d.i. Michelangelos, Rembrandts, Hals'] Werke sehen aus wie Sudeleien; aber es sind geistvolle Sudeleien: die Summe der Lebenserfahrungen, ihr angehäuftes Wissen und Können steht hinter den versagenden Sinnen. Diese Werke besaßen eine verhängnisvolle Magie: aber ihre Nachahmung wäre Torheit, und der Weg zum Verfall."
252
III. Der „Dolmetsch der Kunst"
nis (Eutifron), wie sie Justis Lieblingsdialog Philebos223 thematisiert, sie läßt auch ein endgültiges Ergebnis offen, ganz nach der platonischen Devise, daß nicht um den Sieg gekämpft wird, sondern um die gemeinsame Verbindung zum Guten (Philebos, 14b5). Die dadurch intendierte Aufhebung der Polaritäten durch eine höhere, nur im Gespräch zu findende Wahrheit findet sich schließlich am Dialogende, wo die Gesprächsteilnehmer zur Kathedrale aufbrechen, um Motetten zu hören (1,104). Indem so auf den pythagoräischen Gedanken von der polyphonen Aufhebung der Gegensätze in der musikalischen Harmonie angespielt wird, nimmt das Gesprächsende im Bogenschluß den architektonischen Anfang auf und bemüht die topische Analogiesetzung von Baukunst und musikalischer Harmonielehre. Der Gesprächsverlauf steigert sich von der stilistischen Erscheinungsvielfalt der Casa de Pilatos hin zum ästhetisch Intelligiblen der Musik; Anfang und Ende erzeugen den Eindruck von der „Architektonik eines nach musikalischen Vorbildern eingerichteten Ganzen". 224 (4) Justis Umgang mit der kunsttheoretischen Primärquelle hat deshalb eine folgenreiche Konsequenz: Pachecos Lehre geht als Teilproposition in einer neuen Makroposition auf,225 die nur im polyperspektivischen Zusammenspiel der Dialogpartner erkennbar wird. Damit bestätigt sich auf frappierende Weise das Prinzip der eingangs analysierten Collage aus Justis Nachlaß (Abb. 19): Diese ordnet die verschiedenen Positionen zur Moderne überkreuzt an und entzieht sich scheinbar der Eindeutigkeit, läßt aber zugleich eine höhere Sinnordnung erkennen, wenn als einzige Farbreproduktion das Whistler-Porträt die Grau in Grau gehaltene Konstellation übertönt. Fast als später Reflex auf die im Dialog über die Malerei verhandelten Positionen und als Übertragung des Prinzips auf die Probleme der Gegenwart erscheint demnach die Tatsache, daß das Whistler-Porträt von dem Artikel „Ein Künstlerstreit" überlappt wird, der zur Buchmitte umgeschlagen werden kann und erst so die vollständige Anschauung des Bildes ermöglicht. Denn exakt nach diesem konfigurativbildlichen Verfahren ist der collagierende Umgang mit Pachecos Traktat zu verstehen: Bezeichnend ist nämlich, daß keiner der Gesprächsteilnehmer auf Velazquez selbst zu sprechen kommt,226 geschweige denn daß Justi eine der vielen Stellen bei Pacheco nutzen würde, in denen dessen Schwiegersohn erwähnt wird. Zahlreich sind dagegen die indirekten Signale, die auf den biographischen Rahmentext referieren und damit den Eindruck einer epochalen Inauguration vermitteln: Mit dem Jahr 1631 wählt Justi denjenigen Zeitpunkt, zu welchem Velazquez von seinem ersten Italienaufenthalt zurückkehrt und die wichtige Schaffensphase der zweiten Madrider Periode eingeleitet wird; das Gespräch, dessen Datum einer der Teilnehmer „nie vergessen" wird (1,104), findet statt am „Vorabend Allerheiligen" (I, 85), also am zumindest für den deutschen Leser sofort erkennbaren protestantischen Reformationstag (!). So wie die Zeit steht auch der Raum in Beziehung zu dem Künstler:
223 224 225 226
Justi: Die aesthetischen Elemente in der platonischen Philosophie, S. 101 ff. Ebd., S. 14. Vgl. Hempfer: „Lektüren von Dialogen", S. 20 ff. Anders Briesemeister, der in dem jungen Maler Trasimaco den Velazquez zu erkennen glaubt. Briesemeister: „Carl Justi und die spanische Kulturgeschichte des ,Siglo de Oro'", S. 68. Justis mit Sorgfalt gewählte Orts- und Zeitangabe (Sevilla 1631) macht diese Gleichsetzung unwahrscheinlieh.
2. Individualitätsgedanke
und
Kunstgeschichte
253
Als Aufstellungsort von 24 römischen Kaiserbüsten (I, 86) 227 erhält der Palast einen Verweisungscharakter auf die höfische Porträtkunst von Velazquez ebenso, wie die Erzählung von der verstreuten Trajan-Asche (I, 87) diskret auf Velazquez' Wiederkunft in Spanien hindeutet. Die Annahme scheint daher nicht übertrieben, daß diese Signale im fiktionalen Medium des Dialogs einen Zusammenhang konstruieren sollen, der formal an typologischheilsgeschichtliche Strukturen erinnert (römischer Realismus als Typos; Velazquez als spanischer Antitypos). Ein solcher versatzstückartiger Verweisungsmechanismus, der durch die gehäufte, aber nicht systematische Anwendung theologischer Argumentationsmuster entsteht, wird noch dadurch verstärkt, daß am Dialogende die Glocken von San Pedro, der Taufkirche des Künstlers, läuten (1,103; vgl. 1,107). Auf diese Weise nehmen die raum-zeitlichen Inszenierungsmodalitäten den Charakter einer bevorstehenen Heilserfüllung an: Als Präludium antizipiert der Dialog die Biographie und versucht mit poetischen Mitteln einen in Velazquez begründeten ästhetischen Wert zu evozieren, dem mit der wissenschaftlichen Begriffssprache nicht beizukommen ist: „Ich bekenne", sagt am Ende Trasimaco, „dass ich es nicht aus der Philosophie begründen und nicht mit Worten erklären kann, aber ich sehe es mit Augen"; und Eutifron sekundiert: „Wer weiss was für Kräfte der Geist Gottes uns noch erweckt." (I, 103) Damit endet der Dialog nicht nur mit einem programmatischen Philosophieverzicht und mit einem elevatorischen Akt zugunsten der unmittelbaren Anschauung; die Absenz von Velazquez selber macht auch deutlich, daß sein Verismus sprachlich nur in Teilwahrheiten faßbar ist, die, in ihren Gegensätzlichkeiten konfiguriert, einen generativen Charakter haben sollen. Denn dadurch, daß die formal geschlossene Struktur mit inhaltlicher Offenheit koinzidiert, appelliert der Dialog an das (kunst)historische Vorstellungsvermögen des Lesers; die Vereinigung der Teilfragmente zur „poetischen Synthesis" 228 löst das in Velazquez manifeste Anschauungspostulat kompositorisch ein und ist wie in Schleiermachers Platon-Deutung darauf berechnet, mit gezielten Aussparungen den Leser zur inneren Erzeugung der beabsichtigten Idee zu nötigen. 229 Das Streben nach einer nicht beschreibbaren „Macht der Warheit" (I2, S. XVII), nach einer adäquaten sprachlichen Repräsentation für die Hyperbeln vom „spanischste[n] unter den spanischen Malern" (I, 5) und vom „peintre le plus peintre qui fût jamais" (I, 4, Bürger-Thoré) kann nur durch ein poetisches Mittel erlangt werden, das im dialogischen Spannungsverhältnis zur ästhetischen Wahrheitsfindung beiträgt. Auf die monographische Gesamtstruktur bezogen, erhält dieser inszenierte Infinitismus eine sinnstiftende Funktion: Indem er sich aus dem „poetischefn] Helldunkel" Sevillas (I, 28) erhebt und den platonischen Aufschwung zur wahrhaft ästhetischen Erkenntnis vollzieht, vermittelt er zugleich zwischen äußerer Erscheinungswelt (1. Buch) und künstlerischem Individuum (2. Buch). Die mit der Formwahl verbundenen erkenntnistheoretischen Implikationen und die ordohistoriographische Beziehung zwischen Binnen- und Rahmentext zeigen daher, daß dem Dialog über die Malerei eine programmatische Funk-
227 Vgl. hierzu Trunk: Die ,Casa de Pilatos' in Sevilla, passim; zur Rezeptions- und Restaurierungsgeschichte der Büsten im Patio Grande (vgl. Abb. 20) im 19. Jahrhundert ebd., S. 29 f. Siehe auch die modernen Fotografien des Innenhofs ebd. 228 Kaulbach: „Schleiermachers Theorie des Gesprächs", S. 131. 229 Schleiermacher: Über die Philosophie Piatons, S. 39 und 41.
254
III. Der „Dolmetsch der Kunst"
tion zukommt, die weit über den Wert eines kulturgeschichtlichen .Intermezzos' 230 hinausgeht: Er bekräftigt den hypothetischen Wert wissenschaftlicher Erkenntnis angesichts ,,emeritirte[r] Wahrheiten" (W II/2, 5), hebt aber dennoch den Wahrheitsanspruch der Kunst nicht auf, indem er diesen fiktional bewältigt. Seinen wissenschaftlichen Skeptizismus hat Justi zum schöpferischen Prinzip überhöht. c) Conclusio Kehrt man nochmals zu dem Ausgangspunkt der methodischen Kontroversen von 1880 zurück, wird erkennbar, daß die in der Velazquez-Monographie eingefügten Quellenfiktionen nicht zuletzt vor einem zeitdiagnostischen Hintergrund zu verstehen sind. Justis Darstellungsauffassung konturierte sich in unmittelbarer Nähe zu den Auseinandersetzungen um das richtige kennerschaftliche Verfahren, deren Protagonist Giovanni Morelli war. Während dieser mit der Fiktion des „Russen" und der offenen Verhöhnung des Gegners eine polarisierende Konstellation herbeiführte, 231 nahm Justi den polemischen Impuls in seine Darstellungsauffassung auf, indem er seine Ablehnung von Einflußforschung, Kompilatorentum (I, 20) und Dokumentensucherei (vgl. II, 355) in der Geschichtsfiktion reflektierte: Velazquez trifft in Rom keinen Poussin, keinen Bernini, keinen Pietro da Cortona, nicht einmal einen in die Jahre gekommenen Modemaler wie den Cavaliere d'Arpino; das dialogtechnisch zentrale Bild der Guadalupe de Ynsausti war so wenig von kunsthistorischem Belang wie im Brief die Miniaturschnitzereien des Sigmund Laire oder die verschollenen Komödien des Sancho de Paz. Was deshalb beide Passagen so aussagefähig macht, ist das Faktum, daß ihnen Justi eine doppelte Codierung widerfahren ließ: einmal erfüllten sie wissenschaftsstrategisch die Funktion, die Forschungsleistung gegen den unbefugten Zugriff von außen abzusichern; mit der Fiktionalisierung von kontingentem und ausgeschiedenem Material wurden die historistischen Prinzipien der Quellenkritik ironisiert, so daß jede Form der Adaption sich gegen den Adaptor selbst richten mußte. Zum anderen aber war die Fiktionalisierung für Justi schon aus einem qualitativen, internen Darstellungskriterium zur Notwendigkeit geworden, indem sie Teil einer darstellerischen Strategie der Kontingenzbewältigung wurde: Der okkasionalistisch-biographische Konnex von der individuellen Substanz und den aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht identifizierbaren äußeren Gelegenheitsursachen konnte letztendlich nur dadurch zum vollständigen und plausiblen Nachvollzug gebracht werden, daß der Zufall als bewegende Kraft jenen Raum erhielt, der ihm nach streng wissenschaftlichen Maßstäben versagt blieb: Den der Fiktion. 230 Vgl. Justis Vorrede (1,19): „Obwol archivalische und dergleichen Studien für uns nur Ruhepausen sind neben der eigentlichen Arbeit des Studiums der Bilder, der Regeln und der Technik der Kunst: so sind diese Intermezzos [sie!] für das vorliegende Buch doch zuweilen recht lang ausgefallen." 231 Morelli hat zwei Jahre nach dem Erscheinen des Velazquez dem ersten Band der Kunstkritischen Studien über italienische Malerei ebenfalls einen Dialog vorangestellt (S. 1-78), allerdings mehr in didaktisch-humoristischer Absicht: Lermolieff wird in den Uffizien von einem misanthropen Kunstkenner zur neuen Methode bekehrt. Vgl. einen Brief Morellis an Justi, der neben der strengen Wissenschaftlichkeit auch die „so geistvolle[], heitere[], liebenswürdige[] Darstellungsgabe" bewundert. Zit. in: L. Justi: „Carl Justi (1832-1912)", S. 154.
3. Piatonismus und
Geschichtspessimismus
255
3. Piatonismus und Geschichtspessimismus A n Justis F i k t i o n e n werden zwei übergreifende K o m p l e x e deutlich, die für die m e t h o d o l o gisch-historiographische Auffassung im Velazquez
grundlegend sind:
1. D i e fiktionale Gestaltung des Vergangenen war nur dadurch realisierbar, daß sie sich auf Topographien bezog, die in ihrer relativen Unversehrtheit den freien U m g a n g mit dem historischen Material ermöglichten. Fiktionalität blieb somit an eine im Realraum erfahrene Kontinuität gebunden, die zur historischen Vorstellung anregte, indem die in situ geschauten D e n k m ä l e r von der Gegenwart zur Vergangenheit überleiteten. A u f ähnliche Weise wird in den Abschnitten über das alte Sevilla, Madrid oder den B u e n R e t i r o verfahren: Zwar dient dort die Tatsache, daß es sich um das Lebensumfeld des Velazquez handelt, zur Legitimation der Erzählung, doch bleibt die textuelle Organisationsstruktur nicht auf einer intradiegetischen E b e n e , die den Künstler z u m Erfahrungsträger macht, beschränkt: Das Verfahren zeigt keine Stringenz der Raumabfolge, sondern legt im digressiven Gestus B e deutungsschichten frei, die die topographische O r d n u n g nach Sinnzusammenhängen erschließen. So erwähnt Justi in der Beschreibung des Schloßparks von B u e n Retiro mehrfach das gotische Kloster S. G e r ó n i m o (I, 335, 336, 338, 3 4 0 ) als das einzige größere B a u w e r k , das die Zerstörungen überdauert hat. D i e K o n z e n t r a t i o n auf einen räumlichen F i x p u n k t ist dort mit weiteren M o m e n t e n der rekonstruierenden Autopsie vor O r t verbunden, wie eine Stelle aus Justis Reisebriefen zeigt: N a c h dem Spaziergang durch den Park faßt Justi den Entschluß, sich eine Inszenierung nach Tirso de Molina anzusehen: D i e dort erlebte „opiumartige W i r k u n g " 1 scheint den späteren Abschnitt über die Aufführungen Calderone und L o p e de Vegas im Theater des B u e n R e t i r o zu stützen, in dem „alle Wunderlande der Phantasie" zur Wirklichkeit werden (I, 341). Mit dem operativen Primat des R ä u m lichen enthält sich somit Justis Historiographie einer prozeßhaft-dynamischen Erzählweise und behält stets die Vermittlung zwischen Vergangenheit und Gegenwart im Blick. Anders als bei Gregorovius, dessen präzise Raumpanoramen in der Geschichte im Mittelalter
der Stadt
Roms
immer historisch immanent vorgehen und eine klare Anschlußfolge zwischen
den O r t e n herstellen, 2 verschränkt Justi über den Beschreibungsvorgang die historische Vergegenwärtigung mit der direkt erfahrenen Autopsie. I m steten Wechsel von historischer Differenz und räumlicher Identität erschließt er den R a u m und führt damit die eigene Reiseerfahrung zur Synthese mit dem Vergangenen. D i e Topographie wirkt damit als histo-
1 An die Mutter, Madrid 1 . 1 1 . 1 8 8 1 , in: Justi: Spanische Reisebriefe,
S. 157.
2 Gregorovius' berühmte Rom-Beschreibung nach den 14 Verwaltungsbezirken ist fast konstant im
Imperfekt gehalten und geht räumlich-sukzessiv von Bezirk zu Bezirk vor. Gregorovius:
der Stadt Rom im Mittelalter
Briefe aus Italien, S. 248.
Geschichte
I, S. 1 0 - 2 6 . Zu Justis engem Umgang mit Gregorovius in Rom, vgl.
256
III. Der „Dolmetsch der Kunst"
riographisches Formular stabilisierend und dient als Vermittlungsinstrument, das danach fragt, was einmal war und was noch ist. 2. Das andere Faktum, das die beiden Geschichtsfiktionen paradigmatisch für Justis Darstellungsauffassung macht, ist das mit dem räumlichen Denken eng verwobene Theoriefeld von Piatonismus, Geschichtsskepsis und Fortschrittspessimismus. Denn gelang im Dialog der platonisch anmutende Aufschwung zur ästhetischen Ideenerkenntnis dadurch, daß der nahezu unversehrte Schauplatz der Casa de Pilatos die Sinnstiftung prästabilierte, so zeigt sich an dem fingierten Brief, daß der Raumerfahrung bei drohendem Traditionsverlust ein erheblich kultur- und zivilisationskritisches Potential inhärent ist. Damit steht der relativen Verlässlichkeit des Raumes das prinzipielle Mißtrauen gegen die Uberlieferung, ja gegen die Geschichte selbst gegenüber. So bemüht Justi schon in dem Dante-Vortrag von 1862 geschichts- und fortschrittspessimistische Denkfiguren, wo es heißt, daß ,,[u]eber dem Abgrund der Vergessenheit und des Nichts, der an irgend einem Punkt der endlosen Zeit die Erinnerungen und Denkmale menschlicher Größe verschlingt, [...] am längsten die Werke der Dichtung" schweben.3 Den Gegensatz zwischen dem Vergessen des Geschichtlichen und dem Uberdauern durch die bildende Kunst thematisieren zahlreiche Aperçus im Velazquez: Die Beschäftigung mit den „trüben Masken" (II, 128) einer in „Starrheit und Apathie" (I, 198) gefallenen höfischen Gesellschaft erhält nur durch Velazquez eine Legitimation, ähnlich „wie man um Tacitus willen sich noch immer für die wahnwitzigen Cäsaren interessirt" (II, 8), und nur die daraus entstandene Kunst ist es, „welche die Menschheit noch aufhält, solche Geschlechter und Zeiten dem endlichen Vergessen zu übergeben." (II, 394) In diesem Zusammenhang erscheint es fast programmatisch, wenn Justi später auf Herman Grimms Anzeige der Velazquez-Monographie ein Zitat aus dessen Homer-Aufsatz notiert hat: Diejenigen Menschen u. Ereignisse, deren Gewesensein nur als Ergebnis zusammengeschweißter Notizen sich ergibt, werden das Schattenhafte nie verlieren, welches nach ihrem Tode sich über sie ausbreitet. Manche neuere Geschichtswerke erinnern an den homerischen Hades. Die Gestalten schieben sich wie hochgeschnittene Silhouetten durcheinander. Im Gefühl des gleichberechtigenden Nichts gilt Eine soviel wie die Andere. Sie reden, aber in einer tonlosen Sprache. Sie haben ein Bewußtsein dessen daß sie gewesen sind, sind es aber nicht mehr u sind es trotzdem noch. 4
Zwar formuliert Grimm mit der Anspielung auf Piatons Höhlengleichnis („hochgeschnittene Silhouetten") keine Geschichtsskepsis per se, aber vieles spricht dafür, daß Justi das Zitat generalisierend liest. Gerade in bezug auf die betont räumliche Vorgehensweise können im Velazquez die historischen Personen den Charakter hochgeschnittener Silhouetten
3 Justi: Dante und die göttliche Comödie,
S. 40.
4 Archiv der B B AW, Nl. Carl Justi 25. Abschrift Justis auf dem Sonderdruck von Grimms Anzeige des Velazquez Rundschau Deutsche
(Β. Κ. F.: „Diego Velasquez und sein Jahrhundert. Von Carl Justi" [Rez.], in:
Deutsche
60 (1889), S. 154). Zitat aus: Herman Grimm: „ H o m e r als Charakterdarsteller", in: Rundschau
71 (1892), S. 6 9 - 9 5 , S. 70.
3. Piatonismus
und
Geschichtspessimismus
257
annehmen, die als tonlos sprechende Boten aus der Vergangenheit im historiographischen Text auftauchen und wieder verschwinden. Sancho de Paz ist dafür nur ein Beispiel (vgl. 2.3. a)). So blendet Justi in die Porträtserie über die Königin Marianne, die zweite Frau Philipps IV. und unter Karl II. zeitweilige Regentin, ein Tableau ein, das durch die radikale Kontrastbildung zwischen dem dort bemühten Referenzwerk und der räumlichen Konstellation besticht: So sieht man sie in der Beschreibung der Madame d'Aulnoy, während ihrer Verbannung zu Toledo, im Fenster des für sie eilig in Stand gesetzten Alcazar, an den Balkon gelehnt; bleich und zart, mit sanftem Blick, eine kleine magere Hand zum Handkuss reichend. Dort blickt man von dem hochragenden Schloss Carl V hinunter nach der grünlichen Flutenschlange des Tajo, der sich zwischen steilen, zerrissenen und wüsten Granitfelsen und Geröll hindurchwindet; einst umduftet von blühenden Gärten, umsummt vom Schwirren der Seidenwebstühle, jetzt Klagemelodien rauschend über den Verfall. Als sie hörte, dass die Damen von Madrid kamen, da erinnerte sie sich eines Bildnisses im Zimmer des Hochseligen, das ihm einst von Wien gesandt war, das Werk eines Hofkünstlers. Sie könnte, sagte sie, den Augenblick bis heute nicht vergessen, als beim Eintritt in das Gemach ihre Augen auf diess Gemälde fielen, das sie sein sollte: „ich versuchte umsonst es zu glauben, es wollte mir nicht gelingen." So blüht auch in der Wüste des leersten, enttäuschten Daseins noch die Blume der Eitelkeit. II, 295
Bezeichend ist der Umstand, daß der Passus als Anekdote für sich bestehen kann und problemlos aus dem Textzusammenhang entfernt werden könnte. Die Schilderung der fragil und sensibel wirkenden Königin scheint sogar mit der Charakterstudie im Rahmentext zu divergieren, in welcher das Bild einer ,,böse[n], ungeschickte[n] Frau" (II, 295) und „scheinheilige[n], ins Gewand der Entsagung gehüllte[n] Hexe" (II, 296) gezeichnet wird. Dem steht eine ebenfalls auf Kontraste abzielende Mikrostruktur gegenüber: Vor der Kulisse der erhabenen und zerklüfteten Felsenlandschaft - die Assoziation des Abgründigen ist evident - entfaltet sich mit szenischer Anschaulichkeit die Audienzsituation, in der die verbannte Königin „bleich und zart, mit sanftem Blick, eine kleine magere Hand zum Handkuss reichend", ihre Besucherin empfängt. Doch indem sich mit diesem mitleiderzeugenden Anblick eine tragische Interpretation aufdrängt, wird der Leser in die Irre geführt, und erst das fabula docet am Ende homogenisiert den Abschnitt mit dem im Rahmentext entworfenen Sinnzusammenhang. Bestätigt wird dieser Eindruck durch die räumlich gestaffelte Tiefenschichtung, die unterschiedliche mediale Referenzebenen bemüht: Indem Justi von der szenischen Situation zum Landschaftsprospekt wechselt, den Blick vom begrenzten Fenster über den Balkon in die räumliche Totale führt, inseriert er nicht nur die Beschreibung der eigens autopsierten Landschaft 5 in den Bericht der Madame d'Aulnoy. Die über den Anschaulichkeitsmodus und das Indefinitpronomen „man" erfolgte Amalgamierung von historischer Quelle und selbst erfahrener Landschaft trägt dazu bei, daß Lektüreakt und Reiseerlebnis in Toledo zur Einheit verschmolzen werden. Mit den Partizipialkonstruktionen geht die Beschreibung synästhetisch vom Sichtbaren zum Hörbaren über; erst
5 Vgl. hierzu den Bericht von Toledo an Friederike Justi, Madrid 10.5.1876, Spanische S. 57.
Reisebriefe,
III. Der „Dolmetsch der Kunst"
258
dann lenkt die Erzählführung wie im Filmschnitt6 zurück zu der Ausgangssituation, so daß die Königin ex post zum Sprechen kommt. Entscheidend ist daher, daß sich das situationsbezogene Tableau silhouettenartig vor der Landschaft abhebt und mit dem Blick in den Abgrund zwei weitere zeitliche Ebenen eingeführt werden, die durch den Wechsel der akustischen Phänomene erneut eine Kontrastwirkung herstellen: Das Summen der Seidenwebstühle signalisiert die Blüte Toledos unter Karl V., während Justis Gegenwart von den „Klagemelodien rauschend über den Verfall" bestimmt ist. Das mit den Seidenwebstühlen konnotierte filigran-kultivierte Umfeld ist jedoch zum Zeitpunkt des Besuchs der Madame d'Aulnoy längst Geschichte, so daß Justi den topographisch unveränderten Zustand seit dem 17. Jahrhundert bestätigt. Damit versichert die Verwebung der Zeitebenen die im Raum bewahrte historische Kontinuität, wodurch paradoxerweise historische Distanz zu der d'Aulnoy'sehen Szene gewonnen wird: Denn dadurch, daß Justi via Autopsie den kulturellen Niedergang seit Karl V. beglaubigt, delegiert er die Verantwortung für den kontinuierlichen Abstieg Spaniens an das Haus Habsburg. Der Zusammenhang von Geschichtspessimismus und der bei Justi ab den 1880er Jahren immer stärker werdenden Kulturkritik wird im Velazquez7 auch an zahlreichen anderen Stellen erkennbar. Denn ganz eindeutig trägt der Hof des Siglo de Oro die Merkmale einer Dekadenzkultur, die, ,,[h]alb Byzanz, halb Bohème" (II, 4), in den Porträts besonders sichtbar wird. Zu psychopathographischen Fallstudien werden die Beschreibungen durch die enge Abstimmung von Bildbetrachtung und Kommentierung: Das betonte Ausgehen von physiognomischen Details erinnert an die zeitgenössischen Vererbungs- und Degenerationstheorien, welche äußere hereditäre Stigmata mit Symptomen wie sexueller Ausschweifung oder Passivität in Verbindung bringen:8 So heißt es über ein frühes Porträt Philipps IV.: „Der breite Mund giebt dem Gesicht etwas stupid sinnliches. Es scheint, dass es bei einem solchen Kopf mit dem Eifer für die Geschäfte bald zu Ende sein werde." (I, 201) Mit der These vergleichbar, daß die Unregelmäßigkeit in der Augenpigmentierung zu den Anzeichen psychischer Abnormität gehört,9 ist die konzentrierte Beschreibung eines späten Porträts von Olivares: „Das Auge erhält ein glasiges Aussehn durch den breiten Glanz der Hornhaut, der mit dem Weiss der Lederhaut verschmilzt." (II, 119) Als Ausdruck einer gelebten Nicht-Identität, in der Leib und Wille auseinanderklaffen, interpretiert Justi die Porträts des Königs, wenn er ihren politischen Repräsentationscharakter kontradiktorisch unterläuft: „In diesen ersten Jahren sprach er [d. i. Philipp IV.] immer davon, er wolle in den Krieg, nach Frankreich, den Fusstapfen Carl V folgen [...]. Auf dem dünnen Untersatz der Beine breitet sich die Gestalt im Mantel aus, wie die Krone einer Pinie." (II, 205) Im Wechsel von der Handlungsintention Philipps zum Pinien-Vergleich erzeugt Justi ein gegenläufiges Assoziationsspektrum, in welchem die Erwartungshaltung aufgrund des königlichen
6 Der Vergleich zwischen historistischer Darstellungstechnik und filmischen Organisationsformen ist in der neueren Literatur so omnipräsent, daß er an hiesiger Stelle nicht weiter thematisiert werden muß. 7 Zu Justis Rezeption der Degenerationstheorie Cesare Lombrosos vgl. Bredekamp: „Der Manierismus der Moderne", S. 279 f. 8 Leibbrand/Wettley: Der Wahnsinn, 9 Magnan: Psychiatrische
Vorlesungen,
S. 531 f. Heft II, S. 4.
3. Piatonismus
und
Geschichtspessimismus
259
Ausspruchs durch den Bildbefund gnadenlos destruiert wird. Entscheidend ist hier die unterkühlte, fast zynische Bestandsaufnahme von Gesehenem und Gelesenem, welche erst in der Parallelisierung ihre volle Wirksamkeit entfalten. In auffallender Weise stimmt auch die formal-historiographische Entscheidung, sämtliche Narren und Zwergenbilder als „Colleg" (II, 343) an das Ende der Biographie zu stellen und damit von der chronologischen Entwicklung des Individualstils abzuweichen, mit zeitgenössischen Degenerationstheorien überein, 10 wenn die Wertschätzung deformierter Gestalten als „Chaos der Affekte" gedeutet wird (II, 361). Die pessimistische Sinnstiftung und eine damit einhergehende Verkehrung des geschichtsteleologischen Denkens bestätigt die letzte Velazquez-Beschreibung: Das Treffen der Einsiedler Antonius und Paulus deutet Justi als „Vision der Zukunft" und „letztefn] Tag Spaniens, w o der letzte Carlist und der letzte Republikaner sich sterbend die Hände reichen" (II, 379). n Mit den Entscheidungen hinsichtlich der formal-historiographischen Ordnung, die die Verfallsstimmung indirekt mit der Gegenwart verknüpft, koinzidiert die Auffassung von der prinzipiellen Unveränderlichkeit der Geschichte. So kann Justi die Abschreibung eines Porträts des Olivares-Nachfolgers Luis Haro mit der Anmerkung versehen, daß Velazquez keine Bildnisse von Haro gemalt hat, und dies mit der spitzen Bemerkung begründen: „Man kann sich denken, dass der Nachfolger des Conde Duque [Olivares], sein Neffe D. Luis de Haro, von dem Grundsatz nicht bloss heutiger Premierminister, in allen Stücken das Gegentheil von dem zu thun was ihre Vorgänger gethan, nicht abgegangen ist" (II, 126). Damit wird die Politik als eine Kette von Fehlhandlungen entlarvt, deren Resultate sich aus einer mechanischen Abfolge von vermeintlich selbstbestimmtem Handeln und verfehlter Erfüllung konstituieren, eine Diagnose, die sich für Justi bis in die Gegenwart fortsetzt: Als ob ihm die Skepsis gegenüber der politischen wie ästhetischen Entscheidungsautonomie der Spanier nicht genügen würde, findet sich einige Sätze weiter die Bemerkung, daß ,,[j]enes Reiterbild" Haros „auch in dem Buche ,Graf Bismarck und seine Leute' erwähnt [wird], es ist das einzige Gemälde das darin vorkommt" (II, 127). Indem Justi die Zuschreibungsfrage mit dem Namen Bismarcks versieht, stellt er mit der assoziativen Verkettung der drei „Premierminister" Olivares, Luis de Haro und Bismarck eine kulturpessimistische Untergangsprognose her, die kein ästhetisches Vertrauen in das politisch handelnde Subjekt legt. Läßt sich doch an der Verbindung von Bismarcks Namen mit einem mittelmäßigen Bild ablesen, daß sich der fehlende Kunstsinn der Politik mit regressiver Tendenz bis in die Gegenwart fortsetzt. 12 Selbst im höchsten politischen Triumph manifestiert sich somit die Geschmacksunfähigkeit der Politik. 10 Vgl. hierzu Thomé: Autonomes Ich und ¡Inneres Ausland', S. 169-185. 11 Den optimistischen Zusatz, wonach im Winter 1872/73 ein spanischer Gesprächspartner vor dem Bild „[glücklicher Weise [...] doch zu schwarz gesehen zu haben" scheint (II, 379), hat Justi in der zweiten Auflage gestrichen (II2, 228). 12 Zur negativen - wenn auch schwankenden - Bewertung Bismarcks bei Justi vgl. die Einleitung von R. Leppla in Justi/Hartwig: Briefwechsel 1858-1903, S. 13 f. Zu den Curiosa der Rezeption von Diego Velazquez und sein Jahrhundert gehört ein Brief des Reichskanzlers von Bülow, der an der imperialistischen Flottenpolitik einen maßgeblichen Anteil hatte: Bernhard von Bülow an Justi, Norderney 2 1 . 8 . 1 9 0 3 : „Meisterhaft und zutreffend ist Ihre Darstellung der sinkenden spanischen Weltmacht unter Philipp IV., sowie der Politik des Conde Duque de Olivares, welche ich mir
260
III. Der „Dolmetsch der Kunst"
Wie keine andere weltanschauliche Strömung des 19. Jahrhunderts scheint hier das G e dankengut Schopenhauers Pate zu stehen, 1 3 der von der Geschichte sagt, daß sich in ihr „vom Anfang bis z u m E n d e stets nur dasselbe wiederholt unter andern N a m e n und in anderm G e w ä n d e " . 1 4 D i e A n n a h m e , daß die nach Kausalzusammenhängen
geordnete
äußere Welt nur trügerischer Schein ist und allein in der Vorstellung existiert, stützt damit jene Argumente, mit denen Justi gegen einen empirischen Realismus und gegen die Alleingültigkeit entwicklungsgeschichtlicher K o n z e p t e opponiert. N a c h Schopenhauer ist das Ziel des Realismus, ein O b j e k t ohne das Subjekt zu gewinnen, unmöglich, denn die o b j e k tive Erscheinungswelt ist fest an die Vorstellung des Subjekts gebunden, indem personale Wahrnehmung und äußere Welt eine Vorstellungseinheit bilden. 1 5 Justis historiographisches Modell, das anhand des autopsierten O b j e k t s und anhand autopsierter R ä u m e alle übrigen historischen D a t e n und vergangenen Zusammenhänge re-evoziert, ist dieser Auffassung verpflichtet: D i e methodologische Affinität besteht im Ausgehen v o n der selbst erfahrenen Gegenwart und der Herstellung einer Einheit von Intellekt und Materie durch
die
Anschauung. 1 6 G e g e n das geschichtsteleologische D e n k e n , welches die Vergangenheit transitorisch mit Gegenwart und Zukunftserwartung verknüpft, setzt damit Justi das Vergessen des Historischen und seine Wiedergewinnung im eigenen Subjekt, das mit der unmittelbaren Anschauung die einzige verlässliche Instanz bildet. 1 7 Zugleich hat die R ü c k g e w i n nung des Historischen
durch den Erfahrungsraum
bestätigenden
Charakter für
die
geschichtspessimistische Sicht: D i e „Beharrlichkeit der M a t e r i e " , die Schopenhauer als das „Grundgerüst der E r s c h e i n u n g " und den „Reflex der Zeitlosigkeit" versteht, 1 8 wird im B u e n R e t i r o - A b s c h n i t t an dem gotischen Kloster S. G e r ó n i m o manifest, da dieses als das „älteste D e n k m a l jener G e g e n d [ . . . ] alle Stürme überdauert" hat (I, 338). D i e Beständigkeit des Klosters wird so z u m S y m b o l für die „schon eingetretene, unaufhaltsame R ü c k b e w e gung Spaniens von seiner vorübergehenden Weltmachtstellung zu den natürlichen G r e n z e n , die es im Mittelalter besessen" (I, 211). 1 9
indessen nicht als Vorbild nehmen werde, denn sie zeigt, wohin ein hitziger, eitler und unbesonnener Staatsmann ein großes Land führen kann." Archiv der BBAW, Nl. Carl Justi 49. 13 Obwohl der Einfluß Schopenhauers auf Justis Denken oft als selbstverständlich vorausgesetzt wird (vgl. die Artikel von Peter Betthausen im Metzler Kunsthistoriker Lexikon, S. 197 und von Wolfgang Frh. v. Löhneysen in NDB X, S. 705), ist die Forschungslage keineswegs eindeutig. Während Wilhelm Waetzoldt diesen Aspekt völlig überging, Robert Arnold Fritzsche sogar behauptete, daß Justi im Unterschied zu Burckhardt „gegen Schopenhauer gefeit" war („Uber Carl Justi", S. 75), hat nur Fritz Knapp („Carl Justi. 1832-1912", S. 29) anhand der Zitate in Justis Winckelmann auf einen Zusammenhang verwiesen. 14 WWV II, S. 570. Kap. 38. 15 Ebd., S. 22, Kap. 1. 16 Vgl. ebd., S. 27: „[D]er Intellekt und die Materie [sind] Korrelata, [...] eines ist nur der Reflex des andern". 17 Vgl. ebd. S.21. 18 Ebd., S. 27. 19 Damit verbindet sich kultur- und geschichtszyklisches Denken mit der pessimistischen Anthropologie Schopenhauers, die auf der Unveränderlichkeit der menschlichen Gattung beharrt.
3. Piatonismus und
Geschichtspessimismus
261
Justis Beschäftigung mit Schopenhauer fällt noch in die frühe Phase der allgemeinen Anerkennung und war offenbar mit einer persönlichen Begegnung mit dem Philosophen verbunden. 20 Der Habilitationsvortrag von 1860 kann zwar nicht als erster, aber immerhin als ein früher Beleg der (gegenüber der populären Verbreitung etwas verspäteten) universitären Rezeption gelten; 21 er ist mutig, zumal Justis Doktorvater Eduard Zeller als einer der profiliertesten Kritiker von Schopenhauers System galt.22 Der institutionellen Situation ist daher geschuldet, daß Justi seine Einwände besonders scharf formuliert. 23 Die salomonischen Schlußsätze, daß es sich hier nicht um Philosophie, sondern um eine Glaubenssache handle, umgehen ein eindeutiges Bekenntnis und lassen den eigenen Standpunkt in der Schwebe. Justi verweist auf den Synkretismus von Schopenhauers System und die dadurch gewährleistete Vermittlung von Metaphysik und Empirie: Eine ähnliche Vereinbarkeit naturwissenschaftlicher und insbesondere physiologischer Komponenten mit der Ästhetik wird für Justis lebenslanges Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen bestimmend sein.24 1865 hält Justi einen Vortrag über Darwin; seine Argumentation verweist hier auf die typisch deutsche Rezeption, welche in Anschluß an Schopenhauer die Evolutionslehre auf den Kampf der Naturkräfte untereinander verengt. 25 Die radikale Gefolgschaft und gründerzeitliche Schopenhauer-Mode allerdings, wie Justi sie später an seinen Bekanntschaften Cosima Wagner, Henry Thode oder Lorenz von Stein erlebt, wehrt er in souveräner Kenntnis des Systems ab. Auffallend und typisch für Justis Formen der Distanzbildung ist, daß er trotz zahlreicher Anknüpfungspunkte erst in der zweiten Auflage des Velazquez Schopenhauer erwähnt und aus dessen Graciän-Ubersetzung zitiert (II 2 , 307), obwohl er 1891
20 Vgl. Clemen: Carl Justi, S. 15: „Daß der junge Kandidat der Philosophie Schopenhauer nach ersten schüchternen Fensterpromenaden auch noch gesprochen und seines Geistes einen Hauch verspürt hatte, hat der Achtziger noch gern erzählt." Im Schopenhauer-Nachlaß finden sich keine Hinweise auf eine Begegnung. Freundliche Auskunft von Jochen Stollberg, Schopenhauer-Archiv der Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. 21 Die ersten Universitätskollegs zu Schopenhauer wurden im Sommer 1857 in Bonn und Breslau abgehalten. Vgl. Hübscher: Schopenhauer. Biographie eines Weltbildes, S. 116. Zur Rezeption von 1848 bis ca. 1870 siehe ebd., S. 102 ff; 112-116; Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, S. 112-117; 610 f. 22 Vgl. Weiner: Die Philosophie Arthur Schopenhauers und ihre Rezeption, S. 134-139. Justis Verhältnis zu Zeller verschlechtete sich unmittelbar nach der Habilitation. Vgl. Justi an Hartwig, Marburg 6. 2. 1861, in: Justi/Hartwig: Briefwechsel 1858-1903, S. 65. 23 „Uber die Schopenhauer'sehe Philosophie. Probevorlesung, gehalten in der Univ.-Aula zu Marburg, den 4ten Februar 1860", in: „Geschichte der neueren Philosophie", Archiv der BBAW Nl. Carl Justi 18 (letztes eingebundenes Heft). Siehe Anhang, Dok. C. 24 Vgl. hierzu: K. Justi: „Erinnerungen an Carl Justi", S. 777. 25 Justi: „Uber den Kampf des Menschen mit der Natur. Ein am 1. Februar 1865 in Düsseldorf gehaltener Vortrag", in: ULB Bonn, Hss.-Abt., Nl. Carl Justi S 1865. Der belegreiche und an § 27 der Welt als Wille und Vorstellung erinnernde Vortrag reduziert den evolutionären Prozeß auf das Recht des Stärkeren, weist aber dem Menschen, der den Naturgewalten oft machtlos gegenübersteht, als höchster lebenden Potenz die Gegenwehr durch Kulturleistungen zu. Zum Zusammenhang zwischen Darwin- und Schopenhauer-Rezeption vgl. Sprengel: Darwin in der Poesie, S. 16, 49-59, u. ö.
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III. Der „Dolmetsch
der
Kunst"
bekennt, sich „zuletzt in Schopenhauer [...] mit mächtiger Anziehung [...] versenkt" zu haben und daß ihm alles andere an neuerer Philosophie innerlich fremd bleibe. 26 Justis allgemeine Nähe zu Schopenhauer liefert die Folie für seine Spanien-Rezeption: Zumindest als Verknüpfung, die äußerst günstig mit dem Forschungsgegenstand harmoniert, kann die hohe Affinität von Schopenhauers System zum Barockdenken gelten. 27 Der barocke vanitas-Gedanke und insbesondere der desengaño-Begriff, der als „Lebensrhythmus [...] schlechthin" den fortwährenden Wechsel von Täuschung und Enttäuschung thematisiert, 28 stimmen dort mit der Grundüberzeugung vom Leben „als ein fortgesetzter Betrug" und „fortwährende^ Täuschung und Enttäuschung" 29 überein und können als aktualisierte Fassung barock-stoischer Traditionen gelten. Contemptus mundi, der Scheincharakter der Realität, die bei Calderón thematisierte Schuldhaftigkeit des Menschen durch die Erbsünde sind Grundfiguren, die in der Welt ais Wille und Vorstellung zustimmend zitiert werden. 30 Noch entscheidender ist, daß Schopenhauers Beschäftigung mit der spanischen Literatur weit über die punktuelle Calderón- und Cervantes-Rezeption des ^ . J a h r hunderts hinausgeht und auf Basis einer umfassenden Kenntnis der Quellen als integrativer Bestandteil in den eigenen Systementwurf eingegangen ist.31 Anders als die romantische Spanien-Rezeption, die ihre Sicht vorwiegend auf einen katholischen Aspekt verengt, 32 kann dieses anthropologische und kunsttheoretische Konzept in Justis Nobilitierungsstrategie von Velazquez als einem der ersten europäischen Maler eingehen: Der argumentative Vorzug der Schopenhauerschen Konstruktion besteht darin, daß sie, zwischen platonischem Denken und realistischer Kunsttheorie vermittelnd, eine ,veristische' VelazquezDeutung ermöglicht, die zugleich gegen die drohende Vereinnahmung des Künstlers durch den Impressionismus immunisiert. Als theoriegeleitetes Verstehen von Velazquez und seiner Kultur macht sich dies in diskreter wie ordnender Wirksamkeit in Justis Text bemerkbar: in der Frage nach dem integrativen Verhältnis von Kunst und kulturellem Umfeld (3.1.), in der allgemeinen anthropologischen Auffassung (3.2.), in der Zeichnung der künstlerischen Genialität und dem darüber transportierten Kunstverständnis (3.3. / 3.4.).
26 Justi an Charlotte Broicher, Bonn 3.2.1891, Staatsbibliothek Berlin, sog. „Nachlaß Karl Justi". 27 Zu Schopenhauers Barock-Rezeption vgl. Neumeister: „Schopenhauer als Leser Graciáns", S. 270-276. 28 Schulte: El desengaño, S. 83. 29 WWV II, S. 733 f, Kap. 46. 30 Ebd., S. 772 f, Kap. 48. 31 Vgl. Neumeister: „Schopenhauer als Leser Graciáns", S. 262: „Die Präsenz der spanischen Geisteswelt in dieser Breite ist für einen deutschen Philosophen zweifellos ein einzigartiges Phänomen." 32 Dieser Rezeptionsstrang hat sich bis ins späte 19. Jahrhundert gehalten. Manfred Tietz macht zahlreiche Beispiele aus katholischer Perspektive geltend, in denen der Niedergang Spaniens als Resultat der Aufklärung gedeutet und das Siglo de Oro idealisiert dargestellt wird. Vgl. Tietz: „Das theologisch-konfessionelle Interesse an Spanien im 19. Jahrhundert", in: Ders. (Hg.): Das SpanienInteresse im deutschen Sprachraum, S. 93-103, sowie weitere Beiträge in dem Band.
3. Piatonismus und Geschichtspessimismus
263
3.1. Dezentrierte Totalität D i e Frage nach der Integrierbarkeit der K u n s t in historische Entwicklungen und äußere K o n t e x t e berührt Justis kunsthistoriographisches Verständnis in grundlegender Weise. 3 3 U m 1910 entstandene Aufzeichnungen zu Galerien geben Aufschluß darüber, wie sehr ihm historische Hängungsprinzipien als kunstfremd erscheinen: 3 4 ,,[F]remdartig störende M o m e n t e liegen in der O r d n u n g nach Successions-Elementen, der .Entwicklung', die grosse Täuschungen erzeugt: der Schein, als wäre das geniale Werk die F r u c h t einer Reihe von Mittelmässigkeiten. - E i n e ausserordentliche C o n c e n t r a t i o n bedingt die A u f n a h m e eines Meisterwerks, es ist ja auch u n g e w o r d e n . " 3 5 D i e D i s k r e p a n z zwischen den im K u n s t w e r k manifesten, überzeitlichen Werten und seiner historisch-morphologischen Kategorisierung nach F o r m und Stil verweist im systematischen Sinne auf Schopenhauers Abwertung der Ätiologie als gesetzmäßiges Erklärungsmuster für die äußere empirische Erscheinungswelt und der parallel dazu vollzogenen Aufwertung der Kunst als Erkenntnismedium von Wahrheit, das außerhalb der trügerischen Entwicklungsgeschichte existiert. D e n n o c h handelt es sich hierbei nicht um eine b l o ß e Adaption, denn Schopenhauers
kunstphilosophische
Gedankenfigur hat Justi ins Psychologische und Rezeptionsästhetische gewendet: „Wiederholung, die ein M i n i m u m von geistiger P o t e n z erfordert, erzeugt Ekel. - Wiederholte O p e rationen steigern die Leichtigkeit - aber wieder lähmen sie Geist, weil Tatkraft e r l i s c h t . " 3 6 D i e Einzwängung von Kunstwerken in Entwicklungsschemata, die Ähnliches mit Ä h n lichem verknüpfen, evoziert hier den E i n d r u c k von Einförmigkeit - die kulturkritische Wendung gegen die M o d e r n e ist dabei unübersehber: W o eine entwicklungsgeschichtliche Darstellung zur M o n o t o n i e , M o n o t o n i e zur Langeweile, Langeweile zur Suche nach Reizmitteln führt, ist die „Stilhetze" und U b e r r e i z b a r k e i t der N e r v e n nicht mehr weit. 3 7 Die Empfehlung lautet daher, ein ausgewogenes K o n z e p t zwischen Kontemplation und geistiger Aktivität zu finden, das dem überzeitlichen Charakter der K u n s t w e r k s und den damit verbundenen Rezeptionsanforderungen gerecht wird: „Eines Kunsttempels W ä n d e sollten stets künstlerisch angeordnet sein, - nach Schematen von Centren und Peripherie, K e r n punkt und Z i r k e l u n g . " 3 8 33 Mit Roland Barthes zu reden „das alte Problem der Beziehungen zwischen Geschichte und Kunstwerk [...], über das man lebhaft mit mehr oder weniger Scharfsinn und Glück debattiert, seit es eine Philosophie der Zeit gibt, das heißt seit dem neunzehnten Jahrhundert." Barthes: Literatur oder Geschichte, S. 11. 34 Die sammlungsgeschichtliche Stichhaltigkeit der Einwände sei hier dahingestellt. In Wahrheit gehen die von Justi als originell empfundenen Vorschläge mit der zeitgenössischen Aufstellungspraxis, wie ζ. B. derjenigen Wilhelm von Bodes, durchaus konform. 35 Justi: „Moderne Irrtümer" (Typoskript), S. 26 („Uber Galerien. 9. Januar 1912"), Archiv der BBAW.Nl. Carl Justi 39. 36 Ebd., S. 14. 37 Ebd., S. 10: „Ein anderer Quell ist die Ubersättigung. Langeweile ist nach Schopenhauers Nachweis eine der stärksten, unwiderstehlichsten Triebfedern zum Suchen neuer Reizmittel. Abscheu vor dem Bewährten, Vernünftigen, Praktischen. Dies ist besonders der Fall in den Dingen, deren Anziehung auf der Erregung der Empfindung beruht." 38 Ebd., S. 27 („Über Galerien. 9. Januar 1912").
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III. Der „Dolmetsch
der Kunst"
In den späten Aufzeichnungen zu Galerien präzisiert damit Justi Überlegungen, die auch grundlegend für seine historiographische Auffassung sind. So richtet sich im Michelangelo die Insistenz bezüglich einer,planetarischen' Darstellung 39 vor allem gegen Wölfflins formgeschichtlichen Ansatz und zementiert damit den Standpunkt, welcher an der Unübertragbarkeit von historischen Entwicklungsgesetzen auf die Kunst festhält. Und eine ähnliche erkenntnistheoretische Skepsis macht Justi in der Vorrede des Velazquez geltend, wenn er sagt, daß eine „Gruppe von Erscheinungen [...] bei anhaltender Betrachtung unwillkürlich eine Verkettung im Innern an[nimmt], und man fühlt sich zuletzt seiner Sache so gewiss, als habe man dem Mann bei der Arbeit über die Schultern gesehen; aber das Wahrscheinliche ist selten die Wahrheit." (I, 20 f) Wenn deshalb das Prinzip der Dezentrierung von entwicklungsgeschichtlichen Verläufen und der gleichzeitigen Refiguration nach einer werkbezogenen, konzentrischen Anlage als Strukturmoment im Velazquez wirksam ist, dann ist wichtig, daß dies in Frontstellung gegen zwei zentrale Systematisierungskonzepte des Historismus geschieht: Zum einen gegen die Dominanz von diachronen Organisationsformen, die einen linearen stilgeschichtlichen Verlauf konstruieren; zum anderen gegen synchrone Synthesebildungen, die den Kausalnexus zwischen Kunst und äußerer Erscheinungswelt - des kulturellen Umfelds, der Politik und jeder anderen Einflußnahme auf den autonomen Künstler - zum allgemeinen Prinzip erheben. Insofern liebt es Justi, gerade am Ubergang der einzelnen Textmodule Kontraste zu inszenieren, die auf einen überraschenden Effekt abzielen: Auf den Essay, der künstlerische Phänomene wie Velazquez mit „Gestirnen" vergleicht, die „sehr weite Bahnen durchkreisen und erst nach Jahrhunderten wieder in die Erdnähe" kommen, setzt die Beschreibungsserie mit dem betont naturwüchsigen Titel „Volksfiguren" ein (I, 126); auf die Ankündigung vom baldigen Zerfall des spanischen Weltreichs läßt Justi als kontemplativen Gegenpol die „Parkansichten" folgen (I, 351); auch der ,Brief' des Velazquez unterbricht den Kausalzusammenhang, wenn er nach der parenthetisch endenden Bemerkung einsetzt, die römische Kunst stünde in der „Morgenröthe des goldenen Zeitalters der Landschaftsmalerei" (I, 284) - ein Thema, das der Brief höchstens auf indirekte Weise (s. o.) behandelt. Besonders erkennbar wird dieses Ordnungsverfahren an Justis Umgang mit dem Hauptwerk der zweiten Madrider Periode, der Übergabe von Breda·. Ihre Beschreibung fügt sich in eine Reihe von Episoden ein, die im vierten Buch als locker gefügte Kette konfiguriert werden. Vorangestellt sind die Tableaus über die Entstehung des Schloßparks von Buen Retiro (I, 334), dem dortigen Theater mit den Inszenierungen Calderons und Lopes (I, 345), den Historienbildern für den Salon de los reinos (I, 346) und den Parkansichten von Velazquez (I, 351). Der Bildbeschreibung (I, 354-370) folgen die ausführlichen Darlegungen zur spanischen Jagd (I, 370-400), in denen weitere Werke von Velazquez behandelt werden. Bezeichnend ist, daß Justi die Übergabe von Breda nicht als Teil des Ausstattungsprogramms im Salon de los reinos versteht und damit aus der Reihe der Historienbilder der anderen Hofmaler ausgliedert, indem er mit den Parkveduten einen kontemplativen Zwischenschritt einschiebt und auf diese Weise einen einheitlichen historiographischen Nexus
39 Vgl. die Ausführungen in der Einleitung sowie Justi: Michelangelo. Neue Beiträge zur Erklärung seiner Werke, S. 7.
3. Piatonismus und
Geschichtspessimismus
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durch Inkohärenz verhindert.40 Ebenso divergent in bezug auf eine thematisch-lineare Engführung erscheint der nachfolgende Abschnitt zur Jagd. Mit der Einrahmung durch inhaltlich Gegenläufiges kalkuliert Justi einen Differenzeffekt bewußt ein, ganz nach der Ordnungsvorstellung einer idealen Galerie: So entstünden durch die Zusammenhängung von heterogenen Bildern keine Nachteile, sie machen es dem Betrachter vielmehr leichter, „sich stets in ein Bild ebenso zu concentrieren, wie wenn es einzig wäre. Dagegen wenn man damit fertig ist, lässt oft der zufällige Blick auf ein zufällig daneben hängendes einen sehr glücklichen Contrast erkennen, ein Zug erscheint viel klarer." 41 Die von den Abschnitten zum Buen Retiro und zur Jagd konzentrisch gerahmte Position der Ubergabe von Breda betont somit den Gegensatz zum Entstehungskontext und setzt wie in den Hängungsempfehlungen für Galerien einen über Kontrastbildungen angestrebten ästhetischen Reflexionsraum frei: Gerade das formale Abreißen der äußeren Verbindungen inszeniert hier eine in der Kunst manifeste höhere Wahrheit und zerstört den „Schleier der Maja", 42 dem das Umfeld des Velazquez, aber nicht der Künstler selbst erliegt. Ersetzt daher Justi eine homogen geführte Narration durch formale Diskontinuität, indem er das Bild als nichtdiskursives, dem Begrifflichen und der Verstandeserkenntnis inadäquates Medium besonders exponiert, so nimmt die Bildanalyse dennoch auf die Konstellationen der Außenwelt Bezug: Mit der erneuten Anknüpfung an die Historienbilder im Salon de los reinos wird eine Bezugsetzung zum Bild ermöglicht, aber nur, um die qualitative Differenz zu der offiziellen Repräsentationskunst zu betonen. Denn erscheint das gesamte Ausstattungsprogramm dem „Leiter der spanischen Politik [Olivares] wol nur als ein Vorspiel zu ganz andern Ereignissen, welche die nächste Zukunft enthüllen sollte" (I, 350), erkennt Justi Velazquez die divinatorische Gabe zu, in dem Bild die Souveränität der nördlichen Niederlande zu antizipieren (I, 366 f). Ebenso divergent zum Bild zitiert Justi Calderóns gleichnamiges Drama, welches als Beispiel einer Auffassung dient, die in der Einnahme der Stadt Breda von 1624 die Höchstleistung des spanischen Militärs versteht; eine Sichtweise, die Justi mit einem Lapidarsatz prompt zerschlägt: „In Wirklichkeit war die Einnahme von Breda ja das Werk italienischer Strategik und Ingenieurkunst, und zum Theil selbst italienischer Bravour." (I, 358) Durch die im Organisationsmuster angelegte Gleichzeitigkeit von Exklusion und Inklusion deutungsrelevanter Informationen wird das Bild einer doppelten epistemologischen Struktur unterworfen, welche darauf abzielt, die akademistische Konvention einer im Historienbild angelegten Identität von historischem Sujet und ästhetischem Gehalt zu überwinden. Der Bruch zwischen ästhetischer Eigenwertigkeit und herrschaftsrepräsentativer Funktion ist daher unverkennbar und läßt sich anhand der gattungstheoretischen Folie Schopenhauers profilieren. Demnach sind die Gattungseigenschaften des Historienbilds durch eine bipolare Bedeutungsstruktur konditioniert: Die Nominalbedeutung dient dem äußeren Zweck und erfüllt meist eine politische Funktion; die Realbedeutung bezieht sich dagegen auf die „innere Bedeutsamkeit" und kann durch ihren kunstimmanenten Charakter 40 In der zweiten Auflage hat dies Justi durch eine Umstellung geglättet. Vgl. I 2 , 2 8 7 - 2 9 0 und 302. 41 Typoskript „Moderne Irrtümer" („Uber die moderne Anordnung der Gemäldegalerien", 12. Januar 1911), S. 28. 42 W W V I , S. 353, § 5 1 , u . ö .
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III. Der „Dolmetsch
der Kunst"
einen allgemein-menschlichen Aussagewert erzeugen. Während erstere sich an den Kausalverhältnissen der Geschichte orientiert, wegen ihrer Repräsentationsfunktion zur abstraktbegrifflichen Allegorie tendiert und damit außerhalb der ästhetischen Erfahrung steht, bildet letztere unabhängig davon die zeitlose „Seite der Idee der Menschheit" aus, „welche durch das Bild für die Anschauung offenbar wird." 43 Mit derselben dualen Konstruktion bestreitet Justi den Verlauf der Beschreibung, indem er gleich zu Beginn den menschlichen Aussagewert in Antithese zur historischen Bedeutung setzt: Die Ubergabe von Breda „steht unter den wenigen grossen Compositionen des Meisters zweifellos oben an durch das Interesse des Gegenstandes [...]. Sie ist auch das Werk, in welchem uns der Mensch im Künstler näher tritt als sonst." (I, 354) Schopenhauers „flüchtige Welt, welche sich unaufhörlich umgestaltet"44, verkörpert sich in einer kaskadenartigen Raffung der Ereignisse: „Breda, in Nordbrabant nahe der Grenze Hollands gelegen, ,das rechte Auge Hollands', war 1567 von Alba besetzt, zehn Jahre später vom Grafen von Holach wiedergenommen, an Hautepenne wiederverloren worden und 1590 durch List in die Hände der Oranier gefallen." (I, 355) Doch unbeachtet von dem Wechselglück bleibt die erneute Einnahme durch Spinola für das Selbstverständnis der Spanier als Großmacht zentral, womit die Funktion als politisches Repräsentationsbild von Justi nicht bezweifelt wird. Die Realbedeutung hingegen steht für eine zweite, von der ersten weitgehend unabhängige Argumentationsebene, die sich in einer dezidiert enthistorisierten Sicht niederschlägt: In Spinolas humaner Geste gegen den unterlegenen Justin von Nassau erkennt Justi nicht das barocke Thema der stoischen Großmut des siegreichen Feldherrn, sondern interpretiert diese vielmehr als genuinen Einfall des Künstlers, „auf den nicht jeder gekommen wäre" (I, 362). Entgegen der Kritik Passavants, der dem Bild eine „zerstreute Wirkung" attestiert45, sieht Justi gerade in der desintegrativen Komposition einen innerpsychischen Vorgang dargestellt, der, fernab von einer Identität von weltgeschichtlichem Augenblick und prägnantem Moment, die Darstellung zum allgemein-menschlichen Wert überhöht: Unabhängigkeit gegenüber der Gattungskonvention bewahrt Velazquez gerade darin, daß er die affekt- und gebärdensprachliche Darstellung durch einen inneren Vorgang substituiert, der außerhalb des Offensichtlichen ist: „Passavant hielt das für eine .zerstreute Composition.' Aber wo das Ohr so stark in Anspruch genommen ist, wendet sich der Blick ab, damit die Sammlung der psychischen Kraft auf das Gehörte nicht durch das Auge zerstreut werde." (I, 363) Damit offenbart der psychische Vorgang den inneren Bedeutungszusammenhang und macht die „Wahl einer rein menschlichen, noblen Regung" zum „hervorstechendsten Motiv" (I, 362); er bewahrt Velazquez davor, mit seiner Darstellung in die „Phraseologie einer wohlfeilen Gebehrdenrethorik [sie!]" abzugleiten (I, 363). Indem so eine Differenz zwischen dem Schein höfischer Repräsentationsästhetik und der in Velazquez manifesten Wahrheit und Unbestechlichkeit erzeugt wird, hat der Gedanke der konfessionellen und politischen Versöhnung den spanischen Großmachtsanspruch vollständig absorbiert.
43 Ebd., S. 325, § 48. 44 Ebd. 45 Passavant: Die christliche sition" zitiert (I, 363).
Kunst in Spanien,
S. 103. Von Justi nicht korrekt als „zerstreute Compo-
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Geschichtspessimismus
26 7
Die doppelbödige Sicht auf die Übergabe von Breda drückt das zentrale Thema von Sein und Schein im vierten Buch aus. Auffallend ist dort die unscharfe und ambivalente Verwendung des Begriffs des „Scheins": 46 Während Justi in bezug auf Velazquez den Schein-Begriff im Sinne des ästhetischen Scheins positiv verwendet, indem nämlich der Künstler von der „Bestimmtheit des Gewussten zur Unbestimmtheit des Gesehenen [geht], vom Sein zum Schein" (I, 428), entspricht das Repräsentationsbedürfnis des höfischen Umfelds einer Kultur des Scheins, die erheblich mit den Tatsachen des Niedergangs kontrastiert. Wenn demnach das Historienbild einen seiner Funktion entgegengesetzten Wahrheitsgehalt offenbart, so geschieht dies in notwendiger Reaktion auf den vorgelagerten Exkurs zur Entstehung des Buen Retiro: Ganz nach dem Motto, daß die „Menschen [...] immer guter Dinge zu sein" pflegen, „wenn sie auf dem Wege sind sich zu ruiniren" (I, 329), wird dort eine antithetische Struktur aufgebaut, die den mit sinnlosen Kriegen verbundenen Niedergang der spanischen Monarchie mit einem kollektivpsychotischen Selbstbild kontrastiert: „Berauscht durch diess prachtvolle Gaukelspiel meinte man in Madrid, die Zeiten Carl V kämen wieder, und noch grösser." (I, 350) Die Inadäquatheit des Selbstentwurfs angesichts der realpolitischen Tatsachen verstärkt Justi durch zahlreiche Antithesen: „Der zerstörerische Krieg fand in Madrid seinen lautesten Wiederhall in den Siegesfesten, wo Phantasie und Luxus sich fortwährend überboten" (I, 329). Der finanzielle Bankrott und die militärischen Niederlagen der Monarchie korrespondieren mit einem „Belsazargelage" (I, 351), in welchem Fürst und Künstler die glücklichste Zeit ihres Lebens verbringen. Dieser Gegensatz von Anspruch und Wirklichkeit, von Schein und Sein, kulminiert schließlich in dem Abschnitt über die Theateraufführungen Calderons: Ihr ,,allegorisch-mythologische[r] Spuk" ergibt ein „wunderliches Ganze[s]" (I, 346), das sich in eine Welt des Imaginären flüchtet und in krassem Widerspruch mit der empirischen Wirklichkeit des Staatsbankrotts und der zahlreichen militärischen Niederlagen seit den 1630er Jahren steht. Baut also Justi mit dem Buen Retiro-Passus für die Deutung der Ubergabe von Breda gezielt vor, um dann vor dem Bild den .Schleier der Maja' hinwegzunehmen, erhält der nachfolgende Großabschnitt zur Jagd eine ebenso komplementäre Funktion zum Bild: Wenn er gleich zu Beginn die barocke Auffassung zitiert, nach welcher die Jagd das „lebendige Abbild des Kriegs" (I, 371) ist, so findet er nicht nur den assoziativen Anschluß an die Beschreibung der Ubergabe von Breda; er kann auch den Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit um so mehr betonen, wenn er hier die barocke Repräsentationsfunktion der Jagd ironisch zu kriegerischen Ersatzhandlungen invertiert: Die Passage von 30 Seiten dringt nicht nur tief in die jagdkundlichen Traktate der Zeit ein, sie knüpft auch an die Scheinwelt des Buen Retiro nahtlos an, wenn sie die Theaterthematik wiederaufnimmt und dadurch das „unvergleichlichen u n d aufregende[] Schauspiel, in dem die Majestät selbst Protagonist war" (I, 373), selbst zur Komödie wird: „Malerisch ist das Publikum eigentlich wichtiger als die Komödianten. Die Rollen sind gewissermassen vertauscht: Majestät und Granden arbeiten sich ab im Staub, der Unterthan nebst dem Tross geniesst das Schauspiel, ja achtet es zuweilen nicht einmal der Mühe werth sich umzudrehen." (I, 382) Der dadurch angedeutete politische Bedeutungsverlust dieser „illustren Gladiatoren" (I, 382) konstituiert ein humoristisches Spannungsfeld, welches die Inadäquatheit zwischen faktischem 46 Bohrer: Plötzlichkeit, S. 111.
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III. Der „Dolmetsch
der Kunst"
Befund und seiner darstellerischen Umsetzung umspielt. So etwa, wenn Justi in Paraphrase eines Berichts von 1631 den sonst passiven König merkwürdige Heldentaten begehen läßt: Einer seiner Meisterschüsse ist zum Gegenstand eines besonderen Schriftchens gemacht worden. In einem Thiergefecht des Palastplatzes hatte der Stier alle seine Mitkombattanten aus dem Felde geschlagen, er stand als Sieger im Kreis der weggescheuchten oder zerissenen [sie] Thiere, darunter Bären und die Könige der afrikanischen Wüste. Um dem Spiel einen würdigen Schluss zu geben, befahl der König plötzlich seine Büchse zu bringen. In einem Nu hatte er Hut und Mantel zurechtgerückt, angelegt und das Thier niedergestreckt; also dass das Publikum sich kaum besonnen hatte um was es sich handelte, als es schon den Blitz des Pulvers ja, heisst es, das Blut eher fliessen sah als den Knall hörte. I, 373 f
Echte Meisterschüsse klingen anders: Ein erstes Ironiesignal erzeugt Justi durch die oppositive Kombination von Superlativ (Meisterschuß) und Deminutiv („Schriftchen"); die weitere ironische Modulation erfolgt in der Abfolge semantisch unterschiedlich besetzter Wortfelder: Bedeutsam ist der Wechsel von einer militärischen Konnotation („Thiergefecht", „Mitkombattanten", „aus dem Felde geschlagen") zu einer Drastik in concreto („weggescheuchten", „zerissenen"), welche die vorgeschaltete Kriegsmetaphorik fast zum Euphemismus geraten läßt, indem sie mit wenigen Andeutungen das Barbarische und Erbärmliche des Spiels offenbart; die schon damals tote Metapher „Könige der afrikanischen Wüste" leitet dann zu der Tat des echten Königs über: Daß er dem „Spiel einen würdigen Schluss" geben will, entlarvt die gesamte Veranstaltung nicht nur als unwürdig, auch bei der nachfolgenden Großtat differieren in auffallender Weise die temporale Angabe („plötzlich") und die Schilderung des Vorgangs: Sieht man von dem Humorsignal „In einem N u " ab, verzögert das Zurechtrücken von Mantel und Hut die Handlung; mit der nachfolgenden Beglaubigung durch Augenzeugen gerät die Syntax an die Grenzen der grammatikalischen Belastbarkeit, wenn mit der gänzlich uneleganten Überleitung „also dass" die verwirrte Wahrnehmung des Publikums geschildert wird. Dies alles rührt zwar nicht an die Substanz des Berichts, läuft aber in der detaillierten Ausführlichkeit kontradiktorisch gegen den faktischen Sinn, so daß ein Spannungsverhältnis zwischen „der extensiven und der intensiven Bedeutung des ,Tuns'" 4 7 entsteht, in welcher sich die sprachliche Darstellung mit ihrer detaillierten und komplexen Struktur gegen das Dargestellte wendet. Im Gegensatz zum Widerspiegelungsbegriff des programmatischen Realismus, der sich in Anschluß an das rhetorische aptum um die Einheit von Gedanken und Ausdruck bemühte, reizt Justi den Gegensatz zwischen der detailliert erfaßten Oberflächenstruktur der Realität und eigentlich intendiertem Sinn gekonnt aus. Die Beispiele der Ironisierung und humoristischen Darstellung lassen sich beliebig fortsetzen: Olivares' spontaner „Einfall", den Buen Retiro anlegen zu lassen, kommt ihm in seinem „Vogelhäuschen", wo „er in harmloser Unterhaltung mit Fasanen, Schwänen und seltenen Hühnern von den verdrussreichen Geschäften aufathmete" (I, 336); als einzige Rede Philipps IV. zitiert Justi genüßlich dessen Entschluß, gegen den Rat der königlichen Jäger eine gefährliche Sau selbst abzufangen, um dann sarkastisch zu folgern: „Diess war wol die längste Rede die er in seinem Leben gehalten" (I, 375); überhaupt hat „ihn wol" niemand „mit solcher Ueberzeugung für
47 Preisendanz: Humor ais dichterische
Einbildungskraft,
S. 155.
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Gescbichtspessimismus
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einen grossen Mann gehalten" wie der königliche „Oberbüchsenspanner (ballestero mayor) Juan Mateos" (I, 374); zur komischen Konstellation gerät das arbeitsteilige Verhältnis zwischen Fürst und Künstler, wenn es heißt: „Velazquez hat dem Könige auch die merkwürdigen Hirschgeweihe malen müssen, welche dieser erbeutet" (I, 377). Auf inhaltlicher wie sprachstilistischer Ebene wird deshalb erkennbar, daß hier die programmatisch-realistischen Identitätssetzungen von Kultur und Kunstgeschichte ihre Plausibilität verloren haben: Die ironische Dezentrierung der (kulturgeschichtlichen) Totalität 48 und die Decouvrierung des Kunstwerks .Staat' 49 als Abbild von Täuschung, Rausch und Passivität zerstört auch das vormals so stabile Verhältnis zwischen Kultur und deren ästhetischem Widerschein in der Kunst. Zur ästhetisch überhöhten Identität von Artefakt und Wirklichkeit gelangen deshalb die Tableaus im vierten Buch nie; ihre Abfolge vollzieht sich im Wechsel der Bezugsetzungen zwischen Sein und Schein: Der Kunstcharakter des Buen Retiro offenbart die Aushöhlung der spanischen Weltmacht durch den falschen repräsentationsästhetischen Schein, die Ubergabe von Breda überwindet diesen dadurch, daß die echt künstlerische Begabung einen überzeitlichen, divergent zur Aufgabenstellung stehenden Sinn evoziert; die pseudokriegerischen Handlungen im Jagdkapitel bestätigen wiederum das inadäquate Verhältnis zwischen höfischer Kultur und politischer Realität.
3.2. Das Siglo de Oro als Wille und Vorstellung Calderón als Repräsentant einer Weltauffassung, die zwischen Traum und Wirklichkeit nicht unterscheidet, dient im vierten Buch nicht nur als Indiz für den Scheincharakter einer ganzen Kultur, Justi folgt hierin auch der Argumentationsstrategie Schopenhauers, die den Dramatiker dafür in Anspruch nimmt, in der Reihe der dem Satz vom Grunde unterworfenen Vorstellungen den „langen Traum des Lebens" zu erkennen. 50 Daß Calderóns „Ontologisierung des Imaginären" 51 im vierten Buch der Velazquez-Monographie einen ähnlichen systematischen Stellenwert erhält wie in der Welt als Wille und Vorstellung und damit ebenfalls der Gleichsetzung von Vorstellung und empirischer Wirklichkeit dient, wird aus dem Kontrast zum fünften Buch ersichtlich. Der systematische Anschluß an Schopenhauer scheint hier darin begründet zu liegen, daß Justi beide Bücher als Pendants konzipiert: Am Ende des ersten und am Anfang des zweiten Bandes positioniert und dadurch axialsymmetrisch konfiguriert (I, 327-428/11, 3-150), verlaufen sie zeitlich parallel (1631—1649) und sind in ihrer thematischen Zielsetzung komplementär aufeinander bezogen: Behandelte das vierte Buch die Welt Philipps IV. und des Olivares vor allem als Welt nach deren Vorstellung, als Kulturtotalität mit Scheincharakter, so tritt nun mit der Abfolge der Porträts die spanische Welt in Form von einzelnen Individualitäten hervor. Dadurch wird das historiographische Verfahren der gewebeartigen Verknüpfung von kultur- und kunstgeschicht-
48 Vgl. Japp: Theorie der Ironie, S. 24. 49 Vgl. auch die Ausführungen in Teil I, Kap. 5.1. 50 W V I, S. 48, § 5. Zu Calderón vgl. ebd., S. 50. Zu Schopenhauers Calderón-Rezeption vgl. Sullivan: Calderón in the German Lands and the Low Countries, S. 223-225. 51 Gumbrecht: Eine Geschichte der spanischen Literatur I, S. 426.
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liehen Tableaus invertiert, indem sich der vormalige Nexus nahezu auflöst und die historischen Informationen in die Einzelbeschreibungen integriert werden. Diese duale Aufteilung nach einem vernetzten und in thematischen Variationen fortgleitenden Darstellungsprinzip und einem an historischen Individuen und deren Gestalt gebundenen Erzählen - in der zweiten Fassung zitiert Justi Goethes Stella, wonach die „Gestalt des Menschen [...] der Text zu allem [ist,] was sich über ihn empfinden und sagen läßt" (II 2 , 5) 52 - findet ihre Entsprechung in Schopenhauers dichotomer Welteinteilung nach Vorstellung und Willen: Wie Justi in seinem Habilitationsvortrag paraphrasiert, reicht die „Welt als Vorstellung" (WWV I, §§ 1-16) zur Welterkenntnis nicht aus, sie würde sonst „wie ein wesenloser Traum, wie ein gespenstisches Luftgebilde an uns vorüberziehen, nicht der Betrachtung werth." 53 Insofern repräsentieren die Scheinwelt des Buen Retiro, die Theateraufführungen Calderons und die Jagd als kriegerische Ersatzhandlung auf ideale Weise die Welt als Vorstellung: Sie stellen paradigmatisch dar, wie das menschliche Erkenntnisvermögen sein Umfeld als kohärente Realität wahrnimmt und dennoch einer Suggestion erliegt. Anders liegen die Dinge beim fünften, mit Die Bildnisse der mittleren Zeit betitelten Buch. Im Unterschied zum vierten Buch, wo Sein und Schein einem Vexierspiel unterworfen sind, finden dort Inhalt und Form zur Einheit, indem die einzelnen Porträtbeschreibungen zugleich zu historischen Charakterstudien werden. Damit weist der fünfte Teil der Monographie thematische Koinzidenzen mit der zweiten Betrachtung von Schopenhauers Systementwurf auf: Mit der Sicht auf die „Welt als Wille" (WWV I, §§ 17-29), so Justi in seinem Vortrag weiter, ergänze Schopenhauer die Insuffizienz des am Satz vom Grunde orientierten Denkens durch ein Erkennen unabhängig von der Welt als Vorstellung: Die Gleichsetzung von „Ding an sich" und „Wille" führe hier auf die „qualitates occultae [...], die außerhalb des Gebiets der Erklärung liegen" und die letzten, nicht weiter definierbaren Bedingungen aller physikalischen Erscheinung sind: Zwar ist der Wille überall als allgemeine Naturkraft präsent, doch ist „dem als Individuum erscheinenden Subject [...] nach Sch. das Wort des Räthsels gegeben." Wenn demnach der einzelne Mensch die höchste Objektivationsstufe des Willens innerhalb von Zeit und Raum darstellt, referiert Justi weiter, ist der „Leib selbst [...] nichts anderes als dieser Wille, nur unter der Form der Erscheinung." 54 Den Zugang zu der Welt als Wille findet das Subjekt über den Leib, dem das Selbstbewußtsein inhärent ist und den es als unmittelbare Manifestation des Willens vorfindet. Ziel aller wirklichen Erkenntnis ist deshalb, so Schopenhauer, „das Wesen der Menschen, wie sie in der Regel sind, intuitiv" zu begreifen und „ebenso die Individualität des gegenwärtigen Einzelnen" aufzufassen,55 weshalb seine Ästhetik die menschliche Gestalt zum „höchste[n] Ziel der Kunst" deklariert.56 Indem Justis Porträtbeschreibungen auf einer Identitätssetzung von Leib und Willen basieren, kristallisiert sich die Nähe zu Schopenhauers Anthropologie heraus: Wenn die Verse Quevedos dessen Inneres offenbaren und diese zugleich mit der Physiognomie des Dichters übereinstimmen (II, 46), wenn Justi am Kardinal Borja kon52 Vgl. W W V I, S. 315, § 45: Die „bloße Gestalt spricht ihr ganzes Wesen aus und legt es offen dar." 53 Justi: „Uber die Schopenhauer'sche Philosophie", S. 7. 54 Ebd., S. 8. Vgl. W W V I, S. 167, § 20. 55 W W V II, S. 101, Kap. 7. 56 Ebd., I, S. 298, § 4 1 .
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statiert, daß sein Bildnis die „Energie des Willens", „verbunden mit unzweifelhaftem persönlichem Muth" zeigt (II, 55), wenn es von dem mit Orden hochdekorierten Admiral Pulido heißt, man sehe ihm an, „dass er sich nicht bedenken wird, sein und andrer Leben im Todesrachen einer Bresche zu wagen" (II, 72), so gelangen hier leibliche Erscheinungsform und individueller Wille zur Identität. Interessant ist in diesem Zusammenhang Justis Umgang mit der Physiognomik. In seinen Aufzeichnungen zur kunstgeschichtlichen Methode weist er darauf hin, daß der Physiognomik nicht der Rang einer Wissenschaft zukomme, teils weil sie nicht nach allgemeinen Gesetzen deduzierbar sei und sich nur auf „sicherer Induction gründen läßt; theils aber auch weil die natürliche Correspondenz z[wischen] Eig[en]s[chaft] u äußeren Formen bei der Menschh[eit] ganz erfindend schafft". Damit erkennt Justi den prinzipiell kontingenten Charakter von Physiognomien an und fährt fort: „[SJelbst wenn die Deutung der Züge im allg. feststünden, so würde sie doch nie zu einer sicheren Errathung des Charakters brauchbar sein." 5 7 Justi weiß sich hier mit Schopenhauer einig, daß sich eine abbildhafte Relation der Gesichtszüge zum Charakter „nur fühlen" läßt und eine wissenschaftliche „Physiognomik in abstracto zum Lehren und Lernen [ . . . ] nicht zustande zu bringen" ist. 58 Doch zeige sich über die leibgebundene Realisierung jedes einzelnen Willens dennoch die „vollständige Persönlichkeit, schon äußerlich ausgedrückt durch stark gezeichnete individuelle Physiognomie". 5 9 Schopenhauer stellt fest, daß nur die kombinatorische Erfassung der Merkmale untereinander zu einer wirksamen Ausdruckskraft gelangen können: Stirn und Augenpartie bezeichnen demnach das Intellektuale; die untere Gesichtshälfte drückt das Ethische und den Willen aus. Es ist daher auffallend, daß Justi im fünften Buch an mehreren Stellen die Gesichtszüge nach einem ähnlichen Prinzip der gegenseitigen Erläuterung' 6 0 zu erfassen sucht: Breite, schön gewölbte, scharf vorgedachte Stirn, dicke buschige nahezusammendrückende Brauen, kleine etwas auseinanderstehende Augen überschattend; zwischen starken Backenknochen ein breiter etwas gedrückter Nasenrücken. Die grauen Haare (auch Schnurr- und Knebelbart fast weiss) sind bereits sehr dünn, besonders auf der Stirn. II, 52 Die dicken, schwarzen, nahezusammentretenden, stark gerunzelten, die Augen beschattenden Brauen, die lothrechte Furche in der Mitte der Stirn, der in die Höhe geknickte Schnurrbart, das Ganze umrahmt von einer mächtigen schwarzen Mähne, die, seitlich gescheitelt, unbändig emporwuchernd, den Trotzkopf bekrönt[.] II, 72 Hohe, breite, schön gewölbte Stirn mit spitzem Schöpf, starke schwarze Brauen, dazwischen entspringt mit breiter Wurzel eine kurze Entenschnabelnase, der weisse Schnurrbart deckt eine ungewöhnlich lange Oberlippe.
II, 75
57 Blattfolge „Physiognomik und Pathognomik", Archiv der BBAW, Nachlaß Carl Justi 29/1. 58 W W V I, S. 102, § 12. 59 Ebd., S. 197, § 2 6 . 60 Vgl. ebd., S. 102, § 12: „Ich bin dieserwegen der Meinung, daß die Physiognomik nicht weiter mit Sicherheit gehn kann als zur Aufstellung einiger ganz allgemeiner Regeln, z. B. solcher: in Stirn und Auge ist das Intellektuale, im Munde und der untern Gesichtshälfte das Ethische, die Willensäußerungen zu lesen - Stirn und Auge erläutern sich gegenseitig, jedes von beiden, ohne das andere gesehn, ist nur halb verständlich^]"
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Die Eingangsphrasierung des dritten Zitats von der ,,hohe[n], breite[n], schön gewölbte[n] Stirn" geht direkt auf Schopenhauers berühmte Schilderung der physiognomischen Merkmale des Genies zurück, wonach „Genie [...] nie ohne hohe, breite, schön gewölbte Stirn [ist]; diese aber oft ohne jenes". 61 Letzteres ist hier sicher der Fall, wenn Justi seiner Adaption einen komischen Zug durch das nachfolgende assonanzenreiche Kompositum „Entenschnabelnase" verleiht. An der Tendenz zur Verbelision und an den enumerativen, an Adjektiven und Partizipien reichen Beschreibungsverläufen wird erkennbar, wie stark sich Justi um eine ostensive Beziehung zwischen Sprache und Abbild bemüht. Die sonst typischen, über Relativsätze eingeschalteten Digressionen, die eine Deutungsebene eröffnen könnten, werden hier zugunsten einer objektbezogenen und detailgenauen Erfassung vermieden. Dieser Zwang zur Referentialität wird durch Partizipien unterstützt, die - vor allem in aktivischer Form - eine überleitende Funktion zwischen den Gesichtspartien übernehmen und kaum merkbar einen Effekt von Belebtheit erzeugen. Dominierte daher in den kulturgeschichtlichen Exkursen des vierten Buchs die Antithese als stilistisches Prinzip, das auf die Zerstörung von homogenisierenden Bezugsetzungen zwischen Staat, Kultur und Kunstwerk abzielte, so hebt hier Justi in umgekehrter Weise die Identität von individuellem Abbild und historischem Einzelindividuum durch einen ,ontologischen' Stil hervor. Zur Interpretation dringen dabei die physiognomischen Beschreibungen nicht vor; sie sollen es auch gar nicht: Jedes historische Abbild steht hier für sich und ist Repräsentant der ihm eigenen Idee, die Velazquez auf Grundlage seiner Genialität adäquat zu ermitteln weiß. Doch erst im Zusammenspiel der übrigen Beschreibungssegmente entfaltet die als Einzelphänomen neutral wirkende Bestandsaufnahme ihre Wirksamkeit, indem Justi durch Parallelisierungen Interferenzen zwischen der „einzelne[n] Aktion des Leibes" und dem „einzelnen Akte des Willens" 62 herstellt. Prototypisch wird diese willensmetaphysisch abgestützte Anthropologie in der Porträtbeschreibung des Bildhauers Montañés formuliert. Nach Schopenhauer zeigt sich Individualität vor allem in der „heftige[n] und übermäßige[n] Bewegung des Willens", die „ganz unmittelbar den Leib und dessen Inneres Getriebe erschüttert". 63 An der Gestalt des Bildhauers liest Justi diesen Vorgang dadurch ab, daß er, unterstützt durch die Wiederholung desselben Partizips, die „modellirende Thätigkeit des Gehirns" mit der „modellirenden Hand" parallelisiert: „Das forschende Auge lernt den Formen der Natur ab, memoriert gleichsam; diese modellirende Thätigkeit des Gehirns wird im nächsten Augenblick von dem Impuls der modellirenden Hand ausgelöst werden." (II, 52) Im Anschluß an diese energetische Offenbarung durch den einzelnen Willensakt 64 identifiziert Justi am Kopf des Bildhauers einen „in Castilien sehr häufig vorkommenden Typus", nicht ohne dieser Feststellung eine ironische Brechung zu geben, nach welcher „der Verfasser [...] an einem der ersten Tage seiner Ankunft in Madrid über einer Logenbrüstung des Theaters Variedades seinen Doppelgänger" sah (II, 52). Zwei verschiedene Beobachtungen hat Justi bis zu diesem Punkt nebeneinandergesetzt, die sich nach zeitlicher Extension und Kontraktion sowie nach psychologisch-intrinsischen 61 Ebd., S. 102, § 12. 62 Ebd., S. 167, § 20. 63 Ebd., S. 159, § 1 8 . 64 Vgl. W W V I, S. 160, § 18: Der Wille zeigt sich in „einzelnen Akten".
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und allgemeinen Kriterien dichotom aufeinander beziehen: Indem die im Augenblick begründete Aktivität des Willensprinzips und der allgemein ethnische Phänotyp dicht aufeinanderfolgen, somit die im .prägnanten Moment' manifeste Einheit von psychischem und physischem Vorgang mit der überzeitlichen, durch die Reiseerfahrung abgesicherten anthropologischen Erkenntnis polar konfiguriert werden, umkreist Justi den „intelligiblen Charakter", der nach Schopenhauer auf das im Willen manifeste Ding an sich führt. 65 Davon ausgehend, wendet sich die Beschreibung dem „empirischen Charakter" zu, der sich in seiner individuellen Lebenserfahrung ausprägt: Auf die detaillierte Beschreibung der Physiognomie (s. o.) folgt die Feststellung, daß man „in diesen Zügen die Arbeit eines langen Lebens" „liest" (II, 52): „Vertrauenserweckend, ja ehrwürdig ist der Eindruck dieses Mannes. Der Kopf stimmt ganz zu dem Eindruck seiner Statuen: weder ein beobachtender noch ein phantasievoller Künstler, aber ein Ymaginero von edlem Geschmack. Ehrfurcht vor der Ueberlieferung, gleichmässigem Fleiss und echtspanischer Empfindung." (II, 53) Damit führt Justi die einzelnen Beschreibungssegmente zusammen: Die Wortwiederholung „Eindruck" stellt den Zusammenhang zwischen Charakter und Taten her, ganz nach Schopenhauers Auffassung, „daß die Taten der Abdruck des Charakters, der Spiegel des Willens sind, in welchen schauend wir unser innerstes Selbst, den Kern unsers Willens erkennen." 6 6 Auf diese Weise folgen die Porträtbeschreibungen Schopenhauers psychologischem Imperativ, nach dem „in der Menschenspezies jedes Individuum für sich studiert und ergründet sein will" 6 7 und legen gleichzeitig die historische Erzählung auf „eine Wissenschaft von Individuen" 6 8 fest. An dieser anthropologisch begründeten Abwertung des Geschichtlich-Allgemeinen zeigt sich, daß die zum emphatischen Wahrheitscharakter der Kunst parallel verlaufende Aufwertung des Individuellen als allein gültige historische Kategorie nur noch bedingten Anschluß an die formalen Verknüpfungsmuster des klassischen Historismus erlaubt. So suchte gerade eine im Umfeld Rankes entstehende Darstellungsauffassung eine Trennung von Porträtmalerei und porträtierender Geschichtsschreibung theoretisch wie praktisch dadurch zu begründen, daß die individualisierende Naturtreue eines Tizian, van Dyck oder Denner nicht den historiographischen Anforderungen einer charakterisierenden und zugleich idealisierenden Darstellung des historischen Subjekts entspräche: ,,[E]s ist nicht der ganze Mensch, den sie darstellen, sondern im besten Falle der Mensch einer einzigen Stunde, ohne daß man doch einen Grund weiß, warum gerade diese Stunde gewählt worden." 6 9 Das Beharren auf medialer Eigengesetzlichkeit der Geschichtsschreibung führt hier den Wunsch nach einem porträtierenden Verfahren nach dem electioPrinzip mit sich, das die historische Person nicht nach visuell umgesetzter und detaillierter Naturtreue, sondern nach bestimmten, mit der geschichtlichen Idee koinzidierenden Charaktermerkmalen konstruiert, indem, wie Dilthey über Rankes porträtierende Darstellung bemerkt, nur „einzelne scharfe Umrisse [...] die wesentlichen Züge" der Person bezeich-
65 Zu Schopenhauers Charakterlehre vgl. Bernhard: „Schopenhauer und die moderne Charakterologie", ibs. S. 37 ff. 66 W W V I , S . 4 1 6 , § 5 5 . 67 Ebd., S. 197, § 2 6 . 68 W W V II, S. 564, Kap. 38. 69 Roscher: Klio, S. 15. D i e Abhandlung (1842) ist Ranke gewidmet.
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nen. 70 Die historistische Auffassung vom zu porträtierenden Subjekt richtet sich nach dieser Sicht entschieden nach der geschichtlichen Idee, sie positioniert einen einheitlich konstruierten Charakter in Relation zum Gesamtnexus oder geht zumindest anfangs von einem solchen Konstrukt aus, um es dann in Konflikt mit geschichtlichen Tendenzen zu bringen. 71 Justis Beschäftigung mit dem historischen Subjekt ist hingegen nicht mehr an dessen effektiver Wirkung im geschichtlichen Gesamtprozeß, sondern nur noch an den individualpsychologischen Komponenten interessiert. Formal hat dies zur Konsequenz, daß Justi die Porträtbeschreibungen in sich abrundet, oft auf Uberleitungen verzichtet und ihre Abfolge einer losen thematischen Ordnung unterwirft. Dennoch wird die Makrostruktur des fünften Buchs nach einem Muster konfiguriert, dem ein tragischer Spannungsbogen inhärent ist: Von der Einführung (II, 3-17) und den Landschaftsveduten (II, 142-150) gerahmt, beginnt der Beschreibungszyklus der Erstfassung 7 2 mit den Frauenbildnissen (II, 18), darauf folgen die Porträtsequenzen „Berühmtheiten und Dunkelmänner" (II, 42), „Die Reiterbildnisse" (II, 87), „Letzte Bildnisse des C o n d e D u q u e " (II, 118) und „Prinz Balthasar C a r l o s " (II, 127-141). Mit den Reiterbildnissen als Inbegriff der barocken Repräsentationskunst an der Spitze fügen sich die fünf Porträtgruppen zu einem pyramidalen und dramenähnlichen Schema zusammen, das sich langsam von den Frauenporträts über Künstler (Quevedo, Montañés) und politischen Tatmenschen zum Mittelpunkt aufbaut, dann, mit dem Bildnis von Fraga, die Peripetie einleitet: Der „glücklichste Augenblick" im Leben Philipps IV. (II, 100), in dem er sich „endlich selbst seinem eigner Entschliessung entwöhnten Willen die Oberhand verschafft" (II, 99) und tatsächlich in den Krieg zieht, um den katalonischen Aufstand niederzuschlagen (1642), markiert zugleich sein persönliches Scheitern: „Sein Vormund [= Olivares] war ihm gefolgt; er wusste ihn in Saragossa einzuschliessen, und der Kreislauf der Hoffeste begann von neuem[.]" (II, 100) Der in diesem Zusammenhang stehende Fall Perpignans und weitere militärische Niederlagen führen schließlich zum Sturz des Olivares, den der Abschnitt zu dessen „letzten Bildnissen" thematisiert (II, 125 f). In der letzten Porträtsequenz schließlich tritt die Katastrophe ein: Die von Justi in fünf Teile gegliederte Porträtserie nimmt das Muster des fünften Buchs nochmals auf und besiegelt mit dem Tod des Thronfolgers das Schicksal des Königreichs, indem es am Ende heißt, daß mit diesem Ereignis „das L o o s über Dynastie und Monarchie gefallen" ist (II, 141). Die große Staatstragödie, die Justi anhand der Porträts im fünften Buch erzählt, reflektiert damit exakt Schopenhauers Willenskonzeption: Im einzelnen bringen die Porträts den Willen in seiner höchsten Manifestation, nämlich der menschlichen Persönlichkeit, hervor; ihre Konfiguration macht hingegen die Unerbittlichkeit und Trostlosigkeit des Willensprinzips
70 Dilthey: „Zur Charakteristik Macaulays", in: G S X V I , S. 20. 71 Vgl. zu Schiller: Osterkamp: „Die Seele des historischen Subjekts", S. 176 f. 72 In der zweiten Auflage (1903) hat Justi den dramatischen Spannungsbogen zugunsten einer neuen O r d n u n g aufgehoben und dadurch die ereignisgeschichtlich-historiographische Sinnbildung durch eine bedeutungshierarchische Systematik ersetzt. Die Abfolge besteht nun aus den Abschnitten „Die Reiterbildnisse" (II 2 , 14), „Prinz Balthasar C a r l o s " (II 2 , 44), „Ende des C o n d e D u q u e " (II 2 , 57), (dem ehemals betitelten Abschnitt) „Berühmtheiten und Dunkelmänner" (II 2 , 65), „Frauenbildnisse" (II 2 , 101). Von inhaltlichen und stilistischen Details abgesehen, hat Justi die jeweiligen Abschnittsanfänge kaum überarbeitet.
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deutlich, dessen künstlerische Umsetzung nach Schopenhauer in der Tragödie kulminiert. 73 Mit dieser Historiographie ,νοη unten', die anders als im Tragödienverständnis Hegels keine höhere sittliche Vernunftordnung mehr herzustellen vermag, erhält Justis Bild vom Siglo de O r o seine adäquate Form.
3.3. Die Identität des Künstlers Während das porträtierte Personal von Schicksalsschlägen und von politischen Verstrickungen heimgesucht wird, widersetzt sich Justis Velazquez dem Weltlauf und pflegt „am Heerde all dieses Unheils" seine Kunst „wie ein Baum, der an sturmumtobter Klippe aus Steingerölle emporwächst" (II, 213). Auch hier ist die Nähe zu Schopenhauers Grundgedanken greifbar. Ruhe und Distanz zum Umfeld, die Justi dem Künstler attestiert, gleichen Schopenhauers Definiton vom kontemplativen und besonnenen Genie, dessen Fähigkeit vor allem darin besteht, von seinem individuellen Willen zu abstrahieren. In gleicher systematisierender Absicht wie Justi greift Schopenhauer den barocken Kontingenzgedanken auf, wenn er den „Normalmensch" im „Strudel und Tumult des Lebens" sieht,74 im Genie dagegen die stoische Befähigung erkennt, die Welt unbeteiligt zu akzeptieren, wie sie ist, und sie in objektiver Anschauung wahrzunehmen: „Diese Besonnenheit ist es, welche den Maler befähigt, die Natur, die er vor Augen hat, treu auf der Leinwand wiederzugeben". 75 Der wahre Künstler schaltet damit jedes subjektive Element aus der geistigen Tätigkeit aus und adaptiert „in seiner objektiven Auffassung die Erscheinung der Welt als ein ihm Fremdes". Die Erscheinung wird zum „Gegenstand der Kontemplation", der das Wollen des Künstlers „aus dem Bewußtsein verdrängt." 76 Dieser Konzeption entsprechend ist es Velazquez „gleichgültig, was er in die Hand nimmt" (II, 5), und für Justi ist „der echte Künstler" derjenige, der „für jeglichen Stoff und aus ihm dessen Form schafft, und jeden Augenblick im Stand ist, sich von der Routine der Hand frei zu machen." (II, 73) Analog zu Schopenhauers Gedanken vom Genie, dessen gesteigerte Gehirnfunktion wie eine Camera obscura 77 die Realität objektiv erfaßt und über diesen ,Hyperrealismus' 7 8 die ästhetische Idee aufschließt, spricht Justi davon, daß bei Velazquez die „störende[n] Einmischungen der Phantasie, dieses oft zu stark brechenden Mediums," (II, 3) keine Relevanz erlangen. Diese Subjektkonstruktion hat auch Auswirkungen auf die Bewertung des Schaffensprozesses: Schopenhauer zufolge agieren beim gewöhnlichen Menschen Leibesaktionen und Vorstellung zusammen. Anders verfährt dagegen das Genie, bei dem „Wille und Vorstellung
73 „Darstellung eines großen Unglücks ist dem Trauerspiel allein wesentlich." (WWV I, S. 355, § 51) Es verwehrt die „Forderung der sogenannten poetischen Gerechtigkeit" (ebd., S. 354) und zeigt deshalb, „was das Wesen und Dasein des Menschen sei" (WWV, II, S. 555, Kap. 37). 74 WWV II, S. 492, Kap. 31. 75 Ebd. 76 Ebd. S. 499. 77 WWV I, S. 372, § 52. 78 Vgl. Plumpe: „Das Reale und die Kunst. Ästhetische Theorien im 19.Jahrhundert", in: Mclnnes/ Plumpe (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit, S. 242-307, S. 277.
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besser auseinandergetreten" sind. 79 In der Ausgangsvision erfaßt der Künstler intuitiv und vollständig das Werk, indem er die raum-zeitliche Dimension und seinen eigenen individuellen Willen überschreitet. Die Ausführung dieser Ursprungsidee in einzelnen Arbeitsschritten unterliegt dagegen den Kategorien von Raum und Zeit. Damit teilt Schopenhauer den Schaffensprozeß in eine strenge Dichotomie von willenloser ,,künstlerische[r] Urerkenntnis" und technischer Ausführung durch den Willen auf. 80 Im Velazquez spiegelt sich dieselbe duale Grundannahme vom Schaffensprozeß wider, indem die klassische biographische Einheit von vita activa und vita contemplativa auf die Dichotomie von ästhetischer Ideenerkenntnis und individuellem Willen übertragen wird. Einerseits beharrt Justi darauf, daß Velazquez seine Bildthemen nicht mit Vorsatz und damit völlig befreit von seinem individuellen Willen gesucht hat (vita contemplativa). Andererseits weist er auf den hohen Anteil des Willens hin: „Das Merkmal des Genius ist [...] die Initiative" (I, 124). Wie Schopenhauer, der das Genie mit einer ,,große[n] und gewaltsame[n] Konzentration" 8 1 ausstattet, spricht Justi von einer ,,starke[n] Innervation des Willens", die „alles zusammenstimmt], Fehler erscheinen nicht als Fehler" (II, 8). Entsprechend dieser Zweiteilung des Schaffensprozesses unterscheidet sich für Justi Manet dadurch von Velazquez, daß seine angebliche Skizzenhaftigkeit das Symptom einer „Störung des Willens" ist, „der zur Unzeit versagt". 82 Gegenüber dem vollendeten Werkgedanken sind für Justi Skizzen und Entwürfe keine vollwertigen Objekte ästhetischer Anschauung, da sie den Betrachter immer auf die Zeitlichkeit ihres Entstehungsprozesses zurückwerfen. Zwar wird konzediert, daß „die Skizzen großer Meister [...] unschätzbar als Dokumente des Werdeprozesses ihrer Werke" sind, aber die Beschäftigung mit dieser ,,primitivste[n] Erscheinungsform" sei nur solange legitim, wie man „durch Studium und Anschauung vollendeter Stücke das Arsenal der Darstellungsmittel des Meisters im Kopf hat [...]. Ohne dies ist deren Bewunderung Selbsttäuschung". 83 Die von Schopenhauer aktualisierte antike Tradition der Technikverachtung wird für Justi um 1900 angesichts moderner Materialästhetik noch verschärft, sie ist aber auch schon im Velazquez angelegt: Uberzeugend sind für ihn weniger die Elemente eines pastosen, ,präimpressionistischen' Farbauftrags, sondern eine dünn lasierte Oberfläche (II, 277), die durch das „Phlegma der Vollendung" (II, 284) besticht. Die wahre Kunst des Velazquez besteht damit in der Ausschaltung der Materie durch die Form bzw. in ihrer souveränen Handhabe, indem sie in gut neuplatonischer Tradition überwunden wird. Meisterschaft erlangt Velazquez deshalb, weil für ihn die praktischen Fähigkeiten nur „Mittel zum Zweck" sind, um „mit dem wenigsten am meisten zu sagen" (I, 9). Damit stellt sich analog zu der Produktionstheorie Schopenhauers der Wille voll in den Dienst der Ausgangsvision, bei welcher der technische Prozeß als notwendiges Übel in Kauf genommen werden muß, um die Ursprungsidee für den Betrachter zur Anschauung zu bringen. Die Art und Weise, mit der Justi Velazquez charakterisiert, stimmt somit in hohem Maß mit Schopenhauers Geniegedanken überein. Wie in Grimms Michelangelo-Bild ist der 79 Schopenhauer: Philosophische Vorlesungen 2, S. 210. 80 Vgl. Schopenhauer: „Zur Metaphysik des Schönen und Aesthetik", in: Parerga und § 206, SW 5, S. 494. 81 W W V I I , S. 502, Kap. 31. 82 Justi: Amorphismus in der Kunst, S. 14. 83 Ebd., S. 8 f.
Paralipomena,
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Künstler immun gegen die Erfahrung von Kontingenz und setzt diese mit produktiver Leichtigkeit um, im Unterschied dazu fehlt aber in Justis Auffassung die im schöpferischen Transformationsvorgang entstandene Differenz zwischen natürlichem Vorbild und dem im Artefakt geoffenbarten Symbol. Die radikale Ausschaltung von jeder subjektiven Brechung zugunsten einer anschauenden und objektiv abspiegelnden Erkenntnis der Außenwelt führt hier den Umstand mit sich, daß die öfter als „psychologisch" bezeichnete Velazquez-Biographie realiter kaum zu einer psychologischen Erkenntnis des Künstlers vordringt. Diltheys Enttäuschung 84 liegt gerade in diesem theoretischen Hintergrund begründet. 1878 beginnt Dilthey mit der Rezension zu Herman Grimms Goethe-Vorlesungen sein Programm über die „Einbildungskraft der Dichter" auszuformulieren, das systematisch im Erlebnisbegriff, der Inversion der Außenwelt durch die künstlerische Erfahrung, gründet. Velazquez' Schaffenskraft definiert sich gerade nicht aus einer psychisch-eruptiven und energetischen Umwandlung des Äußeren zum Symbol (Grimm) oder Erlebnis (Dilthey), sondern aus der emotionalen Unbeteiligtheit und Distanz - ein Bild des Künstlers, das Justi angesichts fehlender schriftlicher Zeugnisse und einer geringen Zahl von Entwürfen mit hoher Plausibilität auszustatten weiß. So ist ein Hauptwerk wie Las Meninas zwar eine spontane und unbewußte Bildfindung, aber im künstlerpsychologischen Vorgang die Abspiegelung einer Zufallskonstellation, die nicht aus freiem Entschluß, sondern in unmittelbarer Reaktion auf den Zufall entsteht: „Nicht als wenn er Originalität gesucht hätte. Er hat überhaupt seine Erfindungen nicht gesucht, sie haben ihn überrascht, der Zufall hat sie ihm in die Hand gespielt" (II, 333).
3 . 4 . B e s c h r e i b u n g des Nunc
stans·. Las Meninas
als ästhetisches K o n z e p t
Wie stark das Kunstkonzept im Velazquez in Verbindung mit dem willensmetaphysischen Gerüst Schopenhauers steht, läßt sich an dem Abschnitt zu Las Meninas zeigen (II, 311-320). Die suggestiv vorgetragene Deutung des Bildes als beglückendes Produkt des Zufalls, der während einer Ateliersitzung im königlichen Palast eintritt, hat die Nachfolgeinterpreten immer wieder auf den Gedanken geführt, daß Justis ästhetischem Konservativismus eine Modernität innewohnt, welche in direkter Beziehung zur zeitgenössischen Fototheorie steht. 85 In der Tat scheint sich dort der platonische Inspirationsgedanke mit der
84 Vgl. die Einleitung des Kapitels. 85 Hüttinger: „Zum Verhältnis von Kunstwissenschaft und Kunstkritik", in: Ders.: Porträts und Profile,, S. 296 (zuerst 1982); Wagner: „Augenblick und Zufall. Karl Justi sieht Velázquez", S. 218: „Daß Justi letztlich selbst dazu gehörte, auch wenn er kein Parteigänger der Modernen und Modernsten war, sondern eine Substitution vornahm, indem er Velázquez an die Stelle der Modernen setzte, war ihm vermutlich nicht bewußt." Ahnlich spricht Prange (Kunstgeschichte 1750-1900, S. 165) von einer „,impressionistische[n]' Deutung" trotz Impressionismusfeindlichkeit. Auch die rezeptionsgeschichtliche Darstellung von Caroline Kesser (Las Meninas von Velázquez, S. 75) und der Kommentar von Thierry Greub (Las Meninas im Spiegel der Deutungen, S. 88) versuchen, Justis jWew>z