Poesie und Reflexion: Aufsätze zur Literatur [Reprint 2019 ed.] 9783110914337, 9783484107908

The essays assembled here (some hitherto unpublished) discuss texts and subjects taken from the literature of the Goethe

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German Pages 492 Year 1999

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Table of contents :
VORWORT
INHALT
Metaphorische Approximationen. Ein Sprachbild und sein Kontext in Herders frühen Schriften (1988)
KÜNSTLERTHEMATIK UND MONODRAMATISCHE FORM IN ROUSSEAUS PYGMALION
VOM PRINZIP DES MASSES I N LESSINGS KRITIK
DIE ÜBERWUNDENE KOMÖDIANTIN IN LESSINGS LUSTSPIEL
DIE VORSTELLUNGEN VOM "UNPOETISCHEN" DICHTER LESSING
LESSINGS SELBSTDEUTUNGSBILDER
UND
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Poesie und Reflexion: Aufsätze zur Literatur [Reprint 2019 ed.]
 9783110914337, 9783484107908

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Poesie und Reflexion

Ingrid

Strohschneider-Kohrs

Poesie und Reflexion Aufsätze zur Literatur

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1999

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Strohschneider-Kohrs, Ingrid: Poesie und Reflexion : Aufsätze zur Literatur / Ingrid Strohschneider-Kohrs. - Tübingen : Niemeyer, 1999 ISBN 3-484-10790-1 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach

VORWORT

Der vorliegende Band enthält Aufsätze aus der Zeit von 1952 bis 1998; darunter unveröffentlichte Arbeiten. Alle bisher im Druck erschienenen Aufsätze sind — von geringfügigen Korrekturen abgesehen - unverändert wiedergegeben. Nur einige der Anmerkungen, die sich mit speziellen Abgrenzungen auf ältere Sekundärliteratur bezogen, wurden gekürzt. Auch wenn die Einzelabhandlungen, die ohnehin während mehrerer Jahrzehnte zu sehr verschiedenen Anlässen und Gegenständen entstanden sind, nicht einem vorgegebenen Themenplan folgen, so haben sie doch auf eine ihnen jeweils eigene Weise teil an dem im Buchtitel genannten Problemkreis: der Relation von und . Diese Relation ist hier weder als eine Gegensatz-Spannung, noch als differenzfreie Synthese gedacht, da von Reflexion nicht als Widerpart, sondern als einem Ingrediens der Poesie - als einem der Bedingungsfaktoren literarischer Kunst zu reden möglich ist. Dieser Hinweis hat mit der Wahl der hier behandelten Themen zu tun. Ist doch in den einzelnen Erörterungen vornehmlich von solchen literarischen Phänomenen oder Zusammenhängen die Rede, die im Zeichen einer besonderen kritisch-produktiven Bewußtheit stehen; sei es, daß sie bestimmte Möglichkeiten der Spracherfahrung oder charakteristische Erscheinungsweisen kritischen Vermögens zu bedenken geben. Doch nicht weniger ist von poetischen Werken die Rede, — werden Fragen nach deren Gefugeform und künstlerischer Sprachstruktur aufgeworfen und zu präzisieren gesucht. Und kaum eine solcher Fragen, die nicht mit historisch geprägten und zu kritischer Klärung herausfordernden Problemgedanken aufs engste verbunden wäre. Selbstverständliche Voraussetzung für jede der hier dargebotenen Erörterungen ist der deutliche und relativ strenge Rekurs auf die jeweiligen Textgrundlagen und deren Kontexte. Auch dort, wo methodologische Fragen das Thema bilden, geht es nicht um Theorie-

VI

VORWORT

Programme, sondern um Einsichten, die jeweils bestimmten Texten und historischen Gegebenheiten abgelesen sind, — ob nun August Boeckhs Hermeneutik oder einige Strukturalismen der letzten Jahrzehnte zur Sprache kommen. Es mag für historisch-philologische Bemühungen nicht unangemessen sein, daß manches Interpretationsergebnis oder die Klärung eines Problemgedankens nicht anders als in indirekter Mitteilungsform dargeboten ist und auf diese Weise weiterführendem Nachdenken und ergänzender Kritik überantwortet wird. Wenn ich apodiktische Redeweise und dezidiert formulierte Thesen zu vermeiden gesucht habe, so möchte die indirekte, vornehmlich im sachlichen Aufweis sich bewegende Darbietung gleichwohl eine auch im wissenschaftlichen Terrain nicht unangebrachte Uberzeugung zu erkennen geben. Sie ist — wenn auch zu anderer Thematik und Veranlassung — am prägnantesten in einer der Lessingischen Frühschriften formuliert: «Die Wahrheit rühret unter mehr als einer Gestalt.» Dieser Gedanke mag für die Vielfalt historischer Literaturphänomene ebenso gelten wie für die in mannigfachen Variationen der Asthetizität sich darbietenden Spracherscheinungen. Variationen, von denen ich hier nicht ohne Grund die Lessingischen (Doppelreflexionen), aber auch Kafkas : es «waren ihm die frühesten Dramen Klingers in hohem Grade fatal, und nur mit M ü h e konnten ihn seine Freunde bereden, sie rein auszulesen, da er sie anfangs nach den ersten Akten fortgeworfen hatte. [...] Ein wenig günstiger urteilte er von Lenz, obwohl er freilich fast nur verschwendetes und verirrtes Talent in ihm erblickte.» Gespräche S. 267. - Weiße am 4. März 1775 an Garve: «Mit Goethes und seines Mitbruders Lenzens neuen Schauspielen war er äußerst unzufrieden.» Gespräche, S. 161. Brief an Eschenburg vom 26. Oktober 1774; LM 18, S. 115f. Aus Franz Horns «Erinnerungen»; Gespräche, S. 269. Brief an Eschenburg vom 26. Oktober 1774; LM 18, S. 115f.

LESSINGS K R I T I K

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von Lessing auch als sittliche Kraft und sittliches Gebot gedeutet erscheint. Es gibt für Lessing das den Menschen in die gegebenen Grenzen — in sein - rufende Vertrauen in die «Gesetze einer höhern Haushaltung»-,92 es ist das im Erkenntnis- und Wahrheitsstreben zu bewährende sittliche Gebot der Geduld, — ist die von anmaßlicher Übereilung freie Zuversicht in den überzeitlichen Gang der «Vorsehung». Die sind es nach Lessings Deutung, die dieser Geduld, der Einsicht in das Maß ihrer Zeit nicht fähig sind. In der «Erziehung des Menschengeschlechts» charakterisiert Lessing die Schwärmer als diejenigen, die den «Plan der allgemeinen Erziehung des Menschengeschlechts» zu suchten; die - mochten sie auch «richtige Blicke in die Zukunft» tun — «diese Zukunft nur nicht erwarten» konnten; sie selbst wollten den Gang der Einsichten , ja, wollten im eigenen Daseinsaugenblicke haben, «wozu sich die Natur Jahrtausende Zeit nimmt». 93 In der von Lessing geplanten, fragmentarisch hinterlassenen Dichtung von Faust, dem Schwärmer aus dunklen Zeiten, gibt es ein Motiv der (Übereilung), — der Verführung durch den (schnellsten Geist>: eine Verfehlung allerdings, die - wie es die überlieferten Hinweise auf die Absicht und Schlußwendung dieser Dichtung vermuten lassen - durch Einsicht, durch neue Erfahrung wieder aufgehoben werden kann. Das Verfehlen der dem Menschen zukommenden, der seiner Erkenntnis gesetzten Grenzen erscheint als Maßlosigkeit, — als zu (falschem Tag> verführende Unreife; und ohne Geduld für das menschliche Zeitmaß des Ganzen fehlt, wie bei den Schwärmern der älteren Zeit, die Bereitschaft zu «Aufklärung» und «Vorbereitung»; 94 an ihre Stelle tritt die (Intoleranz) mit ihrer Neigung zu «sektirischefm] Irrthum» und ihrer Übereilung in «sektirische[r] Wahrheit» lJ2

B r i e f an H e r d e r v o m 2 5 . J a n u a r 1780; L M 18, S. 333.

1,3

D i e E r z i e h u n g des M e n s c h e n g e s c h l e c h t s , § 8 7 - 9 0 ; L M 13, S. 4 3 4 .

94

D i e E r z i e h u n g des M e n s c h e n g e s c h l e c h t s , § 8 9 : « N u r d a ß sie i h n [den Plan d e r a l l g e m e i n e n E r z i e h u n g des M e n s c h e n g e s c h l e c h t s ] ü b e r e i l t e n , n u r d a ß sie ihre Z e i t g e n o s s e n , die n o c h k a u m d e r K i n d h e i t e n t w a c h s e n w a r e n , o h n e A u f k l ä r u n g , o h n e V o r b e r e i t u n g , m i t eins zu M ä n n e r n m a c h e n zu k ö n n e n g l a u b t e n , die ihres dritten Zeitalters w ü r d i g wären!» L M 13, S. 4 3 4 .

92

LESSINGS K R I T I K

zum «Unglück der Menschen». 95 Wo dagegen das kritische - von der Frage nach dem Maß geleitete — Vermögen zur Anerkenntnis der Grenzen und Möglichkeiten menschlicher Wahrheitssuche fuhrt, wird kein irriger Besitzerstolz, keine angemaßte (Untrüglichkeit), kein Anspruch auf «Fehlerfreyheit» 96 oder das sektiererisch ausgebotene, vermeintliche «Siegel der absoluten Wahrheit» die Wahrheitssuche verwirren oder betrügen. Die Anerkenntnis des dem Menschen gegebenen, ihm auch im Wissen von der eigenen Zeit aufgegebenen Maßes wird zum «Zeichen der sittlichen Reife»; 97 die Anerkenntnis des Maßes kann Schönheitszeichen der Humanitas sein. Lessings Lustspiel und die späteste seiner Dichtungen weisen auf dieses Zeichen. Was immer die kritische Reflexion den Dichtungen Lessings zugetragen hat, wie hoch der Anteil der Kritik an Lessings poetischen Produktionen gewesen ist - und davon ist, zumal Lessing selbst am Ende der Dramaturgie das Stichwort gab, stets viel die Rede gewesen - : eine der die Dichtungen Lessings tragenden Gedankenbedingungen sollte noch eigens Erwähnung finden. Allerdings soll nicht von Lessings Art zu schreiben, nicht von den Bedingungen seines Produzierens, von «Druckwerk und R ö h ren» oder dem wärmenden «fremde[n] Feuer» beim Entstehen der Poesien 98 — aber auch nicht von den Formen ihres Produziertseins die Rede sein, sondern nur von dem allgemeinsten (Selbstverständlichen): von der Bedingung und der Art ihres Da-Seins, die der Poesie im geistigen Haushalt des kritischen Vernunftdenkens zukommen. - Nichts anderes sind die Dichtungen, und nichts anderes beanspruchen sie zu sein als ein (Besonderes) für die (anschauende Erkenntnis). Einzelne konkrete (Besonderheiten) sind sie, offen für die lebendige Erfahrung und Denkbewegung, die das in dieser Erscheinung anzutreffende Wahre oder Allgemeine wahrzunehmen

95

LM 18, S. 109. Karl G. Lessing über des Bruders Meinung: «Fehlerfreyheit und ewige Dauer sind keine Eigenschaften eines Menschenwerks.» (Biographie, 1. Teil, S. 448). 97 Paul Hankamer, Lessing. In: Hochland 26. Jg. (1928/9), Heft 4, S. 326: «Der Verzicht auf Erfüllung wurde ihm so Zeichen der sittlichen Reife.» 9 " LM 10, S. 209. 96

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suchen: ein von der dieser poetischen Besonderheit angemessenen Relativität. Der Poesie Bedingung und Art liegt eben darin, in den von ihr gewußten, von ihr anerkannten, sie ermöglichenden Schranken zu bleiben; sich jeglichen Anspruchs auf «sektirische Wahrheit» oder gar auf das «Siegel der absoluten Wahrheit» schon mit ihrem N a men, schon mit ihrer bloßen Existenz zu begeben. Sie bekennt in ihrer Art zu erscheinen bereits, Fiktionales und «Schattenriß» 99 und Märchen zu sein, und lenkt den Blick damit auf das ihr eigene von Wahrheit. Und auch in diesem Sinn, nicht allein im Anteil der ihr zusätzlich innewohnenden Reflexion, gründet Lessings Poesie in dem Vermögen und den Postulaten des kritischen Geistes: insofern ihr Dasein wissendes Zeugnis vom Prinzip des Maßes ist. Das kritische Vermögen mit der ihm innewohnenden Frage nach dem Maß, mit der Frage nach der der menschlichen Wirklichkeit zugemessenen Vernunft hat eine der Realisationen auch in der Poesie. «Nicht die Kinder blos, speist man mit Mährchen ab»; 100 und das Theater mehr denn die gab Lessing die Möglichkeit, seine Zeit auf das Maß der Wahrheit zu weisen, dessen die Wirklichkeit bedurfte. Und dort, wo Lessings kritisches Wort von allen «zwei und dreyßig Winden» bewegt, - wo seine freie Bewegung im kritischen Amte die Beobachtenden zu verwirren beginnen will, — wo gegen seine disputierende Kritik der Vorwurf der Sophisterei, der leeren «Wörtspiele»101 und der bloßen «Theaterlogik» 102 erhoben werden sollte, gibt er noch einmal selbst eine Antwort: Die Gelegenheit wird mir sobald nicht wiederkommen, ohne Großsprecherey zeigen zu können, daß auch da, w o ich mit Worten am meisten spiele, ich dennoch nicht mit leeren Worten spiele; daß überall ein guter triftiger Sinn zum Grunde liegt, auch wenn nichts als lauter Aegyptische Gryllen und Chinesische Fratzenhäuserchen daraus empor steigen.' 0 3

LM LM "" LM 1,12 LM "' 3 LM 1,1,1

10, S. 120. 3, S. 89. 13, S. 148f. 13, S. 151. 13, S. 191.

DIE Ü B E R W U N D E N E K O M Ö D I A N T I N IN LESSINGS LUSTSPIEL

Wenn es angesichts der steigenden Flut von Mitteilungsabbreviaturen zur guten Sitte gehören möchte, in jeder zureichend deutliche Information über den zu traktierenden Inhalt zu geben, so verstößt der Titel meiner Ausfuhrungen offenbar gegen diese gute Sitte. Er könnte vieles meinen; er scheint ein Vexierbild. Ließe sich dies noch exculpieren mit dem Dictum Lessings: «Ein Titel muß kein Küchenzettel seyn»,1 so scheint doch Schlimmeres noch im Spiel. Denn soviel annonciert der Titel immerhin, daß hier vom Lustspiel als eigener literarischer Welt und vom Komödiantischen der in litteris vorgeführten Figuren die R e d e sein soll. U n d das möchte einer anderen, gegenwärtig oft geübten Sitte widersprechen; derjenigen, der Literatur - nicht mehr wie früher vornehmlich psychologische oder weltanschauliche Maximen abzufordern, sondern jetzt von höherem Gewicht — sozialkritische Münze aus dem literarischen Stoff zu schlagen und gerade aus Lustspielen die «Kritik der gesamtgesellschaftlichen Situation» 2 herauszufiltern. Ich habe anderes vor und schlage mich auf die Seite der Komödie in litteris — wegen des konkreten Charmes ihrer Fiktionalität und wegen des fingierten Komödiantischen ihrer Wahrheit. Wenn diese — scheinbar wortspielerische — Wendung ebenso wie der im Augenblick noch «nichtsbedeutende Titel» auf unser Thema verweisen mag, so wünschte ich, «daß die Sache so unbedeutend nicht wäre», 3 — obschon der Weg dahin durch bekannte Gefilde führt und diese nur als eine Nuance in der Deutungen Flut 4 er1 2

3 4

Hamburgische Dramaturgie, 21. Stück. LM 9, S. 269. Helmuth Kiesel in: Lessing. Epoche, Werk, Wirkung. Von W. Barner, G. Grimm, H. Kiesel, M. Kramer. (Arbeitsbücher für den literaturgeschichtlichen Unterricht = Beck sehe Elementarbücher) München 1975, S. 232. LM 9, S. 269f. Auf detaillierte Hinweise zu der sehr breiten Literatur über die hier behandelten Fragen durfte guten Grundes verzichtet werden. Der mit der Forschungsdiskussion vertraute Leser wird erkennen, an welche Auslegungen meine Darstellung anknüpft, aber auch, worin sie eigene Wege geht. Es werden nur einige Arbei-

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MINNA VON B A R N H E L M : Ü B E R W U N D E N E K O M Ö D I A N T I N

scheint. Zunächst ist nötig anzugeben, worauf die Titelworte weisen können. Die Komödie gewinnt in Lessings Zeit ein neues Gesicht; und es sind nicht zuletzt Lessings eigene Stücke, die Zeugnis davon geben, welche Veränderungen auf dem Wege der Gattungsentwicklung möglich oder nötig waren, — welche Themen und Formen das Lustspiel zu gewinnen vermochte, — welchen innovatorischen Tendenzen es sich öffnete. Lessings frühe Lustspiele schon, entstanden in einem Zeitraum von nur wenigen Jahren, zeigen diese Möglichkeiten nahezu lückenlos — oder doch einen recht großen Teil des gesamten Spektrums: die Typenkomödie heiter-moralisierender Natur ebenso wie die satirisch-possenhafte Spielart und schließlich auch das genre mêlé von ernsterem Gehalt oder auch thesenhaft zu fassender Problematik der Zeit. Denken wir zu seinen Stücken den vor allem bei Geliert herausgebildeten Typus des rührenden Lustspiels mit seiner Betonung bürgerlich-empfindsamer Tugenden hinzu, so mag deutlich sein: die comédie sérieuse hat in der Jahrhundertmitte den Sieg über die comédie gaie gewonnen. Der tugendhafte einfache Mensch, die familiär-häusliche Szene, die ernsthaften bürgerlichen Daseinsformen - , sie haben sich die Komödienbretter erobert; sie haben allerdings auch manches Opfer vom Theater verlangt. Der Mimus, die sinnlich bewegte Szene mußte oft genug der Gesinnung —, die , die Kausalität der Wechselfälle und Intrigenkünste sollten der Moralität den Platz weit räumen. Verwechslungen und Requisiten, Zufall und Verkleidung, Schabernack und bunte Theatralik weichen den Charakteren und Reden, den differenzierteren Partnerhandlungen. Kurz, viel des Komödiantischen blieb bei dieser Lustspielinnovation auf der Strecke. Und eben auf dieser Strecke könnten wir nach ihr suchen, — nach der (überwundenen Komödiantin>; nach ihr als einer Lustspielrolle und einem Lustspielthema mitten in all den Veränderungen der Gattungsstruktur und deren Figurenarsenal. — Aber gerade hier will ich unser Thema nicht suchen, nicht ansiedeln. Und zwar nicht nur darum nicht, weil wir über Lessings Lustspiele weit

ten - zumal aus der neuesten Literatur - explicite angeführt, wenn es eine D e u tung besonders zu akzentuieren und von der hier vorgetragenen Auslegungsnuance zu unterscheiden gilt.

M I N N A VON BARNHELM: Ü B E R W U N D E N E K O M Ö D I A N T I N

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u n d vielfach hinausgreifen m ü ß t e n , sondern auch d a r u m nicht, weil es einen besonderen O r t gibt, der uns der Komödiantin u n d der ü b e r w u n d e n e n Komödiantin bei Lessing begegnen läßt. In j e n e m späteren Lustspiel, das den N a m e n der mit b e sonderem R e c h t trägt u n d das nicht nur alle C h a n c e n der Lessingschen f r ü h e n Lustspiele, — ja: der durchlaufenen K o m ö d i e n e n t wicklung der Zeit in sich a u f g e n o m m e n hat, sondern das auch anderes n o c h zeigt. Es ist das Lustspiel, das mit nicht wenigen M i t teln der comédie gaie die vollkommene F o r m der comédie sérieuse ausbaut u n d neu konstituiert, - Lessings Minna von Barnhelm. Die eigenartige Verbindung unterschiedlicher Lustspielelemente wird der Struktur dieses Lessingschen Stücks in concreto abzulesen sein; da eine solche Verbindung auch von nicht geringer gattungsgeschichtlicher B e d e u t u n g ist, sei darauf eigens, w e n n auch nur mit k u r z e m Wort hingewiesen. So wie Lessing in der benachbarten Gattung des bürgerlichen Trauerspiels auf d e m Wege v o m Sara-Drama z u m Emi/ia-Drama die Entschiedenheit u n d Formungskraft gewinnt, die breit ausladende Szene u n d die reflexionsreiche R e d e f o r m in die schlank-asketische Handlungs- und Dialog-Linie umzubilden, - wie er auf diesem Wege zur strengen, ebenso lakonischen wie brisanten Fügung von Motiven u n d Aktionen findet, so gelingt es i h m gleicherweise, das nachgerade zum sich verlangsamende T e m p o von Tugendrede und Tugend demonstrierenden Szenenfolgen der r ü h renden Lustspiele zu akzelieren; er weiß d e m verweilenden Adagio mit den Motiven, Figuren u n d T h e m e n der comédie gaie die Spannungskraft der raschen u n d akzentuierenden Tempi hinzuzugewinnen, o h n e doch die zarte Kantilene aus der neuentstandenen Tonart preiszugeben. Das M/Vwa-Drama erst zeigt die volle Synthesis der Lustspielmöglichkeiten der Zeit. Schon früh hat Lessing auch im theoretischen Disput die E x treme der Gattung als Gefährdung ihrer Möglichkeiten, ihres eigentlichen Maßes gesehen u n d genannt. So wie er der Verlachkomödie Kritik entgegensetzte, so hat er ebenfalls der larmoyanten Weichheit, d e m N u r - R ü h r e n d e n Einhalt geboten. Hatte Lessing 1754 in der Theatralischen Bibliothek die Abhandlung Chassirons über das Weinerlich-Komische u n d — ebenfalls übersetzt — Gellerts Schrift abgedruckt, — hatte er Geliert i m

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M I N N A V O N BARNHELM: Ü B E R W U N D E N E K O M Ö D I A N T I N

Prinzip zustimmen k ö n n e n , daß das Lustspiel das G e m ü t bewegen, die u n d das (Wie> miteinander denken läßt, dramatisch-anschaulich entfaltet u n d i m Spielgeschehen als diese N u a n c e erkennbar? - Zunächst scheint es möglich u n d erweist sich auch als nützlich, Ernsthaftes u n d Lachendes in diesem Lustspiel zu unterscheiden, voneinander zu trennen; genauer: Elemente der comédie sérieuse und der c o m é die gaie zu sondern. Des Ernstes gibt es genug in diesem Stück - und nicht nur im H i n t e r g r u n d , im (temporären Gehalt), der von Krieg u n d N a c h krieg, von Verlusten u n d Blessuren sprechen läßt —, sondern auch im Figurenvordergrund, im Bereich des Persönlichen, das mit A r m u t u n d N o t bei Beruf u n d bei Geld vielfach verknüpft ist. Kein Stoff von Lustigkeit oder aus idealischer Welt, kein Stoff wie der zu Träumen, — selbst dort, w o die Liebe sich hineinmischt, nicht. Ernst i m rührenden, w e n n nicht fast schon pathetischen Sinne -

5

L M 6, S. 50.

6

L M 6, S. 52. Im 6. Auftritt des IV. Aufzugs. -

7

Alle Zitate aus Minna von Barnhelm

fortan n u r mit A u f z u g - u n d Szenenzahl o b e n im Text gekennzeichnet.

werden

MINNA VON BARNHELM: Ü B E R W U N D E N E K O M Ö D I A N T I N

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die Szene, in der Teilheim der Witwe des Freundes Hilfe gewährt, die ihm selbst so nötig wäre (I, 6). Rührend-ernst auch Justens Vergleich mit dem übertreuen Pudel (I, 8); ernster und gewichtig die Erinnerungen Werners aus Kriegstagen, da selbstverständliches Helfen jedes zurücktreten ließ (III, 7). Aber mehr als einmal auch, daß die Szenen die Schattengrenzen dunkler Bitternis berühren; Szenen auch, in denen verzweifelte Worte und Gesten und selbst das «schreckliche Lachen des Menschenhasses» (IV, 6) zu vernehmen sind. U n d Situationen schließlich, die die Spannung zwischen den Liebenden bis zu gefährlich tiefgreifendem Mißverstehen, bis an die Grenzen von Trennung und Verlust steigern. — Ist dies nur Tellheims Drama, - hat es allein den Grund im Trotz und starren Eigensinn der oder in der Empfindlichkeit eines übertriebenen Gewissens? Ist hier nichts als Tugend zur Untugend erstarrt - , und wird erneut im Lustspiel jetzt nur die Korrektur einer falschen Haltung und eine Charakterdarstellung vorgeführt, die — wie einst zuvor in älteren Lustspielen — einen Sich-Wandelnden nahezu als nur passives der Belehrung im Komödienspiel zeigt? Uber Lessings Minna von Barnhelm als ein Tellheim-Drama ist viel nachgedacht und gesagt — und viel auch reflektiert worden über Art und Problem seiner .8 Hier können und sollen diese R e flexionswege ausgespart werden - einesteils wegen unseres speziellen Themas, anderseits auch nach dem Gebot des Stücks selbst, dessen Thematik nicht zuletzt im Partnerspiel liegt und Partner auch von eigentümlicher in der Lustspiellösung zeigt. Doch die erste unserer Fragen ist noch nicht zuendegefuhrt, und wir haben auf deren zweiten Teil, auf die Elemente der comédie gaie noch zu achten, die - wenn sie auch auf raschem Wege zur Titelfigur führen — nicht etwa nur die dieser Figur allein zukommenden Elemente sind. - Die Unterscheidung der Komödienelemente sei also noch weitergeführt — bis zu dem Punkt, wo die Nuancierung des Spiels eine solche Sonderung nicht mehr zuläßt. An heiteren Zügen, an solchen der comédie gaie mangelt es dem Stück ebenfalls keineswegs. Hebt der Vorhang sich doch z.B. zu " Welche Konsequenzen daraus für die Auslegung entstehen können, wird unten durch einige Beispielhinweise zu verdeutlichen sein; vgl. A n m . 16, 17, 18.

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M I N N A V O N BARNHELM: Ü B E R W U N D E N E K O M Ö D I A N T I N

einer Anfangsszene, in der einer im Morgengrauen schlafend im Wirtshauswinkel sitzt und im Traum nicht sonderlich ziemlich mit einem sich zu prügeln meint; — einer, der auch wachend nicht durch Wort und Trank von seinen ehrlichgrobianischen Wahrsprüchen abzubringen ist. Gutes altes, mimischkomisches Spiel, - altbekannte Lustspieleinfuhrung: Gasthaus, Wirtsstube, Wirt und polternder Bedienter. Vertrauter Stil der comédie gaie auch am Dramenschluß: fröhliche Heiraterei zwischen Franziska und Werner, deren Ton und Gesten - : hier und gebahnt u n d erreicht werden. Der Teil des Spiels, der ü b e r den Rollentausch lief, ist gelungen, da er der unmittelbaren Begegnung, dem Partnerdialog zugehörte. D o r t aber, w o M i n n a das komödiantische Spiel nicht m e h r sich selbst übertragen, sondern d e m R i n g , einer , einem D i n g überlassen hat, — w o das zweite der alten Lustspielmotive: das Requisitenspiel seine W i r k u n g zeitigt, verwirrt sich das Komödiantische in sein Gegenteil. So verwickelt das Spiel der Begegnungen im unmittelbaren Dialog sich ausn e h m e n mochte, es hat in die wohlverstandene, richtige A n t w o r t geführt. D o c h das zusätzliche Requisitenspiel will eben diese A n t w o r t überdecken, bringt alles wieder in Gefahr. Die Verwirrung gibt zu einer Verstörung Anlaß, die in diesem Augenblick auch die sich abzeichnende Z e r s t ö r u n g des Partnerdialogs mit sich bringt. So hart ist der Umschlag in Tellheims Haltung u n d in seinen «alle Güte» bezweifelnden, der Menschenverachtung wieder n a h e k o m m e n d e n Worten (V, 11), - so wirkungslos das an ihn gerichtete Wort, die wiederholte und dringlicher werdende Bitte Minnas, Tellheim möchte d o c h nur hören, - daß M i n n a das komödiantische Spiel jetzt verloren sehen m u ß . Sie, die ihrem Tellheim so nachdrücklich die «Übertreibung» vorhalten konnte (IV, 6), lernt jetzt die eigene Lektion. «Ich habe den Scherz zu weit getrieben» (V, 11): dies — eines der Worte der ü b e r w u n d e n e n Komödiantin.

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MINNA V O N BARNHELM: Ü B E R W U N D E N E K O M Ö D I A N T I N

Es gibt solcher W o r t e u n d der gleichsinnigen Zeichen n o c h mehrere. Unmittelbar nach d e m Eingeständnis der eigenen Ü b e r treibung), n o c h in der gleichen Szenensituation sucht M i n n a mit Besorgnis u n d Eile zu sagen u n d mit schnell aufeinander folgenden Hinweisen andeutend zu decouvrieren, daß alles n u r Spielverwirr u n g sei: «Ein bloßes Mißverständnis, — Tellheim!» «Ich mit Ihnen brechen wollen? — Ich d a r u m hergekommen?» (V, 11). Keine R e d e m e h r in komödiantischer Leichtigkeit u n d im Ton des . In diesem R e d e m o m e n t ist allerdings kaum vermutbar und abzusehen, wie sich das Partnerspiel, der Partnerdialog wiederherstellen soll, w e n n nicht eben jetzt - ein drittes Mal von B e d e u t u n g u n d von wohlkalkuliertem Zeitzufall in der Lustspielkomposition — wieder eine h i n z u k o m m e n d e Figur die Situation veränderte. Sie gibt der Initiatorin des in der letzten Phase verlorenen Spiels Gelegenheit zu Entschluß u n d R e d e für eine - nun von der ü b e r w u n denen Komödiantin — zu gewinnende Wirklichkeit. Das Eintreffen des Grafen von Bruchsall, des Oheims, veranlaßt M i n n a zu den gewiß n o c h i m m e r eiligen u n d knappen, aber doch auch erklärenden u n d lösenden W o r t e n , - zur A u f h e b u n g aller der durch die gespielte K o m ö d i e entstandenen Verwirrungen: «Vergessen Sie alles - », sie sei die «glückliche Minna» - und «durch nichts glücklicher» als durch Tellheim selbst; u n d über die Geschichte ihres vermeintlichen Unglücks: «hören Sie denn nicht, daß alles erdichtet ist?» (V, 12). W e n n der >

G o t t bleibe «bei der M i n o r i t ä t der in Kreuz u n d Verfolgung heimgesuchten m y stischen F r o m m e n , die w i e eine Geisterkette, die Kirchengeschichte durchziehen». So - die von A r n o l d dargestellte «Typologie i m Schema des Gegensatzes von G u t u n d Böse in spiritualistischer Vertiefung». In: RGG.

Bd. 1, 2. Aufl. 1927,

Spalte 562. 64

H e r b e r t Schöffler: Deutscher Geist im 18. Jahrhundert,

fiS

Zitiert von Erich Seeberg: Gottfried Arnold, die Wissenschaft und die Mystik

G ö t t i n g e n 1956, 131.

Zeit. Studien zur Historiographie und zur Mystik, M e e r a n e i. Sa. 1923, 23.

seiner

156

LESSINGS SELBSTDEUTUNGSBILDER

Strafen u n d Gewalt z u m Glauben zwingen wollten: — diese seien nicht die Z e u g e n oder Vertreter wahren Glaubens. Lessing hat Gottfried Arnolds Buch durchaus gekannt u n d m e h r fach erwähnt. 6 6 Wichtiger aber ist, daß m e h r als einer seiner Selbstdeutungshinweise den essentiellen Sinn des in den umschriebenen Problems bestätigt. So in den biblischen Reminiszenzen, d e m mehrfach genannten Vergleich mit Paulus vor d e m Synedrium; 6 7 oder im W o r t über die Goeze'sehen Anschuldigungsversuche: «daß er mich aus dem Hause meines Vaters wirft».™ U n t e r den vielen Bildern von , von hervor, der auch aus der Verehrung der griechischen Götter spreche. 19 U n d anders als es die romantischen Postulate mit einer Vermischung aller Künste inaugurierten, gelte es, mit Maß und Natürlichkeit die formbewußte Trennung der Einzelkünste aufrechtzuerhalten, wie dies der Kunst der Alten abzulesen sei. Folgende Sätze Friedrich Schlegels seien zur Kennzeichnung dieser Gegenpositionen angeführt: Das Licht der H o f f n u n g ist es, was der heidnischen Kunst fehlt und als dessen höchsten oder letzten Ersatz sie nur j e n e h o h e Trauer und tragische Schönheit kennt; und dieses Licht der göttlichen H o f f n u n g [ . . . ] , o b w o h l es hienieden nur in den Strahlen der Sehnsucht schmerzlich hervorbricht, ist es, was uns aus den Gebilden der christlichen Kunst in göttlicher Bedeutung [ . . . ] entgegentritt und anspricht, [.. ,].2 gelten kann. - D e r Gesamtintention zufolge sind Creuzers Fragen vornehmlich auf die dunklere Vorzeit des griechischen Altertums gerichtet, - auf die vorhomerischen Jahrhunderte, auf die orphisch-dionysischen Kulte, die MysterienVorformen der griechischen Religiosität; so wie Creuzer G o e t h e entgegengehalten hat: «Wer vom homerischen O l y m p ausgeht, der ist gerade auf dem Wege, die Uranfänge des religiösen Lebens unter den Griechen zu verfehlen.» 8 ' - Die romantisch inspirierte W e n d u n g zu den Uranfängen, zu den vorzeitlichen Zeugnissen des Griechischen ist ganz offenkundig eine W e n d u n g gegen die philologische u n d ästhetische Sakralisierung griechischer Kultur, der (ersten u n d höchsten Muster der Menschheit), die - wie es auch Friedrich August Wolf betont hat — der als apostrophierten Griechheit zu verdanken seien. 8 2 - U n d wie zuvor in der zwischen G o e t h e und Friedrich Schlegel a u f g e k o m m e n e n Kontroverse in der Kunstauslegung, so zeichnet sich jetzt diese gegenklassische W e n d u n g in der D e u t u n g der Mythologie ab. Hatte G o e t h e — u n d hatte

F. C r e u z e r : Symbolik

und Mythologie

der alten Völker, besonders der Griechen. 3. Aufl.

Leipzig u n d D a r m s t a d t 1836, B d . IV, S. 306: «Grosse V e r w a n d t s c h a f t G r i e c h i s c h e r u n d A e g y p t i s c h e r M y t h e n lässt sich ü b e r h a u p t in vielen E r z ä h l u n g e n n a c h w e i s e n . M a n v e r g l e i c h e n u r die G e s c h i c h t e des K ö n i g s M y c e r i u s zu Sais (bei H e r o d o t u s II, 129 sqq.) m i t der G e s c h i c h t e des C r e t e r K ö n i g s M i n o s , u n d m a n w i r d in b e i d e n M y t h e n solarische u n d l u n a r i s c h e B e g e b e n h e i t e n e r k e n n e n . » -

D i e s als

ein Beispielhinweis f ü r viele. Kl

So - w ö r t l i c h bei W. R e h m (s. A n n i . 7), S. 3 0 5 - o h n e Q u e l l e n - N a c h w e i s .

s2

Vgl. Weltliteratur. Die Lust am Übersetzen b a c h a m N e c k a r 1982, S. 3 1 8 .

im Jahrhundert

Goethes. Ausstellung.

Mar-

272

BILDER UND GEGENBILDER DER ANTIKE-REZEPTION

mit ihm Karl Philipp Moritz in seiner Götterlehre, in deren Titel es nicht unbegründet heißt: oder mythologische Dichtungen der Alten — nachdrücklich den ästhetischen, in sich abgeschlossenen GebildeCharakter der Mythen betont, denen Begriffe der «metaphysischen Unendlichkeit und Unumschränktheit» fremd seien und die nicht «etwas außer sich» bedeuteten, 83 so ist es gerade die auf unendliche Dimensionen und Ursprungsgeheimnisse deutende Verweisung, die für Görres und Creuzer dem Mythos innewohnt und ihm als Symbolsprache religiösen Sinnes abzulesen sein sollte. — Was immer Creuzer in seinen weitausgreifenden Darlegungen behandelt, — welche Namen und Kulte er in der Vielfalt seiner Quellen-Befragungen erörtert oder als bevorzugte Spuren der ihm als besonders aufschlußreich erscheinenden Mythenkreise wieder und wieder akzentuiert, 84 stets sind es die dunklen Wurzeln und ist es die «Weisheit aus der Tiefe der Natur» 85 und der vorzeitliche Untergrund auch der philosophischen und dichterischen Zeugnisse oder der den Bildnissen abgelesenen Verweisungen auf die uralt-eine Weltsprache mystisch-religiöser Zusammenhänge: es ist die Entzifferung all der Gegenwelten und Gegenbilder, die in der klassisch-humanistischen Antike-Deutung nur wenig Beachtung oder auch als Ablehnung gefunden hatten. — Es ist dieser von Görres und vornehmlich von Creuzer aufgewiesene und durchschrittene Gedankenkreis, in dem Schellings Schrift von 1815 Über die Gottheiten von Samothrake ihren Ort hat. In dieser Schrift fragt auch Schelling nach Kult und Sinn der , nach Namensspuren und «Gegenständen der Geheimlehre», den «Denkmälern ältesten Glaubens», die «für die ganze Geschichte unseres Geschlechts» 86 von hochgradiger Bedeutung seien. Es ist eben diese von Schelling 1815 als einzige noch veröffentlichte Schrift, die man nicht ohne Grund als «das Tor zu Schellings Alterswerk» bezeichnet hat. 87

8-1

K.Ph. Moritz: Die Götterlehre der Griechen und Römer oder mythologische Dichtungen der Alten. Leipzig (1878). Einleitung: S. 9; 11.

K4

Schon seit 1806 und später stets erneut: z.B. Silenos; die Bakchischen Mythen, die Orphik und ihre Schulen u. a.

1,5 M

F. Creuzer: in Studien Bd. II, (s.o. Anm. 22), S. 251.

' F.W.J. Schelling: Über die Gottheiten von Samothrake. In: S W VIII, S. 349.

87

J. Tautz: «Nachwort.» In: F.W.J. Schelling Über die Gottheiten von Stuttgart 1958, S. 38.

Samothrake.

BILDER U N D GEGEN1JILDER DER ANTIKE-REZEPTION

273

Es ist kaum noch ein gesonderter Hinweis darauf nötig, in welch ausgeprägter F o r m diese D e u t u n g e n Gegenbilder gerade zu G o e thes Antike-Auffassung gewesen sind. U n d mehrfach sieht G o e t h e sich in diesen Jahren trotz seiner eigenen der DiVan-Zeit 88 veranlaßt zu Kritik u n d A b w e h r dieser die «Heiterkeit» des Griechischen , «tristen ägyptisch-indischen Nebelbilder». 8 9 Angesichts der «unseligen dionysischen M y sterien», so heißt es jetzt brieflich, die «uns täglich m e h r die großen Vorteile der griechischen lieblichen Mannigfaltigkeit» entziehen, 9 0 sei i h m nicht nur die «wieder nach Ionien» 9 1 wünschenswert, ihm gilt auch Gottfried H e r m a n n , der Kontrahent Creuzers, als «unser eigenster Vorfechter». U n d eben jetzt erneuert G o e t h e sein Bekenntnis zu Winckelmann: dessen «Weg, z u m Kunstbegriff zu gelangen, war durchaus der rechte». 9 2 In diesen Jahren gibt G o e the z u d e m seiner Schrift über Myrons Kuh einen vorläufigen A b schluß - nicht o h n e die erneute u n d unmißverständliche B e t o nung, daß «der Sinn und das Bestreben der Griechen» u n d daß deren «höchste absichtliche Kunst» d e m «harmonischen Effekt» gelte - und der (seelenvollem N a t u r ebenso wie d e m «göttlichen Belebenden im Menschen». 9 3 So deutlich sich denn in dieser Spätphase der Goethezeit die Grundkonstellation mit den Bildern u n d Gegenbildern der AntikeAuslegung wiederholt, so deutlich zeigt sich mit den h o c h r o m a n t i schen Intentionen ein veränderter gedanklicher M o d u s . Anders als n o c h in der Konfrontation u m 1800 sind jetzt Tenor u n d A r g u m e n Ktl

Daß Goethes DiVdM-Zeit als b e w u ß t e A n t i k e - A b w e n d u n g zu deuten sei, betonen nicht nur Zeitgenossen (z.B. Rückert; I m m e r m a n n ) , sondern auch bei U. H ö l scher heißt es: Goethe, «der gleichfalls im O r i e n t das Leben, die , die Erlösung vom griechischen Formsinn aufsuchte [...]». U. Hölscher: Das nächste Fremde. Von Texten der griechischen Friihzeit und ihrem Reflex in der Moderne. M ü n chen 1994, S. 316.

G o e t h e : Brief vom 25.8.1819 an J . H . Meyer. '"' Ders.: Brief vom 16.1.1818 an Boisseree. 91 Ders.: Brief vom 1.10.1817 an Creuzer. 1,2 Ders.: Brief vom 16.1.1818 an Boisseree. - Die E r w ä h n u n g Gottfried H e r m a n n s bezieht sich auf dessen Briefwechsel mit Creuzer: Briefe über Homer und Hesiod, vorzüglich über die Theogonie. 1817. 93 Goethe: Myrons Kuh. In: Werke, Bd. 12, S. 136f.

274

BILDER UNI) GEGENBILDER DER ANTIKE-REZEPTION

tationsweise in der Auslegung des Altertums nicht mehr typologisch, appellativ oder adhortativ. Vorwaltend ist jetzt eine historisch fragende, dem Detail zugewandte, auch wissenschaftlich argumentierende Darstellungsweise. Die neue, auch und gerade das klassische Altertum einschließende Perspektive und Zielsetzung sind auf das weltgeschichtliche Ganze gerichtet. Es sei «bei aller Verschiedenheit unter entfernten Mythologien» eine Ubereinstimmung in den «einen und denselben Sinn» herauszufinden. Der Blick habe dem geschichtlich-kulturellen Werdegang der (Asiaten und Europäer) und dem sie einschließenden «unzertrennbaren Ganzen» zu gelten, - so hat Friedrich Schlegel 1808 am Ende seines Indien-Werks betont. Es sei nötig, «auch die Literatur aller gebildeten Völker als eine fortgehende Entwicklung und ein einziges innig verbundenes G e bäude und Gebilde, als Ein großes Ganzes zu betrachten, wo denn manche einseitige und beschränkte Ansicht von selbst verschwinden, vieles im Zusammenhang erst verständlich, alles aber in diesem Lichte neu, erscheinen würde». 9 4 A u f seine vergleichenden Studien gestützt, heißt es gleichen Sinnes auch bei Creuzer: es stünde zu hoffen, daß eine freiere und höhere Aussicht über das ganze Gebiet der alten C u l t e gewonnen werden wird; zumal wenn noch von anderer Seite durch mehr kritische Untersuchungen über die R e l i g i o n e n des Orients Hilfe geleistet werden sollte. 9 5

• Wenn in der Zuwendung zum griechischen Altertum jetzt vornehmlich von den mystisch-religiösen Elementen, vom DunkelChthonischen und von der aus orientalischen Vorzeiten sich herleitenden Mythologie die R e d e ist, — anders also als in der Klassik nicht die ethisch-ästhetischen Maximen der Humanität und der Kunstübung für das Interesse am Altertum dominant sind, so ist für die Art und die Begründbarkeit dieser Veränderung mehreres namhaft zu machen. zu machen verstanden haben, ist in dieser Zeit, die den (Privat-Brief> in Roman und Realität nahezu überschwenglich liebte und pflegte, ebenso selbstverständlich wie plausibel. U m Grade weniger plausibel und selbstverständlich will es scheinen, daß der in dieser Literaturepoche etwas später neuaufkommende Typus des Dramas mit historischem Stoff, das (Geschichtsdrama), der urkundlichen Unterschrift, wie sie mit dem j e weiligen Sujet sich darbieten mochte, besondere dramaturgische Aufmerksamkeit und theatralische Ausgestaltung gewidmet hat. Denn anders als der Brief, der «als kommunikatives Zeichen» zu so vielen Möglichkeiten dramatischen Handelns verwendbar ist, zumal

1

Vgl. Oskar Seidlin: Schillers (Trügerische Zeichens Die Funktion der Briefe in seinen frühen Dramen, (dt. 1960). In: Von Goethe zu Thomas Mann. Zwölf Studien. 2./Göttingen 1969. S. 9 4 - 1 1 9 . Volker Klotz: Bühnenbriefe. Kritiken und Essays zum Theater. Frankfurt am Main 1972.

278

U N T E R S C H R I F T E N IM D R A M A

er die Distanz von R a u m u n d Zeit voraussetzt u n d durch seinen «Indirektheitscharakter» 2 vielerlei Konfliktpotential bei sich trägt, — anders als der Brief enthält die urkundliche Unterschrift, geht m a n von der Art ihrer Schriftlichkeit als solcher aus, nicht e b e n viele Möglichkeiten dramaturgischer Ausgestaltung. Es will scheinen, als erschöpfe sich mit der szenischen Darbietung einer einzigen Geste des Unterzeichnens dies Motiv in der dramatischen H a n d l u n g . W e n n der Brief vor allem im bürgerlichen Trauerspiel eine relativ breit-ausladende Gefühls- u n d Reflexionsentfaltung ü b e r n i m m t , so sind es - wie es die Beispiele in Sara Sampson, Clavigo oder Kabale und Liebe zeigen — b e t o n t e r m a ß e n Biiefinhalte sehr persönlichen, Sinnes, die ihre Motivationsfunktion für vielschichtige Vorgänge im Drama besitzen. Unterschriften dagegen — n u n vornehmlich w i e d e r u m in D r a m e n mit historischen Sujets — sind als rechtserheblich und zumeist auch u n d öffentlichen Charakters von andersartig kommunikativem Sinn u n d Z w e c k . Da sie gemeinhin in kurzen Augenblicken zu vollziehen sind, räumt ihnen das Bühnenspiel zumeist auch nicht viel m e h r als k n a p p u n d rasch vorübergehende S z e n e n m o m e n t e ein. D e r schriftlich fixierte Inhalt, der da bestätigend unterzeichnet werden soll, wird fast stets auch im Drama mit zureichenden Informationen zuvor b e k a n n t g e geben oder begreifbar gemacht, so daß der Entscheidungscharakter eines solchen mit der Unterschrift sich manifestierenden A u g e n blicksgeschehens merklich betont zutagetreten kann. Es lassen sich somit einige konstante, gleichsam Z ü g e als G r u n d muster szenisch dargebotener Unterschriften im Bühnenspiel ausmachen. D e m 3 solcher Unterschriften ist nicht nur eine besondere Intensität des Momentanen i m Handlungsgang des Gesamtdramas eigentümlich; dieser Art von Entscheidungsgeschehnis ist auch ein besonderes Pathos nur selten abzusprechen. Seinen G r u n d hat es in der erhöhten Gültigkeit, in der mit d e m Schriftlichen existierenden Zeugnis- u n d Wirkungskraft. Momentaneität u n d Pathos, nicht zuletzt aber auch das gegenständlich greifbare Dokument, das (Schriftstück) haben daran teil, daß d e m Vorgang

2

Oskar Seidlin, S. 95; S. 99.

3

Vgl. H e l m u t de Boor: A c t u m et datum. Zur Formelsprache der dt. U r k u n d e n im 13. Jhdt. S B A K M ü n c h e n , Phil.-hist. Klasse. M ü n c h e n 1975, 4.

U N T E R S C H R I F T E N IM D R A M A

279

des Unterschreibens die hochakzentuierte Bedeutung einer bestimmten, gesteigerten, wenn nicht auch irreversiblen Geschehnisqualität zugehört. Unterschriften auf der Bühne haben demnach, wie es mit den historischen Sujets oft genug bereits prädisponiert scheint, den Charakter von , zeigen den Modus der Faktizität. Ließe es allerdings der Dramenautor bei dem kargen Grundmuster des Unterzeichnens bewenden, — setzte er nichts als diese einfachste Elementarform in seinem Bühnenspiel ein, so wäre damit ein nicht geringer Teil der in der Gattungsgeschichte des 18. Jahrhunderts hinzugewonnenen DifFerenzierungskunst ignoriert oder verschmäht. Vor allem in Dramen mit historischen Stoffen kämen bei M i ß achtung der - z.B. von Lessing postulierten — «inneren Wahrscheinlichkeit» 4 für den Zusammenhang des dramatischen Geschehens und der darauf beruhenden «poetischen Wahrheit» 5 wieder nur solche hat und zu theatralischer Wirkung bringt. Zu dieser gewußten Bühnenspielpräsenz und -magie gibt das Unterschrifts-Motiv in Faustens Pakt-Szene eindrucksvolle Gelegenheit, — eine in der theatralischen Darbietung künstlerisch-ironisch gehandhabte Analogie zum alten Teufelspakt-Motiv. Die artistisch bewußte Verwendung des Unterschrift-Zitats gewinnt mit der sichtbar-momentanen Gebärde ihre eigene Art von Spiel-Magie in dem hier sich darbietenden Szenen-Ereignis. M i t einigen kurzen Hinweisen sei der Blick jetzt zunächst darauf gelenkt, daß auch in einem (bürgerlichen Trauerspiel), im Expositionsakt von Lessings Emilia Galotti, das Motiv der rechtserheblichen, urkundlichen Unterschrift für die Bühnenszene genutzt erscheint. Hier dient das Motiv gänzlich der Charakterisierung des Prinzen Hettore; es hat damit durchaus am Thema, an der Problementfaltung des Dramas teil. Zweimal, in der ersten wie in der letzten Szene dieses Aufzugs, wird auf die Urkundenunterschrift als eine Willkürhandlung aufmerksam gemacht. Ist es in der Einfuhrungsszene ( 1 , 1 ) eine zufällige Namens-Assoziation, die den Prinzen zu positivem Bescheid einer Bittschrift stimuliert, so zeigt die den Akt beschließende Szene (I, 8), wie der R a t Camillo R o t a zu verhindern weiß, daß der Prinz «geschwind» und «recht gern» ein Todesurteil unterzeichnet. Gestisches ist in diesen Szenen nicht weniger charakteristisch als die mehrfache, demonstrative Wortwiederholung am Ende der Szene: «dieses gräßliche ( R e c h t gern!>»; deutliche Anklage in beiden Szenen gegen die leichtfertige Gedankenlosigkeit «der höfischen Immoralität». 17 Wenn Lessing im Prinzen eine Problemfigur zu zeichnen gewußt hat, die an beiden Seiten der zeit-

17

Helmuth Kiesel: . Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979. S. 232.

284

U N T E R S C H R I F T E N IM DRAMA

typischen, dramaturgisch strikt genutzten Opposition von u n d , Gewissen u n d Handeln ihren Teil hat, so haben auch die kurzen Unterschriftsmomente m e h r als episodisch-dekorativen Sinn. Sie sind bei all der v o m Prinzen wörtlich b e k u n d e t e n 18 unverkennbares Zeugnis des - hier mit der sichtbaren Gebärde apostrophierten - Machtmißbrauchs, eines gedankenlosen, lasterhaften Amtsgebarens, das mit einem einzigen Federzug seine verhängnisvolle W i r k u n g zu finden vermag. — Eine der bedeutendsten Bühnenszenen der hochklassischen D r a menliteratur, — eine Szene, in der sich auf nachgerade exzeptionelle Weise die Möglichkeiten subtilen Gebärdenspiels mit den höchsten Ansprüchen des Problemverstehens verbinden, ist eine UnterschriftsSzene: Es ist die im Kerker spielende Szene IV,4 in Kleists Prinz Friedrich von Homburg; - j e n e Situation, in der H o m b u r g in der Gegenwart Natalies über die ihm selbst anheimgegebene Frage zu entscheiden hat, o b das i h m nach d e m «Gesetz» (V. 1567; 1750) zuerkannte u n d v o m Kurfürsten bereits unterzeichnete Todesurteil sei. — Diese Szene, sichtbarer H ö h e p u n k t u n d unverkennbare Peripetie des inneren dramatischen Vorgangs, ist mit g u t e m G r u n d als die des Stücks bezeichnet worden, da sie nicht allein den zumeist in Gebärden und wortlosem Geschehen sich entfaltenden Dialog zwischen H o m b u r g u n d Natalie nachzeichnet, nicht nur auch das mit d e m Kurfürsten geführte G e d a n kengespräch andeutet u n d schließlich H o m b u r g s Entscheidung: «die Entscheidung eines Wesens zu sich selbst» aufzuzeigen hat. Schwierig u n d großartig ist diese Szenenkunst vor allem darin, daß hier «kein Willensakt» 1 9 vorzutragen ist, sondern ein nur mählich entstehendes Sich-Fassen u n d des Prinzen. Psychische Vorgänge, die «nicht, w i e i m alten Drama, durch einen M o n o log» des H e l d e n 2 0 mitgeteilt werden, sondern in visuellen Zeichen 18

19

20

Für die Problematik dieser durchaus betonten im Charakterbild des Prinzen Hettore vgl. Jochen Schulte-Sasse: Literarische Struktur und historisch-sozialer Kontext. Z u m Beispiel Lessings . Paderborn 1975. S. 53ff. Max Kommereil: Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe-Kleist-Hölderlin. Frankfurt/Main 1940. S. 219. G ü n t e r Blöcker: Heinrich von Kleist oder das absolute Ich. F r a n k f u r t / M a i n 1977. S. 188.

UNTERSCHRIFTEN IM DRAMA

285

beim tastenden Versuch des Briefentwurfs sich annoncieren. Diese Szenenkunst und die mit Homburgs Unterschrift vollzogene Entscheidung hat stets nicht wenig Aufmerksamkeit und Auslegungssorgfalt auf sich gelenkt. Da jede Bewegung, jede mimische Nuance, jedes gestische Detail in dieser Gesamtszene als bedeutungsvolles Zeichen zu lesen ist, haben innerhalb des sinnlich-wahrnehmbaren Bühnenspiels selbstverständlich auch die Vorbereitung und der Vorgang des Unterzeichnens selbst besondere Beobachtung erfahren: von Natalies wiederholter und dringender Aufforderung 21 an, über Homburgs Anweisung, man möge ihm «Papier und Feder, Wachs und Petschaft» bringen (V. 1331), bis hin zur Klimax: Natalie (tritt erschrocken näher). D u Ungeheuerster, ich glaub', du schriebst? H o m b u r g (schließt). «Homburg; gegeben, Fehrbellin am zwölften - » ; Ich bin schon fertig. - Franz! (Er couvertiert und siegelt den Brief.) 2 2

«Brief»: so heißt es hier und meint offenkundig etwas vom alten urkundlichen Sinn des der Wirklichkeit ist Holz' Problem; sondern es liegt, wie er formuliert, in den «Methoden des Erfassens» und im «Wiedergeben des Erfaßten». 54 Überdies stellt das Frühwerk nicht schon den «Versuch dar, die künstlerische Gestaltung nach Prinzipien der Theorie aufzubauen»; 55 an die Stelle der Behauptungen von der zeitlichen und prinzipiellen Priorität der Holz sehen Theorie träte besser ein Hinweis auF die Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis. 56 Die Erfahrung von der Sprache als Mittel der Kunstdarstellung steht nicht schon am Anfang der ersten experimentellen Arbeit, sie entsteht aus ihr und drängt mit zunehmender Klarheit auch zu gedanklich-theoretischer Bewältigung. In Holz' Kunsttheorie, in seiner über die Kunst bildet diese in der Praxis gewonnene Einsicht einen der Kerngedanken. Es ist gleichwohl begreiflich, daß diese Formel lange Zeit hindurch Anlaß zu Mißverständnissen gegeben hat. Bleibt der status nascendi der Erfahrung von der Sprache als einem Mittel der Kunst unbemerkt, werden mit flüchtigem Blick 52

H . - G . R a p p l , Wortkuiisttheorie, S. 7 3 (s. A n m . 23).

53

Ebd., S. 74.

54

A. Holz, Werk Bd. 10, S. 205.

55

H . - G . R a p p l , Wortkunsttheorie,

S. 77; vgl. auch F. Martini: Holz realisiere ein

«Programm (...), welches, der T h e o r i e folgend, nicht ihr vorausgehend sein p r a k tisches Erzählen d e m o n s t r i e r t hat» (Wagnis der Sprache, S. 110). 56

Vgl. A. Holz, Werk Bd. 10, S. 252ff. u . ö .

316

SPRACHE UNO WIRKLICHKEIT BEI ARNO HOLZ

die Berichte über die Werkstättenarbeit mit einigen der auffälligen Worte der Kunstformel nebeneinandergehalten, so scheint es, als sprächen sie in naivem, unkritischem Realismus von allzu simplen Nachahmungsabsichten, von Imitation und Abbildung der Außenwelt. Der Bericht über die Materialbeschaffung und -beobachtung, die verführerisch plakative Formulierung , Wendungen auch — wie: «das Leben in einer (...) Treffsicherheit» geben, 57 vor allem dann der Terminus der Formel : all dies hat zu Mißverständnissen gefuhrt. Holz hat denn auch den Wortlaut seiner Formel, ohne ihren Inhalt und Sinn zu ändern, gemildert, ihn - wie er sagt — «etwas weniger vierkantig»5** formuliert. Die Worte und werden ausgemerzt, so daß der Formelsatz nun lautet: D i e Kunst hat die Tendenz, (wieder) die Natur zu sein; sie wird sie nach Maßgabe ihrer Mittel (jedweiligen Reproduktionsbedingungen) deren Handhabung. 5 9

und

Die Beurteilung der Kunst-Schrift von 1890 hat sich in letzter Zeit geändert: sie sei keine «naturalistische Programmschrift», sondern betone «die Eigengesetzlichkeit des jeweiligen Kunstmaterials», ein «Kernproblem auch aller späteren modernen Kunstströmungen». 60 Damit ist jedoch nur eines der Ergebnisse hervorgehoben. Holz' Aussagen über «Wesen» und «Gesetze» der Kunst, die Ableitung und Verteidigung seiner Formel bergen Prämissen und weisen auf grundsätzliche Unterscheidungen, die besonderer Beachtung wert sind. Es ist jedoch nicht falsch zu sagen, die Theorie fordere «die Darstellung! unverstellter Natur als einzig legitime Möglichkeit des Künstlers». 61 Holz selbst räumt ein, das in seiner Schrift vorgetragene Prinzip «leugnete den Naturalismus nicht, suchte ihn nicht , sondern akzeptierte ihn und ging über ihn hinaus».62 Damit geht es nicht nur — wenn denn überhaupt einer der zu abgrenzender Klärung noch geduldet werden soll - um 57

Ebd., S. 215. Ebd., S. 186. 59 Ebd., S. 186f.; die erste Formulierung - hier in Klammer gesetzt - S. 83. 611 W. Emrich, Protest und Verheißung, S. 155. 61 H.-G. Rappl, Wortkiwsttheorie, S. 33. f>2 A. Holz, Werk Bd. 10, S. 240. 58

SPRACHE U N D WIRKLICHKEIT BEI A R N O HOLZ

317

den Naturalismus als Stilproblem im Gegensatz zu allen nur p r o grammatischen, inhaltlich orientierten Naturalismen, sondern u m eine entscheidende, differenzierende Ausgangsfrage. Sie zielt i m G r u n d e — v o m Prinzip her gesehen — auf das Problem, auf das Verhältnis von Kunst u n d Wirklichkeit. Es ist bereits mit Deutlichkeit geklärt, daß der Begriff bei Holz m e h r u n d anderes meint als eine empiristisch verstandene äußere Faktenwelt. Holz hat seine Kritiker belehrt, fiir ihn sei das menschliche «Vorstellungsbild» mit seinem Begriff i d e n tisch 6 3 - u n d er meine «Wirklichkeit» unter «selbstverständlichem Einbegriff auch aller unserer Innenvorgänge». 6 4 N i e habe er von einer material-imitatorischen Kunstübung zu sprechen versucht, — die «Forderung einer exakten R e p r o d u k t i o n der Wirklichkeit» habe er nie aufgestellt; 65 es sei i h m selbstverständlich, daß es keine «Nachbildung der Wirklichkeit in allen Elementen» geben k ö n n e . 6 6 In der Argumentation am Beispiel heißt es dann: es sei absurd zu verlangen, man möchte etwa die L a o k o o n - oder Venus-Plastik dadurch der N a t u r annähern, daß m a n ihnen Z i n n o b e r ins Gesicht streiche oder Haare anklebe. 6 7 Wohl hat Holz Anlaß, darauf hinzuweisen, daß sein Aspekt sich von d e m seiner Kritiker unterscheide. Sie deuten als «Nic/iikünstler» 6S gleichsam , — handeln von Objekt-Modellen und «absoluter Naturtreue» bei wirklichkeitsimitierendem Material. 6 9 Holz dagegen versucht, die Erfahrung, Tätigkeit u n d Absicht des Künstlers zu bezeichnen. Für Holz ist es Ausgangspunkt und Aufgabe des Künstlers, seine Vorstellung, das Höchstmögliche seines Sehens 7 0 im Kunstwerk «in die Außenwelt '' 3 Ebd., S. 198. M Ebd., Vorwort, S. II. In einem frühen Brief vom 7.1.1886 n e n n t Holz auch den Terminus fiir . Briefe, S. 74. 65 A. Holz, Werk Bd. 10, S. 167. 365 u.ö. 66 Ebd., S. 167. f 7 ' In einem der Briefe lehnt Holz auch den «heutigen strikten Sinn» des Worts ab; es gehöre «überhaupt garnicht in die ganze Diskussion». «Dieser Begriff und . Puh. D a n n allerdings hätten die Gegner nur zu recht!» A m 2.6.1896. Briefe, S. 104f. A. Holz, Werk Bd. 10, S. 198. 69 Ebd., S. 146; «(...) schreibende u n d sprechende Automaten, atmende Wachsfiguren oder Schlachtenbilder mit wirklichem Pulverdampf (...)», S. 147. 70

Vgl. ebd., S. 198.

318

SPRACHE U N D WIRKLICHKEIT BEI A R N O HOLZ

treten zu lassen». 71 Hier liegt die entscheidende Frage, und sie zielt auf ein weites Problem: das der Objektivation in der Kunst, - das Problem (oder doch ein gravierender Teil aus dem größeren Problemzusammenhang): ein inneres, vorgestelltes Bild im Mittel der Kunst Erscheinung, Gebilde werden zu lassen. Die Gedanken der Holz'schen Theorie kreisen um einen Kernpunkt und um eine praktische Konsequenz dieses Problemzusammenhangs vor allem: um die Frage nach der Spannung, der unüberbrückbaren Kluft, der zwischen der Totalität des Vorgestellten und dem im Mittel der Kunst Erscheinenden. Die wichtigsten der Hinweise auf diese Grundfragen werden bereits in der ersten Ableitung und Formulierung des gegeben. Nicht nur darin, daß Holz von vornherein das - mit einem Zitat aus J. St. Mill erklärte - Wort verwendet, 72 sondern vor allem mit zwei einzelnen (nur selten genügend gewürdigten) hochbedeutsamen Wendungen, die die 22 wird, der Moralisationstendenz der Quelle gemäß, folgende kommentierende Reflexion gerückt: La jeunesse est courte; l'aiguillon du désir donne des ailes aux jeunes femmes et aux jeunes h o m m e s . 2 3 sondern die Gedanken, die nicht eigenen vielen Gedanken [...]» (Briefe 1 8 9 0 1901. Berlin 1935, S. 243). 211 Katharina Mommsen, (s. Anm. 16), S. 329. 21 Diese Fragestellung möchte sowohl eine formelhaft enge Relation zur TreueThematik vermeiden, sie soll aber auch auf die Bedeutung solcher Beobachtungen aufmerksam machen, die der künstlerisch-dramatischen Struktur des Stücks abzulesen sind. 22 Anatole France in: inadäquat erscheinen, - auch dann, wenn er strikt aussagelogisch verstanden wird; oder, wie zuerst 1910 von Margarete Susman zur Unterscheidung vom realen, empirisch existierenden DichterIch verwendet, wenn er den «rein formalen», den «künstlerisch objektiven Charakter» eines Ichs im Kunstwerk bezeichnen soll.16 Auch in diesem Sinne erscheint der Begriff des (lyrischen Ich> zur Kennzeichnung der dialogischen Struktur in Hofmannsthals Gedicht keineswegs angemessen; er reicht nicht zu, die Mehrstimmigkeit in dieser lyrisch-poetischen Gesprächsform auch nur annähernd zu umschreiben. Wenn es möglich ist, diesen Problembegriff 17 zu vermeiden und statt dessen hier von der künstlerischen 14 15 16

17

Ebd., S. 238f. Ebd., S. 245. Margarete Susman, Das Wesen der m o d e r n e n deutschen Lyrik, Stuttgart 1910. Die oben genannten Zitate sind aus d e m Kapitel ; abgedruckt im Sammelband: Lyrik-Theorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart, hg. v. Ludwig Völker, Stuttgart 1990. - Alle angeführten Zitate hier S. 292. U b e r den Stand der Diskussion zu diesem Begriff vgl. Dieter Lamping (s. Anm. 1), S. 75. - O b der von Kaspar H . Spinner vorgeschlagene Begriff «Leer-

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Intention des Autors zu sprechen, der als der poetischen Strukturierung das imaginierte Gespräch in eben dieser Form gewählt und in die Sprachgestaltung seines Lyrikons zu integrieren gewußt hat, - so wird damit die Aufmerksamkeit für die dem Kunstcharakter des Gedichts zugehörige Differenzqualität keineswegs dispensiert. Denn sicher ist es nicht ohne Belang, wenn flir dieses Gedicht auf biographische Realitäten oder auf ein KontextUmfeld hingewiesen wird — so z. B. auf Hofmannsthals Gespräche mit Maria Josefa Fohleutner, 18 der eigenen Großmutter; oder auf die frühe Gesprächsbegegnung mit Frau von Wertheimstein. 19 Doch damit wäre auch für Hofmannsthal das Goethe-Diktum in Anspruch zu nehmen: es sei im Gedicht «kein Strich enthalten, der nicht erlebt, aber kein Strich so, wie er erlebt worden.» 20 Wohl aber ist darüber hinaus zu bedenken, daß gerade die Nähe und Intensität der von Hofmannsthal erfahrenen Lebensgegebenheiten nicht ohne Anteil an der von ihm getroffenen Stilentscheidung gewesen sein mögen, — des Sinnes aber und für eben die Art der künstlerischen Intention, wie sie in den Gestaltungszügen seines Gedichts wahrnehmbar ist. Was diesen Grundzügen der Gestaltung, — was der gesamten Zeichensprache dieses Gedichts abzulesen ist, das bezeugt die Entscheidung für einen Stil von höchster Sensibilität in der indirekten Sprach- und Kompositionsweise, - einer Kunst des Mittelbaren. Es ist dies eine Stilisierung, die der Thematik dieses Gedichts auf ebenso schlichte wie subtile Weise zu entsprechen vermag — nicht zuletzt aufgrund der kunstvollen Dezenz, die die Gesprächsformen der Gedichtstruktur geben. Als Minderung der lyrischen Poetizität sind diese Formen mit der ihnen eigenen, differenzierenden und verweisenden Sprachlichkeit allerdings kaum zu verstehen. deixis» (Zur Struktur des lyrischen Ich, Stuttgart 1975, S. 17ff.) klärend und nützlich ist, bleibe dahingestellt. 111

Vgl. Varianten und Erläuterungen in Bd. 1 der Kritischen Ausgabe (s. Anni. 5), S. 375. Dazu: Werner Volke, Hugo von Hofmannsthal in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1967, S. 47.

211

J.W. Goethe am 17.2.1830 zu Eckermann. In: Johann Peter Eckermann. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. v. Heinz Schlaffer, Münchner Goethe-Ausgabe Bd. 19, München 1986, S. 358.

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Aus dem Lyrik-Œuvre Christine Lavants ein einzelnes Gedicht herauszulösen und gesondert zu erörtern, mag ohne vorgreifliche Orientierung kaum recht möglich sein. Auch wenn nahezu alle G e dichte dieses Œuvres etwas vernehmen lassen wie den einen R u f , — den R u f , so heißt es in dieser lyrischen Sprache: «aus einer Elendstiefe», 21 so hat Christine Lavant ihren Gedichten doch eine Vielfalt von Bildern, 2 2 ihren Gedanken eine sinnlich konkrete Bildentfaltung zu geben vermocht; Bilder, die ihrer Erfahrung v o m «Überwältigtsein von Drangsalen aller Art» 23 stets erneuten Ausdruck geben. So ist denn jedes ihrer Gedichte sicherlich als «Resonanzbild» 24 solcher Grunderfahrung zu verstehen; und gleichwohl ist jedes von ihnen als ein eigentümlich in die jeweilige Sprachgestalt verschlüsselter Hinweis darauf zu lesen, was — mit Christine Lavants eigenem Wort: «beim Aufstieg ins Elend» 25 ins Wort zu fassen möglich gewesen ist. - Die Frage aber nach den Möglichkeiten dialogischen Sprechens in diesem Lyrik-Œuvre, - nach Formen des Gesprächs will gänzlich ungemäß und vergeblich scheinen. Sprechen doch diese Gedichte vornehmlich von dem, «was in den H ö h l e n der Verlassenheiten / begreifbar ist»;26 sie bekennen auch mit ihrem oft und inständig verwendeten Erfahrungen der Vereinsamung, der gescheiterten oder verfehlten Suche nach Mitmenschlichkeit, wissen vom Preisgegebensein auch durch «die Allernächsten». Dort, wo Christine Lavant in einem der Gedichte des Bandes Die Bettlerschale das Wort verwendet hat, ist diesen Versen deutlich genug zu entnehmen, daß damit eine den ¡stummen Dingen> zuge21

22

23

24 25

26

Christine Lavant, D e r Pfauenschrei. Gedichte (1962), 3. Aufl. Salzburg 1980, S. 54. Z u r Bildersprache von Christine Lavant s. vornehmlich: Grete Lübbe-Grothues, Z u r Gedichtsprache der Christine Lavant, in: Z . f. dt. Philologie 37. Bd. 1968, S. 6 1 3 - 6 3 1 ; - von der gleichen Vf.: Christine Lavants Sprachkunst, in: Fidibus. Z . f. Literatur u n d Lit.-Wissenschaft. 13. Jg. 1985. Nr. 4, S. 1 - 3 5 . Ludwig von Ficker, Lobrede auf die Dichterin, in: Erinnerungspost, Ludwig v. Ficker z u m 13. April 1965 zugestellt, Salzburg 1965, S. 36. L. v. Ficker, ebd., S. 36. Christine Lavant, Spindel im M o n d . Gedichte (1959), 4. Aufl. Salzburg 1986, S. 85. Christine Lavant, Die Bettlerschale. Gedichte (1956), 5. Aufl. Salzburg 1983, S. 10: «Die Allernächsten gaben mich d e m preis / was in den H ö h l e n der Verlassenheiten / begreifbar ist...».

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G E S P R Ä C H S F O R M E N IN D E R LYRIK

wendete Sprache gemeint zu sein scheint, — sicher aber die Vergeblichkeit ungehörter Gespräche, solcher von gänzlicher Verlorenheit: denn die Muschel des Mondes ist abgewandt und hört nicht auf meine Gespräche.27

Gleichwohl ist die gesamt Lyrik Christine Lavants durchzogen von Sprachwendungen der Du-Anrede oder -Anrufungen, deren Inständigkeit als ein Grundelement und eine der dominierenden, durchdringendsten poetischen Gesten in den Einzelgedichten erscheint. - Doch , so Leo Spitzer, ist «etwas Uraltes»; sie bestimmt mit ihrer Neigung zu «evokativem Präsens» gerade den «Meditationenstil» einer «Monologdichtung», die - sei es im Liebesgedicht, sei es in lyrisch «religiöser Naturbetrachtung» 28 - sich ihre Bilder und ihr Gegenüber mit der Kraft der Phantasie heraufbeschwört und zu einer Art «Zwiesprache» 29 mit dem imaginierbaren vergegenwärtigt. In der Lavant-Lyrik können diese Sprachweisen und Anredeformen sich als Sinn- oder Ausdrucksgebärden der unterschiedlichsten Art erweisen: Gebärden des Bittens oder Drohens, beschwörender Klage und schonungsloser Anklage, der herrischen Imperative und angsterfüllter Erbarmungsrufe. U n d es sind Stein oder Gestirne, Tiere und Erzengel, Leib oder Herz oder Erde, an die solche Gedichtsprache gerichtet ist; - nicht zuletzt aber sind es emphatische Gottesanrufe: «Aufschreie vor und gegen Gott»; «Lästerungen und Loblieder», in denen «Zorn und Empörung», 30 aber auch bittere Verzweiflung, Blasphemien, Trostlosigkeit und Entsetzen ihren Ausdruck, ihre Bildbeschwörung finden. In all diesem sind es Gedichte, über die Christine Lavant einmal brieflich zu sagen versucht hat, daß sie aus einem «Zustand» kämen, der «mich erzittern läßt . . . für alles überhaupt»; 31 und sind doch glei-

27 2,1

29 30

31

Christine Lavant, Die Bettlerschale, ebd., S. 109. Leo Spitzer, Über zeitliche Perspektive in der neueren französischen Lyrik (Anredelyrik und evokatives Präsens), in: Stilstudien. 2. Teil. Stilsprachen, Darmstadt 1961, S. 51. Leo Spitzer, ebd., S. 55. Hans Maier, Interpretation von Christine Lavants Gedicht , in: Frankfurter Anthologie, Bd. 7, Frankfurt/Main 1983, S. 208. Brief vom 25.4.1956 an Ludwig von Ficker, in: Christine Lavant. Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben. Nachgelassene und verstreut veröffentlichte Ge-

GESPRÄCHSFORMEN IN DER LYRIK

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cherweise Dichtungen, die auch in ihren harten und bösen Gesten noch Zeugnis sein mögen für die «größte Sehnsucht nach Ehrfurcht und Vertrauen», von der Christine Lavant sich von Kindheit an begleitet gewußt hat. 32 Gleichwohl sind diese in Bildern und Gesten ein beschwörenden oder evozierenden Gedichte (Monolog-Dichtung»; und als solche geben sie noch keine Auskunft auf die Frage nach einer eigens zu erörternden lyrisch-dialogischen Struktur. Und doch begegnet in diesem Lyrik-CEuvre ein Gedicht wie das im folgenden anzuführende, in dem der lyrische Monolog durchaus deutlich zu einer Gesprächsform ausdifferenziert erscheint, da eben hier die Möglichkeit des Fragens und Antwortens selbst zum Problem erhoben und aufs prägnanteste in die lyrische Grundgeste einbezogen worden ist.

5

10

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20

,2

Darüber, Herr, besprich dich mit dem Tod, ich kann von Seelenkräften wenig sagen, man hat sie alle von mir fortgetragen und übergab mich Schwache dann der Not, die jeden meiner Schritte überwacht. Du meinst, du könntest schon die nächste Nacht in diesem Kerker auf- und niedergehen und nach der Erbschaft meines Elends sehen und ob ich eine Inschrift hinterließ. Inschriften - glaub ich - gelten nur mit Blut, und wenn man einen Namen hat und Mut, ihn einzuritzen, sichtbar, ins Verließ, damit der nächste weiß, wer hier verkam. Sprich mit dem Tod, der war oft hier und nahm bei jedem Weggehn einen Splitter mit von allem Wissen, das ich hier erlitt, er muß schon einiges beisammen haben. Mich frage nichts, ich bin bewacht vergraben und völlig mutlos, völlig ohne List, besitze keinen Namen, keine Kraft, nicht einmal Hoffnung, daß nach dieser Haft für mich ein Platz in deinem Hause ist.

dichte - Prosa - Briefe, hg. v. Arnold Wigotschnig und Johann Strutz, Salzburg 1978, S. 225. Brief vom Juli 1956 an L. v. Ficker, ebd., S. 223.

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GESPRÄCHSFORMEN IN DER LYRIK

Dieser Text 3 3 aus d e m Lyrik-Band von 1956: Die Bettlerschale gehört in den dritten Teil dieses Bandes, der — — —

Diese W e n d u n g Ebd., S. 97f. 7 Ebd., S. 98. K Ebd., S. 100. " Ebd., S. 103. "' Ebd., S. 106. Die W e n d u n g .stehender Sturmlaufi ist aus einer Tagebuchnotiz Kafkas zitiert; vgl. Allemann S. 103. 11 K.-P. Philippi, Parabolisches Erzählen. A n m e r k u n g e n zu F o r m und möglicher Geschichte, in: DVjs, 43, 1969, S. 2 9 7 - 3 3 2 . 12 Philippi: «Verheißung» (S. 317), «Trennung von Immanenz u n d Transzendenz», «Gegenwart im Vorgriff auf die Zukunft» (S. 318), «Zukunft schaffende Glaubensentscheidung», «Glaubensverlust», «Transzendenz ist . . . leer» (S. 320), «Problematik möglichen Glaubens», «Inhalt der Offenbarung» (S. 324) u.a.

404

KAFKA: 35 im Rezipieren bemüht ist, so darf als nachgerade sicher angenommen werden, daß gerade der vorliegende Text den Leser nicht mit nur geringfügigem Anspruch 35

Diese Begriffe werden hier zunächst in der allgemeinen, noch nicht (wie später in dieser Auslegung) speziell auf das Verstehen von bezogenen Bed e u t u n g verwendet - so wie sie von R o m a n Ingarden in seiner Erörterung «Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks» (Tübingen 1968) gebraucht werden.

KAFKA:

Beißner, (s. Anm. 27) S. 42. Diese Möglichkeit entspricht den Besonderheiten des Kafkaschen Erzählstils, die gerade F. Beißner (s. Anm. 27) eigens betont hat: «Kafka läßt dem Erzähler keinen Raum neben oder über den Gestalten, keinen Abstand von dem Vorgang . . . Es gibt nur den sich selbst . . . erzählenden Vorgang: daher beim Leser das Gefühl der Unausweichlichkeit ...» (S. 35). «Kafka verwandelt . . . nicht nur sich, sondern auch den Leser in die Hauptgestalt» (S. 36).

414

KAFKA: des E r k e n n e n s sich verschiebt u n d die Zuverlässigkeit u n d wissenschaftlich-hermeneutischen Verfahrens v e r l o r e n g e h e n k a n n . 2 5 Für diese A r t existential-philosophisch gedachten h e r m e n e u t i s c h e n Zirkels ist der alte Satz: «sensus n o n est inferendus, sed efFerendus» nicht m e h r verbindlich. 2 6 Es m a g g e n u g der V o r o r i e n t i e r u n g e n sein, die die Dringlichkeit klärender B e m ü h u n g e n u m die g e n a n n t e n Begriffe anzeigen sollten. W e n n der Blick j e t z t auf B o e c k h s «Methodenlehre» 2 7 zu r i c h t e n ist, so sei eigens b e t o n t , daß von B o e c k h s « T h e o r i e der H e r m e n e u tik» u n d ihren zentralen Begriffen gehandelt wird, - nicht v o n d e m Teil, d e n B o e c k h als « T h e o r i e der Kritik» bezeichnet. So g e w i ß beide Teilbereiche f ü r B o e c k h der u m f a s s e n d e n «Formalen T h e o r i e der philologischen Wissenschaft» z u g e h ö r e n , so unterscheidet er sie d o c h h i n r e i c h e n d klar, da die H e r m e n e u t i k «einzelne Gegenstände an sich zu verstehen» lehrt (S. 178), die Kritik dagegen mit der «Festsetzung des Verhältnisses» (S. 170), der B e z i e h u n g zwischen den G e g e n s t ä n d e n zu t u n h a t . 2 8 Ich versuche zunächst, die wichtigsten Prämissen u n d nen zu n e n n e n , die in B o e c k h s A u s f u h r u n g e n zu e r k e n n e n die deutlich m a c h e n k ö n n e n , auf w e l c h e Fragestellungen T h e o r i e der H e r m e n e u t i k a n t w o r t e n kann, - auf welche deter Weise nicht.

Intentiosind u n d Boeckhs begrün-

1. D e r G e g e n s t a n d , d e m das Verfahren d e r Interpretation gilt, ist - w e n n m a n B o e c k h s F o r m u l i e r u n g e n w i e «Erkennen des E r kannten» (S. 10 u . ö . ) o d e r des «vom m e n s c h l i c h e n Geist Producirten»

2? 2,1 27

28

Vgl. ebd., S. 41 u . ö . Vgl. ebd., S. 14. A. Boeckh, Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, hrsg. v. E. Bratuscheck. Erster Hauptteil: Formale T h e o r i e der philologischen Wissenschaft, Darmstadt 1966 (Unveränderter reprografischer N a c h d r u c k der 2., von R . Klassmann besorgten Aufl. Leipzig 1886). Z u dieser Begriffsverwendung und Abgrenzung der Gebiete bei Boeckh vgl. die ausführlichen Darlegungen von G. Pflug, H e r m e n e u t i k und Kritik. August Boeckh in der Tradition des Begriffspaars, in: Archiv für Begriffsgeschichte 19, 1975, S. 1 3 8 - 1 9 6 .

438

DER INTERPRETATIONSBEGRIFF VON AUGUST BOECKH

(S. 10), der «geistigen Manifestation» (S. 78) in eines der neutralsten Worte zusammenfaßt: — «las in Sprache Produzierto. — Das ist insofern etwas nicht gänzlich Selbstverständliches, als eine wichtige in späterer, philosophisch-phänomenologischer Reflexion besonders betonte — Unterscheidung erkennbar wird; nämlich die von Phänomenen oder (Gegenständen) einerseits, von Akten, veränderlichen Prozessen oder Lebensvorgängen anderseits. 29 Boeckh betont in seinen Ausführungen deutlich genug, daß sprachlich Kodifiziertes, also das (literarische Faktum), die Objektivation oder generell das in Sprache Dokumentierte Gegenstand der Erkenntnisbemühung ist, nicht - wie für mögliche andere wissenschaftliche Intentionen — Prozesse wie das Konzipieren, also das Imaginieren oder Erzeugen von Texten durch den Autor, oder das Rezipieren, das Generieren von Textbedeutungen im Leser. Überdies wird mit etlichen Hinweisen Boeckhs deutlich, daß mit dem