Plutarchs Dialog De E apud Delphos: Eine Studie. Ratio Religionis Studien II 3161526910, 9783161526916, 9783161526923

Der Dialog De E apud Delphos gehört zu den meistdiskutierten Texten des griechischen Philosophen und Polyhistors Plutarc

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German Pages 403 [405] Year 2013

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Ratio Religionis Studien
Vorwort
Inhalt
I. Einleitung
1. Textüberblick und Forschungslage
2. Kritik und Desiderate der Forschung
3. Ziele und Methoden einer Gesamtuntersuchung von De E apud Delphos
II. De E apud Delphos als Dialog: Widmung und Proömium
1. Plutarchs Dialoge und ihr Publikum
2. Sarapion als Adressat von De E apud Delphos
3. Die Widmung an Sarapion
4. Das extradialogische Proömium
4.1 Das delphische E
4.2 Das delphische E in De defectu oraculorum
4.3 Plutarchs Erzählerrolle
4.4 Die Verlegung des Gesprächs in die Vergangenheit
5. Fazit: Die Konzeption von De E apud Delphos
III. Das Hauptgespräch von De E apud Delphos
1. Das Proömium des Ammonios
1.1 Οὐχ ἧττον φιλόσοφος ἢ μάντις: Die etymologische Deutung der Kultnamen Apollons
1.2 Θαυμάζειν, ἀπορεῖν, ζητειν: Der Ursprung des dialogischen Philosophierens
2. Die Rede des Lamprias: Die Fünf Weisen
3. Die Reaktion des Ammonios auf Lampriasʼ Beitrag
4. Das Referat einer ‚chaldäischen‘ Deutung des E durch einen anonymen Gesprächspartner
5. Die Rede des Nikandros: Die Kommunikation mit dem Orakelgott
5.1 Nikandros als priesterliches alter ego Plutarchs?
5.2 Plutarchs Selbstzeugnis über seine Auffassung der delphischen Priesterschaft
5.3 Die Charakteristik der Perihegeten in De Pythiae oraculis
5.4 Die Charakteristik des Nikandros als Vertreter der delphischen Gesellschaft
5.5 Plutarchs vaticinium ex eventu über seine Priesterschaft als indirekte Charakteristik des Nikandros
5.6 Nikandros und Archilochos: Komische Halbbildung
5.7 Nikandros und die Stoa: Ein missglückter Präventivschlag
6. Die Rede des Theon: Apollon διαλεκτικώτατος
6.1 Die Einbindung von Theons Rede in den Gesprächsablauf
6.2 Das dialektische Wesen des Apollon: Λύειν καὶ ποιεῖν ἀμφιβολίας
6.3 Die Anekdote vom Delischen Problem zur Illustration von Apollons Philosophieprotreptik
6.4 Die Deutung des E als das εἰ im Syllogismus
6.5 Die apollinische Mantik als angewandte Dialektik
6.6 Der Dreifußraub des Herakles
6.7 Zur Bewertung der Theonrede
7. Die Rede ‚Plutarchs‘
7.1 Einleitung
7.2 ‚Plutarchs‘ mathematische Deutung des E
7.2.1 Die arithmetische Entstehung der 5
7.2.2 Die Fünf als φύσις
7.2.3 Apollon und Dionysos
7.2.4 Die stoische Weltzyklenlehre bei ‚Plutarch‘ und Ammonios
7.2.5 Apollon und die Musik
7.2.6 Die kosmologischen Pentaden in Platons Timaios
7.2.7 Weitere Pentaden: Die Weltteile bei Homer – Die Stadien der Entstehung von Lebewesen – Die Gattungen beseelter Wesen – Die Teile der Seele
7.2.8 Die alternative γένεσις der Fünf
7.2.9 Die Pentaden in Platons Sophistes und Philebos
8. Die Rede des Ammonios
8.1 Ammonios’ Einleitung (Kap. 17)
8.2 Das 20. Kapitel von De E apud Delphos
8.2.1 Der Aion und der Gott
8.2.2 Pythagoreisches in εἶ ἕν?
8.2.3 Parmenideisches in εἶ ἕν
8.3 Der heraklitische Fluss und das parmenideische Sein (Kap. 18–20)
8.3.1 Das Parmenidesbild in Adversus Colotem und die Ontologie des Ammonios
8.3.2 Parmenides als Vorläufer Platons und dessen Methexis-Lehre
8.4 Der χώρα-Passus in Platons Timaios als Subtext der Ammoniosrede
8.4.1 Die χώρα im Timaios und der heraklitische Fluss im 18. Kapitel von De E apud Delphos
8.4.2 Die Zeittheorien in Timaios 37c6–38b5 und im 19. Kapitel von De E apud Delphos
8.5 Das 21. Kapitel von De E apud Delphos: Zum Verhältnis von Sein und Nichtsein
8.5.1 Das Verhältnis des Apollon zur Sonne und die Kritik an der stoischen Weltzyklenlehre
8.5.2 Das Schlusskapitel von De E apud Delphos als Adaption von Timaios 51e6–53a8
8.5.2.1 Timaios 51e6–52d1 als Vorbild für De E 21, 393C–F
8.5.2.2 Plutarchs Adaption von Timaios 51e6–52d1 in De E 21
8.6 Timaios 52d2–53a8 im Schlussteil von De E 21
8.6.1 Der Daimon als die vorkosmische Urseele
8.6.2 Plutarchs Interpretation von Timaios 52d2–53a8 als Interaktion zwischen dem Intelligiblen, der Urseele und der Materie
8.6.3 Die Welt der Ammoniosrede als vorkosmisches Produkt aus Materie und Intelligiblem durch Vermittlung der Urseele
8.7 Der Timaios in der Ammoniosrede: Zusammenfassung
8.8 Der rhetorische Platonismus der Ammoniosrede
8.8.1 Gegenprobe I: Die Persistenz der menschlichen Person in De sera numinis vindicta
8.8.2 Gegenprobe II: Die Kritik an der stoischen Zeittheorie in De communibus notitiis
8.8.3 Die rein ontische Konzeption des Apollon in De E apud Delphos und Plutarchs philosophische Theologie
IV. Schluss
Literaturverzeichnis
1. Ausgaben, Übersetzungen, Kommentare
1.1 Plutarch
1.1.1 Moralia
1.1.2 De E apud Delphos und Pythische Dialoge
1.1.3 Andere Moralia
1.1.4 Vitae parallelae
1.2 Andere antike Autoren
2. Sekundärliteratur
Index criticus
Index locorum
Index nominum et rerum
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Plutarchs Dialog De E apud Delphos: Eine Studie. Ratio Religionis Studien II
 3161526910, 9783161526916, 9783161526923

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Studien und Texte zu Antike und Christentum Studies and Texts in Antiquity and Christianity Herausgeber/Editors Christoph Markschies (Berlin) Martin Wallraff (Basel) Christian Wildberg (Princeton) Beirat/Advisory Board Peter Brown (Princeton) · Susanna Elm (Berkeley) Johannes Hahn (Münster) · Emanuela Prinzivalli (Rom) Jörg Rüpke (Erfurt)

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Tobias Thum

Plutarchs Dialog De E apud Delphos Eine Studie Ratio Religionis Studien II

Mohr Siebeck

Tobias Thum, geboren 1976; Studium der Klassischen Philologie und der Germanistik; 2010 Promotion; seit 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Lehrbeauftragter am Institut für Griechische und Lateinische Philologie der LMU München.

e-ISBN PDFF 978-3-16-152692-3 ISBN 978-3-16-152691-6 ISSN 1436-3003 (Studien und Texte zu Antike und Christentum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http:// dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Nehren auf alterungbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.

DIS MANIBVS Albrecht Seifert (1940–1993)

Ναρθηκοφόροι μὲν πολλοί, βάκχοι δέ τε παῦροι

Ratio Religionis Studien Die Ratio Religionis Studien veröffentlichen monographische Studien und Aufsatzbände zur religiösen Philosophie und philosophischen Religion in der frühen Kaiserzeit. In der frühen Kaiserzeit werden Traditionen der gelebten Religion verstärkt als Quelle philosophischen Denkens interpretiert und plausibilisiert. Heilige Erzählungen, Riten und Kultgegenstände erscheinen als Reflex göttlicher Wahrheit. Umgekehrt beruft sich philosophische Weltdeutung auf die religiöse Tradition als letzten Erkenntnisgrund. Diese Verschmelzung religiöser und philosophischer Diskurse, der kreative Neudeutungen in beiden Feldern entsprangen, untersucht das an der Universität Göttingen angesiedelte DFG-Emmy-Noether-Projekt Ratio Religionis, das sich inzwischen zu einem interdisziplinären Forum junger Forscher im Bereich der religiös-philosophischen Literatur der frühen Kaiserzeit insbesondere im hellenistischen Judentum, im frühen Christentum und im pagan-religiösen Platonismus entwickelt hat. Die Ratio Religionis Studien geben die Ergebnisse dieses Dialogs zusammenhängend, aber in die jeweiligen Fachreihen eingeordnet, heraus. Dies spiegelt eine Ausgangsthese des Projekts: Eine religiös-philosophische Hermeneutik entwickelt sich im kaiserzeitlichen Platonismus jüdischer, christlicher und pagan-religiöser Provenienz als übergreifendes und verbindendes Phänomen.

Vorwort Die vorliegende Studie zu Plutarchs De E apud Delphos bildet die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen im Wintersemester 2009/2010 unter dem Titel „Apollon und der Weg der Erkenntnis in Plutarchs Schrift De E apud Delphos“ vorlag. Tag der mündlichen Prüfung war der 25. Mai 2010.1 Die Arbeit entstand als Teilprojekt der von Prof. Rainer Hirsch-Luipold geleiteten DFG-Emmy-Noether-Nachwuchsforschergruppe Ratio Religionis in Göttingen. Viele haben zum erfolgreichen Abschluss der Arbeit beigetragen. Zunächst ist Rainer Hirsch-Luipold zu danken, der mir ungeachtet aller wissenschaftlichen Differenzen die Freiheit ließ, die Arbeit mit den von mir als praktikabel erachteten Zielsetzungen und Methoden durchzuführen. Ihm und den Herausgebern der Studien und Texze zu Antike und Christentum gilt auch mein Dank für die Veröffentlichung in den Ratio-Religionis-Studien. Der Austausch mit meinen Kollegen Ralf Sedlak, Dr. Ilinca Tanaseanu-Döbler, Dr. Beatrice Wyss und Dr. Fritz Heinrich hat die Arbeit nicht unwesentlich gefördert. Sonja Fröse-Brockmann hat sich bei der Nachprüfung der fremdsprachigen Zitate bleibende Verdienste erworben. Zu danken habe ich ferner Prof. Jan Opsomer, Köln, der mir seinen Aufsatz M. Annius Ammonius, a Philosophical Profile noch vor der Drucklegung in großzügiger Weise zugänglich gemacht hat. Prof. Luc Van der Stockt, Leuven, hat mir schwer zugängliche Literatur verschafft und einige meiner Thesen mit mir diskutiert. Für Anregungen und Gespräche danke ich auch Prof. Herwig Görgemanns, Heidelberg und Prof. Zlatko Pleše, Chapel Hill. Einen wichtigen Hinweis gab mir Prof. Christoph Helmig, Berlin, dem ich an entsprechender Stelle ausdrücklich danke. Das Korreferat haben dankenswerter Weise Prof. Peter Kuhlmann, Göttingen und Prof. Fritz Graf, Ohio State University, übernommen.

1 Alle Übersetzungen stammen, wenn nicht anders bezeichnet, von mir selbst. Die umfangreichen Zitate in den Fußnoten verfolgen das Ziel, meine Argumentation möglichst transparent zu halten und meinen Standpunkt klar auszuweisen. Zudem ist ein Großteil der jüngeren Forschungsliteratur nicht in allgemein zugänglichen gräzistischen Periodika, sondern in Tagungs- und Sammelbänden erschienen, die nicht überall zur Hand sind. Ich habe mich bemüht, auch Literatur, die nach 2009 erschienen ist, soweit als möglich in den Anmerkungen zu berücksichtigen.

X

Vorwort

Mein größter Dank gilt meinem Doktorvater, Prof. Heinz-Günther Nesselrath, der sich nicht nur die Mühe gemacht hat, die Arbeit in ihrem mitunter sehr komplizierten Entstehungsprozess mit so großer Geduld wie kritischem Blick zu begleiten, sondern mich vor allem stets ermuntert hat, die von mir eingeschlagenen Wege konsequent zu Ende zu denken. Zu danken habe ich schließlich meinen Lehrern, am Gymnasium bei St. Stephan, Augsburg: Albrecht Seifert †, P. Sigisbert Schweßinger OSB † und Horst Weinold †, an der Ludwig-Maximilians-Universität München: Dieter Bremer, Heinz-Werner Nörenberg, Andreas Patzer, Ernst Vogt und besonders Martin Hose. Die Arbeit wäre ohne die vielfältige Unterstützung folgender Menschen nicht entstanden: Felix Albrecht, Tom Araya, Philipp Aumann, Paul Bostaph, Stefanie Frost, Matthias Futterknecht, Jeff Hanneman, Johannes Kastner, Kerry King, Joshua Krön, Christian Kurzewitz, Alexander Leichtle, Helmut Löffler, Dave Lombardo, Matthias Lutz, Gunther Martin, Julian Röbe, Björn Schaak, Peter Christian Schmidt, Martin Schrage, Anna Schriefl, Gerhard, Adelheid und Ursula Thum, Reinhard Weber, Alexa Wilke und alle Mitglieder der Peripatetischen Runde in Göttingen. Augsburg und München, im Oktober 2012

Tobias Thum

Inhalt I. Einleitung ................................................................................................ 1  1. Textüberblick und Forschungslage ......................................................... 2  2. Kritik und Desiderate der Forschung .................................................... 11  3. Ziele und Methoden einer Gesamtuntersuchung von De E apud Delphos ............................................................................... 21  II. De E apud Delphos als Dialog: Widmung und Proömium ................... 27  1. Plutarchs Dialoge und ihr Publikum ..................................................... 27  2. Sarapion als Adressat von De E apud Delphos ..................................... 36  3. Die Widmung an Sarapion .................................................................... 42  4. Das extradialogische Proömium............................................................ 48  4.1 Das delphische E ................................................................................................. 48  4.2 Das delphische E in De defectu oraculorum ........................................................ 56  4.3 Plutarchs Erzählerrolle ........................................................................................ 59  4.4 Die Verlegung des Gesprächs in die Vergangenheit ............................................ 62  5. Fazit: Die Konzeption von De E apud Delphos .................................... 79  III. Das Hauptgespräch von De E apud Delphos ....................................... 83  1. Das Proömium des Ammonios .............................................................. 83  1.1 Οὐχ ἧττον φιλόσοφος ἢ μάντις: Die etymologische Deutung der Kultnamen Apollons ...................................................................................... 84  1.2 Θαυμάζειν, ἀπορεῖν, ζητειν: Der Ursprung des dialogischen Philosophierens ..... 87 

2. Die Rede des Lamprias: Die Fünf Weisen ............................................ 96  3. Die Reaktion des Ammonios auf Lampriasʼ Beitrag ........................... 105 

XII

Inhalt

4. Das Referat einer ‚chaldäischen‘ Deutung des E durch einen anonymen Gesprächspartner ..................................................... 109  5. Die Rede des Nikandros: Die Kommunikation mit dem Orakelgott ... 113  5.1 Nikandros als priesterliches alter ego Plutarchs? .............................................. 115  5.2 Plutarchs Selbstzeugnis über seine Auffassung der delphischen Priesterschaft .................................................................................................... 118  5.3 Die Charakteristik der Perihegeten in De Pythiae oraculis ............................... 122  5.4 Die Charakteristik des Nikandros als Vertreter der delphischen Gesellschaft ... 125  5.5 Plutarchs vaticinium ex eventu über seine Priesterschaft als indirekte Charakteristik des Nikandros ........................................................................... 126  5.6 Nikandros und Archilochos: Komische Halbbildung ........................................ 129  5.7 Nikandros und die Stoa: Ein missglückter Präventivschlag .............................. 135 

6. Die Rede des Theon: Apollon διαλεκτικώτατος.................................. 142  6.1 Die Einbindung von Theons Rede in den Gesprächsablauf ............................... 144  6.2 Das dialektische Wesen des Apollon: Λύειν καὶ ποιεῖν ἀμφιβολίας .................. 148  6.3 Die Anekdote vom Delischen Problem zur Illustration von Apollons Philosophieprotreptik ....................................................................................... 153  6.4 Die Deutung des E als das εἰ im Syllogismus ................................................... 158  6.5 Die apollinische Mantik als angewandte Dialektik ........................................... 161  6.6 Der Dreifußraub des Herakles .......................................................................... 165  6.7 Zur Bewertung der Theonrede .......................................................................... 166 

7. Die Rede ‚Plutarchs‘ ........................................................................... 173  7.1 Einleitung ......................................................................................................... 173  7.2 ‚Plutarchs‘ mathematische Deutung des E ........................................................ 180  7.2.1 Die arithmetische Entstehung der 5 ............................................................... 181  7.2.2 Die Fünf als φύσις ......................................................................................... 185  7.2.3 Apollon und Dionysos ................................................................................... 189  7.2.4 Die stoische Weltzyklenlehre bei ‚Plutarch‘ und Ammonios ......................... 194  7.2.5 Apollon und die Musik .................................................................................. 199  7.2.6 Die kosmologischen Pentaden in Platons Timaios ......................................... 207  7.2.7 Weitere Pentaden: Die Weltteile bei Homer – Die Stadien der Entstehung von Lebewesen – Die Gattungen beseelter Wesen – Die Teile der Seele ........................................................................................ 219  7.2.8 Die alternative γένεσις der Fünf .................................................................... 226  7.2.9 Die Pentaden in Platons Sophistes und Philebos ............................................ 228 

8. Die Rede des Ammonios .................................................................... 243  8.1 Ammonios’ Einleitung (Kap. 17)...................................................................... 243  8.2 Das 20. Kapitel von De E apud Delphos .......................................................... 248  8.2.1 Der Aion und der Gott ................................................................................... 249 

Inhalt

XIII

8.2.2 Pythagoreisches in εἶ ἕν? ................................................................................ 255  8.2.3 Parmenideisches in εἶ ἕν ................................................................................. 262  8.3 Der heraklitische Fluss und das parmenideische Sein (Kap. 18–20) .................. 269  8.3.1 Das Parmenidesbild in Adversus Colotem und die Ontologie des Ammonios ............................................................................................... 270  8.3.2 Parmenides als Vorläufer Platons und dessen Methexis-Lehre ....................... 274  8.4 Der χώρα-Passus in Platons Timaios als Subtext der Ammoniosrede ................ 279  8.4.1 Die χώρα im Timaios und der heraklitische Fluss im 18. Kapitel von De E apud Delphos ................................................................................. 280  8.4.2 Die Zeittheorien in Timaios 37c6–38b5 und im 19. Kapitel von De E apud Delphos ................................................................................. 290  8.5 Das 21. Kapitel von De E apud Delphos: Zum Verhältnis von Sein und Nichtsein ............................................................................................ 296  8.5.1 Das Verhältnis des Apollon zur Sonne und die Kritik an der stoischen Weltzyklenlehre ......................................................................... 300  8.5.2 Das Schlusskapitel von De E apud Delphos als Adaption von Timaios 51e6–53a8 ........................................................................................ 315  8.5.2.1 Timaios 51e6–52d1 als Vorbild für De E 21, 393C–F ................................. 315  8.5.2.2 Plutarchs Adaption von Timaios 51e6–52d1 in De E 21 .............................. 319  8.6 Timaios 52d2–53a8 im Schlussteil von De E 21 ................................................ 325  8.6.1 Der Daimon als die vorkosmische Urseele ..................................................... 328  8.6.2 Plutarchs Interpretation von Timaios 52d2–53a8 als Interaktion zwischen dem Intelligiblen, der Urseele und der Materie ............................... 333  8.6.3 Die Welt der Ammoniosrede als vorkosmisches Produkt aus Materie und Intelligiblem durch Vermittlung der Urseele .................................................. 343  8.7 Der Timaios in der Ammoniosrede: Zusammenfassung ..................................... 343  8.8 Der rhetorische Platonismus der Ammoniosrede ...............................................344  8.8.1 Gegenprobe I: Die Persistenz der menschlichen Person in De sera numinis vindicta ................................................................................ 347  8.8.2 Gegenprobe II: Die Kritik an der stoischen Zeittheorie in De communibus notitiis .................................................................................. 349  8.8.3 Die rein ontische Konzeption des Apollon in De E apud Delphos und Plutarchs philosophische Theologie ........................................................ 354 

IV. Schluss .............................................................................................. 363  Literaturverzeichnis ................................................................................ 365  Index criticus .......................................................................................... 377  Index locorum ......................................................................................... 379  Index nominum et rerum ......................................................................... 389 

I. Einleitung Eine Monographie von einigen hundert Seiten zu Plutarchs vergleichsweise kurzem Dialog De E apud Delphos bedarf in einer, auch gemessen am gewaltigen Œuvre des Chaironeers, an gelehrter Literatur nicht eben armen Wissenschaft, einer Begründung ihrer Dringlichkeit. Dies gilt zumal, wenn sich die vorliegende Studie im Grunde wesentlich dem philologischen Kerngeschäft, mithin der Erläuterung von res et verba des Textes und einer darauf aufbauenden und diese begleitenden Interpretation, widmen soll. Gerade dies müsste, so lässt sich denken, bereits allemal geleistet sein: Auch wenn ein vollständiger wissenschaftlicher Kommentar oder eine umfassende Interpretationsarbeit zu De E apud Delphos bislang nicht vorliegen, finden sich doch zahlreiche Übersetzungen, zum Teil mit beigegebenem Originaltext, mit verhältnismäßig ausführlichen Einleitungen und Anmerkungsapparaten,1 ein Teilkommentar2 sowie Spezialstudien zu beinahe allen Abschnitten dieses für Plutarchs Verhältnisse außerordentlich übersichtlich gegliederten Dialoges, die sich sowohl um Klärung der Sachen und Begriffe als auch um deren Deutung bemüht haben.3 Ferner kommt kaum eine größere Arbeit zu Plutarchs Platonismus oder zu seinen Interessen an Fragestellungen der Religion ohne eine mehr oder weniger ausführliche Behandlung von De E apud Delphos aus,4 vom Treibgut in der Flut der vielen kleineren Arbeiten ganz zu schweigen, mit denen die seit etwa 20 Jahren anschwellende Produktion von umfangreichen Tagungs- und Sammelbänden zu einzelnen Aspekten von Plutarchs Werk die Bibliographien gefüllt hat.5 Gleichwohl kann ein Überblick über den Text und die Schwerpunktsetzungen der einschlägigen Forschungsbeiträge eine in ihrer Einmütigkeit                                                              1

BABBITT (1936); ZIEGLER (1952); CILENTO (1962); FLACELIÈRE (1974); DEL CORNO – CAVALLI – LOZZA (1983); MORESCHINI (1997); BOULOGNE – BROZE – COULOUBARITSIS (2006). 2 OBSIEGER (2007) zu den Reden Theons und ‚Plutarchs‘. 3 Zu nennen sind besonders: BABUT (1992) zur Komposition des Dialoges; BONAZZI (2008) zu den Proömien; BALDASSARRI (1993) zur Rede Theons; OPSOMER (2009) zur Ammoniosrede. LAURENTI (1996a) bietet einen nützlichen, aber anspruchslosen Überblick über den gesamten Dialog. 4 VOLKMANN (1869); OAKESMITH (1902); DECHARME (1904); JONES (1916); LATZARUS (1921); DILLON (1996); VALGIGLIO (1988); SCHOPPE (1994); F ERRARI (1995); S IRINELLI (2000). 5 Auch der Verfasser dieser Studie hat vorab einige Teilgedanken veröffentlicht, vgl. THUM (2009).

2

I. Einleitung

nicht unproblematische Tendenz des Zugriffs auf den Text aufzeigen, die, wie zu zeigen ist, zu einer Schieflage des Gesamtverständnisses von De E apud Delphos geführt hat. Die vorliegende Studie beabsichtigt, diese auszugleichen.

1. Textüberblick und Forschungslage Der Dialog eröffnet, wie aus der einleitenden Widmung an Plutarchs in Athen ansässigen Freund Sarapion deutlich wird, eine Reihe von sogenannten ‚Pythischen Dialogen‘, zu denen gewöhnlich noch De Pythiae oraculis und De defectu oraculorum gezählt werden; ihr gemeinsames Merkmal sind Gespräche, die in Delphi über Fragestellungen geführt werden, die mit dem Heiligtum verbunden sind. Geht es in De Pythiae oraculis und in De defectu oraculorum allgemein um die Funktionsweise der apollinischen Weissagung, in ersterem Text speziell um deren Formwandel, in zweiterem um das Phänomen des Eingehens von Orakelstätten unter besonderer Berücksichtigung der physikalischen Gegebenheiten in Delphi,6 so befasst sich der Eröffnungsdialog dieser delphischen Dialogtrias mit der Deutung eines rätselhaften Weihegeschenks am Tempel des Apollon in Delphi in Gestalt eines E.7 Ein auf die Widmungsadresse folgendes auktoriales oder extradialogisches Proömium orientiert den Leser zunächst darüber, dass dieses E eine Weihegabe von Männern sei, die in grauer Vorzeit (ἐν ἀρχῇ) im Tempelbezirk von Delphi Philosophie getrieben hätten, die Weihung des Zeichens selbst bezeuge einen speziellen Wesenszug des Gottes Apollon, der gewissermaßen in der Umkehrung seiner traditionellen Funktion als Orakelgott besteht: Bei Problemen, die allgemein das Leben der Menschen betreffen,                                                              6 Vgl. die in den Handschriften überlieferten griechischen Titel der Dialoge: Περὶ τοῦ μὴ χρᾶν ἔμμετρα νῦν τὴν Πυθίαν und Περὶ τῶν ἐκλελοιπότων χρηστηρίων. 7 An dieser Stelle sei auf solche Arbeiten verwiesen, die sich – vermeintlich in der Nachfolge Plutarchs – mit der Bedeutung des E als (freilich nicht erhaltenes) archäologisches Artefakt beschäftigen. Vgl. GÖTTLING (1851); SCHULTZ (1866); ROSCHER (1900); LAGERCRANTZ (1901); ROSCHER (1901a) und (1901b); ROBERT (1901); HARRISON (1905); BATES (1925); FRIES (1930); DEMANGEL (1940/41); BOUSQUET (1951); BERMANN – LOSADA (1975); GUARDUCCI (1976); ein esoterisches Kuriosum stellt die kurze Schrift von COMOTH (1995) dar. Ein übersichtliches Referat der Forschungsgeschichte bieten MORESCHINI (1997) 8–10 und OBSIEGER (2007) 1–4. Die neuzeitlichen Versuche, das Rätsel des delphischen E zu lösen, tragen zu einem Verständnis der Schrift Plutarchs allerdings nichts bei und sind zu keinem befriedigenden Ergebnis gelangt; ZIEGLERs Urteil (1951) 828 ist nach wie vor gültig: „Aber auch die modernen Bemühungen […] sind, wie es mir scheint, zu keinem solideren Ergebnis gelangt, was kein Wunder ist, wenn man bedenkt, daß es sich um ein Zeichen handelt, über dessen Bedeutung man schon, als man überhaupt nach solchen Dingen zu fragen begann, nichts wußte […].“

1. Textüberblick und Forschungslage

3

gibt der Gott den Ratsuchenden klare Antworten, während er im Gegenzug den Menschen von sich aus schwierige Probleme stellt, die intellektueller Natur sind, um dadurch eine philosophische Wahrheitssuche anzuregen. Jene ersten Philosophen hätten also mit der Weihung des E auf diesen Wesenszug des Apollon aufmerksam gemacht. Plutarch lässt nun einen kurzen, sich autobiographisch gebenden Exkurs folgen, in dem er davon berichtet, wie er es wiederholt freundlich abgelehnt habe, die Bedeutung des E mit seinen Schülern zu erörtern, sich jedoch jüngst vor Ort in Delphi dann doch aus Gründen der Höflichkeit mit fremden Besuchern auf ein diesbezügliches Gespräch eingelassen habe. Doch ist es nicht dieses Gespräch, das Plutarch in De E apud Delphos berichtet, sondern ein längst vergangenes, an das er sich im Verlauf seiner Unterhaltung mit den Delphibesuchern erinnert haben will: Während Neros Griechenlandreise, also 66/67 n. Chr. – Plutarch war damals etwa 20 Jahre alt –, habe er an gleicher Stelle schon einmal einem solchen Gespräch beigewohnt, und zwar in Gesellschaft des Ammonios. Ammonios, der in Plutarchs Werk außerhalb von De E apud Delphos noch in De defectu oraculorum und einigen der Quaestiones convivales auftritt, hat im vorliegenden Dialog eine sehr prominente Stellung: Plutarch lässt ihn zunächst ein zweites, intradialogisches Proömium sprechen, in dem er der versammelten Gruppe von jungen Männern Apollon als einen Philosophengott vorstellt und, unter Aufnahme entsprechender Motive aus Plutarchs extradialogischem Proömium, das E als besonders ergiebigen Gegenstand für ein philosophisches Gespräch charakterisiert. Im Anschluss ermuntert er die Anwesenden dazu, Lösungsversuche für die Bedeutung des Zeichens vorzuschlagen. Figuriert Ammonios in diesem intradialogischen Proömium ganz als ein aufgeräumter Philosoph älteren Semesters, der unter seinen Eleven eine philosophische Diskussion zu einem abseitigen, aber gerade deshalb offenbar besonders reizvollen Problem anregt, so belässt er es nicht dabei, immer wieder gutmütig die Rolle des Conférenciers zwischen den einzelnen Redebeiträgen der Gesprächsteilnehmer zu spielen, sondern ergreift am Ende des Dialoges auch selbst das Wort, um einen letzten Lösungsversuch für die Bedeutung des E mit einiger Vehemenz vorzustellen: Das E, das zu Plutarchs Zeiten noch nicht den Namen Epsilon trug, sondern als Ei bezeichnet wurde,8 sei in die Verbalform εἶ, „Du bist“, aufzulösen und als bevorzugte, da das Sein des Gottes hervorhebende Anrede an Apollon zu verstehen. Mit diesem im delphischen E chiffrierten Gruß reagiere der Mensch auf einen Gruß des Apollon, dem ebenfalls am Tempel zu lesenden                                                              8

Die in der Forschung nicht seltene Formulierung „delphisches Epsilon“, mit dem sich Plutarch in diesem Dialog befasse, ist ein Anachronismus, der zudem das Verständnis der in De E apud Delphos außer von Ammonios noch von zwei weiteren Gesprächsteilnehmern vertretenen Auflösung des E in ein verbalisiertes ει erschwert.

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I. Einleitung

Spruch γνῶθι σαὐτόν, „Erkenne dich selbst!“. Auf die Vorstellung dieses Lösungsvorschlages lässt Ammonios eine fulminante Argumentation folgen, die in klarer Dreiteilung zunächst das grüßende γνῶθι σαὐτόν des Apollon als die Aufforderung an den Menschen deutet, sich seines minderwertigen ontologischen Status als eines in jeder Hinsicht nichtseienden Wesens im ewigen Fluss des Werdens und Vergehens bewusst zu werden, dann das jeder Veränderung enthobene Sein des Gottes erklärt und schließlich das Verhältnis der so radikal getrennten Sphären, der des Werdens und Vergehens auf der menschlichen Seite und der des reinen Seins auf der göttlichen Seite diskutiert, jedoch auf der diametralen Verschiedenheit zwischen Mensch und Gott und der prinzipiellen Trennung beider Sphären auf das Entschiedenste beharrt. Ammonios hat damit das letzte Wort des Dialoges, der mit seiner Rede abrupt endet. Aus der Fülle an Forschungsliteratur ergibt sich ein recht homogenes Gesamtbild des Gehaltes von De E apud Delphos und seiner Einordnung in Plutarchs philosophisches Denken, sein literarisches Schaffen und seine religiöse Vorstellungswelt: Es herrscht – von wenigen zurückhaltenderen Stimmen abgesehen – die communis opinio, dass jene letzte Rede von De E apud Delphos nicht nur den bereits durch ihre Situierung am Schluss markierten dramatischen Höhepunkt des Dialoges darstelle, sondern darüber hinaus auch die in den Augen Plutarchs richtige Erklärung des E enthalte, da ein mit platonischen philosophischen Anschauungen argumentierender Lösungsvorschlag nichts anderes als die Überzeugungen des bekennenden Platonikers Plutarch enthalten könne. Die bis heute dominierende Sicht auf den Dialog hat bereits HIRZEL formuliert: Alle Ammonios voraufgehenden Versuche, das Geheimnis des E zu ergründen, würden von diesem „mit einer gewissen Geringschätzung zurückgewiesen“9, während sich in Ammonios selbst „das Ideal erfüllt, das Plutarch damals erstrebte“, worunter „die Verbindung der delphischen Theologie mit der akademischen Philosophie“ zu verstehen sei.10 Diese Lesart des Dialoges kann sich mit vermeintlich gutem                                                              9 HIRZEL (1895) 200f. mit Berufung vor allem auf Ammonios’ kritische Überschau auf alle vor ihm geleisteten Erklärungen De E 17, 391E–392A. 10 HIRZEL (1895) 201. HIRZEL sieht in der Auseinandersetzung um die Bedeutung des E vor allem einen Wettkampf der Philosophenschulen, den Plutarch zu Gunsten der Akademie entschieden wissen wollte (ibid.): „Ammonios ist es, der auf den Philosophen im Gotte weist wie es sich ausser in den Beinamen namentlich in den Problemen ankündigt, durch die er die Forschungslust der Menschen reizt; er ist es, der mit den Mitteln der akademischen Philosophie eine würdigere Lösung des räthselhaften Εἰ findet als die concurrirenden Pythagoreer und Stoiker.“ Ganz auf Ammonios als Sprachrohr Plutarchs ausgerichtet sieht die Schrift auch MORESCHINI (1997) 12: „[…] il dialogo è dominato dalla figura di Ammonio, il quale fornisce la vera soluzione del problema a cui si è accennato, cioè che cosa significasse la lettera „E“. Ora, Ammonio, che è introdotto da Plutarco a

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Recht auf die Ausführungen von Ammonios’ Vorrednern berufen, die, von den ersten beiden Beiträgen abgesehen, welche das E einerseits historischanekdotisch, andererseits aus bestimmten Praktiken des delphischen Orakelkultes erklären, ebenfalls aus einer klaren philosophischen Schulposition heraus argumentieren: Theon, der dritte Redner, deutet das E als die Konjunktion εἰ („wenn“) und stellt in seiner Argumentation enge Verbindungen zwischen Apollon und der Dialektik der Stoa her, ‚Plutarch‘, der an vorletzter Stelle redet und das E als das Zeichen für die Zahl Fünf erklärt, rekurriert auf philosophische Vorstellungen, die sich tendenziell mit den Lehren der Pythagoreer assoziieren lassen. Da Plutarch in seinen Schriften regelmäßig ein mindestens kritisches, häufig jedoch schroff ablehnendes Verhältnis zur Stoa und ihren Lehren bekundet, besonders in den polemischen Traktaten De Stoicorum repugnantiis und De communibus notitiis, aber auch in den beiden weiteren ‚Pythischen Dialogen‘, De Pythiae oraculis und De defectu oraculorum nicht an Kritik spart, könne die Rede des Theon keine Lösung enthalten, die den Ansichten Plutarchs entspreche.11 Die Rede der Dialogfigur ‚Plutarch‘ wiederum scheide deshalb als Kandidatin für die richtige Lösung des E aus, da sie einerseits ein stoisches Philosophem enthält, das Ammonios in seiner folgenden Rede aus platonischer Perspektive vehement zu kritisieren scheint,12 andererseits vom Autor selbst mit einer Art Warnung an den Leser eingeleitet wird, die Rede nicht zu ernst zu nehmen: Sie sei ein Dokument seiner uneingeschränkten jugendlichen Begeisterung für die Mathematik, die er jedoch recht bald gegen die „akademische“ Maxime μηδὲν ἄγαν, „Nichts im Übermaß!“, eingetauscht habe. Entsprechend scheint der mathematische Lösungsvorschlag des jungen ‚Plutarch‘ nicht die Ansichten des gereiften Autors wiederzugeben, wohl aber die Rede des Ammonios, die mit den philosophischen Mitteln der Akademie,                                                             

parlare per ultimo, in una sorta di klimax, presenta una spiegazione che lo scrittore considera l’unica valida […].“ Vgl. auch SFAMENI GASPARRO (1996) 161 „[…] Ammonio, il maestro cui nello stesso dialogo è affidato il ruolo di portavoce dell’autore medesimo nell’enunciazione di quella che egli ritiene la corretta soluzione dell’enigma posto dalla lettera E […].“ JONES (1916) 9 „The explanation which was finally proposed by Ammonios is clearly the one preferred by Plutarch.“ FERRARI (1995) 51 „In base all’interpretazione proposta, la concezione messa in bocca ad Ammonio costituisce il manifesto della filosofia plutarchea.“ VΑN DER STOCKT (2000) 112 „The question of the princeps dialogi also can only be decided in the light of the tendency of the whole dialogue and the contribution to it of the various interlocutors. A clear example is to be found in De E: it is not the ‘younger Plutarch’ but, as the analysis of the dialogue points out, Ammonius who, as princeps, is the author’s mouthpiece.“ 11 Vgl. dazu die Spezialstudien zu Plutarchs Bewertung der Philosophie der Stoa im Allgemeinen und in den ‚Pythischen Dialogen‘ im Besonderen von BABUT (1969), besonders 148–157; BABUT (1993); OPSOMER (2006). 12 Es handelt sich um die stoische Theorie der Ekpyrosis.

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I. Einleitung

im konkreten Falle der Ontologie Platons, zu einer Lösung des Problems im Sinne des Autors gelangen müsse. So scheint die Ammoniosrede als der Höhe- und Schlusspunkt der äußeren Dramaturgie des Dialoges zugleich dessen dogmatischer Fluchtpunkt zu sein, eine platonische Deutung des delphischen E. Allen vor dieser Rede präsentierten Beiträgen kommt mithin – und die Forschung hat es nicht an Versuchen fehlen lassen, dies nachzuweisen – die Funktion zu, Beispiele für ein unreifes, falsches oder obsoletes Denken über die Bedeutung des delphischen E und ein entsprechendes Verhaftetsein ihrer Sprecher in falschen philosophischen Vorstellungen abzugeben, vor deren Hintergrund sich die abschließende Ammoniosrede in ihrer platonischen Sicht auf das Problem umso strahlender abhebt. Doch nicht nur der platonische Gehalt von Ammonios’ Lösungsansatz hat die Forschung dazu bewogen, die einzig relevante philosophische Aussage Plutarchs in De E apud Delphos in jener letzten Rede des Dialogs zu suchen, sondern auch und gerade philosophiehistorisch-biographische Erkenntnisinteressen an Plutarchs eigenem philosophischen Werdegang und an seiner Stellung im sogenannten Mittelplatonismus. Für derartige Forschungen stellt die Ammoniosrede in De E apud Delphos einem Schlüsseltext dar, denn der historische Ammonios gilt gemeinhin als Lehrer Plutarchs und maßgebliche Autorität für die Entwicklung seines Platonismus.13 Da nun De E apud Delphos nicht nur der einzige Text in Plutarchs Œuvre ist, in dem Ammonios sich ausführlich über orthodoxe platonische Vorstellungen äußert, sondern auch wiederholt darauf hingewiesen wurde, dass Ammonios’ Äußerungen angesichts ihrer besonderen ontologischen Radikalität zumindest eine exzentrische Position in Plutarchs Werk einnehmen, schien der Schluss gerechtfertigt, die tendenzielle Exzentrizität der Ammoniosrede als Indiz dafür zu werten, dass Plutarch an dieser einen Stelle bestimmte individuelle Züge der Lehren des historischen Ammonios dokumentiert habe. Unter Annahme dieser Voraussetzung hat sich eine regelrechte Ammoniosphilologie entwickelt, in der aus den Aussagen der Dialogfigur in De E apud Delphos philosophiegeschichtlich verwertbare Zeugnisse für die Stellung des Ammonios in der Entwicklung des Platonismus in Plutarchs Vorgängergeneration herausgelesen werden.14 Diese so rekonstruierten Zeugnisse von                                                              13 Besonders weit in dem Versuch, die Ammoniosrede für Ammonios und Plutarch biographisch auszuwerten, geht die Studie von BRENK (2005). 14 Vgl. dazu die Studien von JONES (1966); DILLON (1996); GLUCKER (1978); DILLON (1986); DONINI (1986); OPSOMER (1998); DILLON (2002); DONINI (2002); BRENK (2005); HIRSCH-LUIPOLD (2005); OPSOMER (2007). OPSOMER (2009) bietet die bislang ausführlichste Aufarbeitung der Zeugnisse über Ammonios in Plutarchs Werk, die sich allerdings durchweg der methodischen Problematik bewusst ist, aus den Auftritten der Dialogfigur ‚Ammonios‘ in Plutarchs Werk Rückschlüsse auf die Lehren des historischen Ammonios zu ziehen; vgl. etwa das Fazit zur Analyse der Ammoniosrede in De E apud

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Ammonios’ Lehren sollen wiederum indirekt auch die platonischen Traditionslinien verdeutlichen, in denen Plutarch selbst, durch die Vermittlung des Ammonios, zu verorten ist. Angesichts des Mangels an philosophiegeschichtlich dokumentierbaren platonischen Lehrautoritäten im Zeitraum zwischen dem Ende des offiziellen Lehrbetriebs in der von Platon gegründeten Akademie in Athen nach der Zerstörung des Schulgeländes im Jahre 86 v. Chr. durch Sulla und dem Auftreten Plutarchs, der sich wie selbstverständlich als Teil der platonischakademischen Tradition begreift, ist es nachvollziehbar, dass die Ausführungen des Ammonios in De E apud Delphos als philosophiehistorisch verwertbares Material aufgegriffen wurden und Ammonios einen Eintrag in die Philosophiegeschichte des Mittelplatonismus gesichert haben.15 So wird der Vorzug, den die Ammoniosrede gegenüber den ihr vorausgehenden Beiträgen in De E apud Delphos als eigentliche philosophische Aussage Plutarchs genießt, nicht nur mit ihrer den Beiträgen der anderen Philosophenschulen überlegenen platonischen Ausrichtung gerechtfertigt, sondern überdies noch philosophiehistorisch-biographisch begründet, insofern den philosophischen Aussagen des Ammonios direkter Quellenwert für die Lehren des historischen Lehrers Plutarchs beigemessen werden, der seinem Lehrer mit der Ammoniosrede eine Art Denkmal gesetzt hätte, mit dessen doktrinalen Details er sich weitestgehend identifiziert. Schließlich hat noch ein dritter Aspekt die Ammoniosrede nicht nur im Verhältnis zu den übrigen Beiträgen in De E apud Delphos sondern auch im Gesamtwerk Plutarchs, – bisweilen sogar in der gesamten griechischen Philosophie – privilegiert, denn sie gilt als äußerst bedeutsames Dokument von Plutarchs persönlicher philosophischer Religiosität. Der delphische Apollon, über den alle Redner in De E apud Delphos bestimmte Aussagen machen, die die Weihung eines E in der von ihnen jeweils vertretenen Bedeutung plausibilisieren soll, erscheint in Deutungsansätzen, die in der Ammoniosrede ein Zeugnis persönlicher Religiosität Plutarchs erkennen wollen, als ein synthetisches Wesen, in dem der Kultgott der delphischen Tradition mit einer in platonischer Terminologie definierten göttlichen Entität fusioniert ist, die in sich wesentliche ontologische Aspekte integriert, die in der klassisch-platonischen Tradition den transzendenten Ideen zugeschrieben werden.16 Da Plutarch sozusagen in Personalunion zugleich Priester des                                                             

Delphos (172): „Do we know whether Ammonius’ words in De E present a reliable picture of the views of M. Annius Ammonius? We do not. In fact it is very unlikely that his words in the dialogue reflect the views of the historical person in every detail.“ 15 DILLON (1996) 189–192 widmet Ammonios einen eigenen Abschnitt. 16 Vgl. bereits VOLKMANN (1869) 70, der aus dem Zitat von De E 20, 393A7–B2 ein vorgängiges platonisches Gotteskonzept Plutarchs herausliest, das dieser in die Schrift De E apud Delphos eingebracht habe: „Von diesem ontologischen Gottesbegriff aus wurde denn auch von Plutarch das räthselhafte E über dem Delphischen Tempel als „du bist“

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I. Einleitung

delphischen Apollon und platonischer Philosoph war, ist die These weit verbreitet, dass Plutarch in der Ammoniosrede eine individualreligiös-priesterliche, stark affektiv aufgeladene Verehrung des Apollon philosophisch in eine platonisch-ontologische Deutung des Gottes transformiert habe, in der Apollon als höchstes oder gar einziges transzendentes Prinzip erscheint, dem zusätzlich Plutarchs tiefstes religiöses Empfinden gelten soll.17                                                             

gedeutet […].“ OAKESMITH (1902) 66 „In the first-named tract [sc. De E apud Delphos, Anm. d. Verf.] the ostensible subjects of discussion are the nature and attributes of Apollo; but it soon becomes quite clear that the argument is concerned with the nature of Deity itself rather than with the functions of the traditional god.“ JONES (1916) 10f. „God alone is true being; all other things hover between destruction and becoming. Being is the only predicate that befits God. Thus the letter E at Delphi is the address of the worshipper to God: Εἶ, Thou art.“ LATZARUS (1921) 95 „C’est du dieu de Delphes que Plutarque parle avec le plus de suite et de complaisance; et, dans les dialogues pythiques tout au moins, il ne semble pas le considérer comme différent du roi suprême.“ DEL RE (1949) 34f. „Come metafisico, egli [sc. Plutarco, Anm. d. Verf.] parla di Dio ispirandosi sostanzialmente al pensiero platonico, ma dando al concetto stesso delle determinazioni che non si trovano in Platone. Questi aveva contrapposto al mondo temporale, considerato come poco più che un non essere, l’eterno Intelligibile, in cui faceva consistere l’essere vero, l’ὄντως ὄν. Plutarco, confermando la medesima svalutazione delle cose transeunti, qualifica (per bocca di Ammonio, in un passo notevolissimo del De E delphico) come Essere vero la Divinità, solo alla quale il predicato dell’εἶναι si può attribuire nella sua pienezza […].“ DILLON (1996) 199 „Plutarch’s view of God – that is, of the Supreme Being – is just what one expects of a Platonist: God is Real Being (to ontôs on), eternal, unchanging, non-composite, uncontaminated by Matter (all these attributes derived from Ammonius’ speech in De E, 392Eff., which may, I think, reasonably be taken also to represent Plutarch’s views).“ Vgl. auch DILLON (1986) 215. DEL CORNO (1983) 49 „Ma cosa significava questo simbolo, a cui s’attribuiva somma venerazione e rilevanza? Plutarco non tratta la questione come una curiosità erudita, ma come un indizio per definire l’essenza e la natura del dio delfico, o piuttosto della divinità in assoluto.“ MORESCHINI (1997) 8 „La natura del dio, infatti, secondo Plutarco è manifestata dalla „E“ che si trova nel pronao del tempio di Apollo a Delphi, e a tale questione, chi sia il dio, è dedicata, appunto, la discussione del dialogo.“ HIRSCH-LUIPOLD (2005) 142 [Hervorhebung im Original] „In der Spur dieser Tradition [sc. der mittelplatonischen Philosophie, Anm. d. Verf.] entfaltet Plutarch die Einheit Gottes, den er verschiedentlich mit dem göttlichen Nous oder Logos gleichsetzt, zunächst einmal philosophisch. Dies geschieht am deutlichsten in seiner Schrift über die Bedeutung des rätselhaften Epsilon-Zeichen [sic] über dem Apollon-Tempel in Delphi (De E apud Delphos).“ Es folgt eine entsprechende Exegese der Thematik der Einheit Gottes anhand des Abschnittes De E 20, 393A7–C10. 17 Vgl. z.B. OAKESMITH (1902) 77 „It must not be overlooked that Plutarch was long a priest of the Delphian Apollo, and that the duties of this position responded to some internal need of his soul, and were not regarded by him as a merely official dignity, is proved by the manner in which he alludes to the subject.“ Ibid., 51 „It is no unfitting circumstance in a priest of Apollo that his noblest utterances respecting the nature of God should be contained in discources connected more or less with the temples and traditions of the god.“ DECHARME (1904) 414 „Et il [sc. Plutarque, Anm. d. Verf.] a pour ce dieu [sc. Apollon] une telle adoration qu’il s’est fait une joie et une gloire de le servir, en devenant son prêtre.“

1. Textüberblick und Forschungslage

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Besondere Aufmerksamkeit haben in diesem Zusammenhang Formulierungen der Ammoniosrede auf sich gezogen, die Apollon als „einen“ charakterisieren, und so hat sich seit dem Kirchenvater Eusebius, der in seiner Praeparatio evangelica einen langen Abschnitt aus der Ammoniosrede beifällig zitiert,18 eine Interpretationstradition gebildet, die Ammonios’ Ausführungen im Lichte eines tendenziell jüdisch-christlich geprägten, monotheistischen Gottesbildes und entsprechender Vorstellungen von Religiosität als persönliches Zeugnis für Plutarchs religiösen Monotheismus in der Sprache Platons deutet. Dabei fehlt es nicht an Untersuchungen zu Plutarchs Religiosität, in deren Rahmen neben anderen Passagen aus Plutarchs Werk auch Aussagen der Ammoniosrede als Zeugnisse für eine geistes- und religionsgeschichtlich singuläre Parallelentwicklung zwischen Plutarchs Denken und den Vorstellungen des zeitgenössisch aufkommenden Christentums19 interpretiert werden oder gar eine indirekte Inspiration Plutarchs durch die Schriften des platonisch-stoisch orientierten Juden Philon von Alexandria insinuiert wird, zu deren Kenntnis Plutarch durch seinen Lehrer Ammonios gelangt sein soll.20 In der Verwendung der untrennbar mit jüdisch-christlichen Vorstellungen verbundenen Bezeichnung „Gott“ für den Apollon von De E apud Delphos, die sich nachgerade systematisch durch alle der zahlreichen Übersetzungen des Textes in moderne Sprachen zieht und in der Forschungsliteratur unausgesetzt und in der Regel vollkommen unreflektiert verwendet oder bisweilen sogar dekontextualisierend und gegen jede Textevidenz zur maßgeblichen theologisch-philosophischen Kategorie für ein rechtes Verständnis von De E apud Delphos und darüberhinaus für Plutarchs religionsphilosophisches Gesamtwerk erhoben                                                              LATZARUS (1921) 44 „Une foi vive et ardente comme celle du prêtre de Delphes pouvait emprunter des arguments à plusieurs sectes diverses.“ FELDMEIER (1998) 414 „Die enge Verbindung mit dem delphischen Priesteramt prägt auch sein Werk, am auffälligsten in den Πυθικοὶ λόγοι, die – ausgehend von delphischen Fragen – Grundsätzliches zum Verhältnis Gott-Wirklichkeit erörtern.“ SIRINELLI (2000) 225 „À coup sûr l’accession de Plutarque à la prêtrise d’Apollon donne un élan nouveau à cette métamorphose par laquelle le professeur de philosophie se transforme en un authentique penseur.“ FRAZIER (2005) 111 „Dazu trägt die religiöse Praxis bei, was [sic] Plutarch als delphischer Priester in besonderer Weise erfuhr. Deswegen hielt ich es für angemessen, mich auf das Ergebnis dieser persönlichen Erfahrung zu konzentrieren, die im Spätwerk besonders zum Ausdruck kommt.“ BROUT (2006) 118 spricht von einer „pensée du prêtre-philosophe“, die dem Werk Plutarchs zugrundeliege. 18 Vgl. Eus., Praep. Ev. 11, 11 = De E 17, 391F (οὔτ᾿ οὖν ἀριθμὸν κτλ.) bis 20, 393B (… εἰς γένεσιν ἐξίσταται τοῦ μὴ ὄντος). 19 Am umfangreichsten werden die vermeintlichen Parallelen von VALGIGLIO (1988) aufgearbeitet. 20 Diese These, die auf SCHROETER (1911) zurückgeht, hat HIRSCH-LUIPOLD (2005) – ohne SCHROETER zu erwähnen – in neuerer Zeit modifiziert und ausgebaut.

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I. Einleitung

wird,21 ist eine – sich häufig wohl ihres eigenen kulturhistorischen Standpunktes unzureichend bewusste – voreilig positive, wenn nicht offen beifällige Wertung der Ammoniosrede gängig geworden, die sich auf eine im                                                              21 Vgl. HIRSCH-LUIPOLD (2005) 158 über den Apollon des Proömiums: „Gott kommt auf die Menschen zu um sie [sic] Menschen auf sich selbst hinzuführen: Der φιλόσοφος Ἀπόλλων (De E 385B) gibt über das Orakel in Delphi Rätsel auf, um im Menschen den philosophischen Eros anzustacheln, nach ihm zu suchen.“ Da sich solche soteriologisch konnotierten Formulierungen in mehrfacher Hinsicht nicht am Text verifizieren lassen („über das Orakel“, „philosophischer Eros“, „nach ihm zu suchen“) legt sich grundsätzlich eine kritische Sicht auf solcherart religiös inspirierte Interpretationen nahe. Philologisch nicht nachzuvollziehen ist ein Versuch desselben Beitrages, eine Verbindung zwischen Philon, Plutarchs De E apud Delphos und De Iside et Osiride mit dem Ziel herzustellen, Plutarch zum Anhänger eines einen, seienden Gottes jüdisch-christlicher Prägung zu machen. Einleitend schreibt HIRSCH-LUIPOLD (ibid., 153): „Für Philon ist dieser Eine der Gott Israels, dessen Name „der Seiende“ ist: ἐγώ εἰμι ὁ ὤν (so die Wiedergabe des Gottesnamens Ex. 3,14 in der Septuaginta). Man fühlt sich an die Anrede εἶ erinnert, mit der der Mensch nach Plutarchs ägyptischem Lehrer Ammonios dem Göttlichen gegenübertreten soll. Plutarch kennt diesen einen Gott unter verschiedenen Götternamen: Er spricht ihn bevorzugt als Apollon an, nennt ihn aber auch Zeus oder Eros, ja sogar Osiris; es ist das eine Göttliche, das sich in vielerlei Gestalt auch in anderen religiösen Traditionen zeigt.“ Zum Beleg seiner These aus De Iside et Osiride führt HIRSCH-LUIPOLD dann ohne Zitat des griechischen Originaltextes eine nach ibid., Anm. 60 „Übers. leicht verändert nach H. Görgemanns […]“ von De Iside 67, 377F an (die keineswegs „leichten“ Veränderungen gegenüber GÖRGEMANNS (2003) hier kursiviert vom Verf.): „Es gibt keine unterschiedlichen Götter bei den unterschiedlichen Völkern, keine Barbaren- und Hellenengötter, keine südlichen und nördlichen Götter, sondern wie Sonne und Mond, Himmel, Erde und Meer allen gemeinsam sind, aber von den einen so, von anderen anders genannt werden, so ist es ein Logos, der dies alles ordnet, eine einzige Vorsehung, die darüber waltet.“ Demgegenüber GÖRGEMANNS’ Originalübersetzung: „Es sind nicht die einen Götter bei diesen, die andern bei jenem Volk, keine Barbaren- und Hellenengötter, keine südlichen und nördlichen; sondern wie Sonne und Mond, Himmel, Erde und Meer allen gemeinsam sind, aber von den einen so, von den anderen anders genannt werden, so ist es ein einziger Logos, der dies alles ordnet, eine einzige Vorsehung, die darüber waltet […].“ Die Richtigkeit von GÖRGEMANNSʼ Übersetzung zeigt ein Blick auf das griechische Original, De Iside 67, 377F: ... οὐχ ἑτέρους παρ᾿ ἑτέροις οὐδὲ βαρβάρους καὶ Ἕλληνας οὐδὲ νοτίους καὶ βορείους· ἀλλ᾿ ὥσπερ ἥλιος καὶ σελήνη καὶ οὐρανὸς καὶ γῆ καὶ θάλασσα κοινὰ πᾶσιν, ὀνομάζεται δ᾿ ἄλλως ὑπ᾿ ἄλλων, οὕτως ἑνὸς λόγου τοῦ πάντα κοσμοῦντος καὶ μιᾶς προνοίας ἐπιτροπευούσης … . GÖRGEMANNS gibt in vollkommender Übereinstimmung mit dem griechischen Text Plutarchs Gedanken wieder, dass die Menschen aller Kulturen dieselben Götter (Plural!) kennen, ihnen aber unterschiedliche Namen geben. Sein richtiges Verständnis zeigt sich daran, wie er die Worte des griechischen Originals übersetzt, die der vorliegenden Stelle unmittelbar vorausgehen (Im Griechischen handelt es sich um einen Satz, GÖRGEMANNS bildet zwei Sätze): (De Iside 67, 377E) ἀπὸ τούτων δὲ τοὺς χρωμένους αὐτοῖς καὶ δωρουμένους ἡμῖν καὶ παρέχοντας ἀένναα καὶ διαρκῆ θεοὺς ἐνομίσαμεν, κτλ. G ÖRGEMANNS: „Vielmehr gelangen wir erst von ihnen aus zu der Vorstellung von Wesen, welche darüber verfügen und sie uns beständig fort und fort schenken und gewähren: den Göttern.“ Was Plutarch hier sagen will, ist Folgendes: Man darf die Gaben der Götter nicht mit ihnen selbst verwechseln, sondern es sind die Gaben der Götter,

1. Textüberblick und Forschungslage

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Vergleich zu den übrigen Beiträgen in De E apud Delphos vermeintlich größere Anschlussfähigkeit bestimmter dort vermuteter religiöser Konzepte gründet, während die übrigen Lösungsansätze des Dialogs religiös orientierte Interpreten eher befremden.

2. Kritik und Desiderate der Forschung Fasst man die skizzierte Forschungslage zu De E apud Delphos zusammen, so ergibt sich ein einheitliches Bild von Gehalt und Bedeutung des Textes. Die Rede des Ammonios wird allgemein als derjenige Lösungsvorschlag für die Bedeutung des delphischen E angesehen, der nach dem Willen des Autors Plutarch nicht nur die richtige Lösung für das in Rede stehende Problem enthält, sondern zugleich mit der richtigen Lösung die Überlegenheit der platonischen Philosophie gegenüber den vorangehenden – zumal der stoischen und der pythagoreisierenden – Lösungen demonstriert, ein mögliches Dokument für die platonischen Lehren von Plutarchs Lehrer Ammonios enthält und überdies ein authentisches Zeugnis der Religiosität Plutarchs darstellt, in dem der Priester des delphischen Apollon seinen Gott mit dem als oberstes und singuläres Prinzip der Realität verstandenen platonischen Sein identifiziert. Diese Einmütigkeit der Forschung in ihrer                                                              die den Menschen zum Glauben an die Götter geführt haben. Kurz zuvor hatte Plutarch nämlich die Lehre der Stoiker scharf zurückgewiesen, die die Götter Dionysos, Hephaistos, Persephone und Demeter mit ihren Gaben identifizierten und so „die göttlichen Mächte unversehens zu Winden und Gewässern, zum Säen und Pflügen, zu Vorgängen der Erde und Umschlägen der Witterung [zu] degradieren und auf[zu]lösen.“ (De Iside 66, 377D, Übersetzung GÖRGEMANNS, ohne Veränderungen). HIRSCH-LUIPOLD dekontextualisiert den Passus, indem er den ersten Teil des griechischen Satzes, der explizit „Götter“ nennt, beiseite lässt, und verändert den Resttext: Bei ihm leugnet Plutarch zunächst die Existenz unterschiedlicher Götter bei den einzelnen Völkern (dem dient der gegenüber GÖRGEMANNS zusätzliche Einschub Götter nach nördlichen) und setzt an die Stelle dieser in ihrer Existenz bestrittenen Götter etwas, was HIRSCH-LUIPOLD mit der Formulierung „ein Logos“ bezeichnet (gegenüber GÖRGEMANNSʼ „ein einziger Logos“). Dadurch soll Plutarch zusätzlich zu einer Verwerfung des Polytheismus noch ein Bekenntnis zum Monotheismus (der „Logos“ steht bei H IRSCH-LUIPOLD öfters für „Gott“) abgegeben haben. GÖRGEMANNS’ „ein einziger“ Logos hat freilich durchaus seine Berechtigung, begründet Plutarch doch mit diesem Begriff den Umstand, dass alle Völker die gleichen Götter verehren, während HIRSCH-LUIPOLDs „ein Logos“ die vielen Götter durch einen Gott, den alle Menschen verehren, ersetzen soll. Auch BRENK (2012) 79 glaubt, in diesem Passus aus De Iside et Osiride eine monotheistische Tendenz erkennen zu können: „The importance of this passage is that while working on a religious level Plutarch reduces the divine to one God, identified with the Good and Being, and demotes the traditional gods to subordinate powers. The traditional gods, then, are only servants of a God of a completely different nature, much as the angels (or evil spirits) are understood within traditional Judaism and Christianity.“

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I. Einleitung

Konzentration auf die Ammoniosrede enthält allerdings ein mehrfaches Paradox, das einerseits die formale Struktur des Textes betrifft, andererseits die Ergebnisse und die Methodik der bisherigen Forschung. So ist es nicht recht zu einzusehen, weshalb Plutarch De E apud Delphos als Dialog konzipiert hat, wenn er in den ersten vier der fünf Lösungsvorschläge mit insgesamt gut 14 Teubnerseiten falschen und in seinen Augen abzulehnenden Ansichten über das E doppelt so viel Raum gegeben haben sollte, wie der Ammoniosrede mit ihren sieben Teubnerseiten, zumal die der Ammoniosrede vorangehenden Lösungsversuche inhaltlich untereinander nur locker und, von einer Ausnahme abgesehen,22 mit der Ammoniosrede überhaupt nicht verknüpft sind. Es lässt sich somit weder – pace BABUT – von einem regelrechten Gesprächsfortschritt reden23 noch setzt sich Ammonios                                                              22

Vgl. oben, S. 5 mit Anm. 12. Für eine solche Deutung der Dialogstruktur ist, in der Nachfolge von HIRZEL (vgl. oben, S. 4, Anm. 10) BABUT (1992) eingetreten, der das von ihm zu Recht gesehene rein quantitative Missverhältnis zwischen der Rede des Ammonios und den übrigen Beiträgen zum Problem des E mit der für ihn unbestreitbaren Tatsache in Einklang zu bringen versucht, dass Ammonios als Sprachrohr Plutarchs dessen eigentliche Meinung vertrete; beide Aspekte, der kompositorische wie der inhaltliche, vereinigen sich für BABUT in der Anlage des Textes als einer linearen Steigerung der Reden, die im Beitrag des Ammonios ihren Abschluss findet (ibid. 194): „Car la simple constatation du déséquilibre quantitatif qui existe entre les quatre interventions antérieures à celle d’Ammonios suffit à montrer qu’il serait erroné de les mettre sur le même plan en leur déniant également toute valeur positive. On est donc amené à supposer qu’elles seraient plutôt disposées dans un ordre ascendant, comme on en a des exemples dans d’autres œuvres de l’auteur.“ BABUT verweist auf De Iside et Osiride (ibid., Anm. 28), ein Werk, das ebenfalls (und noch dazu aus dem Mund Plutarchs selbst, nicht in dialogischer Brechung!) eine Abfolge von immer komplexeren Erklärungsansätzen für den Mythos von Isis und Osiris bietet. Allerdings bleibt der eigentliche Wert der übrigen Reden in De E apud Delphos bei BABUT immer noch gering: Ihre Funktion im Dialog reduziert sich darauf, dass die jeweils nachfolgende die Mängel ihrer Vorgängerin aufzeigt, ohne dabei selbst einen substantiellen Beitrag zur Lösung der Frage leisten zu können (ibid. 199f.): „[…] d’une part, il y a bien ici une hiérarchie entre les quatre premiers discours, puisque chacun marque un progrès sur le précédent; mais d’un autre côté, chacun révèle aussi l’inadéquation de ceux qui le précèdent [sic], et aucun, pas même celui de Plutarque, ne peut prétendre apporter une réponse valable à la question qui fait l’objet de la discussion.“ Vgl. zur Theorie eines Gesprächsfortschritts auch DEL CORNO (1983) 49 „Nel dialogo l’interpretazione si sposta gradualmente, ma con una consapevolezza che è segno di elaborazione artistica ad altissimo livello, dall’esegesi del segno all’esegesi del dio.“ SFAMENI GASPARRO (1996) 176 „Procedendo alla maniera consueta, con successive proposizioni che gradualmente conducono all’enunciazione della tesi definitiva o comunque piú verisimile e meglio fondata razionalmente […].“; etwas vorsichtiger FERRARI (1995) 31 „È stata avanzata anche l’ipotesi che i dialoghi plutarchei fossero composti in base al principio della cosiddetta „sermonis progressio“, secondo la quale la tesi vera è l’ultima ad essere sostenuta. Questa posizione mi sembra accettabile, e tuttavia, come vedremo tra breve, va meglio calibrata, dal momento che l’ultimo discorso spesso riprende e sviluppa concezioni già emerse nel corso degli altri interventi. Non si 23

2. Kritik und Desiderate der Forschung

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argumentativ mit seinen Vorrednern insofern auseinander, dass deren Beiträge als Diskussionsgrundlage eine wesentliche Voraussetzung für seine Ausführungen bildeten. Der Text, den die Forschung in der Regel interpretiert, ist mithin ein Traktat aus dem Munde des Ammonios, dem scheinbar irrelevante Fehlleistungen der übrigen Dialogteilnehmer vorausgehen. Dabei steht die traditionelle Fixierung der Forschung auf die Ammoniosrede als Gefäß der eigenen Meinung des Autors über das delphische E sowie die reziproke Abwertung der Beiträge der übrigen Dialogteilnehmer nicht nur in einem paradoxen Gegensatz zu der von Plutarch gewählten Textgattung des philosophischen Dialoges, von der allgemein eine nicht nur negative Relevanz auch solcher Redebeiträge erwartet wird, die nicht den Gesprächshöhepunkt oder die vermeintliche philosophische Kernaussage bilden, sondern auch zu der so umfangreichen wie komplexen Eingangssektion des Textes, die in ihren drei Abschnitten, einer Widmung an Sarapion, einem extradialogischen Proömium des Autors sowie den intradialogischen Einleitungsworten des Ammonios, gerade nicht, worauf zuerst BABUT hingewiesen hat, die auktoriale Aufklärung des Lesers über die Bedeutung des E in Aussicht stellt. Vielmehr charakterisiert Plutarch zunächst gegenüber Sarapion De E apud Delphos und die übrigen ‚Pythischen Dialoge‘ als philosophisch-literarische Gesamtkunstwerke, hebt dann in der extradialogischen Einleitung vor allem auf die besondere Schwierigkeit einer Auseinandersetzung mit dem Problem des delphischen E ab und betont schließlich, nach der Verlegung einer ausführlichen Diskussion des Themas in eine Erzählung aus ferner Vergangenheit, in der Einführungsrede des Ammonios das besondere philosophische Potenzial des E als Gesprächsgegenstand, insofern es vor allem verschiedenste Lösungsversuche anzuregen im Stande ist, zu denen wohlgemerkt Ammonios selbst seine Dialogpartner ausdrücklich ermuntert.24                                                              può invece parlare di progressivo avvicinamento alla verità dei discorsi pronunciati dai vari personaggi, perché in più di un’occasione Plutarco fa seguire a un intervento contenente dottrine a lui vicine, un altro che presenta teorie ai suoi occhi inammissibili.“ Im Falle von De E apud Delphos wieder ganz vom Gesprächsfortschritt im Sinne von HIRZEL und BABUT überzeugt ist BONAZZI (2008) 205: „La sequenza dei discorsi, sempre più articolati e approfonditi, mostra chiaramente la superiorità dell’ultimo discorso, quello di Ammonio.“ 24 BABUT (1992) ist eine wertvolle Anregung für die Untersuchung des Verhältnisses von Struktur und Inhalt von De E apud Delphos zu verdanken, wenn er den ersten Auftritt des Ammonios im 2. Kapitel der Schrift als hermeneutischen Schlüssel für den Gesamttext deutet: Wenn Ammonios dort das Wesen des Apollon dahingehend erläutert, der Gott, der „nicht weniger ein Seher als ein Philosoph“ (De E 2, 385B … οὐχ ἧττον ὁ θεὸς φιλόσοφος ἢ μάντις) sei, wolle durch die Rätselhaftigkeit seiner delphischen Kultumgebung die Menschen zur philosophischen Reflexion bewegen, so sei dies ein Hinweis darauf, dass alle Beiträge über die Bedeutung des E vor allem ein Ausdruck für derartige, von Apollon geliebte Reflexionen darstellen sollen, mithin das Wesentliche in der Abfolge der Reden

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I. Einleitung

Dass mithin Plutarch als der Autor nicht nur der Ammoniosrede, sondern aller Lösungsansätze im folgenden Dialog die philosophische Leistung des Textes auf den Beitrag des Ammonios reduziert haben sollte, ist nicht nur im Hinblick auf die von ihm selbst geschaffenen thematischen Gesprächsvoraussetzungen anzuzweifeln, sondern auch aus dem Grunde, dass Plutarch sich ja selbst in dem Gespräch als vorletzter Redner auftreten lässt, der sogar die quantitativ längste Rede des Textes hält25 und darüber hinaus noch durch einen nur zu diesem Zweck auftretenden weiteren Sprecher, Eustrophos, ausführlich vorgestellt wird. Auch wenn diese Einführung Plutarchs als eines zahlenbegeisterten jungen Mannes durch den Autor durchaus mit Ironie gezeichnet und durch einen auktorialen Kommentar als Produkt jugend                                                             der Fortschritt im Nachdenken sei, der jedoch nicht zwangsläufig auf eine endgültige Lösung des Problems führen müsse (ibid. 200): „Par là, l’auteur du De E semble bien nous donner en effet à penser que les diverses réponses qu’apporteront successivement les personnages du dialogue à la question posée doivent être regardées avant tout comme des exemples concrets de ces recherches et réflexions favorisées par Apollon. Plutarque nous avertit en quelque sorte d’avance de ne pas en attendre la solution définitive du problème examiné […].“ In letzter Konsequenz, so BABUT, treffe diese Einschätzung auch auf die Rede des Ammonios zu, die vor dem Hintergrund der Aussage Plutarchs im 1. Kapitel, dem extra dialogum situierten Proömium des Autors, zu lesen sei, Plutarch selbst sei einer Lösung der Frage nach dem E immer ausgewichen, habe sich also nicht im Stande gesehen, eine abschließende Bedeutung des Zeichens herauszufinden; entsprechend enthalte auch die Ammoniosrede nicht die Lösung, sie verweise vielmehr selbst auf die unüberbrückbare Distanz zwischen menschlichem Erkennen und göttlichem Sein, die eine letztgültige Deutung des E unmöglich mache (ibid. 201): „N’est-ce pas justement de fournir au dialogue sa conclusion logique, en expliquant que l’incapacité de l’homme à comprendre les choses divines vient de la distance incommensurable qui sépare la nature humaine, en tant que soumise au changement perpétuel du devenir, de la nature divine, seule immuablement enracinée dans l’Être? Le véritable sujet du dialogue serait alors d’opposer à la transcendance divine, symbolisée par l’E, les limites de la connaissance humaine, symbolisées par d’autres proclamations delphiques, comme les maximes „connais-toi toi-même“ et „rien de trop“ […].“ Der gesamte Dialog zeige mithin in seiner kunstvollen Anlage (ibid. 202) „concrètement les limites de cette recherche humaine de la vérité qui est pourtant impérativement prescrite par le dieu.“ 25 Mit 231 Zeilen auf 9 Teubnerseiten übertrifft die Rede ‚Plutarchs‘ schon rein quantitativ alle Reden vor ihm um das doppelte (111 Zeilen auf 4,5 Teubnerseiten) und stellt in dieser Hinsicht sogar diejenige des Ammonios (166 Zeilen auf 7 Teubnerseiten) in den Schatten. BABUT (1992) 197 wertet diesen Umstand als weiteren Beweis für sein Postulat eines ordre ascendant, der die Struktur von De E apud Delphos organisieren soll, konstatiert jedoch den größeren Umfang der Rede auch im Hinblick auf den abschließenden Beitrag des Ammonios kommentarlos: „Ensuite, le fait que l’auteur du De E a fait en sorte que les propos mis dans la bouche du personnage qui porte son nom l’emportent sur ceux de ses compagnons, quantitativement et qualitativement. Plutarque parle en effet deux fois plus longuement que les trois premiers orateurs réunis, et il occupe même le devant de la scène plus longtemps que la figure dominante du dialogue qu’est Ammonios.“

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lichen philosophischen Überschwanges der Figur charakterisiert ist, erscheint es doch nicht von vorneherein gerechtfertigt, diesem jugendlichen Selbstportrait des Autors und den Ausführungen des jungen ‚Plutarch‘ jegliche philosophische Relevanz absprechen zu wollen.26 Doch nicht nur die formale Struktur von De E apud Delphos als eines mehrstimmigen Dialoges steht zur allgemein verbreiteten Ansicht einer einseitigen Identifikation des Verfassers mit der Ammoniosrede in einem paradoxen Verhältnis, sondern auch Art und Umfang der bisher geleisteten philologischen Erklärung des Textes, im Besonderen diejenige der einzelnen Redebeiträge, scheint die Sicherheit der Interpreten, in der Ammoniosrede das Medium der persönlichen religiös-philosophischen Ansichten Plutarchs identifiziert zu haben, kaum zu rechtfertigen. So fällt auf, dass die Forschung einerseits viel gelehrten Fleiß darauf verwendet hat, in den ersten vier Reden von De E apud Delphos Gedanken ausfindig zu machen, die mit Plutarchs philosophischen oder religiösen Grundüberzeugungen deshalb unvereinbar seien, weil er sich in anderen Texten kritisch über gleiche oder ähnliche Vorstellungen geäußert hat; auf der anderen Seite konnten jedoch bei der Untersuchung der Ammoniosrede nur in recht bescheidenem Maße positive Belege dafür geliefert werden, dass Plutarch in seinem sonstigen Werk gleiche oder ähnliche philosophische Positionen vertritt. Vielmehr sind die meisten Interpreten, die sich intensiver mit Ammonios’ Ontologie in seiner Rede in De E apud Delphos befasst haben, einzuräumen genötigt, dass diese angesichts ihrer nachgerade dualistischen ontologischen Radikalität innerhalb von Plutarchs philosophischem Werk eine nicht unbeachtliche Sonderstellung bis hin zu einer regelrechten Unvereinbarkeit mit Plutarchs andernorts geäußerten philosophischen Vorstellungen einnimmt.27 Es                                                              26 Diese Tendenz durchzieht selbst noch den Kommentar von OBSIEGER (2007) nahezu ausnahmslos. 27 Schon DILLON (1996) 190f. stellt in seiner grundlegenden Studie zum mittleren Platonismus fest, dass in Ammonios’ Rede eine zwar orthodox-platonische, aber doch recht radikale Grenzziehung zwischen den Bereichen des Seins und des Werdens zu bemerken sei: „There follows a sharp contrasting of the realms of Being and Becoming, in the former of which we are asserted to have no part, nor can our intellects by straining towards it grasp it. Heraclitus’ dictum ‘It is impossible to step into the same river twice’ (Fr. 91 DK) is then quoted, and he is quoted again just below (392C). All this is perfectly Platonic, if rather gloomy, but as the speech proceeds the dualism develops remarkably.“ Wenig später hat DE VOGEL (1983) mit Blick auf die zentralen Kapitel der Ammoniosrede, in der „Plutarchs Sicht auf das ὄν in seiner Ganzheit, seine Metaphysik des Seins, seine „Theologie““ so klar wie sonst nirgends ausgesprochen sei (ibid. 284) bemerkt, dass die dort vertretene Ontologie in ihrer Radikalität über das bei Platon Übliche hinaus geradezu parmenideische Züge trage (ibid. 285): „Demjenigen, der diese sehr parmenideische [sic] Seiten verfaßt hat, kann man schwerlich vorwerfen, er habe den Schritt in die Transzendenz nicht getan. Was man sagen kann ist, daß die Passage etwas zu parmenideisch ist, um ganz platonisch sein zu können.“ Vgl. auch MORESCHINI (1997) 34 „Il de E non è altro che la personale

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I. Einleitung

ist dabei bezeichnend, dass an die Stelle eines solchen philologischen Nachweises allzu oft ein nicht hinreichend aus dem Text der Ammoniosrede                                                              interpretazione, offerta dal Cheronese, della dottrina di Platone relativamente all’essere e al dio: non a torto si è pensato che Plutarco pervenga ad una accentuazione della dottrina dell’essere alla maniera parmenidea, addirittura oltrepassando Platone.“ Auch nach BRENK (1987) 269 liegt in der Rede des Ammonios eine ontologische Trennung zwischen Gott und phänomenaler Welt vor, die im sonstigen Werk Plutarchs kein Gegenstück habe: „But one should note that outside of the ‘De E apud Delphos’, including the ‘De animae procreatione in Timaeo’, Plutarch does not set God up against the phenomenal world or man in that extreme form which we see in the ‘De E apud Delphos’.“ Schließlich hat FERRARI (1995) 54 dieses Charakteristikum von De E apud Delphos erneut bestätigt und die Möglichkeit zugestanden, in Ammonios’ Abwertung der phänomenalen Welt gegenüber dem Sein eine Negierung der Methexislehre zu sehen, wobei auch er parmenideischen Einfluss nicht ausschließen will. Es ist demgegenüber bezeichnend, dass sich gerade Forscher wie ALT und DÖRRIE, die die Weltzugewandheit von Plutarchs Philosophie betonen, über die zentralen Aussagen der Ammoniosrede in Schweigen hüllen. So hat DÖRRIE (1975), der im kaiserzeitlichen Platonismus „zwei unterschiedliche Haltungen gegenüber dem platonischen Erbe“ glaubt ausmachen zu können (ibid. 123ff.), eindrucksvolle Worte für eine diesseitsbejahende Richtung des mittleren Platonismus gefunden, die Sein und Werden einander durchdringen lässt (ibid. 124 „Dieser Gott ist der Welt zugewandt […]. Diesem Gott kann man sich über viele Zwischenstufen nähern; umgekehrt entfaltet er sich über viele Zwischenstufen in diese Welt hinein.“), und er ruft explizit Plutarch zum Zeugen für diese Sichtweise auf: „Die theologia naturalis, durch die er [sc. der Weltschöpfer des platonischen Timaios, Anm. d. Verf.] sich für die, die ihn zu erkennen vermögen, offenbart, ist die sublimste Gabe dieses Gottes, der durchaus Züge des Apollon von Delphi trägt. Es ist folgerichtig, daß Plutarchs Theologie apollinische Theologie war. Der Mensch ist diesem Gotte verwandt – συγγενής. Dank dieser Verwandtschaft kann er im Logos – auch dem Logos, den er in sich hat – Gott erkennen.“ (ibid. 125). Die entgegengesetzte Strömung des kaiserzeitlichen Platonismus hingegen fußt nach DÖRRIE auf dem „erkenntnistheoretischen Dualismus Platons“: nach ihm ist es „falsch, Vorstellungsbehelfe, die aus diesseitiger Erfahrung gewonnen sind, für die Erkenntnis des ganz Anderen auswerten zu wollen. Ihm kann man sich nur nähern, wenn man alles Diesseitige negiert, wenn man von allem Diesseitigen, bis hin zur Aussage, abstrahiert.“ (ibid. 125) Hier wird das Dilemma offensichtlich, denn die Ammoniosrede ist nachgerade ein Schlüsseltext für diejenige Strömung des kaiserzeitlichen Platonismus, in der Plutarch – wenn man den Autor mit der persona Ammonios ineins setzt – in dezidiert apollinischem Kontext beinahe jede ontologische und erkenntnistheoretische Brücke zwischen Gott und Mensch abbricht. Wenn DÖRRIE die Ammoniosrede in De E apud Delphos nicht als Beispiel für Plutarchs „apollinische Theologie“ heranzieht, ist dies nur verständlich. Auch ALT (1993) 28f., die ganz entschieden für einen „integrierten Dualismus“ bei Plutarch eintritt, bleibt in ihrer Stellungnahme zum Thema „Dualismus im Sinne von Diesseits und Transzendenz“, in deren Rahmen sie die Ammoniosrede immerhin erwähnt, bemerkenswert allgemein. Unsicher zeigt sich auch FERRARI (1995) 54 im Hinblick auf die Einordnung von Ammonios’ erkenntniskritischen Äußerungen in Plutarchs sonstiges Denken, die er wie ähnlich lautende Passagen aus Sen. Ep. 58 auf eine gemeinsame Quelle im Umfeld der skeptischen TimaiosInterpretation zurückführen will, und muss sich mit der Ausflucht behelfen, dass Plutarch „[…] si limitò a riprenderlo [sc. lo scetticismo, Anm. d. Verf.] dalla sua fonte valutando semmai il grado di coerenza che esso aveva nei confronti della propria concezione.“

2. Kritik und Desiderate der Forschung

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begründeter Hinweis auf deren allgemein platonisch-philosophischen Inhalt, die Berufung auf die Autorität ihres Sprechers als der dominierenden Figur des Dialoges und des historischen Lehrers Plutarchs oder eine distanzlose und sprachlich wie gedanklich unscharfe Suggestion der religiösen Bekenntnistiefe von Ammonios’ Worten tritt.28 Der kritischen Genauigkeit, mit der die ersten vier Gesprächsbeiträge auf ihre philosophische Unvereinbarkeit mit Plutarchs anderwärts dokumentierten Ansichten geprüft werden, steht eine meist oberflächliche und unkritische Solidarisierung der Interpreten mit Ammonios’ Ausführungen gegenüber.29 Die angedeuteten Unausgewogenheiten zwischen der Mehrstimmigkeit der dialogischen Anlage von De E apud Delphos und der von der Forschung forcierten Reduzierung des philosophischen Gehaltes des Textes auf den Inhalt der Ammoniosrede, zwischen entschiedener Kritik der vier ersten Lösungsansätze und wenig differenzierter Akzeptanz des letzten Beitrages sowie zwischen klaren Kriterien gegen ein positives Verhältnis des Autors zu Ammonios’ Vorrednern und unscharfen Maßstäben für eine vollständige Identifikation Plutarchs mit Ammonios’ Ausführungen haben wesentlich forschungsgeschichtliche Gründe. So hat eine über 100jährige wissenschaftliche Bemühung um die umfassende Aufarbeitung des gewaltigen und formal wie thematisch höchst heterogenen Textcorpus von Plutarchs Moralia, mit dem Ziel der systematischen Klärung von Plutarchs philosophischen Positionen, einerseits positiv des von ihm vertretenen Platonismus, andererseits negativ seiner Stellung zur Schule Epikurs und der Stoa (die Auseinandersetzung mit dem Peripatos spielt bei Plutarch eine eher untergeordnete Rolle), in gewisser Weise zwangsläufig dazu geführt, dass das durchaus zweifelhafte Vorgehen der Dekontextualisierung von philosophischen Aussagen aus ihrem gattungsspezifischen und thematischen Ursprungszusammenhang und die ebenso problematische künstliche Synthese der gewonnenen Elemente zu einem möglichst kohärenten und widerspruchslosen System von Positionen, die Plutarch vertritt oder bekämpft, weitestgehend unhinterfragt zur Leitmethodik der Untersuchung seiner Schriften geworden ist. Die Ergebnisse dieser Untersuchung, werden sie auf einen speziellen Text angewandt, lassen in ihrer scheinbaren Eindeutigkeit oftmals die spezielle Eigenart einer Aussage und ihre Funktion in ihrem Ursprungskontext verkennen.30                                                             

Vgl. hierzu etwa HIRSCH-LUIPOLD (2005) passim. Erst OPSOMER (2009) hat eine kritische philosophische Analyse der Ammoniosrede geleistet. 30 Auf die an sich selbstverständliche interpretatorische Notwendigkeit, Form und Inhalt gleichermaßen zu berücksichtigen, hat BONAZZI (2008) 205 nachdringlich hingewiesen: „In Plutarco, non meno che in Platone, forma e contenuto costituiscono un insieme difficilmente districabile: trascurare uno a scapito dell’altro rischia di condurre ad equivoci e fraintendimenti.“ 28 29

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I. Einleitung

Wenn beispielsweise in De E apud Delphos der stoische Beitrag des Theon so regelmäßig wie vorschnell als mit Plutarchs Grundanschauungen unvereinbar abgeurteilt wird, so beruht dies in der Regel auf dem Abgleich bestimmter Äußerungen des Redners mit aus anderen Texten Plutarchs gewonnener Kritik an derartigen Positionen, wobei weder Textsorte und Kontext des verwendeten Belastungsmaterials noch die Funktion der Aussagen Theons im Rahmen seiner Rede oder der Rede im Gesamtkontext von De E apud Delphos berücksichtigt werden. Plutarch, ein Gegner der Stoa im Allgemeinen, so der Tenor der Kritik, kann den speziellen Versuch des Stoikers Theon, die Bedeutung des delphischen E zu erklären, nicht gutgeheißen haben. Umgekehrt muss Plutarch als überzeugter Platoniker hinter allen philosophischen Aussagen von Ammonios’ Lösungsversuch stehen, auch wenn es nur einige wenige Elemente der Ammoniosrede sind, die sich eindeutig mit dem von der modernen Forschung synthetisierten platonischen Denksystem Plutarchs abgleichen lassen. Als so problematisch wie nachgerade absurd hat sich der Versuch, Plutarch über alle seine Texte hinweg ein konsistentes System von philosophischen Vorlieben und Abneigungen nachzuweisen, gerade im Falle der Rede des jungen ‚Plutarch‘ in De E apud Delphos erwiesen: Obwohl ‚Plutarchs‘ Beitrag neben den eigentlich „pythagoreischen“, mithin zahlentheoretischen Nachweisen für die Bedeutung des E als die Zahl Fünf als Hauptgewährsmann für seine Argumente Platon persönlich anführt,31 wird seine gesamte Rede vor allem wegen eines stoischen Details als für den Autor Plutarch untragbar interpretiert, nicht zuletzt deswegen, weil sich Ammonios in seiner Rede en passant kritisch auf dieses Detail bezieht.32 Unter dem Eindruck des Befundes wiederum, dass jenes inkriminierte Detail, die stoische Ekpyrosislehre, von Plutarch in anderen Texten auktorial heftig kritisiert wird, findet eine positive Auseinandersetzung mit der Funktion dieses Details im Argumentationsgang ‚Plutarchs‘ in der Forschung nicht statt. Im Falle der Ammoniosrede sind es zwei spezielle forschungsgeschichtliche Weichenstellungen, die eine grundlegende philologische Aufarbeitung und kritische philosophische Würdigung ihres Gehaltes dauerhaft verzögert haben: die bereits genannte Ammoniosphilologie, mithin der Versuch, aus der Ammoniosrede Elemente der Entwicklung des Platonismus in Plutarchs Vorgängergeneration zu rekonstruieren, sowie die Verwertung der Rede als besonders aussagekräftiges Zeugnis für Plutarchs persönliche Religiosität und Religionsphilosophie. Beide Forschungsfelder nehmen dabei ihren                                                             

31 Platons Name fällt insgesamt dreimal (De E 11, 389F; De E 15, 391A; De E 15, 391C), im zweiten Falle sogar mit der Formulierung τὸν Πλάτωνα ἡμῶν. Zudem setzt sich ‚Plutarch‘ mit Spezialproblemen aus nicht weniger als vier Platondialogen auseinander, dem Timaios, dem Kratylos, dem Sophistes und dem Philebos. 32 Vgl. oben, S. 5 mit Anm. 12.

2. Kritik und Desiderate der Forschung

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Ausgang bei jenen Aussagen der Rede, die von Apollon als „einer“ metaphysischen Entität sprechen,33 wobei die Ammoniosphilologie sich vor allem um die Klärung einer in diesem Zusammenhang von Ammonios getätigten Berufung auf „einige von den Alten“ als Hinweis auf die speziellen traditionsgeschichtlichen Hintergründe von Ammonios’ Lehren bemüht hat,34 während der religiöse bzw. religionsphilosophische Forschungszweig sich vor allem auf den Nachweis eines vermeintlichen persönlichreligiösen bzw. religiös-philosophischen Monotheismus Plutarchs und dessen wie auch immer zu denkendes Verhältnis zu jüdisch-christlicher Religiosität konzentriert hat.35 Beide, die Untersuchung der Ammoniosrede von jeher dominierenden Ansätze haben der philologischen Aufarbeitung des Schlussabschnittes von De E apud Delphos insofern geschadet, als sie zunächst die Ammoniosrede aus dem Dialogkontext herauslösen, um dann ein willkürlich gewähltes Detail ihres Argumentationsganges herauszugreifen und für Forschungsfragen fruchtbar zu machen, deren Ergebnisse höchst spekulativ sind. So hat sich die Ammoniosphilologie jenen Hinweis auf „einige der Alten“ als Zeugnis für die philosophiegeschichtliche Verortung des historischen Ammonios im Milieu des alexandrinischen pythagoreisierenden Platonismus des Eudoros aus dem Ende des 1. Jh.s v. Chr. erklären wollen, der nach dem Ausweis eines Fragmentes ein „Eines“ an die Spitze des Seins gesetzt haben soll, und somit die Diskussion der Ammoniosrede aus ihrem angestammten Ort in De E apud Delphos in ein Forschungsfeld verlegt, in dem die spekulative Verknüpfung zufällig überlieferter doxographischer Elemente unterschiedlicher Platoniker dazu tendiert, die wenigen einschlägigen und durchaus heterogenen Zeugnisse sowohl im Einzelnen als auch in ihrer möglichen geistesgeschichtlichen Verbindung überzubewerten. Die Untersuchung der Ammoniosrede als eines von Plutarch im Kontext eines Dialoges über das delphische E konzipierten Redebeitrages sowie dessen Erklärung aus nachweisbaren Vorbildern und Gedanken bei Plutarch selbst sowie aus den von ihm verwendeten Quellen, und der Einbettung dieses Materials in eine übergeordnete Argumentationsstrategie des Sprechers Ammonios ist demgegenüber weitestgehend unter- oder bei der Betrachtung von Einzelstellen stehengeblieben. Die Fixierung auf eine vermeintlich religiös-monotheistische Tendenz der Ammoniosrede hat ebenfalls zu einer Verlagerung der Diskussion ihres                                                             

Vgl. das 20. Kapitel von De E apud Delphos. Vgl. WHITTAKER (1969); BRENK (2005). Kritisch gesichtet werden die Vorschläge für Ammonios’ Gewährsmänner von OPSOMER (2009) und PLEŠE (2010). Mit einigem Recht gibt FERRARI (2010) 85 zu bedenken: „In realtà, a me pare che non sia necessario (e risulti anzi inutilmente imprudente) indicare una fonte precisa del discorso di Ammonio.“ 35 Vgl. hier vor allem HIRSCH-LUIPOLD (2005). 33 34

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I. Einleitung

Gehaltes in einen Raum wissenschaftlich kaum nachprüfbarer Spekulation geführt. So ist die Rekonstruktion einer „persönlichen“ philosophischen Religiosität Plutarchs aus dem überreichen Material, das seine Schriften zum Themenkomplex Religion und in der Form von philosophischen Diskussionen religiöser Phänomene bieten, von vornherein deswegen suspekt, weil die Auswahl von solchen Zeugnissen, die Plutarchs „persönliche“ Religiosität dokumentieren sollen, immer von den subjektiven Vorlieben und Vorurteilen der jeweiligen Interpreten abhängig ist, und zudem die Annahme voraussetzt, dass Plutarch überhaupt etwas wie eine „persönliche“ Religiosität besessen habe und kommunizieren wollte. Im Falle der immensen Bedeutung, die der Ammoniosrede für die Klärung von Plutarchs „persönlicher“ Religiosität zugeschrieben wird, ist der Umstand, dass sich diese Bedeutung in der Regel auf die vermeintlich monotheistische Tendenz der Rede gründet, in viel stärkerem Maße ein Beleg für die manifeste oder latente Langzeitwirkung einer christlichen Sozialisation diesbezüglich interessierter Interpreten als für die Bedeutung der Ammoniosrede als Zeugnis der Religiosität ihres Verfassers. Dies zeigt sich besonders darin, dass der besonders „persönliche“ Gehalt der Ammoniosrede immer wieder direkt oder indirekt mit der Apollonpriesterschaft Plutarchs begründet wird, und somit ein religionssoziologisches Konzept des nicht nur aufgrund einer Amtsfunktion, sondern auch aus einer innerlich-spirituellen Bindung an den jeweiligen Gott tätigen Priesters auf Plutarch übertragen wird, das im paganen Griechentum so unbekannt wie im Christentum notorisch ist.36 Der Nachteil, den die lange Tradition der Betrachtung der Ammoniosrede aus dem Blickwinkel einer persönlichen Frömmigkeit Plutarchs für eine grundlegende Untersuchung dieses letzten Lösungsvorschlages von De E apud Delphos bewirkt hat, ist zudem insofern nicht zu unterschätzen, als die implizite oder explizite Sakralisierung bestimmter Aspekte der Rede, die eine scheinbare Anschlussfähigkeit an christliche Konzepte persönlicher Frömmigkeit aufweisen, nicht nur die Schwierigkeit eines umfassenden Verständnisses von Aufbau, Inhalt, Quellen und Argumentationsstrategie der Ammoniosrede bagatellisiert bzw. verdrängt, sondern die Rede auch gegenüber den vorausgehenden Lösungsbeiträgen in De E apud Delphos soweit privilegiert hat, dass die vermeintlich singuläre Sakralität ihres Inhalts zwangsläufig alle anderen Reden des Dialogs in den Verdacht der nicht nur philosophischen, sondern auch religiösen Unangemessenheit gestellt hat, deren Nachweis dann mit dem in religiösen Debatten nicht unüblichen Eifer geführt wird.

                                                             36

Die Priesterschaft Plutarchs betonen besonders FELDMEIER (1998) und HIRSCHLUIPOLD (2005).

3. Ziele und Methoden der Untersuchung

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3. Ziele und Methoden einer Gesamtuntersuchung von De E apud Delphos Die vorstehende Analyse des Forschungsstandes zu De E apud Delphos hat Defizite bei der Methodik und Schwerpunktsetzung der Auseinandersetzung mit dem Text aufgezeigt, die aus der einseitigen Gleichsetzung der zentralen Textaussage mit dem Inhalt der Ammoniosrede resultieren. Ziel der vorgelegten Gesamtuntersuchung von De E apud Delphos ist es mithin, diese Defizite auszugleichen und den Text nicht als Vehikel doktrinärer philosophischer Überzeugungen oder persönlicher religiöser Gestimmtheiten seines Autors Plutarch zu lesen, sondern als eigenständiges literarisch-philosophisches Kunstwerk und somit unter Berücksichtigung seiner dialogischen Anlage und der mit ihr gegebenen, textsortenspezifischen Kommunikationsstrategie zu interpretieren. Dies bedeutet, dass die Untersuchung von einer einheitlichen Komposition des Werkes durch Plutarch ausgeht, der sich der Gattung des philosophischen Dialoges bewusst als derjenigen Textform bedient hat, die seinem Gegenstand, einer Untersuchung der Bedeutung des delphischen E, am meisten adäquat ist. Die bewusste Wahl der Gattung des philosophischen Dialoges setzt dabei voraus, dass der durch sie behandelte philosophische Gegenstand prinzipiell mehrdeutig ist und sich diese Multivalenz in den Stellungnahmen mehrerer, mehr oder weniger gleichberechtigter Dialogpersonen niederschlagen soll, ohne dass diese Multivalenz am Ende des Textes zwangsläufig durch eine „richtige“ Lösung nachträglich aufgehoben werden müsste. Unter diesen Voraussetzungen wird jeder der an De E apud Delphos teilnehmenden Gesprächspartner prinzipiell als innerhalb des Textganzen relevante persona des Autors verstanden (eine begründbare Ausnahme bildet der Beitrag des Nikandros), durch die Plutarch einen bestimmten Lösungsansatz im Spektrum der Mehrdeutigkeit des behandelten Gegenstandes formuliert. Konsequenterweise muss eine Gesamtuntersuchung des Dialoges, die der literarischen Form und dem mit ihr gegebenen philosophischen Konzept einer mehrstimmigen Erörterung des delphischen E gerecht werden will, auf den Versuch einer Identifikation einer bestimmten Stimme des Dialoges mit der persönlichen Meinung des Autors insoweit verzichten, als sie damit notwendig ein Kriterium für die Bewertung der einzelnen Dialogbeiträge an den Text heranträgt, das die spezifische philosophisch-literarische Leistung, die Plutarch mit der Abfassung von De E apud Delphos beabsichtigt haben mag, auf das philosophie- bzw. religionsgeschichtliche Interesse moderner Forschung einengt, aus Plutarchs Schriften systematisch doktrinale oder religiöse Überzeugungen der historischen Person Plutarch zu gewinnen.

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I. Einleitung

Die Kriterien und Methoden, die die vorliegende Untersuchung an den Dialog als Ganzen sowie an die einzelnen Lösungsansätze für das delphische E anlegt, sollen ein einheitliches schriftstellerisch-philosophisches Engagement Plutarchs über den gesamten Text hinweg beleuchten, das produktionsästhetisch nicht der Konstruktion von vier „falschen“ und einem „richtigen“ Lösungsansatz für das delphische E gilt, sondern der kunstvollen Komposition eines Dialogganzen in der Mehrstimmigkeit gleichermaßen relevanter Aussagen der einzelnen Sprecherpersonen. Entsprechend gilt es, die spezifische Relevanz der einzelnen Dialogbeiträge nicht aus der Perspektive der doxographischen Systematik der Plutarchforschung daran zu messen, ob sie von Plutarch anderwärts regelmäßig vertretene oder bekämpfte philosophische Vorstellungen enthält (wenngleich die bislang in dieser Richtung geleisteten Interpretationen überprüft werden müssen), sondern aus der Perspektive der von Plutarch selbst konstruierten thematischen und methodischen Gesprächsvoraussetzungen von De E apud Delphos. Die Philosopheme, die von den einzelnen Dialogsprechern für ihre jeweilige Argumentation herangezogen werden, begreift die vorliegende Studie deshalb prinzipiell wertfrei als kontext-, themen- und sprecherspezifische Aktualisierungen eines komplexen philosophischen Repertoires des Autors. Aus der Perspektive eines solchen Repertoires, das angesichts zahlreicher, mehr oder weniger stark variierter Wiederholungen von bestimmten philosophischen Konzepten, Anspielungen und Zitaten über Plutarchs Gesamtwerk hin mit Sicherheit angenommen werden kann,37 werden die Einzelelemente der verschiedenen Reden in De E apud Delphos durch den Vergleich mit ihrem sonstigen Vorkommen in Plutarchs Œuvre auf ihre kontextspezifische Variation hin untersucht und somit in ihrer argumentationslogischen und mithin im weitesten Sinne künstlerischrhetorischen Funktion für die Aussage der einzelnen Dialogsprecher gedeutet. Es ist Ziel des Teils II dieser Arbeit, die dialogische Anlage von De E apud Delphos zu analysieren und aus der Untersuchung der Widmung an Sarapion und der extradialogischen Themeneinführung Plutarchs jene thematischen und methodischen Grundlagen des eigentlichen Dialogs von De E apud Delphos im Sinne eines philosophisch-ästhetischen Programms zu gewinnen, das im Dialog selbst durchgeführt wird. Teil III befasst sich in seinem 1. Kapitel mit der intradialogischen Vorrede des Ammonios und deren Verknüpfung mit der extradialogischen Eingangssektion einerseits, andererseits geht er deren impliziten und expliziten                                                              37 Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Hypomnemata-Theorie, die VAN DER STOCKT (2004) und (2006), unter anderem an De E apud Delphos entwickelt hat, vgl. unten, S. 175, Anm. 251.

3. Ziele und Methoden der Untersuchung

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Aussagen über eine dem Untersuchungsgegenstand des delphischen E adäquate philosophische Methodik nach. In diesem Zusammenhang wird auch die Dialogperson des Ammonios in ihrer Funktion als Gesprächsleiter zu untersuchen sein, wobei auch Ammonios’ weitere Auftritte in anderen Dialogen Plutarchs als Ergänzung und Kontrastierung miteinbezogen werden sollen. Im 2. Kapitel wird der erste Redebeitrag des Lamprias dahingehend interpretiert, inwieweit sich dort das philosophisch-ästhetische Programm aus den Vorreden aktualisiert. Die Deutung der Lampriasrede kann mithin als erster Testfall für die individuelle Ausgestaltung einer Argumentation für eine bestimmte Bedeutungsmöglichkeit des delphischen E durch Plutarch dienen, wobei sowohl die individuelle Persönlichkeit, die Plutarch dem Sprecher verleiht, als auch die gewählte rhetorische Strategie betrachtet, sowie die Aktualisierung bestimmter Elemente aus Plutarchs philosophischem Repertoire im Dienste des Redeauftrags, den Lamprias erhält, geklärt werden soll. Kapitel 3 behandelt die Reaktion des Ammonios auf Lampriasʼ Beitrag und geht der Frage nach, welche Funktion ihr im Dialogganzen zukommt. Darauf aufbauend wird in Kapitel 4 der Redebeitrag eines Anonymus, der Lamprias’ Deutung zu diskreditieren versucht, in seiner Relevanz näher beleuchtet. Das 5. Kapitel, das sich mit dem Beitrag des Apollonpriesters Nikandros befasst, der nicht nur Lamprias’ Lösungsvorschlag vehement kritisiert, sondern mit der Begründung der von ihm vertretenen Lösung auch den nachfolgenden Beitrag des Theon provoziert, bietet einerseits die Gelegenheit, nach der Bedeutung der beiden von Nikandros angegriffenen Positionen seines Vor- und Nachredners sowie nach der Legitimität dieser Kritik im Rahmen des thematisch-methodischen Konzeptes des Dialogs zu fragen. Andererseits eröffnet der Auftritt des Apollonpriesters Nikandros sowie der Inhalt und der Argumentationsstil des von ihm präsentierten Lösungsansatzes die Möglichkeit, anhand von Plutarchs Portrait dieses offiziellen Vertreters des delphischen Heiligtums die in der Forschung gängige Behauptung einer besonders innigen Identifizierung Plutarchs mit seinem eigenen Priesteramt zu überprüfen. Auf der Basis der hier gewonnenen Ergebnisse können Rückschlüsse auf eine eventuelle Relevanz von Plutarchs Priestertätigkeit für philosophische Positionen in De E apud Delphos gezogen werden. Im 6. Kapitel, der Interpretation der stoischen Lösung des Theon, steht die Frage im Zentrum, ob die in der Forschung gängige Abwertung dieses Beitrages aufgrund von Plutarchs anderwärts dokumentierter Gegnerschaft zur Stoa mit Inhalt, Aufbau und Argumentationsstrategie von Theons Rede vereinbar ist, oder ob sich sowohl aus der Einbindung der Rede in den Gesamtkontext von De E apud Delphos wie aus dem spezifischen Gehalt

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I. Einleitung

des Ansatzes Anzeichen dafür gewinnen lassen, dass Plutarch auch hier eine adäquate Auseinandersetzung mit dem delphischen E im Sinne einer Aktualisierung seines philosophischen Repertoires konzipiert hat. Das 7. Kapitel widmet sich der Rede ‚Plutarchs‘ und nimmt insofern eine Schlüsselstellung in der Gesamtdeutung von De E apud Delphos ein, als sich hier konkret und stellvertretend auch für die übrigen Dialogfiguren die Frage nach dem historisch-biographischen Hintergrund ihrer Konzeption und ihrer Aussagen stellt. Die in der Forschung gängige Einschätzung, Plutarch habe mit der Charakterisierung ‚Plutarchs‘ als eines jugendlichen Mathematikenthusiasten ein autobiographisch einigermaßen verlässliches Bild überholter eigener intellektueller Interessen zeichnen wollen, denen gegenüber die anschließende Ammoniosrede den aktuellen Stand seiner akademisch-gereiften philosophisch-religiösen Orientierung repräsentiere, soll eingangs im Zusammenhang von Plutarchs Inszenierung seines eigenen Auftrittes kritisch untersucht werden. Dabei steht die Frage im Vordergrund, was die Figurenkonzeption ‚Plutarchs‘ für die Überzeugungskraft der inhaltlichen und rhetorischen Strategie des von ihm vorgelegten Lösungsansatzes leistet. Eine solche Untersuchung bildet die Voraussetzung für eine intensive Aufarbeitung der Rede ‚Plutarchs‘, die versucht, die einzelnen Erklärungsansätze des Redners als figuren- und problemgerechte Aktualisierung eines umfassenden mathematisch-philosophischen Repertoires des Autors zu deuten, die durchaus Anspruch auf eine positive Rezeption durch das intendierte Lesepublikum erheben will. Schließlich soll im 8. Kapitel eine eingehende Untersuchung der abschließenden Ammoniosrede erfolgen. Dabei wird zunächst Ammonios’ Einleitung und seine Stellung zu den Lösungsversuchen seiner Vorredner näher beleuchtet. Im Anschluss nimmt die Untersuchung des Inhaltes der Ammoniosrede nach ihrer philosophischen Tendenz, den dort verarbeiteten Quellen und Einflüssen sowie ihrer rhetorischen Strategie ihren Ausgang beim zentralen 20. Kapitel, das die religionsphilosophisch-ontologisch vieldiskutierten Aussagen von der „Einheit“ des Seins des Apollon und die Berufung des Ammonios auf nicht spezifizierte Gewährsmänner für seine Aussagen enthält. Nach einer genauen Analyse von Ammonios’ Worten soll die weitverbreitete These eines Bezuges der Einheitsaussagen zum platonisch-pythagoreischen Gedankengut des Eudoros von Alexandria und die damit verbundene These diskutiert werden, die Rede enthalte Hinweise auf die Lehren des historischen Ammonios. Im Anschluss an eine Kritik dieser Position wird die in der Forschung bereits erwogene, aber bislang zu wenig beachtete Gegenthese einer wesentlich von platonisch vermitteltem parmenideischem Gedankengut geprägten zentralen Sektion der Ammoniosrede neu aufgegriffen und anhand einschlägiger Passagen aus Platon und Plutarch gestützt. Aus dieser Perspektive wird dann das 18. Kapitel der

3. Ziele und Methoden der Untersuchung

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Ammoniosrede betrachtet, in dem das mit dem Sein des Apollon kontrastierte Nichtsein des Menschen wesentlich auf dessen fehlende ontologische Einheit in einem steten Zeit- und Materiefluss heraklitischer Prägung zurückgeführt wird. Hier wird der Nachweis geführt, dass diese Kontrastierung von parmenideischem Sein und heraklitischem Fluss in den bei der Untersuchung des 20. Kapitels bereits herangezogenen Platon- und Plutarchpassagen klar angelegt ist. Nachdem auf diesem Wege gezeigt worden ist, dass nicht ein historischer Ammonios, sondern ein selbständig Platon rezipierender und sich selbst zitierender Autor Plutarch den gedanklichen Duktus der Ammoniosrede bestimmt, wird die philosophische Substruktur der Kapitel 18 und 19 beleuchtet und der Nachweis einer selbständigen Timaios-Rezeption Plutarchs in dieser Beschreibung des ontologischen Status des Menschen erbracht. Diese Analyse bildet dann die Basis für die abschließende Untersuchung des Schlusskapitels 21 von De E apud Delphos, in dem Ammonios das Verhältnis zwischen dem Nichtsein des Menschen und des Kosmos und dem Sein des Gottes diskutiert. Es kann gezeigt werden, dass Plutarch auch diesem Schlussabschnitt dieselbe TimaiosPassage zugrundegelegt hat wie den Kapiteln 18 und 19. Aus dem so erhobenen Befund einer sich über die gesamte Ammoniosrede erstreckenden Timaios-Adaption Plutarchs, der den in der Forschung oft bemerkten ontologischen Radikalismus der Ammoniosrede schlüssig aus ihren Quellen erklären kann, soll die Frage nach dem philosophiegeschichtlich-religionsphilosophischen Standort der Ammoniosrede in Plutarchs Werk gestellt werden. Ein Vergleich der ontologischen Positionen der Ammoniosrede mit thematisch einschlägigen Aussagen Plutarchs in anderen Texten führt zu dem Ergebnis von deren mehr oder weniger starken Unvereinbarkeit. Diese Beobachtung führt zu dem Ergebnis, dass die Ammoniosrede weniger ein religiös-philosophisches Bekenntnis Plutarchs als eine rhetorisch auf das Redeziel des Ammonios abgestimmte komplexe platonisch-ontologische Argumentation darstellt, die aus dem spezifischen dialogischen Kontext von De E apud Delphos heraus begriffen werden muss: Die Ammoniosrede stellt, wie alle übrigen Redebeiträge von De E apud Delphos, eine rhetorisch brillante, intertextuell anspielungsreiche und mit philosophischem Bildungsgut gesättigte Argumentation für eine mögliche Deutung des delphischen E dar, die nicht die persönliche Meinung Plutarchs kommunizieren soll, sondern sein rhetorisch-philosophisches Potenzial vorführt, einen komplexen philosophischen Gegenstand mit Hilfe einer kontextspezifischen Aktualisierung eines umfassenden philosophischen Repertoires mehrperspektivisch zu beleuchten. Hierin kann schließlich das persönlich-individuelle plutarchische Gepräge von De E apud Delphos gesehen werden.

II. De E apud Delphos als Dialog: Widmung und Proömium 1. Plutarchs Dialoge und ihr Publikum Das gewaltige Textcorpus der plutarchischen Moralia weist neben einer außerordentlichen thematischen Vielfalt einen großen Reichtum an literarischen Formen auf, deren sich Plutarch in seiner philosophischen Schriftstellerei bedient hat.1 Die charakteristische Themenvielfalt in Plutarchs Werk scheint dabei in dessen Formenreichtum eine Entsprechung zu finden: Plutarch hat sich nicht nur für nachgerade alle Gebiete der griechischen Bildung interessiert und seine umfassenden Kenntnisse zur Erörterung denkbar unterschiedlichster und nicht selten regelrecht abseitiger Fragestellungen und Themenbereiche aktiviert, sondern auch das literarisch-formale Erbe der griechischen Philosophie umfassend rezipiert und produktiv kultiviert. Beide Aspekte machen in ihrer wechselseitigen Durchdringung von philosophischem Inhalt und literarischer Form Plutarchs Moralia zu einer außerordentlich anspruchsvollen Lektüre, denn Plutarch schreibt nicht nur selbst auf höchstem intellektuellen und formalem Niveau, sondern erwartet auch von seinen Lesern eine entsprechende Bildung, die diese zumindest tendenziell in die Lage versetzt, Plutarchs Schriften ohne Sachkommentar und mit einer literarisch-philosophischen Kennerschaft zu lesen, ohne die ein Großteil der Anspielungen und Zitate, der philosophischen Themen und Debatten, die für Plutarchs philosophischen Stil konstitutiv sind, unverständlich bleiben müssen. Die im Einleitungskapitel formulierte Kritik an einer Untersuchung von Plutarchs Schriften, die entweder moderne Systematisierungsversuche von Plutarchs Gedankenwelt anstrebt oder bereits geleistete Systematisierungen zur Bewertung von Einzelpassagen in Plutarchs Texten heranzieht, erfährt von der vorstehenden Überlegung eine nicht unwesentliche Rechtfertigung: Obwohl die Beobachtung trivial ist, dass Plutarch weder für die moderne wissenschaftliche Philosophiegeschichte noch für interessierte Laien geschrieben hat, gilt es doch stets zu bedenken, dass die unmittelbaren Adressaten von Plutarchs Texten zur kulturellen Elite der römischen Kaiserzeit

                                                             1

Vgl. hierzu den Überblick bei GALLO (1996) 10f.

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II. Widmung und Proömium

zählten,2 und die Texte gemäß ihrem Sitz im Leben dieser Elite wesentlich einen Ausschnitt aus dem Intellektuellendiskurs einer philosophisch, historisch, naturwissenschaftlich und literarisch umfassend gebildeten gesellschaftlichen Oberschicht darstellen. Diese dürfte aus ihrer Fähigkeit zur Teilnahme an dem elitären Gespräch, das Plutarchs Texte dokumentieren, eine nicht unwesentliche Bestätigung ihrer auch kulturellen Zugehörigkeit zu den höchsten Kreisen des Imperium Romanum erfahren haben. Ein herausragendes Beispiel für eine solche von Plutarch intendierte Leserschaft ist Sosius Senecio, unter anderem Adressat der Viten und der Quaestiones Convivales, ein mehrfacher römischer Konsul.3 Die literarische Form, die in Plutarchs Werk am stärksten den hohen Wert des Intellektuellendiskurses für Plutarch selbst und für seine Adressaten bezeugt, ist zweifellos der philosophische Dialog, der an Autor wie Leser die höchsten Ansprüche stellt. Diese lassen sich klar an dem für Plutarchs Dialoggestaltung repräsentativsten Werk, den Quaestiones Convivales, aufzeigen. Dieses Corpus aus neun Büchern, die jeweils zehn Gespräche enthalten,4 in denen der Autor sich selbst und seinen Freundeskreis als Dialogfiguren auftreten und zu den verschiedensten Fragestellungen aus allen Bereichen griechischer Bildung5 jeweils verschiedene Lösungsvorschläge präsentieren lässt, stellt eine Serie von literarisch-künstlerisch idealisierten Gesprächsabläufen dar, deren volle Komplexität und reichhaltige Schattierung nur ein Leser angemessen würdigen kann, der in der außerliterarischen Realität regelmäßig selbst aktiv an vergleichbaren Gesprächen teilnimmt. Im Proömium zum zweiten Buch der Quaestiones Convivales, das sich direkt an Sosius Senecio richtet, ist dies dokumentiert: Plutarch erwähnt, dass es Sosius’ Anregung war „von den zahlreichen gelehrten Gesprächen, die wir an verschiedenen Orten, mit Euch in Rom und bei uns in                                                              2 GALLO (1996) 7f. „[…] non va mai sottovalutato il fatto che Plutarco di norma scriveva non per il grosso publico ma per una categoria piuttosto ristretta di πεπαιδευμένοι, persone di buon livello sociale e di discreta cultura, già formata o in via di formazione, in grado comunque di intendere le numerosissime citazioni, sopratutto poetiche, spesso senza indicazione dell’autore, nonché le allusioni e i riferimenti eruditi, di non sempre immediata intellezione per chi fosse privo di un adeguato retroterra culturale. Evidentemente Plutarco aveva, o riteneva di avere, un pubblico abbastanza selezionato e acculturato, in grado di capire senza eccessiva difficoltà le sue lezioni, le sue conferenze, i suoi libri. […] Il pubblico di Plutarco, sia ascoltatori che lettori, non era certamente popolare in senso stretto, ma sempre d’élite. L’attributo „popolare“ [gegen ZIEGLERs Unterscheidung von „polulärphilosophischen“ und „philosophisch-wissenschaftlichen“ Schriften, Anm. d. Verf.] va quindi inteso nel senso che molti scritti non erano riservati al limitato pubblico di una scuola filosofica ma anche ad un pubblico più largo, sempre però di πεπαιδευμένοι.“ 3 Vgl. ZIEGLER (1951) 688f.; PUECH (1992) 4883. 4 Eine Ausnahme von dieser Regel bietet das 9. Buch, das 15 Gespräche umfasst. 5 Einen kurzen Überblick vermittelt ZIEGLER (1951) 888f.

1. Plutarchs Dialoge und ihr Publikum

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Griechenland […], geführt haben, die geeigneten zu sammeln.“6 Ob überhaupt und wenn ja, wie viel an tatsächlichem Gesprächsstoff freilich in das Corpus der Quaestiones Convivales und der übrigen Dialoge Plutarchs eingegangen ist, lässt sich nicht genau feststellen.7 Allein der Umstand jedoch, dass Plutarch die Quaestiones Convivales allesamt mit Dialogfiguren bestückt hat, die auch außerhalb dieses literarisch-fiktionalen Gesprächsraumes reale intellektuelle Beziehungen pflegten und zum engeren Kreis der intendierten ersten Leser der Dialoge gehören, setzt voraus, dass Plutarchs Publikum in dem literarisch idealisierten Gesprächsverhalten, in dem der Autor sich und sein gesellschaftliches Umfeld in den Quaestiones Convivales zeigt, seine eigene reale Erfahrung von Gesprächssituationen in künstlerisch gesteigerter Form wiedererkennen konnte, in denen die Gesprächsteilnehmer komplexe und thematisch äußerst vielfältige Fragen aus dem Bereich griechischer Intellektualität sowohl zur Diskussion zu stellen gewohnt als auch in der Lage sind, sich an entsprechenden Lösungen auf einem hohen argumentativen Niveau zu beteiligen.8 Um ein bewusst wegen seiner – freilich für Plutarchs Werk nicht untypischen – Kuriosität gewähltes Beispiel zu geben: Das vierte πρόβλημα des neunten Buches der Quaestiones Convivales besteht in der Frage, „Welche Hand der Aphrodite Diomedes verletzt hat“9 und stellt ein so exquisites wie ungewöhnliches Gesprächsthema zu einer Szene aus dem fünften Buch von Homers Ilias dar.10 Der Leser, der schon die Besonderheit der Themenstellung und dann das folgende kurze Gespräch über eine derartige Frage sowie die dort gegebenen Erklärungen nachvollziehen und genießen kann, muss über ein dem πρόβλημα tendenziell nahes Bildungsniveau und eine Konversationspraxis verfügen, die ihn in die Lage versetzen, überhaupt die Exquisität der Frage, ihren literarischen Kontext und die gebotenen Lösungsstrategien zu würdigen. Zugleich ermöglicht es ihm erst seine reale Gesprächsroutine, den idealisiert-fiktionalen Anteil eines zumindest in der Regel nicht selbsterlebten, sondern von Plutarch literarisch inszenierten Gesprächs zu genießen, so die Darstellung des Verhaltens der am Gespräch beteiligten Figuren (die in solchen Fällen, in denen der Leser tatsächlich einmal selbst oder ihm persönlich bekannte Menschen als Dialogfiguren auftreten, besonders reizvoll ist), die jeweiligen Argumentationsgänge oder                                                             

6 QC 2, 612E … ᾠήθης τε δεῖν ἡμᾶς τῶν σποράδην πολλάκις ἔν τε Ῥώμῃ μεθ’ ὑμῶν καὶ παρ’ ἡμῖν ἐν τῇ Ἑλλάδι […] φιλολογηθέντων συναγαγεῖν τὰ ἐπιτήδεια κτλ. 7 Einen Abriss der Problematik gibt TEODORSSON (1989) 12–14. 8 Vgl. VAN DER STOCKT (2000) 94 „In short, what we have here is an idealized portrait of an elite of astonishingly learned intellectuals discussing ‘academic’ questions in an athmosphere [sic] of social decorum and kind politeness.“ 9 QC 9, 4, 739B–D. 10 Es handelt sich um Hom. Il. 5, 330–340, wo Diomedes Aphrodite bei deren Rettung ihres Sohnes Aineias mit dem Speer verwundet.

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II. Widmung und Proömium

seine künstlerische Gesamtgestaltung. Es liegt buchstäblich auf der Hand, dass der Lektüregewinn eines solchen πρόβλημα nicht in einer forensischen Aufklärung über die anatomischen Details von Aphrodites Verletzung, sondern im kennerhaften Mitvollzug der künstlerischen Inszenierung des Gesprächsverlaufs selbst liegen dürfte. Eine somit sehr enge Bindung der plutarchischen Dialoge an das kulturelle Umfeld, aus dem heraus sie entstanden sind und auf das sie zurückwirken wollen, versetzt den modernen Interpreten in noch stärkerem Maße, als dies die antike Literatur ohnehin tut, in die Rolle eines Außenstehenden, der ungewöhnlich hohe Hürden zu überwinden hat, um als nicht zum Kreis der Adressaten gehöriger Beobachter auch nur einem thematisch begrenzten Gesprächsabschnitt in Plutarchs zum Teil äußerst umfangreichen und inhaltlich wie argumentativ höchst fordernden Dialogen folgen zu können. Diesem starken Bezug von Plutarchs Dialogen auf ihren Sitz im Leben einer elitären Gruppe von Gebildeten, die scheinbar ohne große Mühe über enzyklopädische Kenntnisse einer beinahe 1000jährigen griechischen Geistesund Kulturgeschichte verfügt, ist es ohne Zweifel geschuldet, dass Plutarchs Dialoge, anders etwa als die Dialoge Platons, außerhalb fachwissenschaftlich spezialisierter Kreise völlig unbekannt und ohne entsprechende Vorbildung und Übung auch nahezu ungenießbar sind. Was Plutarchs Dialogen beinahe durchgängig fehlt – und hier ist der Vergleich mit Platons wesentlich größerem Publikumserfolg besonders instruktiv –, ist einerseits in thematischer Hinsicht die Behandlung von Fragen von allgemein-überzeitlichem menschlichem Interesse, etwa der Ethik (Fragen, denen sich Plutarch freilich in zahlreichen Traktaten,11 und nicht zuletzt in seinen bis heute höchst populären Viten intensiv gewidmet hat), andererseits in formaler Hinsicht eine Gesprächsgestaltung, die darum bemüht ist, den Leser kleinteilig, schrittweise und mit didaktischer Absicht zum Mitvollzug des komplexen λόγος der Gesprächsteilnehmer zu bringen. Demgegenüber zeigt Plutarchs Dialogwerk – auf die enorme Themenfülle der Quaestiones Convivales wurde bereits hingewiesen – thematisch so ungewöhnliche und spezielle Gegenstände wie etwa „Das Gesicht im Monde“ (De facie in orbe lunae), ein „Gastmahl der Sieben Weisen“ (Septem Sapientium convivium), „Die späte Strafe der Götter“ (De sera numinis vindicta), „Das Daimonion des Sokrates“ (De genio Socratis) oder gar die Frage nach der „Klugheit der Tiere“ (De sollertia animalium); von den ‚Pythischen Dialogen‘, die sich mit der Funktionsweise des delphischen Orakels sowie anderen rätselhaften Phänomenen in Delphi wie dem delphischen E befassen, wird im Laufe der Untersuchung stets zu reden sein.                                                             

Zu nennen sind hier etwa Werke wie De profectibus in virtute, De virtute et vitio, De virtute morali, De cohibenda ira, De invidia et odio. 11

1. Plutarchs Dialoge und ihr Publikum

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Die Gesprächsgestaltung der Dialoge gewährt überdies der zusammenhängenden Exposition von individuellen Gesprächsbeiträgen und Lösungsversuchen weitestgehend gleichberechtigter Gesprächspartner ungleich größeren Raum als dies bei Platon üblich ist. Plutarchs Dialoge, die auf das Frage-und-Antwort-Schema verzichten,12 bilden nicht den Gang des λόγος schlechthin ab, sie kennen keinen Sachwalter desselben wie den platonischen Sokrates, sondern bestehen in der Regel aus einer Reihe von längeren oder kürzeren Stellungnahmen der einzelnen Dialogteilnehmer zu einem bestimmten Thema, ohne dass eine dominierende Figur diese einer peniblen Prüfung unterzöge. Zwar sind die plutarchischen Dialoge keine schlichten Vortragsreihen, zeigen sie doch immer wieder Kommentare, Nachfragen, Zustimmung oder Protest, kurz, Interaktion zwischen den Gesprächspartnern, doch tritt in ihnen der zielführend-dialektische Aspekt des sokratischen Gesprächs deutlich hinter denjenigen sukzessiver Expositionen unterschiedlicher Erklärungsansätze des in Rede stehenden Phänomens zurück; dabei eröffnen die genannten dynamischen Elemente der plutarchischen Gesprächsführung nicht selten völlig neue und ungewöhnliche Nebenschauplätze des Gespräches, Exkurse oder gar ganze Themenübergänge, die oftmals die Komplexität des Gesprächsgefüges mehr erhöhen als die gedankliche Durchdringung des zentralen Gesprächsgegenstandes zu vertiefen. Nicht selten ist eine Neigung Plutarchs zur gelehrten Redundanz zu spüren, die freilich keinen Mangel an strukturierter Dialoggestaltung, sondern ein Streben nach situativer Lebendigkeit des Gesprächs und möglichst umfassender Präsentation möglicher Bildungsassoziationen mit dem Gesprächsthema verrät. Plutarchische Dialoge – und hier liegt ein verbindendes Element von Thematik und Gesprächsführung – zeigen stärker die individuellen Fähigkeiten der Gesprächsteilnehmer, sich an einer komplexen und vielschichtigen Erörterung eines exquisiten Themas zu beteiligen und damit zugleich dessen Komplexität und Vielschichtigkeit zu belegen, als das Bemühen des Autors, dieses Thema luzide und stringent in einer Weise zu erörtern, die den Leser zusätzlich zu einer Bewusstmachung von dessen Komplexität auch in intellektuelle Strategien eingewöhnte, die ihn zu einer philosophisch reflektierten Position führen können, die womöglich mit derjenigen des Autors konvergiert.                                                              12 Zum Unterschied zwischen Platons und Plutarchs Verwendung der Dialogform vgl. FERRARI (1995) 30 „È stato giustamente osservato che il dialogo plutarcheo, a differenza di quello socratico-platonico al quale vorrebbe rifarsi, non è in sostanza mai di tipo „dialettico“, il che significa che è privo della struttura „domanda-risposta“ in base alla quale si articolavano quasi tutti i dialoghi di Platone. In effetti, quest’ultimo arrivò a teorizzare la superiorità del discorso breve (βραχυλογία) in cui è più facile controllare lo sviluppo argomentativo e la correttezza dei vari passaggi, rispetto ai lunghi interventi, la cui pratica egli probablimente ascriveva ai sofisti.“

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II. Widmung und Proömium

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass moderne Interpretationen der Dialoge Plutarchs im Allgemeinen und von De E apud Delphos im Besonderen dazu tendieren, eine bestimmte Stimme aus dem Kreis der am Dialog teilnehmenden Figuren – in Analogie zu Platons Sokrates – als Träger der philosophischen Aussagen des Autors zu privilegieren. So hat sich in der wissenschaftlichen Literatur zu De E apud Delphos die Sprachregelung eingebürgert, die persona Ammonios als den Protagonisten des Dialogs oder gar als das „Sprachrohr des Autors“ zu bezeichnen.13 Diese hermeneutische Entscheidung steht jedoch mehr im Dienste der Reduzierung der Komplexität plutarchischer Dialoggestaltung, die aus dem modernen Rezeptionsbedürfnis resultiert, aus dem Text eine philosophiegeschichtlich kategorisierbare Substanz zu gewinnen, als dass sie den produktionsund rezeptionsästhetischen Rahmenbedingungen von Plutarchs Dialogen Rechnung trüge, die sich aus ihrem oben skizzierten „Sitz im Leben“ erschließen lassen. Denn das Bild, das die plutarchischen Dialoge allesamt präsentieren, ist dasjenige einer kultivierten Unterhaltung hochgebildeter                                                              13 HIRZEL (1895) 201 spricht von einem „Principat“ des Ammonios. KAHLE (1912) 36 „Omnibus sententiis refutatis postremo una restat Ammonii, qui princeps longa oratione sermonem ad finem adducit. Haec sententia valet, non refellitur, non vituperatur, non laudatur, neque ipse alia verba adicit quae sermonem concludant neque alius alia exitus verba facit, tamquam si omnes qui aderant tantopere illius verbis permoti sint, ut nihil dicere audeant. Sic in digno argumento eius verba maximam vim habent.“ BABUT (1969) 151 „Une réponse très nette nous est apportée par l’intervention finale d’Ammonios, où est concentrée toute la substance philosophique du dialogue, et dans laquelle Plutarque a voulu, de toute évidence, faire passer son point de vue propre.“ FLACELIÈRE (1974) 6 „C’est Ammonios qui incarne la sagesse de l’auteur mûri et vieilli.“ DEL CORNO (1983) 47 „Ad Ammonio, il filosofo platonico presente pure nel De defectu oraculorum, è attribuita qui una parte di più marcata preminenza. A lui compete sia d’impostare la discussione, sia di concluderla con un discorso assai superiore agli altri per bellezza, profondità e dignità: tanto da far pensare che, a differenza di altri casi, Plutarco abbia inteso proporre una soluzione unica e definitiva al problema, – naturalmente, la sua.“ BABUT (1992) 190 „[…] l’exposé final d’Ammonios, où s’expriment les vues personnelles de l’auteur sur le problème débattu par les personnages du dialogue.“ Ibid., 199 „[…] le personnage principal du dialogue, porte-parole de l’auteur.“ FERRARI (1995) 40 „Non è probabilmente azzardato sostenere che Ammonio rappresenta il portavoce di Plutarco non solo per quanto afferma nella sezione conclusiva del dialogo (la lezione di teologia e ontologia platonica), ma anche per le idee che presenta nel corso di tutta la conversazione.“ MORESCHINI (1997) 12 „[…] il dialogo è dominato dalla figura di Ammonio, il quale fornisce la vera soluzione del problema […].“ Mit stark pathetischem Einschlag schließlich SIRINELLI (2000) 426 „Il n’est pas difficile de voir que, derrière lui [sc. Ammonios, Anm. d. Verf.], se dissimule le vieux Plutarque, le Plutarque de la dernière étape, celui qui est assuré de sa foi, qui a su concilier philosophie et religion, le Plutarque de Delphes […].“ BROUT (2006) 118 „[…] De E, traité qui met en scène différents personnages et où le vieux sage Ammonios, porteparole de l’auteur, rectifie les propos du jeune Plutarque, qui n’en est qu’à ses débuts.“

1. Plutarchs Dialoge und ihr Publikum

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Individuen, in die jeder Teilnehmer seine Ansichten gleichberechtigt einbringt, ohne den Anspruch erheben zu können, die übrigen Unterredner von der Richtigkeit der eigenen Lösung dahingehend zu überzeugen, dass sie ihre jeweils individuelle Position zugunsten einer einzigen, der jeweils eigenen, Ansicht aufgeben.14 Auch wenn es in Plutarchs Dialogen nicht an Figuren fehlt,15 die mit besonderem philosophischen Gewicht und an herausgehobener Position im Gesprächsablauf – vorzugsweise als letzter Redner16 – auftreten, so ist in Plutarchs Dialogen doch nicht die kompositorische Absicht erkennbar, einen Redner so weit zu privilegieren, dass hinter dessen Ausführungen die Beiträge der übrigen Teilnehmer völlig verblassen: Die plutarchischen Dialoge sind keine Lehrgespräche, in deren Verlauf eine Autoritätsperson, hinter der sich der Autor des Textes verbirgt, ihre Gesprächspartner und damit stellvertretend den Leser dieser Dialoge von einer bestimmten Lehrmeinung zum vorliegenden Thema überzeugen soll,17 sondern eine mehrperspektivische Beleuchtung desselben, die nicht zur Vermittlung einer Lehre des Autors, sondern zur Darstellung von dessen facettenreicher Beschäftigung mit dem Thema unternommen wird.18                                                              14 Vgl. ZIEGLER (1951) 891 „Es werden wohl oft genug Fragen aufgeworfen, aber ihre Behandlung geschieht in der Form, daß von den Teilnehmern an der Diskussion verschiedene Lösungen in kürzerer oder längerer Rede vorgetragen werden, ohne daß in der Regel eine oder einige ganz verworfen und eine bestimmte Lösung als die allein richtige hingestellt wird.“ Vgl. auch FERRARI (1995) 30. Bezeichnend für die Bedeutung eines solchen Sozialverhaltens in plutarchischen Gesprächen ist, dass Teilnehmer, die dezidiert dogmatische Positionen einnehmen und keine Bereitschaft zum gemeinsamen Gespräch zeigen, aus der Gruppe ausscheiden, z.B. De def. or. 7, 413A–D der Kyniker Didymos Planetiades oder Sept. sap. conv. 3, 148E–149F der hochfahrende Alexidemos (vgl. HIRZEL, 1895, 147). 15 Vgl. BRENK (1977) 85 „He has his own favourite representatives it would seem: his brother Lamprias, friend Theon, former teacher Ammonios.“ 16 Vgl. ZIEGLER (1951) 891 „Doch ist die Komposition, schon aus künstlerischen Gründen, in der Regel so gestaltet, daß das Gewicht und der Wahrheitsgehalt der aufeinander folgenden Vorträge sich gegen das Ende hin ständig steigert […], und oft ist eine Person princeps dialogi, der entweder von vornherein hauptsächlich das Wort führt, die richtige Ansicht vorträgt und die von anderen Teilnehmern kommenden Einwände widerlegt, oder sich zunächst selbst zurückhält, nur Anregungen gibt, Kritik übt und erst gegen Ende in längerer Rede die richtige oder die wahrscheinlichste Lösung vorträgt.“ 17 Zur Recht schränkt TUSA MASSARO (2000) 128 die Tragweite des gebräuchlich gewordenen Begriffs „Sprachrohr“ – auch im Vergleich zu Platon – für Plutarch ein: „Plutarco e i suoi ‚portavoce‘ non costituiscono mai la figura del filosofo ‚superiore‘, nemmeno in quella particolare modalità che fu di Socrate.“ 18 Vgl. VAN DER STOCKT (2000) 96 „[…] no speaker should pretend that he has a monopoly on truth. Consequently, there will be an urge to formulate alternative and equally plausible solutions […] and to approach a question from various angles.“ Dass Plutarch zum selben Thema auch in unterschiedlichen Dialogen unterschiedliche Lösungsansätze verfolgen lässt, zeigt beispielhaft die andersartige Erklärung der Funktionsweise der Mantik in De defectu oraculorum gegenüber De Pythiae oraculis, in der sich weniger eine

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II. Widmung und Proömium

Das Konzept des „Sprachrohrs des Autors“ erscheint unter Annahme dieser Kommunikationsabsicht der plutarchischen Dialoge zumindest auf Kosten einer radikalen Verkürzung von deren Gehalt zu gehen. Seine Anwendung, mit deren Hilfe aus dem komplexen Gefüge und Aufeinander der verschiedensten Beiträge, die Plutarch seinen Gesprächsteilnehmern in den Mund legt, die Lehre des Autors herauspräpariert werden soll,19 ist jedoch noch aus einem weiteren Grund zweifelhaft: Platon hat (mit Ausnahme der Apologie und des expositorischen Teiles des Timaios) seine Lehre immer in Dialogform präsentiert, und der Leser ist somit berechtigt, wenn nicht – worauf bereits hingewiesen wurde – nachgerade genötigt, diese Lehre im Gang des λόγος nachzuvollziehen; sieht man noch von den Briefen ab,20 so existieren von Platon keine Darstellungen seiner Lehren in der ersten Person. Plutarch hingegen hat neben seinen Dialogen auch und gerade Abhandlungen im eigenen Namen verfasst, in denen er in erster Person zu den verschiedensten philosophischen Themenbereichen Stellung nimmt und aus denen sich ohne Schwierigkeiten bestimmte Lehren des Autors entnehmen lassen, ja der Leser gehalten ist, sich diese anzueignen, erörtern Plutarchs Abhandlungen doch zu einem nicht geringen Teil ethische Fragestellungen. In der Postulierung eines „Sprachrohrs des Autors“ in Plutarchs Dialogen erscheint mithin eine unzulässige Übertragung derjenigen autoritativen Rolle, die Plutarch in seinen Abhandlungen einnimmt, auf eine seiner Dialogpersonen vorzuliegen: Die eine Stimme Plutarchs, die dort dem Leser einen Lehrvortrag hält, ertönte hier schlicht durch den Mund eines bestimmten Gesprächsteilnehmers, und die Wahl der Dialogform verkäme entweder zu einer oberflächlichen imitatio Platonica oder zu einer abgeschmackt inszenierten Kathedervorlesung gegenüber einer Gruppe von Anwesenden, denen vom Autor ein Rederecht zum Thema nur eingeräumt würde, um ihre                                                              Meinungsänderung des Autors (vgl. dazu SCHRÖDER, 1990, 59–72 gegen FLACELIÈRE, 1943) sondern sein spezieller intellektueller Stil zeigt, wie SFAMENI GASPARRO (2000) 170 treffend festgehalten hat: „Basti notare che, dinnanzi alla tesi di un cambiamento piú o meno radicale nell’interpretazione plutarchea a proposito dell’ispirazione profetica, ci sembra piú verisimile e conforme allo stile intellettuale e letterario dell’autore quella di un approccio multiplo e aperto a soluzioni alternative che lo stesso Plutarco potè contestualmente accogliere e mantenere, anche nel trascorrere degli anni, avanzando altre complementari ipotesi esegetiche.“ 19 Die Schwierigkeit gerade dieses Unterfangens in einer Vielzahl von plutarchischen Dialogen hat BRENK (1977) 85 klar benannt: „Unlike some philosophers, Plutarch records through the masks of various personae the many strands of philosophical and religious speculation in his day, often without clearly revealing his own position. […] With a delightful avoidance of pontification, he rarely introduces himself into a major treatise, and sometimes where he does, we cannot be sure that the opinion put in his own mouth is the one most acceptable to him.“ 20 Ihre mehrheitliche Unechtheit gilt freilich als erwiesen.

1. Plutarchs Dialoge und ihr Publikum

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Positionen im Nachhinein durch das „Sprachrohr des Autors“ als unhaltbar erweisen zu lassen.21 So verfolgen Plutarchs Dialoge kaum didaktische Ziele, sondern wenden sich an Leser, die bereits über ein hohes Maß an philosophischer und literarischer Kennerschaft verfügen und Texte erwarten, in denen ihnen neue Kombinationen und Assoziationen zwischen Thema und Argument, Argument und philosophischem Ansatz, philosophischer Position und Dialogfigur präsentiert werden; gerade Plutarchs berühmte Anspielungs- und Zitatenpraxis zeigt, dass in seinen Texten die Variation weit höhere Bedeutung als die Innovation hat. Dies trifft gerade in solchen Fällen zu, in denen Plutarch offenbar einer von ihm geteilten Überzeugung durch deren Behandlung in einem Dialog besonderen Nachdruck verleihen will: Wenn Plutarch beispielsweise in De sera numinis vindicta sich selbst als Dialogfigur eine umfangreiche Argumentation gegen die These führen lässt, die späte Strafe der Götter sei ungerecht, oder der Gesprächsteilnehmer Theon in De Pythiae oraculis strukturell ähnlich Argument auf Argument gegen den Verdacht häuft, die Sprüche der Pythia stammten nicht von Apollon, so handelt es sich hier wie dort eher um eine Präsentation der Fähigkeiten des Autors, auf höchstem Bildungsniveau jeden Zweifel an der Richtigkeit der in der Regel von allen Gesprächsteilnehmern ohnehin geteilten Ausgangsüberzeugung auszuräumen, als um ein dialektisches Ringen um die richtige Erfassung des Phänomens an sich, auf das sich alle Gesprächspartner in einzelnen gedanklichen Schritten zu einigen versuchen. Für den von Plutarch intendierten Leser dürfte der anzustrebende Gewinn aus der Lektüre der Dialoge ganz wesentlich in der kulturell-intellektuellen Selbstbestätigung gelegen haben, die er dann erfahren kann, wenn er in der Lage ist, die literarisch geformten Gespräche auf dem vom Autor vorgegebenen geistig-künstlerischen Niveau genießen zu können. Dieser Genuss setzt aber voraus, dass der Leser die intellektuelle Eleganz der Argumentationen einzelner Dialogfiguren zugunsten oder gegen eine bestimmte These zu dem in Rede stehenden Problem als kreative Aktivierung, Variierung und Neukontextualisierung philosophischer, literarischer und allgemein kulturgeschichtlicher Wissensbestände, mithin des Repertoires Plutarchs, ohne zusätzliche Hilfsmittel erkennen und würdigen kann, mithin über die enzyklopädischen Grundlagen und eine entsprechende geistige Elastizität ver                                                            

Darauf, dass De E apud Delphos auf den modernen Leser einen solchen Ersteindruck machen kann, hat BABUT (1992) 190 in einer Problemanzeige hingewiesen: „D’où l’impression que la seule raison d’être des interventions précédentes, selon la conception qui a prévalu dans la composition de cette œuvre, est de servir en quelque sorte de repoussoir à l’exposé final d’Ammonios, où s’expriment les vues personnelles de l’auteur sur le problème débattu par les personnages du dialogue.“ 21

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II. Widmung und Proömium

fügt, die ihn zu einer kennerhaften, beobachtend-mitvollziehenden Rezeptionshaltung gegenüber Plutarchs Gesprächsschöpfungen befähigen. Bei Sarapion, dem Adressaten der ‚Pythischen Dialoge‘, dürfte dies zuallererst zutreffen.

2. Sarapion als Adressat von De E apud Delphos Die vorstehenden Bemerkungen zur kultursoziologischen Situierung der Dialoge Plutarchs, mithin zum intellektuell-elitären Milieu, dessen reale Gesprächskompetenzen und Bildungsinteressen den lebensweltlichen Horizont für eine den philosophisch-künstlerischen Produktionsusancen Plutarchs adäquate Rezeptionshaltung bilden, sind für eine Untersuchung des Dialoges De E apud Delphos nicht nur von allgemeiner Bedeutung: Sie sind vielmehr grundlegend, da Plutarch dem eigentlichen Proömium des Dialoges und dem Dialog selbst eine ausführliche Widmung der ‚Pythischen Dialoge‘, die mit dem Dialog De E apud Delphos eröffnet werden, an den Athener Sarapion und den gemeinsamen Freundeskreis Sarapions und Plutarchs in Athen vorausgeschickt hat. Solche Widmungsadressen, dies hat das Beispiel der Quaestiones Convivales gezeigt, sind in Plutarchs Werk keine Seltenheit – kurioser Weise enthält der Anfang von De defectu oraculorum, dessen fiktiver Erzähler freilich Plutarchs Bruder Lamprias ist, eine erneute Grußadresse an Terentius Priscus22 –, doch im Falle der ‚Pythischen Dialoge‘ bzw. von De E apud Delphos eine Besonderheit: Einerseits hat Plutarch seine sonstigen Dialogwerke (abgesehen von den Quaestiones Convivales und im Unterschied vor allem zu seinen ethischen Traktaten) nicht mit Widmungsadressen versehen, andererseits enthält die Widmung an Sarapion und die Athener Freunde eine Fülle an Details, die einen Einblick in die Produktions- und Rezeptionsbedingungen sowie die Konventionen jenes elitären Gesprächs der kultivierten griechisch-römischen Oberschicht erlauben, als deren Teil die Dialoge Plutarchs fungieren, eine Fülle, mit deren literatursoziologischer Bedeutung sich nur die Vorreden zu den einzelnen Büchern der Quaestiones Convivales messen können.23 Sarapion ist ohne Zweifel zum engeren Freundeskreis Plutarchs zu zählen, wie angesichts von De E apud Delphos ganz allgemein die Tatsache der Widmung, die dortige Erwähnung gemeinsamer Freunde sowie beiläufige                                                             

22 Vgl. De def. or. 1, 409E Ἀετούς τινας ἢ κύκνους, ὦ Τερέντιε Πρῖσκε, μυθολογοῦσιν κτλ. Terentius Priscus wird von Martial als Mäzen genannt und war wohl selbst in ähnlicher Weise wie Plutarch literarisch tätig, vgl. STEIN (1934); ZIEGLER (1951) 694; PUECH (1992) 4885. 23 Vgl. hierzu VAN DER STOCKT (2000).

2. Sarapion als Adressat

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auktoriale Kommentare Plutarchs als Erzähler des späteren Dialogs belegen, die eine große Vertrautheit zwischen Plutarch und Sarapion voraussetzen.24 Zugleich ist Sarapion Angehöriger jener gesellschaftlich-kulturellen Elite, für die Plutarch schreibt, wie weitere Zeugnisse in Plutarchs Werk selbst und externe zeitgenössischen Quellen zweifelsfrei belegen. So findet das in Quaestiones Convivales 1, 10 berichtete Gespräch anlässlich der Siegesfeier statt, die Sarapion nach einem Choregenerfolg mit der Phyle Leontis bei den Dionysien ausrichtet.25 Dieses hohes Sozialprestige voraussetzende wie belohnende politisch-kulturelle Engagement dürfte Sarapion nicht nur aufgrund seines für die Übernahme einer Choregie notwendigen finanziellen Wohlstandes zugefallen sein, sondern darüber hinaus auch seinen künstlerischen Ambitionen entsprochen haben, denn von Sarapion ist bezeugt, dass er selbst dichterisch tätig war.26 Plutarch selbst lässt Sarapion in De Pythiae oraculis als besondere Autorität für Dichtung auftreten: Als es dort um die bisweilen deplorable dichterische Qualität der metrischen Orakelsprüche geht, wird Sarapion von dem Gesprächsteilnehmer Boethos als Fachmann konsultiert: „Dass aber die Verse der Orakelsprüche nicht gut gemacht sind, ist doch wohl auch nach deinem […] Urteil, mein lieber Sarapion, klar. Denn du schreibst Dichtungen, die inhaltlich philosophisch und streng, in ihrer Wirkung aber, ihrer Anmut und der Wortwahl mehr den Versen Homers und Hesiods gleichen als denjenigen, die die Pythia von sich gibt.“27 Zu seinen künstlerischen Neigungen trat bei Sarapion, wie das vorstehende Zitat bereits andeutet und aus Sarapions weiterem Auftritt in De Pythiae oraculis deutlich wird, eine überzeugte Anhängerschaft an die Stoa. In De Pythiae oraculis äußert sich diese in der strikten Verteidigung der apollinischen Mantik gegen die Anwürfe des orthodoxen Epikureers Boethos. In der Anfangsauseinandersetzung des Gesprächs, so scheint es, hat Plutarch den Stoiker Sarapion als den natürlichen Feind des Epikureers eingeführt, und die sehr lebhafte Zeichnung der Dialogfigur Sarapion, die auch an feiner Ironie nicht spart, dürfte ein weiteres Zeugnis für die enge                                                              24 Vgl. beispielsweise die Vorstellung von Dialogpersonen mit Kurzcharakteristiken wie Λαμπρίας ὁ ἀδελφός (De E 3, 385D) und οἶσθα γὰρ Θέωνα τὸν ἑταῖρον (De E 6, 386D). 25 QC 1, 10, 1, 628A ἐν δὲ τοῖς Σαραπίωνος ἐπινικίοις, ὅτε τῇ Λεοντίδι φυλῇ τὸν χορὸν διατάξας ἐνίκησεν. 26 Vgl. die Auswertung archäologischer Zeugnisse bei PUECH (1991) 4876 mit weiterer Literatur sowie ZIEGLER (1951) 683–684 und BABUT (1993) 206f. Eine literaturgeschichtliche Einordnung der Dichtungen Sarapions versucht V. WILAMOWITZ-MOELLENDORFF (1941) 217f. 27 De Pyth. or. 5, 396F τὸ δ’ πεποιῆσθαι τὰ περὶ τοὺς χρησμοὺς καὶ σοὶ κριτῇ δήπουθεν, ὦ φίλε Σαραπίων, εἶπεν, ἐναργές ἐστι. Ποιήματα [μὲν] γὰρ γράφεις τοῖς μὲν πράγμασι φιλοσόφως καὶ αὐστηρῶς, δυνάμει δὲ καὶ κατασκευῇ περὶ λέξιν ἐοικότα τοῖς Ὁμήρου καὶ Ἡσιόδου μᾶλλον ἢ τοῖς ὑπὸ τῆς Πυθίας ἐκφερομένοις.

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II. Widmung und Proömium

Vertrautheit Plutarchs mit dem historischen Sarapion abgeben. Wie anders ist es sonst denkbar, dass Theon, ein weiterer Gesprächsteilnehmer dieses Dialogs und späterer Hauptredner, nach einer leidenschaftlichen Moralpredigt Sarapions „mit einem Lächeln“ verkünden darf: „Sarapion […] hat sich ganz nach seiner Art benommen und sich an einer beiläufigen Rede über Ate und Hedone ergötzt. Wir aber …“28 Eine ähnliche Fähigkeit zur Selbstironie bei Sarapion scheint Plutarch auch wenig später vorauszusetzen, wenn er Philinos, Dialogteilnehmer und -erzähler, eine stoische Erklärung, die Sarapion zur Bedeutung eines künstlerischen Details an einer Weihegabe für Apollon in Delphi abgibt, als übertrieben-abwegig auslachen29 und eine der Erklärung zugrundeliegende Identifikation der Sonne mit Apollon kritisieren lässt.30 Wie wenig sich überhaupt aus Sarapions philosophischer Ausrichtung eine persönliche Ablehnung solcher Gesprächsbeiträge der von Plutarch gewiss aus persönlicher Erfahrung gezeichneten Dialogfigur Sarapion herauslesen lässt, zeigt schließlich eine letzte Passage aus De Pythiae oraculis, wo Plutarch Sarapion dem langsam einlenkenden notorischen Zweifler Boethos gegenüber regelrecht den methodischen Leitsatz formulieren lässt, nach dem eine Erörterung über die Göttlichkeit der pythischen Orakel anständigerweise zu führen ist: „Diese deine Worte, lieber Boethos, sind angemessener und musischer; denn es geht nicht an, dass man den Gott bekämpft und mitsamt der Mantik auch die Vorsehung und das Göttliche beseitigt, vielmehr gehört es sich, für die scheinbaren Widersprüche Lösungen zu suchen und die fromme Überzeugung unserer Väter nicht aufzugeben“, wofür er von Philinos ausdrücklich gelobt wird: „Du hast recht, Sarapion, mein Bester!“31 Dass die Kritik, die die Dialogfigur Sarapion in De Pythiae oraculis bisweilen einstecken muss, keineswegs ein von Plutarch intendiertes positives Portrait Sarapions unterminiert, wurde vorstehend bereits daraus erklärt, dass Plutarch offenbar mit dem Adressaten der ‚Pythischen Dialoge‘ so vertraut war, dass er auf eine hohe Fähigkeit zur Selbstironie bei seinem ersten Leser rechnen konnte. Anders ist es auch nicht erklärbar, dass Plutarch Sarapion überhaupt die ‚Pythischen Dialoge‘ gewidmet haben sollte, wenn der historische Adressat Sarapion durch die Kritik, die an den Thesen seiner                                                             

28 De Pyth. or. 7, 397B εἰπόντος δὲ ταῦτα τοῦ Σαραπίωνος ὁ Θέων μειδιάσας ὁ Σαραπίων μέν, εἶπε, τὸ εἰωθὸς ἀποδέδωκε τῷ τρόπῳ, λόγου περὶ Ἄτης καὶ Ἡδονῆς παραπεσόντος ἀπολαύσας, ἡμεῖς δ’ κτλ. 29 De Pyth. or. 12, 400ΑΒ … γελάσας ἐγὼ ποῦ σὺ πάλιν, εἶπον, ὦ χρηστέ, τὴν Στοὰν δευρὶ παρωθεῖς καὶ ὑποβάλλεις ἀτρέμα τῷ λόγῳ τὰς ἀνάψεις καὶ ἀναθυμιάσεις κτλ. 30 Vgl. De Pyth. or. 12, 400CD. 31 De Pyth. or. 18, 402E ὁ Σαραπίων ἐπιεικέστερα ταῦτ’, εἶπεν, ὦ Βόηθε, καὶ μουσικώτερα· δεῖ γὰρ μὴ μάχεσθαι πρὸς τὸν θεὸν μηδ’ ἀναιρεῖν μετὰ τῆς μαντικῆς ἅμα τὴν πρόνοιαν καὶ τὸ θεῖον, ἀλλὰ τῶν ὑπεναντιοῦσθαι δοκούντων λύσεις ἐπιζητεῖν τὴν δ’ εὐσεβῆ καὶ πάτριον μὴ προΐεσθαι πίστιν. ὀρθῶς, ἔφην ἐγώ, λέγεις, ἄριστε Σαραπίων.

2. Sarapion als Adressat

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Dialogfigur geübt wird, philosophisch zurechtgewiesen, belehrt oder umerzogen werden sollte. Wäre dies die Absicht hinter Plutarchs literarischem Portrait des Adressaten der Dialoge, so würde dies nichts weniger als eine Brüskierung des Freundes bedeuten, die durch die Tatsache, dass Plutarch in der Widmungsadresse der ‚Pythischen Dialoge‘, die De E apud Delphos einleitet, Sarapion ausdrücklich dazu anhält, die Dialoge auch unter den gemeinsamen Freunden in Athen zu verbreiten,32 sich zu einer regelrechten Bloßstellung auswüchse. Bevor die Widmung an Sarapion eingehend besprochen werden soll, muss auf den eben genannten wichtigen Punkt näher eingegangen werden, denn bereits bei den weiteren Implikationen dieser Widmung wird deutlich, dass die in der Einleitung kritisierte Lesart der Dialoge, die deren konstitutive Vielstimmigkeit ignoriert, dekontextualisierbare philosophische Überzeugungen Plutarchs aus ihnen zu kondensieren versucht und dieses Kondensat wiederum zum Maßstab der Erklärung und Wertung der Beiträge einzelner Dialogteilnehmer heranzieht, zu unüberbrückbaren Widersprüchen führt, wenn man den literatursoziologischen Sitz von Plutarchs Dialogliteratur im Leben der intellektuellen Elite, für die Plutarch schreibt, ernst nimmt. Denn jene soziale Geste der Brüskierung und Bloßstellung, die eine von Plutarch intendierte Kritik an den philosophischen Ansichten des historischen Sarapion durch ein entsprechendes literarisches Portrait seines Freundes in De Pythiae oraculis ohne Zweifel bedeutet hätte, wenn Plutarch sich nicht sicher sein konnte, dass Sarapion als Adressat dieses Dialoges sein Portrait nicht als Denunziation lesen würde, ist Plutarch – wenn auch in verharmlosender Formulierung – mit guter Regelmäßigkeit in einer Forschungstradition unterstellt bzw. zugetraut worden, die Plutarchs Dialoge wie orthodoxe Lehrschriften und persönliche Glaubensbekenntnisse ihres Autors zu lesen gewohnt ist. Da Plutarch, so ein verbreiteter Interpretationsreflex, als Platoniker die Lehren der Stoa (sowie die Epikurs) grundsätzlich ablehnte, muss – unabhängig von ihrem Kontext – jeder Gesprächsbeitrag in den Dialogen, der sich implizit oder explizit auf die Stoa beruft, in den Augen Plutarchs ein philosophisches Fehlurteil enthalten. Wird sie zudem explizit kritisiert, so könne aus einer solchen Kritik wiederum Plutarchs eigene philosophische Position rekonstruiert werden. Nach diesem Modell hat BABUT die ‚Pythischen Dialoge‘ durchgesehen33 und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass                                                             

32 De E 1, 384E ἐγὼ γοῦν πρὸς σὲ καὶ διὰ σοῦ τοῖς αὐτόθι φίλοις τῶν Πυθικῶν λόγων ἐνίους ὥσπερ ἀπαρχὰς ἀποστέλλων κτλ. 33 Mit demselben Ansatz arbeitet ROSKAM (2006), besonders 199–203, der sich unter anderem kritisch mit Sarapions Aussagen über die Identität von Apollon und der Sonne befasst, siehe dazu unten, S. 313.

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II. Widmung und Proömium

einer beinahe durchweg negativen Zeichnung von Auftritten und Äußerungen stoisch argumentierender Dialogfiguren – Sarapion inbegriffen – 34 eine durchweg positive Präsentation von Platonikern und deren Aussagen gegenüberstehe, die in der Erörterung der nach BABUTs Auffassung zentralen philosophischen Fragestellung aller drei Dialoge nach dem Wesen des Göttlichen die richtige Position einnehmen und Plutarchs eigene Ansichten vertreten: Ein platonisch-transzendentes Gotteskonzept, aus dessen Perspektive die stoisch-materialistische Theologie einen gravierenden Fehler darstellt.35 Plutarchs Widmung der ‚Pythischen Dialoge‘ an Sarapion und die Athener Freunde, auf deren außerordentliches Zuvorkommen36 und nicht in Zweifel zu ziehende Ehrlichkeit37 BABUT ausdrücklich hinweist, lässt sich für ihn mit dieser harschen Kritik an der stoischen Theologie allein so vereinbaren, dass Plutarch offenbar das gesamte Corpus der ‚Pythischen Dialoge‘ nur mit dem einen Ziel verfasst hat, Sarapion von seinem stoischen Irrglauben zu befreien und zu einem transzendent-platonischen Gottesbild zu führen.38 Obwohl BABUT nicht müde wird, das offenbar sehr enge freundschaftliche und intellektuelle Verhältnis Sarapions zu Plutarch hervorzuheben,39 das gerade in der Widmung zu Beginn von De E apud Delphos                                                             

So BABUT (1993) zu Sarapions Auftritt in De Pythiae oraculis: „On doit donc admettre que le bilan du premier échange auquel participe Sarapion (396c–97c) […] est plutôt négatif. Le Stoïcien y apparaît en effet constamment isolé face à ses interlocuteurs. Il ne tient pas compte des faits, auxquels il oppose, sans convaincre personne, les affirmations dogmatiques de son école.“ 35 Vgl. BABUT (1993) 224 „Pourquoi Plutarque fait-il endosser par le personnage qui porte son nom des conceptions théologiques typiquement stoïciennes, qui n’ont aucun parallèle dans ses autres œuvres, et qui contredisent manifestement ses convictions?“ 36 BABUT (1993) 208 „Si l’on rapproche cette dédicace des vingt et une autres que nous offre l’œuvre conservée de Plutarque, on s’aperçoit qu’aucun des autres dédicataires, pas même les personnalités les plus éminentes ou les plus proches de l’auteur, n’est traité avec autant de faveur que le Stoïcien Sarapion.“ 37 vgl. BABUT (1993) 207. 38 So das Fazit bei BABUT (1993) 226 (mit Bezug auf De E 21, 393CD) „[…] on ne peut en effet plus douter que cette exhortation s’adresse avant tout à Sarapion, à Philippe et sans doute à d’autres amis stoïciens de Plutarque, et que celui-ci, en dédiant au poète-philosophe athénien et à ses compagnons le premier de ses Πυθικοὶ λόγοι, était animé par l’espoir de les inciter à une réflexion approfondie sur les problèmes religieux qu’il y abordait, afin de les aider à s’élever “plus haut” et à accéder à une vision épurée de la nature divine. C’est pourquoi on osera conclure que les Dialogues pythiques ont été conçus dans le dessein de “réveiller” Sarapion et ses semblables de leur rêve stoïcien, afin de les convertir, en quelque sorte, à la saine théologie, inspirée de Platon, qui reconnaît pleinement la transcendance du divin.“ 39 BABUT (1993) 206 „Il s’agit, à n’en pas douter, d’un ami très proche de l’auteur […].“ ibid. 207 „Il faut même ajouter qu’il semble avoir été intellectuellement plus proche de l’auteur que d’autres personnages des dialogues, y compris Philippe.“ 34

2. Sarapion als Adressat

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zutage trete,40 reduziert er doch die Erklärung dafür, warum Sarapion der Adressat der ‚Pythischen Dialoge‘ ist, auf einen einzigen, den besagten doktrinär-theologischen Punkt: „On est donc amené à se demander pourquoi le seul destinataire stoïcien d’une œuvre de Plutarque est distingué de cette façon.“41 Nicht etwa das eben noch betonte, offenbar äußerst enge persönliche Verhältnis zwischen Plutarch und Sarapion kann in BABUTs Augen die explizite Liebenswürdigkeit der Widmung der ‚Pythischen Dialoge‘ begründen, sondern: „On est donc forcé d’en inférer que c’est justement l’affiliation stoïcienne de Sarapion – même si Plutarque n’en fait pas expressément état dans la dédicace du De E – qui devrait valoir à ce personnage le traitement de faveur dont il bénéficie.“42 Diese reduktionistische These grenzt freilich den impliziten Rezeptionshorizont des Adressaten Sarapion und der Athener Freunde auf den Einzelaspekt einer richtigen philosophischen Theologie ein und blendet konsequent alle übrigen Themen aus, die in den ‚Pythischen Dialogen‘ behandelt werden, genauso wie sie nicht recht erklären kann, weshalb Plutarch Sarapion ein Dialogcorpus und keinen theologischen Traktat nach der Art seiner oft als Werke der „Seelenheilung“ charakterisierten ethischen Sendschriften gewidmet hat. Besonders aber zwingt sie den Interpreten von De E apud Delphos zu nicht wenigen Gewaltsamkeiten und philologisch sowenig wie psychologisch nachvollziehbaren Deutungen gerade derjenigen späteren Passagen von De E apud Delphos – wie der Reden Theons und ‚Plutarchs‘ – hinter denen stoische Theoreme stehen. Denn diese können dann, wenn es Plutarch um eine Umerziehung Sarapions zu tun gewesen wäre, nur mit einem ablehnendem Unterton formuliert worden sein, für den es jedoch kaum einen Anhalt im Text gibt. Der präzise Nachweis der geringen Plausibilität derartiger Deutungen dieser Passagen wird im Rahmen der Untersuchung der einzelnen Redebeiträge in De E apud Delphos geführt werden. Doch sei schon hier angemerkt, dass beispielsweise das stoische Theorem in der Rede ‚Plutarchs‘ in seinem Argumentationskontext zweifellos einen intellektuellen Höhepunkt und ein durch und durch plutarchisches Kabinettstück kreativer Kombination unterschiedlichster Bestände seines Repertoires darstellt. Folgt man hingegen BABUT, so soll Sarapion die argumentative Funktionalisierung der Ekpyrosislehre nicht wahrnehmen können, sondern diese de-

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BABUT (1993) 207 „Mais cette proximité intellectuelle de Sarapion et de Plutarque ressort surtout de la dédicace adressée au poète stoïcien au début du De E (384d1–e10).“ 41 BABUT (1993) 208 [Kursivierung im Original]. 42 BABUT (1993) 208.

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II. Widmung und Proömium

kontextualisiert als artig in einen stellvertretenden Fehler der Figur ‚Plutarch‘ verpackte Kritik an der stoischen immanentistischen Theologie lesen.43 Wäre dies richtig, hätte Plutarch nicht nur künstlerisch einen ganz unsinnigen Aufwand mit der Entwicklung von ‚Plutarchs‘ Argumentation getrieben, wenn er Sarapion nicht zugetraut hätte, die Verwendung der stoischen Ekpyrosislehre aus ihrem Kontext heraus zu verstehen, sondern auch sein eben noch gezeigtes Feingefühl bei der theologischen Umerziehung Sarapions später in der Ammoniosrede völlig desavouiert: Als Ammonios nämlich auf den inkriminierten Punkt zurückkommt, ist er wenig zimperlich und bezeichnet Vorstellungen wie die Ekpyrosislehre als οὐδ’ ἀκούειν ὅσιον44. Man wird mithin der These BABUTs, die in der Forschung durchaus Anklang gefunden hat,45 mit Skepsis begegnen und Sarapion als adäquaten Adressaten der ‚Pythischen Dialoge‘ nicht zu einem theologisch-philosophisch fehlgeleiteten und platonisch-orthodox umzuerziehenden Stoiker degradieren, sondern ihm einen geistigen Horizont zugestehen wollen, der ihn in Plutarchs Augen dazu qualifiziert, die komplexen Argumentationen und künstlerisch anspruchsvolle Gestaltung der ‚Pythischen Dialoge‘ und zuvörderst des Dialoges De E apud Delphos in einer für einen Angehörigen der intellektuellen Oberschicht seiner Zeit charakteristischen gelehrten Noblesse zu würdigen, einer Noblesse, die Plutarch selbst in seiner Widmung der ‚Pythischen Dialoge‘ an Sarapion an den Tag legt, die nun genauer untersucht werden soll.

3. Die Widmung an Sarapion Die Widmung an Sarapion, die Plutarch De E apud Delphos vorausgeschickt hat, verbindet in eleganter Weise persönlich-private Anspielungen auf das

                                                             43 BABUT (1993) 224 widerruft zunächst seine (BABUT, 1969, 153) frühere Interpretation, das stoische Theorem im Munde ‚Plutarchs‘ sei als „hommage au destinataire stoïcien de l’œuvre“ gedacht und fährt fort: „On peut en revanche se demander si en attribuant à son propre personnage des idées proches de celles des Stoïciens et allant directement à l’encontre de la doctrine théologique ensuite exposée par Ammonios, Plutarque n’aurait pas cherché à adresser le plus délicatement possible à Sarapion et à ses amis d’Athènes ce qui était sans doute le message principal des Πυθικοὶ λόγοι qu’il leur dédiait: confondre la divinité avec un monde qui ne cesse de se faire et se défaire, c’est nier, en définitive, les deux charactéristiques essentielles par lesquelles les Stoïciens eux-mêmes définissaient la notion du divin: l’incorruptibilité et la Providence […].“ 44 De E 21, 393E. 45 Vgl. OPSOMER (2006) 162 „L’hypothèse de Babut est attractive.“

3. Die Widmung an Sarapion

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Verhältnis Plutarchs zum Adressaten der Widmung mit allgemein-repräsentativen Aussagen nachgerade werbenden Charakters46 über die von beiden geteilten kulturell-intellektuellen Ideale, die in der philosophischen Schriftstellerei und der Veröffentlichung von deren Produkten zum Ausdruck kommen. Auf den eigentlichen Inhalt der ‚Pythischen Dialoge‘, die Plutarch Sarapion in der Widmungsadresse ankündigt, oder auf eine an diesen Inhalt gebundene Wirkungsintention dieser Texte geht Plutarch hingegen mit keinem Wort ein. Dies bedeutet freilich nicht, dass sich Plutarch von der Übersendung der ‚Pythischen Dialoge‘ an Sarapion und die gemeinsamen Freunde in Athen keinerlei Wirkung erhofft; vielmehr entwirft Plutarch in der Widmungsadresse ein Idealbild einer gesellschaftlichen Oberschicht, deren Mitglieder sich durch den Austausch ihrer literarisch-philosophischen Texte ihrer gegenseitigen Wertschätzung und ihrer gemeinsamen Werte versichern. Die Grußadresse gliedert sich in drei Abschnitte: Plutarch berichtet Sarapion zunächst von einer Lesefrucht, „nicht üblen Verschen“, und liefert dann umgehend eine Einordnung dieser Verse in ihren Ursprungskontext; nach dem Urteil des Dikaiarchos soll Euripides sie zu Archelaos gesprochen haben. Es folgt das Zitat der Verse selbst („Ich Armer möchte dir Reichem keine Geschenke machen, damit du mich nicht für verrückt hältst oder ich den Eindruck erwecke, durch meine Gabe um etwas zu bitten“) sowie deren Erklärung: Wer einem vermögenden Mann ein Geschenk aus seinen vergleichsweise geringen Mitteln macht, gerät in den Verdacht, ein hinterlistiger und niedriger Charakter zu sein, da er nicht darauf rechnen kann, dass ihm sein Geschenk als selbstlose Gabe ausgelegt wird.47 Um die eigentliche Pointe dieser einleitenden Gedanken vorzubereiten, erklärt Plutarch dann, dass die Euripidesverse freilich nur für materielle Gaben gelte, denn bei Gaben „die aus Verstand und Weisheit hervorgehen“, verhalte sich die Sache regelrecht umgekehrt: Sie sind den materiellen Gaben an „Freimut und Schönheit“ weit überlegen, da bei ihnen sowohl das Schenken selbst als auch die Forderung nach einer gleichen Gegengabe etwas Schönes sei.48 Damit kommt Plutarch schließlich zu seinem Anliegen, in dessen Formulierung                                                              46 VAN DER STOCKT (2000) 101 spricht in diesem Zusammenhang von „a piece of subtle flattery.“ 47 De E 1, 384D στιχιδίοις τισὶν οὐ φαύλως ἔχουσιν, ὦ φίλε Σαραπίων, ἐνέτυχον πρῴην, ἃ Δικαίαρχος Εὐριπίδην οἴεται πρὸς Ἀρχέλαον εἰπεῖν· οὐ βούλομαι πλουτοῦντι δωρεῖσθαι πένης, μὴ μ᾿ ἄφρονα κρίνῃς ἢ διδοὺς αἰτεῖν δοκῶ. χαρίζεται μὲν γὰρ οὐδὲν ὁ διδοὺς ἀπ᾿ ὀλίγων μικρὰ τοῖς πολλὰ κεκτημένοις, ἀπιστούμενος δ᾿ ἀντὶ μηδενὸς διδόναι κακοηθείας καὶ ἀνελευθερίας προσλαμβάνει δόξαν. 48 De E 1, 384DE ὅρα δ᾿ ὅσον ἐλευθεριότητι καὶ κάλλει τὰ χρηματικὰ δῶρα λείπεται τῶν ἀπὸ λόγου καὶ σοφίας, καὶ διδόναι καλόν ἐστι καὶ διδόντας ἀνταιτεῖν ὅμοια παρὰ τῶν λαμβανόντων.

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II. Widmung und Proömium

er auf ironisch-witzige Weise die hehren Intentionen des Schenkers geistiger Gaben angesichts der Verhältnisse, in denen Sarapion und die Freunde in Athen leben, wieder halb zurücknimmt. „Ich gestehe immerhin, dass ich, indem ich einige der Pythischen Dialoge an Dich und durch Dich an die dortigen Freunde als eine Art Erstlingsspende schicke, weitere, zahlreichere und bessere Dialoge von Euch erwarte, da Ihr ja in einer großen Stadt lebt und mehr Gelegenheiten habt, Euch mit zahlreichen Büchern und vielfältigen Studien zu befassen.“49 Plutarch, so die Pointe, möchte mit seiner Übersendung einiger der ‚Pythischen Dialoge‘ an Sarapion und die Athener Freunde eben doch in – freilich ironisch gefärbter – Hinterhältigkeit einen Vorteil für sich herausschlagen, der zwar nicht auf materiellen Gewinn, wohl aber auf einen intellektuellen Genuss abzielt, denn Sarapion und die Athener haben, wie Plutarch begründend hinzusetzt, sowohl den besseren Zugang zu Büchern als auch mehr Zeit für Studien und geistigen Austausch, befinden sich mithin in einer Situation relativen „Reichtums“ gegenüber Plutarch, der sich implizit als einen vielfach abgelenkten und unter den dürftigen Produktionsbedingungen in der böotischen Kleinstadt Chaironeia leidenden Literaten stilisiert. Die noble Heiterkeit und witzige Eleganz dieser Widmungsadresse gründet sich auf die Kombination von persönlichen Anspielungen auf Sarapion und Plutarch selbst mit allgemein-repräsentativer Steigerung zu einem Idealbild von Intellektuellen, die sich ihre neuesten Produkte zu gegenseitigem Gewinn zueignen. So verbindet Plutarch gleich mit den Eingangsworten an den „lieben Sarapion“ mit der Erwähnung jener „nicht üblen“ Verschen des Euripides eine persönliche Reverenz an Sarapion als einer Autorität in dichterischen Angelegenheiten50 mit einer gelehrten Reminiszenz an die Interpretation dieser Verse durch Dikaiarchos, Euripides habe sie an den makedonischen König Archelaos gerichtet, an dessen Hof der Dichter seine letzten Jahre verbracht hat.51 Diese Reminiszenz wiederum scheint nicht so sehr zur Schau gestellte Gelehrsamkeit zu sein, als vielmehr eine weitere Anspielung auf Sarapion zu enthalten, der, wie bezeugt, offenbar außerordentlich wohlhabend war,52 sich mithin für eine implizit-scherzhafte                                                             

49 De E 1, 384E ἐγὼ γοῦν πρὸς σὲ καὶ διὰ σοῦ τοῖς αὐτόθι φίλοις τῶν Πυθικῶν λόγων ἐνίους ὥσπερ ἀπαρχὰς ἀποστέλλων ὁμολογῶ προσδοκᾶν ἑτέρους καὶ πλείονας καὶ βελτίονας παρ᾿ ὑμῶν, ἅτε δὴ καὶ πόλει χρωμένων μεγάλῃ καὶ σχολῆς μᾶλλον ἐν βιβλίοις πολλοῖς καὶ παντοδαπαῖς διατριβαῖς εὐπορούντων. 50 Vgl. dazu oben, S. 37. 51 Eur. frg. 969 Kannicht. Beim Inhalt dieser Verse handelt es sich offenbar um eine populäre Weisheit, die sich ähnlich auch in CGFP 310 Austin und [Men.] monost. 465 Jäkel findet, so KANNICHT, ad loc. Die in der modernen Forschung nicht vertretene Theorie, die Verse hätten ursprünglich in Euripides’ Archelaos gestanden, stammt offenbar allein von Dikaiarchos. 52 Vgl. dazu oben, S. 37.

3. Die Widmung an Sarapion

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Gleichsetzung mit dem reichen König Archelaos eignet, demgegenüber Plutarch als „armer Euripides“ die Maxime der Verse zu beachten gelobt. Dies ist freilich nicht die einzige humorvolle Spiegelung des Verhältnisses zwischen Sarapion und Plutarch in größeren Figuren des griechischen kulturellen Erbes. Vielmehr erfährt auch diese Spiegelung noch eine weitere Variation oder, so man will, eine Steigerung, wenn Plutarch auf die Intention zu sprechen kommt, in der er Sarapion und den Athener Freunden „einige der Pythischen Dialoge“ zusendet: „Gleichsam als eine Erstlingsspende“ (ὥσπερ ἀπαρχάς) sei diese Gabe mehrerer Texte zu verstehen, von der sich Plutarch reichere Gegengaben aus Sarapions Athener Intellektuellenzirkel erhofft. Da es sich bei ἀπαρχή um einen sakralen Terminus handelt,53 der unter anderem die Spende eines Anteils am eigenen Wohlstand an einen Gott bezeichnet, dessen fortgesetzter Gunst und (im Verhältnis zum Umfang der Spende) noch größeren Segens man sich versichern will, so rückt Sarapion hier gar in die Rolle eines Gottes, Apollons, wie der weitere Verlauf des Textes unschwer erkennen lässt, von dem Plutarch sich als frommer Verehrer eben jene Gegengaben in Gestalt „weiterer, zahlreicherer und besserer“ Texte aus Sarapions Kreis in Athen verspricht.54 All die anspielungsreichen und witzig-ironisch getönten Artigkeiten, die Plutarch somit in seiner Widmungsadresse an Sarapion richtet, dienen zweifellos nicht allein einer freundschaftlichen captatio benevolentiae55 Sarapions als des intendierten ersten Lesers der ‚Pythischen Dialoge‘ und speziell von De E apud Delphos, sondern zeichnen zugleich ein Idealbild eines intellektuell-schriftstellerischen Lebensstils, in das sich Plutarch selbst genauso einzeichnet, wie er in ihm Sarapion und den Athener Freunden einen mindestens gleichrangigen Platz zuweist. Dieser ideale Lebensstil ist derjenige der Studien und des geistigen Austauschs, sei es durch die wechselseitige Zueignung der literarisch-philosophischen Produkte, die aus der fortgesetzten Beschäftigung mit dem Erbe der griechischen Kultur hervorgehen, sei es durch das direkte Gespräch. So inszeniert sich Plutarch gleich zu Beginn als eifriger Leser, dem bei seiner Lektüre zufällig jener Euripidesvers und der Kommentar des Dikaiarchos untergekommen sei, und verwertet diese Lesefrucht sogleich in der Grußadresse an Sarapion, zweifellos bereits diese ein Produkt „aus Verstand und Weisheit“, wie die Texte der ‚Pythischen Dialoge‘ selbst, die Sarapion zugehen sollen. Denn auch                                                             

Zu weiteren Implikationen des Begriffs im weiteren Zusammenhang von De E apud Delphos vgl. unten, S. 53f. 54 Diese implizite Gleichsetzung Sarapions mit Apollon wird zu Beginn des eigentlichen Proömiums wieder aufgenommen, wo Apollon, wie zuvor schon Sarapion, als φίλος bezeichnet wird (De E 1, 384E). 55 VAN DER STOCKT (2000) 101. 53

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II. Widmung und Proömium

diese sind, wie Plutarch in der Begründung für seine Erwartung zahlreicherer und besserer Produkte aus der Feder Sarapions und der Athener Freunde durchscheinen lässt, vor allem Produkte des eigenen Studiums und der Transformation von in der Lektüre gesammeltem Wissen in eigene Texte, für deren Produktion eben jene reichen Bibliotheksbestände in Athen sowie zahlreiche andere Möglichkeiten des gelehrten Studiums, die die Großstadt bietet, jene optimalen Schaffensvoraussetzungen darstellen, die Plutarch in Chaironeia angeblich nicht in gleichem Maße zur Verfügung stehen. Das hier evozierte Ideal gelehrter Schriftstellerei erlaubt Rückschlüsse auf Plutarchs eigene Produktionsgewohnheiten und Rezeptionserwartungen seiner Texte, im vorliegenden Fall des Dialogs De E apud Delphos, die es in der Interpretation stets bewusst zu halten gilt: Die in der Widmungsadresse genannten ‚Pythischen Dialoge‘ und De E apud Delphos als deren Eröffnungsstück sollen „Werke aus Verstand und Weisheit“ in dem Sinne sein, dass ihnen die Gelehrsamkeit und die Transformation von Elementen der eigenen Studien auch anzumerken sind, denn nur dann können sie als literarisch-philosophische Produkte jenen idealen Lebensstil einer intellektuell-produktiven Oberschicht repräsentieren, an die sie sich zuallererst wenden. Eine solche Repräsentationsfunktion von Texten hat sowohl künstlerische wie argumentative Konsequenzen, zumal im Falle der Produktion von philosophischen Dialogen. So ist anzunehmen, dass Plutarchs Zuordnung der ‚Pythischen Dialoge‘ zu Produkten „aus Verstand und Weisheit“ nicht so sehr einen aus seinem Ursprungskontext isolierbaren propositionalen philosophischen Aussagegehalt bezeichnet, sondern ein philosophischliterarisches Gesamtkunstwerk, in dem der Aussagegehalt nicht von der dramatischen Anlage, dem Gesprächsthema und der Charakteristik der im dramatischen Kontext auftretenden Figuren ablösbar ist. Insofern ist die Komposition des Dialoges ein wesentlicher und von dem in ihm argumentativ gebotenen philosophischen Gehalt nicht zu trennender Aspekt, zumal dann, wenn – wie in Plutarchs Dialogen üblich – Dialogfiguren auftreten, die ein Pendant im realen Sozialleben des Autors und der intendierten Leserschaft haben. Die Lesererwartung an einen solchen Dialog verlangt ja eine künstlerische Einbettung und literarische Idealisierung persönlich dem Autor wie dem Leser bekannter Figuren, ohne die der Dialog kein Kunstwerk, sondern im Extremfall ein geistloser Abklatsch der Wirklichkeit dieser Personen und deren bekannter Diskussionsgewohnheiten und Denkstile wäre. Eine solche idealisierende Steigerung einer in der Realität geübten philosophischen Gesprächskultur im Medium des literarischen philosophischen Dialogs hat ferner Auswirkungen auf den argumentativen Gehalt der Aussagen der im Dialog präsentierten Figuren, insofern es nach Plutarchs

3. Die Widmung an Sarapion

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Formulierungen in seiner Widmungsadresse an Sarapion das intensive und extensive Studium der überlieferten griechischen Literatur ist, aus dem sich die Produktion jener „Geschenke, die aus Verstand und Weisheit herrühren“, speist. Dies bedeutet, dass im gleichen Maße, in dem dem unter diesen Voraussetzungen produzierten Text seine künstlerische Komponente anzumerken sein soll, um als Kunstwerk rezipiert zu werden, die argumentative Ausgestaltung der einzelnen von den Figuren im Dialog getätigten Gesprächsbeiträge sichtbar auf intensive literarisch-philosophischen Studien des Autors zurückweisen sollen. Deren Transformation in die einzelnen Aussagen der Dialogteilnehmer zu dem in Rede stehenden Thema liefert nachgerade den Aufweis der intensiven Rezeption umfassender literarischphilosophischer Kulturgüter. Plutarch will mithin auf diesem Wege seine Fähigkeit zur produktiven Aneignung des griechischen kulturellen Erbes demonstrieren, die ihn selbst und den Leser, der aufgrund seiner Bildung jenen Transformationsprozess der produktiven Aneignung durchschauen und damit erst in seiner Qualität recht würdigen kann, immer wieder neu in jenem Bildungsideal der griechisch-römischen Oberschicht verortet. Der soeben aus der Widmung an Sarapion abgeleitete Kunstcharakter des Dialoges De E apud Delphos zeigt sich zuallererst daran, dass Plutarch – unzweifelhaft darin dem Vorbild Platons folgend – das Gespräch über das delphische E in einer fernen Vergangenheit ansiedelt, in der er selbst noch ein junger Mann gewesen sein soll. Eine solche literarische Strategie, die eine historische Situation in durchschaubarer Weise fingiert, verweist von sich aus bereits auf einen Kunstwillen des Autors, der auf idealisierende Übersteigerung einer dem Rezipienten vertrauten Realität von philosophischem Gespräch abzielt und vom Leser dadurch eine Rezeptionshaltung nach solchen Kriterien erwartet, wie sie an literarisch-philosophische Kunstwerke angelegt zu werden pflegen. Da Plutarch sich zudem selbst als Erzähler dieses lang vergangenen Gesprächs einführt, eignet auch der Erzählerrolle selbst ein idealisiert-fiktionaler Charakter, da der Erzähler Plutarch in einem direkt auf die Widmung an Sarapion folgenden extradialogischen Proömium berichtet, was es mit dem Thema des delphischen E auf sich hat und wie es dazu kam, dass er sich zu einer bestimmten Gelegenheit an jenes Gespräch aus seiner Jugend erinnerte, das er dann Sarapion berichtet.

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II. Widmung und Proömium

4. Das extradialogische Proömium 4.1 Das delphische E Plutarch lässt auf die Widmungsadresse an Sarapion übergangslos die Exposition des Themas folgen, das der erste der ‚Pythischen Dialoge‘ behandelt. Allerdings steht zunächst nicht die Frage nach der Bedeutung des delphischen E im Zentrum, sondern eine Charakteristik von Apollons Wesen, aus dem heraus die Weihung eines E an seinem Tempel in Delphi gedeutet wird. Der Gott, so konstatiert Plutarch, sei als Protreptiker zu verstehen, der die Menschen mit intellektuellen ἀπορίαι, schwierigen Problemen, konfrontiere, um sie damit zum philosophischen Denken anzuregen; die Weihung des E am Tempel des Gottes bringe eben dies zum Ausdruck. Ὁ δ᾿ οὖν φίλος Ἀπόλλων ἔοικε τὰς μὲν περὶ τὸν βίον ἀπορίας ἰᾶσθαι καὶ διαλύειν θεμιστεύων τοῖς χρωμένοις, τὰς δὲ περὶ τὸν λόγον αὐτὸς ἐνιέναι καὶ προβάλλειν τῷ φύσει φιλοσόφῳ τῆς ψυχῆς ὄρεξιν ἐμποιῶν ἀγωγὸν ἐπὶ τὴν ἀλήθειαν, ὡς ἄλλοις τε πολλοῖς δῆλόν ἐστι καὶ τῇ περιττῇ56 τοῦ εἶ καθιερώσει (De E 1, 384EF). Im argumentativen Zusammenhang der Aussage bildet der Hinweis auf die Weihung des E den sichtbaren Beweis (δῆλόν ἐστι) für eine zuvor nur vermutungsweise (ἔοικε) getroffene Aussage über einen besonderen Wesenszug des Apollon: Als ein φίλος erweist sich der Gott nicht nur durch seine traditionelle Eigenschaft als Herr des delphischen Orakels, der die Schwierigkeiten des menschlichen Lebens (τὰς μὲν περὶ τὸν βίον ἀπορίας) durch seine Orakelsprüche (θεμιστεύων) heilt und auflöst (ἰᾶσθαι καὶ διαλύειν),57 sondern gerade auch darin, dass er dem menschlichen Geist schwierige Probleme unterbereitet, denn er legt, wie Plutarch sich ausdrückt, dem der Seele eigenen philosophischen Vermögen „Schwierigkeiten für den Intellekt vor“ (τὰς δὲ περὶ τὸν λόγον sc. ἀπορίας) und gibt der Seele damit                                                              56 Die Ausgaben bieten τῇ [περὶ] τοῦ εἶ καθιερώσει (so die Überlieferung, περὶ secl. REISKE). Die hier vorgeschlagene Konjektur geht von einer Verkürzung von τῇ περιττῇ τοῦ εἶ καθιερώσει zu τῇ περὶ τοῦ εἶ καθιερώσει aus, die paläographisch als Haplographie von τῇ und dem letzten Wortbestandteil von περιττῇ, -τῇ zu erklären ist. Die Präposition περί in Verbindung mit dem Genitiv τοῦ εἶ ergibt einerseits keinen erkennbaren Sinn und kann andererseits kaum von außen in den Text eingedrungen sein. Vgl. Plutarchs Sprachgebrauch in De def. or. 31, 426E τῆς ἐνταῦθα τοῦ Ε καθιερώσεως. Das Attribut περιττός legt sich zudem deshalb nahe, da noch im selben Abschnitt dem E eine mögliche δύναμις … ἰδία καὶ περιττή zugeschrieben wird (De E 1, 385A). 57 Vgl. zu dieser Form der Lebenshilfe des Gottes bei alltäglichen Problemen De E 5, 386C … τῶν χρωμένων ἑκάστοτε διαπυνθανομένων, εἰ νικήσουσιν, εἰ γαμήσουσιν, εἰ συμφέρει πλεῖν, εἰ γεωργεῖν, εἰ ἀποδημεῖν. De Pyth. or. 28, 408C […] ἐπὶ πράγμασι μικροῖς καὶ δημοτικοῖς ἐρωτήσεις οἷον ἐν σχολῇ προτάσεις εἰ γαμητέον εἰ πλευστέον εἰ δανειστέον κτλ.

4. Das extradialogische Proömium

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ein Verlangen ein, das zur Erkenntnis der Wahrheit führt (ὄρεξιν ἐμποιῶν ἀγωγὸν ἐπὶ τὴν ἀλήθειαν). In Apollons philosophischer Stimulation des Menschen kehrt sich mithin die konventionelle Rollenverteilung zwischen Gott und Mensch in Delphi um: Wie im Orakelbetrieb die Menschen an den Gott ihre Lebensgestaltung betreffende ἀπορίαι herantragen, so ist es wiederum der Gott, der die Menschen in intellektuellen Belangen mit ἀπορίαι konfrontiert, der menschlichen Handlung des χρᾶσθαι entspricht die göttliche des προβάλλειν und ἐνιέναι.58 Die Freundlichkeit des Apollon – er wird als φίλος apostrophiert – gerade angesichts der Stellung von Rätseln liegt nunmehr darin, dass der Gott dadurch eine „natürliche philosophische Begabung“ (τῷ φύσει φιλοσόφῳ τῆς ψυχῆς) zur Entfaltung bringt.59 Freilich bleibt auch in der                                                              58

Bezeichnenderweise verwendet Plutarch den Begriff προβάλλειν ebenfalls (wenn auch im Kontext pejorativ konnotiert) für die Fragen der Menschen an Apollon, vgl. De def. or. 7, 413B … ἃ τῷ θεῷ προβάλλουσιν οἱ μὲν ὡς σοφιστοῦ διάπειραν λαμβάνοντες οἱ δὲ περὶ θησαυρῶν ἢ κληρονομιῶν ἢ γάμων παρανόμων διερωτῶντες. 59 In den Übersetzungen wird τῆς ψυχῆς als Genitivattribut zu ὄρεξιν aufgefasst, wodurch die Phrase τῷ φύσει φιλοσόφῳ personal im Sinne von „dem, der philosophisch begabt ist“ wiedergegeben wird: ZIEGLER (1952) „ … die Probleme der Erkenntnis aber überläßt er dem philosophisch Begabten und gibt sie ihm auf, indem er seiner Seele einen Trieb einpflanzt“; BABBITT (1936) „ … to him who is by nature inclined to the love of knowledge, thus creating in the soul a craving that leads onward to the truth“; CILENTO (1962) „ … in materia di dubbi intellettuali, li suscita lui stesso, direttamente, e li presenta a chi è per natura filosofo“; FLACELIÈRE (1974) „ … c’est plutôt lui-même qui les suscite et les propose aux esprits naturellement philosophiques“; LOZZA in DEL CORNO (1983) „ … è lui stesso a suscitarli e a proporli agli uomini che possiedono un’indole filosofica“; MORESCHINI (1997) „ … e le presenta a chi è filosofo per natura, instillando nell’anima un desiderio che mena alla verità“; BOULOGNE – BROZE – COULOUBARITSIS (2006) „ … inspirer lui-même les difficultés qui s’adressent à la raison et les soumettre au philosophe par nature“. Diese Auffassung der Stelle, die die Wirkung des Apollon auf einen eher elitären Kreis beschränkt, scheint vor allem durch entsprechende Aussagen Platons inspiriert, der z.B. Plat. Rep. II 376c1–2 fordert, ein Wächter müsse φύσει φιλόσοφος καὶ φιλομαθής sein. Die hier vorgelegte Übersetzung bezieht τῆς ψυχῆς als Genitivattribut auf τῷ φύσει φιλοσόφῳ und stützt sich neben Platon, der mit τὸ φιλόσοφον den rationalen Seelenteil bezeichnet (z.B. Plat. Rep. III 411e6) vor allem auf Plutarch selbst an einer grammatikalisch und thematisch eng verwandten Stelle: Im Vorwort zum fünften Buch der Quaestiones convivales verhandelt Plutarch die Frage, ob es spezielle Freuden der Seele gebe, was unter anderem durch die allgemeine Begeisterung des Menschen für das Lösen von Rätseln a minore am Beispiel grober, ungebildeter Menschen (φορτικοὶ καὶ ἀφιλόλογοι) erwiesen wird, die sich bei geselligem Zusammensein nach dem Essen zu geistiger Tätigkeit beim Lösen von Rätseln aufschwingen. Plutarch erklärt dies damit, dass jeder Seele ein natürlicher „weisheitsliebender“ und „anschauungsliebender“ Wesenszug innewohne, der nach einer ihm gemäßen Befriedigung trachte: ἀλλ᾿ ὅτι τὸ φύσει φιλοθέαμον ἐν ἑκάστῳ καὶ φιλόσοφον τῆς ψυχῆς ἰδίαν χάριν ζητεῖ καὶ τέρψιν κτλ. (QC 5, 673AB). Vgl. auch Sept. sap. conv. 10, 153E, wo Plutarch Periander, den Gastgeber der Sieben Weisen,

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II. Widmung und Proömium

Umkehrung der Kommunikationsrichtung das Souveränitätsgefälle zwischen Gott und Mensch erhalten, denn während der Gott auf die an ihn gestellten Fragen mit einer autoritativen Lösung des Problems (διαλύειν θεμιστεύων) antwortet, behauptet Plutarch nicht, dass im zweiten Falle, in dem der Gott den Menschen mit intellektuellen ἀπορίαι konfrontiert, ähnlich souveräne Lösungen erbracht werden. Er spricht allein von einem „Verlangen“ (ὄρεξιν), das den aporetisch Inspirierten „auf die Wahrheit hinführt“ (ἀγωγὸν ἐπὶ τὴν ἀλήθειαν). Ob dieses Ziel erreicht werden kann, lässt Plutarch völlig offen, und dies mit Bedacht. Denn das Besondere von Apollons philosophischer Inspirationstätigkeit tritt somit im Kontrast zwischen der göttlichen und der menschlichen Reaktionsweise auf die von der jeweils anderen Seite präsentierten ἀπορίαι hervor: Während der Gott mit Produkten antwortet, nämlich situations- und fallbezogenen Orakelsprüchen, die das Problem aus der Welt schaffen, lösen diejenigen ἀπορίαι, mit denen Apollon den Menschen konfrontiert, Prozesse aus, die in einem dynamischen Tätigsein des dem Menschen angeborenen philosophischen Vermögens bestehen. Die Weihung eines E am Tempel des Apollon in Delphi soll nach Plutarchs Willen als ein besonders eindrückliches Beispiel zugleich jenen inspiratorisch-philosophischen Wesenszug des Gottes belegen als auch die ihm adäquate menschliche Reaktion dynamisch-prozesshaften philosophischen Tätigseins illustrieren: ὡς ἄλλοις τε πολλοῖς δῆλόν ἐστι καὶ τῇ περιττῇ60 τοῦ εἶ καθιερώσει. Entsprechend legt Plutarch Wert auf die Feststellung, dass das E am Tempel des Apollon nicht etwa zufällig oder in beliebiger Weise „als einziger von den Buchstaben zu einem besonderen Platz bei dem Gott gekommen und den Rang einer heiligen Weihegabe und Sehenswürdigkeit erlangt hat“, sondern dass die Weihung des E intentional von denen, „die als erste im Umfeld des Gottes philosophiert haben“,61 vollzogen worden sei.                                                              die Tradition des Rätselstellens bis auf die frühesten Griechen zurückführen lässt: ὑπολαβὼν οὖν ὁ Περίανδρος ἀλλὰ μήν, ἔφη, καὶ τοῖς παλαιοῖς Ἕλλησιν ἔθος ἦν, ὦ Κλεόδωρε, τοιαύτας ἀλλήλοις ἀπορίας προβάλλειν. Vgl. auch die Worte des Proömiums der Periklesvita (Per. 1, 2): φιλομαθές τι κέκτηται καὶ φιλοθέαμον ἡμῶν ἡ ψυχὴ φύσει und die Bemerkung des Ammonios in De E 2, 385C, die Rätsel der delphischen Kultsphäre regten „jeden, der nicht gänzlich geist- und seelenlos“ sei (τοῖς μὴ παντάπασιν ἀλόγοις καὶ ἀψύχοις) zu philosophischer Reflexion an. In diesem Sinne interpretiert die vorliegende Stelle schon W YTTENBACH (1796), der nach ψυχῆς ein Komma setzt; entsprechend auch die bei WYTTENBACH abgedruckte Übersetzung XYLANDERs „ … ipse profert et proponit excutiendas ei animi facultati quae studio sapientiam sectatur, appetitum ingenerans qui ad veritatem ducat.“ Da das angeborene philosophische Seelenvermögen des Menschen sowohl der Adressat der ἀπορίαι wie auch der ὄρεξις ist, scheint τῷ φύσει φιλόσοφον τῆς ψυχῆς im Hinblick auf προβάλλειν/ἐνιέναι und auf ἐμποιῶν apo koinou konstruiert zu sein. 60 Vgl. zu dieser Konjektur oben, S. 48, Anm. 56. 61 Plutarch nennt sie τοὺς ἐν ἀρχῇ περὶ τὸν θεὸν φιλοσοφήσαντας, nicht περὶ τοῦ θεοῦ. Dieser Sprachgebrauch ist für Plutarch zunächst insoweit auffällig, als er in der Regel in

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Der Deutlichkeit, mit der Plutarch mithin den Zusammenhang zwischen dem eingangs dargelegten philosophieprotreptischen Wesenszug des Gottes und der Weihung des E herstellt, entspricht ein offenbar dem rein dynamischen Wesen jener apollinischen Protreptik Rechnung tragendes Verharren Plutarchs in vagen Andeutungen darüber, weshalb die Philosophen der Ansicht waren, jene göttlich-aporetische Inspirationstätigkeit Apollons gerade durch die Weihung des Buchstabens E angemessen auszudrücken: Τοῦτο γὰρ εἰκὸς οὐ κατὰ τύχην οὐδ᾿ οἷον ἀπὸ κλήρου τῶν γραμμάτων μόνον ἐν προεδρίᾳ παρὰ τῷ θεῷ γενέσθαι καὶ λαβεῖν ἀναθήματος τάξιν ἱεροῦ καὶ θεάματος, ἀλλ᾿ ἢ δύναμιν αὐτοῦ κατιδόντας ἰδίαν καὶ περιττὴν ἢ συμβόλῳ χρωμένους πρὸς ἕτερόν τι τῶν ἀξίων σπουδῆς τοὺς ἐν ἀρχῇ περὶ τὸν θεὸν φιλοσοφήσαντας οὕτω προθέσθαι (De E 1, 384F–385A).62                                                              der Verbindung von περί und θεός den Genitiv setzt, im Plural beinahe ausschließlich. Im Sinne von LSJ s.v. περί A II 3 bei Ausdrücken des Hörens, Wissens, Sprechens und dergleichen verwendet Plutarch περί mit Genitiv zur Bestimmung des Inhaltes, über den gesprochen etc. wird, bei διαλέγεσθαι, γιγνώσκειν, λέγειν; sehr häufig bei δόξα). Die Konstruktion im Akkusativ Singular wie an dieser Stelle nuanciert dagegen mehr das räumliche Umfeld einer Handlung: In De def. or. 8, 413E τὴν ἀνωμαλίαν, ἣν περὶ τὸν θεὸν ποιεῖ, wird eine Aussage über das Verschwinden der Orakel als Werk des Apollon als „Unregelmäßigkeit“ in Hinsicht auf die ἔργα des Gottes, also sein Wirken, kritisiert; Ort dieses Wirkens ist Delphi selbst, die ἀνωμαλία zeigt sich in diesem Raum. Ähnlich wird De Stoic. repugn. 20, 1043B die epikureische Lehre von der Untätigkeit des Gottes als ἡ ἀπραγμοσύνη ἡ περὶ τὸν θεόν bezeichnet, also wiederum mit dem Akkusativ der Raum beschrieben, in dem Gott wirkt, bzw. hier nicht wirkt. Die deutlichste Parallele findet sich indessen gleich im 2. Kapitel von De E apud Delphos (385C), wo Ammonios behauptet, τὰ πολλὰ τῶν περὶ τὸν θεόν seien in Rätseln verdunkelt, womit ganz konkret die rätselhaften Phänomene im Bereich des Gottes, also in Delphi, gemeint sind. Die hier vorgeschlagene Übersetzung „Umfeld des Apollon“ versucht eben dies auszudrücken: Der Gott ist nicht der Inhalt des φιλοσοφεῖν, sondern das φιλοσοφεῖν findet unter dem Einfluss des Gottes statt. Überhaupt verwendet Plutarch sonst den Begriff φιλοσοφεῖν in Verbindung mit περί immer mit dem Genitiv des Inhaltes: vgl. De Iside 3, 352C φιλοσοφεῖν περὶ τῆς ἐν αὐτοῖς ἀληθείας; De Iside 7, 353D τοῖς περὶ Ὀσίριδος καὶ Τυφῶνος ὁσίως φιλοσοφουμένοις. Schließlich formuliert Plutarch das Philosophieren unter dem Einfluss einer Autorität im Sinne einer Anhängerschaft zu dieser mit περί und Akkusativ: vgl. QR 51, 276F–277A οἱ περὶ Χρύσιππον … φιλόσοφοι; Cat. Ma. 22, 1 οἱ περὶ Καρνεάδην τὸν Ἀκαδημαϊκὸν καὶ Διογένη τὸν Στωϊκὸν φιλόσοφοι. Eine solche Einschätzung der Stelle wird endlich aus der Bezeichnung Apollons als ὁ θεὸς φιλόσοφος De E 2, 385B erhärtet, die am Beginn des von Plutarch referierten Gesprächs axiomatisch steht: Der Gott ist der Philosoph, οἱ περὶ αὐτόν die unter seinem Einfluss stehenden Adepten. Plutarchs Sprachgebrauch an dieser Stelle wird bereits thematisiert bei W YTTENBACH (1821) 273, der unter οἱ περὶ τὸν θεόν „ministros et sacerdotes Apollinis in templo Delphico“ im Sinne einer Ellipse von ὄντες verstehen will, damit allerdings φιλοσοφήσαντας prädikativ zu προσέσθαι ziehen muss („philosophando sic admisisse hanc litteram“). 62 Neben dem Infinitiv προθέσθαι ist auch das von den meisten Herausgebern gedruckte προσέσθαι überliefert. Die Form προσέσθαι bereitet allerdings im Bezug auf die Weihung

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Da sich in der Weihung des E somit einerseits das Wesen des Gottes als eines Rätselstellers, andererseits das Resultat menschlicher philosophischer Betätigung ausdrücken soll, ist das Zeichen ambivalent, denn es stellt zugleich ein zu Lösungsversuchen animierendes Rätsel und eine rätselhafte Reaktion der Urphilosophen auf eine von Plutarch nicht weiter explizierte Anregung des Gottes dar. Entsprechend belässt es Plutarch bei seinen Ausführungen über Gründe und Absichten derjenigen, die das E dem Apollon geweiht haben, bei ebenso rätselhaften Andeutungen.                                                              des E von der Wortbedeutung her Schwierigkeiten, ob nun in ihrer Grundbedeutung des eher passivischen „Heranlassens“ oder in seiner übertragenen Verwendung „zulassen“, „zugeben“, „einräumen“, „glauben“, „akzeptieren“ (vgl. LSJ s.v. προσίημι II.) von etwas, mit dem sich das Subjekt konfrontiert sieht, und kann im Kontext den von Plutarch intendierten Gedanken einer aktiven Handlung der „ersten Philosophen“ nicht ausdrücken; darüber hinaus mutet προσέσθαι auch im Vergleich zu Plutarchs sonstigem Sprachgebrauch seltsam an. Das Verb προσίεσθαι wird von Plutarch im Sinne einer positiven, gleichgültigen oder jedenfalls nicht (mehr) abwehrenden Haltung gegenüber einer Person oder Sache verwendet, die an das Subjekt von außen herankommt oder herangetragen wird. In diesem Sinne wird es verbunden mit λόγους (z.B. Eum. 18, 6; Alex. 52, 2) „sich auf ein Gespräch einlassen“, διαβολάς (z.B. Them. 22, 1; Per. 32, 3) „ein offenes Ohr für Verleumdungen haben“, mit μισθούς und δῶρα (Cic. 7, 3) „annehmen“, mit Gefühlen wie ἡδύ (De adulat. et amic. 2, 50A) oder πένθος (Publ. 14, 7) „zulassen“, überhaupt auch von Personen (Cat. Ma. 5, 8 μηδένα προσιέμενος „er ließ niemanden an sich heran“; Cat. Ma. 20, 5 παιδάρια τῷ μαστῷ προσιεμένη „sie ließ die Kinder an ihre Brust“). Bei Handlungen im Sinne von „billigen“ στεφάνων ἀναδέσεις προσίεσθαι (Sert. 22, 3). Das Problem eines genauen Verständnisses von προθέσθαι bzw. προσέσθαι zeigt das Verfahren der Übersetzer: WYTTENBACH (1796) druckt προσέσθαι und paraphrasiert (1821) 273 „admisisse hanc litteram“; FLACELIÈRE (1974) druckt ebenfalls προσέσθαι und übersetzt „mis à cette place“; MORESCHINI (1997) druckt προσέσθαι, übersetzt jedoch προθέσθαι „l’abbiano collocata in primo piano“ (in diesem Sinne bereits LOZZA in DEL CORNO, 1983). Umgekehrt verfährt BABBITT (1936), der προθέσθαι druckt, jedoch προσέσθαι übersetzt mit „and thus adopted it“. ZIEGLERs (1952) „ihm diese Rolle zugewiesen haben“ scheint auf προσέσθαι zu rekurrieren, dessen passivischer Charakter aber ZIEGLERs aktives „zuweisen“ nicht trägt. BECCHI (2000) 72f. verteidigt die Beibehaltung von προσέσθαι durch die Herausgeber, auch wenn die entsprechende Übersetzung ein προθέσθαι zugrundezulegen scheint, kann sich aber nur auf die breitere Überlieferung von προσέσθαι berufen. Sein eigener Übersetzungsvorschlag „e, quindi, l’abbiano accolta“, der dem προσέσθαι angemessen sein soll, befriedigt im Kontext so wenig, wie die übrigen genannten Übersetzungsversuche. Dagegen ergibt προθέσθαι im Kontext einer Weihehandlung einen guten Sinn: Plutarch verwendet προτίθεσθαι nicht selten im Zusammenhang von Weihegaben und Spenden, die den Göttern oder Verstorbenen „vorgesetzt“ werden (Them. 10, 1 werden einer als Göttin verehrten Schlange Spenden vorgesetzt: τὰς καθ᾿ ἡμέραν αὐτῷ [sc. τῷ δράκοντι, gemeint ist ἡ θεός] προτιθεμένας ἀπαρχάς. Crass. 19, 6 von Totenspenden: φακοὺς καὶ μάζαν, ἃ νομίζουσιν Ῥωμαῖοι πένθιμα καὶ προτίθενται τοῖς νεκυσίοις. De Iside 36, 365B von einem sakralen Gegenstand: τὴν δὲ τῶν Παμυλίων ἑορτὴν ἄγοντες, ὥσπερ εἴρηται, φαλλικὴν οὖσαν ἄγαλμα προτίθενται καὶ περιφέρουσιν, οὗ τὸ αἰδοῖον τριπλάσιόν ἐστιν.

4. Das extradialogische Proömium

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Auf alle Fälle, so Plutarch, könne der seltsame Umstand, dass das E als einziger von allen Buchstaben (τῶν γραμμάτων μόνον) zu einem „Ehrenplatz bei dem Gott“ gekommen sei (ἐν προεδρίᾳ παρὰ τῷ θεῷ γενέσθαι) und „den Rang einer heiligen, sehenswerten Weihegabe erlangt“ habe (λαβεῖν ἀναθήματος τάξιν ἱεροῦ καὶ θεάματος),63 nicht auf einen Zufall zurückgeführt werden, sondern müsse als Ausdruck bestimmter wohlüberlegter Intentionen „der ersten, die im Umfeld des Gottes philosophiert haben“ (τοὺς ἐν ἀρχῇ περὶ τὸν θεὸν φιλοσοφήσαντας) verstanden werden. Mit der Zurückführung der Weihung des E auf jene ersten Philosophen spielt Plutarch auf die legendären Sieben Weisen an, von denen Platon im Protagoras berichtet, sie seien gemeinsam nach Delphi gekommen und hätten „eine Erstlingsspende ihrer Weisheit dem Apollon in seinem Tempel in Delphi geweiht“, indem sie ihre berühmten Sprüche wie „Erkenne dich selbst“ und „Nichts im Übermaß“ niedergeschrieben hätten.64 Dass es sich in diesem Falle um eine verdeckte, aber unzweifelhafte Anspielung auf den Protagoras handelt, wird aus der Übernahme des Weiheterminus ἀπαρχή aus Platons Bericht deutlich, den Plutarch sowohl in seiner Widmung an Sarapion als auch in den Ausführungen des Eustrophos verwendet, mit denen dieser im Dialog ‚Plutarch‘ zu seinem mathematischen Redebeitrag animiert. Sarapion, so Plutarch, erhalte „einige der Pythischen Dialoge gleichsam als Erstlingsspenden (De E 1, 384E τῶν Πυθικῶν λόγων ἐνίους ὥσπερ ἀπαρχάς); Eustrophos bittet ‚Plutarch‘ darum, „dem Gott eine Erstlingsspende von der geliebten Mathematik darzubringen“ (De E 7, 387E                                                              63

Noch BECCHI (2000) 73 tradiert wie schon DEL CORNO (1983) 48 die irrige und sprachlich nicht zu begründende Ansicht, die Formulierung τῶν γραμμάτων μόνον ἐν προεδρίᾳ παρὰ τῷ θεῷ γενέσθαι verweise auf eine Sonderstellung des E als einer Inschrift gegenüber den übrigen delphischen Sprüchen, eine Ansicht, die bis auf GÖTTLING (1851) 228 („eine Art von Proëdrie“); vgl. ROSCHER (1900) 26; ROSCHER (1901a) 95, Anm. 24; ROSCHER (1901b) 475, LAGERCRANTZ (1901) 415, zurückgeht. BECCHIs Verweis auf die Formulierung in Ps.-Plutarch, Cons. ad Apoll. 28, 116CD τῶν Δελφικῶν γραμμάτων, die an dieser Stelle die Interpretation von γράμμα als Spruch rechtfertigen soll, wohingegen das E als Buchstabe στοιχεῖον genannt werde (De E 7, 387E τὸ Ε τῶν ἄλλων στοιχείων διαφέρειν), verfängt allein schon wegen der Unechtheit der Schrift nicht; darüber hinaus ist die Bezeichnung γράμμα für „Zeichen“ aus De E 3, 385F (ἀναθεῖναι τῶν γραμμάτων ὃ τῇ τε τάξει πέμπτον ἐστὶ καὶ τοῦ ἀριθμοῦ τὰ πέντε δηλοῖ) und De E 4, 386B (οὔτε τὴν ὄψιν ἀξιοῦντες οὔτε τὸν φθόγγον ἀλλὰ τοὔνομα μόνον τοῦ γράμματος) evident, vollends aber durch die von Ammonios De E 17, 391F geäußerte Befürchtung, man werde die Weisen in einen Widerspruch zur Tradition stellen, εἰ τὴν ἑβδομάδα τῆς προεδρίας παρώσαντες τῷ θεῷ τὴν πεμπάδα καθιερώσουσιν ὡς μᾶλλόν τι προσήκουσαν, denn hier ist eindeutig von dem „Ehrenplatz“ eines Zahlzeichens bei dem Gott die Rede, nicht eines Zeichens in Relation zu anderen Inschriften. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, dass Plutarch das E nicht mit den Sprüchen in Beziehung setzt; es geht allein um das Verständnis der Stelle. 64 Plat. Prot. 343a8–b3 οὗτοι καὶ κοινῇ συνελθόντες ἀπαρχὴν τῆς σοφίας ἀνέθεσαν τῷ Ἀπόλλωνι εἰς τὸν νεὼν τὸν ἐν Δελφοῖς, γράψαντες ταῦτα ἃ δὴ πάντες ὑμνοῦσιν, Γνῶθι σαυτόν καὶ Μηδὲν ἄγαν.

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ἀπάρξασθαι τῷ θεῷ τῆς φίλης μαθηματικῆς). Diese beiden Stellen in De E apud Delphos weisen dabei eine kontextuelle Gemeinsamkeit auf, die wiederum mit Plutarchs Zurückführung der Weihung des E auf die Bemühungen der Urphilosophen kongruiert, hinter denen sich die Sieben Weisen aus Platons Protagoras verbergen. Denn Plutarch verwendet den Terminus ἀπαρχή bzw. ἀπάρξασθαι sowohl in der Widmung an Sarapion als auch in Eustrophos’ Aufforderung an ‚Plutarch‘ in einem Zusammenhang, in dem die Vorläufigkeit dessen, was als „Erstlingsspende“ dargebracht werden soll, ausdrücklich betont, mithin dessen Geltung eingeschränkt wird. So übersendet Plutarch die „Erstlingsspenden“ der ‚Pythischen Dialoge‘ an Sarapion mit der Erwartung, „zahlreichere und bessere“ (De E 1, 384E πλείονας καὶ βελτίονας sc. λόγους) Texte vom Adressaten und seinen Freunden zu erhalten; Eustrophos’ enthusiastische Aufforderung an ‚Plutarch‘, er solle dem Gott eine „Erstlingsspende“ in einer Rede darbringen, die sich aus der Überzeugung speist, die Mathematik sei die universelle philosophische Methode, schränkt Plutarch wiederum mit auktorialen Kommentar ein, in dem er sich zu einer „akademischen“ Beherzigung der Maxime „Nichts im Übermaß!“ für die Folgezeit nach dem fiktiven Datum seines jugendlichen Auftrittes bekennt.65 Rezipiert mithin Plutarch den Terminus ἀπαρχή explizit in solchen Kontexten von De E apud Delphos, in denen der vorläufige Charakter geistiger Schöpfungen betont wird,66 so scheint dies auch für die besonderen Intentionen der Urphilosophen selbst zu gelten, denen Plutarch die Weihung                                                             

Auch hier ist der Bezug auf den Protagoras deutlich, denn unter den beiden Maximen, die Platon als Beispiele für die ἀπαρχὴ τῆς σοφίας der Sieben Weisen bei ihrem Treffen in Delphi anführt, erscheint eben jenes μηδὲν ἄγαν neben dem γνῶθι σαυτόν, das wiederum in der Ammoniosrede eine wichtige Rolle spielt. 66 BONAZZI (2008) 208f. macht ebenfalls auf die auffällige Wiederholung des Terminus ἀπαρχή bzw. ἀπάρξασθαι und seine Herkunft aus Platons Protagoras aufmerksam und deutet sie als Hinweis auf die Vorläufigkeit der in De E apud Delphos geleisteten Lösungsversuche. Seine stark religiös aufgeladene Erklärung für die Vorläufigkeit wie Relevanz der Deutungen des E, die er aus dem Unterschied zwischen Gott und Mensch, wie ihn die Ammoniosrede postuliert, ableitet, überzeugt jedoch nicht, da sie Ammoniosʼ ontologische Ausführungen in ein Konzept subalterner Gottesverehrung übersetzt, für das De E apud Delphos keinen Anhalt bietet (auch und gerade nicht in Ammonios‘ intradialogischen Präliminarien, wie BONAZZI glaubt), vgl. ibid. 208: „Ma questo [sc. der ontologische Graben zwischen Gott und Mensch und die entsprechende Unmöglichkeit für den Menschen, ein für alle Mal die Wahrheit zu erkennen, Anm. d. Verf.] non significa peró l’impossibilità della verità. Piuttosto si dovrà parlare di una verità sempre ‚limitata‘, ‚provvisoria‘ o, per meglio dire, ‚asintotica’, che non può esaurire l’infinita ricchezza della divinità. La verità della divinità non potrà essere mai pienamente oggettiva, ma sempre soggettiva. O per meglio dire, e per quanto possa sembrare strano alle orecchie di molti filosofi contemporanei, sarà una verità non matematica, come credeva il giovane Plutarco (387F), ma devozionale, una verità che nel momento stesso in cui afferma qualcosa sul dio veicola con sé anche il riconoscimento della debolezza umana e della potenza divina.“ 65

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des E in der Absicht unterstellt, sie hätten „entweder eine eigene und außerordentliche Bedeutung des E erkannt oder es als ein Symbol für etwas anderes, um das sich die Mühe lohnt, gebraucht“ (ἢ δύναμιν αὐτοῦ κατιδόντας ἰδίαν καὶ περιττὴν ἢ συμβόλῳ χρωμένους πρὸς ἕτερόν τι τῶν ἀξίων σπουδῆς). Plutarch erwägt dabei, die Urphilosophen hätten entweder eine Erkenntnis (κατιδόντας) über das E durch die Weihung ausdrücken oder durch die Weihung des E auf eine Erkenntnis hinweisen wollen (συμβόλῳ χρωμένους), und bringt in dieser Abwägung zweier denkbarer Überlegungen der ersten philosophischen Adepten des Apollon sowohl die Eigenart des Gottes zum Ausdruck, Rätsel zu stellen, als auch die durch diese ausgelöste menschliche philosophische Betätigung. Gleichgültig, ob das E nun eine rätselhafte Erkenntnis (die „außerordentliche Bedeutung“ des E) oder ein rätselhafter Hinweis auf eine solche („etwas anderes, um das sich die Mühe lohnt“) ist, drückt sich nach Plutarch in der Weihung des E auf jeden Fall ein rätselhaftes Philosophieren aus, durch das die apollinischen Urphilosophen offenbar ihrem rätselstellenden Gott eine Weihegabe gestiftet haben, die dessen Wesen am besten ausdrückt. Denn wenn Apollon nach der These Plutarchs im Bereich des Denkens nicht Probleme löst, sondern solche stellt, um die Menschen zum Philosophieren anzuregen, ist ihm von Seiten der Philosophen, die „zuerst“ von Apollon inspiriert worden sein sollen, nur eine Weihung adäquat, die selbst eine ἀπορία oder allenfalls eine nur approximativ-vorläufige philosophische Leistung darstellt: Andernfalls gelangte ja die philosophische Stimulation des Apollon auf geradem Wege zu unverrückbar wahren und richtigen philosophischen Ergebnissen, „das zur Wahrheit führende Verlangen“ mithin recht schnell (etwa bereits mit der Weihung des E, seine richtige Deutung vorausgesetzt) zum Ziel und erschöpfte sich damit auf der Stelle: Das E stünde dann viel eher für eine sich in leicht durchschaubare Rätsel hüllende, quasi-revelatorische Intention des Gottes,67 und nicht für die Anregung zu einem prinzipiell unabschließbaren Prozess philosophischen Denkens. Dass das E mithin ein prinzipiell unlösbares Rätsel darstellen muss, um als Weihegabe das von Plutarch einleitend                                                              67 Eine solche Vorstellung findet sich bei HIRSCH-LUIPOLD (2005) 158, Anm. 94 in Verbindung mit einer entsprechend christlich-soteriologisch beeinflussten Auffassung des Gehaltes der Ammoniosrede: „In De E wird die Kommunikation zwischen Gott und Mensch in beide Richtungen deutlich: Gott hat das rätselhafte E aufgestellt [sic], um die Menschen zum Denken anzuregen. Dieses über dem Portal des Apollon-Tempels angebrachte Zeichen führt mit der auf Gott bezogenen Aussage: „Du bist“ den Eintretenden auf die Erkenntnis der eigenen Endlichkeit und die Einsicht in den radikalen Unterschied zwischen Gott und Mensch. Deshalb strebt nun der Mensch seinerseits nach Gott und versucht, ihm gleich zu werden und so die menschliche Sterblichkeit zu überwinden. Jedem, der das Heiligtum betritt, ruft die Gottheit damit gleichsam als Anrede das „Erkenne dich selbst!“ entgegen (392A). Der Mensch greift die Aufforderung „Erkenne dich selbst!“ durch die an Gott gerichtete Anrede „Du bist“ auf.“

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charakterisierte Wesen des Apollon auszudrücken, wird jedoch nicht nur aus dem extradialogischen Proömium von De E apud Delphos deutlich, sondern auch aus der einzigen weiteren Stelle in Plutarchs Werk, in dem das delphische E erwähnt wird, dem Dialog De defectu oraculorum. 4.2 Das delphische E in De defectu oraculorum Im 23. Kapitel von De defectu oraculorum entspinnt sich eine Debatte über die Anzahl der Kosmoi, die ohne Zweifel ein besonderer Glanzpunkt des Textes sein soll. Ohne dabei für das eigentliche Thema des Dialoges, die Frage nach der Ursache für das Eingehen der Orakel, besondere Erkenntnisse zu liefern, wird sie allein aus Gründen des philosophischen Interesses der Gesprächsteilnehmer und damit des Autors unternommen. Angestoßen wird die Debatte durch die Erwähnung der Theorie eines gewissen Petron von Himera, nach der sich die Anzahl der Kosmoi auf exakt 183 belaufe. Einen folgenden kurzen Wortwechsel zwischen Herakleon und Demetrios über Aussagen Homers und Platons68 die darauf hindeuten sollen, beide Autoritäten hätten die Zahl der Kosmoi auf fünf angesetzt, will Demetrios, der für nur einen Kosmos plädiert, rasch beenden: Die Postulierung von mehr als einem Kosmos impliziere die Vorstellung einer unbegrenzten Zahl von Kosmoi (ἀπειρία); die Annahme einer begrenzten Zahl von nicht weniger und nicht mehr als fünf Kosmoi sei jedoch absolut unbeweisbar und fern jeder Plausibilität (πιθανότης), es sei denn, so Demetrios, Lamprias (Plutarchs Bruder, der ebenfalls in De E apud Delphos als Sprecher auftritt) könne Argumente für eine auf fünf begrenzte Mehrzahl von Kosmoi beibringen.69 Lamprias erklärt sich hierauf zu einem solchen Versuch bereit, und Demetrios hebt noch einmal hervor, dass Lamprias’ Beitrag nur ein Exkurs in der Behandlung der Frage nach dem Eingehen der Orakel mit dem Ziel der Suche nach plausiblen Gründen (ἱστορῆσαι τὴν πιθανότητα) für eine begrenzte Anzahl von fünf Kosmoi sein solle.70 In einem ersten Argumentationsgang versucht Lamprias zunächst, die These einer begrenzten Mehrzahl von Kosmoi gegen diejenige von der Existenz nur eines Kosmos stark zu machen,71 in einem zweiten Ansatz leitet                                                             

Vgl. Hom. Il. 15, 187; Plat. Tim. 55cd. De def. or. 23, 423B τὸ μὲν γὰρ ἕνα μὴ φυλάξαι κόσμον εἶχεν ἁμωσγέπως ὑπόθεσιν τὴν τοῦ παντὸς ἀπειρίαν, τὸ δ᾿ ἀφωρισμένως ποιῆσαι τοσούτους καὶ μήτε πλείους τῶν πέντε μήτ᾿ ἐλάττους κομιδῇ παράλογον καὶ πάσης πιθανότητος ἀπηρτημένον, εἰ μή τι σὺ λέγεις, ἔφη πρὸς ἐμὲ βλέψας. Eine übersichtliche Darstellung des folgenden Gesprächsganges gibt D ONINI (1986) 100f. 70 De def. or. 23, 423C οὐκ ἀφέντας, εἶπεν ὁ Δημήτριος, ἐκεῖνον [sc. τὸν περὶ χρηστηρίων λόγον], ἀλλὰ μὴ παρελθόντας τοῦτον ἀντιλαμβανόμενον ἡμῶν. οὐ γὰρ ἐνδιατρίψομεν, ἀλλ᾿ ὅσον ἱστορῆσαι τὴν πιθανότητα θιγόντες αὐτοῦ μέτιμεν ἐπὶ τὴν ἐξ ἀρχῆς ὑπόθεσιν. 71 Vgl. De def. or. 24, 423C–30, 426E; De def. or. 30, 426E. 68 69

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er dann mit Hilfe der Lehren eines Theodoros von Soloi aus der Theorie der platonischen Körper die begrenzte Anzahl von genau fünf Kosmoi ab,72 ein Versuch, der freilich von Ammonios, der in De defectu oraculorum die Rolle eines kritischen Conférenciers spielt, als widersprüchlich kritisiert wird.73 Dies führt zu einem dritten Anlauf des Lamprias, in dem er eine eigene Argumentation für die begrenzte Anzahl von fünf Kosmoi entwickelt, die sich vornehmlich auf das Werk Platons, zumal den Timaios, stützt.74 Nach einer ausführlichen Darlegung seiner Argumente bezeichnet Lamprias abschließend seine gesamten Ausführungen zur Kosmoifrage als „Hommage an Platon, Ammonios zuliebe“,75 mithin als eine Art Etüde zu Ehren des großen Philosophen und zur Freude des Ammonios, deren Zweck ausdrücklich nicht die Erzielung letzter Gewissheiten ist: Lamprias schließt – unter Bezugnahme auf Demetrios’ einleitende Skepsis – die ausdrückliche Versicherung an, allein für seine These einer begrenzten Mehrzahl von Kosmoi hinreichend plausible Argumente gefunden zu haben; es spreche jedenfalls nicht weniger für diese begrenzte Vielzahl als für die These, es existiere nur ein Kosmos. Hinsichtlich der Bestimmung der exakten Anzahl von Kosmoi wolle er allerdings keineswegs so verstanden werden, als halte er ihre Fünfzahl für zweifelsfrei bewiesen.76 Für diese seine zurückhaltendbescheidene Position beruft sich Lamprias dann ausdrücklich auf die methodischen Grundsätze der platonischen Akademie: „So wie in anderen Fällen, wollen wir uns auch in dieser Frage der Akademie erinnern und uns eines übertriebenen Vertrauens entschlagen; da wir uns auf unsicherem Gebiet bewegen, wollen wir Sicherheit nur hinsichtlich der Überlegungen, die wir über die unbegrenzte Anzahl angestellt haben, behaupten.“77 Gegenüber seinen Aussagen über die Fünfzahl der Kosmoi will Lamprias hingegen                                                             

Vgl. De def. or. 32, 427A–E. Vgl. De def. or. 33, 427E–428B. 74 Vgl. De def. or. 34, 428B–37, 431A. 75 De def. or. 37, 430E ταῦτα μὲν οὖν τῇ Πλάτωνος ἀνακεῖσθω χάριτι δι᾿ Ἀμμώνιον. 76 De def. or. 37, 430EF ἐγὼ δὲ περὶ μὲν ἀριθμοῦ κόσμων οὐκ ἄν ποτε διισχυρισαίμην ὅτι τοσοῦτοι, τὴν δὲ πλείονας μὲν ἑνὸς οὐ μὴν ἀπείρους ἀλλ᾿ ὡρισμένους πλήθει τιθεμένην δόξαν οὐδετέρας ἐκείνων ἀλογωτέραν ἡγοῦμαι, τὸ φύσει τῆς ὕλης σκεδαστὸν καὶ μεριστὸν ὁρῶν οὔτ᾿ ἐφ᾿ ἑνὸς μένον οὔτ᾿ εἰς ἄπειρον ὑπὸ τοῦ λόγου βαδίζειν ἐώμενον. 77 De def. or. 37, 431A εἰ δ᾿ ἀλλαχόθι που κἀνταῦθα τῆς Ἀκαδημείας ὑπομιμνήσκοντες ἑαυτοὺς τὸ ἄγαν τῆς πίστεως ἀφαιρῶμεν καὶ τὴν ἀσφάλειαν ὥσπερ ἐν χωρίῳ σφαλερῷ τῷ περὶ τῆς ἀπειρίας λόγῳ μόνον διασῴζωμεν. Eine andere Übersetzung des Passus schlägt ZIEGLER (1952) vor, der den letzten Teil des Satzes folgendermaßen wiedergibt: „ … und bei der Frage nach der Unendlichkeit als auf einem schlüpfrigen Boden allein auf Sicherheit bedacht sein.“ In diesem Sinne übersetzt auch BABBITT (1936) „ … and, as if we were in a slippery place in our discussion about infinity, let us merely keep a firm footing.“ Zur Bedeutung der Frage nach der Anzahl der Kosmoi im skeptisch-akademischem Kontext und speziell Lamprias’ Berufung auf die Akademie am Ende seiner Ausführungen vgl. OPSOMER (1998) 166f. 72 73

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überhaupt keinen Wahrheitsanspruch erheben (De def. or. 37, 430F οὐκ ἄν ποτε διισχυρισαίμην). Mit diesem Eingeständnis kommt Lamprias auch dem Gesprächsteilnehmer Philippos entgegen, der schon seinen ersten Argumentationsgang über die Frage nach der Ein- oder Mehrzahl der Kosmoi durchweg skeptisch beurteilt hatte (De def. or. 31, 426E): „Dass sich diese Dinge in Wahrheit so oder so verhalten, würde ich keineswegs behaupten“ (τὸ μὲν ἀληθές, ἔφη, περὶ τούτων οὕτως ἔχειν ἢ ἑτέρως οὐκ ἂν ἔγωγε διισχυρισαίμην). Mehr als den Nachweis einer nicht minder großen Plausibilität der Annahme mehrerer Kosmoi gegenüber derjenigen nur eines Kosmos glaubt Lamprias schließlich auch nicht geliefert zu haben.78 Die Frage nach der exakten Zahl der Kosmoi jedoch, gegenüber deren Lösung Lamprias genau wie Philippos hinsichtlich der Ein- oder Mehrzahl der Kosmoi jeden Wahrheitsanspruch zurückweist, hatte Philippos selbst zur Diskussion gestellt, nachdem er seinen Zweifeln über die Ergebnisse von Lamprias’ ersten Argumentationsgang Ausdruck verliehen hatte: „Wenn wir aber den Gott über mehr als einen Kosmos setzen, warum machen wir ihn dann nur zum Baumeister von fünf und nicht von mehr Kosmoi, und wie verhält sich diese Zahl zur Vielheit?“79 An dieser Stelle, die exakt diejenige Fragestellung enthält, für die Lamprias dann mit Berufung auf Platon nur Plausibilitäten, jedoch keine Gewissheiten vorgebracht haben will, erwähnt Plutarch das delphische E außerhalb von De E apud Delphos ein einziges Mal: Er lässt Philippos sagen, eine Antwort auf eben jene Frage interessiere ihn noch mehr als „diejenige nach der Bedeutung der Weihung eines E hier in Delphi“ (ἥδιον ἄν μοι δοκῶ μαθεῖν ἢ τῆς ἐνταῦθα τοῦ Ε καθιερώσεως, De def. or. 31, 426E). Diese einzige Erwähnung des E im Werk Plutarchs außerhalb von De E apud Delphos ordnet das dort ausführlich erörterte Problem somit eindeutig in eine Kategorie von Fragen ein, über die sich wohl hochgelehrte Spekulationen anstellen lassen, denen gegenüber jedoch die intellektuelle Redlichkeit eines Akademieanhängers eine gemessene erkenntnistheoretische Bescheidenheit empfiehlt. In Philippos’ Worten erscheint das E nachgerade als der Referenzgegenstand für solche Fragen, die ob ihrer Schwierigkeit einerseits ein besonderes Interesse an Lösungsversuchen erzeugen, andererseits jedoch, wie Lamprias’ Fazit zu seiner Behandlung der in diese ‚E-Kategorie‘ gehörenden Frage nach der exakten Anzahl der Kosmoi zeigt, nur                                                              78 Vgl. die Stelle oben, S. 57, Anm. 76, besonders τὴν δὲ πλείονας μὲν ἑνὸς […] τιθεμένην δόξαν οὐδετέρας ἐκείνων ἀλογωτέραν ἡγοῦμαι. 79 De def. or. 31, 426E εἰ δὲ τὸν θεὸν ἐκβιβάζομεν ἑνὸς κόσμου, διὰ τί πέντε μόνων ποιοῦμεν οὐ πλειόνων δημιουργόν, καὶ τίς ἔστι τοῦ ἀριθμοῦ τούτου πρὸς τὸ πλῆθος λόγος κτλ.

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unter einem akademischen, erkenntnisskeptischen Vorbehalt untersucht werden können. Besieht man nun Plutarchs Einführung des delphischen E im Proömium von De E apud Delphos zusätzlich im Lichte dieser zweiten Erwähnung des delphischen E in De defectu oraculorum, mithin unter einer Perspektive, die Plutarch durch die im Grunde überschüssige Erwähnung des delphischen E im Rahmen der Debatte über die Ein- oder Mehrzahl der Kosmoi selbst eröffnet und durch weitere intertextuelle Beziehungen vertieft hat, so klärt sich der weitere Fortgang des Proömiums von De E apud Delphos auf, in dem sich Plutarch selbst in einem fiktionalen autobiographischen Exkurs als überaus zurückhaltend gegenüber einer Auseinandersetzung mit dem Problem des delphischen E charakterisiert. 4.3 Plutarchs Erzählerrolle Im Rahmen der autobiographischen Fiktion,80 die die Gesamtanlage von De E apud Delphos darstellt, begnügt sich Plutarch nicht damit, gegenüber Sarapion die schlichte Rolle des Erzählers einzunehmen, der seinem Adressaten in einer Situation ähnlich den Vorgesprächen in Dialogen Platons (wie etwa dem Phaidon) ein Gespräch aus der Vergangenheit wiedergibt, an dem er selbst teilgenommen hat. Vielmehr lässt er eben jenes Gesprächsreferat, aus dem der Hauptteil von De E apud Delphos besteht, aus einer dritten, zwischen dem Zeitpunkt seiner einleitenden Ausführungen an Sarapion und dem dann wiedergegebenen Gespräch aus der Zeit seiner eigenen Jugend gelegenen Zeitebene hervorgehen, die von dem unmittelbaren Anlass zur Erzählung des Hauptdialoges berichtet. Zwar ist die Einschaltung einer sol                                                             80 Die Betonung der Historizität eines Gespräches, von dem der Autor berichtet, ist gerade als Hinweis auf dessen freie Erfindung bzw. eigenwillige Gestaltung seit Platon ein Topos philosophischer Dialogschriftstellerei. Die Erwähnung der wiederholten Bitten (De E 1, 385A πολλάκις οὖν ἄλλοτε) der Schüler um eine Behandlung des Themas und die Betonung des Ausweichens Plutarchs, die eigenartige Szene in Delphi, in der Plutarch sich endlich einmal jüngst (De E 1, 385A ἔναγχος) aus Höflichkeit den dringenden Nachfragen anonymer Fremder nicht zu entziehen vermag, da diese doch unbedingt noch kurz vor ihrer Abreise etwas über das E erfahren wollen, und schließlich die Wiedergabe eines in der Zeit weit zurückliegenden, jedoch durch den Nerobesuch genau, nämlich auf das Jahr 66/67 n. Chr. datierten Gesprächs (De E 1, 385B ἃ πάλαι ποτὲ καθ᾿ ὃν καιρὸν ἐπεδήμει Νέρων ἠκούσαμεν), all dies verweist auf die Absicht Plutarchs, seinem Referat historische Plausibilität zu sichern, doch gerade die Ausführlichkeit des Autors in Hinsicht auf lokale („Schule“, „Delphi“) und temporale („immer wieder“; „neulich“; „vor langer Zeit, als Nero Delphi besuchte“) Umstände seiner Konfrontation mit dem Problem des E soll den Leser darauf hinweisen, dass nicht eine reale Auseinandersetzung des Autors mit dem Thema der Schrift Ziel seiner Darstellung an dieser Stelle ist, sondern die künstlerisch-ideale Umsetzung eines persönlichen intellektuellen Anliegens des Verfassers. Vgl. zur Fiktionalität besonders der Szene in Delphi VAN DER STOCKT (2000) 102.

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chen dritten Zeitebene zwischen (vergangener) Dialoghandlung und (gegenwärtiger) Dialogerzählung auch bei Platon bezeugt, etwa wenn im Rahmendialog des Symposion der Erzähler Apollodoros seinem Adressaten einen Bericht von jenem Gastmahl gibt, den er wiederum selbst von Aristodemos gehört hat, doch hat es mit der dritten Zeitebene, die Plutarch im Proömium von De E apud Delphos einführt, eine Bewandtnis, die in der gesamten Dialogliteratur vor Plutarch – und auch in Plutarchs sonstigem Dialogwerk – völlig singulär ist. Diese Besonderheit besteht darin, dass Plutarch, der nach der literarischen Fiktion des Textes an eben jenem Gespräch teilgenommen hat, das er im Anschluss an das Proömium berichtet, sich in der Rolle des sich an Sarapion wendenden Erzählers dem Problem des delphischen E zwischenzeitlich noch einmal von Neuem gewidmet haben will, als ob er sich noch nie an einem solchen Gespräch beteiligt beziehungsweise dessen Inhalt und Ergebnisse ganz und gar vergessen oder für belanglos angesehen hätte. Anstatt nämlich direkt nach der Vorstellung des Themas zu einem Referat eines lang vergangenen Gesprächs überzugehen, berichtet Plutarch Sarapion von einer persönlichen Konfrontation mit dem Problem des delphischen E, die autobiographisch nicht bei dem Gespräch aus seiner Jugend beginnt, sondern mit der nicht allzu fernen Vergangenheit seiner eigenen Lehrtätigkeit: Oftmals, so Plutarch, habe man ihn in seinem philosophischen Unterricht gebeten, die Bedeutung des delphischen E zu erörtern, doch habe er sich jedes Mal dem Ansuchen – wenn auch mit aller Höflichkeit – verweigert.81 Erst „jüngst“ sei er allerdings in eine Situation geraten, in der er aus ebensolcher Höflichkeit heraus einem Gespräch über das E nicht mehr habe aus dem Weg gehen können: In Delphi selbst hätten ihn seine Söhne – die offenbar des Vaters Unwillen gegenüber einer Auseinandersetzung mit dem Thema aus dem Unterricht kannten – regelrecht dabei ertappt, wie er doch eine eifrige Diskussion über das delphische E geführt habe, zu der er sich                                                             

De E 1, 385A πολλάκις οὖν ἄλλοτε τὸν λόγον ἐν τῇ σχολῇ προβαλλόμενον ἐκκλίνας ἀτρέμα καὶ παρελθὼν κτλ. Der Hinweis Plutarchs auf seine Schule hat manche Interpreten zu einer historisierenden Interpretation der Stelle angeregt, nach der Plutarch die ‚Pythischen Dialoge‘ als literarische Umsetzung von realen Gesprächen in seiner Schule konzipiert habe, in der „die Πυθικοὶ λόγοι damals zahlreich waren“ (HIRZEL, 1895, 201). Einer solchen Vorstellung steht freilich der Sinn der Stelle entgegen, in der Plutarch berichtet, mit seinen Schülern gerade nicht über das E gesprochen zu haben. Genauso wenig plausibel erscheint die Erklärung, Plutarch wolle hier darauf verweisen, dass er die ‚Pythischen Dialoge‘ regelrecht für Unterrichtszwecke verfasst habe, „[…] per l’uso interno della ‚scuola‘ […]“ (TUSA MASSARO, 2000, 125), bzw. dass Plutarch darauf hindeute, seine Schüler hätten bereits De defectu oraculorum gelesen und seien durch die beiläufige Erwähnung des delphischen E (De def. or. 31, 426E, vgl. dazu oben, S. 56–59) zu Nachfragen an ihren Lehrer angeregt worden, wie dies MORESCHINI (1997) 46 suggeriert: „Il dialogo ci presenta, dunque, uno degli argomenti discussi da Plutarco con i suoi allievi, i quali già conoscevano dei ‚discorsi pitici‘: uno di essi è il de defectu oraculorum.“ 81

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durch die inständigen Bitten kurz vor der Abreise stehender Delphibesucher habe bewegen lassen, die „unbedingt etwas hören wollten.“82 Von diesem Gespräch freilich berichtet Plutarch nur so viel, dass er mit den Fremden auf den Tempelstufen Platz genommen und „manches selbst nachgeforscht, manches jene gefragt“ habe, also offenbar ganz unbeeindruckt von eventuellen Ergebnissen des Gesprächs, an dem er als junger Mann teilgenommen hatte, ab ovo in einen abwägenden geistigen Austausch mit den Besuchern eingetreten sei. Als ein „Suchen“ (ζητεῖν) und „Fragen“ (ἐρωτᾶν) charakterisiert Plutarch entsprechend diejenige geistige Betätigung, die das Problem des E bei ihm ausgelöst habe. Vom konkreten Inhalt und möglichen Ergebnis des „jüngst“ geführten Gesprächs über das delphische E erfährt der Leser nichts, sondern bekommt an Stelle eines Referates dieser Diskussion einen Bericht jenes längst vergangenen Gespräches über das delphische E zu hören: Während er noch mit den Fremden sprach, so Plutarch, sei ihm eine Unterhaltung aus seiner Jugend – als Nero Griechenland besuchte, also 66/67 n. Chr. – wieder in den Sinn gekommen, an der er einst zusammen mit Ammonios teilgenommen habe,83 „als sich das selbe Problem auf die gleiche                                                             

82 De E 1, 385AB … ἔναγχος ὑπὸ τῶν υἱῶν ἐλήφθην ξένοις τισὶ συμφιλοτιμούμενος, οὓς εὐθὺς ἐκ Δελφῶν ἀπαίρειν μέλλοντας οὐκ ἦν εὐπρεπὲς παράγειν οὐδὲ παραιτεῖσθαι πάντως ἀκοῦσαί τι προθυμουμένους. Die zweifellos richtige Lesart συμφιλοτιμούμενος der Handschriften ist der Konjektur von PATON συμφιλοτιμουμένων aus syntaktischen Gründen unbedingt vorzuziehen, da ἐλήφθην in der hier geforderten Bedeutung „ich wurde bei etwas überrascht“ ohne eine nähere partizipiale Bestimmung der Tätigkeit, bei der Plutarch überrascht wurde (nämlich bei einer angeregten Unterhaltung mit den Fremden), unverständlich ist; vgl. die ausführliche Argumentation bei BECCHI (2000) 73f., INGENKAMP (2012) 19f. und CASANOVA (2012) 155f. 83 De E 1, 385AB ὡς δὲ καθίσας παρὰ τὸν νεὼν τὰ μὲν αὐτὸς ἠρξάμην ζητεῖν τὰ δ᾿ ἐκείνους ἐρωτᾶν, ὑπὸ τοῦ τόπου καὶ τῶν λόγων αὐτῶν ἃ πάλαι ποτὲ καθ᾿ ὃν καιρὸν ἐπεδήμει Νέρων ἠκούσαμεν Ἀμμωνίου καί τινων ἄλλων διεξιόντων τῆς αὐτῆς ἀπορίας ὁμοίως ἐμπεσούσης. Der Text dieser Passage ist offenbar beschädigt, eine Heilung noch nicht gelungen (einen engagierten Versuch unternimmt jetzt INGENKAMP, 2012, 20– 22). BACHET DE MÉZIRIACs Konjektur ἀνεμνήσθην, die von allen Herausgebern gedruckt wird, erscheint zwar auf den ersten Blick attraktiv, erweist sich bei näherem Hinsehen jedoch als gravierend sprachwidrig, da der Passivaorist ἀνεμνήσθην immer mediale Bedeutung im Sinne von „ich erinnerte mich“ besitzt, nicht aber passivisch „ich wurde erinnert an“ bedeuten, und somit nicht mit dem vermeintlichen passivischen Urheber ὑπὸ τοῦ τόπου καὶ τῶν λόγων αὐτῶν konstruiert werden kann. Da allerdings neben ὑπό auch ὑπέρ überliefert ist, erscheint PATONs Vorschlag, den dieser im Apparat in seiner Teubneriana von 1893 ad loc. gemacht hat, BACHET DE MÉZIRIACs Konjektur immerhin überlegen: „Nihil, fortasse, excidit, sed locus ita reficiendus est ἐρωτᾶν ὑπὲρ τοῦ τόπου καὶ τῶν λογίων (= τῶν προγραμμάτων) ἀνέλαβον (vel ἀνέγνων) ἃ πάλαι. Da jedoch bei Plutarch τὸ λόγιον in der Regel in der Bedeutung von „Orakelspruch“ verwendet wird (vgl. z.B. Thes. 26, 5 λόγιόν τι πυθόχρηστον. Marc. 3, 6 εἴξαντες λογίοις τισὶν ἐκ τῶν Σιβυλλείων), nie jedoch im Sinne von „Sinnspruch“ (PATON verweist auf die Sprüche der Sieben Weisen), ist auch dieser Lösungsvorschlag nicht vollständig überzeugend.

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Weise stellte“ (De E 1, 385B τῆς αὐτῆς ἀπορίας ὁμοίως ἐμπεσούσης). Unmittelbar auf diese Worte folgt dann der Bericht des Hauptdialoges von De E apud Delphos. Nimmt man den Autor beim Wort, so hat ihn jene Diskussion aus seiner Jugendzeit keineswegs dadurch beeindruckt, dass in ihr das Rätsel des E gelöst worden sei, denn warum hätte er es dann bis zu jenem „jüngst“ sich ereigneten déjà-vu vergessen und sich zuvor konstant weigern sollen, seine persönlichen Ansichten über die Bedeutung des Zeichens zu äußern? Plutarchs Rückgriff auf eine erste Beschäftigung mit dem delphischen E, auf die bis in die jüngste Zeit noch viele Anlässe folgten, an denen sich das Zeichen dem Autor als ungelöstes Problem präsentierte, zeigt, dass es Plutarch nicht darauf ankommt, die eigentliche Bedeutung des E zu finden und zu kommunizieren, sondern dessen besonderes philosophisches Potenzial als Zeichen für Apollons Anregung zum Philosophieren hervorzuheben. Das Problem des E, die selbe ἀπορία, hat sich ihm entsprechend wiederholt in seinem Leben gestellt, so die quasi-autobiographische Bestätigung der eingangs beschriebenen Verbindung zwischen Apollons Wesen und dem delphischen E, und entsprechend raubt jener Bericht eines Dialoges aus ferner Vergangenheit dem E weder etwas von seiner besonderen Faszination noch stellt er Apollons Wesen als eines durch echte, mithin unlösbare Aporien zur Philosophie inspirierenden Gottes in Frage: Chronologisch folgt ihm ja in der Anlage des Dialoges jene erneute Phase einer ausgesprochen zögerlichen, die Schwierigkeit der apollinischen Aporien wie nichts anderes unterstreichenden Auseinandersetzung mit dem in der Vergangenheit, aus der Plutarch schließlich berichtet, offenbar nicht befriedigend gelösten Problem. 4.4 Die Verlegung des Gesprächs in die Vergangenheit Die Handlung von Plutarchs Dialogen spielt, sofern es sich bei ihnen nicht, wie etwa im Falle des Septem Sapientium convivium oder von De genio Socratis um Gespräche handelt, die er mehr oder weniger historische Personen führen lässt, in der Regel zu einem Zeitpunkt in der Vergangenheit, der allenfalls im Hinblick auf den Gesprächsanlass näher bestimmt wird, ohne dass die Distanz zwischen dem Zeitpunkt, an dem das Gespräch berichtet wird und dem fiktivem Datum, an dem es stattgefunden haben soll, eine besondere Rolle spielte. Zusammen mit dem Amatorius bildet De E apud Delphos eine Ausnahme von dieser Regel: Beide Dialoge werden von Plutarch, der sich selbst an den Gesprächen teilnehmen lässt, ausdrücklich in eine Phase seines eigenen Lebens datiert, in der er selbst noch ein junger Mann gewesen ist. So lässt sich Plutarch im Amatorius als jungverheirateten Ehemann an einem Gespräch anlässlich eines Erosfestes in Thespiai teilnehmen, zu einem Zeitpunkt, als er, wie einmal angedeutet wird, erotisch

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„durchglüht und voller Feuer“ war,84 mithin in einer emotionalen Verfassung, die die Figur ‚Plutarch‘ in diesem Dialog in überzeugender Weise dazu prädestiniert, eine besonders ausführliche Lobrede auf den Gott Eros zu halten, die deutliche Merkmale eines gewissen jugendlichen intellektuellen Überschwangs aufweist.85 Das fiktive Datum des Amatorius stellt somit einen besonders engen Zusammenhang zwischen dem jugendlichen Charakter der Figur ‚Plutarch‘ und den Aussagen her, die der Autor dieser Figur in den Mund legt; die literarische Anlage des Dialogs und die Ausführungen der Dialogfigur ‚Plutarch‘ sind entsprechend nicht voneinander zu trennen. Auf den ersten Blick teilt De E apud Delphos mit dem Amatorius das Merkmal, dass die jugendliche Rolle, die Plutarch derjenigen Dialogfigur zuweist, die seinen Namen trägt, besondere Eigenheiten begründen soll, die Charakterbild und Aussagen ‚Plutarchs‘ als Dialogteilnehmer auszeichnen: Ist ‚Plutarch‘ im Amatorius der frischvermählte Erotiker, der den Eros begeistert in all seinen Facetten preist, so führt sich Plutarch in De E apud Delphos als jungen Mathematikenthusiasten ein, der seinen zum fiktiven Zeitpunkt des Gesprächs vorherrschenden intellektuellen Interessen entsprechend eine flammende Argumentation zugunsten der These entwickelt, das delphische E sei als die Zahl Fünf zu verstehen. Ungeachtet dieser Gemeinsamkeit unterscheiden sich beide Texte jedoch in einem wesentlichen Punkt: Während im Amatorius die fiktive autobiographische Situation, in der ‚Plutarch‘ sich befindet, nicht nur die geeignete Rahmenhandlung für das im Amatorius präsentierte Gespräch über den Eros abgibt, sondern ‚Plutarch‘ darüber hinaus auch eine angesichts seiner Lebenssituation glaubhafte Autorität für ein Lob des Eros verleiht, besteht nach Plutarchs Willen in De E apud Delphos ein durchaus spannungsgeladenes Verhältnis zwischen Plutarch als späterem Erzähler des Dialoges und der Dialogfigur ‚Plutarch‘. Denn der junge ‚Plutarch‘ erhält zwar im Dialogverlauf eine herausgehobene Stellung, die dadurch markiert ist, dass diese Figur durch den nur zu diesem Zweck im Dialog auftretenden Eustrophos eingeführt und seine besondere Qualifikation für eine „mathematische“ Deutung des Problems mit seiner jugendlichen Mathematikleidenschaft begründet wird, die ‚Plutarch‘ schließlich durch die mit Abstand längste Rede86 über das delphische E unter Beweis stellen darf; doch führt diese Bevorzugung, die Plutarch seinem alter ego in De E apud Delphos angedeihen lässt, nicht zu                                                             

84 Amat. 6, 752D … συνδιακεκαυμένῳ καὶ γέμοντι πυρὸς κτλ. Die Erwähnung der anonymen Person, bei der sich der Gesprächspartner Daphnaios mit dem erotischen Feuer angesteckt haben soll, ist mit großer Wahrscheinlichkeit auf den jungen Plutarch zu beziehen, vgl. GÖRGEMANNS (2005) 188. 85 Vgl. GÖRGEMANNS (2005) 188 „Er [sc. der Leser, Anm. d. Verf.] wird sich vielleicht über den Eifer des jungen Mannes amüsieren und es ihm nachsehen, dass er sich ein wenig exaltiert und exzentrisch gibt […].“ 86 Vgl. oben, S. 14, Anm. 25.

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einer ähnlich dominanten Rolle, wie sie der junge ‚Plutarch‘ im Amatorius einnimmt: ‚Plutarch‘ nämlich tritt nicht als letzter Redner auf und liefert nicht so etwas wie das Schlusswort zur Debatte um die Bedeutung des delphischen E, vielmehr spricht ein solches Schlusswort Ammonios, der mit dem Anspruch antritt, alle vorher geleisteten Versuche, die Bedeutung des E zu ergründen, ausdrücklich eingeschlossen denjenigen ‚Plutarchs‘, durch eine in seinen Augen richtige Lösung zu überbieten. Doch ist es nicht nur diese Maßnahme in der Dialogregie, durch die Plutarch den Gültigkeitsanspruch derjenigen Lösung relativiert, die er ‚Plutarch‘ vortragen lässt, und somit die besondere fachliche Autorität, die er ihm uneingeschränkt attestiert, nicht zu einer übergreifenden Autorität dieser Figur für die Deutung des delphischen E ausweitet, sondern darüber hinaus ein auktorialer Kommentar, den Plutarch in der Rolle des Erzählers des Dialogs – unmittelbar nach der Einführung des jungen ‚Plutarch‘ durch Eustrophos und direkt vor der eigentlichen Rede ‚Plutarchs‘ – an Sarapion gerichtet einschiebt: Plutarch versichert Sarapion, Eustrophos’ Aufforderung, er möge doch als eingefleischter Mathematiker eine Rede halten, die für die Bedeutung des E als der Zahl Fünf argumentiere, sei durchaus kein Witz gewesen, vielmehr sei er, ‚Plutarch‘, tatsächlich zum Zeitpunkt des von ihm berichteten Gesprächs leidenschaftlich (ἐμπαθῶς) der Mathematik verfallen gewesen, sei der Begeisterung für diese philosophischen Forschungsrichtung jedoch in dieser Intensität nicht mehr lange treu geblieben: Er stand vielmehr kurz davor (τάχα δὴ μέλλων) „in jeder Hinsicht den Ausspruch ‚Nichts im Übermaß!‘ in Ehren zu halten“, nachdem – oder weil – er „ein Mitglied der Akademie (geworden) war“ (ἐν Ἀκαδημείᾳ γενόμενος).87 In der Plutarchforschung hat diese Aussage große Aufmerksamkeit auf sich gezogen, da sie scheinbar ein rares autobiographisch-entwicklungsgeschichtliches Zeugnis enthält, in dem Plutarch über seinen philosophischen Werdegang Auskunft gibt. Plutarch, dem man immer wieder eine pythagoreisch orientierte Jugendphase nachsagt, wie man aus den den Vegetarismus propagierenden Schriften wie De esu carnium und De sollertia animalium schließen zu dürfen glaubt,88 porträtiere sich an dieser Stelle von De E apud Delphos gleichsam in der Spätphase seines Pythagoreismus, wie aus der Zahlenbegeisterung des jugendlichen Redners hervorgehe. Die einsetzende Neuorientierung Plutarchs, die dann zu seiner so bekannten wie überzeugten                                                             

87 De E 7, 387EF ταῦτα δὲ πρὸς ἡμᾶς ἔλεγεν οὐ παίζων ὁ Εὔστροφος, ἀλλ’ ἐπεὶ τηνικαῦτα προσεκείμην τοῖς μαθήμασιν ἐμπαθῶς, τάχα δὴ μέλλων εἰς πάντα τιμήσειν τὸ μηδὲν ἄγαν ἐν Ἀκαδημείᾳ γενόμενος. 88 Vgl. ZIEGLER (1951) 734f. Bereits HIRZEL (1895) 199 wollte den eigentlichen Plutarch in der Ammoniosrede sehen, wohingegen ‚Plutarch‘ den Autor „noch auf der frühesten Stufe der philosophischen Entwickelung“ zeige, der „in der Begeisterung für Pythagoras und dessen Mathematik keine Grenzen“ kenne.

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Anhängerschaft an die Akademie und Platon führte, werde entsprechend an dieser Stelle nicht nur konkret angesprochen, sondern regelrecht datiert. Der vermutete autobiographische Gehalt der Stelle erscheint der Forschung umso bedeutsamer, als jene auktorial angekündigte Abkehr von der mathematischen Zahlenbegeisterung ‚Plutarchs‘, die ja den Gültigkeitsanspruch der Rede durchaus relativiert, mit der durch die Dialogregie zugewiesenen vorletzten, mithin nur zweitwichtigsten Position der Rede vor der sich anschließenden Schlussrede des Ammonios perfekt zu harmonieren scheint. Denn Ammonios, der Lehrer Plutarchs, beginnt seine Schlussrede über die Bedeutung des delphischen E mit einer freundlichen Kritik an ‚Plutarchs‘ mathematischem Lob der Zahl Fünf und entwickelt sodann einen eigenen Lösungsansatz, der nicht nur ‚Plutarchs‘, sondern alle Vorschläge seiner Vorredner übertreffen soll und an dessen platonischem Geist kein Zweifel besteht: Das E soll als Verbalform εἶ die ontologisch richtige Anrede des Apollon mit „Du bist“ bedeuten, der gegenüber in einem weiteren, am Tempel des Apollon in Delphi angebrachten Spruch, dem berühmten „Erkenne dich selbst!“ (γνῶθι σαυτόν) eine als Gruß des Gottes an die Tempelbesucher gerichtete Aufforderung zur Selbsterkenntnis enthalten sein soll, die in der Negation des göttlichen Seinsprädikats besteht und die menschliche Existenz auf einer ontologischen Stufe vollständigen Nichtseins ansiedelt. Der Hauptteil von Ammonios’ Rede enthält die entsprechenden Argumente für das transzendente Sein des Gottes und das Nichtsein des Menschen als Teil eines ontologisch streng genommen nichtseienden, da stetigem Werden und Vergehen unterworfenen Kosmos. In der Literatur zu De E apud Delphos und zu den Charakteristika von Plutarchs Platonismus herrscht die Ansicht vor, Plutarch habe durch die Datierung des Gesprächs über das delphische E in seine Jugend nicht nur einen Hinweis auf seinen eigenen philosophischen Werdegang, sondern auch auf die von ihm selbst zum Zeitpunkt der Abfassung von De E apud Delphos vertretene Meinung über die wahre Bedeutung des delphischen E geben wollen. So wird die Zweitrangigkeit, die Plutarchs Dialogregie der mathematisch-enthusiastischen Rede ‚Plutarchs‘ zuweist, mit dem auktorialen Hinweis auf die unmittelbar bevorstehende Abwendung der Dialogfigur ‚Plutarch‘ von jener Mathematikbegeisterung hin zu einer „akademischen“ philosophischen Orientierung zu der Schlussfolgerung kombiniert, Plutarch wolle seine Leser darauf hinweisen, dass nicht etwa derjenige Lösungsansatz, den er ‚Plutarch‘ formulieren lässt, seine Überzeugung von der richtigen Bedeutung des delphischen E enthalte, sondern derjenige des Ammonios, der gleichsam als der eigentliche Stellvertreter und als Sprachrohr des Autors im Dialog über das delphische E fungiere: Der bekennende Akademiker und Platoniker Plutarch habe somit mit der Rede, die er sein jugendliches Ich halten lässt, eine längst obsolete philosophische

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Überzeugung und Methode dokumentiert, sich aber mittlerweile Ammonios’ platonische Deutung des delphischen E ganz und gar zu eigen gemacht und wolle deren philosophisch-theologische Botschaft als seine eigene im Schlussabschnitt von De E apud Delphos kommunizieren; der auktoriale Kommentar über die Ehre, die ‚Plutarch‘ sehr bald nach dem Gespräch in seiner Jugend dem „Nichts im Übermaß“ als einem Motto der Schule Platons, der Akademie, bezeugt habe, gebe den entscheidenden Hinweis. Die Ammoniosrede spiegle ferner nicht nur Plutarchs Aussageabsicht in De E apud Delphos wider, sondern sei darüber hinaus auch als Reverenz des ehemaligen Schülers Plutarch an seinen Lehrer Ammonios zu verstehen, die es erlaube, die Ammoniosrede als philosophiegeschichtliches Dokument für die Lehren des historischen Ammonios und damit als zugleich autobiographisches Zeugnis für die geistige Entwicklung Plutarchs und die seinen Platonismus prägenden platonisch-philosophischen Tendenzen zu lesen.89 So anziehend freilich eine solche Deutung des zeitlichen Abstandes sein mag, der zwischen der Zeitebene der Erzählung des Dialoges und der Vergangenheit liegt, in der er tatsächlich stattgefunden haben soll, so problematisch erweisen sich bei näherem Hinsehen die Kombinationen der verschiedenen Daten, die der Textbefund von De E apud Delphos bietet und auf denen die eben skizzierte, beinahe zur communis opinio gewordene Interpretation der Dialoggestaltung aufbaut. So ist zunächst festzuhalten, dass der Inhalt der Rede ‚Plutarchs‘ sich keineswegs auf eindeutig als pythagoreisch identifizierbare Argumente zugunsten einer Deutung des E als der Zahl Fünf reduzieren und somit kategorial scharf von dem platonischen Gehalt der sich anschließenden Ammoniosrede trennen lässt. Denn einerseits nimmt in der Rede des jungen ‚Plutarch‘, gemessen an Umfang und Gewichtung, als typisch „pythagoreisch“ qualifizierbares Gedankengut einen verhältnismäßig geringen Stellenwert ein90 und erscheint im ersten Teil der Rede nur in der Einleitung einer Deutung des gemeinsamen Kultes von Apollon und Dionysos in Delphi, die wesentlich von heraklitisch-stoischen Theoremen dominiert wird. Andererseits ist es ausgerechnet ‚Plutarch‘, der sich als einzige Figur in De E apud Delphos ausdrücklich als Platonanhänger bezeichnet und wesentliche                                                              89

Vgl. dazu oben, S. 7f. Es findet sich verstärkt nur in den Ausführungen über die „Entstehung“ der 5 aus 2 und 3 im Eingangskapitel (De E 8, 387E–388E), wo die Pythagoreer als Urheber der Bezeichnung „Hochzeit“ für die Fünf explizit genannt werden (De E 8, 388C ὡς οὖν ἄρρενός τε τοῦ πρώτου καὶ θήλεος ὁμιλίᾳ τὰ πέντε γιγνόμενα γάμον οἱ Πυθαγόρειοι προσεῖπον), und im 13. und 14. Kapitel der Schrift (390C–391A), wo Plutarch eine Vorstellung „derer, die die Vier heilig halten“ (390C οἱ τὴν τετράδα σεμνύναντες) über eine vierstufige dimensionale Entwicklung von Festkörpern um einen fünften Entwicklungsschritt ergänzt und im Anschluss an seine Ausführungen noch eine alternative Erklärung der 5 aus ihren Bestandteilen 1 und 4 nachliefert. 90

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Argumente für die von ihm vertretene Deutung aus dem Werk Platons ableitet: So spricht er einmal von „unserem Platon“ (τὸν Πλάτωνα ἡμῶν, De E 15, 391A) und beweist vertiefte Kenntnisse von Spezialdiskussionen über die Deutung mehrerer Passagen in den Dialogen Timaios, Kratylos, Sophistes und Philebos sowie einen möglichen Zusammenhang der Passagen untereinander. Diese in der Rede deutlich zutage tretende Expertise ‚Plutarchs‘ in Sachen Platon zeigt, dass Plutarch den geistigen Horizont seines jüngeren Ichs keineswegs auf reinrassiges Pythagoreertum beschränkt,91 sondern gerade die platonische Philosophie zu einem integralen Bestandteil seiner Ausführungen gemacht hat.92 Eine Deutung des auktorialen Kommentars                                                              91

Dafür spricht zumal, dass ‚Plutarch‘ selbst an der Stelle, an der er die Pythagoreer explizit erwähnt, von ihnen so spricht, als zähle er sich selbst nicht zu ihnen, teile jedoch in einem bestimmten Punkt ihre Meinung (De E 8, 387C); dieses Indiz für eine reflektierte Rezeption pythagoreischer Ideen wird noch erhärtet durch die spätere Bemerkung ‚Plutarchs‘, die Lehre „derer, die die Vier verehren“ sei in einer bestimmten Hinsicht „nicht übel“ (De E 13, 390C οἱ γὰρ τὴν τετράδα σεμνύναντες οὐ φαύλως διδάσκουσιν, ὅτι κτλ.), womit ganz zweifellos die „echten“ Pythagoreer gemeint sind (vgl. OBSIEGER, 2007, 147 ad. loc.), um dann freilich das Theorem, auf das sich die Verehrung der Vier durch die Pythagoreer stützt, durch eine eigene Überlegung für den Beleg einer größeren Bedeutung der Fünf auszunutzen, sich also klar von der pythagoreischen Orthodoxie absetzt, indem er ihr die eigenen Spekulationen entgegenstellt. 92 BRENK (1977) 67f., der aus der Rede freilich historische Daten für Plutarchs philosophische Entwicklung entnehmen will, hat darauf hingewiesen, dass vor allem der zweite Teil von ‚Plutarchs‘ Rede soviel an platonischer Philosophie enthält, dass er für ein verlässliches Dokument einer vorakademischen Orientierung ihres Sprechers zu anachronistisch wirke: „Later in the speech, more along the lines of traditional Platonism, the pempad is applied to the Good, which displays itself under five categories which Plutarch goes on to describe (391a). A knowledge of Platonism and Aristotelianism is displayed in the essay, beyond that of a non-Academician. The conclusion seems inevitable: this is not an entirely accurate representation of Plutarch’s youthful thought. However, the essay is meant to be a rather complete exposition of the meanings of the E; and it would be quite logical to let the youthful Plutarch of the speech say a bit more than he would have been capable of at the time, without, however, turning him upside down. After Plutarch finishes, Ammonios demolishes his arguments by pointing out numbers which are just as useful as those Plutarch has proposed. The passage, then, probably is something of a reflection of Plutarch’s activity within, rather than before entering the Academy, though for our purposes this does not make much difference. […] It is not altogether impossible also that he was able to read Plato and perhaps some Aristotle before entering, or to have picked up their ideas from his brothers or friends.“ BABUT (1992) 198 ist sogar so weit gegangen, diesen Befund zu der Intention des Autors auszuweiten, ‚Plutarch‘ nicht als Pythagoreer, sondern als Anhänger Platons auftreten zu lassen: „Mais quand Plutarque, répondant à l’invitation d’Eustrophe, entreprend de démontrer que l’E de Delphes symboliserait le nombre cinq, en raison des propriétés éminentes de ce nombre, à quelle école ou tendance philosophique peut-on rattacher les spéculations arithmologiques qu’il développe alors? La réponse habituelle est que ces pages témoigneraient de l’influence pythagoricienne qu’auraient subie dans leur jeunesse Plutarque et Eustrophe. Mais cette réponse, qui s’explique sans doute en partie par une fausse interprétation d’une allusion de Plutarque à

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unmittelbar vor der Rede ‚Plutarchs‘ im Sinne eines Hinweises auf eine unmittelbar bevorstehende Konversion vom Pythagoreismus zu einem allein von Ammonios in De E apud Delphos vertretenen Platonismus ist mithin kaum zu halten.93                                                             

son entrée à l’Académie, méconnaît le fait que l’auteur du De E a voulu placer le discours de son propre personnage sous le patronage de Platon. Cela ressort d’abord de ses références directes au fondateur de l’Académie, et plus particulièrement du passage où, s’adressant à Ammonios, il exprime la crainte que son propos ne paraisse faire tort à „notre Platon“(τὸν Πλάτωνα ἡμῶν, 391 A 8).“ 93 Dieser Einwand kann sich auch auf eine auktoriale Bemerkung Plutarchs unmittelbar vor der Ammoniosrede stützen, wo es heißt, Ammonios habe sich ausdrücklich über die Ausführungen ‚Plutarchs‘ gefreut, „da er ja auch selbst die Mathematik als den nicht unbedeutendsten Teil der Philosophie ansah“ (De E 17, 391E ὁ δ’ Ἀμμώνιος, ἅτε δὴ καὶ αὐτὸς οὐ τὸ φαυλότατον ἐν μαθηματικῇ τῆς φιλοσoφίας τιθέμενος, ἥσθη τε τοῖς λεγομένοις καὶ εἶπεν κτλ. OPSOMER hat in seinem „Philosophical Profile“ des Ammonios den Versuch unternommen, mit Berufung auf QC 9, 14, die „Ungewöhnliche Beobachtungen über die Zahl der Musen“ zum Thema hat (Περὶ τοῦ ἀριθμοῦ τῶν Μουσῶν ὅσα λέγεται μὴ κοινῶς) eine sehr viel kritischere Position des Ammonios gegenüber der Rede ‚Plutarchs‘ in De E apud Delphos abzuleiten. Nachdem der Rhetor Herodes einleitend die Verbindung der einzelnen Musen zu seinem Berufsstand gepriesen hat, ergreift Ammonios das Wort, drückt – ganz wie in QC 3, 2 und in De E apud Delphos – seine Sympathie gegenüber Herodes’ frecher Vereinnahmung der Musen aus (QC 9, 14, 2, 743E–744A καὶ ὁ Ἀμμώνιος οὐκ ἄξιον, ἔφη, σοι νεμεσᾶν, ὦ Ἡρώδη, καὶ „παχείῃ“ χειρὶ τῶν Μουσῶν ἐπιδραττομένῳ· κοινὰ γὰρ τὰ φίλων, καὶ διὰ τοῦτο πολλὰς ἐγέννησε Μούσας ὁ Ζεύς, ὅπως ᾖ πᾶσιν ἀρύσασθαι τῶν καλῶν ἀφθόνως), setzt selbst die Frage auf die Tagesordnung, wieso es nicht weniger oder mehr als neun Musen gebe, und fordert Herodes zu einer Erklärung dieses Sachverhaltes auf. Der Angeredete weiß auch sogleich Rat: Das Lob der Neun sei doch in aller Munde, jeder wisse, dass sie die Besonderheit aufweise, das Quadrat der ersten ungeraden Zahl, der Drei, zu sein, wie sie auch aus der Multiplikation zweier ungerader Zahlen entstehe (QC 9, 14, 2, 744A): τί δὲ τοῦτο σοφόν; εἶπεν ὁ Ἡρώδης· πᾶσι γὰρ διὰ στόματός ἐστι καὶ πάσαις ὑμνούμενος τῆς ἐννεάδος ἀριθμός, ὡς πρῶτος ἀπὸ πρώτου περισσοῦ τετράγωνος ὢν καὶ περισσάκις περισσός, ἅτε δὴ τὴν διανομὴν εἰς τρεῖς ἴσους λαμβάνων περισσούς. Ammonios reagiert auf diese selbstbewusste Spontanerklärung mit einem Lächeln und karikiert Herodes’ Erklärungsmethode dadurch, dass er sie ironisch fortspinnt: „Daran hast du uns wacker erinnert! Sag doch auch noch, dass die Zahl aus zwei der ersten Kubikzahlen, der Eins und der Acht, zusammengefügt ist und nach einer anderen Verbindung aus zwei Dreieckszahlen, der Drei und der Sechs, besteht, von denen jede auch noch eine vollendete Zahl ist.“ (QC 9, 14, 2, 744B καὶ ὁ Ἀμμώνιος ἐπιμειδιάσας ἀνδρικῶς ταυτὶ διεμνημόνευσας· καὶ πρόσθες αὐτοῖς ἔτι τοσοῦτον, τὸν ἀριθμὸν ἐκ δυεῖν τῶν πρώτων συνηρμόσθαι μονάδος καὶ ὀγδοάδος, καὶ καθ᾿ ἑτέραν αὖ πάλιν σύνθεσιν ἐκ δυεῖν τριγώνων, τριάδος καὶ ἑξάδος, ὧν ἑκάτερος καὶ τέλειός ἐστιν). Ammonios bezweifelt, dass sich so die Neunzahl der Musen erklären lasse und erlaubt sich einen weiteren Witz, wenn er Herodes die Buchstabenzahl des Namens der Mutter der Musen (also Mnemosyne) als Erklärung vorschlägt. OPSOMER (2009) 136f. will in dieser Passage eine grundsätzlich skeptische Einstellung des Ammonios gegenüber Zahlenspekulationen erkennen: „[…] “Ammonius” ironically distances himself from number speculations, all the while showing his familiarity with them, exactly as he does in the De E […]. Number speculations do not teach us anything about the causes of a fact

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Ähnlich großen Zweifeln ist die gängige Deutung des Kommentars als solchem sowie dessen Bezug auf den Inhalt der Ammoniosrede ausgesetzt, denn es ist keineswegs ausgemacht, welche philosophiegeschichtliche Information Plutarchs Aussage enthält, er sei kurz davor gestanden (τάχα δὴ μέλλων) „in jeder Hinsicht den Ausspruch ‚Nichts im Übermaß!‘ (τὸ μηδὲν ἄγαν) in Ehren zu halten“, nachdem – oder weil – er „ein Mitglied der Akademie (geworden) war“ (ἐν Ἀκαδημείᾳ γενόμενος), geschweige denn, ob und wie sich diese Aussage zu den Ausführungen des Ammonios fügt.94                                                              (a religious or mythological belief, a custom), as long as we fail to establish a precise link between the latter and the number in question. Why this rather than some other number with fascinating properties, and why is it connected to this rather than to some other fact? As long as one fails to answer these questions in a satisfactory way, number speculation is not very useful.“ Ähnlich verhalte es sich in De E apud Delphos: Ammonios’ Kommentar kennzeichne ‚Plutarchs‘ Rede als allzu naive Anwendung der Methode (ibid., 148f.): „“Ammonius”, however, puts his [sc. ‚Plutarchs‘, Anm. d. Verf.] feet back on the ground by pointing out that many numbers would lend themselves to similar exultant praise and wild speculation. Yet he also expressly acknowledges the great value of mathematics, as is confirmed by a narrational comment. Ammonius is said “to have plainly held that not the least part of philosophy is contained in mathematics”. In the Quaestiones convivales we have seen him adopting the same attitude. Ammonius is portrayed as someone who is interested in number theory, but at the same time keeps a playful distance and warns against approaching it in a naive, credulous way.“ Freilich blendet Opsomer die Differenzen zwischen beiden Stellen allzu sehr aus: Die Worte des Ammonios in QC 9, 14 enthalten keinen Hinweis darauf, dass ihr Sprecher den Zahlenspekulationen des Herodes auch nur den geringsten philosophischen Wert beimisst, während Plutarch in De E apud Delphos die mathematischen Interessen des Ammonios ausdrücklich hervorhebt. Ebenso zielt die ironische Kritik des Ammonios in der Quaestio convivalis im Wesentlichen auf Herodes’ selbstbewussten, wenn nicht gar als Witz gemeinten Schnellschuss, mit zwei zahlenspekulativen Argumenten das Problem erledigen zu können, die er zudem explizit als in gebildeten Kreisen (πᾶσι γὰρ διὰ στόματός ἐστι) verbreitete Allerweltsweisheit bezeichnet. Die Rede ‚Plutarchs‘ ist hingegen von unbestreitbar anderem philosophischem Kaliber: Zwar enthält auch sie vergleichsweise triviale Beobachtungen über die Zusammensetzung der Fünf aus anderen besonderen Zahlen (vgl. De E 8, 387F–388E; De E 14, 390F), aber sie begnügt sich beileibe nicht mit derartigen Gedankenspielen, um die Weihung des E zu erklären, sondern leistet nicht zuletzt gerade das, was Ammonios an Herodes’ Ausführungen moniert, nämlich die Herstellung einer Verbindung zwischen Zahl und Problem, indem sie die Verbindung zwischen der Fünf und Apollon breit erläutert (Vgl. De E 9, 388E–389C: Die 5 symbolisiert Apollon, der mit der Weltphase der Ekpyrosis identifiziert wird, die sich mit derjenigen der Diakosmesis abwechselt, für die Dionysos als die 10 steht (gedacht ist an die Reihe 5–10–15–20–25 etc., bei der nur die letzte Ziffer beachtet wird). De E 10, 389D–F wird die Bedeutung der Fünf in der Musik als einem Hauptzuständigkeitsgebiet des Gottes erläutert (τῆς δὲ δὴ μάλιστα κεχαρισμένης τῷ θεῷ μουσικῆς οὐκ οἰόμεθα τούτῳ τῷ ἀριθμῷ μετεῖναι;). 94 Paradigmatisch für die Versuchung, Plutarchs auktoriale Erwähnung der Akademie zu einem allgemeinen Bekenntnis zur platonischen Lehre auszuweiten, mag KAHLE (1912) 35 stehen, der das angesprochene μηδὲν ἄγαν, in dem sich nur der Teilaspekt der platonisch-akademischen Tradition, die Skepsis gegenüber allzu dogmatischen Festlegungen

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Betrachtet man zunächst den reinen Textbefund des auktorialen Kommentars unter Berücksichtigung seines unmittelbaren Kontextes, so ergibt sich folgendes Bild: Plutarch kommentiert als Erzähler des Dialogs an Sarapion gerichtet die Worte, die er Eustrophos zur Einführung der Dialogfigur ‚Plutarch‘ und zu deren intellektuellen Vorlieben sprechen lässt. Eustrophos hatte ‚Plutarch‘ in enthusiasmierten Worten zu einem Gesprächsbeitrag ermuntert, der „dem Gott eine Erstlingsspende aus der geliebten Mathematik“ (ἀπάρξασθαι τῆς φίλης μαθηματικῆς, De E 7, 387E) darbringen solle, und ‚Plutarch‘ aus dem Grunde für besonders qualifiziert, wenn nicht gar zu einem solchen Beitrag verpflichtet charakterisiert, als er mit Eustrophos selbst die Vorliebe teile, „schlichtweg alle Dinge und Naturen und Prinzipien, göttliche wie menschliche, auf die Zahl zurückzuführen und diese (sc. die Zahl) am allermeisten zur Führerin und Herrin der schönen und ehrenwerten Dinge zu machen“. ‚Plutarch‘ solle entsprechend das E als die Zahl Fünf deuten, da dieses nach ihrer gemeinsamen Überzeugung „als großes und führendes Zeichen für die Zahl Fünf zu besonderer Ehre gelangt“ sei.95 Man wird mithin den auktorialen Kommentar in erster Linie vor dem Hintergrund der unmittelbar vorausgehenden Worte des Eustrophos lesen müssen, zumal Plutarch diesen Zusammenhang selbst hervorhebt: Der Kommentar setzt mit den Worten „dies aber sagte Eustrophos zu uns nicht im Scherz“ ein (ταῦτα δὲ πρὸς ἡμᾶς ἔλεγεν οὐ παίζων ὁ Εὔστροφος, De E 7, 387EF), worauf unmittelbar der bereits zitierte Passus von Plutarchs baldiger Orientierung an dem Leitsatz μηδὲν ἄγαν folgt. Aus dem Textbefund wird ferner ersichtlich, dass Plutarch offenbar seiner Mathematikbegeisterung eine philosophische Haltung gegenüberstellt, die er als eine „allgemeine Wertschätzung“ (εἰς πάντα τιμήσειν) der Maxime „Nichts im Übermaß!“ (τὸ μηδὲν ἄγαν) charakterisiert, die wiederum ihren Ort in der „Akademie“ haben soll, der sich Plutarch für die Zukunft verschrieben haben will. Das begriffliche Gegensatzpaar in dieser Aussage bilden zweifellos die „Leidenschaftlichkeit“ (ἐμπαθῶς) von ‚Plutarchs‘ mathematischen Interessen in der Vergangenheit des Dialoggeschehens einerseits und andererseits die Zurückhaltung gegenüber jeder Art von „Übermaß“ (μηδὲν ἄγαν), die sich Plutarch in späteren Zeiten und, wie man annehmen muss, bis in die Gegenwart des Berichterstatters hinein, in der er                                                              bei der Beantwortung von schwierigen Fragen ausdrückt, zu einem Bekenntnis zu einem akademisch-platonischen Dogmatismus (Academiae doctrina) ausdehnt. 95 De E 7, 387E οὕτως οὐδ’ ἡμᾶς τοὺς πάντα συλλήβδην πράγματα καὶ φύσεις καὶ ἀρχὰς θείων ὁμοῦ καὶ ἀνθρωπείων ἐν ἀριθμῷ τιθεμένους καὶ πολὺ μάλιστα τῶν καλῶν καὶ τιμίων τοῦτον ἡγεμόνα ποιουμένους καὶ κύριον εἰκὸς ἡσυχίαν ἄγειν, ἀλλ’ ἀπάρξασθαι τῷ θεῷ τῆς φίλης μαθηματικῆς, αὐτὸ μὲν ἐφ’ ἑαυτοῦ μήτε δυνάμει μήτε μορφῇ μήτε τῷ ῥήματι τὸ Ε τῶν ἄλλων στοιχείων διαφέρειν ἡγουμένους, ὡς δὲ μεγάλου πρὸς τὰ ὅλα καὶ κυρίου σημεῖον ἀριθμοῦ προτετιμῆσθαι τῆς πεμπάδος, ἀφ’ οὗ τὸ ἀριθμεῖν οἱ σοφοὶ πεμπάζειν ὠνόμαζον.

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diesen Kommentar an Sarapion richtet, auferlegt hat. Die Verortung dieser restriktiven Position gegenüber übermäßiger Begeisterung nicht nur für die Mathematik, sondern „in jeder Hinsicht“ (εἰς πάντα) in der „Akademie“ verweist dabei auf eine bereits in Platons nichtwissend-elenktischem Sokrates angelegte und in wechselnder Intensität die Geschichte der platonischen Akademie durchziehende Tendenz zur Skepsis gegenüber jeder Form von unreflektiert akzeptierten Meinungen sowie zu deren skrupulöser Prüfung, eine philosophische Haltung, die unter den Schulhäuptern Arkesilaos, Karneades und Philon von Larissa als verselbständigte und radikalisierte Strömung bis zur vollständigen Negierung der Möglichkeit gesteigert wurde, überhaupt gesichertes Wissen erlangen zu können. Da Plutarchs auktorialer Kommentar das „akademische“ seiner baldigen philosophischen Neuorientierung allein96 mit der restriktiven Maxime „Nichts im Übermaß!“                                                              96 DONINI (1986) 102 hat mit Recht gegen GLUCKER (1978) geltend gemacht, dass eine klare Trennung zwischen „akademisch“ und „platonisch“ im Sinne einer Unterscheidung zwischen der skeptischen Neuen Akademie und einem orthodoxen Platonismus sowie einer entsprechenden Zuordnung von Dialogpersonen zu einer der beiden Richtungen für Plutarch nicht durchführbar ist: „L’idea di contraporre il „Platonismo“ di Ammonio alla compiuta formazione „academica“ di Plutarco e Lampria, prima ancora di essere smentita da una più attenta lettura del de defectu, dovrebbe apparire a priori inattendibile a un conoscitore di Plutarco. Questi fu infatti anche autore di uno scritto (perduto: è il numero 63 nel catalogo di Lampria) che dichiarava fin dal titolo „che l’Academia discesa da Platone è una sola“. La tesi che dunque Plutarco difendeva era che non fossero mai state fratture nella tradizione e nella scuola platonica: che non ci fosse mai stata, in particolare, un’Academia „nuova“, scettica, diversa da quella „antica“, più fedele a Platone.“ [Hervorhebung im Original] Ähnlich BONAZZI (2008) 208 und BABUT (1994) 549–552. Eine ausführliche Zusammenfassung der Kritik DONINIs an GLUCKER unter Einbeziehung von BABUT liefert OPSOMER (1998) 21–26. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Plutarch mit dem Begriff „akademisch“ nicht jenen eher erkenntnisskeptischen Aspekt der für ihn bruchlosen Akademiegeschichte betonen kann, ohne dass auf dem Begriff „akademisch“ immer diese Betonung liegen muss, vgl. DONINI (2002) 250: „Dunque, per evitare di fraintendere Plutarco sarà necessario ricordarsi che „Academia“ e „academico“ non possono in lui significare automaticamente l’Academia nuova.“ Im Kontext der hier untersuchten Passage aus De E apud Delphos, in dem der Begriff „Akademie“ inhaltlich nur mit einer erkenntnisskeptischen Position gefüllt wird, liegt freilich ein Fall vor, in dem Plutarch auf das skeptische Moment der Akademie bzw. des Platonismus verweist. Unter Einbeziehung des Kontextes ist auch DONINI ibid. bereit, eine Verwendung des Begriffs „Akademie“ durch Plutarch im Sinne der erkenntnistheotetischen Positionen der Neuen Akademie anzuerkennen: „Se i suoi appelli o richiami all’Academia e agli academici si riferiscano specificamente alla scuola di Arcesilao e alla tradizione academica che va da questo scolarca fino a Carneade e a Filone, oppure genericamente all’intera tradizione unitaria del platonismo secondo la convinzione espressa nel titolo dell’opera perdutasi [sc. die oben genannte Schrift über die Einheit der Akademie, Anm. d. Verf.], questo è un problemo delicato che può forse essere deciso di volta in volta soltanto dall’esame dei contesti in cui quegli appelli e quei riferimenti compaiono.“ DONINI hat ibid., 251 durchaus Recht mit der

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umschreibt, so scheint er, will man mit den naheliegenden Kategorien der Akademiegeschichte arbeiten, seine frühere Mathematikleidenschaft gegen eine allgemein erkenntnistheoretisch skeptische Haltung eingetauscht zu haben.97 Dies bedeutet für den unmittelbaren Zusammenhang, in dem Plutarch den auktorialen Kommentar spricht, nichts anderes, als dass die Rede, die er ‚Plutarch‘ sogleich halten lässt, Merkmale enthalten wird, die ein gewisses „Übermaß“ im Sinne der besagten „Leidenschaftlichkeit“ dokumentieren, mit der ‚Plutarch‘ gemäß den Worten des Eustrophos der Mathematik verfallen war. Was Plutarch somit auktorial hinsichtlich der Rede ‚Plutarchs‘ relativiert, ist nicht deren mathematischer Gehalt als solcher – etwa im Gegensatz zum platonischen Charakter der Ammoniosrede – oder überhaupt der Versuch, das delphische E als die Zahl Fünf zu deuten, sondern die leidenschaftliche Ausschließlichkeit, die Eustrophos und ‚Plutarch‘ der mathematischen Methode als überragendem Erkenntnismittel auch und gerade zur Deutung des delphischen E zuschreiben. Ist es nun die Rede des Ammonios, in der die skizzierte „akademische“ Tendenz des Philosophierens ihren Ausdruck findet, mithin eine mehr oder minder starke Zurückhaltung gegenüber übertriebener Selbstgewissheit, feste und gültige Erkenntnis erlangen zu können, und dokumentiert sie damit die philosophische Haltung, zu der Plutarch sich nach seinem auktorialen Kommentar sehr bald nach dem fiktiven Termin des Auftrittes ‚Plutarchs‘ im Gespräch über das delphische E bekannt haben will? Tritt entsprechend mit Ammonios diejenige Figur auf, die dem Rätsel des delphischen E mit eben den philosophischen Mitteln begegnet, denen Plutarch gegenüber der                                                             

Einschätzung, dass der auktoriale Kommentar in De E 7, 387F als solcher nicht zwangsläufig auf eine Anhängerschaft zum Platonismus im Sinne der Neuen Akademie bedeuten muss, doch legt der Kontext dies so nahe, dass DONINIs nachgerade händeringende Beschwörung des Gegenteils nicht recht nachvollziehbar ist: „In realtà non c’è in quel passo nulla, assolutamente nulla, che da se solo indichi che lo scrittore intendeva dire che egli si considerava un adepto precisamente della scuola di Arcesilao: Plutarco dice semplicemente che era, o che stava per diventare, „un academico“, il che non esclude affatto – questo è chiaro – ma nemmeno restringe l’allusione all’Academia nuova.“ [Hervorhebung im Original]. Wenn freilich DONINI ibid. 266–267 noch einmal auf die Passage zu sprechen kommt, ist ihm insofern zuzustimmen, als für die Anlage von De E apud Delphos, in dessen Kontext die Passage unmittelbar gehört, eben jene besondere Bedeutung der Erkenntnisskepsis der Neuen Akademie doch recht exklusiv bestimmend ist: „E l’Academia evocata da Plutarco nella celebre proposizione di 387F non sarebbe identificabile, simpliciter con l’Academia nuova, ma sarebbe pur sempre una scuola in cui la tradizione neoacademica doveva avere uno spazio importante.“ [Hervorhebung im Original]. 97 Vgl. OPSOMER (2006) 159 „Le narrateur a signalé au lecteur (au narrataire) qu’il doit s’attendre à ce que le discours du jeune Plutarque soit caractérisé par une ardeur juvénile et par un manque de réserve épistémologique.“ Zum „akademischen“ Charakter des μηδὲν ἄγαν vgl. OPSOMER (1998) 185.

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mathematischen Methode seines jüngeren Ichs den Vorzug gibt und deren „akademischer“ Gehalt methodisch wie inhaltlich zu der in den Augen des Autors Plutarch richtigen Deutung des delphischen E führt? Zwischen der Rede ‚Plutarchs‘ und derjenigen des Ammonios besteht zunächst zweifellos eine Beziehung, die Plutarch dadurch etabliert, dass er Ammonios zu Beginn seiner Rede eine wertende Stellungnahme zu den Ausführungen seines Vorredners sprechen lässt. Zunächst lässt er Sarapion auktorial wissen, dass auch Ammonios „den Anteil der Mathematik an der Philosophie als den nicht unbedeutendsten“ ansah, sich über ‚Plutarchs‘ Rede freute und mit den Worten begann, es sei „nicht angemessen, im Hinblick auf diese Darlegungen den jungen Leuten allzu streng zu widersprechen“. Eines aber will Ammonios doch nicht unerwähnt lassen, nämlich, dass eben nicht nur die Zahl Fünf, sondern „jede Zahl denjenigen, die sie loben und preisen wollen, nicht wenige Ansatzpunkte bietet“, und er verweist stellvertretend auf die Zahl Sieben, für deren Behandlung ein ganzer Tag nicht ausreichen würde.98 Diese Eingangsworte des Ammonios stimmen zu der Charakteristik der Figur ‚Plutarch‘ durch Eustrophos und zu den Merkmalen seiner Rede, in denen der Enthusiasmus für die Mathematik im Allgemeinen und für die Zahl Fünf im Besonderen explizit und implizit illustriert wird und im auktorialen Kommentar mit dem Bekenntnis Plutarchs zu der Maxime „Nichts im Übermaß!“ ihr Korrektiv erhält, das Plutarch als „akademisch“ bezeichnet.99 Sie stimmen auch noch zum Tenor                                                             

98 De E 17, 391EF Ὁ δ᾿ Ἀμμώνιος, ἅτε δὴ καὶ αὐτὸς οὐ τὸ φαυλότατον ἐν μαθηματικῇ φιλοσοφίας τιθέμενος, ἥσθη τε τοῖς λεγομένοις καὶ εἶπεν· οὐκ ἄξιον πρὸς ταῦτα λίαν ἀκριβῶς ἀντιλέγειν τοῖς νέοις, πλὴν ὅτι τῶν ἀριθμῶν ἕκαστος οὐκ ὀλίγα βουλομένοις ἐπαινεῖν καὶ ὑμνεῖν παρέξει. καὶ τί δεῖ περὶ τῶν ἄλλων λέγειν; ἡ γὰρ ἱερὰ τοῦ Ἀπόλλωνος ἑβδομὰς ἀναλώσει τὴν ἡμέραν πρότερον ἢ λόγῳ τὰς δυνάμεις αὐτῆς ἁπάσας ἐπεξελθεῖν. εἶτα τῷ κοινῷ νόμῳ „πολεμοῦντας“ ἅμα καὶ „τῷ πολλῷ χρόνῳ“ τοὺς σοφοὺς ἀποφανοῦμεν ἄνδρας, εἰ τὴν ἑβδομάδα τῆς προεδρίας παρώσαντες τῷ θεῷ τὴν πεμπάδα καθιερώσουσιν ὡς μᾶλλόν τι προσήκουσαν; 99 Vgl. zum Bezug der Worte des Ammonios auf den auktorialen Kommentar BABUT (1992) 199, der allerdings – im Unterschied zu der in dieser Studie vertretenen Interpretation – Ammonios ganz zum Exponenten der „akademischen“ Philosophie macht, die Plutarch im auktorialen Kommentar anspricht, und die Rede ‚Plutarchs‘ sehr viel kritischer sieht: „Du reste, le personnage de Plutarque avait en quelque sorte anticipé lui-même la critique de son maître sur le caractère arbitraire de ses spéculations arithmologiques en signalant, dès le début de son discours, que son entrée à l’Académie devait bientôt lui enseigner une plus grande prudence, en ces matières comme en d’autres (387 F 1–4).“ DONINI (1986) 106 beschränkt die Bezüge zwischen Ammonios und der „akademischen“ Philosophie im auktorialen Kommentar vorsichtiger auf Ammonios’ Charakteristik vor der Präsentation seines eigenen Lösungsansatzes: „A 391EF infatti Ammonio reagisce con misura all’appassionato (ἐμπαθῶς 387F) elogio delle pretese proprietà aritmologiche della E delfica svolto lungamente dal giovane Plutarco […]. Moderato cultore delle matematiche, Ammonio è però anche critico misurato degli eccessi di Plutarco. […] Si limiterà perciò, senza eccedere nell’asprezza della confutazione, a un unico esempio tratto dal

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von Ammoniosʼ Einleitungsworten im 2. Kapitel der Schrift, in dem er die Unerschöpflichkeit und Vielfalt möglicher philosophischer Erklärungsversuche für das delphische E stark betont, wie bald zu zeigen sein wird. Doch enden damit auch die Parallelen zwischen Plutarch als Sprecher des auktorialen Kommentars und Ammonios als Sprecher der Abschlussrede in                                                              numero sette. Se dunque la massima μηδὲν ἄγαν riassume secondo Plutarco l’atteggiamento academico tipico, si può ben dire che Ammonio, primo a evocarla nel dialogo, ne è anche la perfetta incarnazione fino a 391F.“ BRENK (2005a) 239 weist auf eine grundsätzliche Ambivalenz des Verhältnisses von ‚Plutarch‘ und Ammonios hin: „One suspects, then, that Plutarch has transferred to himself (in the dialogue) a part of Ammonios’ own teaching and is spoofing it. Or possibly it represents what Plutarch as a star pupil managed to demonstrate, using the master’s methodology. Both Plutarch himself and the other personae of the dialogue treat his theories as highly original. Evidently, then, even before “joining the Academy,” he was capable of intelligent, original thought, or at least could present himself as such. Ammonios is pleased at Plutarch’s discourse, “because he held that mathematics was not the least important part of philosophy”, even though he disparagingly looks upon the effort as misguided.“ Die Mischung aus Anerkennung und konstruktiver Kritik, die Plutarch Ammonios an dieser Stelle äußern lässt, findet eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit Ammonios’ Moderationsstil in QC 3, 2, wo Plutarch Ammonios zu einem Plädoyer für die wesensmäßige Kälte des Efeu, das der Vorredner beiläufig in seine Ausführungen zu einem anderen Thema eingestreut hatte, in Verbindung mit einem auktorialen Kommentar Stellung nehmen lässt: „Nachdem wir alle den Tryphon gelobt hatten, sagte Ammonios lächelnd: „Es besteht kein Anlass, diese so bunte und blumige Rede durch Kritik wie einen Kranz in Stücke zu reißen; allein ich verstehe nicht, wieso der Efeu mit der Kälte verflochten sein soll, weil er angeblich den Wein verträglicher macht; denn er ist feurig und noch wärmer, und seine Frucht macht den Wein, wird sie ihm beigemischt, durch die Erwärmung berauschend und benebelnd.“ (QC 3, 2, 1 648B) Ganz wie in De E apud Delphos schildert Plutarch an dieser Stelle zunächst die sich hier in einem ermunternden Lächeln (μειδιῶν) ausdrückende Freude des Ammonios über die Ausführungen des Vorredners, dem er dann ein Lob in direkter Rede folgen lässt (οὐκ ἄξιον […] λόγον […] ἀντιλέγοντα διαλακτίζειν), an das sich dann ein Einwand anschließt, der jedoch nicht die Rede als ganzes, sondern nur einen bestimmten, keineswegs zentralen Aspekt in Frage stellt (πλὴν ὅ γε κιττὸς κτλ.). In QC 3, 2 lässt Plutarch Ammonios nach dieser Anfrage eine eigene Position zu dem von ihm kritisierten Detail entwickeln, der freilich wiederum eine Gegenrede seiner eigenen persona folgt, zu der Ammonios ihn mit dem ausdrücklichen Versprechen des „freien Geleites“ (ἄδεια) und dem Verzicht auf Widerspruch (ἀντιλέγειν) ermuntert (QC 3, 2, 2 649A). Auch wenn auf Ammonios’ Rede in De E apud Delphos nicht – wie in der Quaestio convivalis – eine Gegenrede folgt, die die Bereitschaft des Ammonios dokumentiert, auch die eigene Position im Interesse einer gemeinsamen Wahrheitssuche zur Disposition zu stellen, so besteht kein Zweifel, dass die Worte des Ammonios in De E apud Delphos den Lösungsvorschlag Plutarchs nicht völlig diskreditieren sollen, sondern leichte skeptische Bedenken an seiner Plausibilität formulieren. Überhaupt steht bei Plutarchs sonstiger Verwendung der Phrase οὐκ ἄξιον …, ἀλλὰ … häufig die Nuance der Anerkennung des kommentierten Sachverhalts im Vordergrund, z.B. Comp. Thes. et Rom. 1, 7 οὐκ ἄξιον αἰτιᾶσθαι τὴν ἐρασθεῖσαν, ἀλλὰ θαυμάζειν κτλ. Cat. Ma. 19, 7 οὐκ ἄξιον ἐγκαλεῖν αὐτοῖς· οὐ γὰρ κτλ. Quomodo adolescens 6, 23F οὐκ ἄξιον ἐγκαλεῖν …, ἀλλὰ κτλ.

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De E apud Delphos. Denn wenn Ammonios sich im Anschluss an seine an ‚Plutarch‘ gerichteten Eingangsworte daran macht, einen eigenen Lösungsvorschlag zu formulieren, lässt er keinen Zweifel mehr daran aufkommen, dass er die von ihm präsentierte Lösung für die einzig richtige hält: Alle seine Vorredner, so dehnt er die spezielle Stellungnahme zu ‚Plutarchs‘ Ausführungen auf die übrigen Gesprächsteilnehmer aus, hätten seiner Ansicht nach die wahre Bedeutung des delphischen E verfehlt,100 vielmehr müsse es als die ontologisch zu verstehende Anrede „Du bist“ an Apollon interpretiert werden, was Ammonios dann ausführlich darstellt und dadurch den Dialog schließt. Von irgendeiner Form „akademischer“ Beherzigung einer Haltung, die „Nichts im Übermaß“ vertreten wolle oder einer allgemein „akademischskeptischen“ Orientierung ihres Sprechers enthält die gesamte Ammoniosrede keine Spur und kann sich mithin nicht darauf berufen, die „akademische“ Wendung, von der Plutarch hinsichtlich der Weiterentwicklung der Figur ‚Plutarch‘ auktorial gesprochen hatte, zu illustrieren.101 Wenn Ammonios das philosophische Sprachrohr des Autors Plutarch in De E apud                                                             

100 De E 17, 391F οὔτ’ οὖν ἀριθμὸν οὔτε τάξιν οὔτε σύνδεσμον οὔτ’ ἄλλο τῶν ἐλλιπῶν μορίων οὐδὲν οἶμαι τὸ γράμμα σημαίνειν, ἀλλ’ κτλ. 101 Das Gegenteil ist in der Forschung immer wieder mit dem Hinweis behauptet worden, die ontologische und erkenntnistheoretische Scheidung, die die Ammoniosrede zwischen dem Menschen als Teil eines unausgesetzten Werdens und Vergehens, das keine wahre Erkenntnis zulasse, und dem Gott unternehme, dem das reine Sein eignet, liefere den theoretischen Überbau für Plutarchs zögerlich-skeptische Haltung im extradialogischen Proömium. Vgl. BABUT (1992) 201 „Car il n’est pas sûr que dans l’esprit de Plutarque, Ammonios nous apporte la solution définitive de l’énigme constituée par l’offrande de l’E. C’est du moins ce qui paraît ressortir d’un autre passage du prologue. Plutarque y indique en effet que, sollicité à plusieurs reprises par ses élèves de faire connaître sa propre solution du problème, il s’y était toujours refusé, jusqu’à ce qu’il finisse par céder aux instances de ses fils, par souci de courtoisie à l’égard d’étrangers „sur le point de quitter Delphes.“ […] Le caractère fictif de la scène paraît probable, mais s’agit-il pour autant d’un simple artifice littéraire? Ne sarait-ce pas plutôt une manière de nous avertir que ni Plutarque ni son maître Ammonios ne prétendaient détenir la vraie solution du problème, pour la simple raison que celle-ci est inacessible […]? Mais alors, quel peut être le sens de l’exposé final d’Ammonios, si ce n’est pas de résourdre l’énigme d l’E? N’estce pas justement de fournir au dialogue sa conclusion logique, en explicant que l’incapacité de l’homme à comprendre les choses divines vient de la distance incommensurable qui sépare la nature humaine, en tant que soumise au changement perpétuel du devenir, de la nature divine, seul immuablement enracinée dans l’Être? Le véritable sujet du dialogue serait alors d’opposer à la transcendance divine, symbolisée par l’E, les limites de la connaissance humaine, symbolisées par d’autres proclamations delphiques, comme les maximes „connais-toi toi-même“ e „rien de trop“ (cf. 385 D 1–6, 392 A 4–9 et 394 C 5– 9!).“ Vgl. auch DONINI (1986) 106f. „ … anche la metafisica di Ammonio non rompe definitivamente ogni legame con i motivi derivati dallo scettiscismo; anzi, nasce proprio da questi, che funzionano come un suo logico presupposto.“ Auch OPSOMER (1998) 130f. teilt die Einschätzung eines „skeptischen“ Einschlages in der Ontologie des Ammonios, vgl. auch BONAZZI (2008) 208–210, der allerdings das Ineinander von „Skepsis“ und

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Delphos sein soll, so lässt sich dies allenfalls aus der Schlussposition der Ammoniosrede begründen; einer völligen und ausschließlichen Identifikation des Autors Plutarch mit dem Inhalt der Ammoniosrede steht jedoch positiv der durchaus platonische Geist der Rede ‚Plutarchs‘ wie negativ die Unnachweisbarkeit einer Verbindung zwischen der „akademischen“ Haltung, die Plutarch in seinem auktorialen Kommentar für die Zukunft der Figur ‚Plutarch‘ in Anspruch nimmt, und der selbstsicher-erkenntnisoptimistischen Art, in der die Dialogfigur Ammonios mit stark dogmatischen Zügen für seine platonisch-ontologische Deutung des E Partei ergreift. Die Ansiedlung des Dialoges in der Vergangenheit scheint mithin einen seltsam negativen Charakter zu besitzen, insofern Plutarch an seiner eigenen Person, der Dialogfigur ‚Plutarch‘, ein Portrait seiner jugendlichen Mathematikbegeisterung zeichnet, von dem er sich aus der Perspektive des späteren Erzählers recht deutlich distanziert. Wenn aber, wie gezeigt wurde, auch die auf ‚Plutarchs‘ Rede folgende Ammoniosrede nicht jene Ankündigung von Plutarchs baldiger philosophischer Neuorientierung positiv zu kompensieren vermag, so entsteht der Eindruck, als verlaufe jener Hinweis auf die „akademische“ Weiterentwicklung Plutarchs und die damit implizierte skeptisch-zurückhaltende philosophische Methode des „Nichts im Übermaß!“ in De E apud Delphos völlig ins Leere. Sarapion und jeder weitere Leser des Dialoges müssten sich ernsthaft fragen, ob Plutarch mit jenem auktorialen Kommentar nicht mehr als eine augenzwinkernde Richtigstellung seiner eigenen, zum Zeitpunkt der Abfassung von De E apud Delphos gültigen philosophischen Methodik bezweckt haben sollte, die sich von derjenigen der Dialogfigur ‚Plutarch‘ grundlegend unterscheide – gleichsam

                                                             „Orthodoxie“ in der Rede stärker betont. Eine intensive Analyse aller entsprechenden Motive liefert OPSOMER (2009) 149–155. Sehr viel zurückhaltender gegenüber einer „skeptischen“ Lesart der Ammoniosrede äußert sich DONINI (2002) 256 „Tutto ciò che Ammonio può fare nel suo discorso per mantenere un collegamento con la filosofia dell’ Academia nuova (se questa è davvero l’intenzione di Plutarco) è di introdurvi qualche acenno critico verso l’evidenza dei sensi sottolineando la fluidità e l’instabilità del mondo fisico cui i sensi sono rivolti.“ So unbestreitbar die Hinweise der genannten Literatur auf „erkenntnisskeptische“ Motive der Ammoniosrede auch sein mögen, so wenig überzeugend bleibt die daraus abgeleitete These, dass die Ammoniosrede in irgendeiner Weise jene „akademische“ Wendung illustrieren soll, auf die Plutarch in seinem auktorialen Kommentar anspielt. Denn letztlich instrumentalisiert die Ammoniosrede eben jene Motive nur für ihr recht orthodoxes Argumentationsziel, die Bedeutung des E als die Aussage εἶ ex contrario zu erweisen, und Ammonios selbst ist keineswegs ein Exponent einer philosophischen Haltung, die man gebührlich als ein εἰς πάντα τιμήσειν τὸ μηδὲν ἄγαν bezeichnen könnte.

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um einer Verwechslung zwischen Plutarch, dem Autor, und ‚Plutarch‘, der Dialogfigur vorzubeugen,102 Betrachtet man allerdings die chronologische Anlage des gesamten Textes von De E apud Delphos genau, so finden sich durchaus Anhaltspunkte dafür, dass Plutarchs auktorialer Kommentar über die „akademische“ Zukunft der Dialogfigur ‚Plutarch‘ in De E apud Delphos selbst für die zentrale Frage nach der Bedeutung des delphischen E eine gewichtige Rolle spielt. Denn es ist zu beachten, dass in De E apud Delphos tatsächlich nicht Ammonios das chronologisch letzte Wort zur Frage nach der Bedeutung des delphischen E liefert und damit etwa die eigentliche Rolle Plutarchs in jenem Dialog in der Vergangenheit spielt – Plutarchs Rolle dort spielt ‚Plutarch‘! –, sondern der Autor selbst, der sich im extradialogischen Proömium der Frage nach dem E noch einmal, also chronologisch nach dem Gespräch aus seiner Jugendzeit, gestellt haben will. Da jedoch, wie gezeigt wurde, jene Konfrontation mit dem Problem, dem De E apud Delphos gewidmet ist, von Plutarch als dem „erwachsenen“ Sprecher des extradialogischen Proömiums zunächst, wie er Sarapion berichtet, immer wieder vermieden und schließlich erst „jüngst“ keineswegs gesucht, sondern aus reiner Höflichkeit gegenüber den wissbegierigen Delphi-Touristen akzeptiert und dann auch nur mit aller Vorsicht und einem abwägend-forschenden Gespräch durchgeführt worden war, von dem zudem keinerlei Ergebnis berichtet wird,103 bleibt nach Lage der Dinge nur dieses extradialogische Proömium als Fluchtpunkt für jene „akademische“ Haltung übrig, die Plutarch für die Zukunft seiner Dialogfigur, also letztlich für sich selbst als späterer Erzähler des Dialoges, ankündigt.104                                                              102 Eine solche Ansicht hat KAHLE (1912) 35 vertreten: „Pythagoreorum sententia cum ab ipso libelli auctore pronuntiaretur, periculum erat, ne a multis pro vera sententia haberetur, quamquam Plutarcho ipsi cum haec scripsit Pythagoreorum disciplina iam pridem relicta Academiae doctrinam omnium gravissimam et praestantissimam esse persuasum erat. Itaque iam priusquam doctrina mathematica proferretur, aliis verbis prohibere debebat, ne nimis multum auctoritatis suis verbis tribueretur et explicare, quo iure ipse hanc sententiam defendere posset. His de causis verba illa addidit: 387 F ταῦτα πρὸς ἡμᾶς ἔλεγεν οὐ παίζων ὁ Εὔστροφος, ἀλλ᾿ ἐπεὶ τηνικαῦτα … .“ 103 Vgl. oben, S. 60–62. 104 Dieses Ergebnis der Untersuchung der Zeitebenen des Dialoges ist ein wesentliches Argument gegen DONINI (2002) 255, der Plutarchs erneute und sehr zurückhaltende Beschäftigung mit dem delphischen E nach dem Bericht des extradialogischen Proömiums zunächst nicht berücksichtigt, sondern Plutarchs „akademische“ Weiterentwicklung, die in De E 7, 387F angekündigt wird, mit dem platonischen Dogmatismus der Ammoniosrede konvergieren lässt: „L’academico direbbe infatti che la verità rimane inattingibile all’uomo perché non esiste alcun criterio sicuro per la conoscenza; proseguirà forsanche la sua ricerca [was Plutarch ja tatsächlich nach dem Gespräch in der Vergangenheit noch einmal tut, Anm. d. Verf.] ma sotto la prescrizione di non precipitare mai il giudizio e, anzi, di sospendere finalmente l’assenso davanti a qualsiasi conclusione pensi di aver raggiunto

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Somit stellt der auktoriale Kommentar, den Plutarch vor der Rede der Dialogfigur ‚Plutarch‘ abgibt, eine nachträgliche Charakteristik seiner Erzählerrolle in philosophischer Terminologie dar, denn das gesamte Verhalten, von dem Plutarch bei seiner chronologisch nach dem Zeitpunkt des in De E apud Delphos berichteten Gesprächs liegenden erneuten Auseinandersetzung mit dem delphischen E gegenüber Sarapion berichtet, ist in der Tat dasjenige eines „akademischen“, mithin erkenntnistheoretisch skeptischen Philosophen, der sich einer Auseinandersetzung mit einem derart heiklen Problem wie dem delphischen E, das seinem Wesen nach unlösbar sein muss, um das philosophieprotreptische Wesen des Apollon adäquat repräsentieren zu können, nur äußerst zögerlich und mit aller Vorsicht stellt. Dass diese „autobiographische“ Verbindung zwischen dem auktorialen Kommentar vor der Rede ‚Plutarchs‘ und der Haltung, die Plutarch als Sprecher des extradialogischen Proömiums gegenüber dem E einnimmt, dem Leser von Plutarch selbst nahegelegt wird, lässt sich schließlich durch einen Vergleich zwischen dem auktorialen Kommentar und der bereits besprochenen Passage aus De defectu oraculorum nachweisen, in der Lamprias seine „akademische“ Zurückhaltung gegenüber allzu großer Erkenntniszuversicht hinsichtlich der Frage nach der genauen Anzahl von mehreren Kosmoi zum Ausdruck bringt, einer Frage, für deren letztliche Unlösbarkeit das delphische E – wohlgemerkt dessen einzige Erwähnung außerhalb von De E apud Delphos – nachgerade als Referenzproblem angeführt wird.105 Denn wenn Lamprias am Ende seines Exkurses über die genaue Anzahl mehrerer Kosmoi gegenüber Ammonios versichert, „so wie auch in anderen Fällen wollen wir uns auch in dieser Frage der Akademie erinnern und uns eines übertriebenen Vertrauens entschlagen“ (De def. or. 37, 431A εἰ δ᾿ ἀλλαχόθι που κἀνταῦθα τῆς Ἀκαδημείας ὑπομιμνήσκοντες ἑαυτοὺς τὸ ἄγαν ἀφαιρῶμεν τῆς πίστεως), so entspricht dieses methodische Bekenntnis zur                                                             

[was eben jenes erneute Gespräch in Delphi, von dem keinerlei Ergebnis berichtet wird, impliziert, Anm. d. Verf.]. Ma non sembra davvero questa la conclusione cui approda il de E, anzi, veramente non è: perché di sospensione dell’assenso di fatto non si legge una parola in tutto il dialogo e, del resto, sarebbe molto strano che la si leggesse quando la discussione culmina in un discorso come quello tenuto da Ammonio da 391E sino alla fine dello scritto. […] Ammonio non ha evidentemente alcun dubbio in proposito e mi meraviglierei molto se qualcuno volesse sostenere che poteva invece averne Plutarco; entrambi, il maestro e il discepolo, avevano ferme convinzioni metafisiche che si sottraevano a qualsiasi riserva “scettica”.“ Wenn DONINI ibid. 256 einräumt, dass „… il massimo che può fare Plutarco per prendere (forse, o almeno apparentemente) le distanze dal dogmatismo di Ammonio è di mettere in opera un espediente di carattere drammatico e narrativo da cui risulterebbe la sua riluttanza a ripetere i termi stessi del discorso di maestro“, so ist dem mit der Qualifizierung zuzustimmen, dass jenes „massimo“ in De E apud Delphos, wie gezeigt, von Plutarch in der Gesamtanlage des Textes mit hoher Raffinesse und gehörigem literarischen Einsatz erhebliches Gewicht erhalten hat. 105 Vgl. oben, S. 56–59.

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Akademie bis in die Einzelheiten Plutarchs auktorialem Kommentar in De E apud Delphos, er sei kurz davor gewesen „in jeder Hinsicht die Maxime ‚Nichts im Übermaß!‘ in Ehren zu halten, weil ich – oder nachdem ich – Mitglied in der Akademie geworden war“ (De E 7, 387F εἰς πάντα τιμήσειν τό μηδὲν ἄγαν ἐν Ἀκαδημείᾳ γενόμενος): Sowohl der von Plutarch im auktorialen Kommentar angekündigte universelle Geltungsanspruch der Maxime μηδὲν ἄγαν hat in Lamprias’ Bekenntnis eine genaue Entsprechung – „so wie in allen Fällen“ – sondern auch die Maxime selbst, die bei Lamprias in der Formulierung τὸ ἄγαν ἀφαιρῶμεν τῆς πίστεως wiederkehrt. 106

5. Fazit: Die Konzeption von De E apud Delphos Vor dem Hintergrund der vorstehenden Analysen erscheint die Verlegung des Dialoges in die Vergangenheit in einem neuen Licht, unter dem sich Plutarchs Aussagen über die Literarizität der ‚Pythischen Dialoge‘ in der Widmungsadresse an Sarapion, die Charakteristik des delphischen E als Ausdruck apollinischer Philosophieprotreptik, die „autobiographische“ Selbstinszenierung Plutarchs als Erzähler des Dialoges sowie die auktoriale Distanzierung von der erkenntnisoptimistischen mathematischen Begeisterung der Dialogfigur ‚Plutarch‘ zugunsten einer späteren, behutsamskeptischen Haltung gegenüber möglichen Erfolgen bei der Interpretation des delphischen E als Elemente eines kalkulierten Gesamtplans des Textes zeigen. So bereitet die Widmung an Sarapion mit der Betonung einer durchaus handwerklichen Produktionsweise der ‚Pythischen Dialoge‘ im Sinne einer Transformation literarisch-philosophischer Bildungsbestände des Autors in eigene Texte zusammen mit der Aufforderung an Sarapion, seine im Vergleich zu Plutarch günstigeren Produktionsvoraussetzungen dazu zu nutzen, sich mit zahlreicheren und besseren Texten bei Plutarch für die Übersendung einiger der ‚Pythischen Dialoge‘ zu revanchieren, bereits die Vorstellung des Themas von De E apud Delphos im anschließenden extradialogischen Proömium vor. Denn dort wird das delphische E als Weihung apollinischer Urphilosophen charakterisiert, die das Wesen des Gottes als Inspirator zu philosophischem Denken repräsentieren soll, freilich mit dem entscheidenden Aspekt, dass dieses E selbst wiederum ein Rätsel darstellen soll, das seinerseits philosophisches Denken in einer Weise herausfordert, die die                                                              106 Auf den engen Zusammenhang zwischen beiden Akademiebekenntnissen, die sich sowohl in De E apud Delphos als auch in De defectu oraculorum im Zusammenhang mit pythagoreisierenden Zahlenspekulationen finden und aus diesem Grund womöglich auf ein gemeinsames Hypomnema Plutarchs zurückzuführen sind, das der Autor bei der Abfassung beider Texte verwendet hat, weist VAN DER STOCKT (2006) 45 hin.

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Unerschöpflichkeit der inspiratorischen Kraft des Gottes durch seine letztliche Unlösbarkeit rückwirkend bestätigt. Die beiden wesentlichen Aussagen der Widmung an Sarapion, einerseits die Idealisierung philosophischliterarischer Tätigkeit, andererseits der Wunsch nach stetiger Weiterentwicklung und Verbesserung der Textproduktion im Austausch zwischen Plutarch und Sarapions Athener Freundeskreis, erscheinen spiegelbildlich in der Charakteristik des Themas von De E apud Delphos als Zurückführung philosophischer Inspiration auf Apollon selbst, bei gleichzeitiger Hervorhebung der prinzipiellen Unabschließbarkeit der philosophischen Prozesse, die sich an dem delphischen E als einer Weihegabe entzünden, die den inspiratorischen wie den unabschließbaren Aspekt der apollinischen Philosophieprotreptik in sich vereint. Diese beiden Aspekte wiederum bilden in einer weiteren Transformation die Pole jenes Spannungsverhältnisses, das Plutarch zwischen sich als Erzähler des Dialoges auf der Zeitstufe seiner Anrede an Sarapion und seinem Auftritt als Dialogfigur in einem Gespräch etabliert, das er in seine eigene Jugend datiert. So repräsentiert die Dialogfigur ‚Plutarch‘ wie kein anderer Gesprächsteilnehmer in De E apud Delphos jenen exhortativen Aspekt der apollinischen Philosophieprotreptik, der sich in seiner begeisterten Rede zugunsten einer Deutung des delphischen E als der Zahl Fünf niederschlägt; ‚Plutarch‘ nimmt damit eine von Plutarch bewusst angelegte Sonderstellung im Dialog ein, die zudem durch Eustrophos’ Bemerkung, er solle doch „dem Gott eine Erstlingsspende von der geliebten Mathematik darbringen“ (De E 7, 387E), in direkten Zusammenhang mit jener im extradialogischen Proömium hervorgehobenen Inspirationstätigkeit Apollons sowie durch die Bezeichnung der Übersendung der ‚Pythischen Dialoge‘ als „Erstlingsspenden“ in der Widmung an Sarapion (De E 1, 384E) mit der eigenen Textproduktion gebracht wird. Demgegenüber hat Plutarch sich selbst als Erzählerfigur im extradialogischen Proömium sowie in der Ankündigung einer im Vergleich zu jenem Gesprächsbeitrag seiner Figur in der Vergangenheit in der Zukunft liegenden, tendenziell skeptischen philosophischen Haltung komplementär als Vertreter des zweiten Aspektes der apollinischen Philosophieprotreptik inszeniert, der sich einer prinzipiellen Unabschließbarkeit der von Apollon ausgehenden und von den Urphilosophen durch die Weihung des E fortgesetzten philosophischen Prozesse bewusst ist. Wenn nun in den drei genannten Bereichen der Dialoginszenierung – der Widmung an Sarapion, der Charakteristik des Gesprächsgegenstandes und der Selbstinszenierung Plutarchs als Dialogerzähler und Dialogfigur – jenes Leitmotiv einer Ambivalenz von zetetischem Eifer und erkenntnistheoretischer Zurückhaltung anklingt, so ist zuletzt nach der Funktion dieses Leitmotivs für das Textganze, im Besonderen für das Verhältnis zwischen den auktorialen Passagen des extradialogischen Proömiums sowie im Dialog

5. Fazit: Die Konzeption von De E apud Delphos

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selbst und den Figurenreden des Dialoges zu fragen. Dabei zeigt bereits eine grobe Übersicht über die Auftritte der einzelnen Redner im Dialogteil von De E apud Delphos, dass sich die dort auftretenden Figuren ihrem eigenen Anspruch nach jener Ambivalenz des Diskussionsgegenstandes keineswegs bewusst sind, sondern vielmehr ohne Ausnahme ihre Lösungsvorschläge mit der Überzeugung entwickeln, jeweils einen individuell ernstzunehmenden Gesprächsbeitrag zu leisten: Der Aspekt jener Einsicht in die Unlösbarkeit des Rätsels, den Plutarch auktorial den drei Dimensionen der Textgestaltung als integralen Bestandteil des Textganzen einschreibt, weicht im Bewusstsein der Dialogfiguren ganz und gar einem heiteren individuellen Erkenntnisoptimismus, der sich dynamisch zu einer Art freundschaftlichem Wettstreit der einzelnen Lösungsversuche entwickelt. Da nun die Widmungsadresse Plutarchs an Sarapion deutlich den handwerklich-künstlerischen Charakter der eigenen Textproduktion hervorhebt, liegt es nahe, dieses Spannungsverhältnis, das Plutarch nachgerade paradigmatisch am Verhältnis zwischen seiner Erzählerrolle und seiner Rolle als Dialogfigur entwickelt, in sein produktionsästhetisches Äquivalent zu übersetzen. Dabei zeigt sich, dass in einer Dialoganlage, wie sie Plutarch im Falle von De E apud Delphos konstruiert, besondere Vorteile für jenes literarisch-philosophische Verfahren liegen, das Plutarch exemplarisch in De E apud Delphos vorführt, das aber auch sonst die Grundkonstante seines Dialogwerkes bildet: Es bietet sowohl durch die Präsentation eines besonders schwierigen Gesprächsgegenstandes als auch durch die Betonung des besonderen Reizes, den ein solcher Gegenstand auf philosophisch interessierte Dialogteilnehmer ausübt, die Rahmenbedingungen für eine möglichst ungehinderte Entfaltung von Plutarchs philosophisch-schriftstellerischen Möglichkeiten, die im Zusammenhang dieser Arbeit als sein Repertoire bezeichnet werden. Denn thematische Schwierigkeit bedeutet in Plutarchs Dialogwerk zuallererst Mehrdeutigkeit, und liefert damit überhaupt erst die produktionsästhetische Voraussetzung für die Abfassung von Dialogen im Sinne Plutarchs. Somit kann das Engagement, das jede einzelne Dialogfigur im Gespräch von De E apud Delphos zeigt, als dynamische Aktualisierung von Bestandteilen von Plutarchs Repertoire zur Plausibilisierung jeder einzelnen Lösungsmöglichkeit der Bedeutung des delphischen E begriffen werden, die sich dem Autor im Arbeitsschritt der inventio seines Textes aufzeigten; dabei weist Plutarchs rhetorisch-philosophisches Engagement bei der Präsentation der einzelnen Lösungsansätze durch die Dialogteilnehmer zugleich in der Summe der Unvereinbarkeit aller Figurenreden auf den in der Anlage der individuellen Lösungsansätze unterdrückten Aspekt der letztlichen Unlösbarkeit des Problems zurück. Wie sich Plutarchs Engagement für die einzelnen Lösungsansätze im Sinne des produktionsästhetischen

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II. Widmung und Proömium

Leitmotivs einer breiten Entfaltung seines philosophisch-rhetorischen Repertoires in De E apud Delphos aktualisiert, ist Gegenstand der nun folgenden Analyse des Dialoges selbst, die ihren Ausgang vom intradialogischen Proömium des Ammonios nimmt, in dem Plutarch den Conférencier die thematischen und prozeduralen Gesprächsvoraussetzungen skizzieren lässt, die das künstlerische Engagement des Autors in den Figurenreden begründen.

III. Das Hauptgespräch von De E apud Delphos 1. Das Proömium des Ammonios Plutarch lässt das Referat des Gespräches aus seiner Jugend mit einem Vorspruch des Ammonios beginnen, der der versammelten Gruppe die besondere Bedeutung des E als eines Gegenstandes auseinandersetzt, an dem sich die philosophieprotreptische Kraft des Apollon in seinem heiligem Bezirk in Delphi zeigt. Der Abschnitt kann als eine Art Manifest einer sich im Dialog vollziehenden zetetischen Philosophie gelten,1 die ihren Ausgang bei den Rätseln Delphis nimmt und ihre Anhänger zu jeweils individuellen Lösungsversuchen der sich ihnen präsentieren ἀπορία animiert. Da Plutarch am Ende seines extradialogischen Proömiums zwischen seinem nicht lange zurückliegenden Gespräch mit den Fremden in Delphi und dem in seine Jugend datierten Hauptdialog mit der Formulierung ἐνταῦθα τῆς αὐτῆς ἀπορίας ἐμπεσούσης (De E 1, 385B) eine Brücke geschlagen hatte, verwundert es nicht, dass in Ammonios’ Präliminarien der Gedankengang des extradialogischen Proömiums wiederkehrt und dem kompositorischen Zweck des Vorspruches entsprechend ausgestaltet wird: Ammonios beginnt mit einer Erklärung des philosophischen Zuges im Wesen des Gottes, der von seiner traditionellen Funktion als Orakelgott geschieden wird,2 entwickelt darauf den speziellen Charakter der apollinischen Philosophie als eines Suchprozesses, der durch das Sich-Verwundern und Nicht-WeiterWissen (De E 2, 385C θαυμάζειν καὶ ἀπορεῖν) angestoßen wird, kennzeichnet den heiligen Bezirk des Apollon als philosophische Trainingsstätte, die mit Gegenständen und Bräuchen angefüllt ist, die zum Nachdenken anregen, und hebt schließlich das E als das Rätsel par excellence sogar gegenüber den berühmten Sprüchen μηδὲν ἄγαν und γνῶθι σαυτόν angesichts seiner philosophischen Unerschöpflichkeit hervor. Wenn im Ammoniosproömium umgekehrt die Aspekte des Zögerns angesichts der Problematik des E in den Hintergrund treten, die in Plutarchs Proömium so stark ins Auge fallen, erklärt sich dies aus der Funktion des Hauptdialoges innerhalb der Schrift De E apud Delphos: Als exemplarische philosophische ζήτησις am Beispiel des E konzipiert, legt das Vorwort, das                                                             

VAN DER STOCKT (2000) 104 nennt den Abschnitt „a programmatic statement about dialogue in general and about the dialogue in hand“ [Hervorhebung im Original], die Anfangskapitel von De E apud Delphos „Plutarch’s metaphor of literary dialogue“. 2 Siehe dazu oben, S. 49f. 1

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III. Hauptgespräch

Ammonios spricht, alles Gewicht auf den gleichsam inspiratorischen Charakter des Zeichens als eines Rätsels; der „akademische“ Vorbehalt, dem Plutarch implizit in seinem Proömium und dem mit diesem zu verbindenden auktorialen Kommentar vor seiner eigenen Rede Ausdruck verleiht, wird im Vorspruch zum Hauptgespräch produktiv zu Ammonios’ Erklärung des speziellen Charakters der apollinisches Philosophie als eines dialogischmehrperspektivischen in omnes partes disputare transformiert. 1.1 Οὐχ ἧττον φιλόσοφος ἢ μάντις: Die etymologische Deutung der Kultnamen Apollons Dass Apollon im wahrsten Sinne des Wortes ein Philosoph sei, hatte Plutarch bereits in seinem extradialogischen Proömium anklingen lassen, als er die Urphilosophen περὶ τὸν θεόν (De E 1, 385A), im Umfeld des Gottes und gleichsam unter seiner Ägide und Anleitung philosophieren ließ.3 Was in Ammonios’ Präliminarien nun noch hinzutritt, ist der Beweis dieses besonderen Wesenszuges des Apollon aus der Bedeutung seiner Namen,4 die der                                                              3 Vgl. oben, S. 50f. mit Anm. 61, besonders die Konstruktionen von οἱ περί τινα als die Schüler oder Anhänger eines bestimmten Philosophen. GÖTTLING (1851) 223 hat diesem Gedanken in einer schönen Formulierung Ausdruck verliehen: „An diesen bedeutungsvollen Sitz althellenischer göttlicher Weisheit in Delphi, an diesen Sitz des philosophischen Gottes, wie Apollo bei Plutarch genannt wird, knüpft sich, wie an einen göttlichen Lehrstuhl, der Anfang der praktischen Philosophie der Griechen […].“ 4 Der Text von Ammonios’ einleitenden Worten (De E 2, 385B ὅτι μὲν γὰρ οὐχ ἧττον ὁ θεὸς φιλόσοφος ἢ μάντις, ἐδόκει πᾶσιν ὀρθῶς πρὸς τοῦτο τῶν ὀνομάτων ἕκαστον Ἀμμώνιος τίθεσθαι καὶ διδάσκειν, ὡς κτλ.) scheint eine Korruptel aufzuweisen, denn der Satzbau zeigt ausgeprägte Inkonzinnitäten, die die Übersetzer zu einigen Freiheiten nötigen, vgl. z.B. ZIEGLER (1952) „Daß nämlich der Gott nicht weniger Philosoph als Seher sei, behauptete Ammonios unter allgemeinem Beifall und bewies es durch den Hinweis auf seine Beinamen.“ BABBITT (1936) „That the god is no less a philosopher than a prophet Ammonios seemed to all to postulate and prove correctly, with reference to this or to that of his several titles.“ FLACELIÈRE (1974) „Le fait que le dieu n’est pas moins philosophe que devin, au dire d’Ammonios (et nous pensions tous qu’il avait raison), rend compte de chacun de ses surnoms.“ MORESCHINI (1997) „Che il dio fosse filosofo non meno che conoscitore del futuro, sembrava a tutti che Ammonio l’avesse stabilito con ragione, in base ad ognuno dei suoi nomi.“ Das Problem ergibt sich aus dem Umstand, dass von der Phrase ἐδόκει πᾶσιν sowohl der vorausgehende ὅτι-Satz als auch die nachfolgende Infinitivkonstruktion ὀρθῶς … τίθεσθαι καὶ διδάσκειν abzuhängen scheint, beide Satzglieder jedoch unverbunden nebeneinanderstehen, obwohl mit πρὸς τοῦτο sichtlich eine weiterer Inhalt der Zustimmung der Gruppe neben demjenigen des ὅτι-Satzes eingeführt wird. Da der mit καί fortführende Infinitiv διδάσκειν sich allein auf den folgenden explikativen ὡςSatz bezieht, entsteht die Schwierigkeit, wie letztlich der Infinitiv τίθεσθαι zu übersetzen ist, da von ihm sowohl der ὅτι-Satz als auch die Objektphrase τῶν ὀνομάτων ἕκαστον abhängt. So stehen in diesem Satz wesentlich drei Aussagen nebeneinander, deren Bezug nicht ganz deutlich ist: a) Der Gott ist nicht weniger ein Seher als ein Philosoph b) die versammelte Gruppe stimmt einer Aussage zu c) Ammonios τίθεται „diesbezüglich“ (πρὸς

1. Das Proömium des Ammonios

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Behauptung, der Gott sei „nicht weniger ein Philosoph als ein Seher“ dadurch ein besonderes Gewicht verleihen, dass Apollons Kultnamen, die prima facie auf seine Kultstätten und Orakelheiligtümer verweisen,5 auf das philosophische Wesen des Gottes hin umgedeutet werden. Nach Ammonios besteht die Philosophie, die Apollon als φιλόσοφος repräsentiert, wesentlich                                                              τοῦτο) jeden der Namen des Gottes und liefert etymologische Erklärungen (διδάσκει), die der folgende ὡς-Satz enthält. Will man den überlieferten Text halten, so müsste eine Übersetzung folgendermaßen aussehen: „Weil der Gott nicht weniger ein Philosoph als ein Seher ist (Ellipse von ἐστίν, auktoriale Aussage Plutarchs, die auf das extradialogische Proömium verweist), schien Ammonios allen in dieser Hinsicht richtig jeden seiner Namen festzulegen und zu erklären, dass … .“; da aber, wie die Übersetzer wohl richtig vermuten, gerade auch die Behauptung, Apollon sei nicht weniger ein Philosoph als ein Seher, als eine Aussage des Ammonios anzusehen ist, die dieser im Anschluss etymologisch zu belegen versucht, ist nach πᾶσιν ein Ausfall zu vermuten, da der Infinitiv τίθεσθαι, der wesentlich auf Ammonios’ Umgang mit den Namen des Gottes im Sinne von „die Namen festlegen/bestimmen“ (vgl. LSJ s.v. τίθημι A. IV.) bezogen ist, zusätzlich eine völlig andere, zeugmatisch anmutende, Bedeutung tragen müsste, um zusätzlich den ὅτι-Satz regieren zu können, nämlich die regelmäßig übersetzte „behaupten, postulieren, zugrundelegen“ (vgl. „behauptete“, „postulate“, „au dire d’ Ammonios“, „stabilito“). Eine mögliche Heilung der Stelle wäre die folgende: ὅτι μὲν γὰρ οὐχ ἧττον ὁ θεὸς φιλόσοφος ἢ μάντις, ἐδόκει πᾶσιν ὀρθῶς πρὸς τοῦτο τῶν ὀνομάτων ἕκαστον Ἀμμώνιος τίθεσθαι καὶ διδάσκειν, ὡς κτλ. „Dass der Gott nicht weniger ein Philosoph als ein Seher ist, schien Ammonios allen zurecht zu behaupten und diesbezüglich (nämlich hinsichtlich seines philosophischen Wesens) jeden seiner Namen richtig festzulegen und zu erklären, dass … .“ Denkbar wäre auch … ἐδόκει πᾶσιν ὀρθῶς κτλ. Aus den ursprünglich dicht aufeinanderfolgenden und bedeutungsähnlichen Adverbien (ὀρθῶς, καλῶς) ließe sich die Korruptel paläographisch als Haplographie bei Homoioteleuton erklären. 5 De E 2, 385B Πύθιος meint natürlich den delphischen Apollon, nach dem alten Ortsnamen Πυθώ, Δήλιος verweist auf Apollons Heiligtum auf Delos, Φαναῖος auf ein ebensolches auf Chios, Ἰσμήνιος auf den Orakelkult des Apollon in Theben beim Fluss Ismenos; weniger eindeutig auf einen traditionellen Verehrungsort des Apollon bezogen ist der Name Λεσχηνόριος, der in der philosophischen Tradition aus Apollons Schutzfunktion des gesellschaftlichen Verkehrs in den „Redehallen“ (λέσχαι) erklärt wird (vgl. das Kleanthes-Zeugnis SVF I 543 Κλεάντης δέ φησιν ἀπονενεμῆσθαι τῷ Ἀπόλλωνι τὰς λέσχας, ἐξέδραις δὲ ὁμοίας γίνεσθαι, καὶ αὐτὸν δὲ τὸν Ἀπόλλω παρ᾿ ἐνίοις Λεσχηνόριον ἐπικαλεῖσθαι. In einer physikalischen Allegorese, die Apollon mit der Sonne identifiziert, verweist Plutarchs Zeitgenosse Cornutus, De nat. deor. 30, auf Apollon-Helios’ Herrschaft über den Tag, an dem sich die Menschen in der Öffentlichkeit, speziell den λέσχαι, aufhalten; eine von Plutarch intendierte Pointe immerhin könnte in dem Umstand zu finden sein, dass der thessalisch-böotische Monat Λεσχανόριος (vgl. TRÜMPY, 2000, 357) als der siebente Monat mit dem delphischen Βύσιος zusammenfällt (Februar/März, vgl. BISCHOFF, 1925), in dem traditionell der delphische Apollon seine Orakel zu geben pflegte. Vgl. dazu QG 9, 292E ἔστιν οὖν πύσιος ὁ βύσιος, ἐν ᾧ πυστιῶνται καὶ πυνθάνονται τοῦ θεοῦ· τοῦτο γὰρ ἔννομον καὶ πάτριον. ἐν τῷ μηνὶ γὰρ τούτῳ χρηστήριον ἐγίγνετο καὶ ἑβδόμην ταύτην νομίζουσιν τοῦ θεοῦ γενέθλιον κτλ. Als einem Böoter und delphischen Priester musste Plutarch diese Koinzidenz zumindest bekannt gewesen sein.

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III. Hauptgespräch

in einem Suchen nach Wahrheit und Wissen, einem Prozess, in dem der Gott auf jeder Stufe des Erkenntnisgewinnes gleichsam für den, der seinem Wesen nachfolgt, präsent ist. Dabei steht Apollon nicht für das Ziel der Wahrheitssuche, sondern für einen auf Wahrheit hin ausgerichteten Weg: Schon wer ganz am Anfang des Wissenserwerbs steht und Nachforschungen anstellt, folgt dem Aufruf des Gottes zur Philosophie und hat ihn als den Πύθιος, den „Frager“, an seiner Seite.6 Fortgeschrittenere Adepten in der philosophischen Übung, die bereits erste Vorstellungen von der Wahrheit entwickeln, stehen dann unter dem Schutz des Δῆλιος, des „Klärers“, und des Φαναῖος, des „Erhellers“,7 und wem sich diese Ahnungen zu echtem Wissen konkretisieren, hat es in der Philosophie auf die Stufe des Ἰσμήνιος, des „Wissers“, gebracht.8 Hatte Ammonios bis hier eine klare Stufenfolge von anfänglichem Fragen über ein Aufdämmern von Erkenntnis bis hin zum Wissen nachgezeichnet, so soll nach seinen Worten das Philosophieren nicht statisch bei einem einmal erworbenen Wissensbesitz verharren, sondern es erreicht seine höchste Vollendung erst in der Aktualisierung im gemeinsamen Gespräch: Als Λεσχηνόριος, „Herr der Redehallen“, beschirmt Apollon auf der höchsten Stufe den Austausch mit anderen im Dialog, und erst jetzt fällt auch der Begriff des Philosophierens, von dem das Proömium des Ammonios in der Bestimmung des Apollon als eines Philosophen seinen Ausgang genommen hatte.9 Nicht die endgültige Lösung von Problemen ist demnach der Sinn des Philosophierens im Bezirk des Apollon, sondern eine geistige Stimulation, die vom anfänglichen Fragen zur gemeinsamen philosophischen Erörterung führt, und der Aufruf zur gemeinsamen Diskussion der möglichen Bedeutung des E, mit dem Ammonios seine Einleitungsworte schließt, ist somit als die Ermunterung zu einer exemplarischen Übung in diesem Philosophieren im Geiste des Apollon zu verstehen.10                                                             

De E 2, 384B ὡς Πύθιος μέν ἐστι τοῖς ἀρχομένοις μανθάνειν καὶ διαπυνθάνεσθαι. De def. or. 5, 412D spielt ebenfalls auf diese Etymologie an, wenn das Heiligtum des pythischen Apollon als idealer Ort für eine Untersuchung der Gründe für das Eingehen von Orakelstätten bezeichnet wird: ὥστε τὴν αἰτίαν ἄξιον εἶναι παρὰ τῷ Πυθίῳ διαπορῆσαι τῆς μεταβολῆς. 7 De E 2, 384B Δήλιος δὲ καὶ Φαναῖος οἷς ἤδη τι δηλοῦται καὶ ὑποφαίνεται τῆς ἀληθείας. 8 De E 2, 384B Ἰσμήνιος δὲ τοῖς ἔχουσι τὴν ἐπιστήμην. 9 De E 2, 384C καὶ Λεσχηνόριος ὅταν ἐνεργῶσι καὶ ἀπολαύωσι χρώμενοι τῷ διαλέγεσθαι καὶ φιλοσοφεῖν πρὸς ἀλλήλους. Die selbe Deutung der Abfolge der einzelnen Etymologien vertritt BONAZZI (2008) 206. 10 Vgl. die feine Analyse der Stelle bei VAN DER STOCKT (2000) 103f.: „Surprisingly enough, the sentence is not finished! This means that, although to ‘possess knowledge’ is the ultimate end of the intellectual operation, what is added – notice the additive καί – describes aspects of the process leading up to that end: the symmetry of the sentence is broken and the temporal clause deals with the conditions for the activity itself (ὅταν ἐνεργῶσιν) of searching for knowledge. Now this activity is formulated in a rather interesting 6

1. Das Proömium des Ammonios

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1.2 Θαυμάζειν, ἀπορεῖν, ζητειν: Der Ursprung des dialogischen Philosophierens Nachdem Ammonios die gesamte etymologische Sektion, mit der er seine Vorrede begonnen hatte, in der Definition der von Apollon herrührenden Philosophie als einer gemeinsamen intellektuellen Betätigung im Gespräch hatte kulminieren lassen (De E 2, 384C ὅταν ἐνεργῶσι καὶ ἀπολαύωσι χρώμενοι τῷ διαλέγεσθαι καὶ φιλοσοφεῖν πρὸς ἀλλήλους), leitet er nun den Ursprung der Philosophie als einer gemeinsamen ζήτησις mit einer deutlichen Anspielung auf den platonischen Theaitetos aus dem Sich-Verwundern (θαυμάζειν) her, zu dem er das Nicht-Weiter-Wissen (ἀπορεῖν) stellt.11 Der heilige Bezirk des Gottes in Delphi liefert die Anstöße für das Nachdenken, insofern „die meisten Phänomene im Umfeld des Gottes“ „in Rätsel gehüllt“ sind, die nach einer Erklärung ihrer Bedeutung verlangen.12 Die Beispiele, mit denen Ammonios seine Behauptung belegt – Warum wird für das ewige Feuer in Delphi nur Fichtenholz verwendet? Warum wird zu Räucherungen nur Lorbeer gebraucht? Warum gibt es in Delphi nur zwei Moiren, überall sonst aber deren drei? Warum dürfen Frauen die Orakelstätte nicht betreten? Was hat es mit dem Dreifuß auf sich? – stellen allesamt ἀπορίαι dar.13 All                                                              way. First, there is ἀπόλαυσις, suggesting a disinterested joy which accompanies the actual search for knowledge; then, there is the close association of διαλέγεσθαι with φιλοσοφεῖν which even leads up to the unusual – to say the least – but meaningful construction φιλοσοφεῖν πρὸς ἀλλήλους. One is invited to think of a continuous joint process of enquiring and learning, starting from wondering and being uncertain.“ BROUT (2006) 118, die von der weitverbreiteten These ausgeht, in De E apud Delphos schildere Plutarch durch die Einführung seines philosophisch noch unfertigen jüngeren Ichs, dessen Einlassungen von dem reifen Philosophen Ammonios überboten und korrigiert werden, eine Art autobiographische Skizze seiner eigenen philosophischen Entwicklung, kann die Reihe der Etymologien der Namen des Apollon, die Ammonios hier vorträgt, für ihre eigene Argumentation nur um den Preis der impliziten Ausblendung der letzten Etymologie, die über das reine Wissen noch die praktische Anwendung im gemeinsamen philosophischen Gespräch stellt, in Anspruch nehmen: „Cette différence d’âge et de niveau de savoir indique un itinéraire: celui de la vie d’un philosophe qui, avec le temps, acquiert la connaissance au cours d’un long processus initiatique – celui-là même que suit le lecteur au fil de sa lecture et que Plutarque indique au début du traité au ch. 2/385B–C, quand Ammonios rend compte des diverses appellations d’Apollon en les associant aux phases de l’apprentissage philosophique.“ 11 De E 2, 385C ἐπεὶ δὲ τοῦ φιλοσοφεῖν, ἔφη, τὸ ζητεῖν τὸ θαυμάζειν καὶ ἀπορεῖν κτλ. Vgl. Plat. Theaet. 155d2–5 μάλα γὰρ φιλοσόφου τοῦτο τὸ πάθος, τὸ θαυμάζειν· οὐ γὰρ ἄλλη ἀρχὴ φιλοσοφίας ἢ αὕτη, καὶ ἔοικεν ὁ τὴν Ἶριν Θαύματος ἔκγονον φήσας οὐ κακῶς γενεαλογεῖν. 12 De E 2, 385C εἰκότως τὰ πολλὰ τῶν περὶ τὸν θεὸν ἔοικεν αἰνίγμασι κατακέκρυφθαι λόγον τινὰ ποθοῦντα διὰ τί καὶ διδασκαλίαν τῆς αἰτίας. 13 Bezeichnender Weise findet sich gerade in den Quaestiones convivales, in die sich die Behandlung solcher Fragen, wie sie Ammonios formuliert, bruchlos einfügen würden, eine Passage, die die Unverzichtbarkeit gerade des Sich-Verwunderns für die Philosophie

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III. Hauptgespräch

die aufgezählten Rätsel sind „Leckerbissen“, die absolut jeden, sofern er nicht völlig unfähig zu geistiger Betätigung ist,14 dazu „ködern“ (δελεάζει), in ein gemeinsames Gespräch einzutreten, in dem jeder seinen Beitrag leistet und auf aufmerksame Zuhörer rechnen kann.15 Der nachgerade zwingende Charakter, der mithin nach Ammoniosʼ Worten von den zum philosophischen Gespräch „ködernden“ ἀπορίαι im delphischen Kultbezirk ausgeht, bildet eine weitere Verzahnung des intradialogischen Proömiums mit Plutarchs extradialogischer Einleitung in das Problem des delphischen E. Denn die Szene, die Plutarch dort unmittelbar vor dem Referat des in der Vergangenheit angesiedelten Hauptgesprächs schildert, trägt alle Züge jener zum gemeinsamen Philosophieren nachgerade nötigenden, da aporetischen Faszination des E: Das lebhaft geäußerte Interesse der fremden Delphibesucher gegenüber einer entsprechenden Unterhaltung mit Plutarch (De E 1, 385A πάντως ἀκοῦσαί τι προθυμουμένους), dem gegenüber der Anstand jedes entschuldigende Ausweichen verbot (De E 1, 385A οὐκ ἦν εὐπρεπὲς παράγειν οὐδὲ παραιτεῖσθαι), sowie das sich im Gespräch anschließende,                                                              als ganze in ähnlicher Deutlichkeit postuliert, wie es Ammonios hier und Platon in seinem von Plutarch anzitierten Theaitetos tut: VAN DER STOCKT und OPSOMER betonen zurecht die Bedeutung der Worte des Mestrius Florus in QC 5, 7, 1 680CD, in denen dieser die Forderung nach einer restlosen logischen Aufklärung jedes Phänomens mit der Zerstörung des Sich-Verwunderns gleichsetzt, ohne das die Philosophie nicht existieren könne, hat sie ihren Ursprung doch im ἀπορεῖν: ὅλως δ᾿, εἶπεν, ὁ ζητῶν ἐν ἑκάστῳ τὸ εὔλογον ἐκ πάντων ἀναιρεῖ τὸ θαυμάσιον· ὅπου γὰρ ὁ τῆς αἰτίας ἐπιλείπει λόγος, ἐκεῖθεν ἄρχεται τὸ ἀπορεῖν, τουτέστι τὸ φιλοσοφεῖν· ὥστε τρόπον τινὰ φιλοσοφίαν ἀναιροῦσιν οἱ τοῖς θαυμασίοις ἀπιστοῦντες. Darauf, dass sich hierin wiederum ein „akademischer“ Zug in Plutarchs Philosophie zeigt, verweist VAN DER STOCKT (2000) 97f.: „Up to now no mention was made of the Academy, although wrongly so. For this philosophical ‘school’, to which Plutarch belongs, clearly left its marks on the way his Table Talks evoke the spirit of dialogue. It comes as no surprise then, that Mestrius Florus – a character important enough to expect Plutarch not to stage him talking trivially – opens a particular inquiry by saying (by way of allusion to Plato Theaetetus 155d) … [es folgt die eben zitierte Stelle]. This ‘zetetic’ Academic spirit pervades the Quaestiones Convivales“ – und, wie man hinzufügen darf, auch De E apud Delphos. Vgl. zur Stelle auch OPSOMER (1998) 80 „Ἀπορία is thus vital to philosophy. The themes of “zetetics”, “aporetics”, philosophy, wonder, and search for causes prove again to be inextricably linked.“ Eine weitere „Quaestio Delphica“ stellt QG 9, 292D–F dar: τίς ὁ παρὰ Δελφοῖς ὁσιωτὴρ καὶ διὰ τί βύσιον ἕνα τῶν μηνῶν καλοῦσιν; Eine der von Ammonios zusammengestellten Fragen, diejenige nach dem Sinn der Lorbeerräucherungen, beantwortet implizit Sarapion in De Pyth. or. 6, 397AB: Der Umstand, dass für die Räucherungen schlichter Lorbeer und Gerstenmehl, nicht aber Luxuswaren wie Zimt, Ledanon und Weihrauch verwendet werden, verweist auf die ästhetische Schlichtheit der Verse der Pythia, mithin die ungeschminkte Wahrheit der Sprüche des Gottes. 14 Vgl. zu diesem egalitären Zug der Wirkung der apollinischen Aporien oben, S. 49, Anm. 59 zu De E 1, 384F τῷ φύσει φιλοσόφῳ τῆς ψυχῆς. 15 De E 2, 385CD … καὶ ὅσα τοιαῦτα, τοῖς μὴ παντάπασιν ἀλόγοις καὶ ἀψύχοις ὑφειμένα δελεάζει καὶ παρακαλεῖ πρὸς τὸ σκοπεῖν τι καὶ ἀκούειν καὶ διαλέγεσθαι περὶ αὐτῶν.

1. Das Proömium des Ammonios

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für Plutarchs Söhne angesichts der früheren Zurückhaltung des Vaters ganz überraschende Engagement Plutarchs in der Unterhaltung mit den Fremden (De E 1, 385A ἐλήφθην … συμφιλοτιμούμενος16) antizipiert jene „Köderwirkung“ der delphischen Rätsel, die Ammonios in seiner Einleitung zum Hauptgespräch explizit konstatiert. Die Szene ist zugleich abgestimmt mit Ammoniosʼ Herleitung des Philosophierens aus dem ζητεῖν, die in das Theaitetos-Zitat vom θαυμάζειν übergeht, wenn Plutarch extradialogisch davon berichtet, wie er gemeinsam mit den Delphibesuchern auf den Tempelstufen „zu suchen begonnen“ habe (De E 1, 385B ἠρξάμην ζητεῖν).17 Der programmatische Gehalt der Einleitungsworte, die Plutarch Ammonios zu Beginn des Hauptgesprächs über das delphische E sprechen lässt, besteht mithin in dem zentralen Gedanken einer auf mehrstimmige Erörterung abzielenden Wirkung der delphischen ἀπορίαι, in der sich die apollinische Philosophieprotreptik bei jedem Lösungsversuch als individuelle Reaktion auf ein θαυμάζειν im Sinne eines Beitrages zur gemeinsamen ζήτησις konkretisiert. Wie sehr dabei die epistemologischen Anleihen,18 die Plutarch Ammonios aus Platons Theaitetos nehmen lässt, zugleich in der Gesamtanlage von De E apud Delphos als künstlerische Leitidee transformiert erscheinen, lässt sich anhand von intertextuellen Analogien mit einem weiteren ‚Pythischen Dialog‘, De Pythiae oraculis, nachweisen, in dem der Zusammenhang zwischen der Rätselhaftigkeit des delphischen Kultbezirks und dem θαυμάζειν aus dem Theaitetos regelrecht strukturbildend ist. Das dortige Rahmengespräch zwischen Philinos und Basilokles ist ein Preis des bemerkenswerten Verhaltens des jungen Delphibesuchers Diogenianos im Verlauf einer Führung, deren Zeuge am Tage zuvor Philinos wurde, der Berichterstatter des Gesprächs. Diogenianos habe sich als derart aufnahmefähig, wissbegierig und diskussionsbegeistert gezeigt,19 dass der                                                              16

Zu Richtigkeit der Überlieferung gegenüber Patons Konjektur vgl. oben, S. 61, Anm.

82. 17

VAN DER STOCKT (2000) 102 sieht in Plutarchs Beschreibung seines Gesprächs mit den Fremden als τὰ μὲν αὐτὸς ἠρξάμην ζητεῖν τὰ δ᾿ ἐκείνους ἐρωτᾶν „zetetic and maieutic scope and form“ des ganzen Dialoges verdichtet. 18 Auf diesen Aspekt verweist BONAZZI (2008) 206f. 19 De Pyth. or. 1, 394F ΒΑΣΙΛΟΚΛΗΣ ἦ φιλοθεάμων τις ἡμῖν καὶ περιττῶς φιλήκοός ἐστιν ὁ ξένος. ΦΙΛΙΝΟΣ Φιλόλογος δὲ καὶ φιλομαθὴς ἔτι μᾶλλον. Als ähnlichen Geistes wie Diogenianos hat man sich wohl auch die anonymen ξένοι vorzustellen, die Plutarch nach seinem Bericht in De E apud Delphos „jüngst“ in Delphi bedrängt haben sollen: φιλήκοοι auch sie (De E 1, 385A πάντως ἀκοῦσαί τι προθυμουμένους), und wie Diogenianos in Eile, da kurz vor der Abreise (im Rahmendialog von De Pythiae oraculis ist Philinos der einzige, der nach dem Gespräch in Delphi geblieben ist, alle anderen sind mit Diogenianos gleich nach dem Rundgang weiter zur Korykischen Höhle und nach Lykoreia gezogen, vgl. De Pyth. or. 1, 394EF) aber von der Rätselhaftigkeit des E gepackt, zwingen sie Plutarch in ein Gespräch, bei dem er sich trotz seiner prinzipiellen Reserviertheit regelrecht ereifert. Dass es sich bei der Einführung beinahe aufsässiger ξένοι, die als

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III. Hauptgespräch

Rundgang mit ihm durch Delphi weniger einer Touristenführung als einem Kampf mit immer neuen, wie die legendären Sparten aus dem Boden schießenden Problemen geglichen habe, die sich der von Diogenianos angeführten Gruppe auf dem Wege ergaben.20 Das Gespräch, von dem Philinos schließlich berichtet, zeichnet in seinem ersten Teil diesen Rundgang durch Delphi nach, in dem Diogenianos an verschiedenen Stationen Fragen aufwirft, um deren Lösung sich die übrigen Teilnehmer bemühen; auch der durchgängige Vortrag des Theon im zweiten Teil der Schrift, der eine Theorie der Funktionsweise des Orakels und mehrere Erklärungen für den formalen Wandel der Orakelsprüche enthält, geht auf die Initiative des Diogenianos zurück, der schließlich darum bittet, den Rundgang zugunsten der Erörterung dieses Themas zu unterbrechen.21 Mit der Figur des jungen Diogenianos hat Plutarch in De Pythiae oraculis Platons Theaitetos, den jungen Gesprächspartner des Sokrates aus dem gleichnamigen Dialog, wiederauferstehen lassen, ihn als den idealen Delphibesucher charakterisiert und damit den speziellen philosophischen Geist, der die gesamte Dialogstruktur bestimmt, in Diogenianos als eines zweiten Theaitetos personifiziert.22 So ruft bereits Philinos’ Erklärung für die lange                                                              Besucher in einem Heiligtum einen Ortskundigen in hitzige Gespräche verwickeln, um ein Lieblingsmotiv Plutarchs in den ‚Pythischen Dialogen‘ handelt, belegt eine Passage in De defectu oraculorum: Dort erkundigt sich Ammonios bei Lamprias nach dem Inhalt eines Gespräches, das dieser in Lebadeia – dem Orakel des Trophonios, an dem Lamprias als Priester fungierte – mit Fremden geführt haben soll, und von dem die Anwesenden „jüngst“ (ἔναγχος, vgl. De E 1, 385A) nur unklare Kunde erhalten haben. Aus Lamprias’ Erklärung für den schlechten Informationsstand dessen, der Ammonios von dem Gespräch berichtet hat, geht hervor, dass die Fremden Lamprias offenbar in jeder Pause, die ihm sein Orakeldienst ließ, sofort in eine Diskussion verwickelt hatten (De def. or. 38, 431D): μὴ θαυμάσῃς, ἔφην ἐγώ, πολλαὶ γὰρ ἅμα πράξεις διὰ μέσου καὶ ἀσχολίαι συντυγχάνουσαι διὰ τὸ μαντεῖον εἶναι καὶ θυσίαν τοὺς λόγους διεσπαρμένους ἡμῖν καὶ σποράδας ἐποίησαν. 20 De Pyth. or. 1, 394E ΦΙΛΙΝΟΣ βραδέως γὰρ ὡδεύομεν, ὦ Βασιλόκλεις, σπείροντες λόγους καὶ θερίζοντες εὐθὺς μετὰ μάχης ὑπούλους καὶ πολεμικούς, ὥσπερ οἱ Σπαρτοί, βλαστάνοντας ἡμῖν καὶ ὑποφυομένους κατὰ τὴν ὁδόν. Zu den literarischen Vorbildern Plutarchs in der hier verwendeten Saat-Ernte-Metaphorik vgl. CONCA (1996) 195f. 21 Vgl. De Pyth. or. 17, 402B ἐπιβάλλοντος δὲ τοῦ Σαραπίωνος εἰπεῖν τι περὶ τούτων ὁ ξένος ἡδὺ μέν, ἔφη, τὸ τοιούτων ἀκροᾶσθαι λόγων, ἐμοὶ δ᾿ ἀναγκαῖόν ἐστι τὴν πρώτην ὑπόσχεσιν ἀπαιτῆσαι τῆς αἰτίας, ἣ πέπαυκε τὴν Πυθίαν ἐν ἔπεσι καὶ μέτροις ἄλλοις θεσπίζουσαν· ὥστ᾿, εἰ δοκεῖ, τὰ λειπόμενα τῆς θέας ὑπερθέμενοι περὶ τούτων ἀκούσωμεν ἐνταῦθα καθίσαντες. 22 SCHRÖDER (1990) 107 verweist zu De Pyth. or. 1, 394E auf die Teilnahme eines Diogenianos auch in QC 7, 7; QC 7, 8; QC 8, 2; QC 8, 9, wobei der dort auftretende Gesprächsteilnehmer freilich der Vater des Diogenianos von De Pyth. or. zu sein scheint (vgl. ZIEGLER, 1951, 662f.; PUECH, 1992, 4846). Der junge Diogenianos tritt somit allein in De Pyth. or. auf und scheint entsprechend ganz und gar eine literarische Schöpfung Plutarchs sein. Allerdings findet sich in QC 7, 8 ausgerechnet in einem Gespräch, an dem der alte Diogenianos teilnimmt, eine bedeutende Theaitetos-Reminiszenz, die darauf

1. Das Proömium des Ammonios

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Dauer des Rundganges durch das delphische Heiligtum in ihrer Kampfmetaphorik, mit der die immer wieder auf dem Wege geführten Gespräche über rätselhafte Phänomene des Ortes beschrieben werden,23 eine Assoziation mit dem Rahmengespräch des platonischen Theaitetos wach, in dem der Erzähler Eukleides von Theaitetos’ Tapferkeit in der Schlacht berichtet,24 aus der dieser schwer verwundet nach Athen zurückgetragen wurde. Wie nun bei Platon die Tapferkeit des Theaitetos im realen Kampf für seine Vaterstadt bei Eukleides die Erinnerung an Sokrates’ Urteil über Theaitetos’ Charakter bewirkt, das jener sich im Verlaufe einer Unterredung, dem Kampf der Worte also,25 mit ihm in dessen Jugend gebildet hatte,26 und Terpsion sogleich von diesem Gespräch einen Bericht verlangt, so ist es in De Pythiae oraculis eben dieser Wortkampf während der Führung durch Delphi, von dem Basilokles ein Referat fordert.27 Zunächst tauschen sich die beiden                                                              schließen lässt, dass Plutarch in irgendeiner Weise „Diogenianos“ und „Theaitetos“ auch öfter assoziiert zu haben scheint: Gleich zu Beginn der Quaestio (QC 7, 8, 1, 710BC) lässt Plutarch einen Gesprächsteilnehmer die Unterteilung der platonischen Dialoge in dihegematische und dramatische referieren und damit auf eine Kategorisierung zurückgreifen, deren locus classicus das Rahmengespräch von Plat. Theaet. 143b5–c6 ist; die Formulierung ferner, die Kinder lernten die leichtesten der dramatischen Dialoge so, dass sie sie auswendig, ὥστ᾿ ἀπὸ στόματος hersagen könnten, ist gerade dadurch, dass Platon Eukleides zu Beginn des Theaitetos sagen lässt, er könnte das Gespräch zwischen Theaitetos und Sokrates, von dem Terpsion erfahren wolle, οὐ μὰ τὸν Δία, οὔκουν οὕτω γε ἀπὸ στόματος wiedergeben (Plat. Theaet. 142d6), als klare Anspielung auf Platon zu sehen. KAHLE (1912) 19 hat die Ansicht vertreten, dass das Vorgespräch von De Pythiae oraculis wesentlich die Funktion erfüllt, dem mit Plutarch befreundeten historischen Diogenianos ein Denkmal zu setzen, und hierin eine imitatio Platonica gesehen, da Platon nicht selten dem eigentlichen Dialog eine in ein Gespräch gekleidete Charakteristik der wichtigsten Dialogperson vorgeschaltet hat („In Pyth colloquuntur de Diogeniano hospite insignis indolis adulescente qui sermonum ansam dederit. Id quod Plutarchus eo consilio fecisse videtur, ut amico adulescenti honorem tribueret librumque ei dicaret.“) und als naheliegendes Vorbild für Plutarchs Verfahren in De Pythiae oraculis bereits auf Platons Theaitetos aufmerksam gemacht (ibid. 19, Anm. 1 „De viris insignibus sermo prior est in Platonis Euthydemo et Protagora, sed Plato illis illudit; potius cum libro Pyth Theaetetes [sic] est comparandus ubi Theaetetes [sic] adulescens vulneratus ob indolem et ingenium laudibus effertur“). 23 Vgl. De Pyth. or. 1, 394E, zitiert oben, S. 90, Anm. 20. 24 Plat. Theaet. 142b6–8 ΤΕΡΨΙΩΝ οἷον ἄνδρα λέγεις ἐν κινδύνῳ εἶναι. ΕΥΚΛΕΙΔΗΣ καλόν τε καὶ ἀγαθόν, ὦ Τερψίων, ἐπεί τοι καὶ νῦν ἤκουόν τινων μάλα ἐγκωμιαζόντων αὐτὸν περὶ τὴν μάχην. 25 An diesen Zusammenhang von realem Kampf und Engagement im Gespräch erinnert Platon selbst beiläufig durch Sokrates’ Lob des Theaitetos Plat. Theaet. 205a1 ἀνδρικῶς γε, ὦ Θεαίτητε, μάχῃ. 26 Plat. Theaet. 142c3–8. 27 Der Wortlaut der Nachfrage des Terpsion (Plat. Theaet. 142d4–5 ἀτὰρ τίνες ἦσαν οἱ λόγοι) und des Basilokles (De Pyth. or. 1, 394E τίνες ἦσαν οἱ λόγοι καὶ τίνες οἱ λέγοντες)

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III. Hauptgespräch

Gesprächspartner über die Wesenszüge des Diogenianos aus, und Plutarch hat in diesem Abschnitt von De Pythiae oraculis reichlich von Platons Lob des Theaitetos durch seinen Lehrer Theodoros im Vorgespräch des eigentlichen, von Eukleides dem Terpsion berichteten Dialogs mit Sokrates Gebrauch gemacht. Wie Theodoros die besondere Tugend des Theaitetos als eine seltene Mischung aus Wissbegierde, Freundlichkeit und Mut beschreibt, so ist es nach den Worten des Philinos ebenfalls die Verbindung dieser drei Charakterzüge, die Diogenianos wie schon Theaitetos zu einem bewundernswerten ἀνὴρ ἀγαθός machen.28 In seiner Schilderung von Diogenianos’ Verhalten während des Rundganges durch Delphi verweist Plutarch nach Art eines Leitmotivs auf das Sich-Verwundern des jungen Mannes, mit dem er auf die vielen erstaunlichen Sehenswürdigkeiten und die Erklärungen der Fremdenführer reagiert, und entwickelt damit aus dem berühmten Lob, das Sokrates dem Theaitetos in dem gleichnamigen Dialog für sein θαυμάζειν zollt29 eine Grundhaltung des Diogenianos: Er kommt im Verlauf des Rundganges aus dem Sich-Verwundern beinahe nicht mehr heraus und ist so der Motor der vielen gelehrten Einzeldiskussionen, die Plutarch die Dialogteilnehmer führen lässt.30 Wie in De E apud Delphos ist es auch in De Pythiae oraculis ein auf die Bestimmung einer αἰτία ausgerichtetes ζητεῖν, das aus dem θαυμάζειν resultiert. So fordert Diogenianos gleich zu Anfang des Delphirundganges eine Begründung für die rätselhafte Farbe der delphischen Bronzen ein,31 worauf Theon eine Aufforderung zur gemeinsamen Suche an die Anwesenden richtet.32 Auch Diogenianos’ Interesse an einer detaillierten Erörterung                                                             

ähneln sich wohl nicht zufällig, wenn Plutarch den Theaitetos bei der Abfassung von De Pythiae oraculis vor Augen hatte. 28 Vgl. die deutlichen Anklänge beider Charakteristiken: Plat. Theaet. 144a3–6 und b2– 6 über Theaitetos’ einzigartigen Charakter: τὸ γὰρ εὐμαθῆ ὄντα ὡς ἄλλῳ χαλεπὸν πρᾷον αὖ εἶναι διαφερόντως, καὶ ἐπὶ τούτοις ἀνδρεῖον παρ᾿ ὁντινοῦν, ἐγὼ μὲν οὔτ᾿ ἂν ᾠόμην γενέσθαι οὔτε ὁρῶ γιγνόμενον· […] ὁ δὲ οὕτω λείως τε καὶ ἀπταίστως καὶ ἀνυσίμως ἔρχεται ἐπὶ τὰς μαθήσεις τε καὶ ζητήσεις μετὰ πολλῆς πρᾳότητος, οἷον ἐλαίου ῥεῦμα ἀψοφητὶ ῥέοντος. ὥστε θαυμάσαι τὸ τηλικοῦτον ὄντα οὕτως ταῦτα διαπράττεσθαι. De Pyth. or. 1, 394F über das besondere Wesen des Diogenianos, das sich in seinem Verhalten während des Rundganges offenbart hat: ΒΑΣΙΛΟΚΛΗΣ Ἦ φιλοθεάμων τις ἡμῖν καὶ περιττῶς φιλήκοός ἐστιν ὁ ξένος. ΦΙΛΙΝΟΣ φιλόλογος δὲ καὶ φιλομαθὴς ἔτι μᾶλλον. οὐ μὴν ταῦτα μάλιστα θαυμάζειν ἄξια, ἀλλὰ πραότης τε πολλὴν χάριν ἔχουσα, καὶ τὸ μάχιμον καὶ διαπορητικὸν ὑπὸ συνέσεως, οὔτε δύσκολον οὐτ᾿ ἀντίτυπον πρὸς τὰς ἀποκρίσεις. 29 Vgl. oben, S. 87 mit Anm. 11. 30 Vgl. De Pyth. or. 2, 395B ἐθαύμαζε. 5, 396C πολλάκις ἔφη θαυμάσαι. 8, 397E ἐθαύμασε. 12, 399E οἱ περὶ τὴν ῥίζαν ἐντετορευμένοι βάτραχοι καὶ ὕδροι θαῦμα τῷ Διογενιανῷ παρεῖχον. 31 De Pyth. or. 3, 395D Τίν᾿ οὖν αἰτίαν, ἔφη ὁ Διογενιανός, οἴει τῆς ἐνταῦθα τοῦ χαλκοῦ χρόας γεγονέναι; 32 De Pyth. or. 3, 395E ζητῶμεν οὖν κοινῇ καὶ πρότερον, εἰ βούλει, δι᾿ ἣν αἰτίαν κτλ.

1. Das Proömium des Ammonios

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des Aufhörens der Versorakel ist eine Bitte um die Klärung der αἰτία,33 die wiederum kurz darauf Sarapion, bevor Theon bis zum Ende der Schrift das Wort ergreift, angesichts einer ersten konstruktiven Einlassung des bis dahin ausschließlich kritischen Boethos zu der Notwendigkeit erhebt, den rätselhaften Widersprüchen, die sich aus dem Wandel der Form der Orakel ergeben, mit einer Suche nach Lösungsmöglichkeiten zu begegnen.34 Das ζητεῖν erscheint schließlich auch im dritten der ‚Pythischen Dialoge‘, De defectu oraculorum, nachgerade synonym für die philosophische Betätigung der dortigen Gesprächsteilnehmer: So beschreibt Herakleon, der Sprecher der Gruppe, das methodische Vorgehen, das das folgende Gespräch über die Frage nach dem Eingehen der Orakel kennzeichnen soll, als ein φιλοσοφεῖν καὶ ζητεῖν;35 es folgt eine philosophische Suche, die Plutarch schließlich an einer weiteren Gelenkstelle von De defectu oraculorum gerade Ammonios als Ideal formulieren lässt, als dieser Lamprias zu seiner Darstellung der Funktionsweise der Orakel auffordert: „Aber jetzt, sagte Ammonios, hast du Zuhörer, die Zeit haben und begierig sind, das eine zu suchen, das andere zu lernen, ohne Eifer und Streitsucht und mit allem Wohlwollen und dem Zugeständnis voller Redefreiheit gegenüber jedem Wort, wie du siehst.“36 Was VAN DER STOCKT über das philosophische Gesprächsklima der Quaestiones convivales und deren „zetetischen“ Ansatz formuliert hat, lässt sich somit bruchlos auf Plutarchs Gesprächskonzeption in den ‚Pythischen Dialogen‘ übertragen: „The purpose of the feelings of friendship and mutual benevolence is to ensure that the company can perform its main task: that of going in search of the truth, or more specifically, of the αἰτία in regard to a specific topic. Over and over again, ζήτησις is the word that determines what the company is doing.“37 Die gezeigten Parallelen zwischen De E apud Delphos und – neben De defectu oraculorum – De Pythiae oraculis machen noch einmal deutlich, dass die philosophische Suche als solche das Wesen der vom delphischen E ausgehenden Faszination ausmachen soll, und konsequenterweise lässt Plutarch den Vorspruch des Ammonios mit einer konkreten Hinwendung zum                                                             

33 De Pyth. or. 17, 402B ἐμοὶ δ᾿ ἀναγκαῖόν ἐστι τὴν πρώτην ὑπόσχεσιν ἀπαιτῆσαι τῆς αἰτίας, ἣ πέπαυκε τὴν Πυθίαν ἐν ἔπεσι καὶ μέτροις ἄλλοις θεσπίζουσαν. 34 De Pyth. or. 18, 402E τῶν ὑπεναντιοῦσθαι δοκούντων λύσεις ἐπιζητεῖν. 35 Vgl. auch noch Lamprias’ Aufforderung De def. or. 7, 413D an den destruktiven Kyniker Didymos Planetiades, eine andere als die von ihm formulierte Erklärung für das Aufhören der Orakel zu suchen: ἑτέραν τινὰ μεθ᾿ ἡμῶν αἰτίαν ζήτει τῆς λεγομένης ἐκλείψεως τῶν χρηστηρίων κτλ. 36 De def. or. 38, 431D ἀλλὰ νῦν, ὁ Ἀμμώνιος ἔφη, καὶ σχολὴν ἄγοντας ἀκροατὰς ἔχεις καὶ προθύμους τὰ μὲν ζητεῖν τὰ δὲ μανθάνειν ἔριδος ἐκποδὼν οὔσης καὶ φιλονεικίας ἁπάσης συγγνώμης δὲ παντὶ λόγῳ καὶ παρρησίας ὡς ὁρᾷς δεδομένης. 37 VAN DER STOCKT (2000) 96 [Hervorhebung im Original].

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III. Hauptgespräch

Thema des Gespräches enden, die ganz auf das gesprächsfördernde, verschiedenste Lösungsansätze hervorbringende, ja mithin unerschöpfliche Potenzial dieser delphischen ἀπορίαι ausgerichtet ist. Ammonios schließt seine Präliminarien mit dem Verweis auf die Fülle an ζητήσεις und die Menge an λόγοι, die aus den beiden berühmtesten Sprüchen der Sieben Weisen, dem γνῶθι σαυτόν38 und dem μηδὲν ἄγαν „wie aus einem Samenkorn“ bereits hervorgesprosst sind,39 und attestiert dem E, dem Gegenstand der vorliegenden Suche (τὸ νῦν ζητούμενον), eine gegenüber den genannten Sprüchen noch größere „Zeugungskraft an Reden“ (γόνιμον λόγων). So steht Ammoniosʼ erster Auftritt in De E apud Delphos ganz im Zeichen von Plutarchs bereits in der extradialogischen Sektion des Textes aufgebauter Spannung zwischen Faszination und Unlösbarkeit des Rätsels vom delphischen E. Liegt in der Widmung an Sarapion und im extradialogischen Proömium ein etwas größeres Gewicht auf der Unlösbarkeit des Rätsels, so verschiebt sich der Schwerpunkt im intradialogischen Proömium des Ammonios hin zur Faszination, dem θαυμάζειν, und einem konsequenten ζητεῖν möglicher Lösungen. Dabei macht Ammonios keineswegs den Eindruck, als ob er aus der Überzeugung rede, sich bereits im Besitz der Lösung des Problems zu befinden und gleichsam nur darauf zu warten, die kommenden Lösungsversuche seiner Eleven als wertlos zu erweisen,40 vielmehr füllt er                                                             

38 Dass dies nicht leicht dahingesagt ist, beweist Plutarchs Aussage in Adv. Col. 20, 1118C über den Ursprung des philosophischen Suchens des Sokrates: … καὶ τῶν ἐν Δελφοῖς γραμμάτων θειότατον ἐδόκει τὸ γνῶθι σαυτόν· ὃ δὴ καὶ Σωκράτει ἀπορίας καὶ ζητήσεως ταύτης ἀρχὴν ἐνέδωκεν, ὡς Ἀριστοτέλης ἐν τοῖς Πλατωνικοῖς εἴρηκε. 39 Vgl. zu De E 2, 385D (ὅρα δὲ καὶ ταυτὶ τὰ προγράμματα, τὸ γνῶθι σαυτόν καὶ τὸ μηδὲν ἄγαν, ὅσας ζητήσεις κεκίνηκε φιλοσόφοις καὶ ὅσον λόγων πλῆθος ἀφ᾿ ἑκάστου καθάπερ ἀπὸ σπέρματος ἀναπέφυκεν) Theons Charakteristik der Sprüche der Sieben Weisen in De Pyth. or. 29, 408E: καί τὰ τοιαῦτα μὲν ἀποφθέγματα τῶν σοφῶν ταὐτὸν τοῖς εἰς στενὸν συνθλιβεῖσι πέπονθε ῥεύμασιν· οὐ γὰρ ἔχει τοῦ νοῦ δίοψιν οὐδὲ , ἀλλ᾿ ἐὰν σκοπῇς τί γέγραπται καὶ λέλεκται περὶ αὐτῶν τοῖς ὅπως ἕκαστον ἔχει βουλομένοις καταμαθεῖν, οὐ ῥᾳδίως τούτων λόγους ἑτέρους εὑρήσεις μακροτέρους. Es ist bezeichnend, dass Plutarch im Septem Sapientium convivium (21, 164A–D), in dem die Urheber der Sprüche selbst im Gespräch über verschiedenste Themen vorgeführt werden, ganz am Ende des Dialogs zwar Chersias den Wunsch nach einer Erklärung der Bedeutung von γνῶθι σαυτόν, μηδὲν ἄγαν und ἐγγύα πάρα δ᾿ ἄτα äußern lässt, diese Erklärung jedoch nicht geleistet wird: Pittakos, an den die Frage gerichtet worden war, verweist auf einen λόγος des anwesenden Äsop, dessen Erklärungen Chersias selbst doch immer lobe, Äsop wiederum behauptet, Chersias’ Lob sei nur scherzhaft gemeint, da jener sich die Bedeutung der Sprüche in Wahrheit aus Homer herleite. Es folgt entsprechend eine recht schlichte Gleichsetzung des Gehaltes der drei Maximen mit Homerversen, worauf sich das Symposion auflöst. 40 Vgl. OBSIEGER (2007) 8 „Aus den Worten des Ammonios geht hervor, daß er nicht den Anspruch erhebt, das Epsilon enträtselt zu haben. Das ist ein weiterer Hinweis darauf, daß die imposante Deutung des Ammonios am Ende der Schrift nicht als die unzweifelhaft richtige Antwort gelten soll.“

1. Das Proömium des Ammonios

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die ihm von Plutarch zugedachte Rolle des Conférenciers des sich anbahnenden philosophischen Gespräches dadurch aus, dass er das philosophische Potenzial der Rätsel von Delphi hervorhebt, zu einer Debatte über das E einlädt, und dadurch die intellektuell stimulierende Wirkung des Apollon auf die versammelte Gruppe vermittelt. Plutarchs Gestaltung von Ammonios’ Vorspruch dient damit keineswegs der Etablierung einer dominanten Rolle dieser Figur im folgenden Hauptgespräch im Sinne von dessen überlegener Kompetenz, das Rätsel zu lösen, vielmehr erweist sich Ammonios’ Philosophentum gerade darin, dass er für alle Mitglieder der Gesprächsrunde – sich selbst eingeschlossen – die gleichen Ausgangsvoraussetzungen postuliert. Jeder der Gesprächsteilnehmer ist gehalten, seinen individuellen Beitrag zur ἀπορία des E zu leisten, und es lässt sich aus Ammoniosʼ Worten kein Kriterium ableiten, nach dem sich der Wahrheitsgehalt der einzelnen Lösungsversuche ermessen ließe. Die Rolle des Conférenciers ist es auch, die Ammonios in allen anderen Auftritten im Werk Plutarchs einnimmt, zumal in den Quaestiones convivales, auf deren Verwandtschaft mit dem Gespräch in De E apud Delphos bereits mehrmals hingewiesen wurde.41 Dabei begleitet die Zeichnung der Dialogfigur Ammonios als regelmäßig wiederkehrendes Motiv dessen Gewohnheit, Diskussionen wesentlich anzustoßen, nicht aber dogmatisch zu beenden. So beginnt QC 3, 1, 1 mit einer Kritik des Ammonios an dem Brauch, beim Symposion Blumenkränze zu tragen, doch, wie Plutarch sich selbst im Anschluss ausführen lässt, lassen sich nur diejenigen, „die Ammonios’ Art nicht kannten“ (QC 3, 1, 2, 646A οἱ μὲν ἀήθεις τοῦ Ἀμμωνίου νεανίσκοι) von dessen Worten beschämen und nehmen sofort die Kränze ab.                                                             

41 Ammonios meldet sich in dieser Funktion freilich nur ein einziges Mal zu Wort: De E 6, 386D lässt sich Theon von Ammonios das Wort erteilen (ταῦτα τοῦ Νικάνδρου διελθόντος, οἶσθα γὰρ δὴ Θέωνα τὸν ἑταῖρον, ἤρετο τὸν Ἀμμώνιον, εἰ διαλεκτικῇ παρρησίας μέτεστιν οὕτω περιυβρισμένῃ ἀκηκουίᾳ· τοῦ δ᾿ Ἀμμωνίου λέγειν παρακελευομένου καὶ βοηθεῖν κτλ.), bevor er die von seinem Vorredner Nikandros in Misskredit gebrachte Dialektik verteidigt. Ähnlich wie an dieser Stelle ermuntert Ammonios in De defectu oraculorum und mehrfach in den Quaestiones Convivales zu Gesprächsbeiträgen und sichert ihnen volle Redefreiheit zu: De def. or. 38, 431D … ἁπάσης συγγνώμης δὲ παντὶ λόγῳ καὶ παρρησίας ὡς ὁρᾷς δεδομένης; QC 3, 2, 2, 649A unterstützt Ammonios die Aufforderung des Eraton, der angegriffenen Position des Tryphon zu Hilfe zu eilen mit der Zusicherung, keine Kritik zu üben: ὁ δ᾿ Ἐράτων ἕκαστον ἡμῶν τῶν νέων ἀνακαλούμενος ἐκέλευε βοηθεῖν τῷ Τρύφωνι [τῶν στεφάνων] ἢ τοὺς στεφάνους ἀποτίθεσθαι· καὶ Ἀμμώνιος ἔφη παρέχειν ἄδειαν, οὐ γὰρ ἀντερεῖν οἷς ἂν ἡμεῖς εἴπωμεν. οὕτω δὴ καὶ τοῦ Τρύφωνος ἐπικελεύοντος εἰπεῖν κτλ. Vgl. zur Stelle OPSOMER (2009) 130 „Here we see “Ammonius” again in his role as an encourager of debate.“ QC 8, 3, 3, 721D fordert Ammonios Plutarch auf, zu Boethos’ Theorie über die bessere Akustik bei Nacht Stellung zu nehmen: κἀγώ, τοῦ Ἀμμωνίου κελεύοντος εἰπεῖν τι πρὸς αὐτόν κτλ. Vgl. zur Stelle OPSOMER (2009) 134 „“Ammonius” continues playing his role as moderator of debates […].“

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III. Hauptgespräch

Die eigentliche Intention von Ammonios’ Suada sei, wie Plutarch fortfährt, jedoch diejenige gewesen, mit der Blumenfrage ein Thema zur „Übung und Suche“ einzuführen (QC 3, 1, 2, 646A ἐγὼ δ᾿ εἰδὼς ὅτι γυμνασίας ἕνεκα καὶ ζητήσεως καταβέβληκεν ἐν μέσῳ τὸν λόγον), einer Suche, die dann auch im Gespräch stattfindet.42 In QC 9, 14, 7 findet sich ein weiterer Hinweis auf Ammonios’ Diskussionsgewohnheiten, der nunmehr auch die Bereitschaft zur Relativierung der eigenen Position gegenüber den individuellen Beiträgen der anderen Gesprächspartner enthält: Ammonios schließt seinen Beitrag über die kosmologische Funktion der Musen mit dem von ihm, wie es heißt, gewohnheitsmäßig gebrauchten (QC 9, 14, 7, 746B ὥσπερ εἰώθει) Xenophaneszitat „Dies soll als meine Meinung gelten, die der Wahrheit ähnlich ist“ (ταῦτα δεδοξάσθω μὲν ἐοικότα τοῖς ἐτυμοῖσι), und fordert sogleich die übrigen Anwesenden auf, gleichermaßen die jeweils eigene Meinung vorzutragen (καὶ παρακαλοῦντος ἀποφαίνεσθαι καὶ λέγειν τὸ δοκοῦν ἕκαστον κτλ.).43 Dieser Hochschätzung der individuellen Gesprächsbeiträge aller Dialogteilnehmer, die zur Voraussetzung hat, dass Ammonios die eigene Meinung nicht absolut setzt, hatte Ammonios schließlich bereits in QC 9, 14, 2 dadurch Ausdruck verliehen, dass er die Existenz einer Vielzahl von Musen aus dem menschlichen Bedürfnis abgeleitet hatte, möglichst reichhaltig „aus dem Schönen zu schöpfen“, da allen Menschen Bildung und intellektuelle Betätigung nottue.44 Es gibt mithin nicht nur eine mögliche Lösung der Probleme, und in der Vielzahl von Diskussionsbeiträgen erweist sich hier nicht weniger als in De E apud Delphos die eigentliche Qualität plutarchischer Dialogkunst.

2. Die Rede des Lamprias: Die Fünf Weisen Der erste Lösungsversuch des E, den Plutarchs Bruder Lamprias vorträgt, ist von der Forschung zu De E apud Delphos bislang keiner differenzierten                                                              42 Zur Stelle vgl. MORESCHINI (1997) 25; OPSOMER (2009) 128 „This text, then, shows us Ammonius in his typical role of someone who steers the conversation, by proposing topics, raising questions and stimulating discussion.“ 43 Vgl. zur Stelle DONINI (1986) 103; MORESCHINI (1997) 27; OPSOMER (2009) 138. Ähnlich fordert Ammonios QC 8, 3, 1, 720E die versammelte Gruppe auf, „Überzeugendes“ über die physikalischen Ursachen für die bessere nächtliche Akustik vorzutragen: τίς ἄν, ἔφη, πρῶτος ὑμῶν εὐπορήσειεν λόγου τὸ πιθανὸν ἔχοντος; 44 QC 9, 14, 2, 743EF κοινὰ γὰρ τὰ φίλων, καὶ διὰ τοῦτο πολλὰς ἐγέννησε Μούσας ὁ Ζεύς, ὅπως ᾖ πᾶσιν ἀρύσασθαι τῶν καλῶν ἀφθόνως· οὔτε γὰρ κυνηγίας πάντες οὔτε στρατείας οὔτε ναυτιλίας οὔτε βαναυσουργίας, παιδείας δὲ καὶ λόγου δεόμεθα πάντες (Simon. fr. 5, 17 II p. 65 D.) εὐρυεδοῦς ὅσοι καρπὸν αἰνύμεθα χθονός· ὅθεν Ἀθηνᾶν μίαν καὶ Ἄρτεμιν καὶ Ἥφαιστον ἕνα, Μούσας δὲ πολλὰς ἐποίησεν.

2. Die Rede des Lamprias

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Analyse unterzogen worden, da festzustehen schien, er sei aus verschiedenen Gründen ganz belanglos; zumal da er durch die unmittelbaren Reaktionen, die andere Gesprächsteilnehmer auf Lamprias’ Worte folgen lassen, als vollkommen unzulänglich erwiesen werde, bedürfe er keiner näheren Betrachtung. Denn im Anschluss an Lamprias’ Beitrag berichtet Plutarch zunächst die Reaktion des Ammonios, ein Lächeln, das gemeinhin als souverän-abfälliger Kommentar einer Lehrautorität gegenüber einem gewitzten, aber stümperhaften Gesprächsbeitrag eines Schülers gelesen wird, lässt sodann ein Referat eines anonymen Gesprächsteilnehmers über die Lösung eines Chaldäers folgen, das der Berichterstatter zum Zweck der Kritik an Lamprias vorträgt, und schließt den Protest des Priesters Nikandros gegen Lampriasʼ Ausführungen an, der im Namen der delphischen Autoritäten spricht. Vor allem der unmittelbaren Reaktion des Ammonios wird dabei besonderes Gewicht für eine von Plutarch intendierte, wenn auch milde, Abwertung von Lampriasʼ Worten beigemessen,45 freilich um den Preis, dass Plutarch damit stillschweigend ein gehöriges Maß an Inkonsistenz in der Charakterzeichnung des Ammonios und mit ihr in der dialogischen Umsetzung der in der Eingangssektion des Textes entworfenen philosophischen Programmatik unterstellt werden müsste. Denn angesichts von Ammoniosʼ einleitenden Aussagen im 2. Kapitel von De E apud Delphos, die wesentliche Motive des extradialogischen Proömiums aufnehmen, würde es doch sehr irritieren, wenn Plutarch dieselbe Figur, die im voraufgehenden Kapitel gerade noch das intellektuell stimulierende Moment, das dem Rätsel des E innewohnen soll, im Rahmen einer gänzlich offenen Gesprächseinladung betont hatte, nunmehr als Zensor ausgerechnet des ersten Beitrages auftreten ließe, womit Plutarch Ammonios eine Rolle im Gespräch zugewiesen habe würde, die dessen Einleitungsworten diametral entgegengesetzt wäre.46 Da nun aber nach den Worten des Ammonios im zweiten                                                             

45 Vgl. De E 4, 386A–5, 386D. BABUT (1992) 195 spricht hier von „la marque de la supériorité du vrai philosophe.“ Vgl. auch MORESCHINI (1997) 128, Anm. 33 „Con pochi tocchi, caratteristici della sua arte raffinata, Plutarco sa sempre caratterizzare i vari personaggi dei suoi dialoghi; Ammonio è brevemente, ma efficacemente presentato come un saggio, come il perfetto filosofo che ascolta i discorsi e le proposte dei suoi giovani allievi e li confuta senza acrimonia.“ 46 Der Vorwurf, das Proömium des Ammonios nicht berücksichtigt zu haben, trifft freilich nicht BABUT, dessen Abwertung der Rede des Lamprias auf seiner Interpretation der Struktur von De E apud Delphos als eines „ordre ascendant“ beruht, in dem jeder Beitrag von dem jeweils folgenden relativiert werde (BABUT, 1992, 194). Viel eher muss sich die recht wirkungskräftige Interpretation von KAHLE (1912) 33 dieser Kritik stellen, der den Übergang von Ammonios’ Proömium zum eigentlichen Gespräch und die ersten Beiträge als eine Art Enttäuschung von Ammonios’ Programm charakterisiert hat: „Sic Plutarchus non modo ratione directa progressus ad rem venit; sed etiam ad maiores quaestiones dialogum ascensurum esse indicat. Amici vero verba eius non statim observant, sed Lamprias alii humiles sententias proferunt neque refutantur.“

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III. Hauptgespräch

Kapitel von De E apud Delphos unmissverständlich ausgesprochen ist, dass das E jeden Menschen zum Philosophen mache, so sollte eine Interpretation gerade des ersten Gesprächsbeitrages in De E apud Delphos diesen unvoreingenommen als erste Aktualisierung von Plutarchs philosophischem Repertoire untersuchen, bevor sie den Gesprächsfortgang betrachtet, und nicht in umgekehrter Reihenfolge den ersten Lösungsversuch allein im Lichte einer womöglich vorschnellen Interpretation des weiteren Gesprächsentwicklung deuten. Gleich zu Beginn von Lamprias’ Rede signalisiert Plutarch, dass ihr Sprecher, den er vertraulich mit ὁ ἀδελφός vorstellt, offenbar Ammonios’ Präliminarien richtig verstanden hat und somit nicht zu der Kategorie der in QC 3, 1, 2 erwähnten ängstlichen Symposiasten zählt, die „Ammonios’ Art nicht kannten“ und entsprechend dessen Intention verkennen, durch eine Themenstellung zu einem gemeinsamen Gespräch einzuladen;47 er erlaubt sich vielmehr sogar einen Scherz auf Ammonios’ recht enthusiastische Formulierung, die Sprüche am Tempel des Apollon hätten schon immer äußerst umfangreiche interpretatorische Ausführungen (De E 2, 385D ὅσων48 λόγων πλῆθος) gezeitigt: Der Lösungsansatz, der ihm, wie Lamprias behauptet, zu Ohren gekommen sei und den er nun vortragen wolle, sei recht schlicht und äußerst knapp (De E 3, 385D ὃν ἡμεῖς ἀκηκόαμεν λόγον ἁπλοῦς τίς ἐστι καὶ κομιδῇ βραχύς).49 Diese Ironisierung von Ammonios’ Worten verweist somit von Anfang an auf Lamprias’ Statur in diesem Dialog, der nicht nur den Mut beweist, als erster in den Ring zu steigen, sondern darüber hinaus noch durchaus selbstsicher – gerade in seinem Verhältnis zu Ammonios – auftritt.50                                                              47

Vgl. oben, S. 95f. Die Lesart ὅσων O ist dem ὅσον des Vat. Reg. Gr. 80 vorzuziehen, denn nur so ergibt Lamprias’ folgender Hinweis auf die Kürze (βραχύς) des von ihm referierten λόγος einen Sinn; zudem schließt ὅσων λόγων πλῆθος dann glatt an die vorausgehende Formulierung ὅσας ζητήσεις an. 49 Die Verknüpfung zwischen Ammonios’ Vorwort und Lamprias’ Beitrag hat bereits KAHLE (1912) 33 gesehen, daraus jedoch ein Indiz für die Inferiorität von Lampriasʼ Rede gemacht: „Velut Lamprias contra Ammonium […] statim sibi simplicem quandam rationem ad aures pervenisse respondet.“ 50 Die von HIRZEL (1895) 198f. in die wissenschaftliche Diskussion eingeführte und noch von MORESCHINI (1997) 46 (wie öfter ohne Hinweis auf HIRZEL beinahe wörtlich aus diesem übersetzt) tradierte Abwertung des „jungen“ Lamprias in De E apud Delphos gegenüber dem „reifen“ Lamprias in De defectu oraculorum („Darum erscheint Lamprias, der in dem früheren Dialog bereits ein Alter hatte um die Hauptrolle zu spielen […], hier noch ganz schülerhaft und von seinem Lehrer abhängig“ = „Forse per questo motivo Lampria, che nel de defectu appariva sufficientemente adulto da avere il ruolo principale, nel de E invece dipende dal suo maestro in modo molto scolastico“) als eines unsicheren und unselbständigen Gesprächspartners entbehrt jeden Anhaltes im Text. KLOTZ (2007) 654 zeigt am Beispiel der unterschiedlichen Altersstufen, in denen sich Plutarch selbst in 48

2. Die Rede des Lamprias

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Lamprias’ Rede gliedert sich nach diesem Vorspruch in drei Abschnitte: Zunächst legt der Sprecher dar, die legendären Sieben Weisen seien ursprünglich nur fünf an der Zahl gewesen (Chilon, Thales, Solon, Bias, Pittakos), doch hätten später zwei Tyrannen, Periander von Korinth und Kleobulos von Lindos, durch unlautere Mittel – die Ausnutzung ihrer Macht, die Mobilisierung ihrer Verbindungen und die Verbreitung von Plagiaten der berühmten Sprüche der Weisen – die öffentliche Meinung in Griechenland solcherart manipuliert, dass sie selbst unter die Weisen gezählt wurden und man hinfort von Sieben Weisen sprach.51 Die Weihung des E als des Zahlzeichens für die Fünf sei nach Lamprias dadurch zustande gekommen, dass die „echten“ Weisen ihren Ruf nicht öffentlich gegen die beiden Usurpatoren ihres Ehrentitels zu verteidigen wagten, da sie es nicht auf einen Konflikt mit derart mächtigen Männern anlegen wollten; stattdessen hätten sie nach einer gemeinsamen Beratung dem Apollon in Delphi das Zeichen geweiht, um zumindest gegenüber dem Gott Zeugnis über ihre wahre Anzahl abzulegen.52 Lamprias schließt mit dem Hinweis, diese Deutung erfahre ihre Stützung darin, dass man von den Leuten am Heiligtum hören könne, das neueste, goldene E werde „E der Livia, der Frau des Kaisers“ genannt, ein früheres, bronzenes Modell „E der Athener“, das erste und älteste jedoch, aus Holz gefertigt, laufe unter der Bezeichnung „E der Weisen“.53 Betrachtet man Lamprias’ Beitrag für sich, so enthält er einen in sich durchaus schlüssigen Lösungsvorschlag, der nach Inhalt und Tendenz darüber hinaus in Plutarchs Werk keineswegs isoliert steht, und somit kaum vom Autor als in irgendeiner Weise illegitime Deutung des Zeichens konzipiert zu sein scheint, sondern eine gleichsam aitiologische Aktualisierung seines Repertoires in Anknüpfung an die anspielungsweise Zurückführung der Weihung des E auf die Weisen im extradialogischen Proömium darstellt. Plutarch gründet Lamprias’ Beitrag auf ein Problem, das in der philosophischen Tradition seit Platon verhandelt wird und auch in Plutarchs Septem Sapientium convivium deutliche Spuren hinterlassen hat, nämlich die Frage, inwieweit die traditionell der Gruppe der Sieben Weisen zugerechneten Personen die ethischen Standards erfüllen, die seit Sokrates von einem Philosophen gefordert werden, dessen Tugend (ἀρετή) als ein „Tugendwissen“ mit                                                             

den Quaestiones Convivales auftreten lässt, dass das Alter eines Gesprächsteilnehmers keine Rückschlüsse auf sein philosophisches Gewicht erlaubt: „The range of ages inhabited by the narrator expresses another implicit message for the reader. Plutarch’s age may vary but the reaction it engenders in his hosts, fellow-guests, and teachers is unchanging and unprejudiced. Age does not matter in this conception of philosophy, and both young and old are accepted at the philosophical dinner table, on more or less equal terms.“ 51 Vgl. De E 3, 385DE. 52 Vgl. De E 3, 385EF. 53 Vgl. De E 3, 385F–386A.

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III. Hauptgespräch

der Vernunfttätigkeit (φρόνησις) zusammenfallen soll.54 So findet sich bei Diodor die Vermutung, Platon habe, da sich in der traditionellen Siebenzahl der Weisen auch Tyrannen fanden, im – von Plutarch bereits für sein Proömium an der einschlägigen Stelle verwendeten55 – Protagoras an die Stelle des seit Herodot56 übel beleumundeten Periander von Korinth den unbescholtenen Myson von Chen gesetzt.57 In dieser kritischen Tradition einer ethisch motivierten Bereinigung des Kataloges der Weisen lässt Plutarch Lamprias einen noch radikaleren Weg gehen, denn er schließt neben dem von ihm ebenso verachteten58 Periander auch noch Kleobulos, den Tyrannen von Lindos als unwürdige Gestalten der Überlieferung aus der Gruppe aus: Keiner der beiden habe Tugend (ἀρετή) und Weisheit (σοφία) besessen. HIRZEL hat versucht, Lamprias’ Beitrag gegen die vermeintlich wirklichen Ansichten Plutarchs im Septem Sapientium convivium auszuspielen, und behauptet, Lamprias’ Postulat von fünf Weisen stehe im Widerspruch zu Plutarchs einschlägigem Werk, das die Weisen in ihrer traditionellen Siebenzahl vorführe.59 Ein Blick auf das Septem Sapientium convivium                                                              54

Vgl. dazu GÖRGEMANNS (1994) 125f. Vgl. dazu oben, S. 53f. 56 Vgl. dazu LO CASCIO (1997) 52f.; MORESCHINI (1997) 127, Anm. 30. 57 Vgl. Diod. 9, 7 und den Katalog Plat. Prot. 343a1–5 τούτων ἦν καὶ Θαλῆς ὁ Μιλήσιος καὶ Πιττακὸς ὁ Μυτιληναῖος καὶ Βίας ὁ Πριηνεὺς καὶ Σόλων ὁ ἡμέτερος καὶ Κλεόβουλος ὁ Λίνδιος καὶ Μύσων ὁ Χηνεύς, καὶ ἕβδομος ἐν τούτοις ἐλέγετο Λακεδαιμόνιος Χίλων. Ob Platons Intention bei der Zusammenstellung der Liste im Protagoras aus Rep. I 335e1– 336a7 erschlossen werden kann (vgl. DEFRADAS, 1985, 181), wo die Definition der Gerechtigkeit als „Den Feinden schaden und den Freunden nützen“ als falsch und deshalb nicht als diejenige eines σοφός wie Simonides, Bias und Pittakos, sondern als eine von Machtmenschen bezeichnet wird, unter die auch Periander gezählt wird (οἶμαι αὐτὸ Περιάνδρου εἶναι ἢ Περδίκκου ἢ Ξέρξου ἢ Ἰσμηνίου τοῦ Θηβαίου ἤ τινος ἄλλου μέγα οἰομένου δύνασθαι πλουσίου ἀνδρός) ist allerdings fraglich, vgl. MANUWALD (1999) ad loc., 336: „Daß Platon statt Periander Myson eingesetzt hätte, weil er einen Tyrannen nicht für würdig gehalten habe, unter die Weisen gerechnet zu werden (vgl. Clem. Alex. strom. 1, 59, 5; Paus. 10, 24, 1; vgl. auch Diod. 9, 7) dürfte eine späte Konstruktion sein. Gegen sie spricht, daß eine feste Liste schon vor Platon vorausgesetzt würde und dass Periander vor Platon nicht als Weiser bezeugt ist, ganz im Gegenteil: Bei Herodot erscheint er als wirklicher Tyrann (5, 92 ζ–η). Platon selbst rechnet ihn ausdrücklich nicht unter die Weisen, sondern unter die Reichen (vgl. R. 335e7–336a7).“ Der Umstand, daß die spätere Interpretation der Protagoras-Stelle womöglich eine ethische Überinterpretation Platons darstellt, spricht jedoch nicht gegen einen Zusammenhang zwischen Lamprias’ Rede und Platons Protagoras: Plutarch steht vielmehr in der gleichen Tradition einer entsprechenden Platonlektüre. 58 Vgl. Plutarchs harsche Worte De Herod. malign. 23, 861A über eine der Untaten des Periander: καίτοι Περιάνδρου σχετλιώτερον οὐδὲν οὐδ᾿ ὠμότερον ἔργον ἱστορεῖται τῆς ἐκπομπῆς τῶν τριακοσίων ἐκείνων κτλ., nämlich junger Kerkyräer, die der Tyrann verschneiden lassen wollte. 59 HIRZEL (1895) 202, Anm. 3 „Historisch sind natürlich auch die Charakteristiken, die Plutarch von sich selber und seinem Bruder gibt […]. Hierzu erinnere ich noch daran, dass 55

2. Die Rede des Lamprias

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erweist jedoch nicht nur HIRZELs Behauptung, die auf eine Abwertung der Rede des Lamprias hinausläuft, als unrichtig, sondern lässt sogar Tendenzen erkennen, nach denen Lamprias’ Ausschluss der Tyrannen Periander und Kleobulos aus dem Kreis der „echten“ Weisen als genuin plutarchisch erscheint: Zwar nehmen am Plutarchs Septem Sapientium convivium sowohl Periander als auch Kleobulos teil, doch ersterer nicht als deren ordentliches Mitglied,60 sondern nur als Gastgeber, letzterer nur als Nebenfigur. Im Falle des Periander belässt es Plutarch zudem nicht dabei, ihn nur als Wirt der Weisen fungieren zu lassen, sondern bemüht sich darüber hinaus, seine Verbindung zu ihnen überhaupt zu rechtfertigen: Im Vorgespräch, das Thales mit Neiloxenos auf dem Weg zu Perianders Anwesen führt, kommt der Ruf des Milesiers offen zur Sprache, ein Tyrannenfeind zu sein, ein Ruf, zu dem sich Thales uneingeschränkt bekennt und gleichzeitig die σοφία seines Kollegen Solon rühmt, niemals die Machtposition eines Tyrannen angestrebt zu haben.61 Was Periander betreffe, so sei der Kontakt, den er zu vernünftigen Männern pflege, für ihn recht eigentlich eine Art Therapie, da er, nach Thales’ Worten, regelrecht „von der ihm von seinem Vater vererbten Tyranniskrankheit infiziert“ sei.62 Mit der gleichen Tendenz wird auch wenig später das Tyrannenamt des Kleobulos angesprochen, dessen Teilnahme an einem Treffen der Weisen dadurch erträglich gemacht wird, dass seine kluge Tochter Kleobuline so positiv auf ihn einwirke, dass er weniger hart mit seinen Untertanen umgehe.63                                                              Lamprias nur fünf Weise anerkennt, Plutarch selber im Gastmahl aber es bei der gewöhnlichen Sieben gelassen hatte […].“ MORESCHINI (1997) 128, Anm. 34 geht ebenfalls davon aus, dass Plutarch Lamprias möglicherweise einen auf fünf Mitglieder reduzierten Katalog der Weisen vortragen lässt, um ihn bei dieser Gelegenheit als falsch zu erweisen: „Forse Plutarco vuole respingere, per mezzo della confutazione del proprio fratello, una interpretazione della „E“ che egli sapeva che circolava ai suoi tempi, o, eventualmente, un elenco dei Sette Sapienti, diverso da quello che lui stesso credeva valido.“ 60 Ein Treffen der Sieben Weisen bei Periander scheint Traditionsgut zu sein, wird es doch auch Sol. 4 und D.L. 1, 40 erwähnt. Auch an der eben erwähnten Stelle der Solonvita wird Periander deutlich von den Sieben Weisen geschieden: γενέσθαι δὲ μετ᾿ ἀλλήλων ἔν τε Δελφοῖς ὁμοῦ λέγονται καὶ πάλιν ἐν Κορίνθῳ, Περιάνδρου σύλλογόν τινα κοινὸν αὐτῶν καὶ συμπόσιον κατασκευάσαντος. 61 Sept. sap. conv. 2, 147C διὸ καὶ Σόλωνα σοφώτατον ἡγησάμην οὐ δεξάμενον τυραννεῖν. 62 Sept. sap. conv. 2, 147C Περίανδρος δ᾿ ἔοικεν ὥσπερ ἐν νοσήματι πατρῴῳ τῇ τυραννίδι κατειλημμένος οὐ φαύλως ἐξαναφέρειν χρώμενος ὁμιλίαις ὑγιειναῖς ἄχρι γε νῦν καὶ συνουσίαις ἀνδρῶν νοῦν ἐχόντων ἐπαγόμενος κτλ. 63 Sept. sap. conv. 3, 148D ἀλλὰ καὶ φρόνημα θαυμαστὸν καὶ νοῦς ἔνεστι [sc. τῇ Κλεοβουλίνῃ] πολιτικὸς καὶ φιλάνθρωπον ἦθος, καὶ τὸν πατέρα τοῖς πολίταις πραότερον ἄρχοντα παρέχει καὶ δημοτικώτερον. Vgl. LO CASCIO (1997) 49 über Kleobulos: „Nel SSC è presentato come un tiranno reso moderato dai saggi consigli della figlia (148D). Ciò

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III. Hauptgespräch

Diese gemeinsame Tendenz der Lampriasrede in De E apud Delphos und der Charakteristiken des Periander und des Kleobulos im Septem Sapientium convivium ist für Verständnis und Würdigung der Lampriasrede bislang nicht fruchtbar gemacht, wohl aber von DEFRADAS, dem Kommentator des Septem Sapientium convivium, zurecht als ganz plutarchisch anerkannt worden,64 und so besteht schon anhand der Ausgangsthese des Lamprias kein Grund, den Inhalt dieser Rede und den in ihr enthaltenen Lösungsvorschlag nicht ernstzunehmen und nicht als themenspezifische Aktualisierung von Plutarchs Repertoire zu verstehen. Das gleiche Gestaltungsprinzip lässt sich auch für den zweiten Abschnitt von Lamprias’ Rede nachweisen, in dem die ursprüngliche Fünfzahl der Weisen zum Motiv für die Weihung des E erklärt wird. Nach Lamprias hätten es die Weisen nicht gewagt, öffentlich gegen den Anspruch der „falschen“ Weisen Periander und Kleobulos zu protestieren, da sie sich vor Repressalien fürchten mussten,65 und hätten stattdessen durch die Weihung des ihre wahre Fünfzahl bezeugenden E zumindest Apollon zum Zeugen ihrer Integrität angerufen. Plutarch lässt Lamprias hier das Motiv der Schutzfunktion variieren, die Apollon für die ihm in der Verkündung der Wahrheit dienenden Menschen angesichts deren potenzieller Bedrohung durch mächtige Konsultanten des delphischen Heiligtums wahrnimmt, ein Motiv, das er in De Pythiae oraculis weiter ausführt: Dort (26, 407CE) erklärt Theon das Vorherrschen der poetischen und dadurch rätselhaft-undurchsichtigen Form der Orakel in früheren Zeiten der griechischen Geschichte unter anderem damit, dass sich damals nicht Durchschnittsmenschen mit banalen Alltagsfragen an den Gott wandten, sondern „mächtige Städte, Könige und hochfahrende Tyrannen“, und so die Gefahr bestand, dass sich das Tempelpersonal im Falle einer für die Ratsuchenden unangenehmen Antwort des Gottes deren Hass zuzog und seinen Dienst an dem Gott übel zu büßen hatte.66 Entsprechend gab Apollon, so Theon, „dessen Pflicht es war, sich                                                              sembra sufficiente a giustificare la paradossale presenza di un tiranno nella cerchia dei Sette Sapienti.“ 64 Vgl. DEFRADAS (1985) 181 „Plutarque n’a jamais admis Périandre dans le groupe des Sept Sages. Se faisant l’écho d’une tradition sur l’origine des maximes delphiques, dans son traité De E delphico (385D), il réduit à cinq le nombre des Sages et ne veut y comprendre ni Cléoboulos, tyran de Lindos, ni Périandre: méfiance à l’égard de la tyrannie, héritée de Platon et peut-être des milieux delphiques, qui s’exprime aussi dans le Banquet des Sept Sages.“ Vgl. ibid. 184 „Cet effacement de Cléoboulos, qui était un tyran, irait bien avec le texte du De E delphico (385E), où Plutarque le rejetait avec Périandre du cercle des Sages.“ 65 De E 3, 385E δυσχεράναντας ἄρα τοὺς ἄνδρας ἐξελέγχειν μὲν οὐκ ἐθέλειν τὴν ἀλαζονείαν οὐδὲ φανερῶς ὑπὲρ δόξης ἀπεχθάνεσθαι καὶ διαμάχεσθαι πρὸς ἀνθρώπους μέγα δυναμένους κτλ. 66 De Pyth. or. 26, 407C–E οὐ γὰρ ὁ δεῖνα μὰ Δία κατέβαινε περὶ ὠνῆς ἀνδραπόδου χρησόμενος οὐδ᾿ ὁ δεῖνα περὶ ἐργασίας, ἀλλὰ πόλεις μέγα δυνάμεναι καὶ βασιλεῖς καὶ

2. Die Rede des Lamprias

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um seine sterblichen Diener und Propheten zu kümmern und sie zu beschützen, damit sie nicht in ihrem Dienst für den Gott durch verdorbene Menschen umkämen“, seine Sprüche damals in einer poetisch-verklausulierten Form, die zwar die Wahrheit enthielten, jedoch nicht gleich auf den ersten Blick Anstoß erregen konnten.67 Nach Plutarchs Konzeption des Apollon in De E apud Delphos, sowohl in seinem extradialogischen Proömium als auch in Ammonios’ Vorrede, stehen die legendären Weisen in einem ähnlichen Verhältnis zu dem Gott wie das Tempelpersonal in De Pythiae oraculis: Die einen wie die anderen dienen dem Gott, als Vermittler seiner autoritativen Problemlösungen die Propheten, als von Apollon zum Philosophieren inspirierte Denker die Weisen. So ist der von Lamprias vorgetragene Gedanke, dass die fünf Weisen ihren Anspruch auf den Titel σοφός, den sie gegen dessen Usurpatoren nicht durchsetzen können, bei dem Gott selbst geltend machen, indem sie durch die Weihung des E gegenüber ihm ein Zeugnis ihrer wahren Anzahl ablegen, im Grunde nichts anderes als die Umkehrung des Kommunikationsweges zwischen Gott und Mensch vermittels rätselhafter Ausdrucksweise in De Pythiae oraculis: Wie dort der Gott seine Diener durch die Rätselhaftigkeit seiner Sprüche schützt, nutzen die Weisen im ersten Lösungsvorschlag von De E apud Delphos das Mittel der Kodierung für ihre Hinwendung an den Gott, der, wie es wenig später Theon in seiner Rede formuliert, nicht nur Rätsel stellen kann, sondern auch solche zu lösen, mithin das heikle Anliegen seiner Adepten recht zu interpretieren versteht: Τοῦ γὰρ αὐτοῦ δήπουθέν ἐστι καὶ λύειν καὶ ποιεῖν ἀμφιβολίας (De E 6, 386E). Lamprias schließt seine Ausführungen mit der Bemerkung, seine These einer Weihung des E durch die Weisen werde auch dadurch gestützt, dass von den drei E-Zeichen, die es in Delphi gebe, das älteste als das der Weisen bezeichnet werde. Es kann kein Zweifel bestehen, dass Plutarch in diesen Passus von Lamprias’ Rede sein persönliches Wissen als langjähriger Kenner des Heiligtums eingeflochten hat, denn die Erwähnung von mehreren EAnathemen, deren Weihung bestimmten Personen – neben den Weisen noch den Athenern und der Livia Augusta – zugeschrieben werden, ist kaum als ein allein für Lamprias’ Argumentationsgang erfundenes Faktum ohne Entsprechung in der Wirklichkeit denkbar, und so haben moderne Erklärer                                                              τύραννοι μέτριον οὐδὲν φρονοῦντες ἐνετύγχανον τῷ θεῷ περὶ πραγμάτων , οὓς ἀνιᾶν καὶ παροξύνειν ἀπεχθείᾳ πολλὰ τῶν ἀβουλήτων ἀκούοντας οὐκ ἐλυσιτέλει τοῖς περὶ τὸ χρηστήριον. 67 De Pyth. or. 26, 407DE χρώμενος δὲ [sc. ὁ θεὸς] θνητοῖς ὑπηρέταις καὶ προφήταις, ὧν κήδεσθαι προσήκει καὶ φυλάττειν, ὅπως ὑπ᾿ ἀνθρώπων οὐκ ἀπολοῦνται πονηρῶν θεῷ λατρεύοντες, ἀφανίζειν μὲν οὐ θέλων τὸ ἀληθές, παρατρέπων δὲ τὴν δήλωσιν αὐτοῦ καθάπερ αὐγὴν ἐν τῇ ποιητικῇ πολλὰς ἀνακλάσεις λαμβάνουσαν καὶ πολλαχοῦ περισχιζομένην, ἀφῄρει τὸ ἀντίτυπον αὐτοῦ καὶ σκληρόν.

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III. Hauptgespräch

des E diese Information Plutarchs immer wieder ernst genommen.68 Zudem macht Plutarch innerhalb von De E apud Delphos noch an anderer Stelle den Umstand, dass es am Apollonheiligtum von Delphi offenbar mehrere E-Zeichen zu sehen gab, interpretatorisch für die Argumentation eines weiteren Lösungsansatzes fruchtbar: In der Rede, die er später ‚Plutarch‘ über die umfassende Bedeutung der Zahl Fünf halten lässt, stellt er zwischen Platons Lehre von den fünf μέγιστα γένη aus dem Sophistes und der im Philebos vorgenommenen fünffachen Einteilung des Seienden einen Zusammenhang her, indem er aufzuzeigen versucht, dass die Elemente der einen Reihe von Seinsgründen denjenigen der anderen Reihe entsprechen.69 Da es Plutarch hier darauf ankommt, zu insinuieren, dass sich in dem geweihten E als Zeichen für die Zahl Fünf die Lehre von den platonischen Seinsgründen verbirgt, die bereits vor Platon erkannt worden sei, rekurriert er abschließend auf die Weihung selbst, in der sich die Entsprechung der Sophistes- mit der Philebos-Einteilung ausdrücke: „Jemand hat dies vor Platon erkannt und aus diesem Grund dem Gott zwei E-Zeichen geweiht.“70 Somit baut auch der letzte Abschnitt von Lamprias’ Rede durchaus auf Vorstellungen auf, die Plutarch auch an anderer Stelle zum Ausdruck bringt. In Lamprias’ Deutung verbindet sich demnach der Gedanke einer philosophisch-ethischen Fundierung des Titels eines Weisen mit der Vorstellung, dass Apollon diesen Ruf seiner Anhänger, der ja auch auf ihn selbst zurückstrahlt, gegen Missbrauch schützt, und stellt so gleich zu Beginn der Erörterung der Bedeutung des E eine vollkommen geschlossene Interpretation dar, die in der Linie von Plutarchs andernorts geäußerten Gedanken über die Weisen selbst, ihre Relation zu Apollon und Apollons Verhältnis zu seinen Dienern steht. Nicht zuletzt Lamprias’ Schlusswort, das E sei eine gemeinsame Weihung aller Weisen, enthält ein wesentliches Postulat aus Plutarchs extradialogischem Proömium, in dem das E als die gemeinsame Weihung der delphischen Urphilosophen bezeichnet wird. Der Beitrag ist mithin als erste Schöpfung aus Plutarchs Repertoire einzustufen, der seine Beschäftigung mit der nicht unproblematischen Tradition von den Sieben Weisen und der Geschichte des delphischen Heiligtums elegant in einen Lösungsversuch des E transformiert.

                                                             68 Vgl. z.B. SCHULTZ (1866) 199f.; ROSCHER (1901a) 83f.; BERMAN – LOSADA (1975) 115f.; GUARDUCCI (1976) 11f. 69 Vgl. De E 15, 390B–C. 70 De E 15, 391C †φησὶ δή τις ταῦτα πρότερος συνιδὼν Πλάτωνος δύο Ε καθιερώσας τῷ θεῷ κτλ.

3. Die Reaktion des Ammonios auf Lamprias

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3. Die Reaktion des Ammonios auf Lampriasʼ Beitrag Erst im Lichte einer gründlichen Analyse des ersten Lösungsversuches der Bedeutung des E, wie sie vorstehend unter Einbeziehung einschlägiger Informationen aus Plutarchs sonstigem Werk mit dem Ziel versucht wurde, Lampriasʼ Rede als erste Aktualisierung von Plutarchs schriftstellerischphilosophischem Repertoire zu begreifen, ist eine differenzierte Deutung der ersten Reaktion auf Lampriasʼ Worte möglich, die Plutarch Ammonios äußern lässt. Dieser, so Plutarch, habe still gelächelt, da er den Verdacht gehegt habe, Lamprias habe eigentlich eine eigene Meinung (ἰδία δόξα) vorgebracht und lediglich fingiert, den Inhalt seiner Rede von anderen gehört zu haben, um für diesen nicht geradestehen zu müssen.71 In der Forschung wird dieser Bericht von Ammonios Reaktion auf Lampriasʼ Ausführungen in der Regel als erste Kritik dieses Lösungsvorschlages verstanden und mit den weiteren, zweifellos kritischen Einwürfen eines anonymen Gesprächsteilnehmers und des delphischen Priesters Nikandros verbunden.72 Plutarch gäbe somit, wollte man sich dem gängigen Urteil anschließen, einen Hinweis darauf, dass er selbst Lampriasʼ Deutung für inadäquat halte, und bediene sich hierfür zunächst der Autorität des Ammonios, um dann, nach der kurzen Erwähnung der Kritik des anonymen Gesprächsteilnehmers, in Gestalt des Redebeitrages des Priesters Nikandros eine Lampriasʼ Deutung überlegene Erklärung des E zu präsentieren. Wie ausführlich dargelegt, lässt sich freilich genauso wenig eine plausibler Grund für die Annahme finden, dass Plutarch Lampriasʼ Beitrag in irgendeiner Form von sich aus als unbrauchbar oder kritikwürdig markiert hätte, wie eine Reaktion des Ammonios auf den ersten Lösungsversuch der von ihm selbst angeregten Debatte eine herbe Kritik erwarten lassen dürfte. So muss Ammoniosʼ Reaktion genau untersucht werden, bevor entschieden werden kann, ob Plutarch tatsächlich den Eindruck erwecken will, dass er durch den Mund des Conférenciers des Dialogs zugleich den ersten Gesprächsbeitrag abwerten und Ammonios selbst mit den dann auftretenden Kritikern der Lampriasrede paktieren lassen will.                                                             

71 De E 4, 386A ὁ μὲν οὖν Ἀμμώνιος ἡσυχῆ διεμειδίασεν, ὑπονοήσας ἰδίᾳ τὸν Λαμπρίαν δόξῃ κεχρῆσθαι, πλάττεσθαι δ᾿ ἱστορίαν καὶ ἀκοὴν ἑτέρων πρὸς τὸ ἀνυπεύθυνον. Vgl. Lamprias’ zweimaligen Hinweis auf seine Quellen zu Beginn und am Ende seines Beitrages De E 3, 385D ὃν ἡμεῖς ἀκηκόαμεν λόγον und 385F γνοίη τις ἂν ἀκούσας τῶν κατὰ τὸ ἱερόν. 72 KAHLE (1912) 33f. „Etsi Lamprias quasi testimonia sententiae profert […] tamen Plutarchus id efficit, ne nimis multum fidei ei habeatur cum et antea Ammonius humiles eiusmodi sententias probari non posse ostenderit et postea ex amicorum verbis animorumque motibus cognosci possit, quid de Lampriae sententia iudicent. Ammonius subridet, amicus quidam et sacerdotes redarguunt eum (cap. 4).“

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III. Hauptgespräch

Technisch gesehen handelt es sich bei Ammoniosʼ Reaktion um einen auktorialen Einschub des Erzählers Plutarch, der dem Leser Sarapion von einem stillen Lächeln des Ammonios berichtet (ἡσυχῆ διεμειδίασεν), das dieser offenbar bereits im Verlauf von Lampriasʼ Ausführungen aufgesetzt hatte. Zugleich behält sich Plutarch als Dialogerzähler die Erklärung der Ursachen dieses Lächelns vor, indem er sie selbst Sarapion gegenüber liefert, nicht jedoch Ammonios zu der versammelten Gruppe sprechen lässt. Ob und inwiefern die Gruppe Ammoniosʼ mimische Reaktion überhaupt wahrnimmt, bleibt vollständig offen. Somit ist zunächst deutlich, dass das Lächeln des Ammonios von Plutarch nicht als Intervention auf der Ebene des Dialoges im Sinne einer offenen Kritik an Lamprias, sondern allein als Information des Lesers konzipiert ist. Diese Information, die Plutarch dem Leser geben will, wird gemeinhin so verstanden, dass sich Ammoniosʼ Lächeln auf den Inhalt von Lamprias’ Lösungsversuch beziehe, den Ammonios aus dem Grund nicht ernst nehme,73 weil er die darin präsentierte Lösung für erfunden halte und zugleich Lamprias’ Berufung auf das Hörensagen als rhetorischen Trick durchschaue.74 Bei näherem Hinsehen wird freilich deutlich, dass es keineswegs der Inhalt der „eigenen Meinung“ (ἰδία δόξα) ist, die Lamprias unter dem Deckmantel des Hörensagens vorträgt, geschweige denn überhaupt die Äußerung einer solchen „eigenen Meinung“ zur Frage des E, die Ammoniosʼ Lächeln motiviert, sondern allein seine rhetorische Strategie, einen selbsterdachten Lösungsansatz durch die Fiktion des relata refero jeder Kritik zu überheben. Dies erhellt bereits daraus, dass Plutarch andernfalls auf eine konsistente Charakterzeichnung des Ammonios, der ja in seinem Vorwort ausdrücklich zu individuellen Lösungsversuchen des E aufgefordert hatte, vollständig verzichtet hätte, lässt sich                                                              73

Vgl. HIRZEL (1895) 200; MORESCHINI (1997) 46. Vgl. HARTMANN (1916) 165f. „Cur leniter subridet Ammonius? Delectatur, ut opinor, adolescentulo lepide historiolas fingente, sed urbane simul significat se istud αἰτιολογίας artificium haud magni facere, poetarum enim illud esse non philosophorum. Cum Platone enim suo magister Plutarchi monet: „poeticis figmentis delectentur pueri et adolescentuli, adultos philosophia et vera doctrina decet.““ ZIEGLER (1951) 827 „Das wird als bloßer Einfall gekennzeichnet.“ DEL CORNO (1983) 48 „[…] alla sua [sc. Lamprias’, Anm. d. Verf.] fama di fantasioso inventore di arguzie si riferisce Ammonio, nell’accusarlo con un sorriso di avere inventato tutta una storia sulla misteriosa lettera, attribuendola poi a inesistenti mallevadori.“ BABUT (1992) 195 „Mais surtout, elle est rejetée par Ammonios. Celui-ci l’acueille d’abord avec le tranquille sourire (386A5), qui est comme la marque de la supériorité du vrai philosophe, et il exprime le soupçon que Lamprias serait l’inventeur de cette explication, même s’il l’a imputée à d’autres pour ne pas en prendre la responsabilité (386A5–7).“ FERRARI (1995) 41 „Il contenuto di questa risposta viene svalutato in modo implicito attraverso la sua attribuzione, ad opera di Ammonio, a Lampria stesso il quale non sarebbe quindi un semplice espositore.“ Vgl. auch jetzt FERRARI (2010) 75. SFAMENI GASPARRO (1996) 176 „Questa esegesi, rifiutata con benevola ironia da Ammonio che la giudica un’invenzione […].“ 74

3. Die Reaktion des Ammonios auf Lamprias

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doch ein σκοπεῖν τι καὶ ἀκούειν καὶ διαλέγεσθαι über das E75 kaum anders als in Gestalt des Austausches von ἰδίαι δόξαι der Gesprächspartner praktizieren. Instruktiv ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf eine Passage von De defectu oraculorum, in der sich Ammonios und Lamprias angesichts der ἀπορία, die die dort verhandelte Frage nach der Anzahl der Kosmoi darstellt, gerade auch darüber unterhalten, ob es sinnvoller sei, nur die Theorien anderer zu referieren oder eigene Lösungsversuche zu unternehmen: Am Ende einer ausführlichen Kritik der von Lamprias referierten Theorie des Theodoros von Soloi, der eine Fünfzahl von Kosmoi aus der Anzahl der platonischen Körper herleiten will, stellt Ammonios Lamprias vor die Wahl, entweder die Theorie des Theodoros weiter zu verteidigen oder einen eigenen Beitrag (ἴδιόν τι) zum Problem zu liefern.76 Lamprias entscheidet sich für letzteres, denn er sieht sich nicht in der Lage, Ammonios’ Einwände gegen Theodoros zu entkräften, und will sich lieber der Kritik stellen, die seine eigene Meinung zu dem Problem, die er sich zu präsentieren anschickt, womöglich auf sich zieht: βέλτιον δ᾿ ἴσως ἐστὶν ἰδίας εὐθύνας ὑπέχειν δόξης ἢ ἀλλοτρίας.77 An dieser Stelle besteht kein Zweifel, dass das Vorbringen einer eigenen Meinung zum Diskussionsgegenstand nicht nur nicht von Ammonios kritisiert, sondern nachgerade gefordert wird, und wenn Lamprias sein eigenes Plädoyer für die Fünfzahl der Kosmoi mit den Worten beschließt, er habe es „für Ammonios“ (δι᾿ Ἀμμώνιον) vorgebracht,78 so kann dies als weiteres Indiz dafür gelten, dass Ammonios’ Lächeln in De E apud Delphos sich nur auf Lamprias’ Erfindung von Gewährsmännern, nicht jedoch auf den Inhalt des von ihm Gesagten bezieht, kommt Lamprias doch mit seiner ἰδία δόξα ausdrücklich Ammonios’ anfänglichen Gesprächseinladung nach. Wie sehr mithin Plutarchs auktorialer Einschub allein auf die Aufmerksamkeit des Lesers der ‚Pythischen Dialoge‘ hin kalkuliert ist, zeigt sich gerade an der intertextuellen Beziehung beider Lampriaspassagen in De E apud Delphos und in De defectu oraculorum: Der Lamprias des letztgenannten Textes, den man sich sichtlich älter als denjenigen von De E apud Delphos vorzustellen hat, da er dort zugleich Erzähler und dominierender Dialogsprecher ist, hat die rhetorischen Tricks seines jugendlichen Pendants in De E apud Delphos nicht mehr nötig und versucht nicht, einer Kritik seiner eigenen Meinung (in beiden Texten ἰδία δόξα) zu entgehen (De E 4, 386A πρὸς τὸ ἀνυπεύθυνον), sondern stellt sich einer solchen selbstbewusst                                                             

Vgl. De E 2, 385D. De def. or. 33, 428B ὥστ᾿ ἅμα γελῶν ὁ Ἀμμώνιος εἶπεν ἢ ταῦτά σοι διαλυτέον ἢ ἴδιόν τι λεκτέον περὶ τῆς κοινῆς ἀπορίας. 77 De def. or. 34, 428B. 78 De def. or. 37, 430E. 75 76

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III. Hauptgespräch

(De def. or. 34, 428B εὐθύνας ὑπέχειν). Ammoniosʼ Lächeln, von dem Plutarch dem Leser berichtet und ihn über dessen Grund informiert, stellt mithin keineswegs eine auktoriale Distanzierung Plutarchs von Lampriasʼ Lösungsversuch dar, sondern dient wesentlich sowohl der Charakterzeichnung des Ammonios wie des Lamprias: Ersterer kennt, so soll der Leser wissen, offenbar seinen Eleven und dessen Freude am rhetorischen Versteckspiel zu gut, als dass dieser ihn damit hinters Licht führen könnte, letzterer hat in der Tat einen ganz eigenen Lösungsversuch für die Bedeutung des E im Sinne einer individuellen philosophischen Betätigung als Reaktion auf das Rätsel des E geleistet, wenn er auch die übrigen Zuhörer – zu denen auch der Leser zählen würde, wäre er nicht von Plutarch eines Besseren belehrt – mit seiner rhetorisch motivierten Berufung auf die delphische Lokaltradition besonders zu beeindrucken versucht. Freilich erschöpft sich die Funktion des auktorialen Berichtes von Ammoniosʼ Lächeln keineswegs in der Ethopoiie der betroffenen Dialogfiguren. Vielmehr liegt der wesentliche Sinn des kurzen Einschubs darin, dem Leser einen Informationsvorsprung vor den am Dialog teilnehmenden Figuren zu geben, der ihn erst in die Lage versetzt, die beiden nun folgenden, gegen Lamprias gerichteten Interventionen des anonymen Gesprächsteilnehmers und des Priesters Nikandros recht würdigen zu können. Denn der weitere Verlauf des Gesprächs zeigt sowohl in Gestalt der anschließenden Tirade des anonymen Sprechers als auch des Lehrvortrags des delphischen Priesters Nikandros, dass Lamprias mit seiner rhetorischen Strategie, eigene Gedanken durch Berufung auf die Autorität delphischen Traditionsgutes vor Kritik zu bewahren, das genaue Gegenteil dessen erreicht, was er nach Ammonios’ nur dem Leser mitgeteilter Einschätzung bezweckt hatte: Da er sich einerseits nicht mit seiner ganzen Person hinter die von ihm vertretene Meinung stellt, kann der unmittelbar nach ihm das Wort ergreifende Gesprächspartner, ohne gegen die Gesprächsetikette zu verstoßen, in besonders rüder Weise Lamprias’ Lösungsvorschlag durch einen Vergleich mit dem „Geschwätz“ eines Chaldäers, der sich jüngst ebenfalls zur Frage nach der Bedeutung des E geäußert hatte, diskreditieren; so handelt sich Lamprias die εὔθυνα, die er gerade vermeiden wollte, in besonders harter Form ein. Andererseits zieht Lamprias durch seine Berufung auf angeblich von den delphischen Autoritäten verbreitete Informationen79 zusätzlich den Protest eben dieser Autoritäten auf sich,80 für die im Anschluss an den anonymen Gesprächsteilnehmer der Priester Nikandros das Wort führt; so verkehrt sich auch in dieser Hinsicht Lamprias’ Absicht in ihr Gegenteil, die eigenen                                                             

De E 3, 385F γνοίη τις ἂν ἀκούσας τῶν κατὰ τὸ ἱερόν. Vgl. De E 4, 386B ὁ δὲ Λαμπρίας ἔλαθεν, ὡς ἔοικε, τοὺς ἀφ᾿ ἱεροῦ κινήσας ἐπὶ τὸν αὑτοῦ λόγον. ἃ μὲν γὰρ ἐκεῖνος εἶπεν, οὐδεὶς ἐγίγνωσκε Δελφῶν. 79 80

3. Die Reaktion des Ammonios auf Lamprias

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Gedanken durch Berufung auf andere unangreifbar zu machen, denn gerade sie führt zu einer Attacke der unfreiwilligen Gewährsmänner. Es ist somit die Gesprächsdynamik, auf die Plutarch den Leser durch den auktorialen Kommentar über Ammonios’ Reaktion auf Lamprias’ Beitrag vorbereitet, denn Lamprias selbst und die übrigen Gesprächsteilnehmer können allenfalls das Lächeln des Ammonios wahrnehmen, während Plutarch allein den Leser über die Bedeutung desselben aufklärt. Dabei stellt Plutarchs auktoriale Mitteilung über das Motiv für Ammoniosʼ Lächeln dramaturgisch eine Art a-parte-Reden des Ammonios dar, das nur dem Leser als dem Zuschauer des Dialoges die Strategie des Lamprias offenlegt, während die folgenden kritischen Gesprächsteilnehmer dieses Wissen nicht teilen. Mit der Gewährung dieses Informationsvorsprunges steuert Plutarch bewusst die Rezeptionshaltung des Lesers hinsichtlich der folgenden Reaktionen auf Lampriasʼ Ausführungen, denn diese sollen offensichtlich nicht als implizite Kritik des Autors Plutarch an dem Lösungsversuch des Lamprias missverstanden werden, sondern als durchaus komisches Scheitern der gewitzten rhetorischen Strategie des ersten Redners, durch das freilich auch auf die Darstellung der Kritiker selbst ein ironisches Licht fällt, da diese ja ihre Angriffe gegen Aspekte von Lamprias’ Lösungsansatz richten, die den Kern von dessen Ausführungen überhaupt nicht berühren.

4. Das Referat einer ‚chaldäischen‘ Deutung des E durch einen anonymen Gesprächspartner Plutarch hat die beiden Kritiker des Lamprias deutlich von den übrigen Figuren geschieden, die im Dialog das Wort ergreifen, denn weder der anonyme Gesprächsteilnehmer noch Nikandros gehören offenbar zum engeren Kreis derer, an die Ammonios seine methodischen Einführungsworte im intradialogischen Proömium richtet. Dies erhellt daraus, dass Lampriasʼ erster Kritiker überhaupt keinen Namen erhält – er heißt lediglich ἕτερος δέ τις τῶν παρόντων (De E 4, 386A) – und Nikandros als Lokalautorität ohnehin nicht zu der Gruppe philosophisch interessierter Delphibesucher zu zählen ist, die sich gemeinsam mit Ammonios um eine Deutung des E bemühen; er fungiert nach Plutarchs Darstellung allein als Sprecher der offiziellen Vertreter des delphischen Heiligtums.81 Mit dieser Beobachtung korrespondiert Plutarchs persönliche Vorstellung derjenigen Dialogfiguren, die vor dem anonymen Gesprächsteilnehmer und nach Nikandros auftreten: Lamprias wird, wie erwähnt, mit ὁ ἀδελφός eingeführt, Theon sogar                                                             

Vgl. den Eingang seiner Rede De E 5, 386B ἔστι γάρ, ὡς ὑπολαμβάνουσι Δελφοὶ καὶ τότε προηγορῶν ἔλεγε Νίκανδρος ὁ ἱερεύς κτλ. 81

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III. Hauptgespräch

gegenüber Sarapion mit den vertraulichen Worten οἶσθα γὰρ δὴ Θέωνα τὸν ἑταῖρον (De E 6, 386D) gewürdigt. Bereits dieser bedeutende Unterschied in der Art der Präsentation der ersten vier Gesprächsteilnehmer, die sich zur Frage nach der Bedeutung des E äußern, lässt Zweifel an der universellen Gültigkeit von BABUTs wirkungsmächtiger Theorie eines strikten ordre ascendant82 in De E apud Delphos berechtigt erscheinen. Viel eher ist bereits nach dem ersten Gesprächsbeitrag des Lamprias eine Umkehrung im Sinne eines regelrechten ordre descendant zu konstatieren, der erst wieder mit dem Auftritt des Theon die Richtung wechselt. Denn was die beiden Kritiker des Lamprias – abgesehen von der neutral-nüchternen Art ihrer Einführung durch Plutarch und ihrer Nichtzugehörigkeit zum Kreis der philosophisch inspirierten Delphibesucher um Ammonios – besonders auszeichnet, ist die ausgesprochene Destruktivität des anonymen Gesprächsteilnehmers einerseits, andererseits Nikandrosʼ stures Beharren auf einer Art Herrschaftswissen, mithin jeweils Ausprägungen eines Gesprächsverhaltens, das mit Ammoniosʼ Preis apollinisch-aporetisch inspirierter Delphibesucher ὅταν ἐνεργῶσι καὶ ἀπολαύωσι χρώμενοι τῷ φιλοσοφεῖν πρὸς ἀλλήλους (De E 2, 385C) oder der Betonung des Reizes, der von den Rätseln der delphischen Kultsphäre πρὸς τὸ σκοπεῖν τι καὶ ἀκούειν καὶ διαλέγεσθαι περὶ αὐτῶν (De E 2, 385D) ausgeht, kaum etwas zu tun hat. Den kurzen Auftritt von Lampriasʼ erstem, anonymem Kritiker, hat Plutarch als eine Art rüden Zwischenruf gestaltet. Offenbar Lampriasʼ rhetorischem Trick aufgesessen, seine eigenen Gedanken zur Bedeutung des E als delphisches Traditionsgut auszugeben, attackiert der Namenlose Lampriasʼ Ausführungen mit einem abfälligen Vergleich: Der Lösungsvorschlag ähnele dem, „was der chaldäische Besucher kürzlich dahergeschwätzt“ habe.83 Dieser – offenbar ein Astrologe – hatte folgende Deutung des E vertreten: Wie das E in der Vokalreihe den zweiten Platz einnehme, so folge die Sonne in der – von der Erde aus gezählten – Reihenfolge der Himmelskörper an zweiter Stelle hinter dem Mond und werde nachgerade von allen Griechen mit Apollon identifiziert.84 Derartige Analogieverfahren (ταυτί) seien freilich nach dem abschließenden Verdikt des Sprechers als ἐκ πίνακος καὶ πυλαίας, mithin als billige Schaustellertricks, anzusehen.85                                                              82

Vgl. dazu oben, S. 12 mit Anm. 23. De E 4, 386A ὡς ὅμοια ταῦτ’ ἐστὶν οἷς πρῴην ὁ Χαλδαῖος ἐφλυάρει ξένος. 84 De E 4, 386AB εἶναι δὲ τῇ τάξει δεύτερον τό τ᾿ εἶ τῶν φωνηέντων ἀπ᾿ ἀρχῆς καὶ τὸν ἥλιον ἀπὸ σελήνης τῶν πλανήτων· ἡλίῳ δ᾿ Ἀπόλλωνα τὸν αὐτὸν ὡς ἔπος εἰπεῖν πάντας Ἕλληνας νομίζειν. 85 Die Formulierung ἐκ πίνακος καὶ πυλαίας findet sich so nur an dieser Stelle. Die Bedeutung von πύλαια als „loci nomen ante portam“, der bisweilen auch auf unseriöse Personen (Bettler, Traumdeuter etc.), die sich vor den Stadttoren aufhalten, bzw. auf deren Praktiken übertragen wird, erklärt zufriedenstellend NABER (1900) 135–138 auch aus 83

4. Die Rede des Anonymus

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Worin der genaue Vergleichspunkt zwischen der Deutung des Lamprias und der des chaldäischen Delphibesuchers liegt, ist zunächst etwas unklar, da sich der Namenlose keineswegs inhaltlich mit Lampriasʼ Lösungsvorschlag auseinandersetzt. Was er sich vielmehr aus Lampriasʼ Ausführungen gemerkt hat und durch den Chaldäervergleich zu diskreditieren versucht, ist ein bezeichnender Weise erneut stark rhetorisches Element, das für den eigentlichen Inhalt des Lösungsversuches nichts austrägt, jedoch den herabsetzenden Vergleich erst ermöglicht: Lamprias hatte die Weihung des E als des Zahlzeichens für die Fünf mit der Formulierung ἀναθεῖναι τῶν γραμμάτων, ὃ τῇ τε τάξει πέμπτον ἐστὶ καὶ τοῦ ἀριθμοῦ τὰ πέντε δηλοῖ (De E 3, 385F) eingeführt und damit eine etwas umständlich-pleonastische Erklärung dafür geliefert, warum der Buchstabe E überhaupt als Zahlzeichen für die Fünf verwendet wird.86 Dem anonymen Gesprächsteilnehmer bietet erst                                                              Belegstellen bei Plutarch. Seine Deutung des πίναξ, es handle sich hier um eine Bildtafel, wie sie von echten Krüppeln oder ein körperliches Gebrechen nur fingierenden Bettlern benutzt werde, die das Zustandekommen ihrer Versehrung mitleiderregend darstelle (wofür NABER, ibid. 135, Comp. Arist. et Cat. Ma. 3, 5 ἀγυρτικοὺς πίνακας und Adv. Col. 3, 1108D ὥσπερ ἀγορὰν ἢ πίνακα τεράτων heranzieht), bzw. um graphische Hilfsmittel von Traumdeutern (NABER, ibid. 135 verweist auf Arist. 27, 4 ἐκ πινακίου τινὸς ὀνειροκριτικοῦ), wodurch ἐκ πίνακος auf die Unwahrheit bzw. Erfundenheit des Dargestellten hinweisen solle, greift wohl zu kurz. Da der Sprecher von „chaldäischen“ Lösungsversuchen spricht, ist bei dem πίναξ weit eher an eine astrologische Sternentafel zu denken, an der sich die Stellung der Sonne als dem zweiten Planeten nach dem Mond aufzeigen ließe. Dazu passt, dass Plutarch Mar. 42, 8 mit διάγραμμα Χαλδαϊκόν ein schriftlich fixiertes Horoskop bezeichnet, auf dem wohl bestimmte Planetenkonstellationen dargestellt waren. Wenn Plutarch wiederum Amat. 13, 757A davon spricht, Ares sei in seiner Wirkung dem Eros diametral entgegengesetzt und dies mit der Darstellung auf einem ehernen πίναξ vergleicht (σκόπει δὲ τὸν Ἄρην καθάπερ ἐν πίνακι χαλκῷ τὴν ἀντικειμένην ἐκ διαμέτρου τῷ Ἔρωτι χώραν ἔχοντι), so könnte dies die Vermutung, der πίναξ an der vorliegenden Stelle sei eine Sternentafel, zusätzlich erhärten. GÖRGEMANNS (2006) 149, Anm. 145 weist auf die in der Kaiserzeit gelegentlich belegte gemeinsame Darstellung von Eros und Ares im Bereich der Kleinkunst hin; häufiger ist jedoch diejenige von Aphrodite und Ares. Sollte nun Plutarch aus verständlichen rhetorischen Gründen Eros an dieser Stelle für Aphrodite eingesetzt haben, könnte er hier auf eine ursprüngliche Darstellung von Aphrodite und Ares anspielen, die gut in einen astrologischen Kontext passt. HÜBNER (2000) 1073 verweist auf die symmetrische Anordnung der Planeten im archimedischen System, die von der antiken Astrologie benutzt wurde, wobei hier Mars und Venus einander (wenn man sich das Schema auf einer Scheibe vorstellt) tatsächlich gegenüberliegen. Der πίναξ, von dem Plutarch an der Amatorius-Stelle spricht, wäre demnach ein astrologischer, der entsprechend auch, freilich mit anderer Planetenabfolge, hinter dem „chaldäischen“ πίναξ in De E apud Delphos stehen könnte. 86 Die Redundanz in dieser Formulierung, durch die der Sprecher (und wohl auch der Autor) mit seinem Bildungsstand renommieren will, hat ihr Pendant gleich zu Beginn der Rede (De E 3, 385D), wo Lamprias die Weisen (τοὺς σοφούς) mit dem unnötigen Zusatz ὑπ᾿ ἐνίων δὲ σοφιστὰς προσαγορευθέντας erwähnt und damit seine gründliche Lektüre

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III. Hauptgespräch

dieser Hinweis auf die τάξις des E im Alphabet die willkommene Gelegenheit, Lampriasʼ Lösungsansatz als ganzen abzuwerten, denn die Lösung des chaldäischen Delphibesuchers stützte sich ebenfalls auf die τάξις des E, freilich in der Reihenfolge der einzelnen Vokale. Dieser Zwischenruf ist somit bei näherem Hinsehen kaum als ernstzunehmende Kritik an Lamprias’ Lösungsversuch aufzufassen, und entsprechend solchen Interpretationen der Stelle zu widersprechen, nach denen Plutarch den Passus in der Absicht eingeschoben habe, dem Leser einen weiteren Hinweis auf die Unrichtigkeit von Lamprias’ Lösungsversuch zu geben.87 Gegen diese Ansicht spricht nicht nur, dass – wie gezeigt – die Kritik des anonymen Gesprächspartners allein an eine nur beiläufige Formulierung des Lamprias anknüpft, sondern vor allem, dass sie einen Aspekt der Rede des Lamprias ins Lächerliche zu ziehen versucht, auf den streng genommen überhaupt keine Deutung des E in De E apud Delphos verzichtet: Die Auflösung des Zeichens in den Buchstaben E (gesprochen ei) oder in die Zahl Fünf, und die Ausarbeitung eines Bezuges zwischen der jeweiligen Auslegung des E und Apollon. Entsprechend gehen im weiteren Verlauf des Gesprächs Nikandros, Theon und Ammonios von dem Buchstaben-, ‚Plutarch‘ sogar erneut vom Zahlenwert des Zeichens aus und argumentieren für die von ihnen gewählte Lösung durch Hinweise auf Verbindungen zwischen Apollon und der jeweiligen Auflösung des E. Da sich schließlich die strukturelle Analogie zwischen Lamprias’ Lösung und dem Chaldäervorschlag, auf die der Namenlose seine Kritik stützt, allein auf die Auflösung des E als des Zahlzeichens für Fünf, nicht aber auf deren inhaltliche Begründung bezieht, hätte der Autor, wenn er den Einwand des Namenlosen als ernsthafte Kritik an Lamprias’ Lösung konzipiert hätte, die umfangreichen Bemühungen, die er später in das Plädoyer des jungen ‚Plutarch‘ zugunsten einer erneuten Auflösung des E als die Zahl Fünf

                                                            

Herodots zur Schau stellt, der Her. 1, 29, 1 Solon zu den πάντες ἐκ τῆς Ἑλλάδος σοφισταί zählt; weitere Belegstellen für den Begriff bei MORESCHINI (1997) 126, Anm. 23. 87 Vgl. KAHLE (1912) 34 „Ammonius subridet, amicus quidam et sacerdotes redarguunt eum (cap. 4). Inde fit, ut ea quae Lamprias per iocum dixit non in serium convertantur neque multo pluris Lampriae opinio aestimetur quam Chaldaei sententia quam amicus ille non nominatus (ἕτερός τις) refert, qui ipse et hanc et eam quam protulerat Lamprias, graviter refutat: „ταυτὶ μὲν παντάπασιν ἐκ πίνακος καὶ πυλαίας.“ Vgl. implizit BABUT (1992) 199f. über den Aufbau von De E apud Delphos „[…] d’une part, il y a bien ici une hiérarchie entre les quatre premiers discours, puisque chacun marque un progrès sur le précèdent; mais d’un autre côté, chacun révèle aussi l’inadéquation de ceux qui le précedent […].“ Vgl. explizit OBSIEGER (2007) 8 „Mit der Deutung des Chaldäers wird zugleich die des Lamprias abgetan.“

4. Die Rede des Anonymus

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investiert, bereits an dieser Stelle im Text als gänzlich überflüssig markiert.88 Der kurze Auftritt des anonymen Gesprächsteilnehmers kann somit am ehesten als von Plutarch bewusst gesetzter negativer Kontrast zu dem philosophischen Stil gelesen werden, den der innere Kreis der Dialogfiguren in De E apud Delphos pflegt und der sich durch die mehrperspektivische Aktualisierung von Plutarchs philosophischem Repertoire auszeichnet: Auf die, wie gezeigt, sehr durchdachte Eröffnungsrede des Lamprias folgt direkt eine ungehobelte Reaktion eines Außenstehenden, die dessen gänzliches Unverständnis und eine sich aus diesem speisende stumpfe Ablehnung jener individuellen philosophischen Suche nach einer Erklärung der ἀπορία des E charakterisiert, ohne den eigentlichen Gehalt von Lampriasʼ Überlegungen auch nur oberflächlich zu berühren. Dies ist freilich nicht die einzige unphilosophische Reaktion auf den ersten philosophischen Redebeitrag in De E apud Delphos, sondern nur die erste Variante der Verkennung des philosophischen Potenzials des delphischen E, das Plutarch im ersten Viertel des Dialogs vorführt. Bevor das Gespräch wieder zu jenem freundschaftlichen Wettbewerb übergeht, den die Gruppe um Ammonios in ihren individuellen Redebeiträgen ausficht, stellt Plutarch in der Gestalt des delphischen Priesters Nikandros, der gleichwohl im Unterschied zu Lampriasʼ erstem Kritiker auch einen positiven Gesprächsbeitrag leistet, noch eine zweite Ausprägung von Unverständnis und Desinteresse an einem echten philosophischen Gespräch dar.

5. Die Rede des Nikandros: Die Kommunikation mit dem Orakelgott Noch bevor Plutarch Nikandros selbst das Wort ergreifen lässt, informiert er den Leser über die Motive des nächsten Gesprächsbeitrages zur Lösung des delphischen E. In einem auktorialen Kommentar hebt Plutarch sogleich ironisch den nachgerade gefährlichen Leichtsinn des Lamprias hervor, sich in Anwesenheit offizieller Repräsentanten des delphischen Heiligtums auf vorgebliche lokale Deutungstraditionen berufen zu haben: Der Gefahr, sich dadurch ungewollte Kritik einzuhandeln, sei sich Lamprias offenbar nicht                                                              88 SFAMENI GASPARRO (1996) 176 weist trotz ihrer Überzeugung, in Ammonios’ Lächeln drücke sich ein Widerspruch des Gesprächsleiters gegenüber Lamprias’ Lösungsversuch aus, auf eine Verbindung zwischen den Reden der Brüder Lamprias und Plutarch hin: „Questa esegesi, rifiutata con benevola ironia da Ammonio che la giudica un’invenzione, tuttavia prepara il terreno a quell’ampia esegesi aritmologica che, dopo l’intervento del sacerdote Nicandro, occuperà uno spazio notevole nell’economia del Dialogo, pur essendo alla fine superata dalla tesi conclusiva dello stesso Ammonio.“

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III. Hauptgespräch

bewusst gewesen,89 „denn“, wie Plutarch bemerkt, „kein Delpher hatte jemals etwas von dem gehört, was Lamprias gesagt hatte.“ Freilich gebe es tatsächlich eine andere, in Delphi vertretene „offizielle Fremdenführererklärung“ (De E 4, 386B ἡ κοινὴ καὶ περιηγητικὴ δόξα) für das E, in der weder dem Zahlenwert des Zeichens noch seinem Lautwert,90 sondern seinem als „ει“ artikulierten Namen eine Bedeutung zugeschrieben werde. Als Wortführer der Delpher und ihrer „offiziellen Lösung“ tritt nun der Priester Nikandros auf und erklärt in direkter Rede die Bedeutung des E als Chiffre für das griechische Wort εἰ in zweierlei Hinsicht: Einerseits sei mit dem Zeichen die Fragepartikel εἰ („ob“) gemeint, die in indirekten Fragesätzen verwendet wird, denn die Besucher des Orakels richteten ihre Fragen gewissermaßen immer in indirekter Form an den Gott, da ein direkter Kontakt mit dem Orakel den Priestern vorbehalten sei.91 Nach einem kurzen Ausfall gegen die „Dialektiker“ beschließt Nikandros seinen Beitrag mit einer weiteren Deutung des als εἰ zu verstehenden E: Neben seiner „Fragebedeutung“ (πευστικὴ δύναμις) wohne dem Zeichen noch eine „Gebetsbedeutung“ (εὐκτικὴ δύναμις) inne, denn jeder, der zu Apollon bete, leite den Wunsch, den er an den Gott richte, ebenfalls mit εἰ in der Bedeutung „wenn doch!“ ein (De E 5, 386D): ‚εἰ γάρ‘ φησὶν ἕκαστος τῶν εὐχομένων. Dichterzitate, zumal eines aus Archilochos, sollen die sprachliche Plausibilität dieser zweiten Lösung belegen.                                                             

89 De E 4, 386B ὁ δὲ Λαμπρίας ἔλαθεν, ὡς ἔοικε, τοὺς ἀφ᾿ ἱεροῦ κινήσας ἐπὶ τὸν αὑτοῦ λόγον. Vgl. Lamprias’ Berufung auf τοὺς κατὰ τὸ ἱερόν De E 3, 385F. 90 Die De E 4, 386B von Plutarch gebrauchte Formulierung (οὔτε τὴν ὄψιν ἀξιοῦντες οὔτε τὸν φθόγγον ἀλλὰ τοὔνομα μόνον τοῦ γράμματος ἔχειν τι σύμβολον) ist, sofern kein Überlieferungsschaden vorliegt, tatsächlich mit MORESCHINI (1997) 128, Anm. 38 als „non molto chiara“ zu bezeichnen. MORESCHINI bezieht einleuchtend die beiden von den Delphern für eine Deutung abgelehnten Aspekte des Zeichens einerseits auf Lamprias’ Erklärung des E als eines Zahlzeichens, andererseits auf die unmittelbar zuvor referierte Chaldäerdeutung, nach der das E als Vokal anzusehen sei. Der Bezug auf letztere ergibt sich klar aus dem Hinweis auf den φθόγγος, doch ist schwer ersichtlich, inwiefern mit dem Begriff der ὄψις des E die Auslegung als Zahlzeichen gemeint sein könnte. Naheliegend wäre an dieser Stelle etwa τάξιν, da Lamprias ja die Verwendung des E als Zahlzeichen für 5 aus der Stellung des Zeichens im Alphabet abgeleitet hatte. Freilich kollidiert dieser Lösungsvorschlag mit Nikandros’ folgenden Worten, das E habe als εἰ die τάξις ἡγεμονική in den an den Gott weitergeleiteten Fragen inne: Auch wenn Nikandros mit τάξις die Stellung des εἰ am Satzanfang des indirekten Fragesatzes und nicht die Position des Buchstabens im Alphabet bezeichnet, wäre doch eine von Plutarch vorausgeschickte Bemerkung, die Delpher schrieben der τάξις des Zeichens keinerlei Bedeutung zu, für den Leser zumindest irreführend. Da jedoch auch das überlieferte ὄψιν keinen erkennbaren Sinn ergibt, bedarf der Text wohl einer Heilung. 91 Vgl. De E 5, 386C τῶν χρωμένων ἑκάστοτε διαπυνθανομένων, εἰ νικήσουσιν, εἰ γαμήσουσιν, εἰ συμφέρει πλεῖν, εἰ γεωργεῖν, εἰ ἀποδημεῖν. […] ἐπεὶ δ᾿ ἴδιον τὸ ἐρωτᾶν ὡς μάντιν ἐστὶν ἡμῖν κτλ.

5. Die Rede des Nikandros

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5.1 Nikandros als priesterliches alter ego Plutarchs? Nikandros’ Beitrag steht in der Reihe der in De E apud Delphos präsentierten Lösungsvorschläge als erster sowohl mit den Äußerungen eines Vorredners als auch mit den Ausführungen des folgenden Gesprächsteilnehmers in Beziehung, denn er ist einerseits durch Lamprias’ fragwürdige Berufung auf eine delphische Lokaltradition motiviert und provoziert andererseits selbst wieder den Protest des Theon, der sich genötigt sieht, Nikandros’ Seitenhieb gegen die „Dialektiker“ mit einem engagierten Nachweis durchaus intensiver Beziehungen des Apollon zur Dialektik zu parieren. Nikandros erscheint so als besonders kritischer Gesprächsteilnehmer, der sich nicht scheut, seinem Missfallen gegenüber Lösungsversuchen des E, die mit den seinen tatsächlich oder möglicherweise konkurrieren, deutlich zu artikulieren. Daneben tritt Nikandros für einen Lösungsvorschlag ein, der von Plutarch auktorial als die gemeinhin in Delphi vertretene Ansicht über die Bedeutung des E bezeichnet wird und damit über den Text hinaus auf den historischen Plutarch selbst zu verweisen scheint, der aller Wahrscheinlichkeit nach bereits zur Zeit der Abfassung des Textes ein Priesteramt in Delphi versah.92 In der Forschung werden diese drei Referenzdimensionen von Nikandros’ Rede mit unterschiedlicher Akzentuierung zur Begründung von drei Thesen herangezogen, die aus Nikandros’ Einlassungen einerseits eine kritische Position des Autors gegenüber der voraufgehenden und folgenden Lösungen des Problems ableiten, andererseits eine besondere Vorliebe Plutarchs gegenüber den Äußerungen des Priesters plausibel machen wollen. Zunächst signalisiere Plutarch in der Lösung des Nikandros durch deren Bezug auf den Vorredner Lamprias dadurch einen Gesprächsfortschritt, dass dieser einerseits Lamprias’ fälschliche Berufung auf eine delphische Interpretation des E mit der Darlegung der tatsächlichen, offiziellen delphischen Deutung korrigiere, andererseits gleichsam als persona des Priesters Plutarch auftrete, wodurch die von ihm präsentierte Lösung sich gegenüber der „Erfindung“ des Lamprias eines größeren Einverständnisses des Autors erfreuen könne; dabei wird zum Beleg letzterer Einschätzung bisweilen der                                                             

92 Dies deutet das vaticinium ex eventu an, das Plutarch sein jugendliches Ich ‚Plutarch‘, am Ende von dessen Rede in De E apud Delphos gegenüber Nikandros aussprechen lässt (De E 16, 391DE): οὐκοῦν, ἔφην ἐγὼ μειδιάσας, ἄχρι οὗ τἀληθὲς ἡμῖν ὁ θεὸς ἱεροῖς γενομένοις παράσχῃ, προσκείσεται καὶ τοῦτο τοῖς ὑπὲρ τῆς πεμπάδος λεγομένοις. HIRZEL (1895) 199f., Anm. 2 „In irgend einer Stellung am Orakel muss es seinen Grund haben, dass er den anwesenden Freunden als besonders competent galt um über das Εἰ Auskunft zu geben. Auf dieselbe Stellung weisen auch die Worte 16 p. 391 E οὐκοῦν, ἔφην ἐγὼ μειδιάσας, ἄχρι οὗ τἀληθὲς ἡμῖν ὁ θεὸς ἱεροῖς γενομένοις γνῶναι παράσχῃ κτλ., welche doch wohl als eine Art vaticinium ex eventu zu fassen sind.“ FLACELIÈRE (1974) 6 zur Stelle „C’est là une sorte de vaticinium ex eventu, puisque, au moment où il écrivait cet ouvrage, Plutarque était lui-même investi du sacerdoce apollinien.“

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III. Hauptgespräch

Umstand angeführt, dass Nikandros’ Beitrag nicht – wie vermeintlich93 Lamprias’ Rede – von Ammonios kritisiert werde.94 Sodann werde Nikandros’ Beitrag implizit dadurch größeres Gewicht verliehen, als in ihm eine aus dem Kult Apollons hergeleitete Lösung vertreten werde, in der sich die besondere Verbundenheit des Priesters und Autors Plutarch mit dem delphischen Orakelwesen spiegle; der Autor habe mithin in diesem Beitrag seiner spezifisch religiösen Beziehung zu Delphi Ausdruck verliehen, indem er auf den mantischen Aspekt des Gottes abhebe, den er ja selbst im Proömium und Ammonios in seinen Einleitungsworten erwähnt habe.95 Freilich sei Plutarchs „priesterliche“ Identifikation mit den Worten des Nikandros nur vorläufig bzw. partiell, da er diese ja am Ende von De E apud Delphos implizit durch die Lösung, die er seiner „philosophischen“ persona Ammonios in den Mund lege, als gegenstandslos

                                                             93 Vgl. die hier vertretene anderslautende Erklärung für Ammoniosʼ kurze Erwähnung oben, S. 105–109. 94 Vgl. KAHLE (1912) 34 „Quodsi aliorum sententias vel paucis vel pluribus refelli videmus, eo magis miramur, quod Nicander nullo modo refutatur. Sed considera auctorem tum ipsum templi Delphici sacerdotem fuisse, cum hoc scripsisset, iam cognosces noluisse eum cives suos Delphicos offendere. Ne Theon quidem quamvis irritatus Nicandri verbis (386C τοῖς δὲ διαλεκτικοῖς χαίρειν ἔλεγε … ὁ θεός) ipsum aggreditur, sed defendit dialecticam.“ BABUT (1992) 195f. „En revanche, l’intervention du prêtre Nicandre, qui exprime le point de vue du clergé delphien (cf. 386B12–13), n’est pas expressément rejetée, ni même directement critiquée.“ Dies hebt auch F ERRARI (1995) 42 (zitiert unten, Anm. 95) hervor. 95 Vgl. BABUT (1992) 195f. „On en déduira que le rôle de Nicandre est de présenter une explication spécifiquement religieuse de la signification de l’E, en l’opposant à l’avance aux vues des philosophes, en l’occurence des Stoïciens.“ FERRARI (1995) 42 „Alla presentazione di questa soluzione Plutarco dedica un breve capitulo, tuttavia il contesto generale […] dovrebbe essere sufficiente a indicare una certa benevolenza dell’autore nei suoi confronti. In effetti essa, a differenza della soluzione prospettata da Lampria, non suscita l’immediata reazione di Ammonio, il quale, del resto, all’inizio del dialogo, nel corso di un intervento di chiaro sapore delfico, aveva sottolineato le virtù mantiche del dio (οὐχ ἧττον ὁ θεὸς φιλόσοφος ἢ μάντις, 385Β).“ SFAMENI GASPARRO (1996) 176 „[…] nelle parole dello ἱερεύς Nicandro l’autore ripropone quel legame con la realtà cultuale delfica al quale la sua esegesi filosofica non intende a renunciare. […] Le tipiche modalità dell’interrogazione oracolare, attraverso la proposta di due possibilità alternative fra le quali il dio dovrà indicare quella positiva per il fedele, è cosí recuperata alla discussione. L’esegesi di Nicandro, senza essere naturalmente assunta quale chiave esegetica definitiva, non è neppure criticata dai partecipanti al colloquio, configurandosi quale possibile interpretazione, a un livello popolare di comprensione, dell’E delfico e in ogni caso occasione per aprire uno squarcio vivace sulla concreta realtà religiosa dell’oracolo, nella sua dimensione di provvido soccorritore nelle molteplici ἀπορίαι del βίος dei communi fedeli.“

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erweise; entsprechend mache er in Nikandros’ Rede gewissermaßen nur seiner traditionell-religiösen Ader Konzessionen.96 Schließlich komme in Nikandros’ Angriff auf die „Dialektiker“, mit denen die Stoiker gemeint sind, Plutarchs allgemeine und grundsätzliche Abneigung gegen diese Philosophenschule zum Ausdruck,97 die ihr Korrelat in der Privilegierung der „platonischen“ Deutung des Ammonios finde, die sich implizit von stoischen Thesen distanziere.98 Gemeinsam ist allen drei vorgestellten Thesen eine mehr oder weniger stark unterstellte Identifikation Plutarchs mit der delphischen Priesterschaft und ihren Aussagen, wofür stellvertretend FERRARIs pointierte Formulierung stehen mag: „[…] l’ipotesi di un atteggiamento genericamente favorevole di un sacerdote di Delfi come Plutarco ad una soluzione di tipo „cultuale“ non ha certamente bisogno di venire argomentata con grandi sforzi ermeneutici.“99

                                                             96 Vgl. die ensprechenden Bemerkungen von SFAMENI GASPARRO (1996) in der voraufgehenden Anm. Radikaler äußert sich FERRARI (1995) 42 „Tuttavia il tipo di religiosità presupposta nella risposta di Nicandro è insufficiente dal punto di vista filosofico, perché essa è priva dei fondamenti metafisici che solo la prospettiva „platonizzante“ di Ammonio è in grado di fornirle. Nicandro si fa portavoce, agli occhi del Plutarco maturo, di una religiosità piuttosto ingenua dalla quale emerge come unica caratteristica del dio la capacità mantico-divinatoria. Questo significa che il rapporto uomo-dio viene concepito prescindendo dalla considerazione dello status ontologico dei due termini, ma appunto unicamente all’interno della pratica della preghiera e della consultazione oracolare. Nel suo ultimo intervento Ammonio si dimostra invece in grado di inserire la dimensione religiosa del culto apollineo all’interno di una ben precisa prospettiva filosofica; infatti per Plutarco il rifiuto della soluzione „cultuale“ non poteva rappresentare la rinuncia definitiva ad introdurre la devozione ad Apollo nell’ambito dei cardini della sua concezione. Si tratta allora di un’implicita critica nei confronti di una forma di religiosità ingenua che concepisce Apollo solamente come fonte di consigli pratici e oggetto di preghiera, in una parola di una religiosità non fondata filosoficamente come invece sarà quella esposta da Ammonio.“ Auf diesen interpretatorischen Voraussetzungen scheint auch die isolierte Bemerkung bei MORESCHINI (1997) 45 zu beruhen: „Anche se il de E è uno dei dialoghi delfici, questo non esclude che esso contenga alcune critiche alla ortodossia delfica, sostenuta dai sacerdoti del tempio.“ 97 Vgl. BABUT (1969) 148 „Il semble donc bien qu’il faille voir dans cette phrase de Nicandre l’une de ces plaisanteries subtiles et ironiques, visant les adeptes du Portique, dont le De facie et De an. procr. in Tim., nous ont déjà offert des exemples.“ Vgl. auch BABUT (1992) 195f. 98 Vgl. die wirkungsmächtige und deshalb hier wiederholt zitierte Ansicht bei HIRZEL (1895) 201 „Er [sc. Ammonios, Anm. d. Verf.] ist es, der mit den Mitteln der akademischen Philosophie eine würdigere Lösung des räthselhaften Εἰ findet als die concurrierenden Pythagoreer und Stoiker.“ 99 FERRARI (1995) 42.

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III. Hauptgespräch

5.2 Plutarchs Selbstzeugnis über seine Auffassung der delphischen Priesterschaft Die scheinbare Evidenz einer besonders positiven Einstellung des Priesters Plutarch zu den Aussagen des Nikandros, der im Gespräch von De E apud Delphos die delphische Priesterschaft vertritt, fordert allerdings angesichts der äußerst dünnen Quellenlage für ein besonders persönliches Verhältnis Plutarchs zu seinem Priesteramt in Delphi eine genauere Überprüfung heraus. Obschon Plutarchs Priesterschaft in Delphi sicher belegt ist,100 steht die in der Literatur unausgesetzt betonte Bedeutung von Plutarchs delphischem Amt für seine religionsphilosophischen Schriften und nicht zuletzt für die ‚Pythischen Dialoge‘101 im Sinne einer spezifisch „priesterlichen“ Attitüde des Autors in einem starken Missverhältnis zu Umfang und Frequenz von diesbezüglich auswert- und belastbaren Äußerungen in seinem durchaus umfangreichen Werk. Sieht man von einigen en passant eingestreuten Bemerkungen ab,102 so bleibt neben dem Auftritt des Nikandros                                                              100 Es liegen neben Hinweisen in Plutarchs Werk auch inschriftliche Zeugnisse seiner dortigen Tätigkeit vor, vgl. CIG 1713 ἐπιμελητεύοντος ἀπὸ Δελφῶν Μεστρίου Πλουτάρχου. Daneben ist die Inschrift einer Plutarch-Herme erhalten, die die Delpher und Chaironeer auf Geheiß der Amphiktyonen zu dessen Ehren aufgestellt hatten: Δελφοὶ Χαιρωνεῦσιν ὁμοῦ Πλούταρχον ἔθηκαν / τοῖς Ἀμφικτυόνων δόγμασι πειθόμενοι (vgl. dazu POMTOW, 1889, 77f. und Nr. 50 auf Tafel XIV.). 101 Vgl. z.B. OAKESMITH (1902) 77 „It must not be overlooked that Plutarch was long a priest of the Delphian Apollo, and that the duties of this position responded to some internal need of his soul, and were not regarded by him as a merely official dignity, is proved by the manner in which he alludes to the subject.“ Ibid., 90f. „It is no unfitting circumstance in a priest of Apollo that his noblest utterances respecting the nature of God should be contained in discourses connected more or less with the temples and traditions of the god.“ DECHARME (1904) 414 „Et il [sc. Plutarque, Anm. d. Verf.] a pour ce dieu [sc. Apollon] une telle adoration qu’il s’est fait une joie et une gloire de le servir, en devenant son prêtre.“ LATZARUS (1921) 44 „Une foi vive et ardente comme celle du prêtre de Delphes pouvait emprunter des arguments à plusieurs sectes diverses.“ FELDMEIER (1998) 414 „Die enge Verbindung mit dem delphischen Priesteramt prägt auch sein Werk, am auffälligsten in den Πυθικοὶ λόγοι, die – ausgehend von delphischen Fragen – Grundsätzliches zum Verhältnis Gott-Wirklichkeit erörtern.“ SIRINELLI (2000) 225 „À coup sûr l’accession de Plutarque à la prêtrise d’Apollon donne un élan nouveau à cette métamorphose par laquelle le professeur de philosophie se transforme en un authentique penseur.“ FRAZIER (2005) 111 „Dazu trägt die religiöse Praxis bei, was [sic] Plutarch als delphischer Priester in besonderer Weise erfuhr. Deswegen hielt ich es für angemessen, mich auf das Ergebnis dieser persönlichen Erfahrung zu konzentrieren, die im Spätwerk besonders zum Ausdruck kommt.“ BROUT (2006) 118 spricht von einer „pensée du prêtre-philosophe“, die dem Werk Plutarchs zugrundeliege. 102 ZIEGLER (1952) 660 verweist auf die Erwähnung eines Kollegen in QC 7, 2, 2, 700E (Εὐθύδημον τὸν συνιερέα); SIRINELLI (2000) 202 steuert einen Bericht vom Spott der Delphipilger in QC 7, 6, 3, 709A bei (ἄλλως γὰρ ἡμῖν προσπαίζουσιν οἱ λέγοντες „Δελφοῖσι θύσας αὐτὸς ὀψωνεῖ κρέας“); dazu tritt noch die kurze Notiz in De Iside 68, 378CD

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in De E apud Delphos, zu dessen Verständnis allerdings die kurze Auseinandersetzung zwischen der Dialogfigur ‚Plutarch‘ und Nikandros im 16. Kapitel der Schrift herangezogen werden muss, nur Plutarchs Selbstzeugnis über seine Dienstauffassung in der Schrift An seni sit gerenda res publica, will man auf der Basis von direkten Aussagen Plutarchs die Frage beantworten, wie er grundsätzlich zu seinem delphischen Priesteramt stand und ob diese seine Einstellung eine zumindest tendenziell positive Identifikation mit der delphischen Gesellschaft, die er in seinen ‚Pythischen Dialogen‘ auftreten lässt, nahelegt. Plutarch hat die Schrift An seni sit gerenda res publica in hohem Alter verfasst und an seinen Freund Euphanes von Athen gerichtet, der ebenfalls bereits ein Alter erreicht hatte, in dem ihn Gedanken an einen Rücktritt von seinen öffentlichen Aufgaben und einen Rückzug ins Privatleben beschäftigen konnten. Der gesamte Text wendet sich gegen ein untätiges Greisenalter und führt umfangreich die Bedeutung eines fortgesetzen Einsatzes im Dienst der Öffentlichkeit auch jenseits der Pensionsgrenze vor. Plutarch beschließt die erste Hälfte der Schrift mit einem argumentum a persona: Das Vaterland verlange das gesamte Leben des Bürgers hindurch Achtsamkeit, Unterstützung und Sorgfalt von dem, der seine Bürgerpflichten wahrnimmt, und Plutarch selbst habe, wie Euphanes wisse, viele Pythiaden hindurch dem Apollon von Delphi gedient.103 Euphanes werde ihm nun wohl kaum raten, nach ausreichender Erfüllung seiner Pflichten in Opfer, Leitung von Festzügen und Tanzaufführungen nunmehr aus Altersgründen in den Ruhestand zu treten.104 In diesem einzigen umfangreicheren Selbstzeugnis über Plutarchs Stellung zu dem ihm übertragenen Priesteramt in Delphi charakterisiert der Autor die Wahrnehmung seiner Amtspflichten ausschließlich aus der Perspektive des engagierten Polisbürgers, der sich seiner öffentlichen Pflichten                                                              über den Sinn von Denk- und Redegeboten, die die Priester den Konsultanten des Orakels geben (οὐδὲν γὰρ ὧν ἄνθρωπος ἔχειν πέφυκε θειότερον λόγου καὶ μάλιστα τοῦ περὶ θεῶν οὐδὲ μείζονα ῥοπὴν ἔχει πρὸς εὐδαιμονίαν. διὸ τῷ μὲν εἰς τὸ χρηστήριον ἐνταῦθα κατιόντι παρεγγυῶμεν ὅσια φρονεῖν, εὔφημα λέγειν· οἱ δὲ πολλοὶ γελοῖα δρῶσιν ἐν ταῖς πομπαῖς καὶ ταῖς ἑορταῖς εὐφημίαν προκηρύττοντες, εἶτα περὶ τῶν θεῶν αὐτῶν τὰ δυσφημότατα καὶ λέγοντες καὶ διανοούμενοι). Der Bezug der Worte des Theon über den Verantwortlichen für den neuerlichen Aufschwung von Delphi De Pyth. or. 29, 409BC (καίτοι φιλῶ μὲν ἐμαυτὸν ἐφ᾿ οἷς ἐγενόμην εἰς τὰ πράγματα ταῦτα πρόθυμος καὶ χρήσιμος μετὰ Πολυκράτους καὶ Πετραίου, φιλῶ δὲ τὸν καθηγεμόνα ταύτης τῆς πολιτείας γενόμενον ἡμῖν καὶ τὰ πλεῖστα τούτων ἐκφροντίζοντα καὶ παρασκευάζοντα κτλ.) auf Plutarch selbst (nach ZIEGLER, 1952, 661 „völlig überzeugend“) ist von SCHRÖDER (1990) 15–22 stark angezweifelt worden. 103 An seni 17, 792F καὶ μὴν οἶσθά με τῷ Πυθίῳ λειτουργοῦντα πολλὰς Πυθιάδας. 104 An seni 17, 792F ἀλλ᾿ οὐκ ἂν εἴποις ἱκανά σοι, ὦ Πλούταρχε, τέθυται καὶ πεπόμπευται καὶ κεχόρευται, νῦν δ᾿ ὥρα πρεσβύτερον ὄντα τὸν στέφανον ἀποθέσθαι καὶ τὸ χρηστήριον ἀπολιπεῖν διὰ τὸ γῆρας.

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nicht entziehen will. Gewiss ist es im Kontext einer Schrift überliefert, die ganz und gar dem Wert des staatlichen Engagements im Alter gewidmet ist, und erfüllt in diesem Zusammenhang die argumentative Funktion der Schilderung einer vorbildlichen Haltung am Beispiel der eigenen Person; entsprechend ist dieser Kontext womöglich nicht der Ort, ausführlicher über eine eventuell über das Gesagte hinausgehende innere Einstellung gegenüber einer hier als Pflicht verstandenen Tätigkeit zu berichten. Es ist freilich umgekehrt bemerkenswert, dass sich Plutarch nur in einem Kontext ausführlicher über sein Priesteramt äußert, in dem er über staatsbürgerliche Pflichten spricht, und der fiktive Einwand, den er Euphanes aussprechen lässt, Plutarch habe doch nach all den Jahren genug geopfert, Prozessionen angeführt und kultische Tänze veranstaltet, deutet darauf hin, dass die von Plutarch in Delphi erfüllten Pflichten als Priester des Apollon vor allem organisatorischer Natur waren. Apollondienst ist für Plutarch an der einzigen Stelle, an der er sich zu seinem Amtsverständnis äußert, gleichbedeutend mit dem Dienst an der Heimat, wie sich besonders in der Einführung Apollons in Plutarchs Argumentation zeigt: Das Vaterland ist berechtigt, uns in die Pflicht zu nehmen, es hat sogar noch ältere und größere Rechte als die eigenen Eltern105 und stellt an den πολιτικός Ansprüche, die Plutarch eben durch seinen Dienst am Apollon von Delphi in Form der Organisation des Kultes erfüllt. Als vorbildlicher Polisbürger versieht Plutarch ein Staatsamt, und es ist sein ganzer Stolz, sich durch sein Engagement bis ins hohe Alter in der Reihe so berühmter Männer wie Cato oder Perikles zu wissen, die es nicht anders gehalten haben. Damit steht Plutarchs Einstellung zu seinem Priesteramt völlig im Einklang mit den modernen Erkenntnissen zur sozialen Stellung und öffentlichen Funktion eines griechischen Priesters. Dieser versah ein Amt, das die Polis an angesehene Bürger vergab, die bestimmte soziale Kriterien wie Ansehen, Integrität, vornehme Herkunft erfüllen und wohl auch über ein ansehnliches Vermögen verfügen mussten, um den Kultbetrieb mitzufinanzieren.106 Das Amt wurde als öffentliche Ehre empfunden und verlangte von seinen Inhabern vor allem die Erfüllung organisatorischer Aufgaben; im Falle der Priester des Apollon von Delphi war die wichtigste Kultfunktion

                                                            

105 An seni 17, 792E ἡ δὲ πατρὶς καὶ μητρὶς ὡς Κρῆτες καλοῦσι, πρεσβύτερα καὶ μείζονα δίκαια γονέων ἔχουσα κτλ. 106 Dieser Aspekt des Priesteramtes schwingt in Plutarchs Wortwahl (λειτουργοῦντα) an der oben, S. 119, Anm. 103 zitierten Stelle klar mit, vgl. dazu BURKERT (1996) 12; CASANOVA (2012) 152 versucht, λειτουργοῦντα einen stärker religiösen Sinn zu verleihen, allerdings allein mit der fragwürdigen Berufung auf lexikographische Befunde des Neuen Testaments.

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die Durchführung des Opfers vor der Konsultation der Pythia.107 Die Nüchternheit von Plutarchs Aussagen über seine priesterliche Tätigkeit erklärt sich aus eben diesem staatlich-administrativen Charakter des griechischen Priestertums: Plutarch hat als Priester wohl sein Bestes für die Verwaltung Delphis getan, doch versah er kein geistliches Amt im modernen Sinne,108 das er aus innerer Überzeugung, persönlicher Frömmigkeit oder gar einem religiös begründeten Altruismus heraus ergriffen haben müsste, geschweige denn, dass von dessen Inhaber eine entsprechende Haltung und Betätigung erwartet worden wäre.109 WILAMOWITZ’ provozierende Fragen – dahingehend, wie Plutarch trotz seiner frühen religionskritischen Schrift De superstitione später ein Priesteramt übernehmen und religionsphilosophische Schriften verfassen konnte – „Hat er sich einmal bekehrt? War er ein Heuchler?“ lösen sich nicht erst durch eine von WILAMOWITZ empfohlene Gesamtlektüre von Plutarchs Werk auf,110 sondern allein schon durch Berücksichtigung der Tatsache, dass die Verwaltung eines Priesteramtes keine besondere innere Einstellung verlangte – allenfalls das von Plutarch selbst ausdrücklich genannte Selbstverständnis des engagierten Polisbürgers. Von einer besonderen Dignität, die einem Apollonpriester in Delphi qua Amt zukomme, ist bei Plutarch nichts zu hören. So lässt sich aus diesem einzigen von Plutarch überlieferten Selbstzeugnis nichts über die mögliche Loyalität des Autors von De E apud Delphos gegenüber den Vorstellungen des dort auftretenden Apollonpriesters Nikandros aussagen; für eine prinzipiell vorauszusetzende positive Identifikation des selbst ein Priesteramt verwaltenden Autors Plutarch mit dem Wortführer der delphischen Gesellschaft und seinen Einlassungen fehlt jede tragfähige Textgrundlage.

                                                             107

Vgl. SIRINELLI (2000) 199–203. Plutarch selbst lässt den Zweck dieser Handlung von Lamprias in De def. or. 49, 437AB erklären. 108 Vgl. SIRINELLI (2000) 202. 109 Vgl. DÖRRIE (1980) 12 „Niemals aber ist die Kompetenz der Seelsorge einem Priester zugewiesen worden; sondern wer immer priesterliche Funktionen ausübte, war darum bemüht, den Forderungen des Gottes Erfüllung zu verschaffen, sei es, daß er als pater familias, sei es, daß er im Auftrage der Gemeinde kultische Handlungen leitete. Der Gedanke, daß ein Gottesdienst – θεραπεία τοῦ θεοῦ – nicht nur dem Gott, sondern besonders der „Erbauung“ der Gemeinde zu gute kommen müsse, hat außerhalb des Christentums in keinem antiken Kult Beachtung gefunden. Wohl kann die Rede eines Philosophen erbaulich und damit religiös erziehlich wirken; indes ist ein derartiges Lehramt im religiösen Bereich niemals in Anspruch genommen worden.“ 110 Vgl. V. WILAMOWITZ-MOELLENDORFF (1932) 498 „Keines von beiden wird glauben, wer seine Bücher gelesen hat, aber um ihn zu verstehen, muß er sie auch alle gelesen haben.“

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5.3 Die Charakteristik der Perihegeten in De Pythiae oraculis Auffällig hingegen ist, dass Plutarch mit seiner auktorialen Bemerkung, der Priester greife als Wortführer des weiteren Kreises „derer vom Heiligtum“ (τοὺς ἀφ᾿ ἱεροῦ) in das Gespräch ein und bringe „die allgemein vertretene Fremdenführermeinung“ (De E 4, 386B τὴν κοινὴν καὶ περιηγητικὴν δόξαν) vor, offenbar ein bestimmtes Bild der delphischen Gesellschaft und ihres Selbstverständnisses evozieren will, für das Nikandros exemplarisch stehen soll: Es ist das Bild des mit einer ehrenden Funktion am Orakel betrauten Einheimischen, der sich zugleich mit der Übernahme der Funktion unreflektiert mit bestimmten lokal verbreiteten, offiziellen Deutungen der in seinen Kompetenzbereich fallenden Phänomene solidarisiert, bis zu dem Grade, dass er sein Deutungsprivileg gegen jeden noch so harmlosen Versuch Außenstehender verteidigt, kraft der eigenen intellektuellen Fähigkeiten Erklärungsversuche für rätselhafte Sehenswürdigkeiten zu finden. Davon, wie die Delpher in seinen Augen gewöhnlich Besuchern die Besonderheiten ihrer Heimat nahebrachten, hat Plutarch in De Pythiae oraculis in mokantem Ton und karikierender Darstellung ein farbiges Portrait gezeichnet: Dort kontrastiert er die gelehrten Debatten, die er die um den Delphibesucher Diogenianos versammelten Gesprächsteilnehmer während eines Rundgangs durch den heiligen Bezirk führen lässt, mit den Ausführungen der delphischen Fremdenführer (περιηγηταί), deren überzeichnetes Portrait ohne Zweifel darauf berechnet ist, seine zeitgenössischen Leser einen ironischen Reflex auf lebensweltliche Realitäten erkennen zu lassen.111 So lässt Plutarch Philippos, den Berichterstatter der Gespräche von De Pythiae oraculis, gleich zu Anfang die Weitschweifigkeit der Ausführungen der Fremdenführer erwähnen, die ihr Programm auch angesichts inständiger Bitten der Gäste, sich doch kürzer zu fassen, erbarmungslos abspulen.112 Angesichts dieser Hartnäckigkeit bleibt der Gruppe nichts anderes übrig, als die Reden der Führer über sich ergehen zu lassen, um nicht den Eindruck zu erwecken, man wolle sie absichtlich kränken, wenn man – wie in einem Falle, als Diogenianos Theon dringend um eine Lösung der Frage nach dem Grund für das Aufhören der Versorakel ersucht – zu philosophischen Gesprächen überginge, anstatt die Aufmerksamkeit der Führung zu widmen.113

                                                             111 Dies ist auch noch dem modernen Leser möglich, der eine gewisse Erfahrung in Führungen durch Sehenswürdigkeiten gesammelt hat. 112 De Pyth. or. 2, 395A ἐπέραινον οἱ περιηγηταὶ τὰ συντεταγμένα μηδὲν ἡμῶν φροντίσαντες δεηθέντων ἐπιτεμεῖν τὰς ῥήσεις καὶ τὰ πολλὰ τῶν ἐπιγραμμάτων. 113 Vgl. De Pyth. or. 7, 397D ὑπολαβὼν οὖν ὁ Θέων ἀλλὰ καὶ νῦν, εἶπεν, ὦ παῖ, δοκοῦμεν ἐπηρείᾳ τινὶ τοὺς περιηγητὰς ἀφαιρεῖσθαι τὸ οἰκεῖον ἔργον. ἔασον οὖν γενέσθαι τὸ τούτων πρότερον, εἶτα περὶ ὧν βούλει καθ᾿ ἡσυχίαν διαπορήσεις. Der angeredete Dioge-

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Theons eigentliche Ausführungen über das von Diogenianos aufgeworfene Thema erfolgen entsprechend erst, nachdem auf das Drängen des jungen Besuchers hin die Führung endlich einmal unter- jedoch nicht abgebrochen worden ist.114 Bei anderer Gelegenheit lässt Plutarch Philippos nicht nur die intellektuelle Überlegenheit der Besuchergruppe gegenüber ihren Führern hervorheben, sondern sogar deren eigene Aufgabe übernehmen, die Sehenswürdigkeiten zu erklären. Nachdem sich im 13. Kapitel von De Pythiae oraculis aus der Beobachtung einer merkwürdigen Tierdarstellung an einem Weihgeschenk im Schatzhaus der Korinther eine Diskussion über die Frage nach der möglichen Identität des Apollon mit der Sonne entsponnen hatte, richtet Sarapion an die Fremdenführer die schlichte Frage, warum das Schatzhaus der Korinther eigentlich nicht Schatzhaus des Kypselos heiße, obwohl es doch dieser Tyrann, und nicht die Stadt Korinth, gestiftet habe. Als die Fremdenführer hierauf schweigen, weil sie, wie Plutarch den Berichterstatter Philippos in einem auktorialen Kommentar bemerken lässt, offenbar keine Erklärung parat haben,115 erspart Philippos den Führern eine offene Blamage, indem er selbst die Lösung der Frage aus eigenem Wissen liefert, Sarapion gegenüber jedoch vorgibt, die Fremdenführer hätten zu seiner Frage schon vor dem Exkurs über das Verhältnis von Apollon und der Sonne die entsprechenden Informationen gegeben116 und er diese jetzt nur wiederhole. Freilich ist die Begründung, die Philippos offen für das Schweigen der Perihegeten bietet, im Grunde nicht minder blamabel als Philippos’ auktorialer Erzählerkommentar über deren Unwissen: Ganz verwirrt und überfordert von den vorausgegangenen Gesprächen der Gruppe über Himmelsdinge sei den Führern all ihr Wissen entfallen und sie erinnerten sich an ihre eigenen Worte nicht mehr.117 Wenn die Fremdenführer sich dann einmal an den philosophischen Gesprächen der Besuchergruppe beteiligen, um mit einer eigenen Beobachtung zu glänzen, demonstriert Plutarch hierdurch nur ihre mangelnde Bildung. So hatte er in den Kapiteln 14 und 15, ausgehend von einer Weihegabe der Hetäre Rhodopis, zunächst die Erregung des Diogenianos darüber geschildert, dass die Delpher einer Frau von zweifelhaftem Ruf einen Platz im Heiligtum zur Verfügung gestellt hätten, an dem sie den Zehnten ihres Lohnes in Form                                                              nianos beweist entsprechend vor allem seinen Anstand, wenn er den Fremdenführern weiterhin höflich zuhört, obwohl sie ihm nichts Neues oder Interessantes zu bieten haben (De Pyth. or. 8, 397E ὁ ξένος εἰδὼς ἅπαντα παρεῖχεν ὅμως ὑπ᾿ εὐκολίας ἀκροατὴν αὑτόν). 114 Vgl. die Worte des Diogenianos De Pyth. or. 17, 402B ὥστ᾿, εἰ δοκεῖ, τὰ λειπόμενα τῆς θέας ὑπερθέμενοι περὶ τούτων ἀκούσωμεν ἐνταῦθα καθίσαντες. 115 De Pyth. or. 13, 400D ἀπορίᾳ δ᾿ αἰτίας ἐμοὶ γοῦν δοκεῖ σιωπώντων. 116 De Pyth. or. 13, 400E ἐπεὶ πρότερόν γ᾿ αὐτῶν ἠκούομεν λεγόντων, ὅτι κτλ. 117 De Pyth. or. 13, 400DE τί δ᾿, εἶπον, ἔτι τούτους οἰόμεθα γιγνώσκειν ἢ μνημονεύειν ἐκπεπληγμένους παντάπασιν ἡμῶν μετεωρολεσχούντων;

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eines Weihgeschenks aufstellen durfte.118 Sarapion verweist hierauf sogleich auf eine weitere Statue, diejenige der berühmten Hetäre Phryne, die sogar ein goldenes Standbild ihrer selbst in einer Statuengruppe von Feldherren und Königen aufgestellt habe. Theon schließlich rückt, von Sarapion nach seiner Meinung zu derartigen Weihegaben gefragt, die Maßstäbe für die moralische Bewertung der Weihungen in Delphi zurecht: Angesichts der zahllosen Schenkungen, die die schändlichen Triumphe griechischer Poleis über ebenfalls griechische Gegner feierten, entzünde sich eine moralische Entrüstung an den falschen Objekten, wenn sie ihren Ausgang bei Hetärenstatuen nehme.119 Vielmehr verdiene Praxiteles, der Schöpfer der goldenen Phrynestatue, sogar Lob, denn die Aufstellung der goldenen Phryne neben den Statuen von Königen entlarve deren kostbare Weihungen, denn zur fragwürdigen Darstellung des eigenen Reichtums durch teure Statuen hätten auch Menschen wie Phryne die Mittel besessen, deren Lebenswandel zwar ein Ausbund von Schändlichkeit aber immerhin finanziell lukrativ gewesen sei; dem Gott seien freilich viel eher Weihegaben angemessen, die Gerechtigkeit, Besonnenheit und edle Gesinnung dokumentierten.120 An dieser Stelle nun sieht einer der Perihegeten seine Stunde gekommen und schaltet sich in das Gespräch ein: Theon habe vergessen, noch ein weiteres Beispiel für die dekadente und unmoralische Prunksucht von Machthabern zu erwähnen: Kroisos nämlich sei sogar so weit gegangen, eine goldene Statue seiner Bäckerin in Delphi aufzustellen. Als Beitrag auf Augenhöhe der versammelten Gesellschaft intendiert, disqualifiziert sich der Delpher in Wirklichkeit selbst: Sogleich lässt Plutarch Theon breit ausführen, dass Kroisos mit der Aufstellung einer Statue seiner Bäckerin gerade nicht seinen Reichtum zur Schau stellen,121 sondern mit bestem Recht dem Apollon seinen Rettungsdank dafür abstatten wollte, dass seine Bedienstete ihm Leben und Thron dadurch gerettet habe, dass sie eine List seiner Stiefmutter gegen diese selbst gewendet habe.122                                                             

De Pyth. or. 14, 400F–401A … δυσχεράνας ὁ Διογενιανός „ἦν ἄρα τῆς αὐτῆς“ ἔφη „πόλεως Ῥοδώπιδι μὲν χώραν παρασχεῖν, ὅπου τὰς δεκάτας φέρουσα καταθήσεται τῶν μισθῶν, κτλ.“ 119 De Pyth. or. 15, 401C … καὶ σύ μοι δοκεῖς ὁμοίως γύναιον εἴργειν τοῦ ἱεροῦ χρησάμενον ὥρᾳ σώματος οὐκ ἐλευθερίως, φόνων δὲ καὶ πολέμων καὶ λεηλασιῶν ἀπαρχαῖς καὶ δεκάταις κύκλῳ περιεχόμενον τὸν θεὸν ὁρῶν καὶ τὸν νεὼν σκύλων Ἑλληνικῶν ἀνάπλεων καὶ λαφύρων οὐ δυσχεραίνεις οὐδ᾿ οἰκτίρεις τοὺς Ἕλληνας κτλ.; 120 De Pyth. or. 15, 401D … ὅτι τοῖς χρυσοῖς βασιλεῦσι τούτοις παρέστησε χρυσῆν ἑταίραν, ἐξονειδίζων τὸν πλοῦτον ὡς οὐδὲν ἔχοντα θαυμάσιον οὐδὲ σεμνόν. δικαιοσύνης γὰρ ἀναθήματα καὶ σωφροσύνης καὶ μεγαλονοίας καλῶς ἔχει τίθεσθαι παρὰ τῷ θεῷ τοὺς βασιλεῖς καὶ τοὺς ἄρχοντας, οὐ χρυσῆς καὶ τρυφώσης εὐπορίας, ἧς μέτεστι καὶ τοῖς αἴσχιστα βεβιωκόσιν. 121 De Pyth. or. 16, 401E πλὴν οὐκ ἐντρυφῶν τῷ ἱερῷ, καλὴν δὲ λαβὼν αἰτίαν καὶ δικαίαν. 122 Vgl. De Pyth. or. 16, 401EF. 118

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Fasst man die Charakteristik der delphischen Perihegeten in De Pythiae oraculis zusammen, so zeichnet Plutarch von ihnen ein recht schonungsloses Bild: Selbstverliebt langweilen sie durch endlose Ausführungen, geistig minderbemittelt können sie den philosophischen Gesprächen der Gäste nicht folgen, und wenn sie sich in diese einschalten, so leisten sie nur Fehldeutungen aufgrund ihrer ungenügenden Bildung.123 5.4 Die Charakteristik des Nikandros als Vertreter der delphischen Gesellschaft Wenn nun Plutarch den Priester Nikandros als Fürsprecher einer dezidiert als περιηγητικὴ δόξα bezeichneten Lösung auftreten lässt, so empfiehlt es sich weniger, in dieser Rede das priesterliche alter ego des Autors Plutarch zu vermuten, als zum Verständnis des dort Gesagten das Perihegetenbild aus De Pythiae oraculis heranzuziehen. Der Rekurs auf dieses karikaturistische Zeugnis plutarchischer Einschätzung des delphischen Tempelpersonals legt sich umso mehr nahe, als der Autor den Leser bereits durch das a-parteReferat der Gedanken des Ammonios, Lamprias berufe sich nur aus redetaktischen Gründen auf delphische Lokaltraditionen, auf die satirische Dimension der Darstellung des zu erwartenden Protestes der anwesenden Delpher vorbereitet hat.124 Besieht man die Rede näher, so lassen sich in ihr deutliche Züge ausmachen, die eher eine ironische Haltung des Autors zur Person ihres Sprechers und dessen Ausführungen als eine besondere persönliche oder inhaltliche Identifikation signalisieren. Plutarchs Portrait des Nikandros zeichnet diesen Vertreter der delphischen Offiziellen als Verteidiger des eigenen Deutungsprivilegs der rätselhaften Phänomene im heiligen Bezirk. Motiviert durch die dem Leser bereits als rein rhetorische Maßnahme erklärte Berufung des Lamprias auf delphische Traditionen beginnt Nikandros seine Ausführungen mit einem apodiktischen ἔστι γάρ, mit dem er – offenbar um seine privilegierte Rolle als Hausherr besorgt – die ortsübliche Erklärung des E einführt. Dabei fällt besonders ins Auge, dass Nikandros nicht nur Position gegen seinen Vorredner Lamprias bezieht, sondern darüber hinaus auch möglicher Kritik an der von ihm selbst vertretenen Deutung seitens der „Dialektiker“ durch einen im Namen des Apollon erteilten Platzverweis zuvorzukommen versucht: τοῖς δὲ διαλεκτικοῖς χαίρειν ἔλεγε σοφὸς ὢν ὁ θεός (De E 5, 386C).

                                                             123 Bereits KAHLE (1912) 39, Anm. 1 hat in seiner Feststellung, die Rede des Theon übertreffe diejenige des Priesters Nikandros, auch wenn Plutarch selbst Priester war, eine tendenziell negative Einstellung Plutarchs gegenüber den Delphern vermerkt: „Delphicos saepius aggreditur“ (mit Verweis auf die Anfangskapitel von De Pyth. or.). 124 Vgl. dazu oben, S. 105–109.

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III. Hauptgespräch

Nikandros’ gesamter Habitus ist folglich weniger derjenige eines Gesprächsteilnehmers, der sich im Sinne von Ammonios’ Präliminarien an einem offenen Gedankenaustausch über die Bedeutung des rätselhaften E beteiligen will, sondern der eines ängstlichen Hüters seiner eingebildeten Prärogative als Lokalgröße. Dies wird nicht zuletzt daran sinnfällig, dass die Deutung, die Nikandros als erste vorbringt, und nach der das E auf den Ablauf des Orakelbetriebs verweisen soll, in dem die Konsultanten sich nur mit durch das Tempelpersonal vermittelten, indirekten Fragen an den Gott wenden, vor allem das Privileg des Priesters Nikandros hervorhebt, direkt mit dem Gott kommunizieren zu dürfen: ἐπεὶ δ᾿ ἴδιον τὸ ἐρωτᾶν ὡς μάντιν [sc. τὸν Ἀπόλλωνα] ἐστὶν ἡμῖν. Demgegenüber ist die zweite von Nikandros präsentierte Bedeutung des E als Bestandteil der einleitenden Gebetsformel εἰ γάρ, womit nicht das Priesterprivileg des Redners, sondern eine allgemeine religiöse Praxis angesprochen wird, in weit weniger herrischer Weise formuliert: Zu Apollon als einem Gott dürfe jeder beten, und „so glaube man, dass das Zeichen nicht weniger eine Frage- als eine Gebetsfunktion besitze.“125 Somit zeigt die direkte Charakteristik des Nikandros als Vertreter einer περιηγητικὴ δόξα durchaus Ähnlichkeiten mit der Art, mit der die Perihegeten in De Pythiae oraculis ihre Minimalkompetenzen als Erklärer der örtlichen Sehenswürdigkeiten ausschöpfen. Freilich ist Nikandros’ Rede nicht die einzige Gelegenheit, bei der Plutarch in De E apud Delphos diesen offiziellen Repräsentanten des Heiligtums zu Wort kommen lässt: Am Ende der Rede, die er sein jugendliches Ich wenig später halten lässt, gestaltet er eine kleine, aber für die vorliegende Frage nach Plutarchs möglicher Identifikation mit den Ausführungen des Nikandros sehr instruktive Szene, in der sich die im Hauptauftritt des Priesters angelegten Hinweise auf ein ironisches Verhältnis des Autors zu dieser Figur bestätigen. 5.5 Plutarchs vaticinium ex eventu über seine Priesterschaft als indirekte Charakteristik des Nikandros Der kurze Wortwechsel, den der Autor ‚Plutarch‘ mit Nikandros im 16. Kapitel von De E apud Delphos führen lässt, enthält in der Form eines vaticinium ex eventu eines der raren Zeugnisse für Plutarchs Einstellung gegenüber der Rollenauffassung der delphischen Priester, dem umso größere Bedeutung zukommt, als Plutarch hier einen Hinweis auf sein späteres Amt ausgerechnet in einem Kontext gibt, in dem er die persona, die seinen eigenen Namen trägt, gerade den Anspruch des geweihten Priesters auf besondere Wissensprivilegien souverän-ironisch kommentieren lässt.                                                             

De E 5, 386C ἐπεὶ δ᾿ ἴδιον τὸ ἐρωτᾶν ὡς μάντιν ἐστὶν ἡμῖν καὶ τὸ εὔχεσθαι κοινὸν ὡς πρὸς θεόν, οὐχ ἧττον οἴονται τῆς πευστικῆς τὴν εὐκτικὴν τὸ γράμμα περιέχειν δύναμιν. 125

5. Die Rede des Nikandros

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Nachdem ‚Plutarch‘ die Bedeutung der Zahl Fünf, für die nach seiner Ansicht das E steht, in allen nur denkbaren Bezügen dargestellt hat, wendet er sich abschließend an die Gruppe der delphischen Offiziellen um Nikandros. Dabei bereitet schon die Einflechtung eines Orphikerzitates, das eine Anrede an Eingeweihte darstellt,126 das Folgende ironisch vor, denn ‚Plutarch‘ schickt sich an, eine weitere Bedeutung der Fünf anzusprechen, die im unmittelbaren Zuständigkeitsbereich der Priester liegt. Er fragt Nikandros, ob nicht auch bei den Vorbereitungen, denen die Pythia im Prytaneion vor ihrem Orakeldienst unterzogen werde und zu denen auch ein Loswerfen gehöre, die Zahl Fünf eine besondere Rolle spiele. Der Angeredete antwortet knapp mit einer Bestätigung von ‚Plutarchs‘ Behauptung, fügt jedoch sogleich hinzu, dass der Grund für die Rolle der Fünf in diesen Riten gegenüber Außenstehenden nicht ausgesprochen werden dürfe.127 Hierauf schließt ‚Plutarch‘ seine Rede mit Worten, die – wie der Autor bemerkt – von einem Lächeln (ἔφην ἐγὼ μειδιάσας) begleitet waren: „Nun gut, bis es mir der Gott verstattet, die Wahrheit zu erfahren, wenn ich ein Geweihter geworden bin, soll auch dies zu meinen Ausführungen zum Lob der Zahl Fünf gehören.“128 Geht man von der gängigen These aus, dass Nikandros in De E apud Delphos das priesterliche alter ego des Autors darstellt, so läge an dieser Stelle eine leichte Distanzierung des Autors von seinem jugendlichen Ich vor, der sich mit dem Priester Nikandros insofern solidarisiert, als er ja selbst zum Zeitpunkt der Abfassung der Schrift als tatsächlich „geweihter“ Priester des Apollon über das Geheimwissen verfügt, das Nikandros ‚Plutarch‘ aus in diesem Fall gutem Grund nicht eröffnen will.129 Besieht man                                                             

126 De E 16, 391D ἐπὶ τούτοις, ἔφην, εἰρημένοις πρὸς ὑμᾶς ‚ἓν βραχύ‘ τοῖς περὶ Νίκανδρον ‚ἀείσω ξυνετοῖσι‘ (Frg. 334 KERN). 127 De E 16, 391D καὶ ὁ Νίκανδρος οὕτως εἶπεν· ἡ δ᾿ αἰτία πρὸς ἑτέρους ἄρρητός ἐστιν. 128 De E 16, 391E οὐκοῦν […] ἄχρι οὗ τἀληθὲς ἡμῖν ὁ θεὸς ἱεροῖς γενομένοις γνῶναι παράσχῃ, προσκείσεται καὶ τοῦτο τοῖς ὑπὲρ τῆς πεμπάδος λεγομένοις. 129 Vgl. DEL CORNO (1983) 47 im Zusammenhang mit Plutarchs Verlegung des Gesprächs in die Zeit seiner Jugend: „[…] solo così può sviluppare tutto il suo profumo questa ricerca del tempo perduto, che s’accende della nostalgia per la dolce immagine di Ammonio, l’amato maestro ora scomparso, e del sorriso sulle proprie antiche infatuazioni – adesso che gli anni sono trascorsi, e si è avverata la scherzosa profezia del giovane Plutarco, „queste cose potremo saperle solo quando saremo iniziati“, che è al tempo stesso un allusivo avvertimento a non prendere troppo sul serio le opinioni espresse dall’autore nella sua figura ‚giovanile‘.“ Ähnlich SIRINELLI (2000) 423f. im Zusammenhang mit den Zeitebenen des Dialogs in platonischer Manier, die es Plutarch erlaubten, sein ganzes Leben zu überblicken „Elle [sc. cette technique, Anm. d. Verf.] permet à Plutarque d’embrasser toute sa vie d’un seul regard et de la mettre tout entière sous le regard des autres. En effet le jeune Plutarque du récit, s’adressant à Nicandre, prêtre ou prophète d’Apollon à cette époque, lui dit en souriant: „Il nous faudra donc attendre d’être nous-même prêtre du dieu pour connaître la vérité sur ce point.“ Ce clin d’œil du jeune Plutarque au vieux ou du

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III. Hauptgespräch

die Stelle jedoch genauer, so scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Zwar kommt Nikandros nicht umhin, ‚Plutarchs‘ Frage nach seinem Tun im Prytaneion zu bestätigen, doch hebt er sogleich darauf ab, dass der Grund für diese Praktiken einer Art Schweigegebot unterlägen (ἄρρητον), mithin ein exklusives Wissen von Eingeweihten darstellen. Bemerkenswerter Weise hatte freilich ‚Plutarch‘ gar nicht nach der tieferen Bedeutung der Fünf im Losverfahren der Priester gefragt, sondern sich nur bei Nikandros versichern wollen, dass die Fünf bei der Vorbereitung der Pythia eine gewisse Rolle spiele, hatte also keineswegs über seinen Kompetenzbereich als Laie hinausgegriffen. Es ist vielmehr Nikandros, der in ‚Plutarchs‘ Hinweis auf die Rolle der Fünf in den priesterlichen Riten reflexartig einen Übergriff des jungen Mannes auf seine privilegierte Rolle am Heiligtum vermutet, und es sich nicht nehmen lassen kann, diesen mit dem Hinweis auf sein Priesteramt in die Schranken zu weisen. So tritt auch hier in Plutarchs Darstellung erneut der gravitätische Habitus des Nikandros hervor, der im Gespräch mit ‚Plutarch‘ genauso ängstlich seine Privilegien verteidigt, wie er sich schon von Lamprias’ harmloser Berufung auf eine angeblich dessen Ausführungen zugrundeliegende Lokaltradition zu einem ähnlichen Auftritt hatte provozieren lassen. Unter diesen Voraussetzungen kann dann freilich ‚Plutarchs‘ Reaktion, er müsse sich eben gedulden, bis der Gott selbst ihm die Wahrheit enthülle, wenn er dieselben Weihen wie Nikandros empfangen habe, nur als ironisch verstanden werden; das begleitende Lächeln signalisiert die souveräne Überlegenheit nicht nur ‚Plutarchs‘, sondern auch diejenige des Autors, der auf dieses Lächeln explizit hinweist, gegenüber der Geheimniskrämerei des Nikandros, die einmal mehr die Bedeutung der eigenen Amtsfunktion unterstreichen soll. Da es sich an dieser Stelle um ein einmaliges vaticinium ex eventu auf Plutarchs Priestertätigkeit in Delphi handelt, und Plutarch sich sichtlich, wenn auch urban, über den früheren Priester Nikandros lustig macht, hat dies großes Gewicht für die Beantwortung der Frage, ob Plutarch De E apud Delphos oder die ‚Pythischen Dialoge‘ insgesamt im Habitus eines von Amts wegen mit Autorität ausgestatteten Apollonpriesters geschrieben hat und ob er von seinen Lesern entsprechend als solcher verstanden werden wollte. Was schon das Nikandrosbild, das Plutarch in dessen Rede zeichnet, sowie seine Schilderung der delphischen Fremdenführer in De Pythiae oraculis unzweifelhaft erkennen ließ, dominiert auch in dieser Passage von De E apud Delphos: Die Haltung der ironischen Distanz des Autors zu denjenigen Personen, die Delphi offiziell vertreten. Die Respektlosigkeit, mit der Plutarch die intellektuellen und sozialen Defizite dieser Gesellschaft vorführt, deutet darauf hin, dass für ihn sein eigener offizieller                                                              vieux au jeune est dans la meilleure manière platonicienne. Plutarque à la fin de sa vie l’embrasse tout entière et peut-être en savoure l’unité.“

5. Die Rede des Nikandros

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Dienst als Priester des Apollon kaum sein Selbstverständnis als Autor der ‚Pythischen Dialoge‘ mitbestimmt haben dürfte, zumindest nicht in der Weise, dass er aus seinem Amt wie die persona Nikandros irgendeine Autorität zur Lösung der Fragen, die er in diesen Texten aufwirft, abgeleitet hätte. Für Plutarch scheint nach seiner Übernahme eines Priesteramtes in Delphi eine derartige Einstellung angesichts der Erklärungsbedürftigkeit der dortigen Baulichkeiten und Gebräuche sowie seiner akademischen Neigung zur Skepsis keine befriedigende Option gewesen zu sein, wie sich mit einiger Sicherheit aus dem, wenn auch stark stilisierten, autobiographischen Abriss seiner Beschäftigung mit dem delphischen E im Proömium der Schrift erkennen lässt: Dort legt er allen Wert darauf, festzustellen, dass er den fremden Delphibesuchern, von denen er doch wohl als deutungsbevollmächtigte Autorität konsultiert worden sein soll, gerade keine bereits vorliegende „offizielle“ Erklärung für das E präsentiert, sondern mit ihnen ein mehrere Möglichkeiten abwägendes Gespräch geführt habe.130 Dies ist freilich die Methode, die er als Autor in allen seinen ‚Pythischen Dialogen‘ der Erörterung der sich dort stellenden Fragen zugrundelegt. Die ironische Distanz, die Plutarch gegenüber der Figur des Nikandros durchblicken lässt, hat in der Rede, die Nikandros in De E apud Delphos hält, weitere Spuren hinterlassen, die zwar nicht den materialen Inhalt von Nikandros’ Deutungsansatz betreffen müssen, wohl aber deutlich machen, dass Plutarch in De E apud Delphos mit der Figur des Nikandros vor allem einer ortstypischen geistigen Schlichtheit ein ironisches Denkmal gesetzt hat. An zwei Details von Nikandrosʼ Rede, der Verwendung eines Archilochoszitates und an Nikandrosʼ Ausfall gegen die „Dialektiker“, soll gezeigt werden, wie Plutarch die Halbbildung des Priesters in witziger Weise vorführt. 5.6 Nikandros und Archilochos: Komische Halbbildung Zum Beleg der zweiten Deutung des E als Bestandteil der Gebets- und Wunschformel εἰ γάρ, lässt Plutarch Nikandros den Archilochosvers (Frg. 118W) εἰ γὰρ ὣς ἐμοὶ γένοιτο χεῖρα Νεοβούλης θιγεῖν zitieren. Da Apollon von vornherein wohl keinem antiken Leser als der geeignete Adressat für ein Gebet erscheinen dürfte, in dem ein Mann um göttlichen Beistand beim ersehnten Händchenhalten mit einer Frau bittet, liegt der Verdacht nahe, dass Plutarch Nikandros dieses Archilochoszitat nicht ohne Hintergedanken in den Mund gelegt hat. Plutarch darf zunächst sowohl hinsichtlich der nur bei ihm überlieferten Archilochoszitate (wozu Frg. 118W zählt) als auch aufgrund der ästhetisch-moralischen Einschätzungen, die er in seinen                                                              130

Vgl. dazu oben, S. 60f.

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III. Hauptgespräch

Schriften über Archilochos abgibt, eine eingehende Kenntnis dieses Dichters unterstellt werden.131 Es würde demnach verwundern, wenn er als Autor von De E apud Delphos sich nicht dessen bewusst gewesen sein sollte, dass Archilochos nur schwerlich im Zusammenhang mit der Argumentation des Nikandros zitiert werden kann, ohne bei einem halbwegs literarisch orientierten Leser – Sarapion, der Adressat des Dialogs, wird von Plutarch ja als Autorität für Dichtung charakterisiert132 – das Gefühl eines bemerkenswerten Missverhältnisses zwischen der sonst so gravitätischen Haltung des Redners und dem von ihm gewählten literarischen Beleg für die Funktion des E als Gebetsformel in der Anrufung des Apollon hervorzurufen. Wenn Plutarch in seinen sonstigen Schriften Archilochos einmal nicht, wie er es in der Regel tut, aus rein rhetorischen, stilistischen, grammatikalischen oder antiquarischen Gründen zitiert,133 sondern auf die von ihm wahrgenommenen Charakteristika dieser Dichtung zu sprechen kommt, so lässt er eine spürbare Abneigung durchblicken: Wie er den Invektivenstil der archilochischen Jambendichtung als πικρόν, ἀκόλαστον und παιδαριῶδες brandmarkt,134 so bezeichnet er Archilochos’ argumentum als                                                              131 Vgl. V. BLUMENTHAL (1922) 43 „Dass dieser ausgezeichnete und hochgebildete Mann die Gedichte des Archilochos wie so viele andere alte Dichter noch selbst gelesen hat, kann um so weniger bezweifelt werden, als die uns erhaltenen Papyrusreste archilochischer Verse aus dem späten zweiten Jahrhundert stammen und beweisen, dass sowohl Elegieen wie Epoden damals noch in den Händen des Publikums waren. […]. Ist es aus den gegebenen Gründen schon mehr als wahrscheinlich, dass Plutarch sich unmittelbar mit dem Dichter beschäftigt hat, so wird dies durch sein von allem Konventionellen abweichendes und an die frühantike Wertung anknüpfendes Urteil über Archilochos in jeder Weise bestätigt.“ 132 Vgl. oben, S. 37. 133 So führt Plutarch z.B. das berühmte Frg. 1W (wie auch im Folgenden nach seiner eigenen Zitierweise) ἀμφότερον, θεράπων μὲν Ἐνυαλίοιο θεοῖο / καὶ Μουσέων ἐρατᾶν δῶρον ἐπιστάμενος Phoc. 7, 6 zur Illustration des politischen Stils eines Perikles, Aristeides und Solon an, an dem sich auch Phokion orientiert, indem er gleichzeitig Friedenspolitik betreibt und außerordentlich viele Feldzüge unternimmt (Phoc. 8, 1): οὕτω δὲ συντάξας ἑαυτόν, ἐπολιτεύετο μὲν ἀεὶ πρὸς εἰρήνην καὶ ἡσυχίαν, ἐστρατήγησε δὲ πλείστας οὐ μόνον τῶν καθ᾿ ἑαυτόν, ἀλλὰ καὶ τῶν πρὸ αὑτοῦ στρατηγίας κτλ.; Frg. 53W μηδ᾿ ὁ Ταντάλου λίθος / τῆσδ᾿ ὑπὲρ νήσου κρεμάσθω wird Praec. r.p. ger. 6, 803A als Beispiel für wünschenswerten Metapherngebrauch in der Rede des Politikers zitiert; Frg. 57W enthält den Begriff κεροπλάστην, den Plutarch De soll. an. 24, 977A zur sachlichen Erklärung einer Homerstelle (Il. 24, 80) heranzieht; Frg. 3W wird Thes. 5, 2 zur Illustration der traditionellen Nahkampftechnik der Abantier zitiert. 134 Vgl. Cat. Min. 7, 2 über eine moralisch-literarische Jugendsünde Catos, die immerhin nicht jede Unschicklichkeit des Archilochos nachahmt: ὁ δὲ Κάτων σφόδρα παροξυνθεὶς καὶ διακαείς […] ὀργῇ καὶ νεότητι τρέψας ἑαυτὸν εἰς ἰάμβους, πολλὰ τὸν Σκιπίωνα καθύβρισε, τῷ πικρῷ προσχρησάμενος τοῦ Ἀρχιλόχου, τὸ δ᾿ ἀκόλαστον ἀφεὶς καὶ παιδαριῶδες.

5. Die Rede des Nikandros

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durchwegs anstößig,135 wobei sich der Dichter in Plutarchs Augen besonders unrühmlich über Frauen geäußert habe, und dies in einer solchen Frequenz, dass sich aus seinen Dichtungen ein einschlägiges Florilegium anlegen ließe.136 Das von Nikandros zitierte Frg. 118W gehört mindestens in den weiteren Kreis derjenigen Gedichte des Archilochos, deren argumentum derb-sexuellen Charakters ist, und unter denen sich in Gestalt der sogenannten Kölner Epode (Pap. Colon. Inv. 7551) zusätzlich ein Paradebeispiel für die von Plutarch erwähnten üblen Äußerungen über Frauen – konkret: über eben jene Neobule – findet, die auch in Nikandrosʼ Zitat erwähnt wird. Die moderne Forschung hat Nikandros’ Archilochoszitat und einer womöglich von Plutarch mit seiner Verwendung intendierten komischen Wirkung bislang wohl nicht zuletzt deshalb keine Beachtung geschenkt, da der Vers εἰ γὰρ ὣς ἐμοὶ γένοιτο χεῖρα Νεοβούλης θιγεῖν in einer außerordentlich wirkungsmächtigen Tradition als Teil eines autobiographischen, aus den Gedichten selbst rekonstruierten „Archilochosromans“ verortet ist, in dem die dort erwähnte Neobule eine Hauptrolle spielt: Der Vers wird in der Regel als ein zarter Wunsch des unschuldig-verliebten Dichters zum Zeitpunkt der Anbahnung einer Beziehung zu Neobule gelesen, deren weitere Station ein Heiratsversprechen ihres Vater Lykambes gewesen sein soll; dieses Versprechen jedoch habe dieser bald gebrochen137 worauf der Dichter sowohl den eidbrüchigen Vater als auch die in Sippenhaft genommene Tochter aus Rache mit wüstestem Spott überzogen und damit die ganze Familie in den Selbstmord getrieben haben soll. Die Kölner Epode mit ihren groben Beschimpfungen gegen Neobule wäre demnach ein Dokument des späteren Racheexzesses des Archilochos, Frg. 118W εἰ γὰρ ὣς ἐμοὶ γένοιτο χεῖρα Νεοβούλης θιγεῖν noch ein romantischer Seufzer aus der Zeit vor dem Zwist,138 dessen Harmlosigkeit Nikandrosʼ Zitat ganz unverfänglich erscheinen lässt.                                                             

Vgl. De aud. 13, 45AB μέμψαιτο δ᾿ ἄν τις Ἀρχιλόχου μὲν τὴν ὑπόθεσιν κτλ. (es folgen weitere Beispiele für spezifische Schwächen von Dichtern und Rednern, z.B. Euripides’ λαλιά). Auch wenn Plutarch dieses Gedankenexperiment mit der Absicht einführt, darauf zu verweisen, dass die individuellen Schwächen eines Literaten nicht dessen Stärken vergessen lassen sollen, hat auch „die halbe Billigung“ an dieser Stelle zweifellos „einen unfreundlichen Nebenton“ (V. BLUMENTHAL, 1922, 44). 136 Vgl. De cur. 10, 520A, wo die unziemlichen und unverschämten Äußerungen des Archilochos über Frauen als Beispiel für die schlimmsten Fehler der alten Literatur erscheinen: φέρε γάρ, εἴ τις ἐπιὼν τὰ συγγράμματα τῶν παλαιῶν ἐκλαμβάνοι τὰ κάκιστα τῶν ἐν αὐτοῖς καὶ βιβλίον ἔχοι συντεταγμένον οἷον Ὁμηρικῶν στίχων ἀκεφάλων καὶ τραγικῶν σολοικισμῶν καὶ τῶν ὑπ᾿ Ἀρχιλόχου πρὸς τὰς γυναῖκας ἀπρεπῶς καὶ ἀκολάστως εἰρημένων κτλ. 137 Vgl. Arch. Frg. 172–181W. 138 Die Auffindung und Publikation der Kölner Epode konnte entsprechend bei einem der beiden Editoren, R. MERKELBACH, der ein Anhänger der autobiographischen Lesart der 135

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III. Hauptgespräch

Freilich ist nirgendwo – auch nicht in der späteren Legendenbildung über den Untergang des Hauses des Lykambes – zuverlässig belegt, dass die Neobule, die in Frg. 118W und in der Kölner Epode erscheint, in Archilochos’ Gedichten tatsächlich als die Tochter des Lykambes und entsprechend als die einmal versprochene Braut firmierte,139 denn kein Zeugnis nennt beide Namen.140 Und selbst wenn die Neobule in der Kölner Epode eine ehemals versprochene, dann versagte und schließlich wieder durch eine Vermittlungsperson neu angetragene, aber brutal verschmähte Braut sein sollte, so besagt dies über den Kontext von Frg. 118W nichts. Es deutet vielmehr vieles darauf hin, dass die Rekonstruktion eines autobiographischen Rahmens für die Gedichte des Archilochos – da aus den Gedichten selbst gewonnen und mithin auf einem Zirkelschluss beruhend – keinen äußeren Anhalt für die Interpretation der Fragmente bieten kann.141                                                              archilochischen Gedichte zu sein scheint, eine derart große Erschütterung zeitigen, dass er sich am Ende der Edition zu einem „Epilog des einen der Herausgeber“ genötigt sah, der hier in weiten Teilen zitiert werden soll, da er wie kaum eine andere Stellungnahme zu Archilochos die dramatischen Folgen der Projektion moderner Lebens- und Liebeskonzepte in die fragmentarischen Reste archaischer Dichtung exemplifiziert: „Die neuen Gedichte sind sehr gut, wie man erwarten durfte, – und doch auch sehr schlimm. Dass Archilochos nicht nur ein glänzender Dichter und kräftiger Mann gewesen ist, sondern auch ein schwerer Psychopath, konnte man immer wissen; „schwerlich war er als Mensch erfreulich“, hat Wilamowitz gesagt (Die griechische Literatur des Altertums2, 1912, 31). Vermutlich hat er, selbst ein νόθος, in seiner Jugend viel Zurücksetzung ertragen müssen und ist dadurch auch in seinem Wesen geprägt worden: Was seine Mutter und er erlitten hatten, das mussten später andere büssen. Das erste der neuen Gedichte zeigt nun, dass Archilochos die Schwester der Neobule, die sichtlich noch ein Kind war, überwältigt hat, offenbar nur um sich an Lykambes und Neobule zu rächen. Dem Mädchen, das (etwa) gesagt hatte „σπεισώμεθα, wir wollen uns wieder vertragen“, hat er geantwortet „σπείσομαι, ja, aber nur sexuell“; die Versöhnung hat er weit von sich gewiesen. Er hat rücksichtslos bekannt gemacht, dass er das Mädchen „gehabt“ hatte, um auf diese Weise die ganze Familie des Lykambes zu blamieren. Gleichzeitig hat er seine frühere Geliebte Neobule grausam verspottet; in diesem Gedicht hat das Umspringen des Metrums aus Iamben in die ἡμιέπη fast die Wirkung eines teuflischen Gelächters […].“ (MERKELBACH – WEST, 1974, 113). 139 Vgl. GELZER (1974) 487f.: Diese Verbindung lässt sich erst in den pseudacronischen Scholien zu Horaz aus dem 5.–7. Jh. n. Chr. nachweisen. 140 Der Versuch CAREYs (1986) 62, die Formulierungen Νεοβούλη[ν / ἄ]λλος ἀνὴρ ἐχέτω (V. 24f.) und ὅ]πως ἐγὼ γυναῖκα τ[ο]ιαύτην ἔχων / γεί]τοσι χάρμ᾿ ἔσομαι (33f.) dahingehend auszulegen, dass Archilochos hier die Ehe mit Neobule ablehne, erscheint im ansonsten rein sexuellen Kontext der Kölner Epode mindestens gewagt. Selbst wenn hier von der Möglichkeit einer ehelichen Verbindung die Rede wäre, fehlte auch in diesem Text jeder Hinweis auf Lykambes. 141 Vgl. LEFKOWITZ (1976) 181f. „The other compelling reason not to try to fit the new poem [sc. die Kölner Epode, Anm. d. Verf.] into the framework of Archilochus’ biography is that we know nothing about Archilochus’ life, since all the biographical „data“ we have about Archilochus (and for that matter, about every other archaic poet) was generated from

5. Die Rede des Nikandros

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Sollte der Vers, den Plutarch Nikandros zitieren lässt, vollkommen unverfänglich sein, müsste man für Plutarch voraussetzen, dass er einem in der eben beschriebenen Weise rekonstruierten, romantisch-romanhaften Archilochosbild anhing. Da für Plutarch jedoch eine romanhafte, in den Gedichten selbst gespiegelte Vorstellung des Lebens des Archilochos nicht nachweisbar ist,142 wohl aber ein Bewusstsein für die anstößigen Elemente von Archilochos’ Dichtung,143 drängt sich eine Überprüfung der Situierung von Frg. 118W und seiner vermeintlichen Harmlosigkeit in der Dichtung des Archilochos nachgerade auf, und in dieser Hinsicht bietet sich die Kölner Epode, das einzige Zeugnis archilochischer Dichtung, das außer Frg. 118W noch den Namen der Neobule enthält, vorzüglich an. Dieser Text zeigt einen Ich-Sprecher, der zunächst eindeutige sexuelle Wünsche gegenüber einer weiblichen Person äußert, um darauf die Ablehnung der ihm von dieser stellvertretend angetragenen Neobule ausführlich zu begründen: Ein anderer Mann soll Neobule haben, denn ihre körperlichen Reize, die sie einmal hatte, sind dahin;144 Neobule wird sexuelle Gier, ja Raserei unterstellt;145 sie ist unzuverlässig und verlogen, da promiskuitiv146, im Grunde eine Hure147, kurz: für den Ich-Sprecher sexuell nicht mehr anziehend. Was den Ich-Sprecher hingegen an der Angeredeten interessiert, ist ihre jugendliche Unschuld, beziehungsweise, dass sie die an Neobule kritisierten Eigenschaften nicht besitzt, worin für ihn offenbar der sexuelle Reiz besteht, den sie auf ihn ausübt. Die Konzession des Ich-Sprechers, Neobule habe einmal einen Reiz besessen (χάρις ἣ πρὶν ἐπῆν) legt entsprechend den Umkehrschluss nahe, dass der Ich-Sprecher Neobule zu einem früheren Zeitpunkt ähnlich                                                              Archilochus’ poetry by critical speculation, starting in the fifth century. This means, of course, that the details of Archilochus’ life as they have come down to us, no matter how plausible they may sound, were invented long after the fact.“ Vgl. auch die grundsätzlichen Bedenken gegenüber der autobiographischen Methode, die GELZER (1974) 485ff. erhoben hat. 142 Die einzige Erwähnung eines derartigen Erzählmusters mit Bezug auf Archilochos findet sich in De sera 17, 560DE, einer womöglich delphischen Lokallegende von der Sühne, die demjenigen, der Archilochos als einen ἱερὸς ἀνὴρ τῶν Μουσῶν getötet hatte, von der Pythia auferlegt worden war. 143 Die von LEFKOWITZ (1976) 181 als Grundproblem der autobiographischen Forschungsrichtung zu fragmentarisch überlieferten Dichtern angesprochene „concentration on poet rather than poetry“ kann man Plutarch bezüglich Archilochos – anders als vielen seiner Vorgänger (z.B. Kritias) und Nachfolger (z.B. MERKELBACH) im Bereich der Philologie – kaum vorwerfen. 144 Vgl. Pap. Colon. inv. 7551 MERKELBACH – WEST V. 16ff. Νεοβούλη[ν μὲν ὦν] / [ἄ]λλος ἀνὴρ ἐχέτω· αἰαῖ πέπειρα δ [ / [ἄν]θος δ᾿ ἀπερρύηκε παρθενήϊον / [κ]αὶ χάρις ἣ πρίν ἐπῆν. 145 Vgl. ibid., V.19f. κόρον und μαινόλις γυνή. 146 Vgl. ibid. V. 24f. 147 Vgl. ibid. V. 26f.

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III. Hauptgespräch

begehrt hatte, wie nun das jüngere Mädchen der Kölner Epode, bei der er sein Ziel erreicht und den weiteren Fortgang seiner Eroberung bis zum Samenerguss beschreibt. Dass Archilochos in seiner Dichtung mithin jemals andere Interessen an einer Frau namens Neobule verfolgt haben sollte als sexuelle, lässt sich aus dem einzigen Referenztext zu Frg. 118W, der gleichzeitig das umfassendste erhaltene Zeugnis der Präsentation der Neobule bei Archilochos überhaupt darstellt, nicht ableiten, im Gegenteil: Neobule wird als eine Person beschrieben, die ehedem die gleiche Attraktivität besaß, die die tatsächliche Eroberung des Ich-Sprechers in der Kölner Epode aktuell besitzt, und der Fortgang des Gedichtes zeigt, dass dies eine rein sexuelle148 ist. Mithin sollte nicht die sexuelle Drastik der Kölner Epode biographisch-moralisch vor dem Hintergrund des „romantischen“ Frg. 118W gelesen werden, sondern Frg. 118W im Kontext von Archilochos’ in der Kölner Epode dargestellten rein sexuellen Erwägungen über eine Beziehungsaufnahme zu dem dort eingeführten Mädchen, das der Ich-Sprecher aus Gründen der Attraktivität diesmal Neobule vorzieht. Für das von Nikandros zitierte Frg. 118W bedeutet dies, dass es sich dort nach allem, was uns über Archilochos’ Interesse an Neobule bekannt ist, um die Anbahnung eines Sexualkontaktes handelt, und es spricht alles dafür, dass der Dichter es keineswegs bei einem unverfänglichen Händchenhalten zu belassen gedachte, wie auch immer die Vorstellungen und Wünsche, denen Archilochos im verlorenen Kontext von Frg. 118W Ausdruck verliehen hat, im Detail ausgesehen haben mögen. In dieser Interpretationslinie wird entsprechend seit ELMSLEY intensiv die Frage diskutiert, ob nicht etwa Frg. 119W καὶ πεσεῖν δρήστην ἐπ᾿ ἀσκόν, κἀπὶ γαστρὶ γαστέρα / προσβαλεῖν μηρούς τε μηροῖς eine Fortsetzung von Frg. 118W darstellen könnte,149 mithin also das Berühren der Hand der Neobule in Frg. 118W einen ersten Schritt auf dem kurzen Wege zur erstrebten, derb imaginierten sexuellen Vereinigung beschreibt. So wenig mit letzter Sicherheit zu beweisen                                                              148

Vgl. die ernstzunehmenden Anfragen von LEFKOWITZ (1976) 185 an die mit dem „Archilochosroman“ verbundenen Vorstellungen über den biographischen Hintergrund der Kölner Epode (vgl. MERKELBACH oben, S. 131, Anm. 138): „[…] in editing the text, (a) why do we assume that the girl whom the poem’s narrator takes into the meadow is Neobule’s sister […]? (b) Why do we assume that the girl in the house (presumably the Neobule of 16) „greatly desires“ marriage […]? The traditional story of Lycambes (not to mention our Victorian heritage) makes us think that marriage is being (or at least ought to be) contemplated, but I wonder (on the basis of contemporary sociological data, not, of course, my own experience), if that is what the characters in this dialogue have in mind. (c) Is „love“ in the romantic sense an issue here at all?“ 149 Obschon die anatomischen Details in Frg. 119W nicht unumstritten sind (vgl. GERBER, 1975, 181–183; BOSSI, 1990, 173–176 mit ausführlicher Diskussion der Literatur; wenig überzeugend jetzt GÄRTNER, 2008, 6f.).

5. Die Rede des Nikandros

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ist, dass gerade die in Frg. 119W überlieferten Verse wirklich den Fortgang der in Frg. 118W erwünschten Berührung der Neobule beschreiben, so gut ist die Berührung der Hand als sexueller Topos in der griechischen Literatur belegt, und BOSSI kann zur Stützung der These einer möglichen Verbindung zwischen Frg. 118W und Frg. 119W auf je eine Passage bei Aristophanes und Theokrit verweisen, wobei zumal erstere sogar wörtliche Anklänge an eine mögliche Kombination beider Archilochosfragmente bietet.150 Vor einem solchen Hintergrund sowohl der bei Plutarch sonst bezeugten Einschätzung des Archilochos als auch vor dem literarischen Kontext, dem der Vers εἰ γὰρ ὣς ἐμοὶ γένοιτο χεῖρα Νεοβούλης θιγεῖν entstammt, kann die dem Nikandros in den Mund gelegte Heranziehung gerade dieses Verses zum Beleg für die allgemeine Gebetspraxis derer, die sich an Apollon wenden, nur in der Absicht von Plutarch eingefügt sein, Nikandros als Figur zu ironisieren: Denn selbst wenn es sich bei dem Archilochosvers um ein Gebet handeln sollte, so wäre Apollon sicher nicht der angemessene Adressat, abgesehen davon, dass ein Gebet mit dem Wunsch der Erfüllung sexueller Sehnsüchte wohl viel zu sehr in den Bereich der Spottgebete eines Hipponax passen würde, als dass er sich zum Beleg der Bedeutung eines dem Apollon geweihten heiligen E-Zeichens eignete. Nikandros’ Ausflug in die Literaturgeschichte ist entsprechend nichts weiter als ein komischer Fehlgriff, und seine Darstellung durch Plutarch auf das Lachen des antiken, mit Archilochos vertrauten Lesers hinberechnet. 5.7 Nikandros und die Stoa: Ein missglückter Präventivschlag Wie gezeigt, sticht in der Präsentation des Nikandros der Charakterzug der Empfindlichkeit gegenüber jeder Infragestellung seines eingebildeten Deutungsmonopols für Rätsel wie das delphische E besonders deutlich hervor: Lampriasʼ rein redetaktische Berufung auf delphische Gewährsmänner hatte seinen Auftritt überhaupt erst motiviert, in dem er die wahre Auffassung der delphischen Honoratioren über das E gegen Lampriasʼ scheinbaren Übergriff auf deren Zuständigkeitsbereich mit besonderer Betonung der eigenen Priesterrolle ins rechte Licht zu rücken versuchte. Plutarch hat es freilich nicht dabei bewenden lassen, Nikandrosʼ Charakter durch seine reflexhafte

                                                            

150 Vgl. BOSSI (1990) 174f.: In Ar. Th. 1115ff. fordert „Euripides“ zunächst φέρε δεῦρό μοι τὴν χεῖρ᾿, ἵν᾿ ἅψωμαι, κόρη (1115), um kurz darauf das Ziel seiner Wünsche, πεσεῖν ἐς εὐνὴν καὶ γαμήλιον λέχος zu explizieren (1122); in Theoc. Id. 2, 138f. spricht ein Mädchen die Worte ἐγὼ δέ νιν ἁ ταχυπειθής / χειρὸς ἐφαψαμένα μαλακῶν ἔκλιν᾿ ἐπὶ λέκτρων.

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III. Hauptgespräch

Reizbarkeit gegenüber der von Lamprias in Wahrheit überhaupt nicht intendierten151 Angriff auf die in Delphi umlaufende Bedeutung des E zu illustrieren, sondern die Darstellung von Nikandrosʼ rechthaberischem Verhalten noch zusätzlich um einen präventiven Ausfall gegen die „Dialektiker“, also die Stoiker, ergänzt. Nikandros hatte seine erste Deutung des E als Fragepartikel εἰ in den indirekten Fragen, in deren Form die Priester die Anfragen der Konsultanten an den Gott weiterleiten, damit erklärt, dass es sich hierbei „um die Form und Gestalt der Begegnung mit dem Gott“152 handle, denn das εἰ („ob“) sei dasjenige Wort, mit dem die Fragen an den Gott beginnen, wie etwa, „ob sie siegen werden“, „ob sie heiraten werden“, „ob eine Seereise nützlich ist“, „ob es sinnvoll ist, Ackerbau zu treiben“, „ob es gut ist, zu verreisen.“153 Auf diese Erklärung folgt nun Nikandrosʼ Angriff auf die Stoa: „Den Dialektikern aber, die glauben, dass sich aus der Partikel εἰ und der mit ihr verbundenen Aussage kein reales Ding ergebe, hat der Gott, der weise ist, Lebewohl gesagt, weil er alle Fragen, die diesem „ob“ untergeordnet werden, sowohl als reale Dinge versteht als auch akzeptiert.“154 Obwohl der genaue Sinn dieser sehr komprimierten Stoikerkritik sowie ihr Zusammenhang mit Nikandrosʼ vorausgehender Deutung des delphischen E alles andere als klar sind,155 haben es die Erklärer der Stelle bei oberflächlichen Anmerkungen belassen, wohl nicht zuletzt deswegen, weil der Erklärungsbedarf von Nikandrosʼ Polemik als nicht allzu hoch eingeschätzt wird: Da es sich hier – wie in der Regel angenommen wird – um einen in den Schriften Plutarchs regelmäßig anzutreffenden, hier einmal durch den Mund des Nikandros geführten spöttischen Seitenhieb auf die Stoa handle,156 wurde weder die Bedeutung noch die sachliche Richtigkeit und argumentative Stichhaltigkeit der Worte des Nikandros weiter überprüft. So merkt ZIEGLER lediglich an, Nikandros’ Kritik beziehe sich auf die Ansicht der Stoiker, „dass der einfache, mit „ob“ eingeleitete Nebensatz kein korrekter und vollständiger Ausdruck des Gedankens sei;“157 MORESCHINI erklärt undeutlich, die Worte bezögen sich darauf, dass die Stoiker das Wort                                                             

151 Vgl. De E 4, 386B ὁ δὲ Λαμπρίας ἔλαθεν, ὡς ἔοικε, τοὺς ἀφ’ ἱεροῦ κινήσας ἐπὶ τὸν αὑτοῦ λόγον. 152 De E 5, 386B σχῆμα καὶ μορφὴ τῆς πρὸς τὸν θεὸν ἐντεύξεως. 153 De E 5, 386C … τῶν χρωμένων ἑκάστοτε διαπυνθανομένων, εἰ νικήσουσιν, εἰ γαμήσουσιν, εἰ συμφέρει πλεῖν, εἰ γεωργεῖν, εἰ ἀποδημεῖν. 154 De E 5, 386D τοῖς δὲ διαλεκτικοὶς χαίρειν ἔλεγε σοφὸς ὢν ὁ θεὸς οὐδὲν οἰομένοις ἐκ τοῦ εἰ μορίου καὶ τοῦ μετ᾿ αὐτοῦ ἀξιώματος πρᾶγμα γίγνεσθαι, πάσας τὰς ἐρωτήσεις ὑποτεταγμένας τούτῳ καὶ νοῶν ὡς πράγματα καὶ προσιέμενος. 155 Vgl. die Bemerkung bei HARTMANN (1916) 168f. „Atra nocte haec obscuriora, et fortasse perfecto dialectico opus est ad haec vel illustranda vel emendanda.“ 156 Vgl. für diese Ansicht BABUT (1969) 148. 157 ZIEGLER (1952) 287.

5. Die Rede des Nikandros

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εἰ allein als Konjunktion in hypothetischen Sätzen auffassten, mithin der Nebensatz allein keine Realität besäße;158 BABUT schließlich vermutet, Nikandros’ Worte spielten auf die stoische Lehre an, nach der die Aussage als solche (ἀξίωμα) und überhaupt jede sprachliche Äußerung an sich keinerlei Sein besitze.159 Die geringste Plausibilität kommt den beiden letztgenannten Deutungen zu, denn beide rekurrieren nicht auf den speziellen Fall eines aus „ob“ und einer Aussage gebildeten Nebensatzes, dem die Stoiker nach Nikandros die Funktion eines „realen Dings“ (πρᾶγμα) absprechen, sondern auf umfassendere Theorien der stoischen Sprachlehre, die in keinem zwingenden Zusammenhang mit den Worten des Nikandros stehen.160 ZIEGLERs Deutung orientiert sich hingegen stärker am Text, lässt jedoch Hinweise vermissen, welches stoische Theorem hinter den Worten des Nikandros stehen soll. Allerdings geben zwei direkte Bezüge innerhalb von De E apud Delphos Hinweise darauf, wie die Stelle inhaltlich zu verstehen ist, und ob Nikandrosʼ Präventivschlag überhaupt als ernstzunehmende Kritik an der Stoa aufgefasst werden soll.                                                              158 MORESCHINI (1997) 129, Anm. 41 „Si fa riferimento al ‚giudizio congiunto‘ (ἀξίωμα συνημμένον) degli Stoici (cf. SVF II, 203; 207ss.), i quali considerano l’εἰ un σύνδεσμος; è chiaro, pertanto, che la frase introdotta da quella congiunzione ipotetica è, presa per sé, priva di realtà.“ 159 BABUT (1969) 148 „Or, on sait que ce sont les Stoïciens qui refusaient toute réalité au jugement et, plus généralement, à toute la catégorie de l’„exprimable“.“ BABUT (1992) 195 „Les „dialecticiens“ attaqués par Nicandre ont toutes les chances d’être les Stoïciens, qui niaient la réalité substantielle de toute „proposition“ et de tout ce qui ressortit à la catégorie de „l’exprimable“. BABUT verweist zur Stützung seiner Deutung dieser Stelle auf Passagen wie De comm. not. 30, 1074D οὐθὲν οὖν ἔτι δεῖ λέγειν […] τὸ κατηγόρημα τὸ ἀξίωμα τὸ συνημμένον τὸ συμπεπλεγμένον, οἷς χρῶνται μὲν μάλιστα τῶν φιλοσόφων, ὄντα δ᾿ οὐ λέγουσιν εἶναι. Adv. Col. 15, 1116B πολλὰ γὰρ καὶ μεγάλα πράγματα τῆς τοῦ ὄντος ἀποστεροῦσι προσηγορίας […], ἁπλῶς τὸ τῶν λεκτῶν γένος, ἐν ᾧ καὶ τἀληθῆ πάντ᾿ ἔνεστι. Vgl. auch ibid., 22, 1119F. 160 MORESCHINIs (vgl. oben, Anm. 158) Deutung scheitert bereits daran, dass der Begriff ἀξίωμα so, wie er von Nikandros verwendet wird, nur einen Bestandteil des mit εἰ eingeleiteten Nebensatzes beschreibt, nämlich die Satzaussage in ihrer kürzestmöglichen Form, wie sie in Nikandros’ Beispielen als ein einfaches Verb (νικήσουσιν, γαμήσουσιν) erscheint, nicht jedoch das gesamte hypothetische Satzgefüge (ἀξίωμα συνημμένον). BABUTs (vgl. die vorige Anm.) Hinweis auf die Aussagen Plutarchs über die Stoa in De comm. not. und Adv. Col. trägt aus dem Grund nichts aus, als sie sich auf allgemeine Ansichten der Stoiker bezüglich des ontologischen Status von sprachlichen Äußerungen beziehen, Nikandros hingegen von einem speziellen Fall spricht, in dem sich aus der Kombination von εἰ und einer Aussage (ἀξίωμα) kein πρᾶγμα ergibt. Nichts deutet in Nikandros’ Worten darauf hin, dass der Terminus πρᾶγμα gleichbedeutend mit ὄν verwendet wird. Möglicherweise trägt BABUT mit seinem Rekurs auf den ontologischen Status der sprachlichen Äußerungen in der Lehre der Stoa, die von Nikandros gegen den „weisen“ Gott Apollon ausgespielt wird, die ontologische Deutung des E durch die Ammoniosrede schon in die Worte des Nikandros ein.

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III. Hauptgespräch

Zunächst zum inhaltlichen Aspekt: Der letzte Redner des Dialoges, Ammonios, unterzieht zu Beginn seines Beitrages sämtliche bisher geleisteten Deutungsansätze des E einer Generalkritik, die dem rhetorischen Ziel dient, den eigenen Lösungsversuch als jenen überlegen zu erweisen. Er erklärt das E als die Verbalform εἶ mit der Bedeutung „du bist“, die, wie er sich ausdrückt, eine „vollständige Anrede und Ansprache des Gottes“ darstellt;161 demgegenüber identifizierten alle Vorgängerlösungen, abgesehen von derjenigen, die das E mit der Zahl Fünf gleichsetzen,162 das Zeichen nur mit „unvollständigen Teilen“ der Rede.163 Unter diesen zurückgewiesenen Lösungen des E ist Nikandros’ Deutung als τάξις bezeichnet, hatte dieser doch dem εἰ im Sinne der indirekten Fragepartikel die τάξις ἡγεμονικὴ ἐν τοῖς ἐρωτήμασιν (De E 5, 386BC) zugewiesen. Im Gegensatz nun zu Ammonios’ Deutung des E als eines Vollverbs, das eine vollständige (αὐτοτελής) Aussage bildet, ist das εἰ des Nikandros prinzipiell unvollständig (ἐλλιπές), da ergänzungsbedürftig – mindestens, wie Nikandros’ eigene Beispiele zeigen, um ein Prädikat, das den Inhalt der indirekten Frage enthält. Die von Ammonios verwendete Terminologie verweist mithin im weitesten Sinne auf die Theorie der Stoiker von dem sprachlich vollständig oder unvollständig ausgedrückten und somit dem Denken durch sprachliche Vermittlung vorstellbaren oder nichtvorstellbaren Gegenstand, auf den die Rede referiert (σημαινόμενον, λεκτόν, auch: σημαινόμενον πρᾶγμα)164: Als vollständig ausgedrückte σημαινόμενα, sogenannte λεκτὰ αὐτοτελῆ, gelten solche sprachlichen Ausdrücke, die keiner weiteren Ergänzung bedürfen, um das Gemeinte sprachlich abzubilden und verstanden zu werden, etwa Sätze wie „Sokrates schreibt“, während unvollständig ausgedrückte σημαινόμενα, die λεκτὰ ἐλλιπῆ, ergänzt werden müssen, um das Gemeinte vollständig abzubilden und verständlich zu machen, so die an sich unverständliche Aussage „schreibt“ mit einem Subjekt, das den Schreiber bezeichnet, in diesem Beispiel „Sokrates“.165                                                             

De E 17, 392A ἀλλ᾿ ἔστιν αὐτοτελὴς τοῦ θεοῦ προσαγόρευσις καὶ προσφώνησις. Dies ergibt sich aus dem Zusammenhang, denn ein ἀριθμός kann wohl kaum sprachwissenschaftlich als „Teil der Rede“ bezeichnet werden. 163 De E 17, 391F οὔτ᾿ οὖν ἀριθμὸν οὔτε τάξιν οὔτε σύνδεσμον οὔτ᾿ ἄλλο τῶν ἐλλιπῶν μορίων οὐδὲν οἶμαι τὸ γράμμα σημαίνειν. 164 Vgl. zur Terminologie Steinmetz (1994) 595. Vgl. etwa SVF II 166 … οἱ ἀπὸ τῆς Στοᾶς, τρία φάμενοι συζυγεῖν ἀλλήλοις, τό τε σημαινόμενον καὶ τὸ σημαῖνον καὶ τὸ τυγχάνον, ὧν σημαῖνον μὲν εἶναι τὴν φωνήν, οἷον τὴν „Δίων“, σημαινόμενον δὲ αὐτὸ τὸ πρᾶγμα τὸ ὑπ’ αὐτῆς δηλούμενον καὶ οὗ ἡμεῖς μὲν ἀντιλαμβανόμεθα τῇ ἡμετέρᾳ παρυφισταμένου διανοίᾳ, οἱ δὲ βάρβαροι οὐκ ἐπαΐουσι καίπερ τῆς φωνῆς ἀκούοντες, τυγχάνον δὲ τὸ ἐκτὸς ὑποκείμενον, ὥσπερ αὐτὸς ὁ Δίων. τούτων δὲ δύο μὲν εἶναι σώματα, καθάπερ τὴν φωνὴν καὶ τὸ τυγχάνον, ἓν δὲ ἀσώματον, ὥσπερ τὸ σημαινόμενον πρᾶγμα, καὶ λεκτόν κτλ. 165 Vgl. z.B. SVF II 181 φασὶ δὲ [τὸ] λεκτὸν εἶναι τὸ κατὰ φαντασίαν λογικὴν ὑφιστάμενον. τῶν δὲ λεκτῶν τὰ μὲν λέγουσιν εἶναι αὐτοτελῆ οἱ Στωϊκοί, τὰ δὲ ἐλλιπῆ· ἐλλιπῆ μὲν 161 162

5. Die Rede des Nikandros

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Die Verbindung zwischen den eben erwähnten Worten des Ammonios im 17. Kapitel von De E apud Delphos und Nikandros’ Stoikerattacke besteht nun in der Verwendung des Terminus πρᾶγμα durch Nikandros, dem in Ammonios’ Ausführungen der Hinweis darauf entspricht, bei der Verbalform εἶ handle es sich um eine „vollständige“ Anrede: Wie Ammonios unter Rekurs auf die stoische Lehre von den unvollständigen σημαινόμενα die zuvor aufgebotenen Deutungsansätze, auch den des Nikandros, dem seinen nachordnet, der ihnen gegenüber ein vollständiges stoisches λεκτόν darstellt,166 so unterstellt Nikandros den „Dialektikern“, sie behaupteten, dass sich aus der Kombination der indirekten Fragepartikel (ἐκ τοῦ εἰ μορίου) mit einem folgenden ἀξίωμα, das heißt, einer in einem Prädikat bestehenden Aussage (bei Nikandros νικήσει etc.), kein πρᾶγμα ergebe, womit er offenbar das σημαινόμενον πρᾶγμα der stoischen Theorie meint; mithin sei das Gemeinte unvollständig ausgedrückt und damit nicht eindeutig bezeichnet. Wogegen Nikandros also die von ihm vertretene Lösung des E präventiv verteidigen zu müssen glaubt, ist der potenzielle Vorwurf der Stoiker, dass der Gott – sofern der Kontakt zwischen ihm und dem Konsultanten, wie Nikandros will, genau mit dem εἰ des indirekten Fragesatzes beginnt, in dem die Priester sein Anliegen an den Gott weiterreichen – nur λεκτὰ ἐλλιπῆ zu hören bekommt, die er als solche gar nicht verstehen kann: Einer Formulierungen wie „ob er siegen wird“ fehlt ja das Subjekt genauso, wie im obengenannten Beispiel der stoischen Theorie zu „schreibt“ erst „Sokrates“ ergänzt werden muss, um eine vollständige und damit verständliche Aussage zu bilden. Eine solche mögliche Kritik der Stoiker an seiner Lösung des E ist für Nikandros freilich deshalb nicht stichhaltig, weil Apollon schlichtweg „weise ist“ (De E 5, 386C σοφὸς ὢν ὁ θεός), mithin auch ohne die genaue Angabe des Subjektes des mit εἰ eingeleiteten Fragesatzes dessen Sinn verstehen könne. Wie genau freilich dem Gott seine Weisheit zum Verständnis der indirekten Fragen der Konsultanten verhilft, lässt Nikandros gänzlich offen. Der zweite Bezug in De E apud Delphos auf Nikandros’ Stoikerkritik, der die Frage nach der argumentativen Angemessenheit der Invektive klären kann, findet sich gleich zu Beginn der auf Nikandrosʼ Auftritt folgenden                                                              οὖν ἐστι τὰ ἀναπάρτιστον ἔχοντα τὴν ἐκφοράν, οἷον „γράφει“. ἐπιζητοῦμεν γάρ „τίς;“ αὐτοτελῆ δ᾿ ἐστὶ τὰ ἀπηρτισμένην ἔχοντα τὴν ἐκφοράν, οἷον· „γράφει Σωκράτης“. 166 Dies steht nicht im Widerspruch zu den oben angeführten stoischen Beispielen für vollständige („Sokrates schreibt“) und unvollständige („schreibt“) λεκτά, da Ammonios davon ausgeht, dass Apollon innerhalb der Kommunikation zwischen Mensch und Gott als einzigem das Prädikat εἶ zukommt, eine Ergänzung mithin nicht nötig ist, da sich die Frage τίς ἔστιν nicht stellen kann, vgl. De E 17, 392A ἡμεῖς δὲ πάλιν ἀμειβόμενοι τὸν θεὸν „εἶ“ φαμέν, ὡς ἀληθῆ καὶ ἀψευδῆ καὶ μόνην μόνῳ προσήκουσαν τὴν τοῦ εἶναι προσαγόρευσιν ἀποδιδόντες.

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III. Hauptgespräch

Rede des Theon, der sich anschickt, die „Dialektiker“ gegen den Platzverweis zu verteidigen, den ihnen der Priester im Namen des Apollon erteilt hatte. Plutarch führt Theon mit einem kurzen, an den Adressaten der Schrift gerichteten auktorialen Kommentar ein167 und berichtet, dieser habe unter dem Eindruck von Nikandros’ Einlassungen Ammonios gefragt, ob die Dialektik, die von seinem Vorredner derart vergewaltigt (οὕτω περιυβρισμένη) und in Verruf gebracht ( ἀκηκουία) worden sei, Redefreiheit genieße (εἰ διαλεκτικῇ παρρησίας μέτεστιν), er ihr also beispringen dürfe. Aus Ammonios’ von Plutarch berichteter Reaktion auf Theons Ansuchen geht hervor, dass dieser offenbar Theons Eindruck von der Behandlung der Dialektik durch Nikandros teilt, gibt er doch Theon nicht allein das Wort, sondern fordert ihn regelrecht auf, der Dialektik zu Hilfe zu kommen (τοῦ δ᾿ Ἀμμωνίου λέγειν παρακελευομένου καὶ βοηθεῖν).168 Wie Nikandros in seinen Äußerungen den Dialektikern ein Redeverbot erteilt hatte, so beruft sich Theon hier zunächst auf die παρρησία, die Grundvoraussetzung jedes philosophischen Gesprächs, um der Dialektik ihr Recht zu verschaffen. Noch bemerkenswerter als dieser Appell, der die Zustimmung des Ammonios ohnehin voraussetzen darf, da dieser ja selbst in seinem Vorwort zum Gespräch zu allgemeiner Beteiligung an der Lösung des E aufgerufen hatte, sind die weiteren Textsignale, die Plutarch hinsichtlich der argumentativen Verwendung der Stoikerthesen durch Nikandros gibt. Regelrecht „vergewaltigt“, mithin illegitim zu eigenen Zwecken missbraucht, habe Nikandros, so Theon, die Dialektik. Dabei ist der Theon hier in den Mund gelegte Begriff περιυβρίζειν denkbar scharf und zur Bewertung der Aussagen und Argumentationsweise eines Gesprächsteilnehmers in Plutarchs ganzem Werk singulär.169 Im Falle der hier so bezeichneten Dialektik scheint es sich entsprechend um den Vorwurf einer tendenziös verzerrten Darstellung stoischer Thesen durch Nikandros zu handeln. Diejenige Person, die im Kontext von De E apud Delphos und den ‚Pythischen Dialogen‘ die höchste fachliche Autorität für die Bewertung                                                             

De E 6, 386D οἶσθα γὰρ Θέωνα τὸν ἑταῖρον. Vgl. De E 6, 386D. 169 Plutarch verwendet in seinen sonstigen Schriften den Begriff περιυβρίζειν durchweg nur zur Bezeichnung von Übergriffen gegen sakrosankte Grundordnungen, wie die Religion, die Ämterwürde, die Gesetze und die Grundsätze menschlichen Zusammenlebens. Vgl. Cam. 18, 3 von einer Nichtberücksichtigung des Einspruchs von Priestern gegen einen Vorgang: οὕτω περιύβρισαν οἱ πολλοὶ τὰ θεῖα καὶ κατεγέλασαν κτλ. Sull. 9, 2 von der Misshandlung von Militärtribunen: τούτους [sc. τοὺς χιλιάρχους] θρασύτερον Σύλλᾳ διαλεχθέντας ὥρμησαν μὲν ἀνελεῖν οἱ στρατιῶται, τὰς δὲ ῥάβδους κατέκλασαν καὶ τὰς περιπορφύρους ἀφείλοντο καὶ πολλὰ περιυβρισμένους ἀπέπεμψαν κτλ. Eum. 6, 4 über Krateros’ Festhalten an den unter persischem Einfluss zu verderben drohenden hellenischen Sitten: … καὶ τοῖς πατρίοις ἐμμένων, διὰ τρυφὴν καὶ ὄγκον ἤδη περιυβριζομένοις. Vgl. ferner Pomp. 46, 3. Ant. 53, 1. Brut. 50, 8. 167 168

5. Die Rede des Nikandros

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von Aussagen besitzt, die die Lehren der Stoa betreffen, ist zweifellos Sarapion, der Adressat der Dialogtrias selbst, und so ist es gewiss kein Zufall, dass sich Plutarch im Rahmen der Vorstellung des Theon, der die Dialektik gegen die vorangegangene „Vergewaltigung und Rufschädigung“ durch Nikandros verteidigt, zum einzigen Mal im Dialogverlauf direkt an Sarapion wendet (De E 6, 386D οἶσθα γὰρ Θέωνα τὸν ἑταῖρον) und damit sowohl die eigene persönliche Bindung zu Theon betont als auch Sarapion an seine eigene Bekanntschaft mit Theon erinnert. In der Bewertung, die Plutarch Theon zu Nikandrosʼ Ausfall gegen die Stoa als einer „Vergewaltigung“ abgeben lässt, formuliert er somit offenbar eben jenen Widerspruch gegen Nikandrosʼ Stoikerkritik, die eine Fachautorität wie Sarapion seiner Ansicht nach erhoben haben würde, hätte er selbst an Stelle des Theon an jenem Gespräch in Plutarchs Jugend teilgenommen. Dass freilich Theon abgesehen von seiner entrüsteten Qualifizierung von Nikandrosʼ Aussagen über die Stoa kein Wort mehr auf deren konkrete Berichtigung verschwendet, hat seine Ursache in der bereits in der Klärung des technischen Aspektes von Nikandrosʼ Bezug auf die Sprachlehre der Stoa angedeuteten Fadenscheinigkeit von Nikandrosʼ Angriff: Natürlich ist es nicht die von Nikandros ins Feld geführte „Weisheit“ des Apollon, die diesen dazu befähigt, auch an sich nicht verständliche λεκτὰ ἐλλιπῆ wie „ob er siegen wird“ zu begreifen, sondern der schlichte Umstand, dass der Kontakt zwischen Mensch und Gott im Vorgang der Orakelkonsultation nicht erst mit dem „ob“ des indirekten Fragesatzes beginnt, sondern diesem selbstverständlich ein Hauptsatz vorangeht, der das Subjekt des Nebensatzes nennt: „Der oder der will wissen, ob er siegen wird“ ist die volle Formulierung, die Apollon jedes Mal zu hören bekommt, und es bedarf in diesem und allen vergleichbaren Fällen keiner besonderen Weisheit des Apollon, um zu verstehen, was an ihn herangetragen wird, sondern allenfalls einer kritischen Sichtung von Nikandrosʼ verunglücktem Versuch, seine eigene Lösung des E, die auf dem Beginn des Kontaktes zwischen Mensch und Gott exakt an der Stelle beharrte, an der das εἰ im Satz erscheint, gegen eine Kritik der Stoa zu verteidigen, die diese bereits wohl aus gesundem Menschenverstand niemals erhoben hätte. Plutarch hat die Rede des Nikandros mithin nach allem, was sich über ihre Einbindung in De E apud Delphos und ihre einzelnen Anklänge an diverse Themen in Plutarchs Werk sagen lässt, zum einen dazu genutzt, im Sinne seines mehrperspektivischen Ansatzes der Erörterung des delphischen E auch dessen mögliche Bedeutung als Frage- und Wunschpartikel im Zusammenhang mit dem traditionellen Kult in Delphi vorzuführen, für deren Präsentation sich ein Priester des Heiligtums als Sprecher bestens schickt. Andererseits hat jedoch in diesem Zusammenhang nicht mit Spott

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III. Hauptgespräch

in der Ethopoiie dieses Vertreters der ihm offenbar wohlbekannten delphischen Gesellschaft gespart, die mit philosophischen, mithin intellektuellkreativen Interpretationen der Rätsel des Heiligtums so wenig anfangen kann, dass sie ihnen sogar regelrecht feindselig begegnet. Die Rede des Nikandros scheint mithin keineswegs in erster Linie als Präsentation einer aus den Gegebenheiten des delphischen Kultes herausentwickelten Lösung intendiert, mit der der selbst in Delphi engagierte Autor zwangsläufig sympathisieren und zugleich den ersten, durch Lamprias geleisteten Deutungsansatz im Rahmen einer linearen Gesprächsprogression kritisieren müsste; vielmehr liefert er vor allem eine für den zeitgenössischen Leser amüsante, weil satirische Darstellung der auch in De Pythiae oraculis karikierten delphischen Lokalgrößen. Sowenig durch den Beitrag des Nikandros die Lösung des Lamprias diskreditiert werden soll, so sehr scheint Nikandros’ sophistischer Präventivschlag gegen vermeintliche Einwände der Stoa an der von ihm vertretenen Lösung im Rahmen des kunstvollen Arrangements des Gesprächsablaufs von De E apud Delphos neben seiner Funktion, Nikandros zu charakterisieren, vom Autor auf den nächsten Lösungsvorschlag, den Theon liefert, hinkomponiert zu sein: Die implizit angedeutete und explizit betonte Unseriosität der Attacke auf die „Dialektiker“ befeuert den nachfolgenden Sprecher erst recht, Apollons seiner Ansicht nach genuin dialektisches Wesen wortreich zu entfalten und mit seiner Deutung wieder die Philosophie gegen die Kleinkariertheit in ihr Recht zu setzen.

6. Die Rede des Theon: Apollon διαλεκτικώτατος Mit der Rede des Theon, der mit seinem Lösungsansatz für das delphische E die These vertritt, dass zwischen der von Nikandros verunglimpften Dialektik und dem delphischen Apollon sehr wohl eine enge Beziehung besteht, beginnt ein zweiter Hauptabschnitt von De E apud Delphos, der neben Theons Rede auch den an diese anschließenden Beitrag ‚Plutarchs‘ umfasst. Während die Reden des Lamprias und des Nikandros die Bedeutung des E vornehmlich aus dessen delphischem Kontext heraus zu erklären versuchten, wobei Lamprias einen Bezug zu den legendären Weisen, Nikandros zur Orakel- und Gebetspraxis in Delphi hergestellt hatte, zeichnen sich die beiden folgenden Redner dadurch aus, dass sie bei ihren Versuchen, die Bedeutung des E zu erklären, auf bestimmte philosophische Systeme rekurrieren und den besonderen Stellenwert hervorheben, den die von ihnen bevorzugte Bedeutung des E in deren Zusammenhang besitzt: Theon verteidigt die stoische Dialektik, indem er die Weihung des E als der Konjunktion εἰ aus deren Bedeutung für philosophische und mantische Wahrheitserkenntnis ableitet, ‚Plutarch‘ führt extensiv seine mathematischen Kenntnisse vor, um

6. Die Rede des Theon

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die Bedeutung der Fünf, für die das E in seinem Beitrag steht, in allen erdenklichen Bereichen der Philosophie herauszuarbeiten. Charakteristisch für die Gestaltung der Reden der beiden νέοι Theon und ‚Plutarch‘ ist vor allem ein Streben nach Virtuosität in ihren Versuchen, die Lehren der von ihnen bevorzugten Philosophenschulen bei der Deutung des E zur Anwendung zu bringen. Plutarch lässt sowohl Theon als auch sein jüngeres Ich jeweils ein Bravourstück geistreicher philosophischer Suche im Sinne der Präliminarien des Ammonios abliefern und präsentiert im Rahmen der mehrperspektivischen Erörterung des delphischen E eine stoische und eine mathematische Aktualisierung seines philosophisch-literarischen Repertoires. Freilich wurde der Rede des Theon aufgrund ihres stoischen Gehaltes von der Forschung beinahe durchgängig ein besonderes Engagement Plutarchs abgesprochen und keine differenzierte Deutung unternommen: Sofern nicht rein technische Details der ihr zugrundeliegenden stoischen Theoreme betroffen sind, zu deren Klärung hilfreiche Arbeiten existieren,170 erschöpfen sich die sonstigen Stellungnahmen zu Theons Rede nachgerade vollständig in Versuchen, die Unvereinbarkeit bestimmter Aussagen Theons mit von Plutarch anderwärts geäußerten, tendenziell antistoischen Vorstellungen nachzuweisen und auf diesem Wege zwischen Autor und Figur eine größtmögliche philosophisch-dogmatische Distanz herzustellen. Die eigentliche Qualität der Rede innerhalb des Dialoges De E apud Delphos scheint nach diesen Ansätzen bestenfalls in einer skurrilen Aristie der Erklärung des delphischen E mithilfe stoischer Irrlehren zu bestehen. Gleichwohl liegt in einer solcherart reduktionistischen Sicht auf Theons Rede nur eine Variation jener interpretatorischen Voreingenommenheit im Umgang mit De E apud Delphos vor, die in allen Beiträgen, die der vermeintlich „richtigen“ Ammoniosrede voraufgehen, nur Fehldeutungen des delphischen E erwartet. Wie wenig hilfreich und oberflächlich jedoch eine solche Herangehensweise an die einzelnen Beiträge von De E apud Delphos ist, konnte bereits in Ansätzen bei der Untersuchung der Lampriasrede gezeigt werden. Wenn nun die Rede des Theon untersucht werden soll, wird die Interpretation ihr Hauptaugenmerk konsequent auf den intellektuell-gestalterischen Aspekt einer produktiven Aktualisierung von Plutarchs stoischem Repertoire im Dienste jenes Aufrufs zur philosophischen Erklärung des E legen, den Plutarch durch Ammoniosʼ Einleitungsworte zur Leitidee des Dialogs gemacht hat;

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Zu verweisen ist hier vor allem auf die Untersuchung von BALDASSARRI (1993), der allerdings durch die mehr als unglückliche Wahl des Titels Ein kleiner Traktat Plutarchs über stoische Logik eine breitere Rezeption seiner Erläuterungen zur Rede Theons im Rahmen von De E apud Delphos auf Dauer verhindert haben dürfte, sowie OBSIEGER (2007).

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III. Hauptgespräch

inwiefern die genannten dogmatischen Kritik, der die Theonrede an zahlreichen Punkten ausgesetzt ist, überhaupt einen Beitrag zum Verständnis der Rede liefern kann, wird suo loco zu klären sein. 6.1 Die Einbindung von Theons Rede in den Gesprächsablauf Theons interpretatio Stoica des delphischen E wird durch alle171 Aussagen in De E apud Delphos, die sich auf seine Rede beziehen, als so gerechtfertigter wie glanzvoller Gesprächsbeitrag markiert: Bevor Theon mit seiner Rede anhebt, referiert Plutarch zunächst ein kurzes Gespräch172 zwischen Theon und Ammonios, in dem ersterer den Gesprächsleiter um das Wort bittet, das er sich aufgrund von Nikandros’ Ausfall gegen die Dialektiker zu ergreifen genötigt sieht. Schmählich behandelt und in Verruf gebracht (οὕτω περιυβρισμένῃ καὶ κακῶς ἀκηκουίᾳ) bedarf sie der παρρησία, um rehabilitiert zu werden, und Ammonios räumt ihm diese vorbehaltlos ein.173 In Plutarchs Darstellung der Reaktion des Ammonios auf Theons Forderung (τοῦ δ᾿ Ἀμμωνίου λέγειν παρακελευομένου καὶ βοηθεῖν) kommt ein weiteres, von Plutarch direkt aus Platons Gesprächsführung übernommenes Konstituens der philosophischen Debatte zur Sprache, das Konzept des τῷ λόγῳ βοηθεῖν, der argumentativen Hilfe für eine durch den Gesprächsablauf in Bedrängnis geratene oder zu Unrecht gescholtene Position.174 Es besteht                                                              171 Die einzige Ausnahme bildet die Zurückweisung von Theons Lösungsversuch im Rahmen von Ammoniosʼ Resümmee am Beginn seines eigenen Beitrages, vgl. FERRARI (1995) 43 „[…] tuttavia Plutarco, per bocca di Ammonio, rifiuta esplicitamente la soluzione „dialettica“ di Teone (οὔτε σύνδεσμον, 392A) […].“ Als Indiz für eine spezielle kritische Haltung des Autors gegenüber der „stoischen Lösung“ des Theon ist dieser Abschnitt freilich wenig belastbar, denn Ammonios schließt ja alle voraufgehenden Lösungsansätze aus, nicht weil der Autor Plutarch sie für falsch hielte, sondern weil die Figur des Ammonios die letzte Rede hält und sich selbstverständlich von allen vorausgehenden Beiträgen distanziert. Zwar kritisiert Ammonios dann im Verlauf seiner Rede einmal ein stoisches Theorem – die Weltzyklenlehre, freilich ohne die Stoa explizit anzusprechen – doch findet sich der Gegenstand seiner Kritik kurioser Weise nicht in Theons Rede, sondern in der Rede ‚Plutarchs‘, der die Weltzyklenlehre – wieder ohne explizite Nennung der Stoa – zu einer zahlentheoretischen Erklärung der abwechselnden Verehrung des Apollon und des Dionysos in Delphi funktionalisiert (vgl. dazu ausführlich unten, S. 189–198). 172 De E 6, 386D. 173 Zur Bedeutung des Begriffes nicht zuletzt im Hinblick auf Ammonios’ Funktion als Moderator des Gesprächs vgl. oben, S. 95, Anm. 41 die ihm von Plutarch in De defectu oraculorum in den Mund gelegte programmatische Aussage zum Klima einer echten philosophischen Unterhaltung. 174 Vgl. Plat. Rep. II 362d7–e1, wo Sokrates ironisch bemerkt, Glaukons, des Vorredners, Referat der Argumente derer, die die Ungerechtigkeit mehr loben als die Gerechtigkeit, habe ihn bereits ganz niedergerungen, so dass er der Gerechtigkeit nicht mehr zu Hilfe kommen könne (καίτοι ἐμέγε ἱκανὰ καὶ τὰ ὑπὸ τούτου ῥηθέντα καταπαλαῖσαι καὶ ἀδύνατον ποιῆσαι βοηθεῖν δικαιοσύνῃ); freilich entspricht bald darauf dieser ironischen Resignation die entschlossene Selbstverpflichtung des Sokrates, alles ihm nur Mögliche

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kein Zweifel, dass Plutarch bereits durch dieses kurze Überleitungsgespräch zwischen Ammonios und Theon den folgenden Beitrag in jeder Hinsicht legitimieren will, hat er ihn doch durch ein zutiefst sokratisch-platonisches, von Plutarch mehrfach und gerade im Zusammenhang mit den Auftritten des Ammonios formuliertes Gesprächsprinzip motiviert,175 der Hilfe für eine einseitig attackierte Position,176 im vorliegenden Fall die Frage nach einer                                                              zur Hilfe für die durch Adeimantos und Glaukon argumentativ arg in Bedrängnis gebrachte Gerechtigkeit zu tun (Rep. II 368a5–c4): πάνυ γὰρ θεῖον πεπόνθατε, εἰ μὴ πέπεισθε ἀδικίαν δικαιοσύνης ἄμεινον εἶναι, οὕτω δυνάμενοι εἰπεῖν ὑπὲρ αὐτοῦ. δοκεῖτε δή μοι ὡς ἀληθῶς οὐ πεπεῖσθαι· τεκμαίρομαι δὲ ἐκ τοῦ ἄλλου τοῦ ὑμετέρου τρόπου, ἐπεὶ κατά γε αὐτοὺς τοὺς λόγους ἠπίστουν ἂν ὑμῖν· ὅσῳ δὲ μᾶλλον πιστεύω, τοσούτῳ μᾶλλον ἀπορῶ ὅτι χρήσωμαι. οὔτε γὰρ ὅπως βοηθῶ ἔχω· δοκῶ γάρ μοι ἀδύνατος εἶναι· σημεῖον δέ μοι, ὅτι ἃ πρὸς Θρασύμαχον λέγων ᾤμην ἀποφαίνειν ὡς ἄμεινον δικαιοσύνη ἀδικίας, οὐκ ἀπεδέξασθέ μου· οὔτ᾿ αὖ ὅπως μὴ βοηθήσω ἔχω· δέδοικα γὰρ μὴ οὐδ᾿ ὅσιον ᾖ παραγενόμενον δικαιοσύνῃ κακηγορουμένῃ ἀπαγορεύειν, καὶ μὴ βοηθεῖν ἔτι ἐμπνέοντα καὶ δυνάμενον φθέγγεσθαι. κράτιστον οὖν οὕτως ὅπως δύναμαι ἐπικουρεῖν αὐτῇ. Vgl. ferner Phaedr. 275d9–e5 über den verschriftlichten λόγος, der sich unter Angriffen nicht selbst zur Wehr setzen kann und zu seiner Verteidigung der Hilfe seines „Vaters“ im lebendigen Gespräch bedarf: ὅταν δὲ ἅπαξ γραφῇ, κυλινδεῖται μὲν πανταχοῦ πᾶς λόγος ὁμοίως παρὰ τοῖς ἐπαΐουσιν, ὡς δ᾿ αὕτως παρ᾿ οἷς οὐδὲν προσήκει, καὶ οὐκ ἐπίσταται λέγειν οἷς δεῖ γε καὶ μή. πλημμελούμενος δὲ καὶ οὐκ ἐν δίκῃ λοιδορηθεὶς τοῦ πατρὸς ἀεὶ δεῖται βοηθοῦ· αὐτὸς γὰρ οὔτ᾿ ἀμύνασθαι οὔτε βοηθῆσαι δυνατὸς αὑτῷ. Wenn Plutarch an vorliegender Stelle die Dialektik durch Theon als „vergewaltigt“ (περιυβρισμένη) beklagen lässt, so scheint eine direkte Rezeption der beiden zuletzt zitierten Platonstellen vorzuliegen (vgl. die δικαιοσύνη κακηγορουμένη und den λόγος … οὐκ ἐν δίκῃ λοιδορηθείς). Siehe auch Theaet. 164e2–6 Sokratesʼ Kritik an der vorschnellen Ablehung des μῦθος des Protagoras, die einem προπηλακίζειν gleiche, wogegen er verteidigt werden müsse: οὔ τι ἄν, οἶμαι, ὦ φίλε, εἴπερ γε ὁ πατὴρ τοῦ ἑτέρου μύθου ἔζη, ἀλλὰ πολλὰ ἂν ἤμυνε· νῦν δὲ ὀρφανὸν αὐτὸν ἡμεῖς προπηλακίζομεν. καὶ γὰρ οὐδ᾿ οἱ ἐπίτροποι, οὓς Πρωταγόρας κατέλιπεν, βοηθεῖν ἐθέλουσιν, ὧν Θεόδωρος εἷς ὅδε. ἀλλὰ δὴ αὐτοὶ κινδυνεύσομεν τοῦ δικαίου ἕνεκ᾿ αὐτῷ βοηθεῖν). 175 Theon wendet sich also an Ammonios nicht etwa deshalb, weil dieser, wie OBSIEGER (2007) 53 meint „neben dem Priester Nikander der Ehrwürdigste in der Gruppe“ ist, sondern weil er, wie anhand der Prinzipien gezeigt wurde, die er in seinen Einleitungsworten vertritt, ein zutiefst plutarchisches Gesprächsideal repräsentiert; deshalb wird man OBSIEGER auch nicht in der Ansicht folgen wollen, dass „die Artigkeit, mit der Theon Ammonios um Erlaubnis fragt, bevor er Nikander Widerworte gibt, da er die Logik nicht ernsthaft verteidigt […] gespielt“ sei. 176 QC 3, 2, die sich mit der Frage beschäftigt, ob die Natur des Efeu als heiß oder als kalt einzustufen sei, beginnt mit einem Lob des Ammonios auf die letzte Rede der vorangegangenen Quaestio (‚Soll man bei Symposien Blumenkränze tragen?‘), in der der Arzt Tryphon die Wirkungen verschiedener Pflanzen auf den menschlichen Organismus erklärt hatte. Eines jedoch habe er, Ammonios, nicht nachvollziehen können, nämlich die Behauptung Tryphons (vgl. QC 3, 1, 3, 647A), der Efeu sei seiner Natur nach eine kalte Pflanze. Ammonios argumentiert im Folgenden ausführlich für die entgegengesetzte Position, die inhärente Hitze des Efeu, und dies so fulminant, dass der kritisierte Tryphon zunächst einmal in schweigsames Sinnen versinkt. Freilich ist damit die Debatte noch nicht beendet,

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III. Hauptgespräch

Verbindung des Apollon mit der stoischen Dialektik.177 Ein zusätzlicher Aspekt der kurzen Einleitung der Rede des Theon bestätigt eine hier greifbare                                                              sondern ein weiterer Gesprächspartner, Eraton, will es bei den Ausführungen des Ammonios nicht bewenden lassen und ruft einzeln alle der jugendlichen Anwesenden auf, Tryphons Position zu Hilfe zu kommen: ὁ δ᾿ Ἐράτων ἕκαστον ἡμῶν τῶν νέων ἀνακαλούμενος ἐκέλευε βοηθεῖν τῷ Τρύφωνι. Diese Aufforderung Eratons scheint Ammonios direkt aus der Seele gesprochen, denn er greift sie sogleich auf: Er selbst sichere jedem, der es wage, für Tryphons Position (und damit – wohlgemerkt – gegen seine eigene) einzutreten, freies Geleit (ἄδειαν) zu, denn er werde einen solch mutigen Versuch keiner weiteren Kritik unterziehen. Es ist schließlich Plutarch selbst, der das Wort ergreift und Ammonios’ Argumente für die hitzige Natur des Efeu Stück für Stück destruiert und, wie es Ammonios versprochen hatte, nicht mehr weiter kritisiert wird. Dass Ammonios’ „freies Geleit“ für die argumentative βοήθεια zugunsten der Ansicht des Tryphon gerade in dieser Quaestio convivalis von Plutarch erwähnt wird, leuchtet umso mehr ein, als er diese aus der voraufgehenden Quaestio nach der Frage der Schicklichkeit von Blumenkränzen im Symposion hervorgehen lässt, die er mit dem Coup des Ammonios beginnt, die versammelte blumengeschmückte Gesellschaft für ihr weibisches Gebahren zu kritisieren, was er seiner Art nach, wie Plutarch bemerkt, nur γυμνασίας ἕνεκα καὶ ζητήσεως (QC 3, 1, 2, 646A) getan habe. Ein weiterer Fall einer Aufforderung zur βοήθεια durch Ammonios findet sich in QC 9, 2, 3, 738A: Nachdem der Lehrer Protogenes einen ersten, linguistischen Beitrag zur Erklärung der Frage geliefert hatte, warum der Buchstabe A den ersten Platz im Alphabet einnehme, ermuntert Ammonios wiederum Plutarch, eine andere Position zu vertreten: παυσαμένου δὲ τοῦ Πρωτογένους, καλέσας ἔμ᾿ ὁ Ἀμμώνιος οὐδέν, ἔφη, σὺ τῷ Κάδμῳ βοηθεῖς ὁ Βοιώτιος, ὅν φασι τὸ ἄλφα πάντων προτάξαι διὰ τὸ Φοίνικας οὕτω καλεῖν τὸν βοῦν, οὐ δεύτερον οὐδὲ τρίτον, ὥσπερ Ἡσίοδος (OD 405), ἀλλὰ πρῶτον τίθεσθαι τῶν ἀναγκαίων; οὐδέν, ἔφην ἐγώ· τῷ γὰρ ἐμῷ πάππῳ βοηθεῖν, εἴ τι δύναμαι, δίκαιός εἰμι μᾶλλον ἢ τῷ τοῦ Διονύσου. Somit gehört das Konzept der mehrschichtigen Erörterung, das in der platonischen Aufforderung zum βοηθεῖν leitmotivisch bei Plutarch aufklingt, auch zum integralen Bestandteil der Vorstellungen der plutarchischen Dialogfigur Ammonios von einer philosophischen Unterhaltung. 177 Die von OBSIEGER (2007) 50 geäußerte Vermutung, dass „Die Art, wie er [sc. Theon, Anm. d. Verf.] die kleine Sottise des Nikander aufbauscht (386 D οὕτω περιυβρισμένῃ καὶ κακῶς ἀκηκουίᾳ) […] von vornherein eine Rede mit humoristischem Einschlag“ erwarten lasse, verkennt die Bedeutung, die in plutarchischen Gesprächen dem Prinzip der mehrperspektivischen Erörterung von προβλήματα zukommt. Gerade die intensive Rezeption platonischer Diskussionsprinzipien in der von OBSIEGER belächelten Formulierung von der „Vergewaltigung“ der Dialektik spricht eher dafür, dass es sich an dieser Stelle ausdrücklich um eine notwendige Korrektur einer einseitigen Behauptung des Vorredners handelt. Dass die Rede des Theon – wie alle in De E apud Delphos geleisteten Interpretationen des E – durchaus unterhaltsam sein soll, steht dabei außer Frage (vgl. dazu De E 1, 385C Ammoniosʼ Hinweis auf die ἀπόλαυσις, die das philosophische Gespräch seinen Teilnehmern bereitet). OBSIEGERs wiederholtem Schluss aus vermeintlichen Unstimmigkeiten der Rede auf eine Hauptabsicht Theons, „einen humoristischen Effekt zu erzielen, nicht ernsthaft [zu] philosophieren“ (51), überhaupt „Schelmereien“ zu betreiben (ibid., vgl. auch das Fazit 53), liegt das Missverständnis zugrunde, dass es für Plutarch ein anderes, ernsthaftes Philosophieren über das E gebe, das sich von Theons Vorgehen unterscheidet. Dies aber legt der gesamte Text in keiner Weise nahe, in dem alle Gesprächsteilnehmer

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Leserlenkung, die um Anerkennung der nun folgenden Ausführungen Theons wirbt: Jene persönliche Anrede des Adressaten und bekennenden Stoikers Sarapion178 bei der Vorstellung Theons (De E 6, 386D οἶσθα γὰρ Θέωνα τὸν ἑταῖρον) lässt erwarten, als dass die folgende Rede eine freundschaftliche Reverenz an Sarapion darstellen soll,179 dessen philosophischen Neigungen der Autor innerhalb der Schrift somit einen prominenten Platz einräumt.180 Der Tendenz der Einleitung von Theons Rede, die die philosophische Notwendigkeit einer Gegenposition zu den Einlassungen des Nikandros über die stoische Dialektik betont, korrespondiert der Beifall des folgenden Sprechers Eustrophos, der – mit einem eleganten Witz auf Theons abschließende Deutung der Heraklesgestalt181 – die Verve des Vorredners begeistert                                                              durchaus gewitzt für ihren jeweiligen Lösungsansatz in einer Weise eintreten, die voll und ganz von den Präliminarien des Ammonios im zweiten Kapitel gedeckt ist. 178 Vgl. OPSOMER (2006) 147 „Il n’y a pas doute que cet avant-propos témoigne d’un respect sincère pour son ami et de la haute estime en laquelle l’auteur le tient.“ 179 Vgl. BABUT (1969) 153 „On sait que le De E … est dédié à un certain Sérapion, auquel Plutarque déclare envoyer, „en manière de prémices“, pour que son correspondant les transmette à „ses amis de là-bas“ – Sérapion était d’Athènes – „quelques Propos pythiques“. par [sic] Or, il se trouve que cet ami de Plutarque était certainement un adepte fervent de la philosophie du Portique, comme nous le savons par d’autres sources. Il apparaît donc probable que c’est pour honorer son ami, et parce qu’il savait que celui-ci aurait plaisir à lire ces pages, que Plutarque a confié à Théon et à son propre personnage le soin d’exposer certains thèmes stoïciens.“ 180 BABUT (1992) 196 hat die vielen Indizien für ein durchaus vorteilhaftes Bild der Theonrede klar benannt: „La supériorité de cette réponse sur la précédente ressort de plusieurs indices. D’abort de la personnalité de celui qui la formule. Théon est en effet un ami proche de Plutarque, comme celui-ci tient à le rappeler en s’adressant à Sarapion, destinataire du dialogue, et le fait qu’il soit le porte-parole de l’auteur dans un autre des Dialogues pythiques (De Pyth. orac.) n’est évidemment pas sans signification. De plus, Théon reçoit en quelque sorte la caution d’Ammonios, qui l’encourage à défendre la dialectique, injustement attaquée (386 D 12–E 2).“ 181 Mit dem Witz von der Löwenhaut, die Theon nach Ansicht des Eustrophos bei seinem mutigen Einsatz für die Dialektik gut gekleidet haben würde, verbindet sich eine Reminiszenz aus Plat. Cra. 411a5–b1. Dort erklärt sich Sokrates mit der Begründung, er habe nun einmal „die Löwenhaut angezogen“, sich also auf das schwierige Gebiet der Etymologien begeben, gegenüber Hermogenes bereit, nun auch Deutungsversuche für ethische Begriffe wie φρόνησις, σύνεσις und δικαιοσύνη zu unternehmen: ἐγείρεις μέν, ὦ ἑταῖρε, οὐ φαῦλον γένος ὀνομάτων· ὅμως δὲ ἐπειδήπερ τὴν λεοντῆν ἐνδέδυκα κτλ. KAHLE (1912) 35 will in der Reaktion des Eustrophos auf Theons Rede die gleiche kritische Haltung gegenüber der Dialektik sehen, die zuvor schon Nikandros ausgedrückt habe: „Dialecticam autem Theon dilectam multis verbis defendens ut iam antea a Nicandro repellitur ita postea refutatur ab Eustropho verbis sane magis quam ratione atque argumentis. Per iocum enim eius alacritatem irridet Eustrophus (ὡς ἀμύνει προθύμως μονονοὺ τὴν λεοντὴν ἐπενδυσάμενος cap. 7), refutationem autem non dat, sed veriorem explicationem secundum Pythagoreorum doctrinam proferri vult quam Plutarchus deinde diligentissime exponit.“

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kommentiert (De E 7, 387D): Παυσαμένου δὲ τοῦ Θέωνος Εὔστροφον Ἀθηναῖον οἶμαι τὸν εἰπόντα εἶναι πρὸς ἡμᾶς „ὁρᾷς, ὡς ἀμύνει τῇ διαλεκτικῇ Θέων προθύμως, μονονοὺ τὴν λεοντῆν ἐπενδυσάμενος;“ Fast wie ein Herakles sei Theon der angegriffenen Dialektik beigesprungen, und es ist der bravouröse argumentative Einsatz des Theon für seine Wissenschaft (ὡς ἀμύνει … προθύμως), den Eustrophos sogleich der aemulatio ‚Plutarchs‘ empfiehlt, der wie Eustrophos die Begeisterung für die Mathematik als einer Universalwissenschaft teilt: „Sollen wir da […] unbilligerweise schweigend herumsitzen? Vielmehr ist es nun an uns, dem Gott eine Erstlingsspende von der geliebten Mathematik darzubringen […].“182 Indem nun Plutarch in Eustrophos’ Worten implizit auch den Beitrag des Theon als „Erstlingsspende an den Gott“ qualifiziert,183 die im Folgenden auch der junge ‚Plutarch‘ in Gestalt eines mathematischen Lösungsversuches der Bedeutung des E entrichten soll, so repräsentieren beide184 Redner den theätetischen Geist der philosophischen Suche, der nach Präliminarien des Ammonios seinen Ursprung in Apollons philosophieprotreptischem Wesen hat. Es legt sich mithin nahe, den Beitrag des Theon vor allem als das zu lesen, was er nach seiner Situierung im Gesprächsablauf darstellen soll: Einen engagierten Versuch, Apollon vermittels der Deutung des E in Verbindung mit der stoischen Dialektik zu bringen und auf diese Weise das rätselhafte Zeichen aus dem Horizont der stoischen Logik zu erklären. 6.2 Das dialektische Wesen des Apollon: Λύειν καὶ ποιεῖν ἀμφιβολίας Im zweiten Buch seiner Schrift De divinatione unternimmt es Cicero, die im ersten Buch von seinem Bruder Quintus versammelten Argumente für ein begründetes Vertrauen in die Wahrsagung zu widerlegen. In diesem Zusammenhang äußert sich Cicero auch über die Orakel des Apollon (Cic. div. 2, 115): Sed iam ad te venio, o sancte Apollo, qui umbilicum certum terrarum obsides, unde superstitiosa primum saeva evasit vox fera.                                                              Auch OBSIEGER (2007) 9 ist der Ansicht, Eustrophos „verspotte[t] die spitzfindige Rede des Theon.“ Von einem Verlachen des Theon kann freilich nur sprechen, wem der Witz des Eustrophos auf Theons abschließende Heraklesanspielung nicht aufgegangen ist, und es ist gerade eine alacritas wie die des Theon, die Eustrophos auch ‚Plutarch‘ nahelegt. 182 De E 7, 387E οὕτως οὐδ᾿ ἡμᾶς […] εἰκὸς ἡσυχίαν ἄγειν, ἀλλ᾿ ἀπάρξασθαι τῷ θεῷ τῆς φίλης μαθηματικῆς κτλ. 183 Vgl. zu dieser Formulierung oben, S. 53f. 184 Diesen Zusammenhang zwischen Theons und Plutarchs Rede hat OBSIEGER (2007) 9 gesehen: „Es ist klar, daß ‚Plutarchs‘ Rede den gleichen Charakter haben soll wie Theons kühne Einlassungen.“

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Tuis enim oraculis Chrysippus totum volumen implevit partim falsis, ut ego opinor, partim casu veris, ut fit in omni oratione saepissime, partim flexiloquis et obscuris, ut interpres egeat interprete et sors ipsa ad sortes referenda sit, partim ambiguis et quae ad dialecticum deferendae sint. Zu den hier von Cicero in kritischer Absicht aufgezählten Charakteristika der dem delphischen Orakel zugeschriebenen Wahrsagungen, sie seien teils falsch (falsis), teils nur zufällig eingetroffen (casu veris), teils völlig unverständlich (flexiloquis et obscuris), teils doppeldeutig (ambiguis), hat Plutarch zumal in seiner Schrift De Pythiae oraculis ausgiebig Stellung genommen.185 Der letzte Punkt, den Cicero als bezeichnend für die delphischen Orakel aufführt, sie seien „zum Teil mehrdeutig und dergestalt, dass man sie einem Dialektiker vorlegen muss“, klingt beinahe wie ein Stichwort für Theons Rede in De E apud Delphos: Theon funktioniert Ciceros Kritik,186 die Orakelsprüche seien aufgrund ihrer Doppeldeutigkeit ohne die Hilfe eines Dialektikers unverständlich, gerade zum Beweis für das dialektische Wesen Apollons um: Ἀλλ᾿ ὅτι μέν, ἔφη, διαλεκτικώτατος ὁ θεός ἐστιν, οἱ πολλοὶ τῶν χρησμῶν δηλοῦσιν· τοῦ γὰρ αὐτοῦ δήπουθέν ἐστι καὶ λύειν καὶ ποιεῖν ἀμφιβολίας.187 Bei Cicero wird die Doppeldeutigkeit (ambiguitas) der delphischen Orakel im weiteren Fortgang seiner Ausführungen unter anderem                                                              185

Mit der Frage, in wieweit aus dem Eintreffen einer Voraussage der Pythia auf ihre göttliche Inspiration rückgeschlossen werden darf, beschäftigt sich De Pyth. or. 8, 397E– 11, 399E; die Bedeutung und Funktion der Dunkelheit der Orakel in alter Zeit wird in De Pyth. or. 24, 406EF; 25, 407AB; 26, 407C aus unterschiedlichen Perspektiven erklärt. 186 Ob Plutarch die ciceronische Schrift kannte, mag dahingestellt bleiben; immerhin sei auf die bemerkenswerte inhaltliche wie sprachliche Nähe von Cic. div. 1, 37 (Quintus leitet die Wahrheit der Orakel der Pythia aus der Zahl der Weihegeschenke ab, die alle Welt nach Delphi gestiftet hat) und De Pyth. or. 29, 408F (Theon, idem) hingewiesen: numquam illud oraculum Delphis tam celebre et tam clarum fuisset neque tantis donis refertum omnium populorum atque regum, nisi omnis aetas oraculorum illorum veritatem esset experta. ἡ δὲ τὴς Πυθίας διάλεκτος […] οὐδένα καθ᾿ αὑτῆς ἔλεγχον ἄχρι νῦν παραδέδωκεν, ἀναθημάτων δὲ καὶ δώρων ἐμπέπληκε βαρβαρικῶν καὶ Ἑλληνικῶν τὸ χρηστήριον κτλ. Eine Bekanntschaft Plutarchs mit Ciceros Aussagen in De divinatione legt sich freilich immerhin nahe, denn besieht man den Fortgang der beiden hier verglichenen Passagen, so fällt auf, dass Plutarchs (bzw. Theons) weitere Worte beinahe eine Antwort auf Quintus’ Aussagen darstellen, der sogleich das Eingehen von Delphis Ruhm erwähnt: idem iam diu non facit (dies bestätigt Cicero div. 2, 117 sed, quod caput est, cur isto modo iam oracula Delphis non eduntur non modo nostra aetate, sed iam diu, ita ut nihil possit esse contemptius?). Dagegen (freilich über 100 Jahre später) Plutarch (De Pyth. or. 29, 409A–C): ὁρᾶτε δήπουθεν αὐτοὶ πολλὰ μὲν ἐπεκτισμένα τῶν πρότερον οὐκ ὄντων, πολλὰ δ᾿ ἀνειλημμένα τῶν συγκεχυμένων καὶ διεφθαρμένων κτλ. Es folgt eine begeisterte Beschreibung des Aufschwunges in Delphi, der letztlich auf die unausgesetzte Fürsorge des Gottes für das Orakel zurückgeführt wird. 187 De E 6, 386E. Es handelt sich bei dieser rhetorischen Strategie, die Plutarch Theon anwenden lässt, um eine bei Plutarch regelmäßig verwendete Argumentationsweise, zumal in De Pythiae oraculis: Einwände von Kritikern gegen die Seriosität des Orakelwesens

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als gewitzte Technik interpretiert, unabhängig davon, wie ein Vorhaben, über das die Pythia konsultiert wird, tatsächlich ausgeht, Recht zu behalten, was Cicero anhand des berühmten Kroisos-Orakels exemplifiziert (Cic. div. 2, 115f.): Nam cum illa sors edita est opulentissimo regi Asiae: Croesus Halyn penetrans magnam pervertet opum vim, hostium vim se perversurum putavit, pervertit autem suam. Utrum igitur eorum accidisset, verum oraculum fuisset. Der Apollon Theons teilt nun zweifellos die ihm durch Cicero zugeschriebene technische Kompetenz, sprachliche Doppeldeutigkeiten zu schaffen, doch tritt bei ihm zu diesem Aspekt auch dessen komplementäres Gegenteil, die Kompetenz zur Lösung von Doppeldeutigkeiten hinzu (τοῦ γὰρ αὐτοῦ δήπουθέν ἐστι καὶ λύειν καὶ ποιεῖν ἀμφιβολίας), und es ist dieser Unterschied zur ciceronischen Argumentation, der die Pointe Theons bildet: Während nach Cicero die doppeldeutigen Orakel des Apollon – wie das Kroisosorakel – „einem Dialektiker vorgelegt werden müssen“, der die Doppeldeutigkeiten erklärt, erweist sich bei Theon der Gott selbst als Dialektiker, da ihm nachvollziehbarerweise unterstellt wird, als Meister im Herstellen von ἀμφιβολίαι auch die größten Fähigkeiten in deren Auflösung zu besitzen und eben dadurch „ein Dialektiker von höchsten Graden“ (διαλεκτικώτατος) zu sein. Was in der Rede Theons zunächst wie ein rein rhetorisches Manöver188 mit dem Ziel anmutet, Apollon mit der stoischen Dialektik in Verbindung zu bringen, erweist sich gerade vor dem Hintergrund der ciceronischen Kri-

                                                             bzw. Phänomene, die bei dessen Anhängern Zweifel an deren Glaubwürdigkeit entstehen lassen, werden gerade zum Beweis für die Seriosität und Glaubwürdigkeit der delphischen Orakeltätigkeit uminterpretiert. So wird die schlechte poetische Qualität mancher Versorakel durch Sarapion zum Ausweis ihres göttlichen Ursprungs erklärt (De Pyth. or. 6, 396F– 397B); später deutet der Hauptredner Theon den Wandel der Orakel von der poetischen zur Prosaform, der von Diogenianos als Haupteinwand gegen den Glauben an das delphische Orakel angeführt worden war (De Pyth. or. 17, 402B οὗτος γάρ ἐστιν ὁ μάλιστα πρὸς τὴν τοῦ χρηστηρίου πίστιν ἀντιβαίνων λόγος κτλ.), systematisch und ohne Rücksicht auf evidente Selbstwidersprüche zum eigentlichen Beweis der durchgängigen Orakeltätigkeit des Apollon von der Frühzeit bis in die Gegenwart der Dialogteilnehmer um. Die lange Apologie, die Plutarch sich selbst für die göttliche Vorsehung in De sera numinis vindicta halten lässt, fußt sogar durchgängig auf dieser Strategie, wird doch die späte Strafe der Götter, die von ihren Kritikern zum Beweis gegen die gerechte Vorsehung herangezogen wird, Punkt für Punkt zum Beweis des Gegenteils gewendet. 188 Für OBSIEGER (2007) 50 handelt es sich bei den einleitenden Worten des Theon um „Vorgeplänkel“.

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tik an der Doppeldeutigkeit der Orakel als philosophiegeschichtlich wohlfundierte Deutung.189 Denn wie keine andere Philosophenschule der Antike war es die Stoa, die eine hochdifferenzierte Theorie zur Klassifizierung sprachlicher Mehrdeutigkeiten entwickelt hatte,190 die angesichts der fundamentalen Bedeutung, die der „begründeten Zustimmung“ (συγκατάθεσις) des Stoikers zu von außen auf ihn einwirkenden – und damit auch sprachlichen – „Eindrücken“ (φαντασίαι) beigemessen wurde, die natürliche Konsequenz des stoischen intellektuellen und ethischen Perfektionismus war.191 Die Fähigkeit, auf der Basis von gründlichen dialektischen Kenntnissen von der Mehrdeutigkeit sprachlicher Ausdrücke Wahres von Falschem unterscheiden zu können, war für die Stoiker eine conditio sine qua non für rechte Erkenntnis und eine auf sie gegründete Lebensführung: Οὐκ ἄνευ δὲ τῆς διαλεκτικῆς θεωρίας τὸν σοφὸν ἄπτωτον ἔσεσθαι ἐν λόγῳ· τό τε γὰρ ἀληθὲς                                                              189

Vgl. OPSOMER (2006) 156 „Cette référence à l’amphibolie est en fait une allusion aux définitions stoïciennes de la dialectique.“ Dies erhellt nicht zuletzt daraus, dass Cicero an mehreren Stellen seiner rhetorischen Werke die Unverzichtbarkeit der stoischen Dialektik unter anderem zur Lösung von sprachlichen Mehrdeutigkeiten und zur generellen Unterscheidung von Wahrem und Falschem hervorhebt. Vgl. Cic. Brut. 152f. über die Leistung des Servius Sulpicius Rufus: Hic Brutus: Ain tu? inquit. Etiamne Q. Scaevolae Servium nostrum anteponis? Sic enim, inquam, Brute, existimo, iuris civilis magnum usum et apud Scaevolam et apud multos fuisse, artem in hoc uno; quod numquam effecisset ipsius iuris scientia, nisi eam praeterea didicisset artem quae doceret rem universam tribuere in partis, latentem explicare definiendo, obscuram explanare interpretando, ambigua primum videre, deinde distinguere, postremo habere regulam, qua vera et falsa iudicarentur et quae quibus propositis essent quaeque non essent consequentia. Hic enim adtulit hanc artem omnium artium maximam quasi lucem ad ea, quae confuse ab aliis aut respondebantur aut agebantur. Dialecticam mihi videris dicere, inquit. Cic. De or. 2, 111 Ambiguorum autem cum plura genera sunt, quae mihi videntur ei melius nosse, qui dialectici appellantur, hi autem nostri ignorare, qui non minus nosse debeant, tum illud est frequentissimum in omni consuetudine vel sermonis vel scripti, cum idcirco aliquid ambigitur, quod aut verbum aut verba sint praetermissa. Ciceros Anerkennung der Kompetenzen der Dialektik in der Unterscheidung von Wahr und Falsch zieht auch BALDASSARRI (1993) 35 zum Beleg der stoischen Fundierung der ersten Worte Theons heran. 190 Chrysipp schrieb bekanntlich mehrere Bücher zum Thema, vgl. SVF II 14 Περὶ ἀμφιβολιῶν πρὸς Ἀπολλᾶν δʹ, Περὶ τῶν τροπικῶν ἀμφιβολιῶν αʹ, Περὶ συνημμένης τροπικῆς ἀμφιβολίας βʹ, Πρὸς τὸ περὶ ἀμφιβολιῶν Πανθοίδου βʹ, Περὶ τῆς εἰς τὰς ἀμφιβολίας εἰσαγωγῆς εʹ, Ἐπιτομὴ τῶν πρὸς Ἐπικράτην ἀμφιβολιῶν αʹ, Συνημμένα πρὸς τὴν εἰσαγωγὴν τῶν εἰς τὰς ἀμφιβολίας βʹ. Einen Überblick über die einzelnen von den Stoikern aufgestellten Kategorien von Mehrdeutigkeit gibt E DLOW (1975). 191 Vgl. ATHERTON (1993) 57 „Of the many impressions which arise through the medium of language, the greatest importance will attach to those which convey philosophical truths and their supporting arguments, and those which must be correctly related to some appropriate piece of doctrine if assent is to be properly regulated. If agents do not realise that an ambiguity in the linguistic expression of a proposition or argument conceals its falsity or unsoundness, or if it leads them to gross misinterpretation, their moral welfare may, in extreme cases, be directly at stake, at least by reinforcing vicious tendencies.“

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III. Hauptgespräch

καὶ τὸ ψεῦδος διαγινώσκεσθαι ὑπ᾿ αὐτῆς καὶ τὸ πιθανὸν τό τε ἀμφιβόλως λεγόμενον διευκρινεῖσθαι.192 Theons Ausgangsthese, man könne aus der Doppeldeutigkeit der delphischen Orakel auf die stoisch-dialektischen Fähigkeiten des Apollon rückschließen, ruht somit auf festem theoretischen Grund, und sie ist überdies dem Thema von De E apud Delphos insofern ausgesprochen angemessen, als es sich bei der von Theon behaupteten Dialektizität des Apollon vor allem um einen philosophieprotreptischen Wesenszug des Gottes handelt. Plutarch variiert in den Worten des Theon an dieser Stelle unüberhörbar seine eigene Aussage aus dem extradialogischen Proömium, Apollon besitze sowohl die Fähigkeit zur Lösung von Rätseln (ἀπορίας ἰᾶσθαι καὶ διαλύειν) als auch diejenige zu ihrer Herstellung (τὰς δὲ περὶ τὸν λόγον [sc. ἀπορίας] αὐτὸς ἐνιέναι καὶ προβάλλειν),193 und leite mit den Schwierigkeiten, die er selbst unterbreite, philosophische Denkprozesse ein.194 Die Produktion von ἀμφιβολίαι durch den Orakel erteilenden Gott dient mithin allein dem Zweck, die Menschen zu dialektischem Denken zu erziehen.195 Dies illustriert Theon direkt im Anschluss an die Formulierung seiner These vom                                                              192 So Chrysipp nach SVF II 130. Plutarch selbst berichtet im Zusammenhang seiner Polemik gegen die Stoiker in De Stoic. repugn. 8, 1034EF von der Hochschätzung der Dialektik durch den Schulgründer Zenon, da mit ihrer Hilfe σοφίσματα, sprachliche Täuschungen, aufgedeckt werden könnten: […] ἔλυε δὲ [sc. ὁ Ζήνων] σοφίσματα, καὶ τὴν διαλεκτικὴν ὡς τοῦτο ποιεῖν δυναμένην ἐκέλευε παραλαμβάνειν τοὺς μαθητάς. Beide Stellen führt auch BALDASSARRI (1993) 35 an. 193 De E 1, 384EF. 194 Vgl. BALDASSARI (1993) 35 „Seien es also Scheinprobleme (Sophismen und Amphibolien) oder reale Probleme (Dunkelheiten und Aporien), Apollon konfrontiert uns damit, sei es, um uns zu einer richtigen Untersuchungsmethode anzuregen, sei es, um durch diese Methode zur Wahrheit zu lenken (gerade wie die Stoiker das richtige Diskutieren mit dem Sagen des Wahren und folglich den Dialektiker mit dem Weisen gleichsetzten).“ 195 Plutarch bietet auch andere Erklärungen für die ἀμφιβολίαι der delphischen Orakelsprüche an, die er in De Pythiae oraculis mit dem Argumentationsziel vorbringt, den Wandel der sprachlichen Gestalt der delphischen Orakel vom Vers zur Prosa als Absicht des Gottes zu deuten: Vor allem die Kapitel 24–26 führen den Gedanken aus, dass sich der Gott in der musisch begabteren und für ehrwürdigere sprachliche Gestaltung zugänglicheren griechischen Vergangenheit an die Erwartungen der damaligen Menschen angepasst und entsprechend dunkle Orakel in poetischer Sprache und Versform gegeben habe; später jedoch habe er der steigenden Nachfrage nach sprachlicher und gedanklicher Klarheit und Sachlichkeit bei den Griechen durch die Prosaform seiner Sprüche Rechnung getragen, da sprachliche Dunkelheit mittlerweile in den (bei Cicero prominent ausgesprochenen, vgl. oben,S. 149f.) Verdacht geraten sei, die Wahrheit der Orakelsprüche vom Ausgang des Gegenstandes der Konsultation unabgängig zu machen (De Pyth. or. 25, 407AB): ὕστερον δὲ τὸ σαφῶς καὶ ῥᾳδίως ἕκαστα καὶ μὴ σὺν ὄγκῳ μηδὲ πλάσματι μανθάνειν ἀγαπῶντες οὐ μόνον ᾐτιῶντο τὴν περικειμένην τοῖς χρησμοῖς ποίησιν ὡς ἀντιπράττουσαν τῇ νοήσει πρὸς τὸ ἀληθὲς ἀσάφειάν τε καὶ σκιὰν τῷ φραζομένῳ μιγνύουσαν, ἀλλ᾿ ἤδη καὶ τὰς μεταφορὰς καὶ τὰ αἰνίγματα καὶ τὰς ἀμφιβολίας ὥσπερ μυχοὺς καὶ καταφυγὰς ἐνδύεσθαι καὶ ἀναχωρεῖν τῷ πταίοντι πεποιημένας τῆς μαντικῆς ὑφεωρῶντο.

6. Die Rede des Theon

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θεὸς διαλεκτικώτατος durch eine berühmte Anekdote aus dem Leben Platons, die Plutarch nicht nur in De E apud Delphos dazu verwendet hat, auf Apollons Bestrebungen hinzuweisen, die menschliche intellektuelle Tätigkeit anzuregen: Die Auseinandersetzung mit dem sogenannten Delischen Problem. 6.3 Die Anekdote vom Delischen Problem zur Illustration von Apollons Philosophieprotreptik Der Auftakt von Theons Rede hatte zunächst die Beziehung Apollons zur stoischen Dialektik auf eine solide Grundlage gestellt, indem er das Hauptmerkmal der delphischen Orakel auf die Meisterschaft des Gottes in der Wissenschaft von der sprachlichen Ambiguität als einer Basisdisziplin stoischer Sprachbetrachtung zurückgeführt hatte. Im nun folgenden Abschnitt kommt Theon auf die Absicht zu sprechen, die der Gott mit der Anwendung seiner Kenntnisse in der Produktion von mehrdeutigen Weissagungen gegenüber den Menschen verfolgt: Die Erziehung zum dialektischen Denken. Zur Illustration dieses von Apollon angestrebten Zieles lässt Plutarch Theon eine Anekdote aus dem Leben Platons einflechten, die den Meister in der Rolle dessen vorführt, der einen Orakelspruch Apollons überhaupt als zweideutig erkennt und auf der Basis dieser Erkenntnis die Bedeutung des Spruches und damit die Mitteilungsabsicht Apollons richtig erfasst: Es handelt sich um die berühmte Erzählung von Platons Auseinandersetzung mit dem sogenannten Delischen Problem, die in der Antike in zahlreichen Versionen umlief und von Plutarch in seinem Werk mit einer gewissen Vorliebe verwendet wird.196 Als den Deliern, so berichtet Theon, der Orakelspruch erteilt wurde, sie sollten den Altar des delischen Apollon verdoppeln – eine Anforderung, die zu erfüllen höchste Kenntnisse in der Geometrie voraussetze – habe Platon die Delier darüber belehrt, dass der Gott von ihnen nicht die Lösung dieses speziellen geometrischen Problems verlange, sondern die Griechen überhaupt zur Beschäftigung mit der Geometrie auffordere.197 Analog zu dieser Erkenntnis, die Platon aus dem Orakel des Apollon gezogen habe, verfolge                                                              Wenig später wird die Dunkelheit und Mehrdeutigkeit (26, 407C–E διπλόη, περιαγωγή, ἀσάφεια, ἀμφιλογία) der Orakel in der Frühzeit noch dadurch erklärt, dass Apollon teils seine Diener vor Racheaktionen enttäuschter Mächtiger schützen, teils Feinde der Griechen und üble Tyrannen über die Wahrheit täuschen wollte. Vgl. zum letzten oben, S. 102f. 196 Zu den mathematischen Grundlagen des Problems der Würfelverdoppelung, die als Delisches Problem bezeichnet wird, vgl. SEIDE (1981) 22–29; HANI (1980) 216–218. Eine vollständige Übersicht über die einzelnen Versionen der Anekdote gibt GEUS (2002) 175, Anm. 155. 197 De E 6, 386E ἔτι δ᾿, ὥσπερ Πλάτων ἔλεγε χρησμοῦ δοθέντος ὅπως τὸν ἐν Δήλῳ βωμὸν διπλασιάσωσιν, ὃ τῆς ἄκρας ἕξεως περὶ γεωμετρίαν ἔργον ἐστί, οὐ τοῦτο προστάττειν τὸν θεόν, ἀλλὰ γεωμετρεῖν διακελεύεσθαι τοῖς Ἕλλησιν κτλ.

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III. Hauptgespräch

der Gott mit seiner Verkündung von doppeldeutigen Orakelsprüchen das Ziel, die Griechen zur Beschäftigung mit der Dialektik aufzurufen, denn Kenntnisse in dieser Disziplin seien die Voraussetzung für ein rechtes Verständnis seiner Orakel.198 Nach Theon betreibt der Gott also in seiner Meisterschaft als Dialektiker durch die Verfertigung doppeldeutiger Orakelsprüche vor allem Protreptik bei den Menschen, sich ebenfalls mit der Dialektik zu beschäftigen und sich in ihr zu üben.199 Mit dieser Auslegung der Funktion der doppeldeutigen Orakelsprüche des Apollon greift Theon implizit erneut ein Leitmotiv von De E apud Delphos auf, diesmal die von Ammonios im intradialogischen Proömium des zweiten Kapitels gegebene Definition des Wesens des Apollon als eines Philosophengottes, der durch Rätsel, die sich in seinem Kultbereich finden, die Menschen zur Übung im philosophischen Nachdenken anregt.200 Die interpretatio Stoica der Delosanekdote, mit der Plutarch Theons These von der besonderen Affinität Apollons zur Dialektik so scharfsinnig                                                             

198 De E 6, 386E … οὕτως ἄρα χρησμοὺς ἀμφιβόλους ἐκφέρων ὁ θεὸς αὔξει καὶ συνίστησι διαλεκτικὴν ὡς ἀναγκαίαν τοῖς μέλλουσιν ὀρθῶς αὐτοῦ συνήσειν. 199 Die Tendenz, mit der Plutarch die Anekdote vom Delischen Problem in den Gedankengang von Theons Rede einfließen lässt, ist mithin dieselbe wie in der literarischen Quelle, der Plutarch aller Wahrscheinlichkeit nach die Erzählung entnommen hat: Eratosthenes’ Platonikos. Vgl. GEUS (2002) 178 „An dem Delischen Problem ist Eratosthenes nicht allein des mathematischen Inhaltes willen [sic] gelegen, sondern wegen seiner protreptischen Tendenz. Nach seiner Interpretation will der Gott die Menschen durch die unlösbare Aufgabe zur Beschäftigung mit der Geometrie anhalten. Es ist daher gut möglich, dass diese Anekdote die Einleitung des Platonikos gebildet hat.“ Vgl. ibid., 194 „Soweit wir sehen können, war der Platonikos keine esoterische, für den innerakademischen Gebrauch bestimmte Schrift. Vielmehr zeigen die Definitionen und Interpretamente, dass sie sich an breitere Kreise richtete. Insbesondere die Anekdote vom Delischen Altar zeigt eine klare protreptische Tendenz.“ 200 Die Nähe zwischen Theons Rede und der Exposition von De E apud Delphos, zumal zu den Ausführungen des Ammonios, hat BABUT (1992) 196f. hervorgehoben: „Il le fait alors en se référant à Platon, et plus précisément à l’interpretation que le philosophe aurait donnée d’un oracle d’Apollon relatif au doublement de son autel à Délos, anecdote que Plutarque rapporte plus longuement dans son dialogue Sur le démon de Socrate (579 B– D). Qui plus est, Théon en propose une exégèse semblable à celle que nous offre l’autre dialogue: selon Platon, le dieu aurait voulu donner à entendre, par cet oracle, qu’il „se souciait moins de voir exécuter cet ordre [le doublement de l’autel de Délos] que de pousser les Grecs à l’étude de la géométrie“ (386 E 7–8). Mais sourtout, Théon rejoint par là un thème esquissé par Ammonios dans l’introduction, quand il soulignait les affinités d’Apollon avec la dialectique et la philosophie (cf. 385C 1–2). Tout comme, en effet, Ammonios voyait dans le caractère énigmatique des prescriptions et des symboles du culte apollinien une invitation que le dieu adresse à ses fidèles de s’adonner à la recherche et à la discussion philosophique (385C 5–D 6), Théon pense qu’ „en donnant des réponses ambiguës [le dieu] veut fonder la dialectique et lui donner du prestige en montrant qu’il est nécessaire de s’y appliquer pour comprendere correctement sa pensée“ (386 E 8–11).“

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wie argumentativ ansprechend illustriert, erlaubt einen näheren Blick in Plutarchs literarisches Verfahren bei der Ausgestaltung der Beiträge, die er den Teilnehmern seiner Dialoge in den Mund legt: Bei der Anekdote vom Delischen Problem handelt es sich offenbar um ein Wandermotiv, das Plutarch je nach argumentativem Kontext so wirkungsvoll wie möglich einsetzt, wie sich anhand eines Vergleiches mit der Verwendung des Delischen Problems in De genio Socratis zeigen lässt. Dort wird die wahre Intention Apollons durch seinen Orakelspruch an die Delier mit stark platonischen Tönen herausgearbeitet, wobei gerade in der speziellen Variation, die dem konkreten Darstellungsziel Plutarchs in dieser Schrift geschuldet ist, Plutarchs kontextunabhängiges Verständnis des tieferen Sinnes der Anekdote deutlich wird: Wie in De E apud Delphos erscheint Apollon auch in De genio Socratis als Protreptiker zur Philosophie. In diesem Dialog lässt Plutarch keinen Geringeren als Simmias auftreten, den aus dem platonischen Phaidon bekannten Unterredner des Sokrates,201 der, seiner persona entsprechend, einen ausführlichen Autopsiebericht von jener Begegnung der ratlosen Delier mit Platon liefern kann. Die Variablen der Anekdote werden hier, der Prosopographie eines Simmias adäquat, platonisch-sokratisch ausgefüllt: Schon in dem Eingangsbericht des Simmias, die Delier hätten sich wegen des ihnen von Apollon gestellten geometrischen Problems an Platon gewandt, dem sein Ruf als Koryphäe in der geometrischen Wissenschaft vorausgeeilt war,202 wird in der Version, die Plutarch an dieser Stelle vom Inhalt des seltsamen Spruches geben lässt, deutlich, worauf der Autor hinauswill (De genio 7, 579B): Ἦν δ᾿ ὁ χρησμὸς Δηλίοις καὶ τοῖς ἄλλοις Ἕλλησι παῦλαν τῶν παρόντων κακῶν ἔσεσθαι διπλασιάσασι τὸν ἐν Δήλῳ βωμόν. „Ein Ende der gegenwärtigen Übel“ wird den Deliern und darüber hinaus allen Griechen versprochen, wenn sie den delischen Altar verdoppeln, und damit durch Apollon eine Verheißung gemacht, die Platon selbst in der Politeia an denkbar prominenter und daher von jedem zeitgenössischen Leser Plutarchs mit Simmias’ Worten assoziierter Stelle, im Satz von den Philosophenkönigen, ausgesprochen hatte203: Wenn nicht entweder die                                                             

201 De genio 7, 579A–D. Das Gespräch findet im Jahr 379 v. Chr. statt, Hintergrundhandlung ist die Befreiung der thebanischen Kadmeia von der spartanischen Besatzung. 202 De genio 7, 579B … κομιζομένοις ἡμῖν ἀπ᾿ Αἰγύπτου περὶ Καρίαν Δηλίων τινὲς ἀπήντησαν δεόμενοι Πλάτωνος ὡς γεωμετρικοῦ λῦσαι χρησμὸν αὐτοῖς ἄτοπον ὑπὸ τοῦ θεοῦ προβεβλημένον. 203 Kurioser Weise ist gerade dies DÖRRIE (1987) 357 in seinem Kommentar ad. loc. nicht aufgefallen, der zwar den entscheidenden Passus παῦλαν τῶν παρόντων κακῶν verbatim anführt, aber nicht als Platonreminiszenz Plutarchs, sondern als religiös motivierte Umdeutung Plutarch vorausgehender Versionen der Deloslegende interpretiert: „In der ursprünglichen Fassung ging es darum, daß eine Seuche beendet würde, die Apollon hervorgerufen hatte. Das ist zwar ein oft verwendetes apollinisches Motiv; für die Religiosität eines Plutarch aber war es anstößig geworden. Wie konnte der Gott Krankheit und Tod

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Philosophen in den Städten Könige werden oder die jetzt so genannten Könige und Herrscher zu philosophieren beginnen, gibt es kein Ende der Übel für die Städte und das gesamte Menschengeschlecht.204 Im Anschluss lässt Plutarch Simmias zunächst die Probleme schildern, die sich den Deliern bei ihren dilettantischen Versuchen ergaben, dem Wortsinn von Apollons Gebot nachzukommen,205 um ihn dann Platons Lösung referieren zu lassen, bei der die eigentliche Absicht des Gottes, Philosophieprotreptik im Sinne von Platons Politeia zu betreiben, noch dadurch besonders gegenüber der konkret von Apollon gestellten Aufgabe kontrastiert wird, als Plutarch Platon sogar die Lösung des geometrischen Problems beiläufig geben und die Delier an entsprechende Fachleute verweisen,206 jedoch darauf beharren lässt, dass der Sinn des Orakels ein ganz anderer sei: „Sie sollten jedoch                                                              bewirken, um die Unwissenheit und Unfähigkeit mathematischen Aufgaben gegenüber zu brandmarken? Den Gott mit einem solchen Vorwurf zu belasten, hätte der εὐλάβεια, die Plutarch oft genug an den Tag legt, nicht entsprochen. Darum hat Plutarch das hier angelegte Motiv stark abgemildert: Hiernach verheißt der Gott παῦλαν τῶν παρόντων κακῶν. Wer etwa die Legende in ihrer ursprünglichen Fassung kennt, darf diese Verheißung auch weiter auf das Ende der Seuche beziehen. Für den, der in Plutarchs Sinn tiefer blickt, gewinnt die Verheißung ethischen Sinn. Der Gott will die Menschen durch die mathematische Erkenntnis zur Erkenntnis der νοητά führen; in diesem Bestreben erweist er sich als der wahre Wohltäter – εὐεργέτης – der Griechen.“ Es ist wohl weniger die vielberufene „Frömmigkeit“ Plutarchs, die dem Autor im Delospassus von De genio Socratis die Feder geführt hat, als die künstlerisch gewitzte Absicht, in eine Deutung, die Platon gemäß der Anekdote persönlich von einem delphischen Orakel geliefert hat, dessen eigene Aussagen aus der Politeia einzutragen; all dies verschafft dem Kolorit der Schrift, in der der Platonvertraute Simmias spricht, zusätzliche Schattierungen. 204 Mit Auslassungen paraphrasiert gemäß Plat. Rep. V 473c11–e2 ἐὰν μή, ἦν δ᾿ ἐγώ, ἢ οἱ φιλόσοφοι βασιλεύσωσιν ἐν ταῖς πόλεσιν ἢ οἱ βασιλῆς τε νῦν λεγόμενοι καὶ δυνάσται φιλοσοφήσωσι γνησίως τε καὶ ἱκανῶς, καὶ τοῦτο εἰς ταὐτὸν συμπέσῃ, δύναμίς τε πολιτικὴ καὶ φιλοσοφία, τῶν δὲ νῦν πορευομένων χωρὶς ἐφ᾿ ἑκάτερον αἱ πολλαὶ φύσεις ἐξ ἀνάγκης ἀποκλεισθῶσιν, οὐκ ἔστι κακῶν παῦλα, ὦ φίλε Γλαύκων, ταῖς πόλεσι, δοκῶ δ᾿ οὐδὲ τῷ ἀνθρωπίνῳ γένει, οὐδὲ αὕτη ἡ πολιτεία μή ποτε πρότερον φύῃ τε εἰς τὸ δυνατὸν καὶ φῶς ἡλίου ἴδῃ, ἣν νῦν λόγῳ διεληλύθαμεν. 205 Die in De E 6, 386E vorgenommene Qualifizierung der Würfelverdoppelung als einer „Aufgabe, die höchste Kenntnisse in der Geometrie voraussetzt“ wird von Plutarch De genio 7, 579B erläutert: … περὶ τὴν τοῦ βωμοῦ κατασκευὴν γελοῖα πάσχοντες (ἑκάστης γὰρ τῶν τεσσάρων πλευρῶν διπλασιαζομένης ἔλαθον τῇ αὐξήσει τόπον στερεὸν ὀκταπλάσιον ἀπεργασάμενοι δι᾿ ἀπειρίαν ἀναλογίας ἣν τὸ μήκει διπλάσιον παρέχεται) Πλάτωνα τῆς ἀπορίας ἐπεκαλοῦντο [sc. οἱ Δήλιοι] βοηθόν. 206 De genio 7, 579C ὁ δὲ [sc. Πλάτων] […] προσπαίζειν ἔφη τὸν θεὸν Ἕλλησιν ὀλιγωροῦσι παιδείας οἷον ἐφυβρίζοντα τὴν ἀμαθίαν ἡμῶν καὶ κελεύοντα γεωμετρίας ἅπτεσθαι μὴ παρέργως· οὐ γάρ τοι φαύλης οὐδ᾿ ἀμβλὺ διανοίας ὁρώσης ἄκρως δὲ τὰς γραμμὰς ἠσκημένης ἔργον εἶναι [καὶ] δυεῖν μέσων ἀνάλογον λῆψιν, ᾗ μόνῃ διπλασιάζεται σχῆμα κυβικοῦ σώματος ἐκ πάσης ὁμοίως αὐξόμενον διαστάσεως. τοῦτο μὲν οὖν Εὔδοξον αὐτοῖς τὸν Κνίδιον ἢ τὸν Κυζικηνὸν Ἑλίκωνα συντελέσειν.

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nicht glauben, der Gott verlange dies, vielmehr, dass er allen Griechen anordne, vom Krieg und den Übeln ab- und sich dafür auf die Musen einzulassen, und, indem sie durch Vernunft und Wissenschaften ihre Leidenschaften zu besänftigen begännen, miteinander nicht zum Schaden, sondern zum Nutzen zu verkehren.“207 So endet der von Simmias gegebene Bericht von Platons Auseinandersetzung mit dem Delischen Problem in der platonischen Deutung des Orakelspruches, die bereits implizit in der Formulierung desselben zu Anfang von Simmias’ Bericht angedeutet wurde: Der Gott fordert nicht zur speziellen Lösung eines geometrischen Problems auf, sondern betreibt Protreptik zur Philosophie, die die Griechen ethisch bessern und demgemäß zu einem friedlichen Zusammenleben befähigen soll; er beabsichtigt mithin durch seinen Spruch nichts Geringeres, als in platonischer Manier den Grundstein für eine friedliche und gerechte Idealgesellschaft durch Beförderung philosophischer Beschäftigung unter den Griechen zu legen.208 Stellt somit die Verwendung der delischen Anekdote in De genio Socratis eine platonische Variation des Leitmotivs der apollinischen Philosophieprotreptik dar, die der Prosopographie ihres Erzählers, des Platongefährten Simmias, genau entspricht, so legt Plutarch Theon, dem Verteidiger der stoischen Dialektik in De E apud Delphos eine stoische Deutung der Platonerzählung in den Mund, die, seinem Argumentationsziel entsprechend, den Akzent von der richtigen inhaltlichen Deutung des DelosOrakels (der Frage, zu welchem Zweck die Delier und alle Griechen Geometrie treiben sollen) auf den formalen Aspekt der notwendigen Erkenntnis der grundsätzlichen Zweideutigkeit des Orakels verschiebt: Die Delosanekdote erscheint mithin in Theons Argumentation als das klassische Exempel für ein zweideutiges Orakel, durch das der Gott recht eigentlich                                                             

207 De genio 7, 579CD μὴ τοῦτο δ᾿ οἴεσθαι χρῆναι ποθεῖν τὸν θεὸν ἀλλὰ προστάσσειν Ἕλλησι πᾶσι πολέμου καὶ κακῶν μεθεμένους Μούσαις ὁμιλεῖν καὶ διὰ λόγων καὶ μαθημάτων τὰ πάθη καταπραΰνοντας ἀβλαβῶς καὶ ὠφελίμως ἀλλήλοις συμφέρεσθαι. 208 Eine weitere platonische (diesmal erkenntnistheoretische) Interpretation des Delischen Problems findet sich in QC 8, 2, 1, 718EF: Dort wird anlässlich der Frage Πῶς Πλάτων ἔλεγε τὸν θεὸν ἀεὶ γεωμετρεῖν; die Bedeutung der Geometrie als anagogischer Wissenschaft zur Erkenntnis der Ideen anhand von Platons angeblicher Kritik an den Versuchen der Mathematiker Eudoxos, Archytas und Menaichmos hervorgehoben, die Verdoppelung eines Festkörpers unter Zuhilfenahme von mechanischen Hilfsmitteln zu bewerkstelligen: Die Geometrie solle nicht im Wahrnehmbaren verhaftet bleiben, sondern zum Intelligiblen aufsteigen: διὸ καὶ Πλάτων αὐτὸς ἐμέμψατο τοὺς περὶ Εὔδοξον καὶ Ἀρχύταν καὶ Μέναιχμον εἰς ὀργανικὰς καὶ μηχανικὰς κατασκευὰς τὸν τοῦ στερεοῦ διπλασιασμὸν ἀπάγειν ἐπιχειροῦντας, ὥσπερ πειρωμένους δίχα λόγου δύο μέσας ἀνὰ λόγον, ᾗ παρείκοι, λαβεῖν· ἀπόλλυσθαι γὰρ οὕτω καὶ διαφθείρεσθαι τὸ γεωμετρίας ἀγαθὸν αὖθις ἐπὶ τὰ αἰσθητὰ παλινδρομούσης καὶ μὴ φερομένης ἄνω μηδ᾿ ἀντιλαμβανομένης τῶν ἀϊδίων καὶ ἀσωμάτων εἰκόνων, πρὸς αἷσπερ ὢν ὁ θεὸς ἀεὶ θεός ἐστιν. Die gleiche Kritik Platons an einer mechanischen Herangehensweise an geometrische Probleme findet sich noch in Marc. 14, 9–11.

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die dialektischen Fähigkeiten der Griechen, in diesem Falle die Kompetenz zur Identifizierung und Lösung einer sprachlich bedingten inhaltlichen Mehrdeutigkeit, befördern will. Platon selbst wird in Theons Worten dadurch, dass er die Zweideutigkeit des Orakels erfasst und zum eigentlichen Sinn desselben vorstößt, zum ersten Schüler der apollinischen Protreptik zum dialektischen Denken,209 dessen Beherrschung er in der Anekdote vom Delischen Problem bravourös unter Beweis stellt.210 6.4 Die Deutung des E als das εἰ im Syllogismus Im Anschluss an seinen einleitenden Nachweis einer intensiven Beziehung Apollons zur Dialektik und der an der Delosanekdote exemplifizierten protreptischen Intentionen des Gottes macht sich Theon nun an die eigentliche Deutung des E, in dessen Weihung sich die weiteren Absichten des Gottes bei seinen Bemühungen zeigen sollen, die Menschen auf den Weg zum dialektischen Denken zu bringen. Denn wenn die Mehrdeutigkeit der apollinischen Orakelsprüche auf einer grundsätzlichen Ebene der Sprachreflexion gleichsam eine erste Fühlungnahme des Menschen mit sprachlicher Logik erzwingt, so stellt, wie Theon nun ausführt, die dialektische Subdisziplin der Ambiguitätsforschung erst den Anfang einer weiteren menschlichen Geistesentwicklung dar, die in ein ganzes System der Sprachreflexion mündet, das den Argumentationszielen des Redners entsprechend dasjenige der stoischen Logik ist. Diejenigen nämlich, so Theon, die Apollon zum Dank für ihre geistige Anregung ein E nach Delphi geweiht haben, haben dasjenige Element der stoischen Dialektik ausgewählt, das im Bereich ihrer philosophischen Anwendung die bedeutendsten Erkenntnisse ermöglicht: die Konjunktion εἰ, die den Syllogismus konstituiert: „In der Dialektik hat doch wohl diese Konjunktion die größte Bedeutung, da sie ja den logischsten                                                              209 Dass diese „Dialektik“ freilich primär nichts mit der platonischen gemein haben soll, versteht sich von selbst und kann kaum zur impliziten Distanzierung des Autors und Platonanhängers Plutarch von seiner Dialogperson Theon aufgebaut werden, wie FERRARI (1995) 42f. insinuiert: „La risposta successiva (386D–87D) riveste una importanza notevole, essa viene presentata da Teone il quale, pur richiamandosi espressamente a Platone (386E), espone concezioni che presentano forti analogie con tesi stoiche. Egli considera il dio „διαλεκτικώτατος“, ma il concetto di dialettica implicato in questa definizione non sembra riconducibile al pensiero platonico, bensì tradisce tratti chiaramente stoicheggianti […].“ 210 Plutarch hatte mit dieser Auslegung des Sinnes der doppeldeutigen Sprüche des Apollon immerhin einen Nachfolger. ATHERTON (1993) 404, Anm. 160 verweist auf eine Passage bei Ammon., in Int. 137, 20, wo der Autor die Undeutlichkeit der Orakel gegen den Vorwurf, die Götter wüssten selbst nicht über die Zukunft bescheid, unter anderem folgendermaßen verteidigt: ἔπειτα δὲ [sc. ῥητέον πρὸς αὐτοὺς] ὅτι καὶ τοῦ συμφέροντος ἕνεκεν τῶν ἀκουόντων πολλάκις ἀμφίβολοι δίδονται χρησμοὶ τὴν διάνοιαν αὐτῶν γυμνάζοντες.

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Urteilssatz formt; dies ist selbstverständlich der hypothetische.“211 In bester stoischer Manier erläutert Theon diese Behauptung zunächst in ihrem axiologisch-hyperbolischen Aspekt des von der Natur einzigartig privilegierten menschlichen Geistes, der, im Unterschied zu dem des Tieres, nicht nur das bloße Vorhandensein der Dinge durch die Sinne wahrnehmen könne, sondern darüber hinaus in der Lage sei, zwischen ihnen unter Zuhilfenahme des εἰ kausallogische Verknüpfungen zu beobachten und zu beurteilen.212 Wenn Plutarch im Folgenden Theon dieses intellektuelle Privileg anhand eines Beispiels aus der Feder des Begründers der stoischen Dialektik, Chrysipp, illustrieren lässt, ist wiederum die Absicht des Autors zu erkennen, der Prosopographie seiner persona Theon, des Dialektikers, Authentizität zu verleihen (De E 6, 386F): „Dass nämlich ‚Tag‘ und ‚Licht‘ vorhanden ist, nehmen doch wohl auch Wölfe, Hunde und Vögel wahr; dass es aber ‚wenn es Tag ist, hell ist‘, versteht kein anderes Lebewesen als der Mensch.“213 Denn, wie Theon fortfährt, „er allein hat hinsichtlich des Vordersatzes und des Nachsatzes eine Vorstellung von deren jeweiliger Bedeutung und der impliziten Präsenz,214 ihres Zusammenhanges, ihrer Relation und ihres Unterschiedes“215 und ist dadurch überhaupt erst in der Lage, mit sprachlichen Mitteln einen stichhaltigen Beweis zu führen.216 Damit hebt Theon letztlich

                                                            

211 De E 6, 386EF ἐν δὲ διαλεκτικῇ δήπου μεγίστην ἔχει δύναμιν ὁ συναπτικὸς οὑτοσὶ σύνδεσμος, ἅτε δὴ τὸ λογικώτατον σχηματίζων ἀξίωμα· πῶς γὰρ οὐ τοιοῦτο τὸ συνημμένον κτλ. 212 De E 6, 386F πῶς γὰρ οὐ τοιοῦτο τὸ συνημμένον, εἴ γε τῆς μὲν ὑπάρξεως τῶν πραγμάτων ἔχει καὶ τὰ θηρία γνῶσιν, ἀκολούθου δὲ θεωρίαν καὶ κρίσιν ἀνθρώπῳ μόνῳ παραδέδωκεν ἡ φύσις; 213 De E 6, 386F ὅτι μὲν γὰρ „ἡμέρα“ καὶ „φῶς“ ἔστιν, αἰσθάνονται δήπου καὶ λύκοι καὶ κύνες καὶ ὄρνιθες· ὅτι δ᾿ „εἰ ἡμέρα, φῶς ἔστιν“, οὐδὲν ἄλλο συνίησιν πλὴν ἄνθρωπος […]. Vgl. SVF II 207 τῶν δ᾿ οὐχ ἁπλῶν ἀξιωμάτων συνημμένον μέν ἐστιν, ὡς ὁ Χρύσιππος ἐν ταῖς Διαλεκτικαῖς φησι καὶ Διογένης ἐν τῇ Διαλεκτικῇ τέχνῃ, τὸ συνεστὸς διὰ τοῦ „εἰ“ συναπτικοῦ συνδέσμου. ἐπαγγέλλεται δ᾿ ὁ σύνδεσμος οὗτος ἀκολουθεῖν τὸ δεύτερον τῷ πρώτῳ, οἷον „εἰ ἡμέρα ἐστί, φῶς ἐστι.“. Das chrysippische Beispiel des Zusammenhangs von Tag und Licht ist in den Stoikerfragmenten immer wieder als Paradebeispiel zur Erklärung verschiedenster Aspekte des hypothetischen Schlusses belegt, vgl. z.B. SVF II 211; 214; 215; 216; 240. 214 De E 6, 387A. Zum Begriff ἔμφασις vgl. BALDASSARRI (1993) 37f., von dem die Übersetzung „implizite Präsenz“ stammt, sowie OBSIEGER (2007) 57. 215 De E 6, 387A ἡγουμένου καὶ λήγοντος ἐμφάσεώς τε καὶ συναρτήσεως τούτων πρὸς ἄλληλα καὶ σχέσεως καὶ διαφορᾶς μόνος ἔχων ἔννοιαν. Zu σχέσις und διαφορά BALDASSARRI (1993) 38; OBSIEGER (2007) 57 weist darauf hin, dass für die hier verwendete Terminologie offenbar keine Parallelen vorliegen und ist der Ansicht, dass BALDASSARIs Erklärungsversuch wenig hilfreich sei. 216 De E 6, 387A … ἔξ ὧν αἱ ἀποδείξεις τὴν κυριωτάτην ἀρχὴν λαμβάνουσιν.

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III. Hauptgespräch

auf die Urteilsfähigkeit des Menschen bezüglich logischer Verhältnisse zwischen den Dingen ab, wie sie in sprachlich formulierten hypothetischen Satzgefügen festgehalten werden.217 Mit dieser Hervorhebung der Begabung des Menschen zu einem auf Sprachfähigkeit basierenden kausallogischen Denken unter Zuhilfenahme des εἰ, der Beschreibung von dessen logischen Parametern und ihrem wichtigsten Anwendungsbereich, dem Beweis, schlägt Theon schließlich den Bogen zur Weihung des E (De E 6, 387A): Ἐπεὶ τοίνυν φιλοσοφία μὲν περὶ ἀλήθειάν ἐστιν, ἀληθείας δὲ φῶς ἀπόδειξις, ἀποδείξεως δ᾿ ἀρχὴ τὸ συνημμένον, εἰκότως ἡ τοῦτο συνέχουσα καὶ ποιοῦσα δύναμις ὑπὸ σοφῶν ἀνδρῶν τῷ μάλιστα τὴν ἀλήθειαν ἠγαπηκότι θεῷ καθιερώθη. In diesen Abschluss von Theons erstem Beweisgang der Dialektizität des Gottes lässt Plutarch erneut das Leitmotiv von De E apud Delphos, Apollons Protreptik, einfließen, und dies durch die Verschränkung zweier Anklänge an voraufgehende Passagen des Dialoges: Einerseits liegt hier in der gesamten Satzstruktur eine unüberhörbares Echo von Ammonios’ Archäologie der philosophischen Suche im zweiten Kapitel der Schrift vor (ἐπεὶ δὲ τοῦ φιλοσοφεῖν […] τὸ ζητεῖν τὸ θαυμάζειν καὶ ἀπορεῖν, εἰκότως κτλ., De E 2 385C); andererseits erscheinen wieder die „Urphilosophen“, also die Weisen, aus dem extradialogischen Proömium, die dem zur Philosophie inspirierenden Gott das E als Zeichen ihrer von Plutarch als ἀρχή der Philosophie bezeichneten Geistesbemühungen weihen,218 in Theons Fall als Zeichen für das kondizionale εἰ, ohne das Philosophie im Sinne eines Strebens nach der Wahrheit, das sich auf logisch einwandfreie Urteile stützt, unmöglich ist. So scheint das Finale dieses ersten Redeteiles, zumal in seinem strukturellen Echo von Ammonios’ Theaitetos-Anspielung, vor dem Hintergrund des der Rede voraufgehenden Einverständnisses zwischen Theon und Ammonios von Plutarch bewusst als höfliche Reverenz an den Gesprächsleiter komponiert, dem Theon so seinen Dank für die Unterstützung seines Bedürfnisses nach Verteidigung der unseriös abgekanzelten Dialektik abstattet. Doch die von Plutarch so konzipierte intellektuelle und persönliche Nähe des gegenwärtigen Redners zum Moderator der Unterhaltung ist damit nicht zu Ende, sondern setzt sich im zweiten Teil von Theons Beitrag fort: Οὐχ ἧττον ὁ θεὸς φιλόσοφος ἢ μάντις hatte die einleitende Feststellung des Ammonios gelautet, und Theon macht sich nun daran, auf den Nachweis der Nähe des Philosophen Apollon zur stoischen Dialektik nun auch diejenige des Sehers zu dieser Wissenschaft folgen zu lassen.

                                                             217 Plutarch selbst erwähnt das Training in diesem sprachlogischen Bereich beiläufig in De recta ratione audiendi 11, 43C als συνημμένων ἐπικρίσεις […] καὶ ψευδομένων λύσεις. 218 Vgl. De E 1, 385A.

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6.5 Die apollinische Mantik als angewandte Dialektik Die Ausdehnung des dialektischen Wesens Apollons auf die Mantik, wie sie Theon im folgenden Abschnitt unternimmt, stellt eine logische Konsequenz der voraufgehenden Ausführungen dar, in denen der Redner die außerordentliche Bedeutung der Konjunktion εἰ als des sprachlichen Ausdrucks der höchsten menschlichen Fähigkeiten in der philosophischen Bemühung um die Erkenntnis der Wahrheit erörtert hatte. Logisch deshalb, da sich in der Lehre der Stoa die Annahme, dass die Götter Wissen über die Zukunft besitzen, und das Axiom, dass alle sprachlichen Aussagen – also auch solche im Futur – entweder wahr oder falsch sind, gegenseitig stützen.219 Beide Überzeugungen setzen die Annahme eines ununterbrochenen Kausalnexus in der Welt voraus, den die Götter ihrer reinen Logosnatur entsprechend – sind sie doch mit dem Logos identisch – vollkommen überschauen, und den die Menschen wiederum aufgrund ihrer Partizipation an eben diesem Logos und unter Zuhilfenahme entsprechender Übung durch die von Theon herausgehobene, durch die Verwendung des εἰ konstituierte Operation des hypothetischen Schlusses erkennen können. Wie Apollon bereits in Theons Einleitungsworten als der oberste aller Dialektiker firmierte, führt ihn Theon nun als den Meister der in der Mantik angewandten Dialektik ein, dem der Mensch durch die μαντικὴ τέχνη, der Methode der Voraussage der Zukunft aus der Beobachtung des Gegenwärtigen oder Vergangenen, auch in diesem Gebiet nacheifere: Καὶ μάντις μὲν ὁ θεὸς μαντικὴ δὲ τέχνη περὶ τὸ μέλλον ἐκ τῶν παρόντων ἢ παρῳχημένων (De E 6, 387B). Da alles, was geschieht, eine vernünftige Ursache besitzt, kann auch Zukünftiges vernunftgemäß vorausgesagt werden, und derjenige ist der vollkommene Seher, der φυσικῶς – im Einklang mit der Natur, die nach stoischer Vorstellung mit dem Gott qua Logos, Heimarmene und Pronoia identisch ist – innerhalb der ununterbrochenen Kausalkette (διέξοδος ἀπ᾿ ἀρχῆς εἰς τέλος περαίνουσα) die einzelnen Glieder im Geiste zu verknüpfen und zu verflechten (τὰς αἰτίας εἰς ταὐτὸ συνδεῖν τε πρὸς ἄλληλα καὶ συμπλέκειν) und entsprechend aus dem jeweils Vorangegangenen das Folgende zu verkünden wie aus dem Vorhandenen auf das Vorangegangene zu schließen vermag.220 Mantik ist mithin angewandte Dialektik, die geistige                                                              219 Vgl. POHLENZ (1959) 102 „Einen Beweis für die Notwendigkeit alles Geschehens finden die Stoiker in der Mantik. Daß Gott die Zukunft vorherwisse und vorhersagen könne, betrachten sie als allgemein anerkannte und durch die Erfahrung bestätigte Tatsache. Diese setzt aber voraus, daß auch die künftigen Ereignisse mit Notwendigkeit festgelegt sind. Dasselbe folgern sie aus dem Satze, daß jedes Urteil entweder wahr oder falsch sein müsse. Das müsse auch für Aussagen über die Zukunft gelten und treffe nur zu, wenn diese notwendig vorausbestimmt ist.“ 220 De E 6, 387B οὐδενὸς γὰρ οὔτ᾿ ἀναίτιος ἡ γένεσις οὔτ᾿ ἄλογος ἡ πρόγνωσις· ἀλλ᾿ ἐπεὶ πάντα τοῖς γεγονόσι τὰ γιγνόμενα τά τε γενησόμενα τοῖς γιγνομένοις ἕπεται καὶ

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III. Hauptgespräch

Operation des Syllogismus mit Hilfe des hypothetischen Schlusses ihre Methode: Ἀπὸ γὰρ τοῦ ὄντος ὁ συλλογισμὸς κατὰ τὴν τοῦ συνημμένου δύναμιν, ὡς „εἰ τόδ᾿ ἐστί, τόδε προηγεῖται“ καὶ πάλιν „εἰ τόδ᾿ ἐστί, τόδε γενήσεται“ (De E 6, 387B). Hatte Theon den als einziges Lebewesen für die apollinische Philosophieprotreptik aufnahmefähigen Menschen von den Tieren durch das Vermögen der ἀκολούθου θεωρία καὶ κρίσις (De E 6, 386F) geschieden, so fußt die τέχνη des Mantikers nun wiederum auf der völligen Beherrschung der γνῶσις ἀκολουθίας, und Plutarch lässt Theon die Anwendung des hypothetischen Schlussverfahrens, bereits das Ende seines Beitrages präludierend, als „Dreifuß der Wahrheit“ überhöhen: „Denn die Technik und Logik besteht, wie gesagt, aus der Erkenntnis der Folge, und die Wahrnehmung steuert die zweite Prämisse zum Syllogismus bei. Aus diesem Grunde – mag es auch gesucht klingen – scheue ich mich nicht, dieses Schlussverfahren als den Dreifuß der Wahrheit zu bezeichnen, das zunächst die Folge zwischen Nachsatz und Vordersatz konstatiert, dann den konkreten Fall hinzunimmt und die Schlussfolgerung des Beweises zieht.“221 Der berühmte Dreifuß des Apollon in Delphi – auf dem die Pythia sitzend die Sprüche des Gottes verkündet – ist mithin nach Theons Worten das vollkommene Symbol der Mantik, deren Technik aus dem dreigliedrigen Schlussverfahren des voll ausgebildeten Syllogismus besteht.222 Mit dieser Deutung der delphi                                                             συνήρτηται κατὰ διέξοδον ἀπ᾿ ἀρχῆς εἰς τέλος περαίνουσαν, ὁ τὰς αἰτίας εἰς ταὐτὸ συνδεῖν τε πρὸς ἄλληλα καὶ συμπλέκειν φυσικῶς ἐπιστάμενος οἶδε καὶ προλέγει τὰ τ᾿ ἐόντα τά τ᾿ ἐσσόμενα πρό τ᾿ ἐόντα. καὶ καλῶς Ὅμηρος πρῶτον ἔταξε τὰ παρόντα εἶτα τὸ μέλλον καὶ τὸ παρῳχημένον. Plutarch lässt Theon durch die Verwendung eines Zitates aus Il. 1, 70, wo von Kalchas’ Auftritt in der Beratung der Achaier über die Pest im Heerlager die Rede ist, noch zusätzlich implizit die Verbindung seiner Aussagen mit dem Wesen des Apollon unterstreichen, heißt es doch bei Homer unmittelbar im Anschluss, Kalchas habe sein Zukunftswissen von Apollon selbst erhalten (Il. 1, 71f.): καὶ νήεσσ᾿ ἡγήσατ᾿ Ἀχαιῶν Ἴλιον εἴσω / ἣν διὰ μαντοσύνην, τήν οἱ πόρε Φοῖβος Ἀπόλλων. Und wenig später hebt noch einmal Achilleus, der Kalchas gegen Agamemnons Zorn zu beschützen verspricht, die Nähe des Kalchas zu seinem Herrn hervor (Il. 1, 86f.): οὐ μὰ γὰρ Ἀπόλλωνα Διῒ φίλον, ᾧ τε σύ, Κάλχαν, / εὐχόμενος Δαναοῖσι θεοπροπίας ἀναφαίνεις κτλ. 221 De E 6, 387C τὸ γὰρ τεχνικὸν καὶ λογικὸν ὥσπερ εἴρηται γνῶσις ἀκολουθίας, τὴν δὲ πρόσληψιν ἡ αἴσθησις τῷ λόγῳ δίδωσιν. ὅθεν, εἰ καὶ γλίσχρον εἰπεῖν, οὐκ ἀποστρέψομαι τοῦτον εἶναι τὸν τῆς ἀληθείας τρίποδα τὸν λόγον, ὃς τὴν τοῦ λήγοντος πρὸς τὸ ἡγούμενον ἀκολουθίαν θέμενος εἶτα προσλαβὼν τὴν ὕπαρξιν ἐπάγει τὸ συμπέρασμα τῆς ἀποδείξεως. Was Plutarch hier Theon theoretisch beschreiben lässt, ist das vollständige Tag/LichtBeispiel, das er in De E 6, 387A eingeführt hatte (nach SVF II 240): εἰ ἡμέρα ἐστι, φῶς ἐστιν [Feststellung der Folge]· ἀλλὰ μὴν ἡμέρα ἔστιν [Konstatierung des konkreten Falles]· φῶς ἄρα ἐστίν [Schlussfolgerung]. 222 Vgl. BALDASSARRI (1993) 40 „Wie der Dreifuß der Pythia ein heiliges Gerät zur Verkündung der Wahrheit war, so kann man das erste Argument der Dialektik bei der

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schen Realie des Dreifußes als eines Symbols für den dialektischen „Dreisatz“ folgt Theon erneut dem Programm des Ammonios aus dem 2. Kapitel von De E apud Delphos, indem er in seiner Begeisterung für die Verteidigung des Bezuges der Dialektik zu Apollon Ammonios’ einleitende Gesprächsstimulation nachgerade übererfüllt: Er bezieht in seine Deutung des E die Lösung eines weiteren Rätsels der apollinischen Sphäre aus dem Katalog der dort als philosophisch besonders ergiebig bezeichneten Probleme ein, „die Frage nach dem Dreifuß“ (De E 2, 385C τὸ τοῦ τρίποδος). In dieser Form der Überblendung der philosophischen und der mantischen Aspekte des Apollon kommt Theon schließlich, bevor er seine Rede durch eine Allegorisierung der Erzählung vom Dreifußraub des Herakles beschließt, noch einmal auf die Weihung des E als des kondizionalen εἰ zur besonderen Freude des Apollon zu sprechen, und der Redner erweist sich dabei als das vollkommene Geschöpf seines Autors, der ihn souverän an die Präliminarien des Ammonios anknüpfen und zugleich noch – auch hier nachgerade ringkompositorisch, man denke an die Delosanekdote des Anfangs – implizit Platon, genauer, den Phaidon anklingen lässt. Der Πύθιος nämlich – hier erinnert Theon an den ersten Namen, den Ammonios in seiner Einleitung etymologisch auf das philosophische Wesen des Apollon zurückgeführt hatte223 – freue sich wegen seiner Liebe zur Dialektik ganz besonders an dem εἰ, sehe er doch diesen Redeteil am häufigsten im Gebrauch der Philosophen.224 Zum Beweis dieser These führt Theon a minore die Vorliebe des Apollon für Musik, den Gesang von Schwänen und die Laute der Kithara an (εἰ δὴ μουσικῇ τε ἥδεται καὶ κύκνων φωναῖς καὶ κιθάρας ψόφοις, De E 6, 387C). Was auf den ersten Blick als einfache Aufzählung anderer Vorlieben des Gottes neben der besonders bedeutsamen Dialektik erscheint, ist bei näherer Betrachtung eine überaus gelehrte Anspielung auf den Zusammenhang von Musik und Philosophie, wie ihn Platon im Phaidon durch Sokrates herstellen lässt. Als sich in diesem Dialog Kebes näher nach der musikalisch-dichterischen Beschäftigung des Sokrates im Gefängnis – unter anderem nach einem εἰς τὸν Ἀπόλλω προοίμιον – erkundigt,225 berichtet Sokrates von ei                                                             Suche nach dem Licht der Wahrheit ein heiliges, dreiteiliges Werkzeug nennen. Und die für den Verstand erfaßbare, zugleich aber lautlich-schriftliche Entität, der Redeteil (τὸ τοῦ λόγου μέρος), der das Fundament der Verbindung des Succedens mit dem Antecedens und der Dialektik ist, wird sehr zu Recht vom Gott der Wahrheit über alles geliebt.“ 223 De E 2, 385B ὡς Πύθιος μέν ἐστι τοῖς ἀρχομένοις μανθάνειν καὶ διαπυνθάνεσθαι κτλ. 224 De E 6, 387C τὸν οὖν Πύθιον […] τί θαυμαστόν ἐστι διαλεκτικῆς φιλίᾳ τοῦτ᾿ ἀσπάζεσθαι τοῦ λόγου τὸ μέρος καὶ ἀγαπᾶν, ᾧ μάλιστα καὶ πλείστῳ προσχρωμένους ὁρᾷ τοὺς φιλοσόφους; 225 Plat. Phaed. 60d1–2.

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nem ihm häufig erschienenen Traum, in dem er die Anordnung zu vernehmen glaubte ὦ Σώκρατες, […] μουσικὴν ποίει καὶ ἐργάζου.226 Er, Sokrates, habe sich den Traum bislang so ausgelegt, dass er ihm nur befehle, was er ohnehin tue, nämlich Musik zu treiben, „weil die Philosophie meiner Ansicht nach die höchste Form der Musik darstellt und ich mich darin betätigte.“227 Vor diesem Hintergrund gewinnt Theons Argument a minore seine besondere Konsistenz: Wenn der Gott sich schon über die Musik freut, verwundert es nicht, wenn er ein Symbol für die höchste Form der Musik, die Philosophie, bei Theon das εἰ, besonders liebt und schätzt. Auch die Erwähnung der Gesänge der Schwäne, die traditionell mit Apollon und seiner Mantik verbunden werden, bildet im intertextuellen Zusammenhang mit Platons Phaidon einen besonderen Beitrag zu Theons Argument. Die Schwäne, so führt Sokrates bei seinem letzten Gespräch aus, sängen vor ihrem Tod aus Freude, „weil sie, wie ich glaube, Geschöpfe des Apollon sind, und sie verfügen über die Sehergabe, und im Wissen um das Gute im Hades singen sie voll Freude an jenem Tag besonders, mehr als zuvor.“228 Er selbst sei wie die Schwäne dem Gott geweiht, ein Mantiker wie diese, und gehe aus dem selben Wissen freudig in den Tod. Dem Gesang, den die mantischen Schwäne anstimmen, entspricht bei Sokrates das philosophische Gespräch, zu dem er die Gefährten auffordert, solange noch Zeit ist.229 Mantisch ist letztlich auch dieses, gilt es für Sokrates doch, die Gefährten im philosophischen Gespräch von dem Wissen um das Gute, das der Tod bedeutet, zu überzeugen, mithin dieses Wissen um die Verhältnisse im Hades auf philosophischem Wege, durch Rede und Antwort, bei den Freunden zu befestigen. Gewiss hat Plutarch an dieser Stelle der Rede Theons nicht im Sinne, dessen Worte auf die gleiche Stufe mit Platons Phaidon zu stellen, doch scheint in diese stoische Variation der Frage nach dem E genauso ein platonisches Denkmuster eingeflossen zu sein, wie schon in die stoische Adaption der Delos-Anekdote.                                                             

Plat. Phaed. 60e6–7. Plat. Phaed. 60e7–61a4 καὶ ἐγὼ ἔν γε τῷ πρόσθεν χρόνῳ ὅπερ ἔπραττον τοῦτο ὑπελάμβανον αὐτό μοι παρακελεύεσθαί τε καὶ ἐπικελεύειν, ὥσπερ οἱ τοῖς θέουσι διακελευόμενοι, καὶ ἐμοὶ οὕτω τὸ ἐνύπνιον ὅπερ ἔπραττον τοῦτο ἐπικελεύειν, μουσικὴν ποιεῖν, ὡς φιλοσοφίας μὲν οὔσης μεγίστης μουσικῆς, ἐμοῦ δὲ τοῦτο πράττοντος. 228 Plat. Phaed. 85b1–4 … ἀλλ᾿ ἅτε οἶμαι τοῦ Ἀπόλλωνος ὄντες, μαντικοί τέ εἰσι καὶ προειδότες τὰ ἐν Ἅιδου ἀγαθὰ ᾄδουσι καὶ τέρπονται ἐκείνην τὴν ἡμέραν διαφερόντως ἢ ἐν τῷ ἔμπροσθεν χρόνῳ. 229 Plat. Phaed. 85b4–9 ἐγὼ δὲ καὶ αὐτὸς ἡγοῦμαι ὁμόδουλός τε εἶναι τῶν κύκνων καὶ ἱερὸς τοῦ αὐτοῦ θεοῦ, καὶ οὐ χεῖρον ἐκείνων τὴν μαντικὴν ἔχειν παρὰ τοῦ δεσπότου, οὐδὲ δυσθυμότερον αὐτῶν τοῦ βίου ἀπαλλάττεσθαι. ἀλλὰ τούτου γ᾿ ἕνεκα λέγειν τε χρὴ καὶ ἐρωτᾶν ὅτι ἂν βούλησθε, ἕως ἂν Ἀθηναίων ἐῶσιν ἄνδρες ἕνδεκα. Die Selbstbeschreibung des Sokrates als ὁμόδουλος τῶν κύκνων hat Plutarch in den Preis der mantischen Befähigung der Vögel in De soll. anim. 22, 975B aufgenommen. 226 227

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6.6 Der Dreifußraub des Herakles Protreptik zur Philosophie, Dialektik und Mantik sind die Folien, die Plutarch in Theons Beitrag so kunstvoll übereinanderlegt, dass einer der genannten Aspekte immer auch Schattierungen auf die beiden anderen wirft, wenn Apollons Verhältnis zur Dialektik unter einer einzelnen Perspektive betrachtet wird. Alle drei Motive scheinen nun im letzten Abschnitt der Rede auf, der eine zunächst durchaus gewaltsam anmutende Allegorisierung des Mythos von Herakles’ Raub des apollinischen Dreifußes aus Delphi enthält: Als junger Mann230 und Böoter, wie er im Buche stehe (νέος ὢν καὶ κομιδῇ Βοιώτιος),231 hatte Herakles noch nicht den dialektischen Kernsatz εἰ τὸ πρῶτον, τὸ δεύτερον232 verinnerlicht, und seine Verachtung der Dialektik durch den Raub des Dreifußes aus Delphi denkbar rabiat dokumentiert, als einen Kampf gegen den Gott um die mantische τέχνη.233 Später freilich habe er sich als μαντικώτατος und διαλεκτικώτατος erwiesen, nachdem er „den Prometheus befreit und sich mit den um Chiron und Atlas versammelten Sophisten unterhalten“ hatte.234 Theons Allegorese des Heraklesmythos zeigt abschließend noch einmal die hohe Kunst dieses Beitrages: Indem sie alle Themen des stoischen Lösungsversuches der Bedeutung des E in eine kurze Erzählung zusammenfasst, erweist sie sich noch einmal in nuce als letzte stoische Variation des Themas von De E apud Delphos. Auch in dieser Deutung der Herakleserzählung fußen sowohl die Dialektik als auch die Mantik auf dem selben Prinzip, dem vermittels des εἰ dem Denken zugänglichen Kausalnexus des εἰ τὸ πρῶτον, τὸ δεύτερον, und gleichzeitig zeigt sich das Moment der Protreptik, die der Gott zu seiner Wissenschaft betreibt, in der Darstellung von                                                              230 Nach FURTWÄNGLER (1886–1890) 2213f. erscheint Herakles in den bildlichen Darstellungen der Sage häufig ohne das charakteristische Löwenfell, steht also noch vor seiner späteren Heldenkarriere, in der er sich im Dienste des Eurystheus zuerst im Kampf mit dem nemeischen Löwen seine unverwechselbare Bekleidung erwirbt (vgl. GRAF, 1998, 388). OBSIEGER (2007) 65 führt demgegenüber Belege dafür an, dass Theon hier die traditionelle Abfolge der Erlebnisse des Herakles ändert, um sie seiner Aussageabsicht anzupassen. 231 De E 6, 387D. Vgl. zu dieser Anspielung darauf, dass die Böoter allgemein im Ruf geistiger Schlichtheit standen, detailliert OBSIEGER (2007) 66f. 232 Vgl. SVF II 240. Eine ausführliche Diskussion des Textes von De E 387D2–9 bietet LERNOULD (2000), die keinen Zweifel daran lässt, dass Plutarch an dieser Stelle erneut auf die stoische Vorstellung des Kausalverhältnisses abhebt. Ähnliche Probleme zur Stelle diskutiert OBSIEGER (2007) 67f., offenbar in Unkenntnis von LERNOULDs Arbeit. 233 De E 6, 387D … ἀναιρῶν τὴν διαλεκτικὴν καὶ καταγελῶν τοῦ „εἰ τὸ πρῶτον, τὸ δεύτερον“ ὑποσπᾶν ἔδοξε βίᾳ τὸν τρίποδα καὶ διαμάχεσθαι πρὸς τὸν θεὸν ὑπὲρ τῆς τέχνης. 234 So De E 6, 387D in der Schilderung von Herakles’ törichter Jugend: … οὔπω τὸν Προμηθέα λελυκὼς οὐδὲ τοῖς περὶ τὸν Χείρωνα καὶ Ἄτλαντα σοφισταῖς διειλεγμένος ἀλλὰ νέος ὢν καὶ κομιδῇ Βοιώτιος κτλ.

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Herakles’ Bildungsgang, der durch die Bekanntschaft mit mantisch-philosophisch begabten Lehrergestalten zur Einsicht in die universale Geltung des Kausalprinzips gelangt und schließlich als μαντικώτατος und zumal als διαλεκτικώτατος nachgerade dieselbe Stufe wie Apollon selbst, der wissenschaftliche Archeget der von ihm einst törichterweise verachteten Dialektik, erreicht. Was Plutarch hier Theon in den Mund legt, stellt somit funktional die konzentrierte Quintessenz des gesamten Beitrages dar und ist in seiner künstlerischen Machart nicht so „an den Haaren herbeigezogen“, wie es zunächst erscheinen mag.235 Vielmehr lässt Plutarch hier seine persona Theon offenbar erneut aus seiner eigenen Universalbildung schöpfen, denn alle die Personen, von denen es heißt, sie hätten Herakles zur Dialektik und zur Mantik gebracht, werden auch sonst in der griechischen Literatur mit Sehergabe und philosophischem Denken in Verbindung gebracht.236 Wer überdies die Methode bedenkt, mit der Plutarch im eigenen Namen zumal in De Iside et Osiride in den ägyptischen Mythos philosophischen Gehalt hineinliest, wird sich über Theons Mythendeutung am Ende seiner Rede nicht allzu sehr verwundern. 6.7 Zur Bewertung der Theonrede Die vorstehende Analyse der Rede des Theon legte das Hauptaugenmerk auf den kompositorischen Aspekt der Eingliederung der Rede in Gesprächsgang und Thematik von De E apud Delphos einerseits, andererseits auf denjeni                                                             235 OBSIEGER (2007) 9 nennt Theons Vorgehen „[…] eine an den Haaren herbeigezogene Mythendeutung […].“ VAN DER STOCKT (2006) 54 hält hingegen die Verwendung des Motivs des Dreifußraubes (das, nebenbei bemerkt, auch in De def. or. 7, 413AB und in De sera 12, 557C und 17, 560B von Plutarch in die jeweilige Argumentation eingebaut worden ist) für ein „argument sérieux et médité.“ 236 Prometheus soll Herakles im aischyleischen Prometheus Lyomenos – wie der Io im Prometheus Desmotes – seine weiteren Abenteuer vorausgesagt haben und hat ihn so gleichsam mit dem Prinzip des εἰ τὸ πρῶτον, τὸ δεύτερον vertraut gemacht. Vgl. ECKHART (1957) 678, speziell 700 zur Erlösung des Prometheus durch Herakles: Prometheus dankt Herakles mit Ratschlägen zur Überlistung des Atlas bei der Gewinnung der Äpfel der Hesperiden; Quellen: Pherekydes FGrHist 3 F 17, Apollodor 2, 5, 11, 11. Chiron erscheint als Lehrer des Herakles (vgl. ESCHER, 1899) und in Pind. Pyth. 9, 52f. sogar gegenüber Apollon als Seher von dessen Zukunft mit Kyrene; auch Eur. I.A. 1064 bezeichnet ihn als μάντις. Auch Atlas ist als Lehrer des Herakles verbürgt (vgl. W ERNICKE, 1896, 2125); da Atlas den Sternenhimmel trägt, gilt er als Astronom, Mathematiker und Philosoph (z.B. Diod. 3, 60). Den Gedanken einer Verbindung von Seherkunst und Philosophie in den Lehren des Atlas bezeugt Herodoros von Herakleia, FGrHist 31 F 13 = Clem. Alex. Strom. I 15, 73, 2: Ἡρόδωρος δὲ τὸν Ἡρακλέα μάντιν καὶ φυσικὸν γενόμενον ἱστορεῖ παρὰ Ἄτλαντος τοῦ βαρβάρου τοῦ Φρυγὸς διαδέχεσθαι τοὺς τοῦ κόσμου κίονας, αἰνιττομένου τοῦ μύθου τὴν τῶν οὐρανίων ἐπιστήμην μαθήσει διαδέχεσθαι. Vgl. LERNOULD (2000) 152 mit Anm. 13–15 für weitere Stellen und Literatur sowie OBSIEGER (2007) 65f.

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gen der Konsistenz der Argumentation unter Einbeziehung ihres Anspielungsreichtums. Im Rahmen des Gesamtwerkes wurde deutlich, dass Theons Rede nicht nur als „Verteidigung der Dialektik“, als die der Lösungsversuch des E in dieser Rede firmiert, eine stoische Deutung darstellt, sondern darüber hinaus auch als stoische Variation des Generalthemas von De E apud Delphos, Apollons Protreptik zum philosophischen Denken, verstanden werden kann. In der Komposition der Rede zeigte sich das artistische Geschick des Autors, seine gründlichen Kenntnisse der Philosophie der Stoa zu einer virtuosen Kombination von Elementen der stoischen Dialektik mit dem Wesen des Apollon als eines Philosophen und Sehers zu verbinden, die das vom Vorredner Nikandros ausgesprochene Verdikt über die Dialektik in jeder Hinsicht als unbegründet erweist. Dabei wendet sich die Rede ohne Zweifel an einen Leser, der, wie der Adressat Sarapion, aufgrund einer gründlichen Kenntnis der stoischen Philosophie in der Lage ist, die hohe Könnerschaft der Figur Theon und damit ihres Autors Plutarch zu goutieren, alle nur erdenklichen Assoziationen, die sich einem universal gebildeten Griechen zwischen der Theorie der stoischen Dialektik und Apollon als Philosophen- und Wahrsagegott ergeben können, zu einer in sich so geschlossenen wie intertextuell beziehungsreichen argumentativen Einheit zu verbinden. Gerade das hohe literarisch-philosophische Niveau der Rede soll letztlich auch zeigen, wie inspirierend Apollons Philosophieprotreptik wirken kann, wenn sie auf eine Begabung wie den plutarchischen Theon trifft. Gleichwohl ist der schriftstellerisch-bravouröse Aspekt der Rede, in der die von Plutarch – zumal in den ‚Pythischen Dialogen‘ – vielgeübte Erklärungskunst einen Höhepunkt erreicht, von der Forschung kaum beachtet worden237: Nicht ihren Stärken, sondern ihren vermeintlichen Schwächen galt das Hauptinteresse, Schwächen, die paradoxerweise konsequent mit der Motivierung zusammenfallen, die Plutarch der Rede des Theon in De E apud Delphos gegeben hat, nämlich der Verteidigung der stoischen Dialektik. Indem Plutarch Theon den Bezug Apollons zur stoischen Lehre vehement verteidigen lässt, bringt er naturgemäß philosophische Lehrsätze der Stoa implizit und explizit zur Sprache, denen er jedoch selbst, so die Kritik, sowohl                                                              237 Eine Ausnahme bildet die Arbeit von BALDASSARRI (1993), die die inhaltliche Kohärenz der stoischen Lehren Theons würdigt. OBSIEGER (2007) 62 äußert zwar beiläufig, dass man Theons Rede „nicht pressen“ dürfe, tut dies jedoch durchgängig, wenn er den assoziativen Stil der Rede dahingehend auslegt, dass Plutarch hier nur amüsieren wolle. Dass der Aspekt des Amusements in der gesamten Schrift De E apud Delphos eine nicht geringe Rolle spielt, wird man nicht bestreiten können, doch scheint OBSIEGER zu verkennen, dass gerade die assoziative Kühnheit in der Rede des Theon so typisch für plutarchische Deutungsversuche obskurer Phänomene ist, dass das Amusement, das diese Literatur erzeugen soll, keineswegs als Indiz für philosophischen Unernst zu werten ist.

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III. Hauptgespräch

in De E apud Delphos als auch in seinen anderen Schriften skeptisch gegenüberstehe. Die Rede Theons könne, so der von der Forschung hervorgerufene Eindruck, keine „richtige“ Lösung des Problems enthalten, da sie von vornherein auf falsche philosophische Prämissen aufbaue. Nun besteht kein Zweifel, dass sich Plutarch an vielen Stellen seines Werkes kritisch mit den Lehren der Stoa auseinandergesetzt hat238: Seine polemischen Schriften De Stoicorum repugnantiis und De communibus notitiis adversus Stoicos stellen mit aller kriminalistischer Geistesschärfe durchgeführte Versuche dar, dem stoischen System, das auf seine Geschlossenheit besonders stolz war, innere Widersprüche nachzuweisen. Daneben finden sich, auch in den ‚Pythischen Dialogen‘, immer wieder Spitzen gegen bestimmte stoische Lehren, so in De Pythiae oraculis eine Polemik gegen die stoische Theorie, die Sonne speise sich aus dem Wasser,239 die eine Variation der im Verlauf dieser Schrift immer wieder aufscheinenden Kritik am Materialismus der Stoa, dem auch die Sphäre des Göttlichen unterworfen ist, darstellt.240 Diese Stoikerkritik in den ‚Pythischen Dialogen‘ ist freilich immer explizit und folgt in der Regel direkt auf entsprechende Aussagen von Dialogpersonen im Rahmen des Gesprächsablaufs. Systematisch wird man sie kaum nennen können, es handelt sich eher um kleinere Gefechte, die, zumal im Bereich der Frage nach der Funktionsweise der Mantik, spätere Lösungsversuche vorbereiten, die sowohl in De Pythiae oraculis als auch in De defectu oraculorum eine Verbindung zwischen göttlicher Ursache der Prophezeiungen und deren Ausdruck in der Materie herstellen. Selbst wenn allerdings die Auseinandersetzungen mit der Stoa in den beiden anderen ‚Pythischen Dialogen‘ wesentlich die Funktion hätte, eine durchgängig negative Folie zu den wahren Überzeugungen Plutarchs zu bilden, so ist ein entsprechender Interpretationsansatz auf die Rede des Theon in De E apud Delphos gänzlich unübertragbar, wie sich allein schon an der Mühe zeigt, die die Begründung der These einer von Plutarch als negativ intendierten Präsentation stoischer Thesen in Theons Rede ihren Vertretern bereitet hat: Die sichtlich positive Zeichnung des Theon und die Einbindung                                                              238 Vgl. die umfassende Aufarbeitung von Plutarchs Verhältnis zum Stoizismus von BABUT (1969). 239 De Pyth. or. 12, 400A–D. Siehe dazu auch unten, S. 300–302. 240 Vgl. z.B. die Kritik des Epikureers Boethos an dem Glauben, in Delphi zeigten Veränderungen an Weihebildern das Schicksal bestimmter Personen an: Eine solche Vorstellung vermische den Gott vollkommen mit der Materie, aus der die Weihegaben, an denen die göttliche Pronoia sichtbar werde, bestünden. De Pyth. or. 8, 398A [Philinos spricht] … ἐγὼ δὲ φαίην ἂν καὶ τῶν ἀναθημάτων τὰ ἐνταυθοῖ μάλιστα συγκινεῖσθαι καὶ συνεπισημαίνειν τῇ τοῦ θεοῦ προνοίᾳ, καὶ τούτων μέρος μηδὲν εἶναι κενὸν μηδ᾿ ἀναίσθητον, ἀλλὰ πεπλῆσθαι πάντα θειότητος. καὶ ὁ Βόηθος ναί, εἶπεν, οὐ γὰρ ἀρκεῖ τὸν θεὸν εἰς σῶμα καθειργνύναι θνητὸν ἅπαξ ἑκάστου μηνός, ἀλλὰ καὶ λίθῳ παντὶ καὶ χαλκῷ συμφυράσομεν αὐτόν κτλ.

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seiner Rede in den Gesprächsablauf sticht zu sehr ins Auge, das Fehlen jeder expliziten Kritik an Theons Thesen innerhalb von De E apud Delphos ist zu deutlich, als dass sich in dem Auftritt, den Plutarch diesem Verteidiger der stoischen Dialektik verschafft, auch nur der geringste Anhaltspunkt für eine kritische Haltung des Autors gegenüber der Rede finden ließe. Obwohl beispielsweise FERRARI das Fehlen einer expliziten Kritik an Theons Rede innerhalb von De E apud Delphos konstatieren muss241 hat er doch versucht, aus einzelnen dekontextualisierten Thesen Theons einen Beleg für eine Art impliziter Widerlegung seiner Rede durch die spätere Ammoniosrede242 zu konstruieren, der einer näheren Prüfung jedoch nicht standhält: Weder können bestimmte Äußerungen des Ammonios nachvollziehbar als Kritik am stoischen „Sensualismus“ gelesen werden243 noch stellen Ammoniosʼ Aussagen über die zeitlose Ewigkeit des Seins einen ernstzunehmenden Kommentar zu Aussagen Theons über die Zeit dar.244 Überhaupt zeigt sich die Schwäche der von FERRARI vorgebrachten Argumente für eine implizite Stoikerkritik Plutarchs durch den Mund des Ammonios, aus der sich die Unannehmbarkeit des Lösungsansatzes des Theon erweisen                                                             

241 FERRARI (1995) 43 „Nel De E le posizioni stoiche esposte da Teone non vengono esaminate e criticate in modo sistematico, e del resto la struttura dell’opera non si prestava a una simile impresa.“ 242 FERRARI (1995) 43 „In particolare, mi sembra che Ammonio sviluppi concezioni che sono in diretta antitesi rispetto a quelle esposte da Teone […].“ 243 Nach FERRARI (1995) 43 soll die Formulierung Theons τὴν δὲ πρόσληψιν ἡ αἴσθησις τῷ λόγῳ δίδωσιν (De E 6, 387C) in Ammonios’ Worten ψεύδεται δ᾿ ἡ αἴσθησις ἀγνοίᾳ τοῦ ὄντος εἶναι τὸ φαινόμενον (De E 18, 392E) zurückgewiesen werden. Freilich können Ammonios’ kritische Äußerungen über den Wert der αἴσθησις kaum als spezielle Stoikerkritik gelesen werden, sind sie doch in erster Linie nicht ein Argument gegen die Lehren der Stoa, sondern ein Argument für Ammonios’ Deutung des delphischen γνῶθι σαυτόν als einer Aufforderung an die Einsicht des Menschen in den fundamentalen Unterschied seines Existenzmodus gegenüber demjenigen des Gottes. Nebenbei hat sich Plutarch nicht gescheut, Autobulos in der Schrift De sollerta animalium zum Beweis des Vernunftbesitzes der Tiere, der sich unter anderem in deren Gedächtnis manifestiere, jenes in gut stoischer Manier als κατάληψις ἀξιώματος παρεληλυθότος, οὗ τὸ παρὸν ἐξ αἰσθήσεως κατελήφθη zu definieren (De soll. anim. 3, 961C). Theons Erläuterung des mantischen Syllogismusverfahrens setzt exakt die gleiche Vorstellung voraus, die Setzung eines allgemeinen ἀξίωμα im Vordersatz und dessen durch die Sinneswahrnehmung konstatierte Aktualität im Nachsatz. 244 Vgl. FERRARI (1995) 44, der einen kritisch aufzufassenden Bezug zwischen Theons Beschreibung der Welt als einer temporal strukturierten Kausalkette (De E 6, 387B) und Ammonios’ Ansicht der zeitlosen Ewigkeit des Seins (De E 19, 392E; 20, 393A) meint erkennen zu können. Doch auch Ammonios’ Ausführungen über den Unterschied von nichtseiendem χρόνος und seiendem αἰών sind in keiner Weise erkennbar auf Theons Rede von der Mantik als einer Technik der Beobachtung der Kausalkette zwischen temporal aufeinanderfolgenden Ereignissen gemünzt, sondern dienen wiederum der argumentativen Stützung von Ammonios’ eigener These einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Werden und Sein.

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soll, allein schon darin, dass der Interpret einräumen muss, die von Ammonios tatsächlich und explizit attackierte stoische Position (Materialismus, Weltzyklenlehre) finde sich gar nicht in Theons Rede, sondern in ‚Plutarchs‘ anschließendem Erklärungsversuch.245 Noch weniger ist dem Verständnis der Rede durch vor allem von BABUT unternommene Bemühungen gedient, die Untauglichkeit von Theons Deutung des E durch den Aufweis vermeintlicher Gegenpositionen zu einzelnen Argumenten aus Plutarchs sonstigem Schriftwerk zu erweisen, denn auch hier werden dekontextualisierte Äußerungen Theons mit ebenso dekontextualisiertem Belastungsmaterial verglichen. So wurde der in Theons Voraussetzung einer ununterbrochenen Kausalkette (De E 6, 387B) implizierte Determinismus als Widerspruch zu Plutarchs andernorts dokumentierten Grundanschauungen gegen die Theonrede ins Feld geführt,246 ohne Berücksichtigung der Tatsache, dass sich bei Plutarch durchaus Stellen finden, in denen er sich stoische Vorstellungen von einem infalliblen Kausalnexus zwischen Gegenwärtigem und Künftigem zu eigen macht, wenn sie der Durchsetzung von Argumentationszielen dient, denen er selbst positiv gegenübersteht, wie etwa im Falle von De sera numinis vindicta: In diesem Dialog lässt sich Plutarch selbst als Hauptredner den Glauben an die Pronoia der Götter gegen die epikureische Anklage verteidigen, die Verzögerung göttlicher Strafen beweise deren Ungerechtigkeit. Die Argumentationen, die Plutarch sich zur Erklärung der „späten Strafe der Götter“ vortragen lässt, fußen dabei beinahe durchgängig auf der Annahme eines strikten Determinismus, der nur insofern verhüllt ist, als nicht die höhere Gerechtigkeit eines abstrakten Kausalprinzips, sondern diejenige planvoll handelnder Götter verteidigt wird; deterministisch sind die Vorstellungen, die Plutarch in dieser Schrift im eigenen Namen vorträgt, allemal, legt er doch unausgesetzt dar, dass gerade zwischen dem Verbrechen und dem (späteren) Zeitpunkt

                                                             245 FERRARI (1995) 44 „ A dire il vero, le tesi di argomento teologico esposte da Ammonio non si oppongono tanto alle posizione sostenute da Teone, quanto ad alcuni passi di chiaro sapore stoicizzante contenuti nell’intervento del giovane Plutarco (387F–91D) a difesa dell’esegesi numerologica della E.“ 246 Vgl. BABUT (1992) 197 „De même, l’idée que la divination impliquerait un déterminisme sans faille (cf. 387 A 11–B 5) contredit de façon flagrante la philosophie de l’auteur des Moralia et des Vies.“ OPSOMER (2006) 158 „Il est clair que la conception déterministe impliquée par cette „logique de la mantique“ est inadmissable pour le Platonicien qu’est Plutarque. Dans tous ses écrits philosophiques, Plutarque s’efforce en effet de sauver la contingence et rejette la notion d’une chaîne causale universelle et inéluctable (qui pour les Stoïciens coïncide d’ailleurs avec le Logos divin).“

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der Strafe ein vollkommener Kausalzusammenhang, mithin Gerechtigkeit herrsche.247                                                             

Wenn Theon in De E apud Delphos die Mantik als eine Schlusstechnik definiert, die aus Vergangenem Gegenwärtiges und aus Gegenwärtigem Zukünftiges ableitet, so formuliert er damit eine Überzeugung, die der gesamten Argumentation Plutarchs in De sera numinis vindicta zugrunde liegt, wodurch sich deren philosophische Prämissen als stoisch par excellence erweisen, insofern sie ein deterministisches Denkmodell voraussetzen. Bereits in der Problemstellung des Textes kommt dies klar zum Ausdruck, wenn von einer Fülle von Einwänden gegen den Glauben an die gütige Vorsehung (πρόνοια) der Götter berichtet wird, die ein Epikureer erhoben habe (De sera 1, 548C), unter denen der Hinweis auf das Phänomen der scheinbar ungerechten späten Strafe der Götter für die versammelte Gesellschaft am deprimierendsten gewesen sei (De sera 2, 548C). Der Glaube an die Pronoia sei dadurch gefährdet, dass eine Strafe, die nicht sofort den Verbrecher treffe – der Sprecher Olympichos bedient sich des in Theons Rede einschlägigen Begriffs der kausalen Folge (καὶ τὸ μὴ … ἐπακολουθοῦν κακόν) – sondern erst später eintrete, und so als zufälliges Unglück interpretiert und nicht mehr im Zusammenhang mit der Tat gesehen werde; damit sei auch jeder erzieherische Effekt dahin (De sera 3, 549BC). Der Hauptteil des Textes wendet sich nun – in einer langen Rede Plutarchs – der Aufgabe zu, einen Kausalnexus zwischen dem Verbrechen und dem Zeitpunkt der Bestrafung herzustellen und damit sowohl die ethisch erzieherische Wirkung gerade später göttlicher Strafen zu belegen als auch grundsätzlich den Vorwurf zu entkräften, die späte Strafe bedeute entweder eine vorläufige Verschonung der Verbrecher oder treffe gar Unschuldige. Eine nicht geringe Anzahl von Plutarchs Argumenten aus De sera numinis vindicta lässt sich ohne Schwierigkeiten nach einem Passus aus POHLENZ’ Kapitel über den stoischen Vorsehungsglauben kategorisieren, der die Bemühungen der Stoa referiert, auch das scheinbar Üble in der Welt auf die guten Absichten der göttlichen Pronoia zurückzuführen (POHLENZ, 1959, 101): „Das sittliche Übel, also das Böse, ist für die Stoiker trotz ihres Determinismus […] der Ausfluß der Willensfreiheit, die dem Menschen als besondere Auszeichnung, als das eigentliche Kennzeichen des Vernunftwesens und als sein höchstes Gut verliehen ist, und keinesfalls darf man die Gottheit dafür verantwortlich machen, wenn viele ihre Gabe mißbrauchen. Die Strafe, die den Frevler mindestens in seinem Innern ereilt, oft aber auch äußerlich noch Kindeskinder trifft, ist selbstverschuldet und dient zum eigenen Besten des Täters oder auch als warnendes Beispiel zum Wohle der Mitmenschen.“ Die positiven Aspekte der Strafen für Verbrecher, die POHLENZ im letzten Satz der zitierten Passage nennt, tauchen allesamt in De sera numinis vindicta auf, und jedesmal zielt die Argumentation darauf ab, eine strenge Kausalität zwischen Strafaufschub und Strafe herauszuarbeiten: So führen die Kapitel 9–11 den Gedanken aus, ein scheinbar zu spät gestrafter Verbrecher erleide in jedem Fall schlimmste inneren Torturen, worin das Wirken der Pronoia sichtbar werde, das der Schlechtigkeit neben einem heteroaggressiv-verbrecherischen auch einen autoaggressiv-strafenden Aspekt verliehen habe (vgl. De sera 9, 554AB). Die Pronoia zeigt sich gerade da am Werk, wo sie am wenigsten offensichtlich ist, und die Quintessenz von Plutarchs Argumentation ist, dass aus dem Verbrechen kausal eine innere Folter des Täters folgt, die ihn viel zermürbender quält, als eine sofortige äußere Bestrafung, die demgegenüber eine regelrechte Gnade darstellen würde (vgl. De sera 9, 554C). Auch in der scheinbar ungerechten Strafe der Nachkommen anstelle des Täters kann Plutarch ein Wirken der Pronoia erkennen, dem eine Kausalmodell zugrundeliegt: Ein Geschlecht ist als organisch sich fortzeugende, zusammenhängende Einheit zu verstehen, in dem sich auch Strafwürdiges vererbe (vgl. De sera 16, 559CD). 247

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Letztlich verbirgt sich hinter all den erwähnten Versuchen, in Theons Rede Theorien zu isolieren, die angeblich den inneren Widerspruch Plutarchs gegenüber diesem Lösungsversuch des E belegen sollen, ein doxographischer Schematismus, dessen Methode, Plutarchs Werk ungerührt von kontextuell bedingten Argumentationsstrategien in „richtige“ und „falsche“ Aussagen zu zerlegen, den vielschichtigen intellektuellen Anspruch, den Plutarchs Werke an ihre Leser erheben, völlig aus dem Blick verliert: In welche Extreme eine solche Lesart Plutarchs führen kann, dokumentiert mit nachgerade verstörender Deutlichkeit BABUTs Argument, die alleinige Privilegierung des Menschen als eines rationalen Lebewesens in Theons Rede lasse sich nicht mit Plutarchs tierpsychologischen Schriften vereinbaren.248                                                              Daraus ergibt sich recht eigentlich ein besonders menschenfreundlicher Zug der Vorsehung, die den kriminellen Erbschaden der Nachkommen von Verbrechern bekämpfe (vgl. De sera 19, 561C – 21, 563B). Wer da glaube, die Strafe an den Nachfahren, die zunächst nur eine Disposition zum Verbrechen in sich trügen, sei ungerecht, der verfüge nur nicht über die – notabene von Theon so sehr gerühmte – Fähigkeit „auf die Ursachen zurückzuschließen“ (De sera 21, 562E συλλογίζεσθαι τὰς αἰτίας), die der göttlichen Strafökonomie zugrunde liegen. Damit ist endlich die Methode genannt, auf der Plutarch seine gesamte Argumentation aufbaut, der Rückschluss aus dem Faktum der späten Strafe der Götter auf die diesem zugrundeliegenden guten Absichten, in denen sich ihre Pronoia offenbart. Dass es sich hier um Vorstellungen handelt, die denjenigen der Stoa zum Verwechseln ähnlich sind und deshalb nicht zufällig mit Theons Mantiktheorie kongruieren, fällt unmittelbar ins Auge und dieser Eindruck bestätigt sich noch darin, dass auch die in POHLENZ’ Katalog genannte Vorstellung, göttliche Strafe habe zivilisierenden Abschreckungscharakter, in De sera numinis vindicta ihren Eingang gefunden hat (vgl. De sera 19, 561C). 248 BABUT (1969) 148f.: „[…] mais surtout la pensée, fondée sur l’idée de la supériorité absolue de l’homme, seul être raisonnable, sur l’animal, incapable de l’opération intellectuelle la plus élémentaire, contredit des vues exprimées ailleurs par Plutarque.“ Vgl. ibid., 76 und BABUT (1992) 197. FERRARI (1995) 43 hat sich dieser Kritik angeschlossen. So sehr sich freilich Plutarch bzw. die Dialogfigur Autobulos auch in seinen tierpsychologischen Schriften, vor allem im ersten Teil von De sollertia animalium – übrigens einer in höchstem Maße rhetorisch geprägten Schrift –, für eine Vernunftbegabung der Tiere stark macht, so wenig hat er sich jemals zu der Auffassung verstiegen, die Tiere besäßen tatsächlich die gleiche theoretisch-philosophische, vor allem aber sprachbasierte Syllogismusfähigkeit wie der Mensch, von der Theon in De E apud Delphos allein spricht. Bezeichnender Weise muss etwa in der launigen Schrift Bruta animalia ratione uti auch Kirke mit Zauberkräften aushelfen, um ein philosophisches Gespräch zwischen Odysseus und seinem zu einem Schwein verwandelten Gefährten Gryllos zu ermöglichen (1, 986B). Im zweiten Teil von De sollertia animalium selbst zieht Plutarch durch den Mund des Aristotimos, der die Klugkeit der Landtiere preist, in einer kurzen antistoischen Polemik den Gedanken ins Lächerliche, dass ein Hund, der ein Wildtier verfolgt und dabei zwischen mehreren Wegen wählen kann, auf denen das Tier geflohen sein könnte, einen stoischen Syllogismus anwende (De soll. anim. 13, 969AB): οἱ δὲ διαλεκτικοί φασι τὸν κύνα τῷ διὰ πλειόνων διεζευγμένῳ χρώμενον ἐν ταῖς πολυσχιδέσιν ἀτραποῖς συλλογίζεσθαι πρὸς ἑαυτόν „ἤτοι τήνδε τὸ θηρίον ὥρμηκεν ἢ τήνδε · ἀλλὰ μὴν οὔτε τήνδε οὔτε τήνδε· τὴν λοιπὴν ἄρα·“ τῆς μὲν αἰσθήσεως οὐδὲν ἢ τὴν πρόσληψιν διδούσης, τοῦ δὲ λόγου τὰ λήμματα καὶ

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Kann man sich hingegen zu der Vorstellung durchringen, dass Plutarch die Theonrede in De E apud Delphos in erster Linie als genialische Argumentation für die potenzielle Bedeutung des E als der Konjunktion εἰ konzipiert und sie einer Figur in dem Mund gelegt hat, die als begeisterter Experte für die Stoa – mithin diejenige Philosophenschule, in deren Theorien das εἰ die größte Rolle spielt – nicht weniger als die Idealbesetzung für den vorgetragenen Deutungsversuch ist, so tritt hinter den doxographischen Quisquilien, die bislang die Interpretation der Theonrede dominiert haben, ein philosophisch-schriftstellerisches Meisterstück in Plutarchs Werk hervor, das ohne Zweifel Anspruch darauf erhebt, in seiner hohen Kunst wertgeschätzt zu werden.

7. Die Rede ‚Plutarchs‘ 7.1 Einleitung Plutarch hat den Auftritt derjenigen Dialogfigur, die seinen Namen trägt, besonders aufwändig inszeniert. Sein Gesprächsbeitrag in De E apud Delphos wird von einer ausführlichen Vorstellung ‚Plutarchs‘ durch den                                                              τὸ συμπέρασμα τοῖς λήμμασιν ἐπιφέροντος. Aristotimos will gerade die letztgenannte Behauptung, der Hund entnehme der Wahrnehmung nur das Vorhandensein der verschiedenen Fluchtoptionen des verfolgten Tieres, fälle seine Entscheidung für die richtige Fährte jedoch allein aus logischer Überlegung, nicht gelten lassen und führt entsprechend die Auswahl des Hundes aus den gegebenen Möglichkeiten allein auf dessen Sinneswahrnehmung zurück: οὐ μὴν δεῖταί γε τοιαύτης μαρτυρίας ὁ κύων· ψευδὴς γάρ ἐστι καὶ κίβδηλος· ἡ γὰρ αἴσθησις αὐτὴ τοῖς ἴχνεσι καὶ τοῖς ῥεύμασι τοῦ θηρίου τὴν φυγὴν ἐπιδείκνυσι, χαίρειν λέγουσα διεζευγμένοις ἀξιώμασι καὶ συμπεπλεγμένοις. Wenn Plutarch im Folgenden Aristotimos auch Belege dafür anführen lässt, dass der Hund tatsächlich über Verstand verfüge, so ist doch an dieser Stelle klar, dass es Plutarch vor allem darauf ankommt, dem Hund keine Verstandestätigkeit nach stoischer Vorstellung zukommen zu lassen. Wenn nun sogar Chrysipp (vgl. seine namentliche Nennung in einer weiteren Darstellung des Jagdhundexempels bei Sext. Emp., Pyrrh. Hyp. 1, 69) bereit war, einem Tier ähnliche logische Operationen wie dem Menschen zu unterstellen, stünde paradoxer Weise Theons grundstoische Aussage in De E apud Delphos, das Tier sei gerade nicht zu syllogistischen Denkverfahren fähig, in völligem Einklang mit der Stoikerpolemik des Aristotimos in De sollertia animalium. Eben die Vorstellung, dass Tiere eine im Vergleich zum Menschen wenn auch vorhandene, so doch durchaus inferiore Vernunfttätigkeit besitzen, lässt Plutarch Autobulos in De soll. anim. 5, 963B aussprechen; man dürfe aus dieser Tatsache nur nicht folgern, die Tiere besäßen überhaupt keine Vernunft. Es scheint mithin wenig tragfähig, allein aus der Tatsache, dass Plutarch tierpsychologische Schriften verfasst und dort für ein gewisses logisches Potenzial der Tiere argumentiert hat, darauf zu schließen, dass eine schon allein dem gesunden Menschenverstand einleuchtende Aussage wie die des Theon, dass die Tiere nicht über ein formallogisches Nachdenken über die Relation von zwei sprachlichen Aussagen verfügen, in einer grundsätzlichen Distanz zu den Auffassungen des Autors steht.

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sonst funktionslosen Eustrophos eingeleitet und von dem sich anschließenden Schlussredner Ammonios als einzige Rede des Dialogs ausführlicher kommentiert.249 Zu dieser intradialogischen Rahmung tritt zudem noch ein auktorialer Kommentar zu Eustrophosʼ Einleitungsworten, den Plutarch unmittelbar vor den Bericht der Rede seines jüngeren Ichs eingeschoben hat. Im Rahmen einer Deutung der Zeitstrukturen von De E apud Delphos, zumal der Funktion der Verlegung des Gespräches in die Vergangenheit und ihrer Bedeutung für die Gesamtanlage des Dialoges, die im Abschnitt II, 4 der vorliegenden Studie versucht wurde, konnte gezeigt werden, dass die künstlerische Einbettung von ‚Plutarchs‘ Auftritt wesentlich der exemplarischen Sonderrolle geschuldet ist, die Plutarch sich als Dialogfigur zugewiesen hat: Während der Autor in seiner Rolle als Dialogerzähler das Bewusstsein der wesensmäßigen Unergründbarkeit einer wahren Bedeutung des delphischen E vermittelt, indem er sich zeitnah zur Abfassung von De E apud Delphos als erkenntnistheoretisch-skeptischen Betrachter des E inszeniert, lässt er sich in dem zeitlich weit in der Vergangenheit situierten Dialog als diejenige Figur auftreten, die den zweiten Aspekt des delphischen E, die in ihm zutagetretende Philosophieprotreptik des Apollon, in höchster Steigerung verkörpert. Die Überraschung, die Plutarch durch Eustrophosʼ Vorstellung seines jüngeren Ichs als eines begeisterten, von der Überzeugung der universalen und erfolgreichen Anwendbarkeit seiner philosophischen Methode ganz durchdrungenen Mathematikers bei seinem Adressaten Sarapion hervorzurufen beabsichtigte, wird dabei direkt im Anschluss durch den auktorialen Kommentar rationalisiert. Dort differenziert Plutarch zwischen seinem Erzähler- und seinem Figurenich chronologisch, indem er seine erkenntnisgewisse Figurenrolle des leidenschaftlichen Mathematikers auf den Zeitpunkt des in der Vergangenheit situierten Dialogs beschränkt, während seine skeptische Erzählerrolle aus der zwischenzeitlichen Verinnerlichung der akademischen Maxime μηδὲν ἄγαν zu verstehen sei. Dabei betont Plutarch gerade in der ausführlichen Erklärung, im Dialog trete nun ein anderer ‚Plutarch‘ auf als derjenige, der den Dialog erzählt, das ernstzunehmende Eigenrecht dieses jungen ‚Plutarch‘ auf seine Ansichten. So gelingt es Plutarch, durch die chronologische Aufspaltung seiner Person in einen skeptischen Dialogerzähler und einen erkenntnisfrohen Dialogteilnehmer, die komplementäre Dialektik von unauflöslicher Rätselhaftigkeit und intellektueller Stimulierung, die die sich im delphischen E manifestierende apollinische Philosophieprotreptik ausmacht, konkret zu demonstrieren. Die hier noch einmal in Erinnerung gerufene Deutung der Rolle ‚Plutarchs‘ im Dialog De E apud Delphos widerspricht der communis opinio in der Forschung somit in dem wesentlichen Punkt, als sie – wie ausführlich                                                              249

Vgl. dazu oben, S. 73.

7. Die Rede ‚Plutarchs‘

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begründet wurde250 – nicht die Dialogfigur Ammonios und deren Rede zum Referenzgegenstand für die Interpretation der Rede ‚Plutarchs‘ heranzieht, sondern Plutarchs philosophisch-künstlerisches Gesamtprogramm von De E apud Delphos, innerhalb dessen der Autor eine mehrperspektivische Antwort auf die unlösbare Frage nach der Bedeutung des delphischen E versucht und zu diesem Zweck unterschiedliche Dialogfiguren mit der Präsentation jeweils möglicher Einzeldeutungen betraut. Produktionsästhetisch erlaubt dieses Verfahren Plutarch, sein enormes philosophisch-rhetorisches Repertoire umfassend zur Geltung zu bringen. Die Gründe, die Plutarch dazu veranlasst haben, seine Dialogfigur in De E apud Delphos gerade aus seinem mathematisch-zahlenphilosophischen Repertoire schöpfen zu lassen, können zunächst aus der Sonderrolle ‚Plutarchs‘ im Dialog abgeleitet werden. Als derjenigen Figur, die am stärksten unter dem Einfluss der aus dem E hervorgehenden Philosophieprotreptik des Apollon steht, vertritt ‚Plutarch‘ eine philosophische Forschungsrichtung, die – wie die Rede deutlich zeigt – ein immens breites Spektrum an Argumentationen für die These erlaubt, das E stehe für die Zahl Fünf. Gerade diese Vielfalt und assoziativen Kühnheit von Plutarchs Argumenten und die Begeisterung, mit der der Redner sie vorträgt, illustriert eindrücklich den Forscherdrang, der nach Plutarchs extradialogischem Proömium und den Präliminarien des Ammonios die wesentliche Wirkung des delphischen E ausmacht. Zugleich gehört das hier zu Tage tretende mathematische Repertoire offenbar zu den besonderen intellektuellen Vorlieben Plutarchs. Dies beweisen nicht nur die zahlreichen Parallelen und Überschneidungen von ‚Plutarchs‘ mathematischen Argumentationen in De E apud Delphos mit den mathematischen Ausführungen, die Lamprias in De defectu oraculorum als Hauptredner im Rahmen eines breiten Exkurses über die Frage nach der möglichen Vielzahl von Kosmoi vorträgt, sondern auch zahlreiche weitere zahlentheoretische Argumentationen, die sich über Plutarchs Gesamtwerk hin erstrecken. Argumente mit und für Zahlen können damit nicht – wie eine ungenaue Lektüre des auktorialen Kommentars vor der Rede ‚Plutarchs‘ häufig gefolgert hat – als ein Relikt aus einem vorakademischen bzw. vorplatonischen pythagoreischen Jugendinteresse angesehen werden, sondern gehören zum festen Bestand von Plutarchs philosophischer Methodik.251                                                              250

Vgl. oben, S. 64–77. Was hier als mathematisches Repertoire bezeichnet wird, entspricht in etwa der ὑπομνήματα-Theorie, die VAN DER SOCKT in mehreren Beiträgen entwickelt hat. Er plädiert dort für eine neue Sichtweise auf das komplexe Verhältnis zwischen Plutarchs materialem Bildungshintergrund und der Produktionsweise seiner philosophischen Texte. Die traditionelle Quellenforschung, deren Interpretationsarbeit sich in der Rekonstruktion der von Plutarch bei der Abfassung seiner Werke benutzten Vorlagen erschöpft, reduziere den Autor auf einen mechanisch verfahrenden Exzerptor und missachte dabei wesentlich den reflektierten Umgang des Autors mit dem verwendeten Material, mithin einen gewichtigen 251

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III. Hauptgespräch

Dass auch auf den „reifen“ Autor mathematische Überlegungen einen großen Reiz ausgeübt haben, beweist schlagend ein Passus in De animae procreatione in Timaeo, einem Text, der unbestritten zu den profiliertesten philosophischen Arbeiten Plutarchs gehört: Der zweite Teil dieser Schrift befasst sich mit den harmonischen Zahlenverhältnissen, nach denen der Demiurg nach Platons Timaios 36a6–b5 die Weltseele strukturiert. Plutarch gibt zunächst den Platontext, nennt hierauf die entscheidenden Fragen, die der Passus aufwirft, und wendet sich schließlich dem ersten Problem zu,                                                             

Teil seiner voluntas auctoris (Vgl. VAN DER STOCKT, 2004, 332). Plutarchs Materialien zur Abfassung seiner Schriften hingegen, so VAN DER STOCKTs These, bestünden in einer Vielzahl von Fällen nicht aus unreflektierten Auszügen der ihm zugänglichen Literatur, sondern aus selbst verfassten und reflektierten thematischen Vorarbeiten, ὑπομνήματα, die Plutarch explizit erwähnt (De tranqu. an. 1, 464F ἀνελεξάμην περὶ εὐθυμίας ἐκ τῶν ὑπομνημάτων ὧν ἐμαυτῷ πεποιημένος ἐτύγχανον). VAN DER STOCKT (2004) 333 lehnt die Interpretation dieser Formulierung als klassischen Beleg für Plutarchs Quellenabhängigkeit ab und stellt ihr seine Sichtweise entgegen: „But to my mind, the sentence is not referring to sources in the sense of ‘other authors’, but to notes Plutarch made for himself (ὧν ἐμαυτῷ πεοιημένους [sic] ἐτύγχανον). Nor does Plutarch say that those notes were exclusively on ‘tranquillity of mind’ (περὶ εὐθυμίας is in the main clause with the verb ἀνελεξάμην, and not in the relative clause with the expression πεποιημένος ἐτύγχανον!); he only says that he happened to have made them for himself. So what Plutarch did, was to gather (ἀνελεξάμην), from his personal notes, observations relevant to the theme (περὶ εὐθυμίας) of tranquillity of mind.“ [Hervorhebung im Original] Diese ὑπομνήματα sind mithin als eine Form der Selbstorganisation der auf Lektüre beruhenden παιδεία des Autors anzusehen, aus der dieser selbst als souveräne Persönlichkeit nicht wegzudenken ist, sowenig ein höflicher Gast die Persönlichkeit seines Gastgebers schlichtweg auf die Bücher reduzieren würde, die seine Bibliothek enthält (vgl. VAN DER STOCKT, 2004, 331). Wenn Plutarch mithin selbst von der Konsultation seiner eigenen ὑπομνήματα im Zusammenhang der Abfassung einer Schrift spricht, so handelt es sich hierbei um eine zweite Stufe der intellektuellen Auseinandersetzung des Autors mit einem Thema, der bereits eine Phase primärer intensiver, schriftlich festgehaltener Vorstudien einschlägiger Literatur und deren individueller Durchdringung und Kommentierung vorangegangen ist (vgl. VAN DER STOCKT, 2004, 333f. und VAN DER STOCKT, 2006, 33). Ist bei einem Autor, der wie Plutarch eine immense Vielzahl an Themen bearbeitet hat, eine derartige kontinuierliche Akkumulation und Organisation seines Wissens von vornherein naheliegend, so lassen sich nach VAN DER STOCKT aus Plutarchs Werken konkrete Beispiele für thematische ὑπομνήματα in solchen Fällen rekonstruieren, in denen der Autor offenbar ein und dieselbe Materialsammlung in unterschiedlichen Werken benutzt hat, ein arbeitsökonomisches Verfahren, ohne das wiederum ein so mannigfaltiges Werk wie das Plutarchs kaum vorstellbar ist (vgl. VAN DER STOCKT (2004) 334) Wie VAN DER STOCKT nachweisen kann, zog Plutarch bei der Abfassung von De E apud Delphos und De defectu oraculorum selbstangelegte Materialsammlungen heran, die sich speziell mit der Bedeutung der Zahl Fünf beschäftigten. Spuren dieses ὑπόμνημα finden sich darüber hinaus in De Iside et Osiride sowie in der 2. und 102. Quaestio Romana. Vgl. VAN DER STOCKT (2006), besonders 32–34. Eine Übersicht über die rekurrierenden Elemente in beiden Schriften ibid., 44 und VAN DER STOCKT (2000) 115.

7. Die Rede ‚Plutarchs‘

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zwischen welchen konkreten Zahlen Platon die referierten Proportionen angesetzt haben mag.252 Zwar komme, so Plutarch zunächst, nichts auf die konkreten Zahlenwerte an,253 doch beeinträchtige eine Untersuchung, die auf konkrete Werte verzichte, einerseits die Anschaulichkeit, andererseits „hält sie uns von einer anderen Betrachtung ab, die einen durch und durch philosophischen Reiz besitzt.“254 Dieser Reiz besteht nun in den folgenden Kapiteln gerade darin, die Besonderheit bestimmter Zahlen und der aus ihnen resultierenden Summen und Produkte vorzuführen, eine Demonstration zahlenspekulativer Kompetenz, die in Plutarchs Werk die umfangreichste ist und weit über das rein didaktische Anliegen einer anschaulichen Erklärung der Zahlenharmonie der Weltseele hinausgetrieben wird.255 So kann die Rede und Figur ‚Plutarchs‘ ein ebensolches philosophisches Eigenrecht beanspruchen, das die folgende Interpretation zu respektieren versucht. Gleichwohl ist in dieser Interpretation zu berücksichtigen, dass Plutarch in seinem auktorialen Kommentar zum geistigen Habitus seines jüngeren Ichs durchaus ironisch von dessen leidenschaftlicher Versessenheit auf die Mathematik spricht (προσεκείμην τοῖς μαθήμασιν ἐμπαθῶς). Bevor die Rede im Einzelnen interpretiert werden soll, muss das Ironiekonzept näher beleuchtet werden, das dem Verhältnis zwischen Plutarch als Autor und Erzähler von De E apud Delphos und dem Auftritt der Figur ‚Plutarch‘ zugrundeliegt. Dabei gilt es zunächst, ein Ironieverständnis zu überprüfen, das in der Forschung implizit durch die weitverbreitete Annahme angelegt ist, ‚Plutarch‘ sei das biographisch überholte Ich des Autors in De E apud Delphos, während Ammonios seine aktuellen Ansichten vertrete. So hat                                                             

De an. procr. 29, 1027A–D. De an. procr. 30, 1027D πρῶτον οὖν περὶ τοῦ πρώτου παραιτησόμεθα τοὺς λέγοντας, ὡς ἐπὶ τῶν λόγων αὐτῶν ἀπόχρη θεωρεῖν ἣν ἔχει τά τε διαστήματα φύσιν αἵ τε ταῦτα συμπληροῦσαι μεσότητες, ἐν οἷς ἄν τις ἀριθμοῖς ὑπόθηται χώρας ἔχουσι δεκτικὰς μεταξὺ τῶν εἰρημένων ἀναλογιῶν, ὁμοίως περαινομένης τῆς διδασκαλίας. 254 De an. procr. 30, 1027E κἂν γὰρ ἀληθὲς ᾖ τὸ λεγόμενον, ἀμυδρὰν ποιεῖ τὴν μάθησιν ἄνευ παραδειγμάτων ἄλλης τε θεωρίας ἀπείργει χάριν ἐχούσης οὐκ ἀφιλόσοφον. 255 CHERNISS (1957) 135 rechnet dieses Hinausgehen Plutarchs über Platons Intentionen zu den Schwächen des Interpreten: „The treatment of the first question [sc. die Frage, zwischen welchen konkreten Zahlen Platon die von ihm postulierten Zahlenverhältnisse etabliert habe, Anm. d. Verf.] is the longest, and in the course of it Plutarch reveals some of his characteristic weaknesses. He is aware of the correct contention that Plato is concerned not with any particular integers but with the ratios that alone are specified; and yet he rejects it “even if it be true”, not only because it makes the matter harder to understand but also because it would prevent him from indulging himself in the arithmological speculations about the “remarkable numbers” to which he devotes several chapters.“ Die von CHERNISS konstatierte, für Plutarch charakteristische „weakness“ muss freilich offenbar als besondere Leidenschaft des Autors verstanden werden, der sich selbst (und seinen Adressaten) gegenüber keineswegs einer Inferiorität seiner Spekulationen bewusst gewesen ist. 252 253

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III. Hauptgespräch

RUSSELL die autobiographische Sicht auf die Darstellung ‚Plutarchs‘ in De E apud Delphos zu einer veritablen Selbstreflexion des gereiften Philosophen ausgebaut, der reuevoll über seinen eigenen Werdegang räsoniere und seine unreifen Jugendirrtümer mit dem Ziel bekenne, zu verhüten, dass andere die gleichen Fehler wie er selbst begingen.256 Andere Interpreten wollen das Verhältnis der Reden des jungen ‚Plutarch‘ und des alten Ammonios gar in ihrer Abfolge als Abbild von Plutarchs persönlicher, quasi-initiatorisch verstandener philosophischer Entwicklung sehen, die der Leser bei der Lektüre von De E apud Delphos – sozusagen im Zeitraffer – selbst mit- und nachvollziehen solle.257 Die Produktionshaltung des Autors und die Rezeptionshaltung, die er nach dieser Lesart dem Leser nahelegte, wäre eine durchaus eigenartige: Wie der Autor sich gleichsam kopfschüttelnd bei der Abfassung der umfangreichen Rede seines jüngeren Ichs eine gedankliche Jugendtorheit nach der anderen abgerungen hätte, so wäre der Leser gehalten, gemeinsam mit dem Autor betroffen über dessen intellektuelle Vergangenheit zu Gericht zu sitzen, weiß er sich doch dahingehend vorgewarnt, dass dieser nunmehr ein „Akademiker“ geworden und der fragwürdigen Begeisterung für die pythagoreische Zahlenlehre glücklich entronnen ist. Wäre dies dann auch dem Leser gelungen, wenn er endlich zum Ende der Rede ‚Plutarchs‘ gelangt ist, so dürfte er in der folgenden Rede des

                                                             256 Vgl. RUSSELL (1992) 420 „Dall’ampio discorso che Plutarco stesso pronuncia nei capitoli 8–16, traspare una lunga frequentazione della matematica. La rievocazione di quell’entusiasmo giovanile in termini critici rappresenta senza dubbio un tema di naturale interesse per il filosofo che riflette sulla propria evoluzione e desidera ricavarne un insegnamento a beneficio degli altri. Le riflessioni di Seneca a proposito del regime vegetariano osservato in gioventù, sotto l’influsso delle dottrine pitagoriche, costituiscono un parallelo adeguato.“ 257 Vgl. NAPOLITANO VALDITARA (1988) 389f. „[…] la soluzione aritmologica al problema della ἐ, ammessa da lui stesso giovane, è solo una fra le soluzioni possibili e spetta ad Ammonio, più attendibile alter ego dell’autore al momento della stesura di questo dialogo, concludere la discussione sulla ἐ delfica con una soluzione – quella ontologica – che richiama piuttosto i nuclei più ortodossi del platonismo: ed Ammonio considera più blandamente la matematica „una parte non trascurabile della filosofia (οὐ τὸ φαυλότατον ἐν μαθηματικῇ φιλοσοφίας τιθέμενος).“ Questo sarebbe dunque l’atteggiamento del Plutarco maturo verso la matematica, risultato di un itinerario intellettuale dal pitagorismo al platonismo, dalla scienza del numero a quella dell’essere.“ BROUT (2006) 118 „[…] De E, traité qui met en scène différents personnages et où le vieux sage Ammonios, porte-parole de l’auteur, rectifie les propos du jeune Plutarque, qui n’en est qu’à ses débuts. Cette différence d’âge et de niveau de savoir indique un itinéraire: celui de la vie d’un philosophe qui, avec le temps, acquiert la connaissance au cours d’un long processus initiatique – celui-là même que suit le lecteur au fil de sa lecture et que Plutarque indique au début du traité au ch. 2/385B–C, quand Ammonios rend compte des diverses appellations d’Apollon en les associant aux phases de l’apprentissage philosophique.“

7. Die Rede ‚Plutarchs‘

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Ammonios dankbar Lehren empfangen, mit der ihn der Autor als einer Kostprobe seiner philosophischen Neugeburt aus dem Geiste Platons entschädigte. Wollte man derartige Einschätzungen teilen, müsste man Plutarch einen recht selbstquälerischen Hang zum Bekenntnis seiner Jugendsünden unterstellen, verbunden mit dem Fanatismus des Konvertiten, der den zu belehrenden Leser dadurch für sich zu gewinnen versucht, dass er ihm am biographischen Modell des eigenen intellektuellen Weges vom Irrtum zur reinen Lehre die Möglichkeit aufzeigt, auch manifeste Fehlhaltungen im Laufe eines langen Lebens überwinden zu können. Es wäre mithin das dramatische Mittel der tragischen Ironie, das Plutarch durch den auktorialen Kommentar vor der Rede seines jüngeren Ichs eingesetzt hätte, um dem über die Unzulänglichkeit von dessen Ansichten vorab informierten Leser eine durchweg kritische Rezeptionshaltung nahezulegen: Je nach Interesse und Vorbildung kann dieser entweder die ‚Plutarch‘ in den Mund gelegten Äußerungen angesichts ihrer eingestandenen Obsoletheit in den Augen des Autors grundsätzlich nicht ernst nehmen oder sie nach manifesten philosophischen Fehlhaltungen durchmustern, die später durch des Autors wahres Ich Ammonios wie auch immer korrigiert werden. Die Forscher, die die Distanzierung des Autors von ‚Plutarch‘ in der geschilderten Weise auffassen, nehmen entsprechend bei der Interpretation von De E apud Delphos tendenziell entweder die eine oder die andere Position ein: Die Rede wird bald weitestgehend ignoriert, bald nach vermeintlich unplutarchischen philosophischen Positionen abgesucht. Freilich hat bereits FLACELIÈRE ungeachtet seiner Überzeugung, Ammonios sei das Sprachrohr des gereiften Autors, aus dem unzweifelhaft sympathischen Portrait, das Plutarch von seiner persona zeichnet, auf ein ironisch-amüsiertes Verhältnis des Autors zu seinem früheren (wenn auch von FLACELIÈRE biographisch aufgefassten) enthusiastisch der Mathematik erlegenen Ich geschlossen.258 Dieser positiven Einschätzung des Ironiesignals ist OPSOMER gefolgt und hat auf die durchaus witzigen Seiten der Rede des jungen ‚Plutarch‘ verwiesen.259 Trifft freilich ein Ironiesignal des Autors                                                              258 Vgl. FLACELIÈRE (1974) 6 „Il le fait avec une fougue toute juvénile, et nous aurions tort de croire qu’il conservait les mêmes idées lorsqu’il écrivait ce dialogue. C’est Ammonios qui incarne la sagesse de l’auteur mûri et vieilli. Mais la saveur et le charme du portrait compensent l’aridité du thème, et l’on sent que Plutarque, avancé en âge, s’est complu dans l’évocation amusée, ironique, de ce jeune homme enthousiaste et disert, passionné de mathématiques et habile aux exercises d’école, qu’il était à vingt ans.“ 259 Vgl. OPSOMER (1998) 129f. „[…] the narrator of the dialogue – i.e., as it were, the “mature” Plutarch, the author at the time of the composition of the treatise – comments that Eustrophus had not been jesting (ταῦτα δὲ πρὸς ἡμᾶς ἔλεγεν οὐ παίζων ὁ Εὔστροφος, 387F). He had at least one like-minded listener: the young Plutarch. It is indeed remarkable that the author immediately relates his observation on the absence of jest in Eustrophos’

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III. Hauptgespräch

an den Leser bezüglich der persona ‚Plutarch‘, wie es an dieser Stelle unzweifelhaft vorliegt, mit einem durchweg sympathischen Portrait eines Mathematik-Enthusiasten zusammen, so ist das Ironieverhältnis, das Plutarch durch den auktorialen Kommentar an dieser Stelle dem Leser als sein eigenes gegenüber der Rede des jungen ‚Plutarch‘ empfiehlt, weniger als tragisch denn als admirativ einzustufen: Plutarch steuert die Rezeption der folgenden Rede durch den Leser nicht dahingehend, dass dieser aus einem überlegenen Wissen heraus mit Schaudern auf die Irrtümer des unreifen Plutarch blicken soll, sondern zeichnet ein „Porträt des Autors als junger Mann“, durch das dieser sich gerade „die Möglichkeit“ schafft, „gewissermaßen auch einmal etwas Exzentrisches, Provozierendes zu sagen“;260 in ‚Plutarch‘ verkörpert der Autor somit seine vielleicht exzentrische Neigung, in einer umfassenden philosophischen Durchleuchtung der möglichen Bedeutungen des delphischen E gerade sein umfangreiches Repertoire „mathematischer“ Argumente voll auszuschöpfen, ohne dabei die skeptische Zurückhaltung walten lassen zu müssen, die er nach seiner Selbstcharakteristik im Proömium der Schrift als seine philosophische Haltung gegenüber dem in Rede stehenden Problem der Bedeutung des E eingenommen und durch den Hinweis auf seine akademische Neigung zum μηδὲν ἄγαν unmittelbar vor der Rede ‚Plutarchs‘ noch einmal in Erinnerung gerufen hat. Es sind mithin womöglich gerade die Kuriositäten und gewagten Spekulationen ‚Plutarchs‘, die in den Augen ihres Verfassers besonders gut den sympathisch-überdrehten Forscherenthusiasmus seines alter ego im Dialog illustrieren und den Leser beeindrucken sollen. 7.2 ‚Plutarchs‘ mathematische Deutung des E Plutarch markiert gleich zu Beginn der Rede seines jüngeren Ichs, dass er im Folgenden ganz und gar in der Rolle des jugendlichen Zahlenfanatikers aufzugehen gedenkt, indem er, vom 7. Kapitel überleitend, die ersten Worte                                                              words to the information that – at the dramatic date of the dialogue – his younger self was not yet fully imbued with the Academic spirit […] and was still carried away in fervent enthusiasm (προσεκείμην τοῖς μαθήμασιν ἐμπαθῶς): only gradually did he learn to temper his youthful enthusiasm and pay due honour to the Delphic and Academic maxim “μηδὲν ἄγαν”. In the dialogue the young Plutarch consequently takes up Eustrophus’ number speculation and holds a long exposé in Pythagorean fashion. The young Plutarch seems to have been very serious about the speculations he develops, but at the level author-reader an ironic interpretation is asked for, I believe, as much of chapters 8–16 (387E–391E) seems to have been written tongue in cheek (as may e.g. appear from the brief exchange between “Plutarch” and Eustrophus at 391BC concerning Plato’s alleged embarassment at discovering that someone must have anticipated his speculations on the number five).“ 260 So die gelungene Adaption des Joyceschen Romantitels auf Plutarchs Darstellung seiner jugendlichen persona im Amatorius bei GÖRGEMANNS (2005) 188–191.

7. Die Rede ‚Plutarchs‘

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seines damaligen Beitrages referiert, die den beschwingten Ton der Redeaufforderung des Eustrophos weiterführen: „Ich sagte also, dass Eustrophos mit der Zahl das vorliegende Problem auf das Schönste löse.“261 Mit dieser Überleitung, in der ‚Plutarch‘ die Überzeugung zugeschrieben wird, die Bedeutung des rätselhaften E sei nun nicht weniger als gelöst, legt der Autor den Grundstein für die gesamte folgende Abhandlung über die Fünf in ihrer ubiquitären Geltung wie in ihrer speziellen Bedeutung als einer dem delphischen Apollon überaus angemessene Weihegabe. Denn der gesamte Beitrag ‚Plutarchs‘ dient allein dem Zweck, die Überzeugung von der „schönen Lösung“ des E durch die Fünf mit Argumenten zu plausibilisieren, die in ‚Plutarchs‘ eigenen Worten am Ende des Beitrags in ihrer Gesamtheit eine „Rede voller arithmetischer und mathematischer Lobreden auf das E“262 bilden sollen. 7.2.1 Die arithmetische Entstehung der 5 ‚Plutarch‘ beginnt seine Argumentation für die eingangs gepriesene Lösung des Problems durch die Einführung der Zahl ab ovo und referiert die arithmetische Entstehung der Fünf und die daraus resultierende Sonderstellung dieser Zahl in der Zahlenreihe. Die Argumente, die ‚Plutarch‘ in diesem ersten Abschnitt vorbringt, der vom Beginn der direkten Rede (De E 8, 387F5 ἐπεὶ γάρ, ἔφην κτλ.) bis zu einem Einschnitt in De E 8, 388C3 reicht, finden sich in selektiver Form auch in den Quaestiones Romanae 2 und 102,263 ein Indiz dafür, dass es sich hierbei offenbar um plutarchische Standardausführungen über die arithmetische Zusammensetzung der Fünf handelt, die dem jeweiligen Argumentationsziel in Umfang und Akzentuierung angepasst sind. Der Autor lässt ‚Plutarch‘ mit der allgemeinsten Einteilung der natürlichen Zahlen in die beiden Kategorien der geraden und ungeraden Zahlen einsetzen264 und wählt damit einen Anfang, der ganz auf den Charakter des Redners als eines Fachmannes für Zahlenspekulation abgestimmt ist.265 Auf                                                             

De E 8, 387F εἶπον οὖν κάλλιστα τὸν Εὔστροφον τῷ ἀριθμῷ λύειν τὴν ἀπορίαν. Mit dem begeisterten κάλλιστα nimmt ‚Plutarch‘ wohl Eustrophos’ Charakterisierung der Zahl als τῶν καλῶν καὶ τιμίων τοῦτον (sc. τὸν ἀριθμόν) ἡγεμόνα aus De E 7, 387E auf. 262 De E 16, 391E τοιοῦτο μὲν καὶ ὁ τῶν ἀριθμητικῶν καὶ ὁ τῶν μαθηματικῶν ἐγκωμίων τοῦ εἶ λόγος, ὡς ἐγὼ μέμνημαι, πέρας ἔσχεν. 263 Vgl. die detaillierte Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweils kontextspezifisch angepassten zahlenspekulativen Argumente in beiden Quaestiones bei VAN DER STOCKT (2006) 34–39. 264 De E 8, 387F–388A ἐπεὶ γάρ, ἔφην, εἰς τὸ ἄρτιον νενεμημένου παντὸς ἀριθμοῦ καὶ τὸ περιττόν κτλ. 265 QR 2, 264A setzt, der Frage angemessen, aus welchem Grund die Römer bei Hochzeiten genau fünf Fackeln entzünden, sogleich mit der These ein, die ungerade Zahl passe besonders gut zur Hochzeit: Ἢ διότι πλείοσι χρωμένων ἀριθμοῖς, πρός τε τὰ ἄλλα βελτίων 261

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III. Hauptgespräch

dieser Grundlage kann ‚Plutarch‘ sogleich eine wesensmäßige Besonderheit der Fünf aufzeigen, ihre Zusammensetzung aus der ersten geraden Zahl und der ersten ungeraden Zahl, der Zwei und der Drei; die Eins als vermeintlich erste ungerade Zahl scheidet er mit der Begründung aus, sie gehöre ihrem Wesen nach sowohl zur Reihe der geraden als auch der ungeraden Zahlen,266 da sie, werde sie zu einer geraden Zahl addiert, eine ungerade Zahl hervorbringe, wenn zu einer ungeraden, jedoch eine gerade.267 Ist die Eins                                                             

καὶ τελειότερος ὁ περιττὸς ἐνομίζετο καὶ πρὸς γάμον ἁρμωδιότερος; QR 102, 288C, wo eine zahlenspekulative Erklärung dafür gesucht wird, aus welchem Grund die Römer den männlichen Neugeborenen am neunten, den weiblichen jedoch am achten Lebenstag ihre Namen geben, beginnt passender Weise mit der Feststellung, dass die Pythagoreer die ungeraden Zahlen als männlich, die geraden als weiblich bezeichneten: Ἢ καθάπερ οἱ Πυθαγορικοὶ τοῦ ἀριθμοῦ τὸν μὲν ἄρτιον θῆλυν, ἄρρενα δὲ τὸν περιττὸν ἐνόμιζον. In De def. or. 35, 429AB, wo Lamprias im Rahmen eines Argumentationsganges, der von dem vorherigen, der sich auf Interpretationen des Theodoros von Soloi berief, dahingehend abgesetzt ist, dass er des Sprechers „eigene Meinung“ über die Plausibilität einer Fünfzahl von Kosmoi enthalten soll, zieht Plutarch, dem kosmogonischen Thema seiner Erörterungen entsprechend, die obersten pythagoreisch-platonischen Prinzipien ἕν und ἀόριστος δυάς heran, die die beiden Zahlenkategorien gerade und ungerade demiurgisch hervorbringen (De def. or. 35, 429B ἔστι γὰρ ἡ μὲν ἀόριστος ἀρχὴ τοῦ ἀρτίου δημιουργὸς ἡ δὲ βελτίων [sc. τὸ ἕν] τοῦ περιττοῦ). Vgl. allgemein zur antiken Einteilung der natürlichen Zahlen in gerade und ungerade Zahlen OBSIEGER (2007) ad. loc., 80 und SEIDE (1981) 97– 100. 266 In De an. procr. 29, 1027D – 11, 1017E erläutert Plutarch Platons Aussagen über die harmonischen Zahlenverhältnisse in der Weltseele (Tim. 35b4–36b5) praktisch anhand der auf Krantor zurückgehenden Anordnung von konkreten Zahlen in der Form eines Λ, wobei er auf den einen Schenkel die ungeraden Zahlen 3, 9 und 27, auf den anderen die geraden Zahlen 2, 4 und 8 plaziert. Die 1 bildet in diesem Schema den Scheitelpunkt des Λ, aus dem die beiden Zahlenreihen hervorgehen, und wird entsprechend als sowohl gerade wie auch ungerade bezeichnet (De an. procr. 30, 1027E): Ἂν οὖν ἀπὸ τῆς μονάδος ἀρξάμενοι τοὺς διπλασίους καὶ τριπλασίους ἐν μέρει τιθῶμεν, ὡς αὐτὸς [sc. ὁ Πλάτων] ὑφηγεῖται, γενήσονται κατὰ τὸ ἑξῆς ὅπου μὲν τὸ δεύτερον καὶ τὸ τέταρτον καὶ ὄγδοον, ὅπου δὲ τρίτον καὶ ἔννατον καὶ εἰκοστοέβδομον, συνάπαντες μὲν ἑπτά, κοινῆς δὲ λαμβανομένης τῆς μονάδος ἄχρι τεσσάρων τῷ πολλαπλασιασμῷ προιόντες. Vgl. zu diesem Schema auch De an. procr. 20, 1022D – 30, 1028A τοῖς δὲ περὶ τὸν Κράντορα βοηθοῦσιν αἵ τε θέσεις τῶν ἀριθμῶν, ἐπιπέδων ἐπιπέδοις καὶ τετραγώνων τετραγώνοις καὶ κύβων κύβοις ἀντιθέτως συζυγούντων [gemeint ist die jeweilige Opposition der ersten Flächenzahlen 2 und 3, der ersten Quadratzahlen 4 und 9 und der ersten Kubikzahlen 8 und 27 auf den beiden Schenkeln des Λ], τῇ τε μὴ κατὰ τάξιν αὐτῶν λήψει, ἀλλ᾿ ἐναλλὰξ ἀρτίων καὶ περιττῶν . τὴν γὰρ μονάδα κοινὴν οὖσαν ἀμφοῖν προτάξας λαμβάνει τὰ ὀκτὼ καὶ ἐφεξῆς τὰ κζʹ· μονονουχὶ δεικνύων ἡμῖν, ἣν ἑκατέρῳ γένει χώραν ἀποδίδωσι. De an. procr. 11, 1017D … τὴν μὲν μονάδα, κοινὴν οὖσαν ἀρχὴν ἀρτίων καὶ περιττῶν κτλ. 267 De E 8, 388A διὸ καὶ προστιθεμένη τὸν μὲν περιττὸν ἀριθμὸν ἄρτιον ποιεῖ τὸν δ᾿ ἄρτιον περιττόν. Die μονάς ist an dieser Stelle offenbar nicht als konkrete Zahl aufgefasst, sondern als das Zahlenprinzip oder -element, das in seiner Eigenschaft als Zwitter zwischen gerade und ungerade das jeweilige Ergebnis der „Hinzufügung“ bestimmt. Wenn Plutarch wenig später die größere „Zeugungskraft“ der ungeraden Zahlen gegenüber den

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mithin keine Zahl im eigentlichen Sinne, da sie keiner der beiden grundlegenden Kategorien „gerade“ und „ungerade“ eindeutig zugeordnet werden kann, so sind erst die Zwei und die Drei im Vollsinn Zahlen; sie sind in Plutarchs Worten jeweils die ἀρχή der geraden bzw. ungeraden Zahlenreihe268 und damit die ersten Repräsentanten der beiden Grundkategorien der Zahl. Die Fünf freilich, und darauf läuft ‚Plutarchs‘ erster Argumentationsgang hinaus, übertrifft hinsichtlich ihrer Besonderheit sogar noch die Zwei und die Drei: „(da aber) die Fünf durch die Verbindung dieser beiden erzeugt wird, hat sie einleuchtender Weise eine Ehrenstelle als erste Zahl, die aus den ersten Zahlen besteht.“269 ‚Plutarchs‘ weitere Ausführungen über die Besonderheit der Fünf kreisen zunächst um deren pythagoreische Bezeichnung γάμος. Dieser Abschnitt kann als eine erste Inszenierung einer gewissen begeisterungsgetragenen Redundanz der persona des jungen ‚Plutarch‘ gelten, fügt sie doch dem bislang Gesagten nur insofern Neues hinzu, als der Autor ‚Plutarch‘ nun auch Kenntnisse der pythagoreischen Zahlenmetaphorik vorführen lässt: Während Plutarch in QR 2 und 102 die biologische Metaphorik „weiblich                                                             geraden Zahlen darauf zurückführt, dass erstere nicht in zwei gleich große Hälften geteilt werden können, sondern immer (vgl. VAN DER STOCKT, 2006, 35, Anm. 16 für die Illustration :.:) „ein mittleres Glied bei der Teilung übrig bleibt“ (De E 8, 388A μέσον ἀεὶ περίεστι τῆς νεμήσεως μόριον), so ist dieses „Glied“ ebenfalls keine Zahl, sondern ein Element, das bei der Teilung einer jeden ungeraden Zahl überschießt. In QR 102, 288D wird dieses „Glied“ explizit als eine unter mehreren „Monaden“ bezeichnet, aus denen die Zahl besteht (καὶ διαιρουμένων εἰς τὰς μονάδας ὁ μὲν ἄρτιος καθάπερ τὸ θῆλυ χώραν μεταξὺ κενὴν ἐνδίδωσι, τοῦ δὲ περιττοῦ μόριον ἀεί τι πλῆρες ὑπολείπεται). In QR 2, 264A wird angesichts der Erwähnung dieses „Gliedes“ darauf hingewiesen, dass es beiden Teilen „gemeinsam“ sei (ὁ δὲ περιττὸς οὐ δύναται διασχισθῆναι παντάπασιν, ἀλλ᾿ ὑπολείπει τι κοινὸν ἀεὶ μεριζόμενος). Eine ähnliche Vorstellung vom Status der Eins, die nicht Zahl im eigentlichen Sinne ist, dokumentiert De def. or. 35, 429BC: Dort erscheint die μονάς als dasjenige Element, das, vom „guten“ Prinzip des ἕν abgeleitet, im kosmogonischen Prozess nachgerade stofflich in der Mitte einer nach zwei Seiten hin auseinandertretenden Hyle zu stehen kommt, und dadurch eine exakte Zweiteilung des „Alls“ verhindert (429C τῆς ὕλης ἐπ᾿ ἀμφότερα διισταμένης μέσην τὴν μονάδα θεμένη δίχα νεμηθῆναι τὸ πᾶν οὔκ εἴασεν). Die μονάς fungiert entsprechend als elementares Maßprinzip allen Werdens, ohne dabei Zahl zu sein. Den Grund, aus dem sie trotzdem bisweilen als Zahl angesehen wird, erläutert der Gesprächsteilnehmer Kleombrotos in De def. or. 12, 416AB: Wie man metonymisch das Gemessene und das Maß mit dem gleichen Begriff bezeichne, so werde auch die Monas, das Maß einer jeden Zahl, Zahl genannt (ἀλλὰ μὴν κἀκεῖνο δῆλον, ὁ Κλεόμβροτος εἶπε, τὸ πολλάκις τὸ μετροῦν καὶ τὰ μετρούμενα τοῖς αὐτοῖς ὀνόμασι προσαγορεύεσθαι, κοτύλην καὶ χοίνικα καὶ ἀμφορέα καὶ μέδιμνον. ὃν τρόπον οὖν τοῦ παντὸς ἀριθμοῦ τὴν μονάδα μέτρον οὖσαν ἐλάχιστον καὶ ἀρχὴν ἀριθμὸν καλοῦμεν κτλ.). 268 De E 8, 388A ἀρχὴν δὲ τοῦ μὲν ἀρτίου τὰ δύο τοῦ δὲ περιττοῦ τὰ τρία ποιοῦνται. Vgl. QR 2, 264A τὰ γὰρ τρία πρῶτος περιττὸς καὶ τὰ δύο πρῶτος ἄρτιος. De def. or. 35, 429B πρῶτος δὲ τῶν ἀρτίων τὰ δύο καὶ τὰ τρία τῶν περιττῶν. 269 De E 8, 388A ἐπεὶ … τὰ … πέντε γεννᾶται τούτων πρὸς ἀλλήλους μιγνυμένων, εἰκότως ἔσχηκε τιμὴν πρῶτος ἐκ πρώτων ἀποτελούμενος.

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gerade“ und „männlich-ungerade“ passend zur Erklärung der dort verhandelten römischen Bräuche instrumentalisiert, dient sie hier vor allem der admirativ-ironischen Charakteristik des jugendlichen Zahlenfanatikers, der ein Wissen, das der Autor sonst gezielt einzusetzen weiß, auch einmal im Sinne eines gelehrten l’art pour l’art präsentiert. Dies erhellt daraus, dass ‚Plutarch‘ am Ende dieses Abschnittes seiner Abschweifung inne wird: Nachdem er einleitend den Namen γάμος aus der Ähnlichkeit des Geraden mit dem Weiblichen und des Ungeraden mit dem Männlichen erklärt,270 daraufhin die beiden Geschlechter der Zahlenkategorien damit begründet, dass sich bei einer graphischen Darstellung gerader und ungerader Zahlen als Punktmengen (z.B. 4 als : : und 5 als :.:) bei ersteren ein „empfängliches Prinzip und ein Raum“, bei letzteren hingegen ein „Glied“ erkennen lasse,271 weiter die sich daraus für die ungerade-männliche Zahl ergebende größere „Zeugungsfähigkeit“ daran illustriert, dass die Addition einer geraden und einer ungeraden Zahl immer eine ungerade Zahl ergibt272 und schließlich die Überlegenheit des männlichen Zahlenprinzips noch daran aufzeigt, dass ungerade Zahlen, werden sie addiert, gerade Zahlen hervorbringen, während aus geraden Zahlen nur gerade Summen hervorgehen, diese mithin „zeugungsunfähig“ seien,273 bricht ‚Plutarch‘ seinen Redefluss mit dem Bekenntnis ab, es sei jetzt nicht der passende Zeitpunkt für die Darstellung der übrigen Eigenschaften und Unterschiede der Zahlen (De E 8, 388B): Τὰς δ᾿ ἄλλας οὐκ ἄν τις ἐν καιρῷ νῦν ἐπεξίοι δυνάμεις καὶ διαφορὰς τῶν ἀριθμῶν. Der Fachmann, so soll der Leser es wohl verstehen, hat eine Kostprobe aus seinem unerschöpflichen Spezialwissen gegeben und muss es sich leider versagen, das Thema vollständig auszuführen. So begnügt sich ‚Plutarch‘ damit, seinen Ausflug in die Sexualmetaphorik der pythagoreischen Zahlenlehre mit einer kurzen Zusammenfassung etwas gewaltsam zu beenden und auf sein Thema, die Fünf, zurückzuführen: „Als das Produkt des ersten Männlichen und des ersten Weiblichen haben die Pythagoreer jedenfalls die Fünf als ‚Hochzeit‘ bezeichnet.“274                                                             

De E 8, 388A καὶ γάμος ἐπωνόμασται τῇ τοῦ ἀρτίου πρὸς τὸ θῆλυ περιττοῦ δ᾿ αὖ πρὸς τὸ ἄρρεν ὁμοιότητι. 271 De E 8, 388A ταῖς γὰρ εἰς ἴσα τομαῖς τῶν ἀριθμῶν ὁ μὲν ἄρτιος πάντῃ διιστάμενος ὑπολείπει τινὰ δεκτικὴν ἀρχὴν οἷον ἐν ἑαυτῷ καὶ χώραν, ἐν δὲ τῷ περιττῷ τὸ αὐτὸ παθόντι μέσον ἀεὶ περίεστι τῆς νεμήσεως μόριον. 272 De E 8, 388A ᾗ καὶ γονιμώτερός ἐστι τοῦ ἑτέρου καὶ μιγνύμενος ἀεὶ κρατεῖ κρατεῖται δ᾿ οὐδέποτε· γίγνεται γὰρ ἐξ ἀμφοῖν κατ᾿ οὐδεμίαν μῖξιν ἄρτιος ἀλλὰ κατὰ πάσας περιττός. 273 De E 8, 388B ἔτι δὲ μᾶλλον αὐτὸς ἐπιβάλλων αὑτῷ καὶ συντιθέμενος δείκνυσι τὴν διαφορὰν ἑκάτερος· ἄρτιος μὲν γὰρ οὐδεὶς ἀρτίῳ συνελθὼν περισσὸν παρέσχεν οὐδ᾿ ἐξέβη τὸ οἰκεῖον ὑπ᾿ ἀσθενείας ἄγονος ὢν ἑτέρου καὶ ἀτελής· περισσοὶ δὲ μιγνύμενοι περισσοῖς ἀρτίους πολλοὺς διὰ τὸ πάντῃ γόνιμον ἀποτελοῦσι. 274 De E 8, 388C ὡς οὖν ἄρρενός τε τοῦ πρώτου καὶ θήλεος ὁμιλίᾳ τὰ πέντε γιγνόμενα γάμον οἱ Πυθαγόρειοι προσεῖπον. 270

7. Die Rede ‚Plutarchs‘

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7.2.2 Die Fünf als φύσις Gleichwohl erfüllt ‚Plutarchs‘ Darstellung seiner Kenntnisse der pythagoreischen Zahlenmetaphorik im Argumentationsgang selbst einen bedeutenden Zweck, denn sie dient als Anknüpfungspunkt für den nun folgenden Abschnitt, in dem die Zahlenspekulationen ‚Plutarchs‘ dahingehend originell werden, dass sie auf eine Verbindung zwischen Apollon und dem E als der Zahl Fünf hinsteuern, aus der sich dessen Weihung an den Gott erklären soll. Mögen auch ‚Plutarchs‘ Ausführungen über den pythagoreischen γάμος zunächst nicht mehr zum Anliegen des Redners beitragen, als dass die Zuhörerschaft von der besonderen Bewunderung der Fünf seitens der Pythagoreer erfährt, die sich in einer speziellen Benennung der Zahl ausdrückt, so bereiten sie doch die kühne Übertragung des Additionsverhaltens der Fünf auf den delphischen Kult dadurch vor, dass Plutarch im Anschluss an die etablierte275 pythagoreische Bezeichnung der Fünf als γάμος die von ihm womöglich erfundene, da immerhin nirgendwo sonst in der antiken Literatur belegte276 Behauptung, die Fünf werde auch φύσις genannt (De E 8, 388B ἔστι δ᾿ ᾗ καὶ φύσις λέλεκται), gleichsam als ein Traditionsgut getarnt in die Ausführungen seines jüngeres Ichs einschleust. Angesichts eines in De E apud Delphos zu beobachtenden brüderlichen Einvernehmens zwischen ‚Plutarch‘ und Lamprias277 nähme es nicht Wunder, wenn der Autor hier den Anschein erwecken wollte, dass die beiden                                                             

275 Vgl. OBSIEGER (2007) ad loc., 82f. Aus der Tatsache, dass Plutarch, einer anderen Anschauung folgend, in De an. procr. 13, 1018C die Sechs als γάμος bezeichnet (καὶ ἔστιν ὁ μὲν ϛʹ τέλειος, ἴσος ὢν τοῖς ἑαυτοῦ μέρεσι· καὶ γάμος καλεῖται διὰ τὴν τοῦ ἀρτίου καὶ περιττοῦ σύμμιξιν), lässt sich weniger darüber aussagen, welcher Meinung nun „der historische Plutarch“ angehangen haben mag, als OBSIEGER, ibid., vermutet. Wie in Plutarchs Werk der Nachweis einer Besonderheit von Zahlen immer an die angelegte Kategorie gekoppelt ist (etwa Quadratzahl, Kubikzahl), hängt die Anwendung des Begriffs γάμος auf die 5 oder die 6 allein vom zugrundegelegten Kombinationsverfahren ab, im ersten Fall der Addition der ersten geraden/weiblichen Zahl mit der ersten ungeraden/männlichen, im zweiten Fall ihrer Multiplikation. 276 Vgl. OBSIEGER (2007) ad loc., 86 „Wer diejenigen sind, die die Fünf φύσις nennen, wird nicht gesagt. Man wird an die zuvor erwähnten Pythagoreer denken. Im Hinblick darauf, dass sogleich von Heraklit die Rede sein wird, wäre eine Festlegung jedoch hinderlich. […] ‚Plutarchs‘ Behauptung, jemand nenne die Fünf „Natur“, ist fragwürdig.“ 277 ‚Plutarch‘ tritt im Grunde für dieselbe Lösung wie Lamprias ein, nach der das E als Zahlzeichen für die Fünf verstanden werden soll. Vor dem intertextuellen Hintergrund des Auftrittes des Lamprias in De defectu oraculorum wird so auch inhaltlich durch die Darstellung gemeinsamer, im weitesten Sinne mathematischer philosophischer Interessen eine enge Beziehung zwischen den Brüdern konstituiert. Obwohl bereits Theon vehement an Nikandros’ eingebildeter Autorität gerüttelt hatte, indem er in seiner Rede gezeigt hatte, dass die Angriffe des Nikandros auf die Dialektiker angesichts einer plausibel erklärbaren Verbindung Apollons zur Dialektik ungerechtfertigt sind, übernimmt im Grunde erst ‚Plutarch‘ eine eigentliche Rehabilitierung des Lamprias, indem er Nikandros als den

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Brüder tendenziell dieselbe Strategie verfolgen, um ihre eigenen Ideen über die Plausibilität einer Weihung des E als der Zahl Fünf mit Scheintraditionen zu decken: Schon in seinem Referat der von einem Lächeln begleiteten stillen Vermutungen des Ammonios hatte Plutarch diesen Lamprias’ Gedanken als eigenen Einfall (ἰδία δόξα) identifizieren lassen, der durch die Behauptung, er besitze eine Tradition, gegen mögliche Kritik abgeschirmt werden solle;278 hier lässt ‚Plutarch‘ Ähnliches tun. Dies bestätigt sich wenig später, als ‚Plutarch‘ das in der Bezeichnung φύσις ausgedrückte Wesen der Fünf mit Delphi, dem Ort von dessen Weihung, in Verbindung bringt: Der ganze Passus setzt ein mit Berufung auf das Hörensagen anonymer „Theologen“ (ἀκούομεν οὖν τῶν θεολόγων), kommt dann auf sagenhafte „weisere Männer“ zu sprechen (οἱ σοφώτεροι), die die Lehren der „Theologen“ unter anderem in Rätselworte kleiden (αἰνίττονται), in Liedern besingen (ᾄδουσιν)279 und schließlich genau die Ansicht vertreten haben sollen, die ‚Plutarch‘ selbst in origineller Weise zum Hauptbeleg für die Angemessenheit einer Weihung der Fünf in Delphi, die als φύσις bezeichnet wird, konstruiert: „Es ist aber klar, dass sie mit ihm (sc. dem Gott) die Fünf in Verbindung bringen, die bald sich selbst, wie das Feuer, bald die Zehn, wie den Kosmos, aus sich erschafft.“280 Dass es sich bei der Bezeichnung der Fünf als φύσις um einen ganz auf sein Argumentationsziel abgestimmten Einfall ‚Plutarchs‘ handelt, erhellt sogleich aus den Worten, mit denen er das Wesen der „Natur“ beschreibt, um es dann in dem besonderen Selbstadditionsverhalten der Fünf wiederzuentdecken und an diesen Fund einem kosmologischen Ausspruch Heraklits über das Verhältnis von Feuer und All anzuschließen, mit dem er die                                                              schärfsten Kritiker seines Bruders in dem Moment mit überlegener Ironie der Lächerlichkeit preisgibt, in dem er auch selbst mit der Priesterautorität des Nikandros ins Gehege zu kommen droht: Wie oben, S. 126–129 gezeigt werden konnte, tritt der Autor am Ende der Rede ‚Plutarchs‘ mit der Formulierung eines vaticinium ex eventu auf seine nachmalige Priesterschaft in Delphi kurz hinter der persona der Dialogfigur hervor und macht sich über die Heimlichtuerei des Nikandros lustig, der ‚Plutarch‘ durch einen Hinweis auf die angeblich nur ihm als Priester zugänglichen ἄρρητα des delphischen Kultes weitere Auskünfte über die Bedeutung der Fünf bei der Vorbereitung der Pythia auf ihren Orakeldienst verweigert. Dieser Seitenhieb auf Nikandros verteidigt mithin implizit auch den Bruder gegen die anmaßende Art, mit der der Priester den jungen Gesprächsteilnehmern begegnet. Es besteht zwischen den Auftritten der Brüder Lamprias und ‚Plutarch‘ mithin eine geplante Fernbeziehung, die sich thematisch in einem ähnlichen philosophischen Interesse niederschlägt und unter dem Aspekt der Figurenkonstellation ein Bild brüderlicher Loyalität zeichnet, in die auch Theon gegenüber dem gemeinsamen Gegner Nikandros mitaufgenommen wird. 278 Vgl. oben, S. 106–108. 279 De E 9, 388E–389A. 280 De E 10, 389C δῆλον δ᾿ ὅτι συνοικειοῦσιν αὐτῷ [sc. τῷ θεῷ] τὴν πεμπάδα νῦν μὲν αὐτὴν ἑαυτὴν ὡς τὸ πῦρ αὖθις δὲ τὴν δεκάδα ποιοῦσαν ἐξ ἑαυτῆς ὡς τὸν κόσμον.

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Basis für die Erklärung des Zusammenhangs zwischen der Zahl Fünf und dem delphischen Kult legt: „Wie nämlich die Natur, die Weizen in einem Samenkorn empfängt und birgt, zwar im Wachstumsprozess viele Gestalten und Erscheinungsformen hervorbringt, durch die sie ihr Werk zum Ziel führt, schließlich aber wieder ein Weizenkorn sehen lässt und so wieder den Anfang am Ende des Ganzen hervorbringt, so … .“281 Diese einleitende Erklärung der Wirkungsweise der Natur am Beispiel des Weizens ist alles andere als bloße Illustration, denn der natürliche Zyklus, der hier am Beispiel des Weizenkorns (πυρός) dargestellt wird, erscheint am Ende dieses Abschnittes mit der Einführung des Heraklitzitates πυρός τε ἀνταμοιβὴν τὰ πάντα καὶ πῦρ ἁπάντων, ὅκωσπερ χρυσοῦ χρήματα καὶ χρημάτων χρυσός als der Wechsel von Feuer (πῦρ) und Kosmos, mit dem ‚Plutarch‘ schließlich zur Lehre der „Theologen“ übergeht. So ist der anhand des Weizens exemplifizierte Name der Fünf als φύσις an dieser Stelle offenbar nur um des – freilich nicht üblen – Wortspiels mit dem späteren kosmischen Feuerprinzip willen eingeführt, auf das ‚Plutarch‘ mit seiner Argumentation hinaus will. Das tertium comparationis zwischen der φύσις und der Fünf, durch das sich die Bezeichnung der Zahl als „Natur“ rechtfertigt, besteht nun nach ‚Plutarch‘ zunächst darin, dass diese Zahl neben der Sechs die einzige ist, die, mit sich selbst multipliziert, wieder sich selbst hervorbringt, nämlich als letzte Stelle der entstandenen Quadratzahl;282 mithin verhalten sich auch diese beiden Zahlen in gewisser Weise zyklisch.283 Die Fünf übertrifft freilich in ihrem Verhalten die Sechs dadurch, dass sie zudem, wird sie mit sich selbst addiert, regelmäßig, nämlich alternierend mit der Zehn, sich selbst reproduziert, und dies unendlich oft,284 und somit „das Prinzip, das das All                                                             

De E 8, 388C ὡς γὰρ ἡ φύσις λαβοῦσα πυρὸν ἐν σπέρματι †καὶ χθαμένη πολλὰ μὲν ἐν μέσῳ φύει σχήματα καὶ εἴδη, δι᾿ ὧν ἐπὶ τέλος ἐξάγει τὸ ἔργον, ἐπὶ πᾶσι δὲ πυρὸν ἀνέδειξεν ἀποδοῦσα τὴν ἀρχὴν ἐν τῷ τέλει τοῦ παντός, οὕτως κτλ. Eine ähnliche Metaphorik für die Wirkungsweise der φύσις findet sich auch im Exkurs des Lamprias über die Plausibilität der Existenz von fünf Kosmoi in De def. or. 24, 423D: ἐπεὶ καὶ τὴν φύσιν ὁρῶμεν καθ᾿ ἕκαστα γένεσιν καὶ εἴδεσιν οἷον ἀγγείοις ἢ περικαρπίοις σπέρματα περιέχουσαν. 282 De E 8, 388CD … οὕτω τῶν λοιπῶν ἀριθμῶν, ὅταν αὑτοὺς πολλαπλασιάσωσιν, εἰς ἑτέρους τελευτώντων τῇ αὐξήσει μόνος ὁ τῶν πέντε καὶ ἓξ γενόμενος τοσαυτάκις αὑτοὺς ἀναφέρουσι καὶ ἀνασῴζουσιν. ἑξάκις γὰρ τὰ ἓξ τριακονταέξ, καὶ πεντάκις τὰ πέντε εἰκοσιπέντε γίγνεται. 283 In De an. procr. 13, 1018B–D zeigt Plutarch eindrucksvoll, dass er auch über die 6 und ihr Quadrat 36, Zahlen, die an dieser Stelle nur erwähnt werden, um die Besonderheit der Fünf im Vergleich mit ihnen noch stärker herauszustellen, einen ganzen Katalog an zahlenspekulativem Lob abzuarbeiten versteht. 284 De E 8, 388D τῇ δὲ πεμπάδι καὶ τοῦτο μὲν συμβέβηκε κατὰ πολλαπλασιασμόν, ἰδίως δὲ τὸ κατὰ σύνθεσιν ἢ ἑαυτὴν ἢ δεκάδα ποιεῖν παρὰ μέρος ἐπιβάλλουσαν αὑτῇ, καὶ τοῦτο γίγνεσθαι μέχρι παντός. 281

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ordnet, nachahmt“ (ἀπομιμουμένου τοῦ ἀριθμοῦ τὴν τὰ ὅλα διακοσμοῦσαν ἀρχήν). Wie sehr es dem Autor in diesem originellen Abschnitt der Rede ‚Plutarchs‘ nicht zuletzt darum zu tun ist, seine durchaus eigenen zahlenspekulativen Vorlieben und Erkenntnisse zu präsentieren, zeigt der Umstand, dass er dieses bemerkenswerte Vervielfachungsverhalten der Fünf auch Lamprias in De defectu oraculorum im Anschluss an dessen Argumentation für eine Fünfzahl von Kosmoi auf der Basis der Entstehung der Fünf aus der ersten geraden und der ersten ungeraden Zahl erwähnen lässt, und zwar zur Begründung der Behauptung, der Begriff „All“ (πάντα) leite sich von „Fünf“ (πέντε) nicht nur deshalb ab, weil diese Zahl aus den beiden „ersten Zahlen“, der Zwei und der Drei, bestehe, sondern auch wegen ihres Vervielfachungsverhaltens.285 Mit der abschließenden Einführung des Heraklitzitates gelingt ‚Plutarch‘ schließlich die Überleitung zu seiner folgenden Erklärung des Zusam                                                            

285 De def. or. 36, 429D οἶμαι δὲ καὶ τὰ πάντα τῶν πέντε παρώνυμα γεγονέναι κατὰ λόγον, ἅτε δὴ τῆς πεντάδος ἐκ τῶν πρώτων ἀριθμῶν συνεστώσης. καὶ γὰρ οἱ μὲν ἄλλοι πολλαπλασιαζόμενοι πρὸς ἄλλους εἰς ἕτερον αὑτῶν ἀριθμὸν ἐκβαίνουσιν· ἡ δὲ πεντάς, ἂν μὲν ἀρτιάκις λαμβάνηται, τὸν δέκα ποιεῖ τέλειον· ἐὰν δὲ περισσάκις, ἑαυτὴν πάλιν ἀποδίδωσιν. Der Umstand, dass der Passus in De defectu oraculorum ohne die ausführlichere Version in De E apud Delphos gänzlich unverständlich bleibt, ist ein nicht geringes Indiz dafür, dass Plutarch bisweilen die Kohärenz seiner Texte seinem Bedürfnis, möglichst viel von seinen intellektuellen Liebhabereien zu präsentieren, nachgeordnet hat, vgl. VAN DER STOCKT (2006) 47f. „Les observations sur le produit des multiplications […] sont constamment signalées comme passages parallèles. Pourtant, il y a des différences: le passage dans De E est beaucoup plus explicite […]. A ce sujet, le passage du De def. or. n’est pas tout à fait compréhensible sans l’information fournie par l’extrait du De E: la phrase καὶ γὰρ οἱ κτλ. ne peut expliquer pourquoi le mot qui désigne l’univers (panta) est dérivé de celui qui désigne le nombre cinq (pente), que si l’on sait que le nombre 5, multiplié par n’importe quel nombre, se reproduit et, ce faisant, „imite le principe qui organise l’univers“ […]. […] En bref: De def. or. 429D n’est qu’une allusion brève et défectueuse au matériel exposé dans De E 388CE“ [Hervorhebungen im Original]. Auch in weiteren Fällen hat Plutarch zahlenspekulatives Material, das in De E apud Delphos in einem geschlossenen Argumentationsgang erscheint, in De defectu oraculorum wesentlich zum Zweck der Ausschmückung der Argumentation eingefügt. Besonders instruktiv ist das Beispiel der Erwähnung der Herleitung des alten Begriffs für „zählen“ (πεμπάζειν) vom griechischen Wort für „Fünf“ (πέντε), die in De E 7, 387E in den Worten des Eustrophos kohärent im Anschluss an die besondere Ehre, die der Fünf als besondere Zahl zuteil werde, erscheint, während es in De def. or. 36, 429D Teil eines Nachklapps ist, der mit seinen ausufernden Anhäufungen weiterer Argumente für die Besonderheit der Fünf auf die zuvor geleistete Herleitung der Zahl aus den obersten platonischen Prinzipien folgt. In diesem Nachklapp findet sich auch die eben erwähnte Herleitung des „Alls“ (πᾶν) von „Fünf“ (πέντε); die Kombination dieser beiden Etymologien hat Plutarch schließlich in De Iside 56, 374A mit rein ausschmückender Tendenz an eine weitere Erwähnung der Fünf angefügt: καὶ τὰ πάντα τῶν πέντε γέγονε παρώνυμα καὶ τὸ ἀριθμήσασθαι πεμπάσασθαι λέγουσιν.

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menhanges zwischen der Fünf und Apollon: Bestand das tertium comparationis zwischen der φύσις und der Fünf darin, dass beide innerhalb zirkulärer Prozesse alternierend zwei Aggregatzustände abwechseln lassen, die φύσις Samenkorn und Pflanze, die Fünf eine Fünferzahl (5, 15, 15 etc.) und eine Zehnerzahl (10, 20, 30 etc.), so baut ‚Plutarch‘ mit der Feststellung, die Fünf ahme in ihrem Additionsverhalten „das Prinzip, das das All ordnet“ nach, einen weiteren Vergleich auf, diesmal zwischen der Fünf und dem Feuer als des alternierend sich selbst reproduzierenden Prinzips des Alls: „Wie nämlich Heraklit sagt, dass jenes Prinzip im Wechsel aus sich selbst heraus den Kosmos und aus dem Kosmos wieder sich selbst bildet und ‚Alles Gegenwert des Feuers und das Feuer Gegenwert von Allem‘ nennt, ‚wie Waren Gegenwert des Goldes und Gold Gegenwert von Waren‘, so kann die Verbindung der Fünf mit sich selbst nichts Unvollkommenes oder Fremdes hervorbringen, sondern zeichnet sich durch definierte Wechsel aus: entweder nämlich bringt sie sich selbst oder die Zehn hervor, das heißt entweder das Eigene oder das Vollkommene.“286 Mit diesen Worten endet ‚Plutarchs‘ ausführlicher zahlenspekulativer Einleitungsabschnitt, der die von Eustrophos gestellte Aufgabe, die besondere Verehrung der Fünf als eines μέγας πρὸς τὰ ὅλα καὶ κύριος ἀριθμός auszuführen, auf der Ebene der Theorie glänzend erfüllt. ‚Plutarchs‘ eigentlicher Geniestreich steht freilich noch aus, nämlich die Begründung, warum die Fünf als ein E zu einer Weihegabe in Delphi geworden ist und inwiefern die Rede als ein ἀπάρξασθαι τῷ θεῷ τῆς φίλης μαθηματικῆς gelten kann. 7.2.3 Apollon und Dionysos ‚Plutarch‘ unternimmt es nun, einen wesentlichen Aspekt der delphischen Götterverehrung, den gemeinsamen Kult des Apollon und des Dionysos, mitsamt seinen Mythen, Kultliedern, Götterbildern und dem Festkalender in eine plausible Verbindung mit der Zahl Fünf zu bringen, die deren Weihung an Apollon rechtfertigen soll. Mit der souveränen Geste des Redners, der sich der Beherrschung seiner Materie bewusst ist, wendet sich ‚Plutarch‘ an die versammelte Runde und antizipiert deren hypothetische Forderung, sie doch endlich darüber aufzuklären, was denn die theoretischen Bewandtnisse der Fünf überhaupt mit Apollon zu tun haben. ‚Plutarch‘ tut dies mit unverhohlener Vorfreude auf die Lösung, die er für jenen vermeintlich schwer zu bewältigenden Nachweis parat hat. Denn er kündigt sogleich an, nicht                                                             

286 De E 8, 388DE ὡς γὰρ ἐκείνην ὑπαλλάττουσαν ἐκ μὲν ἑαυτῆς τὸν κόσμον ἐκ δὲ τοῦ κόσμου πάλιν ἑαυτὴν ἀποτελεῖν „πυρός τε ἀνταμοιβὴν τὰ πάντα“ φησὶν ὁ Ἡράκλειτος „καὶ πῦρ ἁπάντων, ὅκωσπερ χρυσοῦ χρήματα καὶ χρημάτων χρυσός“, οὕτως ἡ τῆς πεμπάδος πρὸς ἑαυτὴν σύνοδος οὐδὲν οὔτ᾿ ἀτελὲς οὔτ᾿ ἀλλότριον γεννᾶν πέφυκεν, ἀλλ᾿ ὡρισμένας ἔχει μεταβολάς· ἢ γὰρ αὑτὴν ἢ τὴν δεκάδα γεννᾷ, τουτέστιν ἢ τὸ οἰκεῖον ἢ τὸ τέλειον.

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nur den Bezug zu Apollon, sondern gleich auch noch denjenigen zu Dionysos herzustellen, mithin sogar mehr zu leisten, als billigerweise von ihm verlangt werden könnte: „Wenn nun einer fragen sollte: ‚Was hat das mit Apollon zu tun?‘, so werden wir sagen, dass das nicht nur mit Apollon, sondern auch mit Dionysos zu tun hat, der an Delphi nicht weniger Anteil hat als Apollon.“287 Der delphische Kult der beiden Götter, so ‚Plutarchs‘ These, bildet das Wesen der Fünf als kosmischer Ordnungsmacht ab. Die regelmäßigen Wechsel, die die Fünf bei der Addition mit sich selbst zwischen Zahlen zeigt, die auf eine 5 enden, und solchen, die ein Vielfaches von 10 sind, hatte ‚Plutarch‘ zuvor mit dem „Prinzip, das das All ordnet“ verglichen, das „aus sich selbst den Kosmos und aus dem Kosmos wieder sich selbst schafft“, und dieses wiederum mit dem heraklitischen Feuer unter dessen Aspekt des „Gegenwertes“ zu allen Dingen gleichgesetzt. Apollon erscheint nun in ‚Plutarchs‘ weiteren Ausführungen als jenes kosmische Prinzip in seinem feurigen Ausgangszustand, also für die 5er-Zahlen in der Additionsreihe, während Dionysos für den vollendeten Kosmos stehen soll, mithin für die 10er-Zahlen. Zum Nachweis dessen, dass dem delphischen Kult ein Bewusstsein für die Besonderheit der Fünf zugrunde liegt, bietet Plutarch eine breite allegorische Erklärung aller delphischen Realien, die ihm für seine Argumentation dienlich sind, und zeigt so erneut seine Neigung zu gebildeter Weitschweifigkeit, die er am Ende seiner Ausführungen wieder288 mit einer Abbruchformel eingesteht: „Freilich, ich habe meine Ausführungen über diese Dinge weit über das passende Maß hinaus ausgedehnt; es ist aber klar, dass sie den Gott mit der Fünf in eine enge Verbindung bringen, die bald sich selbst wie das Feuer, dann wiederum die Zehn aus sich wie den Kosmos schafft.“289 ‚Plutarchs‘ Beweisgang gliedert sich in zwei Teile: Zunächst beruft er sich auf „die Theologen, die in Dichtung und Prosa reden und feierlich verkünden, dass der Gott seiner Natur nach unvergänglich und ewig sei, sich jedoch nach einem unveränderlichen Plan und einer Regel Wandlungen unterzieht, indem er bald die Natur entzündet und alles mit allem gleich macht, bald sich vervielfältigt und in Gestalten, Zuständen und verschiedenen Kräften erscheint, so wie jetzt, und mit dem gebräuchlichsten Namen Kosmos                                                             

287 De E 9, 388E ἐὰν οὖν ἔρηταί τις, τί ταῦτα πρὸς τὸν Ἀπόλλωνα, φήσομεν οὐχὶ μόνον, ἀλλὰ καὶ πρὸς τὸν Διόνυσον, ᾧ τῶν Δελφῶν οὐδὲν ἧττον ἢ τῷ Ἀπόλλωνι μέτεστιν. Auf die scherzhafte Umformung des Sprichwortes verweist O BSIEGER (2007) ad loc., 93f. 288 Vgl. oben, S. 184. 289 De E 10, 389C ἀλλὰ ταῦτα μὲν ἱκανοῦ καιροῦ μᾶλλον ἀπομεμήκυνται· δῆλον δ᾿ ὅτι συνοικειοῦσιν αὐτῷ τὴν πεμπάδα νῦν μὲν αὐτὴν ἑαυτὴν ὡς τὸ πῦρ αὖθις δὲ τὴν δεκάδα ποιοῦσαν ἐξ ἑαυτῆς ὡς τὸν κόσμον.

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genannt wird.“290 Diese in geheimnisvolle Worte gekleidete Lehre der „Theologen“ ermöglicht ‚Plutarch‘ einen geschickten Übergang zu seiner Interpretation des delphischen Kultes, gelingt es ihm doch hiermit zuallererst, das zuvor abstrakt als „Ordnungsprinzip“ in seinen Zuständen von „Feuer“ und „Kosmos“ beschriebene Wesen der Fünf in den Rang eines alternierende Aggregatzustände durchlaufenden Gottes zu erheben, dessen wechselnde Phasen nunmehr auf die delphischen Götter Apollon und Dionysos mitsamt ihrem Kult übertragen werden können. Hinter den „Theologen“ stehen in leicht durchschaubarer Weise die Stoiker und ihre Lehre von den Weltzyklen, in denen sich die Phasen von Ekpyrosis und Diakosmesis abwechseln,291 die ‚Plutarch‘ unbekümmert für seinen Beweisgang instrumentalisiert. Die Stoiker werden dabei nicht etwa deshalb nicht explizit genannt, weil der Redner sich nicht auf ihre Lehren bezieht292 oder um einen evidenten Anachronismus zu vermeiden, der die Gründung des delphischen Kultes auf die stoische Weltzyklenlehre zurückführen würde,293 sondern aus Gründen der Argumentationstaktik: Mit seiner Berufung auf diese Lehre will er den Anschein eines Rekurses auf geheimnisvolles, uraltes Wissen erwecken,294 das der Übertragung der zahlenspekulativen Bedeutung der Fünf auf den delphischen Kult zugrundeliege.                                                             

De E 9, 388EF ἀκούομεν οὖν τῶν θεολόγων τὰ μὲν ἐν ποιήμασι τὰ δ᾿ ἄνευ μέτρου λεγόντων καὶ ὑμνούντων, ὡς ἄφθαρτος ὁ θεὸς καὶ ἀΐδιος πεφυκώς, ὑπὸ δή τινος εἱμαρμένης γνώμης καὶ λόγου μεταβολαῖς ἑαυτοῦ χρώμενος ἄλλοτε μὲν εἰς πῦρ ἀνῆψε τὴν φύσιν πάντα ὁμοιώσας πᾶσιν, ἄλλοτε δὲ παντοδαπὸς ἔν τε μορφαῖς καὶ ἐν πάθεσι καὶ δυνάμεσι διαφόροις γιγνόμενος, ὡς γίγνεται νῦν, κόσμος ὀνομάζεται [δὲ] τῷ γνωριμωτάτῳ τῶν ὀνομάτων. 291 Vgl. BABUT (1969) 149f. zu den stoischen Vorstellungen, die Plutarchs Ausführungen zugrunde liegen. 292 Zu möglichen anderen Kandidaten für die hier genannten „Theologen“ vgl. OBSIEGER (2007) 95f. 293 Wie geschickt-manipulativ Plutarch sein jüngeres Ich freilich mit solchen Anachronismen hantieren lässt, um seine Argumentationsziele zu erreichen, zeigt sich auch darin, dass der Redner später im 15. Kapitel ausdrücklich die These aufstellt, Platon sei mit den beiden Prinzipienpentaden im Sophistes und im Philebos, zwischen denen ein enges Entsprechungsverhältnis bestehe, keineswegs originell gewesen, sondern schon vor ihm habe jemand den Zusammenhang zwischen den beiden Pentaden entdeckt und entsprechend zwei Fünfen als Aufweis und Zeichen für die Allzahl geweiht. De E 15, 391C †φησὶ δή τις ταῦτα πρότερος συνιδὼν Πλάτωνος δύο Ε καθιερώσας τῷ θεῷ, δήλωμα καὶ σύμβολον τοῦ ἀριθμοῦ τῶν πάντων. 294 Dieselbe Überzeugungsstrategie verwendet Plutarch mit ähnlicher Terminologie auch in De Iside 45, 369B, wenn er behauptet, seine eigene, in De animae procreatione in Timaeo ausführlich begründete Theorie von einer guten und einer schlechten Weltseele lasse sich noch über Platon zurück als weltweit (unter anderem auch bei „Theologen“) verbreitete und – notabene – letztlich nicht mehr auf einen bestimmten Erfinder zurückführbare Überzeugung von den Zuständen im Kosmos erweisen: διὸ καὶ παμπάλαιος αὕτη κάτεισιν ἐκ θεολόγων καὶ νομοθετῶν εἴς τε ποιητὰς καὶ φιλοσόφους δόξα, τὴν ἀρχὴν 290

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III. Hauptgespräch

Auf welche Weise nun jene Lehre der „Theologen“ Eingang in den delphischen Kult von Apollon und Dionysos gefunden hat, erläutert ‚Plutarch‘ im zweiten Teil seiner Argumentation, deren Kernthese die Verehrung der Feuerphase des Gottes als diejenige des delphischen Apollon, die der Kosmosphase als die des delphischen Dionysos bildet. Wie ‚Plutarch‘ zuvor die Vertreter der Lehre vom zweiphasigen Gott dunkel als „Theologen“ bezeichnet hatte, so führt er jetzt die Begründer des Kultes als „die Weiseren“ (οἱ σοφώτεροι) ein, die vor „der großen Masse“ den Kern der Lehre der „Theologen“ durch Allegorien „verbergen“ (κρυπτόμενοι δὲ τοὺς πολλούς). Freilich nicht vor ‚Plutarch‘, der seinerseits die Allegorien der „Weiseren“ durchschaut: Die Feuerperiode des Gottes erhielt den Namen Apollon (der „Nicht-Viele“, ἀ-πολλῶν) als Chiffre der stofflichen Einheitlichkeit (μόνωσις) des Feuers, sowie Phoibos („der Lautere“) zur Andeutung der Reinheit und Unvermischtheit des Feuers (τὸ καθαρὸν καὶ ἀμίαντον).295 Der Prozess der Ausdifferenzierung des Gottes in den Kosmos (Luft, Wasser, Erde, Sterne, Lebewesen) wird von den „Weiseren“ als „Zerreißung“ (διασπασμός) und „Zerstückelung“ (διαμελισμός) verrätselt (αἰνίττονται), er selbst in dieser Phase Dionysos, Zagreus, Nyktelios und Isodaites genannt.296 Die festgelegten Übergänge zwischen der Feuer- und der Kosmosphase schließlich werden durch „diesen entsprechende Rätsel und Mythen“ (οἰκεῖα ταῖς εἱμαρμέναις μεταβολαῖς αἰνίγματα καὶ μυθεύματα) umschrieben: Der Übergang vom Feuer zum Kosmos drückt sich in „Erzählungen vom Vergehen und Verschwinden“ (φθοράς τινας καὶ ἀφανισμούς) aus, die Gegenbewegung als solche „von Aufleben und Wiedergeburten“ (ἀναβιώσεις καὶ παλιγγενεσίας).297                                                              ἀδέσποτον ἔχουσα, τὴν δὲ πίστιν ἰσχυρὰν καὶ δυσεξάλειπτον, οὐκ ἐν λόγοις μόνον οὐδ᾿ ἐν φήμαις, ἀλλ᾿ ἔν τε τελεταῖς ἔν τε θυσίαις καὶ βαρβάροις καὶ Ἕλλησι πολλαχοῦ περιφερομένη, ὡς κτλ. 295 De E 9, 388F. Vgl. OBSIEGER (2007) 99 für Verweise auf eben diese Charakterisierung des Urfeuers bei den Stoikern. 296 De E 9, 389A. OBSIEGER (2007) 100 gibt Hinweise auf die stoische Vorstellung vom Vorgang der Diakosmesis. ‚Plutarch‘ spielt hier bei den Namen Dionysos und Zagreus auf die traditionellen Mythen an, deren Erfindung hier den σοφώτεροι unterstellt wird, die von einer Zerstückelung des Dionysos bzw. des mit ihm gleichgesetzten Zagreus reden (vgl. OBSIEGER, 2007, 100f.); der Name Nyktelios leitet sich wohl von den bei Nacht begangenen Dionysosfesten, den Nyktelia, ab, in denen die Zerreißung des Gottes durch die Titanen thematisiert wurde (vgl. OBSIEGER, 2007, 101f.); für den Namen Isodaites fehlt jegliche Nachricht über eine solche Benennung des Dionysos (vgl. OBSIEGER, 2007, 102f.), und es scheint sich hier um eine ad-hoc-Beiziehung dieses Namens wegen seiner etymologischen Attraktivität (gebildet aus ἴσος „gleich“ und δαίω „zerteilen“) zu handeln, vgl. OBSIEGER (2007) 103 „‚Plutarch‘ jedoch deutet den Namen um, wie es ihm passt.“ 297 De E 9, 389A. Die Mythen der σοφώτεροι sind rätselhaft gehaltene Entsprechungen der Theorien der eingangs genannten „Theologen“; da die Darstellung von deren Lehre schon etwas zurückliegt, ruft ‚Plutarch‘ mit der Formulierung „den genannten Wandlungen

7. Die Rede ‚Plutarchs‘

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Auch die von den „Weiseren“ in Delphi gesungenen Kultlieder für Apollon und Dionysos (καὶ ᾄδουσι τῷ μὲν … τῷ δὲ) seien als Allegorien der Charakteristika der beiden göttlichen Phasen zu verstehen: Die Dithyramben für Dionysos seien „voller Leiden und mit einer Art von Irren und Zerstreuung verbundenem Wandel“ (μέλη παθῶν μεστὰ καὶ μεταβολῆς πλάνην τινὰ καὶ διαφόρησιν ἐχούσης); der Paian hingegen werde als eine „geordnete und nüchterne Musik“ (τεταγμένην καὶ σώφρονα μοῦσαν) dem Apollon gesungen (De E 9, 389AB). Die Allegorisierungsbemühung erstrecke sich auch auf die bildliche Darstellung der beiden Phasen als Apollon und Dionysos (De E 9, 389B): „Nie alternd und jung“ (ἀγήρων τε τοῦτον ἀεὶ καὶ νέον) bildeten sie ersteren, letzteren hingegen „von wechselndem Aussehen und vielgestaltig“ (πολυειδῆ καὶ πολύμορφον). Und schließlich assoziierten sie generell mit Apollon „Gleichmaß, Ordnung und reinen Ernst“ (ὁμοιότητα καὶ τάξιν καὶ σπουδὴν ἄκρατον), mit Dionysos „eine gewisse Ungleichmäßigkeit vermischt mit Scherz, Dreistigkeit und Raserei“ (μεμιγμένην τινὰ παιδιᾷ καὶ ὕβρει καὶ μανίᾳ … ἀνωμαλίαν), Vorstellungen, mit denen „die Weiseren“, so ‚Plutarch‘ abschließend mit dem Lob des Experten, „nicht übel das Charakteristische der beiden Phasen“ erfassten (οὐ φαύλως ἑκατέρας μεταβολῆς τὸ οἰκεῖον λαμβάνοντες). In einem letzten Abschnitt erläutert ‚Plutarch‘ schließlich, wie auch die Gliederung des delphischen Festkalenders als eine Allegorese der kosmischen Zyklen begriffen werden müsse: Die eine Phase des Gottes, die von den „Theologen“ als „Sättigung“ (κόρος) bezeichnet werde, sei länger als diejenige, die den Namen „Mangel“ (χρησμοσύνη) trage; die „Weiseren“ berücksichtigten das Zahlenverhältnis zwischen der unterschiedlichen Dauer der Phasen (τὸ κατὰ λόγον τηροῦντες) und sängen entsprechend neun Monate lang den Paian für Apollon, während sie in den drei Wintermonaten den dionysischen Dithyrambos bei den Opfern anstimmten, woraus man ersehen                                                              entsprechend“ (οἰκεῖα ταῖς εἰρημέναις μεταβολαῖς αἰνίγματα κτλ.) jene Lehren wieder ins Gedächtnis. Anders OBSIEGER (2007) 103 „Da τῷ μέν sogleich im folgenden Dionysos aufnimmt, ist klar, daß die εἰρημέναι μεταβολαί nicht Ekpyrosis und Diakosmesis sind, sondern die erwähnten Verwandlungen in Wind, Wasser, Erde etc. innerhalb der Diakosmesis.“ Zwar kann sich OBSIEGER auf De Iside 35, 364F und De esu carn. 1, 7, 996C berufen, wo von ἀναβιώσεις und παλιγγενεσίαι in den Dionysosmythen als Komplemente zu Dionysos’ vorheriger Zerreißung die Rede ist, doch ergibt sich aus dem Gedankengang von ‚Plutarchs‘ Rede klar, dass mit der mythisch-rätselhaften Formulierung von einer „Zerreißung“ und „Zerstückelung“, die als „Vergehen“ und „Verschwinden“ im Sinne einer Auflösung des einheitlichen Feuerzustandes in die verschiedenen Elemente des Kosmos verstanden werden sollen, der Übergang aus der Ekpyrosis in die Diakosmesis, nicht jedoch die Vorgänge innerhalb der Diakosmesis gemeint sind. Den ἀναβιώσεις und παλιγγενεσίαι entspricht vielmehr der Übergang von der Diakosmesis zur Ekpyrosis, der die Umkehrung des mythologisch als „Zerreißung“ ausgedrückten Differenzierungsvorganges hin zur Diakosmesis darstellt.

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III. Hauptgespräch

könne, dass sie die Relation zwischen der Phase der „Ausgestaltung“ (διακόσμησις) und der „Verbrennung“ (ἐκπύρωσις) mit Drei zu Neun ansetzten.298 7.2.4 Die stoische Weltzyklenlehre bei ‚Plutarch‘ und Ammonios Plutarch hat den ingeniösen Beweisgang seiner persona für den Zusammenhang zwischen der Fünf und dem delphischen Kult zweifellos mit der Intention verfasst, als Verfasser von De E apud Delphos zugleich seine eigene intellektuelle Flexibilität zur Schau zu stellen und seine Figur einen Höhepunkt in ihrer genialischen Argumentation erreichen zu lassen. Und doch bleibt die Freude des Lesers an ‚Plutarchs‘ Ausführungen nicht ungetrübt: Ammonios, der das E nicht als Zahl, sondern als Aussage (εἶ, „du bist“) über das Sein als den einzigen Wesenszug Apollons deutet, für das neben Ewigkeit, Ungewordenheit und Unvergänglichkeit auch Unveränderlichkeit konstitutiv ist,299 übt am Ende seiner Rede harsche Kritik an der stoischen Weltzyklenlehre, denn diese impliziere eben jene mit dem Sein des Apollon unvereinbare Veränderlichkeit durch die alternierenden Wechsel, denen der Gott zwischen seiner Feuerphase und seiner Kosmosphase unterworfen ist, sowie durch die Wandlungen seiner selbst innerhalb der Kosmosphase: „Es ist schon ein Frevel, auch nur von Veränderungen und Wandlungen bei ihm zu hören, wenn er sich zusammen mit allem in Feuer entzündet, wie sie behaupten, sich dann aber wieder hier in Erde, Meer, Winde und Lebewesen und die furchtbaren Leidenszustände von Lebewesen und Pflanzen hineinquetscht und ausdehnt.“ Einerseits triebe der Gott unter diesen Bedingungen mit dem Kosmos ein Kinderspiel, wenn er ihn wie eine Sandburg erst baue, dann aber wieder zusammenwerfe;300 andererseits würde er in der                                                             

298 De E 9, 389BC. Mit den μεταβολαί sind an dieser Stelle offenbar die beiden Aggregatzustände des Gottes, also Ekpyrosis und Diakosmesis, gemeint, mit ὁ τῶν περιόδων χρόνος deren jeweilige Dauer, die ἐν ταῖς εἰρημέναις μεταβολαῖς, also in dem jeweiligen Aggregatzustand vorliegt. Dies erhellt aus dem Folgenden, wo ‚Plutarch‘ erklärt ἀλλὰ μείζων ὁ τῆς ἑτέρας ἣν κόρον καλοῦσιν, ὁ δὲ τῆς χρησμοσύνης ἐλάττων: Der χρόνος der einen (sc. μεταβολή), die als „Sättigung“ bezeichnet wird, ist länger, der χρόνος der anderen (sc. μεταβολή), die als „Mangel“ bezeichnet wird, ist kürzer. Dies bestätigt die Ausdrucksweise ‚Plutarchs‘ am Ende des Kapitels: ὅπερ τρία πρὸς ἐννέα, τοῦτο τὴν διακόσμησιν οἰόμενοι χρόνῳ πρὸς τὴν ἐκπύρωσιν εἶναι. Die Zeitdauer der Diakosmesis steht gegenüber derjenigen der Ekpyrosis im Verhältnis drei zu neun. OBSIEGER (2007) 107 missversteht die Stelle offenbar, wenn er erklärt: „Mit den μεταβολαί sind die Umschläge von Ekpyrosis und Diakosmesis und umgekehrt gemeint […], ἐν bedeutet „zwischen“. Die περίοδοι sind die stoischen „Großjahre“, die sich aus Ekpyrosis und Diakosmesis zusammensetzen.“ 299 De E 19, 392E τί οὖν ὄντως ὄν ἐστι; τὸ ἀΐδιον καὶ ἀγένητον καὶ ἄφθαρτον, ᾧ χρόνος μεταβολὴν οὐδὲ εἷς ἐπάγει. 300 De E 21, 393DE ἐκστάσεις δ᾿ αὐτοῦ καὶ μεταβολὰς πῦρ ἀνιέντος ἑαυτὸν ἅμα τοῖς πᾶσιν, ὡς λέγουσιν, αὖθις δὲ καταθλίβοντος ἐνταῦθα κατατείνοντος εἰς γῆν καὶ θάλασσαν καὶ ἀνέμους καὶ ζῷα καὶ τὰ δεινὰ παθήματα [καὶ] ζῴων καὶ φυτῶν οὐδ᾿ ἀκούειν

7. Die Rede ‚Plutarchs‘

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Kosmosphase mit der veränderlichen und schwächlichen Materie in ihrem Werden und Vergehen identisch, gegenüber der Ammonios dem seienden Apollon nur tendenziell stabilisierende Einflüsse zuschreibt, während er den Aspekt der Veränderlichkeit des Kosmos einem „anderen Gott, besser, einem Daimon“ zuordnet, der sowohl aktive wie passive Züge trägt und dem er im Anschluss verschiedene Namen des Hades beilegt.301 Dieser Passus der Ammoniosrede nimmt sich wie eine Replik auf ‚Plutarchs‘ Übertragung der kosmologischen Bedeutung der als heraklitisches Feuerprinzip gedeuteten Fünf auf den delphischen Kult aus, zumal ‚Plutarch‘ reichliche Anleihen bei der stoischen Weltzyklenrede macht: Während bei ‚Plutarch‘ Apollon und Dionysos zwei Namen für dieselbe Gottheit in ihren Phasen als vorkosmisches Feuer und kosmische materielle Differenzierung sind, lehnt Ammonios einerseits die Vorstellung zyklischer Wandlungen des Gottes ab und unterscheidet andererseits den Gott Apollon als transzendent-immaterielle Entität von dem Gott-Daimon Hades, der dem veränderlichen Kosmos zugeordnet ist. Die Forschung hat aus diesem Rückbezug des Ammonios auf die Rede ‚Plutarchs‘ mehrheitlich den Schluss gezogen, der Autor wolle einen Hinweis darauf geben, dass die Ammoniosrede seine eigenen Überzeugungen enthalte, während ‚Plutarch‘ falsche, nämlich stoische theologische Ansichten vertrete.302 Gleichzeitig hat Ammonios’ kritische Würdigung der stoischen Weltzyklenlehre, die ‚Plutarch‘                                                              ὅσιον· ἢ τοῦ ποιητικοῦ παιδὸς ἔσται φαυλότερος, ἣν ἐκεῖνος ἔν τινι ψαμάθῳ συντιθεμένῃ καὶ διαχεομένῃ πάλιν ὑφ᾿ αὑτοῦ παίζει παιδιάν, ταύτῃ περὶ τὰ ὅλα χρώμενος ἀεὶ καὶ τὸν κόσμον οὐκ ὄντα πλάττων εἶτ᾿ ἀπολλύων γενόμενον. Ammonios spielt auf ein homerisches Gleichnis in Il. 15, 360–366 an, in dem die Leichtigkeit, mit der Apollon die achaiische Lagermauer zerstört, mit dem Sandburgenspiel eines Kindes verglichen wird. 301 De E 21, 393EF τοὐναντίον γὰρ ὃ θεῖον ἁμωσγέπως ἐγγέγονε τῷ κόσμῳ, τοῦτο συνδεῖ τὴν οὐσίαν καὶ κρατεῖ τῆς περὶ τὸ σωματικὸν ἀσθενείας ἐπὶ φθορὰν φερομένης. καί μοι δοκεῖ μάλιστα πρὸς τοῦτον τὸν λόγον ἀντιταττόμενον τὸ ῥῆμα καὶ μαρτυρόμενον εἶ φάναι πρὸς τὸν θεόν, ὡς οὐδέποτε γινομένης περὶ αὐτὸν ἐκστάσεως καὶ μεταβολῆς, ἀλλ᾿ ἑτέρῳ τινὶ θεῷ μᾶλλον δὲ δαίμονι τεταγμένῳ περὶ τὴν ἐν φθορὰ καὶ γενέσει φύσιν τοῦτο ποιεῖν καὶ πάσχειν προσῆκον. 302 Vgl. BABUT (1969) 149ff. „A partir de 388 E, cette théorie est mise sur le compte de certains „theologiens“ […] et qui présentent d’indéniables accointances avec les philosophes du Portique. […] Outre la théorie de l’embrasement périodique, on reconnaît dans cette page un autre thème fondamental de la pensée stoïcienne: l’interprétation de la théologie et de la mythologie traditionelles par les dogmes de la physique. L’accord de „Plutarque“ avec le Portique est donc aussi évident, même s’il n’est pas explicitement formulé, que ses divergences avec d’autres textes des Moralia ou des Vies. […] La question se pose donc de savoir quelle valeur nous devons attacher à ce discours: faut-il croire que l’auteur du De E … le prend à son compte, avec les idées stoïciennes qu’il contient, en tout ou en partie? Une réponse très nette nous est apportée par l’intervention finale d’Ammonios, où est concentrée toute la substance philosophique du dialogue, et dans laquelle Plutarque a voulu, de toute évidence, faire passer son point de vue propre. Or, Ammonios ne se contente pas d’écarter d’une phrase définitive les interprétations proposées jusque-là

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III. Hauptgespräch

vertreten hatte, komplizierte Fragen für das Verständnis des Werkes aufgeworfen. Wieso lässt der Autor diejenige Dialogperson, die seinen Namen trägt, Theorien verwenden, die der Autor dann durch einen späteren Sprecher so hart attackieren lässt, und warum ist es gerade die stoische Weltzyklenlehre, die zu kritisieren Plutarch in seinen sonstigen Werken, wenn auch unter anderen Aspekten, keine Gelegenheit auslässt?303 Die Sachlage wird noch dadurch verkompliziert, dass ‚Plutarch‘ keineswegs als Stoiker, sondern als Mathematikenthusiast auftritt,304 mithin Ammonios’ Kritik tat                                                             par les „jeunes gens“ – c’est-à-dire, en particulier, par Théon et Plutarque – il revient spécialement sur certaines des idées exprimées par le second, pour ne laisser subsister aucune équivoque. […] Ainsi, non seulement Ammonios ne reprend pas à son compte les spéculations du jeune Plutarque, mais il nous révèle que la véritable solution du problème est directement contraire à ces spéculations, autrement dit que „Plutarque“ tiendrait dans le dialogue un rôle différent de celui des autres jeunes gens, celui du contradicteur dont l’erreur a pour effet de faire apparaître, par contraste, ce que l’auteur tient pour la vérité.“ BABUT (1992) 199 „Quand Ammonios entreprend à son tour d’exposer son interprétation de l’E, qui est, pour lui, l’équivalent de εἶ, „tu es“, et signifie que le dieu est le seul à détenir la véritable existence, il condamne tout particulièrement l’erreur de ceux qui croient à des „transformations de l’être divin“, tantôt identique au feu de l’embrasement universel, tantôt confondu avec les diverses parties du monde (393 D 11–E 11). Or, cette condamnation de la théorie stoïcienne de l’embrasement universel (ἐκπύρωσις) s’applique directement à un passage du discours de Plutarque, qui y avait recouru pour rendre compte de l’alternance des cultes d’Apollon et de Dionysos à Delphes (388 E 7–389 C 9). Ainsi, non seulement le discours de Plutarque n’apporte pas la bonne réponse au problème de l’E, mais il s’oppose même, sur un point capital, aux vues que développera le personnage principal du dialogue, porte-parole de l’auteur.“ Vgl. auch FERRARI (1995) 44. 303 Vgl. Plutarchs Kritik an den „sterblichen Göttern“, die in der Ekpyrosis im Feuer des unsterblichen Zeus verbrennen, De Stoic. repugn. 38, 1051E–1052B und De comm. not. 31, 1074E–1075D. De def. or. 29, 426B kritisiert Lamprias die Stoiker, die die Götter mit Zuständen der Materie wie Luft, Wasser und Feuer gleichsetzen, die zugleich mit dem Kosmos (im Prozess der Diakosmesis) geboren würden und wieder (im Vorgang der Ekpyrosis) verbrennten. 304 Vgl. FERRARI (1995) 44 „È difficile stabilire per quale ragione Plutarco abbia inserito all’interno di un contesto aritmologico e di mistica del numero 5 delle affermazioni di sapore stoico.“ Eine echte Anhängerschaft des historischen Plutarch an die Stoa in dessen Jugend ist auszuschließen und steht im Widerspruch zum Gesamtgehalt der Rede, vgl. BABUT (1969) 152f. „A la première question, on peut être tenté de répondre que Plutarque a prêté à son propre personnage les idées qui avaient effectivement été les siennes pendant sa jeunesse. Le De E … témoignerait alors de l’influence du stoïcisme sur notre auteur pendant la période de sa formation philosophique. Mais, outre que cette explication serait totalement isolée et privée d’appui extérieur, et qu’elle se trouve même en contradiction avec les résultats auxquels on est déjà parvenu ci-dessus, elle est infirmée par le texte même du dialogue. Car on ne peut prétendre que l’ensemble du discours de „Plutarque“ soit stoïcien, ni que ce personnage y apparaisse comme un adepte de la philosophie du Portique. Non seulement, en effet, à côté des passages stoïcisants, on trouve des références à d’autres philosophes, mais c’est Platon qui est cité le plus souvent, et c’est sous son

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sächlich nur ein stoisches Detail seiner Rede betrifft, dessen Inhalt allerdings im letzten Kapitel von De E apud Delphos zu derjenigen Theorie erklärt wird, deren Zurückweisung nach Ammonios’ Urteil den Hauptgrund seiner Überzeugung von der Richtigkeit seiner These darstellt, das E sei als die Anrede des Gottes mit „du bist“ zu erklären.305 Schließlich mutete es auch vor dem Hintergrund von Ammonios’ äußerst wohlwollendem Kommentar zu den Ausführungen ‚Plutarchs‘ zu Beginn seiner Rede seltsam bigott an, wenn Ammonios am Ende seiner Rede unvermittelt schärfste Kritik bis hin zum Blasphemievorwurf (οὐδ᾿ ἀκούειν ὅσιον) gegenüber seinem Vorredner äußerte. Betrachtet man Ammonios’ Kritik an der stoischen Theologie in ihrem Kontext, so verwirrt sich das Bild noch zusätzlich: Trotz der nachgerade wörtlichen Wiederaufnahme von Gedanken, die allein ‚Plutarch‘ im Gespräch von De E apud Delphos geäußert hatte, wendet sich Ammonios ausdrücklich nicht an ‚Plutarch‘ persönlich, sondern an eine Gruppe von Menschen, die er als „diejenigen, die der Ansicht sind, Apollon und die Sonne seien identisch“ bezeichnet; er lobt sie für ihre Gleichsetzung des Höchsten, das sie kennen, mit Apollon, wenngleich er hofft, sie möchten zu einer transzendenten Auffassung vom Wesen des Gottes gelangen. Während Ammonios mithin die Identifikation Apollons mit der Sonne durch die erwähnte Gruppe, wenn auch als entwicklungsbedürftig, anerkennt, so kritisiert er die Weltzyklenlehre dezidiert als eine Ansicht derselben Gruppe.306 Da ‚Plutarch‘ nirgends in seiner Rede als Vertreter einer Identifikation von Apollon und Sonne aufgetreten war, kann sich Ammonios’ Kritik streng genommen nicht primär auf seine Rede beziehen. Da Ammonios darüber hinaus seine Gesprächspartner aufruft, mit ihm gemeinsam bei der erwähnten Gruppe auf deren Aufstieg zur Erkenntnis des transzendenten Seins Apollons hinzuwirken, ergäbe sich eine völlig paradoxe Situation, wenn ‚Plutarch‘ bei sich selbst bezüglich einer defizitären Ansicht Aufklärungsarbeit leisten sollte, die er überhaupt nicht vertreten hatte. Will man Ammonios’ Rückbezug auf die Rede ‚Plutarchs‘ einigermaßen plausibel erklären, so muss man ihn allein auf die Erwähnung des inkriminierten Theorems im Zuge seiner Instrumentalisierung der stoischen Weltzyklenlehre für die eigene Argumentation zugunsten eines Bezuges der Fünf zum Kult Apollons in Delphi beschränken. Die oben formulierte Frage, mit                                                              patronage que se range expressément l’auteur du discours quand il déclare: „Le plus important me reste à dire, mais je crains, en le faisant, d’accabler notre Platon … .““ [Hervorhebung im Original]. 305 De E 21, 393EF, zitiert oben, S. 195, Anm. 301. 306 De E 21, 393C–E τοὺς δ᾿ Ἀπόλλωνα καὶ ἥλιον ἡγουμένους τὸν αὐτὸν ἀσπάζεσθαι μὲν ἄξιόν ἐστι καὶ φιλεῖν δι᾿ εὐφυΐαν … ἐκστάσεις δ᾿ αὐτοῦ καὶ μεταβολὰς … ὡς λέγουσιν … οὐδ᾿ ἀκούειν ὅσιον.

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III. Hauptgespräch

welcher Intention der Autor es seinem jüngeren Ich gestattet, eine sonst von ihm abgelehnte kosmologische Theorie reichlich ingeniös in seine Argumentation zugunsten der Plausibilität einer Weihung der Fünf an Apollon einzubauen, findet ihre plausibelste Antwort wohl im allgemeinen Charakter der mehrperspektivischen Diskussion in De E apud Delphos. Plutarch hatte bereits in der Rede des Theon keine Berührungsängste mit der Stoa gezeigt, als es galt, für die mögliche Bedeutung des E als εἰ im Sinne der Konjunktion „wenn“ eine möglichst plausible Argumentation zu entwerfen. Wenn sich nun in der Rede ‚Plutarchs‘ unter vielen Bezügen auf andere philosophische Schulen, zumal die Lehre Platons, auch stoische Theoreme finden, so scheint die Integration derselben in die Argumentation ‚Plutarchs‘ ebenfalls vor allem das Bestreben des Autors abzubilden, möglichst geistreich für die in dieser Rede vertretene These Partei zu ergreifen. Die stoische Theorie der Weltzyklenlehre mit ihrem Gott in zwei Aggregatzuständen bietet dem Autor darüber hinaus eine, wenn nicht die Gelegenheit, seiner zumal in De Iside et Osiride mit aller denkbaren Detailversessenheit gepflegten Leidenschaft nachzugeben, einen gemeinsamen philosophischen Sinn hinter den unterschiedlichen Realien eines Götterkultes, seiner Riten, Kultbilder und Mythen, aufzuzeigen. Es wird sich bei der Interpretation der Ammoniosrede zeigen lassen, dass der Autor sich auch dort nicht gescheut hat, für eine Argumentation zugunsten von radikalisierten platonischen Thesen eine stoische Theorie der Zeit zu instrumentalisieren, die er andernorts sogar mit Vehemenz bekämpft. Wenn freilich in der Ammoniosrede der argumentative Zweck offenbar auch ein solches philosophisches Mittel heiligt, so hat Plutarch es wohl auch ‚Plutarch‘ zugestanden, die stoische Weltzyklenlehre für die eigenen rhetorischen Zwecke heranzuziehen.307 Es ist allerdings fraglich, ob die Kritik, die der Autor Ammonios an der Weltzyklenlehre üben lässt, überhaupt primär als Richtigstellung von ‚Plutarchs‘ Thesen konzipiert ist. Die Untersuchung der Ammoniosrede wird zeigen, dass Ammonios’ Ablehnung von stoischen Theorien nur ein Phänomen der Textoberfläche ist, unter der sich eine äußerst artifizielle Platonadaption verbirgt, deren Durchführung das wesentliche Movens von Ammonios’ gesamter Argumentation und im besonderen seiner vermeintlichen Stoikerkritik darstellt.

                                                             307

Da sich ‚Plutarch‘ nach OBSIEGER (2007) 96 auch einige Freiheiten in der Darstellung der stoischen Theoreme nimmt, ist seiner ibid., 96f. geäußerten Einschätzung, „[…] daß er [sc. ‚Plutarch‘, Anm. d. Verf.] die nach seiner eigenen Darstellung kühne Lehre der Stoiker nur ad hoc übernimmt, weil er sie zur Deutung des Epsilons als Ziffer Fünf in Delphi ausnutzen kann“ gewiss gerechtfertigt. OPSOMER (2006) 161 hat diese Passage in der Rede ‚Plutarchs‘ als „parenthèse stoïcisante“ bezeichnet.

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7.2.5 Apollon und die Musik Mit dem zehnten Kapitel von De E apud Delphos beginnt der zweite Teil der Rede ‚Plutarchs‘, in dem die Demonstration der ubiquitären Präsenz der Zahl in den unterschiedlichsten Fachgebieten von Philosophie und Naturwissenschaft in den Vordergrund tritt. An die Ausführungen über den delphischen Kult und die Attribute von Apollon und Dionysos schließt ‚Plutarch‘ den Nachweis einer besonderen Rolle der Fünf in der von Apollon geliebten Musik an. Dass der Autor sein jüngeres Ich in dieser assoziativen Weise in den zweiten Teil seiner Rede übergehen lässt, hat dabei einen guten redetaktischen Grund, denn so kann der Redner seinem Publikum und der Autor seinem Leser suggerieren, dass auch alle weiteren Ausführungen über die Besonderheiten der Fünf ein ähnlich enges Verhältnis des Gottes zu dieser Zahl beweisen werden, wie es der zahlenspekulative Anfangsteil getan hatte, dessen Höhepunkt der Nachweis des Zusammenhangs zwischen der Fünf und dem delphischen Kult bildete. Diese rhetorische Strategie erlaubt es ‚Plutarch‘, im weiteren Verlauf seiner Ausführungen auch solche Pentaden zum Beweis der Bedeutung des delphischen E als der Fünf zu präsentieren, die keinerlei sachlichen Bezug zu Apollon haben; der Autor verwischt diesen Umstand geschickt dadurch, dass er ‚Plutarch‘ jeden Übergang zu einem weiteren von der Fünf dominierten Gegenstandsbereich durch Überleitungsworte markieren lässt, die dazu dienen, die Aufmerksamkeit von Hörern wie Lesern zu binden und die suggestive Kraft des Spannungsbogens nicht erlahmen lassen. Dies wird sogleich bei ‚Plutarchs‘ Übergang zur Behandlung der Bedeutung der Fünf in der Musik offenbar: Da in den Augen des Redners der Nachweis einer klaren Verbindung zwischen Apollon und der Fünf durch den ersten Teil seiner Ausführungen erbracht ist, kann er durch eine an die Hörer gerichtete rhetorische Frage nunmehr die Bedeutung der Fünf in Apollons Spezialgebiet, der Musik, als Selbstverständlichkeit formulieren: „Und glauben wir etwa nicht, dass diese Zahl mit der von Apollon so überaus geliebten Musik in Verbindung steht?“308 Im Folgenden bringt ‚Plutarch‘ durch die Aufzählung einer Reihe von Pentaden in unterschiedlichen musiktheoretischen Kategorien den Nachweis, dass man dem musikliebenden Gott begründetermaßen eine Fünf in Gestalt eines E weihen kann: Eine Betrachtung der Konsonanzen, die den „nachgerade bedeutendsten Arbeitsbereich der Harmonielehre“ ausmache, welche sich gegenüber der Empirie wissenschaftlich exakterer theoretisch-mathematischer Methoden bediene,

                                                            

De E 10, 389D τῆς δὲ δὴ μάλιστα κεχαρισμένης τῷ θεῷ μουσικῆς οὐκ οἰόμεθα τούτῳ τῷ ἀριθμῷ μετεῖναι; 308

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III. Hauptgespräch

ergebe, dass deren Anzahl die Fünf nicht überschreite;309 ferner gebe es exakt fünf Höhenstufen der Tetrachorde und fünf Grundtonarten, aus denen die übrigen Tonarten durch Spannung bzw. Lockerung der Saiten abgeleitet würden,310 sowie fünf speziell in der Zusammensetzung der Tetrachorde praktisch gebrauchte Intervalle. Die musikwissenschaftlichen Ausführungen ‚Plutarchs‘ lassen sich als besonders kunstvolle Überblendung dreier Aspekte begreifen, die die gesamte Rede auszeichnen: Die Ethopoiie der persona des jungen ‚Plutarch‘ als eines begeisterten Mathematikers, die Fokussierung des Redners auf sein Argumentationsziel und die dem Autor eigenen Fachinteressen ergänzen sich gegenseitig. Zu Beginn des Abschnittes verficht ‚Plutarch‘ die Ausgangsthese, eine theoretische Untersuchung der Konsonanzen (συμφωνίαι), die davon ausgehe, dass diese aus Zahlenverhältnissen bestünden,311 erweise deren Fünfzahl, wohingegen die sich auf empirische Beobachtungen stützende Behauptung, es existierten deren sechs, als falsch einzustufen sei; nach dem richtigen Kriterium sind entsprechend nur Quarte (4:3), Quinte (3:2), Oktave (2:1), Duodezime (3:1) und Doppeloktave (4:1) als Konsonanzen zu werten, hingegen nicht die von den Empirikern noch eingerechnete Undezime (8:3), denn sie „überschreitet das Maß“ (ἔξω μέτρου βαίνουσαν) und beweist, dass die Vertreter dieser These sich vernunftwidrig (παρὰ τὸν λόγον) ganz und gar der vernunftlosen Sinneswahrnehmung des Gehörs unterwerfen.312 Der Autor stellt ‚Plutarch‘ auf die Seite des pythagoreisch-mathematischen Zweiges der antiken Musiktheorie und lässt ihn gegen die Partei der Empiriker (ἁρμονικοί) polemisieren: Als pythagoreisch charakterisierter Mathematiker erkennt ‚Plutarch‘ nur solche Konsonanzen an, die aus Zahlenverhältnissen innerhalb der Tetraktys (1, 2, 3, 4) gebildet sind,313 untermauert dadurch seine These von nur fünf Konsonanzen und kondensiert damit Plutarchs in De animae procreatione in Timaeo geäußerte Ansicht über                                                             

De E 10, 389D τὸ γὰρ πλεῖστον ὡς ἔπος εἰπεῖν ἔργον ἁρμονικῆς περὶ τὰς συμφωνίας ἐστίν, αὗται δ᾿ ὅτι πέντε καὶ οὐ πλείους, ὁ λόγος ἐξελέγχει τὸν ἐν χορδαῖς καὶ τρυπήμασι ταῦτα θηρᾶν ἀλόγως τῇ αἰσθήσει βουλόμενον. 310 De E 10, 389E … πέντε τετραχόρδων θέσεις καὶ πέντε τοὺς πρώτους εἴτε τόνους ἢ τρόπους εἴθ᾿ ἁρμονίας χρὴ καλεῖν, ὧν ἐπιτάσει καὶ ὑφέσει τρεπομένων κατὰ τὸ μᾶλλον καὶ ἧττον αἱ λοιπαὶ βαρύτητές εἰσι καὶ ὀξύτητες. Zu den fünf Tetrachorden vgl. De an. procr. 32, 1029A τὸ εʹ τετραχόρδων ὄντων τῶν ὑπάτων καὶ μέσων καὶ συνημμένων καὶ διεζευγμένων καὶ ὑπερβολαίων κτλ. Zum musiktheoretischen Hintergrund vgl. OBSIEGER (2007) 119–123. 311 De E 10, 389D πᾶσαι γὰρ [sc. αἱ συμφωνίαι] ἐν λόγοις τὴν γένεσιν ἀριθμῶν λαμβάνουσιν. 312 De E 10, 389DE ἣν δὲ ταύταις ἐπεισάγουσιν οἱ ἁρμονικοὶ διὰ πασῶν καὶ διὰ τεσσάρων, οὐκ ἄξιόν ἐστι δέχεσθαι τῆς ἀκοῆς τῷ ἀλόγῳ παρὰ τὸν λόγον ὥσπερ νόμῳ χαριζομένους. 313 Vgl. OBSIEGER (2007) 117f. mit Hinweisen auf antike Musiktheoretiker. 309

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diejenigen Zahlenverhältnisse, die als Konsonanzen gelten können.314 Die Polemik gegen die Empiriker, die als Kriterium für die Konsonanzen das Gehör und nicht die mathematischen Zahlenverhältnisse ansetzen, scheint ebenfalls die Vorlieben des Autors wiederzugeben, denn dieser zählt die Undezime nirgends zu den Konsonanzen315 und stellt sich in De animae procreatione in Timaeo zweimal dezidiert auf die Seite der μαθηματικοί gegenüber den ἁρμονικοί.                                                             

314 Diese lässt sich aus Plutarchs ausführlicher Interpretation von Plat. Tim. 35b4–36b5, der Darstellung der harmonischen Zahlenverhältnisse in der Weltseele, im zweiten Teil von De an. procr. gewinnen. De an. procr. 12, 1018AB erwähnt Plutarch die Konsonanzen (συμφωνίαι), die sich aus den Verhältnissen der Elemente der geraden Zahlenreihe 2–4–8 und der ungeraden Zahlenreihe 3–9–27 ergeben: Quarte, Quinte, Oktave; auch aus anderen Kombinationen dieser Zahlen lassen sich, wie Plutarch in De an. procr. 13, 1018D bemerkt, die Konsonanzen Quarte, Quinte und Oktave herstellen. Den Aufweis der Besonderheit des letzten Elementes der ungeraden Zahlenreihe, der 27, beschließt Plutarch in De an. procr. 14, 1018EF mit dem Hinweis, sie sei gleich mit der Summe der restlichen Elemente beider Zahlenreihen (die 1 wird als sowohl zur geraden wie zur ungeraden Zahlenreihe angehörig nur einmal mitgezählt, vgl. dazu oben, S. 182, Anm. 267), d.h. 1+2+ 4+8+3+9=27, welche untereinander wieder Konsonanzen bilden: Oktave (2:1), Quinte (3:2), Quarte (4:3), Duodezime (9:3=3:1), Doppeloktave (8:2=4:1). Auf einen weiteren Konsonanzenkatalog, dem die theoretischen Grundlagen des Kataloges in De E 10, 389D zugrundeliegen, gelangt Plutarch schließlich De an. procr. 14, 1018F–1019B: Wird die 1, da sie sowohl zur geraden wie zur ungeraden Zahlenreihe zu zählen ist, jeweils zu den Elementen der beiden Zahlenreihen addiert, so ergibt sich als Summe der geraden Zahlenreihe 15 (=1+2+4+8), als Summe der ungeraden Zahlenreihe 40 (= 1+3+ 9+27), die zusammen 55 ergeben, eine Summe, die wiederum der Summe der Elemente der 10 (1+2+3+4+5+ 6+7+8+9+10) entspricht. Der Summe der ungeraden, um die 1 erweiterten Zahlenreihe (40) entspricht wiederum die Zahl, die sich ergibt, wenn der Reihe nach die Elemente der Tetraktys (1, 2, 3, 4) mit ihrer Anzahl 4 multipliziert und die vier entstandenen Produkte miteinander addiert werden (4+8+12+16=40). Zwischen diesen Produkten entstehen wieder die Konsonanzen Quarte (16:12=4:3), Quinte (12:8=3:2), Oktave (16:8=2:1) und Doppeloktave (16:4=4:1). 315 Vgl. OBSIEGER (2007) 118 „Die Ablehnung der Undezime paßt zur pythagoreischen Haltung ‚Plutarchs‘ im allgemeinen und zum Nachweis der Bedeutung der Fünf im besonderen. Aber auch der historische Plutarch scheint die Undezime nicht zu den Konsonanzen gezählt zu haben […].“ OBSIEGER stützt sich auf die einschlägigen Passagen aus De animae procreatione in Timaeo, vgl. die vorausgehende Anm. Dass Plutarch in De an. procr. zweimal im Zusammenhang mit den Konsonanzen auch den Tonos, die große Sekunde (9:8) nennt, widerspricht der Beschränkung der Konsonanzen in De E apud Delphos auf fünf nicht, im Gegenteil: An beiden Stellen wird das Verhältnis 9:8 nicht zu den eigentlichen Konsonanzen gerechnet und auch nicht als Konsonanz bezeichnet, sondern im ersten Fall nur zusätzlich als λόγος erwähnt (De an. procr. 12, 1018B ἔνεστι δὲ καὶ ὁ τοῦ τόνου λόγος ἐπόγδοος ὢν ἐν τοῖς ἐννέα καὶ ὀκτώ), an der zweiten Stelle ebenfalls nur zusätzlich als λόγος genannt und zu den Intervallen, nicht zu den Konsonanzen gerechnet (De an. procr. 14, 1018F ἔνεστι δὲ καὶ ἐπόγδοος ὁ πρὸς τὰ ὀκτὼ τῶν ἐννέα ἐν ᾧ τὸ τονιαῖον [sc. διάστημα]). Für den Ausschluss des Tonos (9:8) aus dem Katalog der Konsonanzen liefert Plutarch zwei Begründungen: Der Tonos gehört nach pythagoreischer Lehre zu den

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III. Hauptgespräch

Im Zusammenhang von Platons Aussage im Timaios, der Demiurg habe bei der harmonischen Mischung der Weltseele die Intervalle 4:3 (Quarten) mit den Intervallen 9:8 aufgefüllt, dabei aber ein Teil übriggelassen, das dem Zahlenverhältnis 256:243 entspreche,316 diskutiert Plutarch die Frage, was Platon hier mit diesem sogenannten λεῖμμα meine, und kontrastiert die Ansichten der ἁρμονικοί und der Πυθαγορικοί. Erstere sind der Ansicht, es handle sich bei dem übriggelassenen Teil um einen genau in der Mitte in zwei Halbtöne (Hemitonia) geteilten Ganzton (Tonos); letztere hingegen vertreten die Position, dass der Tonos nur in zwei ungleiche Teile geteilt werden könne, wovon der kleinere als λεῖμμα zu bezeichnen sei, da er einen Fehlbetrag gegenüber der exakten Hälfte aufweise. Die Konsonanz der Quarte setze sich entsprechend bei den Harmonikern aus zwei Tonoi und einem Hemitonion, bei den Pythagoreern aber aus zwei Tonoi und einem λεῖμμα zusammen.317 Als Begründung für ihre Positionen stützen sich die Harmoniker auf die Sinneswahrnehmung, die mathematisch vorgehenden Pythagoreer auf den logischen Beweis.318 Plutarch berichtet nun, dass die Harmoniker durch Experimente an Musikinstrumenten (ἐλήφθη διὰ τῶν ὀργάνων θεωρηθέν), nämlich der Betrachtung unterschiedlicher Saiten- und Flötenlängen (χορδαί, αὐλοί), das Intervall von 9:8 als den Tonos319 be                                                            

melodischen Intervallen, die durch Töne gebildet werden (De an. procr. 14, 1018E καὶ τῶν ἐμμελῶν διαστημάτων οἱ Πυθαγορικοὶ τὸν τόνον ἐν τούτῳ τῷ ἀριθμῷ τάττουσι) und erfüllt damit genau das Kriterium nicht, das eine Konsonanz ausmacht, vgl. OBSIEGER (2007) 114: „Daß der Wohlklang beim gleichzeitigen Anschlagen das Distinktiv der Konsonanzen ist […], zeigt besonders deutlich De an. procr. 17. 1021 B, wo gesagt wird, die Konsonanzen klängen sowohl angenehm, wenn die Töne zusammen, als auch wenn sie abwechselnd angeschlagen würden, während die ἐμμελῆ διαστήματα nur abwechselnd angeschlagen angenehm klängen: διάστημα τονιαῖον, οὐ σύμφωνον ἀλλ᾿ ἐμμελὲς ὡς εἰπεῖν ἔμβραχυ, τῷ τοὺς φθόγγους, ἂν ἀνὰ μέρος κρουσθῶσι, παρέχειν ἡδὺ φωνοῦντας καὶ προσηνές, ἂν δ᾿ ὁμοῦ, τραχὺ καὶ λυπηρόν· ἐν δὲ ταῖς συμφωνίαις κἂν ὁμοῦ κρούωνται κἂν ἐναλλάξ, ἡδέως προσίεται τὴν συνήχησιν ἡ αἴσθησις.“ 316 Plat. Tim. 36a6–b5 (vgl. De an. procr. 16, 1020AB) ἡμιολίων δὲ διαστάσεων καὶ ἐπιτρίτων καὶ ἐπογδόων γενομένων ἐκ τούτων τῶν δεσμῶν ἐν ταῖς πρόσθεν διαστάσεσιν, τῷ τοῦ ἐπογδόου διαστήματι τὰ ἐπίτριτα πάντα συνεπληροῦτο, λείπων αὐτῶν ἑκάστου μόριον, τῆς τοῦ μορίου ταύτης διαστάσεως λειφθείσης ἀριθμοῦ πρὸς ἀριθμὸν ἐχούσης τοὺς ὅρους ἓξ καὶ πεντήκοντα καὶ διακοσίων πρὸς τρία καὶ τετταράκοντα καὶ διακόσια. 317 De an. procr. 17, 1020EF τῶν δὲ διαστημάτων ἓν ὁ καλούμενος τόνος, ᾧ τὸ διὰ πέντε μεῖζόν ἐστι τοῦ διὰ τεσσάρων. τοῦτον οἱ μὲν ἁρμονικοὶ δίχα τεμνόμενον οἴονται δύο διαστήματα ποιεῖν, ὧν ἑκάτερον ἡμιτόνιον καλοῦσιν· οἱ δὲ Πυθαγορικοὶ τὴν μὲν εἰς ἴσα τομὴν ἀπέγνωσαν αὐτοῦ, τῶν δὲ τμημάτων ἀνίσων ὄντων λεῖμμα τὸ ἔλαττον ὀνομάζουσιν, ὅτι τοῦ ἡμίσεος ἀπολείπει. διὸ καὶ τῶν συμφωνιῶν τὴν διὰ τεσσάρων οἱ μὲν δυεῖν τόνων καὶ ἡμιτονίου ποιοῦσιν οἱ δὲ δυεῖν καὶ λείμματος. 318 De an. procr. 17, 1020F μαρτυρεῖν δὲ δοκεῖ τοῖς μὲν ἁρμονικοῖς ἡ αἴσθησις τοῖς δὲ μαθηματικοῖς ἡ ἀπόδειξις κτλ. 319 Vgl. De an. procr. 17, 1020F–1021B.

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stimmten, und prüft dann, ob dieser Tonos in zwei gleiche Hälften, Hemitonia, wie die Harmoniker behaupten, oder in zwei ungleiche Teile, einen größeren und einen kleineren, das λεῖμμα der Pythagoreer, geteilt werde. Er kommt zu dem Ergebnis, dass 9:8 sich in einen größeren (18:17) und einen kleineren Teil (17:16) teilen lasse, und resümiert: „Das Verhältnis 9:8 wird also in ungleiche Teile geteilt; wenn dem aber so ist, auch der Tonos. Keiner der beiden Teile ergibt also bei seiner Teilung ein Hemitonion, vielmehr wird es zurecht von den Mathematikern als λεῖμμα bezeichnet.“320 Mit ihrer Ansicht, die Quarte bestehe mithin nicht aus zwei Tonoi und einem Hemitonion (Position der Harmoniker), sondern aus zwei Tonoi und einem λεῖμμα, erklärten die Mathematiker die in Frage stehende Passage in Platons Timaios: Die Quarten, die der Demiurg nach Platon mit Verhältnissen von 9:8 und einem weiteren Teil auffülle, werden zwischen den beiden Zahlen 192 und 256 gebildet; wird 192 um 9/8 erhöht, ergibt sich 216, wird 216 wiederum um 9/8 erhöht, ergibt sich 243, so dass sich eine jeweilige Erhöhung eines Wertes um einen Tonos ergibt. Die Differenz zwischen der 243 und der 256 hingegen sei kein Hemitonion im Sinne der Harmoniker, sondern entspreche dem λεῖμμα, dem Verhältnis 256:243.321 Somit erweist Plutarch implizit, dass die experimentell begründete Quartentheorie der Harmoniker (zwei Tonoi und ein Hemitonion) der auf mathematischem Wege gewonnenen der Pythagoreer (zwei Tonoi und ein λεῖμμα) bei der Erklärung der von Platon beschriebenen harmonischen Ordnung der Weltseele unterlegen ist.322 Eine noch deutlichere Kritik an den Harmonikern, die sich nur auf die Sinneswahrnehmung stützen und darüber die theoretischen Grundlagen musikalischer Zahlenverhältnisse vernachlässigen, hat Plutarch am Ende von De animae procreatione in Timaeo im Zusammenhang einer grundsätzlichen Bestimmung des Verhältnisses zwischen der unkörperlich-mathematischen Harmonie der Seele und deren Übertragung auf geordnete körperliche Strukturen der Welt, zumal die der Himmelskörper, geäußert. Im Rahmen einer Kritik derjenigen, die den Endzweck der demiurgischen Ordnung der Seele in deren Anpassung an die Gestirnsläufe sehen, mithin der körper-

                                                            

320 De an. procr. 18, 1021D εἰς ἄνισα τοίνυν τέμνεται τὸ ἐπόγδοον· εἰ δὲ τοῦτο, καὶ ὁ τόνος. οὐδέτερον ἄρα γίγνεται διαιρεθέντος αὐτοῦ τῶν τμημάτων ἡμιτόνιον, ἀλλ᾿ ὀρθῶς ὑπὸ τῶν μαθηματικῶν λεῖμμα προσηγόρευται. 321 Vgl. De an. procr. 18, 1021E–1022A. 322 Vgl. das Fazit, das Plutarch nach der Schilderung einer alternativen Berechnung der aufgefüllten Quarte, die ebenfalls auf ein λεῖμμα von 256:243 führt, in De an. procr. 19, 1022B zieht: διὸ δυεῖν τόνων καὶ λείμματος, οὐ δυεῖν καὶ ἡμίσεος, εὕρηται τὸ διὰ τεσσάρων.

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III. Hauptgespräch

lichen Manifestation der kosmischen Ordnung den Vorrang vor deren theoretisch-abstrakten Grundlagen geben,323 stellt Plutarch grundsätzlich fest, dass umgekehrt die harmonisch geordnete Seele ursächlich für die harmonische Ordnung der Körper sei.324 Die Ordnung der Körperwelt spiegle zwar die theoretische Ordnung der Seele, so dass Plutarch Zenons von Kition Aufforderung an seine Schüler begrüßt, bei Flötenkonzerten auf den Ton achtzugeben, der durch Materialien wie Horn, Holz, Rohr und Knochen, die Anteil an Verhältnis und Konsonanz haben, produziert werde, da sich in diesem Ton die theoretische Ordnung der Seele sinnlich wahrnehmbar manifestiere;325 es sei jedoch lächerlich, wenn man Quinten-, Quarten- und Oktavenverhältnisse „im Steg, dem Resonanzkörper und den Wirbeln der Lyra“ suche, in Bauteilen, die zwar nach symmetrischen Maßen hergestellt werden müssten, man die Harmonie jedoch in den produzierten Tönen betrachten müsse.326 So bezieht Plutarch auch hier klar gegen die Harmoniker Stellung, die der Bestimmung von harmonischen Verhältnissen durch praktisches Experiment den Vorzug vor der theoretischen Berechnung derselben geben. Wenn ‚Plutarch‘ also seinen Aufweis der Pentaden in der Musik mit der theoretisch-mathematischen Begründung der Konsonanzen eröffnet, um dann zu den musikalischen Pentaden in der praktischen Musik überzugehen, entspricht dies durchweg der Position des Autors aus De animae procreatione in Timaeo, der die theoretisch-mathematische Grundordnung der Seele als ursächlich für die Harmonien in der praktischen Musikausübung bestimmt. In einer Präteritio nennt ‚Plutarch‘ entsprechend zunächst als

                                                            

323 De an. procr. 31, 1028AB καίτοι τινὲς μὲν ἐν τοῖς τάχεσι τῶν πλανωμένων σφαιρῶν τινὲς δὲ μᾶλλον ἐν τοῖς ἀποστήμασιν ἔνιοι δ᾿ ἐν τοῖς μεγέθεσι τῶν ἀστέρων, οἱ δ᾿ ἄγαν ἀκριβοῦν δοκοῦντες ἐν ταῖς τῶν ἐπικύκλων διαμέτροις ζητοῦσι τὰς εἰρημένας ἀναλογίας, ὡς τὴν ψυχὴν ἕνεκα τούτων τοῦ δημιουργοῦ τοῖς οὐρανίοις ἐναρμόσαντος, εἰς ἑπτὰ μοίρας νενεμημένην. 324 De an. procr. 33, 1029DE σκοπεῖτε δὲ μὴ τὸν μὲν οὐρανὸν ἄγει καὶ τὰ οὐράνια ταῖς περὶ αὐτὴν ἐμμελείαις καὶ κινήσεσιν ἡ ψυχὴ φρονιμωτάτη καὶ δικαιοτάτη γεγονυῖα· γέγονε δὲ τοιαύτη τοῖς καθ᾿ ἁρμονίαν λόγοις, ὧν εἰκόνες μὲν ὑπάρχουσιν εἰς τὰ ἀσώματα ἐν τοῖς ὁρατοῖς καὶ ὁρωμένοις μέρεσι τοῦ κόσμου καὶ σώμασιν· ἡ δὲ πρώτη καὶ κυριωτάτη δύναμις ἀοράτως ἐγκέκραται τῇ ψυχῇ καὶ παρέχει σύμφωνον ἑαυτῇ καὶ πειθήνιον, ἀεὶ τῷ κρατίστῳ καὶ θειοτάτῳ μέρει τῶν ἄλλων ἁπάντων ὁμονοούντων. 325 De an. procr. 33, 1029F ᾗ [sc. weil die Ordnung der Seele für die geordnete Struktur der Körperwelt verantwortlich ist] καὶ Ζήνων ὁ Κιτιεὺς (frg. 299) ἐπὶ θέαν αὐλητῶν παρεκάλει τὰ μειράκια καταμανθάνειν, οἵαν κέρατα καὶ ξύλα καὶ κάλαμοι καὶ ὀστᾶ λόγου μετέχοντα καὶ συμφωνίας φωνὴν ἀφίησι. 326 De an. procr. 33, 1030B ὥσπερ οὖν ὁ τοὺς ἐπιτρίτους καὶ ἡμιολίους καὶ διπλασίους λόγους ζητῶν ἐν τῷ ζυγῷ τῆς λύρας καὶ τῇ χελώνῃ καὶ τοῖς κολλάβοις γελοῖός ἐστι (δεῖ μὲν γὰρ ἀμέλει καὶ ταῦτα συμμέτρως γεγονέναι πρὸς ἄλληλα μήκεσι καὶ πάχεσι, τὴν δ᾿ ἁρμονίαν ἐκείνην ἐπὶ τῶν φθόγγων θεωρεῖν) κτλ.

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zweite Pentade die Fünfzahl der Höhenstufen der Tetrachorde,327 deren fünffache Stimmung „bei uns“, also im menschlich-irdischen Bereich, der Autor in De defectu oraculorum den Sprecher Lamprias als Beleg für die harmonische Ordnung des gesamten Kosmos anführen lässt;328 Lamprias begründet zuvor – wie auch ‚Plutarch‘ in De E apud Delphos – deren Anzahl theoretisch-mathematisch.329 Noch einen Schritt weiter in den Bereich der Musikpraxis gelangt ‚Plutarch‘ mit der Erörterung dernächsten Pentade der fünf Grundtonarten, aus denen durch Spannung und Lockerung der Saiten die übrigen tieferen und höheren Tonarten erzeugt würden,330 um schließlich in einer erneuten rhetorischen Frage331 mit der Feststellung zu enden, es gebe in der unendlichen                                                             

De E 10, 389E ἵνα τοίνυν ἀφῶ πέντε τετραχόρδων θέσεις κτλ. Zur technischen Erklärung vgl. OBSIEGER (2007) 119. 328 De def. or. 36, 430A ἐναρμόνιος δὲ καὶ ἡ τοῦ κόσμου σύνταξις, ὥσπερ ἀμέλει καὶ τὸ παρ᾿ ἡμῖν ἡρμοσμένον ἐν πέντε τετραχόρδων θέσεσιν ὁρᾶται, τῶν ὑπάτων καὶ μέσων καὶ συνημμένων καὶ διεζευγμένων καὶ ὑπερβολαίων. 329 Die Nennung der fünf Tetrachorde im Exkurs des Lamprias über die fünf Kosmoi erfolgt in einem Abschnitt, der die Ubiquität der Fünf im irdischen Bereich darlegt und unter der Überschrift τὸ φύσει διαιρετικὸν τοῦ ἀριθμοῦ καὶ τὰ πλεῖστα τούτῳ τὴν φύσιν διανέμειν (De def. or. 36, 429E) steht. Der vorausgehende Abschnitt (35, 428E – 36, 429E) hatte die Bedeutung der Fünf durch deren Herleitung aus den obersten ontologischen Prinzipien, ἕν und ἀόριστος δυάς, abstrakt zahlentheoretisch begründet. 330 De E 10, 389E καὶ πέντε τοὺς πρώτους εἴτε τόνους ἢ τρόπους εἴθ᾿ ἁρμονίας χρὴ καλεῖν, ὧν ἐπιτάσει καὶ ὑφέσει τρεπομένων κατὰ τὸ μᾶλλον καὶ ἧττον αἱ λοιπαὶ βαρύτητές εἰσι καὶ ὀξύτητες κτλ. Zu den theoretischen Grundlagen vgl. OBSIEGER (2007) 120 „Die Bezeichnung πρῶτοι τόνοι („Stammtonarten“) scheint sonst nicht belegt zu sein, wird aber in De E offenbar als ein bekannter terminus technicus verwendet. Die fünf „Stammtonarten“ sind Dorisch, Lydisch, Phrygisch, Äolisch und Iastisch (Ionisch). Die höheren Tonarten (an unserer Stelle die ὀξύτητες) tragen die Namen Hyperdorisch, Hyperlydisch, Hyperphrygisch, Hyperäolisch und Hyperiastisch (Hyperionisch), die tieferen (an unserer Stelle die βαρύτητες) heißen Hypodorisch, Hypolydisch, Hypophrygisch, Hypoäolisch und Hypoiastisch (Hypoionisch). […] Die Begriffe ἐπίτασις und ὕφεσις haben sich daraus ergeben, daß zum Wechsel zwischen den Tonarten eine andere Stimmung der Saiten notwendig war.“ OBSIEGER weist in einem breiten Exkurs (ibid., 120–123) nach, dass „die Benennung der fünf Tonarten ohne Präfix als πρῶτοι τόνοι […] nur auf dem Bezeichnungssystem und seiner Entstehungsgeschichte“ beruht und „keine Grundlage in der Sache“ hat (ibid. 120). Sein Fazit der Einführung dieser fünf Stammtonarten durch ‚Plutarch‘ lautet (ibid. 123): „Daß es gerade fünf „Stammtonleitern“ gibt, auf die sich ‚Plutarch‘ für die Bedeutung der Fünf beruft, beruht auf nichts als einem Schematismus der Namengebung.“ OBSIEGER deutet dieses technisch scheinbar unkorrekte Argument für die Bedeutung der Fünf in der Musik als Teil einer negativen Charakteristik ‚Plutarchs‘ „in seinem belesenen Übereifer“ (ibid. 125). Es lässt sich freilich nicht beweisen, dass der Autor Plutarch über OBSIEGERs Sachkenntnis verfügte und sich der Illegitimität dieses Argumentes so bewusst war, dass er es gezielt zur Charakteristik seines jüngeren Ichs eingesetzt hat. 331 Vgl. schon die suggestive Einleitung des Musikabschnittes De E 10, 389D … οὐκ οἰόμεθα κτλ.; 327

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III. Hauptgespräch

Anzahl von Intervallen exakt fünf sogenannte μελῳδούμενα διαστήματα, den Viertelton, den Halbton, den Ton, die kleine und die große Terz.332 Den gleichen Katalog lässt der Autor auch Lamprias in De defectu oraculorum neben der Erwähnung der fünf Tetrachorde für die harmonische Struktur des Kosmos referieren.333 Die Ausführungen über die Bedeutung der Fünf in der Musik, mit denen ‚Plutarch‘ die Reihe der Pentaden in den unterschiedlichsten Wissenschaftsgebieten eröffnet, enthalten offenbar alles, was der Autor selbst aus dem Bereich der Musiktheorie zur Stützung der Argumentation seines jüngeren Ichs eruieren konnte. Die Begeisterung dieses leidenschaftlichen Mathematikers unterstreicht er durch die Lebhaftigkeit seines Rededuktus: Suggestiv beginnt und endet ‚Plutarch‘ mit einer rhetorischen Frage, mit der Empörung des Fachwissenschaftlers weist er die Position der Schule der Harmoniker als methodisch minderwertig zurück, bringt zwei weitere Argumente souverän in einer Präteritio unter, kann es sich aber doch nicht verkneifen, bei der Erwähnung des zweiten, der Grundtonarten, sein ausführliches Wissen durch die Erwähnung mehrerer kursierender Termini und das Referat des Verhältnisses der Grundtonarten zu den übrigen Tonarten zu demonstrieren, und geht abschließend in der für ‚Plutarch‘ charakteristischen Weise, er könne sich nun nicht mehr weiter bei diesem Gebiet aufhalten,334 zum nächsten Abschnitt über. Angesichts der Parallelen, die zwischen diesem musikologischen Abschnitt der Rede und Plutarchs sonstigen musiktheoretischer Äußerungen bestehen, ist die Vermutung naheliegend, dass der Autor hier wiederum ein durchweg positives Bild der geistigen Kapazitäten ‚Plutarchs‘ evoziert und die ironische Distanz, die er dabei zu der persona wahrt, die seinen Namen trägt, vor allem in der furiosen Art von deren Präsentation der musikalischen Argumente deutlich wird. OBSIEGERs wiederholt ausgedrückte Einschätzung, die Figur ‚Plutarch‘ solle auf den Rezipienten eine komische Wirkung ausüben,335 wird man kaum folgen wollen, zumal diese                                                             

De E 10, 389EF … ἆρ᾿ οὐχὶ πολλῶν μᾶλλον δ᾿ ἀπείρων διαστημάτων ὄντων τὰ μελῳδούμενα μόνα πέντ᾿ ἐστί, δίεσις καὶ ἡμιτόνιον καὶ τόνος καὶ τριημιτόνιον καὶ δίτονον, ἄλλο δ᾿ οὐδὲν οὔτε μικρότερον οὔτε μεῖζον ἐν φωναῖς χωρίον ὀξύτητι καὶ βαρύτητι περατούμενον μελῳδητόν ἐστι; Die μελῳδούμενα διαστήματα sind nach OBSIEGER (2007) 123f. diejenigen Intervalle, die in der diatonischen, enharmonischen und chromatischen Zusammensetzung (μελῳδούμενα γένη genannt, von Plutarch selbst QC 9, 14, 3, 744C erwähnt) der Tetrachorde zum Einsatz kommen: Das diatonische Tetrachord besteht dabei aus zwei τόνοι und einem ἡμιτόνιον, das enharmonische aus einem δίτονον und zwei διέσεις, das chromatische aus einem τριημιτόνιον und zwei ἡμιτόνια. „Daher meint Plutarch mit den μελῳδούμενα διαστήματα anscheinend die Intervalle, aus denen sich die drei μελῳδούμενα γένη, die Gattungen der Tetrachorde, zusammensetzen […]“ (ibid., 124). 333 Vgl. De def. or. 36, 430A. 334 De E 11, 389F πολλὰ δ᾿ ἄλλα τοιαῦτ᾿, ἔφην ἐγώ, παρελθὼν κτλ. 335 Vgl. OBSIEGER (2007) 112 „Wenn ‚Plutarch‘ sich in der Frage der Konsonanzen den Pythagoreern anschließt, tut er das natürlich, weil ihm dadurch ein weiteres Argument zum 332

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Interpretation sich allzu oft auf vermeintliche Differenzen zwischen den theoretischen Äußerungen ‚Plutarchs‘ und der bei anderen Autoren greifbaren antiken Musiktheorie stützt, jedoch die Parallelen der Rede mit Plutarchs anderen Schriften zu wenig berücksichtigt,336 die den Kenntnisstand und die Interessenlage des Autors allein greifbar abbilden. 7.2.6 Die kosmologischen Pentaden in Platons Timaios Mit einer Berufung auf Platon leitet ‚Plutarch‘ den nächsten Abschnitt seiner Rede ein, der zum Beweis der Bedeutung der Fünf drei Pentaden aus dem platonischen Timaios heranzieht. Die erste Pentade entstammt einer rätselhaften Passage aus Timaios 55cd, in der Platon die Frage aufwirft, ob es einen oder unzählig viele Kosmoi gebe; zwar bezeichnet er diese Frage sogleich spöttisch als gegenstandslos, lässt sie jedoch in der modifizierten Form danach gelten, ob es einen oder fünf Kosmoi gebe. Platon selbst bricht die Diskussion ab, indem er seine schon Timaios 31a geäußerte Ansicht wiederholt, es existiere nur ein Kosmos.337 ‚Plutarch‘ betont nun seinem Rede                                                             Preis der Fünf zur Verfügung steht. Mit welchem Eifer er die pythagoreische Position ausreizt, entbehrt nicht anscheinend beabsichtigter Komik. Es soll klar werden, daß es sich nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung über Konsonanzen handelt, sondern um ein verspieltes Plädoyer für die Bedeutsamkeit der Fünf und damit die Auslegung des delphischen Epsilon als Ziffer.“ Die Praeteritio (ἵνα τοίνυν ἀφῶ κτλ.) soll ibid., 118 „einen Effekt unfreiwilliger Komik“ beabsichtigen. 336 OBSIEGER (2007) 125 stützt sich vor allem auf seine Untersuchung des vermeintlich fragwürdigen theoretischen Gehaltes der Pentaden der Tonarten und der μελῳδούμενα διαστήματα, um ‚Plutarch‘ „belesenen Übereifer“ zu attestieren (vgl. oben, S. 205, Anm. 330), und verwendet die offensichtlichen Parallelen mit der Lampriasrede in De def. or. 36, 430A nur zur Abwertung der Plutarchrede: „Daß die fünf Höhenstufen der Tetrachorde und die μελῳδούμενα διαστήματα bemüht werden, ist an sich nicht zu bemängeln, da Lamprias sich auf sie auch De def. or. 36. 430 A beruft […]. Aber der Vergleich mit der Stelle in De def. or. zeigt, wie bescheiden Lamprias seine These vertritt, der keine anderen Argumente anführt als die Höhenstufen der Tetrachorde und die μελῳδούμενα διαστήματα. ‚Plutarch‘ hingegen häuft Argument auf Argument.“ OBSIEGER verkennt freilich, dass Plutarch Lamprias nicht etwa aus Bescheidenheit nur en passant zu musiktheoretischen Argumenten greifen lässt, sondern weil die Musiktheorie nicht sein eigentliches Thema ist. In der Plutarchrede in De E liegt die Sache anders: Hier gilt es, den besonderen Zusammenhang zwischen Apollon und der Musik für eine Argumentation zugunsten der Bedeutung des dem Gott geweihten E als Fünf in naheliegender Weise fruchtbar zu machen. 337 Plat. Tim. 55c7–d6 ἃ δή τις εἰ πάντα λογιζόμενος ἐμμελῶς ἀποροῖ πότερον ἀπείρους χρὴ κόσμους εἶναι λέγειν ἢ πέρας ἔχοντας, τὸ μὲν ἀπείρους ἡγήσαιτ᾿ ἂν ὄντως ἀπείρου τινὸς εἶναι δόγμα ὧν ἔμπειρον χρεὼν εἶναι, πότερον δὲ ἕνα ἢ πέντε αὐτοὺς ἀληθείᾳ πεφυκότας λέγειν ποτὲ προσήκει, μᾶλλον ἂν ταύτῃ στὰς εἰκότως διαπορῆσαι. τὸ μὲν οὖν δὴ παρ᾿ ἡμῶν ἕνα αὐτὸν κατὰ τὸν εἰκότα λόγον πεφυκότα μηνύει θεόν, ἄλλος δὲ εἰς ἄλλα πῃ βλέψας ἕτερα δοξάσει. Plat. Tim. 31a2–4 πότερον οὖν ὀρθῶς ἕνα οὐρανὸν προσειρήκαμεν,

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III. Hauptgespräch

ziel entsprechend nicht Platons entschiedenes Eintreten für nur einen Kosmos, sondern seine Konzession, die Hypothese von fünf Kosmoi sei immerhin diskutabel.338 Das Bewusstsein darum, dass es sich bei der Erwähnung

                                                             ἢ πολλοὺς καὶ ἀπείρους λέγειν ἦν ὀρθότερον; ἕνα, εἴπερ κατὰ τὸ παράδειγμα δεδημιουργημένος ἔσται. 338 De E 11, 389F … τὸν Πλάτωνα προσάξομαι λέγοντα κόσμον ἕνα, ὡς εἴπερ εἰσὶ παρὰ τοῦτον ἕτεροι καὶ μὴ μόνος οὗτος εἷς, πέντε τοὺς πάντας ὄντας καὶ μὴ πλείονας. OBSIEGER (2007) 129f. hat zurecht darauf aufmerksam gemacht, dass der Text an dieser Stelle einer Heilung bedarf. Die von BABBITT, FLACELIÈRE, CILENTO, SIEVEKING und MORESCHINI übernommene Variante von F2 und X3 κόσμον ἕνα, ὡς (gegenüber den keineswegs besseren Varianten κόσμον ὡς XD und κόσμων ὡς F) weist eine zweifache Schwierigkeit auf: Zum einen wäre inhaltlich eine Erwähnung von Platons eigener Überzeugung, es gebe nur einen Kosmos, direkt im Anschluss an die Berufung auf Platon für eine Pentade von Kosmoi redetaktisch mehr als ungeschickt; zum anderen ergibt sich die syntaktische Schwierigkeit, dass die zweigliedrige Aussage, die dem in einem AcP eingeführten Platon unterstellt wird (λέγοντα κόσμον ἕνα, ὡς … πέντε τοὺς πάντας ὄντας καὶ μὴ πλείονας), nicht nur das von OBSIEGER diagnostizierte Problem aufweist, dass in der Aussage Platons von einem Kosmos der Infinitiv εἶναι fehlte, sondern darüber hinaus, dass die Aussage überhaupt zeugmatisch ist, denn von λέγοντα ist sowohl ein Akkusativobjekt (κόσμον ἕνα) als auch ein Aussagesatz (ὡς … πέντε τοὺς πάντας ὄντας καὶ μὴ πλείονας) abhängig. OBSIEGERs Rückbesinnung auf die Lesarten von XD und F unter Ausschluss des dortigen ὡς und seine eigene Konjektur κόσμους beseitigt zwar beide Probleme, handelt sich jedoch die neue Schwierigkeit ein, dass in der Formulierung κόσμους … πέντε τοὺς πάντας ὄντας die Partizipialkonstruktion so sehr durch den dazwischentretenden Kondizionalsatz (εἴπερ … εἷς) zerrissen wird, dass der Leser zunächst κόσμους wiederum für das Akkusativobjekt zu λέγοντα halten muss; daneben wäre eine Formulierung wie λέγοντα, εἴπερ εἰσὶ παρὰ τοῦτον τὸν κόσμον ἕτεροι καὶ μὴ μόνος οὗτος εἷς, in der der Begriff κόσμος dort zu stehen käme, wo er den besten Sinnzusammenhang garantierte, weit natürlicher. Aus diesem Grunde sei hier ein weiterer Vorschlag gemacht. Der Besserungsversuch von F2 und X3 κόσμον ἕνα, ὡς geht offenbar auf das Konto der Timaios-Lektüre der Korrektoren, die hier (wie übrigens auch SIEVEKING, der die Stelle verzeichnet) Plat. Tim. 31a assoziiert haben mögen, wo Platon fragt, ob man ἕνα οὐρανόν oder πολλοὺς καὶ ἀπείρους richtigerweise λέγειν solle, und die Frage mit ἕνα beantwortet. Das auf diese Weise eingedrungene ἕνα ist deshalb mit OBSIEGERs Argumenten zu streichen. Es bleibt die grammatikalische Schwierigkeit der zeugmatischen Konstruktion von λέγοντα κόσμον, ὡς. Wenn der von Plutarch geschriebene Satz … τὸν Πλάτωνα προσάξομαι λέγοντα κόσμων ὡς, εἴπερ εἰσὶ παρὰ τοῦτον ἕτεροι καὶ μὴ μόνος οὗτος εἷς, πέντε τοὺς πάντας ὄντας καὶ μὴ πλείονας (für eine solche Partizipialkonstruktion in Abhängigkeit von ὡς, das demnach nicht mit OBSIEGER getilgt werden müsste, vgl. De def. or. 23, 422DE … Ἵππυς δ᾿ ὁ Ῥηγῖνος […] ἱστορεῖ δόξαν εἶναι ταύτην Πέτρωνος καὶ λόγον, ὡς ἑκατὸν καὶ ὀγδοήκοντα καὶ τρεῖς κόσμους ὄντας κτλ.) gelautet hat, ist von λέγοντα nur noch die einheitliche Partizipialkonstruktion abhängig und die Schwierigkeit behoben, die sich aus einer Sperrung von κόσμους und dem Rest der Partizipialkonstruktion bei OBSIEGERs Konjektur ergibt. Ein Ausfall des πέρι (und eine nachfolgende „Korrektur“ von κόσμων zu κόσμον) in unmittelbarer Nähe des εἴπερ ist paläographisch durchaus denkbar, und seine vermutungsweise Restitution hat den zusätzlichen Vorteil, dass dann Plutarch zunächst das allgemeine The-

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der fünf Kosmoi in Timaios 55cd freilich nur um eine von Platon nicht geteilte Hypothese handelt, lässt Plutarch sogleich durchblicken, wenn er mit den Timaios 31b anzitierenden Worten „Aber auch wenn es nur diesen einen, einzigentstandenen Kosmos gibt“, wofür er noch die Autorität des Aristoteles bemüht, zu seinem nächsten Argument überleitet, Platon habe behauptet, auch dieser eine Kosmos sei „in gewisser Weise“ aus fünf Kosmoi zusammengesetzt.339 Zu den Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer, so ‚Plutarch‘, trete noch ein fünftes, das von unterschiedlichen Interpreten Licht, Himmel, Äther oder Fünfter Stoff genannt werde, und das die besondere Eigenschaft des Drehungsvermögens besitze.340 Platon selbst habe mit den vollkommenen Körpern Pyramide, Würfel, Oktaeder, Ikosaeder und Dodekaeder eine weitere Pentade entdeckt und jedem dieser Körper eines der Elemente zugeordnet. Darüber hinaus werde die Ansicht vertreten, es bestünden ebenfalls Analogien zwischen den fünf Elementen und den fünf Sinnen: Der Tastsinn beruhe auf stofflichem Widerstand und sei erdhaft, der Geschmackssinn nehme durch Feuchtigkeit unterschiedliche Aromen war, der Hörsinn empfange Stimme und Laut durch in Bewegung versetzte Luft, der Geruchssinn sei feurig, da Gerüche auf durch Wärme erzeugten Aufdampfungen beruhten, und der Sehsinn schließlich ermögliche eine Sinneswahrnehmung dadurch, dass aus dem Licht, das dem Auge entstrahle, und dem ihm verwandten Äther eine Mischung entstehe.341 ‚Plutarch‘ schließt den Abschnitt über die platonischen Pentaden mit der nochmaligen Betonung der jeweiligen Fünfzahl von Sinnesorganen und Elementen und verleiht seiner Begeisterung für eine derartige pentadische Analogienreihe Ausdruck: „Weder hat das Lebewesen ein weiteres Sinnesorgan noch der Kosmos ein weiteres einfaches und unvermischtes Element, vielmehr besteht, wie es scheint, eine erstaunliche An- und Zuordnung der Fünf gegenüber der Fünf.“342 Die von ‚Plutarch‘ hier vorgeführte Pentadenkollektion aus Platons Timaios, die Hypothese von fünf Kosmoi und die Entsprechung der vollkommenen Körper mit den Elementen und dieser mit den Sinnesorganen kann                                                              ma von Platons Aussagen nennt, um erst danach das hervorzuheben, worauf es ihm ankommt, nämlich Platons Zugeständnis, es könne, wenn man nicht die Ansicht vertreten wolle, es gäbe nur einen Kosmos, deren fünf geben. 339 De E 11, 389F οὐ μὴν ἀλλὰ κἂν εἷς οὗτος ᾖ μονογενής, ὡς οἴεται καὶ Ἀριστοτέλης, τρόπον τινὰ καὶ τοῦτον ἐκ πέντε συγκείμενον κόσμων καὶ συνηρμοσμένον εἶναι. Vgl. Plat. Tim. 31b3 … εἷς ὅδε μονογενὴς οὐρανὸς γεγονὼς ἔστιν καὶ ἔτ᾿ ἔσται und Tim. 92c8–9 εἷς οὐρανὸς ὅδε μονογενὴς ὤν. 340 Vgl. De E 11, 390A. 341 Vgl. De E 12, 390AB. 342 De E 12, 390B ἄλλην δ᾿ οὔτε τὸ ζῷον αἴσθησιν οὔθ᾿ ὁ κόσμος ἔχει φύσιν ἁπλῆν καὶ ἄμικτον· ἀλλὰ θαυμαστή τις, ὡς ἔοικε, διανομὴ γέγονε τῶν πέντε πρὸς τὰ πέντε καὶ σύλληξις.

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III. Hauptgespräch

sich nur sehr eingeschränkt auf Platons eigene Intentionen berufen: Zunächst zieht Platon der Hypothese von fünf Kosmoi expressis verbis seine Ansicht von nur einem Kosmos vor; des weiteren veranschlagt Platon nicht fünf, sondern nur vier Elemente und ordnet schließlich diesen nur vier der fünf vollkommenen Körper zu, der Erde den Würfel, dem Wasser den Ikosaeder, dem Feuer die Pyramide, der Luft den Oktaeder; und auch die Zuordnung der Sinne zu den Elementen hat im Timaios wegen der dort vertretenen Vier-Elementen-Lehre keine eindeutige Entsprechung.343 Der Ausgangspunkt der Differenz liegt in ‚Plutarchs‘ Ansetzung eines im Timaios nicht genannten Fünften Elementes.344 Man könnte mithin den Schluss ziehen, dass der Autor in diesem Passus ‚Plutarch‘ durch eine etwas gewalttätige Platoninterpretation, die sich in einer manipulativen Analogisierung einzelner Sachgruppen aus dem Timaios gefällt, allein als jugendlichen Zahlennarren charakterisiert, der Platon für seine Zwecke etwas großzügiger auslegt,345 doch legt sich eine solche Intention des Autors gerade in diesem Passus aus zwei Gründen keineswegs nahe: Einerseits rekurriert ‚Plutarch‘, zumal in der Postulierung eines Fünften Elementes in Platons Timaios, sichtlich auf eine Tradition, die bis auf die Alte Akademie, die Epinomis, Speusipp, Xenokrates und Herakleides Pontikos zurückgeht,346 eine Tradition, die den Lesern Plutarchs sicherlich bekannt                                                              343

Platon ordnet zwar wie ‚Plutarch‘ dem Tastsinn die Erde (Tim. 31b), dem Gehör die Luft (Tim. 67b) und dem Geschmackssinn das Wasser (Tim. 65c) zu, dem Geruchssinn jedoch allgemein das Phänomen „Dunst“ (Tim. 66de) und dem Sehsinn das Feuer (Tim. 31b, 45bd); vgl. die Übersicht bei OBSIEGER (2007) 138f. 344 Vgl. OBSIEGER (2007) 126–128. 345 So einmal OBSIEGER (2007) 140 bezüglich der Berufung ‚Plutarchs‘ auf die nicht weiter spezifizierte Gruppe von Interpreten (De E 12, 390A εἰσὶ δ᾿ οἳ κτλ.), die die einzelnen Sinnesorgane den Elementen zuordnen: „‚Plutarch‘ bezeichnet also die Vertreter einer umstrittenen Timaios-Interpretation mit εἰσὶν οἵ. Sie werden bemüht, weil ‚Plutarch‘ alle Möglichkeiten zum Preis der Fünf ausschöpfen will, auch die dubiosen. Gerade das ist das Anziehende an seiner Rede.“ 346 Vgl. OBSIEGER (2007) 128f. mit Textverweisen. Vgl. ISNARDI PARENTE (1992) 126 zur Gleichsetzung der fünf Körper mit den fünf Elementen in der platonischen Tradition: „Come si dirà più oltre, parlando del De E apud Delphos, ancor più significativo per l’importanza del numero cinque, Plutarco fa suo punto di partenza l’equazione πέντε σχήματα – πέντε σώματα; è un’equazione che ha già avuto i suoi sostenitori nell’Accademia antica, non solo nell’Epinomide di Filippo di Opunte, con la teoria del πέμπτον σῶμα intermedio fra mondo elementare e mondo astrale, ma nella Vita di Platone di Senocrate, opera a carattere bio-dossografico; a quanto ci riporta Simplicio, Senocrate avrebbe interpretato l’accenno al dodecaedro in Ti. 55c (ove Platone pone il dodecaedro in posizione assolutamente anomala rispetto alle altre quattro figure) come attribuzione al corpuscolo dodecaedrico della stessa funzione elementare attribuita agli altri corpuscoli poliedrici, in quanto elemento compositivo del περιέχον o οὐρανός; e ciò per render coerente il discorso di Platone con apposito atto di βοήθεια, e risolvere la pretesa asimmetria fra poliedri e corpi.“

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war; zum anderen weisen ‚Plutarchs‘ Ausführungen engste thematische Parallelen mit De defectu oraculorum auf, wo der Autor der Erörterung der von Platon angestoßenen Frage nach den fünf Kosmoi nicht weniger als 17 von 63 Teubnerseiten gewidmet hat, in denen er den Sprecher Lamprias mit unterschiedlicher Gewichtung alle auch von ‚Plutarch‘ in De E apud Delphos vorgebrachten Pentaden für den Nachweis einer Plausibilität von fünf Kosmoi aufbieten lässt, wie selbstverständlich auch die Elementenpentade. Da diesem Passus zudem ein vom Autor eingestandener Exkurscharakter eignet, und sich das Plädoyer für eine begrenzte Anzahl von fünf Kosmoi zunehmend vom dem eigentlichen Problem emanzipiert, aus dem es entwachsen ist,347 ist die Ausführlichkeit der Argumentation des Lamprias in De defectu oraculorum nur durch ein spezielles Interesse des Autors sowohl an der Theorie der fünf Kosmoi an sich als auch an Argumentationen, die diese Theorie auf der Basis Platons zu stützen vermögen, erklärlich.348 In De E apud Delphos hat Plutarch mithin konsequent ‚Plutarch‘ zum Vertreter von

                                                             347 Der Gesprächsteilnehmer Kleombrotos hatte zur Erklärung des Aufhörens der Orakel die These vorgebracht, nicht Götter, sondern ihnen dienstbare Daimones verließen bisweilen die ihnen zur Betreuung übertragenen Orakelstätten, wodurch deren Funktionieren zum Erliegen komme. Als Gründe dafür, dass die Daimones ihren Dienst einstellten, schlägt Kleombrotos einerseits ihr Ableben vor, unterschieden sie sich doch gerade in ihrer Sterblichkeit von den Göttern, andererseits ihre Exilierung als Strafe für Verfehlungen, die sie wegen ihrer wiederum gegenüber den Göttern defizitären moralischen Natur bisweilen begingen. Auf die Frage, wohin die straffälligen Daimones verbannt würden, referiert Kleombrotos einen Bericht über einen seltsamen Wundermann vom Roten Meer, der daimonologische Theorien vertreten und die Verbannung von Daimones in andere Kosmoi, deren er ganze 183 ansetzte, postuliert habe (De def. or. 10, 415A – 22, 422C). In diesem Zusammenhang entspinnt sich eine Debatte darüber, inwiefern die These vieler Kosmoi mit Platons Lehren in Verbindung stehe, und Lamprias wird schließlich aufgefordert, ausgehend von Platon, Argumente für die Annahme einer begrenzten Mehrzahl von Kosmoi vorzubringen. Unmittelbar bevor Lamprias das Wort ergreift, signalisiert ein kurzer Wortwechsel zwischen Lamprias und dem Gesprächsteilnehmer Demetrios den Exkurscharakter der folgenden Ausführungen (De def. or. 23, 423BC): κἀγὼ δοκεῖ γὰρ οὕτως, ἔφην, ἀφέντας ἤδη τὸν περὶ χρηστηρίων λόγον ὡς τέλος ἔχοντα μεταλαμβάνειν ἕτερον τοσοῦτον; οὐκ ἀφέντας, εἶπεν ὁ Δημήτριος, ἐκεῖνον, ἀλλὰ μὴ παρελθόντας τοῦτον ἀντιλαμβανόμενον ἡμῶν. οὐ γὰρ ἐνδιατρίψομεν, ἀλλ᾿ ὅσον ἱστορῆσαι τὴν πιθανότητα θιγόντες αὐτοῦ μέτιμεν ἐπὶ τὴν ἐξ ἀρχῆς ὑπόθεσιν. 348 Die Frage, inwiefern die von Plutarch in De defectu oraculorum und De E apud Delphos vorgetragenen Spekulationen über die Bedeutung der Fünf im Werk Platons einen eigenständigen philosophischen Beitrag des Autors darstellen, berührt die Tatsache eines speziellen Interesses des Autors an dem Thema nicht. Für die Originalität spricht sich NAPOLITANO VALDITARA (1988) 391 vorsichtig aus, FERRARI (1995) 46 hält die von TARRANT (1983) 83 gesammelten Aussagen Plutarchs, die keine bezeugten Vorläufer haben, für keinen hinreichenden Ausgangspunkt für die These einer Originalität des Autors.

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III. Hauptgespräch

Hypothesen gemacht, deren Plausibilisierung er in De defectu oraculorum breitesten Raum gewährt hat.349 Kleombrotos, der in diesem Dialog als erster die These einer Mehrzahl von Kosmoi mit Platon in Verbindung bringt und implizit auf Timaios 55cd hinweist, charakterisiert diese zu Beginn seines λόγος über die mögliche Verbannung von Daimones in einen anderen Kosmos von vornherein als vorsichtig-dunkle Andeutung Platons.350 Nach dem ersten Teil von Kleombrotos’ Ausführungen über die Daimones, die sich auf den Bericht der Lehre des Mannes vom Roten Meer stützen, fragt der Gesprächsteilnehmer Herakleon, inwiefern nun Platon für diesen λόγος die Veranlassung gegeben habe. Kleombrotos erklärt darauf den Sachverhalt in Timaios 55cd dahingehend, dass Platon dort den Vertretern der Hypothese von mehreren Kosmoi eine Anzahl von fünf als möglich zugestanden, selbst jedoch für nur einen Kosmos plädiert habe.351 Mit der hier von Kleombrotos in die Platonparaphrase über den Wortlaut von Timaios 55cd hinaus eingeführten Formulierung, Platon habe „denjenigen, die einen nach Elementen strukturierten einzelnen Kosmos voraussetzten, bis zur Zahl von fünf eine Wahrscheinlichkeit zugestanden“ (μέχρι … ἐπιχωρήσας), bereitet dieser seine folgende Erzählung der Ansichten des Mannes vom Roten Meer vor, der zwar nicht fünf, sondern 183 Kosmoi veranschlagt, diese jedoch dreiecksförmig zu einer Großstruktur vereinigt habe, in der die einzelnen Kosmoi „einander der Reihe nach berührten und ruhig, wie in einem Reigen, kreisten.“352 Die hier nur angedeutete Strukturierung des Alls κατὰ στοιχεῖον wird gleich nach dem Bericht des Kleombrotos von Lamprias als die Lehre eines

                                                             349

Vgl. die knappe und instruktive Übersicht der Parallelen zwischen den Dialogen bei VAN DER STOCKT (2006) 48f. 350 De def. or. 21, 420EF ἀλλὰ θαυμάσαιμ᾿ ἄν, εἶπεν, εἰ μὴ πολὺ φαίνεται τῶν εἰρημένων ὑμῖν ἀτοπώτερος [sc. ὁ περὶ τῆς μεταστάσεως καὶ φυγῆς τῶν δαιμονίων λόγος, vgl. 20, 420E]. καίτοι δοκεῖ φυσιολογίας ἔχεσθαι, καὶ Πλάτων αὐτῷ παρέσχε τὸ ἐνδόσιμον οὐχ ἁπλῶς ἀποφηνάμενος ἐκ δόξης ἀμαυρᾶς [καὶ] ὑπόνοιαν ἐμβαλὼν αἰνιγματώδη μετ᾿ εὐλαβείας. 351 De def. or. 22, 421F–422A εὖ μνημονεύεις, εἶπεν, ὅτι τὴν μὲν ἀπειρίαν αὐτόθεν ἀπέγνω τῶν κόσμων, περὶ δὲ πλήθους ὡρισμένου διηπόρησε, καὶ μέχρι τῶν πέντε τοῖς ὑποτιθεμένοις κατὰ στοιχεῖον ἕνα κόσμον ἐπιχωρήσας τὸ εἰκός, αὐτὸς ἑαυτὸν ἐφ᾿ ἑνὸς ἐτήρησεν. 352 De def. or. 22, 422B ἔλεγε [sc. der Wundermann] δὲ […] τρεῖς καὶ ὀγδοήκοντα καὶ ἑκατὸν εἶναι συντεταγμένους κατὰ σχῆμα τριγωνοειδές, οὗ πλευρὰν ἑκάστην ἑξήκοντα κόσμους ἔχειν· τριῶν δὲ τῶν λοιπῶν ἕκαστον ἱδρῦσθαι κατὰ γωνίαν, ἅπτεσθαι δὲ τοὺς ἐφεξῆς ἀλλήλων ἀτρέμα περιιόντας ὥσπερ ἐν χορείᾳ.

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Petron von Himera identifiziert, nach der sich eben jene 183 Kosmoi „Element für Element berührten“,353 und die der Mann vom Roten Meer nur plagiiert habe. Freilich habe, so Lamprias, jener Petron keine näheren plausiblen Angaben gemacht, was die Formulierung κατὰ στοιχεῖον zu bedeuten habe, und Demetrios wendet wieder ein, es könne auch keinerlei Plausibilität dort geben, wo Platon schon keinerlei Argumente angeführt habe.354 Hier ergreift Herakleon das Wort und versucht, die Formulierung κατὰ στοιχεῖον unter Heranziehung Homers und vor allem Platons zu erklären: Letzterer scheine „die schönsten und ersten Formen und Gestalten der Körper den Unterschieden des Alls zuzuordnen und fünf Kosmoi zu nennen, den der Erde, den des Wassers, den der Luft und den des Feuers, als letzten aber denjenigen, der jene umfasst, dem er die Form des Dodekaeders aufgrund von dessen großer Aufnahmefähigkeit und Drehbarkeit zugeordnet hat, als die am meisten zu den Umläufen und Bewegungen der Seele passende Gestalt.“355 Freilich erhebt sich auch hier noch einmal der Einspruch des Demetrios: Platon bezeichne keineswegs die fünf Unterschiede des Kosmos als fünf Kosmoi, sondern sage deutlich in seiner Auseinandersetzung mit denjenigen, die eine unendliche Zahl von Kosmoi voraussetzten, es gebe nur einen vollkommenen Kosmos, der aus allem Körperlichen gebildet sei.356 Demetrios wundert sich entsprechend, wie Platon anderen die Anregung für eine Hypothese von fünf Kosmoi habe geben können, wo er doch klar die gegenteilige Wahrheit ausgesprochen habe. Die Wahrheit deswegen, weil die Ansetzung nicht eines, sondern mehrerer Kosmoi deren unendliche Zahl impliziere, während die Hypothese einer begrenzten Fünfzahl widersinnig und ohne jede Überzeugungskraft sei, „es sei denn, du hast etwas dazu zu sagen“, wie Demetrios an Lamprias gerichtet schließt.357                                                             

353 De def. or. 23, 422E … ὡς ἑκατὸν καὶ ὀγδοήκοντα καὶ τρεῖς κόσμους ὄντας ἁπτομένους δ᾿ ἀλλήλων κατὰ στοιχεῖον. 354 De def. or. 23, 422E … ὅ τι δὲ τοῦτ᾿ ἐστί, τὸ κατὰ στοιχεῖον ἅπτεσθαι, μὴ προσδιασαφῶν μηδ᾿ ἄλλην τινὰ πιθανότητα προσάπτων. ὑπολαβὼν δ᾿ ὁ Δημήτριος τίς δ᾿ ἄν, εἶπεν, ἐν τοιούτοις πράγμασιν εἴη πιθανότης, ὅπου καὶ Πλάτων οὐδὲν εἰπὼν εὔλογον οὐδ᾿ εἰκὸς οὕτω κατέβαλε τὸν λόγον; 355 De def. or. 23, 422F–423A οὕτω δὲ καὶ Πλάτων ἔοικε τὰ κάλλιστα καὶ πρῶτα σωμάτων εἴδη καὶ σχήματα συννέμων ταῖς τοῦ ὅλου διαφοραῖς πέντε κόσμους καλεῖν, τὸν γῆς τὸν ὕδατος τὸν ἀέρος τὸν πυρός, ἔσχατον δὲ τὸν περιέχοντα τούτους, ᾧ τὸ τοῦ δωδεκαέδρου πολύχυτον καὶ πολύτρεπτον ὡς μάλιστα δὴ ταῖς ψυχικαῖς περιόδοις καὶ κινήσεσι πρέπον σχῆμα καὶ συναρμόττον ἀπέδωκε. 356 De def. or. 23, 422EF Πλάτων δὲ πολλοῦ δεῖ τὰς πέντε τοῦ κόσμου διαφορὰς πέντε κόσμους προσαγορεύειν, ἐν οἷς τε μάχεται τοῖς ἀπείρους κόσμους ὑποτιθεμένοις, αὐτὸς ἤδη φησὶ δοκεῖν ἕνα τοῦτον εἶναι μονογενῆ τῷ θεῷ καὶ ἀγαπητόν, ἐκ τοῦ σωματοειδοῦς παντὸς ὅλον καὶ τέλειον καὶ αὐτάρκη γεγενημένον. 357 Plutarch formuliert die Hinwendung des Demetrios an Lamprias mit den Worten (De def. or. 23, 423B) εἰ μή τι σὺ λέγεις, ἔφη πρὸς ἐμὲ βλέψας. Mit dem dem Partizip βλέψας erlaubt sich Plutarch eine äußerst gelehrte Anspielung auf Platons Formulierung Tim.

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III. Hauptgespräch

Der nun folgende große Exkurs des Lamprias über die Fünfzahl der Kosmoi gliedert sich in zwei Hauptteile, deren erster Argumente für die Existenz von fünf distinkten Kosmoi liefert, wobei sich der Redner unter anderem ausführlich gegen Aristoteles’ Argumente für nur einen Kosmos wendet.358 Ein Zwischenkapitel, in dem der Gesprächspartner Philippos das Wort führt, stellt dann das Thema für den zweiten Hauptabschnitt: Nachdem Philippos zunächst seine Unentschiedenheit hinsichtlich der Frage nach einem oder fünf distinkten Kosmoi bekannt hat, wirft er die Frage auf, worin die Besonderheit einer exakten Fünfzahl von mehreren Kosmoi bestehe, sei doch die Fünf keine Zahl mit außerordentlichen Eigenschaften;359 daneben bereite ihm das Verständnis „des Ansatzes von den Elementen her“, den Platon „selbst rätselhaft angedeutet“ habe, Schwierigkeiten, nämlich, dass „es wahrscheinlich sei, dass, nachdem fünf Körper, die gleichwinklig, gleichseitig und von den gleichen Flächen umschlossen seien, in die Materie eingegangen sind, sogleich genauso viele Kosmoi aus ihnen entstehen.“360 Philippos nimmt mithin die Debatte aus dem 22. Kapitel zwischen Herakleon und Demetrios wieder auf, in wieweit man aus Platons Zuordnung der fünf Körper zu den fünf Elementen von fünf Kosmoi bei Platon sprechen könne, und stellt somit Lamprias ein zentrales Thema seines weiteren Vortrages. Lamprias referiert zunächst eine Theorie des Theodoros von Soloi über die Zuordnung der Elemente zu einzelnen Kosmoi, die jedoch von Ammonios als unplausibel widerlegt wird,361 um dann mit einer eigenen Theorie einen dreiteiligen Neuansatz zu präsentieren. Auf einen ersten Teil, der eine Fünfzahl von Kosmoi aus der Fünfzahl der μέγιστα γένη aus Platons Sophistes ableitet,362 folgt ein zweiter, der ausgehend von den obersten pythagoreischen Prinzipien ἕν und ἀόριστος δυάς den gleichen Nachweis einer Fünfgliederung des Alls versucht.363 Der dritte und letzte Teil von Lamprias’ Ausführungen widmet sich Platons Aussagen in Timaios 55cd über einen oder fünf Kosmoi und deutet diese aus ihrem größeren Kontext heraus. Zunächst stellt Lamprias einen Zusammenhang her zwischen der in Rede stehenden Passage und dem ihr                                                              55d5–6, in der dieser konzediert ἄλλος δ᾿ εἰς ἄλλα πῃ βλέψας ἕτερα δοξάσει, nämlich die Ansicht, es gebe fünf Kosmoi. 358 Vgl. De def. or. 24, 423C – 30, 426E. 359 Vgl. De def. or. 31, 426EF. 360 De def. or. 31, 426F ἡ δ᾿ ἀπὸ τῶν στοιχείων ἔφοδος, ἣν αὐτὸς ὑπῃνίξατο, πάντῃ δύσληπτός ἐστι καὶ μηδὲν ὑποφαίνουσα τῆς ἐκεῖνον ἐπεσπασμένης πιθανότητος εἰπεῖν, ὡς εἰκός ἐστι πέντε σωμάτων ἰσογωνίων καὶ ἰσοπλεύρων καὶ περιεχομένων ἴσοις ἐπιπέδοις ἐγγενομένων τῇ ὕλῃ τοσούτους εὐθὺς ἐξ αὐτῶν ἀποτελεσθῆναι κόσμους. 361 Vgl. De def. or. 32, 427A – 33, 428B. 362 Vgl. De def. or. 34, 428A–E. 363 Vgl. De def. or. 35, 428E – 36, 430A.

7. Die Rede ‚Plutarchs‘

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unmittelbar vorausgehenden Satz, der Platons Ausführungen über die Zusammensetzung der Pyramide, des Oktaeders, des Ikosaeders und des Würfels beschließt364: „Aus welchem Grund nun, mag einer fragen, hat Platon auf die fünf Körper die Anzahl der fünf Kosmoi zurückgeführt, indem er sagt, dass ‚der Gott‘ die fünfte Zusammenfügung ‚für das Ganze benützte, als er jenes ausbildete‘? Will er dann, indem er die Frage über die Anzahl der Kosmoi anschließt, ob es der Wahrheit eher gemäß sei, zu sagen, es gebe einen oder deren fünf, seine Ansicht klarstellen, dass von dort her die Überlegung ihren Ursprung nehme?“365 Zur Erklärung eines inhaltlichen Zusammenhangs zwischen Platons Aussage über die Rolle der πέμπτη σύστασις bei der Ausgestaltung des πᾶν durch den Demiurgen und der folgenden Erwägung einer Fünfzahl von Kosmoi erörtert Lamprias zunächst den Zustand der Materie vor der Ordnungstat des Demiurgen unter Rückgriff auf Timaios 52d–53c, Platons Beschreibung der wechselseitigen Einwirkungen zwischen den Urelementen und der „Amme des Werdens“. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Elementen führten zu unterschiedlichen Bewegungen in der Urmaterie, wobei besonders die Verbindungs- und Trennungsprozesse zwischen den Elementen, etwa zwischen Feuer und Luft, die durch Verbindung mehrerer Pyramiden zu einem Oktaeder beziehungsweise der Aufspaltung eines Oktaeders in mehrere Pyramiden geschehen, ursächlich für Ortswechsel der Urkörper seien.366 Platon veranschauliche mit seinem Bild vom Worfelapparat den Zustand, in dem sich unter ständiger Ortsveränderung Ähnliches Ähnlichem annähere, „bevor aus den Elementen das geordnete All entstand.“367                                                             

364 Plat. Tim. 55c4–6 ἔτι δὲ οὔσης συστάσεως μιᾶς πέμπτης, ἐπὶ τὸ πᾶν ὁ θεὸς αὐτῇ κατεχρήσατο ἐκεῖνο διαζωγραφῶν. 365 De def. or. 37, 430AB τί δῆτα, φήσαι τις ἄν, ὁ Πλάτων ἐπὶ τὰ πέντε σχήματα τὸν τῶν πέντε κόσμων ἀριθμὸν ἀνήνεγκεν, εἰπὼν ὅτι τῇ πέμπτῃ συστάσει „ὁ θεὸς ἐπὶ τὸ πᾶν κατεχρήσατο ἐκεῖνο διαζωγραφῶν“, εἶτα τὴν περὶ τοῦ πλήθους τῶν κόσμων ὑποθεὶς ἀπορίαν, πότερον ἓν᾿ ἢ πέντ᾿ αὐτοὺς ἀληθείᾳ πεφυκότας λέγειν προσήκει, δῆλός ἐστιν ἐντεῦθεν οἰόμενος ὡρμῆσθαι τὴν ὑπόνοιαν; 366 De def. or. 37, 430BC … σκοπῶμεν ὅτι ταῖς τῶν σωμάτων καὶ σχημάτων ἐκείνων διαφοραῖς ἀνάγκη καὶ κινήσεων εὐθὺς ἕπεσθαι διαφοράς, ὥσπερ αὐτὸς διδάσκει, τὸ διακρινόμενον ἢ συγκρινόμενον ἅμα τῆς οὐσίας τῇ ἑτεροιώσει καὶ τὸν τόπον μεταλλάττειν ἀποφαινόμενος. ἂν γὰρ ἐξ ἀέρος πῦρ γένηται, λυθέντος τοῦ ὀκταέδρου καὶ κερματισθέντος εἰς πυραμίδας, ἢ πάλιν ἀὴρ ἐκ πυρός, συνωσθέντος καὶ συνθλιβέντος εἰς ὀκτάεδρον, οὐ δυνατὸν μένειν ὅπου πρότερον ἦν, ἀλλὰ φεύγει καὶ φέρεται πρὸς ἑτέραν χώραν ἐκβιαζόμενον καὶ μαχόμενον τοῖς ἐνισταμένοις καὶ κατεπείγουσιν. 367 De def. or. 37, 430CD ἔτι δὲ μᾶλλον εἰκόνι τὸ συμβαῖνον ἐνδείκνυται, „τοῖς ὑπὸ τῶν πλοκάνων καὶ ὀργάνων περὶ τὴν τοῦ σίτου κάθαρσιν σειομένοις ἀναλικμωμένοις“ ὁμοίως λέγων τὰ στοιχεῖα σείοντα τὴν ὕλην ὑπ᾿ ἐκείνης τε σειόμενα προσχωρεῖν ἀεὶ τὰ ὅμοια τοῖς ὁμοίοις, ἄλλην τε χώραν ἄλλα ἴσχειν πρὶν ἐξ αὐτῶν γενέσθαι τὸ πᾶν διακοσμηθέν. Vgl. Plat. Tim. 52e5–53a7 τὰ δὲ κινούμενα ἄλλα ἄλλοσε ἀεὶ φέρεσθαι

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III. Hauptgespräch

In seiner etwas freien Darstellung des Timaios-Passus hebt Lamprias entsprechend hervor, dass sich die Urmaterie insofern gegenüber dem πᾶν διακοσμηθέν, dem Produkt ihrer Transformation in einen geordneten Zustand durch das Werk des Demiurgen, unterscheidet, als sich offenbar die Urelemente in ständigen Übergangsprozessen ineinander befinden und nur tendenziell, aber nicht klar voneinander unterschieden sind; damit verleiht er Platons Aussage besonderes Gewicht, dass die als Worfelapparat verstandene „Amme des Werdens“ „die einander unähnlichsten Bestandteile am meisten“ – πλεῖστον, aber nicht vollständig – „von einander trennt, und die einander ähnlichsten besonders“ – μάλιστα, aber eben auch nur tendenziell – „zusammendrängt“. Während Platon freilich im Folgenden unter der Ordnungstat des Demiurgen die Überführung der Urelemente aus einem Zustand ohne klare Verhältnisse und Maß – wobei sie „zwar Spuren ihrer selbst haben, sich im ganzen aber freilich in einem Zustand befinden, wie sich nachvollziehbarer Weise alles befindet, wenn ein Gott einer Sache fehlt“ – nach geometrischen Prinzipien versteht, mithin ihre Formung zu den regelmäßigen Körpern,368 deren Konstruktionsbeschreibung dann auch den weiteren Verlauf des Abschnittes Timaios 52b–55c bis zu jenem Satz von der πέμπτη σύστασις bestimmt, auf den dann die Erwägung der Frage nach den fünf Kosmoi folgt, versteht Lamprias unter der Ordnungstat des Gottes nicht die Strukturierung der einzelnen Elemente nach vollkommenen geometrischen Prinzipien, sondern ihre klare Abgrenzung voneinander, deren Ergebnis fünf diskrete Elementarkosmoi sind, in denen die Elemente nunmehr in reiner Form zusammengefasst sind. Hatte Platon den Zustand vor der Ordnungstat des Gottes auf die Elemente selbst bezogen, die vor dessen Eingreifen nur ἴχνη ihrer selbst darstellen, so variiert Lamprias seinem Argumentationsziel entsprechend zunächst Platons Worte dahingehend, dass sich „die Materie damals in einem derartigen Zustand befand, wie sich nachvollziehbarer Weise das All befindet, wenn ein Gott ihm fehlt,369 und deutet mithin Platons allgemeines ἅπαν absichtsvoll zu dem konkreten πᾶν um, um dann auszuführen, dass die                                                              διακρινόμενα, ὥσπερ τὰ ὑπὸ τῶν πλοκάνων τε καὶ ὀργάνων τῶν περὶ τὴν τοῦ σίτου κάθαρσιν σειόμενα καὶ ἀνικμώμενα τὰ μὲν πυκνὰ καὶ βαρέα ἄλλῃ, τὰ δὲ μανὰ καὶ κοῦφα εἰς ἑτέραν ἵζει φερόμενα ἕδραν· τότε οὕτω τὰ τέτταρα γένη σειόμενα ὑπὸ τῆς δεξαμενῆς, κινουμένης αὐτῆς οἷον ὀργάνου σεισμὸν παρέχοντος, τὰ μὲν ἀνομοιότατα πλεῖστον αὐτὰ ἀφ᾿ αὑτῶν ὁρίζειν, τὰ δὲ ὁμοιότατα μάλιστα εἰς ταὐτὸν συνωθεῖν, διὸ δὴ καὶ χώραν ταῦτα ἄλλα ἄλλην ἴσχειν, πρὶν καὶ τὸ πᾶν ἐξ αὐτῶν διακοσμηθὲν γενέσθαι. 368 Plat. Tim. 53a7–b5 καὶ τὸ μὲν δὴ πρὸ τούτου πάντα ταῦτ᾿ εἶχεν ἀλόγως καὶ ἀμέτρως· ὅτε δ᾿ ἐπεχειρεῖτο κοσμεῖσθαι τὸ πᾶν, πῦρ πρῶτον καὶ ὕδωρ καὶ γῆν καὶ ἀέρα, ἴχνη μὲν ἔχοντα αὑτῶν ἄττα, παντάπασί γε μὴν διακείμενα ὥσπερ εἰκὸς ἔχειν ἅπαν ὅταν ἀπῇ τινος θεός, οὕτω δὴ τότε πεφυκότα ταῦτα πρῶτον διεσχηματίσατο εἴδεσί τε καὶ ἀριθμοῖς. 369 De def. or. 37, 430D οὕτως οὖν τότε τῆς ὕλης ἐχούσης ὡς ἔχειν τὸ πᾶν εἰκός, οὗ θεὸς ἄπεστιν κτλ.

7. Die Rede ‚Plutarchs‘

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„fünf ersten Qualitäten“ sich in dieser vorkosmischen Phase zwar bereits selbständig zueinander gruppieren, die entstehenden fünf Elementargruppen jedoch keine reinen Sortierungen darstellen, sondern immer noch Verunreinigungen durch das Eindringen von Elementen anderer Sorte aufweisen,370 wodurch Lamprias Platons noch unvollkommene Elementar-ἴχνη zu unvollkommenen Elementen-Sortierungen umdeutet. Wenn der Gott nun eingreift, so besteht sein Ordnungswerk nach Lamprias darin, dass er eine vorgängige, unvollständig sortierte Materie unter Anwendung mathematischer Verhältnisse vollständig in fünf reine Elementen-Kosmoi sortiert. „Denn der Gott […] übernahm eine sich selbständig aufteilende und in so großer Unordnung auseinanderstrebende Materie und ordnete sie und fügte sie durch Verhältnis und Proportion; indem er dann einem jeden Materiebestandteil eine rationale Ordnung wie einen Befehlshaber und Wächter gegeben hatte, schuf er so viele Kosmoi, wie es Arten von ersten Körpern gab.“371 In Lamprias’ Deutung besteht also die Ordnungstat des Gottes in der auf mathematischen Prinzipien gegründeten klaren Scheidung der Urmaterie in fünf Ordnungseinheiten, Kosmoi, wobei die „ersten Körper“, mit denen an dieser Stelle die fünf regelmäßigen platonischen Körper gemeint sind, als die jeweiligen Sortenprototypen fungieren, nach deren mathematisch-geometrischen Eigenschaften die fünf Elemente klar in fünf Kosmoi geschieden werden. Blickt man von diesem Ende her auf Lamprias’ Ausgangsfrage zurück, inwiefern Platon auf die fünf Körper die Fünfzahl der Kosmoi zurückgeführt habe, wenn er davon spricht, dass der Gott „die fünfte Zusammenfügung“ (τῇ πέμπτῃ συστάσει) für die Ausbildung des Alls (τὸ πᾶν) verwendet, und dann die Diskussion der fünf Kosmoi angestoßen habe, so stellt Lamprias’ Interpretation einen für Plutarch offenbar nicht nur legitimen, sondern überaus feinsinnigen, wenn auch vielleicht nach modernen philologischen Kriterien nicht haltbaren Versuch dar, in Platons Text Einheitlichkeit der Gedankenführung herzustellen. Die ansonsten isolierte Passage Timaios 55cd wird mit einigem interpretatorischen Geschick aus den voraufgehenden Andeutungen Platons abgeleitet, wobei sich der Redner zwar einige Freiheiten erlaubt, der Zweck jedoch dieses Mittel zu heiligen scheint: Entscheidend ist dabei der Umgang, den Lamprias mit dem Platontext                                                             

370 De def. or. 37, 430DE … εὐθὺς αἱ πρῶται πέντε ποιότητες ἰδίας ἔχουσαι ῥοπὰς ἐφέροντο χωρίς, οὐ παντάπασιν οὐδ᾿ εἰλικρινῶς ἀποκρινόμεναι, διὰ τὸ πάντων ἀναμεμιγμένων ἀεὶ τὰ κρατούμενα τοῖς ἐπικρατοῦσι παρὰ φύσιν ἕπεσθαι. διὸ δὴ τοῖς τῶν σωμάτων γένεσιν ἄλλων ἀλλαχῇ φερομένων ἰσαρίθμους μερίδας καὶ διαστάσεις ἐποίησαν, τὴν μὲν οὐ καθαροῦ πυρὸς ἀλλὰ πυροειδῆ, τὴν δ᾿ οὐκ ἀμιγοῦς αἰθέρος ἀλλ᾿ αἰθεροειδῆ, τὴν δ᾿ οὐ γῆς αὐτῆς καθ᾿ ἑαυτὴν ἀλλὰ γεοειδῆ κτλ. 371 De def. or. 37, 430E … ὁ θεὸς […] τὴν οὐσίαν […] ὑπ᾿ αὐτῆς διεστῶσαν αὐτὴν καὶ φερομένην χωρὶς ἐν ἀκοσμίαις τοσαύταις παραλαβὼν ἔταξε καὶ συνήρμοσε δι᾿ ἀναλογίας καὶ μεσότητος· εἶθ᾿ ἑκάστῃ λόγον ἐγκαταστήσας ὥσπερ ἁρμοστὴν καὶ φύλακα κόσμους ἐποίησε τοσούτους, ὅσα γένη τῶν πρώτων σωμάτων ὑπῆρχε.

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III. Hauptgespräch

pflegt. Lamprias integriert Timaios 55c4–6 (ἔτι δ᾿ οὔσης συστάσεως μιᾶς πέμπτης, ἐπὶ τὸ πᾶν ὁ θεὸς αὐτῇ κατεχρήσατο ἐκεῖνο διαζωγραφῶν) in seine Ausgangsfrage: Indem er das Platonzitat erst bei ἐπὶ τὸ πᾶν ὁ θεός (in umgekehrter Wortfolge) einsetzen lässt, kann er stillschweigend Platons σύστασις μία πέμπτη, womit dieser den Dodekaeder – einen (μία) weiteren, von ihm in seinem Aufbau nicht diskutierten vollkommenen geometrischen Körper372 – bezeichnet, zu ἡ πέμπτη σύστασις variieren und aus der so entstandenen Formulierung „die fünfte Struktur“ gleichsam den Gesamtkomplex der Ordnungstat des Gottes ableiten, der das All pentadisch in fünf einheitliche Elementensortierungen, die als Kosmoi verstanden werden sollen, ordnet. Damit enthalten ‚Plutarchs‘ Ausführungen im 11. Kapitel von De E apud Delphos über die fünf Elementarkosmoi im einen Kosmos, denen die fünf platonischen Körper zugeordnet sind, in nuce eine Timaios-Interpretation, die Plutarch Lamprias in De defectu oraculorum mit großem interpretatorischen Aufwand ausführlich begründen lässt, einem Aufwand, der Plutarchs intensives Interesse an der Plausibilisierung eines bei Platon nur angedeuteten kosmologischen Sachverhaltes dokumentiert. Überblickt man den gesamten Duktus des großen Lampriasexkurses in De defectu oraculorum, so bildet die Darstellung ‚Plutarchs‘ gleichsam eine Kurzversion der dortigen Überlegungen, denn hier wie dort folgt auf die Erörterung von fünf distinkten Großkosmoi die Erwägung von fünf distinkten Elementarkosmoi in einem Kosmos. Wenn OBSIEGER am Ende seines Kommentars zum 11. Kapitel von De E apud Delphos durch bloßes Zitat eines wenig aussagekräftigen und von ihm entsprechend nicht kommentierten Passus aus De animae procreatione in Timaeo suggerieren will, dass „der historische Plutarch sich offenbar nicht der Interpretation an[schließt], nach der die Elemente die fünf Kosmoi des Timaios sind“,373 so stellt dies einen vor dem Hintergrund der Ausführungen in De defectu oraculorum wenig überzeugenden Versuch dar, den Redner in De E apud Delphos gegen seinen Schöpfer, den Autor Plutarch, auszuspielen. Kann somit ‚Plutarchs‘ Darstellung der ersten beiden platonischen Pentaden als Abbreviatur einer vom Autor anderwärts mit größter Aufmerksamkeit verfolgten Platonexegese gelten, so trifft auf die Präsentation der dritten Pentade der Sinne und ihre Zuordnung zur Elementenpentade, mit der ‚Plutarch‘ im 12. Kapitel seine Platonreferenzen vorerst beendet, der umgekehrte Fall zu. Lamprias nennt in De defectu oraculorum 36, 429E als erstes Beispiel für die Ubiquität der Fünf in der Natur die αἰσθήσεις πέντε,                                                              372

Der Verzicht auf die Konstruktionsbeschreibung des Dodekaeders erklärt sich daraus, dass dieser sich nicht wie die anderen Körper aus regelmäßigen Dreiecken, sondern aus regelmäßigen Fünfecken zusammensetzt. 373 OBSIEGER (2007) 136 mit Zitat De an. procr. 25, 1025AB.

7. Die Rede ‚Plutarchs‘

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ohne sich auf eine detaillierte Diskussion weiterer philosophischer Implikationen dieser fünf Sinne einzulassen. Da sich eine solche Diskussion allerdings im Rahmen der platonischen Pentaden in der Rede ‚Plutarchs‘ durchaus nahelegt, da Platon ja selbst im Timaios Andeutungen über eine Zuordnung der Sinnesorgane zu den Elementen macht,374 hat ihre verhältnismäßig breite Behandlung in den Worten ‚Plutarchs‘ ihren passenden Ort. So liegt den Kapiteln 11 und 12 von De E apud Delphos eine ökonomisch teils verdichtete, teils erweiterte Version von Spekulationen zugrunde, denen Plutarch nach dem Ausweis von De defectu oraculorum großes Interesse entgegengebracht hat. Wie sehr der Autor in der Übertragung von Elementen aus dem einen Text in den anderen seine Forschungen zu platonischen Pentaden höchst ökonomisch vorgenommen und auf das Argumentationsziel des jeweiligen Redners abgestimmt hat, wird sich noch bei der Diskussion des 15. Kapitels von De E apud Delphos zeigen, in dem ‚Plutarch‘ nochmals auf Platon zu sprechen kommt und mit einem philosophischen Parforceritt seine inhaltliche Argumentation für die philosophische Bedeutung der Fünf beschließt. Dort greift er unter anderem auf die fünf μέγιστα γένη aus Platons Sophistes zurück, die in der Rede des Lamprias als ein vorzügliches ontologisches Kriterium für die Argumentation einer pentadischen Struktur des Alls dienen. 7.2.7 Weitere Pentaden: Die Weltteile bei Homer – Die Stadien der Entstehung von Lebewesen – Die Gattungen beseelter Wesen – Die Teile der Seele Bevor ‚Plutarch‘ sich dem übergreifenden Thema seines nächsten Redeabschnittes, der Bedeutung der Fünf im Bereich der Seele, zuwendet, schiebt er mit Homer noch eine weitere Autorität für die Ansicht einer pentadischen Struktur des Alls nach. Dieser habe als erster eine Fünfteilung des Kosmos vorgenommen, wobei er die beiden äußersten Weltzonen, den Olymp und die Erde, allen Göttern zum gemeinsamen Besitz zugewiesen, die drei mittleren Bereiche jedoch jeweils einem Gott unterstellt habe.375 Die gleiche Berufung auf die Autorität Homers zugunsten der These von fünf Kosmoi hat                                                              374

Vgl. oben, S. 210 mit Anm. 343. De E 13, 390C. Vgl. die Erzählung des Poseidon über die Auslosung der Herrschaftsbereiche zwischen ihm selbst, Zeus und Hades Hom. Il. 15, 187–193: τρεῖς γάρ τ᾿ ἐκ Κρόνου εἰμὲν ἀδελφεοί, οὓς τέκετο Ῥέα, Ζεὺς καὶ ἐγώ, τρίτατος δ᾿ Ἀΐδης, ἐνέροισιν ἀνάσσων. τριχθὰ δὲ πάντα δέδασθαι, ἕκαστος δ᾿ ἔμμορε τιμῆς· ἤτοι ἐγὼν ἔλαχον πολιὴν ἅλα ναιέμεν αἰεὶ παλλομένων, Ἀΐδης δ᾿ ἔλαχε ζόφον ἠερόεντα, Ζεὺς δ᾿ ἔλαχ᾿ οὐρανὸν εὐρὺν ἐν αἰθέρι καὶ νεφέλῃσι· γαῖα δ᾿ ἔτι ξυνὴ πάντων καὶ μακρὸς Ὄλυμπος. 375

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III. Hauptgespräch

Plutarch auch in De defectu oraculorum in den Gesprächsverlauf eingebettet, freilich weniger, um ihr eine tragende Rolle in der Argumentation zuzuweisen, sondern vielmehr als gelehrten Nachweis des Alters und der Dignität der von Platon erwogenen Lehre einer Fünfzahl von Elementarkosmoi.376 An der vorliegenden Stelle in De E apud Delphos hat die Erwähnung Homers analog weniger eine argumentative als eine kompositorische und eine damit verbundene ethopoietische Funktion. Sie charakterisiert dadurch, dass ‚Plutarch‘ seine Ausführungen über die kosmologische Bedeutung der Fünf mit einer Autoritätsanrufung beginnt und abrundet, den Stolz dessen, der sich in seinen Spekulationen über die Fünf mit den Größten der griechischen Tradition einig weiß. Den ringkompositorischen Aspekt unterstreicht eine Korrespondenz des Verhaltens des Sprechers: Wie ‚Plutarch‘ schon seine Einführung Platons in die Argumentation zur Erhöhung der Bedeutsamkeit seiner Ausführungen selbst kommentiert hatte (De E 11, 389F τὸν Πλάτωνα προσάξομαι), so stilisiert der Autor, der auktorial zunächst ein kurzes Innehalten ‚Plutarchs‘ vermerkt (ἅμα δέ πως ἐπιστήσας καὶ διαλιπών), den abschließenden Nachtrag Homers als gerade noch glücklich vermiedene Unterschlagung des eigentlichen Vaters der Vorstellung einer pentadischen Ordnung des Kosmos: „Was ist geschehen, lieber Eustrophos? Wir hätten beinahe Homer vergessen, als ob nicht er als erster die Welt in fünf Teile geteilt hätte!“377 Die leichte Ironie, die in diesem Passus das Verhältnis des Autors zu ‚Plutarch‘ ausmacht, gleicht, indem sie der Auflockerung der Rede dient, bevor sich ‚Plutarch‘ seinem nächsten Argumentationskomplex zuwendet, den thematischen Nachklapp der Homererwähnung mehr als aus.378

                                                            

376 De def. or. 23, 422EF καὶ ὁ Ἡρακλέων ἀλλὰ μὴν ὑμῶν, ἔφη, τῶν γραμματικῶν ἀκούομεν εἰς Ὅμηρον αγόντων τὴν δόξαν, ὡς ἐκείνου τὸ πᾶν εἰς πέντε κόσμους διανέμοντος, οὐρανὸν ὕδωρ ἀέρα γῆν ὄλυμπον. ὧν τὰ μὲν δύο κοινὰ καταλείπει, γῆν μὲν τοῦ κάτω παντὸς οὖσαν ὄλυμπον δὲ τοῦ ἄνω παντός· οἱ δ᾿ ἐν μέσῳ τρεῖς τοῖς τρισὶ θεοῖς ἀπεδόθησαν. οὕτω δὲ καὶ Πλάτων ἔοικε κτλ. Das geringe Gewicht der Homerevokation bezeugt die Reaktion des angeredeten Demetrios auf Herakleons Ausführungen De def. or. 23, 423A καὶ ὁ Δημήτριος Ὅμηρον, ἔφη, τί κινοῦμεν ἐν τῷ παρόντι; μύθων γὰρ ἅλις. Πλάτων δὲ κτλ. 377 De E 13, 390C οἷον, εἶπον, ὦ Εὔστροφε, πεπόνθαμεν, ὀλίγου παρελθόντες τὸν Ὅμηρον ὡς οὐχὶ πρῶτον εἰς πέντε νείμαντα μερίδας τὸν κόσμον κτλ. 378 Vgl. VAN DER STOCKT (2006) 50 „L’auctoritas d’Homère (Il. 15.187–193) divisant le monde en cinq parties n’est pas pour Plutarque, dans De E 390C, qu’une des nombreuses indications de l’importance du nombre cinq; il y semble faire appel de manière un peu ironique: οἷον … πεπόνθαμεν, ὀλίγου παρελθόντες τὸν Ὅμηρον; remarquez d’ailleurs le silence curieux qui précède l’argument […] et le ‚retour au sujet‘ immédiatement après la référence à Homère, qui se trouve donc un peu isolée.“

7. Die Rede ‚Plutarchs‘

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„Aber zurück zum Thema!“ Mit einem als solches ausgewiesenem Euripideszitat379 ruft der Sprecher sich aus seiner pflichtschuldigen Homererwähnung zurück und geht zum Hauptthema des 13. Kapitels über, der Bedeutung der Fünf im Bereich der Seele. Die Grundlage für ‚Plutarchs‘ Argumentation in diesem Abschnitt bildet der im 8. Kapitel ausgeführte Gedanke, die Fünf werde „Natur“ (φύσις) genannt, eine Bezeichnung, die mit der Vorstellung eines zyklischen Reproduktionsverhaltens der Natur wie der Zahl begründet wurde: Wie die Natur aus einem Samen eine Pflanze entstehen lässt, die schließlich wieder einen Samen hervorbringt, so bringt die Fünf in der Selbstaddition alternierend bald die Zehn, bald wieder sich selbst hervor.380 Am Beispiel der Zyklizität der Natur hatte Plutarch erklärt, dass diese (und somit implizit auch die Fünf) somit ἀρχή und τέλος in sich vereine.381 Diese Zielgerichtetheit der Natur ist nun das Generalthema des 13. Kapitels, in dem ‚Plutarch‘ darlegt, wie sich die Natur in ihrer höchsten Entwicklungsstufe, der des beseelten Lebewesens, selbst vollendet, indem sie zunächst einen fünfstufigen Entwicklungsgang vom ausdehnungslosen Punkt bis zu einem von der Seele beherrschten Organismus durchläuft, sodann genau fünf Gattungen von beseelten Wesen erzeugt und schließlich auch in der Seele selbst als deren fünfteilige Gliederung erscheint. In jeder dieser pentadischen Repräsentationen der φύσις weist ‚Plutarch‘ ausdrücklich auf das τέλος hin, das in der Pentade erreicht sei.382                                                             

379 De E 13, 390C ἀλλ᾿ ἀνοιστέος ὁ λόγος ὡς Εὐριπίδης φησίν. Der Vers, „une formule de transition ornamentale“ (VAN DER STOCKT, 2006, 50), erscheint auch in De def. or. 38, 431A im Mund des Demetrios. Zwar spricht nach VAN DER STOCKT (2006) 50f. alles dafür, dass die Redewendung ihren ursprünglichen Ort in De defectu oraculorum hat und von Plutarch in einem redaktionellen Arbeitsschritt erst in De E apud Delphos kopiert wurde, doch ist die Einfügung des Verses nur auf der Oberfläche des Argumentationsablaufs „plutôt forcé“, nicht jedoch in der Textkonzeption des Autors: Bemerkenswerter Weise beschließt der Euripidesvers in beiden Dialogen den Abschnitt über die mögliche Fünfzahl von Kosmoi, und so liegt der Gedanke nahe, dass Plutarch bei der Abfassung von De E apud Delphos der Exkurscharakter des Passus in De defectu oraculorum so präsent war, dass er ihn zusammen mit den einzelnen Argumenten aus diesem Text in De E apud Delphos übernommen hat. Freilich ist dies wiederum nicht vollständig mechanisch geschehen, sondern Plutarch hat den Vers in De E apud Delphos durchaus sinnvoll umfunktioniert: Während der Autor in De defectu oraculorum vom Exkurs zurück zum Hauptgespräch leitet, ruft sich ‚Plutarch‘ in De E apud Delphos aus seinem Homernachtrag zurück zur Hauptlinie der Argumentation, die nunmehr den nächsten Themenbereich in Angriff nimmt. 380 Vgl. De E 8, 388CD. 381 De E 8, 388C ὡς γὰρ ἡ φύσις λαβοῦσα πυρὸν ἐν σπέρματι †καὶ χθαμένη πολλὰ μὲν ἐν μέσῳ φύει σχήματα καὶ εἴδη, δι᾿ ὧν ἐπὶ τέλος ἐξάγει τὸ ἔργον, ἐπὶ πᾶσι δὲ πυρὸν ἀνέδειξεν ἀποδοῦσα τὴν ἀρχὴν ἐν τῷ τέλει τοῦ παντός, οὕτω κτλ. 382 Vgl. De E 13, 390D–F: Die Vier führt die φύσις nur bis zum τελειῶσαι des Körpers, der ohne die Seele, die ihn beherrscht, ein ἀτελές darstellt. Kommt freilich die Seele hinzu,

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III. Hauptgespräch

Der Hinweis auf die Fünfteiligkeit der Seele, mit dem ‚Plutarchs‘ Argumentation schließt, vereint am anschaulichsten die beiden Aspekte der als φύσις begriffenen Zahl Fünf, die sich sowohl in pentadischen Strukturen des Kosmos repräsentiert, indem sie eine begrenzte Differenzierung bestimmter Genera in fünf Spezies herbeiführt, als auch in der hierarchisch am höchsten stehenden fünften Spezies ihr τέλος erreicht: „Ferner, wenn man die Seele selbst naturgemäß unterteilt, so ist ihr erster und unbedeutendster Teil das Vermögen der Ernährung, das zweite das Wahrnehmungsvermögen, dann das Begehren, zu dem das Muthafte tritt; wenn sie aber bis zur Fähigkeit des rationalen Denkens gelangt und die Natur vollendet, bleibt sie gleichsam beim höchsten, fünften Seelenteil stehen.“383 Intertextuell verweist die von ‚Plutarch‘ gebrauchte Formulierung des τὴν ψυχὴν κατὰ φύσιν διαιρεῖν wiederum auf eine Parallelstelle in der großen Rede des Lamprias in De defectu oraculorum, wo dieser eine Liste von Pentaden, die seine These erhärten soll, die Fünf besitze „von Natur aus die Kraft der Differenzierung“ und die Natur wiederum „teile gemäß dieser Zahl das meiste ein“, unter anderem mit dem Hinweis darauf eröffnet, dass die Natur dem Menschen fünf Seelenteile zugewiesen hat.384 Freilich handelt es sich im Falle der Erwähnung der Pentade der Seelenteile in De E apud Delphos keineswegs um eine simple Zweitverwertung des Argumentes aus De defectu oraculorum, sondern sie ist dem spezifischen Argumentationsziel ‚Plutarchs‘ im 13. Kapitel konsequent angepasst: Dort werden nicht nur Pentaden als Grundform der natürlichen Strukturierung der Welt am Beispiel der Seele genannt, sondern darüber hinaus auch der Aspekt der teleologischen Funktion der Fünf besonders hervorgehoben. Dieser zusätzliche Aspekt in den Ausführungen ‚Plutarchs‘ zeigt sich deutlich daran, dass er, im Gegensatz zu Lamprias, in den Katalog der fünf Seelenteile Wertungen einfließen lässt,                                                              so „verleiht die Kraft oder Wirkung, die die Seele [sc. in den Körper] bringt, durch eine Wandlung vermittels der Fünf der Natur die Vollendung“ (ἡ δὲ τὴν ψυχὴν ἐμποιοῦσα κίνησις ἢ διάθεσις μεταβολῇ διὰ πέντε γιγνομένη τῇ φύσει τὸ τέλειον ἀποδίδωσι). Hinsichtlich der Anzahl an beseelten Lebewesen wirkt die Symmetrie und Kraft der Fünf begrenzend, indem sie nicht unzählige, sondern genau fünf Gattungen entstehen lässt (οὐκ εἴασεν εἰς ἄπειρα γένη προελθεῖν τὸ ἔμψυχον, ἀλλὰ πέντε τῶν ζώντων ἁπάντων ἰδέας παρέσχεν). Zerlege man wiederum die Seele „gemäß der Natur“, komme man auf exakt fünf Seelenteile, deren hierarchische Entwicklung bei dem höchsten Seelenvermögen, dem λογιστικόν, stehenbleibe, und somit die Natur auf der fünften Stufe vollende (vgl. das Zitat in der folgenden Anm.). 383 De E 13, 390F ἔτι δ᾿ εἰ τὴν ψυχὴν αὐτὴν κατὰ φύσιν διαιροῖς, πρῶτον αὐτῆς καὶ ἀμαυρότατόν ἐστι τὸ θρεπτικὸν δεύτερον δὲ τὸ αἰσθητικὸν εἶτα τὸ ἐπιθυμητικὸν εἶτ᾿ ἐπὶ τούτῳ τὸ θυμοειδές· εἰς δὲ τὴν τοῦ λογιστικοῦ δύναμιν ἐξικομένη καὶ τελεώσασα τὴν φύσιν ὥσπερ ἐν ἄκρῳ τῷ πέμπτῳ καταπέπαυται. 384 De def. or. 36, 429E … τὸ φύσει διαιρετικὸν τοῦ ἀριθμοῦ καὶ τὰ πλεῖστα τούτῳ τὴν φύσιν διανέμειν. ἔνειμε γὰρ ἡμῖν αὐτοῖς αἰσθήσεις πέντε καὶ μέρη ψυχῆς, φυτικὸν αἰσθητικὸν ἐπιθυμητικὸν θυμοειδὲς λογιστικόν κτλ.

7. Die Rede ‚Plutarchs‘

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in dem er die einfachste Seelenfunktion des θρεπτικόν als ἀμαυρότατον, die höchste und fünfte des λογιστικόν aber als Vollendung der Natur durch die Seele (τελεώσασα τὴν φύσιν) bezeichnet. Die Ursache für diese Variation liegt im jeweiligen Argumentationsziel der Sprecher, die Variation ist mithin vom Autor bewusst gestaltet: Lamprias setzt den Pentadenkatalog zur Untermauerung seiner These für eine exakt auf die Zahl Fünf begrenzte Vielzahl der körperlichen Wirklichkeit ein, die er daraus ableitet, dass die beiden obersten pythagoreischen Prinzipien, ἕν und ἀόριστος δυάς, verstanden als demiurgische ἀρχαί des Ungeraden und des Geraden, im Bereich der konkreten Zahlen zunächst die Drei und die Zwei generieren, aus deren Addition dann die Fünf entsteht, in der sich die unbegrenzte Zweiheit als Vielzahl, die Einheit des ἕν jedoch als Begrenzung eben dieser Vielzahl auswirkt.385 Lamprias’ abschließende Erklärung für die Bedeutung der Fünfzahl als der eines Kompromisses zwischen Vielheit und Einheit hebt entsprechend den eher restriktiven Charakter der Begrenzung der Vielheit durch die Einheit in der Fünf hervor.386 ‚Plutarch‘ hingegen soll nach des Autors Willen durchweg die Grandiosität der Fünf in allen erdenklichen Bereichen nachweisen, und so betont er im Vergleich zu Lamprias besonders den teleologischen Aspekt der Zahl als der Vollendung der Natur, gegenüber dem das Moment der Begrenzung nur eine untergeordnete, wenn auch in den Ablauf seiner Argumentation im 13. Kapitel von De E apud Delphos geschickt integrierte Rolle spielt. Dieser Redehaltung ist denn auch der Einstieg geschuldet, den der Autor ‚Plutarch‘ in den Preis der Fünf hinsichtlich der Seele machen lässt und dessen materialer Gehalt bei Lamprias keine Parallele hat. In der Überzeugung, diese sogleich zu überbieten, führt ‚Plutarch‘ in leicht süffisantem Ton387 der eigenen Überlegenheit eine „nicht üble“ Lehre „derjenigen, die die Vier lobpreisen“, mithin der Pythagoreer, ein, die die besondere Bedeutung dieser Zahl in den vier Stadien der dimensionalen Entwicklung aller sinnlich wahrnehmbaren Körper über Punkt, Linie, Fläche bis hin zum Raum erkennen.388 Es sei freilich, so ‚Plutarch‘, jedem klar, dass die Vier im                                                             

Vgl. De def. or. 35, 428E–429D. De def. or. 35, 429C … ἀλλὰ πλῆθος μὲν γέγονε κόσμων ὑπὸ τῆς ἑτερότητος τοῦ ἀορίστου καὶ διαφορᾶς, περιττὸν δὲ πλῆθος ἡ ταὐτοῦ καὶ ὡρισμένου δύναμις ἀπείργασται, περιττὸν δὲ τοιοῦτον, ὅτι πορρωτέρω τὴν φύσιν ἢ βέλτιον ἔχει προελθεῖν οὐκ εἴασεν. 387 Vgl. OBSIEGER (2007) 147f. 388 De E 13, 390CD οἱ γὰρ τὴν τετράδα σεμνύναντες οὐ φαύλως διδάσκουσιν, ὅτι τῷ ταύτης λόγῳ πᾶν σῶμα γένεσιν ἔσχηκεν. ἐπεὶ γὰρ ἐν μήκει καὶ πλάτει βάθος λαβόντι πᾶν τὸ στερεόν ἐστι, καὶ μήκους μὲν προϋφίσταται στιγμὴ κατὰ μονάδα ταττομένη, μῆκος δ᾿ ἀπλατὲς [ἡ] γραμμὴ καλεῖται καὶ δυάς ἐστιν, ἡ δ᾿ ἐπὶ πλάτος γραμμῆς κίνησις ἐπιφανείας γένεσιν ἐν τριάδι παρέσχε, βάθους δὲ τούτοις προσγενομένου διὰ τεττάρων εἰς στερεὸν ἡ αὔξησις προβαίνει κτλ. Plutarch bedient sich dieses Schemas noch an zwei weiteren Stellen seines Werkes: Die dritte Platonica Quaestio erörtert die Frage, ob Platon in Rep. VI 509d, 385 386

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III. Hauptgespräch

pythagoreischen Modell das τέλος der Natur nur defizitär bestimme, da sie diese nur „bis auf das Stadium entwickelt, in dem der Körper vollendet ist und eine berührbare und feste Masse darstellt, sie dann aber des Bedeutendsten bedürftig im Stich lässt.“389 Unbeseeltes sei nämlich schlicht mangelhaft und unvollendet (ὀρφανὸν καὶ ἀτελές) und bedürfe zu seiner Vervollkommnung einer Seele, die es beherrsche. Diejenige Entwicklung hingegen, die dem in vier Dimensionen entstandenen Körper zusätzlich eine Seele gebe, sei pentadischer Natur und übertreffe in ihrem Wert dadurch, dass sie die Natur zur Vollendung führe, die defizitäre Vier so sehr wie das beseelte Lebewesen alles Unbeseelte überrage.390 Mit diesen Ausführungen zeigt                                                              wo er zu Beginn des Liniengleichnisses ausführt, dass die beiden Bereiche des sinnlich und des geistig Wahrnehmbaren zwei Abschnitten auf einer in ungleiche Teile geteilten Linie entsprechen, dem Bereich des sinnlich oder dem des geistig Wahrnehmbaren den größeren Teil der Linie zugewiesen habe, mithin welcher Bereich größer sei. Der erste Lösungsvorschlag plädiert für ein größeres Volumen des Bereichs der Sinnendinge, und in PQ 3, 1001E–1002A zieht Plutarch als Argument die Theorie heran, dass die νοηταὶ ἰδέαι vollständig dimensionslos und unterschiedslos „gemäß dem Einen und Einzigen (κατὰ τὸ ἓν καὶ μόνον) gedacht werden“; erst in der Verbindung mit der ἀόριστος δυάς bringe die μονάς dann die Zahl hervor und gelange in den dimensionalen Schritten Punkt–Linie– Fläche–Körper bis zur Vielheit der Körperwelt (οὐ γὰρ ποιεῖ μονὰς ἀριθμόν, ἂν μὴ τῆς ἀπείρου δυάδος ἅψηται· ποιήσασα δ᾿ οὕτως ἀριθμόν, εἰς στιγμὰς εἶτα γραμμὰς ἐκ δὲ τούτων εἰς ἐπιφανείας καὶ βάθη καὶ σώματα πρόεισι καὶ σωμάτων ποιότητας ἐν πάθεσι γιγνομένων). Auf Grund dieses dimensionalen Entwicklungsprozesses erscheint die Sinnenwelt gegenüber dem Bereich der νοητά größer. Zwar argumentiert Plutarch im weiteren Verlauf der Quaestio auch noch gewohnheitsgemäß für die Antithese, der Bereich der geistig erfassbaren Dinge sei größer, eine Position, die FERRARI (1995) 202–213 als die von Plutarch bevorzugte zu erweisen versucht, doch bleibt das pythagoreische Entwicklungsschema dennoch „una posizione interessante“ (FERRARI, 1995, 49) für Plutarch, wie sich auch an der zweiten Stelle erweist, an der das Schema verwendet. Frg. 110 Sandbach enthält einen Kommentar Plutarchs zu Hes. OD 809 τετράδι δ᾿ ἄρχεσθαι νῆας πήγνυσθαι ἀραιάς, dem Rat, am vierten Tage beschädigte Schiffe auszubessern, den Plutarch dahingehend auslegt, dass er zu den Vorstellungen von der Vier passe, denn diese repräsentiere ja die Dimension eines Festkörpers (καὶ τοῦτο συμβαίνει τοῖς περὶ τῆς τετράδος ἀξιώμασιν· εἰ γὰρ στιγμῇ μὲν ἡ μονὰς ἀνάλογος γραμμῇ δ᾿ ἡ δυὰς ἐπιπέδῳ δ᾿ ἡ τριάς, δῆλον ὡς τῷ στερεῷ προσήκοι ἂν ἡ τετράς· εἰκότως οὖν ἐπιτηδεία πρὸς σύμπηξιν τῶν νεῶν). Die durchaus willkürlichen Anwendung des Schemas auf die Erklärung eines Hesiodverses lässt darauf schließen, dass es sich bei der tetradischen pythagoreischen Dimensionenlehre offenbar um ein von Plutarch ad hoc auf die verschiedensten Sachverhalte angewendetes Erklärungsmodell aus seinem philosophischen Repertoire handelt. 389 De E 13, 390D … παντὶ δῆλον, ὅτι δεῦρο τὴν φύσιν ἡ τετρὰς προαγαγοῦσα, μέχρι τοῦ σῶμα τελειῶσαι καὶ παρασχεῖν ἁπτὸν ὄγκον καὶ ἀντίτυπον, εἶτ᾿ ἀπολέλοιπεν ἐνδεᾶ τοῦ μεγίστου. 390 De E 13, 390DE ἡ δὲ τὴν ψυχὴν ἐμποιοῦσα κίνησις ἢ διάθεσις μεταβολῇ διὰ πέντε γιγνομένη τῇ φύσει τὸ τέλειον ἀποδίδωσι καὶ τοσούτῳ κυριότερον ἔχει τῆς τετράδος λόγον, ὅσῳ τιμῇ διαφέρει τοῦ ἀψύχου τὸ ζῷον.

7. Die Rede ‚Plutarchs‘

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sich ‚Plutarch‘ erneut als souveräner und kreativer Mathematiker, denn einerseits nützt er die pythagoreische Lehre von der Besonderheit der Vier, die sich in der dimensionalen Entwicklung der Körper zeigt, andererseits überbietet er sie durch die Postulierung einer notwendigen fünften Dimension, der Seele, wodurch er der Fünf erneut ihren besonderen Rang unter den Zahlen zuweist. Die Brücke zwischen diesem ersten Argument zugunsten der herausragenden Rolle der Fünf, in dem die Seele als τέλος der Natur erscheint, und dem zu Anfang diskutierten letzten Argument der Fünfteiligkeit der Menschenseele, die beide die Pentadizität eines Phänomens der Wirklichkeit um den teleologisch-hierarchischen Aspekt der Vollendung der Natur in der Fünf ergänzen, lässt der Autor ‚Plutarch‘ durch ein weiteres Argument aus dem Themengebiet der Seele schlagen, das in der kreativen Verbindung zweier ursprünglich voneinander unabhängiger Theoreme aus De defectu oraculorum besteht. Der materiale Aspekt des Argumentes, es gebe innerhalb der soeben als τέλος der Natur gepriesenen Gattung der beseelten Wesen nur fünf Spezies – Götter, Daimones, Heroen, Menschen und beseelte, jedoch nicht mit Denkvermögen ausgestattete Tiere – lehnt sich an eine Äußerung des Kleombrotos in De defectu oraculorum an, der dort im 10. Kapitel seine Zurückführung des Phänomens der Mantik auf die Tätigkeit von Daimones mit der Anführung diverser Autoritäten beginnt, die grundsätzlich für die Existenz dieser Zwischenwesen plädierten; unter diesen bezeichnet er Hesiod als denjenigen, der „als erster analytisch sauber vier Spezies von vernunftbegabten Wesen dargelegt hat, Götter, Daimones, Heroen und schließlich Menschen.“391 Die Variation dieses um die Spezies der nicht vernunftbegabten Tiere ergänzten Kataloges durch ‚Plutarch‘ in De E apud Delphos ergibt sich aus dem anders angelegten Kriterium der in ihren Bestandteilen aufgezählten Gattung: Während Kleombrotos die vier vernunftbegabten Wesen aufzählt, spricht ‚Plutarch‘ von den fünf überhaupt beseelten Wesen und setzt die Spezies der Tiere von den höherentwickelten vier anderen Wesen ab, indem er sie als ἄλογον bezeichnet. Die Arbeit des Autors mit dem Katalog aus De defectu oraculorum im Interesse ‚Plutarchs‘ bereitet dabei schon die Pointe des letzten Argumentes vor, indem gerade der fünfte Seelenteil, das λογιστικόν, als abschließender Beweis für die teleologische Pentadenstruktur des seelischen Bereichs erscheinen kann, wodurch die Pentade der Seelenteile gewissermaßen die Pentade der beseelten Wesen noch an Ehrwürdigkeit übertrifft.                                                             

De E 13, 390E εἰσὶ γὰρ θεοὶ δήπου καὶ δαίμονες καὶ ἥρωες, εἶτα μετὰ τούτους τὸ τέταρτον ἄνθρωποι γένος, ἔσχατον δὲ καὶ πέμπτον τὸ ἄλογον καὶ θηριῶδες. De def. or. 10, 415B Ἡσίοδος δὲ καθαρῶς καὶ διωρισμένως πρῶτος ἐξέθηκε τῶν λογικῶν τέσσαρα γένη, θεοὺς εἶτα δαίμονας εἶθ᾿ ἥρωας τὸ δ᾿ ἐπὶ πᾶσιν ἀνθρώπους κτλ. 391

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III. Hauptgespräch

Mit dieser Steigerung des Gewichtes des letzten Argumentes gegenüber dem vorangehenden hängt auch der qualitative Aspekt der Darstellung der Pentade der Seelenwesen zusammen, denn dieser gründet in der These der Lampriasrede in De defectu oraculorum, nach der in der Fünfzahl ein Kompromiss zwischen unendlicher Vielheit und Vielheit gänzlich ausschließender Einheit, mithin im Antagonismus von ἕν und ἀόριστος δυάς, erreicht werde. Die exakte Fünfzahl der Kosmoi wird dabei durch Lamprias damit begründet, dass das die Vielheit begrenzende Prinzip des ἕν, auf das die erste ungerade Zahl Drei zurückgeht, die zusammen mit der ersten, aus der ἀόριστος δυάς abgeleiteten geraden Zahl Zwei die Fünf ergibt, „die Natur nicht weiter fortschreiten ließ, als es gut ist“ (πορρωτέρω τὴν φύσιν ἢ βέλτιον ἔχει προελθεῖν οὐκ εἴασεν).392 Dieser Begrenzungsaspekt der Fünf im Hinblick auf eine potenziell zur unbegrenzten Vielheit hin tendierende Wirklichkeit wird nun von ‚Plutarch‘ zu einer weiteren Tugend der Zahl ausgebaut; gegenüber der Bedeutung der Fünf bei der dimensionalen Entwicklung der Lebewesen ist ihre Wirkung in der Begrenzung der Spezies der beseelten Wesen noch höher zu veranschlagen: „Ferner, indem sich die Symmetrie und Kraft der Fünfheit noch stärker auswirkte, ließ sie die Gattung der beseelten Wesen nicht in unendlich viele Spezies fortschreiten, sondern brachte fünf Erscheinungen aller Lebewesen hervor.“393 Indem ‚Plutarch‘ dann den Katalog hierarchisch mit den Göttern beginnt und mit der untersten, fünften Spezies der vernunftlosen Tiere beschließt, plausibilisiert er so nicht nur dadurch, dass er diejenige Spezies, die im Vergleich zu den vier ersten γένη λογικά nur die Mindestanforderung für eine Aufnahme in das Genos der beseelten Wesen erfüllt, an fünfter, hierarchisch niedrigster Stelle erwähnt, seine These von der die ἀπειρία begrenzenden Kraft der Fünf, sondern schafft sich selbst, wie gesagt, das Sprungbrett für das abschließende Argument, das in der Hervorbringung der höchsten Seelenfunktion, des λογιστικόν, der Fünf die schon im ersten Argument eingeführte Funktion der Vollenderin der Natur zuweist. 7.2.8 Die alternative γένεσις der Fünf Im kurzen 14. Kapitel von De E apud Delphos referiert ‚Plutarch‘ eine weitere zahlentheoretische Besonderheit der Fünf, ihre Entstehung aus den Zahlen Eins und Vier, denen eine eigene Bedeutsamkeit zukommt. Die erneute Rückkehr auf die herausragende Rolle der Fünf unter den Zahlen, die sich aus ihrer speziellen Zusammensetzung erklärt, mutet ringkompositorisch an. Der Redner leitet diesen Abschnitt mit der Formel τοσαύτας καὶ τηλικαύτας                                                             

De def. or. 35, 429C. De E 13, 390E ἔτι δ᾿ ἰσχύσασα μᾶλλον ἡ τῶν πέντε συμμετρία καὶ δύναμις οὐκ εἴασεν εἰς ἄπειρα γένη προελθεῖν τὸ ἔμψυχον, ἀλλὰ πέντε τῶν ζώντων ἁπάντων ἰδέας πάρεσχεν. 392 393

7. Die Rede ‚Plutarchs‘

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ἔχοντος τοῦ ἀριθμοῦ δυνάμεις ein und resümiert somit seine gesamten Ausführungen über die Fünf in den Kapiteln 8–13, um dann mit dem Verweis auf die vorausgehende erste Erklärung der Entstehung der Fünf eine Alternative zu dieser nachzureichen: Auch die Entstehung der Zahl sei schön, womit er nicht diejenige meine, die er bereits auseinandergesetzt habe, ihre Zusammensetzung aus der Zwei und der Drei, sondern ihre Kombination aus dem Zahlenprinzip und der ersten Quadratzahl, der Eins und der Vier.394 ‚Plutarchs‘ nun folgende zahlentheoretische Begründung der Besonderheit dieser Zusammensetzung – die Eins sei ja das Prinzip aller Zahlen, die Vier die erste Quadratzahl und beide zusammen ergäben die Fünf gleichsam als Verbindung von Idee und begrenzter Materie; wenn man auch die Eins als Quadratzahl ansehe, bestünde die Fünf aus den ersten beiden Quadratzahlen – setzt sich, wie schon die zahlentheoretischen Ausführungen des Eingangskapitels, aus gängigen Elementen in Plutarchs zahlenphilosophischem Repertoire zusammen und zeigt erneut die Kompetenz des Autors wie ‚Plutarchs‘ in diesem Wissenschaftsbereich.395 Auch in der Ethopoiie ‚Plutarchs‘ bleibt sich der Autor treu, wenn er dessen Begeisterung für alle erdenklichen löblichen Aspekte der Fünf hier noch einmal in dem leicht redundanten Eingehen auf die Besonderheit der Zusammensetzung der Zahl mit einem Argument illustriert, das er Lamprias in De defectu oraculorum nur in einer Präteritio vortragen,396 ‚Plutarch‘ jedoch abschließend mit der auftrumpfenden Feststellung kommentieren lässt, angesichts der Zusammensetzung der Fünf aus den ersten beiden Quadratzahlen sei deren εὐγένεια nicht mehr zu übertreffen.

                                                            

394 De E 14, 390F … καλὴ καὶ ἡ γένεσίς ἐστιν, οὐχ ἣν ἤδη διήλθομεν ἐκ δυάδος οὖσαν καὶ τριάδος, ἀλλ᾿ ἣν ἡ ἀρχὴ τῷ πρώτῳ συνελθοῦσα τετραγώνῳ παρέσχεν. 395 De E 14, 391A ἀρχὴ μὲν γὰρ ἀριθμοῦ παντὸς ἡ μονὰς [vgl. De an. procr. 11, 1017D … τὴν μὲν μονάδα, κοινὴν οὖσαν ἀρχὴν ἀρτίων καὶ περιττῶν. De E 8, 387E–388A ἐπεὶ γάρ, ἔφην, εἰς τὸ ἄρτιον νενεμημένου παντὸς ἀριθμοῦ καὶ τὸ περιττὸν ἡ μὲν μονὰς ἀμφοτέρων ἐπίκοινός ἐστι τῇ δυνάμει], τετράγωνος δὲ πρῶτος ἡ τετράς [vgl. De an. procr. 11, 1017D … τὰ δὲ τέτταρα καὶ ἐννέα πρώτους τετραγώνους]· ἐκ δὲ τούτων ὥσπερ ἰδέας καὶ ὕλης πέρας ἐχούσης ἡ πεμπάς [vgl. De def. or. 35, 429A αὗται δὲ πρῶτον αἱ ἀρχαὶ περὶ τὸν ἀριθμὸν ἐπιφαίνονται, μᾶλλον δ᾿ ὅλως ἀριθμὸς οὐκ ἔστι τὸ πλῆθος, ἂν μὴ καθάπερ εἶδος ὕλης τὸ ἓν γενόμενον ἐκ τῆς ἀπειρίας τοῦ ἀορίστου πῆ μὲν πλεῖον πῆ δ᾿ ἔλαττον ἀποτέμνηται. τότε γὰρ ἀριθμὸς γίγνεται τῶν πληθῶν ἕκαστον ὑπὸ τοῦ ἑνὸς ὁριζόμενον]. εἰ δὲ δὴ καὶ τὴν μονάδα τετράγωνον ὀρθῶς ἔνιοι τίθενται δύναμιν οὖσαν ἑαυτῆς καὶ περαίνουσαν εἰς ἑαυτήν [vgl. De E 8, 388C: Die Fünf wird φύσις genannt τῷ περὶ αὑτὸν πολλαπλασιασμῷ πάλιν εἰς ἑαυτὸν περαίνων, nämlich an der letzten Stelle des Quadrates 25], ἐκ δυεῖν πεφυκυῖα τῶν πρώτων τετραγώνων ἡ πεμπὰς οὐκ ἀπολέλοιπεν ὑπερβολὴν εὐγενείας. 396 De def. or. 36, 429DE ἐῶ δ᾿ ὅτι πρώτη μὲν ἐκ πρώτων δυεῖν τετραγώνων συνέστηκε τῆς τε μονάδος καὶ τῆς τετράδος ἡ πεμπάς κτλ.

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III. Hauptgespräch

Die eigentliche Qualität des Kapitels liegt in seiner strukturellen Einbettung in den Redezusammenhang: Einerseits hat die hier nochmals ausgebreitete Erklärung der Zusammensetzung der Fünf aus besonderen Zahlen, der Eins und der Vier, ihre logischen Wurzeln im vorausgehenden Kapitel, das ja gegenüber der pythagoreischen Verehrung der τετράς den noch höheren Rang der πεμπάς durch die Hinzufügung einer weiteren Dimension zu erweisen versucht hatte, mithin der Verbindung der Vier mit der Eins. Andererseits zielt ‚Plutarchs‘ Verbindung eines einleitenden Resümees des bereits Ausgeführten mit dem ringkompositorischen Anschluss einer erneuten Erörterung der γένεσις der Fünf auf eine geschickte Manipulation seiner Hörer und Leser ab, die nach dem kurzen Fazit und der angehängten Rückkehr zum Ausgangspunkt der Rede, die schließlich in einem hyperbolischen Preis der Fünf kulminiert, den Eindruck gewinnen sollen, der Redner sei nun mit seinen Ausführungen zu Rande gekommen. Umso überraschender dann Plutarchs Neueinsatz τὸ δὲ μέγιστον im 15. Kapitel, mit dem sich der Redner anschickt, das seines Erachtens beeindruckendste Phänomen der Fünf aufzudecken: Sie symbolisiert einzelne Pentaden in Platons Sophistes und Philebos und erweist sich somit als eine Art Vorwegnahme bedeutendster ontologischer Einsichten des großen Philosophen. 7.2.9 Die Pentaden in Platons Sophistes und Philebos ‚Plutarch‘ beginnt das Finale der Rede mit einem kurzen Präludium, das in einem gelehrten Witz auf Kosten Platons besteht, der dadurch, dass der Redner nun „das Bedeutendste“ auszusprechen gedenke, genauso in Verlegenheit geraten könne, wie Anaxagoras „angesichts des Namens des Mondes“: Was diesen betreffe, habe es sich nämlich erwiesen, dass der Vorsokratiker eine bereits uralte Lehre über das Licht der Himmelskörper als seine eigene Entdeckung ausgegeben habe. Wie sich ‚Plutarch‘ sogleich bei Eustrophos versichert, hatte Platon selbst im Kratylos einen solchen Plagiatsvorwurf gegen Anaxagoras erhoben, und so beruft sich ‚Plutarch‘ für den folgenden Beweisgang auf die Autorität Platons, um paradoxerweise diesen selbst als Plagiator zu erweisen.397 Das Plagiat Platons besteht nun darin, dass er in seinen Dialogen Sophistes und Philebos je eine Pentade von obersten Prinzipien (κυριώταται ἀρχαί) dargelegt habe, die derjenige, der das E in Delphi „als Hinweis auf und Zeichen für die Zahl des Alls“ (δήλωμα καὶ

                                                            

397 De E 15, 391AB τὸ δὲ μέγιστον, ἔφην, δέδια μὴ ῥηθὲν πιέζῃ τὸν Πλάτωνα ἡμῶν, ὡς ἐκεῖνος ἔλεγε πιέζεσθαι τῷ τῆς σελήνης ὀνόματι τὸν Ἀναξαγόραν, παμπάλαιον οὖσαν [τινα] τὴν περὶ τῶν φωτισμῶν δόξαν ἰδίαν αὑτοῦ ποιούμενον. ἦ γὰρ οὐ ταῦτ᾿ εἴρηκεν ἐν Κρατύλῳ; πάνυ μὲν οὖν, ὁ Εὔστροφος ἔφη, τί δ᾿ ὅμοιον πέφυκεν οὐ συνορῶ. Zu den Details der hier angesprochenen Stelle in Plat. Cra. 409a–c vgl. OBSIEGER (2007) 158f.

7. Die Rede ‚Plutarchs‘

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σύμβολον τοῦ ἀριθμοῦ τῶν πάντων) geweiht habe, bereits vorweggenommen habe.398 Seinen patentrechtlichen Ermittlerstolz begründet ‚Plutarch‘ mit der Beobachtung, Platon habe einerseits im Sophistes fünf oberste Prinzipien aufgewiesen, das Sein, das Selbige, das Verschiedene, die Bewegung und die Ruhe, andererseits „nach einer anderen Art der Einteilung“ im Philebos erstens von Unbegrenztem, zweitens von der Grenze, drittens von der Verbindung beider zum Werden und viertens von der Ursache für jene Verbindung gesprochen und ein fünftes Prinzip, das jene Verbindung wieder löse, implizit angenommen, es aber „uns zu vermuten übriggelassen.“399 Dieses allgemeine Referat über die beiden Prinzipienpentaden in Sophistes und Philebos, das der Sachlage bei Platon in den Grenzen von Plutarchs freiem Umgang mit dem philosophischen Vorbild durchaus gerecht wird und keinen Anlass dazu bietet, hier irgendeine Form ironischer Distanz zwischen Autor und Figur zu vermuten,400 ergänzt ‚Plutarch‘ durch eine Überlegung                                                             

398 De E 15, 390C †φησὶ δή τις ταῦτα πρότερος συνιδὼν Πλάτωνος δύο Ε καθιερώσας τῷ θεῷ, δήλωμα καὶ σύμβολον τοῦ ἀριθμοῦ τῶν πάντων. So der Text SIEVEKINGs, der freilich bei φησὶ δή und δύο einer Verbesserung bedarf. OBSIEGER (2007) diskutiert sorgfältig die Textlage und die gemachten Verbesserungsvorschläge, kruzifiziert jedoch in seinem Text weiterhin beide Ausdrücke. Die Tendenz der Aussage ist immerhin klar. 399 De E 15, 390B καὶ μὴν οἶσθα δήπουθεν, ὅτι πέντε μὲν ἐν Σοφιστῇ τὰς κυριωτάτας ἀποδείκνυσιν ἀρχάς, τὸ ὂν τὸ ταὐτὸν τὸ ἕτερον, τέταρτον δὲ καὶ πέμπτον ἐπὶ τούτοις κίνησιν καὶ στάσιν. ἄλλῳ δ᾿ αὖ τρόπῳ διαιρέσεως ἐν Φιλήβῳ χρώμενος ἓν μὲν εἶναί φησι τὸ ἄπειρον ἕτερον δὲ τὸ πέρας, τούτων δὲ μιγνυμένων πᾶσαν συνίστασθαι γένεσιν· αἰτίαν δ᾿, ὑφ᾿ ἧς μίγνυται, τέταρτον γένος τίθεται· καὶ πέμπτον ἡμῖν ὑπονοεῖν ἀπολέλοιπεν, ᾧ τὰ μιχθέντα πάλιν ἴσχει διάκρισιν καὶ διάστασιν. 400 Vgl. Plat. Soph. 254b–256d. Wenn ‚Plutarch‘ hier nicht den einschlägigen Begriff μέγιστα γένη sondern κυριώταται ἀρχαί verwendet, so ist dies wohl weniger mit der Behauptung von OBSIEGER (2007) 160 zu erklären, „Die Bezeichnung tritt der Einfachheit halber ein, weil sie weniger abstrakt und dunkel klingt als Größte Gattungen. Außerdem hat ‚Plutarch‘ mit τὸ μέγιστον einen besonders eindrucksvollen Punkt versprochen und jeder, der von κυριώταται ἀρχαί liest, weiß sogleich, dass jetzt zu den tiefsten Geheimnissen des Seins vorgestoßen werden soll“, als aus der Verbindung von gelehrter Rhetorik und Argumentationstaktik: Mit seiner Einleitung τὸ δὲ μέγιστον κτλ. hat ‚Plutarch‘ den Terminus aus dem Sophistes bereits anklingen lassen, und wenn er ihn dann bei der Erwähnung der Pentade im Sophistes vermeidet, liegt dies darin begründet, dass es ihm der terminologisch weniger eindeutige ontologische Begriff der κυριώταται ἀρχαί im Folgenden erleichtert, ein Entsprechungsverhältnis zwischen dieser Pentade und derjenigen des Philebos herzustellen, da in diesem Dialog der Begriff der μέγιστα γένη nicht fällt. Die von ‚Plutarch‘ angeführte Pentade des Philebos geht auf Plat. Phil. 23cd zurück, wo allerdings nur die ersten vier Prinzipien genannt werden. ‚Plutarch‘ kann sich freilich durchaus auf Platon berufen, wenn er davon spricht, Platon habe „uns das fünfte zu vermuten übriggelassen, durch das das Gemischte wieder eine Scheidung und Trennung erfährt“, nimmt er doch damit die Frage des Protarchos an Sokrates direkt im Anschluss an die Konstatierung der ersten vier Prinzipien auf, Sokrates bedürfe doch nicht etwa noch eines fünften Genos, das die Trennung einer Sache bewirke, worauf dieser antwortet:

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III. Hauptgespräch

über eine möglicherweise von Platon intendierte Entsprechung der beiden ontologischen Pentaden: „Ich vermute aber, dass diese Prinzipien von Platon als Abbilder jener formuliert werden, wobei dem Sein das Werdende, der Bewegung das Unbegrenzte, die Grenze der Ruhe, dem Selbigen das verbindende Prinzip, dem Verschiedenen das trennende entspricht. Wenn sie aber völlig verschieden sind, dürfte Platon sowohl nach jener Art der Einteilung als auch nach dieser fünf unterschiedliche Arten angenommen haben.“401 Dass der Fünfzahl im Werk Platons jedenfalls eine große Bedeutung zukomme, belegt ‚Plutarch‘ schließlich noch anhand einer weiteren                                                              „Vielleicht doch, allerdings glaube ich nicht für den jetzigen Moment. Wenn es aber nötig sein sollte, so wirst du mir wohl verzeihen, wenn ich ein fünftes zu fassen versuche“ (23d9– e1 ΠΡΩ. Μῶν οὖν σοι καὶ πέμπτου προσδεήσει διάκρισίν τινος δυναμένου; ΣΩ. Τάχ᾿ ἄν· οὐ μὴν οἶμαί γε ἐν τῷ νῦν· ἂν δέ τι δέῃ, συγγνώσῃ πού μοι σὺ μεταδιώκοντι πέμπτον [βίον]). Wenn OBSIEGER (2007) 161f. vermutet, dass ‚Plutarch‘ mit der Einbeziehung dieses fünften, nur angedeuteten Genos als Anregung Platons an seine Leser „augenzwinkernd“ andeute, dass er nicht vorhabe, seriös zu argumentieren („Bei Platon hat man umso weniger Grund, eine fünfte Klasse anzunehmen, als weiter unten 30a–b die Ursache der Trennung nicht berücksichtigt wird“) und apodiktisch festhält „Die kühne, im Dienste der Fünf stehende Interpretation ist zum Vergnügen der Leser gemacht. Sie können diese abenteuerliche Exegese umso mehr genießen, je besser sie den Philebos kennen“, so ist dem entgegenzuhalten, dass Plutarch, der Autor, auch in ironieunverdächtigen Passagen seines Werkes keinerlei Skrupel hat, Andeutungen Platons aufzunehmen und weiterzudenken. Ein beredtes Beispiel hierfür ist die oben diskutierte wie selbstverständliche Einbeziehung eines fünften Elementes in eine Interpretation des Timaios, das sich nur aus dem überschüssigen fünften Körper, dem Dodekaeder, ableiten lässt. OBSIEGERs Gedanke, ‚Plutarch‘ treibe mit seinen durchweg unseriösen Behauptungen ein Spiel mit dem Vorwissen des Lesers, ist nicht ganz konsequent durchgeführt: Bei der Ansetzung eines fünften Genos im Philebos will er angeblich vom Platonkenner durchschaut werden; für die Würdigung seiner Verwendung des Begriffs κυριώταται ἀρχαί kurz zuvor soll allerdings die PhilebosKenntnis des Lesers nicht ausreichen (ibid. 160 „Der Kenner des Philebos kann wissen, dass im Philebos 23 c πάντα τὰ νῦν ὄντα (alles im Augenblick existierende) eingeteilt wird, es also nicht jeder Grundlage entbehrt, von umfassendsten Gattungen zu sprechen. Aber man mutet dem Leser wohl zuviel zu, wenn man voraussetzt, er habe die Stelle im Kopf“); wenn OBSIEGER wiederum ‚Plutarchs‘ Referat des dritten Genos aus dem Philebos als „eine zwar unscharfe, aber akzeptable Umschreibung der Philebosstelle: „Durch die Vermischung dieser beiden komme alles Werden zustande““ (ibid. 161) würdigt, dann aber ‚Plutarchs‘ folgende Konstatierung einer Relation zwischen dem ὄν des Sophistes und dem aus der γένεσις des Philebos abgeleiteten γιγνόμενον als ebenjenes Spiel des Redners mit seinen Zuhörern/Lesern interpretiert („‚Plutarch‘ bringt die Identifikation der dritten Gattung mit dem γιγνόμενον nur zustande, indem er sie an unserer Stelle vage mit der γένεσις verbindet: er will seine Zuhörer aufs Kreuz legen und hofft damit durchzukommen (er weiß aber, dass seine Zuhörer Freude haben werden, wenn sie das Manöver durchschauen; Gleiches gilt für den Leser))“, so verstrickt er sich in Widersprüche. 401 De E 15, 391BC τεκμαίρομαι δὲ ταῦτ᾿ ἐκείνων ὥσπερ εἰκόνας λέγεσθαι, τοῦ μὲν ὄντος τὸ γιγνόμενον, κινήσεως δὲ τὸ ἄπειρον, τὸ δὲ πέρας τῆς στάσεως, ταὐτοῦ δὲ τὴν μιγνύουσαν ἀρχήν, θατέρου δὲ τὴν διακρίνουσαν. εἰ δ᾿ ἕτερα ταῦτ᾿ ἐστί, κἀκείνως ἂν εἴη καὶ οὕτως ἐν πέντε γένεσι καὶ διαφοραῖς τιθέμενος. Zur Diskussion von τιθέμενος, zu dem

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Pentade aus dem Schlussteil des Philebos, die fünf Erscheinungsformen des Guten, auf deren Anzahl Platon sogar explizit hingewiesen habe: Seinen Aufweis der hierarchischen Einteilung des Guten in erstens das Maß, zweitens das richtige Mischungsverhältnis, drittens den Verstand, viertens die Kenntnisse, Fertigkeiten und wahren Meinungen der Seele sowie fünftens reine und mit Leidvollem unvermischte Lust habe Platon mit dem Orphikerzitat „Bei der sechsten Gattung aber beendet euer Lied“ beschlossen und somit seinen Katalog auf genau fünf Elemente beschränkt.402 ‚Plutarchs‘ Schlusskapitel mit dem Aufweis pentadischer Strukturen in den höchsten ontologischen Kategorien Platons und sein Versuch, einen gedanklichen Zusammenhang zwischen diesen nachzuweisen, ist als besonders krasses Beispiel für die philosophische Unseriosität bzw. Scherzhaftigkeit der gesamten Rede angeführt worden. Die Fassungslosigkeit der Interpreten angesichts der kühnen Spekulationen über die Entsprechung der ontologischen Pentaden in Sophistes und Philebos illustriert eine schöne Formulierung in RUSSELLs Plutarchmonographie: „There have been ages in which this kind of interpretation of a religious symbol would have been taken in earnest; but it can hardly be so with Plutarch, and his accumulation of alternatives perhaps gives the clue. This is mock-metaphysics, or at most an ambivalent game between earnest and parody.“403 RUSSELLs Indignation                                                              noch die Variante πυθόμενος überliefert ist, vgl. OBSIEGER (2007) 163f. Der Sinn der Stelle ist jedoch klar. 402 De E 15, 391CD ἀλλὰ μὴν καὶ τἀγαθὸν ἐν πέντε γένεσι φανταζόμενον κατανοήσας, ὧν πρῶτόν ἐστι τὸ μέτριον δεύτερον δὲ τὸ σύμμετρον, καὶ τρίτον ὁ νοῦς καὶ τέταρτον αἱ περὶ ψυχὴν ἐπιστῆμαι καὶ τέχναι καὶ δόξαι ἀληθεῖς, πέμπτον εἴ τις ἡδονὴ καθαρὰ καὶ πρὸς τὸ λυποῦν ἄκρατος, ἐνταῦθα λήγει τὸ Ὀρφικὸν ὑπειπών „ἕκτῃ δ᾿ ἐν γενεῇ καταπαύσατε οἶμον ἀοιδῆς“. Vgl. Plat. Phil. 66a–c. OBSIEGER (2007) 166 vermutet auch hier angesichts von ‚Plutarchs‘ Formulierung, Platon habe „verstanden“ (κατανοήσας), dass das Gute in fünf Gattungen erscheine, eine bewusste Übertreibung, wenn nicht Katachrese der Darstellung im Philebos: „‚Plutarch‘ will den Eindruck erwecken, als sei die Liste der Güter im Philebos das Ergebnis tiefschürfenden Nachdenkens. In Wahrheit ergibt sie sich nicht aus dem zuvor im Philebos Gesagten, vielmehr wird sie von Sokrates dreist seinem Gesprächspartner aufgenötigt.“ Ob freilich die Ergebnisse der modernen Platonforschung (OBSIEGER beruft sich auf den Kommentar von FREDE, 1997, 362) eine geeignete Grundlage für den Nachweis eines absichtsvoll ungenauen Umgangs ‚Plutarchs‘ mit Platon bilden, ist durchaus zu bezweifeln. Dass eine Einteilung der Erscheinungsformen des Guten durch Platon in den Augen eines dem Platonismus anhängenden Autors durchaus eine wichtige Erkenntnis darstellen kann, bedarf keiner Erwähnung. OBSIEGER weist ibid. 160, anlässlich des von ‚Plutarch‘ für die μέγιστα γένη des Sophistes verwendeten Begriffes κυριώταται ἀρχαί auf die Bedeutung des Guten bei Platon hin, um ‚Plutarchs‘ Terminologie als fragwürdig darzustellen: „Gleichwohl würde ein Kenner Platons gewiß eher die Idee des Guten und die Unbestimmte Zweiheit als „wichtigste Prinzipien“ ansehen, die freilich keinen Bezug zur Fünf und damit zum delphischen Epsilon haben können und deshalb von ‚Plutarch‘ übergangen werden.“ 403 RUSSELL (1973) 64.

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III. Hauptgespräch

ist dabei wohl nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass er – im Unterschied zu den meisten Forschern – die Ansicht vertritt, die spezielle Anlage der persona eines jungen Mannes, durch die der Autor hier spricht, relativiere dessen Identifikation mit der Rede ‚Plutarchs‘ keineswegs. Die im 15. Kapitel von De E apud Delphos unternommene platonische Interpretation des delphischen E wird von RUSSELL sogar dezidiert als Beispiel für eine Grundtendenz in Plutarchs interpretatorischem Umgang mit Platon vorgebracht, die sich bisweilen durch eine „Gelehrsamkeit von verstörender Trockenheit und offensichtlicher Frivolität“ auszeichne.404 Andeutungsweise bezieht wiederum BRENK, der stärker für eine ironisch getönte Charakteristik ‚Plutarchs‘ durch den Autor plädiert, eine Gegenposition gegenüber RUSSELLs Einschätzung, wenn er dem Autor Plutarch eine „idea of devotion to mathematics, slightly lacking the sophistication of an Einstein or Russell“ zuschreibt, an der er die Rede ‚Plutarchs‘ orientiert habe.405 Wenn auch BRENK mit diesem Seitenhieb auf RUSSELLs Eindruck gerade des letzten philosophischen Arguments in der Rede ‚Plutarchs‘ auf eine bestimmte Intention des Autors bei der Zeichnung der persona ‚Plutarch‘ hinauswill,406 stellt er doch zurecht auch die Frage, inwieweit RUSSELLs Kopfschütteln über den Gehalt von ‚Plutarchs‘ Platoninterpretation berechtigt ist, selbst wenn man, wie BRENK es tut, den Aspekt der Figurenrede stärker in den Vordergrund rückt. Zur Einschätzung einer im 15. Kapitel von De E apud Delphos besonders deutlich herabgesetzten philosophischen Ernsthaftigkeit scheint zunächst die durchaus launige Einleitung des Nachweises der Pentaden im Werk Platons zu berechtigen, denn die Behauptung, Platon werde sich gleichsam im Grabe umdrehen, wenn er nun hören müsse, dass seine Einsicht in die Fünfzahl der obersten Kategorien des Seins nur ein Plagiat längst erkannter und durch die Weihung des E in Delphi bereits veröffentlichter Erkenntnisse sei, ist selbstverständlich daraufhin berechnet, Hörer wie Leser zum Lachen zu bringen. Dies ist jedoch noch kein Indiz dafür, dass entweder die Figur ‚Plutarch‘ oder der Autor selbst nicht ernsthaft bei der Sache sei, wenn er zur weiteren Erklärung der philosophischen Bedeutung des delphischen E die platonischen Pentaden aufzählt und darüber hinaus den Versuch unter                                                             404 Vgl. RUSSELL (1973) 64 „With Plato, as with Hesiod and Herodotus, his scholarship sometimes disconcerts by its aridity and apparent frivolity. What for instance are we to make of the ‘Platonic’ interpretation of the Delphic E? Plutarch is speaking in the dialogue The Delphic ‘E’ in his own name, even though he does represent himself as a young man.“ 405 Vgl. BRENK (1977) 67. 406 Vgl. BRENK (1977) 66ff., der die Rede vor allem als Beitrag eines Charakters versteht, der einen starken Hang zu einem platonisch-aristotelisch angereicherten „number mysticism“ hat und überdies, wie das Orphikerzitat am Ende des 15. Kapitels beweisen soll, auch noch als Anhänger der Orphik verstanden werden soll.

7. Die Rede ‚Plutarchs‘

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nimmt, zwischen denjenigen des Sophistes und des Philebos ein Entsprechungsverhältnis zu konstruieren.407 Vielmehr verweist gerade die absurde Behauptung, die der Autor ‚Plutarch‘ zu Beginn des 15. Kapitels in den Mund legt, Platon werde sich ärgern, wenn er nun erfahren müsse, dass er nicht der erste gewesen sei, der die pentadische Struktur der obersten Seinsgründe erkannt habe, auf die Legitimität, die der Autor den folgenden Ausführungen ‚Plutarchs‘ über die im E vorweggenommenen Einsichten Platons beimisst. Wie sich vor dem Hintergrund der gesamten Rede und noch einmal mit Blick auf die Lampriasrede in De defectu oraculorum zeigen lässt, ist das, was RUSSELL aus moderner Perspektive abwertend als „mock-metaphysics“ bezeichnet, für Plutarchs allgemeinen Umgang mit Platons Texten regelrecht konstitutiv. Die Argumente, die ‚Plutarch‘ zum Abschluss seiner Ausführungen über die Bedeutung der Fünf als eines philosophischen Gegenstandes von großer Bedeutung vorbringt, gehören innerhalb von Plutarchs Pentadenstudien in dieselbe Kategorie von Bezugnahmen auf Platon, die bereits das 11. und 12. Kapitel von De E apud Delphos enthalten. Wie ‚Plutarch‘ in diesen beiden Abschnitten seiner Rede Pentaden aus Platons Timaios sowohl aufzählt als auch den Versuch unternimmt, diese in ein Beziehungs- und Entsprechungsverhältnis zu setzen, so verfährt er auch im 15. Kapitel; dort erachtet er die platonische Bezeugung von drei Fünfergruppen, eine aus dem Sophistes und zwei aus dem Philebos, bereits an sich als ausreichende Begründung für die Weihung der Fünf in Delphi, erwägt darüber hinaus aber auch noch Analogien zwischen zwei Pentaden aus Sophistes und Philebos. Die hier unternommene Analogisierung mutet zunächst sehr viel kühner an, als ihre Entsprechung im 11. und 12. Kapitel, denn die dort zu einander in Beziehung gesetzten Pentaden entstammen einerseits dem selben Werk, dem Timaios, andererseits kann sich die Behauptung einer Beziehung zwischen den Elementen unterschiedlicher Pentaden zumindest auf Andeutungen berufen, die Platon selbst diesbezüglich gibt. Demgegenüber ist die von ‚Plutarch‘ ge                                                             407 OPSOMER (1998) 130 führt den Eingang des 15. Kapitels als symptomatisch für den gesamten Charakter der Rede ‚Plutarchs‘ an (vgl. das Zitat oben, S. 179, Anm. 259). OBSIEGER (2007) 159 deutet die Ausbeutung des Kratylos durch ‚Plutarch‘ als absichtsvollen Hinweis des Redners an den gebildeten Zuhörer und Leser, seine folgende Darstellung nur nicht ernstzunehmen: „Die Kratylosstelle wird dem Leser aber auch noch in anderer Hinsicht als Präzedenzfall an die Hand gegeben. Dort wird, wie die Verspottung des Wortungetüms σελαεννεοάεια durch den Gesprächsteilnehmer zeigt, keineswegs mit philosophischem Ernst behauptet, in dem Namen des Mondes sei die Erkenntnis des Anaxagoras vorweggenommen. Mit genauso wenig Überzeugung verficht ‚Plutarch‘ seine These, das delphische Epsilon sei von einem Vorläufer Platons als Zeichen für die fünf umfassendsten Gattungen geweiht worden. Durch die Erwähnung des Kratylos werden die Zuhörer ‚Plutarchs‘ und die Leser von De E gewarnt, dass eine philosophiehistorische Absurdität folgt.“

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III. Hauptgespräch

äußerte Vermutung, die Pentaden aus Sophistes und Philebos stünden in einem inhaltlichen Zusammenhang, von Platon – wie der Redner selbst durch das Eingeständnis bekennt, es könnte sich hierbei auch um vollständig verschiedene Dinge handeln – prima facie keineswegs impliziert. Allerdings ist die von ‚Plutarch‘ hier versuchsweise praktizierte Methode, Elemente aus einem Werk Platons in einem anderen Werk Platons wiederzuerkennen und tendenziell auf dieselbe Bedeutung zurückzuführen, im Gesamtwerk des Autors durchgängige Praxis. Man denke an De Iside et Osiride, wo Plutarch seine auch in De animae procreatione in Timaeo dargestellte Lehre von einer ungeordnet-bösen Urseele und einer geordnet-guten Weltseele unter anderem aus mehreren Werken Platons synthetisiert: Platon habe an vielen Stellen seines Werkes von zwei gegensätzlichen Prinzipien, dem Selbigen und dem Verschiedenen, andeutungsweise gesprochen (gemeint ist hier wohl der Timaios) und schließlich in den Nomoi offen seine Ansicht ausgesprochen, dass der Kosmos von mindestens zwei Seelen bewegt werde.408 Methodisch handelt es sich bei einer solchen Benutzung der Werke Platons, die aus moderner Sicht der Willkürlichkeit nicht entbehrt, um die für den Platonismus typische Vorgehensweise der Systematisierung von Gedanken, die Platon über sein ganzes Werk verstreut hat, im Falle Plutarchs mit dem Ziel, bestimmte eigene philosophische Vorlieben mit Verweis auf Platon plausibel zu machen.409 Was dem modernen Philo                                                            

408 De Iside 48, 370EF … Πλάτων δὲ πολλαχοῦ μὲν οἷον ἐπηλυγαζόμενος καὶ παρακαλυπτόμενος τῶν ἐναντίων ἀρχῶν τὴν μὲν ταὐτὸν ὀνομάζει, τὴν δὲ θάτερον· ἐν δὲ τοῖς Νόμοις ἤδη πρεσβύτερος ὢν οὐ δι᾿ αἰνιγμῶν οὐδὲ συμβολικῶς, ἀλλὰ κυρίοις ὀνόμασιν οὐ μιᾷ ψυχῇ φησι κινεῖσθαι τὸν κόσμον, ἀλλὰ πλείοσιν ἴσως δυεῖν δὲ πάντως οὐκ ἐλάττοσιν. In der theoretischen Diskussion in De animae procreatione in Timaeo, die im Hintergrund von Plutarchs Ausführungen in De Iside et Osiride steht, liest der Autor nicht nur die Nomoi und den Timaios ineinander, sondern zusätzlich noch den Politikos und – notabene – Sophistes und Philebos, vgl. De an. procr. 3, 1013A – 7, 1015A. 409 Vgl. zur Vorgehensweise Plutarchs in De an. procr. LAURENTI (1996) 66: „In conclusione motivi generali (lo svolgimento del pensiero, il sorgere e l’intrecciarsi di sistemi diversi etc.) e motivi particolari (la visione che Plutarco ha di Platone, il suo modo di leggere il Maestro etc.) spiegano abbondantemente l’esegesi ch’egli dà del Filebo, del Politico, delle Leggi e del Timeo nel de animae procreatione in Timeao. La convinzione che nei quattro dialoghi si trattasse lo stesso problema, suggerito dalle stesse esigenze, richiedenti, pertanto, una stessa soluzione, era un’operazione che voleva il suo prezzo. L’ἀπειρία che nel Filebo costituisce uno dei generi sommi dell’essere, diventa nel de animae procreatione proprietà dell’anima e, in quanto tale, è opposta al corpo, e se il corpo, ossia la materia è amorfa, l’anima sarà illimite in quanto illimitatamente vivificante e, dunque, limitante, i corpi, e cioè la materia. Questo non è l’autentico Platone, ma è Plutarco. […] Plutarco, dunque, s’è fatta un’idea di quelle pagine cruciali: le ha lette, meditate, postillate: ha ampliato il suo esame, collegandole a quello di altri dialoghi: ha cercato di cogliere quel che in esse è lo stesso e il diverso – e quel che è lo stesso ha organizzato in modo che le varie parti rispondessero le une alle altre.“

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logen und Philosophiehistoriker anstößig erscheinen mag, war für den kaiserzeitlichen Autor bewährte Praxis, deren Kritik zwar aus philosophiegeschichtlicher und philologischer Sicht ergiebig sein mag, aber der speziellen Intellektualität eines Autors wie Plutarch nicht gerecht werden kann, wenn sie ihr nicht ein gewisses historisches Eigenrecht einräumt.410 Dieses Recht sollte Plutarch auch in einem Fall zugestanden werden, in dem er hinter der persona seines jüngeren, mathematikbegeisterten Ichs die Bedeutung der Fünf durch den Versuch einer Synthese der Gedanken zweier Platondialoge abschließend besonders hervorzuheben versucht, und dies umso mehr, als er in De defectu oraculorum Lamprias einen bis in die methodischen Details hinein höchst ähnlichen Systematisierungsversuch unternehmen lässt, der dort ein Urbild-Abbild-Verhältnis zwischen den μέγιστα γένη des Sophistes und den vollkommenen Körpern des Timaios erarbeitet.411 Da diese Form der Platoninterpretation oder -benutzung darüber hinaus in einem Passus erfolgt, den Lamprias selbst an dessen Ende als Erweis der Hochachtung gegenüber Platon bezeichnet, ohne jedoch auf den Ergebnissen der eigenen Überlegungen stur beharren zu wollen,412 steht ihre Legitimität in den Augen des Autors außer Frage. Im 34. Kapitel von De defectu oraculorum eröffnet Lamprias seine dezidiert als eigenen Ansatz (ἰδία δόξα) – und das kann nur bedeuten, dass es sich hier um eine genuine Überlegung des Autors handelt413 – bezeichnete                                                              410

Vgl. LAURENTI (1996) 63f. „Tuttavia, piú che gridare allo scandalo, sarebbe meglio ripercorrere la strada battuta da Plutarco nel suo cercare di armonizzare posizioni platoniche, deformando, magari vistosamente, il significato di termini e di espressioni. Questo il limite della sua interpretazione o, se si vuole, la sua genialità.“ 411 OBSIEGER (2007) 162 handelt diese für Plutarchs Methodik der Platoninterpretation im Allgemeinen und für das Verständnis von De E 15 im Besonderen instruktive Parallele mit einem „übrigens“ ab. 412 De def. or. 37, 430E ταῦτα μὲν οὖν τῇ Πλάτωνος ἀνακείσθω χάριτι δι᾿ Ἀμμώνιον· ἐγὼ δὲ […] οὐκ ἄν ποτε διισχυρισαίμην ὅτι […]. εἰ δ᾿ ἀλλαχόθι που κἀνταῦθα τῆς Ἀκαδημείας ὑπομιμνήσκοντες ἑαυτοὺς τὸ ἄγαν τῆς πίστεως ἀφαιρῶμεν κτλ. 413 Vgl. NAPOLITANO VALDITARA (1988) 393 „Più raffinato ed originale è invece Plutarco, in particolare nel De defectu, quando usa schemi ermeneutici basati appunto sull’eccellenza del 5 per l’interpretazione dei dialoghi platonici e per l’approfondimento di nuclei concettuali di origine pitagorica: il riferimento a dottrine platoniche sembra anche ora soprattutto un artificio retorico, con il quale Plutarco „rimpolpa“ la propria argomentazione dell’esistenza di un numero finito di mondi (esattamente 5); nello stesso tempo, la lettura dei dialoghi attraverso schemi pentadici o l’approfondimento, tramite questi, di teorie protopitagoriche illustrano il modo plutarcheo di fare storia della filosofia: Plutarco non referisce semplicemente le teorie dei suoi predecessori, ma le „interpreta“, operazione della quale egli si mostra del resto consapevole. Nel De defectu, dunque, figura non solo la connessione fra i 5 solidi primi del Timeo ed i 5 elementi fisici, nell’interpretazione datane da Teodoro di Soli, ma un’ulteriore connessione fra i 5 solidi primi e gli elementi fisici con i 5 generi sommi del Sofista. […] Tale lettura di teorie platoniche è presentata esplicitamente da Plutarco come propria: l’interpretazione del Timeo attribuita a Teodoro

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III. Hauptgespräch

Neubegründung einer Herleitung von fünf Kosmoi aus den fünf vollkommenen Körpern des Timaios mit der These, es sei ein Unding, angesichts einer Differenzierung sogar der intelligiblen Natur, deren Spezifikum es sei, sich immer gleichzubleiben, über eine Differenzierung der sinnlich wahrnehmbaren Natur zu klagen, die doch ohnehin in ständigem Werden und Vergehen wechselhaft sei und sich in ungeordneter Bewegung befinde.414 Platon selbst habe sich gegen diejenigen gewandt, die die Parole ἓν τὸ πᾶν ausgäben,415 und im Gegensatz zu ihnen im Sophistes fünf Prinzipien, Sein, Selbiges, Verschiedenes, Bewegung und Ruhe postuliert. Nach Lamprias wäre es unter der von Platon selbst angenommenen Bedingung einer derartigen Differenzierung des intelligiblen Bereichs in fünf Prinzipien nicht verwunderlich, wenn jedes von jenen Elementen der Körperwelt eine natürliche Nachbildung (μίμημα τῇ φύσει) und ein Abbild (εἴδωλον) eines jeweiligen Prinzips sei, zwar nicht unvermischt und rein, aber immerhin im Sinne einer größtmöglichen Teilhabe der Elemente an den Prinzipien.416 Lamprias leitet also a maiore aus der fünfteiligen Differenzierung der obersten Prinzipien des Seins eine ebensolche Untergliederung der Körperwelt unter Verwendung der platonischen Doktrin der Teilhabe (Methexis) der körperlichen Realität an den unkörperlichen Ideen im Sinne eines Urbild-Abbild-Verhältnisses ab. Das jeweilige Verhältnis zwischen den vollkommenen Körpern und der durch sie geformten Elemente zu den fünf μέγιστα γένη des Sophistes bestimmt Lamprias entsprechend nach der qualitativen Ähnlichkeit zwischen Prinzip und Körper und überträgt so Platons eigenen Aufweis einer Ähnlichkeit zwischen den vollkommenen Körpern und den Elementen auf den Nachweis einer Ähnlichkeit von Prinzip und Körper: Der Würfel sei mit der Ruhe verwandt wegen der Standfestigkeit

                                                             di Soli e messa in bocca a Lampria è infatti criticata da Ammonio e a questo punto LampriaPlutarco, già impegnatosi a difendere la tesi antiaristotelica della pluralità finita di mondi e dalla „probabilità“ che essi siano appunto 5, dovendo giustificare l’eccellenza stessa di questo numero, risponde ad Ammonio: „Credo sia meglio rendere conto delle mie stesse opinioni, piuttosto che di quelle altrui“ [Hervorhebung im Original]. 414 De def. or. 34, 428BC λέγω τοίνυν αὖθις ἐξ ἀρχῆς, ὅτι δυεῖν ὑποκειμένων φύσεων, τῆς μὲν αἰσθητῆς ἐν γενέσει καὶ φθορᾷ μεταβόλου καὶ φορητῆς ἄλλοτ᾿ ἄλλως, ἑτέρας δ᾿ ἐν οὐσίᾳ νοητῆς ἀεὶ κατὰ ταὐτὰ ὡσαύτως ἐχούσης, δεινόν ἐστιν, ὦ ἑταῖρε, τὴν μὲν νοητὴν διωρίσθαι καὶ διαφορὰν ἔχειν ἐν ἑαυτῇ, τὴν δὲ σωματικὴν καὶ παθητικὴν εἰ μὴ μίαν τις ἀπολείπει συμπεφυκυῖαν αὑτῇ καὶ συμπνέουσαν ἀλλὰ χωρίζει καὶ διίστησιν, ἀγανακτεῖν καὶ δυσχεραίνειν. τὰ γὰρ μόνιμα καὶ θεῖα δήπου μᾶλλον αὑτῶν ἔχεσθαι προσήκει καὶ φεύγειν ὡς ἀνυστόν ἐστι τομὴν ἅπασαν καὶ διάστασιν. 415 De def. or. 34, 428C, also die Eleaten, vgl. Plat. Theaet. 180e2–4; 183e3–5. 416 De def. or. 34, 428CD ὄντων οὖν πέντε τούτων οὐ θαυμαστὸν ἦν, εἰ τῶν πέντε σωματικῶν στοιχείων ἐκείνων ἕκαστον ἑκάστου μίμημα τῇ φύσει καὶ εἴδωλόν ἐστι γεγενημένον οὐκ ἄμικτον οὐδ᾿ εἰλικρινές, ἀλλὰ τῷ μάλιστα μετέχειν ἕκαστον ἑκάστης δυνάμεως.

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seiner Flächen;417 die Pyramide gleiche der Bewegung, denn ihr eigne eine feurige und bewegte Qualität, wie man an der Feinheit der Seiten und der Spitze der Winkel erkennen könne;418 die Natur des Dodekaeders, die alle anderen Figuren umfasse, sei ein Abbild des Seins;419 der Ikosaeder habe am meisten Anteil am Verschiedenen, denn dieser Körper umfasse den gesamten Stoff in einer Gestalt und entspreche der Luft, während der Oktaeder am meisten Anteil am Selbigen habe, da er sich bei der Vermischung in die meisten anderen Elemente verwandeln könne und entsprechend dem Wasser zugeordnet sei.420 Die Überlegung eines Verhältnisses zwischen den fünf Prinzipien des Sophistes und denjenigen des Philebos, die ‚Plutarch‘ im 15. Kapitel von De E apud Delphos unternimmt, beruht auf demselben Postulat eines UrbildAbbild-Verhältnisses zwischen den beiden Pentaden dieser Dialoge, das Lamprias seiner Zusammenschau der μέγιστα γένη des Sophistes und der vollkommenen Körpern sowie der durch sie repräsentierten Elemente im Timaios zugrundelegt: Auch ‚Plutarch‘ bezieht sich auf das platonische Theorem der Methexis, wenn er die Elemente der Pentade des Philebos als εἰκόνες derjenigen des Sophistes deutet. Die Etablierung eines Teilhabeverhältnisses der Prinzipien aus dem Philebos an den μέγιστα γένη des Sophistes legt sich auch aus praktischen Gründen nahe und zeigt umso deutlicher die Verwandtschaft der Gedanken zwischen De defectu oraculorum und De E apud Delphos: Wie Lamprias ein Verhältnis zwischen der Ideenwelt, den μέγιστα γένη, und der sinnlich wahrnehmbaren Körperwelt, der vollkommenen Körper und der ihnen zugeordneten Elemente, etabliert, so gehören in ‚Plutarchs‘ Rede die Urbilder des Sophistes der Ideenwelt an, die Abbilder aus dem Philebos hingegen wirken in der konkreten Strukturierung

                                                            

417 De def. or. 34, 428D ὁ μέν γε κύβος ἐμφανῶς στάσεως οἰκεῖόν ἐστι σῶμα διὰ τὴν τῶν ἐπιπέδων ἀσφάλειαν καὶ βεβαιότητα. Vgl. Plat. Tim. 55d8–e3 γῇ μὲν δὴ τὸ κυβικὸν εἶδος δῶμεν· ἀκινητοτάτη γὰρ τῶν τεττάρων γενῶν γῆ καὶ τῶν σωμάτων πλαστικωτάτη, μάλιστα δὲ ἀνάγκη γεγονέναι τοιοῦτον τὸ τὰς βάσεις ἀσφαλεστάτας ἔχον κτλ. 418 De def. or. 34, 428D τῆς δὲ πυραμίδος πᾶς ἄν τις τὸ πυροειδὲς καὶ κινητικὸν ἐν τῇ λεπτότητι τῶν πλευρῶν καὶ τῇ τῶν γωνιῶν ὀξύτητι κατανοήσειεν. Vgl. Plat. Tim. 56a2–5 … τὸ δ᾿ εὐκινητότατον πυρί […] καὶ τὸ μὲν σμικρότατον σῶμα πυρί […] καὶ τὸ μὲν ὀξύτατον αὖ πυρί κτλ. 419 De def. or. 34, 428D ἡ δὲ τοῦ δωδεκαέδρου φύσις περιληπτικὴ τῶν ἄλλων σχημάτων οὖσα τοῦ ὄντος εἰκὼν πρὸς πᾶν τὸ σωματικὸν γεγονέναι δόξειε. Lamprias spielt hierbei wohl auf Plat. Tim. 55c4–6 an: ἔτι δὲ οὔσης συστάσεως μιᾶς πέμπτης, ἐπὶ τὸ πᾶν ὁ θεὸς αὐτῇ κατεχρήσατο ἐκεῖνο διαζωγραφῶν. Vgl. SCHOPPE (1994) 85f. 420 De def. or. 34, 428DE τῶν δὲ λοιπῶν δυεῖν τὸ μὲν εἰκοσάεδρον τῆς τοῦ ἑτέρου τὸ δ᾿ ὀκτάεδρον μάλιστα τῆς ταὐτοῦ μετείληχεν ἰδέας. διὸ τοῦτο μὲν ἀέρα σχετικὸν οὐσίας πάσης ἐν μιᾷ μορφῇ, θάτερον δ᾿ ὕδωρ ἐπὶ πλεῖστα τῷ κεράννυσθαι γένη ποιοτήτων τρεπόμενον παρεῖχεν.

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der körperlichen Welt.421 Entsprechend ordnet ‚Plutarch‘ dem transzendenten Sein (ὄν) das immanente Werden (γιγνόμενον) zu, das nach der zuvor aufgestellten Liste aus dem Philebos als Ergebnis des Zusammenwirkens von Unbegrenztem und Grenze entsteht.422 Abbild der Bewegung ist das Unbegrenzte, der Ruhe die Grenze, auch dies eine Zuordnung, die ein plausibles Verständnis des Philebos widerspiegelt.423 Das Selbige wiederum ist Vorbild desjenigen Prinzips des Philebos, das das Unbegrenzte und die Grenze verbindet und somit ein konkretes, mit sich selbst identisches Ding entstehen lässt, das Verschiedene Vorbild desjenigen Prinzips, das die Verbindung zwischen Unbegrenztem und Grenze wieder löst und somit die konkrete Selbstidentität eines Dings wieder aufhebt.424                                                             

421 Vgl. LAURENTI (1996) 68 „Ed è vero, ché, ripeto, mentre nel Sophista la distinzione punta sulla diversa condizione dell’essere, nel Filebo esalta piuttosto la costituzione delle cose, sicché quel che nel Sofista era studiato a livello qualitativo, nel Filebo compare a livello costitutivo.“ 422 Vgl. De E 15, 390B τούτων [sc. τοῦ ἀπείρου καὶ τοῦ πέρατος] δὲ μιγνυμένων πᾶσαν συνίστασθαι γένεσιν. Plat. Phil. 26d7–9 ἀλλὰ τρίτον φάθι με λέγειν, ἓν τοῦτο τιθέντα τὸ τούτων ἔκγονον ἅπαν, γένεσιν εἰς οὐσίαν ἐκ τῶν μετὰ τοῦ πέρατος ἀπειργασμένων μέτρων. Dass Plutarch diese Stelle des Philebos als immanentes Werden im Sinne eines Zurkonkreten-Existenz-Kommens begreift, zeigt seine Verwendung der, wenn auch dort aus rhetorischen Gründen kritisierten, Formulierung γένεσις εἰς οὐσίαν in De lat. viv. 6, 1129F im Bezug auf die Entstehung des Menschen: δοκῶ δ᾿ ἐγὼ καὶ τὸ ζῆν αὐτὸ καὶ ὅλως τὸ φῦναι καὶ μετασχεῖν ἀνθρώπῳ γενέσεως εἰς γνῶσιν ὑπὸ θεοῦ δοθῆναι. ἔστι δ᾿ ἄδηλος καὶ ἄγνωστος ἐν τῷ παντὶ πόλῳ [καὶ] κατὰ μικρὰ καὶ σποράδην φερόμενος· ὅταν δὲ γένηται, συνερχόμενος αὑτῷ καὶ λαμβάνων μέγεθος ἐκλάμπει καὶ καθίσταται δῆλος ἐξ ἀδήλου καὶ φανερὸς ἐξ ἀφανοῦς. οὐ γὰρ εἰς οὐσίαν ὁδὸς ἡ γένεσις, ὡς ἔνιοι λέγουσιν, ἀλλ᾿ οὐσίας εἰς γνῶσιν. 423 Vgl. LAURENTI (1996) 68f. „Cosí l’illimite e il limite del Filebo corrispondono rispettivamente a movimento e a quiete del Sofista. Dice Platone in Phil. 24a, a proposito dell’illimite: „Guarda prima di tutto se a riguardo del piú caldo e del piú freddo, tu possa pensare un qualche limite, πέρας, o se, al contrario, il piú e il meno che in essi insidono, fintanto che vi insidono, non permettono che si produca una fine, perché, prodotta la fine, entrambi avrebbero fine.“ Per questo l’illimite rappresenta qualcosa che, per non avere conclusione, è in continuo movimento […]. Allo stesso modo il limite rappresenta quiete, stasi. Scrive Platone, Phil. 24d: „Non ci sarebbero ormai ‚piú caldo‘ né ‚piú freddo‘, se accogliessero il quanto, perché vanno sempre avanti e non stanno mai fermi ‚piú caldo‘ e, cosí pure, ‚piú freddo‘, mentre il quanto si ferma e cessa di andare avanti, τὸ δὲ ποσὸν ἔστη καὶ προιὸν ἐπαύσατο.“ Ciò significa ch’è quiete.“ OBSIEGER (2007) 162 verwirft LAURENTIs Deutungsversuch. Auf den nicht unwahrscheinlichen Gedanken, dass der Autor Plutarch die Verwandtschaft zwischen Unbegrenztem und Bewegung, Grenze und Ruhe in ähnlicher Weise erklärt haben würde, verfällt er nicht. 424 Vgl. LAURENTI (1996) 69 „Qualcosa di simile si può dire a proposito del principio ch’è figura dell’identico, e dell’altro principio (posto che ci sia) ch’è figura del diverso. Sicché, per usare la terminologia platonica, la causa della mistione del Filebo è riportata all’identico, la causa della separazione (che è solo ipotizzata) è riportata al diverso. In effetti il principio che costituisce le cose non fa altro che congiungere limite a illimite, ossia rende quanto il quale, per cui il numero, proporzionando la mistione, fa sí che la cosa

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Es lässt sich also sowohl hinsichtlich des zugrundeliegenden platonischen Theorems der Methexis, die im Falle von De defectu oraculorum und von De E apud Delphos zwischen den transzendenten Pentaden der Ideensphäre und den immanenten Pentaden der Sphäre des Sinnlich-Wahrnehmbaren etabliert wird,425 als auch in der verwendeten Methodik der Synthetisierung von Platons Philosophie durch Analogisierung zweier Gedankenkomplexe aus verschiedenen Dialogen ein gemeinsames Denkmuster Plutarchs in beiden ‚Pythischen Dialogen‘ erkennen. Dieser Umstand erlaubt es nicht, den materialen Inhalt des 15. Kapitels von De E apud Delphos als bewusst inszenierte philosophische Tollkühnheit der persona ‚Plutarch‘ abzutun, die der Autor nicht mitzutragen bereit wäre,426 und die Ernsthaftigkeit der hier                                                              si presenti nella sua forma autentica. Quindi ogni qualvolta si riuscirà a mescolare gli elementi in uno certo modo, si avrà una certa cosa, la quale è identica a se stessa, è se stessa, non cambia, conserva la sua struttura.“ 425 Die Vorliebe Plutarchs für dieses Theorem bei der Systematisierung von Gedanken Platons zeigt auch De an. procr. 25, 1025A–C, wo Plutarch ebenfalls die Verbindung des Weltkörpers aus den einzelnen Elementen als Abbild der durch den Demiurgen bewerkstelligten Seelenkonstruktion verstanden wissen will: δεῖ δὲ τὴν περὶ τὸ σῶμα τοῦ κόσμου γενομένην σύντηξιν εἰκόνα λαβεῖν τῆς ἀναλογίας ἐν ᾗ διηρμόσατο ψυχήν (1025A). SCHOPPE (1994) 109–113 weist nach, dass Plutarch dieses Urbild-Abbild-Verhältnis nur auf Kosten eines Missverständnisses des Textes des Timaios etablieren kann, und dies zeigt umso mehr, dass Plutarch offenbar dem Theorem der Methexis so großen heuristischen Wert eingeräumt hat, dass er zum Zwecke von dessen Nachweis bei Platon auch bereit war, den Timaios in nach modernen philologischen Kriterien unhaltbarer Weise zu interpretieren. 426 Freilich deutet Plutarch an beiden Stellen an, dass es sich um philosophische Experimente handelt; dies mindert jedoch nicht die philosophische Ernsthaftigkeit, mit der Plutarch diese Experimente unternimmt, sondern erhöht sie sogar, da sie im vollen Bewusstsein eigener Originalität betrieben werden. Vgl. SCHOPPE (1994) 87 „So, wie sich uns der Text darstellt, drängt sich der Verdacht auf, daß Plutarch für die fünf regelmäßigen geometrischen Körper, die die Elemente konstituieren, eine Fünfzahl von intelligiblen Vorbildern suchte, als die sich ihm die fünf bekannten μέγιστα γένη des Sophistes anboten. Soviel scheint indes sicher, daß sich Plutarch der Schwierigkeit seines Vorgehens bewußt war. Wie Plutarch nämlich in De E 15 (391 C) vorsichtig nur von einer Vermutung spricht, die im Philebos genannten γένη könnten ὥσπερ εἰκόνες der μέγιστα γένη sein, so lesen wir auch hier nicht, daß die μέγιστα γένη wirklich Vorbilder und die geometrischen Körper wirklich deren Abbilder sind; vielmehr schreibt Plutarch, „es wäre nicht zu verwundern“ (οὐ θαυμαστὸν ἦν), wenn dies der Fall ist, spricht also eine Vermutung aus. Man wird es als einen interessanten Versuch Plutarchs erklären können, die Vielfalt der sichtbaren Welt aus einer Vielfalt in der Ideenwelt und der Teilhabe an mehreren Ideen abzuleiten. Es ist dies Plutarchs eigene Ansicht, die er zur Diskussion stellt, ohne von vornherein auf ihrer Richtigkeit zu beharren, denn er gesteht am Anfang des Kapitels (428 B), er habe im Augenblick nichts Plausibleres zu bieten, und zu Beginn des nächsten, des 35. Kapitels (428 E), diese Darlegungen sollten denjenigen beschwichtigen (und nicht etwa überzeugen), „der sich wundert, wenn wir die dem Werden und der Veränderung unterliegende Natur in so viele Arten (γένη) unterteilen.“

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III. Hauptgespräch

‚Plutarch‘ in den Mund gelegten Platoninterpretation wird zuletzt noch dadurch bestätigt, dass Plutarch, wie SCHOPPE beobachtet hat, sich in De animae procreatione in Timaeo sowohl der Prinzipien des Sophistes wie der des Philebos bedient, um die Eigenschaften der einzelnen Elemente und ihr Zusammenspiel in der Psychogonie des Timaios zu erklären; er verfolgt also auch in dieser Schrift, deren ernsthafter philosophischer Charakter unbestritten ist, die Methode des Synkretismus von Elementen aus unterschiedlichen platonischen Dialogen. So eröffnet Plutarch in De animae procreatione in Timaeo die Diskussion des einschlägigen Platontextes Timaios 35ab mit einer Diskussion von Interpretationen von Xenokrates und Krantor,427 wobei er bei beiden beanstandet, dass sie in der Interpretation des Eingehens von ταὐτόν und θάτερον in die Seele diese beiden Prinzipien nicht, wie Platon selbst es im Sophistes tue, klar von den Prinzipien κίνησις und στάσις geschieden hätten.428 Bezeichnender Weise ist der Fehler, den Plutarchs Vorgänger machen, gerade die Nichtberücksichtigung einer von Plutarch implizit über mehrere Dialoge hinweg postulierten Konsistenz Platons, die in diesem Falle eine klare Scheidung der Prinzipien gemäß der Einteilung des Sophistes erfordert.429 Neben den Prinzipien des Sophistes erscheinen auch diejenigen des Philebos wiederholt in De animae procreatione in Timaeo im Zusammenhang mit den einzelnen Faktoren in der Psychogonie, worin sich nach SCHOPPE die allgemeine Vorstellung Plutarchs von der prinzipiellen Verwandtschaft der beiden Prinzipienreihen zeigt, eine Verwandtschaft, die im 15. Kapitel von De E apud Delphos als Urbild-Abbild-Verhältnis gedeutet wird: „Es fällt jedoch auf, dass Funktionen und Benennungen der γένη und ihrer „Abbilder“ im Philebos in Übereinstimmung stehen mit denen, die den Seelenbestandteilen in De animae procreatione zugewiesen werden: So bezeichnet Plutarch die Weltseele als geworden (γενομένη), während ihre Bestandteile, die ἀμέριστος und μεριστὴ οὐσία, ewig sind; κίνησις ist das Wesen der Ur- und Weltseele, στάσις das des vorkosmischen Nus; die Urseele interpretiert Plutarch als die ἀπειρία des Philebos, und da dem Nus ordnende und begrenzende Funktionen zukommen, entspricht er dem πέρας. Die Funktionen, die μειγνύουσα und διακρίνουσα ἀρχή hier in De E erfüllen, sind die von ταὐτόν und θάτερον in De animae procreatione. Das zeigt zwar nicht,                                                             

Vgl. De an. procr. 1, 1012B – 3, 1013D. De an. procr. 3, 1013D ἐκφανῶς δὲ τούτοις ἠγνόηται τὸ περὶ τοῦ ταὐτοῦ καὶ τοῦ ἑτέρου· λέγουσι γὰρ ὡς τὸ μὲν στάσεως τὸ δὲ κινήσεως συμβάλλεται δύναμιν εἰς τὴν τῆς ψυχῆς γένεσιν, αὐτοῦ Πλάτωνος ἐν τῷ Σοφιστῇ τὸ ὂν καὶ τὸ ταὐτὸν καὶ τὸ ἕτερον, πρὸς δὲ τούτοις στάσιν καὶ κίνησιν, ὡς ἕκαστον ἑκάστου διαφέρον καὶ πέντε ὄντα χωρὶς ἀλλήλων τιθεμένου καὶ διορίζοντος. 429 Vgl. zu Plutarchs eigener Vorstellung des komplizierten Zusammenspiels von ταὐτόν, θάτερον, κίνησις und στάσις bei der Psychogonie die ausführliche Interpretation bei SCHOPPE (1994) 96–138. 427 428

7. Die Rede ‚Plutarchs‘

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dass die „Prinzipien“ des Philebos „Abbilder“ derjenigen des Sophistes sind, aber doch, dass sie mit ihnen verwandt sind.“430 Das Fazit aus diesen offensichtlichen Gemeinsamkeiten zwischen den Ausführungen, in denen der Autor die Reihe der philosophischen Begründungen der Bedeutsamkeit der Fünf durch ‚Plutarch‘ im 15. Kapitel von De E apud Delphos kulminieren lässt, und den untersuchten Passagen aus De defectu oraculorum und De animae procreatione in Timaeo kann nur in der Anerkennung der philosophischen Substanz der Aussagen ‚Plutarchs‘ bestehen. Lässt man sich nicht durch ‚Plutarchs‘ launigen Plagiatsvorwurf gegenüber Platon zu dem Vorurteil verleiten, der Nachweis des „Plagiates“ enthalte keine in den Augen des Autors stimmigen Gedanken, sondern untersucht die Parallelen dieser Gedanken im sonstigen Werk Plutarchs, die sowohl im Falle von De defectu oraculorum als auch von De animae procreatione in Timaeo ohne Zweifel im Ton ernsthafter philosophischer Problemlösung im Rahmen von Platoninterpretationen vorgetragen werden, so zeigt sich ein gemeinsamer intellektueller Stil des Autors: Unabhängig davon, ob Plutarch auktorial oder durch die personae seines Bruders Lamprias oder derjenigen ‚Plutarchs‘ spricht, bedient er sich der gleichen Methodik einer Harmonisierung verstreuter Aussagen Platons und greift dabei sogar auf dieselben Platonpassagen zurück, die er in unterschiedlichen Konstellationen zum Zweck seines jeweiligen Argumentationsziels gegeneinanderliest. Welchen geistigen Stellenwert man diesen philosophischen Operationen Plutarchs beimessen will, liegt gewiss an der Perspektive, die der Interpret gegenüber Plutarchs Schriften einnimmt. Die Vorurteilslosigkeit SCHOPPEs zeigt immerhin die Ernsthaftigkeit, mit der Plutarch in De animae procreatione in Timaeo die synkretistische Methode der Platoninterpretation verwendet. Dass Plutarch auf die Ergebnisse, die er mit dieser Methode erzielt hat, durchaus stolz war, wird man kaum in Zweifel ziehen wollen. ISNARDI PARENTE, die das interpretatorische Verfahren in den hier verglichenen Passagen aus De E apud Delphos und De defectu oraculorum als typisch mittelplatonisches Phänomen in den größeren Zusammenhang des

                                                            

430 SCHOPPE (1994) 81f. mit Verweisen auf die einschlägigen Passagen von De an. procr. Im Fall von Plutarchs Ausführungen in De an. procr. 25, 1025BC scheint sogar die in De E 15 vorgenommene Entsprechung der Prinzipien von Sophistes und Philebos aufzuscheinen, vgl. SCHOPPE (1994) 114f. mit Anm. 120 „Insofern das θάτερον trennt (διίσταται) und das ταὐτόν verbindet (συνάγειν), passt hierzu das in De E 15 (391C) Gesagte […], dass die μειγνύουσα ἀρχή des Platonischen Philebos 23 D gleichsam als Abbild des ταὐτόν und die διακρίνουσα ἀρχή als das des θάτερον zu verstehen sei. Aber die übrigen hier genannten Wirkungen, die Vervielfältigung durch das θάτερον und die Vereinheitlichung zu einer Gestalt durch das ταὐτόν passen eher zu den „Abbildern“ von κίνησις und στάσις, ἄπειρον bzw. πέρας.“

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III. Hauptgespräch

kaiserzeitlichen Platonismus einordnet,431 nennt die Platoninterpretation des jungen Plutarch schlichtweg „un’armonia perfetta fra i due dialoghi è raggiunta in base a questa brillante operazione.“432 Enthält mithin das Finale ‚Plutarchs‘ nichts anderes als gängige philosophische Überlegungen des Autors Plutarch, so dürfte ISNARDI PARENTEs Wertung ziemlich genau der Reaktion entsprechen, die sich der Autor von den Lesern der Rede seines jüngeren Ichs erhofft hat. Wie sich in der abschließenden Interpretation der Ammoniosrede zeigen wird, ist es gerade jener besonders kreative Umgang mit Platon und die kühne Instrumentalisierung platonischer Gedanken für einen eindrucksvollen Lösungsversuch des delphischen E, von dem sich Plutarch eine besondere Anerkennung seitens seiner Leser verspricht.

                                                            

431 ISNARDI PARENTE (1992) 127ff. „Ma poi, nel De defectu (come del resto nel De E ap. Delph.), Plutarco si lascia del tutto prendere la mano da un tipo di procedimento che appartiene per eccellenza al medioplatonismo, quello del compendio (piuttosto che commento) di Platone, sulla falsariga di un motivo specifico che sembra ravvisabile nell’opera platonica e con la combinazione estrinseca di più dialoghi. Ne abbiamo subito un saggio in De def. orac. 428d, ove si fa esegesi della teoria dei „cinque corpi“ del Timeo mediante il ricorso ai cinque generi del Sofista: rispettivamente il cubo, per il suo carattere di fissità e di non trasformabilità, corrisponde alla στάσις, (ἐμφανῶς στάσεως οἰκεῖόν ἐστι σῶμα,) la piramide che ha le proprietà opposte, mobilità e leggerezza, corrisponde alla κίνησις, il dodecaedro, che è per eccellenza immagine del reale, τοῦ ὄντος εἰκών (sulla base di Tim. 55c), corrisponde allo ὄν, e all’ottaedro e all’icosaedro, con ragioni meno coibenti, sono rispettivamente accostati il ταὐτόν e il θάτερον. […] Nel De E ap. Delph. del resto, che verte sulla paradigmaticità del numero 5, questo tipo di esegesi combinatoria di Platone trova la sua esplicazione più piena. Cinque sono le ἀρχαί del Sofista (391b); e si noti l’uso del termine ἀρχή, di cui il medioplatonismo ha fatto un impiego vasto e piegato a molteplici significati. Cinque ἀρχαί troviamo anche nel Filebo: infatti, ai quattro „generi“ là indicati da Platone (limite, illimitato, causa, mistione), Plutarco (De E ap. Delph. 391c) ne aggiunge ancora uno, sí da raggiungere il numero di cinque, nella forma di limite, illiminato, divenire (γένεσις), principio della mescolanza, principio della divisione (μειγνύουσα e διακρίνουσα ἀρχή); o, più esattamente, si potrebbe dire che la nozione di „causa“ scivola in quella di principio, il principio causale è sdoppiato nella forma della mistione e della divisione, si inserisce nell’elenco quel „divenire“ che è concetto ambiguo, forse ricavato dall’espressione di Phlb. 16b, μικτὴ καὶ γεγενημένη οὐσία. Ottenuto il numero di cinque per ambedue i dialoghi, Plutarco spinge più oltre la sua equazione: l’ὄν del Sofista corrisponde al γιγνόμενον, inteso come „ciò che viene all’essere“ e „che si produce“ (probabilmente sulla base dell’espressione γένεσις εἰς οὐσίαν di Phlb. 26d); così pure la στάσις del Sophista corrisponde al πέρας del Filebo e analogamente la κίνησις all’ἄπειρον; il ταὐτόν corrisponde alla μῖξις, il θάτερον alla διάκρισις.“ 432 ISNARDI PARENTE (1992) 129.

8. Die Rede des Ammonios

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8. Die Rede des Ammonios Bei der vorstehenden Untersuchung des Dialoggeschehens von De E apud Delphos konnten hinsichtlich aller Reden, die der Ammoniosrede vorausgehen – einen Spezialfall bildete die Rede des Nikandros – starke Indizien dafür gefunden werden, dass diese Beiträge von Plutarch nicht als „falsche“ Lösungsversuche konzipiert wurden, sondern als Elemente einer übergreifenden, mehrperspektivischen Beleuchtung des Bedeutungspotenzials des delphischen E. Der Analyse der einzelnen Gesprächsbeiträge lag dabei die These zugrunde, dass Plutarch in ihnen jeweils ein bestimmtes Register aus seinem philosophisch-literarischen Repertoire aktiviert und jeden einzelnen Sprecher mit denjenigen Argumenten ausstattet, die nach der Ansicht des Autors dessen Position am meisten zu plausibilisieren vermögen. Da die Forschung in der Vergangenheit – wie sich herausstellte, voreilig – den Blick auf die vor Ammonios auftretenden Dialogteilnehmer stets aus der Perspektive des im Vergleich zur Ammoniosrede Defizitären ihrer Aussagen gerichtet hatte, während die Ammoniosrede weitestgehend unkritisch als Plutarchs persönliche Stellungnahme zum Problem des delphischen E angesehen wurde, soll nun in konsequenter Weise bei der hier vorgelegten Untersuchung der Ammoniosrede eben jene unkritische Akzeptanz und die aus ihr hervorgegangenen Argumente für eine weitestgehende Identifikation des Autors mit der Ammoniosrede schwerpunktmäßig einer Prüfung unterzogen werden. Das Hauptziel der folgenden Analyse der Rede ist dabei die Eruierung des speziellen platonisch-ontologischen Repertoire-Bestandteils, aus dem heraus Plutarch die Ammoniosrede entwickelt hat. Wie zu zeigen sein wird, ist die Ammoniosrede ihren Vorgängerreden dabei ähnlicher, als die Forschung bislang gesehen hat: Selbst im vermeintlich sakrosankten Bezirk der platonischen Ontologie erlaubt sich Plutarch eine Form der rhetorischen Aufbereitung von Ammoniosʼ Argumentation, in der seine philosophisch-künstlerischen Absichten sehr viel klarer zu fassen sind als sich aus ihr eine Form von persönlichem Bekenntnis plausibel nachweisen ließe. 8.1 Ammonios’ Einleitung (Kap. 17) Plutarch erteilt Ammonios als dem letzten Redner des Dialogs nach einem kurzen, durchaus anerkennenden Kommentar zur voraufgehenden Rede ‚Plutarchs‘433 das Wort und lässt ihn zugunsten der noch verbliebenen Möglichkeit argumentieren, das E im Rahmen der griechischen Sprache aufzulösen: als die Verbalform εἶ, „du bist“, mithin als Anrede an Apollon, die den Gott mit dem Sein prädiziert. Ammonios nimmt zunächst zu den Lösungen seiner Vorredner Stellung, indem er an jene leichte Kritik anknüpft, die er                                                              433

Vgl. dazu oben, S. 73.

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III. Hauptgespräch

gegenüber ‚Plutarchs‘ Position, das E stehe für die Zahl Fünf, angemeldet hatte: Da die Sieben als traditionell heilige Zahl des Apollon mindestens das gleiche Anrecht auf einen zahlentheoretischen Lobpreis habe wie die Fünf, bestehe eine gewisse Unwahrscheinlichkeit, dass die legendären Weisen dem Gott gerade eine Zahl als Weihegeschenk gestiftet haben könnten, die mit ihm traditionell nicht in Verbindung gebracht werde.434 Ammonios’ Argument für eine nur begrenzte Plausibilität der Lösung seines Vorredners besteht also darin, dass er an ihre These einen Maßstab anlegt, dem sie nicht gerecht werden kann: die Tradition heiliger Zahlen, die Apollon nun einmal die Sieben, nicht die Fünf zuweist. Dieselbe Strategie verfolgt Ammonios im Anschluss, um auch die Gültigkeit der übrigen Lösungsansätze in Zweifel zu ziehen und der eigenen Auflösung des E als εἶ vorzuarbeiten: Er führt ein weiteres Kriterium ein, das jene schwächt und die eigene Position als überlegen erscheinen lässt. Es handelt sich dabei um die stoische Theorie von den unvollständigen und vollständigen Formen der Aussage, die Ammonios später noch um den Aspekt des Wahrheitsgehaltes vollständiger Aussagen in Form einer Behauptung (ἀξίωμα) ergänzt. Ammonios’ Taktik hat einen guten Sinn, denn er begibt sich mit der von ihm selbst vertretenen Lösung in direkte Konkurrenz zu zwei seiner Vorredner, da er das E wie Nikandros (εἰ als Fragepartikel in indirekten Fragen im Sinne von „ob“ und εἰ als die Wunsch- und Gebetsformel „wenn doch“) und Theon (εἰ als kondizionale Konjunktion „wenn“ im Syllogismus) in den Diphthong ει auflöst. Ammonios lehnt nun jene beiden Lösungen mit der Begründung ab, er glaube, dass das Zeichen so wenig eine Zahl wie „eine Anfangsposition oder eine Konjunktion oder irgendeinen anderen unvollständigen Redeteil“ bezeichne.435 Damit deutet er an, dass Nikandros und Theon das E als εἰ in ein unvollständiges Element der Sprache (ἐλλιπὲς μόριον) übersetzt hätten, das zur Bildung einer vollständigen Aussage einer Ergänzung bedarf, im konkreten Fall eines Frage-, Wunsch- oder Kondizionalsatzes, der mindestens noch ein Subjekt und ein Prädikat enthalten muss. Zwar nimmt sich Ammonios mit der stoischen Theorie der Unterscheidung von vollständigen und unvollständigen Aussagen einige Freiheiten, verläuft doch die Grenze zwischen den Kategorien „unvollständig“ (ἐλλιπές) und „vollständig“ (αὐτοτελές) im Bereich der stoischen Aussagenlogik traditionell nicht zwischen Partikeln oder Konjunktionen und Aussagen, die mindestens aus einem Prädikat bestehen müs                                                            

Vgl. De E 17, 391F. De E 17, 391F οὔτ᾿ οὖν ἀριθμὸν οὔτε τάξιν οὔτε σύνδεσμον οὔτ᾿ ἄλλο τῶν ἐλλιπῶν μορίων οὐδὲν οἶμαι τὸ γράμμα σημαίνειν. Der Begriff τάξις, „Position“, bezieht sich offenbar auf Nikandros’ Behauptung, das indirekt-fragende εἰ nehme die τάξις ἡγεμονικὴ ἐν τοῖς ἐρωτήμασιν ein (De E 5, 386B). 434 435

8. Die Rede des Ammonios

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sen, sondern zwischen verschiedenen Formen der Aussage selbst, den vollständigen (λεκτὰ αὐτοτελῆ) und unvollständigen (λεκτὰ ἐλλιπῆ),436 doch kommt es Ammonios mit der Zuordnung der Vorgängerlösungen zu den ἐλλιπῆ μόρια allein darauf an, den logischen Gegensatz zu den Vorzügen der eigenen Lösung hervorzuheben, die das Merkmal „vollständig“ (αὐτοτελής) erfüllt: „Vielmehr ist es [sc. das Zeichen] die vollständige Anrede und Ansprache des Gottes, die denjenigen, der sie artikuliert, im Augenblick der Formulierung zu einer Vorstellung von der Macht des Gottes bringt.“437 Der Vorzug der hier von Ammonios eingeführten Lösung εἶ besteht mithin gegenüber den konkurrierenden Ansätzen des Nikandros und des Theon darin, dass sie nach der stoischen Sprachtheorie das „höherwertige“ Kriterium der Vollständigkeit erfüllt.438 Mit der Vollständigkeit der Aussage εἶ geht, wie Ammonios im zweiten Teil seiner Ausführungen darlegt, der Vorzug ihrer größeren Verständlichkeit und Erfassbarkeit einher, den er durch Anspielung auf das stoische Theorem der durch Sinneseindrücke ausgelösten Begriffsbildung im Geist des Menschen begründet. Die durchaus tautologisch anmutende Formulierung προσαγόρευσις καὶ προσφώνησις, mit der Ammonios die Anrede εἶ bezeichnet, verdankt ihr zweites Glied der Absicht des Sprechers, den Erkenntniswert eines gegenüber dem Gott artikulierten εἶ hervorzuheben, denn es ergänzt die beiden Elemente des Sprechaktes, das φθέγγεσθαι (den Vorgang der Artikulierung des E) und das ῥῆμα (das artikulierte E) zusätzlich um den Aspekt des Sprechwerkzeuges (φωνή). Zum sinnlichen Akt der Artikulation des εἶ als einer vollständigen Aussage bildet sich nach Ammonios koextensiv (ἅμα τῷ ῥήματι) ein Begriff (ἔννοια) von der Macht des Gottes im Geist des Artikulierenden (ὁ φθεγγόμενος), der die „Ansprache“ (προσφώνησις) an den Gott richtet. Ει aussprechen und eine Vorstellung von der Macht des Gottes gewinnen ist mithin dasselbe, sofern man unter dem Laut die Verbalform εἶ versteht, und es bedarf, anders als im Falle eines εἰ, keiner weiteren Ergänzungen oder Erläuterungen, um dem E einen Sinn abzugewinnen.                                                              436 Vgl. SVF II 181 […] τῶν δὲ λεκτῶν τὰ μὲν λέγουσιν εἶναι αὐτοτελῆ οἱ Στωϊκοί, τὰ δὲ ἐλλιπῆ· ἐλλιπῆ μὲν οὖν ἐστι τὰ ἀναπάρτιστον ἔχοντα τὴν ἐκφοράν, οἷον „γράφει“. ἐπιζητοῦμεν γάρ „τίς;“ αὐτοτελῆ δ᾿ ἐστὶ τὰ ἀπηρτισμένην ἔχοντα τὴν ἐκφοράν, οἷον·„γράφει Σωκράτης“. 437 De E 17, 392A ἀλλ᾿ ἔστιν αὐτοτελὴς τοῦ θεοῦ προσαγόρευσις καὶ προσφώνησις ἅμα τῷ ῥήματι τὸν φθεγγόμενον εἰς ἔννοιαν καθιστᾶσα τῆς τοῦ θεοῦ δυνάμεως. 438 Für die Ansicht der Vollständigkeit der Aussage εἶ (im Gegensatz zu dem Beispiel γράφει in SVF II 181, zitiert oben, Anm. 436) vgl. OPSOMER (2009) 155, Anm. 148 mit Verweis auf Apoll. Dysc., De pron. (Grammatici Graeci II 1, 1, p. 23, 6–24, 6 Schneider): „Whereas verb forms in the first or second person are generally thought to be complete in themselves, this was not believed to be the case for verb forms in the third person (for lack of an unambiguous deictic component).“

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III. Hauptgespräch

Ammonios schließt das einleitende Plädoyer für die Überlegenheit seiner Lösung mit der Skizzierung der Situation, in der der Mensch den Gott mit εἶ anspricht, wobei er, weiterhin auf der Grundlage der stoischen Sprachphilosophie, das Kriterium der Wahrheit der Aussage, das nur die Lösung εἶ erfüllen kann, zur zusätzlichen Plausibilisierung seiner Deutung anführt. Die erkenntnisbildende Anrede an den Gott ist nach Ammonios keineswegs ein spontaner Akt der Besucher des Apollontempels in Delphi, sondern eine Reaktion auf einen Gruß des Gottes an die Besucher in Gestalt der Aufforderung γνῶθι σαυτόν, die ebenfalls am Tempel sichtbar angebracht ist.439 Indem die Besucher dem Gott mit εἶ antworten, machten sie über den Gott eine Aussage, die „wahr, untrüglich und allein ihm zukommend“ sei.440 Wie im Falle des Doppelausdrucks προσαγόρευσις καὶ προσφώνησις ist es erneut eine auffällig tautologische Formulierung, die die Fortsetzung des stoisch fundierten Gedankenganges anzeigt. Die Anrede des Gottes mit dem Sein stellt in Ammonios’ Worten die ἀληθὴς καὶ ἀψευδὴς … προσαγόρευσις Apollons dar und verweist auf die Intention des Redners, eine Konsequenz aus der Bestimmung des εἶ als eines λεκτὸν αὐτοτελές zugunsten seiner Lösung zu instrumentalisieren, indem er auf das Hauptmerkmal der zu den vollständig ausgedrückten Sachverhalten zählenden Aussagen (ἀξιώματα) anspielt, unter die auch die Formulierung εἶ fällt: Nur echte Aussagen können entweder wahr oder falsch sein.441 Das höchste Privileg nun, das die von Ammonios vertretene Lösung gegenüber allen anderen Lösungsansätzen nach seiner Argumentation genießt, ist die absolute Wahrheit der Aussage εἶ als Anrede an den Gott, denn dieses ἀξίωμα kann nicht wie jedes andere wahr oder falsch (ἀληθὲς ἢ ψεῦδος) sein, sondern ist schlichtweg eine „wahre und nicht-falsche Anrede“ (ἀληθὴς καὶ ἀψευδὴς … προσαγόρευσις). Zur Begründung dieser Behauptung schließt Ammonios mit καί an, dass die Anrede εἶ „allein dem Gott zukommt“ (μόνην μόνῳ προσήκουσαν).442                                                             

439 De E 17, 392A ὁ μὲν γὰρ θεὸς ἕκαστον [ἡμῶν] τῶν ἐνταῦθα προσιόντων οἷον ἀσπαζόμενος προσαγορεύει τὸ γνῶθι σαυτόν, ὃ τοῦ χαῖρε δήπουθεν οὐδὲν μεῖόν ἐστιν. MORESCHINI (1997) 11 verweist zur Erklärung des Vergleiches von γνῶθι σαυτόν mit dem χαῖρε auf Plat. Charm. 164d, wo das γνῶθι σαυτόν als göttliche Grußformel im Sinne einer Aufforderung zur Vernunft der menschlichen Grußformel χαῖρε übergeordnet wird. 440 De E 17, 392A ἡμεῖς δὲ πάλιν ἀμειβόμενοι τὸν θεόν εἶ φαμέν, ὡς ἀληθῆ καὶ ἀψευδῆ καὶ μόνην μόνῳ προσήκουσαν τὴν τοῦ εἶναι προσαγόρευσιν ἀποδιδόντες. 441 Vgl. SVF II 166 […] καὶ λεκτόν, ὅπερ ἀληθές τε γίνεται ἢ ψεῦδος. καὶ τοῦτο οὐ κοινῶς πᾶν, ἀλλὰ τὸ μὲν ἐλλιπὲς τὸ δὲ αὐτοτελές. καὶ τοῦ αὐτοτελοῦς τὸ καλούμενον ἀξίωμα, ὅπερ καὶ ὑπογράφοντές φασιν ἀξίωμά ἐστιν ὅ ἐστιν ἀληθὲς ἢ ψεῦδος. Vgl. SVF II 187 αὐτίκα γὰρ […] ἠξίουν οἱ Στωϊκοὶ κοινῶς ἐν λεκτῷ τὸ ἀληθὲς εἶναι καὶ τὸ ψεῦδος. […] προσαγορεύουσι δέ τινα τῶν αὐτοτελῶν καὶ ἀξιώματα, ἅπερ λέγοντες ἢ ἀληθεύομεν ἢ ψευδόμεθα. 442 Eine vermeintlich „monotheistische“ Konnotation der Formulierung diskutiert OPSOMER (2009) 160, Anm. 184, der neben anderen Einwänden gegen eine solche Interpretation auf den rhetorischen Tonfall hinweist: „This is an indication that the polyptoton

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Die Wahrheit der Aussage εἶ ergibt sich aus einer entschiedenen Abgrenzung der Teilnehmer an der aus dem Gruß γνῶθι σαυτόν und der Antwort εἶ bestehenden Kommunikationssituation, als deren Komponenten Ammonios die beiden delphischen Sprüche deutet: Auf der Seite der Adressaten des γνῶθι σαυτόν steht jeder Mensch, der als Besucher in das delphische Heiligtum kommt (ἕκαστον τῶν ἐνταῦθα προσιόντων), während der Gruß εἶ an den Hausherrn Apollon ergeht, dem exklusiv (μόνῳ) als einem Gott, im Unterschied zu seinen menschlichen Besuchern, diese Anrede angemessen ist. Damit ist der Weg der Argumentation vorgezeichnet, den Ammonios in den drei folgenden Kapiteln 18–20 gehen wird: Sie erarbeiten die ontologischen Grundlagen für die Wahrheit der exklusiv an den Gott zu richtenden Anrede εἶ aus der Perspektive des exemplarischen Delphibesuchers, der der Aufforderung des Gottes nach dem γνῶθι σαυτόν in der Weise nachkommt, dass er seinen ontologischen Status reflektiert und dessen Inferiorität gegenüber demjenigen des Gottes erkennt. Ammonios’ weitere Ausführungen erfüllen entsprechend den Zweck einer Argumentation zugunsten eines Verständnisses des E, dessen Überzeugungskraft sich aus der prägnant formulierten Opposition zwischen den menschlichen Adressaten des göttlichen Grußes und dem göttlichen Adressaten der menschlichen Antwort speist. Wie der weitere Fortgang der Argumentation zeigt, ist Ammonios’ Postulat, die Anrede des Seins komme exklusiv dem Gott zu, allein in Relation zum Menschen als Teil eines strenggenommen nichtseienden Kosmos zu verstehen, dessen ontologischer Status als die genaue Negation des Seins des Gottes gefasst wird. Dies drücken die Formulierungen, die die Abschnitte einleiten, die dem Menschen und dem Gott gewidmet sind, unzweifelhaft aus: Dem Eingang von Kapitel 18 ἡμῖν μὲν γὰρ ὄντως τοῦ εἶναι μέτεστιν οὐδέν korrespondiert zu Beginn von Kapitel 20 die Aussage ἀλλ᾿ ἔστιν ὁ θεός. Das 20. Kapitel von De E apud Delphos enthält in nuce Ammonios’ theoretisch-ontologische Beweisführung für die Reziprozität der delphischen Sprüche εἶ und γνῶθι σαυτόν und damit für die Richtigkeit der von ihm propagierten Lösung des E. Aus diesem Grund soll die Analyse der Thesen                                                             

combined with geminatio, μόνην μόνῳ, is there for rhetorical reasons, as an embellishment, which implies that the expression should not necessarily be taken literally.“ Dem wäre hinzuzufügen, dass Plutarch Ammonios an dieser Stelle eine Formulierung Platons (Tim. 37e6–38a1) über die ἀΐδιος οὐσίᾳ benutzen lässt: τῇ δὲ τὸ ἔστιν μόνον κατὰ τὸν ἀληθῆ λόγον προσήκει. Die ganze Formulierung εἶ φαμεν, ὡς ἀληθῆ καὶ ἀψευδῆ καὶ μόνην μόνῳ προσήκουσαν τὴν τοῦ εἶναι προσαγόρευσιν ἀποδιδόντες ist mithin ausgeschmückte Platonparaphrase. Vgl. auch Plutarchs Formulierung in PQ 3, 1002A über die platonischen Ideen (Plural!), die „gemäß dem Einen und Einzigen gedacht werden“ (ἐν αὐταῖς γενησόμεθα ταῖς νοηταῖς ἰδέαις, οὐδεμίαν διαφορὰν ἐχούσαις πρὸς ἀλλήλας, κατὰ τὸ ἓν καὶ μόνον νοουμέν).

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III. Hauptgespräch

des Ammonios von hierher ihren Ausgangspunkt nehmen. Darüber hinaus hängen vom Verständnis dieses Passus die Antworten auf die zentralen Probleme ab, die die Ammoniosrede den Interpreten von jeher aufgegeben hat: Kann die Ammoniosrede als verlässliches Dokument für die Lehren eines historischen Ammonios gelten und bildet sie somit eine bestimmte platonische Tradition ab, die auf den Platonismus des historischen Plutarch starke Einflüsse ausgeübt hat? Oder ist die Ammoniosrede umgekehrt als das zentrale Dokument für Plutarchs platonische Theologie und Ontologie einzustufen, in dem der Autor den Kern seiner philosophischen Überzeugungen vom Wesen „Gottes“ am Beispiel des von ihm besonders verehrten Apollon entwickelt hat? Oder ist auch die Rede des Ammonios, wie die Beiträge seiner Vorredner, eine rhetorisch ausgeklügelte Aktualisierung eines Teilbereichs von Plutarchs philosophischem Repertoire mit dem Ziel, auch die Lösung εἶ mit den stärksten und beeindruckendsten Argumenten auszustatten? 8.2 Das 20. Kapitel von De E apud Delphos Ammonios’ Ausführungen im 20. Kapitel von De E apud Delphos gliedern sich in drei Abschnitte: Der Redner behauptet einleitend, dass der Gott „ist“, weshalb ihm die Anrede εἶ zukomme, und begründet darauf das Sein des Gottes damit, dass er „nicht entsprechend zu irgendeiner Zeit“ (κατ᾿ οὐδένα χρόνον), sondern „entsprechend zur Ewigkeit“ (κατὰ τὸν αἰῶνα) „ist“. Ammonios spricht hierauf der Ewigkeit jeden zeitlichen Aspekt ab und bekräftigt schließlich, dass nur das „wahrhaft seiend“ (ὄντως ὄν) sei, was in Relation zur Ewigkeit stehe. In einem weiteren Abschnitt fordert Ammonios dazu auf, den Gott in frommer Verehrung nicht nur mit εἶ, „du bist“, sondern „nach dem Vorbild einiger der Alten“ (ὡς ἔνιοι τῶν παλαιῶν) zusätzlich mit εἶ ἕν, „du bist Eines“, zu begrüßen und begründet diese Forderung damit, dass das Göttliche (θεῖον) nicht in dem Sinne „Vieles“ (πολλά) sei, „wie jeder von uns“ (ὡς ἕκαστος ἡμῶν), jeder Mensch, den er als einen aus verschiedensten Komponenten „zusammengemischten Haufen“ (ἄθροισμα … μεμιγμένον) bezeichnet. Vielmehr „muss das Seiende eines sein, wie das Eine seiend“ (ἀλλ᾿ ἓν εἶναι δεῖ τὸ ὄν, ὥσπερ ὂν τὸ ἕν); was Verschiedenheit aufweise, gehöre demgegenüber dem Nichtsein an. In einem dritten Abschnitt, der den Rest des Kapitels ausfüllt, führt Ammonios schließlich zur Stützung seiner Aussagen Etymologien der Namen des Gottes – Apollon, Ieios und Phoibos – an, wovon die beiden ersten die „Einheit“ des Gottes beweisen sollen, die sich zusätzlich gemäß der letzten Etymologie aus dessen „Reinheit“ und „Unvergänglichkeit“ herleitet. Entsprechend beendet Ammonios seine Ausführungen über das Sein des Gottes mit den Worten:

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„Also kommt es dem Unvergänglichen und Reinen zu, immer Eines und unvermischt zu sein“ (οὐκοῦν ἕν τ᾿ εἶναι καὶ ἄκρατον ἀεὶ τῷ ἀφθάρτῳ καὶ καθαρῷ προσήκει). 8.2.1 Der Aion und der Gott Während Ammonios’ Erläuterungen über das Sein Apollons im Rahmen der platonisch-ontologischen Grundtendenz der letzten Rede von De E apud Delphos in erster Linie nicht mehr als eine Verortung des Gottes in der Kategorie des Intelligiblen oder Transzendenten darstellen, hat dieser Abschnitt aufgrund der Bezeichnung Apollons als „Einem“ von jeher großes Aufsehen erregt und ambitionierte Erklärungsversuche dieses Sachverhaltes gezeitigt. Ein nicht geringer Teil der Interpreten, der in der Ammoniosrede eine Form von religiösem Bekenntnis des Ammonios (und damit Plutarchs) zu Apollon als „Gott“ erahnen will, meint in den Einheitsaussagen des Kapitels eine Tendenz Plutarchs zu einem Monotheismus jüdisch-christlicher Prägung erkennen zu können. So ist in neuerer Zeit ist HIRSCH-LUIPOLD (2005) für ein Konzept der „Einheit und Personalität Gottes“ im Werk Plutarchs eingetreten, das sich in wesentlichen Punkten auf die Ammoniosrede stützt und in eine Theorie eingebettet ist, die von einer Gemeinsamkeit der „religiösen Philosophie“ Plutarchs mit Philon von Alexandria ausgeht. HIRSCH-LUIPOLDs Argumente, die sowohl für Plutarch als auch für Philon eine Art von religiös-romantischem Ressentiment gegenüber der kalten Vernunft der Philosophie konstruieren und auf diese Weise ein zumal für Plutarch nicht hinreichend differenziertes, weil einseitig emotionalisiertes Verhältnis zur traditionellen Religion postulieren, werden sowohl Plutarchs als auch Philons unverkennbarer Intellektualität in keiner Weise gerecht.443 VALGIGLIO wiederum steht für eine eng verwandte Interpretationsrichtung, die Plutarch beinahe durchgängig zu christianisieren bemüht                                                              443 Vgl. HIRSCH-LUIPOLD (2005) 143 [Hervorhebungen im Original] „Wie bei Philon ist die Einheit Gottes allerdings auch bei Plutarch nicht nur philosophisches Postulat. Die beiden religiösen Denker verknüpfen es mit der Vorstellung einer Personalität Gottes. Wie es bei Philon der eine Gott Israels ist, der sich durch seinen Bund an sein Volk Israel bindet, so verknüpft auch Plutarch die philosophische Rede von dem einen göttlichen Logos zugleich mit einer persönlichen Gottesvorstellung. Der göttliche Logos zeigt sich ihm zwar bevorzugt in seinem delphischen Orakelgott Apollon; […].“ (Es folgen weitere Götter, in denen sich nach HIRSCH-LUIPOLDs Ansicht Plutarch „der göttliche Logos“ zeigt). Die Vorstellung einer monotheistisch-„gläubigen“ Apollondevotion Plutarchs, die sich in der Ammoniosrede Bahn breche, ist bei HIRSCH-LUIPOLD implizit vorausgesetzt: Ausgehend von einer Formulierung aus dem Amatorius (13, 756B) „Der „von den Vätern ererbte Glaube ist völlig ausreichend und man kann darüber hinaus keine klareren Aussagen und keinen klareren Beweis (sc. über die Götter) finden““ vertritt HIRSCH-LUIPOLD folgende Ansicht: „Damit unterstreicht Plutarch den Wahrheitsanspruch religiöser Tradition gegenüber ei-

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III. Hauptgespräch

ist.444 Unabhängig vom weltanschaulichen Standpunkt der Interpreten hat eine solche „monotheistische“ Rezeption der Ammoniosrede – mit Aus                                                             nem sich absolut setzenden Denken“ (ibid. 146f.). Der Verfasser meint mit diesem „Denken“ die etablierte Philosophie: „Gleichzeitig allerdings deutet eine bei beiden [sc. Philon und Plutarch, Anm. d. Verf.] zu erkennende Distanz zu „den Philosophen“ an, dass es sich bei ihnen um eine besondere, eben religiös eingebundene Form der Philosophie handelt. Wir haben es hier also mit einer Neubestimmung des Philosophiebegriffs zu tun“ (ibid. 146). In der weiteren Argumentation zugunsten dieser These erhält Plutarch entsprechend in mittlerer Frequenz Titel wie „Priester des Apollon in Delphi“ (ibid. 142, 145), „delphischer Priester“ (ibid. 144, 145, 152, 161), Ammonios wird aufgrund seiner (bei Plutarch nirgends bezeugten, von HIRSCH-LUIPOLD jedoch als historisches Faktum vorausgesetzten) Herkunft aus Ägypten zum Bindeglied zwischen philonischen Vorstellungen und Plutarch, vgl. 142 und 153 „Plutarchs ägyptischer Lehrer Ammonios“; 167 „Land von Isis und Osiris, dem Herkunftsland … von Plutarchs Lehrer Ammonios, dem Entstehungsort der griechischen Übersetzung der jüdischen Schriften“. Der Verfasser geht von einer ägyptischalexandrinisch zu verortenden „gegenseitigen Beeinflussung“ beider Sphären aus (ibid. 161), bleibt jedoch in deren konkreter Beschreibung recht vage (ibid. 147): „Man könnte vielleicht so sagen: Philon lebt aus seinem alexandrinischen Standpunkt heraus, während Plutarch seine weitläufige Bildung auch in religiösen Dingen mit dem alexandrinischen Standpunkt von außen her ins Gespräch bringt.“ Bereits SCHROETER (1911) 42–51 hatte den Versuch unternommen, Plutarch nachgerade in Abhängigkeit von Philon zu bringen. SCHROETERs These wurde von DONINI (1986) 107 in einer Arbeit über Plutarchs Schülerverhältnis zu Ammonios unter Wiederaufnahme der vermeintlich sicheren ägyptischen Herkunft des Ammonios begrüßt und einer erneuten Würdigung empfohlen. FERRARI (1995) 59 wiederum hat eine mögliche Übereinstimmung zwischen der Prädizierung des Apollon mit dem reinen Sein in der Ammoniosrede und Philons Theologie erwogen und die Zugehörigkeit von Plutarch und Philon zu einem gemeinsamen philosophischen Umfeld für denkbar erklärt, jedoch auf das Fehlen jeglichen Beleges für eine Kenntnis oder Benutzung von Philons Werk durch Plutarch hingewiesen: „Inoltre non possediamo elementi tali da indurci a credere che Plutarco conoscesse direttamente l’opera di Filone; per questi motivi mi sembra ragionevole ipotizzare l’apparteneza dei due autori a un ambiente filosofico comune, senza con questo ammettere un utilizzo diretto dell’opera filoniana da parte di Plutarco.“ Dieser Sicht der Dinge hat sich neueren Datums auch OPSOMER (2009) 170 angeschlossen, der nach gründlicher Sichtung der Beleglage und Forschungsdiskussion zu einer Verbindung zwischen Philon und dem Inhalt der Ammoniosrede die These einer historisch nachweisbaren personalen Vermittlerposition des Ammonios nach Alexandria zurückweist: „Moreover, in the entire Corpus Plutarcheum there is not a single indication that Plutarch was familiar with the work or even the existence of the Alexandrian Philo. The conclusion to draw is that Philo, Plutarch, and, if De E is to be accepted as testimony for the views of Plutarch’s teacher, already Ammonius are indebted to a common tradition. So Ammonius does not constitute the missing link between the Platonism of Plutarch and the Alexandrian Platonism of Philo, in the sense that there is probably more than one link missing.“ Einen oberflächlichen Abgleich zwischen der Ammoniosrede und Aussagen über den jüdischen Gott in der Septuaginta versucht DEL CERRO CALDERÓN (1996), auf pseudokabbalistische Abwege führt der Beitrag von MARSÁ GONZÁLEZ (2005). 444 VALGIGLIO (1988) beginnt ein eigenständiges Kapitel „Motivi cristiani in Plutarco“ (89–129) mit der Prämisse „In quasi tutta la letteratura antica pagana si incontrano verità

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nahme von ZIEGLER – Eingang in alle dem Verfasser dieser Studie zugänglichen Übersetzungen gefunden, die bereits in den ersten Satz des 20. Kapitels – offenbar im Vorgriff auf die spätere Formulierung εἶ ἕν – den „einen Gott“ in der personal-maskulinen Form eintragen. Der griechische Text lautet folgendermaßen (De E 21, 393AB): Ἀλλ᾿ ἔστιν ὁ θεός, εἶ χρὴ φάναι445, καὶ ἔστι κατ᾿ οὐδένα χρόνον ἀλλὰ κατὰ τὸν αἰῶνα τὸν ἀκίνητον καὶ ἄχρονον καὶ ἀνέγκλιτον καὶ οὗ πρότερον οὐδέν ἐστιν οὐδ᾿ ὕστερον οὐδὲ μέλλον οὐδὲ παρῳχημένον οὐδὲ πρεσβύτερον οὐδὲ νεώτερον· ἀλλ᾿ εἷς ὢν ἑνὶ τῷ νῦν τὸ ἀεὶ πεπλήρωκε, καὶ μόνον ἐστὶ τὸ κατὰ τοῦτ᾿ [v.l. τοῦτον] ὄντως ὄν, οὐ γεγονὸς οὐδ᾿ ἐσόμενον οὐδ᾿ ἀρξάμενον οὐδὲ παυσόμενον. MORESCHINI geht davon aus, dass die mit κατ᾿ οὐδένα χρόνον eingeleitete Präpositionalphrase, die die Eigenschaften des αἰών beschreibt, „entsprechend zu dem“ der Gott „ist“, bereits mit dem Wort ἀνέγκλιτον endet,446 mithin im Folgenden – ungeachtet des kopulativen καί – nicht mehr der αἰών Subjekt ist, sondern der Gott, und übersetzt: „di lui non vi è niente che sia antecedente o posteriore, né futuro né passato, né piú antico né piú recente; ma siccome è unico, ha riempito la sempiternità esclusivamente con l’‘ora’ ed esiste realmente soltanto quello che è conformemente a lui; non è stato né sarà, non è cominciato né è destinato a finire.“447 Nach MORESCHINI ist                                                              cristiane“ (ibid.) und seinen hermeneutischen Standpunkt dadurch expliziert, dass er sogleich Clemens von Alexandria und den „Heiligen Augustinus“ zitiert, deren Aussagen er sich ganz zu eigen macht („Esistono quindi principi universali, validi per tutta l’umanità e per tutti i tempi; portatore ne può essere ogni individuo pensante. […] Verità precristiane, quindi, divenute con Cristo cristiane …“, ibid.). Es folgt die obligatorische anima naturaliter christiana des Tertullian, die sich sogleich in Plutarch, „tra coloro che più intensamente hanno denunciato questo impulso [sc. Sensibilität für die christliche Idee, Anm. d. Verf.]“ (ibid. 90) konkretisiert, dem Punkt für Punkt Gemeinsamkeiten mit der Bibel und den Kirchenvätern nachgewiesen werden. Wenn sich VALGIGLIO Plutarchs „Monotheismus“ zuwendet („Ma ciò che di più fondamentalmente cristiano si trova in Plutarco è la concezione monoteistica […].“, ibid. 116f.), drückt er sich allerdings einigermaßen differenziert aus: „Per indicare la divinità egli ricorre per lo più al plurale (οἱ) θεοί (sopprattutto nei casi di culto); ma ricorre spesso anche il singolare (ὁ) θεός (qualche volta a τὸ θεῖον). Un criterio chiaro per questi usi non è ricavabile; molte volte plur. e sing. sembrano equivalersi.“ (ibid. 117). Doch VALGIGLIO findet bei Plutarch „un’evoluzione verso uno spiritualismo e verso una fede (di stampo platonico) sfiocianti nel monoteismo di un Dio immateriale, onnipotente, infinitamente buono e giusto.“ (ibid. 117). 445 Die bisweilen in den Übersetzungen rezipierte varia lectio εἰ χρὴ φάναι im Sinne von „wenn man dies überhaupt betonen muss“, spielt für das Verständnis der Passage keine wesentliche Rolle. 446 MORESCHINI (1997) „Ma il dio è, se proprio dobbiamo dirlo, ed è non in rapporto ad una misura di tempo, ma secondo l’eternità, che è immobile e fuori del tempo e del mutamento;“ 447 Diese und alle folgenden Hervorhebungen in den Zitaten aus den Übersetzungen stammen vom Verfasser dieser Studie.

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es der Gott, vor oder nach dem nichts existiert; der Gott ist zudem „einzig“ und „füllt“ eine Ewigkeit mit einem einzigen Jetzt aus; zugleich ist der Gott Maßstab für anderes, das wahrhaftes Sein hat, soweit es in Entsprechung zu ihm, der weder begonnen hat noch enden wird, existiert. Die Unstimmigkeit dieser Übersetzung fällt sofort ins Auge: Einerseits „ist“ der Gott entsprechend zur Ewigkeit, das heißt, das Sein des Gottes ist keiner Veränderung über die Zeit hinweg unterworfen; andererseits ist es der Gott selbst, der in Entsprechung zu seinem Wesen, einer als Einzigkeit verstandenen Einheit, die Ewigkeit mit dem Jetzt gefüllt haben soll; der Gott scheint darüber hinaus mindestens potenziell bestimmten weiteren Entitäten „wahres Sein“ zu verleihen, wenn sie „in Entsprechung“ zu ihm existieren. MORESCHINI scheint mit dieser Übersetzung darauf abzuzielen, ein Bild von einem einzigen, souveränen Gott zu zeichnen, der das Sein vollkommen verkörpert und anderen Entitäten ihr Sein verleiht, wobei ihm vermutlich die platonische Idee des Guten vorgeschwebt haben mag, die bekanntlich den übrigen Ideen ihr Sein verleiht. Die restlichen Übersetzer sind nicht so weit gegangen, den „einen Gott“ bereits nach ἀνέγκλιτον zum Subjekt des Satzes zu machen und haben καὶ οὗ richtig als Fortsetzung der Beschreibung des αἰών innerhalb der κατὰ-Phrase, mithin der internen Beschaffenheit des αἰών („wo, in welchem Bereich“)448 verstanden und nicht als Genitivus comparativus, der sich auf den Gott zurückbezieht („im Vergleich zu dem“), da sich ein Subjektswechsel allein schon durch den Anschluss mit καί verbietet.449 Allerdings sind bis auf ZIEGLER alle Übersetzer mit MORESCHINI der Ansicht, mit ἀλλ᾿ εἷς ὤν wechsle das Subjekt tatsächlich vom αἰών                                                              448 Eine Parallele zu dieser Bestimmung der „internen“ Organisation des αἰών durch ein lokales οὗ bildet die Beschreibung der „internen“ Organisation des χρόνος im 19. Kapitel. Der χρόνος wird zunächst als „Gefäß“ (ἀγγεῖον) beschrieben und die nächste Aussage, die von den Temporalbegriffen handelt, die der χρόνος umfasst, mit ὅπου angeschlossen; offenbar ist gemeint, dass „in“ jenem Zeitgefäß die aufgeführten Zeitbegriffe enthalten sind. Dem von SIEVEKING gedruckten ὅπου, einer Konjektur von WILAMOWITZ, steht in der Überlieferung οὗ O in breitester Bezeugung gegenüber. 449 FLACELIÈRE (1974) „La divinité, elle, existe (est-il nécessaire de le dire?), et son existence n’a pas lieu en un point quelconque du temps, mais dans l’éternité, qui est immuable, hors de temps et de toute vicissitude, qui ne comporte ni moment antérieur ou postérieur, ni avenir ou passé, ni vieilesse ou jeunesse.“ BABBITT (1936) „But God is (if there be need to say so), and He exists for no fixed time, but for the everlasting ages which are immovable, timeless, and undeviating, in which there is no earlier nor later, no future nor past, no older nor younger;“ CILENTO (1962) „Ma il dio (occorre dirlo?) ‘è’; è, dico, non già secondo il ritmo del tempo, ma nell’eterno, ch’è senza moto, senza tempo, senza vicenda; e non ammette né prima né dopo, né futuro né passato, né età di vecchiezza o di giovinezza.“ LOZZA in DEL CORNO (1983) „Invece il dio esiste. “Tu sei”, dobbiamo proclamare. Esiste non nel tempo, ma nell’eternità immobile, senza tempo, senza mutamenti, che non ha un prima ne un dopo: essa non cognosce futuro né passato, vecchiezza e gioventù.“ BOULOGNE – BROZE – COULOUBARITSIS (2006) „Mais le dieu Est, s’il faut le dire, et il Est

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auf den Gott, wobei sie sich allein in der Interpretation von εἷς unterscheiden, das bald im prägnant-relativen Sinne der „Einzigkeit“, bald im schwach-reflexiven Sinne der „Einheit“ wiedergegeben wird.450 Freilich erübrigt sich die Diskussion, ob hier bereits von der „Einheit“ des Gottes oder gar von seiner „Einzigkeit“ gesprochen wird, denn eine Beziehung von ἀλλ᾿ εἷς ὤν auf den Gott ist aus zwei Gründen unplausibel: Zum einen korrespondiert das ἀλλὰ an dieser Stelle klar mit den negativen Ausdrücken (οὐδὲν … οὐδὲ … οὐδὲ) aus dem vorherigen Satz, die allesamt eine Mehrzahl an temporalen Eigenschaften, „vorher“, „später“, zukünftig“, „vergangen“, „älter“, „jünger“, aus dem Raum des αἰών ausschließen; demgegenüber (ἀλλά) gibt es im αἰών nur das eine „Jetzt“ (ἑνὶ τῷ νῦν), mit dem der αἰών „das Immer ausfüllt“ (τὸ ἀεὶ πεπλήρωκε) und entsprechend – wie schon                                                              sans relation avec aucun temps, mais en relation avec l’éternité qui est immobile, intemporelle, sans inflexion et en elle il n’y a rien d’antérieur ni de postérieur, ni de futur ni de passé, ni de plus récent ni de plus ancien;“ Richtig hat die Stelle explizit OPSOMER (2009) 156 erklärt: „The being of god is situated in eternity (κατὰ τὸν αἰῶνα). This means that there is no motion or change, no earlier and later, no future and past, no older and younger (καὶ οὗ πρότερον οὐδέν ἐστιν οὐδ᾿ ὕστερον οὐδὲ μέλλον οὐδὲ παρῳχημένον οὐδὲ πρεσβύτερον οὐδὲ νεώτερον, 393 a) […].“ 450 FLACELIÈRE (1974) „L’être divin, qui est unique, embrasse toute la durée dans un unique présent, et ce qui existe à sa manière est seul à exister réellement, n’ayant pas été et ne devant pas être, n’ayant pas commencé et ne devant pas finir.“ BABBITT (1936) „but He, being One, has with only one ‘Now’ completely filled ‘For ever’; and only when Being is after His pattern is it in reality Being, not having been nor about to be, nor has it had a beginning nor is it destined to come to an end.“ CILENTO (1962) „No, Egli è uno e nell’unità del presente riempie il ‘sempre’: ciò che in questo senso esiste realmente, quello ‘è’ unicamente: non avenne, non sarà, non cominciò, non finirà.“ LOZZA in DEL CORNO (1983) „Essendo unico, egli abbraccia l’eternità nell’unico suo presente, e solo ciò che esiste a queste condizioni esiste realmente, non soggetto al passato né al futuro, né all’inizio né alla fine.“ BOULOGNE – BROZE – COULOUBARITSIS (2006) „étant Un, le dieu tient rempli le „toujours“ en un seul „maintenant“ et seul ce qui est en relation avec lui est réellement Etant, sans naissance, sans futur, sans début ni fin.“ PLEŠE (2010) 99 „But He, being One (εἷς ὤν), has filled ‘always’ in a single ‘now’ (ἑνὶ τῷ νῦν τὸ ἀεὶ πεπλήρωκε). Only what is in this manner really is, and not what has come to be or will be, not [sic] what has begun or will cease.“ HIRSCH-LUIPOLD (2005) ist der Ansicht, die Stelle spreche für seine These, Plutarch habe ähnliche Vorstellungen wie Philon von Alexandria von der „Einheit und Personalität Gottes“ (ibid., 142): „Plutarch, der Philosoph und Priester des Apollon von Delphi, nimmt demgegenüber [sc. Philons selbstverständlicher, aus der Tora entnommener Voraussetzung der Einheit „Gottes“, Anm. d. Verf.] eine Vielzahl religiöser Traditionen in seinen Schriften auf und macht verschiedenste Götter zum Thema. Und doch findet sich ein deutlicher Zug zur Einheit des Göttlichen auch bei ihm: Wie Philon kann er von dem einen Gott sprechen.“ Entsprechend übersetzt H IRSCH-LUIPOLD den Passus im 20. Kapitel von De E apud Delphos (ibid., 143) folgendermaßen: „Weil nun Gott einer ist, deshalb hat er mit dem einen Jetzt das Immer angefüllt, und nur was auf diese Weise ist, ist wahrhaftiges Sein, das weder geworden ist noch eine Zukunft vor sich hat, das weder Anfang noch Ende kennt.“

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III. Hauptgespräch

in Platons Timaios – als „einer“ (εἷς ὤν), das heißt als temporal unsegmentiert bezeichnet wird.451 Zum anderen wäre es völlig unverständlich, wenn Ammonios im folgenden Abschnitt – zusätzlich zu den bislang vorgebrachten Begründungen für die Berechtigung der Anrede εἶ – mit dem Ausruf νὴ Δία das „Vorbild einiger der Alten“ (ὡς ἔνιοι τῶν παλαιῶν) zur Nachahmung empföhle, die den Gott mit εἶ ἕν anredeten, wenn die „Einheit“ des Gottes bereits feststünde. Ammonios’ Neuansatz ist nur sinnvoll, wenn er mit Verweis auf die „Alten“ einen bisher nicht explizierten Aspekt des Seins des Gottes einführt, wozu er im nächsten Satz eine ausführliche Begründung liefert. Von Apollon als maskulin-personal „einem“ oder „einzigem“ ist im ersten Abschnitt des 20. Kapitels mithin keine Rede, in ἀλλ᾿ εἷς ὤν ist weiterhin der αἰών Subjekt, und dies ändert sich bis zum Ende des Passus nicht: Auch die Worte καὶ μόνον ἐστὶ τὸ κατὰ τοῦτ᾿ ὄντως ὄν, οὐ γεγονὸς οὐδ᾿ ἐσόμενον οὐδ᾿ ἀρξάμενον οὐδὲ παυσόμενον bilden Aussagen über den αἰών,452 die unmissverständlich die Anfangsbehauptung des Abschnittes wiederaufnehmen, in der es hieß, der Gott verdanke sein Sein seiner Relation (κατά) auf den αἰών453: Nicht der seiende Gott ist mithin das Maß des Seins anderer Entitäten, sondern der αἰών, in dem der Gott angesiedelt ist, ist das Maß für das Sein des Gottes, dem exemplarisch, aber nicht zwingend exklusiv die Qualität des ὄντως ὄν eignet.454 Zu Beginn des 19. Kapitels                                                             

451 Plat. Tim. 37d6 heißt es von der Ewigkeit, sie „verharre im Einen“ (μένοντος αἰῶνος ἐν ἑνί). 452 Es ist für das richtige Verständnis des Satzes gleichgültig, ob man wie SIEVEKING das neutrale κατὰ τοῦτ᾿ (in Anlehnung an κατὰ τοῦτο X1 (?) B) oder das maskuline κατὰ τοῦτον O druckt: Im ersten Falle nimmt τοῦτ᾿ das ἕν τὸ νῦν oder τὸ ἀεί, die singuläre „temporale“ Eigenschaft des αἰών wieder auf, im zweiten Falle referiert τοῦτον auf den αἰών selbst. Für letztere – ja auch breiter überlieferte – Variante würde sprechen, dass eine Existenz κατὰ τὸν αἰώνα am Anfang des 20. Kapitels als die conditio sine qua non für echtes Sein bestimmt wurde. Diese Ansicht dokumentiert auch der neueste Kommentar zum 21. Kapitel von De E apud Delphos in DÖRRIE – BALTES – PIETSCH – LAKMANN (2008) 588f. „Daher gibt es in der Ewigkeit kein Früher und Später, keine Zukunft und Vergangenheit, kein Älter und Jünger, sondern nur ein einziges Jetzt (ἓν τὸ νῦν), das als solches die ganze Ewigkeit ausfüllt. Nur was in dieser Ewigkeit existiert, ist wahrhaft seiend (ὄντως ὄν), ohne Vergangenheit und Zukunft, ohne Beginn und Ende.“ 453 De E 19, 393A definiert Ammonios analog die sterblichen Wesen „in bezug auf die Zeit“ (κατὰ τὴν πρὸς τὸν χρόνον συννέμησιν). 454 Anders das Verständnis der Stelle bei DÖRRIE – BALTES – PIETSCH – LAKMANN (2008) 591, das allerdings von einem gewissen Systemzwang in Plutarchs Platonismus geprägt scheint: „Das Eine Seiende oder Seiende Eine ist also bei Plutarch identisch mit dem höchsten Gott, Apollon, der reines Sein und reine Einheit ist, eine Einheit, die einzig für sich allein ist (εἷς καὶ μόνος […]), vor aller Differenz (ἑτερότης) und damit auch vor aller Differenzierung des Seienden in die Vielheit der Ideen. […] Daher müssen die Ideen dieser reinen Einheit nachgeordnet sein. Der Gott Apollon, der von Plutarch in De defectu

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fragt Ammonios entsprechend nicht τί οὖν τὸ ὄντως ὄν ἐστι;, sondern τί ὄντως ὄν ἐστι;, nicht nach Apollon als der einzigen Entität, der das Sein eignet, oder als dem Urgrund allen Seins, sondern nach einer Entität, die diese Qualität besitzt. Die einzige sprachlich wie inhaltlich durchweg richtige Übersetzung des Abschnittes stammt also von ZIEGLER: „Aber der Gott hat das Sein, muß man sagen, und er ist nicht in irgendeiner Zeit, sondern in der Ewigkeit, der unbeweglichen, zeitlosen, unveränderlichen, angesichts deren es nichts Früheres noch Späteres, nichts Bevorstehendes noch Vergangenes, nichts Älteres noch Jüngeres gibt, sondern sie ist nur eine, und mit ihrem Jetzt, das Eines ist, hat sie das Immerdar erfüllt; und allein, was in diesem Sinne ist, ist wahrhaft seiend, etwas, das nicht geworden ist, nicht sein wird, nicht angefangen hat, nicht enden wird.“ Ammonios leitet das Sein des Gottes aus seiner Relation auf einen homogenen, zeitlich unsegmentierten, allein in einem „Jetzt“ bestehenden αἰών ab. Die Vorstellung einer wie auch immer zu verstehenden „Einheit“ des Gottes hat in den einleitenden Worten des 20. Kapitels sprachlich wie inhaltlich noch keinen Anhalt. 8.2.2 Pythagoreisches in εἶ ἕν? Von der „Einheit“ des Gottes ist allerdings im anschließenden mittleren Abschnitt des 20. Kapitels von De E apud Delphos die Rede (393B): οὕτως οὖν αὐτὸ δεῖ σεβομένους ἀσπάζεσθαι [καὶ] προσεθίζειν, εἶ, καὶ νὴ Δία, ὡς ἔνιοι τῶν παλαιῶν, εἶ ἕν. οὐ γὰρ πολλὰ τὸ θεῖόν ἐστιν, ὡς ἡμῶν ἕκαστος ἐκ μυρίων διαφορῶν ἐν πάθεσι γινομένων ἄθροισμα παντοδαπὸν καὶ πανηγυρικῶς μεμιγμένον· ἀλλ᾿ ἓν εἶναι δεῖ τὸ ὄν, ὥσπερ ὂν τὸ ἕν. ἡ δ᾿ ἑτερότης διαφορᾷ τοῦ ὄντος εἰς γένεσιν ἐξίσταται τοῦ μὴ ὄντος. Im Gesamtzusammenhang der Rede des Ammonios bereitet das Verständnis dieses Abschnittes keine Schwierigkeiten, denn die „Einheit“, die dem Gott als Aspekt seines Seins zugesprochen wird, ist nach der folgenden Begründung das distinktive Merkmal, durch das sich der Gott vom Menschen unterscheidet. Ammonios rekurriert auf das zuvor von ihm selbst entworfene Bild der ontologischen Eigenschaften des Menschen als Teil der materiellen Welt. Im 18. Kapitel setzt er mit der Feststellung „Wir haben nämlich wahrhaft am Sein keinen Anteil“ (ἡμῖν μὲν γὰρ ὄντως τοῦ εἶναι μέτεστιν οὐδέν, De E 18, 392A) ein und entwickelt im Folgenden den Gedanken einer „Vielheit“ jedes einzelnen Menschen, die er unter anderem am Beispiel der unterschiedlichen Lebensalter illustriert und daraus folgenden Schluss zieht: „Niemand aber bleibt oder ist einer, sondern wir werden                                                              oraculorum (42 [433 E]) als die Idee des Guten interpretiert wird, ist ebenso wie die Idee des Guten als das ἓν ὄν und ὄντως ὄν die Ursache aller ὄντως ὄντα, der Ideen.“

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III. Hauptgespräch

viele“ (μένει δ᾿ οὐδεὶς οὐδ᾿ ἔστιν εἷς, ἀλλὰ γιγνόμεθα πολλοί, De E 18, 392D). Diese „Vielheit“ des Menschen begreift Ammonios als Fehlen einer über die Zeit hinweg bestehenden stabilen Identität des Menschen, aus dem sein Nichtsein resultiert: „Wenn er aber nicht derselbe ist, dann ist er auch nicht, sondern er ändert eben diese Selbigkeit, indem er aus dem einen ein anderer wird (εἰ δ᾿ ὁ αὐτὸς οὐκ ἔστιν, οὐδ᾿ ἔστιν, ἀλλὰ τοῦτ᾿ αὐτὸ μεταβάλλει γιγνόμενος ἕτερος ἐξ ἑτέρου, De E 18, 392E). Ammonios’ Forderung einer „Einheit“ des Gottes im 20. Kapitel ist im Lichte dieser Ausführungen zu verstehen: Während das Nichtsein des Menschen sich darin zeigt, dass er eine Vielheit verschiedener, aus zeitlicher Veränderung seiner selbst resultierender Identitäten in sich vereinigt, ist das Sein des Gottes dadurch garantiert, dass er eine von interner Verschiedenheit nicht berührte Einheit darstellt, die mit seiner zeitlosen Existenz analog zum αἰών gegeben ist.455 Die Qualität des „Einen“ ist ein integraler Bestandteil des „Seins“ des Gottes, wie die „Vielheit“ des Menschen dessen „Nichtsein“ konstituiert.456                                                              455 Der zuletzt zitierte Satz setzt in seiner Begrifflichkeit eines Prinzips der „Andersheit“, das von „Seiendem“ zu unterscheiden ist, ohne Zweifel die Differenzierung der μέγιστα γένη in Plat. Soph. 254d4–255e6 voraus, speziell die Abgenzung des „Anderen“ (θάτερον) vom „Seienden“ (ὄν) 255c9–e1. Vgl. SCHOPPE (1994) 82 zur spezifischen Verwendung des Sophistes in diesem Satz: „In Plat. Soph. 256 D 5 ff […] ist zu lesen, die θατέρου φύσις mache jedes vom Seienden verschieden, mache es nicht-seiend; das durch Teilhabe am Seienden Seiende wird durch Teilhabe an der Idee der Differenz zum NichtSeienden, sofern es, als von der Idee des Seienden nunmehr verschieden, die Idee des Seienden nicht ist. Sein Sein wird dabei in keiner Weise gemindert. Plutarch schreibt nun, das Seiende müsse ebenso Eines sein wie das Eine seiend, womit die gegenseitige Implikation von Sein und Einheit angesprochen ist. Es geht Plutarch darum zu zeigen, daß Gott das Eine (τὸ ἕν) und das Seiende (τὸ ὄν) in absoluter Identität ist. Dann (393 B) folgt der wichtige Satz: „Die Differenz aber geht aufgrund der Verschiedenheit vom Sein über in das Entstehen des Nicht-Seienden“ (ἡ δ᾿ ἑτερότης διαφορᾷ τοῦ ὄντος εἰς γένεσιν ἐξίσταται τοῦ μὴ ὄντος). Das bedeuted: Die ἑτερότης, also alles, was nicht Eines (ἕν) = Seiendes (ὄν), also vom Seienden verschieden ist, kann nicht ὄν, sondern muß γένεσις sein. Die ἑτερότης steht für Nicht-Sein, Vielheit im Bereich der sichtbaren Welt; [es folgt die Gegenüberstellung mit dem nicht-seienden Menschen, Anm. d. Verf.] Die ἑτερότης steht, da seiend nur das Intelligible ist […], als Synonym für die Sinnenwelt. Während im Sophistes μὴ ὄν das ist, was „anders“ als das γένος ὄν, gleichwohl aber im vollen Sinne seiend ist, bezeichnet μὴ ὄν bei Plutarch an dieser Stelle das Gegenteil des Seienden, das überhaupt nicht Seiende.“ 456 Vgl. OPSOMER (2009) 159 „The idea “Ammonius” wants to express is that the god constitutes a unity that is pure in that it excludes any internal differences, and that this god remains free from admixture. […] The simplicity of god is also linked with indestructibility. Ever since Plato’s Phaedo, and indeed since Parmenides, simplicity was regarded as a guarantee against destruction.“ [Hervorhebung im Original] In diesem Aspekt, nicht jedoch in dem des Monotheismus gibt es Parallelen zu Philon, vgl. SCHROETER (1911) 51. Eusebius, der in Praep. Ev. 11, 11 De E apud Delphos 17, 391F (οὔτ᾿ οὖν ἀριθμὸν κτλ.) bis 20, 393B (… εἰς γένεσιν ἐξίσταται τοῦ μὴ ὄντος) zitiert, begründet seine Anführung Plutarchs nicht damit, dass er die Einzigkeit, sondern dass er die Unveränderlichkeit Gottes

8. Die Rede des Ammonios

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Obwohl Ammonios’ Formulierung εἶ ἕν, mit der er die innere Einheitlichkeit des Gottes zu einem Aspekt seines Seins erklärt, im Kontext der Rede diesen Gedanken nicht nahelegt, hat doch des Redners Berufung auf „Einige von den Alten“ (ἔνιοι τῶν παλαιῶν) als den Archegeten der erweiterten Anrede an den Gott intensives Interesse in der Forschung auf sich gezogen und fragen lassen, ob Ammonios mit dieser Anrede Apollon nicht nur allgemein dem transzendenten Bereich des Seins zuordne, sondern ihn darüber hinaus mit Rekurs auf eine bestimmte philosophische Tradition als „obersten“ oder „einzigen“ Gott beziehungsweise metaphysisches Prinzip bezeichne. Mit dieser Frage ist seit jeher auch das Problem verknüpft, ob die Ammoniosrede womöglich als ein Dokument für die philosophischen Anschauungen des historischen Ammonios und Lehrers Plutarchs gelten kann. Für die Identifizierung der „Alten“ hatte DIELS als erster Heraklit vorgeschlagen, da dessen Flussgleichnis im 18. Kapitel der Schrift erwähnt wird, alternativ auch Xenophanes.457 Diesen Lösungsvorschlag hat WHITTAKER in Zweifel gezogen458 und die wirkungsmächtige These begründet, die von Ammonios genannten παλαιοί seien mit den Pythagoreern gleichzusetzen, das ἕν als ein pythagoreisches oberstes Prinzip zu deuten. WHITTAKER weist gegen DIELS zurecht darauf hin, dass Ammonios’ pluralischer Ausdruck „einige von den Alten“, wäre er als Hinweis auf einen einzelnen Philosophen wie Heraklit oder Xenophanes berechnet, schlecht mit der Absicht der Phrase harmonierte, dem gebildeten Leser die Möglichkeit zu geben, die gemeinten Autoritäten zu identifizieren.459 Für seine These, Ammonios wolle                                                             

gelehrt habe (Praep. Ev. 11, 10, 15–16): θέα δὲ πρὸς τούτοις εἰ μὴ τὸν παρόντα νοῦν ἐπὶ πλεῖον καὶ ὁ Πλούταρχος ἐξαπλῶν συντρέχοι ἂν ταῖς τε προκειμέναις φωναῖς τῶν φιλοσόφων καὶ ταῖς αὖθις Ἑβραίων κειμέναις ἐν ἑτέραις θεολογίαις, δι᾿ ὧν τοτὲ μὲν εἰσάγεται λέγων ὁ χρηματίζων θεός· „Διότι ἐγὼ κύριος ὁ θεὸς ὑμῶν καὶ οὐκ ἠλλοίωμαι·“ τοτὲ δ᾿ εἰς αὐτὸν ἀφορῶν ὁ προφήτης ἀποτείνεται, ὅτι δὴ τὰ μὲν ὁρατὰ πάντα τραπείη ἄν ποτε καὶ μεταβληθείη, „σὺ δὲ ὁ αὐτὸς εἶ καὶ τὰ ἔτη σου οὐκ ἐκλείψουσι.“ σκόπει γοῦν εἰ μὴ ὡς ἐν προτάσει τοῦ τε παρὰ Μωσεῖ φήσαντος „ἐγώ εἰμι ὁ ὢν“ καὶ τοῦ „ἐγὼ κύριος ὁ θεὸς ὑμῶν καὶ οὐκ ἠλλοίωμαι“ καὶ τοῦ „σὺ δὲ ὁ αὐτὸς εἶ“ δόξαι ἂν ὁ Πλούταρχος ἐν τῷ Περὶ τοῦ ΕΙ τοῦ ἐν Δελφοῖς τὴν διάνοιαν ὑφερμηνεύειν, τάδε λέγων πρὸς λέξιν κτλ. 457 Vgl. das Referat von Diels’ Vorschlag bei NORDEN (1913) 232 „Da nun Plutarch zum Beweise des wechselnden, uneinheitlichen Wesens der Sterblichen im Gegensatze zu Gott mehrfach im Vorhergehenden Heraklit herangezogen hat, so ist Ihre Vermutung, daß der Vertreter der Gleichung θεός = ἕν Heraklit sei, die nächstliegende. Aber er denkt wohl auch an den Philosophen, der für dieses ἓν καὶ πᾶν in späterer Zeit besonders in Ansehn steht: Xenophanes.“ 458 WHITTAKER (1969) 185ff. 459 WHITTAKER (1969) 186 „Finally, if Plutarch had Heraclitus in mind, then one must suppose that the plural form ἔνιοι τῶν παλαιῶν refers to a single philosopher and is intended as a stylistic elegance. There are, however, basic objections to this view. […] It seems unlikely that Plutarch would have used the phrase ἔνιοι τῶν παλαιῶν thus without at the same time making it obvious which philosopher he had in mind; a sophisticated allusion

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III. Hauptgespräch

vielmehr auf die Pythagoreer hindeuten, führt WHITTAKER attraktive Argumente aus Plutarch selbst an, der in De Iside et Osiride an zwei Stellen berichtet, die Pythagoreer hätten das ἕν bzw. die μονάς Apollon genannt, wobei sich in der zweiten Erwähnung dieser Lehre sogar die gleiche Etymologie des Namens Apollon findet, die Ammonios direkt im Anschluss an seine Begründung für die Anrede εἶ ἕν verwendet;460 auch die zweite Etymologie des Ammonios, Ἰήιος, erklärt als εἷς καὶ μόνος, verweise auf pythagoreische Hintergründe.461 Da Ammonios ferner bei der Bezeichnung des Gottes zwischen Maskulinum (ὁ θεός, εἷς) und Neutrum (τὸ θεῖον, τὸ ἕν, τὸ ὄν) schwanke, mithin eine Identifikation einer persönlichen Gottheit mit einem unpersönlichen Prinzip andeute,462 nähere sich die Stelle der Lehre des neupythagoreisch beeinflussten Platonikers Eudoros von Alexandria (1. Jh. v. Chr.) an, der ebenfalls ein transzendentes, unpersönliches ἕν mit einem persönlichen ὑπεράνω θεός gleichgesetzt habe.463 Obwohl freilich das Referat der dem Eudoros zugeschriebenen Prinzipienlehre durch Simplikios weder suggeriert, dass Eudoros diese Lehre selbst vertreten hat, noch dessen Rede von einem mit dem ὑπεράνω θεός gleichzusetzenden ἕν, das auch Ursprung der Materie sein soll,464 mit den Aussagen des Ammonios in Einklang zu bringen ist,465 der die Materie und den seienden Gott strikt                                                              of this kind is after all worthless if the object of its reference is not apparent to the educated reader.“ 460 WHITTAKER (1969) 187; vgl. De Iside 9, 354F [zuvor ist von τὰ πολλὰ τῶν Πυθαγορικῶν παραγγέλματα die Rede] δοκῶ δ᾿ ἔγωγε καὶ τὸ τὴν μονάδα τοὺς ἄνδρας ὀνομάζειν Ἀπόλλωνα καὶ δυάδα τὴν Ἄρτεμιν. De Iside 75, 381EF οἱ δὲ Πυθαγόρειοι καὶ ἀριθμοὺς καὶ σχήματα θεῶν ἐκόσμησαν προσηγορίαις. […] τὸ δ᾿ ἓν Ἀπόλλωνα πλήθους ἀποφάσει καὶ δι᾿ ἁπλότητα τῆς μονάδος. Vgl. De E 20, 393B Ἀπόλλων μὲν γὰρ οἷον ἀρνούμενος τὰ πολλὰ καὶ τὸ πλῆθος ἀποφάσκων ἐστίν κτλ. 461 WHITTAKER (1969) 188. 462 Vgl. zur Kritik dieser Auffassung die Diskussion des Wortsinnes der Passage oben, S. 251–255. 463 WHITTAKER (1969) 189–192. 464 Simplikios zitiert die Lehre des Eudoros folgendermaßen (in Arist. Phys. p. 181, 7– 30 DIELS = frg. 3–5 MAZZARELLI) γράφει δὲ περὶ τούτων ὁ Εὔδωρος τάδε· „κατὰ τὸν ἀνωτάτω λόγον φατέον τοὺς Πυθαγορικοὺς τὸ ἓν ἀρχὴν τῶν πάντων λέγειν, κατὰ δὲ τὸν δεύτερον λόγον δύο ἀρχὰς τῶν ἀποτελουμένων εἶναι, τό τε ἓν καὶ τὴν ἐναντίαν τούτῳ φύσιν.“ ὑποτάσσεσθαι δὲ πάντων τῶν κατὰ ἐναντίωσιν ἐπινοουμένων τὸ μὲν ἀστεῖον τῷ ἑνί, τὸ δὲ φαῦλον τῇ πρὸς τοῦτο ἐναντιουμένῃ φύσει. διὸ μηδὲ εἶναι τὸ σύνολον ταύτας ἀρχὰς κατὰ τοὺς ἄνδρας. εἰ γὰρ ἡ μὲν τῶνδε ἡ δὲ τῶνδέ ἐστιν ἀρχή, οὐκ εἰσὶ κοιναὶ πάντων ἀρχαὶ ὥσπερ τὸ ἕν. καὶ πάλιν „διό“, φησί, „καὶ κατ᾿ ἄλλον τρόπον ἀρχὴν ἔφασαν εἶναι τῶν πάντων τὸ ἕν, ὡς ἂν καὶ τῆς ὕλης καὶ τῶν ὄντων πάντων ἐξ αὐτοῦ γεγενημένων. τοῦτο δὲ εἶναι καὶ τὸν ὑπεράνω θεόν.“ 465 Zu einer differenzierten Kritik der vermeintlichen Konvergenzen zwischen Eudoros und der Ammoniosrede vgl. jetzt PLEŠE (2010) 102–107. PLEŠE kommt zu folgendem Ergebnis (ibid., 107): „All in all, Ammonius’s doctrine of first principles seems more indebted to Plato than to various metaphysical systems attributed to “Pythagoras”. If Ammonius

8. Die Rede des Ammonios

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trennt und erstere im 21. Kapitel (394A) sogar dem Bereich eines ἕτερος θεός, μᾶλλον δὲ δαίμων zuordnet, hat sich aus WHITTAKERs Vermutung, einer platonisch-pythagoreischen Provenienz der ἕν-Aussage des Ammonios ein ganzer Roman von der Person und den Lehren eines historischen, im intellektuellen Milieu eines alexandrinischen Platonismus zu verortenden Ammonios entwickelt; seine Anschauungen sollen in der Rede der gleichnamigen persona in De E apud Delphos ihren Niederschlag gefunden haben. Im Rahmen des philosophiegeschichtlichen Unternehmens, die Entwicklung des Platonismus von 80 v. Chr. bis 220 n. Chr. darzustellen, hat DILLON die These vertreten, aus der Ammoniosrede ließen sich philosophische Positionen rekonstruieren, die, sofern sie dem historischen Ammonios zugesprochen werden können, diesen als einen Vermittler zwischen einem „alexandrinischen Platonismus“ pythagoreischer Prägung und dem Platonismus Plutarchs wahrscheinlich machen ließen. Die Frage nach dem historischen Zeugniswert dessen, was in De E apud Delphos zu lesen ist, beantwortet DILLON ohne weitere Begründung damit, Plutarch würde der persona Ammonios kaum Ansichten in den Mund gelegt haben, die ihr historisches Vorbild nicht geteilt hätte.466 Für DILLON erscheint Ammonios regelrecht „to be a product of Alexandrian Platonism“,467 eine These, die er zunächst vorausschickend unter Berufung auf Eunaps Hinweis, Ammonios sei ein Ägypter gewesen, einführt468 und anhand einer kurzen Übersicht über die                                                              is indeed a historical representative of the renewal of dogmatic Platonism in Alexandria, then his reworking of Plato’s metaphysics should be kept apart from those conducted under the banner of Pythagoreanism, including the one propounded by his compatriot Eudoros.“ 466 DILLON (1996) 190 „Nevertheless, from an examination, particularly, of Ammonius’ speech in The E at Delphi (391E–394C), a distinct type of Platonism emerges, which Plutarch, one concludes, would have had no reason for attributing to Ammonius had he not been an adherent of it.“ FERRARI (1995) 51f. und (2010) 80 teilt DILLONs optimistische Einschätzung des Zeugniswertes der Ammoniosrede für die philosophische Position des historischen Ammonios. Ähnlich bereits JONES (1916) 8, wenn auch vorsichtiger: „While it is dangerous to draw conclusions concerning the specific doctrines taught by Ammonius from the speeches Plutarch puts in his mouth, we may perhaps safely assume that the latter would not have attributed to him ways of thinking entirely at variance with those which he had in reality.“ 467 DILLON (1996) 190. 468 DILLON (1996) 184 „We will consider Ammonius in more detail below, but we may note straight away that his Platonism is in the direct line of the dogmatic synthesis that has been by this time a century and a half established, in Athens and in Alexandria. Ammonius himself was an Egyptian (Eunapius, Lives of the Philosophers, p. 454, Boissonade), so that for all we know he may have brought back serious Platonism in his own person from Alexandria to Athens.“ Vgl. schon WHITTAKER (1969) 188 „It is worth recalling at this point that Plutarch’s spokesman, his teacher Ammonius, not only had Pythagorean interests but also was from Egypt [ibid., Anm. 6: „I assume that Plutarch is reproducing substantially the teaching of Ammonius. However, this assumption is not vital to my argument, for Plutarch’s own interest in Neopythagoreanism is well known and is indeed sufficiently

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III. Hauptgespräch

Rede in De E apud Delphos plausibel zu machen versucht. Diese These ist von BRENK in jüngerer Zeit wieder aufgegriffen worden, für den Ammonios, geradewegs „an immigrant from Alexandria“, in De E apud Delphos eine Variation der Lehren des Eudoros vertritt, in der sich „Alexandrinisches“ mit Plutarchischem mischt.469 Letztlich handelt es sich freilich bei der Rekonstruktion eines historischen Ammonios anhand der Erwähnung eines ἕν durch eine Dialogfigur gleichen Namens um eine Kombination zweier unsicherer Daten zu einem Zirkelschluss: Weder lässt sich aus dem ἕν-Hinweis der Ammoniosrede zweifelsfrei eine Verbindung zu einem „alexandrinischen Platonismus“ ziehen, noch gibt Plutarchs Werk den geringsten Hinweis auf eine philosophiehistorisch auswertbare Sozialisation des Ammonios in Ägypten. Unter den von OPSOMER nach JONES und PUECH470 erarbeiteten prosopographischen Daten zu Ammonios471 ist der nur bei Eunap erhaltene Hinweis auf die                                                             

attested by the discourse put forward in his own name in the De E. […].].“ In einer weiteren Arbeit hat DILLON noch einmal mit, freilich vorsichtigerer, Berufung auf die angebliche Herkunft des Ammonios als Fazit von einem „Alexandrian type of Platonism“ gesprochen, der unter anderem in der Ammoniosrede greifbar werde, deren (historischer) Sprecher ein Ägypter gewesen sei (DILLON, 2002, 236): „The purpose of the present investigation has been to show that, behind all the apparent inconsistencies and loose ends in Plutarch’s thought there is discernible a fairly consistent theology, which one might characterize as an Alexandrian type of Platonism. I say that both because of the Egyptian provenance of Plutarch’s mentor Ammonius, and because of the notable similarities between Plutarch’s system and that of Philo (the Plutarchan Osiris and Isis answering in many respects to Philo’s Logos and Sophia).“ DILLON versteht unter diesem „alexandrinischen Platonismus“ die Tendenz zur völligen Transzendentalisierung des obersten Gottes und seiner Abtrennung von der Welt, die eine sekundäre Gottheit notwendig macht, die mit der Welt in demiurgischen Kontakt tritt (ibid., 228). In der Ammoniosrede entspreche einer solchen Stufung das Verhältnis zwischen (dem Gott) Apollon und (dem Daimon) Hades. HIRSCHLUIPOLD (2005) 161f. beruft sich zur Plausibilisierung seiner eigenen Thesen einer mit Ägypten in Verbindung stehenden Nähe und gegenseitigen Beeinflussung zwischen Philon und Plutarch („[…] im Blick auf den Gottesbegriff die Verbindung des Postulats der Immaterialität und Transzendenz des Göttlichen mit dem Gedanken der Einheit und Personalität eines mit der Welt in Kontakt tretenden Gottes“) zwar auf DILLON (2002) 236 für den „Alexandrinian [sic] type of Platonism“, doch zu Unrecht: DILLON geht im Hinblick auf Plutarch von einer Spaltung „Gottes“ in einen transzendenten und einen demiurgischen Gott aus, die mit HIRSCH-LUIPOLDs Position gänzlich unvereinbar ist. 469 Vgl. BRENK (2005); Zitat 32. 470 JONES (1966); PUECH (1992) 4835–4836, 4886–4889, 1994. 471 Nach OPSOMER (2009) 124 ergibt sich folgendes Bild: „Ammonius was born in Egypt, probably around 5 CE, and registered in the Athenian dêmos of Cholleidae. In the seventies or early eighties he was for the third time a hoplite general (στρατηγός), a prestigious position that required heavy expense. Ammonius gained Roman citizenship, apparently through M. Annius Afrinus, consul at the time of Nero’s visit to Greece in 67. With the citizenship came the name “M. Annius”, borne by him and his descendents. Ammonius had a son called Thrasyllus, who was probably of the same age as Plutarch and

8. Die Rede des Ammonios

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ägyptische Herkunft von Plutarchs Lehrer472 das einzige Datum, das sich nicht auf Plutarchs erhaltenes Werk berufen kann. Eunap, dessen Quellen zu Ammonios offenbar das ihm zugängliche Werk Plutarchs war, könnte zwar immerhin diese Information aus einem heute verlorenen Werk Plutarchs bezogen haben,473 doch könnte er auch schlichtweg in Ermangelung echter Informationen aus Ammonios’ Namen dessen Herkunft erschlossen haben; aber selbst dann, wenn Plutarch tatsächlich in einem uns nicht erhaltenen Werk von Ammonios’ ägyptischer Abkunft berichtet haben sollte, scheint er diesem Umstand keine Bedeutung für die Prägung von Ammonios’ philosophischen Anschauungen beigemessen zu haben, denn aus dem Zusammenhang der zahlreichen erhaltenen Auftritte der Dialogfigur Ammonios in Plutarchs Werk474 lässt sich weder explizit noch implizit irgendeine Verbindung mit Ägypten ersehen.475 Zwar kann sich die Vermutung einer solchen Verbindungslinie von der Ammoniosrede in De E                                                              became a herald of the Areopagus, i.e. one of the chief magistrates of Athens. There is no evidence for the existence of any writings by Ammonius.“ 472 Eun. Vit. Soph. 2, 1, 3 ἐν οἷς Ἀμμώνιός τε ἦν ὁ ἐξ Αἰγύπτου, Πλουτάρχου τοῦ θειοτάτου γεγονὼς διδάσκαλος κτλ. 2, 1, 7 αὐτίκα οὖν ὁ θεσπέσιος Πλούταρχος τόν τε ἑαυτοῦ βίον ἀναγράφει τοῖς βιβλίοις ἐνδιεσπαρμένως καὶ τὸν τοῦ διδασκάλου, καὶ ὅτι γε Ἀμμώνιος Ἀθήνησιν ἐτελεύτα, οὐ βίον προσειπών. 473 OPSOMER (2009) 123 schlägt die nicht erhaltene Nr. 84 des Lampriaskatalogs vor: Ἀμμώνιος ἢ περὶ τοῦ μὴ ἡδέως τῇ κακίᾳ συνεῖναι. 474 QC 3, 1; QC 3, 2; QC 8, 3 und das gesamte 9. Buch; De defectu oraculorum; De E apud Delphos. 475 Die Ausnahme, die die Regel bestätigt, ist De def. or. 4, 410F–411D, und selbst dort ist nicht von Alexandria oder der dortigen Schulphilosophie die Rede, sondern von bestimmten Auffassungen des Personals am Ammonheiligtum von Siwa: Ammonios kritisiert mit harschen Worten eine zuvor von dem Gesprächspartner Kleombrotos vorgestellte Theorie der Priester des Ammon, die aus dem Jahr für Jahr geringer werdenden Ölverbrauch des ewigen Lichtes im Tempel schlossen, die Jahre würden sukzessive kürzer. Ammonios – pointiert als sich über derart unwissenschaftliche Theorien erregender Philosoph eingeführt (4, 410F παρὼν οὖν ἀνεφώνησεν Ἀμμώνιος ὁ φιλόσοφος) – weist die Ansicht der Ammonpriester mit Hinweis auf die Beobachtungen der wissenschaftlichen Astronomie zurück und spricht den Vertretern eines solchen „Geschwätzes“ geradewegs die philosophische Satisfaktionsfähigkeit ab (4, 411B οὐδὲν δεῖ περαιτέρω τὴν ἀλαζονείαν τοῦ λόγου διελίττειν). Wenn überhaupt, so Ammonios, lasse sich aus dem geringerwerdenden Ölverbrauch der Lampe eine sich über die Zeit hin verändernde Qualität des Öls erschließen, „wenn man schon den Ammonleuten ihre gleichwohl abseitige und widersinnige Vorstellung retten will“ (4, 411D εἰ δεῖ τοῖς Ἀμμωνίοις ἀνασῴζειν καίπερ ἄτοπον καὶ ἀλλόκοτον οὖσαν τὴν ὑπόθεσιν). HIRSCH-LUIPOLD (2005) 165f. zieht diese Passage zum Beleg seiner These heran, Plutarchs „religiöse Philosophie“ stehe in enger Beziehung zu Ägypten: „Auch der religiöse Kontext zu Beginn von De defectu oraculorum streicht Ägypten als Quelle der Weisheit heraus: Hier beschreibt Plutarch die Weisheit eines weitgereisten heiligen Mannes [sc. Kleombrotos, Anm. d. Verf.] in einer Weise, die an seine eigene philosophische Methode erinnert: Er sammelte Überlieferungen gleichsam als Rohstoff für eine Philosophie, welche die theologia … zum Ziel hatte“ (συνῆγεν ἱστορίαν οἷον

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III. Hauptgespräch

apud Delphos über den historischen Ammonios nach Alexandria allenfalls noch auf Erwähnungen des Eudoros durch Plutarch selbst in De animae procreatione in Timaeo berufen,476 doch dort ist wiederum von Eudoros’ nur fragmentarisch bei Simplikios überlieferter Prinzipiendiskussion keine Rede.477 Es liegen mithin keine belastbaren Indizien dafür vor, dass das ἕν im 21. Kapitel entweder durch einen historischen Ammonios vermittelt oder durch Plutarch selbst rezipiert auf pythagoreische Lehren im Umfeld eines alexandrinischen Platonismus zurückzuführen ist, der ein oberstes oder einziges metaphysisches Prinzip als „Gott“ bezeichnet hat. Allerdings gibt es noch andere Kandidaten für die von Ammonios ins Feld geführten παλαιοί, die von einem ἕν geredet haben: Die Eleaten. Belastbare Indizien für eine Anspielung auf Parmenides und seine Anhänger lassen sich in dreierlei Hinsicht gewinnen: Aus dem ontologisch radikalen Charakter der Ammoniosrede, aus intertextuellen Verweisen auf Platon und aus Plutarchs eigener Darstellung der Lehren des Parmenides in seiner Schrift Adversus Colotem.478 8.2.3 Parmenideisches in εἶ ἕν Die Forschung hat immer wieder darauf hingewiesen, dass in der Ontologie der Ammoniosrede der Gedanke einer Teilhabe des Werdens am Sein                                                              ὕλην φιλοσοφίας θεολογίαν … τέλος ἐχούσης, 410B2–4). Unter dessen Reisezielen wird zuerst Ägypten genannt, wo auch Plutarch auf Reisen seine Erkenntnisse gesammelt hat.“ Abgesehen davon, dass eine Berufung auf die „Weisheit Ägyptens“ angesichts dieser Passage nicht überzeugt, stellt HIRSCH-LUIPOLDs Zitat eine (immerhin von ihm selbst gekennzeichnete) Verkürzung dar: in der Auslassung steht ὥσπερ αὐτὸς ἐκάλει, so dass nicht „die theologia“ im Sinne von Plutarchs Vorstellungen Ziel des Kleombrotos ist, sondern „eine, wie er sich selbst ausdrückte, Theologie“ (FLACELIÈRE, 1974a, 278 versucht, sprachwidrig, ὥσπερ αὐτὸς ἐκάλει nicht auf θεολογίαν, sondern auf τέλος ἐχούσης zu beziehen; καλέω bedeutet allerdings „benennen“ (cf. LSJ s.v. II) und kann sich nur auf ein Nomen beziehen; das Nomen τέλος kommt als Bezugswort nicht in Frage, denn dieses bedarf keiner Qualifizierung). Der aufmerksame Leser von De defectu oraculorum kann diese „Theologie“ des Kleombrotos später unschwer als eine Dämonologie mit phantastischen Zügen erkennen, ein Umstand, der Plutarchs Qualifizierung „wie er sich selbst ausdrückte“ nur zu verständlich macht. 476 De an. procr. 3, 1013B; 16, 1019E; 16, 1020C. 477 Entsprechend hält OPSOMER (2009) 168 WHITTAKERs (1969) Versuch, die Ammoniosrede in einem alexandrinisch-neupythagoreischen Milieu zu verorten, für spekulativ: „It is not so clear whether Eudorus indeed wrote a full-blown commentary on the Timaeus, yet Plutarch in his own De animae procreatione in Timaeo appears to be familiar with some work of Eudorus dealing with this dialogue. In the absence of unambiguous evidence, the Eudorian provenance of the ideas voiced by “Ammonius” remains what it is: a mere hypothesis, and accordingly Whittaker remains modest in his claims.“ 478 Die Nähe zwischen Adversus Colotem und der Ammoniosrede betont jetzt auch PLEŠE (2010) 108–110.

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weitestgehend durch die Betonung einer strikten Trennung beider Bereiche ersetzt ist, und die Ausführungen des letzten Sprechers von De E apud Delphos Züge einer Philosophie tragen, die eng mit dem Namen des Parmenides verbunden sind.479 „Sehr parmenideische Seiten“ habe Plutarch nach DE VOGEL hier verfasst, eine Passage, die „etwas zu parmenideisch ist, um ganz platonisch sein zu können“, ein Beispiel eines „ins Extreme gezogenen Platonismus“; Platon hingegen habe nirgends „geschrieben oder gesagt, der Mensch „sei“ überhaupt nicht und das Sichtbare habe überhaupt keinen Anteil am Sein.“480 Wenn sich DE VOGEL freilich dann von der Einschätzung distanziert, Plutarch habe „die Transzendenz des intelligiblen Seins so gefasst, dass es keine Methexis gebe“,481 so mag sie, was Plutarchs sonstiges Œuvre anbelangt, recht behalten,482 doch allein der Umstand, dass Plutarch in anderen Texten die Teilhabe des Werdens am Sein stärker hervorhebt, verbietet es noch nicht, „aus der sehr eindrucksvollen Passage im [sic] De E“ jenes Fehlen der Methexis herauszulesen.483 Die Eingangsformulierung des Ammonios, ἡμῖν μὲν γὰρ ὄντως τοῦ εἶναι μέτεστιν οὐδέν,484 macht auch auf FERRARI den Eindruck, der Sprecher gehe in seiner radikalen Abwertung der sinnlich wahrnehmbaren Welt so weit „tanto da negare almeno in apparenza il rapporto di methexis“, und er räumt sogar die Möglichkeit ein, Plutarch könnte eher eleatisches Gedankengut in diesen Text eingetragen haben als die klassisch-platonische Zwei-Welten-Lehre: „Sembrerebbe quasi che il nostro autore avesse come modello la concezione parmenidea dell’essere, più che la dottrina dei due mondi; un’influenza, probabilmente

                                                             479 Vgl. FROIDEFOND (1987) 227 „La théologie du ‚De E‘ insiste sur l’unicité, la simplicité, la transcendance de Dieu et trouve des accents parménidiens pour faire de lui l’„être véritable“ […].“ Vgl. auch LAURENTI (1996) 67f. 480 Vgl. DE VOGEL (1983) 285. 481 Vgl. DE VOGEL (1983) 285. 482 DE VOGEL (1983) 286 verweist sogleich auf die orthodox-platonischen Aspekte von De Iside et Osiride: „Was nun die Methexis betrifft, so war diese für Plutarch eine mächtige Realität, die er in Platons Lehre von der Weltschöpfung ausgedrückt fand: Der Demiurg, ein transzendenter Nus, schafft die Seele und die sichtbare Welt nach dem Vorbild des Transzendenten und gibt der Seele teil an seinem eigenen Geist. Beides, sowohl die Lehre vom strikt transzendenten, nur mit dem Denken faßbaren Gott, der „das Gute“ genannt wird, „Osiris“, ἀμιγὴς καὶ ἀπαθής, als auch seine Selbstmitteilung, nicht nur an die Seele, sondern auch an die formlose Materie (Isis), finden wir im [sic] De Iside et Osiride vor. Die Transzendenz dieses Gottes ist nicht zu leugnen. Dennoch liegt hier das Bild der Selbstmitteilung vor, ein Bild, das zweifellos für den Verfasser dieser Schrift eine große Wirklichkeit war. Richtig platonisch beschreibt er zum Abschluß des c. 53 des [sic] De Is. die sichtbare Welt als ein [sic] εἰκὼν τῆς οὐσίας und μίμημα τοῦ ὄντος.“ 483 Vgl. DE VOGEL (1983) 285. 484 De E 18, 392A.

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III. Hauptgespräch

mediata, dell’ontologia eleatica su questo testo plutarcheo non si può escludere.“485 Allerdings ist der sich aufgrund einer Prädizierung des Seins mit dem Einen (ἕν) aufdrängende Gedanke, Plutarch operiere in der Ammoniosrede mit parmenideischem Material, nie intensiv weiterverfolgt worden.486 OPSOMER hat in neuester Zeit zwar bezüglich einzelner Aspekte der Ammoniosrede mögliche Assoziationen mit Parmenides’ Ausführungen in Platons Parmenides und mit Fragmenten aus Parmenides’ Lehrgedichten genannt,487 jedoch eine Beeinflussung der Ammoniosrede speziell durch Platons Parmenides für unwahrscheinlich erklärt: „Encountering a principle called “the one” inevitably leads scholars of Platonism to think of the Parmenides. Yet there is little in Ammonius’ speech that points unambiguously in that direction. Moreover, there is no indication that this dialogue was important for Plutarch’s brand of Platonism. […] The Parmenides, then, is an unlikely source for his speech.“488 In der Tat argumentiert Platons Parmenides in seinem zweiten Teil gerade nicht für eine strikte Trennung zwischen dem Einen und dem Vielen, sondern diskutiert in antilogischer Weise die Konsequenzen, die sich aus dem Postulaten „Wenn das Eine ist“ bzw. „Wenn das Eine nicht ist“ sowohl für das Eine selbst als auch für das Viele ergeben, und erarbeitet eine Art coincidentia oppositorum, nach der das Eine sowohl                                                              485

FERRARI (1995) 54. DILLON (2002) 225 konstatiert eine Kombination von Einflüssen aus dem Timaios und dem Parmenides in De E 20, 393AB, führt den Gedanken jedoch nicht weiter aus: „This impressive statement of Platonist faith […] combines terminology from the Timaeus and the First Hypothesis of the Parmenides to produce a classic characterization of the Platonic first principle.“ Skeptisch gegenüber DILLONs Parmenides-Verweis ist OPSOMER (2005) 88, Anm. 197. Für eine größere Nähe zwischen der Ammoniosrede und dem Parmenides Platons tritt jetzt PLEŠE (2010) 110–112 ein. Vgl. auch FERRARI (2010) 83. 487 Vgl. OPSOMER (2009) 152 zur Zeitanalyse in De E 19, 392F τὸ γὰρ ἐν τῷ εἶναι μηδέπω γεγονὸς ἢ πεπαυμένον ἤδη τοῦ εἶναι λέγειν ὡς ἔστιν, εὔηθες καὶ ἄτοπον: „One is reminded of the old Parmenides, who claimed that to speak about the past or the future amounts to saying “is not”, i.e. “is not yet” or “is not any longer”. This is indeed what “Ammonius” appears to suggest.“ Vgl. ibid. 159 bezüglich der platonischen Hintergründe von Ammonios’ Postulat, man müsse den Gott mit εἶ ἕν anreden (20, 393B): „Ever since Plato’s Phaedo, and indeed since Parmenides, simplicity was regarded as a guarantee against destruction.“ 488 OPSOMER (2009) 161–163. 162, Anm. 192 weist OPSOMER auf die Ausführungen der 1. Hypothese hinsichtlich des Verhältnisses des Einen zur Zeit hin, in denen zwar einerseits, analog zur Ammoniosrede, bestritten wird, das Eine könne in der Zeit sein (Plat. Parm. 141a5–6 ἆρ᾿ οὖν οὐδὲ ἐν χρόνῳ τὸ παράπαν δύναιτο ἂν εἶναι τὸ ἕν, εἰ τοιοῦτον εἴη;), doch da der Sprecher Parmenides daraus ableitet, dem Einen komme somit auch kein Sein zu (vgl. Plat. Parm. 141d7–e10), besteht hierin ein klarer Widerspruch zu Ammonios’ Postulat vom seienden Einen. Zuversichtlicher hinsichtlich der 1. Hypothese als Hintergrund von Ammonios’ Worten ist DILLON (2002) 225, zitiert oben, Anm. 486. 486

8. Die Rede des Ammonios

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vieles als auch das Viele eines ist. Derartige dialektische Untersuchungsziele sind der Ammoniosrede vollkommen fremd, und doch gibt es – und dies ist gegenüber OPSOMER489 zu ergänzen – in einer pointierten Formulierung des Ammonios klare Anklänge an den Parmenides, freilich losgelöst vom dortigen Kontext. Wenn Ammonios zur Begründung seiner Forderung, man müsse den Gott mit εἶ ἕν ansprechen, anführt, ἀλλ᾿ ἓν εἶναι δεῖ τὸ ὄν, ὥσπερ ὂν τὸ ἕν (20, 393B), so erinnert diese Formulierung an den Beginn der 2. Hypothese des Parmenides, wo das paradoxe Ergebnis des ersten Durchgangs, dem Einen komme kein Sein zu (Plat. Parm. 141e9 οὐδαμῶς ἄρα τὸ ἓν οὐσίας μετέχει), hinterfragt wird: „Wenn Eines ist, ist es dann möglich, dass es zwar ist, aber am Sein keinen Anteil hat?“490 Platons Sprecher Parmenides versucht diese Position in der Folge dadurch als unhaltbar zu erweisen, dass er in der Hypothese „Wenn Eines ist“ auf die Prädizierung des Einen mit dem Sein und die Prädizierung des Seienden mit dem Einen abhebt, mithin Eines und Sein als „Teile“ der Aussage „Wenn Eines ist“ begreift und entsprechend das Sein des Einen durch eine wechselseitige Prädizierung von Sein und Einem rettet: „Wenn das „es ist“ des Einen über das eine Seiende ausgesagt wird und das eine über das seiende Eine … .“491 Die Aussage „Wenn das Eine ist“ soll dann verstanden werden als ein Ganzes, das aus den Teilen Eines und Sein besteht, Teilen, die, da ein Ganzes konstituierend, von einander nicht zu trennen sind.492 Die Folgerung aus dieser Überlegung formuliert Platon mit den Worten „Das Eine nämlich hat immer das Seiende und das Seiende das Eine“ (Parm. 142e6–7 τό τε γὰρ ἓν τὸ ὂν ἀεὶ ἴσχει καὶ τὸ ὂν τὸ ἕν), was Ammonios’ Worten sehr nahe kommt. Mögen die Beziehungen der Ammoniosrede auf Platons Parmenides auch möglicherweise rein zufällig und von Plutarch nicht intendiert sein, so findet sich doch die zumindest andeutungsweise „parmenideische“ Formulierung des Ammonios ἀλλ᾿ ἓν εἶναι δεῖ τὸ ὄν, ὥσπερ ὂν τὸ ἕν im Anschluss an einen Satz, der die zuvor erhobene Forderung, man solle den Gott mit εἶ ἕν anreden, mit der fundamentalen Opposition zwischen Mensch und Gott, Werden und Sein nach den Kriterien der Vielheit in der einen Sphäre und der Einheit in der anderen begründet: „Denn das Göttliche ist nicht Vieles, wie jeder von uns ein aus unendlich vielen, in einzelnen Zuständen wer                                                             489 OPSOMER (2009) 162, Anm. 192 deutet bereits in diese Richtung: „The second hypothesis will have been more to his [sc. Ammonios’, Anm. d. Verf.] taste, as there “being” and “one” are brought back together again (142 e 3–143 a 3).“ 490 Plat. Parm. 142b5–6 ὅρα δὴ ἐξ ἀρχῆς. ἓν εἰ ἔστιν, ἆρα οἷόν τε αὐτὸ εἶναι μέν, οὐσίας δὲ μὴ μετέχειν; 491 Plat. Parm. 142d1–2 εἰ τὸ ἔστι τοῦ ἑνὸς ὄντος λέγεται καὶ τὸ ἓν τοῦ ὄντος ἑνός κτλ. 492 Plat. Parm. 142d6–e6.

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III. Hauptgespräch

denden Unterschieden gemischter vielfältiger und bunt zusammengesammelter Haufen (ἄθροισμα) ist.“493 Diese Gegenüberstellung eines göttlichen seienden Einen und eines als „Haufen“ beschriebenen und aus diesem Grund nichtseienden Menschen hat ein eindeutiges Vorbild, und es ist kaum zu bezweifeln, dass Plutarch sich auf dieses Vorbild bewusst bezieht, denn dort wird explizit die „Haufen“-Existenz des Menschen aus der heraklitischen Flusslehre abgeleitet, deren Gegenentwurf, das Eine, ausdrücklich als Lehre des Parmenides bezeichnet wird: Es handelt sich um Platons Theaitetos, auf den Plutarch bereits im 2. Kapitel von De E apud Delphos Bezug genommen hatte. Im Theaitetos rechnet Sokrates die erste Definition von ἐπιστήμη als αἴσθησις durch seinen Gesprächspartner Theaitetos494 dem Gedankenkreis des Homo-Mensura-Satzes des Protagoras zu,495 welchem wiederum eine philosophische Theorie zugrundeliege, die kein für sich seiendes Eines anerkenne (ὡς ἄρα ἓν μὲν αὐτὸ καθ᾿ αὑτὸ οὐδέν ἐστιν),496 sondern postuliere, dass „alles aus Dahingetragenwerden und Bewegung und gegenseitiger Mischung entsteht, von dem wir sagen, dass es ist, wobei wir es nicht richtig ansprechen; denn nichts ist jemals, sondern wird immer.“497 Alle Weisen, so Sokrates direkt im Anschluss, stimmten diesbezüglich überein – genannt werden Protagoras, Heraklit und Empedokles – Parmenides jedoch teile diese Ansicht als einziger nicht.498 Nachdem Sokrates zusammen mit Theaitetos auf der Grundlage dieser Theorie totalen Werdens die Funktionsweise der Wahrnehmung analysiert hat, resümiert er, in all jenen Wahrnehmungsvorgängen zwischen Subjekt und Objekt sei nichts Eines an und für sich (οὐδὲν εἶναι ἓν αὐτὸ καθ᾿ αὑτό), sondern immer nur in Bezug auf etwas, man müsse „das Sein überall herausnehmen“ und dürfe nur von „Werdendem, Gemachtwerdendem, Vergehendem und Sichveränderndem sprechen.“499 Dies gilt, so Sokrates weiter, „nicht nur für Einzelelemente,                                                             

493 De E 20, 393B οὐ γὰρ πολλὰ τὸ θεῖόν ἐστιν, ὡς ἡμῶν ἕκαστος ἐκ μυρίων διαφορῶν ἐν πάθεσι γινομένων ἄθροισμα παντοδαπὸν καὶ πανηγυρικῶς μεμιγμένον. 494 Plat. Theaet. 151e1–3 δοκεῖ οὖν μοι ὁ ἐπιστάμενός τι αἰσθάνεσθαι τοῦτο ὃ ἐπίσταται, καὶ ὥς γε νυνὶ φαίνεται, οὐκ ἄλλο τί ἐστιν ἐπιστήμη ἢ αἴσθησις. 495 Vgl. Plat. Theaet. 151e8–152a4. 496 Plat. Theaet. 152d2–3. 497 Plat. Theaet. 152d7–e1 … ἐκ δὲ δὴ φορᾶς τε καὶ κινήσεως καὶ κράσεως πρὸς ἄλληλα γίγνεται πάντα ἃ δή φαμεν εἶναι, οὐκ ὀρθῶς προσαγορεύοντες· ἔστι μὲν γὰρ οὐδέποτ᾿ οὐδέν, ἀεὶ δὲ γίγνεται. 498 Plat. Theaet. 152e1–4 καὶ περὶ τούτου πάντες ἑξῆς οἱ σοφοὶ πλὴν Παρμενίδου συμφερέσθων, Πρωταγόρας τε καὶ Ἡράκλειτος καὶ Ἐμπεδοκλῆς κτλ. 499 Plat. Theaet. 157a7–b8 ὥστε ἐξ ἁπάντων τούτων, ὅπερ ἐξ ἀρχῆς ἐλέγομεν, οὐδὲν εἶναι ἓν αὐτὸ καθ᾿ αὑτό, ἀλλά τινι ἀεὶ γίγνεσθαι, τὸ δ᾿ εἶναι πανταχόθεν ἐξαιρετέον, οὐχ ὅτι ἡμεῖς πολλὰ καὶ ἄρτι ἠναγκάσμεθα ὑπὸ συνηθείας καὶ ἀνεπιστημοσύνης χρῆσθαι αὐτῷ. τὸ δ᾿ οὐ δεῖ, ὡς ὁ τῶν σοφῶν λόγος, οὔτε τι συγχωρεῖν οὔτε του οὔτ᾿ ἐμοῦ οὔτε τόδε οὔτ᾿ ἐκεῖνο οὔτε ἄλλο οὐδὲν ὄνομα ὅτι ἂν ἱστῇ, ἀλλὰ κατὰ φύσιν φθέγγεσθαι γιγνόμενα καὶ

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sondern auch für aus vielen Einzelbestandteilen zusammengehäufte Dinge“ und als einen solchen „Haufen“ (ἅθροισμα) setzten die Weisen „den Menschen und den Stein und jedes Lebewesen und jede Gestalt“ an.500 Wenn nun Plutarchs Ammonios im 20. Kapitel von De E apud Delphos im selben Atemzug den Menschen als einen zusammengesetzten „Haufen“ einem Gott gegenüberstellt, der als ein ἓν ὄν angeredet zu werden verdient, so zitiert die Bestimmung des Menschen die explizit Heraklit mitzugeschriebene Flusslehre des Theaitetos; wenn wiederum der Theaitetos als Gegenentwurf dieser Flusslehre die Lehre des Parmenides vom Einen Seienden nennt, so liegt es nahe, dass die Anrede εἶ ἕν, von der Ammonios sagt, sie gehe auf „einige der Alten“ (ἔνιοι τῶν παλαιῶν) zurück, als ein Hinweis auf die Lehre des Parmenides verstanden werden soll. Gegen diese Interpretation könnte man freilich – wie es schon WHITTAKER gegen DIELS’ Vermutung eines intendierten Hinweises auf Heraklit getan hat501 – ins Feld führen, dass Ammonios von seinen Gewährsmännern im Plural spricht, während die zitierte Theaitetos-Stelle Parmenides allein nennt, doch ein weiterer Blick auf den Theaitetos lehrt, dass der platonische Sokrates um eine ganze Gruppe von Philosophen weiß, die die Lehre vom Einen Seienden in Opposition zu den Anhängern der heraklitischen Flusslehre vertreten: Später im Dialog ist von den Μέλισσοί τε καὶ Παρμενίδαι die Rede, „die darauf beharren, dass alles Eines ist und selbst in sich selbst ruht, ohne Raum, in dem es sich bewegt.“502 Der Eindruck DE VOGELs, die Ammoniosrede enthalte einen parmenideisch „ins Extreme gezogenen Platonismus“ würde mithin von Plutarchs Anspielung auf Parmenides und seine Anhänger mit der Berufung auf ἔνιοι τῶν παλαιῶν gestützt, deren Lehre von der absoluten Einheit des Seienden Ammonios zitiert, um zu betonen, dass sich das Sein Apollons in seiner Einheit grundsätzlich von der nichtseienden Vielheit des Menschen im heraklitischen Fluss unterscheidet. Die Etymologien,503 die Ammonios zur Illustration seiner Analyse des einheitlichen Seins Apollons heranzieht, verweisen                                                              ποιούμενα καὶ ἀπολλύμενα καὶ ἀλλοιούμενα· ὡς ἐάν τί τις στήσῃ τῷ λόγῳ, εὐέλεγκτος ὁ τοῦτο ποιῶν. 500 Plat. Theaet. 157b8–c1 δεῖ δὲ καὶ κατὰ μέρος οὕτω λέγειν καὶ περὶ πολλῶν ἁθροισθέντων, ᾧ δὴ ἁθροίσματι ἄνθρωπόν τε τίθενται καὶ λίθον καὶ ἕκαστον ζῷόν τε καὶ εἶδος. 501 Vgl. oben, S. 257 mit Anm. 459. 502 Plat. Theaet. 180d7–e4 ὀλίγου δὲ ἐπελαθόμην, ὦ Θεόδωρε, ὅτι ἄλλοι αὖ τἀναντία τούτοις ἀπεφήναντο, οἷον ἀκίνητον τελέθει τῷ παντὶ ὄνομ᾿ εἶναι καὶ ἄλλα ὅσα Μέλισσοί τε καὶ Παρμενίδαι ἐναντιούμενοι πᾶσι τούτοις διισχυρίζονται, ὡς ἕν τε πάντα ἐστὶ καὶ ἕστηκεν αὐτὸ ἐν αὑτῷ οὐκ ἔχον χώραν ἐν ᾗ κινεῖται. Theaet. 181a7–8 werden Parmenides und seine Anhänger, in Anspielung auf die von ihnen bekämpfte Vorstellung einer unausgesetzten Bewegung von allem, οἱ τοῦ ὅλου στασιῶται genannt. 503 Vgl. De E 20, 393BC.

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III. Hauptgespräch

dabei sowohl auf den platonischen wie auf den parmenideischen Seinsbegriff. Den stärker parmenideischen Aspekt der „Einheit“ spiegelt vor allem die Deutung des Namens Apollon als ἀ-πολλῶν, „derjenige der das Viele verneint und die Menge ablehnt“ (οἷον ἀρνούμενος τὰ πολλὰ καὶ τὸ πλῆθος ἀποφάσκων) wieder, während die Etymologie des Namens Ἰήιος als „einer und einziger“ (ὡς εἷς καὶ μόνος) in ihrer Terminologie eine Entsprechung in einer Beschreibung der Seinsweise der platonischen Ideen in Plutarchs dritter Platonica Quaestio hat, wo es heißt, diese würden in ihrer Gesamtheit „gemäß der Einheit und Singularität“ gedacht (ἐν αὐταῖς γενησόμεθα ταῖς νοηταῖς ἰδέαις, οὐδεμίαν διαφορὰν ἐχούσαις πρὸς ἀλλήλας, κατὰ τὸ ἓν καὶ μόνον νοουμέν).504 Wenn mit dem Namen Phoibos schließlich noch Aspekte wie Reinheit und Lauterkeit (τὸ καθαρὸν καὶ ἁγνόν … τὸ δ᾿ ἓν εἰλικρινὲς καὶ καθαρόν) für das Sein des Gottes angeführt werden, so handelt es sich hierbei um klassische Beschreibungen Platons für die Ideen.505 Aus den Ergebnissen der Interpretation des 20. Kapitels von De E apud Delphos lässt sich mithin ein erstes philosophisches Grundgerüst der Ammoniosrede rekonstruieren, das vollständig auf das Redeziel ihres Sprechers abgestimmt ist, den mit dem E als εἶ anzuredenden Gott in ein Verhältnis maximaler Differenz zum Menschen zu setzen, zu deren Erkenntnis der Gott durch den Spruch γνῶθι σαυτόν selbst aufruft. Um diese Lösung zu plausibilisieren, lässt Plutarch ihren Vertreter zu einer radikalisierten Form platonischer Ontologie greifen, in der die Existenzweise des Menschen in heraklitischer Manier als eine nichtseiende Vielheit dem mit parmenideischen Anspielungen charakterisierten Sein des Gottes gegenübergestellt                                                             

504 PQ 3, 1002A. Gegen WHITTAKER (1969) 187f., der die Etymologien der Namen Apollon (mit Berufung auf De Iside, vgl. oben, S. 258 mit Anm. 460) und Ieios als Indiz für die pythagoreische Provenienz des ἕν angeführt hatte, ergeben sich zwei Einwände: Die Etymologie ἀ-πολλῶν wird auch in der Rede ‚Plutarchs‘ verwendet, dort freilich als Illustration für die Einheitlichkeit des Apollon in der Phase der Ekpyrosis, mithin im Dienste eines stoischen Theorems (De E 9, 388F κρυπτόμενοι δὲ τοὺς πολλοὺς οἱ σοφώτεροι τὴν μὲν εἰς πῦρ μεταβολὴν Ἀπόλλωνά τε τῇ μονώσει Φοῖβόν τε τῷ καθαρῷ καὶ ἀμιάντῳ καλοῦσιν). Für die Etymologie von Ieios wiederum kann WHITTAKER nur für den εἶς-Teil von Plutarchs Auslegung auf pythagoreische Vorstellungen verweisen, und dies auch nur mit einer Referenz auf Johannes Lydus, De mensibus, der (4.1, p. 64.11f.) den Namen des Januar mit dem Kommentar ἢ ἀπὸ τῆς ἴας ἀντὶ τῆς μιᾶς κατὰ τοὺς Πυθαγορείους versieht. Derartige Etymologien sind mithin nicht als Indiz für die Herkunft von mit ihrer Hilfe begründeten Philosophemen zu gebrauchen, sondern frei verfügbares Bildungsgut. 505 Plat. Phaed. 79d1–2 ὅταν δέ γε αὐτὴ (sc. ἡ ψυχή) καθ᾿ αὑτὴν σκοπῇ, ἐκεῖσε οἴχεται εἰς τὸ καθαρόν τε καὶ ἀεὶ ὂν καὶ ἀθάνατον καὶ ὡσαύτως ἔχον κτλ. Plat. Phaed. 66a1–3 … ἀλλ᾿ αὐτῇ καθ᾿ αὑτὴν εἰλικρινεῖ τῇ διανοίᾳ χρώμενος (sc. derjenige, der wahres Wissen über einen Gegenstand erwerben will) αὐτὸ καθ᾿ αὑτὸ εἰλικρινὲς ἕκαστον ἐπιχειροῖ θηρεύειν τῶν ὄντων κτλ.

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wird. Mensch und Gott repräsentieren dabei die beiden Extreme der platonischen Zwei-Welten-Lehre: Auf der einen Seite der sinnlich wahrnehmbare Kosmos des Werdens, auf der anderen Seite der rein intelligible Bereich des transzendenten Seins. An einer Vermittlung zwischen den beiden Bereichen ist Ammonios nachvollziehbarer Weise in den Kapiteln 18–20 nicht gelegen, vielmehr verfolgt er in diesem Abschnitt das Ziel, den unverbundenen Kontrast zwischen Mensch und Gott so eindrucksvoll wie möglich herauszuarbeiten: Heraklitischer Fluss auf der einen, parmenideisches Sein auf der anderen Seite. Es handelt sich hierbei ohne Zweifel um eine interpretatio Platonica der beiden großen vorsokratischen Entwürfe des Heraklit und des Parmenides, wenn Plutarch Ammonios die Sphäre der sinnlich wahrnehmbaren Welt heraklitisch, die Sphäre des intelligiblen Seins parmenideisch beschreiben lässt; freilich erfolgt die interpretatio Platonica nur in der Charakterisierung der unterschiedlichen Stufen der Realität, nicht jedoch hinsichtlich ihrer Verbindung durch ein Vorbild-Abbild-Verhältnis. Wie der letzte Redner von De E apud Delphos einerseits das ontologische Axiom einer prinzipiellen Dichotomie von Kosmos und Ideenwelt rezipiert, diese jedoch in klarer Absetzung vom Timaios unter Ausblendung der dortigen Etablierung einer Methexis der materiellen Welt an einem transzendenten παράδειγμα durch die Vermittlung des Demiurgen konsequent vertieft, ist nun zu zeigen. Die übergreifend-konsequente Zeichnung des Ammonios als eines Parmenides in Delphi lässt sich anhand der engen Parallelen zwischen der Ammoniosrede in De E apud Delphos und der Behandlung des Parmenides in Plutarchs Schrift Adversus Colotem nachweisen, deren Vergleich wiederum auf einen kontextabhängig-rhetorischen506 Aspekt der philosophischen Ausführungen des Ammonios hindeutet und darüber hinaus das eigentlich paradoxe Ergebnis liefert, dass der Platonismus des Ammonios in De E apud Delphos tendenziell „parmenideischer“ ist als die platonisch interpretierte Lehre des Parmenides in Adversus Colotem. 8.3 Der heraklitische Fluss und das parmenideische Sein (Kap. 18–20) Die Grundlage für Ammonios’ Kontrastierung des Menschen und des Gottes in den Kapiteln 18–20 von De E apud Delphos bildet die Unterscheidung Platons zwischen Sein und Werden, wie sie beispielsweise zu Beginn des kosmogonischen Teils des Timaios (27d5–28a4) ausgesprochen wird: „Man                                                              506 Vgl. OPSOMER (2009) 149 „Probably he [sc. Ammonius, Anm. d. Verf.] sticks with the dichotomy for the sake of rhetorical contrast, but also because it allows him to accentuate the excellence of being, i.e. god.“ Vgl. ibid., 155 „Becoming and time are drawn in such negative terms, it seems, in order to make for a sharper contrast with being and eternity.“

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muss nun also nach meiner Auffassung zu allererst Folgendes unterscheiden: Was ist das ewig Seiende, dem kein Werden zukommt, und was ist das ewig Werdende, das niemals ist? Das eine ist durch Denken mit Begründung erfassbar, ewig auf dieselbe Weise seiend, das andere wiederum durch Meinung mit sinnlicher Wahrnehmung ohne Begründung vermutbar, werdend und vergehend, wahrhaft aber niemals seiend.“507 In der Ammoniosrede befindet sich der Gott auf der Stufe von Platons ewig Seiendem: Er ist ὄντως ὄν,508 ewig,509 ihm kommt kein Werden zu,510 er ist immer auf dieselbe Weise seiend, da ihn keinerlei Wandlungen affizieren.511 Demgegenüber ist der Mensch auf der Stufe ewigen Werdens angesiedelt: Er steht immer zwischen Werden und Vergehen512 und ist niemals.513 Während freilich das ewig Seiende im weiteren Fortgang des Timaios als παράδειγμα für die gewordene Welt bestimmt und der Demiurg als diejenige Ursache eingeführt wird, die für ein Vorbild-Abbild-Verhältnis zwischen dem ewig Seienden und dem ewig Werdenden sorgt,514 akzentuiert der erste Teil der Ammoniosrede allein das Trennende zwischen Sein und Werden.515 8.3.1 Das Parmenidesbild in Adversus Colotem und die Ontologie des Ammonios Plutarch bestreitet zu Anfang seiner Verteidigung des Parmenides in den Kapiteln 13–16 der Schrift Adversus Colotem vehement die Berechtigung von Kolotes’ Vorwurf, der Eleat habe durch αἰσχρὰ σοφίσματα allen ethischen Wertvorstellungen den Boden entzogen, überhaupt verstehe er nicht,                                                             

507 Plat. Tim. 27d5–28a4 ἔστιν οὖν δὴ κατ᾿ ἐμὴν δόξαν πρῶτον διαιρετέον τάδε· τί τὸ ὂν ἀεί, γένεσιν δὲ οὐκ ἔχον, καὶ τί τὸ γιγνόμενον μὲν ἀεί, ὂν δὲ οὐδέποτε; τὸ μὲν δὴ νοήσει μετὰ λόγου περιληπτόν, ἀεὶ κατὰ ταὐτὰ ὄν, τὸ δ᾿ αὖ δόξῃ μετ᾿ αἰσθήσεως ἀλόγου δοξαστόν, γιγνόμενον καὶ ἀπολλύμενον, ὄντως δὲ οὐδέποτε ὄν. 508 De E 19, 392E τί οὖν ὄντως ὄν ἐστι; De E 20, 393A ἀλλ᾿ ἔστιν ὁ θεός. De E 20, 393B τὸ κατὰ τοῦτ᾿ ὄντως ὄν. 509 De E 19, 392E τὸ ἀΐδιον. De E 19, 393A κατὰ τὸν αἰῶνα. 510 De E 19, 392E ἀγένητον. De E 20, 393B οὐ γεγονός. 511 De E 19, 392E ᾧ χρόνος μεταβολὴν οὐδὲ εἷς ἐπάγει. De E 20, 393B ist er nicht von der ἑτερότης betroffen. 512 De E 18, 392A ἐν μέσῳ γενέσεως καὶ φθορᾶς γενομένη [sc. πᾶσα θνητὴ φύσις]. De E 18, 392B τὸ γιγνόμενον … τὸ φθειρόμενον. De E 19, 393A γιγνόμενα πάντα καὶ φθειρόμενα. 513 De E 18, 392A ἡμῖν μὲν γὰρ ὄντως τοῦ εἶναι μέτεστιν οὐδέν. De E 18, 393B ist an ihm kein ὄντως ὄν. De E 18, 392C ὅθεν οὐδ᾿ εἰς τὸ εἶναι περαίνει τὸ γιγνόμενον αὐτῆς [sc. θνητῆς οὐσίας] τῷ μηδέποτε λήγειν μηδ᾿ ἵστασθαι τὴν γένεσιν. De E 19, 392E ist er τὸ […] ἐν τῷ εἶναι μηδέπω γεγονὸς ἢ πεπαυμένον ἤδη τοῦ εἶναι. De E 19, 393A ist nichts an ihm ὄν, μένειν ἐν τῷ εἶναι ist ihm unmöglich. 514 Vgl. Plat. Tim. 28a4–29b1. 515 OPSOMER (2009) 149 vermisst in Ammonios’ Rede auch die vermittelnde Rolle, die der Weltseele zwischen Sein und Werden zukommt.

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„wie er dadurch, dass er sagte, alles sei Eines, uns am Leben gehindert haben soll.“516 Plutarchs erste Replik ist polemisch, insofern er Kolotes das Recht bestreitet, Parmenides hinsichtlich seines πᾶν-ἕν-Postulates anzugreifen, verträten doch die Epikureer, deren Schule Kolotes anhängt, ganz ähnliche Vorstellungen; der zweite Einwand ist apologetisch, insofern Plutarch darauf hinweist, dass Parmenides sehr wohl auch eine differenzierte, sinnlich wahrnehmbare Welt in einer eigenen Kosmologie gelehrt und als „alter Physiolog“ nichts unerklärt gelassen habe.517 Parmenides müsse in Wahrheit als ein Vorläufer von Platon und Sokrates begriffen werden, der in der Natur zwischen zwei erkenntnistheoretisch verschiedenen Objektklassen differenziert habe, eine, der die Meinung, und eine, der das Denken zugeordnet sei.518 Die parmenideisch-platonischen Objekte der Meinung beschreibt Plutarch nun nach dem gleichen Muster wie der Ammonios von De E apud Delphos die menschliche Existenz519: Das δοξαστόν sei ἀβέβαιον καὶ πλανητόν,520 befinde sich ἐν πάθεσι πολλοῖς καὶ μεταβολαῖς,521 es sei ständigem                                                             

516 Adv. Col. 13, 1113F … τούτοις [d.h. mit seinen angeblichen Sophistereien] ἐκεῖνος ὁ ἀνὴρ [sc. Parmenides] οὐ φιλίαν ἐποίησεν ἀδοξοτέραν, οὐ φιληδονίαν θρασυτέραν, οὐ τοῦ καλοῦ τὸ ἀγωγὸν ἐφ᾿ ἑαυτὸ καὶ δι᾿ ἑαυτὸ τίμιον ἀφεῖλεν, οὐ τὰς περὶ θεῶν δόξας συνετάραξε. τὸ δὲ πᾶν ἓν εἰπὼν οὐκ οἶδ᾿ ὅπως ζῆν ἡμᾶς κεκώλυκε. 517 Adv. Col. 13, 1114BC ἀλλ᾿ ὅ γε Παρμενίδης οὔτε πῦρ ἀνῄρηκεν οὔθ᾿ ὕδωρ οὔτε κρημνὸν οὔτε πόλεις, ὥς φησι Κωλώτης, ἐν Εὐρώπῃ καὶ Ἀσίᾳ κατοικουμένας· ὅς γε καὶ διάκοσμον πεποίηται, καὶ στοιχεῖα μιγνύς, τὸ λαμπρὸν καὶ σκοτεινόν, ἐκ τούτων τὰ φαινόμενα πάντα καὶ διὰ τούτων ἀποτελεῖ. καὶ γὰρ περὶ γῆς εἴρηκε πολλὰ καὶ περὶ οὐρανοῦ καὶ ἡλίου καὶ σελήνης καὶ ἄστρων καὶ γένεσιν ἀνθρώπων ἀφήγηται· καὶ οὐδὲν ἄρρητον, ὡς ἀνὴρ ἀρχαῖος ἐν φυσιολογίᾳ καὶ συνθεὶς γραφὴν ἰδίαν οὐκ ἀλλοτρίαν διαφορῶν, τῶν κυρίων παρῆκεν. Zur Stoßrichtung der Vorwürfe des Kolotes, Parmenides habe die Phänomene der sinnlich wahrnehmbaren Welt geleugnet, vgl. ISNARDI PARENTE (1988) 68 „[…] a questi [sc. Parmenide], Colote rimproverava la distruzione della molteplicità e della concretezza fisica che è alla base dell’esperienza sensibile, e quella riduzione di tutto ad uno che distrugge il vivere, perché ne taglia e recide tutte le forme (1113f ss.). Essa distrugge l’esistenza delle singole, e molteplici, realtà sulle quali si fonda la nostra vita: toglie realtà al fuoco che può divorarci, al precipizio in cui possiamo cadere, alle città in cui si svolge la nostra esistenza. La cancellazione delle forme molteplici concrete, anziché fondare l’unitario e immobile essere, porta all’annientamento dell’essere nelle manifestazioni che permettono la nostra azione e costituiscono il nostro mondo effettuale.“ 518 Adv. Col. 13, 1114C ἐπεὶ δὲ καὶ Πλάτωνος καὶ Σωκράτους ἔτι πρότερον συνεῖδεν, ὡς ἔχει τι δοξαστὸν ἡ φύσις, ἔχει δὲ καὶ νοητόν κτλ. 519 Vgl. zum Folgenden Adv. Col. 13, 1114C–E. 520 Vgl. De E 18, 392A πᾶσα θνητὴ φύσις … φάσμα παρέχει καὶ δόκησιν ἀμυδρὰν καὶ ἀβέβαιον αὑτῆς. 521 Vgl. De E 18, 392B–E τῶν παθητῶν καὶ μεταβλητῶν … μεταβολῆς … ἀπὸ σπέρματος ἀεὶ μεταβάλλουσαν … οὔτε γὰρ ἄνευ μεταβολῆς ἕτερα πάσχειν εἰκός, οὔτε μεταβάλλων ὁ αὐτός ἐστιν· εἰ δ᾿ ὁ αὐτὸς οὐκ ἔστιν, οὐδ᾿ ἔστιν, ἀλλὰ τοῦτ᾿ αὐτὸ μεταβάλλει γιγνόμενος ἕτερος ἐξ ἑτέρου.

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III. Hauptgespräch

φθίνειν καὶ αὔξεσθαι ausgesetzt,522 es verhalte sich in der Wahrnehmung πρὸς ἄλλον ἄλλως, ja nicht einmal πρὸς τὸν αὐτὸν ὡσαύτως,523 ihm komme es zu δέχεσθαι διαφοράν,524 seine Natur sei ἄτακτος und φερομένη.525 Die „Meinungen der Sterblichen“ beschäftigten sich mit παντοδαπὰς μεταβολὰς καὶ πάθη καὶ ἀνομοιότητας δεχομένοις … πράγμασιν, von denen es heißt, dass sie νῦν μὲν ἔστι νῦν δ᾿ οὐκ ἔστιν526 und unaufhörlich ἐξίσταται … καὶ μεταλάσσει τὴν φύσιν.527 Diese gesamte Beschreibung von Parmenides’ Ansichten über die phänomenalen Objekte der δόξα stimmt mithin bis in den Wortlaut mit Ammonios’ Analyse der Existenz des Menschen als eines Exemplars der θνητὴ φύσις überein. Parmenides nun, so Plutarch, habe aufgrund dieser Eigenschaften der Objekte der δόξα die Ansicht vertreten, diese bedürften „eher einer anderen Bezeichnung als derjenigen jenes ewig Seienden“ (ἑτέρας μᾶλλον ᾤετο ἢ τῆς ἐκείνου τοῦ ὄντος ἀεὶ δεῖσθαι προσηγορίας)528: Die Anrede εἶ als ἡ τοῦ εἶναι προσαγόρευσις, die Ammonios zu Beginn seiner Rede als dem Gott allein, mithin im Unterschied zu den ihn in Delphi aufsuchenden Menschen, für angemessen erklärt,529 stimmt mit der von Plutarch dem Parmenides zugeschriebenen Einschränkung des Seinsbegriffs auf die transzendente Wirklichkeit und die Forderung nach „einer anderen Bezeichnung“ für den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung vollkommen überein. Als Vorläufer von Platon und Sokrates habe Parmenides, so Plutarch ferner, der Objektklasse des δοξαστόν ein τοῦ νοητοῦ … ἕτερον εἶδος gegenübergestellt, das er zunächst mit einem Vers aus Parmenides’ Gedicht als                                                              522 Diesem „Schwinden“ und „Zunehmen“ entspricht in der Ammoniosrede das unausgesetzte „Werden und Vergehen“ beziehungsweise „Sterben“ des Menschen, vgl. De E 18, 392A–D τὸ γιγνόμενον … τὸ φθειρόμενον … σκίδνησι καὶ πάλιν συνάγει … συνίσταται καὶ ἀπολείπει … πρόσεισι καὶ ἄπεισιν … τὰς πρῶτας φθείρουσαν γενέσεις … φθείρεται … ἐφθάρη … . De E 19, 393A γιγνόμενα πάντα καὶ φθειρόμενα. 523 Vgl. De E 18, 392DE ἐπεὶ πῶς οἱ αὐτοὶ μένοντες ἑτέροις χαίρομεν νῦν, ἑτέροις πρότερον, τἀναντία φιλοῦμεν καὶ μισοῦμεν καὶ θαυμάζομεν καὶ ψέγομεν, ἄλλοις χρώμεθα λόγοις ἄλλοις πάθεσιν, οὐκ εἶδος οὐ μορφὴν οὐ διάνοιαν ἔτι τὴν αὐτὴν ἔχοντες; 524 Vgl. De E 20, 393B ὡς ἡμῶν ἕκαστος ἐκ μυρίων διαφορῶν ἐν πάθεσι γινομένων ἄθροισμα κτλ. 525 Dem entspricht die Flussmetaphorik in De E 18–19. 526 Vgl. dazu die Vorstellungen des Ammonios vom ἅμα der Konkretion und Diffusion jedes sterblichen Wesens (De E 18, 392B), sowie die Beschreibung einer unaufhaltsam fließenden Zeit in De E 19, 392E–393A, in deren infinitesimal kleine aneinandergereihte Punkte sich alles auflöst. 527 Zum ἐξίσταται vgl. De E 20, 393B ἡ δ᾿ ἑτερότης διαφορᾷ τοῦ ὄντος ἐξίσταται εἰς γένεσιν τοῦ μὴ ὄντος und De E 21, 393E, wo dem seienden Gott ἐκστάσεις … καὶ μεταβολάς abgesprochen werden; ferner De E 21, 393F zur nochmaligen Begründung der εἶAnrede, ὡς οὐδέποτε γινομένης περὶ αὐτὸν ἐκστάσεως καὶ μεταβολῆς. 528 Adv. Col. 13, 1114E. 529 De E 17, 392A.

8. Die Rede des Ammonios

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οὐλομελές τε καὶ ἀτρεμὲς ἠδ᾿ ἀγένητον, als ein unerschütterliches, ungewordenes Ganzes charakterisiert.530 Wieder scheinen die Seinsbestimmungen der Ammoniosrede durch, nach denen dem Sein Ungewordenheit, Stabilität und Einheit zuzusprechen ist.531 Zudem sei das parmenideische νοητόν zu bestimmen als ὅμοιον ἑαυτῷ καὶ μόνιμον ἐν τῷ εἶναι, „sich selbst ähnlich und im Sein verharrend.“532 Bei Ammonios besitzt die nichtseiende menschliche Natur gerade nicht die „Selbstähnlichkeit“533 und vermag ausdrücklich nicht „im Sein zu verharren“534, der seiende Gott hingegen ist ein νοητὸν μένον.535 Wenn Ammonios schließlich dazu aufruft, den Gott nicht nur mit εἶ anzusprechen, sondern „wie einige der Alten“ (ὡς ἔνιοι τῶν παλαιῶν) sogar εἶ ἕν zu sagen,536 so ist auch hier der Bezug auf die Parmenidesapologetik in Adversus Colotem deutlich. Parmenidesʼ Ansetzung eines „Einen Seienden“ ergibt sich für Plutarch in Adversus Colotem wie für Ammonios in De E apud Delphos konsequent aus der ewigen, unvergänglichen, selbstähnlichen und unterschiedslosen Natur des Seienden. Kolotes, so Plutarch, betreibe an                                                             

Adv. Col. 13, 1114C, vgl. Parm. B 8, 4. Vgl. für die Ungewordenheit De E 19, 392E τί οὖν ὄντως ὄν ἐστι; τὸ … ἀγένητον κτλ. De E 20, 393B οὐ γεγονός. Stabilität ergibt sich ex contrario aus den Bestimmungen des nichtseienden Menschen, vgl. De E 18, 392A–E φάσμα … ἀβέβαιον sowie die zahlreichen Fluss- und Werdemetaphern. Auf die Einheit im Sinne der parmenideischen „Eingliedrigkeit“ verweist wiederum der Gegensatz, den Ammonios zwischen der aus vielen Bestandteilen gemischten „Vielheit“ der sterblichen Wesen im Fluss von Materie und Zeit und der „Einheit“ des seienden Gottes, die Materie und Zeit enthoben ist, aufbaut: De E 20, 393B … εἶ ἕν· οὐ γὰρ πολλὰ τὸ θεῖόν ἐστιν, ὡς ἡμῶν ἕκαστος ἐκ μυρίων διαφορῶν ἐν πάθεσι γινομένων ἄθροισμα παντοδαπὸν καὶ πανηγυρικῶς μεμιγμένον· ἀλλ᾿ ἓν εἶναι δεῖ τὸ ὄν, ὥσπερ ὂν τὸ ἕν. Gemischte „Vielheit“ des Menschen (De E 18, 392D): μένει δ᾿ οὐδεὶς οὐδ᾿ ἔστιν εἷς, ἀλλὰ γιγνόμεθα πολλοί. Ungemischte „Einheit“ des seienden Gottes (De E 20, 393C): οὐκοῦν ἕν τ᾿ εἶναι καὶ ἄκρατον ἀεὶ τῷ ἀφθάρτῳ καὶ καθαρῷ προσήκει. 532 Adv. Col. 13, 1114D. 533 Vgl. De E 18, 392DE: Der Mensch bleibt niemals ὁ αὐτός, sondern wird ständig ἕτερος ἐξ ἑτέρου. 534 Vgl. De E 19, 393A: Bezeichnungen wie „es war“ und „es wird sein“ beschreiben Zustände τοῦ μένειν ἐν τῷ εἶναι μὴ πεφυκότος. „Verharren“ im Sinne von „Sein“ ist der menschlichen Flussexistenz niemals möglich: De E 18, 392B οὐδενὸς λαβέσθαι μένοντος οὐδ᾿ ὄντως ὄντος δυνάμενος [sc. ὁ λόγος]. De E 18, 392C ὅθεν οὐδ᾿ εἰς τὸ εἶναι περαίνει τὸ γιγνόμενον αὐτῆς [sc. θνητῆς οὐσίας] τῷ μηδέποτε λήγειν μηδ᾿ ἵστασθαι τὴν γένεσιν. De E 18, 392D μένει δ᾿ οὐδεὶς οὐδ᾿ ἔστιν εἷς. Ibid. πῶς οἱ αὐτοὶ μένοντες κτλ.; De E 18, 392E εἰ δ᾿ ὁ αὐτὸς οὐκ ἔστιν, οὐδ᾿ ἔστιν. De E 19, 393A οὐδὲν αὐτῆς μένον οὐδ᾿ ὄν ἐστιν. 535 De E 21, 393D im Verhältnis zu seinem Abbild, der Sonne: τιμᾶν δὲ τὴν εἰκόνα τήνδε … ὡς ἀνυστόν ἐστιν αἰσθητῷ νοητοῦ καὶ φερομένῳ μένοντος ἐμφάσεις τινὰς διαλάμπουσαν κτλ. Zusammengefasst findet sich die Gegenüberstellung von „Im Sein Verharren“ und „Aus dem Sein Heraustreten“ Adv. Col. 13, 1114E: ἀλλ᾿ ὅτι τῷ μὲν ὄντως ὄντι προσήκει διαμένειν ἐν τῷ εἶναι, ταῦτα δὲ νῦν μὲν ἔστι νῦν δ᾿ οὐκ ἔστιν, ἐξίσταται δ᾿ ἀεὶ καὶ μεταλλάσσει τὴν φύσιν κτλ. 536 De E 20, 393B. 530 531

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III. Hauptgespräch

der Sache vorbeigehende Wortklauberei, wenn er Parmenides vorwerfe, dieser zerstöre durch sein ἓν ὂν ὑποτίθεσθαι die Existenz von Allem; Parmenides habe vielmehr „beiden Naturen das ihnen Zukommende zugestanden“537, indem er das geistig Wahrnehmbare der Form des Einen und Seienden zugeordnet habe (εἰς μὲν τὴν τοῦ ἑνὸς καὶ ὄντος ἰδέαν τίθεται τὸ νοητόν): Es sei als seiend zu verstehen, weil es ewig und unvergänglich sei (ὂν μὲν ὡς ἀΐδιον καὶ ἄφθαρτον), als eines, weil es sich selbst ähnlich sei und keinerlei Unterschiede annehme (ἓν δ᾿ ὁμοιότητι πρὸς αὑτὸ καὶ τῷ μὴ δέχεσθαι διαφοράν).538 Mit den gleichen Kategorien bestimmt auch Ammonios den Seins- und den Einheitsaspekt des Gottes: Wahrhaft seiend sei nur das ἀΐδιον καὶ ἀγένητον καὶ ἄφθαρτον,539 und der Gott sei Eines, da er keinen διαφοραί ausgesetzt sei und ihm keine Verschiedenheit (ἑτερότης) gegenüber sich selbst zukomme, die ja geradewegs ein Ausweis des Nichtseins sei.540 Die philosophische Substanz der Ammoniosrede in ihrer Scheidung eines Bereichs der phänomenalen Welt der Vielheit, Wechselhaftigkeit, Instabilität, kurz, des Nichtseins und eines Bereichs des ungewordenen und ewigen Seins, das folgerichtig als Eines bestimmt wird, weist mithin mit dem Parmenidesbild in Adversus Colotem die denkbar engste Verwandtschaft auf, und scheint in De E apud Delphos zur Argumentation für die Opposition von γνῶθι σαυτόν und εἶ, Mensch und Gott, Nichtsein und Sein funktionalisiert worden zu sein. Freilich stellt sich bei weiterer Lektüre des Abschnittes von Adversus Colotem heraus, dass der Ammonios von De E apud Delphos gegenüber dem Parmenides aus Adversus Colotem eine radikalisierte Position vertritt; dieser tendenzielle Unterschied zwischen beiden Schriften rührt daher, dass Plutarch in Adversus Colotem in apologetischer Absicht versucht, die Problematik einer unüberbrückten Dichotomie zwischen reinem Sein und reinem Werden als gegenstandslos zu erklären, indem er bereits bei Parmenides Spuren der platonischen Methexislehre erkennen will, während es Ammonios darum geht, den Graben zwischen dem Gott und dem Menschen möglichst tief zu ziehen. 8.3.2 Parmenides als Vorläufer Platons und dessen Methexis-Lehre Da Plutarch Parmenides in Adversus Colotem als Vorläufer Platons betrachtet, legt er Wert auf die Erklärung, die Lehre vom Seienden als Einem intendiere nicht die Leugnung der Existenz einer sinnlich wahrnehmbaren                                                             

Adv. Col. 13, 1114D … ταῦτα συκοφαντῶν ἐκ τῆς φωνῆς ὁ Κωλώτης καὶ τῷ ῥήματι διώκων οὐ τῷ πράγματι τὸν λόγον ἁπλῶς φησι πάντ᾿ ἀναιρεῖν τῷ ἓν ὂν ὑποτίθεσθαι τὸν Παρμενίδην. ὁ δ᾿ ἀναιρεῖ μὲν οὐδετέραν φύσιν, ἑκατέρᾳ δ᾿ ἀποδιδοὺς τὸ προσῆκον κτλ. 538 Adv. Col. 13, 1114D. 539 De E 19, 392E. 540 De E 20, 393B. 537

8. Die Rede des Ammonios

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Welt der Vielheit, sondern bezwecke allein „den Aufweis ihres Unterschiedes gegenüber dem mit dem Denken Erfassbaren“. Diesen von Parmenides beabsichtigten Aufweis des Unterschiedes zweier Ebenen der Wirklichkeit, so Plutarch, habe Platon „mit seiner Ausführung der Ideenlehre noch deutlicher gemacht“, sich damit freilich ebenfalls den Angriffen des Kolotes ausgesetzt.541 Die nun folgende Verteidigung der platonischen Ideenlehre gegen Kolotes’ Kritik soll somit zugleich eine Apologie der parmenideischen Position sein, stellt doch jene eine elaborierte Variation der parmenideischen Lehre dar.542 Nach einem erneuten polemischen Ausfall gegen Kolotes, der diesmal dessen philosophiehistorische Inkompetenz zum Ziel hat,543 weist Plutarch die Unterstellung, auch Platon habe Einzeldingen der phänomenalen Welt, wie Pferden, Menschen oder Feuer, jegliches Sein abgesprochen, mit dem Hinweis zurück, eine derartige Aussage fände sich nirgends in Platons Schriften, vielmehr gehe aus diesen eindeutig hervor, dass Platon jene Einzeldinge zwar nur als Objekte der Meinung (δοξαστά) bestimmt, ihnen jedoch nicht schlichtweg die Existenz abgesprochen habe.544 Kolotes hingegen habe nicht begriffen, dass ein Unterschied bestehe zwischen der Aussage „der Mensch ist nicht“ und „der Mensch ist kein Seiendes“, während „Platon in bewundernswerter Weise der Ansicht gewesen sei, es bestehe ein Unterschied zwischen nicht sein und kein Seiendes sein.“545 Hatte Parmenides nach Plutarchs Ausführungen allein auf den Unterschied der beiden Ebenen der Wirklichkeit verweisen und keineswegs die phänomenale Welt negieren wollen, so wollte Platon in seiner Ideenlehre auf den Unterschied zwischen „Anteilgebendem“ und „Anteilnehmendem“ hinweisen,546 also auf den unterschiedlichen ontologischen Status der im Verhältnis der                                                             

541 Adv. Col. 13, 1114EF ἦν οὖν ὁ περὶ τοῦ ὄντος ὡς ἓν εἴη λόγος οὐκ ἀναίρεσις τῶν πολλῶν καὶ αἰσθητῶν, ἀλλὰ δήλωσις αὐτῶν τῆς πρὸς τὸ νοητὸν διαφορᾶς. ἣν ἔτι μᾶλλον ἐνδεικνύμενος Πλάτων τῇ περὶ τὰ εἴδη πραγματείᾳ καὶ αὐτὸς ἀντίληψιν τῷ Κωλώτῃ παρέσχε. 542 Eine detaillierte Analyse von Plutarchs Verteidigung der platonischen Ontologie gegen Kolotes’ Vorwürfe bietet jetzt KECHAGIA (2011) 213–250. 543 Vgl. Adv. Col. 14, 1114F–1115C. 544 Adv. Col. 15, 1115CD „ἀλλὰ δὴ Πλάτων“ φησὶ „τοὺς ἵππους ὑφ᾿ ἡμῶν ματαίως ἵππους εἶναι καὶ τοὺς ἀνθρώπους .“ καὶ ποῦ τοῦτο τῶν Πλάτωνος συγγραμμάτων ἀποκεκρυμμένον εὗρεν ὁ Κωλώτης; ἡμεῖς γὰρ ἐν πᾶσιν ἀναγινώσκομεν καὶ τὸν ἄνθρωπον ἄνθρωπον καὶ τὸν ἵππον ἵππον καὶ τὸ πῦρ πῦρ ὑπ᾿ αὐτοῦ δοξαζόμενον· ᾗ καὶ δοξαστὸν ὀνομάζει τούτων ἕκαστον. 545 Adv. Col. 15, 1115D ὁ δ᾿ οἷα δὴ σοφίας οὐδ᾿ ἀκαρὲς ἀπέχων ὡς ἓν καὶ ταὐτὸν ἔλαβε τὸ μὴ εἶναι τὸν ἄνθρωπον καὶ τὸ εἶναι μὴ ὂν τὸν ἄνθρωπον. τῷ Πλάτωνι δὲ θαυμαστῶς ἐδόκει διαφέρειν τὸ μὴ εἶναι τοῦ μὴ ὂν εἶναι. 546 Adv. Col. 15, 1115D τῷ μὲν [sc. mit dem Begriff μὴ εἶναι] γὰρ ἀναίρεσιν οὐσίας πάσης τῷ δ᾿ [sc. mit dem Begriff μὴ ὂν εἶναι] ἑτερότητα δηλοῦσθαι [sc. nach Platons Ansicht] τοῦ μεθεκτοῦ καὶ τοῦ μετέχοντος.

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III. Hauptgespräch

Methexis stehenden Urbilder und Abbilder.547 Dasjenige, das „für sich selbst und immer das Selbe“ sei, werde „weder in Zukunft einmal nicht sein“, noch sei es „geworden“, und aus diesem Grund sei es „vollkommen und wahrhaft seiend“; demgegenüber sei dasjenige, das „durch etwas anderes ist und sich niemals auf dieselbe Weise verhält“, nicht einmal dadurch „stabil“, insofern es ihm „von etwas anderem her zukomme, am Sein Anteil zu haben.“548 Die prinzipielle Instabilität der Dinge der phänomenalen Welt bei gleichzeitiger Anteilnahme an einem seienden Urbild, mithin des durch die Methexis konstituierten heteronomen Seins eines autonom nicht seienden Dinges beschreibt Plutarch nun in Formulierungen,549 die wörtlich an die Ammoniosrede anklingen: Die Einzeldinge „treten aufgrund ihrer Schwäche aus ihren Zuständen heraus“ (ἐξίσταται δι᾿ ἀσθένειαν),550 denn „die Materie gleitet um die Form herum und empfängt viele Zustandsveränderungen und Wandlungen im Kontakt mit dem Abbild des Seins, so dass sie sich bewegt und schwankt“ (ἅτε τῆς ὕλης περὶ τὸ εἶδος ὀλισθανούσης καὶ πάθη πολλὰ καὶ μεταβολὰς ἐπὶ τὴν εἰκόνα τῆς οὐσίας, ὥστε κινεῖσθαι καὶ σαλεύεσθαι, δεχομένης).551 Auch Ammonios kennt in der prinzipiellen „Vielheit“ des Einzelmenschen im heraklitischen Fluss ein schwach identitätsstiftendintegratives Einheitsmoment, um das die Materie „herumgleitet“ (De E 18, 392D): μένει δ᾿ οὐδεὶς οὐδ᾿ ἔστιν εἷς, ἀλλὰ γιγνόμεθα πολλοί, περὶ ἕν τι φάντασμα καὶ κοινὸν ἐκμαγεῖον ὕλης περιελαυνομένης καὶ ὀλισθανούσης.                                                             

Adv. Col. 15, 1115E ἔστι δὲ τοῦ μεθεκτοῦ πρὸς τὸ μετέχον λόγος, ὃν αἰτία τε πρὸς ὕλην ἔχει καὶ παράδειγμα πρὸς εἰκόνα καὶ δύναμις πρὸς πάθος. 548 Adv. Col. 15, 1115E ᾧ γε δὴ μάλιστα τὸ καθ᾿ αὑτὸ καὶ ταὐτὸν ἀεὶ διαφέρει τοῦ δι᾿ ἕτερον καὶ μηδέποτ᾿ ὡσαύτως ἔχοντος· ὅτι τὸ μὲν οὔτ᾿ ἔσται ποτὲ μὴ ὂν οὔτε γέγονε καὶ διὰ τοῦτο πάντως καὶ ὄντως ὄν ἐστι, τὀ δ᾿ οὐδ᾿ ὅσον ἀπ᾿ ἄλλου συμβέβηκε μετέχειν τοῦ εἶναι βέβαιόν ἐστιν κτλ. R EISKEs Konjektur τῷ zu Beginn des δέ-Satzes anstatt des überlieferten τό, die Eingang in den Text von POHLENZ – WESTMAN gefunden hat, ergibt keinen Sinn, denn das Prädikat βέβαιόν ἐστιν bedarf eines Subjektes, das nur ein τό zu Beginn des Halbsatzes bilden kann. Der fehlende Dativ zu συμβέβηκε, den REISKE wohl durch seine Konjektur wiederherstellen wollte, könnte in einem nach ἄλλου ausgefallenen αὐτῷ zu suchen sein. 549 Adv. Col. 15, 1115E. 550 Zum Terminus ἐξίστασθαι in der Ammoniosrede vgl. oben, S. 272, Anm. 527. Von der „Schwäche“ der instabil-fließenden Materie ist De E 21, 393E die Rede: τῆς περὶ τὸ σωματικὸν ἀσθενείας ἐπὶ φθορὰν φερομένης. Vgl. auch Ammonios’ letztem Satz De E 21, 394C, indem er das γνῶθι σαυτόν als ὑπόμνησις … τῷ θνητῷ τῆς περὶ αὐτὸ φύσεως καὶ ἀσθενείας bezeichnet. 551 Die Übersetzung „im Kontakt mit dem Abbild des Seins“ für das schwer zu verstehende ἐπὶ τὴν εἰκόνα τῆς οὐσίας berücksichtigt die Anklänge des Passus an Plat. Tim. 52d4–e5, die Beschreibung der wechselseitigen Bewegung von Elementenabbildern und χώρα. Wie die χώρα durch ihre Qualifizierung durch die Elementenabbilder „erschüttert wird“ (σείεσθαι Tim. 52e4) und wiederum die Elementenabbilder „erschüttert“ (σείειν Tim. 52e5), so ist auch hier von einem sinnverwandten „Schwanken“ (σαλεύεσθαι) der bei Plutarch mit der platonischen χώρα äquivalenten ὕλη die Rede. 547

8. Die Rede des Ammonios

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Wie Ammonios in De E apud Delphos über den instabilen Status der menschlichen Existenz handelt, so kommt Plutarch in Adversus Colotem auf Kolotes’ eingangs als falsch erwiesenen Vorwurf zurück, Platon habe die Existenz der phänomenalen Einzeldinge, wie etwa des Menschen, geleugnet. Wer, so Plutarch, sage, Platon sei nicht identisch mit dem Abbild Platons, der wolle nicht die Möglichkeit der Wahrnehmung Platons als eines Abbildes und dessen Vorhandensein leugnen, sondern nur auf den Unterschied zwischen „etwas, das für sich ist“ und „etwas, das im Hinblick auf etwas geworden ist“, mithin auf den Unterschied zwischen idealem Urbild und phänomenalem Abbild hinweisen. Die Natur des Menschen, der mögliche Umgang mit ihm und seine Wahrnehmung würden keineswegs durch diejenigen für nichtexistent erklärt, die behaupten, dass „jeder von uns durch Teilhabe an einem gemeinsamen Sein und einer Idee geworden ist und die Ähnlichkeit des Anteilgebenden zum Werden Abbild nennen.“552 In Parmenides’ Lehre ist Platons Rede von der Methexis als Lehre von der Partizipation der Einzeldinge am Sein, die aber immer auch einen defizitären Aspekt gegenüber dem Immerseienden aufweise, bereits implizit enthalten. Parmenides ziele mithin keineswegs auf ein herabminderndes „Übersehen“ des sinnlich Wahrnehmbaren ab, sondern wolle nur nicht den Fehler begehen, das mit dem Denken Εrfassbare zu „übersehen“, das „stabiler“ und „dauerhafter auf das Sein hin“ sei, da es weder Werden noch Vergehen noch irgendeiner Form von Zustandsveränderung ausgesetzt sei. Die Scheidung von zwei ontologisch unterschiedlichen Objektklassen, den seienden Dingen auf der einen, den werdenden Dingen auf der anderen Seite, sei nur sauberer Sprachgebrauch.553 Bei allen Übereinstimmungen in der Begrifflichkeit der ontologischen Klassifizierung von phänomenaler Welt und intelligiblem Sein zeigt die Ammoniosrede freilich hinsichtlich eines sich aus der Gegenüberstellung beider Bereiche ergebenden dritten Aspektes markante Abweichungen ge                                                            

Adv. Col. 15, 1115F–1116A ὥσπερ οὖν ὁ λέγων Πλάτωνα μὴ εἶναι τὴν εἰκόνα τὴν Πλάτωνος οὐκ ἀναιρεῖ τὴν ὡς εἰκόνος αἴσθησιν αὐτῆς καὶ ὕπαρξιν, ἀλλ᾿ ἐνδείκνυται καθ᾿ αὑτό τινος ὄντος καὶ πρὸς ἐκεῖνο [Hss : ἐκεῖνον (sc. Πλάτωνα) POHLENZ] ἑτέρου γεγονότος διαφοράν, οὕτως οὔτε φύσιν οὔτε χρῆσιν οὔτ᾿ αἴσθησιν ἀνθρώπων ἀναιροῦσιν οἱ κοινῆς τινος οὐσίας μετοχῇ καὶ ἰδέας γινόμενον ἡμῶν ἕκαστον εἰκόνα τοῦ παρασχόντος τὴν ὁμοιότητα τῇ γενέσει προσαγορεύοντες. 553 Vgl. Adv. Col. 15, 1116AB ὁ δὲ [sc. Parmenides] ταῦθ᾿ ὑπάρχειν τῷ μετεσχηκέναι καὶ ὅσον ἀπολείπεται τοῦ ὄντος ἀεὶ καὶ τὸ εἶναι παρέχοντος αὐτοῖς [sc. den sinnlich wahrnehmbaren Dingen] ὑπονοῶν οὐ παρορᾷ τὸ αἰσθητὸν ἀλλ᾿ παρορᾷ τὸ νοητόν, οὐδ᾿ ἀναιρεῖ τὰ γινόμενα καὶ φαινόμενα περὶ ἡμᾶς τῶν παθῶν, ἀλλ᾿ ὅτι βεβαιότερα τούτων ἕτερα καὶ μονιμώτερα πρὸς οὐσίαν ἐστὶ τῷ μήτε γίνεσθαι μήτ᾿ ἀπόλλυσθαι μήτε πάσχειν μηθέν, ἐνδείκνυται τοῖς ἑπομένοις καὶ διδάσκει καθαρώτερον τῆς διαφορᾶς ἁπτομένους τοῖς ὀνόμασι τὰ μὲν ὄντα τὰ δὲ γινόμενα προσαγορεύειν. 552

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III. Hauptgespräch

genüber Plutarchs interpretatio Platonica der Lehre des Parmenides in Adversus Colotem: In der Frage nach einer möglichen Verbindung zwischen den beiden Seinsebenen, von deren Beantwortung wesentlich die Wertung der phänomenalen Welt abhängt. Gerade in diesem Punkt sind die unterschiedlichen Akzentsetzungen Plutarchs in Adversus Colotem und des Ammonios in De E apud Delphos so auffällig, dass gerade in dieser Differenz zwischen beiden Schriften eine Verbindung zwischen der Ammoniosrede und dem Parmenidesbild in Adversus Colotem wahrscheinlich wird, wenn auch in paradoxer Weise: Ammonios erscheint in De E apud Delphos beinahe als ein Wiedergänger des radikalen Parmenides, der gerade diejenigen ontologischen Lehren vertritt, die Plutarch in Adversus Colotem bemüht ist, als ein böswilliges Missverständnis des Kolotes zu erweisen. Strenggenommen argumentiert Ammonios in De E apud Delphos somit wie das Zerrbild, das Kolotes nach Plutarchs Meinung von Parmenides gezeichnet habe. So dient Ammonios die exemplarische Analyse der menschlichen Existenz durchweg dem Aufweis von deren absoluter Instabilität, die ihre Wertung als nichtseiend im Gegensatz zu Apollon rechtfertigen soll. Während Plutarch in Adversus Colotem Kolotes’ Behauptung über Parmenides τὸ δὲ πᾶν ἓν εἰπὼν … ζῆν ἡμᾶς κεκώλυκε keineswegs verstehen kann (οὐκ οἶδ᾿ ὅπως), ist bei Ammonios die Opposition zwischen dem Gott, dem absolute Einheit zukommt, und dem Menschen, dessen Leben sich in eine Serie unzähliger Tode auflöst, von denen jeder der Vielheit von dessen Zustandsveränderungen ein weiteres Moment hinzufügt, regelrecht Programm. Ammonios’ Flusslehre, die Plutarch noch durch eine radikalisierte Zeitanalyse dramatisiert, zielt letztlich auf diejenige vollkommene ontologische ἀναίρεσις τῶν πολλῶν καὶ αἰσθητῶν554 ab, die Plutarch in Adversus Colotem als von Kolotes unterstellte Konsequenz der parmenideischen Lehre vehement bestreitet. Während Ammonios der phänomenalen Welt und ihrem exemplarischen Vertreter, dem Menschen, schlichtweg jeden Anteil am Sein abspricht (ἡμῖν μὲν γὰρ ὄντως τοῦ εἶναι μέτεστιν οὐδέν) und seine Existenzweise zum blanken Nichtsein degradiert (εἰ δ᾿ ὁ αὐτὸς οὐκ ἔστιν, οὐδ᾿ ἔστιν), legt Plutarch in Adversus Colotem größten Wert auf die platonische Unterscheidung zwischen Nichtsein (τὸ μὴ εἶναι) und kein Seiendes sein (τὸ εἶναι μὴ ὄν) im Falle des Menschen (τὸν ἄνθρωπον), eine Unterscheidung, die Platon (und bereits implizit Parmenides), so Plutarch, deshalb getroffen habe, um das ontologische Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem vollen Sein der Idee und dem nur vermittels Anteilnahme an diesem Sein partiellen Sein der Einzeldinge, mithin auch des Menschen, hervorzuheben. Jedes Einzelding, etwa „Platon“ verdankt seine prinzipielle Integrität als ein abgeleitetes Sein der Anteilnahme an der Idee „Platon“; mag das materielle Substrat (ὕλη) Platons aufgrund seiner Schwäche (ἀσθένεια) auch nur im                                                              554

Adv. Col. 13, 1114E.

8. Die Rede des Ammonios

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denkbar geringsten Maße die Strukturierung durch die formgebende Idee „Platon“ zulassen (ἅτε τῆς ὕλης περὶ τὸ εἶδος ὀλισθανούσης καὶ πάθη πολλὰ καὶ μεταβολὰς ἐπὶ τὴν εἰκόνα τῆς οὐσίας … δεχομένης), so hat doch der konkrete Platon bei all seiner tendenziellen Instabilität am Sein des idealen Platon Anteil (ἀπ᾿ ἄλλου συμβέβηκε μετέχειν τοῦ εἶναι). Der konkrete Mensch Platon existiert überhaupt nur dadurch, dass sein materielles Substrat an einem εἶδος und einer εἰκὼν τῆς οὐσίας, mithin an etwas Seiendem, Anteil hat. 8.4 Der χώρα-Passus in Platons Timaios als Subtext der Ammoniosrede Bei aller bereits festgestellten inhaltlichen und begrifflichen Nähe zwischen den Formulierungen, mit denen Plutarch in Adversus Colotem das MethexisVerhältnis zwischen Idee und Einzelding erklärt, und Ammonios’ Aussage in De E apud Delphos, in der prinzipiellen „Vielheit“ des Einzelmenschen gebe es ein immerhin schwach identitätsstiftend-integratives Einheitsmoment, um das die Materie „herumgleitet“,555 fällt doch ein entscheidender Unterschied auf: Während Plutarch in Adversus Colotem das Ideenabbild in der Materie mit der klassischen Terminologie der platonischen Ideenlehre als εἶδος und εἰκὼν τῆς οὐσίας bezeichnet, verwendet Ammonios eine andere platonische Begrifflichkeit, wenn er das Einheitsmoment in der „Vielheit“ des Menschen als ἕν τι φάντασμα καὶ κοινὸν ἐκμαγεῖον bezeichnet. Wie zu zeigen ist, handelt es sich hierbei um eine Terminologie, die Platon im Timaios zur Beschreibung vorkosmischer Entitäten und deren vorkosmischer Interaktion, noch vor dem ordnenden Eingriff des Demiurgen, verwendet. Die Ammoniosrede verdankt ihre negative Radikalität hinsichtlich des Verhältnisses von Sein und Werden bei aller sonstigen Nähe zu Plutarchs interpretatio Platonica des Parmenides in Adversus Colotem dem Umstand, dass Plutarch der Ammoniosrede nicht wie in Adversus Colotem Platons Relation zwischen Sein und Werden nach der demiurgischen Weltordnung zugrundegelegt hat, sondern Platons Ausführungen über den vorkosmischen Zustand der Materie und der in sie eingehenden Elementenqualitäten, für deren Umschreibung er die Begriffe ἐκμαγεῖον und φάντασμα gebraucht. Als Subtext556 nicht nur der Kapitel 18–20, sondern der gesamten Ammoniosrede einschließlich ihres Schlusskapitels lässt sich Platons χώρα-Passus in Timaios 47e3–52b5 nachweisen, der die ontologische Theorie bereitstellt, vermittels der Plutarch die Kluft zwischen einem                                                             

De E 18, 392D μένει δ᾿ οὐδεὶς οὐδ᾿ ἔστιν εἷς, ἀλλὰ γιγνόμεθα πολλοί, περὶ ἕν τι φάντασμα καὶ κοινὸν ἐκμαγεῖον ὕλης περιελαυνομένης καὶ ὀλισθανούσης. 556 Auf die Bedeutung des Timaios für ein vertieftes Verständnis der Ammoniosrede hat mich ein Hinweis von Christoph Helmig, Berlin, während der 7. Tagung der Academia Platonica Monasteriensis (Berlin, 2007) auf die Provenienz der Formulierung ἁμωσγέπως gebracht: Ihm sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt. 555

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III. Hauptgespräch

parmenideisch charakterisierten Sein und einem heraklitisch beschriebenen Werden in einer für sein Gesamtwerk singulären Weise vertieft hat. 8.4.1 Die χώρα im Timaios und der heraklitische Fluss im 18. Kapitel von De E apud Delphos An Ammonios’ Beschreibung der menschlichen Existenz im 18. Kapitel von De E apud Delphos fällt sowohl im Vergleich mit der oben557 als beispielhaft für eine platonische Differenzierung zweier Stufen der Realität angeführten Anfangsunterscheidung in Timaios 27d5–28a4 zwischen dem intelligiblen Sein und dem sinnlich wahrnehmbaren Werden als auch im Vergleich mit der Darstellung der parmenideisch-platonischen Differenzierung zwischen den beiden Ebenen des seienden νοητόν und des werdenden δοξαστόν in Adversus Colotem auf, dass der Redner an keiner Stelle davon spricht, der Mensch könne als exemplarische θνητὴ φύσις mit dem orthodox-platonischen Erkenntnismittel der αἴσθησις erfasst werden, oder dass es möglich sei, sich immerhin eine δόξα über ihn zu bilden. Ammonios thematisiert die αἴσθησις nur insoweit, als der Mensch selbst „in Unkenntnis des Seienden“ seiner sinnlichen Wahrnehmung „erscheinende“ Objekte fälschlich für seiend erachte.558 Die Argumentation des Ammonios gegen eine Teilhabe des Menschen am Sein betont hingegen eingangs, dass der Mensch selbst zu einer Kategorie von Objekten gehört, über die als bloße Scheinbilder nicht einmal eine halbwegs verlässliche δόκησις zu erlangen ist: Jede θνητὴ φύσις „bietet nur ein Trugbild und eine trübe und unzuverlässige Erscheinung ihrer selbst“.559 Den eigentlichen Nachweis der fehlenden Teilhabe des Menschen am Sein führt Ammonios durch eine Darlegung des Scheiterns des Denkens (διάνοια, λόγος) bei den Versuchen, ein exaktes Wissen über Exemplare der θνητὴ φύσις, wie etwa den Menschen, zu erlangen: Da jede θνητὴ φύσις immer zwischen Werden und Vergehen steht, „gleitet“ der λόγος bei dem Versuch „ab“, „allzu große Evidenz“ über sie zu „erjagen“ und erfasst nur                                                              557

Vgl. oben, S. 269f. De E 18, 392E ψεύδεται δ᾿ ἡ αἴσθησις ἀγνοίᾳ τοῦ ὄντος εἶναι τὸ φαινόμενον. Vgl. OPSOMER (2009) 153 „This text is quite explicit about the fact that it is the state of the world itself which makes knowledge of it impossible. Neither the weakness of the senseorgans nor the fallibility of the human mind are held to be chiefly responsible for our lack of knowledge.“ Zu dem oben zitierten Satz ibid., Anm. 138 „The exception is the sentence […], but here the meaning cannot be that the sense-organs present us with an inaccurate picture, but rather that we misjudge the information they provide as if it were telling us something about being. The word αἴσθησις here takes on a broader meaning than is usual in Platonic usage, where it is mostly strictly distinguished from reason.“ 559 De E 18, 392A ἡμῖν μὲν γὰρ ὄντως τοῦ εἶναι μέτεστιν οὐδέν, ἀλλὰ πᾶσα θνητὴ φύσις ἐν μέσῳ γενέσεως καὶ φθορᾶς γενομένη φάσμα παρέχει καὶ δόκησιν ἀμυδρὰν καὶ ἀβέβαιον αὑτῆς. 558

8. Die Rede des Ammonios

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Prozesse von Werden und Vergehen, nie aber etwas „Bleibendes und wahrhaft Seiendes“.560 Jeder vergebliche „Griff“ des Denkens nach Exaktheit bezüglich einer θνητὴ φύσις wird dann mit dem heraklitischen Flusswort „es ist nämlich nicht möglich, zweimal in den selben Fluss zu steigen“ illustriert, dementsprechend man „ein sterbliches Wesen nicht zweimal im selben Zustand greifen“ könne, da es sich „in der Raschheit und Geschwindigkeit seiner Wandlung zerstreut und sich wieder sammelt“; noch drastischer: man könne nicht von einem „wieder“ oder einem „später“ in dieser Wandlung reden, sondern „zugleich tritt es zusammen und löst sich, kommt hinzu und geht davon.“561 Ein „Durchdringen zum Sein“ ist dem Werden des sterblichen Wesens nicht möglich,562 da es den Werdeprozess niemals beenden oder aufhalten kann: Aus dem Embryo wird es zum Säugling, zum Kind, zum Jugendlichen, zum jungen Mann, zum Mann, schließlich zum Greis, wobei jede Entstehung eines Neuen zugleich die Vernichtung des Alten darstellt.563 Dieses unausgesetzte Sterben malt Ammonios wiederum drastisch aus: Die menschliche Angst vor dem Tod ist lächerlich angesichts der unzähligen Tode, aus denen das Leben im ständigen Werden besteht. Wieder wird Heraklit zitiert, der „den Tod des Feuers als Geburt der Luft, den Tod der Luft als Geburt des Wassers“ bezeichnet hat, ein Phänomen, das sich „bei                                                             

560 De E 18, 392B ἂν δὲ τὴν διάνοιαν ἐπερείσῃς λαβέσθαι βουλόμενος, ὥσπερ ἡ σφοδρὰ περίδραξις ὕδατος τῷ πιέζειν καὶ εἰς ταὐτὸ συνάγειν διαρρέον ἀπόλλυσι τὸ περιλαμβανόμενον, οὕτω τῶν παθητῶν καὶ μεταβλητῶν ἑκάστου τὴν ἄγαν ἐνάργειαν ὁ λόγος διώκων ἀποσφάλλεται τῇ μὲν εἰς τὸ γιγνόμενον αὐτοῦ τῇ δ᾿ εἰς τὸ φθειρόμενον, οὐδενὸς λαβέσθαι μένοντος οὐδ᾿ ὄντως ὄντος δυνάμενος. 561 De E 18, 392B ποταμῷ γὰρ οὐκ ἔστιν ἐμβῆναι δὶς τῷ αὐτῷ καθ᾿ Ἡράκλειτον (frg. 91) οὐδὲ θνητῆς οὐσίας δὶς ἅψασθαι κατὰ ἕξιν· ἀλλ᾿ ὀξύτητι καὶ τάχει μεταβολῆς σκίδνησι καὶ πάλιν συνάγει, μᾶλλον δ᾿ οὐδὲ πάλιν οὐδ᾿ ὕστερον ἀλλ᾿ ἅμα συνίσταται καὶ ἀπολείπει καὶ πρόσεισι καὶ ἄπεισιν. Im Timaios beschreibt die Vorstellung eines „Hinzugehens“ und „Davongehens“ die Wandlungen des menschlichen Körpers (42a4 τὸ μὲν προσίοι, τὸ δ᾿ ἀπίοι τῶν σωμάτων), in den die Seelen inkarniert werden (vgl. auch 43a5–6 ἐπίρρυτον σῶμα καὶ ἀπόρρυτον). Plutarch erwähnt in De comm. not. 44, 1083B dieselbe Konzeption als Lehre der Akademiker von der ständigen γένεσις und φθορά im körperlichen Bereich gegen die Ansicht, es existierte Wachstum und Schwund im Körper: τὰς ἐν μέρει πάσας οὐσίας ῥεῖν καὶ φέρεσθαι, τὰ μὲν ἐξ αὑτῶν μεθιείσας τὰ δέ ποθεν ἐπιόντα προσδεχομένας· οἷς δὲ πρόσεισι καὶ ἄπεισιν ἀριθμοῖς ἢ πλήθεσι, ταὐτὰ μὴ διαμένειν ἀλλ᾿ ἕτερα γίνεσθαι, ταῖς εἰρημέναις προσόδοις ἐξαλλαγὴν τῆς οὐσίας λαμβανούσης· αὐξήσεις δὲ καὶ φθίσεις οὐ κατὰ δίκην ὑπὸ συνηθείας ἐκνενικῆσθαι τὰς μεταβολὰς ταύτας λέγεσθαι, γενέσεις [δὲ] καὶ φθορὰς μᾶλλον αὐτὰς ὀνομάζεσθαι προσῆκον, ὅτι τοῦ καθεστῶτος εἰς ἕτερον ἐκβιβάζουσι. 562 Eine Anspielung auf Plat. Phil. 26d8 γένεσις εἰς οὐσίαν, vgl. OPSOMER (2009) 150. 563 De E 18, 392C ὅθεν οὐδ᾿ εἰς τὸ εἶναι περαίνει τὸ γιγνόμενον αὐτῆς τῷ μηδέποτε λήγειν μηδ᾿ ἵστασθαι τὴν γένεσιν, ἀλλ᾿ ἀπὸ σπέρματος ἀεὶ μεταβάλλουσαν ἔμβρυον ποιεῖν εἶτα βρέφος εἶτα παῖδα, μειράκιον ἐφεξῆς, νεανίσκον, εἶτ᾿ ἄνδρα, πρεσβύτην, γέροντα, τὰς πρώτας φθείρουσαν γενέσεις καὶ ἡλικίας ταῖς ἐπιγιγνομέναις.

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III. Hauptgespräch

uns selbst“ noch deutlicher zeige, da der Übergang von einem Lebensalter zum nächsten – ja sogar von einem Lebenstag zum anderen – jedes Mal einem Tod gleichkomme.564 Aus dieser Diagnose folgert Ammonios zunächst die später mit der Einheit des Seins des Gottes kontrastierte Vielheit des Menschen („niemand bleibt oder ist einer, sondern wird werden viele“) und erklärt dies folgendermaßen: „indem um ein Scheinbild und eine gemeinsame Prägemasse die Materie herumwirbelt und abgleitet“.565 Ammonios beschließt seine Ausführungen über das sterbliche Wesen des Menschen mit Argumenten gegen seine dauerhafte Identität angesichts sich ständig ändernder Vorlieben und Werthaltungen und leitet aus diesem Fehlen einer Identität wiederum das Nichtsein des Menschen ab („wenn er aber nicht der selbe ist, ist er auch nicht“).566 Ammonios’ Ausführungen decken sich in einigen Motiven mit zwei Abschnitten aus Senecas 58. Brief und Philons De Iosepho567: Mit ersterem                                                             

564 De E 18, 392CD ἀλλ᾿ ἡμεῖς ἕνα φοβούμεθα γελοίως θάνατον, ἤδη τοσούτους τεθνηκότες καὶ θνήσκοντες. οὐ γὰρ μόνον, ὡς Ἡράκλειτος (frg. 76) ἔλεγε, πυρὸς θάνατος ἀέρι γένεσις, καὶ ἀέρος θάνατος ὕδατι γένεσις, ἀλλ᾿ ἔτι σαφέστερον ἐπ᾿ αὐτῶν ἡμῶν φθείρεται μὲν ὁ ἀκμάζων γινομένου γέροντος, ἐφθάρη δ᾿ ὁ νέος εἰς τὸν ἀκμάζοντα, καὶ ὁ παῖς εἰς τὸν νέον, εἰς δὲ τὸν παῖδα τὸ νήπιον· ὅ τ᾿ ἐχθὲς εἰς τὸν σήμερον τέθνηκεν, ὁ δὲ σήμερον εἰς τὸν αὔριον ἀποθνήσκει. 565 De E 18, 392D μένει δ᾿ οὐδεὶς οὐδ᾿ ἔστιν εἷς, ἀλλὰ γιγνόμεθα πολλοί, περὶ ἕν τι φάντασμα καὶ κοινὸν ἐκμαγεῖον ὕλης περιελαυνομένης καὶ ὀλισθανούσης. Vgl. dazu auch oben, S. 276 und 278f. 566 De E 18, 392DE ἐπεὶ πῶς οἱ αὐτοὶ μένοντες ἑτέροις χαίρομεν νῦν, ἑτέροις πρότερον, τἀναντία φιλοῦμεν καὶ μισοῦμεν καὶ θαυμάζομεν καὶ ψέγομεν, ἄλλοις χρώμεθα λόγοις ἄλλοις πάθεσιν, οὐκ εἶδος οὐ μορφὴν οὐ διάνοιαν ἔτι τὴν αὐτὴν ἔχοντες; οὔτε γὰρ ἄνευ μεταβολῆς ἕτερα πάσχειν εἰκός, οὔτε μεταβάλλων ὁ αὐτός ἐστιν· εἰ δ᾿ ὁ αὐτὸς οὐκ ἔστιν, οὐδ᾿ ἔστιν, ἀλλὰ τοῦτ᾿ αὐτὸ μεταβάλλει γιγνόμενος ἕτερος ἐξ ἑτέρου. 567 Vgl. OPSOMER (2009) 165f. Sen. Ep. 58, 22–23 Quaecumque videmus aut tangimus Plato in illis non numerat quae esse proprie putat; fluunt enim et in adsidua deminutione atque adiectione sunt. Nemo nostrum idem est in senectute qui fuit iuvenis; nemo nostrum est idem mane, qui fuit pridie. Corpora nostra rapiuntur fluminum more. Quicquid vides currit cum tempore; nihil ex iis quae videmus, manet; ego ipse, dum loquor mutari ista, mutatus sum. Hoc est quod ait Heraclitus: ‚in idem flumen bis descendimus et non descendimus‘. Manet enim idem fluminis nomen, aqua transmissa est. Hoc in amne manifestius est quam in homine; sed nos quoque non minus velox cursus praetervehit, et ideo admiror dementiam nostram, quod tantopere amamus rem fugacissimam, corpus, timemusque, ne quando moriamur, cum omne momentum mors prioris habitus sit: vis tu non timere, ne semel fiat, quot cotidie fit! Phil. Ios. 12, 126–128 … οὕτω καὶ τῶν παρ᾿ ἡμῖν ἐγρηγορότων αἱ φαντασίαι τοῖς ἐνυπνίοις ἐοίκασιν· ἦλθον, ἀπῆλθον, ἐφάνησαν, ἀπεπήδησαν, πρὶν καταληφθῆναι βεβαίως ἀπέπτησαν. ἐρευνησάτω δ᾿ ἕκαστος αὑτὸν καὶ τὸν ἔλεγχον οἴκοθεν ἄνευ τῶν παρ᾿ ἐμοῦ πίστεων εἴσεται, καὶ μάλιστ᾿ εἴ τις πρεσβύτερος ἤδη γεγονὼς τυγχάνοι· οὗτος ἦν ὁ ποτὲ βρέφος καὶ μετὰ ταῦτα παῖς, εἶτ᾿ ἔφηβος, εἶτα μειράκιον, καὶ νεανίας αὖθις, εἶτ᾿ ἀνήρ, καὶ γέρων ὕστατον. ἀλλὰ ποῦ πάντ᾿ ἐκεῖνα; οὐκ ἐν μὲν παιδὶ τὸ βρέφος ὑπεξῆλθεν, ὁ δὲ παῖς ἐν παρήβῳ, ὁ δ᾿ ἔφηβος ἐν μειρακίῳ, τὸ δὲ μειράκιον ἐν νεανίᾳ, ἐν ἀνδρὶ δ᾿ ὁ νεανίας, ἀνὴρ δ᾿ ἐν γέροντι, γήρᾳ δ᾿ ἕπεται τελευτή;

8. Die Rede des Ammonios

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teilen sie die Vorstellung, der Mensch habe kein wahrhaftes Sein, verändere sich ständig, stehe im heraklitischen Fluss und erleide in der Sukzession seiner Altersstufen unzählige Tode; bei Philon wird ebenfalls die Todesmetapher für den Wechsel der Altersstufen angeführt. Die beiden Parallelen unterscheiden sich freilich in demselben Punkt von Ammonios’ Gedankengang wie die eingangs angeführten Passagen aus dem Timaios und aus Adversus Colotem: Es ist jeweils die Sinneswahrnehmung, in der sich nach Seneca (quaecumque videmus aut tangimus) und Philon (αἱ φαντασίαι) die Instabilität und Hinfälligkeit des menschlichen Wesens zeigt, nicht jedoch seine Unerfassbarkeit durch λόγος und διάνοια wie in den Worten des Ammonios. Dessen Ausführungen weichen zudem von der ausführlicheren Parallele Seneca noch insofern ab, als sie zwei zusätzliche Elemente enthalten: Zum einen das zweite Heraklitzitat vom „Tod des Feuers bei der Geburt der Luft und dem Tod der Luft bei der Geburt des Wassers“; zum anderen in der komplizierten Begründung für die Vielheit des Menschen aus einem „Herumwirbeln und Abgleiten“ der Materie um „ein Scheinbild und eine gemeinsame Prägemasse.“ Beide Abweichungen lassen einen Schluss auf das philosophische Material zu, das Plutarch im 18. Kapitel von De E apud Delphos zur Charakteristik des Nichtseins des Menschen verarbeitet hat. OPSOMER hat darauf hingewiesen, dass Ammonios trotz eines scheinbaren Bezuges auf die Grundunterscheidung aus Tim. 27d5–28a4 zwischen ὄν und γένεσις die Weltseele des Timaios als eine vermittelnde Instanz zwischen Sein und Werden, παράδειγμα und κόσμος nicht rezipiert, und die Vermutung angestellt, die Motive des Redners für diese Ausblendung zugunsten einer größeren Kluft zwischen den beiden Ebenen der Wirklichkeit könnten einerseits rhetorischer Natur sein, andererseits der Hervorhebung des seienden Gottes dienen.568 Unter einer Vielzahl von möglichen Subtexten zu Ammonios’ Darstellung der Welt des Werdens gibt OPSOMER einen Hinweis auf eine Passage in Platons Timaios, ohne die Parallelen mit diesem Abschnitt eingehend zu diskutieren, deren Verwendung durch Plutarch erklären kann, wieso Ammonios die Rolle der Weltseele außer Acht lässt:                                                              τάχα μέντοι τάχα καὶ τῶν ἡλικιῶν ἑκάστη παραχωροῦσα τοῦ κράτους τῇ μεθ᾿ ἑαυτὴν προαποθνῄσκει, τῆς φύσεως ἡμᾶς ἀναδιδασκούσης ἡσυχῇ μὴ δεδιέναι τὸν ἐπὶ πᾶσι θάνατον, ἐπειδὴ τοὺς προτέρους εὐμαρῶς ἠνέγκαμεν, τὸν βρέφους, τὸν παιδός, τὸν ἐφήβου, τὸν μειρακίου, τὸν νεανίου, τὸν ἀνδρός, ὧν οὐδεὶς ἔτ᾿ ἐστὶ γήρως ἐπιστάντος. 568 OPSOMER (2009) 149 „In the middle part “Ammonius” gives a characterisation, first of becoming, then of being. The fundamental dichotomy is that stated at the beginning of the physical account of Plato’s Timaeus: on the one hand, there is that which becomes and has no share in being, on the other, that which is always, and has no part in becoming (Tim., 27 d 5–28 a 1). In his speech “Ammonius” disregards the mediating role of the soul, introduced later in the Timaeus. Probably he sticks with the dichotomy for the sake of rhetorical contrast, but also because it allows him to accentuate the excellence of being, i.e. of god.“ [Hervorhebungen im Original]

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III. Hauptgespräch

Platons Ausführungen über das dritte Genos neben ὄν und γένεσις, die χώρα in Tim. 47e3–53c2.569 Platon beschreibt die χώρα als das Materieprinzip und dessen Qualifizierung durch die Abbilder der Elemente in einem Prozess, der eindeutig vor der Entstehung des Kosmos570 und vor dem ordnenden Eingriff des Demiurgen,571 also auch vor der Schaffung der Weltseele liegt. Ammonios’ Darstellung des menschlich-sterblichen Wesens weist das Paradox auf, dass sie den Menschen, einen Teil des Kosmos, in einem vorkosmischen Zustand beschreibt und ihn mit den Eigenschaften der χώρα und ihrer noch nicht durch Zahlenverhältnisse strukturierten Interaktion mit den Elementenabbildern versieht. Die γένεσις, von der Ammonios redet, ist strenggenommen nicht das Werk des Demiurgen, sondern das Ergebnis von chaotischen Prozessen, die zwischen dem ὄν und der χώρα vor der Ordnung des Kosmos ablaufen. Ammonios’ Fixierung auf die Schwierigkeit, ein sterbliches Wesen mit dem Denken zu erkennen, seine Einführung des Heraklitzitates von Tod und Geburt der Elemente sowie seine Rede von φάντασμα und ἐκμαγεῖον stellen allesamt zentrale Gedanken der Behandlung der χώρα und ihrer unstrukturierten Interaktion mit den Elementenabbildern im Timaios dar. So betont Platon unmittelbar vor der ersten Beschreibung der χώρα als „Gefäß“ (ὑπο-

                                                             569

OPSOMER (2009) 164 „The account of the flux is also reminiscent of Plato’s description of the equally ungraspable chôra in the Timaeus.“ 570 Plat. Tim. 48b3–5 τὴν δὴ πρὸ τῆς οὐρανοῦ γενέσεως πυρὸς ὑδατός τε καὶ ἀέρος καὶ γῆς φύσιν θεατέον αὐτὴν καὶ τὰ πρὸ τούτου πάθη. 571 Plat. Tim. 53a7–b5 καὶ τὸ μὲν δὴ πρὸ τούτου πάντα ταῦτ᾿ εἶχεν ἀλόγως καὶ ἀμέτρως· ὅτε δ᾿ ἐπεχειρεῖτο [sc. der Demiurg] κοσμεῖσθαι τὸ πᾶν, πῦρ πρῶτον καὶ ὕδωρ καὶ γῆν καὶ ἀέρα, ἴχνη μὲν ἔχοντα αὑτῶν ἄττα, παντάπασί γε μὴν διακείμενα ὥσπερ εἰκὸς ἔχειν ἅπαν ὅταν ἀπῇ τινος θεός, οὕτω δὴ τότε πεφυκότα ταῦτα πρῶτον διεσχηματίσατο εἴδεσί τε καὶ ἀριθμοῖς. Schon eingangs des Abschnittes über die χώρα markiert Platon seinen Neuansatz: Die bisherigen Ausführungen galten „dem durch die Vernunft Geschaffenen“, dem nun der Aspekt des „durch Notwendigkeit Werdenden“ hinzugefügt werden soll; das Ordnungswerk des Demiurgen besteht in der „Überredung“ jener Notwendigkeit (Plat. Tim. 47e3– 48a5): τὰ μὲν οὖν παρεληλυθότα τῶν εἰρημένων πλὴν βραχέων ἐπιδέδεικται τὰ διὰ νοῦ δεδημιουργημένα· δεῖ δὲ καὶ τὰ δι᾿ ἀνάγκης γιγνόμενα τῷ λόγῳ παραθέσθαι. μεμειγμένη γὰρ οὖν ἡ τοῦδε τοῦ κόσμου γένεσις ἐξ ἀνάγκης τε καὶ νοῦ συστάσεως ἐγεννήθη· νοῦ δὲ ἀνάγκης ἄρχοντος τῷ πείθειν αὐτὴν τῶν γιγνομένων τὰ πλεῖστα ἐπὶ τὸ βέλτιστον ἄγειν, ταύτῃ κατὰ ταῦτά τε δι᾿ ἀνάγκης ἡττωμένης ὑπὸ πειθοῦς ἔμφρονος οὕτω κατ᾿ ἀρχὰς συνίστατο τόδε τὸ πᾶν. Vgl. CORNFORD (1937) 159 „If we consider the plan of the whole discourse, we see that Plato, who has hitherto been looking at the world, as it were, from above, and following the procedure of intelligence as it introduces order into chaos, now shifts to the opposite pole and approaches the world from the dark abyss that confronted its maker. Step by step he analyses those elements which were pictured at the outset as ‘taken over’ by the Demiurge – ‘all that was visible, not at rest, but in discordant and unordered motion’ (30A).“

8. Die Rede des Ammonios

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δοχή) und „Amme“ (τιθήνη) allen Werdens die Schwierigkeit und „Trübheit“ – es fällt, wie bei Ammonios, der Begriff ἀμυδρός572 – des Gegenstandes für eine Behandlung durch den λόγος;573 der Versuch, über jenes „Gefäß“ und jene „Amme“ „deutlicher“ (ἐναργέστερον) zu reden – Ammonios spricht von der Problematik, mit dem λόγος eine ἐνάργεια über die θνητὴ φύσις zu erlangen574 – erhöht die Schwierigkeit noch, da eine Untersuchung über die Elemente vorauszugehen habe; ein „glaubhafter und zuverlässiger λόγος“ – wie bei Ammonios wird das βέβαιον in Frage gestellt575 – über die exakte Bestimmung eines konkreten, sich in der χώρα materialisierenden Elementes und seine Abgrenzung von einem anderen sei äußerst heikel.576 Platon führt im Anschluss die Schwierigkeit von Identifizierung und Abgrenzung der Elemente auf deren Eigenschaft zurück, in zirkulärer Weise unausgesetzt ineinander überzugehen: Wasser verfestigt sich zu Erde und verdünnt sich zu Luft, Luft erhitzt sich zu Feuer und Feuer kühlt sich zu Luft ab, Luft verdichtet sich zu Wasser und Wasser wiederum zu Erde.577 In Ammonios’ Ausführungen beschreibt der Übergang der Elemente ineinander das Wesen der θνητὴ φύσις: Feuer zu Luft, Luft zu Wasser. Wenn Plutarch Ammonios die im Timaios ausgedrückte Vorstellung durch ein Heraklitzitat gleichen Inhaltes ausdrücken lässt, so geschieht dies einerseits im Dienste der Einbettung des Gedankens in den Argumentationsablauf, denn Heraklit war bereits zuvor für das Bild des Flusses angeführt worden; andererseits ermöglicht ihm die im Vergleich zum Timaios drastischere Rede Heraklits vom „Tod“ der Elemente beim Übergang ineinander – Platon spricht nur von γένεσις – die bruchlose Einfügung der Elementenlehre in Ammonios’ Charakterisierung des menschlichen Lebens als einer Sukzession unzähliger „Tode“ beim Übergang von einer Lebensstufe in eine andere.578                                                             

Vgl. De E 18, 392A. Plat. Tim. 49a3–4 νῦν δὲ ὁ λόγος ἔοικεν εἰσαναγκάζειν χαλεπὸν καὶ ἀμυδρὸν εἶδος ἐπιχειρεῖν λόγοις ἐμφανίσαι. 574 Vgl. De E 18, 392B. 575 Vgl. De E 18, 392A. 576 Plat. Tim. 49a6–b5 εἴρηται μὲν οὖν τἀληθές, δεῖ δὲ ἐναργέστερον εἰπεῖν περὶ αὐτοῦ, χαλεπὸν δὲ ἄλλως τε καὶ διότι προαπορηθῆναι περὶ πυρὸς καὶ τῶν μετὰ πυρὸς ἀναγκαῖον τούτου χάριν· τούτων γὰρ εἰπεῖν ἕκαστον ὁποῖον ὄντως ὕδωρ χρὴ λέγειν μᾶλλον ἢ πῦρ, καὶ ὁποῖον ὁτιοῦν μᾶλλον ἢ καὶ ἅπαντα καθ᾿ ἕκαστόν τε, οὕτως ὥστε τινὶ πιστῷ καὶ βεβαίῳ χρήσασθαι λόγῳ, χαλεπόν. 577 Plat. Tim. 49b7–c4 πρῶτον μέν, ὃ δὴ νῦν ὕδωρ ὠνομάκαμεν, πηγνύμενον ὡς δοκοῦμεν λίθους καὶ γῆν γιγνόμενον ὁρῶμεν, τηκόμενον δὲ καὶ διακρινόμενον αὖ ταὐτὸν τοῦτο πνεῦμα καὶ ἀέρα, συγκαυθέντα δὲ ἀέρα πῦρ, ἀνάπαλιν δὲ συγκριθὲν καὶ κατασβεσθὲν εἰς ἰδέαν τε ἀπιὸν αὖθις ἀέρος πῦρ, καὶ πάλιν ἀέρα συνιόντα καὶ πυκνούμενον νέφος καὶ ὁμίχλην, ἐκ δὲ τούτων ἔτι μᾶλλον συμπιλουμένων ῥέον ὕδωρ, ἐξ ὕδατος δὲ γῆν καὶ λίθους αὖθις, κύκλον τε οὕτω διαδιδόντα εἰς ἄλληλα, ὡς φαίνεται, τὴν γένεσιν. 578 Zur gedanklichen Nähe zwischen Platon und Heraklit in der Vorstellung von ineinander übergehenden Qualitäten vgl. CORNFORD (1937) 178 „This question [sc. what this 572 573

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III. Hauptgespräch

Dass sich die Ammoniosrede jedoch substanziell auf den χώρα-Passus des Timaios bezieht, zeigen weitere Parallelen zwischen dem 18. Kapitel von De E apud Delphos und dem Timaios. „Die bei weitem sicherste“ Art, über die Elemente angesichts ihres ständigen Gestaltwandels in der χώρα zu reden, ist nach Platon diejenige, niemals bei einem „bald so, bald so werdenden“ Feuer oder Wasser die Bezeichnung „dieses“ zu verwenden, sondern immer nur von einem „so beschaffenen“ zu reden, um ihm nicht fälschlich „Zuverlässigkeit“ (wieder: βεβαιότης) zuzusprechen, denn: „Vor der Bezeichnung „das“ und „dieses“ und „auf diese Weise“ und vor jeder Bezeichnung, die sie (sc. die Elemente) als bleibend im Sinne von seiend (μόνιμα ὡς ὄντα) anzeigt, „fliehen“ sie (φεύγει) und „entziehen sich“ ihr (οὐχ ὑπομένει).“579 Bei Ammonios finden sich die gleichen Gedanken und zu Platons Fluchtmetaphern komplementäre Jagdmetaphern zur Illustration des Existenzmodus des Menschen: „Das Denken gleitet bei dem Versuch, die äußerste Deutlichkeit über jedes leidensfähige und wandelbare Ding zu „erjagen“ (διώκων) bald in dessen Werden, bald in dessen Vergehen ab und „kann nichts bleibendes oder wahrhaft seiendes fassen“ (οὐδενὸς λαβέσθαι μένοντος οὐδ᾿ ὄντως ὄντος δυνάμενος).580 Wenig später stellt Ammonios fest, dass „das Werdende an ihr (sc. der θνητὴ οὐσία) nicht zum Sein durchdringt, da das Werden niemals aufhört oder zum Stillstand kommt“ (μηδέποτε λήγειν μηδ᾿ ἵστασθαι), sondern „sich wandelnd“ (μεταβάλλουσαν) die unausgesetzte Entwicklung vom Embryo bis zum Greis durchläuft.581 Platon illustriert die Wandlungen der Elemente in der χώρα mit einem Handwerkergleichnis, das wiederum „die sicherste Art und Weise“ einer Aussage über jene zeigen soll: „Wenn nämlich jemand alle Formen aus Gold bildete und nicht aufhörte, jedes in jedes umzuformen (μηδὲν μεταπλάττων παύοιτο ἕκαστα εἰς ἕκαστα), und jemand zeigte auf eines von                                                             

Receptacle of eidola can be] is first approached by a consideration of fire, air, etc., as the contents of the Receptacle. The point is that these are not permanent irreducible elements, not ‘things’ with a constant nature. […]. Plato’s position was nearer to that of Heraclitus, who alone had rejected the notion of substance underlying change and had taught the complete transformation of every form of body into every other. We are now to think of qualities which are not also ‘things’ or substances, but transient appearances in the Receptacle.“ 579 Plat. Tim. 49c7–e7 οὕτω δὴ τούτων οὐδέ ποτε τῶν αὐτῶν ἑκάστων φανταζομένων, ποῖον αὐτῶν ὡς ὂν ὁτιοῦν τοῦτο καὶ οὐκ ἄλλο παγίως διισχυριζόμενος οὐκ αἰσχυνεῖταί τις ἑαυτόν; οὐκ ἔστιν, ἀλλ᾿ ἀσφαλέστατα μακρῷ περὶ τούτων τιθεμένους ὧδε λέγειν· ἀεὶ ὃ καθορῶμεν ἄλλοτε ἄλλῃ γιγνόμενον, ὡς πῦρ, μὴ τοῦτο ἀλλὰ τὸ τοιοῦτον ἑκάστοτε προσαγορεύειν πῦρ, μηδὲ ὕδωρ τοῦτο ἀλλὰ τὸ τοιοῦτον ἀεί, μηδὲ ἄλλο ποτὲ μηδὲν ὥς τινα ἔχον βεβαιότητα, ὅσα δεικνύντες τῷ ῥήματι τῷ τόδε καὶ τοῦτο προσχρώμενοι δηλοῦν ἡγούμεθά τι· φεύγει γὰρ οὐχ ὑπομένον τὴν τοῦ τόδε καὶ τοῦτο καὶ τὴν τῷδε καὶ πᾶσαν ὅση μόνιμα ὡς ὄντα αὐτὰ ἐνδείκνυται φάσις. 580 De E 18, 392B. 581 De E 18, 392C.

8. Die Rede des Ammonios

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ihnen und fragte, was es denn sei, so ist es bei weitem hinsichtlich der Wahrheit am sichersten zu sagen, es sei Gold, hingegen niemals das Dreieck und alle anderen entstandenen Formen als seiende zu bezeichnen, da sie ja schon während einer solchen Feststellung sich ändern, sondern zufrieden zu sein, wenn jemand mit Sicherheit die Aussage ‚ein so beschaffenes‘ gelten lassen will.“582 Der unausgesetzten Eigendynamik des Wandels der sterblichen Wesen (μηδέποτε λήγειν μηδ᾿ ἵστασθαι) in Ammonios’ Worten entspricht in Platons Gleichnis die unaufhörliche Tätigkeit des Goldbildners (μηδὲν μεταπλάττων παύοιτο); wie Ammonios einleitend dem sich wandelnden sterblichen Wesen das Sein abspricht, so geht es nach Platon nicht an, eine der gebildeten Formen als seiend zu bezeichnen (λέγειν ταῦτα ὡς ὄντα). Schließlich vervollständigt sich das Bild der Parallelen zwischen dem 18. Kapitel von De E apud Delphos und dem χώρα-Passus des Timaios zum Eindruck einer systematischen Adaption Platons durch Plutarch, wenn Ammonios den schwachen Aspekt der Einheit jedes Menschen in der Vielheit seiner Wandlungen beschreibt, bei dessen Terminologie eine entscheidende Differenz zwischen der orthodoxen Methexislehre in Adversus Colotem und der Ammoniosrede zu Tage tritt.583 Ammonios’ Formulierung περὶ ἕν τι φάντασμα καὶ κοινὸν ἐκμαγεῖον ὕλης περιελαυνομένης καὶ ὀλισθανούσης greift direkt Platons Beschreibung der χώρα als des „Raumes“ auf, in dem sich die Elementenübergänge vollziehen. Im Handwerkergleichnis entspricht dem Gold, aus dem die verschiedenen Formen gebildet werden, Platons drittes Genos des „Raumes“, in dem die Elemente und jede andere Qualität in momentaner Eindeutigkeit „erscheinen“ (φαντάζεται) und von dort wieder „vergehen“ (ἀπόλλυται); der „Raum“ ist nach Platons Auskunft im Gegensatz zu den sich in ihm wandelnden Qualitäten „jenes einzige“, dem die Anrede „dieses“ und „dies“ angemessen ist, da er die Permanenz besitzt, die den in ihm erscheinenden Qualitäten abgeht.584 Im Anschluss an das Handwerkergleichnis zieht Platon die Analogie vom Gold auf diesen „Raum“, der nur Qualitäten aufnimmt, ohne sie anzunehmen, denn er bleibt immer nur die „Prägemasse (ἐκμαγεῖον) für jedes Wesen“, wobei Platon die                                                             

582 Plat. Tim. 50a5–b5 ἔτι δὲ σαφέστερον αὐτοῦ πέρι προθυμητέον αὖθις εἰπεῖν. εἰ γὰρ πάντα τις σχήματα πλάσας ἐκ χρυσοῦ μηδὲν μεταπλάττων παύοιτο ἕκαστα εἰς ἅπαντα, δεικνύντος δή τινος αὐτῶν ἓν καὶ ἐρομένου τί ποτ᾿ ἐστί, μακρῷ πρὸς ἀλήθειαν ἀσφαλέστατον εἰπεῖν ὅτι χρυσός, τὸ δὲ τρίγωνον ὅσα τε ἄλλα σχήματα ἐνεγίγνετο, μηδέποτε λέγειν ταῦτα ὡς ὄντα, ἅ γε μεταξὺ τιθεμένου μεταπίπτει, ἀλλ᾿ ἐὰν ἄρα καὶ τὸ τοιοῦτον μετ᾿ ἀσφαλείας ἐθέλῃ δέχεσθαί τινος, ἀγαπᾶν. 583 Vgl. oben, S. 279. 584 Plat. Tim. 49e7–50a4 ἐν ᾧ δὲ ἐγγιγνόμενα ἀεὶ ἕκαστα αὐτῶν φαντάζεται καὶ πάλιν ἐκεῖθεν ἀπόλλυται, μόνον ἐκεῖνο αὖ προσαγορεύειν τῷ τε τοῦτο καὶ τῷ τόδε προσχρωμένους ὀνόματι, τὸ δὲ ὁποιονοῦν τι, θερμὸν ἢ λευκὸν ἢ καὶ ὁτιοῦν τῶν ἐναντίων, καὶ πάνθ᾿ ὅσα ἐκ τούτων, μηδὲν ἐκεῖνο αὖ τούτων καλεῖν.

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III. Hauptgespräch

„schwer zu sagende und wundersame Art und Weise“, wie die in die Prägemasse eingehenden Kopien der „ewig seienden Dinge“ in diese abgeprägt werden, einer späteren Erörterung anheimstellt.585 Jener „schwer zu sagende“ Mechanismus der Prägung der Prägemasse wird von Platon wenig später im Rahmen einer erneuten Aufzählung der drei Genera ὄν, γένεσις und χώρα nur angedeutet: Die χώρα ist ewig, unvergänglich und kann doch nur – im Unterschied zum ὄν, dem die νόησις als Erkenntnismittel, und zur γένεσις, der δόξα und αἴσθησις zugeordnet werden – „mit nichtsinnlicher Wahrnehmung und einer Art „Bastarddenken“ in einer Art von Traumzustand erfasst werden“; „traumartig“ bleibt auch eine Aussage über das Verhältnis von „Raum“ und den Abbildern der „wachen und wahren Natur“ (sc. dem ὄν, der Ideenwelt), „dass einerseits ein Abbild, da nicht einmal eben das, von dem es geworden ist, zu ihm selbst gehört – es ist immer ein bewegtes Scheinbild (φάντασμα) eines anderen – in irgendetwas anderem werden muss, wobei es irgendwie Anspruch auf das Sein erhebt, ohne den es überhaupt nichts ist.“ In Ammonios’ Beschreibung des Einheitsmomentes im Einzelmenschen in der Vielheit seiner Zustände entspricht das κοινὸν ἐκμαγεῖον Platons χώρα, das ἕν τι φάντασμα Platons Ideenabbild (εἰκών), das sich als „Scheinbild“ von „etwas anderem – gemeint ist seine instabile Abbildung in der Materie – immer bewegt“ (ἑτέρου δέ τινος ἀεὶ φέρεται φάντασμα). Platons Hinweis, das Abbild der Idee erscheine als bewegtes Scheinbild der χώρα, hat Plutarch offenbar unter zusätzlicher Berücksichtigung des Schlussabschnittes von Platons χώραPassus zu der seltsamen Formulierung inspiriert, die „Materie“ „wirble“ und „gleite“ um das φάντασμα καὶ κοινὸν ἐκμαγεῖον „herum“. Platon schließt seine Ausführungen über den vorkosmischen Zustand der χώρα und ihrer Qualifizierung durch die Elementenabbilder mit der Beschreibung einer schwingenden Bewegung, in die die „Amme des Werdens“ versetzt wird, wenn sie die Abbilder der vor dem Eingriff des Demiurgen noch unstrukturiert in sie eingehenden Elemente empfängt, einer Bewegung, die sie ihrerseits auf jene Abbilder zurücküberträgt.586 In Adversus Colotem                                                             

585 Plat. Tim. 50b5–c6 ὁ αὐτὸς δὴ λόγος καὶ περὶ τῆς τὰ πάντα δεχομένης σώματα φύσεως. ταὐτὸν αὐτὴν ἀεὶ προσρητέον· ἐκ γὰρ τῆς ἑαυτῆς τὸ παράπαν οὐκ ἐξίσταται δυνάμεως – δέχεταί τε γὰρ ἀεὶ τὰ πάντα, καὶ μορφὴν οὐδεμίαν ποτὲ οὐδενὶ τῶν εἰσιόντων ὁμοίαν εἴληφεν οὐδαμῇ οὐδαμῶς· ἐκμαγεῖον γὰρ φύσει παντὶ κεῖται, κινούμενόν τε καὶ διασχηματιζόμενον ὑπὸ τῶν εἰσιόντων, φαίνεται δὲ δι᾿ ἐκεῖνα ἄλλοτε ἀλλοῖον – τὰ δὲ εἰσιόντα καὶ ἐξιόντα τῶν ὄντων ἀεὶ μιμήματα, τυπωθέντα ἀπ᾿ αὐτῶν τρόπον τινὰ δύσφραστον καὶ θαυμαστόν, ὃν εἰς αὖθις μέτιμεν. 586 Plat. Tim. 52d4–e5 τὴν δὲ δὴ γενέσεως τιθήνην ὑγραινομένην καὶ πυρουμένην καὶ τὰς γῆς τε καὶ ἀέρος μορφὰς δεχομένην, καὶ ὅσα ἄλλα τούτοις πάθη συνέπεται πάσχουσαν, παντοδαπὴν μὲν ἰδεῖν φαίνεσθαι, διὰ δὲ τὸ μήθ᾿ ὁμοίων δυνάμεων μήτε ἰσορρόπων ἐμπίμπλασθαι κατ᾿ οὐδὲν αὐτῆς ἰσορροπεῖν, ἀλλ᾿ ἀνωμάλως πάντῃ ταλαντουμένην σείεσθαι μὲν ὑπ᾿ ἐκείνων αὐτήν, κινουμένην δ᾿ αὖ πάλιν ἐκεῖνα σείειν κτλ.

8. Die Rede des Ammonios

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hat Plutarch die Beschreibung der „Schwingung“ aufgegriffen und zur Darstellung der begrenzten und tendenziell instabilen Strukturierung der Materie durch das Ideenabbild verwendet.587 In Platons Timaios empfängt (δέχεσθαι) die „Amme“ die „Gestalten“ der Elemente, ein Vorgang, der als πάθη πάσχειν bezeichnet wird und aus dem eine „Vielgestaltigkeit“ der Amme (παντοδαπὴν ἰδεῖν φαίνεσθαι) und deren ungeordnete Bewegung durch die noch unstrukturierten Elemente (ἀνωμάλως πάντῃ ταλαντουμένην σείεσθαι) resultiert. In Adversus Colotem ist diese Beschreibung frei adaptiert: Die Hyle588 „empfängt“ (δέχεσθαι) „Leiden“ (πάθη) und „Wandlungen“ (μεταβολάς) im Kontakt mit (ἐπί) einem allgemein formulierten „Abbild des Seins“ (εἰκὼν τῆς οὐσίας) und gerät aus diesem Grunde in ungeordnete Bewegung (κινεῖσθαι καὶ σαλεύεσθαι). Dieser Vorgang wird einleitend als ein „Herumgleiten“ der Hyle um das Ideenabbild (τῆς ὕλης περὶ τὸ εἶδος ὀλισθανούσης) beschrieben. Die Darstellung dieses Vorgangs in der Ammoniosrede von De E apud Delphos scheint mithin ein Amalgam aus dem Timaios und dem Passus in Adversus Colotem zu sein: Der Timaios liefert die Termini φάντασμα für das Ideenabbild und κοινὸν ἐκμαγεῖον für dessen materielles Substrat; mit Adversus Colotem teilt Ammonios’ Darstellung das Bild des „Herumgleitens“ der Materie um das Ideenabbild (περὶ … ὕλης περιελαυνομένης καὶ ὀλισθανούσης), das seinerseits aus der ungeordneten Bewegung der „Amme“ des Timaios durch die Abbilder der ungestalteten Elemente entwickelt zu sein scheint. Die konstatierte Differenz der beiden Darstellungen des Verhältnisses von Idee und Materie bleibt von dem gemeinsamen Bezug auf Timaios 52d4–53a7, wo die Bewegung der χώρα geschildert wird, unberührt: In Adversus Colotem setzt Plutarch die Methexis des demiurgisch geordneten Kosmos an den Ideen voraus, in De E apud Delphos spricht Ammonios durchweg über die Welt, als befinde sie sich wie im χώρα-Passus des Timaios im vorkosmischen Zustand, in dem die Materie noch völlig chaotisch von den Elementenabbildern qualifiziert wird, mithin noch nicht in einem geregelten Verhältnis zum Sein steht.

                                                            

587 Adv. Col. 15, 1115E ὅτι τὸ μὲν οὔτ᾿ ἔσται ποτὲ μὴ ὂν οὔτε γέγονε καὶ διὰ τοῦτο πάντως καὶ ὄντως ὄν ἐστι, τῷ δ᾿ οὐδ᾿ ὅσον ἀπ᾿ ἄλλου συμβέβηκε μετέχειν τοῦ εἶναι βέβαιόν ἐστιν, ἀλλ᾿ ἐξίσταται δι᾿ ἀσθένειαν, ἅτε τῆς ὕλης περὶ τὸ εἶδος ὀλισθανούσης καὶ πάθη πολλὰ καὶ μεταβολὰς ἐπὶ τὴν εἰκόνα τῆς οὐσίας, ὥστε κινεῖσθαι καὶ σαλεύεσθαι, δεχομένης. 588 Der aristotelische Begriff steht bei Plutarch für die platonische χώρα, vgl. FERRARI (1995) 80f.

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III. Hauptgespräch

8.4.2 Die Zeittheorien in Timaios 37c6–38b5 und im 19. Kapitel von De E apud Delphos Das 18. Kapitel von De E apud Delphos erfüllt in der Ammoniosrede die Funktion, die wesensmäßige „Vielheit“ des Menschen gegenüber der im 20. Kapitel postulierten „Einheit“ des Gottes herauszuarbeiten. Als Subtext dient Plutarch Platons Beschreibung der vorkosmisch-ungeordneten Interaktion zwischen den Elementarqualitäten und der χώρα in Platons Timaios. Dem folgenden 19. Kapitel fällt nun die Aufgabe zu, den Aufweis des radikalen Unterschiedes zwischen dem Menschen und dem Gott anhand einer Darstellung des menschlichen Existenzmodus „Zeit“ als des Gegensatzes zum göttlichen Existenzmodus „Ewigkeit“, an den im 20. Kapitel das Sein des Gottes geknüpft wird, zu komplettieren. Ammonios’ Ausführungen weisen dabei zunächst deutliche Übereinstimmungen mit Platons Bemerkungen über die Zeit in Timaios 37c6–38b5 auf589: Wie Platon dort Begriffe wie „es war“ und „es wird sein“ als „gewordene Formen der Zeit“ bezeichnet, deren Übertragung auf „das ewige Sein“ eine unzulässige Gedankenlosigkeit darstelle,590 so bilanziert Ammonios am Ende des 19. Kapitels, wenn auch in schärferem Ton: „Daher ist es auch frevelhaft, über das Seiende zu sagen, dass es war oder sein wird; das sind nämlich gewisse Schwankungen und Abweichungen dessen, was seiner Natur nach nicht im Sein verharren kann.“591 Platon betont ferner, dass von den Begriffen „es war“, „es ist“ und „es wird sein“ dem ewigen Sein nur die Aussage „es ist“ adäquat ist, „es war“ und „es wird sein“ – „Bewegungen“, wie Platon formuliert – hingegen „dem in der Zeit gehenden Werden“ zukommen; „das ewig auf dieselbe Weise sich unbewegt Verhaltende“ wird „durch die Zeit“ nicht „älter“ oder „jünger“, es „entsteht nicht einmal“ noch „ist es jetzt geworden“ noch „wird es in Zukunft sein.“ Diese Auffassungen vertritt auch Ammonios: Die Anrede „du bist“ ist dem Gott aufgrund seines Seins vorbehalten,592 etwas als seiend zu bezeichnen, „das noch nicht geworden ist oder bereits aufgehört hat zu sein“ ist hingegen regelrecht „naiv und abwegig“;593 das „wahrhaft Seiende“, das heißt das „Ewige, Ungewordene und Unvergängliche“ wird nach Ammonios                                                              589 Vgl. OPSOMER (2009) 151f. Schon WHITTAKER (1969) 186 macht auf die Bedeutung des Timaios-Passus für die Kapitel 19 und 20 von De E apud Delphos aufmerksam: „The god who is invoked as ἕν is identified with a conception of being as immutable that owes much to Plato, in particular to the discussion of χρόνος and αἰών at Timaeus 37c–38c.“ 590 Plat. Tim. 37e3–5 … καὶ τό τ᾿ ἦν τό τ᾿ ἔσται χρόνου γεγονότα εἴδη, ἃ δὴ φέροντες λανθάνομεν ἐπὶ τὴν ἀΐδιον οὐσίαν οὐκ ὀρθῶς. 591 De E 19, 393A ὅθεν οὐδ᾿ ὅσιόν ἐστιν ἐπὶ τοῦ ὄντος λέγειν, ὡς ἦν ἢ ἔσται· ταῦτα γὰρ ἐγκλίσεις τινές εἰσι καὶ παραλλάξεις τοῦ μένειν ἐν τῷ εἶναι μὴ πεφυκότος. 592 De E 20, 393A ἀλλ᾿ ἔστιν ὁ θεός, εἶ χρὴ φάναι κτλ. 593 De E 19, 392EF τὸ γὰρ ἐν τῷ εἶναι μηδέπω γεγονὸς ἢ πεπαυμένον ἤδη τοῦ εἶναι λέγειν ὡς ἔστιν, εὔηθες καὶ ἄτοπον.

8. Die Rede des Ammonios

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ebenfalls nicht durch die Zeit affiziert,594 denn in der Ewigkeit, dem atemporalen Existenzmodus des seienden Gottes, gibt es kein „älter“ oder „jünger“;595 alles, was als wahrhaft Seiendes auf diese Ewigkeit bezogen ist, „ist nicht geworden“ noch „wird es einmal sein“.596 Angesichts dieser Übereinstimmungen fallen die Unterschiede zwischen der Behandlung des Phänomens Zeit zwischen dem Timaios und dem 19. Kapitel von De E apud Delphos umso stärker ins Auge. Für Platon sind die eigentlichen Zeitaussagen wie „geworden sein“ und „sein werden“ zwar nicht auf das ewige Sein anwendbar, wohl aber stehen sie in einer positiven Relation zur Ewigkeit, dem Existenzmodus des Seins: Die präteritalen und futurischen Zeitbegriffe zählen zu dem, „was das Werden den Dingen, die sich in der Sinneswahrnehmung bewegen, hinzugefügt hat“, sie sind „Erscheinungsformen der Zeit geworden“, freilich einer Zeit, die „die Ewigkeit nachahmt und sich nach Zahlenverhältnissen kreisförmig bewegt.“597 Die Zeit ist zwar von der Ewigkeit genauso zu unterscheiden wie das Werden vom Sein, doch konstituiert sie als „Nachahmung“ der Ewigkeit einen geordneten Modus des Werdens, denn sie ist nach Platons Darlegung ein Teil der ehrgeizigen Ordnungstat des Demiurgen bei der Gestaltung des Kosmos nach dem ewigen παράδειγμα.598 Zwar kann er die Ewigkeit des παράδειγμα nicht vollständig auf den Kosmos übertragen, doch „strebte er danach, eine Art bewegtes Abbild der Ewigkeit zu machen, und während er gleichzeitig den Himmel ordnete, machte er ein ewiges, nach Zahlenverhältnissen fortschreitendes Abbild der im Einen verharrenden Ewigkeit – das, was wir Zeit genannt haben“.599                                                             

594 De E 19, 392E τί οὖν ὄντως ὄν ἐστι; τὸ ἀΐδιον καὶ ἀγένητον καὶ ἄφθαρτον, ᾧ χρόνος μεταβολὴν οὐδὲ εἷς ἐπάγει. 595 De E 20, 393A … καὶ ἔστι κατ᾿ οὐδένα χρόνον ἀλλὰ κατὰ τὸν αἰῶνα τὸν ἀκίνητον καὶ ἄχρονον καὶ ἀνέγκλιτον καὶ οὗ πρότερον οὐδέν ἐστιν οὐδ᾿ ὕστερον οὐδὲ μέλλον οὐδὲ παρῳχημένον οὐδὲ πρεσβύτερον οὐδὲ νεώτερον. 596 De E 20, 393B … καὶ μόνον ἐστὶ τὸ κατὰ τοῦτ᾿ ὄντως ὄν, οὐ γεγονὸς οὐδ᾿ ἐσόμενον οὐδ᾿ ἀρξάμενον οὐδὲ παυσόμενον. 597 Plat. Tim. 38a6–8 … ὅσα γένεσις τοῖς ἐν αἰσθήσει φερομένοις προσῆψεν, ἀλλὰ χρόνου ταῦτα αἰῶνα μιμουμένου καὶ κατ᾿ ἀριθμὸν κυκλουμένου γέγονεν εἴδη κτλ. 598 Plat. Tim. 37c6–d1 ὡς δὲ κινηθὲν αὐτὸ καὶ ζῶν ἐνόησεν τῶν ἀϊδίων θεῶν γεγονὸς ἄγαλμα ὁ γεννήσας πατήρ, ἠγάσθη τε καὶ εὐφρανθεὶς ἔτι δὴ μᾶλλον ὅμοιον πρὸς τὸ παράδειγμα ἐπενόησεν ἀπεργάσασθαι. 599 Plat. Tim. 37d3–7 ἡ μὲν οὖν τοῦ ζῴου φύσις ἐτύγχανεν οὖσα αἰώνιος, καὶ τοῦτο μὲν δὴ τῷ γεννητῷ παντελῶς προσάπτειν οὐκ ἦν δυνατόν· εἰκὼ δ᾿ ἐπενόει κινητόν τινα αἰῶνος ποιῆσαι, καὶ διακοσμῶν ἅμα οὐρανὸν ποιεῖ μένοντος αἰῶνος ἐν ἑνὶ κατ᾿ ἀριθμὸν ἰοῦσαν αἰώνιον εἰκόνα, τοῦτον ὃν δὴ χρόνον ὠνομάκαμεν. Vgl. Plat. Tim. 38b6–c3 χρόνος δ᾿ οὖν μετ᾿ οὐρανοῦ γέγονεν, ἵνα ἅμα γεννηθέντες ἅμα καὶ λυθῶσιν, ἄν ποτε λύσις τις αὐτῶν γίγνηται, καὶ κατὰ τὸ παράδειγμα τῆς διαιωνίας φύσεως, ἵν᾿ ὡς ὁμοιότατος αὐτῷ κατὰ δύναμιν ᾖ· τὸ μὲν γὰρ δὴ παράδειγμα πάντα αἰῶνά ἐστιν ὄν, ὁ δ᾿ αὖ διὰ τέλους τὸν ἅπαντα χρόνον γεγονώς τε καὶ ὢν καὶ ἐσόμενος.

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III. Hauptgespräch

Von einer derart positiven Wertung der Zeit als eines bewegten Abbildes der Ewigkeit ist Ammonios jedoch weit entfernt, denn in seiner Darstellung eignet der Zeit genauso wenig der Charakter eines Abbildes der Ewigkeit, wie er zuvor entschieden dem materiellen Werden jede Anteilnahme am Sein abgesprochen hatte. Vielmehr ist ihm die Zeit eine reine Funktion einer ungeordnet-bewegten Materie: „Denn die Zeit ist etwas Bewegtes, mit der bewegten Materie zugleich Erscheinendes, ewig fließend und niemals fassend,600 gleichsam ein Gefäß des Vergehens und Werdens.“601 Die präteritalen und futurischen Zeitaussagen stellen nach Ammonios ein offenes „Eingeständnis des Nichtseienden“ dar.602 Entsprechend führt Ammonios auch den Nachweis dafür, dass jene Zeitaussagen Nichtseiendes bezeichnen, auf die gleiche Weise, in der er das Nichtsein der sterblichen Natur im Kapitel 18 dargelegt hatte: Wer sein Denken (νόησις) mit aller Kraft auf ein in der Zeit existierendes Ding konzentriere, und dann Aussagen wie „es ist gegenwärtig“, „es ist da“ oder „jetzt“ treffe, der „verliert“ (ἀπόλλυσιν)603 das Objekt seiner geistigen Anschauung bei dem Versuch, mit dem Denken (λόγος) „allzu tief in es einzudringen“ (ἄγαν ἐνδυόμενος),604 denn jedes Ding werde so „auseinandergedrängt“ (ἐκθλίβεται)605 in seinen zukünftigen und vergangenen Zustand und trete „zwangsläufig wie ein Lichtstrahl606 in den Augen derer auseinander, die ihn ansehen wollen.“607 Ammonios’ Zeit hat dieselben Eigenschaften wie die Materie, und sie fließt                                                             

Vgl. dazu auch De E 18, 392C die Negierung der Möglichkeit für die sterblichen Wesen, die γένεσις zu λήγειν oder ἵστασθαι. 601 De E 19, 392E κινητὸν γάρ τι καὶ κινουμένῃ συμφανταζόμενον ὕλῃ καὶ ῥέον ἀεὶ καὶ μὴ στέγον, ὥσπερ ἀγγεῖον φθορᾶς καὶ γενέσεως, ὁ χρόνος. 602 De E 19, 392D ὅπου γε δὴ τὸ μὲν ‚ἔπειτα‘ καὶ τὸ ‚πρότερον‘ καὶ τὸ ‚ἔσται‘ λεγόμενον καὶ τὸ ‚γέγονεν‘ αὐτόθεν ἐξομολόγησίς ἐστι τοῦ μὴ ὄντος. 603 De E 18, 392B wurde von der διάνοια gesagt, sie „verliere“ (ἀπόλλυσιν) ihren Gegenstand, das sterbliche Wesen, wenn man sich mit ihr auf ihn „stemme“ (ἂν ἐπερείσῃς). 604 De E 18, 392A war vom Scheitern des λόγος bei seinen Versuchen die Rede, die ἄγαν ἐνάργεια einer sterblichen Natur zu erfassen. 605 De E 18, 392B „gleitet“ der λόγος „auf der einen Seite in das Werdende, auf der anderen in das Vergehende“ einer sterblichen Natur „ab“ (ὁ λόγος … ἀποσφάλλεται τῇ μὲν εἰς τὸ γιγνόμενον αὐτοῦ τῇ δ᾿ εἰς τὸ φθειρόμενον). 606 Hier wird auf das optische Phänomen der Lichtbrechung angespielt, das Plutarch in De Pyth. or. 26, 407E ausführlicher zur Illustration der Verschleierung unangenehmer Wahrheiten durch mehrdeutige Orakelsprüche in dichterischer Form verwendet: ἀφανίζειν μὲν οὐ θέλων [sc. ὁ θεός] τὸ ἀληθές, παρατρέπων δὲ τὴν δήλωσιν αὐτοῦ καθάπερ αὐγὴν ἐν τῇ ποιητικῇ πολλὰς ἀνακλάσεις λαμβάνουσαν καὶ πολλαχοῦ περισχιζομένην, ἀφῄρει τὸ ἀντίτυπον αὐτοῦ καὶ σκληρόν. Der „Lichtstrahl“ (αὐγή) der Wahrheit erfährt hier durch die dichterische Form „Brechungen“ (ἀνακλάσεις) und wird „aufgespalten“ (περισχιζομένην), letzteres das semantisch nächste Äquivalent zum διιστάμενον der vorliegenden Stelle. 607 De E 19, 392F ᾧ δὲ μάλιστα τὴν νόησιν ἐπερείδοντες τοῦ χρόνου τὸ ‚ἐνέστηκε‘ καὶ τὸ ‚πάρεστι‘ καὶ τὸ ‚νῦν‘ φθεγγόμεθα, τοῦτ᾿ αὖ πάλιν ἄγαν ἐνδυόμενος ὁ λόγος ἀπόλλυσιν. 600

8. Die Rede des Ammonios

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genauso strukturlos wie die sterblichen Wesen im heraklitischen Fluss treiben; entsprechend stellen die Ergebnisse der Zeitanalyse einen erneuten Nachweis des Nichtseins der in der Zeit existierenden sterblichen Wesen dar: „Wenn aber Maß und gemessenes Wesen sich gleich verhalten, dann ist an diesem Wesen nichts bleibend oder seiend, sondern alles werdend und vergehend gemäß seiner Zuordnung auf die Zeit.“608 Wie OPSOMER in Ammonios’ Beschreibung der Flussexistenz der sterblichen Wesen die Weltseele des Timaios als einer vermittelnden Instanz zwischen ὄν und γένεσις vermisst,609 so konstatiert er auch bei der Zeitanalyse des Ammonios das Fehlen eines Ordnungselementes, das im Timaios in Gestalt von Tag und Nacht, Monat und Jahr durch die regelmäßigen Gestirnsbewegungen als Werk des Demiurgen erscheint610: „Ammonius seems to forget that – according to the Timaeus – time, as that which consists of days, months, seasons and years, displays an astonishing regularity and stability.“611 Diese „Vergesslichkeit“ des Ammonios scheint freilich im Sinne der Kohärenz seiner Argumentation durchaus System zu besitzen, denn wie in der Analyse der menschlich-materiellen Existenzform im 18. Kapitel wesentliche Anklänge an Platons Beschreibung der vorkosmischen χώρα im Zustand vor dem Eingriff des Demiurgen nachgewiesen werden konnten, so qualifiziert Ammonios’ Analyse der Zeit diese analog gerade mit solchen Aspekten, denen der Demiurg bei der gleichzeitigen Erschaffung des Himmels und der Zeit im Timaios nach Kräften entgegentritt: Die völlige Struktur- und Ordnungslosigkeit ohne Relation zum Sein und zur Ewigkeit des παράδειγμα. Nach den Kriterien des Timaios spricht Ammonios strenggenommen nicht einmal von Zeit im Sinne einer „nach Zahlenverhältnissen“ strukturierten Bewegung des Kosmos, sondern von einer vorkosmischem Rohform der Zeit, von der freilich bei Platon deshalb nicht die Rede ist, da die Zeit nach seiner Darlegung im Timaios erst zusammen mit dem Himmel und den Gestirnen vom Demiurgen gemacht wird: χρόνος μετ᾿ οὐρανοῦ γέγονεν.                                                              ἐκθλίβεται γὰρ εἰς τὸ μέλλον καὶ τὸ παρῳχημένον ὥσπερ αὐγὴ βουλομένοις ἰδεῖν ἐξ ἀνάγκης διιστάμενον. 608 De E 19, 393A εἰ δὲ ταὐτὰ τῷ μετροῦντι πέπονθεν ἡ μετρουμένη φύσις, οὐδὲν αὐτῆς μένον οὐδ᾿ ὄν ἐστιν, ἀλλὰ γιγνόμενα πάντα καὶ φθειρόμενα κατὰ τὴν πρὸς τὸν χρόνον συννέμησιν. Vgl. De E 18, 392B vom λόγος und seinen Misserfolgen: οὐδενὸς λαβέσθαι μένοντος οὐδ᾿ ὄντως ὄντος δυνάμενος. 609 Vgl. oben, S. 283. 610 Plat. Tim. 37e1–3 ἡμέρας γὰρ καὶ νύκτας καὶ μῆνας καὶ ἐνιαυτούς, οὐκ ὄντας πρὶν οὐρανὸν γενέσθαι, τότε ἅμα ἐκείνῳ συνισταμένῳ τὴν γένεσιν αὐτῶν μηχανᾶται· ταῦτα δὲ πάντα μέρη χρόνου κτλ. Plat. Tim. 38c3–6 ἐξ οὖν λόγου καὶ διανοίας θεοῦ τοιαύτης πρὸς χρόνου γένεσιν, ἵνα γεννηθῇ χρόνος, ἥλιος καὶ σελήνη καὶ πέντε ἄλλα ἄστρα, ἐπίκλην ἔχοντα πλανητά, εἰς διορισμὸν καὶ φυλακὴν ἀριθμῶν χρόνου γέγονεν. 611 OPSOMER (2009) 152.

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III. Hauptgespräch

Plutarch hat in der achten Platonica Quaestio mit dem Thema „Was meint Timaios, wenn er sagt, die Seelen werden in die Erde und den Mond und alle anderen Werkzeuge der Zeit gesät“612 unter anderem den Versuch unternommen, Aussagen Platons über die Sonne in der Politeia mit jenem Zitat aus dem Timaios zu harmonisieren;613 er weist in diesem Zusammenhang Zeitdefinitionen des Aristoteles, des Speusipp und der Stoiker zurück614 und schließt sich einem Diktum des Pythagoras an, nach dem die Zeit „die Seele des Ganzen“ sei; nach seiner Ansicht ist die Zeit „keine Affektion oder ein Akzidens der Bewegung, mit der sie zusammenfällt“, sondern muss als „Ursache, Kraft und Ursprung der alle werdenden Dinge zusammenhaltenden Symmetrie und Ordnung“ bezeichnet werden, die „die beseelte Natur des Ganzen bewegt“; die Zeit sei mithin „selbst Bewegung und Ordnung und Symmetrie.“615 In einer mithin orthodoxen Rezeption616 der Zeittheorie von Timaios 37d führt Plutarch im Folgenden aus, Sein und Kosmos, Ewigkeit und Zeit stünden im Verhältnis von Urbild und Abbild: „Deshalb sagte ja auch Platon, dass die Zeit zusammen mit dem Himmel geworden ist, es aber schon vor dem Werden des Himmels Bewegung gab.                                                             

612 PQ 8, 1, 1006B πῶς λέγει τὰς ψυχὰς ὁ Τίμαιος εἴς τε γῆν καὶ σελήνην καὶ τἄλλα ὅσα ὄργανα χρόνου σπαρῆναι; vgl. Plat. Tim. 42d4–5. 613 Plutarchs letzter Diskussionsbeitrag in der Quaestio behandelt die besondere Stellung der Sonne unter den anderen Himmelskörpern und verwahrt sich mit Berufung auf Platons Behandlung der Sonne in der Politeia (PQ 8, 4, 1006F–1007A) dagegen, der Philosoph könne einen „Gott mit einer derartigen Natur und einer solchen Kraft“ als „Werkzeug der Zeit“ bezeichnet haben, das als Maß für die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Gestirnssphären fungiere (PQ 8, 4, 1007A): τὸν δὴ τοιαύτην φύσιν ἔχοντα καὶ δύναμιν τηλικαύτην θεὸν ὄργανον χρόνου γεγονέναι καὶ μέτρον ἐναργὲς τῆς πρὸς ἀλλήλας βραδυτῆτι καὶ τάχει τῶν ὀκτὼ σφαιρῶν διαφορᾶς οὐ πάνυ δοκεῖ πρεπῶδες οὐδ᾿ ἄλλως εὔλογον εἶναι. 614 Vgl. PQ 8, 4, 1007AB. 615 PQ 8, 4, 1007B ὅ τε Πυθαγόρας, ἐρωτηθεὶς τί χρόνος ἐστί, τὴν τοῦ ὅλου ψυχὴν εἰπεῖν. οὐ γὰρ πάθος οὐδὲ συμβεβηκὸς ἧς ἔτυχε κινήσεως ὁ χρόνος ἐστίν, αἰτία δὲ καὶ δύναμις καὶ ἀρχὴ τῆς πάντα συνεχούσης τὰ γιγνόμενα συμμετρίας καὶ τάξεως, ἣν ἡ τοῦ ὅλου φύσις ἔμψυχος οὖσα κινεῖται· μᾶλλον δὲ κίνησις οὖσα καὶ τάξις αὐτὴ καὶ συμμετρία χρόνος καλεῖται. 616 Eine solche findet sich auch – wenn auch in etwas exotischer Form – in dem Bericht des Kleombrotos über die philosophischen Äußerungen des Weisen vom Roten Meer im 22. Kapitel von De defectu oraculorum, der klare Anspielungen auf die παράδειγμα-Lehre des Timaios sowohl hinsichtlich des Verhältnisses von Sein und Werden wie desjenigen von Aion und Zeit enthält. Nach der Lehre jenes Sonderlings schließen 183 zu einem Dreieck angeordnete Kosmoi eine „Ebene der Wahrheit“ ein, in der „unbewegt die Zahlenverhältnisse, Formen und Vorbilder der gewordenen und sein werdenden Dinge liegen“; diese transzendenten Wesenheiten werden vom Aion „umgeben“, die Zeit wiederum ströme wie ein „Abfluss“ zu den Kosmoi: De def. or. 22, 422B τὸ δ᾿ ἐντὸς ἐπίπεδον τοῦ τριγώνου κοινὴν ἑστίαν εἶναι πάντων, καλεῖσθαι δὲ πεδίον ἀληθείας, ἐν ᾧ τοὺς λόγους καὶ τὰ εἴδη καὶ τὰ παραδείγματα τῶν γεγονότων καὶ τῶν γενησομένων ἀκίνητα κεῖσθαι, καὶ περὶ αὐτὰ τοῦ αἰῶνος ὄντος οἷον ἀπορροὴν ἐπὶ τοὺς κόσμους φέρεσθαι τὸν χρόνον.

8. Die Rede des Ammonios

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Zeit aber gab es nicht, denn es gab auch keine Ordnung oder ein Maß oder eine Begrenzung, sondern unbegrenzte Bewegung, gleichsam eine gestaltund formlose Materie der Zeit.“ Himmel und Zeit habe der Demiurg zusammen geschaffen, „denn beide sind Abbilder des Gottes, der Kosmos ein Abbild seines Seins, die Zeit ein Abbild seiner Ewigkeit, die sich in Bewegung befindet, wie der Kosmos ein Gott im Werden ist.“ Die Zeit, so Plutarch weiter, besitze eine „notwendige Verflechtung und Verbindung mit dem Himmel“ und ist „wie gesagt mit Maß, Grenzen und Umläufen geordnete Bewegung“, die Sonne entsprechend ein „Mitarbeiter des herrschenden und ersten Gottes, nicht in schlichten und kleinen, sondern in den größten Dingen.“617 Zeigen solche Formulierungen einerseits die große Distanz an, die zwischen der Platonica Quaestio und dem Timaios und der Zeitanalyse des Ammonios besteht, so verleiht sie andererseits einem Gedanken Ausdruck, der für das Verständnis der Ammoniosrede von großer Wichtigkeit ist: Vor der Ordnungstat des Demiurgen gab es nach Plutarchs Aussage eine Art „gestaltlose und ungeordnete Materie der Zeit“ (ἄμορφος ὕλη χρόνου καὶ ἀσχημάτιστος). In der Ammoniosrede lässt Plutarch, wie es scheint, eine solche Art von Zeit beschreiben, der noch jede Gestaltung durch den Demiurgen fehlt; sie befindet sich auf der gleichen Stufe der Unordnung, in der auch das sterbliche Wesen im 18. Kapitel beschrieben worden war. Da Ammonios zur Illustration der Instabilität der θνητὴ φύσις Vorstellungen aus Platons Beschreibung der vorkosmischen χώρα und der sich in ihr wandelnden Elemente rezipiert hat, ist es konsequent, diesem Konzept eine Zeittheorie an die Seite zu stellen, die ebenfalls vorkosmische Züge aufweist. Auf die Intention Plutarchs, hier eine χώρα-adäquate ἄμορφος ὕλη χρόνου καὶ ἀσχημάτιστος zu beschreiben, deutet vor allem die prägnante Beschreibung der Zeit als „Gefäß des Werdens und Vergehens“ (ἀγγεῖον φθορᾶς καὶ γενέσεως) hin, das „zusammen“ mit der fließenden Materie „erscheint“ (συμφανταζόμενον): „Behälter“ (ὑποδοχή) ist im Timaios 51a5 eine der Bezeichnungen für die χώρα, sie „nimmt“ die Abbilder der noch unstrukturierten                                                             

617 PQ 8, 4, 1007C–E διὸ δὴ καὶ Πλάτων (Tim. 37d5–7; 38b6) ἔφη χρόνον ἅμα μετ᾿ οὐρανοῦ γεγονέναι, κίνησιν δὲ καὶ πρὸ τῆς τοῦ οὐρανοῦ γενέσεως. χρόνος δ᾿ οὐκ ἦν· οὐδὲ γὰρ τάξις οὐδὲ μέτρον οὐδὲν οὐδὲ διορισμός, ἀλλὰ κίνησις ἀόριστος ὥσπερ ἄμορφος ὕλη χρόνου καὶ ἀσχημάτιστος· †ἐπικλύσασα δ᾿ ἐν χρόᾳ καὶ καταβαλοῦσα τὴν μὲν ὕλην σχήμασι τὴν δὲ κίνησιν περιόδοις, τὴν μὲν κόσμον ἅμα τὴν δὲ χρόνον ἐποίησεν. εἰκόνες δ᾿ εἰσὶν ἄμφω τοῦ θεοῦ, τῆς μὲν οὐσίας ὁ κόσμος τῆς δ᾿ ἀϊδιότητος χρόνος, ἐν κινήσει, καθάπερ ἐν γενέσει θεὸς ὁ κόσμος. […] οὕτως οὖν ἀναγκαίαν πρὸς τὸν οὐρανὸν ἔχων συμπλοκὴν καὶ συναρμογὴν ὁ χρόνος οὐχ ἁπλῶς ἐστι κίνησις, ἀλλ᾿ ὥσπερ εἴρηται κίνησις ἐν τάξει μέτρον ἐχούσῃ καὶ πέρατα καὶ περιόδους· ὧν ὁ ἥλιος ἐπιστάτης ὢν καὶ σκοπὸς ὁρίζειν καὶ βραβεύειν καὶ ἀναδεικνύναι καὶ ἀναφαίνειν μεταβολὰς καὶ ὥρας […] οὐ φαύλων οὐδὲ μικρῶν ἀλλὰ τῶν μεγίστων καὶ κυριωτάτων τῷ ἡγεμόνι καὶ πρώτῳ θεῷ γίγνεται συνεργός.

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III. Hauptgespräch

Elemente „auf“ (δέχηται, Tim. 51b6), was als „Entstehen“ (γένεσιν, Tim. 49c7) bezeichnet wird; „in ihr“ (ἐν ᾧ, Tim. 49e7) „erscheinen“ (φανταζομένων, Tim. 49d1, φαντάζεται 49e8) die Elemente in einem nur vorübergehend definierten Zustand, „von dort vergehen sie wieder“ (πάλιν ἐκεῖθεν ἀπόλλυται, Tim. 49e8–50a1). Da der Timaios keine Angaben über eine vorkosmische Rohform der Zeit macht, die Plutarch in der Ammoniosrede analog zu seiner Beschreibung der menschlichen Existenz nach dem Vorbild der vorkosmischen Materie in Platons χώρα-Passus hätte benutzen können, hat er offenbar die von Ammonios beschriebene vorkosmische Zeit selbstständig als ein solches „Gefäß“ konzipiert, das die gleichen Merkmale wie das platonische „Gefäß“, das vorkosmische Materieprinzip der χώρα, aufweist. FERRARI hat auf eine bemerkenswerte Notiz des Proklos aufmerksam gemacht, nach der Plutarch neben Attikos und anderen von einer vorkosmischen Zeit gesprochen habe, die als „Zahl der ungeordneten Bewegung vor der Schaffung des Kosmos“ anzusehen sei. FERRARIs Skepsis, ob Proklos zu Recht Plutarch eine solche Vorstellung zugeschrieben habe, wäre unbegründet, wenn die hier vertretene Interpretation eines Entwurfes einer vorkosmischen Zeitvorstellung in Analogie zu Platons Beschreibung der vorkosmischen χώρα im Timaios zutrifft.618 8.5 Das 21. Kapitel von De E apud Delphos: Zum Verhältnis von Sein und Nichtsein Auf seine Analyse der fundamental gegensätzlichen Eigenschaften von Gott und Mensch in den Kapiteln 18–20, die jede Form von Konvergenz, geschweige denn Verbindung zwischen den Bereichen des Seins und des Nichtseins kategorisch auszuschließen bemüht war, lässt Ammonios einen Schlussabschnitt folgen, der nunmehr die beiden antithetisch charakterisierten Bereiche der immateriellen Transzendenz des Gottes und der materiellen Existenzform des Menschen in ein synthetisches Verhältnis zu setzen scheint, ohne freilich die grundsätzliche Forderung einer prinzipiellen Scheidung von Sein und Werden aufzugeben. Eine Zusammenfassung des Charakters des letzten Abschnittes der Ammoniosrede und damit des gesamten Dialoges De E apud Delphos bietet Ammonios’ Schlusswort: „Freilich scheint doch dem „Du bist“ das „Erkenne dich selbst“ irgendwie sowohl entgegengesetzt zu sein als auch auf eine gewisse Weise wieder mit                                                             

618 Vgl. FERRARI (1995) 88f. Procl. In Tim. 1, 276, 30–277, 7 τοιαύτης δ᾿ οὖν τῆς ζητήσεως οὔσης Πλούταρχος μὲν καὶ Ἀττικὸς καὶ ἄλλοι πολλοὶ τῶν Πλατωνικῶν κατὰ χρόνον τὴν γένεσιν ἤκουσαν καί φασι γίγνεσθαι τὴν ζήτησιν, εἴτε ἀγένητος κατὰ χρόνον ὁ κόσμος, εἴτε γενητός· εἶναι γὰρ πρὸ τῆς κοσμοποιίας ἄτακτον κίνησιν, ἅμα δὲ κινήσει πάντως ἐστὶ καὶ χρόνος, ὥστε καὶ χρόνον εἶναι πρὸ τοῦ παντός· ἅμα δὲ τῷ παντὶ γεγονέναι χρόνον, ἀριθμὸν ὄντα τῆς τοῦ παντὸς κινήσεως, ὡς ἐκεῖνος ἦν τῆς πρὸ τῆς κοσμοποιίας οὔσης ἀτάκτου κινήσεως ἀριθμός.

8. Die Rede des Ammonios

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ihm im Einklang zu stehen: Denn das eine wird aus Erschütterung und Verehrung dem Gott entgegengerufen, weil er durchweg ist, das andere ist eine Erinnerung für das Sterbliche an seine Natur und deren Schwäche.“619 Gegenüber der kompromisslosen Gegenüberstellung der menschlichen Existenz im heraklitischen Fluss und der in die denkbar abstrakteste Transzendenz gesteigerten Definition des Apollon, die, wie gezeigt werden konnte, paradoxer Weise Platons Analyse des vorkosmischen Zustandes der χώρα im Timaios für die Analyse des Menschen im Kosmos voraussetzt, setzt sich Ammonios nunmehr im 21. Kapitel explizit mit dem Verhältnis des Menschen zu Apollon und dem Verhältnis Apollons zu derjenigen Art von Kosmos auseinander, die er zuvor mit vorkosmischen Charakteristika belegt hatte: Einerseits diskutiert er die Frage nach einer möglichen Identität der vom Menschen sinnlich wahrgenommenen Sonne mit dem transzendenten Apollon, andererseits versucht er, zwischen Apollons Transzendenz und dem sinnlich wahrnehmbaren Kosmos eine philosophisch vertretbare Relation herzustellen.620 Ammonios’ Darlegung lässt sich in vier Abschnitte gliedern. 1. Zunächst äußert sich Ammonios mit Sympathie über eine Gruppe von Menschen, die Apollon für identisch mit der Sonne hält: Ihre Vorstellung des Gottes sei mit dem schönsten aller Träume zu vergleichen (ὡς δὲ νῦν ἐν τῷ καλλίστῳ τῶν ἐνυπνίων τὸν θεὸν ὀνειροπολοῦντας), doch ruft Ammonios dazu auf, sie aus diesem Traum aufzuwecken und zu einem Aufstieg aufzufordern (ἐγείρωμεν καὶ παρακαλῶμεν ἀνωτέρω προάγειν), dessen Ziel die Betrachtung des wahren Wesens des Gottes im Zustand des Wachens sein soll (θεάσασθαι τὸ ὕπαρ αὐτοῦ καὶ τὴν οὐσίαν). Freilich ist dieses „Aufwecken“ der für ihre Apollon-Sonnenverehrung Gelobten offenbar nicht als vollständige Überführung in jenen Wachzustand der Erkenntnis zu verstehen, denn Ammonios fordert nicht nur, die Sonnenverehrer zu wecken, sondern auch, sie in der Verehrung der Sonne zu bestärken, denn sie besitze als „Abbild“ (εἰκών) die Fähigkeit, „irgendwie“ (ἁμωσγέπως) „gewisse Spiegel- und Abbilder (ἐμφάσεις τινὰς καὶ εἴδωλα) eines im Bereich des Gottes (περὶ ἐκεῖνον) angesiedelten Wohlwollens und einer Glückseligkeit durchscheinen zu lassen“ (διαλάμπουσαν). Diese Transparenz der Sonne ist Ausweis einer an ihr verehrungswürdigen „Zeugungsfähigkeit“ (τὸ γόνιμον), da sie „nach den Möglichkeiten“ (ὡς ἀνυστόν ἐστιν) von etwas sinnlich Wahrnehmbarem und Bewegtem (αἰσθητῷ … φερομένῳ)                                                             

De E 21, 394C ἀλλά γε τῷ ‚εἶ‘ τὸ ‚γνῶθι σαυτόν‘ ἔοικέ πως ἀντικεῖσθαι καὶ τρόπον τινὰ πάλιν συνᾴδειν· τὸ μὲν γὰρ ἐκπλήξει καὶ σεβασμῷ πρὸς τὸν θεὸν ὡς ὄντα διὰ παντὸς ἀναπεφώνηται, τὸ δ᾿ ὑπόμνησίς ἐστι τῷ θνητῷ τῆς περὶ αὐτὸ φύσεως καὶ ἀσθενείας. 620 Die Sonne wird De E 21, 393D als αἰσθητόν und φερόμενον charakterisiert; De E 21, 393E werden verschiedene Manifestationen der realen Welt „hier“ (ἐνταῦθα) genannt (Erde, Meer, Winde, Pflanzen) und diese zweimal mit dem Begriff κόσμος bezeichnet. 619

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III. Hauptgespräch

jene Bilder von etwas nur mit dem Denken Erfassbarem und Ruhendem (νοητοῦ … μένοντος) hervorbringe.621 2. Wird die Sonne mithin im Bereich der Möglichkeiten menschlicher Sinneswahrnehmung nach Ammonios als einzige Repräsentation des transzendenten Apollon im Kosmos genannt, so wendet sich der Redner scharf gegen die von den Sonnenverehrern622 über das Erlaubte hinausgetriebene Vorstellung einer totalen kosmischen Präsenz Apollons, von der allein zu hören schon einen Frevel darstelle (οὐδ᾿ ἀκούειν ὅσιον): Wer glaube, der Gott sei Wandlungen unterworfen (ἐκστάσεις δ᾿ αὐτοῦ καὶ μεταβολάς), indem er bald „sich selbst zusammen mit dem All in Feuer entflammt“ (εἰς πῦρ ἀνιέντος ἑαυτὸν ἅμα τοῖς πᾶσιν), um sich dann wieder in Erde, Wasser, Luft, Lebewesen und Pflanzen mitsamt deren „schrecklichen Leidenschaften“ (τὰ δεινὰ παθήματα)623 „hineinzuquetschen und auszudehnen“ (καταθλίβοντος … καὶ κατατείνοντος), der stelle sich Apollon als noch nichtsnutziger als ein Sandburgen bauendes und diese wieder zusammenwerfendes Kind vor, da sein Spielzeug nicht Sand, sondern das All (τὰ ὅλα) sei: Ewig formte er den zunächst nicht vorhandenen Kosmos, um ihn dann, nachdem er geworden sei, wieder zu zerstören (τὸν κόσμον οὐκ ὄντα πλάττων εἶτ᾿ ἀπολλύων γενόμενον).624                                                             

De E 21, 393CD τοὺς δ᾿ Ἀπόλλωνα καὶ ἥλιον ἡγουμένους τὸν αὐτὸν ἀσπάζεσθαι μὲν ἄξιόν ἐστι καὶ φιλεῖν δι᾿ εὐφυΐαν, ὃ μάλιστα τιμῶσιν ὧν ἴσασι καὶ ποθοῦσιν, εἰς τοῦτο τιθέντας τοῦ θεοῦ τὴν ἐπίνοιαν· ὡς δὲ νῦν ἐν τῷ καλλίστῳ τῶν ἐνυπνίων τὸν θεὸν ὀνειροπολοῦντας ἐγείρωμεν καὶ παρακαλῶμεν ἀνωτέρω προάγειν καὶ θεάσασθαι τὸ ὕπαρ αὐτοῦ καὶ τὴν οὐσίαν, τιμᾶν δὲ καὶ τὴν εἰκόνα τήνδε καὶ σέβεσθαι τὸ περὶ αὐτὴν γόνιμον ὡς ἀνυστόν ἐστιν αἰσθητῷ νοητοῦ καὶ φερομένῳ μένοντος ἐμφάσεις τινὰς καὶ εἴδωλα διαλάμπουσαν ἁμωσγέπως τῆς περὶ ἐκεῖνον εὐμενείας καὶ μακαριότητος. 622 Sie sind weiterhin die Adressaten von Ammonios’ Ausführungen, vgl. die Struktur des Abschnittes (De E 21, 393C–E) τοὺς δ᾿ Ἀπόλλωνα καὶ ἥλιον ἡγουμένους τὸν αὐτὸν ἀσπάζεσθαι μὲν ἄξιόν ἐστι καὶ φιλεῖν δι᾿ εὐφυΐαν … ὡς δὲ … ἐγείρωμεν καὶ παρακαλῶμεν … ἐκστάσεις δ᾿ αὐτοῦ καὶ μεταβολὰς … ὡς λέγουσιν … οὐδ᾿ ἀκούειν ὅσιον. 623 Der auffällig drastische Ausdruck ist aus dem Zusammenhang von Plat. Tim. 69c5– d6 entnommen: Die jüngeren Götter schaffen auf Geheiß ihres Vaters die sterblichen Lebewesen, indem sie einen unsterblichen Seelenteil mit dem Körper verbinden und zusätzlich noch „eine andere, sterbliche Form von Seele“ inkorporieren, die negative und gefährliche Seelenfunktionen der Lebewesen, Ammonios’ „schreckliche Leidenschaften“, verantwortet: οἱ δὲ μιμούμενοι, παραλαβόντες ἀρχὴν ψυχῆς ἀθάνατον, τὸ μετὰ τοῦτο θνητὸν σῶμα αὐτῇ περιετόρνευσαν ὄχημά τε πᾶν τὸ σῶμα ἔδοσαν ἄλλο τε εἶδος ἐν αὐτῷ ψυχῆς προσῳκοδόμουν τὸ θνητόν, δεινὰ καὶ ἀναγκαῖα ἐν ἑαυτῷ παθήματα ἔχον, πρῶτον μὲν ἡδονήν, μέγιστον κακοῦ δέλεαρ, ἔπειτα λύπας, ἀγαθῶν φυγάς, ἔτι δ᾿ αὖ θάρρος καὶ φόβον, ἄφρονε συμβούλω, θυμὸν δὲ δυσπαραμύθητον, ἐλπίδα δ᾿ εὐπαράγωγον· αἰσθήσει δὲ ἀλόγῳ καὶ ἐπιχειρητῇ παντὸς ἔρωτι συγκερασάμενοι ταῦτα, ἀναγκαίως τὸ θνητὸν γένος συνέθεσαν. 624 De E 21, 393DE ἐκστάσεις δ᾿ αὐτοῦ καὶ μεταβολὰς πῦρ ἀνιέντος ἑαυτὸν ἅμα τοῖς πᾶσιν, ὡς λέγουσιν, αὖθις δὲ καταθλίβοντος ἐνταῦθα κατατείνοντος εἰς γῆν καὶ θάλασσαν καὶ ἀνέμους καὶ ζῷα καὶ τὰ δεινὰ παθήματα [καὶ] ζῴων καὶ φυτῶν οὐδ᾿ ἀκούειν 621

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3. Von dieser Kritik an einer Identität Apollons mit der Materie in ihren zyklischen Zuständen eines interkosmischen Feuers und eines ausdifferenzierten Kosmos auf der einen Seite und an der Aktivität Apollons als Schöpfer und zugleich Zerstörer des Kosmos auf der anderen Seite kommt Ammonios auf seine eigene polarisierende Ontologie zurück und qualifiziert sie in einem bemerkenswerten Punkt: „Irgendwie“ (ἁμωσγέπως) sei „Göttliches“ (θεῖον) in den Kosmos eingegangen (ἐγγέγονε τῷ κόσμῳ), doch diesem Immanenzmoment eigne gegenüber dem Kosmos allein strukturierende Kraft, indem es die Materie zusammenbinde (συνδεῖ τὴν οὐσίαν) und die „Schwäche im Bereich der körperlichen Welt, die dem Vergehen zutreibt“ (τῆς περὶ τὸ σωματικὸν ἀσθενείας ἐπὶ φθορὰν φερομένης) in dominanter Weise kontrolliere (κρατεῖ).625 4. Die Anrede εἶ an den Gott wende sich hauptsächlich gegen jene (oben, Nr. 2) kritisierte Ansicht (πρὸς τοῦτον τὸν λόγον ἀντιταττόμενον τὸ ῥῆμα), denn im Bereich des Gottes (περὶ αὐτόν) fänden keinerlei Wandlungen (ἐκστάσεως καὶ μεταβολῆς) statt. Vielmehr sei als Subjekt wie Objekt jener Wandlungen (τοῦτο ποιεῖν καὶ πάσχειν) ein „anderer Gott, besser ein Daimon“ anzusetzen, der „dem Bereich der Natur im Vergehen und Werden zugeordnet“ sei (τεταγμένῳ περὶ τὴν ἐν φθορᾷ καὶ γενέσει φύσιν),626 und dessen Wesen Ammonios nun mit dem Wesen des Apollon kontrastiert, indem er die jeweiligen Namen dieser beiden Entitäten und diejenigen ihrer personifizierten Attribute in altbekannter, etymologisierender Weise gegenüberstellt: Ἀπόλλων („der Nicht-Viele“) gegen Πλούτων („der Viele“), Δήλιος („der Sichtbarmacher“) gegen Ἀϊδωνεύς („der Unsichtbarmacher“), Φοῖβος („der Leuchtende“) gegen Σκότιος („der Schattige“), die Musen und Μνημοσύνη („die Erinnerung“) als Begleiter des einen, Λήθη („das Vergessen“) und Σιωπή („das Schweigen“) als die des anderen. Mit der weiteren Illustrierung Apollons durch seine Namen Θεώριος („der Schauer“) und Φαναῖος („der Zeiger“) geht Ammonios schließlich zu einer Kontrastierung der beiden Wesen anhand von Dichterzitaten über. Deren erstes stellt den beiden letztgenannten Namen Apollons den Gott/Daimon als den Herren von Nacht und Schlaf gegenüber; dann lässt Ammonios weitere Verse folgen, die den einen mit Homer als „den Sterblichen Verhasstesten unter allen Göttern“ den anderen mit Pindar als „gegenüber den Sterblichen am                                                             

ὅσιον· ἢ τοῦ ποιητικοῦ παιδὸς (Hom. Il. Ο 362) ἔσται φαυλότερος, ἣν ἐκεῖνος ἔν τινι ψαμάθῳ συντιθεμένῃ καὶ διαχεομένῃ πάλιν ὑφ᾿ αὑτοῦ παίζει παιδιάν, ταύτῃ περὶ τὰ ὅλα χρώμενος ἀεὶ καὶ τὸν κόσμον οὐκ ὄντα πλάττων εἶτ᾿ ἀπολλύων γενόμενον. 625 De E 21, 393E τοὐναντίον γὰρ ὃ θεῖον ἁμωσγέπως ἐγγέγονε τῷ κόσμῳ, τοῦτο συνδεῖ τὴν οὐσίαν καὶ κρατεῖ τῆς περὶ τὸ σωματικὸν ἀσθενείας ἐπὶ φθορὰν φερομένης. 626 De E 21, 393F καί μοι δοκεῖ μάλιστα πρὸς τοῦτον τὸν λόγον ἀντιταττόμενον τὸ ῥῆμα καὶ μαρτυρόμενον εἶ φάναι πρὸς τὸν θεόν, ὡς οὐδέποτε γινομένης περὶ αὐτὸν ἐκστάσεως καὶ μεταβολῆς, ἀλλ᾿ ἑτέρῳ τινὶ θεῷ μᾶλλον δὲ δαίμονι τεταγμένῳ περὶ τὴν ἐν φθορᾷ καὶ γενέσει φύσιν τοῦτο ποιεῖν καὶ πάσχειν προσῆκον.

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III. Hauptgespräch

freundlichsten“, beschreiben. Ein Euripideszitat trennt darauf Apollon von allem, was mit Toten zu tun hat, während drei Stesichorosverse Apollon mit Tanz und Spiel, Hades mit Schmerz und Jammer in Verbindung bringen. Ausgehend von einem Sophoklesvers schließlich äußert sich Ammonios noch zu den unterschiedlichen Musikinstrumenten, die beiden Wesenheiten zugeordnet werden: die Leier hat nichts mit der Totenwelt zu tun, die Flöte war ursprünglich nur für Klagegesänge bestimmt. Wie freilich die Flöte irgendwann auch bei anderen Anlässen geblasen wurde, so habe man den Unterschied zwischen Göttlichem und Daimonischem verwischt.627 8.5.1 Das Verhältnis des Apollon zur Sonne und die Kritik an der stoischen Weltzyklenlehre Da Ammonios im 21. Kapitel von De E apud Delphos zunächst in durchaus wohlwollender Weise die Identifikation des Apollon mit der Sonne diskutiert, um dann heftige Einwände gegen die stoische Vorstellung einer vollständigen Immanenz des Göttlichen in seinen Zyklen von Ekpyrosis und Diakosmesis zu erheben, hat sich die Forschung besonders intensiv mit diesen beiden ersten Abschnitten unter dem Aspekt von Plutarchs Stoikerkritik auseinandergesetzt; dabei haben die Interpreten der Verortung der Aussagen des Ammonios zu den beiden stoischen Theoremen größere Aufmerksamkeit geschenkt als der Frage nach Funktion dieses Schlusskapitels im Argumentationsgang der Ammoniosrede selbst. Da die genannten Elemente der Argumentation des Schlusskapitels von De E apud Delphos zum einen bestimmten übergreifenden Einzeldiskursen zugeordnet werden können, die in den ‚Pythischen Dialogen‘ und in Plutarchs sonstigem Werk geführt werden, jedoch zugleich nicht ohne ihre kontextspezifische Färbung in der Argumentation des Ammonios verstanden werden können, sollen Ammonios’ Aussagen über die Sonne und Apollon sowie seine Kritik an der stoischen Weltzyklenlehre zunächst im Lichte der entsprechenden Diskurse vor allem in den ‚Pythischen Dialogen‘ beleuchtet werden, bevor der Versuch unternommen werden soll, das 21. Kapitel als konsequente Fortschreibung einer einheitlichen Adaption des χώρα-Passus aus Platons Timaios zu deuten, von der her die einzelnen von Ammonios thematisierten philosophischen Positionen ihre eigentliche Funktion erhalten. In den Diskussionen der ‚Pythischen Dialoge‘ Plutarchs spielt die Frage nach einer möglichen Identität Apollons mit der Sonne immer wieder eine Rolle: Im 4. Kapitel von De E apud Delphos wird die Identifikation Apollons mit der Sonne von dem anonymen Gesprächspartner als volksreligiöse

                                                             627

De E 21, 393F–394C.

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Auffassung erwähnt, die ein Argument für den von ihm spöttisch betrachteten chaldäischen Lösungsversuch für das E bildet; die Auffassung selbst wird hingegen nicht als solche kritisiert.628 Im 12. Kapitel von De Pythiae oraculis wiederum lehnt der Gesprächsteilnehmer Philinos die Identifikation Apollons mit der Sonne als stoische Überzeugung rundweg ab. Als der Stoiker Sarapion ein Kunstwerk im Bezirk des delphischen Heiligtums als eine Weihung an Apollon deutet, in deren Gestaltung sich stoische Vorstellungen über die Entstehung der Sonne aus dem Wasser zeigten,629 kritisiert Philinos ausdrücklich, dass die Sonne nach Sarapions Theorie zu einem Produkt irdischer physikalischer Prozesse herabgemindert werde, eine Vorstellung, die er polemisch mit dem Herabbeschwören des Mondes und der Sonne durch thessalische Hexen vergleicht;630 Sarapion und seine Stoiker entrückten die Sonne ihrem angestammten Ursprung, den Empedokles als „Abglanz des himmlischen Lichtes“ bezeichnet habe, und machten sie zu einem „erdgeborenen Lebewesen und einer Sumpfpflanze“, schrieben sie zusammen mit Fröschen und Wasserschlangen regelrecht „auf dieselbe Bürgerliste“.631 Philinos schlägt demgegenüber selbst eine Interpretation des Kunstwerkes vor, in der Apollon als die Sonne erscheint, ohne dass ihr Wesen auf die kritisierte stoischphysikalische Art erklärt würde, will diese Interpretation jedoch nur gelten lassen, „wenn man denn“, wie er zu Sarapion sagt, „wie ihr der Ansicht sein muss, Apollon und die Sonne seien nicht zwei Götter, sondern einer.“ Die erstaunte Frage des Sarapion, ob Philinos denn meine, Apollon und die Sonne unterschieden sich, bejaht dieser und veranschaulicht den von ihm behaupteten Unterschied mit einem Vergleich: Während der Mond die Sonne nur zeitweise und lokal verdecke, verhindere die Sonne global die Erkenntnis des Apollon, da sie das Denken durch ihre sinnliche Wahrnehmbarkeit vom Seienden auf das Erscheinende ablenke.632 Damit kritisiert Philinos Sarapions Ansichten aus der Perspektive der platonischen Physik und                                                             

De E 4, 386B ἡλίῳ δ᾿ Ἀπόλλωνα τὸν αὐτὸν ὡς ἔπος εἰπεῖν πάντας Ἕλληνας νομίζειν. De Pyth. or. 12, 400A εἰπόντος δὲ τοῦ Σαραπίωνος, ὅτι τὴν ἐξ ὑγρῶν ᾐνίξατο τροφὴν τοῦ ἡλίου καὶ γένεσιν καὶ ἀναθυμίασιν ὁ δημιουργός κτλ. 630 De Pyth. or. 12, 400AB γελάσας ἐγώ ποῦ σὺ πάλιν, εἶπον, ὦ χρηστέ, τὴν Στοὰν δευρὶ παρωθεῖς καὶ ὑποβάλλεις ἀτρέμα τῷ λόγῳ τὰς ἀνάψεις καὶ ἀναθυμιάσεις, [οὐχ] ὥσπερ αἱ Θετταλαὶ κατάγων τὴν σελήνην καὶ τὸν ἥλιον ὡς ἐντεῦθεν ἀπὸ γῆς καὶ ὑδάτων βλαστάνοντας καὶ ἀρδομένους; 631 De Pyth. or. 12, 400B ὑμεῖς δὲ τοῦ μὲν Ἐμπεδοκλέους καταγελᾶτε φάσκοντος τὸν ἥλιον περὶ γῆν ἀνακλάσει φωτὸς οὐρανίου γενόμενον αὖθις „ἀνταυγεῖν πρὸς ὄλυμπον ἀταρβήτοισι προσώποις“, αὐτοὶ δὲ γηγενὲς ζῷον ἢ φυτὸν ἕλειον ἀποφαίνετε τὸν ἥλιον εἰς βατράχων πατρίδα ἢ ὕδρων ἐγγράφοντες. 632 De Pyth. or. 12, 400CD … εἴ γε δεῖ καθ᾿ ὑμᾶς τὸν Ἀπόλλωνα καὶ τὸν ἥλιον μὴ δύο θεοὺς ἀλλ᾿ ἕνα νομίζειν. καὶ ὁ Σαραπίων σὺ γάρ, εἶπεν, οὐχ οὕτω νομίζεις ἀλλ᾿ οἴει τὸν ἥλιον διαφέρειν τοῦ Ἀπόλλωνος; ἔγωγ᾿, εἶπον, ὡς τοῦ ἡλίου τὴν σελήνην· ἀλλ᾿ αὕτη μὲν οὐ πολλάκις οὐδὲ πᾶσιν ἀποκρύπτει τὸν ἥλιον, ὁ δ᾿ ἥλιος ὁμοῦ τι πάντας ἀγνοεῖν τὸν 628 629

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III. Hauptgespräch

Ontologie: Gegen die Vorstellung einer physikalischen Verbindung der Sonne mit dem irdischen Bereich stellt er eine Überzeugung, die die Sonne einem von diesem streng getrennten himmlischen Bereich zuordnet, gegen eine Identifizierung der Sonne mit Apollon führt er das platonische Stufenmodell zweier geschiedener Bereiche der Realität an; die Sonne gehört dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung an, Apollon dem des Intelligiblen. Philinos tritt also für eine platonisch verstandene Göttlichkeit der Sonne ein, wendet sich aber gleichzeitig mit einem platonischen Argument gegen ihre Identität mit dem Gott Apollon. In De defectu oraculorum schließlich wird die Identifikation Apollons mit der Sonne als volksreligiöse Überzeugung in einen platonischen Lösungsversuch des Problems integriert, wie das Ende der Funktionsfähigkeit von Orakeln zu erklären sei. Lamprias, die dominierende Figur des Dialoges, erklärt im 9. Kapitel, dass dieses problematische Phänomen nicht von göttlicher Seite her bewirkt werde, sondern auf die Eigenschaft der Materie zurückzuführen sei, die in ihr zum Ausdruck kommenden göttlichen Wirkungen, worum es sich bei „mantischen Kräften“ handle, regelrecht zu zerstören;633 er beruft sich somit auf eine Theorie, die im Anschluss von Kleombrotos begrüßt und als Platons Mittelweg zwischen einer (epikureischen) Negierung jeglichen göttlichen Einflusses auf den materiellen Kosmos und einer (stoischen) Zurückführung aller materiellen Prozesse auf göttliches Wirken expliziert wird.634 Im Schlussteil des Dialoges, in dem Lamprias beinahe ununterbrochen das Wort hat, erklärt der Sprecher die eingangs von ihm angesprochenen „mantischen Kräfte“, denen das delphische Orakel seine Funktionstüchtigkeit verdanke: Dem delphischen Boden entströme ein bestimmter Hauch, der die Seelen der Orakelmedien in einen enthusiastischen Zustand versetze,                                                              Ἀπόλλωνα πεποίηκεν ἀποστρέφων τῇ αἰσθήσει τὴν διάνοιαν ἀπὸ τοῦ ὄντος ἐπὶ τὸ φαινόμενον. 633 De def. or. 9, 414D ἀναιρεῖσθαι μὲν γὰρ οὐδὲν αἰτίᾳ θεοῦ φημι μαντεῖον οὐδὲ χρηστήριον· ἀλλ᾿ ὥσπερ ἄλλα πολλὰ ποιοῦντος ἡμῖν ἐκείνου καὶ παρασκευάζοντος ἐπάγει φθορὰν ἐνίοις καὶ στέρησιν ἡ φύσις, μᾶλλον δ᾿ ἡ ὕλη στέρησις οὖσα διαφθείρει πολλάκις καὶ ἀναλύει τὸ γιγνόμενον ὑπὸ τῆς κρείττονος αἰτίας, οὕτω μαντικῶν οἶμαι δυνάμεων σκοτώσεις ἑτέρας καὶ ἀναιρέσεις εἶναι, πολλὰ καλὰ τοῦ θεοῦ διδόντος ἀνθρώποις ἀθάνατον δὲ μηδέν· ὥστε θνήσκειν καὶ τὰ θεῶν θεοὺς δ᾿ οὒ κατὰ τὸν Σοφοκλέα (frg. 766). τὴν δ᾿ οὐσίαν αὐτῶν καὶ δύναμιν ἐν τῇ φύσει καὶ τῇ ὕλῃ φασὶ δεῖν οἱ θεοφιλεῖς ζητεῖν, τῷ θεῷ τῆς ἀρχῆς ὥσπερ ἐστὶ δίκαιον φυλαττομένης. 634 De def. or. 10, 414ΕF καὶ ὁ Κλεόμβροτος· ὀρθῶς λέγεις· ἀλλ᾿ ἐπεὶ τὸ λαβεῖν καὶ διορίσαι, πῶς χρηστέον καὶ μέχρι τίνων τῇ προνοίᾳ, χαλεπόν, οἱ μὲν οὐδενὸς ἁπλῶς τὸν θεὸν οἱ δ᾿ ὁμοῦ τι πάντων αἴτιον ποιοῦντες ἀστοχοῦσι τοῦ μετρίου καὶ πρέποντος. εὖ μὲν οὖν λέγουσι καὶ οἱ λέγοντες, ὅτι Πλάτων τὸ ταῖς γεννωμέναις ποιότησιν ὑποκείμενον στοιχεῖον ἐξευρών, ὃ νῦν ὕλην καὶ φύσιν καλοῦσιν, πολλῶν ἀπήλλαξε καὶ μεγάλων ἀποριῶν τοὺς φιλοσόφους.

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in dem sie zum Empfang göttlicher Botschaften befähigt seien.635 Der delphische Erdhauch liefert nach Lamprias gleichsam denjenigen äußeren Reiz, den das mantische „Organ“ Seele benötige, um die ihm zugedachte Aufgabe zu erfüllen, so wie das Licht erst das Organ Auge in dem ihm bestimmten Sinne in Funktion setze.636 Diese funktionale Ähnlichkeit zwischen dem Erdhauch und dem Licht habe, so Lamprias, die traditionelle Auffassung gezeitigt, Apollon und die Sonne seien ein und derselbe Gott.637 Demgegenüber verträten die „Kenner und Verehrer der schönen und klugen Analogie“ – also die Platoniker, die sich an Platons Sonnengleichnis aus der Politeia orientieren – die Auffassung, Apollon und die Sonne seien nicht identisch, sondern diese stünde zu jenem in einem Verhältnis eines „ewig werdenden“ „Abkömmlings“ und „Sprösslings“ zu seinem „ewig seienden“ Erzeuger, das sich in analogen Wirkungen der beiden Entitäten, der Sonne im Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren (Körper, Sehsinn, Licht), des Apollon im Bereich des Intelligiblen (Seele, Vernunft, Wahrheit) manifestiere; dabei unterstütze die Sonne den körperlichen Sehsinn, Apollon das seelische mantische Vermögen.638 Lamprias’ weitere Ausführungen gelten zunächst wieder der Erklärung des jeweiligen Anteils göttlicher und materieller Aspekte bei der Entstehung und dem Vergehen von Orakeln, wobei der Redner seine Aussagen aus dem 9. Kapitel der Schrift aufnimmt und anhand der traditionellen Sicht einer Identität von Apollon und der Sonne weiter ausarbeitet. Die Tatsache, dass das delphische Orakel Apollon und Gē gemeinsam geweiht sei, beruhe auf der Auffassung einer Identität von Sonne und Apollon: Als Sonne bewirke Apollon in der Erde das Entstehen des mantischen Hauches, die Erde wiederum sei zwar „ewig und unvergänglich“, doch ihre Kräfte, wie der mantische Hauch, seien allerlei lokalen Wandlungen unterworfen, die sich in Entstehen und Vergehen einzelner Manifestationen derselben äußerten;639                                                             

Vgl. De def. or. 40, 432D – 42, 433E. De def. or. 42, 433D ἐμοὶ δὲ δοκεῖ μάλιστα τοιαύτην πρὸς τὸ μαντικὸν πνεῦμα λαμβάνειν σύγκρασιν ψυχὴ καὶ σύμπηξιν, οἵαν πρὸς τὸ φῶς ἡ ὄψις ὁμοιοπαθὲς γιγνόμενον· ὀφθαλμοῦ τε γὰρ ἔχοντος τὴν ὁρατικὴν δύναμιν οὐδὲν ἄνευ φωτὸς ἔργον ἐστίν, ψυχῆς τε τὸ μαντικὸν ὥσπερ ὄμμα δεῖται τοῦ συνεξάπτοντος οἰκείου καὶ συνεπιθήγοντος. 637 De def. or. 42, 433D ὅθεν οἱ μὲν πολλοὶ τῶν προγενεστέρων ἕνα καὶ τὸν αὐτὸν ἡγοῦντο θεὸν Ἀπόλλωνα καὶ ἥλιον. 638 De def. or. 42, 433DE οἱ δὲ τὴν καλὴν καὶ σοφὴν ἐπιστάμενοι καὶ τιμῶντες ἀναλογίαν, ὅπερ σῶμα πρὸς ψυχὴν ὄψις δὲ πρὸς νοῦν φῶς δὲ πρὸς ἀλήθειάν ἐστι, τοῦτο τὴν ἡλίου δύναμιν εἴκαζον εἶναι πρὸς τὴν Ἀπόλλωνος φύσιν, ἔκγονον ἐκείνου καὶ τόκον ὄντος ἀεὶ γιγνόμενον ἀεὶ τοῦτον ἀποφαίνοντες. ἐξάπτει γὰρ καὶ προάγεται καὶ συνεξορμᾷ τῆς αἰσθήσεως τὴν ὁρατικὴν δύναμιν οὗτος ὡς τῆς ψυχῆς τὴν μαντικὴν ἐκεῖνος. 639 De def. or. 43, 433EF οἱ μέντοι δοξάζοντες ἕνα καὶ τὸν αὐτὸν θεὸν εἶναι, εἰκότως Ἀπόλλωνι καὶ Γῇ κοινῶς ἀνέθεσαν τὸ χρηστήριον, οἰόμενοι τὴν διάθεσιν καὶ κρᾶσιν ἐμποιεῖν τῇ γῇ τὸν ἥλιον, ἀφ᾿ ἧς ἐκφέρεσθαι τὰς μαντικὰς ἀναθυμιάσεις. αὐτὴν μὲν οὖν τὴν γῆν ὥσπερ Ἡσίοδος (Theog. 117) ἐνίων φιλοσόφων βέλτιον διανοηθείς „πάντων ἕδος 635 636

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wie beispielsweise Quellen bald entsprängen, bald versiegten, so müsse man auch bei den Austrittsstellen des mantischen Hauches Veränderungen annehmen, die etwa durch Erdbeben herbeigeführt würden.640 Diese Erklärung des Zusammenwirkens eines durch Apollon als Sonne vertretenen göttlich-schöpferischen und eines durch die Erde als eines Wandlungen unterworfenen Materialprinzips verkörperten Aspektes beim Entstehen und Vergehen der Orakel trifft bei Ammonios wenig später auf Unverständnis; er unterstellt Lamprias, eine rein physikalische Erklärung der Funktionsweise der Orakel geliefert zu haben, die den Gedanken an einen göttlichen Ursprung der Orakel untergrabe641 und bestimmte Opferriten vor der Konsultation des Orakels sowie eine spezielle Lebensführung der Pythia überflüssig mache.642 Lamprias verteidigt sich gegen diesen Vorwurf mit Berufung auf Platon und dessen bereits im 9. Kapitel von ihm vertretene Lehre eines Zusammenspiels einer göttlich-konstruktiven Wirkung und eines passiven Materialprinzips bei der Entstehung von Phänomenen der körperlichen Welt.643 Es sei alles andere als eine gottlose Behauptung, den                                                              ἀσφαλές“ προσεῖπεν, οὕτω καὶ ἡμεῖς καὶ ἀΐδιον καὶ ἄφθαρτον νομίζομεν· τῶν δὲ περὶ αὐτὴν δυνάμεων πῆ μὲν ἐκλείψεις πῆ δὲ γενέσεις ἀλλαχοῦ δὲ μεταστάσεις καὶ μεταρροίας ἀλλαχόθεν εἰκός ἐστι συμβαίνειν, καὶ κυκλεῖν ἐν αὐτῇ τὰς τοιαύτας ἐν τῷ χρόνῳ παντὶ πολλάκις περιόδους κτλ. 640 Vgl. De def. or. 43, 433F – 44, 434C. 641 De def. or. 45, 435A νυνὶ δέ μοι δοκοῦμεν αὐτοὺς πάλιν ἐκείνους [sc. die Daimones, denen zuvor der Gesprächspartner Kleombrotos die Verwaltung der Orakel zugewiesen hatte] ἐξωθεῖν καὶ ἀπελαύνειν ἐνθένδε τοῦ χρηστηρίου καὶ τοῦ τρίποδος εἰς πνεύματα καὶ ἀτμοὺς καὶ ἀναθυμιάσεις τὴν τῆς μαντικῆς ἀρχὴν μᾶλλον δὲ τὴν οὐσίαν αὐτὴν καὶ τὴν δύναμιν ἀναλύοντες. αἱ γὰρ εἰρημέναι κράσεις καὶ θερμότητες αὗται καὶ στομώσεις ὅσῳ μᾶλλον ἀπάγουσι τὴν δόξαν ἀπὸ τῶν θεῶν κτλ. 642 Vgl. De def. or. 46, 435B–E. 643 De def. or. 47, 435E–436A ἀπολογήσομαι δὲ μάρτυρα καὶ σύνδικον ὁμοῦ Πλάτωνα (Phaedo 97b) παριστάμενος. ἐκεῖνος γὰρ ὁ ἀνὴρ Ἀναξαγόραν μὲν ἐμέμψατο τὸν παλαιόν, ὅτι ταῖς φυσικαῖς ἄγαν ἐνδεδεμένος αἰτίαις καὶ τὸ κατ᾿ ἀνάγκην τοῖς τῶν σωμάτων ἀποτελούμενον πάθεσι μετιὼν ἀεὶ καὶ διώκων, τὸ οὗ ἕνεκα καὶ ὑφ᾿ οὗ, βελτίονας αἰτίας οὔσας καὶ ἀρχάς, ἀφῆκεν· αὐτὸς δὲ πρῶτος ἢ μάλιστα τῶν φιλοσόφων ἀμφοτέρας ἐπεξῆλθε, τῷ μὲν θεῷ τὴν ἀρχὴν ἀποδιδοὺς τῶν κατὰ λόγον ἐχόντων, οὐκ ἀποστερῶν δὲ τὴν ὕλην τῶν ἀναγκαίων πρὸς τὸ γιγνόμενον αἰτιῶν, ἀλλὰ συνορῶν, ὅτι τῇδέ πη καὶ τὸ πᾶν αἰσθητὸν διακεκοσμημένον οὐ καθαρὸν οὐδ᾿ ἀμιγές ἐστιν, ἀλλὰ τῆς ὕλης συμπλεκομένης τῷ λόγῳ λαμβάνει τὴν γένεσιν. De def. or. 48, 436DE καθόλου γάρ, ὥς φημι, δύο πάσης γενέσεως αἰτίας ἐχούσης οἱ μὲν σφόδρα παλαιοὶ θεολόγοι καὶ ποιηταὶ τῇ κρείττονι μόνῃ τὸν νοῦν προσεῖχον τοῦτο δὴ τὸ κοινὸν (Orph. frg. 21a v. 2) ἐπιφθεγγόμενοι πᾶσι πράγμασι „Ζεὺς ἀρχὴ Ζεὺς μέσσα, Διὸς δ᾿ ἐκ πάντα πέλονται“· ταῖς δ᾿ ἀναγκαίαις καὶ φυσικαῖς οὐκέτι προσῄεσαν αἰτίαις. οἱ δὲ νεώτεροι τούτων καὶ φυσικοὶ προσαγορευόμενοι τοὐναντίον ἐκείνοις τῆς καλῆς καὶ θείας ἀποπλανηθέντες ἀρχῆς ἐν σώμασι καὶ πάθεσι σωμάτων πληγαῖς τε καὶ μεταβολαῖς καὶ κράσεσι τίθενται τὸ σύμπαν. ὅθεν ἀμφοτέροις ὁ λόγος ἐνδεὴς τοῦ προσήκοντός ἐστι, τοῖς μὲν τὸ δι᾿ οὗ καὶ ὑφ᾿ οὗ τοῖς δὲ τὸ ἐξ ὧν καὶ δι᾿ ὧν ἀγνοοῦσιν ἢ παραλείπουσιν. ὁ δὲ πρῶτος ἐκφανῶς ἁψάμενος ἀμφοῖν καὶ τῷ κατὰ λόγον

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materiellen Aspekt des mantischen Prozesses als eine Reaktion der menschlichen Seele auf den Reiz des mantischen Hauches zurückzuführen, denn „die Erde, die die Aufdampfungen hervorbringt und die Sonne, die der Erde jede Kraft der Mischung und Wandlung eingibt, sind für uns nach dem Brauch der Väter Götter.“644 Lamprias legt seiner Verteidigung gegen den Vorwurf der Gottlosigkeit damit die traditionelle Identifikation des Apollon mit der Sonne zugrunde, die er in den Kapiteln 42 und 43 zum Ausgangspunkt seiner Erklärung der Funktionsweise der Orakel aus dem Zusammenwirken eines solar-apollinischen göttlichen Form- und eines irdischen Materialprinzips genommen hatte. Aufs Ganze gesehen bleibt allerdings die Frage, ob Apollon mit der Sonne identisch ist, oder ob die Sonne nur ein Aspekt Apollons als einer wesensmäßig transzendent-intelligiblen Entität anzusehen sei, in De defectu oraculorum merkwürdig in der Schwebe. Wie Lamprias bereits im 42. Kapitel neben der traditionellen Identifizierung des Apollon mit der Sonne auch die – freilich im weiteren Argumentationsverlauf nicht weiter berücksichtigte – differenzierte Sichtweise des platonischen Sonnengleichnisses genannt hatte, nach dem die Sonne der sinnlich wahrnehmbare „Abkömmling“ und „Sprössling“ des intelligiblen Apollon sei, so findet sich schon im 7. Kapitel der Schrift eine Aussage des Lamprias, die wiederum das Sonnengleichnis voraussetzt, aber Apollon nicht eindeutig auf dessen transzendenten oder immanenten Aspekt festlegt: „Ob er nun die Sonne ist oder der Herr und Vater der Sonne und jenseits des gesamten sichtbaren Bereichs steht, so ist es nicht wahrscheinlich, dass er den jetzigen Menschen seine Stimme vorenthält, für deren Entstehen, Nahrung, Dasein und Denken er verantwortlich ist.“645 Eine letzte Entscheidung dieser Frage scheint auch vor dem Hintergrund zweier weiterer, aufeinander bezogener Passagen des Dialogs nicht die Intention des Autors zu sein. Zunächst schickt Plutarch dem heftigen Vorwurf des Ammonios, Lamprias vertrete ein gottloses, weil rein physikalisches Erklärungsmodell der Orakelfunktion, einen kurzen Hinweis auf ein Gespräch voraus, das Philippos mit Ammonios geführt habe, während Demetrios noch ergänzende Ausführungen zu Lamprias’ später von Ammonios                                                              ποιοῦντι καὶ κινοῦντι προσλαβὼν τὸ ἀναγκαίως ὑποκείμενον καὶ πάσχον ἀπολύεται καὶ ὑπὲρ ἡμῶν πᾶσαν ὑποψίαν καὶ διαβολήν. 644 De def. or. 48, 436EF οὐ γὰρ ἄθεον ποιοῦμεν οὐδ᾿ ἄλογον τὴν μαντικήν, ὕλην μὲν αὐτῇ τὴν ψυχὴν τοῦ ἀνθρώπου τὸ δ᾿ ἐνθουσιαστικὸν πνεῦμα καὶ τὴν ἀναθυμίασιν οἷον ὀργάνῳ [ἢ] πλῆκτρον ἀποδιδόντες· πρῶτον μὲν γὰρ ἡ γεννήσασα γῆ τὰς ἀναθυμιάσεις ὅ τε πᾶσαν ἐνδιδοὺς κράσεως τῇ γῇ καὶ μεταβολῆς δύναμιν ἥλιος νόμῳ πατέρων θεός ἐστιν ἡμῖν. 645 De def. or. 7, 413C καὶ εἴθ᾿ ἥλιός ἐστιν εἴτε κύριος ἡλίου καὶ πατὴρ καὶ ἐπέκεινα τοῦ ὁρατοῦ παντός, οὐκ εἰκὸς ἀπαξιοῦν φωνῆς τοὺς νῦν ἀνθρώπους, οἷς αἴτιός ἐστι γενέσεως καὶ τροφῆς καὶ τοῦ εἶναι καὶ φρονεῖν.

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inkriminierten Thesen gemacht habe. Ammonios berichtet über den Inhalt des erwähnten Gesprächs nur, dass Philippos „etwas zu dem Gesagten hinzufügen könne“, denn er sei „wie die meisten auch selbst der Ansicht, die Sonne sei nicht ein anderer Gott als Apollon, sondern mit ihm identisch.“646 Allerdings lässt Ammonios Philippos nicht zu Wort kommen, sondern erklärt, das ihn selbst beschäftigende Problem sei „größer“ und betreffe „wichtigere Angelegenheiten“647, nämlich dasjenige, dem er in der Kritik an Lamprias’ angeblich gottlos-physikalischen Erklärungen Ausdruck verleiht. Es ist mithin nicht die Frage nach der Identität des Apollon mit der Sonne, um deren Lösung es dem Autor zu tun ist, sondern die allgemeine Frage nach den göttlichen und materiellen Anteilen an der Funktionsweise der Orakel, die in De defectu oraculorum thematisiert und – wie Lamprias’ Verteidigung gegen Ammonios’ Vorwürfe zeigt – mit einer platonischen ZweiPrinzipienlehre gelöst wird, innerhalb deren die Sonne als das göttliche Prinzip fungiert, das auf ein passiv-irdisches Materialprinzip einwirkt. Erst am Ende des Dialoges lässt Plutarch Philippos’ Position, Apollon sei mit der Sonne identisch, als eine Ansicht wieder aufgreifen, die ausdrücklich zusammen mit der Erörterung eines weiteren Problems bei einem späteren Anlass diskutiert werden soll. Die Kraft des Erdhauches ist, wie Lamprias seine Thesen resümiert, „wahrhaft göttlich […], jedoch weder unerschöpflich noch unvergänglich noch alterslos und über die unendliche Zeit hin beständig, unter deren Einfluss alles, was sich zwischen Erde und Mond befindet, nach meiner Meinung seine Kraft verliert. Es gibt aber auch Vertreter der Auffassung, dass auch die oberen Dinge [also der Bereich der Sonne und der Fixsterne] nicht dauerhaft sind, sondern gegenüber der Ewigkeit und Unendlichkeit erschlaffen und Vergehen, Wandlungen und Wiedergeburten unterworfen sind.“648 Mit diesen Worten bekräftigt Lamprias zunächst seine Lösung, nach der die Orakel das Ergebnis einer                                                             

646 De def. or. 46, 434F ὁ μὲν οὖν Δημήτριος ταῦτ᾿ εἰπὼν ἐσιώπησεν· ἐγὼ δὲ βουλόμενος ὥσπερ τι κεφάλαιον ἐπιθεῖναι τῷ λόγῳ πρὸς τὸν Φίλιππον αὖθις ἀπέβλεψα καὶ τὸν Ἀμμώνιον ὁμοῦ καθημένους. ἔδοξαν οὖν μοι βούλεσθαί τι διαλεχθῆναι, καὶ πάλιν ἐπέσχον. ὁ δ᾿ Ἀμμώνιος ἔχει μέν, ἔφη, καὶ Φίλιππος, ὦ Λαμπρία, περὶ τῶν εἰρημένων εἰπεῖν· οἴεται γὰρ ὥσπερ οἱ πολλοὶ καὶ αὐτὸς οὐχ ἕτερον εἶναι τὸν Ἀπόλλωνα θεὸν ἀλλὰ τῷ ἡλίῳ τὸν αὐτόν. 647 De def. or. 46, 435A ἡ δ᾿ ἐμὴ μείζων ἀπορία καὶ περὶ μειζόνων. 648 De def. or. 51, 438CD ἔστι δὲ θεία μὲν ὄντως […], οὐ μὴν ἀνέκλειπτος οὐδ᾿ ἄφθαρτος οὐδ᾿ ἀγήρως καὶ διαρκὴς εἰς τὸν ἄπειρον χρόνον ὑφ᾿ οὗ πάντα κάμνει τὰ μεταξὺ γῆς καὶ σελήνης κατὰ τὸν ἡμέτερον λόγον. εἰσὶ δ᾿ οἱ καὶ τὰ ἐπάνω φάσκοντες οὐχ ὑπομένειν, ἀλλ᾿ ἀπαυδῶντα πρὸς τὸ ἀΐδιον καὶ ἄπειρον †ὀξέσι χρῆσθαι μεταβολαῖς καὶ παλιγγενεσίαις. Für das korrupte ὀξέσι sind mehrere Vorschläge gemacht worden (vgl. den Apparat bei SIEVEKING und RESCIGNO, 1995). WYTTENBACH: συνεχέσι. POHLENZ: παραλλάξεσι. REISKE: ὀξείαις. DEL RE: φθίσεσι. PATON vermutet im Apparat substituenda vox quae idem atque ἀπολήξεσι valet und fügt nach χρῆσθαι ein καί ein; da παλιγγενεσίαις eines komplementären Begriffs bedarf, wäre, wenn man PATON folgen will, entweder

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göttlichen Beeinflussung der Materie darstellen, in der sich allerdings über die Zeit hin Wandlungen vollziehen, die das Ergebnis jener göttlichen Wirkung, den mantischen Hauch, wieder außer Kraft setzen. Lamprias’ Hinweis auf den Bereich zwischen Mond und Erde, in dem sich die besagten Wandlungen vollziehen, ist als indirekter Verweis auf die Situierung jener göttlichen Entität zu verstehen, die Lamprias für die Entstehung des mantischen Hauches in der Erde verantwortlich macht: Die Sonne, die in einem translunaren Bereich gemeinsam mit den Fixsternen zu lokalisieren ist und deshalb nicht von der Instabilität des sublunaren Bereichs betroffen ist. Eine Veränderlichkeit auch des translunaren Bereichs und damit auch der göttlichen Aktivität der Sonne wird von Lamprias als die Ansicht „bestimmter Leute“ erwähnt, worunter zweifellos die Stoiker und ihre Lehre der zyklisch wiederkehrenden Ekpyrosis gemeint sind, in der auch die Sonne und die Fixsterne zusammen mit dem sonstigen Kosmos in einem einheitlichen Feuer verbrennen, das sich dann wieder zu einem neuen Kosmos ausdifferenziert. Lamprias beschließt den gesamten Dialog mit der Aufforderung an die Gesprächsteilnehmer, „diese Dinge“, womit er offenbar die beiden Alternativen der von ihm selbst postulierten ewigen Stabilität des translunaren Bereichs und der stoischen Lehre von einer zyklischen Vernichtung und Neukonstituierung auch des translunaren Bereichs meint, immer wieder nach beiden Seiten hin durchzudenken. Dafür fehle allerdings im jetzigen Moment die Zeit, weshalb „sowohl diese Dinge auf ein andermal verschoben werden sollen als auch Philippos’ Überlegungen über die Sonne und Apollon.“649 Der Umstand, dass Plutarch Lamprias erst in diesem Zusammenhang an Philippos’ im 46. Kapitel nur erwähnte Position einer Identität des Apollon mit der Sonne erinnern lässt, ist ein starkes Indiz dafür, dass die Haltbarkeit dieser Position wesentlich mit der Entscheidung für oder gegen eine Veränderlichkeit des translunaren Bereichs und damit mit der Ewigkeit der mit Apollon identifizierten Sonne zusammenhängt. Ohne dass letztlich klar würde, worin der Gesprächsbeitrag des Philippos hinsichtlich der Frage nach der Identität Apollons mit der Sonne bestanden haben würde, scheint doch so viel deutlich, dass er in Auseinandersetzung mit der stoischen Weltzyklenlehre zu denken wäre.                                                              dessen „Schwinden“ (ἀπολήξεσι) oder DEL REs φθίσεσι praktikabel. Auch φθοραῖς, das hier vorgeschlagen werden soll, ergibt im Zusammenhang der im Text angedeuteten Ekpyrosislehre einen guten Sinn und liegt der obigen Übersetzung zugrunde. Als komplementärer Begriff zu παλιγγενεσία erscheint φθοράς De E 9, 389A ebenfalls im Kontext der stoischen Ekpyrosislehre. 649 De def. or. 52, 438D ταῦτ᾿, ἔφην ἐγώ, πολλάκις ἀνασκέπτεσθαι καὶ ὑμᾶς παρακαλῶ καὶ ἐμαυτόν, ὡς ἔχοντα πολλὰς ἀντιλήψεις καὶ ὑπονοίας πρὸς τοὐναντίον, ἃς ὁ καιρὸς οὐ παρέχει πάσας ἐπεξελθεῖν· ὥστε καὶ ταῦθ᾿ ὑπερκείσθω καὶ ἃ Φίλιππος διαπορεῖ περὶ ἡλίου καὶ Ἀπόλλωνος.

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Eine Orientierung darüber, welche Position Plutarch gegenüber der stoischen Ekpyrosislehre in ihrer Auswirkung auf den translunaren Bereich und damit auf die Göttlichkeit der Gestirne bezieht, bietet die Schrift De communibus notitiis. Dort wirft Plutarch den Stoikern im 31. Kapitel vor, über die Götter die mit den menschlichen Allgemeinvorstellungen völlig unvereinbare Lehre zu vertreten, außer Zeus, „in den sie alle anderen auflösen“, seien die Götter als sterblich anzusehen.650 Die hier implizierte stoische Ekpyrosislehre wird von Plutarch wenig später gerade unter dem Aspekt kritisiert, dass die Gestirne, die als Götter zu betrachten seien, zusammen mit der Sonne in einem einheitlichen Feuer vergingen, wodurch jede Form von Gebet und Bitte an diese Gestirnsgötter um Rettung lächerlich erscheinen müsse, da sich ein solches menschliches Hilfsgesuch an selbst sterbliche, ja regelrecht suizidale Wesen richtete.651 Vor dem Hintergrund dieser Aussagen können die Andeutungen eines weiteren Diskussionsbedarfs am Ende von De defectu oraculorum dahingehend verstanden werden, dass Apollon sehr wohl mit der Sonne identifiziert werden kann, sofern man nicht, wie die Stoiker, die Gestirne des translunaren Bereichs derselben Vergänglichkeit anheimstellt, die im sublunaren Bereich herrscht; dies bedeutete letztlich, dass eine Identifizierung Apollons mit der Sonne nur dann akzeptabel ist, wenn die Lehre von der Ekpyrosis aufgegeben und die Sonne nach den Vorstellungen der platonischen Physik wie alle anderen Gestirnsgötter als sichtbare Erscheinung der ewigen göttlichen Weltseele verstanden wird. Wenn nun Ammonios im 21. Kapitel von De E apud Delphos die Frage nach der Identität des Apollon mit der Sonne diskutiert und im Anschluss daran die stoische Ekpyrosislehre als Teil der Weltzyklentheorie scharf ablehnt, so klingen dort einzelne Elemente aus den Diskussionen von De Pythiae oraculis und De defectu oraculorum an: Wie Philinos vertritt Ammonios die Ansicht, dass der sinnlich wahrnehmbare Bereich, dem er die Sonne                                                             

650 De comm. not. 31, 1074E–1075B οἱ δ’ ὥσπερ ἀφ’ ἑστίας ἀρξάμενοι τὰ καθεστῶτα κινεῖν καὶ πάτρια τῆς περὶ θεῶν δόξης οὐδεμίαν, ὡς ἁπλῶς εἰπεῖν, ἔννοιαν ὑγιῆ καὶ ἀκέραιον ἀπολελοίπασι. τίς γάρ ἐστιν ἄλλος ἀνθρώπων ἢ γέγονεν, ὃς οὐκ ἄφθαρτον νοεῖ καὶ ἀΐδιον τὸ θεῖον; […] καὶ ἴσως ἐντύχοι τις ἂν ἔθνεσι βαρβάροις καὶ ἀγρίοις θεὸν μὴ νοοῦσι, θεὸν δὲ νοῶν μὴ νοῶν δ᾿ ἄφθαρτον μηδ᾿ ἀΐδιον ἄνθρωπος οὐδὲ εἷς γέγονεν. […] ἀλλὰ Χρύσιππος καὶ Κλεάνθης, ἐμπεπληκότες ὡς ἔπος εἰπεῖν τῷ λόγῳ θεῶν τὸν οὐρανὸν τὴν γῆν τὸν ἀέρα τὴν θάλατταν, οὐδένα τῶν τοσούτων ἄφθαρτον οὐδ᾿ ἀΐδιον ἀπολελοίπασι πλὴν μόνου τοῦ Διός, εἰς ὃν πάντας καταναλίσκουσι τοὺς ἄλλους. 651 De comm. not. 31, 1075D ἔτι τοίνυν ἐπαγωνιζόμενος ὁ Κλεάνθης τῇ ἐκπυρώσει λέγει τὴν σελήνην καὶ τὰ λοιπὰ ἄστρα τὸν ἥλιον … ἐξομοιῶσαι πάντα ἑαυτῷ καὶ μεταβαλεῖν εἰς ἑαυτόν. ἀλλ᾿ ὅτι … οἱ ἀστέρες θεοὶ ὄντες πρὸς τὴν ἑαυτῶν φθορὰν συνεργοῦσι τῷ ἡλίῳ, συνεργοῦντές τι πρὸς τὴν ἐκπύρωσιν, πολὺς ἂν εἴη γέλως ἡμᾶς περὶ σωτηρίας αὐτοῖς προσεύχεσθαι καὶ σωτῆρας ἀνθρώπων νομίζειν, οἷς κατὰ φύσιν ἔστι τὸ σπεύδειν ἐπὶ τὴν αὑτῶν φθορὰν καὶ ἀναίρεσιν.

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zuordnet (De E 21, 393D wird sie als αἰσθητόν und φερόμενον bestimmt), vom intelligiblen Bereich, in dem er Apollon als ein νοητόν und μένον lokalisiert, zu unterscheiden ist. Allerdings spricht Ammonios im Unterschied zu Philinos nicht davon, dass es sich bei der Sonne und Apollon um zwei scharf zu unterscheidende Götter handelt, von denen der sichtbare Gott die Erkenntnis des intelligiblen Gottes regelrecht behindere: Er äußert sich vielmehr dahingehend, dass die Vorstellungen des Apollon als der Sonne und als einer rein intelligiblen Wesenheit zwei unterschiedliche Weisen der Erfassung derselben Gottheit darstellen, wovon die eine dem Blicken im Traum, die andere dem Blicken im Wachzustand (De E 21, 393D τὸν θεὸν ὀνειροπολοῦντας … θεάσασθαι τὸ ὕπαρ αὐτοῦ) gleiche. Entsprechend fordert Ammonios zwar dazu auf, den Traumzustand, in dem Apollon mit der Sonne identifiziert wird, zugunsten eines Wachzustandes der Erfassung seines intelligiblen Wesens zu überwinden, doch missbilligt er keineswegs die Identifizierung Apollons mit der Sonne, sondern lobt ausdrücklich die „Wohlgeratenheit“ (εὐφυΐα) derer, die dieser Ansicht sind, bezeichnet diese Auffassung als „schönsten aller Träume“652 und empfiehlt ausdrücklich die weitere Verehrung (τιμᾶν) der Sonne als einer εἰκών des intelligiblen Apollon, da sie seine transzendenten Eigenschaften sichtbar abbilde.653 Eine Gemeinsamkeit mit De defectu oraculorum ergibt sich aus der Verbindung, die Ammonios zwischen der Frage nach der Identität der Sonne mit Apollon und der stoischen Ekpyrosislehre herstellt. In Lamprias’ Ausführungen stehen zwei Sichtweisen nebeneinander, eine, nach der Apollon als mit der Sonne identisch das göttliche Formprinzip innerhalb einer platonischen Zwei-Ursachen-Lehre bildet, und eine andere, in der die Sonne einen Aspekt des intelligiblen Apollon darstellt, wobei das Verhältnis zwischen den beiden Auffassungen des Gottes bald unentschieden bleibt (7. Kapitel), bald mit der biologischen Metaphorik des platonischen Sonnengleichnisses ausgedrückt wird (42. Kapitel). Die Frage der Identität der Sonne mit Apollon wird von Lamprias ebenso wenig trennscharf entschieden wie von Ammonios, der wie Lamprias Apollon und die Sonne als zwei Aspekte derselben Gottheit auffasst. Während allerdings Lamprias die Theorie der Ekpyrosis, nach der auch die Sonne Wandlungen, Vergehen und Wiedergeburten unterworfen ist, einer weiteren Diskussion anheimstellt, wobei er immerhin anzudeuten scheint, dass eine Auffassung Apollons als der Sonne mit der Ekpyrosistheorie unvereinbar ist, bezieht Ammonios in dieser Frage eine klare Position; diese ist ebenfalls aufs Engste an die Erörterung des Verhältnisses des                                                             

De E 21, 393D ἐν τῷ καλλίστῳ τῶν ἐνυπνίων. De E 21, 393B ἐμφάσεις τινὰς καὶ εἴδωλα διαλάμπουσαν … τῆς περὶ ἐκεῖνον εὐμενείας καὶ μακαριότητος. 652 653

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III. Hauptgespräch

Apollon zur Sonne geknüpft, da derjenige Personenkreis, zu dessen Auffassungen einer Identität der Sonne und des Apollon und der Ekpyrosislehre er Stellung nimmt, derselbe ist.654 Während Ammonios – wie Lamprias in De defectu oraculorum – eine Identifizierung Apollons mit der Sonne durchaus anerkennt, da die Sonne ein sinnlich wahrnehmbarer Aspekt des intelligiblen Apollon darstellt, lehnt er die Lehre der Ekpyrosis scharf ab. Ammonios scheint damit zu explizieren, was Lamprias am Ende von De defectu oraculorum nur andeutet: Die qualifizierte Vorstellung einer Identität des ewigen Gottes Apollon mit der Sonne, die Ammonios vertritt, ist mit der These eines zyklischen Weltenbrandes, in dem auch die Gestirne vernichtet werden, um später wieder neu zu entstehen, gänzlich unvereinbar. Wenn der von Ammonios im 21. Kapitel genannte Personenkreis die Stoiker sind, worauf angesichts der Erwähnung der Weltzyklentheorie alles hindeutet, so scheint dies einerseits zu bedeuten, dass der Redner bestrebt ist, in der Frage nach der Identität Apollons mit der Sonne die Gemeinsamkeiten seiner Ansichten mit derjenigen der Stoiker zu betonen, andererseits, dass er deren Weltzyklenlehre aus dem Grund verwirft, als sie eben jenen Gemeinsamkeiten den Boden entzieht, da ein mit der Sonne identifizierter, jedoch zyklisch vergehender und werdender Apollon Ammonios’ Grundthesen einer Unwandelbarkeit des Gottes radikal widerspräche. Wie geschickt Ammonios den Stoikern sein Angebot macht, sich mit ihnen auf eine qualifizierte Identität Apollons mit der Sonne unter der Bedingung zu einigen, dass sie die Ekpyrosisthese aufgeben, zeigt ein unscheinbares, aber entscheidendes Detail in seiner Aufzählung jener Elemente des materiellen Kosmos, in die sich der Gott nach Ammonios’ Verdikt in unwürdiger Weise bei der Konstituierung des Kosmos nach der Ekpyrosis auflöst: Da Ammonios offenbar der Sonne einen Sonderstatus unter den sinnlich wahrnehmbaren Dingen einräumt, der es ihm erlaubt, eine Kompatibilität zwischen der eigenen, qualifizierten Identifikation der Sonne mit Apollon und der stoischen Auffassung zu behaupten, lässt er die Gestirne als unwürdige materielle Manifestation des Gottes unerwähnt und zählt nur Erde, Meer, Winde, Lebewesen und Pflanzen auf.655 Zum Vergleich enthält der Katalog der Kosmosbestandteile, der in der Rede ‚Plutarchs‘ erscheint, der die Weltzyklentheorie ebenfalls verwendet – freilich zugunsten seiner zahlentheoretischen Argumentation für die Bedeutung des E –, die Gestirne gegenüber Ammonios’ Aufzählung als das einzige zusätzliche Element.656                                                              654

Siehe oben, S. 298, Anm. 622. De E 21, 393E … αὖθις δὲ καταθλίβοντος ἐνταῦθα κατατείνοντος εἰς γῆν καὶ θάλασσαν καὶ ἀνέμους καὶ ζῷα καὶ τὰ δεινὰ παθήματα [καὶ] ζῴων καὶ φυτῶν οὐδ᾿ ἀκούειν ὅσιον. 656 De E 9, 389A … τῆς δ᾿ εἰς πνεύματα καὶ ὕδωρ καὶ γῆν καὶ ἄστρα καὶ φυτῶν ζῴων τε γενέσεις τροπῆς αὐτοῦ καὶ διακοσμήσεως κτλ. 655

8. Die Rede des Ammonios

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Die erste Hälfte des 21. Kapitels von De E apud Delphos kann somit als Kompromissvorschlag zwischen einer stoischen Auffassung des Apollon, die ihn zugleich speziell als identisch mit der Sonne und allgemein als die materiell begriffene Gesamtheit des Kosmos bestimmt, und einer platonisch qualifizierten Ansicht, die die Sonne allein als den sinnlich wahrnehmbaren Aspekt des intelligiblen Apollon akzeptiert, verstanden werden. Die Forschung hat demgegenüber die harte Kritik, die Ammonios an der Weltzyklenlehre übt, unter der Voraussetzung einer völligen Ablehnung immanenter Aspekte des Göttlichen auch auf Ammonios’ Diskussion des Verhältnisses zwischen der Sonne und Apollon ausgedehnt und dabei Plutarchs mehrfach dokumentierte Überzeugung von der Göttlichkeit der Gestirne entweder ausgeblendet oder in ihrer Bedeutung zu relativieren versucht. BABUT, der die ‚Pythischen Dialoge‘ unter dem Aspekt einer durchgehenden Kritik Plutarchs an der stoischen Theologie liest, behandelt die Einwände, die Philinos in De Pythiae oraculis gegenüber der von Sarapion vertretenen stoisch-physikalischen Auffassung der Sonne erhebt, nicht als eine platonische Verteidigung der Göttlichkeit der Sonne als eines rein himmlischen Wesens, sondern deutet diese zu einem impliziten Bekenntnis Plutarchs zu einer vollständig transzendenten Gottesauffassung um.657 Dies erlaubt es ihm, Philinos’ spätere Differenzierung zwischen den beiden Göttern Sonne und Apollon wiederum als Anklage des stoischen Immanentismus zu lesen, ohne Philinos’ Bestätigung der Göttlichkeit der Sonne in der Interpretation zu berücksichtigen,658 und auf derselben Stufe wie Ammonios’ Kritik an der Ekpyrosislehre als einer „théologie immanentiste“ zu behandeln.659 Da BABUT entsprechend auch die qualifizierte Anerkennung einer Identifikation von Sonne und Apollon durch Ammonios im 21. Kapitel von De E apud Delphos nur als Ausgangspunkt für einen Schritt hinüber in die Transzendenz, nicht aber als Andeutung eines immanenten Aspektes des Gottes interpretiert, erscheint ihm dieser Passus als bedeutendster Versuch innerhalb der ‚Pythischen Dialoge‘, Sarapion, deren stoischen Adressaten, zu einer rein transzendenten platonischen Theologie zu bekehren.660 In seiner                                                              657 BABUT (1993) 216f. (Zitat 217) „Tout se passe, on le voit, comme si l’allégorie de Sarapion, inoffensive et peut-être partiellement fondée, avait servi de prétexte pour une mise en cause fondamentale de la théologie stoïcienne, accusée d’effacer les limites entre „ciel“ et „terre“, entre monde divin et monde humain – autrement dit de méconnaître la transcendance divine.“ 658 BABUT (1993) 219f. (Zitat 220) „Il est clair qu’une fois encore, la seule raison d’être du passage est la volonté de l’auteur de marquer ses distances avec la théologie des amis de Sarapion.“ 659 Vgl. BABUT (1993) 218. 660 BABUT (1993) 226 „À la lumière des analyses qui précèdent, on ne peut en effet plus douter que cette exhortation s’adresse avant tout à Sarapion, à Philippe [sc. die Person, deren Identifikation von Sonne und Apollon in De def. or. erwähnt wird] et sans doute à

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III. Hauptgespräch

früheren Arbeit über Plutarchs Verhältnis zur Stoa hatte BABUT den gänzlich unterschiedlichen Charakter der beiden Passagen aus De Pythiae oraculis und De E apud Delphos freilich noch stärker berücksichtigt.661 Eine differenziertere Sichtweise auf Ammonios’ Aussagen zur Frage nach der Identität des Apollon mit der Sonne und seiner Kritik an der Weltzyklenlehre vertritt OPSOMER, der zwar die Opposition gegen die stoische Theologie ebenfalls als „élément constitutif de la structure dialectique des dialogues pythiques“662 erachtet und BABUTs These eines Versuches Plutarchs, Sarapion und seine stoischen Freunde umzuerziehen, zu teilen geneigt ist,663 jedoch Ammonios’ Ausführungen über die Sonne als „critique                                                              d’autres amis stoïciens de Plutarque, et que celui-ci, en dédiant au poète-philosophe athénien et à ses compagnons le premier de ses Πυθικοὶ λόγοι, était animé par l’espoir de les inciter à une réflexion approfondie sur les problèmes religieux qu’il y abordait, afin de les aider à s’élever „plus haut“ et à accéder à une vision épurée de la nature divine. C’est pouquoi on osera conclure que les Dialogues pythiques ont été conçus dans le dessein de „réveiller“ Sarapion et ses semblables de leur rêve stoïcien, afin de les convertir, en quelque sorte, à la saine théologie, inspirée de Platon, qui reconnaît pleinement la transcendance du divin.“ Ähnlich hat sich schon HIRZEL (1895) 202 geäußert: „Weshalb unter den pythischen Dialogen gerade dieser ausgewählt wurde um Sarapion gewidmet zu werden ist klar: der Plutarch befreundete Poet konnte sich hieraus eines Besseren belehren, da er nach de Pyth. orac. 42 p. 400 A. D. ebenfalls in dem verbreiteten Irrthum befangen war und Apoll mit der Sonne für identisch hielt.“ 661 BABUT (1969) 446f. „Quelque ferme que soit sa conviction sur ce point, la question paraît assez importante à Plutarque pour qu’il promette d’y revenir, à la fin du dialogue [sc. De defectu oraculorum, Anm. d. Verf.]. De fait, il y fait plusieurs fois allusion dans d’autres passages, notamment dans le dialogue Sur l’E de Delphes, où Ammonios souligne la supériorité absolue d’Apollon, le soleil pouvant seulement donner une image de celuici, laquelle, „autant qu’une substance sensible et variable peut le faire pour une substance spirituelle et stable …, présente en quelque sorte un reflet et un miroir lumineux de la bonté et de la félicité divines.“ Ammonios, pourtant, est plein d’indulgence pour ceux qui confondent les deux divinités et qui, selon lui, „méritent nos égards et notre affection pour leur noblesse d’esprit“, car leur erreur est, en somme, de ne pas porter leur regard assez haut „pour avoir de la divinité une vision réelle et contempler son essence.“ Il y a beaucoup moins d’indulgence et de nuances, en revanche, dans la réponse que Philinos fait au Stoïcien Sérapion, quand celui-ci s’étonne, dans le De Pyth. orac., que son interlocuteur paraisse révoquer en doute l’identité des deux divinités; elles sont aussi différentes, réplique-t-il, que le soleil l’est de la lune; „et encore, celle-ci ne cache-t-elle pas souvent le soleil, ni à tout le monde, tandis que le soleil est cause que presque tous les hommes méconnaissent Apollon, car il détourne leur esprit, par la perception sensible, de la réalité vers l’apparence.“ BABUTs folgende psychologische Deutung einer mit der Zeit zunehmenden Intoleranz Plutarchs gegenüber der stoischen Identifizierung Apollons mit der Sonne, die sich in der relativen Chronologie der ‚Pythischen Dialoge‘ ausdrücke, ist freilich rein spekulativ. 662 Vgl. OPSOMER (2006) 150. 663 Vgl. OPSOMER (2006) 162.

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mitigée et bienveillante des Stoïciens“664 klar von dessen „condamnation […] ferme et catégorique“665 der Weltzyklenlehre unterscheidet. Schließlich hat ROSKAM im Rahmen eines großangelegten Versuches, die Frage zu entscheiden, ob Plutarch Apollon für identisch mit der Sonne hält oder nicht, die diesbezüglichen Äußerungen des 21. Kapitels von De E apud Delphos dahingehend interpretiert, dass gerade hier die Ablehnung der Identität durch Plutarch besonders stark zum Ausdruck komme. Nach ROSKAM ist Plutarch der Ansicht, dass die Sonne grundsätzlich nur ein religiöses Symbol für den „höchsten Gott“ sein könne, das die menschliche Erkenntnis zu diesem hinlenke.666 Eine aus anderen Texten Plutarchs zusammengelesene „Symboltheorie“ bestätige sich ihm in Ammonios’ Aussagen über Apollon und die Sonne: Weil die Sonne in Plutarchs Augen nur ein Symbol des Apollon sein könne, muss für Ammonios, den ROSKAM für Plutarchs unverfälschtes Sprachrohr hält,667 jede Form der Identifizierung von vorneherein ausgeschlossen sein,668 ja sogar als schwerer Fehler erscheinen.669 Bei aller Milde, die Ammonios den Angeredeten entgegenbringt, verleihe er doch der Vorstellung Ausdruck, dass die Sonne allein unter ihrem Gesichtspunkt eines religiösen Symbols Verehrung erfahren dürfe.670 Den genannten Interpretationen von Ammonios’ Aussagen über das Verhältnis des Apollon zur Sonne ist eines gemeinsam: BABUT, OPSOMER und ROSKAM lesen den Abschnitt in erster Linie nicht als integralen Bestandteil der speziell auf ihr Beweisziel ausgerichteten Argumentation der Ammoniosrede, der es um eine möglichst scharfe Abgrenzung des Seins des Gottes von allem irdischen Werden und Vergehen zu tun ist, sondern allein                                                             

664 OPSOMER (2006) 150, vgl. ibid. „Ammonius veut bien admettre que les gens qui identifient Apollon avec le soleil méritent notre respect, pour avoir mis en rapport „l’object par excellence de leurs hommages, parmi tout ce qu’il connaissent et recherchent“, avec l’idée du divin.“ 665 OPSOMER (2006) 151. 666 Vgl. ROSKAM (2006) 192–199 (Zitat 193f.) „Ailleurs, Plutarque précise la nature propre de la relation soleil-Apollon; en effet, à plusieurs reprises, il tient le soleil pour symbole par excellence du premieur dieu, pour l’image (εἰκών, εἴδωλον) d’Apollon.“ 667 Vgl. ROSKAM (2006) 186. 668 ROSKAM (2006) 202 „Tous les principes centraux de la théorie des symboles de Plutarque, et avec eux l’ambivalence dans le symbole, sont bien cristallisés dans ce texte connu. Si le soleil est le symbole d’Apollon, une équation des deux est exclue a priori.“ 669 ROSKAM (2006) 203 „De tout cela, il ressort clairement que ceux qui acceptent l’équation Apollon-Soleil sans esprit critique commettent une faute grave.“ 670 ROSKAM (2006) 204 „Alors, le symbole peut recevoir aussi une certaine vénération: τιμᾶν δὲ καὶ τὴν εἰκόνα τήνδε καὶ σέβεσθαι τὸ περὶ αὐτὴν γόνιμον. Ainsi, le symbole est intégré dans le culte religieux. Cette intégration est évidemment facilitée par le fait que le soleil est considéré lui-même comme un dieu, quoique d’ordre inférieur. Cependant, dans ce passage-ci du De E, le soleil n’est jamais appelé dieu: la vénération n’y concerne explicitement que le symbole (εἰκών).“

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III. Hauptgespräch

als Element in einem übergeordneten Diskurs: BABUT behandelt Plutarchs Darstellung von Stoikern und deren Lehren in den ‚Pythischen Dialogen‘, OPSOMER speziell in De E apud Delphos, während ROSKAM das 21. Kapitel zur Bestätigung einer vermeintlich in Plutarchs Werk greifbaren „Theorie religiöser Symbolik“ heranzieht. Entsprechend werden bei den genannten Interpreten des Beginns des 21. Kapitels von De E apud Delphos zwei entscheidende Fragen überhaupt nicht gestellt: Aus welchem Grund setzt sich Ammonios überhaupt mit der Frage nach der Identität Apollons mit oder seinem Verhältnis zur Sonne auseinander? Warum bringt Ammonios, der in den vorausgehenden Kapiteln 18–20 keine Gelegenheit ausgelassen hat, den Graben zwischen dem Menschen als Teil einer vollkommen nichtseienden Welt und dem seienden Gott mit allen rhetorischen Mitteln so stark wie möglich zu vertiefen, der Verehrung Apollons als der Sonne so starke Sympathien entgegen, wenn er auch zu einer höheren, intelligiblen Erkenntnis des Gottes auffordert? Kurz: In welchem Zusammenhang stehen Ammonios’ Aussagen zu Beginn des 21. Kapitels und sein gesamter Argumentationsgang? Bei der Untersuchung der Kapitel 18 und 19 von De E apud Delphos konnte Platons Darstellung der vorkosmischen Materie im Timaios als Subtext für Ammonios’ einzelne Argumentationsschritte ermittelt werden, an dessen Konzepte der Autor solche Philosopheme angelagert hatte, die Platons Theorien im Rahmen von Ammoniosʼ rhetorischen Absichten besonders drastisch aktualisieren. Es lässt sich nun auch im 21. Kapitel der Schrift zeigen, dass die dort geführten Einzeldiskurse bei aller ihrer Eindrücklichkeit nur die Oberfläche des Textes bilden, dessen kohärenz- und strukturbildendes Moment hingegen weiterhin die χώρα-Passage des Timaios ist. Diese fortgesetzte Adaption des Timaios, die bruchlos an diejenige der Kapitel 18 und 19 anschließt und auch im 21. Kapitel über die drei Argumentationsblöcke der Erörterung des Verhältnisses des Apollon und der Sonne, der Kritik an der stoischen Weltzyklenlehre und der abschließenden Einführung eines Herrn über die im Werden und Vergehen befindliche Welt in Gestalt eines „anderen Gottes, besser eines Daimons“ durchgehalten wird, zeigt, dass es dem Autor auch im 21. Kapitel von De E apud Delphos weniger um eine letzte Antwort auf die von ihm in Ammonios’ Argumentation eingeführten Einzeldiskurse, sondern um eine kohärente und zugleich hochartifizielle Adaption von Platons Darstellung des vorkosmischen Zustandes der Materie mit dem Ziel eines möglichst imposanten platonischontologischen Lösungsversuchs des delphischen E zu tun ist.

8. Die Rede des Ammonios

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8.5.2 Das Schlusskapitel von De E apud Delphos als Adaption von Timaios 51e6–53a8 Das 18. und 19. Kapitel von De E apud Delphos ruht, wie gezeigt wurde, auf Platons Beschreibung des Verhältnisses der Elemente zur χώρα in Timaios 47e3–50c6 auf. Das 21. Kapitel zeichnet sich nun dadurch aus, dass Plutarch dort seine Diskussion über das Verhältnis zwischen der Sonne und Apollon sowie seine Kritik an der stoischen Lehre von der Totalpräsenz des Göttlichen in der Materie auf der Basis von Platons Darstellung der Beziehungen des Seins, des Werdens und der χώρα in Timaios 51e6–52d1 führt, und schließlich für seine Konzeption des über die Materie herrschenden Gottes beziehungsweise Daimons wesentliche Aspekte des letzten Abschnittes der χώρα-Passage des Timaios (52d2–53a8) übernimmt, die direkt an den von ihm in den Kapiteln 18 und 19 benutzen Abschnitt anschließt. Aus Gründen der Übersichtlichkeit soll Plutarchs Adaption des Timaios im 21. Kapitel von De E apud Delphos in zwei Abschnitte untergliedert werden, deren erster der Rezeption von Timaios 51e6–52d1 in der Frage nach dem Verhältnis von Apollon zur Sonne und der Ablehnung der stoischen Anschauung gewidmet sein soll, während der zweite die Adaption von Timaios 52d2–53a7 für die Konzeption des über die Materie herrschenden Gottes bzw. Daimons erhellen wird. 8.5.2.1 Timaios 51e6–52d1 als Vorbild für De E 21, 393C–F Platon beginnt den Abschnitt Timaios 51e6–52d1 mit einer erneuten Konstatierung der drei vorkosmischen Faktoren Sein, Werden und χώρα und ihrer ontologischen wie erkenntnistheoretischen Eigenschaften unter besonderer Berücksichtigung ihrer möglichen Interferenzen. In ontologischer Hinsicht erhält das Sein entsprechend hier zusätzlich zu seinen bekannten Eigenschaften „ungeworden und unvergänglich“ noch die Qualität „weder in sich etwas anderes von woanders her aufnehmend noch selbst in etwas anderes irgendwohin gehend“; das Werden wird neben seinen genannten Aspekten „geworden, immer bewegt“ zusätzlich als „werdend an irgendeinem Ort und wieder von dort vergehend“ beschrieben; an der χώρα wird schließlich ihre Eigenschaft als „allem, was Werden besitzt, einen Sitz gebend“ hervorgehoben. Erkenntnistheoretisch bleibt dem Sein ohne zusätzliche Qualifizierung die νόησις zugeordnet, hinsichtlich des Werdens hingegen fügt Platon seiner allgemeinen Bestimmung als „durch die Meinung mit sinnlicher Wahrnehmung erfassbar“ an, es sei mit dem Sein „gleichnamig und gleichartig“; die χώρα bezeichnet Platon schließlich als „mit nichtsinnlicher Wahrnehmung durch eine Art Bastarddenken erfassbar“ und beschreibt so einen Erkenntnisprozess, dessen Mittel der ontologischen Zwischenposition der χώρα

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III. Hauptgespräch

zwischen dem Sein und dem Werden entspricht: Sie ist nicht in der Weise sinnlich wahrnehmbar wie das Werden, da ihr von sich aus jede Qualität fehlt,671 und nicht in der Weise denkbar wie das Sein, da sie zwar – wie Platon zuvor angedeutet hatte – mit dem νοητόν in Beziehung steht, jedoch keinen fassbaren Gegenstand des Denkens darstellt;672 sie ist mithin „kaum glaubhaft“.673 Dieser erkenntnistheoretisch heikle Status der χώρα, die jedoch eine unverzichtbare Komponente des Kosmos darstellt, da in ihr das Werden als Abbild des Seins erscheint, hat nach Platons anschließenden Ausführungen gravierende Auswirkungen auf das menschliche Vermögen, Aussagen über das Sein ohne Berücksichtigung des Werdens und über das Werden ohne Berücksichtigung des Seins zu machen. Platon beschreibt den Seelenzustand dessen, der solche Aussagen tätigt, als Traumzustand, aus dem es kein Erwachen gibt: „In bezug auf dieses (sc. das dritte Genos χώρα) träumen wir mit offenen Augen und sagen, es sei irgendwie notwendig, dass alles Seiende an irgendeinem Ort sei und irgendeinen Raum einnehme, was aber weder auf der Erde noch am Himmel sei, das sei überhaupt nicht. Dies alles und anderes dem Verwandtes können wir wegen dieses Träumens auch hinsichtlich der nichtgeträumten und wahrhaft existierenden Natur – als ob wir aufgewacht wären – nicht auseinanderhalten und die Wahrheit sagen: Dass einerseits ein Abbild, da nicht einmal eben das, von dem es geworden ist, zu ihm selbst gehört – es ist immer ein bewegtes Scheinbild eines anderen – in irgendetwas anderem werden muss, wobei es irgendwie Anspruch auf das Sein erhebt, ohne den es überhaupt nichts ist; dass andererseits dem wahrhaft Seienden die in genauer Weise wahre Rede zu Hilfe kommt, dass, solange das eine und das andere zwei verschiedene Dinge sind, niemals das eine und das andere ineinander kommen und zugleich eines und zwei werden.“674                                                             

Platon begründet die absolute Qualitätslosigkeit der χώρα in Tim. 50d4–51b2. Plat. Tim. 51a7–b2 ἀλλ᾿ ἀνόρατον εἶδός τι καὶ ἄμορφον, πανδεχές, μεταλαμβάνον δὲ ἀπορώτατά πῃ τοῦ νοητοῦ καὶ δυσαλωτότατον αὐτὸ λέγοντες οὐ ψευσόμεθα. 673 Plat. Tim. 51e6–52b2 τούτων δὲ οὕτως ἐχόντων ὁμολογητέον ἓν μὲν εἶναι τὸ κατὰ ταὐτὰ εἶδος ἔχον, ἀγέννητον καὶ ἀνώλεθρον, οὔτε εἰς ἑαυτὸ εἰσδεχόμενον ἄλλο ἄλλοθεν οὔτε αὐτὸ εἰς ἄλλο ποι ἰόν, ἀόρατον δὲ καὶ ἄλλως ἀναίσθητον, τοῦτο ὃ δὴ νόησις εἴληχεν ἐπισκοπεῖν· τὸ δὲ ὁμώνυμον ὅμοιόν τε ἐκείνῳ δεύτερον, αἰσθητόν, γεννητόν, πεφορημένον ἀεί, γιγνόμενόν τε ἔν τινι τόπῳ καὶ πάλιν ἐκεῖθεν ἀπολλύμενον, δόξῃ μετ᾿ αἰσθήσεως περιληπτόν· τρίτον δὲ αὖ γένος ὂν τὸ τῆς χώρας ἀεί, φθορὰν οὐ προσδεχόμενον, ἕδραν δὲ παρέχον ὅσα ἔχει γένεσιν πᾶσιν, αὐτὸ δὲ μετ᾿ ἀναισθησίας ἁπτὸν λογισμῷ τινι νόθῳ, μόγις πιστόν κτλ. 674 Plat. Tim. 50b2–d1 πρὸς ὃ δὴ καὶ ὀνειροπολοῦμεν βλέποντες καί φαμεν ἀναγκαῖον εἶναί που τὸ ὂν ἅπαν ἔν τινι τόπῳ καὶ κατέχον χώραν τινά, τὸ δὲ μήτ᾿ ἐν γῇ μήτε που κατ᾿ οὐρανὸν οὐδὲν εἶναι. ταῦτα δὴ πάντα καὶ τούτων ἄλλα ἀδελφὰ καὶ περὶ τὴν ἄϋπνον καὶ ἀληθῶς φύσιν ὑπάρχουσαν ὑπὸ ταύτης τῆς ὀνειρώξεως οὐ δυνατοὶ γιγνόμεθα ἐγερθέντες διοριζόμενοι τἀληθὲς λέγειν, ὡς εἰκόνι μέν, ἐπείπερ οὐδ᾿ αὐτὸ τοῦτο ἐφ᾿ ᾧ γέγονεν ἑαυτῆς ἐστιν, ἑτέρου δέ τινος ἀεὶ φέρεται φάντασμα, διὰ ταῦτα ἐν ἑτέρῳ προσήκει τινὶ γίγνεσθαι, 671 672

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Platon problematisiert in diesem Abschnitt Sein und Werden erkenntnistheoretisch und ontologisch in ihrer Relation auf die χώρα und behandelt drei Einzelaspekte: 1. Die Gegebenheit des Umstandes, dass sich das Sein als Werden in der χώρα abbildet, erzeugt bei demjenigen, der unter Berücksichtigung der χώρα das Sein erfassen will, einen Traumzustand, in dem er unter dem unentrinnbaren Einfluss der Vorstellung steht, etwas Seiendes müsse identisch mit einem in der χώρα Werdenden sein, „das Sein als Ganzes“, wie sich Platon ausdrückt, einen Ort im sichtbaren Kosmos (auf der Erde oder im Himmel) haben, oder „gar nichts sein“. Der Traumzustand verhindert also eine reine Vorstellung vom Sein im Sinne einer Abstraktion von seinem räumlichen Abbild, dem Werden. 2. Derselbe Traum verhindert umgekehrt – Platon spricht von der Unmöglichkeit, aus ihm aufzuwachen, klare Unterscheidungen über „die nichtgeträumte und wahrhaft existierende Natur“ zu treffen und die Wahrheit zu sagen – die reine Vorstellung des Werdens ohne seinen Aspekt als Abbild des Seins. Weil das Werden als εἰκών des Seins mit diesem nicht identisch, sondern nur dessen bewegtes Abbild ist, bedarf es einerseits der χώρα, um „in etwas anderem“ (also von sich selbst und dem Sein verschiedenen) überhaupt erst – als Werden – manifest zu werden, andererseits „macht es irgendwie Ansprüche auf das Sein geltend“ – Platon verwendet juristische Terminologie – das bedeutet, es versucht, das Sein seines seienden Urbildes möglichst getreu wiederzugeben,675 denn würde es diese Ansprüche nicht verfolgen, wäre es „überhaupt nichts“, da es ja weder mit seinem Urbild, dem Sein, noch mit seinem Medium, der χώρα, identisch ist; die „Gleichnamigkeit und Gleichartigkeit“ des Werdens mit dem Sein, die Platon zuvor erwähnt hatte, ist als Eigenschaft des Werdens notwendige Bedingung dafür, dass es nicht „überhaupt nichts“ ist. Der Umstand, dass sich also das Werden in der χώρα um eine möglichst große Ähnlichkeit mit dem Sein mit der                                                              οὐσίας ἁμωσγέπως ἀντεχομένην, ἢ μηδὲν τὸ παράπαν αὐτὴν εἶναι, τῷ δὲ ὄντως ὄντι βοηθὸς ὁ δι᾿ ἀκριβείας ἀληθὴς λόγος, ὡς ἕως ἄν τι τὸ μὲν ἄλλο ᾖ, τὸ δὲ ἄλλο, οὐδέτερον ἐν οὐδετέρῳ ποτὲ γενόμενον ἓν ἅμα ταὐτὸν καὶ δύο γενήσεσθον. 675 Zur juristischen Metaphorik für die Darstellung eines solchen „Bemühens um das Sein“ vgl. TAYLOR (1928) 348f. ad loc. „οὐσίας ἁμωσγέπως ἀντεχομένην, a legal metaphor, ‘setting up a claim to being, as best it can’, means that the events of nature, like the reflections from the mirror, are not really ὄντα but γιγνόμενα. They ‘would be ὄντα if they could’, just as we are told in the Phaedo that the ‘equal’ things we perceive through sense ‘try’ to be really equal but never quite succeed (75a2 ὀρέγεται μὲν πάντα ταῦτα εἶναι οἷον τὸ ἴσον, ἔχει δὲ ἐνδεεστέρως, b7 προθυμεῖται μὲν πάντα τοιαῦτ᾿ εἶναι οἷον ἐκεῖνο, ἔστιν δὲ αὐτοῦ φαυλότερα). That is, just because γιγνόμενα are always ‘in the making’, they tend to be something to which they never do more than approximate. […] The nearest approach these αἰσθητά make to having an οὐσία is to reflect an οὐσία which they never quite make their own.“

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III. Hauptgespräch

Tendenz zur Herstellung von Identität mit ihm bemüht, erzeugt wiederum den Traumzustand, der eine reine Vorstellung vom Werden im Sinne einer Abstraktion von seinem intelligiblen Urbild, dem Sein, verhindert. 3. Angesichts der genannten, „traumbedingten“ Schwierigkeit, Aussagen über räumliches Werden ohne Berücksichtigung des Seins treffen zu können, da das abbildhafte Werden immer gleichsam juristische Ansprüche auf das Sein stellt, spricht Platon zuletzt ein Machtwort in Form eines zum juristischen Beistand (βοηθός) personifizierten „in genauer Weise wahren λόγος“ gegen die vom Werden verfochtenen Ansprüche676: Sein und Werden sind immer zwei verschiedene Dinge, keines von beiden „kommt jemals in das andere“, so dass beide identisch – oder wie Platon sich ausdrückt – „zugleich dasselbe und zwei“ werden. Mit diesem Machtwort unterscheidet Platon kategorisch das Sein vom Werden, indem er auf die sich wechselweise ausschließenden Eigenschaften der drei Faktoren aus seiner eingangs getroffenen Bestimmung derselben zurückkommt677: Da das Sein als „weder in sich etwas anderes von woanders her aufnehmend noch selbst in etwas anderes irgendwohin gehend“ definiert wurde, ist seine Identität mit räumlichen Werden unmöglich; nur sein Abbild, das als „werdend an irgendeinem Ort und wieder von dort vergehend“ begriffen werden muss, besitzt als immer „irgendwohin gehend“ eine Form von Bewegung, deren Ziel die selbst wiederum rein rezeptive χώρα ist, die als „allem, was Werden besitzt, einen Sitz gebend“ anzusehen, also nur „aufnehmend“ zu verstehen ist.678                                                             

676 Vgl. TAYLOR (1928) 349 ad loc. „The βοηθός keeps up the legal metaphor of ἀντεχομένην. The γιγνόμενον and the ὄντως ὄν are rival claimants of οὐσία, and ‘exactly true’ ‘scientific’ discourse advocates the claim of the ὄντως ὄν.“ 677 Vgl. CORNFORD (1937) 194 „The Form is contrasted with Space in that the Form ‘never receives anything else into itself from elsewhere’, and with the copy in that ‘it never itself enters into anything else anywhere’.“ 678 CORNFORD (1937) 194f. äußert die Ansicht, im letzten Abschnitt des Passus würde allein Idee und Raum kontrastiert: „The language is obscure, but the whole drift of the passage demands that the two things in question must be Form and Space. These must remain for ever distinct. The Form, we have been told, cannot receive anything into itself from elsewhere: This applies to Space which can never enter into the existence of the Forms. Nor can the Form ever pass into anything else anywhere; it can never enter Space, and Space cannot receive anything more than the copy.“ Ein Schwachpunkt an CORNFORDs Argumentation liegt drin, dass seine Interpretation des Raumes an dieser Stelle als „which can never enter into the existence of the Forms“ nicht von Platons Ausgangsunterscheidung der drei Faktoren gedeckt ist, wo es vom Raum allein hieß, er könne sich allein rezeptiv verhalten. Die Scheidung des Seins als τὸ μὲν ἄλλο von einem anderen (τὸ δ᾿ ἄλλο) kann nur diejenige des Seins vom im Raum gewordenen Abbild sein, denn nur dann schließt das Wesen des Seins, das zuvor als weder rezeptiv noch lokomotiv bestimmt wurde, eine mögliche Identität mit „dem anderen“ aus, das als Raum rezeptiv, als Abbild lokomotiv bestimmt wurde.

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8.5.2.2 Plutarchs Adaption von Timaios 51e6–52d1 in De E 21 Ammonios beginnt seine Schlussausführungen mit einem Lob der Wohlgeratenheit (εὐφυΐα) derer, die Apollon mit der Sonne identifizieren: Man müsse denselben mit Wertschätzung und Zuneigung begegnen, da sie „in dasjenige ihre Vorstellung von dem Gott legen, das sie unter dem, was sie kennen, am meisten ehren und begehren.“679 Während Ammonios zunächst grundsätzlich die psychologische Disposition derer lobt, die Apollon mit der Sonne identifizieren, da sie sich Apollon unter der in ihrem Erfahrungsbereich am meisten geehrten Entität, der Sonne, vorstellen, so liefert er im weiteren Verlauf seiner Ausführungen die Begründung für die Legitimität und partielle Richtigkeit der unreflektiert von den Angeredeten vollzogenen Identifikation, wobei seine Argumentation Platons Ausführungen über die Schwierigkeit einer Vorstellung des Seins unter Abstraktion des Werdens und der Vorstellung des Werdens unter Abstraktion des Seins in Timaios 52b3–c5 verpflichtet ist. Die Angeredeten „träumen gleichsam den Gott im schönsten aller Träume“, doch gelte es, sie „aufzuwecken“ und „dazu aufzurufen, weiter nach oben zu steigen“ und „das sich im Zustand des Wachens zeigende Wesen“ des Gottes zu betrachten; zugleich soll an sie auch die Aufforderung ergehen, „das Abbild zu ehren“ und „das Zeugungskräftige an ihm zu verehren“, da es „soweit es etwas sinnlich Wahrnehmbaren und Bewegten gegenüber einem Intelligiblen und Ruhenden erreichbar ist, irgendwie (ἁμωσγέπως) Spiegel- und Abbilder von dessen (sc. des Gottes) Freundlichkeit und Glückseligkeit durchscheinen lässt.680                                                             

679 De E 21, 393CD τοὺς δ᾿ Ἀπόλλωνα καὶ ἥλιον ἡγουμένους τὸν αὐτὸν ἀσπάζεσθαι μὲν ἄξιόν ἐστι καὶ φιλεῖν δι᾿ εὐφυΐαν, ὃ μάλιστα τιμῶσιν ὧν ἴσασι καὶ ποθοῦσιν, εἰς τοῦτο τιθέντας τοῦ θεοῦ τὴν ἐπίνοιαν. 680 De E 21, 393D ὡς δὲ νῦν ἐν τῷ καλλίστῳ τῶν ἐνυπνίων τὸν θεὸν ὀνειροπολοῦντας ἐγείρωμεν καὶ παρακαλῶμεν ἀνωτέρω προάγειν καὶ θεάσασθαι τὸ ὕπαρ αὐτοῦ καὶ τὴν οὐσίαν, τιμᾶν δὲ καὶ τὴν εἰκόνα τήνδε καὶ σέβεσθαι τὸ περὶ αὐτὴν γόνιμον ὡς ἀνυστόν ἐστιν αἰσθητῷ νοητοῦ καὶ φερομένῳ μένοντος ἐμφάσεις τινὰς καὶ εἴδωλα διαλάμπουσαν ἁμωσγέπως τῆς περὶ ἐκεῖνον εὐμενείας καὶ μακαριότητος. Die nächste Parallele zu der Vorstellung, die Sonne produziere eine εἰκών mit besonderen Eigenschaften, findet sich in De facie 30, 944E. Im Rahmen eines Mythos legt der Gesprächspartner Sulla den Mechanismus von Tod und Wiedergeburt des Menschen dar, der mit drei Stationen, der Erde, dem Mond und der Sonne veranschaulicht wird. Beim Tod lässt die menschliche Seele auf der Erde ihren Körper zurück und gelangt auf dem Mond; die Seele erleidet dort einen „zweiten Tod“, der darin besteht, dass der νοῦς sich aus ihr löst und in die Sonne eingeht. Jene Loslösung des νοῦς von der Seele geschieht dabei „aus Verlangen nach dem Bild im Bereich der Sonne, durch das das Anziehende und Schöne und Göttliche und Glückselige herbeileuchtet, nach dem jede Natur, die eine so, die andere so, verlangt“ (ἀποκρίνεται δ᾿ ἔρωτι τῆς περὶ τὸν ἥλιον εἰκόνος, δι᾿ ἧς ἐπιλάμπει τὸ ἐφετὸν καὶ καλὸν καὶ μακάριον, οὗ πᾶσα φύσις, ἄλλη δ᾿ ἄλλως, ὀρέγεται). Die Sonne hat umgekehrt auch „produktive“ Eigenschaften, denn vom Mond heißt es, er „verlange nach dem Fruchtbarsten, das von ihr

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III. Hauptgespräch

Ammonios’ Ausführungen über die Frage nach der Identität Apollons mit der Sonne gliedern sich in drei Abschnitte, die sich inhaltlich am Text von Timaios 52b3–c5 orientieren. Wenn Ammonios einleitend davon spricht, die Identifikation des Apollon mit der Sonne sei einerseits löblich, da die Sonne im Erfahrungsbereich der Angeredeten die werthafteste Entität sei, andererseits die Vorstellung Apollons als der Sonne einem Traum, und sogar dem schönsten aller denkbaren Träume, gleiche, so formt er das von Platon als Teil der conditio humana formulierte erkenntnistheoretische Problem einer Erfassung des Seins unter Abstraktion seines Abbildes in der χώρα zu einer positiven Ausgangsdisposition der Angeredeten um, die den Aufstieg zur Erfassung von Apollons wahrem Wesen, dem Sein, in herausragender Weise begünstigt. 1. Aus Platons erster Feststellung, die schiere Gegebenheit der χώρα erzeuge einen Traumzustand (πρὸς ὃ δὴ ὀνειροπολοῦμεν βλέποντες), der den Menschen zu der Annahme (καί φαμεν) nötige, sich alles Sein örtlich und räumlich vorzustellen (ἀναγκαῖον εἶναί που τὸ ὂν ἅπαν ἔν τινι τόπῳ καὶ κατέχον χώραν τινά) und nur Dinge als seiend gelten zu lassen, die sich „auf der Erde und am Himmel“ – also im Erfahrungsbereich sinnlicher Wahrnehmung – befinden (τὸ δὲ μήτ᾿ ἐν γῇ μήτε που κατ᾿ οὐρανὸν οὐδὲν εἶναι),681 übernimmt Ammonios zunächst die sich spontan beim Menschen vollziehende Identifikation einer sinnlich wahrnehmbaren Entität mit einer intelligiblen und seienden Entität: Die von ihm Angeredeten identifizieren Apollon mit der Sonne, da die Sonne in ihrem Erfahrungsbereich liegt; sie zählt unter die Dinge ὧν ἴσασιν. Die besondere Löblichkeit der Identifikation Apollons gerade mit der Sonne ergibt sich bei Ammonios aus den Motiven der Angeredeten für ihre Objektwahl, denn sie identifizieren Apollon nicht mit irgendeinem Ding aus ihrer Erfahrungswelt „auf der Erde und am Himmel“, sondern mit dem am meisten geehrten, der Sonne; im Vergleich zu allen Menschen, von deren Erkenntnisschwierigkeiten Platon handelt („wir sagen“), haben die Angeredeten somit bereits einen spontanen Schritt auf die Erkenntnis des Seins Apollons hin getan, denn sie identifizieren den Gott mit der Sonne, der nach platonischem Verständnis höchsten Entität des sichtbaren Kosmos. Die Vorstellung Apollons als der Sonne gleicht bei Ammonios zunächst dem Traumzustand, als den Platon die örtliche und räumliche Vorstellung von „allem Sein“ bezeichnet hatte, doch                                                              kommt“ (ὀρεγομένην ἀπ᾿ αὐτοῦ τὸ γονιμώτατον); dieses „Fruchtbarste“, dem in der vorliegenden Stelle von De E apud Delphos das γόνιμον zu entsprechen scheint, besteht in De facie darin, dass die Sonne den Prozess der Wiedergeburt des Menschen dadurch eröffnet, dass sie den νοῦς in die auf dem Mond befindlichen vernunftlosen Seelen „herbeisäht“ (De facie 30, 945C … εἶτα τὸν νοῦν αὖθις ἐπισπείραντος τοῦ ἡλίου). Das Verhältnis zwischen den thematisch verwandten Stellen in De facie in orbe lunae und De E apud Delphos diskutiert DONINI (1992) 106f. 681 Plat. Tim. 52b3–5.

8. Die Rede des Ammonios

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weil die von Ammonios Angeredeten bereits die beste Wahl unter den sinnlich wahrnehmbaren Kandidaten unter den Dingen auf der Erde und am Himmel getroffen haben, die Anspruch auf Sein erheben könnten, beschreibt er deren Trauminhalt als das „Träumen des Gottes im schönsten aller Träume“ (ὡς δὲ νῦν ἐν τῷ καλλίστῳ τῶν ἐνυπνίων τὸν θεὸν ὀνειροπολοῦντας). 2. Platons folgende Ausführung über die Unfähigkeit des Menschen, aus jenem Traumzustand zu erwachen und eine klare Unterscheidung zwischen dem Sein und seinem Abbild in der χώρα zu treffen,682 mithin das Sein, „die nichtgeträumte und wahrhaft existierende Natur“,683 ohne den Weg über das Abbild zu erfassen, da dieses trotz seiner Differenz vom Sein und trotz seiner Erscheinung in der χώρα „irgendwie Ansprüche auf das Sein geltend macht“, auf die das Abbild nicht verzichten kann, da es sonst „überhaupt nichts ist“684, findet sich bei Ammonios in einem Kompromiss zwischen der vollständigen Identität Apollons mit der Sonne und einer vollständigen Verschiedenheit zwischen Apollon und der Sonne wieder: Die von Platon konstatierte Unfähigkeit des Menschen, überhaupt aus dem Traum aufzuwachen, gedanklich vollständig von der Gegebenheit der χώρα zu abstrahieren und „die nichtgeträumte und wahrhaft existierende Natur“ unmittelbar zu erfassen, wird von Ammonios nicht prinzipiell in Frage gestellt, doch soll immerhin der Versuch unternommen werden, die Angeredeten zu wecken (ἐγείρωμεν) und zu einem Aufstieg zu ermuntern (παρακαλῶμεν), der die Betrachtung des „sich im Zustand des Wachens zeigenden Wesens“ des Gottes (τὸ ὕπαρ αὐτοῦ) zum Ziel hat. Gleichzeitig bewahrt Ammonios den von Platon konstatierten „Anspruch“ des Abbildes auf das Sein, dessen partielle Legitimität von Platon mit der Vokabel ἁμωσγέπως, „irgendwie“ eingeräumt wird, durch einen weiteren Inhalt der an die Angeredeten zu richtenden Aufforderung: Die Angeredeten sollen zugleich mit ihren Versuchen, den Aufstieg zu machen, auch zur weiteren Verehrung der Sonne als einer εἰκών des sich – in Platons Terminologie formuliert – in der χώρα abbildenden Seienden angehalten werden, wofür Ammonios Begründungen liefert, die aus dem bei Platon erwähnten „irgendwie begründeten Anspruch“ der εἰκών auf das Sein herausentwickelt sind. Die Sonne lässt nach Ammonios ἁμωσγέπως, „irgendwie“685, Spiegel- und Abbilder der Eigen                                                            

682 Plat. Tim. 52b6–c2 ταῦτα δὴ πάντα […] ὑπὸ ταύτης τῆς ὀνειρώξεως οὐ δυνατοὶ γιγνόμεθα ἐγερθέντες διοριζόμενοι τἀληθὲς λέγειν κτλ. 683 Plat. Tim. 52b6–7 … περὶ τὴν ἄϋπνον καὶ ἀληθῶς φύσιν ὑπάρχουσαν κτλ. 684 Plat. Tim. 52c2–5 … ὡς εἰκόνι μέν […] διὰ ταῦτα ἐν ἑτέρῳ τινὶ προσήκει γίγνεσθαι, οὐσίας ἁμωσγέπως ἀντεχομένην, ἢ μηδὲν τὸ παράπαν αὐτὴν εἶναι κτλ. 685 Zur Verwendung dieses platonischen hapax legomenon bei Plutarch vgl. HELMIG (2005) 16 „[…] das Adverb wird von Plutarch dann mit Vorliebe gesetzt, wenn er die schwierige Beziehung Transzendenz-Sinnenwelt bezeichnen möchte, genauer die Tatsache, daß sich weder das Transzendente vollständig in der Sinnenwelt manifestieren, noch

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III. Hauptgespräch

schaften des Gottes „durchscheinen“, sie hat mithin qua εἰκών einen partiellen Anspruch darauf, aufgrund ihrer Ähnlichkeit unter dem Namen des Apollon verehrt zu werden – man denke an Platons Qualifizierung der γένεσις, des sinnlich Wahrnehmbaren als ὁμώνυμον ὅμοιόν τε des Seins in Timaios 52a5 –, der nach Ammonios dadurch eine partielle Einschränkung erfährt, dass sie als wesensmäßiges αἰσθητόν und φερόμενον, gegenüber einem wesensmäßig anderen, einem νοητόν und μένον, in einem unterschiedlichen Bereich der Realität angesiedelt ist. Wenn Ammonios sagt, die Sonne lasse als εἰκών des Apollon jene Reflexionen „soweit es ihr erreichbar ist“ (ὡς ἀνυστόν) sehen, worin sich ihre „Zeugungskräftigkeit“ (τὸ γόνιμον) zeigt, die von Ammonios dem σέβεσθαι empfohlen wird, so anerkennt er das spezifische „Bestreben“ der Sonne als einer εἰκών des Apollon, diesen nach ihren Möglichkeiten zu repräsentieren.686 Die von Ammonios eingangs gelobte und mit den Motiven der Objektwahl begründete „Wohlgeratenheit“ (εὐφυΐα) derer, die Apollon mit der Sonne identifizieren, erfährt hier ihre ontologische Fundierung687: Die Sonne ist diejenige Entität im sichtbaren                                                              etwas Sinnenweltliches sich ganz und gar dem Transzendenten angleichen könne. Beide Bewegungen können daher jeweils nur „in gewisser Weise“ oder „gemäß der Möglichkeit“ erfolgen. Ferner weist die Unbestimmtheit von ἁμωσγέπως auch auf die Schwierigkeit, dieses Verhältnis sprachlich zum Ausdruck zu bringen.“ HELMIG, der De sera 5, 550DE diskutiert (dort erscheint der Gott als Muster der menschlichen Tugend, die sich jenem „irgendwie“ angleicht: ἀλλὰ σκοπεῖτε πρῶτον, ὅτι κατὰ τὸν Πλάτωνα πάντων καλῶν ὁ θεὸς ἑαυτὸν ἐν μέσῳ παράδειγμα θέμενος τὴν ἀνθρωπίνην ἀρετὴν, ἐξομοίωσιν οὖσαν ἁμωσγέπως πρὸς αὑτὸν, ἐνδίδωσι τοῖς ἕπεσθαι θεῷ δυναμένοις), verweist neben De E 21, 393DE auf De sera 17, 560B (hier ist von der Unsterblichkeit der Seele die Rede: ἀλλὰ μικρὸς οὕτω καὶ κενόσπουδος ὁ θεός ἐστιν, ὥστε μηδὲν ἡμῶν ἐχόντων θεῖον ἐν αὑτοῖς μηδὲ προσόμοιον ἁμωσγέπως ἐκείνῳ καὶ διαρκὲς καὶ βέβαιον κτλ.;) und auf De an. procr. 21, 1022EF: Dort beschreibt Plutarch ebenfalls ein Methexisverhältnis, den komplizierten Vorgang der Formung des „im Bereich der Körper teilbaren Seins“ durch das „unteilbare, sich immer auf dieselbe Weise verhaltende Sein“: ἡ μὲν οὖν ἀμέριστος οὐσία καὶ ἀεὶ κατὰ ταὐτὰ καὶ ὡσαύτως ἔχουσα μὴ μικρότητι, καθάπερ τὰ ἐλάχιστα τῶν σωμάτων, νοείσθω φεύγουσα τὸν μερισμόν· τὸ γὰρ ἁπλοῦν καὶ ἀπαθὲς καὶ καθαρὸν αὐτῆς καὶ μονοειδὲς ἀμερὲς εἴρηται καὶ ἀμέριστον· ᾧ καὶ τῶν συνθέτων καὶ μεριστῶν καὶ διαφερομένων ἁμωσγέπως θιγοῦσα παύει τὸ πλῆθος καὶ καθίστησιν εἰς μίαν δι᾿ ὁμοιότητος ἕξιν. 686 Vgl. zu diesem „Bemühen um das Sein“ der Abbilder TAYLOR (1928) 348f., zitiert oben, S. 317, Anm. 675 mit Platonbelegen. 687 Im Amatorius werden diejenigen Verliebten, die fähig sind, die von Eros hergestellten „Spiegelbilder“ des intelligiblen Schönen in körperlicher Schönheit als Ausgangspunkt für die Anamnesis an die vorgeburtliche Ideenschau zu begreifen, dezidiert von den der körperlichen Liebe verhafteten „Vielen“ wegen ihrer „Wohlgeratenheit“ abgegrenzt (19, 765B; 20, 765F): ὡς δὲ γεωμέτραι παισὶν οὔπω δυναμένοις ἐφ᾿ ἑαυτῶν τὰ νοητὰ μυηθῆναι τῆς ἀσωμάτου καὶ ἀπαθοῦς οὐσίας εἴδη πλάττοντες ἁπτὰ καὶ ὁρατὰ μιμήματα σφαιρῶν καὶ κύβων καὶ δωδεκαέδρων προτείνουσιν, οὕτως ἡμῖν ὁ οὐράνιος Ἔρως ἔσοπτρα καλῶν καλά, θνητὰ μέντοι θείων παθητὰ καὶ νοητῶν αἰσθητὰ μηχανώμενος ἔν τε σχήμασι καὶ χρώμασι καὶ εἴδεσι νέων ὥρᾳ στίλβοντα δείκνυσι καὶ κινεῖ τὴν μνήμην ἀτρέμα διὰ τούτων ἀναφλεγομένην τὸ πρῶτον. […] ταὐτὸ δὴ τὸ ἐρωτικὸν μηχάνημα καὶ σόφισμα

8. Die Rede des Ammonios

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Bereich, die „Ansprüche auf das Sein“ zwar nur „irgendwie“ (ἁμωσγέπως) geltend machen kann, doch dies mit der größten Plausibilität unter allen sinnlich wahrnehmbaren Dingen. 3. Schließlich ist auch Platons Machtwort über die Verschiedenheit zwischen Sein und Werden, mit dem der Abschnitt Timaios 51e6–52d1 endet, in Ammonios’ Ausführungen eingegangen – wenn auch in differenzierter Weise. Während Platon seinen „in genauer Weise wahren λόγος“ als personifizierten juristischen Beistand (βοηθός) gegen die vom gesamten abbildhaften Werden verfochtenen Ansprüche auf Sein aufruft, verhandelt Ammonios nach dem Vergleich, den er zwischen den Extremen einer völligen Identität und einer völligen Verschiedenheit der Sonne und Apollons geschlossen hat, nun einen neuen Prozess, und bemüht in diesem Platons juristischen Beistand. Die nun zur Verhandlung kommende Sache ist die ebenfalls von den Angeredeten vertretene Ansicht, Apollon sei mit dem gesamten Werden identisch, indem er „aus sich heraustrete und Wandlungen durchmache“ (ἐκστάσεις δ᾿ αὐτοῦ καὶ μεταβολάς), die in seinem alternierenden Wechsel zwischen einem interkosmischen Aggregatzustand homogenen Feuers ( πῦρ ἀνιέντος ἑαυτὸν ἅμα τοῖς πᾶσιν) und einem kosmischen Aggregatzustand bestehen, in dem der Gott – wie sich Ammonios abschätzig ausdrückt – sich in die Bestandteile des sinnlich wahrnehmbaren Kosmos „hineinquetscht und ausdehnt“ (καταθλίβοντος ἐνταῦθα καὶ κατατείνοντος); im Hintergrund steht die stoische Weltzyklenlehre, von der allerdings die innerkosmische Klasse der Gestirne, zu der die Sonne gehört, implizit nicht als betroffen genannt wird.688 Ammonios’ Kritik an dieser Vorstellung betrifft freilich nicht primär den Aspekt der völligen Identität von Apollon und dem Werden – er tut ihn mit einem wegwerfenden οὐδ᾿ ἀκούειν ὅσιον ab –, sondern die mit dem Gedanken des Wechsels der Aggregatzustände verbundene These einer wechselnden Aktivität Apollons auf den Kosmos; der Gott betriebe ein noch nichtsnutzigeres Kinderspiel als sein Pendant im homerischen Gleichnis, wenn er den Kosmos ewig wie eine Sandburg zuerst baute, dann aber wieder zerstörte (ταύτῃ [sc. τῇ παιδιᾷ] περὶ τὰ ὅλα χρώμενος ἀεὶ καὶ τὸν κόσμον οὐκ ὄντα πλάττων εἶτ᾿ ἀπολλύων γενόμενον). Von den beiden Aktivitäten, die die Weltzyklenlehre dem Gott zuschreibt, will Ammonios allenfalls die konstruktive als göttlich anerkennen, die in einem antagonistischen Verhältnis zu einer Destruktivität steht, die er zum wesenhaften Merkmal der                                                              περὶ τὰς εὐφυεῖς καὶ φιλοκάλους ψυχάς· ἀνάκλασιν ποιεῖ τῆς μνήμης ἀπὸ τῶν ἐνταῦθα φαινομένων καὶ προσαγορευομένων καλῶν εἰς τὸ θεῖον καὶ ἐράσμιον καὶ μακάριον ὡς ἀληθῶς ἐκεῖνο καὶ θαυμάσιον καλόν. ἀλλ᾿ οἱ πολλοὶ μὲν ἐν παισὶ καὶ γυναιξὶν ὥσπερ ἐν κατόπτροις εἴδωλον αὐτοῦ φανταζόμενον διώκοντες καὶ ψηλαφῶντες οὐδὲν ἡδονῆς μεμιγμένης λύπῃ δύνανται λαβεῖν βεβαιότερον. 688 Vgl. dazu oben, S. 310.

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III. Hauptgespräch

Materie selbst erklärt: Die im Kosmos wirkende göttliche Aktivität „bindet deren Substanz zusammen“ (συνδεῖ τὴν οὐσίαν) und „setzt sich gegen die dem Vergehen zutreibende Schwäche im Bereich des Körperlichen durch“ (κρατεῖ τῆς περὶ τὸ σωματικὸν ἀσθενείας ἐπὶ φθορὰν φερομένης). Zur Beschreibung der Art und Weise, in der die göttliche Aktivität mit dem Kosmos in Kontakt tritt, bedient sich Ammonios erneut des platonischen Terminus „irgendwie“ (ὃ θεῖον ἁμωσγέπως ἐγγέγονε τῷ κόσμῳ), der bereits das Verhältnis der Sonne als εἰκών zu Apollon als dem Sein – im Rekurs auf die Ausführungen Platons über den Seinsanspruch des werdenden Abbildes in Timaios 52c4–5 – kompromisshaft bestimmt hatte, und verwendet ihn nun zum Ausdruck eines grundsätzlichen Kontaktes zwischen Göttlichem und Kosmos, den er dann als rein konstruktiv und antagonistisch zur körperlich-destruktiven Komponente des Kosmos bestimmt. Es ist dieses Postulat einer allein konstruktiven Aktivität Apollons, zu dessen Erhärtung Ammonios auf Platons Machtwort in Gestalt des personifizierten juristischen Beistandes (βοηθός) eines „in genauer Weise wahren λόγος“ aus Timaios 52c5–d1 zurückgreift: Hatte Platon mit dem Aufruf dieses Anwaltes des „wahrhaft Seienden“ (τῷ ὄντως ὄντι) die Ansprüche des Werdens auf Identität mit dem Sein abgewehrt, so ruft Ammonios als eben diesen Anwalt das delphische E in der Bedeutung εἶ, „du bist“ auf, um jede Annahme eines „Aus-sich-Heraustretens und einer Wandlung“ im Wesen des Gottes, von der der zweite Teil seiner Ausführungen im 21. Kapitel ausgegangen war und die eine destruktive Aktivität des Gottes auf den Kosmos impliziert hatte, strikt zurückzuweisen: Der platonische βοηθός λόγος gegen den Anspruch des Werdens auf Sein erscheint bei Ammonios als „die Anrede ‚du bist‘ gegenüber dem Gott“, die seiner Ansicht nach „hauptsächlich dieser Vorstellung entgegengesetzt ist und gegen sie“ – hier erscheint Platons juristische Metaphorik als μαρτύρεσθαι689 – „bezeugt, dass sich in seinem Bereich niemals ein „Aus-sich-Heraustreten und ein Wandel ereignet.“690 Ammonios’ Beschränkung der göttlichen Aktivität gegenüber dem Kosmos auf ein konstruktives Wirken, das in einem antagonistischen Verhältnis zu dessen materieller Komponente steht, macht es erforderlich, jene destruktive Potenz näher zu bestimmen. Dieser Aufgabe widmet Ammonios den Rest seiner Rede in De E apud Delphos, der zunächst die Einführung eines „anderen Gottes, besser: eines Daimons“ zum Gegenstand hat, in dessen Tätigkeitsbereich das Werden und Vergehen des Kosmos fällt, um dann in einer Sequenz von Antithesen die Eigenschaften der beiden Entitäten Gott                                                             

689 Zu βοηθός und μάρτυς bei Plutarch in juristischem Zusammenhang vgl. Phoc. 10, 1 τοῦτον ἐν βουλῇ θορυβούμενος ὁ Φωκίων ἐπεκαλεῖτο τῷ λόγῳ μάρτυν ἅμα καὶ βοηθόν. 690 De E 21, 393F καί μοι δοκεῖ μάλιστα πρὸς τοῦτον τὸν λόγον ἀντιταττόμενον τὸ ῥῆμα καὶ μαρτυρόμενον εἶ φάναι πρὸς τὸν θεόν, ὡς οὐδέποτε γινομένης περὶ αὐτὸν ἐκστάσεως καὶ μεταβολῆς κτλ.

8. Die Rede des Ammonios

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und Daimon gegeneinander abzugrenzen, einerseits durch Etymologien ihrer Namen, andererseits durch Dichterzitate, die beiden Wesen zugeordnet werden. Während die abschließende Gegenüberstellung der beiden Entitäten wesentlich illustrativ-ornamentale Züge trägt, ist die Einführung der Apollon gegenüberstehenden Macht in unmittelbarer Folge auf das platonische Machtwort der konsequent fortgesetzen Adaption des der letzten Rede von De E apud Delphos zugrundeliegenden Timaios-Passus geschuldet: Nach dem Machtwort gegen die Ansprüche des Werdens auf Sein in Timaios 52c5–d1 schließt Platon unmittelbar (Tim. 52d2–53a8) eine Darstellung der vorkosmischen Interaktion zwischen der χώρα und den sie qualifizierenden Elementenabbildern an, die von wechselseitiger ungeordneter Bewegung gekennzeichnet ist. Wie sich zeigen lässt, liegt diese Darstellung, mit der Platon seinen Exkurs über die vorkosmische Unordnung beschließt, Ammonios’ Konzeption des „anderen Gottes, besser: Daimons“ zugrunde, die im Schlussteil der Rede als Plutarchs Interpretation der Bewegtheit der vorkosmischen Materie wiederkehrt, die in der Schrift De animae procreatione in Timaeo theoretisch aus der Amalgamierung von Urseele und Urmaterie erklärt wird. Vor diesem Hintergrund der Timaios-Adaption im Schlussteil der Ammoniosrede lässt sich komplementär das philosophische Konzept klären, das hinter der konstruktiven göttlichen Aktivität in Ammonios’ Kosmos steht, die aufgrund von dessen vorkosmischen Charakteristika nicht mit der Ordnungstätigkeit des Demiurgen identisch sein kann. 8.6 Timaios 52d2–53a8 im Schlussteil von De E 21 Bei der Interpretation der Kapitel 18 und 19 sowie des ersten Teils des 21. Kapitels von De E apud Delphos konnte gezeigt werden, dass Plutarch den Menschen und die ihn umgebende Realität nach dem Vorbild von Platons Darstellung des Zustandes der Materie vor dem ordnenden Eingriff des Demiurgen im Timaios beschreibt: Das Vorbild für die Analyse der menschlichen Existenz im 18. Kapitel bildete der von Platon beschriebene unausgesetzte Qualifizierungsprozess der χώρα durch die Elementenabbilder, der keinerlei permanenten und sicher benennbaren Zustand der qualifizierten Materie erkennen lässt. Komplementär dazu entwirft Plutarch im 19. Kapitel eine Beschreibung der Zeit vor der demiurgischen Ordnungstat, die ebenso jede distinkte Erfassung eines bestimmten Zeitpunktes im Sinne der Fixierung eines bestimmten Zustandes der sich in der Zeit wandelnden Materie unmöglich erscheinen lässt. Wenn Ammonios nun im Schlussteil seiner Ausführungen im 21. Kapitel davon spricht, dass Göttliches „irgendwie“ in den Kosmos gelangt sei und auf die Materie einen gewissen konstruktiven Einfluss nehme, so würde es inkonsistent und widersprüchlich anmuten, wenn der Autor mit diesen Andeutungen einer gewissen Strukturierung des

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III. Hauptgespräch

Kosmos durch göttlichen Einfluss auf den demiurgischen Eingriff verwiese: Die Darstellung der Welt, als befände sie sich noch in ihrem chaotischen vorkosmischen Zustand, die Ammonios in seiner Rede konsequent entlang der einschlägigen Passage des Timaios entwickelt hat, steht in striktem Gegensatz zu derjenigen Ordnung, die der Demiurg in dem ihm vorgegebenen vorkosmischen Substrat herstellt. Gegen die Annahme, der Redner wolle einen Hinweis auf den demiurgischen Akt geben, sprechen neben der genannten theoretischen Inkonsistenz zu seinen vorherigen Ausführungen auch der direkte Argumentationszusammenhang, in den Ammonios die konstruktive göttliche Aktivität im Kosmos einbettet, sowie seine konkrete Beschreibung von deren Wirkungen und Konsequenzen. So wendet sich Ammonios unmittelbar vor seiner in dem platonischen Machtwort691 gipfelnden Aussage, dem Göttlichen im Kosmos komme allein konstruktives Wirken zu, nicht nur gegen die Vorstellung einer aktiven Zerstörung des geschaffenen Kosmos, sondern auch gegen dessen Konstruktion durch den Gott (τὸν κόσμον οὐκ ὄντα πλάττων εἶτ᾿ ἀπολλύων γενόμενον). Entsprechend nimmt er unmittelbar nach diesem Verdikt jene intentionale Formung (πλάττων) des Kosmos nicht wieder auf, um die konstruktive göttliche Aktivität etwa als den demiurgischen Akt der zahlenmäßigen Ordnung des Kosmos zu beschreiben, sondern greift zu einer Formulierung, die den Kontakt zwischen dem Göttlichen und der Materie allein aus der Perspektive der Wirkung des ersteren auf letztere bestimmt (συνδεῖ, κρατεῖ), das zuvor kritisierte aktive Tun des Gottes jedoch durch eine unbestimmte Konstatierung der schlichten Gegebenheit der Interaktion mit dem unpersönlichen Ausdruck ὃ θεῖον ἁμωσγέπως ἐγγέγονε τῷ κόσμῳ ersetzt. Der demiurgische Akt selbst wird hingegen weder bei Platon noch sonst bei Plutarch als ein unbestimmtes Eingehen von Göttlichem in die Materie bezeichnet, sondern als die aktive, intentionale und rationale Ordnung des vorkosmischen Chaos durch Zahlenverhältnisse und Ideen;692 die Vokabel ἁμωσγέπως wiederum, die Ammonios bereits im ersten Teil des 21. Kapitels                                                              691

Vgl. dazu oben, S. 324. Plat. Tim. 53b1–5 ὅτε δ᾿ ἐπεχειρεῖτο κοσμεῖσθαι τὸ πᾶν, πῦρ πρῶτον καὶ ὕδωρ καὶ γῆν καὶ ἀέρα, ἴχνη μὲν ἔχοντα αὑτῶν ἄττα, παντάπασί γε μὴν διακείμενα ὥσπερ εἰκὸς ἔχειν ἅπαν ὅταν ἀπῇ τινος θεός, οὕτω δὴ τότε πεφυκότα ταῦτα πρῶτον διεσχηματίσατο εἴδεσί τε καὶ ἀριθμοῖς. De an. procr. 7, 1015EF ὁ γὰρ θεὸς οὐκ ἀνέστησε τὴν ὕλην ἀργοῦσαν ἀλλ᾿ ἔστησεν ὑπὸ τῆς ἀνοήτου ταραττομένην αἰτίας· οὐδ᾿ ἀρχὰς τῇ φύσει μεταβολῆς καὶ παθῶν παρέσχεν, ἀλλ᾿ οὔσης ἐν πάθεσι παντοδαποῖς καὶ μεταβολαῖς ἀτάκτοις ἐξεῖλε τὴν πολλὴν ἀοριστίαν καὶ πλημμέλειαν, ἁρμονίᾳ καὶ ἀναλογίᾳ καὶ ἀριθμῷ χρώμενος ὀργάνοις· ὧν ἔργον ἐστὶν οὐ μεταβολῇ καὶ κινήσει ἑτερότητος πάθη καὶ διαφορὰς παρέχειν τοῖς πράγμασιν, ἀλλὰ μᾶλλον ἀπλανῆ καὶ στάσιμα καὶ τοῖς κατὰ ταὐτὰ ὡσαύτως ἔχουσιν ὅμοια ποιεῖν. 692

8. Die Rede des Ammonios

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zur Bestimmung des Verhältnisses des Apollon zu seinem Abbild, der Sonne, verwendet hatte, entstammt Platons Darstellung der schwer bestimmbaren vorkosmischen Relation zwischen dem in der Materie werdenden Abbild zu dem Sein, das es abbildet; im selben Zusammenhang (Timaios 52c2–5) ist auch von dem ἐν ἑτέρῳ … τινὶ γίγνεσθαι des Abbildes die Rede, seiner notwenigen Repräsentation im Medium der vorkosmischen Materie, dem das ἐγγέγονε in Ammonios’ Worten entspricht. Die Vorstellung, Ammonios habe die demiurgische Ordnung der Materie im Sinn, wenn er ein unbestimmtes Eingehen des Göttlichen in diese andeutet, wird zusätzlich durch die abschließende Behauptung erschwert, „ein weiterer Gott, besser ein Daimon“ herrsche über jenes Produkt der Wirkung des Göttlichen auf die Materie: Zwar spricht Ammonios dem Gott energisch jene ἔκστασις καὶ μεταβολή ab, die er zuvor als charakteristisch für die These einer zyklischen Schöpfung und Zerstörung des Kosmos angegriffen hatte, doch eliminiert er das Phänomen auch angesichts einer gewissen göttlichen Wirkung im Kosmos keineswegs, sondern personifiziert es als den die Funktionsweise des Kosmos bestimmenden Mechanismus in der Gestalt des Daimons.693 Eine genaue Betrachtung des Textes erweckt sogar den Eindruck, dass in die Gestalt des Daimons auch Züge jenes konstruktiven göttlichen Wirkens einfließen. Ammonios bestimmt die Wirkungsweise des Göttlichen einerseits als „zusammenbinden“ (συνδεῖ) der οὐσία des Kosmos, mithin seiner Materie, andererseits als „Durchsetzung“ (κρατεῖ) gegen die ihr innewohnende, oder wie Ammonios sich ausdrückt, „in ihrem Bereich angesiedelte Schwäche“, deren Wesen er als ein „Hintreiben zum Vergehen“ beschreibt (τῆς περὶ τὸ σωματικὸν ἀσθενείας ἐπὶ φθορὰν φερομένης). Wenn freilich die spezifische Qualität der Materie reines Vergehen ist, so scheint die Wirkung des Göttlichen überhaupt erst so etwas wie Werden zu ermöglichen. Beide Aspekte, der destruktive der φθορά und eine ihm entgegengesetzte γένεσις, sind in der Beschreibung des Wirkungsbereichs des Daimons, der „sich im Vergehen und Werden befindlichen Natur“, „in deren Bereich“ er, wie zuvor die „Schwäche“, „gesetzt“ ist (τεταγμένῳ περὶ τὴν ἐν φθορᾷ καὶ γενέσει φύσιν), präsent. Die dem Gott abgesprochene aktive ἔκστασις und passive μεταβολή konkretisiert sich direkt in der Aktionsart des Daimons, die als τοῦτο ποιεῖν καὶ πάσχειν bezeichnet wird, wobei das aktive ποιεῖν des Daimons offenbar chiastisch die γένεσις, das passive πάσχειν die φθορά in der Natur wiederaufnimmt, über die der Daimon herrscht.

                                                            

De E 21, 393F–394A … ὡς οὐδέποτε γιγνομένης περὶ αὐτὸν ἐκστάσεως καὶ μεταβολῆς, ἀλλ᾿ ἑτέρῳ τινὶ θεῷ, μᾶλλον δὲ δαίμονι … τοῦτο ποιεῖν καὶ πάσχειν προσῆκον. 693

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III. Hauptgespräch

Das Göttliche, das „irgendwie in den Kosmos gekommen ist“, scheint mithin in die Aktivität des Daimons integriert, jedoch nicht als dessen bestimmender Charakterzug. Nach der folgenden kontrastiven Gegenüberstellung jenes Daimons mit Apollon durch Etymologien und Dichterzitate macht Ammonios in seinem Schlusswort noch einmal deutlich, dass es einerseits nicht zulässig sei, „das Göttliche mit dem Daimonischen zusammenzuschütten“ (τὰ θεῖα πρὸς τὰ δαιμόνια συγχέοντες), andererseits die Realität des Menschen ganz vom destruktiven Charakterzug des Daimons beherrscht werde: Das γνῶθι σαυτόν, aus dem der Redner seine Beschreibung des Nichtseins der menschlichen Existenz nach den Kategorien vorkosmischer Unordnung entwickelt hatte, sei für das sterbliche Wesen „eine Erinnerung an die Natur und Schwäche, die es umgibt“ (τῆς περὶ αὐτὸ φύσεως καὶ ἀσθενείας), somit daran, dass der Aspekt der φθορά in der φύσις, die den Menschen in der Weise „umgibt“ (περὶ αὐτό), wie der Daimon über sie gesetzt ist (τεταγμένῳ περί), und damit die charakteristische „Schwäche“ der Materie das Hauptcharakteristikum des Kosmos in der menschlichen Erfahrung darstellt. 8.6.1 Der Daimon als die vorkosmische Urseele Im Schlussteil der Ammoniosrede liegt die Beschreibung eines Zustandes der Materie und der durch sie konstituierten Welt vor, die weiterhin vorkosmische Züge trägt und somit den konsequenten Abschluss der gesamten Darstellung des Menschen und der Welt nach dem Vorbild der Beschreibung der Materie vor dem Eingriff des Demiurgen in Platons Timaios bildet. Irritierend bleibt freilich in Ammonios’ Ausführungen, dass der Redner eine Welt im vorkosmischen Zustand schildert, die eine gewisse Form von göttlicher Stabilisierung erfährt, ohne dass dies auf ein demiurgisches Handeln zurückzuführen wäre; die Art der göttlichen Einwirkung auf die Eigenschaften der Materie bleibt vielmehr unbestimmt, ihr Ergebnis wird in der Gestalt des ambivalenten Daimons personalisiert, in dessen Wesen zwar konstruktive mit destruktiven Zügen vereint sind, letztere jedoch überwiegen. Der Abschluss der hier unternommenen Untersuchung der Ammoniosrede soll einer Klärung des philosophischen Hintergrundes sowohl der von Ammonios evozierten vorkosmischen Welt als auch ihrer Komponenten, des konstruktiven Göttlichen, der Materie und des ambivalenten Daimons, gelten. Die Identität einer mit vorkosmischer Materie verbundenen Kraft, die Ammonios als Daimon bezeichnet, lässt sich anhand von Plutarchs Schrift De animae procreatione in Timaeo mit großer Sicherheit feststellen. FERRARI hat in einer Untersuchung von Plutarchs Vorstellungen über das Wesen der Materie, die in Ammonios’ Worten als „Bereich des Körperlichen“ und die „sich im Vergehen und Werden befindliche Natur“ firmiert, drei

8. Die Rede des Ammonios

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scheinbar gänzlich unterschiedliche, teilweise sogar einander widersprechende Konzeptionen in unterschiedlichen Werken Plutarchs ausgemacht: In De animae procreatione in Timaeo erscheint die Materie an vielen Stellen als axiologisch und ontologisch neutrales Prinzip, insofern sie von sich aus weder für Gutes noch für Schlechtes im Kosmos verantwortlich und vollkommen qualitätslos ist.694 In De Iside et Osiride hingegen wird die Neutralität der hier durch die Gestalt der Isis verkörperten Materie durch deren klare Orientierung auf das gute göttliche Prinzip hin ersetzt, sie erscheint aktiv und wird dezidiert als beseelt und auf das Gute hin bewegt, sogar als rational begabt beschrieben.695 Schließlich finden sich über mehrere Schriften Plutarchs hinweg verteilt Aussagen über die Materie, die diese als aktives Prinzip der Unordnung und Zerstörung charakterisieren. In dieser destruktiven Aktivität übernimmt die Materie Funktionen, die Plutarch andernorts der vorkosmischen, ungeordneten und bösen Urseele zuzuschreiben gewohnt ist.696 Innerhalb einer dualistischen Fundamentalopposition zwischen einem göttlichen positiven und einem negativen Prinzip, die am stärksten in De                                                              694 FERRARI (1995) 81f. „Questa posizione trova la sua espressione in alcuni passi del De animae proc. dove la hyle è concepita come „priva di foma e di figura“ (ἄμορφον καὶ ἀσχημάτιστον) e „priva di ogni qualità e potenza propria“ (ποιότητος καὶ δυνάμεως οἰκείας ἔρημον, AP 1014F); la stessa idea viene espressa in AP 1015A dove si aggiunge che essa è „inerte da sé stessa“ (ἀργὸν ἐξ αὑτοῦ) „indifferente“ (ἀρρεπές), oltre che priva di qualità, (AP 1015D), il che le impedisce di svolgere la funzione di causa del male (cfr. anche 1015B). Secondo Plutarco, Platone avrebbe liberato la materia da ogni differenziazione (1015C).“ 695 FERRARI (1995) 82 „Tutti questi documenti sono tratti dal De Iside; da essi risulta che la materia „non è di per sé inanimata, priva di ragione e immobile …, ma si offre ad entrambi i principi … e tende, desidera costantemente e insegue il principio migliore (οὐκ ἄψυχον οὐδ᾿ ἄλογον οὐδ᾿ ἀκίνητον … ἐφιεμένην δὲ τῆς ἀμείνονος ἀεὶ καὶ ποθοῦσαν καὶ διώκουσαν, 370F–71A); […] si dice che „possiede un amore innato (σύμφυτον ἔρωτα) verso ciò che è primo e signore di tutte le cose, che poi è identico al bene (ὃ τἀγαθῷ ταὐτόν ἐστι) e lo desidera, lo insegue (ποθεῖ καὶ διώκει); essa è costantemente protesa verso l’essere migliore“ (372E–F). A 373E la hyle viene considerata parte integrante della „natura migliore e più divina“ (cfr. Tim. 50c–d) che dovrebbe opporsi nel suo complesso al principio negativo: questo significa che la materia è implicitamente concepita come arche positiva.“ 696 FERRARI (1995) 83 „Esiste poi un terzo gruppo di passi in cui la materia sembra rivestire la funzione di principio del disordine e della distruzione, assumendo dunque caratteri che altrove vengono ascritti all’anima originaria.“ Beispiele hierfür finden sich in De def. or. 9, 414D, wo die Materie als zerstörerische Potenz erscheint (ἐπάγει φθορὰν ἐνίοις καὶ στέρησιν ἡ φύσις, μᾶλλον δ᾿ ἡ ὕλη στέρησις οὖσα ἀναφεύγει πολλάκις καὶ ἀναλύει τὸ γιγνόμενον ὑπὸ τῆς κρείττονος αἰτίας) und De def. or. 37, 430E, wo der Materie ein aktiver Zug zur Unordnung zugeschrieben wird (ὑπ᾿ αὐτῆς διεστῶσαν αὐτὴν καὶ φερομένην χωρὶς ἐν ἀκοσμίαις).

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III. Hauptgespräch

Iside et Osiride ausgearbeitet ist, bildet die Konzeption des negativen Prinzips als einer bösen Urseele einen eigenständigen philosophischen Beitrag Plutarchs zur Interpretation Platons: Die Urseele erscheint als ewig existierendes Prinzip ewiger, ungeordneter Bewegung; sie ist eine vorkosmische Entität, die dem Demiurgen bei seinem Ordnungswerk in der Kosmopoiie vorgegeben ist.697 Plutarch entwickelt seine Theorie von der ungeordnet bewegten vorkosmischen Seele systematisch im ersten Teil von De animae procreatione in Timaeo, wo er sie im Rahmen einer Interpretation von Platons Beschreibung der Konstruktion der Weltseele in Timaios 35a1–b4 aus den zwei Komponenten „des ungeteilten und sich immer auf dieselbe Weise verhaltenden Seins“ und „des im Bereich der Körper (περὶ τὰ σώματα) werdenden, teilbaren Seins“698 mit letzterer Komponente identifiziert, deren Irrationalität, ungeordnete Selbstbewegung und Schlechtigkeit der göttlichen Komponente des „unteilbaren Seins“ antagonistisch gegenübersteht; erst im Vorgang der demiurgischen Konstruktion der Weltseele wird die Urseele durch ihre Mischung mit dem „unteilbaren Sein“ gebändigt.699 Plutarch leitet seine Lehre von einer vorkosmischen, destruktiven Seele zu                                                              697

Vgl. FERRARI (1995) 74f. Plat. Tim. 35a1–b4; vgl. De an. procr. 1, 1012BC προεκθήσομαι τὴν λέξιν, ὡς ἐν Τιμαίῳ γέγραπται. „Τῆς ἀμεροῦς καὶ ἀεὶ κατὰ ταὐτὰ ἐχούσης οὐσίας καὶ τῆς αὖ περὶ τὰ σώματα γιγνομένης μεριστῆς τρίτον ἐξ ἀμφοῖν ἐν μέσῳ συνεκεράσατο οὐσίας εἶδος, τῆς τε ταὐτοῦ φύσεως αὖ πέρι καὶ τῆς τοῦ ἑτέρου· καὶ κατὰ ταῦτα συνέστησεν ἐν μέσῳ τοῦ τ᾿ ἀμεροῦς αὐτὴν καὶ τοῦ κατὰ τὰ σώματα μεριστοῦ. καὶ τρία λαβὼν αὐτὰ ὄντα συνεκεράσατο εἰς μίαν πάντα ἰδέαν, τὴν θατέρου φύσιν δύσμικτον οὖσαν εἰς ταὐτὸ συναρμόττων βίᾳ· μιγνὺς δὲ μετὰ τῆς οὐσίας καὶ ἐκ τριῶν ποιησάμενος ἕν, πάλιν ὅλον τοῦτο μοίρας εἰς ἃς προσῆκε διένειμεν, ἑκάστην δὲ τούτων ἔκ τε ταὐτοῦ καὶ θατέρου καὶ τῆς οὐσίας μεμιγμένην· ἤρχετο δὲ διαιρεῖν ὧδε.“ 699 FERRARI (1995) 75 „Nella prima parte di AP troviamo, come è naturale attendersi, la trattazione più ampia e sistematica di questo principio metafisico-cosmologico. Plutarco identifica senz’altro la ψυχή precosmica e irrazionale con la „sostanza divisibile“ (meriste ousia) di Timeo 35a che, ai suoi occhi, entra insieme al nous, cioè alla ameriste [sic] ousia, nella costituzione ontologica dell’anima del mondo. L’anima irrazionale si caratterizza in quanto principio dell’automovimento disordinato e indeterminato (ἡ ἄτακτος καὶ ἀόριστος αὐτοκίνητος δὲ καὶ κινητικὴ ἀρχή, AP 1014D), causa e produttrice del male (κακοποιός, 1014E; 1015E) che essa possiede in modo connaturato (σύμφυτον ἔχουσαν ἐν ἑαυτῇ τὴν τοῦ κακοῦ μοῖραν AP 1027A), come principio di ogni differenza e alterità, insomma come causa fondamentale di tutto ciò che è opposto al bene. Essa, per richiamare una delle definizioni più significative, è „essenza che si trova in mutamenti e movimenti“ (ἡ ἐν μεταβολαῖς καὶ κινήσεσιν οὐσία AP 1024C).“ FERRARI (1995) 79f. „L’orientamento dualistico della visione plutarchea emerge in modo evidente anche dal De animae proc. dove l’organizzazione ontologica dell’anima del mondo viene fatta risalire alla azione determinante e ordinatrice (che si realizza attraverso l’imposizione di una struttura numericomatematica) della sostanza eidetico-divina (ameristos ousia) nei confronti dell’anima precosmica (meriste ousia), la cui essenza è costituita da un movimento eterno, costante e disordinato (AP 1014E).“ 698

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Beginn von De animae procreatione in Timaeo in Auseinandersetzung mit Xenokrates’ und Krantors Interpretationen von Timaios 35a1–b4 aus Platons Ausführungen im zehnten Buch der Nomoi (895e10–897b5) ab, die Seele sei älter als der Körper und verantwortlich für dessen Bewegungen.700 Da wiederum auch die Weltseele wie der Kosmos erst durch den Eingriff des Demiurgen entstanden ist, den Plutarch als die Überführung aus einem Zustand einer vorkosmischen „Unordnung“ (ἀκοσμία) in einen Zustand kosmischer Ordnung begreift, und jene Unordnung nach Plutarch nicht nur die Materie als solche betrifft (οὐκ ἀσώματος), sondern auch Bewegung (οὐδ᾿ ἀκίνητος) und Beseeltheit (οὐδ᾿ ἄψυχος) umfasst, führt Plutarch die „unbesonnene und unverständige“ Bewegung der „ungestalteten und ungeordneten“ vorkosmischen Materie auf ein Bewegungsprinzip zurück, das er als „die Ungefügtheit der verstandeslosen Seele“, der vorkosmischen Urseele, bezeichnet.701 Die scheinbaren Widersprüche zwischen Plutarchs Bestimmung der Materie als einerseits absolut neutral und qualitätslos und andererseits als aktiv destruktiv702 lösen sich nach FERRARI vor dem Hintergrund von Plutarchs Vorstellung einer notwendigen Verbindung von Materie und Seele in

                                                            

700 De an. procr. 4, 1013EF εἰ γὰρ ἀγένητος ὁ κόσμος ἐστίν, οἴχεται τῷ Πλάτωνι τὸ πρεσβυτέραν τοῦ σώματος τὴν ψυχὴν οὖσαν ἐξάρχειν μεταβολῆς καὶ κινήσεως πάσης, ἡγεμόνα καὶ πρωτουργόν, ὡς αὐτὸς εἴρηκεν, ἐγκαθεστῶσαν. τίς δ᾿ οὖσα καὶ τίνος ὄντος ἡ ψυχὴ τοῦ σώματος προτέρα καὶ πρεσβυτέρα λέγεται γεγονέναι, προιὼν ὁ λόγος ἐνδείξεται. Vgl. Plat. Leg. X 896b1 μεταβολῆς τε καὶ κινήσεως ἁπάσης αἰτία ἅπασιν. Leg. X 896b2– 3 ψυχὴ τῶν πάντων πρεσβυτάτη, γενομένη γε ἀρχὴ κινήσεως. Leg. X 896b10–c2 ὀρθῶς ἄρα καὶ κυρίως ἀληθέστατά τε καὶ τελεώτατα εἰρηκότες ἂν εἶμεν ψυχὴν μὲν προτέραν γεγονέναι σώματος ἡμῖν, σῶμα δὲ δεύτερόν τε καὶ ὕστερον, ψυχῆς ἀρχούσης, ἀρχόμενον κατὰ φύσιν. 701 De an. procr. 5, 1014A–C βέλτιον οὖν Πλάτωνι πειθομένους τὸν μὲν κόσμον ὑπὸ θεοῦ γεγονέναι λέγειν καὶ ᾄδειν „ὁ μὲν γὰρ κάλλιστος τῶν γεγονότων ὁ δ᾿ ἄριστος τῶν αἰτίων“ (Tim. 29a), τὴν δ᾿ οὐσίαν καὶ ὕλην, ἐξ ἧς γέγονεν, οὐ γενομένην ἀλλ᾿ ὑποκειμένην ἀεὶ τῷ δημιουργῷ εἰς διάθεσιν καὶ τάξιν αὑτὴν καὶ πρὸς αὐτὸν ἐξομοίωσιν ὡς δυνατὸν ἦν ἐμπαρασχεῖν. […] ἀκοσμία γὰρ ἦν τὰ πρὸ τῆς τοῦ κόσμου γενέσεως· ἀκοσμία δ᾿ οὐκ ἀσώματος οὐδ ἀκίνητος οὐδ᾿ ἄψυχος ἀλλ᾿ ἄμορφον μὲν καὶ ἀσύστατον τὸ σωματικὸν ἔμπληκτον δὲ καὶ ἄλογον τὸ κινητικὸν ἔχουσα· τοῦτο δ᾿ ἦν ἀναρμοστία ψυχῆς οὐκ ἐχούσης λόγον. […] ἀμφοτέρας δὲ τὰς ἀρχὰς παραλαβών, τὴν μὲν ἀμυδρὰν καὶ σκοτεινὴν τὴν δὲ ταραχώδη καὶ ἀνόητον ἀτελεῖς δὲ τοῦ προσήκοντος ἀμφοτέρας καὶ ἀορίστους, ἔταξε καὶ διεκόσμησε καὶ συνήρμοσε, τὸ κάλλιστον ἀπεργασάμενος καὶ τελειότατον ἐξ αὐτῶν ζῷον. Vgl. FERRARI (1995) 76 „Dal suo punto di vista era del tutto impensabile un movimento, sia cosmico che precosmico, senza anima; e dal momento che il movimento precosmico, al quale pure Platone sembrava avere accennato, non poteva che essere intrinsecamente disordinato, ecco allora l’ipotesi di un’anima precosmica, malvagia e irrazionale con la quale si spiega l’esistenza del movimento prima della generazione.“ 702 Vgl. FERRARI (1995) 86.

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III. Hauptgespräch

ihrem vorkosmischen Zustand auf;703 Plutarchs Aussagen über die Materie, die diese bald als neutral, bald als aktiv destruktiv beschreiben, beleuchten für sich die beiden Aspekte der Materie jeweils isoliert: Sie bleibt, für sich gedacht, neutral, in Verbindung mit der Urseele gedacht nimmt sie hingegen selbst deren aktiv-destruktiven Charakter an.704 Aussagen Plutarchs über die Materie „an sich“ sind das Ergebnis einer rein logischen Trennung der in Plutarchs Vorstellung faktisch untrennbaren Einheit von Urseele und Materie, derentwegen die Materie auch als das antagonistisch-destruktive Prinzip gegenüber der göttlich-guten Aktivität erscheinen kann.705 Ammonios’ Einführung des „anderen Gottes“ oder „Daimons“ als antagonistisch-destruktives Prinzip zur göttlich-konstruktiven Aktivität in der Materie scheint auf eine solche rein logische Abspaltung der destruktiven Urseele von der mit ihr amalgamierten vorkosmischen, passiv-neutralen Materie zurückzugehen. Der Daimon erscheint in Ammonios’ Darstellung als das personifizierte „im Bereich der Körper (περὶ τὰ σώματα) teilbare Sein“, mit dem Plutarch in De animae procreatione in Timaeo die Urseele                                                              703 FERRARI (1995) 87 „[…] Plutarco […] afferma che „dio non scuote la materia pigra, ma la solleva mentre essa era sconvolta da una causa priva di intelligenza“ (ὑπὸ τῆς ἀνοήτου ταραττομένην αἰτίας); subito dopo, spiega che questa materia si trovava immersa ἐν πάθεσι παντοδαποῖς καὶ μεταβολαῖς ἀτάκτοις (AP 1015E), che altro non sono che l’espressione dell’essenza dell’anima precosmica. Questo, evidentemente, non può che significare che nella sua esistenza precosmica la materia è intrinsecamente connessa con l’anima originaria, che è appunto la „causa priva di intelligenza“. Solo in questo modo è pensabile il suo essere causa del disordine e del male: laddove Plutarco si esprime così a proposito della hyle, significa che egli ha in mente una hyle già penetrata dall’anima precosmica.“ 704 FERRARI (1995) 87 „In AP 1015A la materia venne definita „inerte“ (argon), poche linee sotto essa diventa οὐκ ἀργοῦσα; ciò è possibile appunto perché nel primo caso essa è pensata in sé stessa, nel secondo, invece, concepita intrinsecamente connessa all’ anima malvagia.“ 705 FERRARI (1995) 87f. „[…] l’esistenza di una separazione tra materia e anima in sé rappresenta una distinzione di natura logica, dal momento che esse costituiscono due essenze da sempre coappartenentesi (συνυπάρχειν, cfr. PQ IV 1003A: ἡ ἄνους ψυχὴ καὶ τὸ ἄμορφον σῶμα συνυπῆρχον ἀλλήλοις ἀεὶ καὶ οὐδέτερον αὐτῶν γένεσιν ἔσχεν οὐδ᾿ ἀρχήν). Non esiste una sezione di tempo, né prima, né dopo la nascita del cosmo in cui la hyle e l’anima in sé sono separabili, se non per mezzo di una operazione mentale. La materia è già da sempre mossa (di un movimento irrazionale e disordinato) per mezzo dell’anima e solamente in quanto tale può rappresentare il principio della distruzione e del male. […] Quindi, quando Plutarco vede nella hyle la causa della negatività del cosmo o, più in generale, la concepisce come l’unico principio opposto al dio-bene e, quindi, come tale, causa del male (PQ II), egli si referisce a un soggetto caratterizzato dal movimento impresso dall’anima in sé. Tutto ciò è spiegato in AP 1015E dove la causa del male è assegnata all’aspetto cinetico e psichico della materia, cioè appunto all’anima precosmica.“

8. Die Rede des Ammonios

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identifiziert: Bereits in Ammonios’ Beschreibung der Wirkung des „Göttlichen“ im Kosmos ist von der „dem Vergehen zutreibende Schwäche im Bereich des Körperlichen“ (τῆς περὶ τὸ σωματικὸν ἀσθενείας ἐπὶ φθορὰν φερομένης) die Rede, der das „Göttliche“ entgegenwirkt (κρατεῖ), mithin einer destabilisierenden Potenz, die mit der Materie verbunden ist; bei der anschließenden Einführung des Daimons selbst und seines Wirkungsbereiches sagt Ammonios von dieser Entität, sie „ist im Bereich der sich im Vergehen und Werden befindlichen Natur angesiedelt“ (τεταγμένῳ περὶ τὴν ἐν φθορᾷ καὶ γενέσει φύσιν), verkörpert demnach eben jene Kraft, die einer an sich neutralen Materie erst die Qualität der für sie charakteristischen „Schwäche“ verleiht, die sich in der φύσις, dem Kosmos mit vorkosmischen Zügen, als φθορά manifestiert. Allerdings erscheint der Daimon in Ammonios’ Beschreibung nicht als allein destruktiv, vielmehr scheint die Wirkung des „Göttlichen“, von der es zuvor hieß, sie wirke der ἀσθένεια der Materie, der mit ihr verbundenen Urseele entgegen, dem Daimon auch gewisse konstruktive Züge zu verleihen, denn in der φύσις, über die er herrscht, gibt es neben der φθορά auch eine γένεσις. Über die Frage nach dem Mechanismus einer solchen γένεσις, die noch vor dem demiurgischen Akt der Weltschöpfung liegt, und der Interaktion zwischen dem Sein und der Materie im vorkosmischen Stadium hat sich Plutarch an einigen Stellen seines Werkes andeutungsweise geäußert und sich dabei regelmäßig auf den Schlussteil der χώρα-Passage in Platons Timaios bezogen. Die Interpretationen, die Plutarch diesbezüglich geleistet hat, können den philosophischen Hintergrund von Ammonios’ Aussagen über die Interaktion von „Göttlichem“, Materie und Daimon und deren Produkt, einer tendenziell chaotischen Welt im Werden und Vergehen, erhellen. 8.6.2 Plutarchs Interpretation von Timaios 52d2–53a8 als Interaktion zwischen dem Intelligiblen, der Urseele und der Materie Während der Daimon ohne große Schwierigkeiten als Personifizierung der destruktiven psychischen Komponente und das „Körperliche“ als der materielle Bestandteil des vorkosmischen Substrates verstanden werden kann, dessen Eigenschaften Plutarch in De animae procreatione in Timaeo darlegt, ist die Klärung der von Ammonios angedeuteten Wirkung des Göttlichen auf die Materie und die anscheinende Integration eines aktiv-strukturierenden Momentes in das Wesen des Daimons, mit der dessen Herrschaft über jene von Ammonios beschriebene Welt in konstantem Werden und Vergehen einhergeht, komplizierter: Das Ergebnis jener Interaktion ist eine Art vorkosmischer Kosmos, ein Kosmos, der der demiurgischen Strukturierung vorausliegt.

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III. Hauptgespräch

Den Schlüssel zum Verständnis der theoretischen Konzeption, die hinter der im Schlussteil der Ammoniosrede angedeuteten Entstehung eines Kosmos mit vorkosmischen Eigenschaften steht, hat FERRARI in seiner Analyse von Plutarchs Auseinandersetzung mit Platons Beschreibung des vorkosmischen Weltzustandes im Timaios geliefert. Neben der Vorstellung eines vorkosmischen Amalgams aus aktiv-destruktiver Urseele und ungeordneter Urmaterie, die sich aus Plutarchs Aussagen in De animae procreatione in Timaeo synthetisieren lässt und das ungeordnete Ausgangsmaterial für eine Ordnung in der demiurgischen Weltschöpfung bildet, finden sich in De Iside et Osiride Aussagen dahingehend, dass das dort von der Gestalt der Isis verkörperte vorkosmische psychosomatische Amalgam, mit dem Osiris als Personalunion von Demiurg und Ideenwelt den sichtbaren Kosmos erzeugt, von sich aus positiv-konstruktive Züge aufweist.706 Plutarch beschreibt Isis als „eine beseelte, verstandesbegabte und bewegte Natur, die ewig nach dem Besseren verlangt, es ersehnt und verfolgt“707, sie besitzt eine „angeborene Liebe zum […] Guten, das sie ersehnt und verfolgt“708 und eine „ewige Orientierung zum Besseren“ (ῥέπουσα δ᾿ ἀεὶ πρὸς τὸ βέλτιον).709 Der psychisch-aktive Bestandteil der Isis trägt also Merkmale, die weniger für die destruktiv-bewegte Urseele, als für die bereits vom Demiurgen geordnete Weltseele typisch sind, wodurch umgekehrt die mit dem psychischen Bestandteil verbundene materielle Komponente positive Qualitäten erlangt.710 Besonders auffallend an dieser Konzeption ist, dass in ihr offenbar ein gewisses Verhältnis der Materie an sich zu dem guten Prinzip vorausgesetzt ist, das ihre natürliche Rationalität begründet,711 ein Moment, das dem psychosomatischen Amalgam aus Materie und destruktiver Urseele, wie es sich in De animae procreatione in Timaeo zeigt, völlig fremd und mit diesem unvereinbar zu sein scheint712: Während Isis’ Beseeltheit und Bewegtheit die Charakteristika der von der Urseele durchdrungenen vorkosmischen                                                              706

Vgl. oben, S. 328f. De Iside 48, 370F φύσιν οὐκ ἄψυχον οὐδ᾿ ἄλογον οὐδ᾿ ἀκίνητον ἐξ αὑτῆς … ἐφιεμένην δὲ τὴς ἀμείνονος ἀεὶ καὶ ποθοῦσαν καὶ διώκουσαν. 708 De Iside 53, 372E ἔχει δὲ σύμφυτον ἔρωτα τοῦ πρώτου καὶ κυριωτάτου πάντων, ὃ τἀγαθῷ ταὐτόν ἐστι, κακεῖνο ποθεῖ καὶ διώκει. 709 Vgl. FERRARI (1995) 82f. 710 FERRARI (1995) 85 „Gli aspetti „attivi“ e l’orientamento al bene che caratterizzano il concetto di hyle in De Iside sarebbero spiegabili con l’ipotesi secondo cui Plutarco avrebbe esposto in questo scritto una nuova teoria della materia, teoria secondo la quale il principio materiale si „confonderebbe“ con elementi di natura psichica che solitamente la tradizione platonica ascriveva, in virtù del loro carattere „positivo“, alla psyche tou pantos.“ 711 FERRARI (1995) 83 „Ad Iside viene poi attribuito un movimento animato e intelligente del tutto impensabile senza un qualche rapporto con il principio del bene (375D).“ 712 Vgl. FERRARI (1995) 90f. „La hyle presenta, nella fase precosmica, due „momenti“ distinguibili tra loro solo dal punto di vista logico: una materia in sé (passiva e neutrale) e 707

8. Die Rede des Ammonios

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Materie abbilden, kann ihre Rationalität, die jene beiden sonst als irrational bestimmten Aspekte überformt, nur vom guten, intelligiblen Prinzip herrühren.713 Eine solche Teilhabe des vorkosmischen Materie-Seele-Amalgams am Intelligiblen wird von Plutarch tatsächlich in De Iside et Osiride angedeutet: Die Materie, „wird von ihm [sc. dem Guten] angefüllt und ersehnt es ewig (ἀεί) und nimmt Anteil an ihm“, Isis „hat am ersten Gott ewig (ἀεί) Anteil und ist mit ihm in Liebe zu dem Guten und Schönen, das ihn umgibt, verbunden.“714 Da Plutarch in diesem Passus dezidiert gegen die stoische Konzeption einer an sich völlig qualitätslosen Materie polemisiert, kann er hier mit der Teilhabe der Materie am guten Prinzip nicht das Ergebnis des demiurgischen Aktes meinen, zumal die jeweilige Betonung einer „ewigen“ Teilhabe sich auf die Relation der Materie als solcher zum guten Prinzip bezieht und nicht das demiurgische Produkt der beiden, den sichtbaren Kosmos, bezeichnet. Wie FERRARI gezeigt hat, steht hinter Plutarchs Aussagen offenbar die Vorstellung, dass zwischen der beseelten Materie und dem intelligiblen Prinzip bereits vor der demiurgischen Ordnung des Kosmos gewisse Beziehungen bestehen, mithin eine gewisse rationale Bändigung des vorkosmischen Chaos angenommen werden muss, deren Produkt zwar nicht der endgültig rational strukturierte Kosmos, wohl aber eine Art von Vorprodukt ist, das weder ein vollkommenes Chaos noch einen vollkommenen Kosmos darstellt.715                                                              una materia mossa (di un movimento irrazionale e disordinato) in virtù della sua coappartenenza (synyparchein) con l’anima malvagia. Dai passi contenuti nel secondo gruppo [sc. der Aussagen über die Materie in De Iside et Osiride, Anm. d. Verf.] sembra invece delinearsi un’idea di hyle sostanzialmente differente da quella appena ricostruita e con essa apparentemente inconciliabile. L’esame dei testi relativi alla materia contenuti nel De Iside sembrerebbe accreditare l’impressione che esista un qualche genere di connessione tra essa e il principio intellegibile.“ 713 FERRARI (1995) 91 „[…] se le prime due determinazioni sono deducibili dalla sua coappartenenza con l’anima originaria […], la terza non si vede proprio da dove le potrebbe derivare se non dal principio intellegibile, definito anche come logos (es. a 373B). Ricordo infatti che il movimento e la psichicità prodotti dall’anima in sé sono irrazionali e disordinati, e quindi l’elemento di razionalità deve provenire da un principio già razionale.“ 714 De Iside 57, 374D Πενίαν δὲ τὴν ὕλην προσεῖπεν ἐνδεᾶ μὲν οὖσαν αὐτὴν καθ᾿ ἑαυτὴν τοῦ ἀγαθοῦ, πληρουμένην δ᾿ ὑπ᾿ αὐτοῦ καὶ ποθοῦσαν ἀεὶ καὶ μεταλαμβάνουσαν. 58, 374F ὧν ἐχομένους χρὴ καὶ τὴν θεὸν ταύτην οὕτω διανοεῖσθαι τοῦ πρώτου θεοῦ μεταλαγχάνουσαν ἀεὶ καὶ συνοῦσαν ἔρωτι τῶν περὶ ἐκεῖνον ἀγαθῶν καὶ καλῶν κτλ. 715 FERRARI (1995) 91f. „Ma, e qui sta la maggiore difficoltà, leggendo questa affermazione sembra naturale chiedersi come sia possibile che questa materia (Iside) abbia un rapporto con il principio noetico prima che quest’ ultimo agisca sul complesso materiaanima per mezzo dell’imposizione di strutture razionalizzatrici e ordinatrici, dando in questo modo luogo alla generazione del cosmo sensibile. Se quanto dice Plutarco in questo passo può essere considerato espressione di una sua posizione consolidata, bisogna attribuirgli una concezione che sembrerebbe ammettere la presenza dell’intellegibile nella

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III. Hauptgespräch

Eine Vorstellung von einer Art Vorkosmos hat FERRARI überzeugend als den theoretischen Hintergrund von Plutarchs Erwähnung und Deutung der Erzeugung des Apollon oder Älteren Horus erwiesen, die sich im 54. Kapitel von De Iside et Osiride findet. „Die sogenannte Erzeugung des Apollon durch Isis und Osiris“, so berichtet Plutarch, „als die Götter noch im Bauch der Rhea waren, ist ein rätselhafter Ausdruck dafür, dass, noch bevor dieser Kosmos sichtbar und vom Logos vollendet wurde, die Materie, die von Natur aus erwiesenermaßen unvollendet ist, die erste Geburt hervorgebracht hat.“ Den Unterschied zwischen jener „ersten Geburt“ und dem späteren Kosmos illustriert Plutarch sogleich: „Von jenem Gott heißt es, er sei als ein Krüppel im Verborgenen geboren worden, und sie nennen ihn den Älteren Horus“; theoretisch bedeute dies, dass er „nicht ein Kosmos war, sondern ein Scheinbild und Phantom des nachmaligen Kosmos.“716 Die leichten Unsicherheiten im Text der Passage können den Eindruck nicht verdecken, dass, wie FERRARI feststellt, hier möglicherweise die „attestazione più esplicita contenuta nell’intero corpus relativa all’esistenza di un livello di organizzazione della materia prima della generazione vera e propria del mondo“ vorliegt.717 Betrachtet man den Kontext näher, in dem Plutarch jenen Krüppelkosmos als Produkt einer pränatalen Liaison zwischen dem psychosomatischen Amalgam Isis und dem intelligiblen Prinzip Osiris erwähnt, so ergeben sich Hinweise darauf, dass Plutarch jene theoretische Vorstellung wiederum direkt aus dem χώρα-Passus von Platons Timaios entwickelt hat. Plutarch führt die Erzählung von jenem Vorkosmos als eine mit γάρ eingeleitete Begründung für das Voraufgehende an. Dort heißt es, Typhon (die Personifizierung der rein destruktiven Potenz der Urseele in De Iside et Osiride718) habe Horus (den sichtbaren Kosmos als demiurgisches Produkt) in einem Vaterschaftsprozess vor Gericht gezogen und ihn bezichtigt, ein Bastard der Isis zu sein (δίκην φεύγειν λέγεται νοθείας), weil er nicht die                                                             

hyle prima della generazione del mondo. […] Se la hyle „partecipa“ del mondo ideale, significa che essa è in rapporto con esso già prima della generazione del cosmo, prima cioè che il dio introduca nel sostrato i principi che rendono il cosmo tale quale è. Ma allora ciò indurrebbe a credere che dio (le idee e il piano intellegibile) entrano in rapporto con la materia (il sostrato) prima della generazione vera e propria, hanno cioè un contatto con la materia in una fase precosmica.“ 716 De Iside 54, 373B ἡ μὲν γὰρ ἔτι τῶν θεῶν ἐν γαστρὶ τῆς Ῥέας ὄντων ἐξ Ἴσιδος καὶ Ὀσίριδος λεγομένη γένεσις Ἀπόλλωνος αἰνίττεται τὸ πρὶν ἐκφανῆ γενέσθαι τόνδε τὸν κόσμον καὶ συντελεσθῆναι τῷ λόγῳ τὴν ὕλην †φύσει ἐλεγχομένην ἐπ᾿ αὐτὴν ἀτελῆ τὴν πρώτην γένεσιν ἐξενεγκεῖν· διὸ καί φασι τὸν θεὸν ἐκεῖνον ἀνάπηρον ὑπὸ σκότῳ γενέσθαι καὶ πρεσβύτερον Ὧρον καλοῦσιν· οὐ γὰρ ἦν κόσμος, ἀλλ᾿ εἴδωλόν τι καὶ κόσμου φάντασμα μέλλοντος. 717 Vgl. FERRARI (1995) 94. 718 Vgl. FERRARI (1995) 85.

8. Die Rede des Ammonios

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Reinheit und Unvermischtheit seines als Logos bezeichneten, angeblichen Vaters Osiris besitze, sondern „von der Materie wegen des Körperlichen als Bastard erzeugt worden“ sei (νενοθευμένος τῇ ὕλῃ διὰ τὸ σωματικόν). Vor Gericht, so berichtet Plutarch weiter, komme dem verleumdeten Horus Hermes zu Hilfe, den Plutarch als Logos bezeichnet (τοῦ Ἑρμοῦ, τουτέστι τοῦ λόγου), der „bezeugt und zeigt“ (μαρτυροῦντος καὶ δεικνύοντος), dass „die Natur nach dem Vorbild des Intelligiblen gestaltet den Kosmos hervorbringt“ (ὅτι πρὸς τὸ νοητὸν ἡ φύσις μετασχηματιζομένη τὸν κόσμον ἀποδίδωσιν).719 Was Plutarch hier als die Narration der Abfolge einer Anklage des Horus als Bastard der Materie und einer advokatischen Widerlegung dieses Vorwurfs durch einen personifizierten Logos beschreibt, findet sich in Platons Timaios als die Abfolge von vorkosmischer Interaktion zwischen der χώρα und den in sie eingehenden Elementenabbildern und der späteren Regulierung der Interaktion zwischen den Ideen und der Materie durch die Ordnungstat des Demiurgen, deren Produkt der vollendete Kosmos ist: Plutarch hat Platons Aussage in Timaios 52b2–3, die vorkosmische χώρα, in der das Werden stattfinde, sei „mit unsinnlicher Wahrnehmung und einer Art von Bastarddenken erfassbar“ (μετ᾿ ἀναισθησίας ἁπτὸν λoγισμῷ τινι νόθῳ) zu jener Anklage des Typhon umgebildet, Horus sei ein Bastard der Isis, weil in ihm der Logos seines Vaters nicht rein feststellbar sei; in der advokatischen Intervention des Logos Hermes, der Horus’ Sohnschaft gegenüber Osiris dadurch erweist, dass er bezeugt, dass dessen Gestaltung aus der Materie (μετασχηματιζομένη) nach dem Vorbild des Intelligiblen erfolgt ist, hat Plutarch wiederum Platons Formulierung der Ordnung des vorkosmischen, ungeordneten Werdens (Tim. 53a8 ἀλόγως καὶ ἀμέτρως) durch Formen und Zahlen in Timaios 53b4–5 (ταῦτα πρῶτον διεσχηματίσατο εἴδεσί τε καὶ ἀριθμοῖς) aufgenommen. Plutarchs kausale Verknüpfung der Gerichtsszene mit dem folgenden Bericht von der Geburt des älteren Horus als eines Scheinbildes des nachmaligen Kosmos ermöglicht es, die „protagonisti“ jener von FERRARI witzig als „teatro metafisico“ bezeichneten720 Interaktion der kosmologischen Entitäten in diesem Passus zu benennen: Der verkrüppelte Ältere Horus entspricht dem als Bastard bezichtigten Horus des Prozesses und damit dem unvollkommenen Vorkosmos; dem im Bauch der Rhea den älteren Horus zeugenden Osiris entspricht vor Gericht der in seiner Vaterschaft angezweifelte Osiris und damit die Erzeugung des Vorkosmos durch das Intelligible vor der demiurgischen Ordnung dieses Vorkosmos zum Kosmos; in der Zeugenschaft des Hermes, der selbst als Logos bezeichnet wird, fasst                                                              719 720

De Iside 54, 373B. Vgl. FERRARI (1995) 88.

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III. Hauptgespräch

Plutarch den demiurgischen Akt selbst zusammen, durch den aus dem vermeintlichen Bastard und verkrüppelten Gott Horus der echte Sohn von Isis und Osiris, Horus, der „nachmalige Kosmos“, wird. Den beiden Phasen der Interaktion zwischen dem Intelligiblen, der Materie und dem Kosmos, die hier einerseits als Verhältnis von Anklage und Zeugnis, andererseits als Verhältnis von Älterem Horus zu Horus geschildert werden, liegt Platons Beschreibung der Relation zwischen vorkosmischem und kosmischem Zustand im Timaios zugrunde. Das Bild, das sich aus diesem Passus von De Iside et Osiride über Plutarchs Rezeption der χώρα-Passage des Timaios unter dem Aspekt einer vorkosmischen Interaktion zwischen dem Intelligiblen und dem Amalgam aus Urseele und Materie ergibt, aus dem eine gewisse Form von vorkosmischer Ordnung entsteht, lässt sich anhand von konkreten Interpretationen von Details des letzten Abschnittes in Platons χώρα-Beschreibung (Timaios 52d2–53a8) in De animae procreatione in Timaeo vervollständigen und differenzieren. Platon leitet den Schlussteil seiner Ausführungen über das vorkosmische Verhältnis von Seiendem, Werden und χώρα mit einer Zusammenfassung ein, die die drei Faktoren erneut nennt und explizit von einem „Werden, noch vor der Entstehung des Himmels“, mithin des geordneten Kosmos, spricht.721 Die nun folgende Beschreibung der Bewegung, in die die Elemente die χώρα bei deren Qualifizierung versetzen, wobei sie im Gegenzug von der bewegten χώρα selbst in Bewegung gesetzt werden, dient Platon zur Illustration des chaotischen vorkosmischen Zustandes, in dem „alles sich auf diese Weise ohne Ordnung und Maß befand“ (ἀλόγως καὶ ἀμέτρως).722 Vor dem Eingriff des Demiurgen, „der dies zuerst mit Formen und Zahlen gliederte“ (Tim. 53b4–5 ταῦτα πρῶτον διεσχηματίσατο εἴδεσί τε καὶ ἀριθμοῖς), herrscht ungeordnete Bewegung: Die χώρα gerät durch ihre Qualifizierung mit „weder gleichartigen noch austarierten“ (Tim. 52e2 μήτ᾿ ὁμοίων μήτ᾿ ἰσορρόπων) Elementen in ein vollständiges Ungleichgewicht (Tim. 52e2–3 κατ᾿ οὐδὲν αὐτῆς ἰσορροπεῖν) und wird von den Elementen in ein „allseitiges, unregelmäßiges Schwanken und Schütteln“ versetzt, das sich auf die Elemente selbst zurücküberträgt (Tim. 52e3–5 ἀνομάλως πάντῃ ταλαντουμένην σείεσθαι μὲν ὑπ᾿ ἐκείνων, κινουμένην δ᾿ αὖ πάλιν ἐκεῖνα σείειν). Diese reziproke Erschütterung von χώρα und Elementen sowie deren Folgen illustriert Platon mit dem Bild von gedroschenem Getreide und Worfelapparat (πλόκανον).723 Bei einer solchen Art von Rüttelvorgang                                                             

721 Plat. Tim. 52d2–4 οὗτος μὲν οὖν δὴ παρὰ τῆς ἐμῆς ψήφου λογισθεὶς ἐν κεφαλαίῳ δεδόσθω λόγος, ὄν τε καὶ χώραν καὶ γένεσιν εἶναι, τρία τριχῇ, καὶ πρὶν οὐρανὸν γενέσθαι. 722 Vgl. Plat. Tim. 52d4–53a8. 723 Zur Illustration dieses Schüttelkorbes zur Trennung von Spreu und Korn vgl. CORNFORD (1937) 201f.

8. Die Rede des Ammonios

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bewegen sich die unterschiedlichen Elemente in einem groben Sortiervorgang in unterschiedliche Richtungen (Tim. 52e5–6 τὰ δὲ κινούμενα ἄλλα ἄλλοσε ἀεὶ φέρεσθαι διακρινόμενα) mit dem Ergebnis, dass sich Unähnliches trennt und Ähnliches sammelt (Tim. 53a4–6) τὰ μὲν ἀνομοιότατα πλεῖστον αὐτὰ ἀφ᾿ αὑτῶν ὁρίζειν, τὰ δὲ ὁμοιότατα μάλιστα εἰς ταὐτὸν συνωθεῖν). Die reziproke Bewegung von Elementen und χώρα zeitigt also ambivalente Ergebnisse, einerseits tendenziell chaotische Verhältnisse, andererseits eine Art von Vorstrukturierung der Materie. Die vorkosmische γένεσις, die Platon hier beschreibt, stellt mithin eine minimale Ordnung in einer chaotischen Bewegung dar, die Platon als – wenn auch defizitäre – „gewisse Spuren“ der nachmaligen, vom Demiurgen durch Zahlenverhältnisse geordneten Elemente bezeichnet (Tim. 53b1–4 ἴχνη μὲν ἔχοντα αὑτῶν ἄττα, παντάπασί γε μὴν διακείμενα ὥσπερ εἰκὸς ἔχειν ἅπαν ὅταν ἀπῇ τινος θεός). Plutarch legt in De animae procreatione in Timaeo die beiden ersten Entitäten von Platons einleitender Unterteilung der drei ontologischen Faktoren ὄν, χώρα und γένεσις, die „auch vor dem Werden des Himmels“ (καὶ πρὶν οὐρανὸν γενέσθαι) existiert haben, dahingehend aus, dass mit dem ὄν das Intelligible, mit der χώρα die Materie gemeint sei, mit der γένεσις schließlich „das sich vor der Weltentstehung in Wandlungen und Bewegungen befindliche Sein“ gemeint sei (γένεσιν δὲ τοῦ κόσμου μήπω γεγονότος […] τὴν ἐν μεταβολαῖς καὶ κινήσεσιν οὐσίαν), das er zusätzlich als μεριστὴ οὐσία bezeichnet und so mit der Urseele gleichsetzt. Die Bezeichnung der Urseele als „teilbar“ (μεριστή), so Plutarch, leite sich davon ab, dass die Urseele „zwischen dem Prägenden“ (dem Intelligiblen) und „dem Geprägten“ (der Materie) „angesiedelt“ sei (τεταγμένην) und „hier“ (ἐνταῦθα, also in der Materie) die „von dort stammenden Abbilder“ (τὰς ἐκεῖθεν, also vom Intelligiblen stammenden, εἰκόνας) „verteile“ (διαδιδοῦσαν).724 Die zwischen dem Intelligiblen und der Materie angesiedelte Urseele steht mithin auch vor der Entstehung des Kosmos mit dem Intelligiblen in Kontakt und fungiert als Medium einer vorkosmischen Übertragung von Abbildern des Intelligiblen auf die Materie.725                                                             

724 De an. procr. 24, 1024BC οὕτω δέ πως καὶ αὐτὸς διασαφεῖ τοῖς ὀνόμασιν· οὗτος γάρ φησι (Tim. 52d) παρὰ τῆς ἐμῆς ψήφου λογισθεὶς ἐν κεφαλαίῳ δεδόσθω λόγος, ὄν τε καὶ χώραν καὶ γένεσιν εἶναι τρία τριχῆ καὶ πρὶν οὐρανὸν γενέσθαι. χώραν τε γὰρ καλεῖ τὴν ὕλην ὥσπερ ἕδραν ἔστιν ὅτε καὶ ὑποδοχήν, ὂν δὲ τὸ νοητόν, γένεσιν δὲ τοῦ κόσμου μήπω γεγονότος οὐδεμίαν ἄλλην ἢ τὴν ἐν μεταβολαῖς καὶ κινήσεσιν οὐσίαν, τοῦ τυποῦντος καὶ τοῦ τυπουμένου μεταξὺ τεταγμένην, διαδιδοῦσαν ἐνταῦθα τὰς ἐκεῖθεν εἰκόνας. διά τε δὴ ταῦτα μεριστὴ προσηγορεύθη κτλ. 725 FERRARI (1995) 92f. „In AP 1024C leggiamo che l’anima precosmica, terzo principio accanto al mondo intellegibile e alla materia, διαδιδοῦσαν ἐνταῦθα τὰς ἐκεῖθεν εἰκόνας (distribuisce, sparge quaggiù le immagini di lassù, cioè del mondo intellegibile) e proprio in virtù di questa funzione è definita μεριστή. Qui Plutarco ha in mente l’azione del nous (e delle idee) sulla materia nella fase precosmica. Il testo dovrebbe alludere al fatto che

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III. Hauptgespräch

An anderer Stelle erklärt Plutarch das „Werden“ des Kosmos als die Überführung eines ungeordneten vorkosmischen Zustandes in einen geordneten Kosmos durch den Demiurgen und rekurriert dabei auf Platons Beschreibung der wechselseitigen Bewegung der χώρα und der vier Elemente als „Schütteln“ und „Schwanken“: Platon habe jene Körper auch vor der Entstehung des Kosmos (πρὸ τῆς τοῦ κόσμου γενέσεως) angesetzt, wenn auch in einem Zustand ungeordneter Bewegung (nach Tim. 30a3–5 πᾶν ὅσον ἦν ὁρατὸν οὐχ ἡσυχίαν ἄγον ἀλλὰ κινούμενον ἀτάκτως τὸν θεὸν παραλαβόντα διακοσμεῖν).726 Im selben Zusammenhang führt Plutarch wenig später Platons letzten Satz über den vorkosmischen Zustand in Timaios 53a7–b5 an, wo es von den vier Elementen in der χώρα heißt, sie besäßen gewisse „Spuren ihrer selbst“ (ἴχνη μὲν ἔχοντα ἄττα αὑτῶν), die der Demiurg später durch Formen und Zahlen ausgestaltet habe, um seine Erklärung des „Werdens“ des Kosmos als die Ordnungstat des Demiurgen gegenüber einem vorkosmischen Zustand zu erhärten.727 Die in der ersten angeführten Passage von De animae procreatione in Timaeo genannten „von dort“ – dem Intelligiblen – „stammenden Abbilder“ (τὰς ἐκεῖθεν εἰκόνας), die die Urseele an die Materie verteilt, können, wie FERRARI bemerkt, als Plutarchs Interpretation der „Spuren“ (ἴχνη) der Elemente aus Timaios 53b2 verstanden werden, von denen Plutarch in der zuletzt angeführten Passage spricht.728 Plutarch hat also die Bewegung der χώρα und der Elemente und                                                             

l’anima in sé distribuisce le immagini del mondo eidetico nella hyle (ἐνταῦθα) prima che dio intervenga e ordini l’indeterminato. […] prima della generazione temporale del cosmo, l’anima in sé consentiva alla materia di ricevere le immagini del mondo intellegibile.“ 726 De an. procr. 9, 1016D οὕτω γὰρ καὶ τὸ σῶμα τοῦ κόσμου πῇ μὲν ἀγένητον ἀποφαίνει πῇ δὲ γενητόν· ὅταν μὲν γὰρ εἴπῃ (Tim. 30a), πᾶν ὅσον ἦν ὁρατὸν οὐχ ἡσυχίαν ἄγον ἀλλὰ κινούμενον ἀτάκτως τὸν θεὸν παραλαβόντα διακοσμεῖν, καὶ πάλιν (Tim. 52e sq.), τὰ τέτταρα γένη, πῦρ καὶ ὕδωρ καὶ γῆν καὶ ἀέρα, πρὶν ἢ τὸ πᾶν ὑπ᾿ αὐτῶν διακοσμηθὲν γενέσθαι, σεισμὸν ἐμποιεῖν τῇ ὕλῃ καὶ ὑπ᾿ ἐκείνης τινάσσεσθαι διὰ τὴν ἀνωμαλίαν, ὄντα που ποιεῖ καὶ ὑποκείμενα τὰ σώματα πρὸ τῆς τοῦ κόσμου γενέσεως. 727 De an. procr. 9, 1016EF ἀλλὰ τί δεῖ νοεῖν καὶ τὴν γένεσιν, αὐτὸς διδάσκει. τὸ μὲν γὰρ πρὸ τούτου φησί (Tim. 53a sq.) ταῦτα πάντα εἶχεν ἀλόγως καὶ ἀμέτρως· ὅτε δ᾿ ἐπεχειρεῖτο κοσμεῖσθαι τὸ πᾶν, πῦρ πρῶτον καὶ ὕδωρ καὶ γῆν καὶ ἀέρα, ἴχνη μὲν ἔχοντα ἄττα αὑτῶν, παντάπασι μὴν διακείμενα ὥσπερ εἰκὸς ἔχειν ἅπαν ὅταν ἀπῇ τινος θεός, οὕτω δὴ τότε πεφυκότα ταῦτα πρῶτον διεσχηματίσατο εἴδεσι καὶ ἀριθμοῖς. 728 FERRARI (1995) 93 „Sicuramente la formula τὰς ἐκεῖθεν εἰκόνας va considerata come un tentativo di interpretazione degli ἴχνη di Tim. 53b2 che in effetti sembrerebbero configurarsi per Platone come „tracce“ precosmiche del mondo. Non saprei dire se le linee che ho riportato sopra siano da considerarsi come una esegesi diretta di Tim. 53b2, ma è indubbio che tutta la sezione 1024B–C di AP vada letta in rapporto a Tim. 52d–53b e che nel suo complesso contenga l’idea che anche nel chaos precosmico ci sia una certa presenza del nous. […] In questo contesto l’anima precosmica sarebbe investita del compito di rendere possibile alla materia l’accoglimento delle ekeithen eikones provenienti dall’intelligibile, dal momento che solo la presenza di una psyche consente alla hyle di essere τυπουμένη anche prima della „nascita“ del cosmo. Tutto ciò mi sembra confermato da

8. Die Rede des Ammonios

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die aus ihr resultierende gewisse vorkosmische Ordnung der Materie, von der Platon im Timaios spricht, als Tätigkeit der mit der Materie verbundenen Urseele interpretiert und diese als vermittelnde Zwischeninstanz zwischen die Elemente und die χώρα eingeschaltet, die jene als Abbilder des Intelligiblen in diese „verteilt“, woraus sich die Vorsortierung der Elemente in der Materie in Form von „Spuren“ ihrer späteren demiurgischen Ordnung ergibt. Verbindet man mit FERRARI Plutarchs Ausführungen über den Älteren Horus in De Iside et Osiride729 mit seinen Interpretationen von Timaios 52d2–53a8 in De animae procreatione in Timaeo, so lässt sich eine relativ geschlossene Vorstellung Plutarchs von der vorkosmischen Interaktion zwischen dem Intelligiblen und der mit der Urseele verbundenen Materie mit dem Ergebnis eines Vorkosmos erkennen. Plutarch hat die „Spuren“ (ἴχνη) der Elemente in der χώρα als jenen Vorkosmos interpretiert, der das Resultat einer Vermittlung von Abbildern des Intelligiblen durch die Urseele in die mit ihr verbundene Materie darstellt.730 FERRARI vermutet, dass Plutarch sich zu der in De Iside et Osiride und in De animae procreatione in Timaeo bemerkbaren umfangreicheren Auseinandersetzung mit der χώρα-Passage des Timaios und seinen Versuchen, die vorkosmische Interaktion zwischen dem Intelligiblen und der Materie näher zu bestimmen, womöglich von Aussagen Platons über die Kompliziertheit jenes Verhältnisses hat anregen lassen: In Timaios 51a7–b2 behauptet Platon, die χώρα habe „auf eine irgendwie höchst unerklärliche und absolut schlecht zu erfassende Weise am Intelligiblen Anteil“ (μεταλαμβάνον δὲ ἀπορώτατά πῃ τοῦ νοητοῦ καὶ δυσαλωτότατον αὐτὸ λέγοντες οὐ ψευσόμεθα); in Timaios 50c4–6 will Platon eine ausführliche Erklärung der Prägung der vier in die χώρα „hineingehenden und aus ihr herausgehenden“ Elemente, die er als „Abbilder der ewig seienden Dinge“ bezeichnet, auf einen späteren Zeitpunkt aufschieben, ist sie doch „in gewisser Weise schlecht zu formulieren und erstaunlich“ (τὰ δὲ εἰσιόντα καὶ ἐξιόντα τῶν ὄντων ἀεὶ μιμήματα, τυπωθέντα ἀπ᾿ αὐτῶν                                                             

quanto si legge in AP 1016D–1017A in cui viene discusso lo status precosmico del corpo (anima precosmica+materia) prima della generazione nel tempo. Qui, Plutarco parla esplicitamente delle tracce (ἴχνη) dei quattro corpi primari cui, conformemente a Tim. 53b2, egli ascrive un movimento disordinato e irrazionale.“ 729 Vgl. oben, S. 335–338. 730 FERRARI (1995) 94f. „[…] quando vi [sc. De Iside 54, 373B, Anm. d. Verf.] si dice, che la materia è „incapace per sé stessa“ si dovrebbe intendere, con ciò, il livello primario della hyle (pura indeterminazione). Nonostante questa incapacità, essa è in grado di „produrre“, nel senso di „trarre fuori“, la prima generazione, vale a dire lo stadio in cui i quattro corpi primari [sc. die ἐκεῖθεν εἰκόνας in De an. procr. 24, 1024BC, Anm. d. Verf.] sono presenti nella forma di „tracce“ [sc. der ἴχνη aus De an. procr. 9, 1016EF, Anm. d. Verf.]. […] La materia, per essere in grado di „produrre la prima generazione“ deve „già“ essere connessa all’anima precosmica, grazie alla quale può ricevere gli ichne.“

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III. Hauptgespräch

τρόπον τινὰ δύσφραστον καὶ θαυμαστόν, ὃν εἰς αὖθις μέτιμεν).731 Vor dem Hintergrund der intensiven Rezeption der χώρα-Passage des Timaios, die der Gedankengang der Ammoniosrede dokumentiert, ist FERRARIs Vermutung zuzustimmen, Plutarch habe aus den Andeutungen Platons eine eigenständige und organische Theorie einer vorkosmischen Interaktion zwischen dem Intelligiblen und der Materie mit dem Ergebnis eines Vorkosmos entwickelt.732 Nach FERRARI ist es wahrscheinlich, dass Plutarch seine diesbezügliche Platoninterpretation systematisch in der verlorenen Abhandlung Πῶς ἡ ὕλη τῶν ἰδεῶν μετείληφεν ὅτι τὰ πρῶτα σώματα ποιεῖ entfaltet hat, die der Lampriaskatalog unter Nummer 68 führt. Die im Titel genannten πρῶτα σώματα dürften jenen ἴχνη der Elemente entsprechen, die Plutarch in De animae procreatione in Timaeo als die Abbilder des Intelligiblen in der vorkosmischen Materie interpretiert hat; das ποιεῖν der Materie entspräche analog dem ἐξενεγκεῖν der πρώτη γένεσις, als das Plutarch in De Iside et Osiride die Geburt des Älteren Horus als eines Krüppelkosmos deutet.733 Freilich scheinen die diesbezüglichen Andeutungen von De animae procreatione in Timaeo nicht nur in De Iside et Osiride eine „forma esplicita di una riflessione sulla „generazione precosmica““734 gefunden zu haben, sondern auch in Plutarchs Ausführungen über die Interaktion des Göttlichen, der Materie und des Daimons am Ende der Ammoniosrede eingegangen zu sein, die aus dieser Perspektive überhaupt erst verständlich wird.

                                                             731

FERRARI (1995) 95 „Plutarco, lo si è detto, fu un lettore attento e intelligente del Timeo platonico. Egli, a differenza di buona parte dei platonici della sua epoca, utilizzò spesso di prima mano i testi del maestro e ciò vale in particolare per questo dialogo. In effetti, il tema della partecipazione della chora all’intellegibile è tutt’altro che estraneo al pensiero platonico; esso rappresenta, secondo la mia opinione, una delle concezioni più interessanti e misteriose tra quelle presenti nel copus […]. Platone avvertì dunque l’esigenza di collegare in qualche modo il ricettacolo al noeton ancora prima della generazione del mondo.“ 732 FERRARI (1995) 96 „Plutarco sapeva anche dal Timeo che il mondo intellegibile poteva essere presente nella chora (la plutarchea hyle) prima della generazione del cosmo sotto forma di „tracce“ (53b2; 51b1 e forse 50c4–5); questa concezione accennata da Platone, venne approfondita dal nostro autore, il quale tentò proprio nel De Iside di sviluppare a partire dalle indicazioni platoniche una dottrina in qualche modo organica. Alla materia egli attribuisce la produzione del primo livello di generazione (appunto la prote ghenesis), che interpreta come un eidolon e un phantasma (cfr. Tim. 52c3) del cosmo generato.“ 733 Vgl. FERRARI (1995) 96f. 734 FERRARI (1995) 98.

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8.6.3 Die Welt der Ammoniosrede als vorkosmisches Produkt aus Materie und Intelligiblem durch Vermittlung der Urseele Vor dem Hintergrund von Plutarchs Vorstellungen über einen durch die Urseele vermittelten vorkosmischen Kontakt des Intelligiblen mit der Materie, der in einer Art unvollkommenen Vorkosmos resultiert, lässt sich die im Schlussteil der Ammoniosrede in De E apud Delphos angedeutete Einwirkung des Göttlichen auf die Materie und die ambivalente Rolle des über die im Werden und Vergehen befindliche Natur gesetzten Daimons erklären. Das nach Ammonios’ Worten „irgendwie“ (ἁμωσγέπως) in den Kosmos gelangte Göttliche kann als die vorkosmische Einwirkung des Intelligiblen auf die Materie gedeutet werden, die sich als ein basal strukturierendes „Zusammenbinden“ (συνδεῖ) von deren wesensmäßiger Strukturlosigkeit äußert. Wenn es von dieser göttlichen Wirkung weiter heißt, sie „setzt sich gegen die im Bereich des zum Vergehen hintreibenden Körperlichen angesiedelte Schwäche durch“ (κρατεῖ), so ist unter dieser dynamischen Wirkung offenbar ein Zwang zu verstehen, den das Intelligible auf die an sich wesensmäßig chaotische Bewegtheit der Urseele ausübt; sie nötigt ihr auf diese Weise als einem reinen Prinzip der „Schwäche“, die jede Struktur des Körperlichen insoweit unterbindet, als ihre ungeordnete Bewegung jede strukturierende Wirkung des Intelligiblen sofort der φθορά anheimstellt, die Funktion auf, ein begrenztes Maß an vorkosmischer Ordnung zuzulassen. Diese partielle, wenn auch unvollständige und zwangsweise Beteiligung der Urseele an einer konstruktiven Qualifizierung der Materie ist die Voraussetzung dafür, dass im vorkosmischen Zustand überhaupt γένεσις stattfinden kann, jene γένεσις, die Plutarch in De animae procreatione in Timaeo als „Verteilen“ (διαδιδοῦσαν) der Abbilder des Intelligiblen durch die Urseele in der Materie bezeichnet hat und deren Ergebnis er in De Iside et Osiride als den mit dem Namen „Älterer Horus“ bezeichneten Krüppelkosmos, das „Scheinbild und Phantom“ des späteren vom Demiurgen hergestellten Kosmos, dargestellt hat. Ammonios’ Daimon ist als eine zur vorkosmischen γένεσις zwangsverpflichtete Urseele zu verstehen, die unter dem Einfluss des Intelligiblen jenen von dauerndem Wechsel von Werden und Vergehen geprägten Vorkosmos verwaltet, in dem sie zwar Werden im Sinne momentaner Strukturierung der Materie zulässt, aber die so entstandenen Strukturen weiterhin durch ihre nicht vollständig gebändigte chaotische Bewegung wieder auflöst. 8.7 Der Timaios in der Ammoniosrede: Zusammenfassung Die vorstehende Untersuchung der platonischen Voraussetzungen der Ammoniosrede als einer Adaption des χώρα-Passus des Timaios lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Jene Welt, die Ammonios in den Kapiteln

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III. Hauptgespräch

18 und 19 von De E apud Delphos beschreibt, entspricht den aus der χώραPassage von Platons Timaios entwickelten theoretischen Vorstellungen Plutarchs von einer minimal durch das Intelligible strukturieren Materie vor dem demiurgischen Eingriff; der Apollon des 20. Kapitels ist als jenes Intelligible, das ὄν des Timaios konzipiert, das entsprechend mit εἶ angeredet zu werden verdient; der Daimon des 21. Kapitels entspricht der Urseele, die in ambivalenter Weise einerseits unter dem Einfluss des Intelligiblen gewisse Strukturen in der Materie zulassen muss, andererseits weiterhin dieselben durch chaotische Bewegung wieder auflöst. Ammonios’ Bild vom Menschen, der am Sein keinen wahren Anteil hat, ist nach der Vorstellung der nur minimal strukturierten Interaktion zwischen den Kopien der intelligiblen Elemente und der χώρα entworfen, das des Apollon nach dem seienden παράδειγμα, das jedoch in keiner geregelten Beziehung zur Materie steht. Die beherrschende Stellung, die nach Ammonios der „andere Gott, besser Daimon“ in der den Menschen umgebenden Welt hat, ergibt sich konsequent daraus, dass er als die Urseele in der platonisch-plutarchischen Theorie eines Vorkosmos, die Ammonios’ Weltbild zugrundeliegt, diejenige Stelle vertritt, die nach dem Eingriff des Demiurgen die erst durch diesen geordnete Weltseele einnimmt. 8.8 Der rhetorische Platonismus der Ammoniosrede Nach den Ergebnissen dieser Analysen stellt die den Dialog De E apud Delphos beschließende Rede des Ammonios ein komplexes Argumentationsgefüge dar, an dessen Oberfläche im Rahmen einer Deutung des delphischen E und der Maxime γνῶθι σαυτόν ein strikter Gegensatz zwischen Sein und Werden, Gott und Mensch, Ewigkeit und Zeit entwickelt wird. Die Kapitel 18 und 19 erarbeiten ein eindrucksvolles Bild vom Nichtsein des Menschen, das in seiner heraklitischen Radikalität das im 20. Kapitel mit parmenideischen Zügen eingeführte Sein des Gottes markant profiliert, während das 21. Kapitel die Möglichkeiten und Grenzen eines erkenntnistheoretischen und kosmologischen Bezuges zwischen dem seienden Gott und dem Menschen als Teil einer in unausgesetztem Werden und Vergehen dahinfließenden Welt diskutiert, ohne dabei, wie Ammonios’ letzter Satz zeigt, die grundsätzliche Dichotomie zwischen dem Sein des Gottes und dem Nichtsein des Menschen in Frage zu stellen. Der Autor Plutarch lässt Ammonios in der Konsequenz und Nachdrücklichkeit seiner Ausführungen nicht anders als seine Vorredner verfahren, indem er ihm möglichst eindrucksvolle Argumente aus demjenigen philosophischen Sachbereich in die Hand gibt, zu dem der ihm zugedachte Lösungsvorschlag für das E die größte Affinität aufweist; in Ammonios’ Fall ist es eine platonische Ontologie mir parmenideischen Zügen, in deren Begriffen das E als die Anrede

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εἶ, „Du bist“, als Ausdruck für das reine Sein des Apollon und seine Zugehörigkeit zum transzendenten Bereich des Intelligiblen interpretiert wird. In einem Aspekt unterscheidet sich jedoch der Redeauftrag, den der Autor Ammonios erteilt, deutlich von den Aufgaben, die er den anderen Gesprächsteilnehmern stellt: Während diese durchweg allein für eine bestimmte Bedeutung des E argumentieren, die sie durch den Aufweis von Beziehungen zwischen der von ihnen vertretenen Deutung und Apollon zu erhärten versuchen, spricht Ammonios nicht nur über die Bedeutung des E, sondern zusätzlich über diejenige des γνῶθι σαυτόν, mehr noch: Betrachtet man die Ammoniosrede rein quantitativ, so lässt sich ein deutliches Übergewicht der Auslegung des γνῶθι σαυτόν als Hinweis auf das Nichtsein des Menschen als Teil einer nichtseienden Welt (Kapitel 18–19) gegenüber der Interpretation des E als einer Aussage über das Sein des Apollon (Kapitel 20) erkennen. Ammonios’ Ausführungen erwecken den Eindruck, tendenziell mehr an einer ontologischen Abwertung des Menschen und der ihn umgebenden Welt als an einer besonderen Deutung des gegenüber der Welt ontologisch herausgehobenen Wesens des Gottes Apollon interessiert zu sein. Diese Tendenz der Rede deutet sich bereits im 17. Kapitel anlässlich der Darstellung der Kommunikation zwischen dem Menschen und dem Gott am Tempel in Delphi an, die Ammonios seinen eigentlich ontologischen Ausführungen vorausschickt: Das in dem göttlichen Aufruf γνῶθι σαυτόν und der menschlichen Reaktion in Gestalt der Aussage εἶ formalisierte Gespräch, das die Besucher des Apollon mit dem Gott führen, thematisiert die menschliche Anerkennung einer fundamentalen Verschiedenheit der eigenen Existenz von derjenigen des Gottes, zu der der Gott selbst auffordert. Es ist dieser Erkenntnisprozess, der in der Ammoniosrede argumentativ dadurch expliziert wird, dass der letzte Redner in De E apud Delphos ein außerordentlich düsteres Bild der Welt des Menschen als eines wesensmäßigen Nichtseins zeichnet, vor dessen Hintergrund die Anrede εἶ nur noch dem Gott Apollon als einzigem Adressaten zukommen kann. Die Radikalität, mit der Ammonios den Menschen und die Welt gegenüber Apollon abwertet, indem er deren absolute Fragilität aufzeigt, hat in Plutarchs sonstigem Werk keine Parallele und ist weder mit Plutarchs tendenziell optimistischem platonischem Weltbild im Allgemeinen noch mit seiner durchweg dokumentierten Hochschätzung des kosmogonisch-kosmologischen Teils von Platons Timaios als des für ihn maßgeblichen Grundtextes zur geordneten Strukturierung des Kosmos durch einen guten Gott nach dem Vorbild eines perfekten intelligiblen Musters zu vereinbaren. Texte wie De animae procreatione in Timaeo oder, stärker noch, De Iside et Osiride, die ein besonderes Interesse Plutarchs an der Frage nach der Ursache des Bösen in der Welt belegen und seinen eigenen Lösungsversuch in der Lehre einer präkosmischen, ungeordnet bewegten und auch nach ihrer

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III. Hauptgespräch

demiurgischen Ordnung noch, wenn auch abgemildert, destruktiv weiterwirkenden Ur- bzw. Weltseele dokumentieren, lassen keinen Zweifel daran, dass für Plutarch die Dominanz des göttlichen Prinzips in einem von einem Gott geordneten Kosmos eine unumstößliche Überzeugung darstellte. OPSOMERs Resümee seiner Untersuchung der Ammoniosrede lässt an dieser Divergenz keinen Zweifel: „Finally, his picture of the world in which we live and of human life is not only grim, but also philosophically unsatisfactory. The sensible world as “Ammonius” describes it is completely devoid of stability – hardly an adequate description of the world as we know it. We ourselves are said to be bereft of identity over time; we die every moment. The best we can do is humbly to recognise our mortality and weakness. Verily not a happy prospect. To be sure, Plato has more interesting perspectives to offer for human life and so does Plutarch in his other works.“735 Wie in dieser Studie gezeigt werden konnte, lässt sich der Charakter der Ammoniosrede jedoch aus ihren kompositorischen Voraussetzungen befriedigend erklären. Im Unterschied zu Plutarchs gängiger Diskussion und philosophischer Rezeption derjenigen Passagen von Platons Timaios, die den Vorgang und das Ergebnis der Weltschöpfung als einer Interaktion zwischen dem Demiurgen, der paradigmatischen Ideenwelt, der Ur- bzw. Weltseele und der Materie beschreiben, liegt der Ammoniosrede Platons Darstellung des vorkosmischen Zustandes der Materie und ihrer unstrukturierten Interaktion mit der Ideenwelt in Timaios 47e3–52b5 zugrunde, deren fortgesetzte Adaption die gesamte Argumentation der Kapitel 18 und 19 sowie 21 bis in ihre Einzelheiten hinein vorgibt und die theoretischen Grundlagen sowohl für Ammonios’ Beschreibung der Welt als Chaos als auch deren auf das nötigste reduzierte Qualifizierung durch die Ideenwelt liefert: Ammonios beschreibt die Welt, als befände sie sich noch im Zustand der platonischen χώρα vor dem ordnenden Eingriff des Demiurgen, der der Materie jenen Anteil am Sein verschafft, durch den sie zum geordneten Kosmos wird, der jedoch nicht Gegenstand der Ammoniosrede ist. Der Kosmos des Ammonios ist nicht κατὰ τὸ παράδειγμα δεδημιουργημένος (Tim. 31a3–4), sondern ein chaotischer Vorkosmos, in dem Apollon zwar mit dem ὄν des Timaios gleichgesetzt wird, jedoch ohne dass er selbst einen paradigmatischen oder demiurgische Rolle gegenüber dem Kosmos einnähme. Bevor abschließend erörtert werden soll, welche Implikationen diese exklusiv ontische Bestimmung des Apollon in De E apud Delphos hinsichtlich der Frage hat, in wieweit die onto-theologischen Aussagen der Ammoniosrede über ihre kontextspezifische Einbettung in einen Beitrag zur Lösung der Frage nach der Bedeutung des delphischen E hinaus als philosophische oder gar religiöse Überzeugung des Autors Plutarch verallgemeinert werden können, soll zunächst als Gegenprobe anhand von anderen Texten Plutarchs,                                                              735

OPSOMER (2009) 174.

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die zu den beiden zentralen Theoremen des Ammonios über den Zustand der Welt in den Kapiteln 18 und 19 – die Bestreitung einer Persistenz der menschlichen Person über die Zeit hin und die Zeittheorie selbst – Stellung nehmen, gezeigt werden, dass die Überzeugungen, die der Autor Plutarch der Dialogperson Ammonios in De E apud Delphos in den Mund legt, außerhalb des Kontextes, in dem sie geäußert werden, keine unumstößliche Gültigkeit beanspruchen können. 8.8.1 Gegenprobe I: Die Persistenz der menschlichen Person in De sera numinis vindicta Ammonios’ Argumentation gegen einen Anteil des Menschen am Sein besteht in den Kapiteln 18 und 19 von De E apud Delphos wesentlich in dem Nachweis, dass die Vorstellung einer dauerhaften individuellen Identität des Menschen unhaltbar ist, wenn man seine unausgesetzte Veränderung im heraklitischen Fluss des Werdens und Vergehens über die Zeit hin berücksichtigt. Im 15. Kapitel seiner Schrift De sera numinis vindicta hingegen bekämpft Plutarch vehement die Position, die er Ammonios in De E apud Delphos vertreten lässt und führt die entgegengesetzte Position als argumentum a minore an, um die Gerechtigkeit später göttlicher Strafen für ganze Gemeinwesen zu erweisen736: Trotz aller Veränderungen, die sie im Lauf der Zeit erfahren, müssen einzelne Städte immer als ein Kollektiv angesehen werden, das billigerweise für in früheren Zeiten begangene Verfehlungen einzustehen habe. Eine Stadt sei „eine zusammenhängende Entität“ wie ein Lebewesen, das „nicht entsprechend der Veränderungen seiner Lebensalter aus sich heraustritt und auch nicht mit der Zeit ein anderes aus einem anderen wird“, sie besitze mithin ebenfalls eine temporale Veränderungen überdauernde Einheit.737 Das genaue Gegenteil hatte Ammonios am Menschen diagnostiziert, nämlich die vollkommene Veränderung der Person im Wechsel der Lebensalter, die fehlende Einheit über die Zeit hin. Wer, wie Plutarch in De sera numinis vindicta fortfährt, eine Stadt über die Zeit hin in „viele, ja unendlich viele Städte zerlegt“, verfahre genauso, wie wenn er „den einen Menschen zu vielen macht, weil er jetzt älter, vorher

                                                            

736 Vgl. De sera 15, 558F οὐ μὴν ἀλλὰ τά γε δημόσια τῶν πόλεων μηνίματα τὸν τοῦ δικαίου λόγον ἔχει πρόχειρον. 737 De sera 15, 559A ἓν γάρ τι πρᾶγμα καὶ συνεχὲς ἡ πόλις ὥσπερ ζῷον οὐκ ἐξιστάμενον αὑτοῦ ταῖς καθ᾿ ἡλικίαν μεταβολαῖς οὐδ᾿ ἕτερον ἐξ ἑτέρου τῷ χρόνῳ γινόμενον, ἀλλὰ συμπαθὲς ἀεὶ καὶ οἰκεῖον αὑτῷ καὶ πᾶσαν ὧν πράττει κατὰ τὸ κοινὸν ἢ ἔπραξεν αἰτίαν καὶ χάριν ἀναδεχόμενον, μέχρι ἂν ἡ ποιοῦσα καὶ συνδέουσα ταῖς ἐπιπλοκαῖς κοινωνία τὴν ἑνότητα διαφυλάττῃ.

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jünger, noch früher aber ein Jüngling war.“738 Derartige Vorstellungen seien die Grundlage sophistischer Argumentationsmuster, nach denen beispielsweise ein in früherer Zeit aufgenommener Kredit später nicht mehr zurückgezahlt werden müsse, da der Kreditnehmer ja eine andere Person gewesen sei als derjenige, von dem die Rückzahlung der Kreditsumme verlangt werde. A minore schließt Plutarch nun an, dass die Veränderungen von politischen Kollektiven sogar noch geringer seien als bei Einzelpersonen, bei denen durchaus äußerlich und in der Persönlichkeit über die Zeit hinweg starke Veränderungen stattfänden; freilich werde dessenungeachtet der Mensch „von der Geburt bis zum Tode einer“ genannt, und dies gelte analog für ein politisches Kollektiv, das auch für frühere Taten zur Rechenschaft gezogen werden könne.739 Wer anders urteile, sei sich nicht bewusst, dass er „alle Dinge in den Fluss des Heraklit hineinwirft, von dem dieser sagt, man könne nicht zweimal in ihn hineinsteigen, da er alles bewegt und das sich wandelnde Wesen verändert.“740 Solche Aussagen sind mit der anthropologischen Analyse des Ammonios im 18. Kapitel von De E apud Delphos nicht zu vereinbaren, ja sie stellen eine regelrechte Palinodie der Ammoniosrede dar. Dass der selbe Autor in zwei unterschiedlichen Texten einander widersprechende Positionen vertritt, kann daher nur mit seinen rhetorischen Absichten im jeweiligen Kontext erklärt werden: Da Ammonios das eine Sein des Gottes aus einem Kontrast mit dem durch Vielheit gekennzeichneten Nichtsein des Menschen herausarbeiten soll, gestattet der Autor Plutarch es ihm, die Vorstellung einer personalen Einheit des Menschen mit allen zur Verfügung stehenden Argumenten zu destruieren, während der Sprecher Plutarch in De sera numinis vindicta einen persistenten Kern von Personen und Personalverbänden voraussetzen muss, ohne den er eine zeitlich verzögerte Strafe der Götter nicht als gerecht erweisen kann. Die Annahme einer vollkommenen Identifikation des Autors mit den philosophischen Ausführungen seiner vermeintlichen Sprachrohre in so unterschiedlichen Schriften wie De E apud Delphos und De sera numinis vindicta führt gerade dann in ein Dilemma, wenn sie zur Erhebung konsistenter theologischer Vorstellungen des Autors vorausgesetzt wird: Das eine Sein Apollons in De E apud Delphos wird in der Argumentationsstruktur der Ammoniosrede kontrastiv vor dem Hintergrund der nichtseienden Vielheit des Menschen herausgearbeitet, während                                                             

738 De sera 15, 559A τὸ δὲ πολλὰς πόλεις διαιροῦντα τῷ χρόνῳ ποιεῖν μᾶλλον δ᾿ ἀπείρους ὅμοιόν ἐστι τῷ πολλοὺς τὸν ἕνα ποιεῖν ἄνθρωπον, ὅτι νῦν πρεσβύτερός ἐστι πρότερον δὲ νεώτερος ἀνωτέρω δὲ μειράκιον ἦν. 739 De sera 15, 559C ἀλλ᾿ ἄνθρωπός τε λέγεται μέχρι τέλους εἷς ἀπὸ γενέσεως, πόλιν τε τὴν αὐτὴν ὡσαύτως διαμένουσαν ἐνέχεσθαι τοῖς ὀνείδεσι τῶν προγόνων ἀξιοῦμεν κτλ. 740 De sera 15, 559C ἢ λήσομεν εἰς τὸν Ἡρακλείτειον ἅπαντα πράγματα ποταμὸν ἐμβαλόντες, εἰς ὃν οὔ φησι δὶς ἐμβῆναι τῷ πάντα κινεῖν καὶ ἑτεροιοῦν τὴν φύσιν μεταβάλλουσαν.

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das Postulat der Gerechtigkeit später göttlicher Strafen in De sera numinis vindicta unter anderem eine persistente Einheit des Menschen zur unverzichtbaren Voraussetzung hat. Eine Festlegung des Autors auf die philosophisch-theologischen Vorstellungen des Ammonios führt in heillose Widersprüche, wenn Plutarch gleichzeitig ein ehrliches Engagement für die Vorstellung der Gerechtigkeit später göttlicher Strafen in De sera numinis vindicta unterstellt werden soll: Strafte der Apollon von De E apud Delphos einen Menschen für ein von ihm begangenes Verbrechen, so träfe er selbst bei dessen unmittelbarer Ahndung immer einen Unschuldigen, da der Täter schon nicht mehr mit dem Sträfling identisch wäre.741 Umgekehrt verlöre Ammonios’ Argument, das Sein des Gottes zeichne sich gegenüber dem Werden und Vergehen des Menschen wesentlich durch die Einheit des Gottes gegenüber der Vielheit des Menschen aus, jede Plausibilität, wenn man die Vorstellung einer zeitüberdauernden Einheit von Einzelpersonen und Kollektiven voraussetzte, auf die Plutarch in De sera numinis vindicta bestehen muss. Es scheint mithin nicht eine konsistente Theologie und Anthropologie des Autors zu sein, die Plutarch persönlich durch ausgewählte Sprachrohre seiner Dialoge verkündete, sondern die rhetorischen Aufgaben, die Plutarch seinen Sprechern in unterschiedlichen Kontexten stellt, bestimmen die Auswahl bestimmter philosophischer Positionen. Von dieser Beobachtung bleibt freilich unberührt, dass Plutarch ein „frommes“ Interesse sowohl an einer Verteidigung der göttlichen Strafgerechtigkeit in De sera numinis vindicta wie am Nachweis einer ontologischen Privilegierung des Gottes Apollon in De E apud Delphos unterstellt werden kann. 8.8.2 Gegenprobe II: Die Kritik an der stoischen Zeittheorie in De communibus notitiis Ammonios’ Argumentationsgang zum Nachweis einer unauflösbaren Verbindung von fließender Materie und fließender Zeit in den Kapiteln 18 und 19 auf der Basis der χώρα-Diskussion des Timaios enthält zusätzlich noch Elemente, die der stoischen Zeittheorie entnommen sind, wie enge Parallelen zu den Kapiteln 41–44 von Plutarchs Schrift De communibus notitiis zeigen.742 Die entsprechenden Aussagen in De E apud Delphos stehen zu De communibus notitiis im selben kontradiktorischen Verhältnis wie die oben                                                              741 Apollons späte Bestrafung der Pheneaten, in deren Stadt der Dreifußräuber Herakles seine Beute gebracht hatte, wird in De sera 12, 557C als besonders krasses Beispiel für die vermeintliche Ungerechtigkeit göttlichen Strafhandelns genannt: ἆρ᾿ οὖν οὐκ ἀτοπώτερος τούτων ὁ Ἀπόλλων, εἰ Φενεάτας ἀπόλλυσι τοὺς νῦν, ἐμφράξας τὸ βάραθρον καὶ κατακλύσας τὴν χώραν ἅπασαν αὐτῶν, ὅτι πρὸ χιλίων ἐτῶν, ὥς φασιν, ὁ Ἡρακλῆς ἀνασπάσας τὸν τρίποδα τὸν μαντικὸν εἰς Φενεὸν ἀνήνεγκε κτλ. 742 Vgl. OPSOMER (2009) 154f.; PLEŠE (2010) 98f.

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besprochene Parallele zu De sera numinis vindicta: Die von Ammonios vertretene Position wird von Plutarch anderwärts strikt abgelehnt. Plutarchs Darstellung der stoischen Zeittheorie im 41. Kapitel von De communibus notitiis, nach der jeder präsentische Aspekt der Zeit immer in einen vergangenen und zukünftigen Aspekt zerfalle, das „Jetzt“ mithin überhaupt nicht existiere, und der Mensch gerade bei dem Versuch, mit dem Denken etwas Gegenwärtiges festzuhalten, zwangsläufig nur bereits Vergangenes oder erst Zukünftiges erfasse, deckt sich bis in die Details mit Ammonios’ Darlegung des tendenziell strukturlosen Flusses der Zeit im 19. Kapitel von De E apud Delphos.743 Die Lehre der Stoiker, die „nicht den kleinsten Teil der Zeit übriglassen“, indem sie die infinitesimale Aufspaltung jeder Gegenwart in ein Vorher und ein Nachher postulieren, hat nach Plutarch paradoxe Konsequenzen: Jeder präsentische Zeitbegriff wie „heute“, „dieses Jahr“ und „zugleich“ (ἅμα) werde zwischen seinen präteritalen und futurischen Korrelaten zerrieben.744 Der nun einsetzende Spott Plutarchs, die Stoiker „rühren ja demgegenüber auch nichts Anständigeres zusammen, wenn sie das „Noch-nicht“ und das „Schon“ und das „Nichtmehr“ und das „Jetzt“ und das „Nicht-jetzt“ für identisch erklärten“,745 trifft indirekt den Kern von Ammonios’ gesamter Analyse der materiell-temporalen Existenzgrundlagen aller sterblichen Wesen, vertritt doch der Sprecher in De E apud Delphos die Ansicht, dass sich deren kontinuierliche Wandlungen im heraklitischen Fluss so schnell vollziehen, dass alle temporalen Unterscheidungen ihrer Zustände sich in ein einziges „zugleich“ (ἅμα)                                                             

De comm. not. 41, 1081C Παρὰ τὴν ἔννοιάν ἐστι χρόνον εἶναι μέλλοντα καὶ παρῳχημένον, ἐνεστῶτα δὲ μὴ εἶναι χρόνον, ἀλλὰ τὸ μὲν ἄρτι καὶ τὸ πρῴην ὑφεστάναι, τὸ δὲ νῦν ὅλως μηδὲν εἶναι. καὶ μὴν τοῦτο συμβαίνει τοῖς Στωϊκοῖς ἐλάχιστον χρόνον μὴ ἀπολείπουσι μηδὲ τὸ νῦν ἀμερὲς εἶναι βουλομένοις, ἀλλ᾿ ὅτι ἄν τις ὡς ἐνεστὼς οἴηται λαβὼν διανοεῖσθαι, τούτου τὸ μὲν μέλλον τὸ δὲ παρῳχημένον εἶναι φάσκουσιν· ὥστε μηθὲν κατὰ τὸ νῦν ὑπομένειν μηδὲ λείπεσθαι μόριον χρόνου παρόντος, ἄν, ὃς λέγεται παρεῖναι, τούτου τὰ μὲν εἰς τὰ μέλλοντα τὰ δ᾿ εἰς τὰ παρῳχημένα διανέμηται. Vgl. De E 19, 392F ᾧ δὲ μάλιστα τὴν νόησιν ἐπερείδοντες τοῦ χρόνου τὸ ἐνέστηκε καὶ τὸ πάρεστι καὶ τὸ νῦν φθεγγόμεθα, τοῦτ᾿ αὖ πάλιν ἄγαν ἐνδυόμενος ὁ λόγος ἀπόλλυσιν. ἐκθλίβεται γὰρ εἰς τὸ μέλλον καὶ τὸ παρῳχημένον ὥσπερ αὐγὴ βουλομένοις ἰδεῖν ἐξ ἀνάγκης διιστάμενον. Die Formulierung in De communibus notitiis, man könne Präsentisches nicht „packen und reflektieren“ (ὅ τι ἄν τις ὡς ἐνεστὼς οἴηται λαβὼν διανοεῖσθαι) findet bei Ammonios entsprechend auch in der Analyse des Flusscharakters des Seinsmodus sterblicher Wesen ihre Entsprechung, wenn der Redner von der Unmöglichkeit spricht, ein solches Wesen mit dem Denken „packen“ zu wollen (De E 18, 392B ἂν δὲ τὴν διάνοιαν ἐπερείσῃς λάβεσθαι βουλόμενος κτλ. ὁ λόγος ἀποσφάλλεται […] οὐδενὸς λαβέσθαι μένοντος οὐδ᾿ ὄντως ὄντος δυνάμενος). 744 De comm. not. 41, 1081D διαιροῦσι λέγειν αὐτοῖς, ὅτι καὶ το καὶ τοῦ τῆτες τὸ μὲν πέρυσι τὸ δ᾿ εἰς νέωτα, καὶ τοῦ ἅμα τὸ μὲν πρότερον τὸ δ᾿ ὕστερον. 745 De comm. not. 41, 1081E οὐθὲν γὰρ ἐπιεικέστερα τούτων κυκῶσι, ταὐτὰ ποιοῦντες τὸ μηδέπω καὶ τὸ ἤδη καὶ τὸ μηκέτι καὶ τὸ νῦν καὶ τὸ μὴ νῦν. 743

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auflösen.746 Solche Vorstellung verstoßen nach Plutarchs Urteil in De communibus notitiis grob gegen den gesunden Menschenverstand, der durchaus im Stande sei, Begriffe wie „eben noch“ und „wenig später“ von einem „jetzt“ zu differenzieren und eine lineare Abfolge entsprechender Ereignisse ohne Schwierigkeiten zu erfassen.747 Im 42. Kapitel von De communibus notitiis wendet sich Plutarch den paradoxen Konsequenzen zu, die die stoische Zeittheorie für das Verständnis von Ereignissen hat, die in der Zeit stattfinden. Die von Ammonios im 18. Kapitel von De E apud Delphos geäußerte Ansicht, jeder Versuch, mit dem Denken ein sterbliches Wesen zu erfassen, gleiche „einem kräftigen Griff nach Wasser, der dadurch, dass er es drückt und auf einen Punkt zusammendrängt, das Ergriffene verliert, da es auseinanderfließt“,748 spiegelt in De communibus notitiis die Zeitauffassung der Stoiker wieder und dient als Ausgangspunkt für Plutarchs Nachweis der fatalen Folgen, die eine infinitesimale Zerlegung des Zeitkontinuums für eine verlässliche Wahrnehmung der Dinge in der Zeit hat: „Das Denken der Zeit gleicht ihnen [sc. den Stoikern] also einem Griff nach dem Wasser, das, je stärker es zusammengedrückt wird, auseinanderfließt und auseinandergleitet; was aber die Handlungen und Bewegungen betrifft, so ergibt sich bei ihnen die völlige Verwirrung der Evidenz.“749 Der Ammonios von De E apud Delphos nimmt die letztgenannte Konsequenz durchaus in Kauf, wenn er behauptet, wie der Griff nach dem Wasser gleite das Denken bei dem Versuch, bei einem Leidenschaften und Verwandlungen ausgesetzten Wesen die allzugroße Evidenz zu erjagen, einerseits in dessen Werden, andererseits in dessen Vergehen ab, ohne festen Halt zu finden.750 Zwar ließe sich einwenden, dass in De E apud Delphos gegenüber De communibus notitiis eine Qualifizierung des Wassergleichnisses für das Scheitern von Erkenntnisversuchen vorliegt, wenn Ammonios vom „heftigen“ Griff nach dem Wasser (ἡ σφόδρα περίδραξις ὕδατος) und der nicht erlangbaren „allzugroßen“ Evidenz (τὴν ἄγαν ἐνάργειαν) spricht, Ammonios also implizit andeutet, dass es eine                                                             

De E 18, 392B ἀλλ᾿ ὀξύτητι καὶ τάχει μεταβολῆς σκίδνησι καὶ πάλιν συνάγει μᾶλλον δ᾿ οὐδὲ πάλιν οὐδ᾿ ὕστερον, ἀλλ᾿ ἅμα συνίσταται καὶ ἀπολείπει καὶ πρόσεισι καὶ ἄπεισι. 747 De comm. not. 41, 1081E οἱ δ᾿ ἄλλοι πάντες ἄνθρωποι καὶ τὸ ἄρτι καὶ τὸ μετὰ μικρὸν ὡς ἕτερα τοῦ νῦν μόρια, καὶ τὸ μὲν μετὰ τὸ νῦν τὸ δὲ πρὸ τοῦ νῦν τίθενται καὶ νοῦσι καὶ νομίζουσιν. 748 De E 18, 392B ὥσπερ ἡ σφοδρὰ περίδραξις ὕδατος τῷ πιέζειν καὶ εἰς ταὐτὸ συνάγειν διαρρέον ἀπόλλυσι τὸ περιλαμβανόμενον. 749 De comm. not. 42, 1082A ἡ μὲν οὖν τοῦ χρόνου νόησις αὐτοῖς οἷον ὕδατος περίδραξις, ὁσῳ μᾶλλον πιέζεται, διαρρέοντος καὶ διολισθάνοντος· τὰ δὲ τῶν πράξεων καὶ κινήσεων τὴν πᾶσαν ἔχει σύγχυσιν τῆς ἐναργείας. 750 De E 18, 392B οὕτω τῶν παθητῶν καὶ μεταβλητῶν ἑκάστου τὴν ἄγαν ἐνάργειαν ὁ λόγος διώκων ἀποσφάλλεται τῇ μὲν εἰς τὸ γιγνόμενον αὐτοῦ τῇ δ᾿ εἰς τὸ φθειρόμενον, οὐδενὸς λάβέσθαι μένοντος οὐδ᾿ ὄντως ὄντος δυνάμενος. 746

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gewisse verminderte Form von Evidenz auch über sterbliche Wesen geben könne, doch zeigt der weitere Fortgang der Kritik des stoischen Zeittheorems in De communibus notitiis, dass Plutarch das von Ammonios zugrundegelegte Theorem auch in qualifizierter Form für widersinnig erachtet. So wird Ammonios’ Koordinierung der Eigenschaften des Messinstrumentes Zeit mit den Eigenschaften des durch die Zeit gemessenen Dinges, aus der er eine totale Aufspaltung sterblicher Wesen in Werden und Vergehen „entsprechend der Relation auf die Zeit“751 folgert, von Plutarch in De communibus notitiis ad absurdum geführt: „Denn notwendigerweise werden Ende und Anfang der Bewegung aufgehoben, wenn vom Jetzt der eine Teil in das Vergangene, der andere aber in das Zukünftige zerlegt wird, und dasjenige, das sich in Relation auf das Jetzt bewegt, einerseits sich bewegt hat, andererseits sich bewegen wird, und von keiner Tätigkeit wird es ein Zuerst und Zuletzt geben, weil die Handlungen in Relation zur Zeit stehen.“752 Dies gelte für Handlungen des täglichen Lebens, die sich unendlich in Vergangenheit und Zukunft erstrecken müssten, genauso wie für das Leben jedes Menschen, da „jeder von uns anscheinend geboren ist, ohne je mit dem Leben begonnen zu haben und tot sein wird, ohne jemals damit aufgehört zu haben“; es ergäben sich widersinnige Aussagen wie solche, dass von einem Sokrates, der lebe, zu keiner Zeit wahrheitsgemäß gesagt werden könne, er sei tot, die Aussage aber, er werde leben, niemals falsch sein könne.753 Für Plutarch resultiert aus der stoischen Zeittheorie in letzter Konsequenz die völlige Aufhebung jeder Bedingung für Wahrnehmung und damit die Aufhebung der Wahrnehmung selbst, da ihr jedes Objekt entrissen wird: „Wenn es von Gewesenem und Seinwerdendem und Vergangenem und Zukünftigem keine Wahrnehmung gibt, so gibt es überhaupt keine Wahrnehmung. Denn weder sehen noch hören wir das Vergangene oder Zukünftige noch erlangen wir irgendeine andere Wahrnehmung von Gewesenem oder Seinwerdendem; nicht einmal wenn irgendetwas präsent ist, kann es wahrgenommen werden, wenn vom Präsenten immer das eine in der Zukunft

                                                            

751 De E 19, 392F–393A ἐκθλίβεται γὰρ [sc. ὁ λόγος] εἰς τὸ μέλλον καὶ τὸ παρῳχημένον ὥσπερ αὐγὴ βουλομένοις ἰδεῖν ἐξ ἀνάγκης διιστάμενον. εἰ δὲ ταὐτὰ τῷ μετροῦντι πέπονθεν ἡ μετρουμένη φύσις, οὐδὲν αὐτῆς μένον οὐδ᾿ ὄν ἐστιν, ἀλλὰ γιγνόμενα πάντα καὶ φθειρόμενα κατὰ τὴν πρὸς τὸν χρόνον συννέμησιν. 752 De comm. not. 42, 1082AB ἀνάγκη γάρ, εἰ τοῦ νῦν τὸ μὲν εἰς τὸ παρῳχημένον τὸ δ᾿ εἰς τὸ μέλλον διαιρεῖται, καὶ τοῦ κινουμένου κατὰ τὸ νῦν τὸ μὲν κεκινῆσθαι τὸ δὲ κινήσεσθαι, πέρας δὲ κινήσεως ἀνῃρῆσθαι καὶ ἀρχήν, μηδενὸς ἔργου πρῶτον γεγονέναι μηδ᾿ ἔσχατον ἔσεσθαι μηδέν, τῷ χρόνῳ τῶν πράξεων συνδιανεμομένων. 753 De comm. not. 42, 1082BD.

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liegt, das andere vergangen ist und das eine geworden ist, das andere aber sein werdend.“754 Wie der vorstehende Vergleich zeigt, lässt Plutarch Ammonios eine Zeittheorie verwenden, deren Absurdität er an anderer Stelle als Teil des stoischen Lehrgebäudes geißelt. Auch hier führt der Versuch, aus der Ammoniosrede verallgemeinerbare philosophischen Überzeugungen ihres Autors abzuleiten, in ein Dilemma: Entweder ist Plutarch in De communibus notitiis gegenüber den Stoikern unredlich, wenn er ihnen die paradoxen Folgen von Lehren vorhält, die er selbst als Grundbestand seiner Analyse der Gegebenheiten des materiellen Kosmos in De E apud Delphos affirmativ vertritt,755 oder seine in der Ammoniosrede präsentierte Darstellung der Instabilität der an zeitliches Werden und Vergehen gebundenen materiellen Welt zielt nicht darauf ab, als allgemeine Anschauung des Autors rezipiert zu werden, sondern dient allein kontextabhängigen rhetorischen Zielen. Im Zweifelsfall ist die Entscheidung für die zweite Option vorzuziehen, denn wie schon der Präzedenzfall der in De sera numinis vindicta offensiv gegen die Position des Ammonios in De E apud Delphos postulierten Einheit der Person über die Zeit hinweg gezeigt hatte, scheint auch die Ammonios in den Mund gelegte Zeittheorie vor allem dem argumentativen Ziel des Sprechers zuzuarbeiten, die materielle Welt als das totale Nichtsein gegen das in der Ewigkeit angesiedelte Sein des Gottes zu profilieren, ohne den Anspruch erheben zu sollen, eine Überzeugung des Autors wiederzugeben. Sowohl Ammonios’ Analyse der Instabilität der Welt des Werdens und Vergehens am Beispiel der menschlichen Existenz als auch die von ihm vertretene Zeittheorie lassen sich schlüssig aus der Perspektive des Argumentationsziels ihres Sprechers und unter Berücksichtigung des platonischen Subtextes der Beschreibung der χώρα im Timaios erklären. Dabei fungiert Ammonios nicht als Sprachrohr einer verallgemeinerbaren Ansicht                                                             

754 De comm. not. 42, 1082B–D ἔτι τοίνυν τοῦ γινομένου μέρος οὐδέν ἐστιν ὅπερ οὐκ ἤτοι γεγονός ἐστιν ἢ γενησόμενον καὶ παρεληλυθὸς ἢ μέλλον, γεγονότος δὲ καὶ γενησομένου καὶ παρῳχημένου καὶ μέλλοντος αἴσθησις οὐκ ἔστιν, οὐδενὸς ἁπλῶς αἴσθησίς ἐστιν. οὔτε γὰρ ὁρῶμεν τὸ παρῳχημένον ἢ τὸ μέλλον οὔτ᾿ ἀκούομεν οὔτ᾿ ἄλλην τινὰ λαμβάνομεν αἴσθησιν τῶν γεγονότων ἢ γενησομένων· οὐδὲν οὐδ᾿ ἂν παρῇ τι, αἰσθητόν ἐστιν, εἰ τοῦ παρόντος ἀεὶ τὸ μὲν μέλλει τὸ δὲ παρῴχηκε καὶ τὸ μὲν γεγονός ἐστι τὸ δὲ γενησόμενον. 755 OPSOMER (2009) 154f. versucht, den Widerspruch zwischen der Kritik in De communibus notitiis und der Affirmation in De E apud Delphos dadurch aufzulösen, dass Plutarch insofern an beiden Stellen konsistent sei, als er hier wie dort selbst der Ansicht sei, die Zeit sei unfassbar, die Stoiker hingegen den Fehler begingen, die der Ratio gesetzten Grenzen zu überschreiten und in etwas eindringen zu wollen, was nicht begreifbar sei. Dies aber verschlägt nicht: Ammonios fordert ja nachgerade dazu auf, den Versuch zu unternehmen, ein in der Zeit existierendes Ding erfassen zu wollen, um sich vom Nichtsein desselben zu überzeugen, eine geistige Operation, die im Gegenzug die Richtigkeit der von ihm vertretenen Zeitanalyse erweisen soll.

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III. Hauptgespräch

Plutarchs über den Zustand der Welt, das Wesen Apollons und die Beziehungen zwischen Mensch und Gott, sondern trägt im Rahmen der mehrperspektivischen Erörterung der Bedeutung des delphischen E eine ontologisch radikale Interpretation des Zeichens vor, die Plutarch unter Heranziehung von Platons Darstellung der vorkosmischen Verhältnisse zwischen Sein, Materie und Werden ausgearbeitet hat. Plutarchs nachweisbare Adaption einer Reihe von einzelnen philosophischen Vorstellungen bis hin zu ganzen Argumentationssträngen des Timaios-Passus zeigt, dass die Ammoniosrede – ganz wie die ihr vorausgehenden Lösungsversuche des E – vor allem die Flexibilität und Fähigkeit des Autors dokumentiert, sein breites philosophisches Repertoire sowie seine speziellen Interessen an philosophischen Einzelproblemen für die Erarbeitung eines möglichst gelehrten Lösungsversuchs des delphischen E fruchtbar zu machen: Nicht ein realistisches, allgemeine Anschauungen des Autors widerspiegelndes Bild der Wirklichkeit ist das Ziel der Rede, die der Autor der persona des Ammonios in den Mund gelegt hat, sondern ein philosophisch-rhetorisches Kunstwerk, dessen Wirkungsmächtigkeit sich aus der Auswahl und Adaption eines philosophischen Modells speist, von dem der Autor offenbar glaubte, es liefere die geeignetsten Argumente für eine radikale Gegenüberstellung von Gott und Welt im Rahmen einer kontrastierenden Interpretation des delphischen E und des γνῶθι σαυτόν. 8.8.3 Die rein ontische Konzeption des Apollon in De E apud Delphos und Plutarchs philosophische Theologie Wenn freilich Ammonios’ Darstellung der fragilen menschlichen Existenz in einer instabil-chaotischen Welt, die nach dem Modell von Platons Erörterung der Interaktion zwischen ὄν, χώρα und γένεσις vor dem Eingriff des Demiurgen und dessen rationaler Ordnung des Vorkosmos zum Kosmos gestaltet ist, nicht als von ihrem Kontext und dem Argumentationsziel ihres Sprechers ablösbare philosophische Aussage des Autors über den Kosmos verstanden werden kann, so gilt dies umgekehrt auch für die philosophische Beschreibung des Wesens des Apollon als des seienden transzendenten Gegenübers jener Welt, deren Nichtsein Ammonios mit großem Aufwand nachzuweisen versucht. Der Apollon der Ammoniosrede ist auf rein ontische Qualitäten reduziert und mit solchen Attributen belegt, die in Platons Timaios dem ὄν als solchem zugeschrieben werden; Ammonios thematisiert die dynamischen Aspekte, die das ὄν als παράδειγμα des Kosmos im Timaios besitzt, allein bezüglich der Frage nach dem Verhältnis des Apollon zur Sonne und spricht nur in diesem speziellen Fall von einer echten UrbildAbbild-Relation. Die Welt, wie sie Ammonios sonst beschreibt, weist keinerlei Verwandtschaft mit demjenigen Kosmos auf, von dem Platon am Ende des Timaios (92c7–8) als einer εἰκὼν τοῦ νοητοῦ θεὸς αἰσθητός spricht

8. Die Rede des Ammonios

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und den er als μέγιστος καὶ ἄριστος κάλλιστός τε καὶ τελεώτατος preist; sie verdankt vielmehr ihren Zustand einem deutlichen Überwiegen der chaotischen Eigenschaften der Materie unter der Herrschaft eines Daimons, einer Figur, hinter der Plutarchs Interpretation der mit der Materie vorkosmisch verbundenen, ungeordnet bewegten Urseele erkennbar ist. So wenig wie der Apollon der Ammoniosrede als seiendes παράδειγμα der Welt konzipiert ist, so wenig erfüllt er die Funktion des ordnenden Demiurgen, denn Apollons Einflussnahme auf den Zustand der Welt wird in der Ammoniosrede ganz nach dem Vorbild der vorkosmischen Interaktion zwischen ὄν und χώρα beschrieben, aus der ein Weltzustand resultiert, der noch alle Eigenschaften jener Unordnung trägt, die Platon im Timaios dem demiurgischen Eingriff vorausgehen lässt. Wie der Daimon der Ammoniosrede eine noch nicht vom Demiurgen zur Weltseele geordnete Urseele darstellt, so trägt die dort beschriebene Materie noch solche vorkosmischen Züge, als ob die demiurgische Kosmopoiie niemals stattgefunden hätte. Damit sticht auch die in der Ammoniosrede formulierte platonische philosophische Theologie in zwei entscheidenden Aspekten von demjenigen platonischen Gotteskonzept ab, dessen allgemeine Tendenzen sich aus Plutarchs sonstigem Werk rekonstruieren lassen. FERRARI hat gezeigt, dass sich über Plutarchs Werk hinweg eine Auffassung vom Intelligiblen nachweisen lässt, in der unter dem Begriff ὁ θεός der paradigmatische Aspekt der platonischen Ideen und der dynamische Aspekt des platonischen Demiurgen insofern konvergieren, als beide selten trennscharf geschieden sind und häufig gegeneinander austauschbar zu sein scheinen.756 Aus Texten wie De Iside et Osiride, De defectu oraculorum, De animae procreatione in Timaeo oder De sera numinis vindicta lässt sich eine Neigung Plutarchs ableiten, den paradigmatischen Aspekt des Intelligiblen in die Gestalt des Demiurgen                                                              756 FERRARI (1995) 232f. „[…] in testi in cui emergono posizioni direttamente attribuibili a Plutarco, la dimensione ontologica, rappresentata dalle idee (intese come essere, sostanza intellegibile, paradigma, oppure da singole idee come il bello e il bene), e quella teologica, sostanziata nel dio demiurgico e nell’intelletto, non sempre sono chiaramente separabili, anzi spesso Plutarco riferisce al dio una serie di attributi più adatti, da un punto di vista platonico, alle idee e in taluni casi si assiste addirittura ad una „con-fusione“ tra causa efficiente e causa paradigmatica.“ Vgl. OPSOMER (2007) 289f., der allerdings stärker eine Unterscheidung zwischen den Ideen und dem Demiurgen hervorhebt: „In de animae procreatione, de Iside, the quaestiones Platonicae and elsewhere Plutarch consistently identifies this supreme god with the demiurge of the Timaeus. The demiurge is an intellect and at the same time intelligible. The Platonic Forms are situated on the same ontological level, but in the extant writings Plutarch does not specify the relation between the demiurge and the paradigm. […] The demiurge gives a share of himself (his indivisible, intelligible being) to the soul, which when left to itself is a principle of random motion. God, in other words, imparts his own rationality to the pre-existing disorderly soul. This soul thus becomes a well-ordered world soul and starts organising matter.“

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III. Hauptgespräch

zu integrieren.757 Der Gott der philosophischen Theologie Plutarchs ist mithin nach dem Vorbild des Demiurgen des Timaios gezeichnet: „Der Gott Plutarchs [ist] im Wesentlichen der Gott des platonischen Timaios, also der Demiurg […]. Es handelt sich somit um einen Gott (θεός), der Vater (πατήρ) und Schöpfer (ποιητής) des Kosmos oder besser aller Dinge ist. Ihm ist die Schöpfung der Seele und des Weltkörpers zu verdanken.“758 Wie fügt sich die Ammoniosrede in dieses Bild? In Plutarchs Schriftencorpus findet sich „kein systematisches Werk zur Darstellung der Grundlagen seiner Theologie.“759 Kann, wie FERRARI vermutet hat, die Ammoniosrede diese vermeintliche Lücke ausfüllen?760 Es ist nicht zu bestreiten, dass in der letzten Rede von De E apud Delphos die personale Gestalt des Apollon die ontologischen Merkmale der Ideen trägt und somit auch dort jene aus Plutarchs sonstigem Werk rekonstruierbare Konvergenz des platonischen Gottes mit der Ideenwelt erkennbar ist.761 Ersetzt aber Ammonios wirklich „eine universale Ontologie durch eine persönliche Theologie“ und enthält die Rede, die ihm in De E apud Delphos in den Mund gelegt wird, tatsächlich „eine platonisierende Metaphysik, die dazu tendiert, den persönlichen Gott (ὁ θεός, ὁ δημιουργός), das authentische Sein (τὸ ὄντως ὄν, τὸ νοητόν, τὸ παράδειγμα, ἡ ἰδέα) und das Prinzip der Einheit (τὸ ἕν) in einer einzigen Wesenheit zusammenzufassen?“762 Die Schwierigkeiten eines solchen Verständnisses der Ammoniosrede, das diese tatsächlich als eine Art Grundlagentext für Plutarchs platonische Theologie attraktiv machen könnte, liegen nicht in der Übertragung ontologischer Prädikate auf den Gott Apollon, sondern darin, in wieweit der als rein seiend beschriebene Apollon der Ammoniosrede tatsächlich diejenigen funktionalen Züge aufweist, die Platon im Timaios und Plutarch als sorgfältiger Leser dieses Werkes                                                              757 FERRARI (1995) 238 „… potremmo dire che il piano intellegibile, composto dall’intelletto divino e dal paradigma eidetico, sembra costituire un soggetto unitario, in cui il momento teologico-demiurgico prevale su quello ontologico-paradigmatico, nel senso che lo assorbe in sé.“ 758 FERRARI (2005) 16. 759 FERRARI (2005) 14. 760 FERRARI (2005) 15 „Eine Ausnahme bildet vielleicht die berühmte Ammonios-Rede, mit der der Dialog De E apud Delphos schließt. Hier gibt Plutarch durch den Mund seines Lehrers Ammonios eine Art Vorlesung über dogmatische Metaphysik wieder, die wir mit modernen Worten eine kurze Abhandlung der Onto-Theologie nennen könnten.“ 761 FERRARI (2005) 15 „Mit einem Eingriff, den man als communicatio idiomatum bezeichnen könnte, überträgt Ammonios die ontologischen Merkmale der Welt der Ideen auf die persönliche Gottheit: die ontologische Fülle, die Unveränderlichkeit, die außerzeitliche Ewigkeit kommen nicht mehr in erster Linie den Ideen, sondern Gott zu. Dieser ist dann sowohl mit dem Prinzip der Einheit als auch mit dem Gott Apoll identisch, also mit einer der bedeutendsten Gottheiten des traditionellen Pantheons der griechischen Religion.“ 762 FERRARI (2005) 15.

8. Die Rede des Ammonios

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einerseits dem Gott, andererseits der Ideenwelt zuschreibt. Ist, so die Frage, der Apollon der Ammoniosrede repräsentativ für den „Gott Plutarchs“, der „im Wesentlichen der Gott des platonischen Timaios, also der Demiurg ist“?763 Diese Frage ist, sofern die vorstehende Untersuchung der hauptsächlichen Inspirationsquelle der Ammoniosrede und ihrer Adaption im Interesse des Beweiszieles ihres Sprechers einen Anspruch auf Plausibilität erheben kann, klar zu verneinen. Zwar trägt der Gott Apollon in Ammonios’ Ausführungen Züge der platonischen Ideen, doch sind diese auf ihren rein ontischen Aspekt reduziert, ohne dass Apollon zugleich als παράδειγμα des Kosmos aufgefasst wird; zwar werden jene ontischen Züge der Ideen auf den Gott Apollon übertragen, doch erscheint dieser wiederum keineswegs als der platonische δημιουργός. Die „drei kausale[n] Funktionen“, die Plutarch nach FERRARIs Beobachtungen von Texten wie De Iside et Osiride, De defectu oraculorum, De sera numinis vindicta, De animae procreatione in Timaeo und den Quaestiones Convivales in der Gestalt „Gottes“ zusammenfasst, indem er als Demiurg Wirkursache, als das Gute Zweckursache und als die Welt der Ideen paradigmatische Ursache des Kosmos ist,764 lassen sich dem Apollon der Ammoniosrede nicht in dieser Form zuweisen: ein möglicher demiurgischer Aspekt Apollons erscheint zu einem „irgendwie“ in den Kosmos eingegangenen „Göttlichen“ depotenziert, die Beschreibung, die Ammonios dem Kosmos widmet, soll keineswegs den Eindruck erwecken, als sei er das Ergebnis guter göttlicher Absichten, und schließlich lässt Ammonios’ Kosmos nirgends erkennen, dass er in seiner Gesamtheit (eine Ausnahme ist die Sonne) das einigermaßen gelungene Abbild eines optimalen göttlichen Urbildes darstellt. Mithin hat Plutarch in der Ammoniosrede Apollon als einen Gott gezeichnet, auf den die Eigenschaften und Funktionen des intelligiblen Bereichs, wie er im Timaios geschildert wird, nur sehr selektiv übertragen sind. Dass diesem Gesamteindruck der Rede eine klare Autorintention zugrunde liegt, hat die Analyse der platonischen Grundlagen der Ausführungen des Ammonios sowie deren sorgfältige Adaption über den gesamten Redeverlauf hin gezeigt: Nicht die Interaktion zwischen dem paradigmatischen ὄν, der Materie und dem Demiurgen, aus der nach Platons Timaios der geordnete Kosmos entsteht, liegt der Ammoniosrede zugrunde, sondern Platons Exkurs über die vorkosmischen Zustände in Timaios 47e3–53b5, in der                                                             

Vgl. FERRARI (2005) 16, vgl. ibid., 13 „Plutarchs Theologie – oder genauer gesagt: seine Gottesauffassung – will nichts anderes sein als die Wiederaufnahme der platonischen Auffassung, insbesondere der im Timaios enthaltenen Lehre. Es ist nun gleich klarzustellen, dass der Gott, von dem Plutarch spricht, im Wesentlichen dem Demiurgen des platonischen Timaios entspricht.“ 764 Vgl. FERRARI (2005) 16f. 763

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III. Hauptgespräch

aus einer noch ungeregelten Interaktion zwischen dem ὄν und der χώρα eine vorkosmische γένεσις entsteht, die die denkbar geringsten Ansätze zu einer Struktur innerhalb einer chaotischen Qualifizierung der Materie trägt; es sind dies Zustände, wie sie sich nach Platons Fazit zwangsläufig in allen Zusammenhängen einstellen, ὅταν ἀπῇ τινος θεός (Tim. 53b3–4). Jener θεός Platons ist der Demiurg, der erst durch seine Ordnung des vorkosmischen Chaos den geordneten Kosmos aus seinen präexistenten Komponenten zusammenfügt. Nach Plutarchs Konzeption der Ammoniosrede ist eine Gleichsetzung des Apollon mit dem platonischen Demiurgen ganz ausgeschlossen, vielmehr ist Apollon nach dem reinen, mit der Materie in keinem geregelten Verhältnis stehenden vorkosmischen ὄν des Timaios gezeichnet und steht einem Kosmos gegenüber auf den entsprechend die Eigenschaften der vorkosmisch-ungeordnet bewegten χώρα übertragen sind. DILLON hat betont, dass am Ende der Ammoniosrede Apollon jede direkte Beziehung zur materiellen Welt des Werdens und Vergehens abgesprochen, dafür jedoch jener „andere Gott, besser, ein Daimon“ als die den Kosmos beherrschende Kraft bestimmt wird,765 und das Verhältnis zwischen Apollon und dem Daimon als die Unterscheidung zwischen einem ersten und zweiten Gott interpretiert; die Ammoniosrede werde damit zum ersten Zeugnis für die im späteren Platonismus populäre Vorstellung eines sublunaren Demiurgen.766 DILLON vermutet, dass die Einführung jenes demiurgischen Daimons der Ammoniosrede in eine allgemeine Tendenz des Platonismus zu einer immer stärkeren Transzendentalisierung des obersten Prinzips eingeordnet werden könne, die zwangsläufig eine sekundäre Gottheit erzeugt habe, die aktiv in den Prozess der Schöpfung und Organisation, zumal des untersten Teils des Kosmos, eingebunden sei.767 In De E apud                                                              765 DILLON (2002) 225 „Ammonius goes on immediately (393BC) to extol the essential unity and simplicity of the supreme God, whom he identifies with Apollo rather than Zeus, but then proceeds to exempt him from any direct involvement with the multifariousness and changeability of the physical world. Our world of change is presided over by another, inferior divinity, whom he identifies with Pluto or Hades (393F–394A).“ 766 DILLON (2002) 226 „A strong opposition is thus set up, but it is not, after all, a contrast between two radically opposed forces. That we get elsewhere in Plutarch – and I shall get to that – but not here. What we have here is a contrast between a primary and a secondary god, and it is a most interesting one, as it seems to signal the first appearance of an entity which enjoys quite a flourishing existence in later periods of Platonism, the sublunary demiurge.“ 767 DILLON (2002) 228 „Such a figure seems to me to be almost necessarily called into being in the Platonist tradition by a progressive transcendentalisation of the supreme principle, from at least the time of Eudorus of Alexandria on. As the first god is seen as ever more unitary and impassive, so the need is progressively created for another deity who is prepared to get his hands dirty, so to speak, and take on a more active role in the creation and administration of the universe, particularly the lowest part of it.“ Als weitere Quellen für eine derartige Entwicklung im Platonismus nennt DILLON neben Eudoros und Philon

8. Die Rede des Ammonios

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Delphos werde jener Kontrast bereits in der Gegenüberstellung von Apollon und Dionysos in der Rede ‚Plutarchs‘ angedeutet,768 in De Iside et Osiride anhand der zoroastrischen Vorstellung der Opposition von Horomazes und Areimanios (letzterer wird ebenfalls als δαίμων bezeichnet), in De animae procreatione in Timaeo im Gegenüber von νοῦς und ungeordneter Urseele dargestellt.769 Der Daimon der Ammoniosrede ist nach DILLON mit dem Dionysos der Rede ‚Plutarchs‘ und Figuren wie Typhon und Areimanios (De Iside et Osiride) gleichzusetzen und diene Plutarch zum Ausdruck seiner Überzeugung der „existence in the universe of something rather more actively disruptive than purely passive matter, and this entity is what he sees as presented by Plato in such guises as the precosmic disorderly soul of the Timaeus […].“770 Auch die hier vorgelegte Interpretation ist wie DILLON zu dem Ergebnis gekommen, dass mit dem Daimon im 21. Kapitel von De E apud Delphos eine Personifizierung der ungeordneten Urseele vorliegt, die einen dominierenden Einfluss auf den Kosmos ausübt. Lässt sich damit die Ammoniosrede, wie DILLON darzulegen versucht, doch in eine theologische Systematik Plutarchs einordnen, in der die demiurgische göttliche Funktion gegenüber dem Kosmos als Eigenschaft eines niedrigeren Gottes erscheint? Ein entscheidender Aspekt der Ammoniosrede spricht gegen diese Möglichkeit: Während Plutarchs Kosmologie und Theologie in den von DILLON neben De E apud Delphos herangezogenen Schriften die Eigenschaften der einzelnen göttlichen Entitäten und ihrer Wirkungen immer vom Endergebnis ihrer Interaktion in der Kosmopoiie her, dem in Platons Timaios demiurgisch geordneten Kosmos, bestimmt, liegt der Kosmologie und Theologie der Ammoniosrede, wie zu zeigen versucht wurde, Platons Beschreibung der vordemiurgischen Phase der Interaktion zwischen den einzelnen Faktoren des Kosmos zugrunde. DILLON weist zurecht darauf hin, dass in Texten wie De Iside et Osiride ungeachtet einer Anzahl von „‘strongly dualist’ remarks about antithetical forces in the universe“771 die Machtverhältnisse zwischen den entgegenge                                                            

vor allem Plutarchs Werk De Iside et Osiride, in dem er ibid., 229–233 die selben Tendenzen nachzuweisen sucht. 768 DILLON (2002) 228f. (Zitat 229) „I would suggest, therefore, that the opposition set up here between Apollo and Dionysus serves as a sort of intimation of the later contrast between Apollo and Hades/Pluto, and that it is the latter contrast that commands Plutarch’s assent. Plutarch’s God, after all, is a totally transcendent, immaterial, immutable entity, who cannot be directely involved in the transformations of the elements, so that the Dionysiac force at work in the world must be other than the supreme deity.“ 769 Vgl. DILLON (2002) 229–231. 770 DILLON (2002) 233. 771 DILLON (2002) 233.

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III. Hauptgespräch

setzten Kräften im Kosmos zugunsten der guten und ordnenden Kraft ungleich verteilt sind: Areimanios ist nur ein δαίμων, Horomazes hingegen ein θεός;772 die ungeordnete Urseele wird durch den rationalen Einfluss des Demiurgen diszipliniert und steht unter dessen Herrschaft;773 Typhon, ein von Isis, der Weltseele, unterschiedenes „böses“ Seelenprinzip, ist insofern göttlicher Ordnung gegenüber empfänglich, als Isis seine chaotische Macht eindämmt – als Voraussetzung für eine Strukturierung der Materie durch göttliche Rationalität.774 Plutarchs Gott, so DILLON, dominiert in demiurgischer Manier so weit wie möglich ein ihm untergeordnetes zweites Prinzip, das trotz des Einflusses des Gottes zwar weiterhin im materiellen Bereich des Kosmos Unordnung erzeugt, jedoch nur im Rahmen eines „distinctly qualified type [of ‘dualism’].“775 Die Ammoniosrede kennt ebenfalls einen solchen „merklich qualifizierten Dualismus“, allerdings mit deutlich anderer Machtverteilung in seiner Auswirkung auf den Kosmos: Die „im Werden und Vergehen befindliche Natur“ untersteht ganz jenem Daimon, der nur insofern von einem „irgendwie in den Kosmos gekommenen Göttlichen“ in seiner Destruktivität gehemmt wird, als dieses ihn nötigt, überhaupt etwas wie „Werden“ zuzulassen ohne dass dieses „Werden“ eine nennenswerte Stabilität aufwiese. Da der Daimon des Ammonios nach dem Muster der vorkosmischen, noch nicht demiurgisch disziplinierten Urseele entworfen ist und mitsamt der Materie in einer Interaktion mit dem Göttlichen steht, die nach Platons Darstellung                                                             

772 DILLON (2002) 230 zu De Iside 46, 369D „Furthermore, in his discussion of the Persian system, he reports that, although the basic system involves the postulation of two rival deities (θεοὶ … δύο καθάπερ ἀντίτεχνοι), Zoroaster himself prefers to term the positive principle a god, but the negative one a daemon (369D). Now, irrespective of what reality in Zoroastrianism Plutarch may be reflecting here, it is significant, I think, that he should make mention of this implicit downgrading of Areimanius, as it fits in well with what appears to be his position elsewhere.“ 773 DILLON (2002) 231 „The picture, it seems to me, begins to come together here. If Areimanius is to be equated merely with the disorderly soul of the Timaeus, he cannot be regarded as by any means the equal of the supreme principle. The disorderly soul, in Plutarch’s system, is admittedly much more than a passive material principle: it is actively disruptive, and has to be constantly reduced to order by demiurgic rationality, but it is also very definitely subordinate to the supreme god, and even to his Logos, which is how Plutarch saw the circle of the Same in the soul.“ 774 DILLON (2002) 232f. „He [sc. Seth-Typhon, Anm. d. Verf.] is obviously an ‘evil’ principle distinct from Isis, who is portrayed, in accordance with Plutarch’s general view, as a principle essentially irrational, but receptive of ordering from the Logos. Typhon is that element underlying the disorderly world-soul that is unregenerately disorderly […]. It cannot affect the impassivity of the supreme god, nor even of his Logos in its transcendent aspect (the ‘soul’ of Osiris), but it can and does ‘tear apart’ his ‘body’ by causing fragmentation of the individual logoi when they mingle with matter. If Isis, the world-soul, did not exert an ordering influence, there would be chaotic disorder […].“ 775 DILLON (2002) 234.

8. Die Rede des Ammonios

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der Verhältnisse vor der demiurgischen Ordnung des Kosmos entworfen ist, verwundert diese von Plutarchs sonstigen Vorstellungen verschiedene Verteilung der Machtverhältnisse in der Ammoniosrede nicht. Überträgt man die Rollen des plutarchischen „teatro metafisico“776 von De Iside et Osiride auf die letzte Rede von De E apud Delphos, so vereint die Figur des Daimons sowohl die Rolle der Isis als auch die des Typhon auf sich; er ist – da Apollon in diesem Stück nicht als Demiurg auftritt – die mit der Materie (Isis) verbundene ungeordnete typhonische Urseele (οὐσία μεριστή), in die noch nicht die ἀμέριστος οὐσία im Vorgang der Seelenschöpfung eingegangen ist und die Oberhand gewonnen hat. In De Iside et Osiride hat Plutarch Isis als die mit der Materie verbundene geordnete Weltseele von Typhon als deren psychisch-chaotischer Komponente getrennt, in De E apud Delphos sind sie noch verbunden, da sie noch nicht durch die demiurgische Kosmopoiie in dem Sinne getrennt worden sind, dass Typhon nur noch eine integrierte Komponente der Weltseele Isis darstellt. Ammonios als das Sprachrohr Plutarchs? Ein Sprachrohr im Dialog De E apud Delphos ist er ohne Zweifel, doch führt die Festlegung des Autors auf den Gehalt der letzten Rede in die gleichen Schwierigkeiten, deren Nachweis die Forschung bei den anderen in dieser Schrift gehaltenen Reden so intensiv zu führen bemüht war: Vergleicht man die Ammoniosrede als vermeintliches Gefäß plutarchischer Lehren mit anderen Texten des Autors, die sich ebenfalls mit den dort verwendeten Philosophemen befassen, so sind die Widersprüche im Grunde sogar größer als in den übrigen Reden von De E apud Delphos. Ammonios’ radikale Dichotomie zwischen dem seienden Gott und dem nichtseienden Menschen ist von Plutarch gewiss auch mit dem Hintergedanken konzipiert, den er in Adversus Colotem zur Verteidigung des Parmenides angeführt hat: ἦν οὖν ὁ περὶ τοῦ ὄντος ὡς εἴη ἓν λόγος οὐκ ἀναίρεσις τῶν πολλῶν καὶ αἰσθητῶν, ἀλλὰ δήλωσις αὐτῶν τῆς πρὸς τὸ νοητὸν διαφορᾶς.777 Allerdings opfert der Autor seinem nicht unsympathischen Ehrgeiz, den letzten Sprecher von De E apud Delphos jene διαφορά möglichst nachdrücklich darzustellen zu lassen, so manche gewichtige Überzeugung, die er in seinen sonstigen Texten vertritt. Es ist immerhin denkbar, dass Plutarch mit der Drastik der Ammoniosrede – gemäß seiner Interpretation der Lehre des Parmenides in Adversus Colotem – das didaktische Ziel verfolgt hat, eben jene platonische Differenz zwischen ὄν und γένεσις besonders nachdrücklich einzuschärfen, und sich aus diesem Grunde so intensiv des Timaios-Abschnittes über die vorkosmischen Zustände bedient hat. Doch selbst in diesem Falle verstieße er gegen eine Überzeugung, für die er in der Geschichte des Platonismus besonders berühmt geworden ist: Anders als seine Vorgänger besteht Plutarch auf der                                                              776 777

Vgl. FERRARI (1995) 88. Adv. Col. 13, 1114EF.

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III. Hauptgespräch

wörtlichen Interpretation von Platons Timaios, nach der die Schöpfung der Weltseele und des Kosmos aus ihren vorkosmischen Komponenten tatsächlich zu einem bestimmten „Zeitpunkt“ stattgefunden habe und Platon entsprechend nicht aus didaktischen Gründen, θεωρίας ἕνεκα, von einem Werdeprozess des Kosmos gesprochen habe, um die Komponenten und die Funktion eines ewigen Mechanismus durch eine fiktionale Narration seiner sukzessiven Konstruktion leichter erfassbar zu machen.778 Die Didaktik des den Timaios adaptierenden Ammonios ginge über die von Plutarch an den anderen Platonikern gerügte Vorstellung über die Absichten des Verfassers des Timaios noch weit hinaus: Ammonios benutzt den Timaios zu einer Darstellung der Welt und ihres Verhältnisses zum göttlichen Sein, als ob Platon in Timaios 47e3–53b3 den Kosmos so beschrieben hätte, wie er ist – und nicht, wie er war, bevor der Demiurg ihn nach dem παράδειγμα geordnet und damit erst geschaffen hat. Die Kühnheit der Anlage und Argumentation der Ammoniosrede steht außer Frage: Der Redner spricht über den Menschen als Teil der Welt, als ob sich die Welt noch in ihrem vorkosmischen Zustand befände, und er charakterisiert Apollon als vom Kosmos weitestgehend abgetrenntes Sein, als ob die von Platon so ausführlich beschriebene Ordnung des Kosmos durch den sich am intelligiblen παράδειγμα orientierenden Demiurgen niemals stattgefunden hätte; all dies ist in Plutarchs Werk völlig singulär – und doch lässt sich das Vorgehen des Autors bei der Ausarbeitung der Ammoniosrede schlüssig erklären: Wie alle Redner in De E apud Delphos soll Ammonios nicht den Gott und die Welt erklären, wie sie sind, sondern er stellt Gott und Welt so dar, dass sein eigener Lösungsvorschlag für das delphische E besonders eindrucksvoll wirkt. Für die kombinierte Auslegung des E als εἶ und des γνῶθι σαυτόν durch den letzten Redner von De E apud Delphos hat sich Plutarch schlichtweg desjenigen platonischen Modells bedient, in dem das Sein und die im Werden und Vergehen befindliche Materie in der geringsten Beziehung stehen, denn dies ermöglicht es ihm, einen möglichst eindrucksvollen Kontrast zwischen dem Gott und dem Menschen zu erarbeiten, aus dem sich füglich für Ammonios Ausgangsthese argumentieren lässt: ἡμῖν μὲν γὰρ ὄντως τοῦ εἶναι μέτεστιν οὐδέν.

                                                            

778 De an. procr. 3, 1013AB ὁμαλῶς δὲ πάντες οὗτοι χρόνῳ μὲν οἴονται τὴν ψυχὴν μὴ γεγονέναι μηδ᾿ εἶναι γενητήν, πλείονας δὲ δυνάμεις ἔχειν, εἰς ἃς ἀναλύοντα θεωρίας ἕνεκα τὴν οὐσίαν αὐτῆς λόγῳ τὸν Πλάτωνα γιγνομένην ὑποτίθεσθαι καὶ συγκεραννυμένην· τὰ δ᾿ αὐτὰ καὶ περὶ τοῦ κόσμου διανοούμενον ἐπίστασθαι μὲν ἀΐδιον ὄντα καὶ ἀγένητον, τὸ δ᾿ ᾧ τρόπῳ συντέτακται καὶ διοικεῖται καταμαθεῖν οὐ ῥᾴδιον ὁρῶντα τοῖς μήτε γένεσιν αὐτοῦ μήτε τῶν γενητικῶν σύνοδον ἐξ ἀρχῆς προϋποθεμένοις ταύτην τὴν ὁδὸν τραπέσθαι. […] ἐμοὶ δὲ δοκοῦσι τῆς Πλάτωνος ἀμφότεροι [sc. Xenokrates und Krantor] διαμαρτάνειν δόξης κτλ.

IV. Schluss Die vorgelegte Analyse von Plutarchs Schrift De E apud Delphos bildet den Versuch, den Text in seiner Gesamtgestalt als Produkt der literarischphilosophischen Darstellungsabsichten seines Autors zu würdigen. Den Ausschlag für den hier eingeschlagenen Interpretationsweg, möglichst durchgängig das „plutarchische“ in allen Teilen des Textes herauszuarbeiten, sei es in der einleitenden Widmung, sei es in der Vorstellung des Themas, sei es im intradialogischen Proömium des Dialoges, sei es schließlich in jedem einzelnen Lösungsvorschlag für die Bedeutung des delphischen E, den Plutarch den einzelnen Dialogpersonae in den Mund legt, gab dabei die vor dem Hintergrund der Forschungsgeschichte sich nachgerade aufdrängende Gattungsfrage: De E apud Delphos ist nicht nur kein philosophischer Traktat, der seinen Adressaten die persönliche Meinung des Autors über das behandelte Thema vorführt, sondern ein philosophischer Dialog, der gerade in seinen Proömien das Dialogische, und dies bedeutet: die Mehrstimmigkeit und Multiperspektivität einer philosophischen Betätigung, für die eine Beschäftigung mit dem delphischen E exemplarisch zu stehen scheint, ausdrücklich thematisiert. Anregung zu philosophisch literarischer Textproduktion, zum Eintreten in den Dialog philosophischer Literaten, sollen die ‚Pythischen Dialoge‘ nach dem Willen des Autors für ihre Adressaten, Sarapion und seinen Freundeskreis in Athen ausdrücklich sein; Apollon, in dessen heiligem Bezirk sich das rätselhafte E findet, erscheint als der Philosoph par excellence, dessen Philosophentum sich gerade darin zeigt, dass die ἀπορίαι, die er seinen Besuchern in Delphi präsentiert, unendliche Reflexionsprozesse anregen; das E, dessen Weihung Plutarch auf sagenhafte apollinische ‚Urphilosophen‘ zurückführt, soll gerade diesen Zug im Wesen des Gottes exemplifizieren, denn „immer wieder“, so Plutarch, wurde er selbst bei verschiedenen Gelegenheiten mit dem Rätsel konfrontiert, ohne mit ihm zu Rande zu kommen; und selbst das angeblich spontan erinnerte, freilich absichtsvoll als Erinnerung inszenierte Gespräch über das delphische E, das Plutarch schließlich wiederzugeben verspricht, soll der besonderen, zum Nachdenken inspirierenden Kraft des E und damit des Gottes selbst, in dessen Wirkungsstätte es sich findet, nichts nehmen, wohl aber demonstrieren, auf welche geistigen Wege ein Mann von der Bildung und dem literarischen Können eines Plutarch Dialogteilnehmer zu schicken vermag,

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IV. Schluss

die sich der Aufforderung des Rätselgottes zum Philosophieren nicht verweigern. Die Frage an sich, ob ein Gesprächsteilnehmer unter den philosophischen Ausgangsvoraussetzungen, die Plutarch wortreich mit dem Thema des delphischen E in der Eingangssektion von De E apud Delphos skizziert, regelrecht „falsch“ philosophieren könne und die weitverbreitete These, der Autor beantworte diese sogar, wenn auch nur implizit, im Verlauf des Dialoges positiv, erscheint fragwürdig, lastete Plutarch doch in einem solchen Falle dem von ihm als großem Protreptiker beschriebenen Gott Apollon den Vorwurf an, seine philosophischen Adepten in einer Weise zu inspirieren, die diese überwiegend auf Abwege führte. Fragwürdig freilich auch im Hinblick auf den intendierten Leser von De E apud Delphos: Warum, so muss man fragen, sollten Sarapion und seine Freunde die ‚Pythischen Dialoge‘, zuallererst De E apud Delphos, als ein δῶρον ἀπὸ λόγου καὶ σοφίας rezipieren, wenn bis auf die „richtige“ Lösung der in Rede stehenden Fragen äußerst umfangreiche Teile des Textes vor allem intellektuelle Fehlschläge demonstrierten? Fragwürdig nicht zuletzt angesichts des, wie diese Analyse zu zeigen versucht hat, unausgesetzten intellektuellen und künstlerischen Engagements Plutarchs, das jeder einzelne Lösungsversuch des delphischen E in seiner beispielhaften Aktualisierung des Repertoires und der rhetorisch-literarischen Fähigkeiten seines Autors in beeindruckender Weise veranschaulicht. Gewiss hat diese Studie das Kriterium für jenes im Gesamtverlauf des Textes „beeindruckende“ Moment anders bestimmt als dies die Mehrheit der Forschung zu De E apud Delphos zu tun gewohnt ist, auch und gerade um den Preis eines Verzichtes auf philosophisch-dogmatische oder theologischsystematische Interpretationsgewinne. Doch wenn sich in der Vielfalt des plutarchischen Schrifttums überhaupt sichere Erkenntnisse über die Ansichten und Darstellungsziele Plutarchs gewinnen lassen, so am ehesten über eine Untersuchung der kontextspezifischen Aktivierungen seines umfassenden philosophischen Repertoires, die einen womöglich lohnenden Blick auf seinen Schreibtisch in Chaironeia erlaubt.

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Index criticus De E 1, 384F

4856

De E 4, 386B

11490

De E 1, 385A

5162, 6182

De E 11, 389F

208338

De E 20, 393B

254452

83

De E 1, 385B

61

De E 2, 385B

844

De def. or. 51, 438D

306684

De E 2, 385D

9848

Adv. Col. 15, 1115E

276548

Index locorum (Stellen aus De E apud Delphos werden nur angegeben, wenn sie außerhalb der Systematik der Untersuchung erwähnt werden.) Comparatio Aristidis et Catonis

P LUTARCH

3, 5

Theseus 5, 2 26, 5

130 61 74 101 52

Themistocles 10, 1 22, 1

52 52 140 50 52

Marcellus 3, 6 14, 9–11

61 157 111

52

6, 4 18, 6

140 52

Sertorius 22, 3

52

46, 3

140

52, 2

52

Phocion 7, 6 8, 1 10, 1

130 130 324

7, 2

130

Cicero

Cato Maior 5, 8 19, 7 20, 5 22, 1

19, 6

Cato Minor

Aristides 27, 4

140

Alexander

Pericles 1, 2 32, 3

9, 2

Pompeius

Camillus 18, 3

111

Eumenes

Publicola 14, 7

42, 8

Crassus

Solon 4

Marius Sulla

Comparatio Thesei et Romuli 1, 7

111

52 74 52 51

7, 3

52

Antonius 53, 1

140

380

Index locorum

Brutus 50, 8

140

Quomodo adolescens poetas audire debeat 6, 23F

74

De recta ratione audiendi 11, 43C 13, 45AB

160 131

Quomodo adulator ab amico internoscatur 2, 50A

52

[Consolatio ad Apollonium] 28, 116CD

53

Septem sapientium convivium 2, 147C 3, 148D 3, 148E–149F 10, 153E 21, 164A–D

101 101 33 49f. 94

Quaestiones Romanae 2, 264A 51, 276F–277A 102, 288C 102, 288D

181, 183 51 182 183 88 85

De Iside et Osiride 3, 352C 7, 353D 9, 354F 35, 364F 36, 365B 45, 369B 46, 369D 48, 370EF 48, 370F 48, 370F–371A 53, 372E 54, 373B

51 51 258 193 52 191 360 234 334 329 334 336, 337, 341

329 188 335 335 11 10 118f. 258

De E apud Delphos 1, 384E 1, 384EF 1, 384F 1, 385A 1, 385B 1, 385C 2, 385C 2, 385B 2, 385C 2, 385D 3, 385D 3, 385F

Quaestiones Graecae 9, 292D–F 9, 292E

56, 373E 56, 374A 57, 374D 58, 374F 66, 377D 67, 377F 68, 378CD 75, 381EF

4, 386A – 5, 386D 4, 386B 5, 386B 5, 386C 6, 386D 6, 386D 6, 386E 7, 387D 7, 387E 7, 387EF 7, 387F 8, 387C 8, 387E–388E 8, 387F–388E 8, 388C 9, 388E–389C 9, 388F 9, 389A 10, 389D–F

80 152 88 84, 89, 90, 160 83, 89 146 160 14, 171 50, 110, 163 98, 107, 110 37, 105, 111 53, 105, 108, 111 97 53, 108, 136, 301 109, 244 48, 126 37, 95, 109, 140 141 103 148 53f., 70, 80, 148, 181, 188 64, 70 72, 77, 79 67 66 69 66 69 268 307 69

Index locorum

11, 389F 13, 390C 13, 390C – 14, 391A 14, 390F 15, 391A 15, 391C 15, 391C 16, 391D 16, 391DE 16, 391E 17, 391E 17, 391EF 17, 391F 17, 392A 18, 392E 19, 392E 20, 393A 21, 393C–E 21, 393DE 21, 393E 21, 393EF

18 66f. 66 69 18, 66 104 18, 104, 191 127 115 127 68 73 53, 75, 138 138, 139 169 169, 194 169 197 194 42 195, 197

De Pythiae oraculis 1, 394E 1, 394EF 1, 394F 2, 395A 2, 395B 3, 395D 3, 395E 5, 396C 5, 396F 6, 396F–397B 6, 397AB 7, 397B 7, 397D 8, 397E 8, 397E – 11, 399E 8, 398A 12, 399E 12, 400A 12, 400AB 12, 400A–D 12, 400B 12, 400CD 13, 400D 13, 400DE 13, 400E

90, 91, 96 90f. 89, 92 122 92 92 92 92 37 150 88 38 122 92, 123 149 168 92 301 38, 301 168 301 38, 301 123 123 123

14, 400F–401A 15, 401C 15, 401D 16, 401E 16, 401EF 17, 402B 18, 402E 24, 406EF 25, 407AB 26, 407C 26, 407C–E 26, 407D 26, 407DE 26, 407E 28, 408C 29, 408E 29, 408F 29, 409A–C 29, 409BC

381 124 124 124 124 124 93, 123, 150 38, 93 149 149, 152 153 102, 153 102 103 292 48 94 149 149 119

De defectu oraculorum 1, 409E 2, 410B 4, 410F–411D 5, 412D 7, 413AB 7, 413A–D 7, 413B 7, 413C 7, 413D 8, 413E 9, 414D 10, 414ΕF 10, 415A – 22, 422C 10, 415B 12, 416AB 20, 420E 21, 420EF 22, 421F–422A 22, 422B 23, 422DE 23, 422E 23, 422EF 23, 422F–423A 23, 423A 23, 423B 23, 423BC 23, 423C 24, 423C – 30, 426E

36 262 261 86 166 33 49 305 93 51 302, 329 302 211 225 183 212 212 212 212, 294 208 213 213, 220 213 220 56, 213 211 56 56, 214

382 24, 423D 29, 426B 30, 426E 31, 426E 31, 426EF 31, 426F 32, 427A – 33, 428B 32, 427A–E 33, 427E–428B 33, 428B 34, 428A–E 34, 428B 34, 428B–37, 431A 34, 428BC 34, 428C 34, 428CD 34, 428D 34, 428DE 35, 428E–429D 35, 428E – 36, 429E 35, 428E – 36, 430A 35, 429A 35, 429AB 35, 429B 35, 429BC 35, 429C 36, 429D 36, 429DE 36, 429E 36, 430A 37, 430AB 37, 430BC 37, 430CD 37, 430D 37, 430DE 37, 430E 37, 430EF 37, 430F 37, 431A 38, 431A 38, 431D 40, 432D – 42, 433E 42, 433D 42, 433DE 43, 433EF 43, 433F – 44, 434C 45, 435A

Index locorum

187 196 56 48, 58, 60 214 214 214 57 57 107 214 107f. 57 236 236 236 237 237 223 205 214 227 182 182f. 183 223, 226 188 227 205, 218, 222 205f., 207 215 215 215 216 217 57, 107, 217, 235, 329 57 58 57, 78 221 90, 93, 95 303 303 303 303 304 304

46, 434F 46, 435A 46, 435B–E 47, 435E–436A 48, 436DE 48, 436EF 49, 437AB 51, 438CD 52, 438D

306 306 304 304 304 305 121 306 307

De tranquillitate animi 1, 464F

176

De curiositate 10, 520A

131

De sera numinis vindicta 1, 548C 2, 548C 3, 549BC 5, 550DE 9, 554AB 9, 554C 12, 557C 15, 558F 15, 559A 15, 559C 16, 559CD 17, 560B 17, 560DE 19, 561C – 21, 563B 21, 562E

171 171 171 322 171 171 166, 349 347 347 348 171 166, 322 133 172 172

De genio Socratis 7, 579A–D 7, 579B 7, 579C 7, 579CD

155 155f. 156 157

Quaestiones convivales 1, 10, 1, 628A 2, 612E 3, 1 3, 1, 1 3, 1, 2 3, 1, 2, 646A 3, 1, 3, 647A 3, 2 3, 2, 1 648B

37 29 271 95 98 95f., 146 145 68, 74, 145, 261 74

383

Index locorum

3, 2, 2 649A 5, 673AB 5, 7, 1 680CD 7, 2, 2, 700E 7, 6, 3, 709A 7, 7 7, 8 7, 8, 1, 710BC 8, 2 8, 2, 1, 718EF 8, 3 8, 3, 1, 720E 8, 3, 3, 721D 8, 9 9 9, 2, 3, 738A 9, 4, 739B–D 9, 14 9, 14, 2 9, 14, 2, 743E–744A 9, 14, 2, 743EF 9, 14, 2, 744A 9, 14, 2, 744B 9, 14, 3, 744C 9, 14, 7 9, 14, 7, 746B

74, 95 49 88 118 118 90 90 91 90 157 261 96 95 90 261 146 29 68, 69 96 68 96 68 68 206 96 96

Amatorius 6, 752D 13, 757A 19, 765B 20, 765F

63 111 322 322

An seni respublica gerenda sit 17, 792E 17, 792F

120 119

Praecepta reipublicae gerendae 6, 803A

130

De Herodoti malignitate 23, 861A

100

De facie in orbe lunae 30, 944E 30, 945C

319 320

De sollertia animalium 3, 961C 5, 963B

169 173

13, 969AB 22, 975B 24, 977A

172 164 130

Bruta animalia ratione uti 1, 986B

172

De esu carnium 1, 7, 996C

193

Platonicae quaestiones 3, 1001E–1002A 3, 1002A 4, 1003A 8,1, 1006B 8, 4, 1006F–1007A 8, 4, 1007A 8, 4, 1007AB 8, 4, 1007B 8, 4, 1007C–E

224 247, 268 332 294 294 294 294 294 295

De animae procreatione in Timaeo 1, 1012B – 3, 1013D 1, 1012BC 3, 1013A – 7, 1015A 3, 1013AB 3, 1013B 3, 1013D 4, 1013EF 5, 1014A–C 6, 1014D 6, 1014E 6, 1014F 6, 1015A 6, 1015B 6, 1015C 6, 1015D 6, 1015E 7, 1015EF 9, 1016D 9, 1016EF 11, 1017D 12, 1018AB 12, 1018B 13, 1018B–D 13, 1018C 13, 1018D 14, 1018E 14, 1018EF 14, 1018F

240 330 234 362 262 240 331 331 330 330 329 329, 332 329 329 329 330, 332 326 340 340f. 182, 227 201 201 187 185 201 202 201 201

384 14, 1018F–1019B 16, 1019E 16, 1020AB 16, 1020C 17, 1020EF 17, 1020F 17, 1020F–1021B 18, 1021D 18, 1021E–1022A 19, 1022B 20, 1022D – 30, 1028A 21, 1022EF 24, 1024BC 24, 1024C 330 25, 1025AB 25, 1025A–C 25, 1025BC 28, 1027A 29, 1027A–D 29, 1027D – 11, 1017E 30, 1027D 30, 1027E 31, 1028AB 32, 1029A 33, 1029DE 33, 1029F 33, 1030B

Index locorum

201 262 202 262 202 202 202 203 203 203 182 322 339, 341 218 239 241 330 177 182 177 177, 182 204 200 204 204 204

De Stoicorum repugnantiis 8, 1034EF 20, 1043B 38, 1051E–1052B

152 51 196

De communibus notitiis adversus Stoicos 30, 1074D 31, 1074E–1075B 31, 1074E–1075D 31, 1075D 41, 1081C 41, 1081D 41, 1081E 42, 1082A 42, 1082AB 42, 1082B–D 42, 1082D 44, 1083B

137 308 196 308 350 350 350f. 351 352 352 353 281

Adversus Colotem 3, 1108D

111

13, 1113F 13, 1114BC 13, 1114C 13, 1114C–E 13, 1114D 13, 1114E 13, 1114EF 14, 1114F–1115C 15, 1115CD 15, 1115D 15, 1115E 15, 1115F–1116A 15, 1116AB 15, 1116B 20, 1118C 22, 1119F

271 271 271, 273 271 273f. 272f., 278 275, 361 275 275 275 276, 289 277 277 137 94 137

De latenter vivendo 6, 1129F

238

Fragmenta Frg. 110 Sandbach

224

ARCHILOCHOS Frg. 1W Frg. 3W Frg. 53W Frg. 57W Frg. 118W Frg. 119W 172–181W Kölner Epode

130 130 130 130 131–135 134 131 131–134

ARISTOPHANES Thesmophoriazusae 1115ff.

135

C ICERO Brutus 152f.

151

De oratore 2, 111

151

De divinatione 1, 37 2, 115

149 148

385

Index locorum

2, 115f. 2, 117

150 149

12, 126–128

CORNUTUS De natura deorum 30

P HILON De Iosepho

85

P LATON Charmides

D IODOR

164d

Bibliotheca historica

Cratylus

9, 7

100

D IOGENES LAERTIOS 101

EUDOROS Frg. 3–5 Mazzarelli

258

EUNAP Vitae Sophistarum 2, 1, 3 2, 1, 7

261 261

Praeparatio evangelica 257 9, 256

HERODOT Historiae 1, 29, 1

112

X 895e10–897b5 X 896b1 X 896b10–c2

331 331 331

Parmenides 141a5–6 141d7–e10 141e9 142b5–6 142d1–2 142d6–e6 142e6-7 60d1–2 60e6–7 60e7–61a4 66a1–3 79d1–2 85b1–4 85b4–9

264 264 265 265 265 265 265 163 164 164 268 268 164 164

Phaedrus 275d9–e5

HOMER

145

Philebus

Ilias 1, 70 1, 71f. 1, 86f. 5, 330–340 15, 187 15, 187–193 15, 360–366 24, 80

228 147

Phaedo

EUSEBIUS 11, 10, 15–16 11, 11

409a–c 411a5–b1

246

Leges

Vitae philosophorum 1, 40

282

162 162 162 29 56 219 195 130

23cd 23d9–e1 26d7–9 26d8 66a–c

229 230 238 281 231

Protagoras 343a1–5 343a8–b3

100 53

386

Index locorum

Respublica I 335e1–336a7 II 362d7–e1 II 368a5–c4 II 376c1–2 III 411e6 V 473c11–e2

100 144 145 49 49 156

Sophista 254b–256d 254d4–255e6

229 256

Theaetetus 142b6–8 142c3–8 142d4–5 142d6 143b5–c6 144a3–6 144b2–6 151e1–3 151e8–152a4 152d2–3 152d7–e1 152e1–4 155d2–5 157a7–b8 157b8–c1 164e2–6 180d7–e4 180e2–4 181a7–8 183e3–5 205a1

91 91 91 91 91 92 92 266 266 266 266 266 87 266 267 145 267 236 267 236 91

Timaeus 27d5–28a4 28a4–29b1 30a3–5 31a 31a2–4 31b 31b3 35ab 35a1–b4 35b4–36b5 36a6–b5 37c6–d1

269, 270, 280, 283 270 340 207f. 207, 346 209f. 209 240 330 182, 201 176, 202 291

37c6–38b5 37d 37d3–7 37d6 37e1–3 37e3–5 37e6–38a1 38a6–8 38b6 38b6–c3 38c3–6 42a4 42d4–5 43a5–6 45bd 47e3–48a5 47e3–50c6 47e3–52b5 47e3–53b3 47e3–53c2 48b3–5 49a3–4 49a6–b5 49b7–c4 49c7 49c7–e7 49d1 49e7 49e7–50a4 49e8–50a1 50a5–b5 50b2–d1 50b5–c6 50c4–6 50d4–51b2 51a5 51a7–b2 51b6 51e6–52b2 51e6–52d1 52a5 52b–55c 52b2–3 52b3–5 52b3–c5 52b6–7 52b6–c2 52c2–5 52c4–5

290 294, 305 291, 295 254 293 290 247 291 295 291 293 281 294 281 210 284 315 279, 346, 357 362 284 284 285 285 285 296 286 296 296 287 296 287 316 288 341 316 295 316, 341 296 316 315, 323 322 216 337 320 319f. 321 321 321, 327 324

387

Index locorum

52c5–d1 52d–53c 52d2–4 52d2–53a8 52d4–53a8 52d4–e5 52e2–3 52e3–5 52e4 52e5 52e5–6 52e5–53a7 53a4–6 53a7–b5 53a8 53b1–5 53b3–4 53b4–5 55c4–6 55c7–d6 55cd 55d5–6 55d8–e3 56a2–5 65c 66de

324f. 215 338 315, 325, 338, 341 289, 338 276, 288 338 338 276 276 339 215 339 216, 284, 340 337 326, 339 358 337 215, 218, 237 207 56, 207, 209, 212, 214, 217 214 237 237 210 210

67b 69c5–d6 92c7–8 92c8–9

210 298 354 209

S ENECA Epistulae morales ad Lucilium 58 58, 22–23

16 282

THEOKRIT Idyllia 2, 138f.

135

STOICORUM VETERUM FRAGMENTA I 543 II 14 II 130 II 166 II 181 II 187 II 207 II 211 II 214 II 215 II 216 II 240

85 151 152 138, 246 138, 245 246 159 159 159 159 159 159, 162, 165

Index nominum et rerum Adressaten (von Plutarchs Texten) 27– 36 Akademie 4f., 7, 16, 57f., 59, 65f., 69– 72, 74–80, 129, 174, 180, 210 ἁμωσγέπως 297, 299, 319, 321–326, 343 Archelaos 43–45 Archilochos 129–135 Arkesilaos 71 Bildung 27–31, 35f., 47, 79, 125, 129, 166, 363 Christentum, christlich 9f., 19f., 55, 121, 249, 251 Demiurg, demiurgisch 176, 202f., 215f., 223, 239, 260, 263, 269f., 279, 284, 288–295, 325–346, 354– 362 Dialog 15, 17, 21f., 28, 32f., 66, 84, 89, 113, 141, 143, 146, 175, 198, 243, 354, 363 Dikaiarchos 43–45 Diogenianos 89–92, 122f., 150 Dionysos 66, 69, 144, 189–198, 359 Ekpyrosislehre, cf. Weltzyklenlehre Erstlingsspende (ἀπαρχή, ἀπάρχεσθαι) 44f., 53f., 70, 80, 148 Etymologien 84–86, 147, 163, 188, 192, 248, 258, 267f., 299, 325, 328 Eudoros von Alexandria 19, 24, 258– 262, 358 Euripides 43–45, 131, 135, 221, 300 Eusebius 9, 256 Ewigkeit (αἰών), ewig 4, 169, 190, 194, 240, 248, 252, 254f., 270, 272–275, 288, 290–295, 298, 303, 306–308, 310, 323, 330, 334f., 341, 344, 353, 356, 362

Frömmigkeit, cf. Religiosität, religiös Gestirne 203, 293f., 308, 310f., 323 Herakleides Pontikos 210 Heraklit 25, 66, 185–190, 195, 257, 266–269, 276, 280–285, 293, 297, 344, 347f., 350 Hermes 337 Horus (älterer) 336–338, 341–343 Ideen, Ideenlehre 7, 157, 236f., 239, 247, 252, 254f., 268f., 275, 279, 288f., 322, 326, 334, 337, 346, 355– 357 Ironie 14, 37f., 44–46, 68f., 98, 109, 113, 122, 125–129, 135, 144, 177, 179f., 184, 186, 206, 220, 229f., 232 Isis 329, 334–338, 360f. Karneades 71 Konversationspraxis 29 Kosmoi (mehrere) 56–59, 78, 107, 175, 182, 187f., 205, 207–221, 226, 236, 294 Krantor 182, 240, 331, 362 Leser cf. Adressaten Materie 25, 168, 195f., 214–217, 227, 258, 263, 273, 276, 278f., 282–284, 288f., 292, 295f., 299, 302, 307, 314f., 324–329, 331–344, 346, 349f., 354f., 357f., 360–362 μέγιστα γένη 104, 214, 219, 229, 231, 237, 239 Mehrperspektivität, cf. Dialog Mehrstimmigkeit, cf. Dialog Methexis 16, 236–239, 263, 269, 274, 276–279, 287, 289, 322 Mittelplatonismus 6–8, 241

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Index nominum et rerum

„Monotheismus“ 9, 11, 19f., 246, 249– 251, 256 Multiperspektivität, cf. Dialog Osiris 334, 336–338 Parmenides (Philosoph und platonischer Dialog) 24f., 262–279, 361 Philon von Alexandria 9f., 249f., 253, 256, 260, 282f., 358f. Philon von Larissa 71 Priesterschaft (in Delphi) 108, 114, 118, 122, 125–129, 135f., 139–141, 186 Priesterschaft (Plutarchs) 7–9, 11, 20, 85, 97, 115–121, 126–129, 186, 250, 253 Protreptik 48, 51, 78–80, 83, 89, 148, 152, 154–158, 160, 162, 165, 167, 174f., 364 Pythagoreer, Pythagoreismus, pythagoreisch 5, 11, 18f., 24, 64, 66–68, 79, 175, 178, 182–185, 200– 203, 206f., 214, 223–225, 228, 255– 262, 268, 294 Religiosität, religiös 1, 4, 7–11, 15, 17– 20, 38, 116f., 120f., 126, 140, 155f., 248–250, 253, 261, 300, 302, 313f., 346 „Sitz im Leben“ 28, 30, 32 Skepsis, cf. Akademie

Sonne 38f., 85, 110, 123, 168, 197, 273, 294f., 297f., 300–315, 319–324, 327, 354, 357 Sonnengleichnis 294, 303, 305, 309 Sosius Senecio 28 Speusipp 210, 294 „Sprachrohr des Autors“ 4, 12, 32–35, 65, 75, 179, 313, 348f., 353, 361 Stoa, Stoiker, stoisch 4f., 9, 11, 18, 37f., 40–42, 66, 117, 136–173, 191f., 194–198, 244–246, 268, 294, 300– 302, 307–315, 323, 335, 349–354 Typhon (Seth) 336f., 359–361 Urseele 234, 240, 325, 328–344, 355, 359–361 Weltseele 176f., 182, 191, 201–203, 234, 240, 270, 283f., 293, 308, 330f., 334, 344, 346, 355, 360–362 Weltzyklenlehre (stoische) 5, 18, 41f., 69, 144, 170, 191, 193–198, 268, 300, 307–314, 323 Xenokrates 210, 240, 331, 362 Zeitebenen (in De E apud Delphos) 59f., 66, 77, 127, 174 Zeit, Zeittheorie 25, 169, 198, 248–256, 261, 264, 272f., 278, 290–296, 306f., 325, 344, 347–353, 356, 362