Plurale Autorschaft [1 ed.] 9783737012713, 9783847112716


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Plurale Autorschaft [1 ed.]
 9783737012713, 9783847112716

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Alexander Kluge-Jahrbuch

Band 7 | 2020

Herausgegeben von Richard Langston, Gunther Martens, Vincent Pauval, Christian Schulte und Rainer Stollmann

Advisory Board: Leslie Adelson, Grégory Cormann, Astrid Deuber-Mankowsky, Devin Fore, Tara Forrest, Jeremy Hamers, Karin Harrasser, Stefanie Harris, Michael Jennings, Gertrud Koch, Céline Letawe, Helmut Lethen, Susanne Marten, Christopher Pavsek, Mark Potocnik, Eric Rentschler, Winfried Siebers, Ruth Sonderegger, Ulrike Sprenger, Georg Stanitzek, Joseph Vogl

Christian Schulte / Birgit Haberpeuntner / Melanie Konrad (Hg.)

Plurale Autorschaft

Mit 99 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Alexander Kluge, Quelle: Alexander Kluge, Die Patriotin. Texte/Bilder 1–6, Frankfurt/M. 1979, S. 429. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2365-7782 ISBN 978-3-7370-1271-3

Inhalt

Christian Schulte / Birgit Haberpeuntner / Melanie Konrad Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christian Schulte Plurale Autorschaft – eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Alexander Kluge Was ein Mensch ist, nach Ingenieur Schäfer . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Alexander Kluge »Gehirnradius« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

News & Stories vom 02. 05. 2017 (Kluge / Menzel) Die enorme Robustheit der Insekten. Randolf Menzel, Zoologe und Neurobiologe: die Evolution des Gehirns bei uns und den Bienen . . . . .

19

Ein Werkstattbericht von Barbara Barnak Kooperation. Zur praktischen Arbeit mit Alexander Kluge . . . . . . . . .

31

Anna Fricke Eine Flaschenpost von Alexander Kluge: Protokoll einer Ausstellung . . .

39

André Fischer Gemeinwesen und Vorstellungskraft. Formen des Gemeinsinns bei Alexander Kluge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Rainer Stollmann Knapp daneben: Treffer!

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Nicole Kandioler »Organisiertes Glück« – Miriam Hansen berichtet Alexander Kluge . . . .

81

Daniel Gönitzer Von unbezähmbaren Elefanten und ratlosen Balancetieren. Alexander Kluge und der Zirkus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Alexander Kluge Freitag, 21. Dezember 2018, auf der Fahrt in die Schweiz . . . . . . . . . . 117 Florian Telsnig Maßverhältnisse von Produktion und Revolution. Alexander Kluges Denken des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Andreas Becker Kluges Benjamin. Verweise auf Walter Benjamin in Alexander Kluges Erzählungen und TV-Magazinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Stefan A. Marx Zwischen den Polen von Kälte und Glück. Alexander Kluges Anknüpfungen an Theodor W. Adornos Minima Moralia . . . . . . . . . 151 Christian Wimplinger Sekretärin – Die Frau mit Eigenschaften. Dritte in der Schreib-Kooperation von Negt und Kluge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Alexander Kluge Auszüge aus dem Habermas-Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Marcus Steinweg Notizen zu Alexander Kluge

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

Birgit Haberpeuntner Anthropophagische Autorschaft

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

Prime Time/Spätausgabe vom 26. 08. 2001 (Kluge / Berling) Kannibalenforschung im Dritten Reich. SS-Standartenführer a. D. Fred Füllgrabe verliert seinen Posten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Inhalt

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Melanie Konrad Relationalität, Gewalt und die tiefen Schnitte kollektiver Trauerarbeit. Alexander Kluge und Rainer Werner Fassbinder in Deutschland im Herbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Michel Gaißmayer im Gespräch mit Birgit Haberpeuntner, Melanie Konrad und Christian Schulte Eine Stimme – tausend Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Alexander Kluge Reden über das Jahrhundert

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Alexander Kluge Die Götterdämmerung in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Alexander Kluge Zwischenmusik für Große Gesangsmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Christian Schulte »Die Räume sind die Nachricht« – Oper als Material und Metapher . . . . 295 Alexander Kluge Die Oper: Tempel der Ernsthaftigkeit – Bildstrecke . . . . . . . . . . . . . 307 Alexander Kluge Alle Opern zusammen: EINE SPHINX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Alexander Weil im Gespräch mit Birgit Haberpeuntner, Melanie Konrad und Christian Schulte »Dann schicke ich Sie mal an die Oper …« . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Alexander Weil Warten auf Hans Neuenfels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Jan-Hendrik Müller »Das Netz ist groß, die Fische sind klein«. Alexander Kluges frühe Kurzfilme, das »Prinzip Kürze« und Grundsätze eines filmtheoretischen (Anti-)Realismus an der Hochschule für Gestaltung Ulm . . . . . . . . . 355

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Inhalt

DOSSIER ENNO PATALAS Alexander Kluge spricht über die »Geschichte des Films« von Enno Patalas und Ulrich Gregor. Radio-Essay . . . . . . . . . . . . 373 News & Stories vom 18. 12. 2005 (Kluge / Patalas) Der Klang der stummen Filme. Enno Patalas über Klassiker der Filmgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Frieda Grafe und Enno Patalas im Gespräch mit Alexander Kluge (Filmkritik Nr. 9/1966) Tribüne des Jungen Deutschen Films. II. Alexander Kluge . . . . . . . . 387 Karl Clemens Kübler Von Lenkung und Ablenkung der Lektüre. Aufmerksamkeit als Risikofaktor der ästhetischen Wahrnehmung in einer Kurzgeschichte Alexander Kluges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Ross Etherton Friction, Fiction and War on Paper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Kentaro Kawashima »Komik und Galgenhumor« in Tschernobyl. Über Alexander Kluges Die Wächter des Sarkophags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Mark Simon Wolf »Was uns vernichten konnte, das beherrschen wir?!« – Alexander Kluges narratives Verfahren der Konstellationen am Beispiel seiner literarischen und filmischen Auseinandersetzungen mit der Entstehung und den Folgen des To¯hoku-Erdbebens in Japan 2011 . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Winfried Siebers Bibliographie zu Alexander Kluge 2019 Autor:innen-Verzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471

Christian Schulte / Birgit Haberpeuntner / Melanie Konrad

Vorbemerkung

Bücher, an denen viele Autor_innen beteiligt sind, laufen in einem Jahr der Krise besonders leicht Gefahr, nicht pünktlich fertig zu werden. So war es auch bei dem vorliegenden siebten Band des Alexander Kluge-Jahrbuchs. Mit den Verzögerungen ist das Buch weiter gewachsen und hat einen Umfang erreicht, der hoffentlich für die Wartezeit entschädigt. Wir bedanken uns herzlich bei allen Personen, die zum Gelingen dieses Buchs beigetragen haben, für ihre Geduld, bei Alexander Kluge für die vielen Materialien und seine Unterstützung des Projekts, bei unseren Autor_innen für ihre Beiträge sowie bei den Interview-Partnern Michel Gaißmayer und Alexander Weil, die uns aus ihrer langjährigen Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Alexander Kluge berichtet haben. Des Weiteren gilt unser Dank Thomas Combrink, Barbara Barnak, Beata Wiggen und Gülsen Döhr von dctp für Hilfen der verschiedensten Art. Für Transkriptionen, Lektorate und Korrektorate sei unseren Kolleg_innen Kathrin Wojtowicz, Florian Schwarz, Stephan Suschke, Florian Telsnig, Stefanie Schmitt und Julia Ecker-Eckhofen ganz besonders gedankt. Dass die Welt von heute auf morgen aus den Fugen geraten kann, ist gerade bei Alexander Kluge ein wiederkehrender Topos. Wir wünschen Ihnen und uns, dass wir alle sensibilisiert, aber auch gestärkt aus dieser Erfahrung hervorgehen können sowie eine gute Lektüre!

Christian Schulte

Plurale Autorschaft – eine Skizze

»Ich hatte mich oft gefragt, ob es tatsächlich eine einzige Person mit dem Namen Alexander Kluge gab oder ob es sich um ein seltsames Kollektiv enorm produktiver und unvorhersehbarer Künstler handelte, die unter diesem Namen agierten.«1 Die Verunsicherung, von der Ben Lerner berichtet, kann vermutlich jeder nachvollziehen, der sich mit den Arbeiten Alexander Kluges näher befasst. Dies mag zunächst damit zu tun haben, dass dieses quantitativ kaum noch zu überschauende Œuvre sich transversal über die Medien Literatur, Theorie, Film und Fernsehen verzweigt und in jedem dieser Bereiche einen solchen Umfang aufweist, dass die Idee, dies könne das Produkt einer einzelnen Person sein, tatsächlich abwegig erscheinen mag. Man würde hinter den vielen Buchseiten und DVDs wohl eher einen Schriftsteller, einen Filmemacher, einen Philosophen und einen Fernsehautor vermuten, die alle intensiv miteinander im Gespräch sind und permanent produzieren. Rechnete man dann noch Kluges Rolle als Medienpolitiker hinzu, der anderen ihre Produktionsbedingungen geschaffen und gesichert hat, so ließe sich behaupten: Kluge ist sein eigenes Kollektiv, immer wieder ein anderer und doch derselbe oder dieselben. Bereits in dieser verengten Perspektive wird klar, dass es nicht um so etwas wie die Selbstidentität eines Autors, einer Autorschaft geht. »Ich denke, weil ich davon absehen kann, dass ich ich bin«2 betont er immer wieder. Wie lässt sich das verstehen? Wenn bei Alexander Kluge von Autorschaft die Rede ist, so geht es nie um die Behauptung einer singulären Subjektposition, sondern vielmehr um die Vermessung und das Erweitern des eigenen Erfahrungshorizonts im Austausch mit anderen:

1 Alexander Kluge/Ben Lerner, Schnee über Venedig. Der Kluge-Lerner-Container, Leipzig 2018, S. 20. 2 Alexander Kluge, In Gefahr und Größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, hg. v. Christian Schulte, Berlin 1999, S. 280.

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Christian Schulte

Es genügt nämlich nicht, daß ich etwas fühle oder für mich denke: ich muß auch darüber erzählt hören: Das ist Öffentlichkeit. Es sind also immer zwei Köpfe, zwei Körper da, auch wenn ich allein dasitze: das eine bin ich; das andere ist eine großartige Inszenierung, mehr als 1000 Jahre alt und nicht von Einzelnen gemacht, Geschichte, Kultur, Eßgewohnheiten, Verhaltensweisen im Alltag, Musik, Film, Glück, Unglück usw. Es ist etwas Reiches.3

Das hier im Begriff der Öffentlichkeit angedeutete Weltverhältnis ist immer responsiv. Es speist sich aus den Erzählungen anderer, die ihrerseits das eigene Fühlen, Denken, Sprechen oder Schreiben anregen und damit Antworten evozieren, die immer schon präformiert sind durch vielfach angeeignete und transformierte kulturelle Überlieferungen bzw. – wie es in Adornos Essaytheorie heißt – durch das, »was andere schon getan haben.«4 Dieses bereits Vorhandene sich anzueignen, zu sammeln, zu kommentieren und – um die eigene Perspektive angereichert – erneut in Umlauf zu bringen und so neue Aneignungen zu ermöglichen – diese Dynamik konstituiert eine Form von Autorschaft, die nur in Gesellschaft stattfinden kann. Für Kluge ist jeder menschliche Ausdruck ein gesellschaftlich situierter Ausdruck, in dem sämtliche Prägungen eines Lebenslaufs mitsprechen. Er ist immer schon kollektiv verfasst und beeinflusst durch Kooperationen5 und subkutane Mitteilungsflüsse, die ein isoliertes, selbstidentisches Sprechen unmöglich machen: Selbst- und Weltverhältnisse regulieren einander permanent. Diese – quasi kulturanthropologisch begründete – plurale Autorschaft reicht bei Kluge daher weit über die tatsächliche Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Künstler_innen und Theoretiker_innen (wie etwa Oskar Negt, Helge Schneider oder Gerhard Richter) hinaus; ausgehend von der Überzeugung, dass die Vergangenheit keineswegs tot ist, konstruiert Kluge imaginäre Kollektiva, in denen Ovid, Müller, Montaigne, Benjamin, Godard u. a. in wechselnden Konstellationen über Epochengrenzen hinweg zusammenarbeiten. »Es ist eine Täuschung, dass ich Literatur alleine schreibe, die schreibe ich auch in Gesellschaft, nur ist die meist tot.«6 Schreiben ist in dieser Perspektive immer auch aktive Erinnerungsarbeit, Arbeit am kulturellen Gedächtnis. Nicht aber im Sinne einer offiziellen Gedächtniskultur, die letztlich doch nur – verwaltungsförmig – über die Bedeutung von Vergangenheit befinden würde. Kluge strapaziert unsere Vor3 Klaus Eder/Alexander Kluge, »Vorwort«, in: Bestandsaufnahme: Utopie Film, hg. v. Alexander Kluge. Frankfurt/M. 1983, S. 5f., hier: S. 6. 4 Theodor W. Adorno, »Noten zur Literatur«, in: ders., Gesammelte Schriften 11, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1997, S. 10. 5 Siehe dazu: Alexander Kluge-Jahrbuch 4: »Stichwort Kooperation. Keiner ist alleine schlau genug«, hg. v. Rainer Stollmann, Thomas Combrink u. Gunter Martens, Göttingen 2017. 6 »Alexander Kluge im Gespräch mit Michaela Melián«, in: Michaela Melián, Rückspiegel, Leipzig 2009, S. 57.

Plurale Autorschaft – eine Skizze

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stellungskraft, in dem er uns mit den Toten in ein und denselben Geschichtsraum stellt, so wie der »Totenführer« Arthanabases am Projekt der »ZUSAMMENFÜHRUNG DER TOTEN UND DER LEBENDEN« arbeitet.7 Dieses Projekt ist geleitet von der Idee jener Historischen Apokatastasis, der Heimholung aller, von der auch Walter Benjamins und Franz Kafkas Geschichtsdenken geprägt ist und die in Kluges Fiktion auf die Stärkung der Protestvermögen, auf »die vollständige Versammlung derjenigen, die das schärfste Motiv besitzen, der UnglücklichToten« in der Gegenwart zielt.8 Dies ist vielleicht der zentrale Punkt in Kluges Konzept von Autorschaft: Sich selbst und die eigenen Ausdrucksformen zum Medium von Vergegenwärtigungen zu machen, Potenziale der Vergangenheit zu evozieren und damit die Frage in den Raum zu stellen: Was würde es bedeuten, wenn dies wirklich möglich wäre und Geschehenes nachträglich geändert werden könnte? Von dieser Logik des Als-ob – einer Art Kraftreserve, die auch »die nicht verwirklichten Möglichkeiten« der Vergangenheit, die »lost causes«9 einbezieht – sind die ästhetischen Verfahren, seine konstellativen Montagen, die immer wieder Partikel disparatester Überlieferungen zitieren und zu unvorhersehbaren Gefügen verknüpfen, angetrieben: Meine Verbindung zu den Metamorphosen von Ovid kann ich nicht in einem Film darstellen. Und ich kann es auch nicht in Musik umsetzen. Wenn ich die Chance dazu habe, würde ich mich gern bewegen zwischen Rede, Text, Bewegtbild, Musik, Foto. Die Arbeit würde sich immer ändern.10

Plurale Autorschaft adressiert aber auch einen Zukunftshorizont, nämlich die unabsehbar vielen künftigen Aneignungen der Arbeiten Kluges (und anderer), die nach dem Prinzip der Flaschenpost – »to whom it may concern« – auf ihre Geschichte warten und immer wieder anders zur Lesbarkeit gelangen. Selbstverständlich gilt dies mehr oder weniger für alle Formen kultureller Überlieferung. Kultur insgesamt ist ein Transformationsprozess, dessen interne Wirkungslinien unentwirrbar in einem sich permanent verändernden Geflecht ineinander und durcheinander laufen. Alexander Kluges Pluriversum ist ein rhizomatisches Modell dieses lebendigen Archivs, das – mit einem Lieblingszitat Siegfried Kracauers – zugleich die Welt ist, »diese Erde, die unsere Wohnstätte ist«,11 und in der jede/r irgendwie verortet ist. Es gehört zu Kluges Grundüberzeugungen, dass jeder Mensch Autor_in seines/ihres Lebens ist und dass es die 7 Alexander Kluge, Tür an Tür mit einem anderen Leben, Frankfurt/M. 2006, S. 47. 8 Alexander Kluge, Die Patriotin. Texte/Bilder 1–6, Frankfurt/M. 1979, S. 254f. [meine Umstellung, CS] 9 Siegfried Kracauer, »Geschichte – Vor den letzten Dingen«, in: ders., Werke Bd. 4, hg. v. Ingrid Belke, Frankfurt/M. 2009, S. 218. 10 Kluge/Lerner, Schnee über Venedig, S. 93. 11 Gabriel Marcel zit. n. Siegfried Kracauer, »Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit«, in: ders., Werke Bd. 3, hg. v. Inka Mülder-Bach, Frankfurt/M. 2005, S. 467.

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Christian Schulte

Aufgabe der kulturellen Produktion ist, die dafür – für die Orientierung in einer unübersichtlicher werdenden Welt – notwendigen agentiellen Fähigkeiten von Menschen herauszufordern und zu stärken. Darin läge die Verwandtschaft zwischen Autorentätigkeit und Hebammenkunst.

Alexander Kluge

Was ein Mensch ist, nach Ingenieur Schäfer

Um mechanisch nachzubauen, was ein Hirn vermag, sagte Ingenieur Schäfer, wäre einschließlich aller Verstärker ein Aggregat in der Größe von GroßLondon erforderlich. Das würde als menschliches Hirn aber nur in Gesellschaft anderer tätig, die gleich dazugebaut gehören. Das heißt Untertunnelung des Ärmelkanals, Tunnels und Überbauung des Atlantik bis zu den Azoren usf. Nun kommen aber erst noch die Hände, Füße, der Atem als der gierigste Teil und (dazwischen das übrige) die Zellen, die die gesamte Gattungsgeschichte voraussetzen, so daß ich – vergleichbar einem Pfahldorf – die gesamte Fläche des Planeten ingenieursmäßig überbaut hätte, um auch nur einen Menschen zu haben, der wirklich funktioniert.

Alexander Kluge

»Gehirnradius«

Im Institut von Leonid Wasiljew in Leningrad ging es um die psychophysische Gehirnstrahlung. Für kurze Momente konnte man in den Räumen des Instituts ein Gesumme der Seelenlampen erzeugen. Für den materialistisch geschulten Menschen war es aber möglich, dies als »physische Strahlung« aufzufassen. – Wenn man mit einem Menschen, den man liebt, beieinanderliegt, besonders in der Morgenstunde, wenn die Körperkräfte erwachen, so kann jeder Mensch das Strömen dieser Kräfte spüren. – Es ist nicht bloß warm? – Überhaupt nicht. – Es ist auch nicht geistig? – Es ist begeisternd. Aber tatsächlich ist es der »Sinnenlärm«, so wie das Geräusch zweier Städte, die Lichterfluten einer Stadt, die von einem Fluß durchflossen wird, beide Seiten der Stadt wirken mit ihren Lichtermassen aufeinander. Die Biokosmisten erklärten Menschen des Sozialismus, also Vereinigte Menschen, zu einer Art physiologischer Stadt. So wie die Stadt Menschen in Häusern von mehreren Stockwerken stapelt, ja, diese sich in Luftschiffen und Flugzeugen und in Sternenstädten, die sich weit über den Wolken befinden, in die dritte Dimension (von der Flachheit der Äcker aus betrachtet) erheben, so stapeln sich die elementaren Eigenschaften der Menschen in der sozialistischen Gesellschaft. Sie bilden eine zweifache Industrie: in den Fabriken und in ihren Beziehungen untereinander als GESELLSCHAFTLICHE FABRIK. Es ist bekannt, daß Lenin in seiner Schrift über Materialismus und Empiriokritizismus (gegen Alexander Bogdanow gerichtet) jede Art von Geisterglauben ablehnte. Nun hat kein Biokosmist je von Geistern gesprochen. Sie alle sind konsequente Materialisten. Sie sind es aber im Geiste der Heiligen und Bischöfe der Spätantike. Dies ist ein russisches Vorrecht. Der Körper eines Toten, der bei Öffnung des Sarkophags keinerlei Zeichen von Verwesung zeigt, bezeugt dessen Heiligkeit. Für die Revolution aber geht es darum, dieses VERSPRECHEN DER

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Alexander Kluge

UNSTERBLICHKEIT, das zu Unrecht die christlichen Propagandisten vorgetragen haben, unter den realen Bedingungen des Wissens, der Arbeit und der Vergesellschaftung unserer Republik durchzusetzen. – Sie meinen Unsterblichkeit und Wiedererweckung der Toten metaphorisch, z. B. als Museumsprojekt? Oder als Projekt der Einbalsamierung? – Überhaupt nicht. Zeitweise arbeiteten 46 Institute der Akademie der Wissenschaften in verschiedenen Orten Rußlands an dem revolutionären Projekt »Neue Menschheit«, d. h. AUFERSTEHUNG DER TOTEN, Verjüngung und schließliche Unsterblichkeit der Lebenden, Gleichberechtigung der Ungeborenen. – Das Politische muß sich der Kritik der Ungeborenen unterwerfen? – Was sonst?

News & Stories vom 02. 05. 2017 (Kluge / Menzel)

Die enorme Robustheit der Insekten. Randolf Menzel, Zoologe und Neurobiologe: die Evolution des Gehirns bei uns und den Bienen

ALEXANDER KLUGE: Die Bienen kommen wie die Menschen aus Afrika. RANDOLF MENZEL: Sie kommen früher aus Afrika, nicht vor fünf oder zehn Millionen Jahre, sondern vor über 800 Millionen oder 300 Millionen Jahre ( je nachdem, welche Vorfahren man dazu zählt). Wenn man die meint, die sozial gelebt haben als bestäubende Insekten, ist es 30 Millionen Jahre her. KLUGE: Sie haben ein Gehirn, das von uns aus gesehen klein ist, in Proportion zu ihren Körpern nicht ungewöhnlich klein. Das ist anders gebaut als unseres. MENZEL: Es ist winzig, aber es sind auch kleine Tiere. Auf ihren Körper bezogen ist es kein anderes Verhältnis als zu unserem Gehirn, also zwanzig, dreißig Prozent, aber von der Energieaufnahme, vom Volumen, nur fünf Prozent. Es ist nicht anders gebaut als unser Gehirn, wenn man auf die Zellebene schaut. Die einzelnen Nervenzellen sind genauso verschaltet wie unsere Nervenzellen. In der Kompaktheit sind sie anders als unsere Gehirne gebaut. Sie haben keine Schichten, die aufgefaltet sind, sondern eher ein Volumengehirn wie Vögel oder Reptilien. Auf die Weise können sie ihre knapp eine Million Nervenzellen dicht packen und ein kleines Volumen reinpressen. KLUGE: Es gibt Tiere, die haben keine Gehirne, aber ein feines Netzwerk von Nerven. MENZEL: Zum Beispiel die Medusen oder die Polypen und auch manche von diesen frühen Wurmartigen, die flach sind, die auch schon ein Vorderende und ein Hinterende haben, ein Oben und ein Unten. Die haben häufig nur kleine Knoten und sonst Stränge, die sich durch den Körper ziehen. Sie verteilen die Zuständigkeiten über den ganzen Körper, eine Art Netzwerk. In dem Moment aber, wo es ein Vorne und Hinten gibt, ist die Situation eine andere. Das Vorne, von der Bewegung her, ist zuerst den Reizen und dem Risiko ausgesetzt. Da müssen die Sinnesorgane besonders dicht gedrängt sein, dort sollen auch die Wege zum Gehirn, der Verarbeitung, kurz sein, denn es braucht Zeit, bis die Erregung der Nerven in eine Kommandozentrale kommt. Dort müssen sie untereinander relativ schnell agieren. Der Geruch, das Sehen und das Spüren müssen zusammenwirken, um Gefahren zu interpretieren oder Nahrung zu er-

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News & Stories vom 02. 05. 2017 (Kluge / Menzel)

kennen. Deswegen findet sich in dem Moment, wo Tiere ein Vorne und Hinten haben (wenn sie nicht mehr so rund wie Medusen, sondern wie Würmer gebaut sind), eine Versammlung von stark verschalteten Nervenzellen weiter vorne, am Kopfende. Dann können diese flachen wurmförmigen Gebilde entweder auf den Bauch fallen oder auf den Rücken in der Evolution. KLUGE: Die auf den Rücken Gefallenen sind die Neumünder. MENZEL: Die behalten den alten Mund bei von dieser Gestalt der Entwicklung. Das sind diejenigen, die letztlich bis zur Biene führen, also die Insekten, auch die Krebse, die Schnecken und die Tintenfische, all die großen Gruppen gehören dazu. Die haben die alte Mundöffnung beibehalten. Daher haben sie ihr Gehirn an einer Stelle oberhalb des Schlunds. Da wird ein Bauchmark gebildet. Sie verteilen die Zuständigkeiten auf die Segmente des Körpers nach unten und machen das mit einem Bauchmark, während wir ein Rückenmark haben. KLUGE: Um das Bauchmark herum ist der Panzer? MENZEL: Da kann ein Panzer sein, aber Tintenfische sind weich, die haben das nicht. Die haben im Prinzip einen gleichen Aufbau. KLUGE: Um diesen Schlund herum bildet sich eine Stadt der Nerven. MENZEL: Dort spielt sich vieles ab, da muß gut und schlecht unterschieden werden, da müssen die Gefahren erkannt werden, da müssen die Wege kurz sein, da müssen viele Interaktionen möglich sein. Da wird die Schaltzentrale eingebaut. KLUGE: Wie heißen die Neumünder? MENZEL: Deuterostomia. KLUGE: Die haben den späteren Kopf, unsere Art von Hirn und das Rückgrat, gruppiert um welchen Ausgang? MENZEL: Sie haben auch den Kopf oberhalb des Schlunds, aber sie lassen das, was vom Gehirn ausgeht und sich durch den Körper zieht, weiterhin oberhalb des Darms (des Ösophagus und des Schlunds) bis hin zum Enddarm. Die anderen behalten das bei, weil sie auf die andere Seite gefallen sind. Die haben ein Bauchmark. Die Bienen haben eine reichhaltige Wahrnehmung der Welt, sie haben ein ausgezeichnetes Sehen. Vielleicht nicht in der Auflösung des Raums, da nehmen sie grob gepixelt wahr. Aber sie haben ein schnelles Auge, sie können mit bis zu 300 Hertz Bewegungen auflösen. Sie haben ein ausgezeichnetes Farbensehen, sie können Lichtphänomene wahrnehmen, die wir nicht wahrnehmen können wie zum Beispiel das linear polarisierte Licht. Durch die Sonne und den großen Bogen, den die Sonne über den Zenit zurücklegen würde, sind alle diese Schwingungsrichtungen in einem bestimmten regelmäßigen Muster symmetrisch angeordnet. Wenn die Sonne nicht sichtbar ist, sich zum Beispiel hinter Wolken oder Bergen befindet, wenn sie untergegangen oder noch nicht aufgegangen ist, kann die Biene aufgrund dieses Polarisationsmusters sehen, wo die Sonne stehen würde. Den Azimut der Sonne in der Richtung kann sie aus diesem

Die enorme Robustheit der Insekten

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Polarisationsmuster erkennen. Das ist für ihre Sonnenkompass-Orientierung nützlich, denn sie verwendet die Sonne für ihre Navigation. Sie muß die Uhrzeit wissen, um zu erkennen, wo die Sonne steht. Das ist an jedem Erdteil verschieden, vom Längen- und Breitengrad abhängig. Sie muß jeweils für ihren Standort diesen Zusammenhang lernen. Den kann sie aus der Sonne direkt entnehmen oder aus dem Polarisationsmuster. Sie hat auch sonst eine reichhaltige Wahrnehmung der Welt; sie kann riechen, sie kann feine Bewegungen, also Vibrationen, Luftbewegungen registrieren mit ihren Sinnesorganen. Sie kann etwas wahrnehmen, von dem wir keine Vorstellung haben, nämlich elektrostatische Felder. KLUGE: Den Erdmagnetismus. MENZEL: Das ist etwas anderes. Für den Magnetismus hat sie auch einen Sinn, ob sie ihn bei der Navigation verwendet, wissen wir nicht, aber sie berücksichtigt ihn. Es gibt noch die elektrische Komponente der Welt. Wenn ich einen geladenen Körper habe und ihn bewege, sendet der ein Feld aus. Darauf beruhen die Motoren und die Generatoren für Elektrizität, wenn man Elektronen pumpt durch die Leitung. Das können die Bienen spüren, weil sie selbst geladen sind. Sie fliegen durch die Luft, die voll geladener Teilchen ist. Sie haben eine wachsüberzogene Oberfläche, die keinen Strom leitet. Da bleiben die Ladungen hängen. Da stapeln sich diese Ladungen auf der Haut. Dann kommt sie zurück und trägt 400, 500 Volt, die nicht wegfließen können. Die Bienen können wahrnehmen, wenn eine Bewegung stattfindet wegen der zeitlichen Modulation dieses elektrischen Feldes und weil sie es übernehmen können in ihre eigene Welt. Auf die Weise ist es wie ein anderes Sinnessystem, steht es ihnen zur Verfügung im dunklen Stock. KLUGE: Mesmer hat versucht, damit zu experimentieren. Wir Menschen haben auch eine Elektrizität. Er hat eine naturärztliche Philosophie daraus entwickelt. Das ist eine Mode im 18. Jahrhundert. Aber wir haben im Grunde keine Sensibilität dafür. MENZEL: Wenn wir uns selbst aufladen durch ein Nylonhemd, dann knallt es an der Tür, da entladen wir uns. Aber unsere Oberfläche ist leitend, wir werden das sofort wieder los. Unser Gehirn und unsere Sinnesorgane sind geschützt gegenüber dieser Einwirkung, da kann sich nichts anstauen, wir lassen das wegfließen. KLUGE: Auch in der Nacht können die Bienen ihre Erwartung auf den Orient, auf den Sonnenaufgang, neu ausrichten. Sie können sich nächtlich orientieren? MENZEL: Sie fliegen nicht in der Nacht aus. Aber sie haben die Möglichkeit, sich mit diesem Schwänzeltanz, dem berühmten von Karl von Frisch entdeckten Kommunikationssystem, über Orte in der Welt zu verständigen. Den zeigen sie durch eine Bewegung an, die relativ zur Schwerkraft durchgeführt wird, weil sie auf einer senkrechten Wabe sind im dunklen Stock. Sie können das tagsüber

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News & Stories vom 02. 05. 2017 (Kluge / Menzel)

dazu verwenden, eine Futterstelle anzuzeigen oder, wenn sie schwärmen, eine neue Niststelle. In der Nacht tanzen sie auch. Warum sollten sie in der Nacht tanzen und sich was mitteilen, obwohl sie nicht ausfliegen können? KLUGE: Sie erzählen keine Geschichten, das ist nicht Geselligkeit. MENZEL: Ob sie Geschichten erzählen, ist eine spannende Frage, weil sie sich an etwas erinnern. Karl von Frisch hat das ausgenutzt. Er hat die Bienen den Tag über an eine Futterstelle dressiert, die einen Duft hatte. Dann hat er ihnen in der Nacht diesen Duft in den Stock reingeblasen. Dann haben sie diese Futterstelle angezeigt und zwar richtig für die Uhrzeit in der Nacht. Sie erleben die Welt nicht so, daß die Sonne rückwärts läuft. Dann würde sie, wenn sie am Abend im Westen untergeht, vom Westen nach Osten laufen und die Sonnenprojektion, der Azimut, wäre von oben auf die Scheibe Erde. Aber die Sonne könnte auch im Kreis laufen, die Erde würde sich richtig drehen, sagen wir als Scheibe. Dann würde die Projektion von unten sein, das gibt dieselbe Richtung. Wir können nicht wissen, ob die Bienen die Uhr so laufen lassen in ihrer inneren Uhr, daß die Sonne entweder rückwärts oder weiter im Kreis läuft. Unabhängig davon verwenden sie die richtige Uhrzeit, um im Tanz die richtige Stelle relativ zur Sonne anzuzeigen. Wenn die Biene schwänzelt und die Richtung relativ zur Sonne ausdrückt in ihrem Schwänzeltanz, relativ zur Schwerkraft, sagt sie zum Beispiel: Ich tanze jetzt 30 Grad nach oben. Dann heißt das für die nachfolgende Biene: Wenn Du rausfliegst, mußt Du die Sonne, die im Augenblick da steht, dreißig Grad links von Dir liegen lassen. Dann fliegt sie in diese Richtung aus und sie teilt ihr außerdem noch mit, wie weit das ist. Jede Bewegung ist sechzig Meter, peng heißt sechzig Meter und dann macht sie peng-peng-peng-peng-peng. KLUGE: Man kann das nicht sehen, es ist keine unmittelbare Erfahrung, die sie wiedergibt? MENZEL: Sie hat ein genetisches Programm, das hat sich in der Evolution schrittweise entwickelt. Weil sie schrittweise ein Höhlenbrüter geworden ist, hat sie das früher gegenüber der Sonne ausgedrückt. Jetzt muß sie es übersetzen in die Schwerkraft, das ist ein evolutiver Schritt. Das ist vereinbart genetisch. Jede Biene muß wieder neu lernen, dieses in die Welt einzufügen. Ursprüngliche Bienen haben im Freien gelebt. Die ursprünglichen, sozialen Insekten dieser Art, diese Hautflügler, haben auch schon in Höhlen gewohnt. Dann sind sie ins Freie gegangen und unsere Honigbiene ist sekundär wieder in die Höhle zurückgegangen. KLUGE: Eine Kunsthöhle? MENZEL: Unter natürlichen Bedingungen ist das ein hohler Baum oder ein Felsspalt und das ist eine Höhle. Die Imker bauen Kästen, um sie in eine Kunsthöhle zu bringen. Aber es ist in jedem Fall dunkel, da kann sie die Sonne nicht sehen. Sie muß das in einer symbolhaften Übertragung in eine andere Wahrnehmung bringen. Das tut sie, indem sie es auf die Schwerkraft bezieht. Sie

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nimmt ihre Uhr mit, überträgt das, fühlt die Zahl der Bewegungen, welche die Tänzerin macht mit ihrem elektrischen Sinnessystem. Dann fliegt die Biene raus, die dem Tanz gefolgt ist, mit einer Erwartung. Ist diese Sorte von Erwartung ein Indiz für Intelligenz? Sie muß auch Entscheidungen treffen: Fliege ich zu der Blüte, die von dieser tanzenden Biene angezeigt wird oder fliege ich zu einer anderen, die von einer anderen tanzenden angezeigt wird? Wenn sie im Schwarm ist, muß sie sich entscheiden. Sie müssen sich auch untereinander mit einer symbolhaften Kommunikation beeinflussen, damit alle dieselbe Entscheidung treffen, denn der Schwarm darf nicht auseinanderfallen. Das tun sie, indem sie wie in einem Seminar Argumente austauschen. Dann stoppen sie sich gegenseitig. KLUGE: Als Experimentator haben Sie die Futterquelle weggenommen und jetzt fliegen die Bienen nicht etwa nach Hause, beratschlagen neu, sondern sie ändern die Entscheidung und fliegen zu einem Ersatzziel. MENZEL: Und zwar auf dem kürzesten Weg in einer direkten Bahn, die sie noch nie geflogen sind. Es kann sogar sein, daß die Biene zwei solche Alternativen hat, etwas, was sie selbst erfahren hat und etwas, was ihr im Tanz mitgeteilt worden ist. Nun fliegt sie entsprechend der Tanzinformation und da ist nichts. Wir haben dafür gesorgt, daß nur zwei Bienen unten im Gras versteckt eine Futterstelle haben, welche die anderen nicht wahrnehmen können. Die finden sie nicht. Dann fliegt sie zu ihrer alten Stelle zurück. Da ist inzwischen auch nichts mehr, denn wir haben die Futterstelle weggeräumt. Alles ist nur in ihrer Vorstellung der Welt. Sie kann die kürzesten Wege wählen dazwischen und sie muß Entscheidungen treffen, das Eine oder das Andere. KLUGE: Bis sie stirbt oder verhungert, würde sie weitermachen, von ihrem Thymos, ihrem Conatus her, wie Spinoza sagt. MENZEL: Sie kann nach Hause zurückkehren, kann sagen, ich war nicht erfolgreich. Das tut sie auch und dann vergewissert sie sich, indem sie anderen Tänzen folgt. Wenn die wieder die gleiche Richtung anzeigen, macht sie es erneut und sucht noch mal danach aus. Sie hat die Möglichkeit, etwas zu entscheiden auf einer symbolhaften Ebene, weil sie diese Entscheidung bereits schon trifft, während sie noch nicht ausgeflogen ist. KLUGE: Machen die Bienen einen Unterschied zwischen weit zurückliegend und eben noch? MENZEL: Wohl über Tage, denn sie können zum Beispiel in der Nacht das anzeigen, was sie am Tag erlebt haben. Sie können nach mehreren Wochen, wo sie nicht ausfliegen konnten, sich erinnern und wieder den Tanz vollführen. Sie können aus einem stabilen Langzeitgedächtnis, was ihr Leben lang andauert, im Winter sechs, sieben Monate, Inhalte aufrufen. KLUGE: Das sind Zustände zwischen Neuronen in diesem kleinen Hirn. Diese Zustände bleiben erhalten, sie verwittern nicht.

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MENZEL: Deswegen ist die Biene ein spannendes Modellobjekt für die Neurowissenschaften. Das Gehirn ist in hohem Maße einfacher als ein Säugetier-Gehirn. Es hat außerdem eine Art von Konstruktion, die dem wissenschaftlichen Zugriff und der Methodik entgegenkommt. Es kann selbst noch lernen und man kann sogar diese Stellen, wo die Veränderungen dauerhaft, neu durch Lernen eingestellt werden, im Mikroskop abbilden. Auf die Weise kann man bildhaft ein Muster des Inhalts von einem Gedächtnis darstellen. Wir können es nicht verstehen. Verstehen und auslesen, was der Inhalt ist, kann nur eine Biene. Da braucht man das ganze Gehirn dazu. Wir können zumindest ein hohes Maß von Korrelat für das finden, was den Inhalt ausmacht. Dann kann man genauer danach suchen. KLUGE: Wie lange leben Bienen? MENZEL: Im Sommer kann eine Biene sechs, acht Wochen leben. Im Winter, wenn sie in der Traube überwintert, lebt sie vom Herbst bis zum Frühjahr. Das können sieben, acht Monate sein. Wenn sie in Kanada ist, ist der Frühling spät und der Herbst früh. Dieses Langzeitgedächtnis, was sie in Stufen entwickelt (ein Kurzzeitgedächtnis, ein Mittelzeitgedächtnis, ein Langzeitgedächtnis), ist lebenslang, stabil und zuverlässig. KLUGE: Das ist kommunizierbar über 50 000 Individuen, die sich untereinander verständigen. MENZEL: Es kann einzelne oder wenige geben, die alles wissen. Dieses Regelsystem führt zu einer Art Superorganismus, einem intelligenten Schwarm. KLUGE: Das heißt Emergenz, der Schwarm ist besser als seine Teile. MENZEL: Natürlich gibt es diese emergenten Eigenschaften; ein Schwarm muß zum Beispiel Entscheidungen treffen. Diese Entscheidungen werden von einer geringen Zahl von Informanten, von Agenten, die sich auskennen, getroffen, weniger als ein Prozent. Das Emergente ist keine Eigenschaft der Masse, sondern eine Eigenschaft von wenigen, die das untereinander aushandeln. So ist es auch in der Kolonie. Die Kolonie als Ganzes hat kein Wissen, sie ist nach wie vor das parzellierte, das teilhafte Wissen der einzelnen intelligenten Gehirne. Die müssen als einzelne, draußen im Freiland, nur auf sich gestellt schwierige, lebensbedrohliche Entscheidungen treffen. Aber wenn sie in der Sozialität sind, müssen sie sich auf einfache Mechanismen zurückziehen. Die müssen angeboren, robust sein. Die dürfen nicht durch Lernen von den einzelnen Gehirnen verändert werden. Die Kolonie ist als Superorganismus entsetzlich dumm, denn sie hat wenige Regeln, die dafür sorgen, daß es harmonisch verläuft. Damit es harmonisch verläuft, müssen die einzelnen Tiere ihre Individualität zu einem hohen Maß aufgeben, sie müssen Gruppenmitglieder sein. KLUGE: Es geht um die Senkung der Ich-Schranke. MENZEL: Die Masse der Menschen folgt auch eher einfachen Strukturen. Der komplexe einzelne Mensch ist intelligenter als die Masse. Die Intelligenz addiert

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sich nicht in der Masse, sie muß zu einem vereinbarten Medium werden. Das muß auf stabilen und bei den Bienen auf angeborenen Grundlagen beruhen. Dann setzen sie einfache Formen der Kommunikation ein. KLUGE: Bürgerkrieg gibt es nicht? MENZEL: Es gibt Schlachten zwischen Bienenvölkern, auch eine Schlacht der weiblichen Arbeiterinnen mit den Männchen, die sie dann rausschmeißen, die Drohnenschlacht. Die Männchen werden rausgeworfen, wenn sie ihr Geschäft erledigt haben, nämlich die Königin befruchtet haben. Es gibt auch eine kämpferische Situation am Stockeingang. Da ist etwas zu verteidigen, ein hoher Wert. Das Volk, 50 000 Tiere, hat am Ende des Herbstes, das ganze Jahr, kiloweise Honig eingetragen. Die freuen sich nicht, wenn der Imker ihnen das wegnimmt. Der Imker muß sich einpacken und gegen wehrhafte Verteidiger schützen, sonst würde er, wenn er es ungeschickt macht, unfreundlich empfangen werden. Sie verteidigen sich als Gesellschaft und sie verteidigen das, was sie erreicht, was sie gesammelt haben. KLUGE: Wenn der Imker den Honig entnommen hat, läßt er genügend da, damit die Bienen überleben können. Aber die sind auf karge Kost gesetzt. MENZEL: Da gibt es verschiedene Traditionen bei den Imkern. Die Heideimker lösen ganze Völker auf. Sie nehmen den Honig weg und töten die restlichen Bienen ab oder verkaufen sie in südliche Gegenden. Unsere Imker ersetzen den wertvollen Honig durch eine billige Zuckerlösung. In dem Moment, wo wir Zucker herstellen können aus Rüben, seit dreihundert Jahren, hat sich das Imkergeschäft verändert. Der billige Rübenzucker wird den Bienen gegeben, damit sie überleben können. Im Winter müssen sie sich warm halten, sie bleiben bei 33 Grad in ihrer Wintertraube und die muß sich aufheizen; es kann draußen -10 oder -20 Grad Celsius sein. Diese Energiereserve, die sie mit Honig gesammelt haben, muß der Imker ihnen ersetzen. Dann kann er den wertvollen Honig wegnehmen. Aber es gibt auch eine Imkerschaft, die wesensgemäßer die Bienen hält. Dann nehmen sie ihnen nur so viel weg, daß sie überwintern können und sorgen dafür, daß, wenn das knapp wird, weil der Winter lange dauert, nachgefüttert wird mit Zuckerlösung. KLUGE: Gibt es Aufstände gegen die Königin? Es gibt einen Wechsel von Königinnen. MENZEL: Die alte Königin, die sich gegen eine junge nicht mehr durchsetzen kann, weil sie nicht mehr von den Arbeiterinnen unterstützt wird, muß in einem Schwarm ausziehen. Die nimmt vor allem die älteren Bienen mit und auch jüngere. KLUGE: Die alten Bienen nehmen jüngere Rollen an, verjüngen sich, leben länger. MENZEL: Die älteren, erfahrenen Arbeitsbienen, wenn es genügend von ihnen gibt im Schwarm, können zurückfallen in den Zustand von Pflegerinnen. Sie

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können dann wieder besser lernen. Sie haben ihr Gehirn so umgestellt, daß sie sich wie junge Bienen verhalten, obwohl sie alte Bienen sind. KLUGE: Das ist eine Vitalreserve? MENZEL: Das ist eine Vitalität, die wiederholt werden kann und die sich in der Erneuerung des Gehirns oder dem gestoppten und revertierten Alterungsprozeß des Gehirns entsprechend niederschlagen muß. KLUGE: Die Universität Paris hat eine unzufriedene Fronde von Professoren und sie gründen die Universität Prag und werden noch mal jung. In Prag kommt es wieder zu einem Exodus und die Universität Freiburg wird gegründet. Gibt es häufig Fälle von Neotenie in der Evolution? Junge Lebewesen werden nicht erwachsen. Sie verjüngen sich nicht. Der umgekehrte Weg ist zu sehen; sie werfen das Alter ab und das, was nach der Geschlechtsreife kommt, vermehren sich und bringen einen Fortschritt durch Auslassen zustande. MENZEL: Berühmt ist der Axolotl. Es gibt fast in jeder Tiergruppe Beispiele dafür. Eigentlich ist es ein seltenes Phänomen innerhalb der großen Gesellschaft von Tieren. Aber es ist ein Weg, wie in der Evolution das Risiko des Alters reduziert und daher die Fähigkeit, schon frühzeitiger Fortpflanzung zu betreiben, eingerichtet wird. KLUGE: Durch dieses Auslassen fehlt auch ein Hemmnis. Die Enkel der Blumenkinder der Protestbewegung von 1968 aus Berkeley und Stanford sind heute in Silicon Valley tätig. Sie sind fähig, den Inhalt fast völlig auszulassen, was wir Europäer nicht machen würden. Dadurch bekommen sie die Leichtigkeit, die erforderlich ist, Algorithmen zu bilden, in einer neuen Weise und zu sagen: Wir können Plattformen und Technologien so anlegen, daß sie die Welt beherrschen. Wir dürfen uns nur nicht am Inhalt vergreifen, der ist zu schwer. Dann fallen wir herunter. Die haben sich nicht geschlechtlich fortgezeugt, aber intellektuell und organisatorisch haben sie sich auf der Jugendebene vermehrt. MENZEL: Das würde bedeuten, daß der mentale Ballast vermieden wird, der mit der Einsicht in die Komplexität kommt und der im Alter Verantwortung mit sich bringt. KLUGE: Der Geist kann sich von einem Stück Körper befreien. Das Programm kann sich leichter machen, indem es sich einengt, indem es fortläßt. MENZEL: Das ist der Fall in der wesentlichen Wurzel, die wir als Säugetiere in dieser Evolution erlebt haben. KLUGE: Wir sind Mangelmutanten. MENZEL: Es war eine besondere Sorte von Deuterostomien, die ein Rückenmark haben. Die sind als Larven diejenigen gewesen, welche die neue Evolutionslinie hin zu den hochentwickelten Säugetieren gebildet haben. Das sind die Manteltiere, Tunicata. Diese Manteltiere sind langweilig als adulte Tiere. Da sitzen sie am Boden, strudeln vor sich hin und tun nichts Gescheites. Aber als Larven schwimmen sie aufgeregt mit einem Rücken, einer Wirbelsäule und einem Rü-

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ckenmark im Wasser herum. Wenn sie zu alten Tieren werden, schmeißen sie das alles weg und setzen sich nieder. Die Evolution ist von den Larven ausgegangen. Das ist eine der großen Entwicklungslinien in der Evolution im Tierreich. Die Larven von Insekten spielen im Verlaufe der Sozialentwicklung eine enorme Rolle. Als Medium gelten sie dafür, daß gesponnen, daß ein Faden gezogen werden kann. Sie sind ein Medium, aber sie sind nicht in diesem Sinne Ausgangspunkt einer neuen Entwicklungslinie. KLUGE: Unter uns Menschen gibt es Perioden im 12. Jahrhundert, im 18. Jahrhundert oder 1929, wo die Verjugendlichung ein Ideal ist. Könnte die Jugend sich untereinander so verbinden, dann mag die Welt zerschmettert werden, aber wir marschieren voran. Das ist eine Geistesrichtung gewesen, die auch auslassen will. MENZEL: Wenn der Bauer zum Beispiel sein Rapsfeld aus gebeizten Samen mit Pestiziden hat wachsen lassen, sterben bei den Bienen viele von den Sammeltieren, welche die älteren sind, kommen nicht zurück, verirren sich. Plötzlich ist das Volk ohne ältere Generation. Dann werden die jungen Tiere schneller zusammenfinden. Das Volk reguliert das. Das ist die hohe Robustheit in der Entwicklungslinie. Das geschieht bei solch einem Superorganismus, der viel genetisches Programm hat, aber trotzdem flexibel auf die Umstände der Umwelt reagiert. KLUGE: Sie haben messen können, daß das Tänzeln auch als eine elektrische Funktion von den Nachfolgebienen wahrgenommen wird. Eigentlich ist es ein musikalischer Vorgang. MENZEL: Das ist gut erfaßt, weil wir uns diese elektrischen Signale in ihrer zeitlichen Modulation als Ton darstellen. Wir hören dann, ob und wie sie schwänzelt und welche Entfernungen sie angibt, wie geschickt und richtig und ohne Fehler sie das macht. Das ist für uns als Zuhörer eine Art Ton, ein Lied, eine Sinfonie, eine Art von Orchester. Wir lassen uns das akustisch darstellen, und die Bienen nehmen es auch mit ihrem Hörorgan auf. Sie haben kein Gehör wie wir, was auf Druckwellen reagiert, sondern sie haben ein Gehör, was auf Luftbewegung reagiert. Mit den Haaren des Körpers und mit den Antennen hören sie Bewegungen. Auf die Weise hören sie die zeitliche Modulation des elektrischen Feldes von einer Tänzerin. Wir haben kein solches Organ, wir haben ein Trommelfell. Deswegen brauchen wir einen Lautsprecher. KLUGE: Das elektrische Feld bewegt sich so, wie dieses Polarisationsfeld der Sonne sich vorher schon bewegte. Die Bienen haben eine andere Sinneswelt. MENZEL: Sie haben eine andere Welt, in der sie leben und arbeiten. Ich habe versucht, das für das Farbensehen zu machen, weil sie, wie wir auch, ein trichromatisches Farbensehen haben. Sie haben keinen Rotrezeptor, können kein Rot sehen, das ist für sie Schwarz. Sie sehen dafür Ultraviolett, und wir können kein Ultraviolett sehen. Sie haben also Ultraviolett, Blau und Grün. Die Sonne ist Grün für sie. Die Blumen sehen alle anders aus, aber die Blumen haben ihre

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Farben entwickelt für die Bienen – nicht für uns. Wir schauen die Blumenblätter nett an, aber für die Bienen sind die Farben da. Wir haben versucht, diese Welt für uns sichtbar zu machen, indem wir den UV-Rezeptor Blau darstellen, den BlauRezeptor Grün darstellen und den Grün-Rezeptor Rot darstellen. Dann können wir es in einer Farbmischung darstellen, weil die gleichen Farbmischungsregeln gelten. Dann sehen wir mit unserem Farbsehsystem so, wie die Bienen die Blumen sehen. Da sieht man Muster auf den Blüten, die wir sonst nie wahrnehmen. KLUGE: Es gibt einen Versuch: Eine Biene saugt Nektar, ihr Hinterleib ist durchschnitten. Wie bei Münchhausen läuft die Flüssigkeit hinten raus, bis sie stirbt. Es findet keine Reaktion, keine Veränderung des Verhaltens statt. Da würden Sie Zweifel anmelden. MENZEL: Dieses Experiment ist von Karl von Frisch angegeben worden und die Beobachtung dient als Indiz dafür, daß die Bienen keine Schmerzwahrnehmung haben. Wie kann es sein, daß ein Tier weitersaugt, wenn man den Hinterleib abgeschnitten hat, wenn es eine Schmerzwahrnehmung hat? Auch innerhalb eines Körpers muß man damit rechnen, daß verschiedene Teile schmerzempfindlich sind und andere nicht. Unser Gehirn hat keine Schmerzempfindung. Wir können Operationen am offenen, freigelegten Hirn machen, ohne daß eine Schmerzwahrnehmung damit verbunden ist. Es gibt Teile, die Schmerzwahrnehmung haben können. Vielleicht hat dieser Hinterleib, der eine Stoffwechselmaschine ist, keine Schmerzwahrnehmung. Das bedeutet nicht, daß alle anderen Teile nicht über eine Schmerzwahrnehmung verfügen können. KLUGE: Sie sagen, daß durch die modernen Arten in der Landwirtschaft, Chemie zu verbreiten, die Bienen gequält werden können. Sie können auch alkoholisiert, also trunken werden, ausfallen und daran sterben. MENZEL: Sie sterben daran, daß sie nicht mehr nach Hause zurückfinden. Sie können als einzelnes Tier nicht lange überleben. Sie sterben bei hohen Dosen, weil diese eingesetzten Pestizide in der Landwirtschaft als Pflanzenschutzmittel auf das Gehirn wirken. Sie wirken in kleinen Dosen und subletal, also nicht tödlich in geringen Mengen und verändern das Verhalten. Diese Veränderung des Verhaltens auf der Ebene des Einzeltiers ist gut studiert und zeigt, daß diese Pestizide das Verhalten wie eine Droge verändern können, so daß ihr Verhalten (Navigation, Kommunikation über den Schwänzeltanz) nicht mehr normal funktioniert. Das Spannende für die Wissenschaft daran ist, daß auf der Stockebene, der ganzen Gemeinschaft, diese Gefährdung des einzelnen Tiers nicht unmittelbar so drastisch sich auswirkt. Deswegen kann gesagt werden, daß das Bienenvolk nicht so gefährdet ist, obwohl vielleicht zehn Prozent gestorben sind oder nicht mehr zurückfinden, weil diese soziale Gemeinschaft aufgrund ihrer Regelvorgänge und ihrem hohen Maß an Robustheit vieles wegregelt und wir sehen es nicht. Aber das ist eine fehlgerichtete Aufmerksamkeit von uns, denn die wirkliche Gefährdung in der Umwelt ist nicht auf die Bienen bezogen, die diese

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enorme Robustheit haben, sondern auf Hummeln, Wildbienen, anderen Insekten und die Ökologie, also die Umweltsituation insgesamt. Deswegen können Bienen Hinweise sein, aber sie sind viel robuster als alle anderen.

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Kooperation. Zur praktischen Arbeit mit Alexander Kluge

Barbara Barnak war am 17. Dezember 2017 zu Gast beim Alexander-Kluge-Workshop am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien und berichtete von ihrer Zusammenarbeit mit Alexander Kluge. Aus diesem Bericht ist der folgende Text entstanden.

Kooperation Lassen Sie mich von Ben Lerner und dem Angelus Novus erzählen. Ich war mit Herrn Kluge auf einer Tagung in Princeton und anschließend hatten wir noch weitere Veranstaltungen in New York (im MoMA, in den Anthology Film Archives und im Goethe-Institut) – ich würde diese Reise als meine Feuertaufe

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bezeichnen. Herr Kluge wurde von der Universität Princeton zu dieser Tagung eingeladen1 und Devin Fore, ein Mitarbeiter des German Departments, stellte ihm den Schriftsteller Ben Lerner vor. Wenig später trafen Sie sich im Goethe Institut wieder und haben gemeinsam Texte vorgelesen. Es wurden Filme gezeigt und es gab Musik. So arbeitet Herr Kluge häufig, er verbindet bei Veranstaltungen gerne diese drei Komponenten. Im folgenden Jahr wurde Ben Lerner nach Venedig zur Ausstellung eingeladen.2 Dort hat Herr Kluge ihn interviewt. Dieses Interview wurde am nächsten Tag direkt geschnitten, damit es noch Teil dieser Ausstellung werden konnte. Das heißt, Herr Kluge und ich saßen am Morgen des Eröffnungstages zusammen, haben das Material gesichtet und daraus einen zehnminütigen Beitrag zusammengeschnitten. Dasselbe galt für Rachel Kushner, die er auch aus Amerika hat kommen lassen. Auch da haben wir ad hoc einen Beitrag geschnitten, um ihn in der Ausstellung zu zeigen. In seinem Interview mit Herrn Kluge erwähnte Ben Lerner ein Bild von Paul Klee, Angelus Novus (1920). Dieses Bild hat Herrn Kluge sehr fasziniert, sodass es ein Exponat der Pluriversum-Ausstellung im Museum Folkwang wurde. Nach einigem Austausch mit der Kuratorin Anna Fricke wurde es um die Klee-Bilder Stachel, der Clown und Seiltänzer (1923) ergänzt. Klees Seiltänzer hat Kluge wiederum so beindruckt, dass er es zum Anlass genommen hat, einen Film dazu zu machen. Dieser Film nennt sich Die Vernunft ist ein Balance-Tier (2017) … nur damit Sie eine Vorstellung davon haben, wie Kooperation im Kluge-Kosmos funktioniert.

TeamViewer und Skype Unsere gemeinsame Arbeitsweise hat sich durch neue Technologien verändert. Herr Kluge rief mich oft an, weil er gemerkt hatte, dass ich diejenige bei dctp bin, die er bei technischen Problemen ansprechen kann. Und es kam halt vor, dass Herr Kluge bei seinen E-Mails nicht weiterkam oder dass sein Drucker nicht gedruckt hat oder Ähnliches. Also versuchte er mir telefonisch seine Probleme zu erklären, was nicht wirklich gut funktioniert hat. Irgendwann bin ich auf die Idee gekommen, dass es hilfreich wäre seinen Bildschirm zu sehen und habe uns beiden das Programm TeamViewer installiert. Einerseits ist es ein Segen, andererseits hat es meinen Arbeitsbereich enorm erweitert. Mittlerweile ist es so, dass Herr Kluge sagt: »Kommen Sie mal rüber!« Dann weiß ich schon, ich mache jetzt TeamViewer an und geh auf seinen Computer. Er öffnet dann einen Film von seiner Dropbox, die übrigens ein weiteres ganz wichtiges Element unserer ge1 Alexander Kluge: A Narration. Alexander Kluge at Princeton. October 20–21, 2016 2 »The Boat is Leaking. The Captain Lied«, mit Anna Viehbrock und Thomas Demand, Fondazione Prada, Venedig 2017.

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meinsamen Arbeit ist, weil wir zu jeder Zeit auf dasselbe Material zugreifen können, er lässt den Film anlaufen, kommentiert ihn und gibt Anweisungen. Die Timecodes, die er mir für Schnitte angibt, sind allerdings nicht sehr präzise, wenn wir mit TeamViewer arbeiten. Je nachdem, wie schnell die Internetverbindung gerade ist, funktioniert die Übertragung nicht in Echtzeit, das heißt, man muss ein bisschen nach Gefühl gehen. Ein weiteres hilfreiches Tool ist Skype. Am Anfang war es Herrn Kluge ein bisschen fremd, aber mittlerweile funktioniert das hervorragend. Bei der Ausstellung im Museum Folkwang wurden zum Beispiel sehr viele Filmstills für den Katalog benötigt und es erschien mir sinnvoll, sie auszudrucken, mit der Bezeichnung des entsprechenden Ordners und mit dem Namen der Datei, um die Auswahl zu erleichtern. Das ist für Herrn Kluge aber zu unpraktisch gewesen. Für ihn ist es angenehmer, sich die ganzen Filmstills einmal auszudrucken, also ein Still auf ein DIN-A4-Blatt – aber leider ohne Bezeichnungen. Er hatte dann ganz viele davon auf seinem Schreibtisch – sein Schreibtisch ist immer voll mit Material –, und dann überlegte er sich, ok, das gefällt mir, das gefällt mir… Aber wie sollte ich jetzt rauskriegen, welches Filmstill er meinte? Zuerst hat er versucht die Bilder zu beschreiben, das hat natürlich nicht gut funktioniert. Dann sind wir irgendwann dazu übergegangen zu skypen. Er nahm das Filmstill, das er haben wollte, hielt es bei Skype hoch, ich machte schnell einen Screenshot – die Reihenfolge ist dabei durchaus wichtig – und so hat er mir 20 Bilder angezeigt. Ich habe dann anhand der Screenshots im Dropbox-Ordner nach den Bildern gesucht. Es gibt mittlerweile mehrere hundert Filmstills in dieser Dropbox. Das kostet Zeit, ist aber momentan tatsächlich eine recht effektive Möglichkeit, an diese Bilder heranzukommen. Diese Filmstillauswahl wurde später an den Verlag geschickt, der den Katalog herausbrachte. Der Verlag versuchte seinerseits Vorschläge zu machen, Herr Kluge war damit aber nicht immer einverstanden. Also ging das ganze Prozedere von vorne los: Filmstills bei Skype angezeigt, neue Bilder geschickt, und so ging das, bis die Deadline wirklich fast gesprengt war. Ich hatte schon Sorge, aber Herr Kluge war ganz entspannt. Vermutlich ist das einfach die Erfahrung, dass er genau weiß, wann er etwas zu einem Ende bringen muss. Er will auch über wirklich jedes Detail die Kontrolle behalten und damit meine ich wirklich jedes Detail. Ein Beispiel: Als die Folkwang-Kuratorin anrief und dringend eine Abholung organisieren wollte, ging ihm das nicht schnell genug und er wollte mit der Spedition verbunden werden. Manchmal hat man das Gefühl, am liebsten würde er dem Fahrer persönlich sagen, an welcher Tür er klingeln muss, bei welchem Namen, wann er genau kommen soll usw. Wir versuchen ihm so etwas abzunehmen. Es ist eine Gratwanderung, wie man da vorgeht.

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Dropbox, Final Cut und Greenscreen In der Regel läuft die Organisation, Administration und Korrespondenz mit allen Projektverantwortlichen über meine Kolleginnen und mich. Andererseits arbeite ich Herrn Kluge auch ganz konkret zu. Er zeigt zu unterschiedlichen Anlässen Filme. Dafür hat er ein professionelles Team in München, welches den Schnitt übernimmt und produziert. Diese Dateien werden in einen Dropbox-Ordner geladen, ich schneide sie gegebenenfalls mit Final Cut noch einmal um, lade sie wieder hoch. Herr Kluge sichtet dieses Material und bewertet, ob es für ihn funktioniert oder nicht. Dieser Prozess kann ein paar Mal hin- und hergehen, bis er dann entweder anhand einer von mir erstellten Schnittliste oder anhand des hochgeladenen Materials im Studio das Endprodukt erstellt. In letzter Zeit sind wir dazu übergegangen, dass ich mit HD-Material arbeite, das heißt, wir können es direkt für Ausstellungen benutzen. Das Tolle an der Zusammenarbeit mit Herrn Kluge ist, dass er mich von Jahr zu Jahr dazu gebracht hat, neue Sachen zu lernen und auszuprobieren. Mit Final Cut hatte ich vor fünf Jahren keinerlei Berührungspunkte. Schnitt fand ich zwar immer interessant und hätte es gerne gelernt, aber die Zeit ließ das nicht zu. Herr Kluge hat mich dazu animiert, es zumindest so weit zu beherrschen, dass es für unsere Zusammenarbeit funktioniert. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Helge-Schneider-Dreh vor einem Greenscreen im Grillo-Theater, Essen. Jetzt hatte ich ein bisschen Final CutErfahrung, aber mit dem Greenscreen zu arbeiten, war noch einmal eine andere Geschichte. Herr Kluge wollte, dass ich ein Theaterbild suche und auf den Greenscreen lege, so wie er es vom Münchner Team gewohnt ist. Ich habe mehrfach versucht ihm das auszureden, aber er hat mich gepusht: »Na, das kriegen Sie schon hin, Sie schaffen das, das wird gut, das sieht gut aus!« Also habe ich eine Stunde daran herumgefummelt und gehofft, dass es auch auf der großen Leinwand einigermaßen gut aussehen wird, was es überraschenderweise tat. Ja, insofern schafft es Herr Kluge andere immer wieder zu Neuem zu motivieren. Er fordert einen heraus und letztendlich wird es dann so, wie er es sich vorstellt. Da ich in der Produktion bin, will ich seine Ideen realisieren und möchte ihm da nicht reinreden. Er hat so viel Erfahrung und weiß ganz genau, was er will und was er tut. Man kann immer Ideen vorschlagen und die nimmt er gerne auf. Er ist da durchaus offen, aber letztendlich ist es seine Arbeit, sein Produkt. So fühlt es sich für mich zumindest an. Das Wort Mitspracherecht ist vielleicht das falsche, aber alle, mit denen er regelmäßig arbeitet, sind für ihn auch deshalb interessant, weil sie ein Anregungspotential haben.

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Zeitdruck Wenn man mit Herrn Kluge zusammenarbeitet, stellt man fest, dass er immer in sehr unterschiedlichen Intensitäten an seinen vielen Projekten arbeitet, die meistens parallel bearbeitet werden. Manchmal weiß man gar nicht, womit er sich gerade genau beschäftigt. Wenn er intensiv mit seinem Lektor Herrn Dr. Combrink an seinen literarischen Texten arbeitet, ist es ruhiger bei uns. Ich arbeite ja für die dctp, also die Produktionsfirma, die bei RTL und bei SAT.1 die Sendungen 10 vor 11 und NEWS & STORIES gezeigt hat. Man bekommt das Gefühl, Herr Kluge lässt Deadlines gerne so nah wie möglich an sich herankommen. »Deadlines kann man immer noch ein bisschen schieben!« Das habe ich über die Jahre oft gehört. Für mich ist er wie ein guter Student, der genau weiß, wann der letztmögliche Zeitpunkt ist, um ein Projekt zu beginnen. Dieser Zeitdruck führt meines Erachtens auch dazu, dass er dabei das beste Ergebnis rausholt, aus sich selbst und aus seinen Mitarbeiter_innen. Dasselbe gilt für Veranstaltungen. Herr Kluge arbeitet wirklich bis zuletzt, also bis fünf Minuten vor Veranstaltungsbeginn an ihnen. Bei der Auswahl zur Benjamin-Wand im Museum Folkwang hat er eine Stunde vorher im Büro angerufen, meine Kollegin solle ihm Texte ansprechend designen, damit man diese noch an die Wand pinnen könne. Das passierte dann wirklich um 5 vor 12: »Schnell, Sie haben eine E-Mail aus meinem Büro, drucken Sie mir das doch aus!« Dann breitet er alles vor sich aus, sucht aus, was er möchte und das kommt dann an die Pinnwand. Es ist wichtig, wie die Kurator_innen mit ihm arbeiten, wie geschickt sie sind. In Stuttgart zum Beispiel wollte Herr Kluge einen Bildschirm bespielen, den wir aber nicht bespielen konnten. Herr Kluge ist mit diesem Wunsch an mich und den Kollegen aus Stuttgart herangetreten, während wir an den Tablets arbeiteten. Das heißt, wir konnten das in dem Moment einfach nicht realisieren, außerdem war die Technik dafür noch nicht fertig. Er ist dann also zu den Techniker_innen gegangen und hat sie gebeten, die Installation des Bildschirms vorzuziehen. An diesem Tag war das aber nicht umsetzbar und ich glaube, eine_r der Techniker_innen ist dann an die Kuratorin herangetreten. Sie hat Kluge dazu gebracht, gemeinsam mit ihr an Schriftstücken für die Ausstellung zu arbeiten. Einfach, um seine Aufmerksamkeit auf eine andere wichtige Sache zu lenken, die ebenfalls noch erledigt werden musste. Natürlich versucht man immer, seinen Wünschen entgegenzukommen und diese zu realisieren. Ich sage auch gerne, wenn mich jemand nach meiner Jobbeschreibung fragt, ich versuche Dinge möglich zu machen für Herrn Kluge. Insofern ist die Zusammenarbeit kurz vor Veranstaltungen immer sehr spannend. Je vorbereiteter ich bin, umso besser ist es. Das heißt, ich muss mir vorher schon überlegen, was haben wir in den letzten Ausstellungen gemacht, worauf

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liegt gerade der Fokus bei Herrn Kluge? Aus diesem Grund versuche ich, das ganze Material immer dabei zu haben. Wir vereinbaren zum Beispiel eine Liste mit fünf Filmen, aber im Gespräch mit anderen, mit der Kuratorin, mit Helge Schneider, oder wer gerade dabei ist, kann sich das schnell ändern und er sagt mir dann: »Ja, aber haben Sie auch den Film dabei?« Würde ich also nur mit den angesagten fünf Filmen kommen, würde ihn das nicht glücklich machen. Ich muss adäquat reagieren können. Darum bin ich dazu übergegangen, alle Festplatten der letzten Veranstaltungen mitzunehmen, um auf möglichst alles vorbereitet zu sein, was da kommen könnte.

»Pressetermine mag Herr Kluge nicht.« Ein Teil meiner Arbeit besteht darin, Pressetermine zu koordinieren. Kurz vor der Eröffnung einer Ausstellung oder eines Events mag Herr Kluge Pressetermine nicht besonders. Zu diesem Zeitpunkt ist er sehr konzentriert, sodass er wenig Interesse hat, selbst Interviews zu geben. Aber es geht nun mal nicht anders und für die Häuser ist die Pressearbeit natürlich wichtig. Das heißt, ich muss versuchen, es so zu koordinieren, dass man irgendwie eine Lücke findet, in der Herr Kluge auch die Ruhe hat und sich die Zeit nehmen kann, um mit der Presse zu sprechen. Veranstaltungen, wie die Ausstellungen The boat is leaking. The captain lied in Venedig oder Pluriversum im Museum Folkwang, nutzt er nämlich auch um selbst zu produzieren. Wir hatten letztes Jahr im Museum Folkwang eine Veranstaltung mit Helge Schneider und Herr Kluge wollte am Tag zuvor mit ihm drehen. Die Kuratorin der Veranstaltungsreihe, Isabel Hufschmidt, hatte dafür ein Theater organisiert. Die beiden waren dann spontan im Kostümfundus und haben eine Menge Kostüme zusammengetragen. Häufig wissen Kluges Kooperations- und Gesprächspartner_innen gar nicht so genau, was sie erwartet. In Venedig gab es auch so einen Fall. Herr Kluge wollte mit Ben Lerner und Rachel Kushner drehen und hatte auch noch weitere Gesprächspartner eingeladen. Er wollte die Interviews in den Museumsräumen führen, die befanden sich aber noch im Aufbau. So kam es zu der Situation, dass beim Dreh die Techniker_innen gebeten wurden, überall den Ton auszuschalten. Allerdings wurde Thomas Demand nicht informiert. Demand wurde dann nervös, weil aus seiner Sicht der Ton im Museum ausgefallen war, also rief er bei seinem Studio an und fragte, ob etwas mit den Filmen nicht in Ordnung sei. Später stellte sich heraus, dass Kluge aufgrund seiner Dreharbeiten den Ton hatte runterschalten lassen. Herr Kluge hat davon nicht viel mitbekommen, denn Demand kam zu mir und ich war der Blitzableiter. Das war aber völlig in Ordnung, weil ich ihn da selbstverständlich verstehen konnte.

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Vieles von dem so produzierten Material wird mehrfach genutzt, auch für Fernsehsendungen. Vom Interview mit Ben Lerner, das wir in Venedig geschnitten haben, gibt es ebenfalls eine Langfassung. Diese wurde vom Studio in München anschließend für die Kultursendungen zusammengeschnitten. Kluge verbindet also das eine immer mit dem anderen. Dabei kommen neue Produktionen heraus, dennoch würde ich auch nicht sagen, dass es immer etwas komplett Neues ist. Er schafft es, das Material zu nehmen, in neue Collagen und Zusammenhänge zu setzen und dadurch etwas Eigenständiges zu kreieren. Ich persönlich empfinde das als eine seiner ganz großen Stärken.

Meet – present – produce – repeat Herr Kluge hat langjährige Mitarbeiter_innen, wie Michel Gaißmayer und Claudia Toursarkissian, die ihm Vorschläge für Interview-Partner_innen machen, wobei sie sich meist nach Buchneuerscheinungen richten. Nach welchen Kriterien sie genau auswählen weiß ich gar nicht, denn dieser Prozess geht nicht über unser Büro, die beiden sitzen in Berlin. Aus diesen Vorschlägen wählt er danach aus, wie es gerade so passt, würde ich sagen. Wieso und wann Herr Kluge zum Beispiel Joseph Vogl trifft, das verrät er mir nicht und ich frage ihn auch nicht, aber es gibt immer wieder gemeinsame Interviews. Es gibt auch keinen Jahresdrehplan. Ich habe mehr den Eindruck, wenn wieder neue Sendungen benötigt werden, wird produziert und Herr Kluge versucht das immer mit Ver-

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Ein Werkstattbericht von Barbara Barnak

anstaltungen zu verbinden. Zeitverschwendung ist, glaube ich, das Schlimmste, was er sich vorstellen kann. Oder nichts zu tun. Wenn er irgendwo eingeladen ist, zum Beispiel in Berlin zur Brecht-Benjamin-Ausstellung,3 dann kommt auch das Berliner Drehteam. Dort hat er drei bis vier Interviews geführt, wenn nicht sogar mehr. Das geht dann Schlag auf Schlag. Er schafft es, über Stunden Interviews zu führen, ruht sich eine halbe Stunde aus und später sitzt er auf dem Podium und liest noch einmal eineinhalb Stunden Texte. Alle um ihn herum sind platt – man sagt es ihm natürlich nicht – und er ist noch voller Energie und arbeitet durch. Wir sind bei dctp zu fünft und er hat in München nochmal drei bis vier Leute und verschiedene Kamerateams, das Team ist also gar nicht so extrem groß. Es gibt das Berliner Drehteam, ein Kamerateam in Bonn und eines in München. Je nachdem, wo er sich gerade befindet, holt er sich eins von diesen Teams zur Seite. Das sind Leute, mit denen er schon seit Jahren oder Jahrzehnten zusammenarbeitet. Es ist schwierig, in Kluges engeres Team zu kommen, aber wenn man einmal drin ist, arbeitet er intensiv mit einem zusammen. Das bekam ich bei meiner Feuertaufe in Princeton zu spüren. Ich nenne das deshalb so, weil ich vorher gar nicht bei den Veranstaltungen dabei war. Mit Filmvorführungen hatte ich zuvor nichts zu tun und plötzlich saß ich in Princeton in einem Raum, wurde kurz eingewiesen und musste die Filme abspielen. Da hat sich Kluge wohl gedacht: »Irgendwie improvisiert die das schon, wenn es drauf ankommt.«

3 »Benjamin und Brecht. Denken in Extremen«, Akademie der Künste Berlin (2017/18).

Anna Fricke

Eine Flaschenpost von Alexander Kluge: Protokoll einer Ausstellung

Am 10. März 2016 trat Alexander Kluge zusammen mit Hannelore Hoger und Sir Henry in Köln auf. Diese Veranstaltung im Rahmen der lit.-Cologne war weit mehr als eine Präsentation der wenige Monate zuvor erschienenen Publikation Kongs große Stunde, die den Anlass gab. Mit viel Leichtigkeit navigierte Kluge durch den kurzweiligen Abend; mit Filmen, Musik, Gedichten und Kurzgeschichten. Sir Henry am Klavier mit Gesang, Hannelore Hoger rezitierte, sang und interpretierte – alles wohldosiert improvisiert. Performative Elemente trafen auf Film und machten Die Chronik des Zusammenhangs, so der Untertitel des neuen Buches, greifbar und sinnlich erfahrbar. Die intermedialen Fragmente gingen auf der Bühne neue Allianzen ein. Voraussetzung dafür war die Arbeit im Raum. Kluge selbst aber versteht sich keineswegs als Raumkünstler. Dazu passt, dass Konstellation und Gravitation bei Kluge zusammenhängen, das eine ist ohne das andere nicht denkbar, Bewegung und Veränderung ist den Anordnungen inhärent. Denn »Zusammenhänge sind«, mit den Worten von Oskar Negt, »nicht Fragmente, sondern Fragmente in ihrer Bewegungslogik«.1 Was würde dieses Universum erst im Ausstellungsraum sein? Alexander Kluge gefiel die Idee einer Ausstellung im Museum Folkwang auf Anhieb: Essen und das Ruhrgebiet als Standort, das Gebäude von David Chipperfield als Ort und die Folkwang-Idee eines offenen Kunstbegriffs als Bezugspunkt. Das Unterfangen stellte sich als ein Glücksfall für das Museum heraus, denn schnell wurde klar, dies wird keine Ausstellung über Alexander Kluge, sondern eine Ausstellung von Alexander Kluge. Ohne Umschweife wechselte er in ein recht unbekanntes Terrain und schuf eine ganz eigene, ganz neue Konstellation. Er erklärte, entweder schreibe ich oder ich mache Filme, beides entstehe nicht parallel. Das Ausstellungsvorhaben forderte eine andere Arbeitsweise. Und tatsächlich geht Kluge als Ausstellungskünstler nicht in Kluge als Filmemacher oder Autor auf. Zunächst 1 Richard Langston, »›Das ist die umgekehrte Flaschenpost‹. Ein montiertes Interview mit Oskar Negt und Alexander Kluge«, in: ders. et al. (Hg.), Glass Shards. Alexander Kluge-Jahrbuch 2, Göttingen 2015, S. 47–76, hier S. 61.

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verfasste ich ein Konzept für eine Ausstellung in vier Räumen. Kluge war es wichtig auf eine Grundidee reagieren zu können. Doch erst nach Weihnachten 2016, gute acht Monate vor der Eröffnung, nahm das Projekt an Fahrt auf. Alexander Kluge schickte aus dem Winterurlaub eine Skizze. Bevor die Filme überhaupt existierten – denn alles sollte neu produziert werden – hatte Kluge ein Schema von Saal 2 Die Lebenszeit als Währung angefertigt (Abb. 1). An den vier Ecken angeordnet waren »Kosmos und Pluriversum der Sterne«, »Im Rausch der Arbeit«, »Ernstfall Liebe« und der »Ernstfall Krieg«. In die Mitte des Blattes schrieb er »Artistik versus Bodenhaftung«, »Unterscheidungsvermögen«, »Fliegerbombe in Vitrine« und vieles mehr. Damit fing es an. Kluge übernahm das Prinzip Raum in sein Werk. Genauer wurde der Raum zur Voraussetzung der noch zu produzierenden Arbeiten. Es wurden fünf Räume, dann sechs und letztlich sieben Räume und es gab auch einen achten Raum, dieser blieb aber aus Platzmangel unrealisiert, deswegen aber nicht weniger wichtig. Kluge sprach von einem gemeinsamen Subtext aller Räume und einer in der Tonlage gleichbleibenden emotionalen Ansprache der Besucher*innen. Die neue Öffentlichkeit – die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung – hat Kluge von Beginn an mitgedacht. Sein besonderes Anliegen war es, die roten Fäden seines Werkes in der Ausstellung sichtbar zu machen. Denn Kluges Werk ist zwar plurimedial und universell, aber es ist auch in sich geschlossen. Es ist extrem anschlussfähig und seine Offenheit lebt aus dem gekonnten Wechsel zwischen Kürze und Fülle, welcher zahlreiche Öffnungen und Schlupflöcher für Betrachter*in und Leser*in bereithält. Man denke an die umfangreichen Bücher voller Kurzgeschichten, die stundenlangen Filme auf DVD, die Minutenfilme, an die scheinbare Unbegrenztheit der dctp-Webseite oder an wiederkehrende Aphorismen wie »Die Vernunft ist ein Balance-Tier« oder »Die gescheiterte Hoffnung«. Die Herausforderung lag nun darin, Themen und Pfade in die Gehege zu setzen, welche die Wände der einzelnen Räume umschließen und einen Saal zum anderen führen. Die für Kluge charakteristische Materialfülle und Multiperspektivität und auch das Moment des Unabgeschlossenen, der ständigen Ausdehnung und des Ausschnitthaften sollte im räumlichen Parcours erhalten bleiben, obwohl er Grenzen setzt. Ein Balanceakt. Fast beiläufig erwähnte Alexander Kluge die Arbeit an einem anderen Ausstellungsprojekt. In der Fondazione Prada in Venedig entstand eine wunderbare Ausstellung zusammen mit Thomas Demand und Anna Viebrock, kuratiert von Udo Kittelmann. Wie in einem Kaleidoskop setzen sich darin die Fotografien und Filme von Thomas Demand, die Architekturen von Anna Viebrock und die Filme von Alexander Kluge in den imposanten Räumen eines venezianischen Palazzos zu einem stimmigen Gesamtkunstwerk zusammen. Kluge war hier vor

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Eine Flaschenpost von Alexander Kluge: Protokoll einer Ausstellung Kosmos und „Pluriversum der Sterne“

„Im Rausch der Arbeit“ - Bilder aus der Vergangenheit der Industrie - Kartographierung der Welt mit Silicon Valley als Mittelpunkt (Zerrspiegel) - 1m² in der Mitte Afrikas („Wo mein Urahn herkommt“)

Artistik versus Bodenhaftung Menschen hausen in ihren Lebensläufen. Sie sind Eigentümer ihrer Lebenszeit. Lebenszeit als Währung, wenn sich einer dem Internet widmet. Schenken von Lebenszeit in einer Gesellschaft, die auf der „Gabe“ von Marcel Mauss beruht, in der Liebe. In der Musik, Im Ernstfall (Krieg oder bei Rettung, dessen was ich liebe).

Vitrine mit einer Fliegerbombe - Die Bombenräumer im Keller FILM - Die Bombe als Pflug FILM - „The sky stops painting and starts criticism“ Text als Plakat - „Häuschen“ versus Bombe

Vitrine von Anselm Kiefer „Hirnhäuslein“

Unterscheidungsvermögen kalt/heiss, Nähe/Ferne, Teleskop/Mikroskop, ruhig/in Gefahr, oben/unten

Ernstfall Liebe

Ernstfall Krieg „Es kommt auf die Sekunde an, bei einer schönen Frau“ „Die Wahrheit ist Äonen alt“

Abb. 1: Schema zu Saal 2 von Alexander Kluge.

allem als Filmemacher präsent.2 Erst nach der Eröffnung von The Boat Is Leaking. The Captain Lied Mitte Mai 2017 kam unser Ausstellungsprojekt in die entscheidende Phase. Wir arbeiteten nun mit einem 3D-Programm, um jeden einzelnen Raum vorab mit allen Details zu visualisieren (Abb. 2). Doch dann geschah etwas Einschneidendes: Seine Schwester Alexandra Kluge starb am 11. Juni. Nicht, dass sie zuvor nicht präsent in der Ausstellung gewesen wäre, doch jetzt – so zumindest mein Eindruck – wurde sie zum Ankerpunkt. »Sie war die Dichterin, ich ihr Schreiber«, erklärte Kluge. Am Ende der Ausstellung platzierten wir ein Bild von Alexandra und Alexander Kluge bei den Dreharbeiten zu Abschied von gestern (BRD 1966, Abb. 3), in der Nähe war der ganz neu

2 Es sollten viele weitere Ausstellungsprojekte folgen. Das Museum Folkwang konnte das 21er Haus des Belvedere in Wien für eine Kooperation gewinnen, wo die Ausstellung in neuer Form vom 06.06.–30. 09. 2018 gezeigt wurde. Vgl. zu Kluges Ausstellungstätigkeit auch Lilian Haberer, »Movement as driving element and Mode of Reflection in Alexander Kluge’s cooperations with Female Artists«, in: Richard Langston et al. (Hg.), Alexander-Kluge-Jahrbuch 6. The Poetic Power of Theory, Göttingen 2019, S. 273–290. Zu ergänzen wäre, dass Kluge im Haus der Kunst bereits 2007 die Mehrfachbilder für 5 Projektionen (für Hans Richter) gezeigt hat und seit 2017 jedes Jahr neue Ausstellungsprojekte hinzukommen. Darunter sind die Ausstellungen Pluriversum im Filmmuseum München, Die Macht der Musik. Die Oper – Tempel der Ernsthaftigkeit im Museum Ulm, Gärten der Kooperation im Württembergischen Kunstverein Stuttgart.

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von Kluge produzierte Film Für meine Schwester zu sehen, und auf der letzten Seite der Publikation zur Ausstellung setzte Kluge ein Bild von Alexandra.

Abb. 2: 3D-Simualtion für Saal 3 © Mia Boysen.

Abb. 3: Installationsansicht Saal 6, Alexander Kluge – Pluriversum, Museum Folkwang. © Museum Folkwang, Essen, Foto: Jens Nober.

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Aber fangen wir von vorne an: Die Ausstellung hat genau genommen eine Vielzahl von Anfängen.3 Einer davon ist die Flaschenpost, deren Botschaft Kluge kurz vor der Eröffnung auf ein Stück Papier schrieb, zusammenrollte, in die von uns beschaffte durchsichtige Flasche legte und versiegelte. Ich weiß bis heute nicht, was darin steht. Aber das scheint auch nicht von entscheidender Bedeutung. Die Flaschenpost als Denkfigur verweist auf die Ausstellung selbst. Die Besucher*innen nehmen wahr, betrachten und lesen, was Kluge ihnen überlassen hat. Damit definiert Kluge die Kommunikationsform der Ausstellung, zeigt seine eigene Abwesenheit und die Nachträglichkeit der Rezeption an und auch, dass er die Ansprache der Besucher*innen im Blick hatte beim Einrichten der Räume.4 Schließlich geht es Kluge stets um eine Öffentlichkeit und den Austausch mit dieser. Das war auch einer der Gründe warum von Beginn an klar war, dass wir die Ausstellung durch ein umfangreiches Bühnenprogramm ergänzen werden. Mit dem musealen Ausstellungsformat erreichte Kluge eine neue Öffentlichkeit und das auf gänzlich neue Art und Weise. Kluge »zeigte« sich im ersten Ausstellungsraum zudem als Arachne, die unermüdliche Weberin aus der griechischen Mythologie. Der Film Arachne, die Spinne präsentiert die Methode seiner Arbeit, das Weben, das Spinnen, das Verknüpfen und vielleicht auch das Einverleiben, um der Vergangenheit das Verständnis für die Gegenwart abzuringen. Umgeben wurden diese beiden Setzungen von einer wandfüllenden Sternenkarte. Dieser erste Raum mit Begriffen war zunächst von mir als kuratorischer Einführungsraum gedacht, doch Kluge nahm das selbst in die Hand. Genauer handelte es sich schließlich um einen Sternenhimmel der Begriffe in einer Konstellation. »Die pffiffiffiffiffiffiffi Philosophie der Fußsohle«, »Hautnähe«, »Strategie von unten«, » !1« und die »Öffentlichkeit« sind nur einige daraus. So bot sich über die Begriffe ein Blick in das Kluge-Universum und zugleich waren dies die roten Fäden, welche die Besucher*innen aufnehmen konnten, um sie im Parcours weiterzuverfolgen. Sie selbst agierten wie Arachne, die Spinne. Wie elementar die Kommunikation mit den Rezipient*innen für Kluges Werk seit jeher ist, zeigt beispielsweise schon ein Hinweis im Vorwort zu Geschichte und Eigensinn: »Vom Leser wird bei diesem Buch Eigeninteresse erwartet, indem er sich die Passagen und Kapitel heraussucht, die mit seinem Leben zu tun haben. […] Mehr als die Chance, sich selbstständig zu verhalten, gibt kein Buch.«5 Die Ausstellung gibt diese Möglichkeit in besonderem Sinne, in ihr sind die Dinge zwar fest verortet, aber sie treffen körperlich auf die Besucher*innen, die sich ihren eigenen Weg suchen 3 Vgl. dazu die Raumliste am Ende dieses Textes. 4 Kluge hat in einem Interview geäußert, dass ihn insbesondere »die umgekehrte Flaschenpost, sozusagen das Flaschenecho« interessiere, dies könnte die Reaktion der Ausstellungsbesucher sein. Richard Langston, »›Das ist die umgekehrte Flaschenpost‹«, S. 50. 5 Oskar Negt/Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Bd. I: Geschichtliche Organisation der Arbeitsvermögen, Göttingen 2016 [Orig. 1981], S. 9.

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und ihre Verweildauer selbst bestimmen. Eigens für die Ausstellung stellte Kluge auf meine Anregung kurze Texte und Bilder zusammen, die wir als Plakate drucken ließen. Auf dem ersten hieß es ganz direkt: »Wo Du nicht lieben kannst, da gehe vorüber«. Frei nach Friedrich Nietzsche liegt hier auch ein Kern der Produktion und Rezeption von Ausstellungen, sind es doch zugleich körperliche Konfrontationen und Angebote, die darauf warten, im Gegenüber lebendig zu werden. Den Besucher*innen begegnen als nächstes – und wir befinden uns noch bei einem weiteren Anfang – zwei Bilder von Paul Klee: Angelus Novus (1920) und Stachel, der Clown (1931, Abb. 4). Wer kennt Angelus Novus nicht, aber wer hat das Bild, welches grundsätzlich nicht mehr verliehen wird, je im Original gesehen? Walter Benjamins Ausführungen zum Bild sind untrennbar mit dessen Popularität und letztlich auch seiner Bedeutung verbunden. Man könnte es als eine visuelle Denkfigur bezeichnen, tief im kollektiven Gedächtnis verankert. Zwar hat Kluge die Provenienzgeschichte des Bildes nie erwähnt, aber sie hängt mit seiner eigenen und der deutschen Geschichte eng zusammen, ist es doch bekanntlich von seinem ersten Besitzer, Walter Benjamin, an Theodor W. Adorno gegangen, der es, wie in Benjamins Testament vermerkt, an Gershom Scholem weitergab, dessen Erben es schließlich an das Israel Museum in Jerusalem schenkten. Da es aufgrund seiner Fragilität nicht mehr verliehen werden kann, zeigten wir in der Ausstellung den Ausdruck einer Fotografie des Bildes. Daneben hing Stachel, der Clown als originale Lithografie aus dem Besitz von Alexander Kluge. Als rein kuratorische Entscheidung wäre dies schwer zu argumentieren, umso mehr zeugen beide vom Bildverständnis Kluges. Darin geht es nicht um die Frage einer Gleichwertigkeit oder um die Materialität, sondern primär um die mit dem Bild verbundenen Ideen, die Ideen von Klee, diejenigen von Benjamin und seine eigenen. So ist es Kluge wichtig, dem ernsthaften Angelus Novus mit seinem fatalen Gegenwartsbegriff einen Mit- und Gegenspieler an die Seite zu stellen: den praktisch veranlagten und stets vergnügten Stachel. Würden diese beiden so verschiedenen Wesen zusammenarbeiten, wären sie in der Lage, etwas Bedeutendes zu schaffen, so Kluges These. Damit stellte Kluge an diesen vielleicht letzten Anfang der Ausstellung eine Kooperation, diejenige der beiden Figuren sowie seine eigene mit Paul Klee und damit das Zusammendenken mit anderen, und nicht zuletzt das Zusammendenken von Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Die Einbeziehung von Bildern, von Fotografien, Kunstwerken und vielem mehr ist dabei keineswegs ein Novum in Kluges Œuvre. So befindet sich, um bei Geschichte und Eigensinn zu bleiben, eine Seite weiter das Foto einer jungen Frau und daneben eine Wiedergabe der Augenbewegungen mit welchen das Bild von einer Versuchsperson abgetastet worden ist (Abb. 5).6 Dabei

6 Es handelt sich um eine Versuchsanordnung von Yarbus, die in »Eye-movements and Vision«

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entsteht der Eindruck, die betrachtende Person zeichne das Bild mit den Augen nach, es entsteht beim Wahrnehmen als Skizze noch einmal. Überträgt man dieses Prinzip auf die Ausstellungsräume, so werden aus ihren Konstellationen Netze, je eigene, aber welche mit Schwerpunkten und eher beiläufig Erfahrenem. Daraus ließe sich ableiten, dass die Bewegung des Denkens den Ausschlag im Werk Kluges gibt, des eigenen Denkens, aber mehr noch des Lesenden und Betrachtenden. Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass für dieses Denken die Verbindung zwischen Intellekt und Gefühl wesentlich ist. Jedes Steinchen, jeder Stern und jede Scherbe liegt bereit zur Verknüpfung. Im bereits erwähnten Saal 2, Die Lebenszeit als Währung, gab es die drei großen Projektionen Arbeit. Anti-Arbeit, Industrie 4.0, Chronik / ›Lebenszeit‹ und Blick in den Abgrund der Sterne, ein Triptychon auf drei Monitoren mit Nachricht vom Tausendfüßler (Liebe), Nachricht von ruhigen Momenten und Ernstfall Krieg, dazu ein Textplakat zur Lebenszeit und eines zum Balanceakt, mit Klees Seiltänzer aus dem Jahr 1923, sowie Objekte, deren Status gleichermaßen ungewöhnlich wie ungeklärt ist, die Kluge aber ganz selbstverständlich in den Raum integriert hat: eine Fliegerbombe aus dem 2. Weltkrieg, eine Geburtszange, ein Fernrohr, eine Lupe und ein Teleskop (Abb. 6). Sie waren wie die Dreh- und Angelpunkte im Netz des Raumgefüges, an ihnen kreuzten und bündelten sich die Erzähl- und Bedeutungsstränge. Die Filme verband zudem ein Rhythmus sowie das Zusammenspiel und die Kontraste zwischen den Äonen der Erdgeschichte, den Weiten des Alls, über die Arbeitswelten bis hin zu Einzelschicksalen: der letzte Sonnenaufgang, den eine sterbende Frau im Krankenhaus erlebt oder der Moment, in dem Kluges Vater über einen Pflasterstein stürzte – ein fataler Unfall, von dem er sich nicht mehr erholen wird – oder die Geschichte eines Majors, der im Kessel von Stalingrad festsitzt und dessen Versuch, »Geld gegen Rettung« einzutauschen, er mit dem Leben bezahlt. Das Größte und das Kleinste treten in einen Zusammenhang rund um Geburt, Arbeit, Krieg, Liebe, die Erde, das All, Ruhe und Tod. Im Parcours folgte das sogenannte Arbeitszimmer, gewidmet Kluges zwei Leidenschaften: der Literatur und dem Film. Hier waren zahlreiche Publikationen von Kluge selbst und seinen literarischen Bezugspunkten zu finden, eine Bibliothek zur Einsicht und Vertiefung für die Besucher*innen (Abb. 7), zudem zwei Pinnwände voller gesammelter Materialien zur Neuschreibung von Benjamins Passagenarbeit und der Neuverfilmung von Kubricks nie fertig gestelltem Napoleonfilm. Kluge selbst steht im Austausch mit seinen Zeitgenoss*innen, aber ganz selbstverständlich auch mit Walter Benjamin, Aby Warburg oder Sergej Eisenstein, und regte dazu auch die Besucher*innen an.

1967 veröffentlicht worden war. Vgl. Oskar Negt/Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Bd. I, S. 11.

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Abb. 4: Installationsansicht Saal 2, Alexander Kluge – Pluriversum, Museum Folkwang. © Museum Folkwang, Essen, Foto: Jens Nober.

Abb. 5: Aus Geschichte und Eigensinn.

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Abb. 6: Installationsansicht Saal 2, Alexander Kluge – Pluriversum, Museum Folkwang. © Museum Folkwang, Essen, Foto: Jens Nober.

Abb. 7: Installationsansicht Saal 3, Alexander Kluge – Pluriversum, Museum Folkwang. © Museum Folkwang, Essen, Foto: Jens Nober.

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Wesentlich ist in diesem Raum der Status des Prozesses, der fortwährenden Entstehung und der Unabgeschlossenheit – auf der Ebene der Inspiration und Vorlage, der skizzenhaften Materialisierung in der Ausstellung und dem aktuellen Stand der Projekte. Die unrealisierten Projekte, die Fragmente und Bruchstücke sind vielleicht das Eigentliche im »Kaleidoskop Kluge«.7 In Saal 4 Archiv – das Gedächtnis der Bilder wurde das Nachleben der Bilder erfahrbar, die ebenfalls einem ständigen Neubetrachtungs- und Neuverwendungsprozess unterworfen sind – wie Kluges erstmals in Auszügen der Öffentlichkeit präsentierter Atlas, eine Filmbildsammlung von insgesamt 234 mal 90 Minuten aus den Jahren 1985 bis 2004, ein schier unerschöpfliches Reservoir, welches zum Kern der Arbeitsweise Kluges führt. In Saal 5 dann das Pluriversum der Bilder mit den Mehrfachbilder(n) für 5 Projektoren, das Herzstück der Ausstellung mit großen Projektionen an allen vier Wänden und einer fünften an der Decke (Abb. 8). Prismatisch öffnen sich die Themen vom leise fallenden Regen, der Frankfurter Skyline, schwebenden Zeppelinen, chaotischem Kriegsgeschehen und bedrohlichen Feuerstürmen, singenden Walen, wankenden Elefanten, politischen Akteur*innen wie Angela Merkel und Donald Trump und vielem mehr. Die Filme für diese Konstellation entstanden, wie alle der Ausstellung, zwischen Juni und September 2017, buchstäblich bis zum Tag vor der Eröffnung, unter Verwendung von vorhandenen Bausteinen, aber auch mit ganz neuem Material und neuen Bezugspunkten. Alexander Kluge produzierte schneller, als ich die Filme ansehen konnte, und so war bei der Eröffnung ein Film zu sehen, den aus dem kuratorischen Team des Museums niemand zuvor gesehen hatte, war er doch erst am Abend zuvor fertig geworden. Ohne Kluges professionelle und auf Spontaneität eingestellte Mitarbeiter*innen von dctp wäre diese Form der Umsetzung bis zur letzten Minute nicht denkbar gewesen. Beispielhaft für die Struktur der Entstehung der Ausstellung ist auch die folgende Begebenheit: Jan Wenzel vom Verlag Spector Books, der sich begeistert der Umsetzung des Kataloges annahm, reagierte auf unseren Wunsch, Bilder und Texte auf besonders enge und komplexe Weise im Buch zu verknüpfen mit einem Layout, welches sich auf László Moholy-Nagys legendäres Buch Dynamik der Großstadt von 1925 bezog und verschiedene Bilderfolgen und Textebenen parallel verschränkte (Abb. 9–10). Daraufhin durchsuchte ich die Sammlung des Museum Folkwang nicht mehr nur nach Paul Klee, sondern auch nach Moholy-Nagy, und die wunderbare Mehrfachbelichtung Ohne Titel (Multiples Portrait) von 1927 verabschiedete letztlich die Besucher*innen am Ausgang der Mehrfachprojektion, in deren Bilderfolgen MoholyNagy ebenfalls motivisch Einzug hielt. Diese Offenheit und Varianz ist prägend 7 Der vollständige Titel der Publikation von Christoph Streckhardt lautet Kaleidoskop Kluge. Alexander Kluges Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln, Tübingen 2016.

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für die Ausstellung. Reaktion und Gegenreaktion waren das Prinzip ihrer Entstehung. Im Parcours folgte der sechste Saal Uns trennt kein Abgrund von gestern, sondern die veränderte Lage mit acht Tablets für besonders Interessierte, wie Kluge sich ausdrückte: darauf eine Hommage an Alexandra, ein Gespräch mit Heiner Müller, Helge Schneider als Kriegsminister im Schlafanzug und mehr, dazu eine Vitrine mit Anselm Kiefers sogenannten »Elefantenhäuten«, die Kluge für seine Filme als Material und Linse verwendet hat, und ein Monitor mit einer filmischen Hommage an DAS INSTITUT, einer Künstlerinnenkooperation von Adele Röder und Kerstin Brätsch. In der Nähe hingen zwei Glastafeln von Kerstin Brätsch, die sie ihm als Arbeitsmaterial zur Verfügung gestellt hatte. Kluge hat durch sie hindurchgefilmt wie schon durch Kiefers Elefantenhäute. Das Sehen und Wahrnehmen durch andere und anderes ist auch am Ende der Ausstellung zentral, nun aber bei den Zeitgenoss*innen angekommen. In der Mitte des Raumes stand ein einfaches Haus mit einer übergroßen Tür – die alte Holztür aus dem Internet wurde vom kuratorischen Team gesucht und das weiß gestrichene Häuschen sogar von uns entworfen, es ging hier ums Prinzip, nicht ums Detail. Im Inneren dieses Märchenhauses saß Kluge bis zur Begehung der Journalist*innen am 14. September 2017 um 10 Uhr und hat Märchenbilder und -geschichten ausgesucht, in Konstellation gebracht und deren Fixierung angeleitet (Abb. 11). Kluge wurde durch die Journalist*innen regelrecht unterbrochen, nur – so schien es – um bei nächster Gelegenheit die Fäden wieder aufzunehmen. Wären sie Tage später gekommen, hätten wir die Ausstellung weiter und immer weiter bearbeitet. Ein Ausblick und Endpunkt dieses letzten Raums mit passenderweise gleich vier Ausgängen war ein Monitor mit Zugang zur Webseite von dctp, dem schier unerschöpflichen Reservoir an Filmproduktionen, welches stetig weiterwächst. Es ist dies der virtuelle Weg aus dem Museum, der zeigte, es gibt kein Ende bei Kluge, das nächste Projekt wartet schon. Die Arbeit an Kluges fluidem Material ist ebenso wenig abschließbar wie seine Denkbewegungen. Alles bleibt im Prozess. Einen Tag nach der Eröffnung erschien eine Rezension zur Ausstellung mit dem Schlusssatz: »Vielleicht wird man diese Schau in 100 Jahren als Klassiker exakt wieder nachzubauen versuchen und sagen: So war die Welt, so wird sie sein. Mag aber auch sein, dass alles schon längst vergessen ist. Kluges pulsierendes Pluriversum ist vielfältig genug, beides für möglich zu halten.«8

8 Lothar Schröder, »Ein Museum wird Zukunftswerkstatt«, in: Rheinische Post, 15. September 2017, verfügbar unter: https://rp-online.de/kultur/ein-museum-wird-zukunftswerkstatt_aid18000049 [12. 11. 2020].

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Abb. 8: Installationsansicht Saal 5, Alexander Kluge – Pluriversum, Museum Folkwang. © Museum Folkwang, Essen, Foto: Jens Nober.

Abb. 9: Publikation zur Ausstellung, erschienen bei Spector Books, Leipzig 2017.

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Abb. 10: Publikation zur Ausstellung, erschienen bei Spector Books, Leipzig 2017.

Abb. 11: Installationsansicht Saal 6, Alexander Kluge – Pluriversum, Museum Folkwang. © Museum Folkwang, Essen, Foto: Jens Nober.

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Alexander Kluge Pluriversum Museum Folkwang, Essen 15. 09. 2017–07. 01. 2018 Filmraum im Foyer Brutalität in Stein, 1960/61 zusammen mit Peter Schamoni, ergänzt 2017 um aktuelle Aufnahmen des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg, 11′14″, HD-Film (alle folgenden sind ebenfalls HD-Filme, wenn nicht anders benannt), Textplakat Das Versteck des Gewissens, Thomas Thiede Was kann man machen, außer das (zu einem Projekt von Alexander Kluge), 2017 aus dem Besitz von Alexander Kluge Audioinstallationen im Foyer Als ich einmal reiste (Ton aus VariaVision von Edgar Reitz), 1962, Audio, 15′14″, Planetenabstände / mit dem Schweizer Astrophysiker Simon Bruderer, 2013, Audio, 2′16″, Was Einstein nicht wusste / mit dem Physiker Reinhard Dörner, 2014, Audio, 4′50″ Saal 1 Sternenkarte der Begriffe Arachne, die Spinne, 9′35″, Flaschenpost, Textplakat Wenn du nicht lieben kannst, dann gehe vorüber Saal 2 Die Lebenszeit als Währung Paul Klee Angelus Novus 1920, Reproduktion, Paul Klee Stachel, der Clown, 1931, Lithografie aus dem Besitz von Alexander Kluge, Arbeit. Anti-Arbeit, Industrie 4.0, Chronik / ›Lebenszeit‹ bestehend aus: Vom ›Urmeer‹ bis heute, 2′50″, Chronik einer Sekunde, 3′20″, Dem Leben bin ich auserkoren, 7′16″, Die Bombenräumer im Keller, 5′11″, Regeln für das Weinen, 4′5″, Jetzt arbeitslos warst Du einmal der Zeiten Kind (Die Vernunft), 3′33″, Projektion, Blick in den Abgrund der Sterne, 25′5″, Projektion, Paul Klee Seiltänzer, 1923, Lithografie aus der Sammlung des Museum Folkwang, Triptychon auf drei Monitoren: Nachricht vom Tausendfüßler (Liebe), 38′7″, Nachricht von ruhigen Momenten, 25′ und Ernstfall Krieg, 25′1″, Text-Bildplakat Lebenszeit, Text-Bildplakat Balanceakt, Fliegerbombe aus dem 2. Weltkrieg aus der Sammlung des Ruhrmuseums, Geburtszange, Fernrohr, Lupe, Teleskop Saal 3 Arbeitszimmer Bibliothek mit Büchern und Filmen von Alexander Kluge und Grundlagentexten, die Kluge als Bezugspunkt dienen (von Walter Benjamin, Karl Marx und vielen anderen), Filmkamera aus dem Besitz von Kluge, Grass-Valley-300-Mischer (Bearbeitungsgerät für Bewegtbild), Filmdosen, 3 historische Kluge-Filmplakate,

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3 Textplakate, Rede auf Hans Richter, 2006, 6′25″ in Vitrine mit Dokumenten aus Kluges Archiv, darunter die Erstausgabe von Geschichte und Eigensinn, ein Notizbuch vom 11. 05. 2004, Filmstills aus Wer immer hofft, stirbt singend, aus dem Magazin des Glücks, 2007, Salzburg, Manuskriptheft, 1977, 4 Zeitschriften Facts&Fakes, Plakat U-Bahnplan der Künste und Begriffe, Thomas Thiede Lampenschirm, 2017, aus dem Besitz von Alexander Kluge, Pinnwand zum nicht realisierten Projekt mit Helmut Dietl zur Weiterführung von Stanley Kubricks unvollendetem Napoleon-Film, Napoleon-Kubrick-Projekt, Audio, 16′35″, Napoleon-Kubrick-Projekt, 16′04″, Pinnwand zur Neuschreibung von Walter Benjamins Passagenwerk für das 21. Jahrhundert, Lampe aus dem Arbeitszimmer von Alexander Kluge Saal 4 Archiv – das Gedächtnis der Bilder Thomas Demand Backyard, 2014, C-Print / Diasec, aus dem Besitz von Thomas Demand, Paul Klee Die Hexe mit dem Kamm, 1922, Lithografie aus der Sammlung des Museum Folkwang, mit Text zum Bild von Alexander Kluge, Atlas Nr. 1, 30′39″; Atlas Nr. 9, 46′24″; Atlas Nr. 16, 19′10″; Atlas Nr. 100, 23′33″; Atlas Nr. 189, 21′05″, Minutenfilme, 15′57″, Fröhliche Wurzel aus Nicht-Identität / Mit Gerhard Richter, Hans Belting, Werner Nekes, 17′21″, Gegenbilder. Alexander Kluge im Gespräch mit Thomas Demand über dessen neuste Werke, 24″, Mit Menschenhaut knistern / Schöner Mai … zu dem Bild ›Backyard‹ von Thomas Demand, 8′45″, Zwei Kommentare zu einzelnen Bildern aus dem Mnemosyne-Bilderatlas von Aby Warburg / Bild 2B auf Tafel 77 und Bild 11 auf Tafel 57, 12′11″, Reproduktion von Aby Warburgs Tafel 77, Textplakat Nymphe Medea Saal 5 Pluriversum der Bilder Mehrfachbilder(n) für 5 Projektoren: Wie es brannte, wie es rauchte / Tiere im Bombenkrieg; ›Ein Weg hat seine Richtung ganz verloren‹ / 1917–2017; Flüssigmachen; ›Die Utopie wird immer besser während wir auf sie warten‹ / Film für Moholy-Nagy; S.O.S. for Whales / S.O.S. for Whalers!, je 13′30″, Mehrfachbilder für 5 Projektoren, (für Hans Richter), 2006, je 16′23″, täglich um 13 und 17 Uhr, László Moholy-Nagy Ohne Titel (Multiples Portrait), 1927, Mehrfachbelichtung auf Bromsilbergelatine, Vintage Print aus der Sammlung des Museum Folkwang Saal 6 Uns trennt kein Abgrund von gestern, sondern die veränderte Lage Märchenhaus mit übergroßer Tür, darin Märchenbilder und -texte, Textplakat Die Haustür, Textplakat Das Problem des Hauses, Der Mimosentank, 35′32″ zusammen mit der Künstlerin Sarah Morris, Sarah Morris Finite and infinite Games, 2017, Fragmente für DAS INSTITUT / Mit Glastafeln von Kerstin Brätsch und Zeichnungen von Adele Röder, 20′48″, 2 Glastafeln von Kerstin Brätsch Single

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Pages in Glass, 2012–2014, 2 Elefantenhäute von Anselm Kiefer in Vitrine, 8 Tablets mit den Filmen Kriegsminister im Schlafanzug: ratlos. (mit Helge Schneider), 21′08″, Das Auge der Libelle. Ausgewählte, englisch untertitelte Programme aus dctp.tv, Angelika Wittlich, Alle Gefühle glauben an einen glücklichen Ausgang, 2002, 78′18″, Winter of Love. Wintersemester 1968 in Frankfurt am Main, Bilder und Texte von der studentischen Protestbewegung mit Günther Hörmann, 52′6″, Für meine Schwester, 20′33″, Gespräche mit Heiner Müller, 22′51″, Digitaler Zugang zu Alexander Kluge Kulturgeschichte, gemeinsames Projekt der Cornell Universität, Princeton und der Universität Bremen, Die Ziege geht in die Stadt, 1′23″, Wer an die Märchen nicht glaubt, war nie in Not, 5′27″, Die neun Lernschwestern von Chicago, 4′57″, Das eigensinnige Kind. Kürzestes Märchen der Brüder Grimm / Mit Michael Haneke, 2′17″, Monitor mit Zugang zur Dctp-Webseite, Fototapete

André Fischer

Gemeinwesen und Vorstellungskraft. Formen des Gemeinsinns bei Alexander Kluge

Bei Alexander Kluges Geschichten handelt es sich oft um Konstruktionen von Gemeinwesen und die Frage, was diese zusammenhält. Kluges zentrale Kategorie des Zusammenhangs ist in vielen Fällen auch eine Frage nach dem sozialen Zusammenhalt. Die Betonung solcher gesellschaftlicher Kohäsion unterschlägt nicht den Widerspruch, sondern deutet im Gegenteil angesichts unzähliger politischer und gesellschaftlicher Konflikte eine Perspektive an, die auf eine trotz allem bestehende, leidenschaftliche soziale Substanz ausgerichtet ist.1 Eine solche Substanz zeigt sich in ihrer kleinsten gesellschaftlichen Form als Individuum, also als existenzielle und spirituelle Einheit eines gesellschaftlich Unteilbaren. Kluges Umgang mit dem Begriff des Indivuellen sei hier kurz an einer Geschichte exemplarisch verdeutlicht: Ein Individuum, d. h. ein unteilbares Ganzes, seltsame Materie, läuft durch die Stadt. Es geht auf 16 Uhr zu, den Ladenschluß, d. h., die Energien dringen nochmals energisch ins Zentrum der Stadt. Am U-Bahn-Aufstieg üben Pulks junger Männer ihr über die Woche hin angehäuftes Ausdrucksbedürfnis voreinaner aus. Ihre Bewegungen sind raumgreifend, unberechenbar. Ein Einzelner, ein »Ich«, weiß nicht, ob er gegen diesen »Ausdruck«, wenn er gegen ihn anstößt, besteht. Andererseits sind alle diese anderen ebenfalls »unteilbare Republiken«. Noch durchströmt die Masse an Käufern die Verkaufszone. Es ist eine neue Welt, gemessen an den Romanen, die mit dem Satz beginnen könnten: »Mademoiselle M. durchquerte die Rue de St. Honoré, es regnete, sie trug aber keinen Regenschirm bei sich, den sie in dieser Situation gebraucht hätte.« Der Besucher des Stadtzentrums, M., fühlte sich nicht als »Ich«. Er schwitzte in seiner Kleidung. Unteilbar als Person, war er in bezug darauf, daß bestimmte Personen seine Vorfahren waren, individuell bis zum Kosmos hin.2 1 Vgl. Joseph Vogl, »Einleitung – Grenze der Gemeinschaft«, in: ders. (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/M. 1994, S. 7–30, hier S. 7: »Das wahre Überleben beginnt dort, wo die Intrigen der Politik schon zu Ende gekommen sind und ihre Verwalter kapituliert haben, und umgekehrt bestimmt sich das Politische selbst immer wieder von diesem äußersten Ende, von diesem äußersten Anfang her.« 2 Alexander Kluge, Tür an Tür mit einem anderen Leben, Frankfurt/M. 2006, S. 576.

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Das unteilbare Ich, ist immer auch das Produkt eines inneren Gemeinwesens (einer »›unteilbaren Republik‹«) sowie in seinem Wesen unbegrenzt (»unbegrenzt bis zum Kosmos hin«). In diesem Sinne bezieht Kluge die Begriffe des Individuums und des Gemeinwesens dialektisch aufeinander, um Fragen nach der inneren Soziätät des Einzelnen und kollektiver Subjektivität aufzuwerfen. In jenen Geschichten Kluges, die von Individualist_innen und Experten_innen handeln, geht es immer um deren Kämpfe, ihre Vermögen beisammenzuhalten und sich als Einheit, als Individuen zu beweisen. Als Form der Gemeinschaft sind überdies Liebesbeziehungen und deren Stellung zu den gesellschaftlichen Produktions- und Trennungsprozessen wichtig. Welche Formen muss das Gefühl füreinander annehmen, um gegen gewaltsame Trennung anzukommen? Darüber hinaus geht es in Kluges imaginierten Gemeinwesen um die Darstellung komplexer Mannigfaltigkeit einer Gesellschaft, als mit sich selbst identisches Gemeinwesen, also um die Herausbildung eines kollektiven Selbstbewusstseins von Staaten und Gesellschaften. Gegen die sozialen Fliehkräfte und den historischen Sinnentzug gerichtet,3 handeln Kluges Geschichten von aufeinander gerichteten sozialen Vermögen, die gegen allen Widerstand Gemeinwesen erzeugen, die sich nicht teilen lassen. Im Folgenden möchte ich an drei Beispielen des in Kluges Geschichten konstruierten Gemeinsinns aufzeigen, wie dieser die Unterscheidungen zwischen Individuum, Partner_innenschaft und Gemeinschaft unterläuft und in verschiedenen narrativen Konstellationen Wirkungsweisen ein und desselben kooperativen Prinzips darstellt.4

Die Einzelne als Gemeinwesen Der Kern sozialer Gemeinschaften ist in Kluges Geschichten das menschliche Doppelwesen aus Körper und Geist: Das einzige authentische Gemeinwesen, das mir bekannt ist, ist der menschliche Körper, der Leib, die Seele. Sie tragen gewissermaßen eine Verfassung in sich. Die kleinen Zellen marschieren zum Beispiel als Stammzellen in die Nähe der Niere. Wenn sie sozusagen merken, sie sind in der Nähe, dann bilden sie eine Membran. Innen bilden sie Nierenzellen, aber außerhalb der Niere bilden sie keine Niere. Das ist ein Gehorsam 3 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Bd. II: Lebensläufe, Frankfurt/M. 2000, S. 457: »Sinnentzug. Eine gesellschaftliche Situation, in der das kollektive Lebensprogramm von Menschen schneller zerfällt, als die Menschen neue Lebensprogramme produzieren können.« 4 Oskar Negt spricht im Bezug auf seine Philosophie des Gemeinsinns von »zweckgerichteten Kooperationszusammenhängen.« Vgl. Johan F. Hartle im Gespräch mit Oskar Negt: »Kooperationszusammenhänge kritischer Theorie«, in: Zeitschrift für kritische Theorie 24/46–47, 2018, S. 145–165, hier S. 163ff.

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eigenartiger Art, der hochemanzipiert und spontan funktioniert. Wenn die Zellen stürben, würden sie krank. Aber zunächst einmal bildet der Körper, so wie Agrippa es im alten Rom den Plebejern erzählt, das Vorbild eines Gemeinwesens.5

Im Menschen arbeiten verschiedene Vermögen, sie kommunizieren miteinander und bilden in ihrer wechselseitigen Verbundenheit eine Art Gemeinwesen. Wie Kluge in dem kurzen Text »Die Sehnsucht der Zellen« veranschaulicht, sind in den Zellen Naturprozesse gespeichert, welche im Dialog mit der Gattungsgeschichte die Wege des Menschen beeinflussen: Ich habe etwas verloren, dadurch habe ich Sehnsucht. Das setzt den lebendigen Menschen in Gang. Das Leben ist in dieser Hinsicht indirekt und sucht etwas, das verlorenging. Wie man weiß, wiederholen sich die 37 Grad der Urmeere, aus denen wir kommen, verblüffenderweise in unseren Körpern. Auch der Salzgehalt der Urmeere entspricht genau dem Salzgehalt unserer Nieren. Es scheinen in der Entwicklung, in einer enormen Erinnerungsfähigkeit, Glücksmomente verborgen zu sein, die Millionen Jahre zurückliegen, nach denen sich die Zellen zurücksehnen, ohne daß wir davon wissen.6

Durch diese Historizität und Sozietät der biologischen Zellen projiziert Kluge ein utopisches Gesellschaftsmodell in den menschlichen Organismus, in welchem demnach keine Funktions-, sondern Vernunftzusammenhänge wirken. Auf diese anti-rationale Weise, die den biologischen Zellen entgegen jeder wissenschaftlichen Erkenntnis ein rationales Bewusstsein zuschreibt, versucht Kluge Zusammenhänge von äußerem Reiz und Gefühl herzustellen, für welche die Naturwissenschaft nur unzulängliche, beziehungsweise keine anschaulichen Erklärungen bereithält. Um den Zusammenhang von Empfindungen und subjektivem Bewusstsein herzustellen, ist Unterscheidungsvermögen erforderlich, um handlungsfähig zu werden, ist eine Zuspitzung des Gefühls notwendig. Dieser Prozess ist für Kluge wiederum nicht irrational, sondern einzig nützlicher Verstandesgebrauch. »Wenn mit der Gesamtheit des Unterscheidungsvermögens eine Menge an Empfindungen in eine Richtung vereinigt werden und sich auf eine Gesellschaft oder andere Menschen überhaupt beziehen, nennen wir das Gefühl.«7 Gefühl, auch wenn es im Zusammenhang gesellschaftlicher Entfremdung immer entstellt ist, wird, durch das Sensorium vermittelt, im einzelnen menschlichen Organismus produziert. Inwiefern ein Gefühl brauchbar oder schädlich ist, kommt auf den gesellschaftlichen Zusammenhang an, welcher in den meisten Fällen ein Zusammenhang von Gefühlsunterdrückung ist, d. h. Gefühlen werden 5 Rainer Stollmann, Die Entstehung des Schönheitssinnes aus dem Eis. Gespräche über Geschichten mit Alexander Kluge, Berlin 2005, S. 101. 6 Alexander Kluge, Die Kunst, Unterschiede zu machen, Frankfurt/M. 2003, S. 9. 7 Kluge, Die Kunst, Unterschiede zu machen, S. 11f.

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bestimmte gesellschaftliche Orte zugewiesen und andere versagt. Dass Gefühle dennoch existieren und gerade dort besonders energisch insistieren, wo sie unterdrückt werden, ist häufiger Gegenstand von Kluges Erzählungen und Motiv seiner eigensinnigen Protagonist_innen. Das Kapitel »Massensterben in Venedig« der Chronik der Gefühle behandelt die Verhaltensweisen von Individuen in Unterdrückungszusammenhängen. (»Eine Armada erstklassiger Individualisten in einer Zeit kollektiver Kämpfe. ›Man wird am besten für seine Tugenden bestraft.‹«8) Darin präsentiert Kluge ein scheinbares Beispiel für Gefühllosigkeit in der Geschichte der »Bettine G. (Frankfurt/ Kaiserstraße I.)«9 Die Protagonistin Bettine G. geht mit vielen Hoffnungen (reale Erfahrung, beständige Liebe, Loyalität)10 von der Provinz in die Großstadt Frankfurt am Main. Ihre Motive sind abstrakt benannt und Ausdruck eines diffusen Willens zur Veränderung. Da sie keine konkreten Vorstellungen davon hat, wie sich ihr Leben in der Stadt verändern soll, bleibt sie nach ihrer Ankunft im Bahnhofsmilieu und wird Sexarbeiterin. Sie plant diese Tätigkeit etwa zwei Jahre ausüben zu müssen, um mit dem gesparten Geld auswandern zu können. Nach einer ersten kürzeren Haftstrafe wegen Körperverletzung steigt sie wieder in ihr Geschäft ein. Während ihrer Arbeitszeit wird ihre Geldkassette mit dem ersparten Geld aus ihrem Quartier gestohlen. Daraufhin wird sie nach anonymer Anzeige wegen diverser Delikte, die sie nicht begangen hat, zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Sie vermutet den Dieb und den Anzeigeerstatter in ein und derselben Person. In der juristischen Diskussion des Urteils über Bettine G. wird dieser Gefühlsarmut attestiert, welche sich äußere durch eine »gewisse Wertferne, Unfähigkeit, sich für die Schönheiten und Werte des Lebens zu begeistern.«11 Die Bestrafung erfolgt somit vor allem aus pädagogischen Gründen. Für die Richter erscheint die Gefühlslage der Angeklagten unverhältnismäßig, da sie sich ihnen als »mürrische Verhärtung«12 und Interesselosigkeit darstellt. Es geht also nicht um Gefühl als Motiv, sondern als Äußerung. Kluges Verkehrung dieses Zusammenhangs, Gefühle als Motiv und nicht als Effekt von Handlungen darzustellen, läuft der Position der Juristen und der verbreiteten Ansicht zuwider, welche solche Handlungen durch rationale Schlüsse motiviert sehen (möchten). Im Funktionszusammenhang der Sexarbeit handelt Bettine G. durchaus angemessen und rational und bleibt somit im Geschäft. Auch die Hortung des Geldes in einem Pensionszimmer ist höchstens unvorsichtig, aber nicht irrational zu nennen. Ihrem Motiv jedoch, welches sie bereits vom Land in die Stadt trieb und 8 9 10 11 12

Kluge, Chronik der Gefühle: Lebensläufe, S. 456. Ebd., S. 516–523. Vgl. ebd., S. 516. Ebd., S. 521. Ebd.

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in zukünftiger Perspektive in die USA, liegen keine rationalen Vorstellungen zugrunde. Bettine G. handelt zwar zu ihrem persönlichen Vorteil, kann jedoch nicht absehen, worin dieser sich letztlich auszahlen soll, und scheitert somit als Individuum an den Verhältnissen der verwalteten Welt.13 Ihre Tugenden sind ihr Unternehmergeist und ihre Beharrlichkeit bei der Verfolgung ihres Ziels, von dem sie allerdings nichts Genaues weiß. Der Widerspruch, der Bettine G.s Persönlichkeit fragmentiert, liegt einerseits in der gesellschaftlichen Forderung nach Betätigung und Erwerbsarbeit, andererseits in jener nach Begeisterung für die aus dieser Tätigkeit erwachsenden »Schönheiten und Werte des Lebens«.14 Ihr Verhalten ist beiden Forderungen inadäquat, wohingegen das Gefühl, welchem dieses Verhalten entspricht, Bettine G. selbst unbekannt bzw. unbewusst ist. Zu den objektiven Verhältnissen, die sie umgeben, kann kein Gefühl hinzugefügt werden, sondern nur eine Fantasiewirklichkeit, was einer Negation der sie bedrängenden Verhältnisse gleichkommt.15 Die Sehnsucht von ›Bettines Zellen‹ nach einem unbestimmten Glück ist stärker als jedes Gefühl, welches die ereignislose oder repressive Realität ihr abringen könnte.16 Das metaphorische Gemeinwesen ihrer Zellen, welches Empfindungen produziert und diese zu Gefühlen konzentriert, ist inkompatibel mit der äußeren Welt. Um ihre Gefühle mit der Außenwelt in Einklang zu bringen, bedürfte es der Kooperation, etwa in Freund_innenschaften oder Liebesbeziehungen. Als gesellschaftliche Wirklichkeit können Gefühle nur durch solche Kooperation existieren.

13 Vgl. Ulrike Bosse, Alexander Kluge – Formen literarischer Darstellung von Geschichte, Frankfurt/M. 1989, S. 132: »Diese ›Individualisten‹ können keinen Erfolg haben, denn sie kämpfen mit historisch überholten Mitteln. Wie die Schlachtschiffe der ›Armada‹ Phillipps II. in einer neuartigen Kampfsituation den englischen Galeonen gerade aufgrund von Eigenschaften unterlegen waren, die bisher ihren Sieg garantiert hatten, schadet den Figuren der Lernprozesse ein individualistisches Verhalten, das ihnen zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters zum Erfolg verholfen hätte.« 14 Kluge, Chronik der Gefühle: Lebensläufe, S. 521 15 Vgl. Oskar Negt/Alexander Kluge, Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden, Frankfurt/M. 2001, S. 377: »Die Unerträglichkeit der Erfahrung seiner wirklichen Situation produziert beim Proletarier einen Abwehrmechanismus, der das Ich gegen die Erschütterung durch die entfremdete Realität absichert. Da lebendige dialektische Erfahrung diese Realität nicht aushalten könnte, drängt sich ihr bedrückender Teil in die Phantasie.« 16 Vgl. Giorgio Agamben, »Lebens-Form«, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/M. 1994, S. 251–257, hier S. 251f.: »Weil der Mensch potentielles Sein ist, der tun und lassen kann, sein Glück machen oder scheitern, sich verlieren oder finden kann – ist er das einzige Wesen, in dessen Leben es immer um Glückseligkeit geht, dessen Leben unweigerlich und schmerzlich auf Glückseligkeit angewiesen ist. Damit konstituiert sich Lebens-Form unmittelbar als politisches Leben.«

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Gemeinschaft der Gefühle Geglückte Gefühle: Es gibt Glücksfälle in der Geschichte, wo Sie beobachten können, daß die Gefühle sich auch selbst organisieren. Ich kann darüber nur Geschichten erzählen, Geschichten, wo man im unerwartetsten Moment merkt, daß die Gefühle zwischen Menschen ein Gemeinwesen bilden können.17

Das negative Darstellungsprinzip, das sowohl für die Darstellung von Machtstrukturen wie für Strukturen der Gemeinschaft gilt, hat Kluge in einer seiner bekanntesten Geschichten, Ein Liebesversuch,18 beispielhaft umgesetzt. Wie im Fall der Bettine G. die Abwesenheit persönlicher Motive auf die Fragmentierung des ganzheitlichen Individuums in der modernen Industriegesellschaft verweist, zeigt sich in dieser Erzählung die ins Extrem getriebene Zerstörung emotionaler Kommunikation. Der Text ist ein Bericht eines anonymen Mediziners über den erfolglosen Versuch, zwei durch Röntgenbestrahlung sterilisierte Häftlinge eines Konzentrationslagers zum Beischlaf zu zwingen. Unter den gegebenen unmenschlichen Bedingungen ist es den beiden Häftlingen, welche sich tatsächlich lieben, nicht möglich ihre Liebesbeziehung zu führen. Sie weigern sich und werden nach Abbruch des Versuchs erschossen.19 Das Motiv der Kälte, das besonders für Kluges Liebesprosa signifikant ist, ist im Liebesversuch aufs Äußerste gesteigert. Es hält dort den Platz, wo Liebe nur durch ihre Abwesenheit erscheint.20 Wie Stefanie Carp festgestellt hat, ist der Begriff dieser absenten Liebe ein höchst emphatischer und romantischer.21 Dieser Begriff erhält sich bis in die jüngeren Arbeiten Kluges, in denen jedoch die Negativität in der Darstellung zurückgenommen wird.22 17 Kluge, Die Kunst, Unterschiede zu machen, S. 87. 18 Der Text ist Teil von Kluges erstem Erzählband Lebensläufe (1962) und nimmt in diesem eine Sonderstellung ein, da sich die Darstellung ausschließlich auf das Experiment im Konzentrationslager beschränkt. Die Biografien der beiden Häftlinge werden lediglich in einem kurzen Abriss vorgestellt. Vgl. Kluge, Chronik der Gefühle: Lebensläufe, S. 770ff. 19 Vgl. Christian Schulte, »Alexander Kluge: Ein Liebesversuch,« in: Werner Bellmann (Hg.), Klassische Deutsche Kurzgeschichten – Interpretationen, Stuttgart 2003, S. 252: »Wie bereits im Titel der Geschichte angedeutet, läßt Kluge in der entmenschlichenden Realität des Konzentrationslagers zwei Erfahrungsdimensionen aufeinandertreffen, die keinerlei Zusammenhang bilden können. Die private Liebesbeziehung der Opfer soll – im pervertierten Liebesverständnis der KZ-Funktionäre – unter den instrumentellen Bedingungen einer Versuchsanordnung fortgesetzt werden.« 20 Vgl. Stefanie Carp, »Wer Liebe Arbeit nennt hat Glück gehabt – Zu Alexander Kluges Liebesprosa«, in: Thomas Böhm-Christl (Hg.), Alexander Kluge, Frankfurt/M. 1983, S. 190–211, hier S. 206: »Die Liebe ist in Kluges Geschichten als Abwesende vorhanden. Dieses Abwesende wird romantisch besetzt. Kluge muß immer neue Bildchen produzieren, um auf dieses Abwesende als latent Anwesendes hinzuweisen.« 21 Vgl. ebd., S. 208. 22 Die Entwicklung der Kluge’schen Poetik hat sich v. a. Ulrike Bosse in ihrer Untersuchung als These zu eigen gemacht. Bis in die jüngsten Erzählungen kann man diese Entwicklung

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Der Text »Das Gesetz der Liebe«23 handelt von der Gutsbesitzerin Sidonie Oltrup, die ihren Mann, Baron Schlüters, im Dritten Nordischen Krieg24 verliert und sich daraufhin neu verliebt. Der Gutsnachbar, zu dem sie zunächst Vertrauen fasst und »den sie lieben lernte«,25 hat mit ihr bereits sieben Jahre Gemeinsamkeit verbracht und zwei Kinder gezeugt, als der von der Komtesse nie geschiedene erste Ehemann aus dem Krieg zurückkehrt. Ihr Schicksal versuchen sie als ein »GEMEINSAMES« zu begreifen und in dieser Gemeinsamkeit zu tragen: Daß ein Mensch seine Liebesfähigkeit so einrichtet, daß sein Verhalten Gegenstand einer öffentlichen Gesetzgebung sein könnte, darin war Sidonie sich gewiß. Und Gewißheit heißt, daß eine innere Überzeugung von denjenigen, die ich liebe, geteilt wird und die Haltung auch meinen Vorfahren gefiele, so daß ich sie stets öffentlich äußern könnte, auch wenn ich im Herzen selbst mit mir streite.26

Man kann an dieser Stelle auf die ›Sehnsucht der Zellen‹ verweisen, die sich hier über die Grenzen des einzelnen Organismus hinweg zu Gemeinwesen zusammenschließen. Liebe wird in dieser Form nach wie vor brüchig dargestellt, doch wird die Möglichkeit offengelassen, diese Brüche etwa durch zärtliche Anziehungskräfte der Zellen oder emotionales Arbeitsvermögen operativ zu schließen. Das allgemeine Gesetz besteht darin, dass kein Liebender nicht zurück geliebt wird; d. h. es besteht eine Art Erwiderungspflicht. Angesichts dessen müssen jedoch Ansprüche auf ausschließliche Verfügung über den_die Geliebte_n zurückgenommen werden.27 Der äußere Konflikt, der hier umgangen wird, verlegt

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nachverfolgen, wobei sich nach meiner Ansicht Kluges Poetik als durchaus flexibles Netz mit einigen allerdings festen Verknüpfungen präsentiert. Vgl. Bosse, Alexander Kluge – Formen literarischer Darstellung von Geschichte, S. 3: »Kluges Formen der literarischen Darstellung von Geschichte ändern sich von den Anfängen seiner literarischen Produktion in den 60er Jahren bis zur Patriotin (1979) und darüber hinaus: eine Entwicklung, die – analog zu Koselleck – Ausdruck eines sich verändernden Geschichtsbildes sein muß. Diese Entwicklung der literarischen Formen wie die zugrundeliegenden Haltungen Kluges gegenüber der historischen Realität anhand von Einzeluntersuchungen zu Kluges literarischer ›Geschichtsschreibung‹ nachzuzeichnen, hat die vorliegende Arbeit sich vorgenommen.« Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt. Im Umfeld des neuen Jahrhunderts, Frankfurt/ M. 2003, S. 15ff. Der Große bzw. Dritte Nordische Krieg dauerte von 1700 bis 1721 und ereignete sich demnach vor der Geburt der Protagonistin der Erzählung Sidonie Oltrup im Jahre 1735. Es ist nicht ganz klar, ob diese Abweichung von der Ereignisgeschichte intendiert ist. Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt, S. 15. Ebd., S. 15f. Vgl. Vogl, »Einleitung – Grenze der Gemeinschaft«, S. 13f.: »Jeder handelt so, als ob er der andere seiner selbst wäre; was der eine denkt, hat der andere schon gedacht, und die Voraussetzung für die gemeinsame vertragliche Übereinkunft ist daher eine Art Nicht-Kommunikation. […] Von dieser Spiegelung, von dieser Nicht-Kommunikation zehrt das Gemeinsame, das sich in den Institutionen speichert und nun nichts anderes vertritt als den Solipsismus, den der vertragliche Urzustand in logischer Hinsicht verlangt.«

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sich in einer protestantischen Geste nach innen. Das Liebesverhältnis, das in diesem Fall drei Personen in Beziehung setzt, wird per Gesetz als Gemeinwesen installiert und nicht als Machtkonflikt ausgetragen, in welchem jede der beteiligten Parteien um ihr individuelles Recht kämpft. Dass das Gesetz von der zweifach Geliebten Komtesse Oltrup formuliert wird, und nicht etwa von einem der beiden Ehemänner, zeigt allerdings die Stellung an, von der aus ein solches Gesetz gegeben werden kann. Auch in diesem Gemeinwesen sind Machtstrukturen nicht abwesend. Verhandelt und verwaltet wird hingegen nicht der individuelle, sondern der kollektive Vorteil. Der Modellfall, den Sidonie Oltrup durch ihr den Umständen entsprechendes Handeln geschaffen hatte, erweist sich in der Praxis der Familientradition als unbrauchbar. Bereits die Tochter Sidonies wählte ihre Partner »leichtsinnig« und ohne die Absicht, durch diese Wahl ein Gesetz zu begründen. Etwa zweihundert Jahre später geht es in der Familie um »Einheirat eines rassisch Diskriminierten«,28 dem die Ehe mit der jungen Komtesse Herta versagt wurde, worauf ebenfalls kein Gemeinwesen zu gründen war. Die Familiengeschichte war eine der regellosen Zerstreuung ihrer Mitglieder, da es nicht gelang Gemeinsamkeit zu stiften und stattdessen Ausgrenzungsprozesse die Entwicklungen bestimmten. Das Problem lag darin, daß an einer allgemeinen Gesetzgebung der Liebe, wie sie Sidonie in ihrer Publikation DIE SCHWEDISCHE GRÄFIN vorgetragen hatte, seit 1806 nicht weitergearbeitet wurde. […] Ohne Gesetz blieb das GEMEINWESEN DER LIEBE Zufallsgründen überlassen.29

Eine Wendung auf die Kluge sehr häufig motivisch verweist, ist Kants berühmte Formel: »Anschauung ohne Begriff ist blind. Begriff ohne Anschauung ist leer.«30 Sidonie hat ihren Begriff von Liebe aus Anschauung, d. h. Erfahrung, entwickelt, also diese Erfahrung nicht in ihrer Widersprüchlichkeit indifferent hingenommen und schließlich sogar, dem kategorischen Imperativ folgend,31 den Begriff zu einem allgemeinen Gesetz erweitert. Ihre Nachkommen hätten sich sicher diesem Gesetz fügen können, oder sogar sollen, und ihre Erfahrungen wären dem 28 Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt, S. 16. 29 Ebd., S. 16f. 30 Vgl. Immanuel Kant, »Kritik der reinen Vernunft«, Zweite Auflage, in: ders., Gesammelte Schriften (AA), Abt. I, Bd. III, Berlin 1904, B 75/ S. 75: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d.i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d.i. sie unter Begriffe zu bringen).« 31 Vgl. Immanuel Kant, »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: ders., Gesammelte Schriften (AA), Abt. I, Bd. IV, Berlin 1911, S. 421: »Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.«

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Gemeinsinn der Familie entsprechend verlaufen. Der falsche Gebrauch der durch die Evolution bereitgestellten Verstandeskräfte lässt sich jedoch durch das Gesetz nicht reglementieren, welches sonst seine Legitimität verlöre, sondern es müssten sich Anschauung und Begriff in wechselseitiger Kritik stetig aneinander messen und sich so einer Entsprechung annähern. Sidonie, in ihrem Grab, Gut Oltrup längst umgewidmet zu einer sowjetischen Kolchose, diese aufgelöst, das Landgut verfällt, grämte sich. Wie können die wenigen aufgeklärten Toten die große Zahl der Lebenden hüten, die in ›selbstverschuldeter Unmündigkeit‹ verharren? Energischer Zuruf, das wußte Sidonie, gilt als lehrhaft.32

Sidonie ist eine Aufklärerin des Gefühls, die versucht diesem seine Undurchsichtigkeit und Widerspenstigkeit dem rationalen Verstandesgebrauch gegenüber auszutreiben. Die Mitglieder der Gefühlsgemeinschaft verharren in selbstverschuldeter Unmündigkeit gegenüber dem Gefühl, welchem sie wie einer höheren Macht ausgeliefert sind. Jedoch ist es das dialektische Moment der Aufklärung, welches die Naturhaftigkeit und damit die Gefühlswelt des Menschen der Ratio unterwirft.33 Das Gefühl wird durch Sidonies Gesetz im Herzen, d. h. in der Irrationalität, eingeschlossen. Das Gemeinwesen der Liebe nimmt diese bloß zum Anlass, ein Gemeinwesen der zweckmäßigen Gefühlsverwaltung zu errichten. Baron Schlüters und dessen Gutsnachbar kommen mit Sidonie darin überein, ihren Gefühlen ganz bestimmte Grenzen zu setzen, um diese wenigstens in diesen Grenzen erhalten zu können. Die Beschädigung im Innern der drei Personen ist einerseits die Folge der äußeren Umstände des Krieges, welcher das Ehepaar Schlüters trennte und Sidonie mit ihrem Gutsnachbarn zusammenführte, andererseits ist sie Folge der radikalen Aufklärung des Gefühls, in dessen Dunkelheit sein Existenzrecht besteht. Sidonie grämt sich in ihrem Grab, weil sie nicht erkennt, dass die Kontingenz, die das Gemeinwesen der Liebe bestimmt, in der Form der rationalen Zurichtung des Gefühls begründet 32 Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt, S. 17. 33 Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M. 1981, S. 110f.: »Hatte, mit Leibniz und Hegel, die große Philosophie auch in solchen subjektiven und objektiven Äußerungen, die nicht selbst schon Gedanken sind, in Gefühlen, Institutionen, Werken der Kunst, den Anspruch auf Wahrheit entdeckt, so isoliert der Irrationalismus, darin wie in anderem dem letzten Abhub der Aufklärung, dem modernen Positivismus verwandt, das Gefühl, wie Religion und Kunst, von allem was Erkenntnis heißt. Er schränkt zwar die kalte Vernunft zugunsten des unmittelbaren Leidens ein, macht es jedoch zu einem dem Gedanken bloß feindlichen Prinzip. Im Scheine solcher Feindschaft wird Gefühl und schließlich aller menschliche Ausdruck, ja Kultur überhaupt der Verantwortung vor dem Denken entzogen, verwandelt sich aber dadurch zum neutralisierten Element der allumspannenden Ratio des längst irrational gewordenen ökonomischen Systems. […] Indem die Gefühle zur Ideologie aufsteigen, wird die Verachtung, der sie in der Wirklichkeit unterliegen, nicht aufgehoben. […] Das Verdikt über die Gefühle war in der Formalisierung der Vernunft schon eingeschlossen.«

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liegt. Noch mehr rührt ihr Gram allerdings daher, dass in der Schlüters-Familie an diesem Problem nicht weitergearbeitet wird.

Unteilbare Gemeinschaft, kollektive Individualität Kann ein Gemeinwesen ICH sagen? Wenn die Elementarteilchen, die in Tschernobyl explodierten, eine Halbwertszeit von 300000 Jahren haben, welche Zeitgestalt muß das Gemeinwesen haben?34

Im Kapitel »Kann ein Gemeinwesen ICH sagen?/ Tschernobyl«35 seines Buches Die Lücke, die der Teufel läßt behandelt Kluge die Frage der Auflösung eines Gemeinwesens. Die Geschichten drehen sich um den Zerfall der Sowjetunion, welcher in der Katastrophe von Tschernobyl im Jahre 1986 sein Sinnbild findet. Die Erzählung »Junge Frau vom November 1917«36 zeigt die Bemühungen der Stenotypistin Irina Swerdlow, die politischen Gravitationsverhältnisse des November 1917 in St. Petersburg in ihrer Wirksamkeit aufzubewahren und zu nutzen. Sie hatte im Herbst 1917 Diktate der revolutionären Führung entgegengenommen, denen sie neben den eigentlichen Botschaften »das UNAUSGESPROCHENE EINVERSTÄNDNIS« entnahm, mit welchem die verfügbaren »menschlichen Energien« zu einer »außergewöhnlichen Arbeitskraft mobilisiert« wurden. An der Schnittstelle revolutionärer Mitteilungen wurde sie Zeugin von einem »BLITZ GEGENSEITIGER HILFE«,37 der durch einen »Funken der Solidarität« die Kräfteverhältnisse vorübergehend umkehrte. Diesen eigentlichen revolutionären Moment, der nur von kurzer Dauer war, wollte Irina Swerlow in seiner bewegenden Kraft weitergeben. Das Gemeinwesen, welches 1986 in Tschernobyl zerfällt und 1991 endgültig aufgelöst wird, existiert in der Erfahrung Irinas nur in einer momentanen Übereinstimmung von Idee und Wirklichkeit, als ein »Kraftfeld«, dessen lebendige Solidarität sich später auch durch Erinnerung nicht wiederbeleben lässt. Der Zerfall dieses solidarischen Gemeinwesens fängt nicht erst in Tschernobyl an, sondern bereits »ein Vierteljahr« nach dem Oktober 1917 war für Irina von dieser Augenblicksgemeinschaft nichts mehr »noch konvertierbar«.38 Ihre Anstrengung ist es, das Gemeinschaftsgefühl an ihre Nachkommen weiterzugeben, die jedoch für die Revolutions-Erinnerungen der Mutter bzw. Großmutter nicht aufnahmebereit sind. Der Gemeinsinn hat sich nach kurzem Aufflackern, wel34 35 36 37 38

Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt, S. 105. Ebd., S. 105–193. Ebd., S. 188f. Ebd., S. 188. Ebd.

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ches Irina gespürt hat, materialisiert zur Staatsform der Sowjetunion, in der die ursprüngliche solidarische Energie nie wiederhergestellt werden konnte. Ausschlaggebend für den kurzen Moment der Uneigennützigkeit war der abstrakte Wunsch nach einem Gemeinwesen. Die erstarrten Formen dieses Wunsches reproduzierten wiederum nur die alten Ungleichheiten. Irina Swerlow möchte als historisches Subjekt zur Sprache bringen, was das »Ganze« damals bewegte. Als Individuum findet sie jedoch keine Sprache für die Kollektivität des Augenblicks. Ihre konzentrierte kollektive Erinnerung kann nur als persönliche Erinnerung konserviert werden und verliert damit jegliche Kraft des bewegenden historischen Moments. Die staatlich verordneten Gedenkmärsche und die enormen Erinnerungsarchive des KGB repräsentieren ihre Erinnerung nur unzureichend. Im »BLITZ GEGENSEITIGER HILFE« findet sich die kristalline Struktur der Benjamin’schen Monade, in welcher die Geschichte anhält und dem Menschen als revolutionäre Chance zufällt.39 Irina Swerlows Auftrag als Engel der Geschichte wird von den realen Verhältnissen vereitelt. Ihr fehlt die Sprache, den spontanen Gemeinsinn des November 1917 zu artikulieren. Die Frage nach der kollektiven Identität, welche in Kluges narrativer Suche nach dem Gemeinsinn steckt, zielt auf ein emphatisches Verständnis des Begriffs vom Klassenbewusstsein ab. In einer Geschichte zur Russischen Revolution von 1905 formuliert Kluge die Frage danach, wie sich Gemeinsinn konstituiert und praktisch realisiert als »fusionierende Gruppe«.40 Sich spontan bildendes kollektives Selbstbewusstsein wird hier als revolutionäre Form des Gemeinsinns vorgestellt: Die »fusionierende Gruppe« ist das Element aller Revolutionen. Menschen schließen sich zusammen. Ohne es noch zu wissen, bilden sie gegenüber ihren bisherigen Leben einen neuartigen Zustand, in welchem sie ihre Eigenschaften vereinen, ohne daß sie das beabsichtigen: unterhalb der Willenskräfte, unter dem Eindruck der Unruhe, welche die Stadt ergriffen hat, auf Grund von Ahnungsvermögen und Tatkraft.41

Im Gegensatz zum Begriff der Kooperation, wird in jenem der fusionierenden Gruppe die selbstbestimmte und interessengerichtete Individualität im gleichen Maße aufgehoben, wie diese in der fusionierenden Gruppe des »neue[n] revolutionäre[n] Mensch[en]«42 aufgeht. In der Geschichte »Was ist eine ›fusionierende Gruppe‹? / Rosa Luxemburg und die Revolution von 1905« liefert Kluge zwei kurze fiktive Fallbeispiele für

39 Vgl. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1974, S. 703. 40 Alexander Kluge, Das Bohren harter Bretter – 133 politische Geschichten, Berlin 2011, S. 138f. 41 Ebd., S. 138. 42 Ebd.

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Luxemburgs Idee vom Gemeinwesen als einem »EINZIGE[N] LEBEWESEN.«43 Ein Fall beschreibt einen Kiewer Taschendieb mit konkret zielgerichtetem Einzelinteresse, der sich in einer fusionierenden Gruppe bewegt. Über das revolutionäre Ziel der Gruppe, den Hauptbahnhof zu besetzen, vergisst er sein Geschäft und muss daher am Abend hungern. Ein zweiter Fall beschreibt einen Anwalt, der, trotz »subjektiver Mißbilligung solcher gesetzwidrigen Zusammenrottungen«, die Menge durch seine physische Anwesenheit über Stunden verstärkte. Als Kluges narrativer Agent interpretiert Rosa Luxemburg diese und andere Nachrichten vom Ausbruch der Revolution »als ein EINZIGES LEBEWESEN, EIN[EN] REVOLUTIONÄREN GESAMTARBEITER.«44 Die Revolution werde als Gemeinwesen geboren und individualisiert sich in einem nachträglichen evolutionären Vorgang. Jedoch sei das »RIESENBABY REVOLUTION«45 in den ersten Wochen und Monaten wie jeder Säugling besonders fragil. So wird hier der Gemeinsinn als emphatische Auflösung des individuellen Interesses nicht als teleologischer Endpunkt einer Entwicklung gesetzt, sondern als Ausgangspunkt, den es zu bewahren und zu individueller Existenz hin zu entwickeln gilt. Gemeinschaftsstrukturen stellen ein Konstruktionsprinzip des Politischen in vielen Geschichten Alexander Kluges dar. Sie spiegeln Kluges Arbeitspraxis als Filmautor und engagierten Anhänger des ›Kollektivfilms‹ sowie seine eigensinnige Praxis der ›Gemeinsamen Philosophie‹ mit Oskar Negt. Die Frage, wie sich Strukturen der Gemeinschaft, der Solidarität und Uneigennützigkeit begründen, welche Motive und Wünsche dazu führen, und wie diese Formen wieder zerfallen, ist ein Grundinteresse in Kluges Literatur. Die Geschichten, in denen er dies verarbeitet, zeigen die Widersprüche auf, denen kollektive Strukturen begegnen und entwickeln Bilder möglicher Gemeinwesen.46 Anstatt die Idee eines utopischen Gemeinwesens als idealen Staat abstrakt zu veräußerlichen, verlegt Kluge diese in konkrete Mikrostrukturen des Sozialen bis hin zur biologistischen Metapher der ›Sehnsucht der Zellen‹. Der gute politische Wille der Menschen stellt ein Produkt lebendiger Arbeit vor, welches in das Gemeinwesen ›eingezahlt‹ wird.47 Diese Einzahlungen setzen ein Vertrauen voraus, das im Regelfall miss43 44 45 46

Ebd., S. 139. Ebd. Ebd. Vgl. Vogl, »Einleitung – Grenze der Gemeinschaft«, S. 25: »Für diese konstitutive Unvollständigkeit und diese aktive Entwertung hat die politische Imagination bisher kaum Bilder parat, die überdies nur hyperbolisch sein können. […] Nichts aber kann schließlich Auskunft darüber geben, wie und wo sich die Menschen finden würden, wenn man sie nur ließe.« 47 Vgl. Stollmann, Die Entstehung des Schönheitssinnes aus dem Eis, S. 98: »Gemeinwesen entstehen aus dem Willen, sich zu emanzipieren, nicht aus gutem Willen, nicht aus Rechtsgefühl, sondern weil ich mich zusammenschließe mit anderen geselligen Wesen. Gewissermaßen aus Lust am Sozialen wird eingezahlt in Gemeinwesen. Sich gemeinsam gegen die Natur verteidigen, das unterstützt meine Geselligkeit.«

Gemeinwesen und Vorstellungskraft. Formen des Gemeinsinns bei Alexander Kluge

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braucht wird, aber von dieser Regel nicht restlos zerstört werden könnte. Im Gegensatz zu den in Kluges Texten dargestellten Machtverhältnissen, deren Hoheit stets angezweifelt wird, stellt der Gemeinsinn ein positives und utopisches Prinzip dar. Der antagonistische Realismus48 Kluges liegt in der Anerkennung, dass sich die Utopie einer solchen kollektiven Subjektivität in einer politischen Warteschleife befindet, in welcher allerdings weiterhin an ihr gearbeitet werden kann.49

48 Alexander Kluge, »Die schärfste Ideologie: daß die Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft«, in: ders., Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt/M. 1975, S. 214–221, hier S. 217: »Antagonistisch ist also nicht nur die Realität als Gegenstand, sondern auch jede menschliche Verarbeitungsweise dieser Realität, gleich, ob sie innerhalb der Realzusammenhänge sich abarbeitet, oder ob sie sich der Sache stellt. Das, was das Realistische daran ist, der Antirealismus des Motivs (Protests, Widerstands), produziert das Unrealistische daran.« 49 »Die Utopie wird immer besser, je länger wir auf sie warten«, Vgl. Alexander Kluge, »Die Utopie Film (1983)«, in: ders., In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, hg. v. Christian Schulte, Berlin 2002, S. 73–112, hier S. 73.

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In einem der TV-Kulturmagazine wird eine junge Frau gezeigt, die das monumentale Grab von Karl Marx auf dem Londoner Highgate Cemetery besucht.1 Ein ehrenamtlicher Friedhofsgärtner spricht sie an und bedeutet ihr, dass Marx dort gar nicht liege. Er führt sie zu einem unscheinbaren, überwachsenen Grab in einem ungepflegten Gelände, wo alle beerdigt wurden, denen die christliche Erde versagt wurde, Kriminelle, »Killer«, und auch Juden. Marx liegt dort unter einer einfachen, zerbrochenen Steinplatte mit seinem Namen. Im Gespräch lässt sich Kluge erzählen, wie genau der Besuch ablief. Obgleich das Gespräch völlig sachlich, faktenbezogen bleibt, öffnet sich ein metaphorischer Horizont: Marx ist nicht da, wo alle Welt denkt. Man muss ihn an den Rändern, im Verdrängten, Verborgenen suchen. Die Frühschriften sind für uns wichtiger als Das Kapital, Nebenbemerkungen über eine ›Ökonomie der Arbeitskraft‹ heute interessanter als die 125. Interpretation des Kapitals, die Theorie des Subjektiven, die in der Schrift über den »18. Brumaire des Louis Bonaparte« steckt, ebenfalls von größerem Interesse, wie auch die sog. Grundrisse, eine unsystematische, offenere Vorarbeit für Das Kapital. Lenin konnte sie nicht kennen, weil sie erst 1941 veröffentlicht wurden. Nicht ganz ausgeschlossen, dass im umgekehrten Falle die Russische Revolution etwas anders verlaufen wäre.2 Vermutlich war überhaupt die Revolution von 1905 die wichtigere, neben der von 1917. Ein Pakt zwischen Bürgertum, Bauern und Arbeitern, Stadt und Land, hätte im katastrophenrei-

1 Eine Sequenz von knapp 5 Minuten daraus findet sich auf der dctp-Website, verfügbar unter: https://www.dctp.tv/filme/nachrichten17 [15. 07. 2020] sowie in: Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital, R: Alexander Kluge, 3 DVDs, 570 min., Frankfurt/M.: Filmedition Suhrkamp 2008, DVD #2, Nr. 3: »Das Denkmal und das wahre Grab«. 2 Marx hatte auf den Brief einer russischen Sozialdemokratin 1881 geantwortet, dass nicht das Proletariat, da nicht vorhanden, sondern die russische Dorfgemeinde das Subjekt einer möglichen Revolution darstelle. Vgl. Oskar Negt, Marx, hg. v. Peter Sloterdijk, München 1996, S. 414–443.

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chen Geschichtsprozess der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewiss besser manövrieren können. Natürlich bezieht sich diese Haltung nicht nur auf Marx. An Hegel ist weniger der etwas aufgeblasene »Weltgeist« interessant als der nebensächliche »Eigensinn« (der nach Hegel bei Kindern durch Erziehung »gebrochen« werden müsse). Paul Klee hat viele Engel gemalt, etwa 50 Stück. Benjamin hat nur einen interpretiert. Klee hat neben Engeln auch Stachel, der Clown gemalt, den muss man dem Engel an die Seite stellen, das macht die Rezeption Benjamins etwas nüchterner.3 Aber auch zentrale Metaphern wie die des Herzens für Liebe sind fragwürdig, wenn doch das Herz ein bloßer Muskel ist. Das wirkliche Zentrum der Gefühle sitzt knapp darunter, streng genommen müsste es heißen: Ich liebe dich von ganzem Solarplexus. »Die Nebensachen sind die Hauptsachen«, heißt es bei Kluge einmal. Dass diese Haltung der Kritischen Theorie inhärent ist, kann man bei Adorno nachlesen: Es wäre übrigens eine sehr interessante Aufgabe, einmal dem nachzugehen, welche Probleme in der Geschichte der Philosophie vergessen worden sind; man dürfte darauf kommen, dass keineswegs die Fragen vergessen worden sind, die gelöst wurden, sondern entweder die, die dann aufgehört haben, für die unmittelbare Praxis relevant zu sein, oder die man aus irgendwelchen Gründen verdrängt und deshalb nicht weiter verfolgt hat.4

Zufall als produktives Element großer Theorie Möglich, dass in der Geschichte des Geistes ähnlich wie in der Naturgeschichte das Moment des Zufalls eine besondere Rolle spielt. Wie es in dem Lied Ich hatt’ einen Kameraden heißt: »Eine Kugel kam geflogen: / Gilt sie mir oder gilt sie dir? / Ihn hat es weggerissen, / er liegt vor meinen Füßen, / als wär’s ein Stück von mir« – so ging es dem jungen Luftwaffenhelfer Niklas Luhmann 1944. Auf diese Erfahrung geht der Begriff der »Kontingenz« in der Systemtheorie zurück. In ihr verschwindet das Individuum wie der gute Kamerad und wird zum Schnittpunkt einer Reihe von »Systemen« (Wirtschaft, Medien, Gesellschaft, Justiz, Wissenschaft usw.). Dasselbe Gewicht, aber eine ganz andere Funktion, scheint der Zufall in der Kritischen Theorie zu haben. Adorno war ein von zwei Müttern verhätscheltes Wunderkind. Denkbar, dass etwas in ihm die Erwachsenenwelt grundsätzlich 3 Vgl. Alexander Kluge/Ben Lerner, Schnee über Venedig, Leipzig 2018, S. 100. 4 Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie, Bd. I, hg. v. Rudolf zur Lippe, Frankfurt/M. 1973, S. 116.

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ablehnte, weil er wusste, dass sie niemals dem Paradies seiner Kindheit entsprechen könne. Das könnte eine individuelle Wurzel der Haltung »gegen den Rest der Welt« sein, die zufällig auf den historischen Moment (Faschismus, Stalinismus, Imperialismus) so gut passt wie keine andere Theorie. Bei Alexander Kluge gibt es ein entgegengesetztes Moment. Seine Mutter war drei Jahre vor seiner Geburt zur Abtreibung genötigt worden.5 Den Nachkömmling lehnte die traumatisierte Mutter ab.6 Kluge schreibt vielleicht nicht so sehr, um seine Eltern wieder »zusammenzuführen«,7 sondern um die Liebe seiner Mutter zu gewinnen. Möglicherweise hat schon das Kind den mütterlichen Mangel an Zuwendung von sich aus kompensiert und so die Mutter gewissermaßen »verstanden«.8 Hinzu kommt, dass die Mutter ihm, als er fünf wurde, eine Schwester schenkte, die er später über alles lieben konnte. Dieser biografische Kontrast zu Adorno war vielleicht ein Motiv, der Unterseite der Adorno’schen Vernunftkritik immer mehr zu ihrem Recht zu verhelfen und die Kritische Theorie als Materialismus der Gefühle zu konzipieren.

Keine Polemik Auffällig bei Kluge ist, im Vergleich mit Adorno oder Habermas, und besonders mit Marx, das fast völlige Fehlen von Polemik. Man kann das aus der Weiterführung der Kritischen Theorie erklären. Infolge des ›Überhangs des Objektiven‹ und der immer stärkeren ursprünglichen Akkumulation, die die inneren Äcker enteignet, sind Individuen so mit der Aufrechterhaltung ihres Lebendigen beschäftigt (›innere Balanceökonomie‹), dass es in jeder Hinsicht um Stärkung ihrer Selbstregulierung gehen muss. Öffentlicher Intellektuellen-Streit wird eitel, wenn auch fast alle geistige Arbeit reell subsumiert ist. Wenn Kluge Heidegger erwähnt, dann z. B. den Satz: »Das Denken hat kaum erst angefangen«, dem sogar Adorno hätte zustimmen können. Wenn er Thilo Sarrazin interviewt, dann über das Thema seiner professionellen Arbeit in der Regierung Kohl bei Einführung 5 Vgl. die Geschichte »Ein Sonnabend im Oktober 1929«, in: Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Bd. II, Frankfurt/M. 2000, S. 940f. In diesem Punkt gibt es eine sonderbare Übereinstimmung mit der Biografie Robert Musils. 6 Vgl. z. B. die Erzählungen »Blauwetter, bin im Wind« und »Ein Vormittag, sieben Tage nach meinem fünften Geburtstag«, in: Alexander Kluge, Kongs große Stunde, Berlin 2015, S. 69f. und S. 299. 7 Vgl. die Erzählung »Mein wahres Motiv«, in: Alexander Kluge, Tür an Tür mit einem anderen Leben, Frankfurt/M. 2006, S. 594ff. 8 In der Geschichte »Er hat die herzlosen Augen eines über alles Geliebten« steht am Schluss der Satz: »Söhne, die nicht um die Zuneigung ihrer Mütter kämpfen müssen, so mein Eindruck, entfalten in ihrem Innern Monstren.« (Alexander Kluge, Das fünfte Buch, Berlin 2012, S. 15.) Kluge musste kämpfen, Adorno nicht. In der Erzählung spricht das Ich einer Erzählerin.

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der D-Mark in den Ländern der ehemaligen DDR. Mit Martin Walser spricht er nicht über dessen Paulskirchenrede, sondern über die Arbeit eines Autors am Poetischen. Kluge konzentriert sich auf die Dinge, die ihm an der Arbeit anderer authentisch erscheinen. Aber die Polemik fehlt vielleicht doch nicht. Sie ist nur von der begrifflichen in die poetische Darstellung eingegangen, dort aber auch nicht auf Individuen gerichtet, sondern auf Institutionen, Geschichtsverläufe, gesellschaftliche und politische Zusammenhänge, Großapparate. Auch dort tritt sie aber nicht im gängigen Sinne als satirisch auf, sondern streift das Groteske. Das Groteske unterscheidet sich vom Satirischen u. a. dadurch, dass es nicht unbedingt glaubt, es besser zu wissen, aber trotzdem nicht auf die Erkenntnis von Widersprüchen verzichten will. Am Anfang von Peter Handkes Gerechtigkeit für Serbien (1995) steht dieses Zitat von Milos Crnjanski (1921): Mutter ging den ganzen Tag in der Nachbarschaft umher und fragte, wer denn dieser Yorick sei. Eh, so lebte man vor dem Krieg. »Was macht es uns aus, drei Millionen Menschen zu töten. Der Himmel ist überall der gleiche und blau, so blau. Der Tod ist noch einmal gekommen, aber nach ihm wird die Freiheit kommen. Wir werden frei und komisch sein.« Als der erste Schnee fiel, lernten wir uns besser kennen.

In dem Buch Schnee über Venedig widmet sich Kluge (zusammen mit Ben Lerner) einer Zeile aus einem Gedicht Lerners: »Der Himmel hört auf zu malen und wendet sich der Kritik zu.«9 Der bewegende Kommentar enthält den Grundgedanken, dass der Himmel, aus dem Bomben fallen, der Kritiker des malerischen Morgen- oder Abendhimmels ist. Nach dem Bombenkrieg der vierziger Jahre ist der Himmel niemals mehr so blau wie vielleicht noch im 19. Jahrhundert, die Bomberflotten haben seine Unschuld besudelt. So wie eine Jüdin in New York ihr Leben lang jeden Abend die Vorhänge zuzieht, um das Abendrot nicht sehen zu müssen, das sie an den roten Schein der Verbrennungsöfen des KZs erinnert, dem sie entronnen ist. Oder ein anderer Jude die Farbe lila nicht mehr erträgt, weil sie ihn an die Haut der Toten in den elektrischen Zäunen des KZs erinnert.

Kluges Geschichtsbild Fraglich, ob man von »Bild« überhaupt sprechen kann. Jedenfalls nicht im Sinne eines Schlachtengemäldes (Napoleons Übergang über die Beresina oder George Washington’s Crossing of the Delaware River). Nicht nur wegen der heroischen oder propagandistischen Tradition »historischer« Bilder. Sondern weil man 9 Kluge/Lerner, Schnee über Venedig, S. 75.

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Geschichte (wie Gesellschaft) nicht sehen kann. Sie wird nicht zuerst auf den Schlachtfeldern gemacht, sondern in den Produktionsstätten. Arbeit bestimmt Geschichte. Die Lanze in Alexanders Hand musste ja geschmiedet werden, man müsste also z. B. einen Bilderzyklus neben Albrecht Altdorfers Alexanderschlacht (1529) hängen, auf dem die lange Geschichte des Schmiedens dargestellt ist. Wenn nicht von »-bild«, könnte man dann von »Geschichtsbegriff« reden? Immerhin heißt ein berühmter Aufsatz Benjamins »Über den Begriff der Geschichte«. Aber wirklich begreifen lässt sich Geschichte auch nicht, trotz Hegel und Marx. Bekannte Begriffe bei Marx sind »Kapitalismus«, »Proletariat«, »Klassenkampf«. Sie kommen in Kluges Büchern vor. Wenn man etwas über die politische Ökonomie wissen wolle, müsse man zum Kapital greifen, wolle man aber etwas über die »Ökonomie der Politik« wissen, dann zu Marx’ Schrift über den »18. Brumaire«. Darin wird aber beschrieben, wie der Aufstieg und die Herrschaft Napoleons auf der landlos gewordenen Bauernklasse Frankreichs beruht.10 Diese Bauern machen als Soldaten eine falsche, imperialistische »Politik«, also »Geschichte«, auch wenn als eine Art Kollateralnutzen der Verwüstung ganzer Kontinente Bruchstücke bürgerlicher Freiheiten (Gewerbefreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz) verbreitet werden. Die »Politik«, die Marx als Interessens- und Klassenkampf bestimmt, kommt in der Realität als Großereignis und geschichtsbestimmend selten oder gar nicht vor. (Die »proletarische« Revolution 1917 fand in Russland fast ohne Proletariat statt.) Wie soll man Politik/Geschichte dann »begreifen«?11 10 »Der Kulminationspunkt der ›idées napoléoniennes‹ endlich ist das Übergewicht der Armee. Die Armee war der point d’honneur (Ehrenpunkt) der Parzellenbauern, sie selbst in Heroen verwandelt, nach außen hin den neuen Besitz verteidigend, ihre eben erst errungene Nationalität verherrlichend, die Welt plündernd und revolutionierend. Die Uniform war ihr eignes Staatskostüm, der Krieg ihre Poesie, die in der Phantasie verlängerte und abgerundete Parzelle das Vaterland und der Patriotismus die ideale Form des Eigentumssinnes. Aber die Feinde, wogegen der französische Bauer jetzt sein Eigentum zu verteidigen hat, es sind nicht die Kosaken, es sind die Huissiers (Gerichtsvollzieher) und die Steuerexekutoren. Die Parzelle liegt nicht mehr im sogenannten Vaterland, sondern im Hypothekenbuch. Die Armee selbst ist nicht mehr die Blüte der Bauernjugend, sie ist die Sumpfblüte des bäuerlichen Lumpenproletariats. Sie besteht größtenteils aus Remplaçants, aus Ersatzmännern, wie der zweite Bonaparte selbst nur Remplaçant, der Ersatzmann für Napoleon ist.« Karl Marx, »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, in: ders./Friedrich Engels, Werke (MEW), Bd. 8, Berlin 1960, S. 111–207, hier S. 198. 11 Hegel sagt, man könne aus der Geschichte nicht lernen (und das heißt ja wohl sie »begreifen«), weil jede historische Situation zu viel Neues enthalte. »Wir kennen nur eine Wissenschaft, die Wissenschaft von der Geschichte.« (Marx) Andererseits spricht Marx von seinem Hauptwerk Das Kapital als einem »ästhetischen Konstrukt«. Das heißt: Um der Schärfe der Begriffe willen muss sich die systematische Darstellung von der historischen Realität entfernen. Wegen dieser Problematik heißt es bei Adorno, »daß jeder philosophische Terminus die verhärtete Narbe eines ungelösten Problems« ist. (Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie, Bd. II, hg. v. Rudolf zur Lippe, Frankfurt/M. 1974, S. 11.) Bei Negt/Kluge heißt es dann sehr nüchtern »Suchbegriffe«.

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Die treffendste Bezeichnung, von Kluge oft verwendet, ist daher »Geschichtserzählung«. Davon gibt es aber immer mehrere, viele. Die Geschichte selbst erzählt ihre großen »Romane« (wie den Kolonialismus oder die Industrialisierung). Sie bestehen aber aus einer Vielzahl von einzelnen Geschichten, die sich nur unter größter Widersprüchlichkeit zu einer historischen »Wirklichkeit« verbinden. Krieg, also das im falschesten Sinne geschichtsbestimmende Phänomen, nennen Negt / Kluge z. B. »eine Zusammenballung«, einen »Unfall«. Diese Begriffe treffen am ehesten faktische Geschichtsabläufe. Kluges Geschichtsbild liegt aber die Gewissheit zugrunde, dass gesellschaftliche Arbeit und deren Ökonomie letztlich geschichtsbestimmend ist. Heute ist etwa das, was im Silicon Valley oder im Nordosten Chinas passiert, weltweit geschichtsbestimmend, insofern es um Objektivität geht. Wenn es um Subjektivität geht, sind die Flüchtlingslager an den Grenzen Europas möglicherweise geschichtsbestimmender. Aber ähnlich wie bei den napoleonischen Bauernsoldaten in Marx’ Analyse kann entweder nur die objektive Seite (digitale Revolution und nachgeholte erste industrielle Revolution der chinesischen Schwerindustrie) oder die subjektive Seite (in einzelnen Lebensgeschichten oder Erfahrungen) beschrieben werden. Soweit wäre das noch die Tradition von Marx (der ja auch Balzac, also einen großen Erzähler, für den größten Soziologen seiner Zeit hielt). Jetzt kommt aber hinzu, dass wir 150 Jahre nach Marx leben und dass sich seine Hoffnungen nicht erfüllt haben. Sie hätten sich vielleicht erfüllen können, wenn statt des Ersten Weltkrieges in Europa proletarische Revolutionen stattgefunden hätten. Nach dem Krieg war der Zeitpunkt verpasst. Wer wie Kluge den »Kairos«, den richtigen Zeitpunkt, das Fenster im Geschichtshorizont, das sich einmal geöffnet haben mag, sehr ernst nimmt, der kann nach 1914/18, besonders aber nach dem Zweiten Krieg, nach 1945, nicht auf eine Wiederholung hoffen. Die proletarische Revolution und die damit verbundenen Hoffnungen sind, ähnlich wie die der Bauern nach 1525, vorbei, und besonders ein Marxist muss fragen, wie man mit Marx jetzt umgeht. Dieser Aufgabe haben sich Oskar Negt und Alexander Kluge in dem Band Geschichte und Eigensinn (1981) sehr gründlich unterzogen. Der zeitgeschichtliche Hintergrund dieses Buches ist die Marx-Renaissance der studentischen Protestbewegung in Europa und deren Scheitern (Zerfall in z. T. gewalttätige Sekten). Es ist gleichzeitig die Fortschreibung der Kritischen Theorie, die noch einmal mit den Augen von Marx gelesen wird, wenn doch Adorno und Horkheimer ebenfalls aus zeitgeschichtlichen Gründen (Weltkrieg, Faschismus, Sowjetkommunismus, Vertreibung) Marx vielleicht zu wenig berücksichtigt haben.

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Ohne Aussicht wird die Zeit ihm lang Der Kranke, der mit bewundernswerter Ruhe das Wissen ertrug, nur noch etwa ein Jahr zu leben (das war allerdings ein genauer Zeitpunkt, da die Metastasen sich in einem ganz bestimmten Rhythmus entwickelten), maß alles an der Umwertung, die sich aus der Bestimmtheit der Todesstunde ergab. War ein VIVA-Musikstück diesem Maßstab nicht angemessen, mußten die ihn umgebenden Personen den Sender wechseln. Es blieb nicht viel, was diese Wertung aushielt, und so langweilte er sich bald. Es lief darauf hinaus, daß er sich wieder auf die nächste Mahlzeit freute. Aufs Schlafen. Ungeduldig erwartete er das Ende des jeweiligen langen Tages. Er (oder die bestimmte Idee des Todes) hatten in seinem wesentlichen Aktionshaushalt so gründlich aufgeräumt, daß ihm die Zeit eines Jahres lang wurde. (Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Bd. I, Frankfurt/M. 2000, S. 380) Kommentar: Die Idee des puren Genusses nährt sich von der Vorstellung des Todes. Sogar im Sterben ist eine reine Konsumhaltung unbefriedigend. Diesem Todgeweihten ginge es besser, wenn er, so gut es ginge, weiter seiner Arbeit nachginge. Hier eine Gegengeschichte: Noch vierzig Seiten, jeden Tag zwei Seiten Wie besinnungslos hat sie zwei Jahre lang gekämpft. Als käme sie einem Verunglückten, einem Fremden zu Hilfe, so rückte sie sogleich, nachdem sie die vernichtende Diagnose erfahren hatte, in Stellung, ihren Körper und dessen einsitzende Seele zu retten. Vor allem wollte sie ein angefangenes Buch zu Ende schreiben. Zweihundert Seiten waren fertig. Die Maschine, die ihr auf Erden das Weiterschreiben gestattete, wollte sie erhalten. Sie erhielt eine spezielle Chemo-Therapie. An ihr wurde, angesichts der theoretischen Unheilbarkeit ihrer Krankheit, eine neuartige Behandlungsmethode erprobt. Alle Knochenmarkzellen sind evakuiert, die Röhren werden von allem Ich-haften gereinigt; ausgewählte Eigenzellen werden wie Kolonisten neu angesetzt. Derzeit, auf sehr niedrigem Niveau der Lebenskräfte, bleiben die gemessenen Blutwerte stabil. Keine Zeichen für ein erneutes Wachsen des tückischen Gewächses. Vermutlich ist diese Teilkraft so ermattet wie ihr Ganzes. Sie sitzt wie ein Blatt an ihrem Schreibtisch und kann sich bereits länger als eine halbe Stunde aufrecht halten. Sie blickt über das lebhafte Chicago. Die Aussicht, jetzt, nach zwei Jahren Kampf, täglich eine halbe Stunde ihrem Werk einige Zeilen hinzuzufügen, das ist Leben. Sie setzt die Psycho-Pharmaka, die ihre aufsteigende Angst blockieren, Zug um Zug ab. Sie muß nämlich träumen, wenn sie tagsüber arbeiten will. Sie ist entschlossen, noch einmal auf kurze Zeit zurückzukehren. Auch eine Vorlesung will sie noch einmal halten, die Studenten und den Lehrkörper verblüffen. »Sie ist wiederholungsbereit«. Das scheint ihr ein hoffnungsfrohes Zeichen. Wenn einer das wiederholen will, was er in seinem Leben schon getan hat, hat er Lebenswillen. Sie fahndet nach solchen Zeichen des Lebenswillens, denn sie glaubt, daß ihre Abwehrkräfte so lange arbeiten, wie sie sich vorstellen kann, was sie mit einer Zeit anfängt, die ihr gegeben wird. (Ebd., S. 928)

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Die große Kunst der Trauerarbeit Gerhard Richter hat Fotos (aus Zeitungen) vergrößert und sie unscharf übermalt. Man kann auf die Idee kommen, dass darauf die Welt wie durch einen Tränenflor erscheint, als ob den naturalistischen Fotos Trauer beigegeben werden müsse. Kunst hat eine starke Wurzel in der Trauer. Die gesamte Irrfahrt des Odysseus ist als Vermeidung der Trauerarbeit am Trojanischen Krieg zu verstehen. Man kann nach einem solch grausamen Geschehen, an dessen schlimmem Ende Odysseus entscheidenden Anteil hatte, nicht geradewegs in seine alte Identität zurückschlüpfen. Das dauert zehn oder 20 Jahre. Und ob das wiederum mit Grausamkeit an den Freiern verbundene Happy End nicht nur eine gewaltsame Illusion von Rückkehr ist, kann man fragen. Die mythische Zeit explodierte im Trojanischen Krieg, die feudale im Bauernkrieg und Dreißigjährigen Krieg, die bürgerliche Epoche im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Das Poetische kommt in Gang, wenn man sich von etwas trennen muss. Genauer: Menschen sind gewaltsam von etwas getrennt worden, haben aber subjektiv die Trennung verweigert.12 Das ist der Ausgangspunkt für historischen Wiederholungszwang. Ihm entgegen stellt sich die Trauerarbeit der Kunst. Kluges erster Langfilm heißt Abschied von gestern (1966), der Untertitel einer späteren Fassung seines ersten Erzählbandes Lebensläufe (1962) lautet Anwesenheitsliste für eine Beerdigung (1974). Das Stalingrad-Buch ist gewiss Trauerarbeit, die in Deutschland in diesem Fall nie erlaubt war – von den Nazis verboten, dann im Wirtschaftswunder verdrängt, dann weil die historischen Verbrechen, die Deutsche an den Juden und Minderheiten begangen hatten, den öffentlichen Diskurs bestimmten. Wenn im Nachkriegsdeutschland mehr historische Bausubstanz vernichtet wurde als im Krieg, dann ist das ein äußeres unbewusstes Surrogat für die Vermeidung innerer und öffentlicher Trauerarbeit. Kapitelüberschriften in Kluges Büchern deuten auf Trauerarbeit hin: »Massensterben in Venedig« (die Formulierung enthält allerdings auch Komik), »Lernprozesse mit tödlichem Ausgang«, »Totenbuch für etwas, das ich liebe«, »Ach liebe Engel öffnet mir, noch lebend mir die Himmelstür«, und das Wort »Abschied« zieht sich leitmotivisch durch Kluges Bücher: Abschied vom Zirkus (auch eine Metapher für Staat und manipulierte Öffentlichkeit), Abschied von den Lokomotiven (auch eine Metapher für »Revolution«). Mit Heiner Müller gibt es ein Gespräch über die Funktion des Theaters, darin sprechen beide davon, dass das Theater Hitler begraben müsse. Trauer ergibt sich aus dem Alpdruck der Geschichte, den Katastrophen, aus dem großen Ganzen, Allgemeinen, Gesellschaftlichen. Benjamins Engel ist nicht nur schreckerfüllt, sondern trauert. Oder, in ruhigeren Zeiten: Ein Laden schließt, Bäume werden gefällt, eine Industrieregion stirbt vor sich hin, ein altes Theater wird abgerissen, 12 Selbst Odysseus versuchte sich ja, als Bauer verkleidet, dem Kriegsdienst zu entziehen.

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manchmal gibt es Protest, selten ist er auf Dauer erfolgreich. Der schleichende Zivilisationsprozess ist ebenso wenig von unseren Wünschen gesteuert wie große historische Ereignisse. Die Permanenz der ursprünglichen Akkumulation erzeugt das »Unbehagen in der Kultur«, eine Melancholie, die nirgends rechten Ausdruck, d. h. zu echter Trauer findet, außer vielleicht in der Kunst. Oder: Die Fähigkeit zu trauern, weil nirgends geübt außer im Privaten, wird zu einer besonderen Kunst. Das Komische entsteht bei Kluge aus Sympathie mit dem Eigensinn. Wir alle reagieren erheitert, wenn wir bei Tieren oder kleinen Kindern Eigensinn wahrnehmen – wenn ein Säugling sich (wie ein Marienkäfer) anstrengt, um von der Rücken- auf die Bauchlage zu wechseln oder wenn er später mit Mühe das Krabbeln praktizieren will –, weil es eine Kraft ist, die uns verblüfft und weil wir das kleine Lebewesen, das sie äußert, lieben. Trauer ist eine Antwort auf die ursprüngliche Akkumulation, das Komische liegt auf der Seite des Eigensinns, der Einzelheit, des Besonderen. Beide Kategorien lassen sich aber nur theoretisch trennen. Insofern können Lachen und Weinen, Komik und Trauer, Ernst und Quatsch bis in die tiefsten Poren miteinander verknüpft sein. Adorno schreibt über Robert Schumann: Nichts vermöchte Trauer, als Grund ins Inwendige gewandter Musik sichtlicher herauszustellen als Schumanns Vorschrift »Im fröhlichen Ton«. Der Name der Freude dementiert ihre Wirklichkeit, und das »im«, das einen fröhlichen Ton als bekannt und vergangen voraussetzt, meldet seine Verlorenheit zugleich und den Vorsatz ihn zu beschwören.13

Ein auf das Lachen statt auf die Trauer bezogenes Gegenzitat dazu findet sich in Geschichte und Eigensinn: »Ohne den Wasserfluss der Augen bleibt alles Lachen traurig.«14 Eine merkwürdige Art der Anziehungskraft In einem Romanfragment beschreibt Edgar Allan Poe eine junge Chinesin in der Südprovinz und einen Holzfäller in Kanada, die durch das Geschick als Liebende füreinander bestimmt gewesen seien. Sie seien einander aber nie begegnet. Alle Kuppelversuche, sie mit anderen zu verbinden, blieben vergebens. Sie verweigerten eine feste Bindung mit anderen. Sie sagten, sie seien schon gebunden. An wen? Das könnten sie nicht sagen. Nachkommen hatten sie, sie kümmerten sich um die Aufzucht. Sie hielten es bei den Partnern, denen sie die Kinder verdankten, nicht aus. Die Anziehungskraft wirkte noch in der fünften Generation. Ein Abkömmling der jungen Chinesin traf in New York auf einen gleichaltrigen Nachkommen des Kanadiers im Jahre 2002. Sie trennten sich nie wieder. (Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt, Frankfurt/M. 2003, S. 457)

13 Theodor W. Adorno, »Musikalische Schriften I–III«, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 16, Frankfurt/M. 1978, S. 259. 14 Oskar Negt/Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/M. 1981, S. 1146.

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Ist diese Geschichte nun lustig oder traurig? Fünf Generationen auf die wahre Liebe warten zu müssen, ist nicht sehr hoffnungsvoll, aber verglichen mit der völligen Verbannung der Liebe aus der Welt, wie sie z. B. in der langen Tradition des Liebestodes in Schauspiel und Oper gepflegt wird, hat diese Geschichte ein relatives Happy End. Die ewig ferne Geliebte der Romantiker darf sich doch ausnahmsweise einmal nähern und auch bleiben. Man könnte auch sagen, Oper (tragisches Ende) und Kino (glückliches Ende) schließen in dieser Erzählung einen komischen Kompromiss. »Jeder Mensch heute, ohne jede Ausnahme, fühlt sich zu wenig geliebt, weil jeder zu wenig lieben kann.«15 Man kann den scharfen Mut bewundern, mit dem jemand so etwas ausspricht. Und doch regt sich Protest gegen diese Wahrheit. Wer möchte sich denn nachsagen lassen, er könne nicht genug lieben? Unser Verstand bewundert den mutigen Gedanken, unser Gefühl protestiert. Aus diesem Widerspruch, den Adornos Urteil erregt, macht Kluge seine Geschichte. Er verwandelt Adornos utopische Verbannung vollständiger Liebe in eine Heterochronie, die Ortlosigkeit der Liebe in etwas, das ausnahmsweise in langen Zeiträumen doch einmal passieren kann. So bleibt das Traurige der negativen Utopie ebenso erhalten wie das Glück der Liebeserfüllung. Beides wird negiert und aufgehoben, allerdings nicht in einem Hegel’schen Begriff, sondern in einer Erzählung oder genauer im Bericht von der Erzählung eines schwarzen Romantikers. Diese Zusammenführung von Realität und Wunsch kann man als komisch empfinden, eine Art Eulenspiegel-Streich, der der Trennung von Verstand und Gefühl gespielt wird. Wir selbst, da wir Verstand und Gefühl getrennt halten (müssen), sind die, denen der Streich gespielt wird. Das ergäbe einen Hinweis, warum Kluges Erzählungen zumeist nicht einfach komisch sind: weil die, denen Eulenspiegel einen Streich spielt, das meistens auch nicht komisch finden oder mit Verspätung lachen. Es lachen die Zuhörerinnen, nicht die Hereingefallenen. Kluge kitzelt nicht wie ein professioneller Komiker oder Clown an einer Haut, die wir schon haben, also etwa mit Witzen an unserer Verstandeshaut oder mit Humor an unserer Gefühlshaut, sondern er kitzelt dort, wo uns noch keine rechte Haut gewachsen ist. Verstand und Gefühl oder Realität und Gefühl bilden bei uns (noch) keinen Zusammenhang, sondern einen (falschen) Gegensatz.

15 Theodor W. Adorno, »Erziehung nach Auschwitz«, in: ders., Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt/M. 1980, S. 98.

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Geschichte und Eigensinn oder Verwaltete Welt? Beim Lesen von Adornos »Regression des Hörens« kann einen Mutlosigkeit ergreifen: Man macht das Radio an, freut sich über eine schöne Musik und ist schon in der Hölle des Warenfetischs, der Regression, des Auseinanderfallens der Werke, des Starkultes, der Depravation der Musik gefangen. Dann lese ich einen vorzüglichen Artikel in der Süddeutschen Zeitung über die US-Gefängnisindustrie: Unfreiheit als Geschäft.16 Verblüfft nimmt man zur Kenntnis, dass im Land der Freiheit die meisten Gefangenen leben: fünf Prozent der Weltbevölkerung, aber 25 Prozent der weltweiten Gefangenen. Ein Grund: die Privatisierung der Gefängnisse. Wenn man an einem Häftling im Jahr 26.000 US-Dollar verdient, sorgt man dafür, dass die Gefängnisse voll sind, betreibt Lobby-Arbeit, schmiert law-&-order-Deputees usw. Sehr schön schreibt der Autor Moritz Koch, dass in entsprechenden Dokumenten eine Sprache zu finden ist, die Brecht sich nicht besser hätte ausdenken können: »Gesetzesänderungen im Drogen- und Einwanderungsrecht könnten die Zahl der Personen reduzieren [also auch den Aktienkurs der Firma], die festgenommen, verurteilt und eingesperrt werden.« Dann liest man von einem Vorort, der von mehreren solcher Gefängnisse lebt: 17.000 Gefangene bei 8000 Einwohner. Jetzt geht der Autor ins Detail: Wahlkampf des Sheriffs in diesem Ort, die Veranstaltung beginnt mit einem Dank der 250 Gäste an Gott für ihre Freiheit. (Da sind Brecht und Adorno zusammen.) Jetzt kommt eine Geschichte: Der Sheriff hat an Ansehen verloren, seit er zugeben musste, schwul zu sein und einen mexikanischen Lover zu haben. (Die Latinos sind die größte Gruppe der Eingesperrten, der rote Faden des Artikels handelt von einem solchen unschuldig Eingesperrten, dessen wirtschaftliche Existenz, Kleinbetrieb mit zehn Angestellten, dadurch zerstört wurde.) Aha, das, dachte ich, ist jetzt Kluge: Die Liebesgeschichte bringt alles durcheinander. Aber nein, in diesem Fall wäre Adorno gegen Kluge im Recht geblieben. Der Skandal kam heraus, weil der schwule Latino sich weigerte ein »Schweigegelübde über die Beziehung« zu unterzeichnen. Verwaltete Welt siegt gegen das ewige Patt von Geschichte und Eigensinn. – »Kann gar nicht«, höre ich innerlich Kluge murmeln, »die Sheriff-Geschichte ist ja nicht zu Ende erzählt«. Nun ist Adorno ja nicht nur Theoretiker des Verblendungszusammenhangs und der verwalteten Welt, in seinen kleinen Schriften, sozusagen den tagespraktischen Aufsätzen und Vorträgen, glaubt er auch an Geschichte und Eigensinn. Im Marx-Film unterhalten sich zwei als Stasi-Unteroffiziersanwärter verkleidete junge Menschen über das Marx-Zitat »Humanisierung der Natur und Naturalisierung des Menschen«. Je länger man zusieht, desto größer das innere Fragezeichen. Man ist hinterher nicht unbedingt klüger als vorher, wenn man 16 Moritz Koch, »Die Freiheit nehm ich mir«, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 270, 22. 11. 2012, S. 3.

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ihnen zuhört. Später fällt einem auf: die mochten sich vielleicht, so wie sie sich unterhielten. »Naturalisierung des Menschen und Humanisierung der Natur« ist: Liebe, Liebe in Gestalt zärtlicher Tätigkeit. Sie tun die ganze Zeit das, wovon ihr Kopf keine Ahnung hat.17 Niklas Luhmann erläutert im Gespräch mit Alexander Kluge, was ein »Liebesbeweis« ist: Man tritt ins Haus ein, dreht den Hausschlüssel um, die Frau ist in der Küche. Man möchte jetzt natürlich erst einmal zum Schreibtisch gehen und sehen, was die Post gebracht hat. Aber wenn man das tut, weiß man genau, dass sie darin eine Vernachlässigung sieht. Also geht man in die Küche. Sie aber weiß, dass man deswegen in die Küche geht, weil sie andernfalls annehmen würde, sie würde vernachlässigt werden.18

Nun kann Liebe es doch wohl aushalten, wenn die Begrüßungsroutine gelegentlich durchbrochen wird. Heißt es aber: »Man möchte jetzt natürlich erst einmal zum Schreibtisch …« – dann liegt die Frage nahe, ob Liebe hier nicht im Verschwinden begriffen ist und ob Liebesbeweise nicht gerade erst dann nötig werden. In dem Fall ginge es nicht um Codierung der Intimität, sondern um ein Surrogat für Liebe.

17 Nachrichten aus der ideologischen Antike, DVD #2, Nr. 14: »Marx-Latein oder Vorbereitung auf die Prüfung zum Unteroffizierslehrgang in der Volksarmee«. 18 Niklas Luhmann/Alexander Kluge, »Vorsicht vor zu raschem Verstehen. Niklas Luhmann im Fernsehgespräch mit Alexander Kluge«, in: Wolfgang Hagen (Hg.), Warum haben Sie keinen Fernseher, Herr Luhmann?, Berlin 2004, S. 49–78, hier S. 54.

Nicole Kandioler

»Organisiertes Glück« – Miriam Hansen berichtet Alexander Kluge

In ihrer Trauerrede anlässlich des Todes der Filmwissenschaftlerin Miriam Bratu Hansen schreibt Gertrud Koch: Being a contemporary means much more than just to live in a shared time slot; contemporaneity entails consciousness about the time in which one is living. Contemporaneity means to look at the present in terms of the future. How will the time have been that we have lived in? Contemporaneity has a historical index into the future and equally implies the link into the past.1

Wenn man sich heute, im April 2020, die Gespräche ansieht, die Alexander Kluge ab den 1990er Jahren mit Hansen führte, Gespräche über einen Gegenstand, der schon damals fast ein Jahrhundert zurücklag, überrascht die Gegenwärtigkeit, die Aktualität dieser Gespräche, sie sind nicht alt geworden. Liegt es an der Form der Gesprächsführung, der Spontaneität der Fragen und des Fragenden, an der Originalität des Formats oder eben doch an dieser Eigenschaft Miriam Hansens, die Gertrud Koch retrospektiv gefasst hat: die Luzidität ihrer Zeit, ihrer Gegenwart gegenüber, die ein Bewusstsein über eine Zukunft miteinschließt, aus der heraus die Gegenwart definiert werden wird. »Contemporaneity means to look at the present in terms of the future«, schreibt Koch. Vielleicht bedeutet »contemporaneity« aber eben auch, in die Vergangenheit blicken zu können, mit einer simultanen Perspektive von Gegenwart und potentieller Zukunft. In ihrer seriellen Anlage über einen zeitlich längeren Abstand hinweg werden die Folgen der Kulturmagazine zu Instrumenten jenes mnemotechnologischen Zugriffs, durch den sich das Fernsehen als Medium auszeichnet. Über einen Zeitraum von 15 Jahren, von 1990 bis 2005, »berichtete« Hansen Kluge in seinen Fernsehgesprächen vom frühen Film, vom Kino der Attraktionen, von der Kino-Erfahrung der Identifizierung mit der Bewegung der Bilder, von Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und Theodor Wiesengrund Adorno. Als Zuschauer*innen der dctp-

1 Gertrud Koch, »Eulogy for Miriam Hansen«, in: Critical Inquiry 37/4, 2011, S. 787–790, hier S. 788.

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Formate 10 vor 11, Primetime/Spätausgabe und News & Stories werden wir mit Alexander Kluge Zeug*innen der Entwicklung des Gastes Miriam Hansen, von der »bekannten Essayistin«2 bis hin zum »Professor am English Dept. der Universität von Chikago«.3 Während die alterslose Stimme Kluges aus dem Off die Worte der Frau im Frame immer ähnlich befragt, unterbricht, ergänzt und kommentiert, schillert Hansen in der Verschiedenheit der Aufnahmen hinsichtlich der Körnung der Stimme, der Beleuchtung und Ausgeleuchtetheit des Gesichts – weiße Haut, Sommersprossen, und Schatten, wenn das Licht von oben kommt.4 Wenn Rainer Stollmann die Charakteristika auflistet, durch die sich Kluges Fernsehgespräche auszeichnen, erwähnt er »unabhängige Produktion, unbeschnittene Dauer, Vermittlung von Stoffen, die sonst keine Chance im Fernsehen hätten, Erfahrungshorizonte statt Fachwissen und Sendeformate, Gespräche zweier Autoren statt Personen- und Expertenkult«5 und fast im Widerspruch zum letzten Punkt »schließlich die Person Alexander Kluges, d. h. Wissen, Lebendigkeit und Musikalität.«6 Mit der nur scheinbar gegenläufigen Absicht, nämlich jener, Kult zu betreiben, möchte ich mich in meinem Artikel einer Analyse jener ›Figur‹ widmen, auf die als Gegenüber in einer »intentionslosen kooperativen Kommunikation«7 Kluge »selbstvergessen die Aufmerksamkeit«8 richten konnte: auf die Forscherinnenpersönlichkeit Hansen und die Horizonte ihres/ihrer »Wissens, Lebendigkeit und Musikalität«, wie sie in Kluges Sendungen auftauchen und durch ihre Zusammenarbeit inszeniert werden. Über die einflüsternde (akusmatische) Stimme Kluges, über die Art des Audiodispositivs, das er in seinen TV-Sendungen schafft, wurde in den Jahrbüchern und anderswo bereits prominent nachgedacht und geschrieben.9 Meinem Interesse

2 »Vom Kampf der Liebe durch die Jahrtausende«, 10 vor 11, 16. 07. 1990, https://passagen.uni vie.ac.at/vom-kampf-der-liebe-durch-die-jahrtausende-1990/ [19. 10. 2020]. 3 »Der Mann, der 176 Filme gedreht hat«, Primetime/Spätausgabe, 04. 11. 1990, https://passa gen.univie.ac.at/der-mann-der-176-spielfilme-inszenierte-1990/ [21. 10. 2020]. 4 Damit erinnert ihr Bild an die Ausgeleuchtetheit des Stars im klassischen Hollywoodfilm. (Vgl. Richard Dyer, »Das Licht der Welt. Weiße Menschen und das Filmbild«, in: Kathrin Peters/ Andrea Seier (Hg.), Gender & Medien Reader, Zürich 2016, S. 177–194.) 5 Rainer Stollmann, »Artenkunde des Gesprächs bei Alexander Kluge«, in: Christian Schulte/ Winfried Siebers/Valentin Mertes/Stefanie Schmitt (Hg.),. Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 3: Formenwelt des Dialogs, Göttingen 2016, S. 131–148, hier S. 131. 6 Ebd. 7 Ebd., S. 132. 8 Ebd. 9 Vgl. Christian Schulte, »›…ein Gegenbild, das ist mehr als ein Spiegel.‹ Überlegungen zu den Fernsehgesprächen Alexander Kluges«, in: Augenblick. Fernsehen ohne Ermäßigung. Alexander Kluges Kulturmagazine, Marburger Hefte zur Medienwissenschaft 23, 1996, S. 75–97; Florian Wobser, »Kluges Kulturmagazine mit Gästen. TV-Gespräche im Off zwischen Dialog und Unterhaltung«, in: Schulte et al., Formenwelt des Dialogs, S. 9f.; Christa Blümlinger, »Rededispositiv und Filmbegriff in Kluges Kulturmagazinen«, in: Christian Schulte/Winfried

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an einer medienanalytischen Untersuchung und Entzifferung der HansenChiffre in Kluges Werk liegt daher weniger ein Nachdenken über die Einsätze philosophischer Diskurse (Florian Wobser) oder die Untersuchung der Dialogizität als medienästhetisches Verfahren (Valentin Mertes) zugrunde, sondern ich lasse mich vielmehr von dem affizieren, was die Herausgeber*innen des dritten Jahrbuchs als »leidenschaftliche Involvierung in ein Wissensgebiet, […] im Privaten wurzelnde Affektökonomien […], individuelle Tönungen der Stimme […]«10 beschrieben haben. Die von Kluge eingeladenen Expert*innen treten ihm weniger als Vermittler*innen konkreten Wissens gegenüber, die über Daten und Fakten informieren, denn als Menschen, deren jahre- oder jahrzehntelange Beschäftigung mit einem Thema sie mit einem »Erfahrungshorizont« ausstattet, der das Ergebnis einer in- und extensiven Auseinandersetzung ist.11 Die Begegnung mit den Geprächspartner*innen Kluges bleibt auch für die Zuschauer*innen offen und unabgeschlossen, insofern die Sendungen dazu einladen, die Entwicklung der Protagonist*innen durch die Zeit zu reflektieren und die Verdichtung ihrer Beziehung zum eigenen Forschungsgegenstand zu beobachten. Die Zuschauer*innen bewegen sich von der Entdeckung eines Berufsbildes (und oftmals einer Berufung) zur Analyse einer Sprechweise über einen spezifischen Gegenstand. Von »Das ist eine Filmwissenschaftlerin, das ist ein Biologe« zu »So spricht eine Filmwissenschaftlerin über Film, so spricht ein Biologe über Natur«. Ich glaube, dass nicht die Inhalte, die ja in meinen Sendungen eher kompliziert sind, sondern die Echtheit der Sprache von den Zuschauern nachgeprüft wird. Dass das wirkliche Menschen sind, die da berichten. Das ist es, was in Erinnerung bleibt.12

Als solchermaßen affizierte Zuschauerin verschriftliche ich eine Seh-Erfahrung und beobachte, was sie in mir an Fragen, an Ahnungen, an Ein- und Mehrdeutigkeit aufwirft. Als Filmwissenschaftlerin notiere ich, wie sich das in den Sendungen geteilte Wissen in Hansens Arbeiten und Forschungsinteressen eingliedert, wo es herkommt und wo es hingeht.13

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Siebers (Hg.), Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt/M. 2002, S. 105– 118. Schulte et al. (Hg.), Formenwelt des Dialogs, S. 9f. Vgl. ebd. Ebd. Als Gegenstand der Untersuchung dienen mir die zehn Videoclips und Mitschnitte der Kulturmagazine Alexander Kluges mit Miriam Hansen, die ich über die passagen-Webseite von Christian Schulte rezipieren konnte: https://passagen.univie.ac.at/?s=hansen [19. 10. 2020]. Die Titel der Sendungen lauten: »Goldylocks, Präsident Roosevelt und die Teddy Bears« (10 vor 11, 16. 04. 1990, 22.45mn), »Vom Kampf der Liebe durch die Jahrtausende« (10 vor 11, 16. 07. 1990, 23.01mn), »Rudolph Valentinos Art zu blicken« (10 vor 11, 08. 10. 1990, 25.19mn), »Der Mann, der 176 Spielfilme inszenierte« (Primetime/Spätausgabe, 04. 11. 1990, 15.08mn), »Organisiertes Glück« (News & Stories, 19. 09. 1994, 43.41mn), »The Making of

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Einstieg: Der Teddy Bear als Warenfetisch und als Chiffre des Anderen

Abb. 1–3: Miriam Hansen in »Goldylocks, Präsident Roosevelt und die Teddy Bears«.

Das erste Gespräch zwischen Kluge und Hansen fand am 16. April 1990 im dctpKulturmagazin 10 vor 11 statt.14 Das Video beginnt mit einer Collage, in der eine Illustration des Märchens Goldlöckchen gespiegelt und mit Ausschnitten aus dem Film Teddy Bears (US 1907) von Edwin S. Porter sowie Archivmaterial eines landenden Doppeldeckers montiert wird. Bedrohlich tönende Orchestermusik begleitet die ersten Bilder bis zum Textinsert, auf dem zu lesen ist: »Cinema of attractions/ Eine Filmrarität von Edwin S. Porter (1907)/ Das Mädchen Goldylocks aus ›Mother Goose‹/ Theodore Roosevelt als rettender Jäger/ Miriam Hansen von der Universität Chikago berichtet – -«. Mit der Frage »Wer ist Porter?« steigt Kluge in das Gespräch mit Hansen ein, die wir vor einem Fensterrahmen an einem Tisch sitzen sehen, auf dem ein Mikrophon angebracht ist und auf dem lose Unterlagen verteilt sind. Dieses Dispositiv mit Kluges Stimme aus dem Off und der nahen Einstellung auf Hansen, die in der Folge in eine Großaufnahme ihres Gesichts übergeht, begegnet uns in fast allen zehn Sendungen.15 Sind es nicht Fensterrahmen mit Jalousien oder Vorhängen, oder offene, in Hinterräume Einblick erlaubende Türen, so sind es Bildschirme, oftmals zwei bis drei, oder Filmsequenzen, die via Bluescreen im Hintergrund der America« (10 vor 11, 17. 10. 1994, 22.39mn), »Wer hat Angst vor Massenkultur« (News & Stories, 01. 12. 2002, 45.02mn), »Japanische Mädchen am Hafen« (Primetime/Spätausgabe, 24. 04. 2005, 15.33mn), »Kapitalistische Moderne und Intimität« (10 vor 11, 22. 08. 2005, 28.23mn), »Achterbahn ins Glück« (10 vor 11, 24. 03. 2003, 25.07mn). 14 »Goldylocks, Präsident Roosevelt und die Teddy Bears« (1990), 10 vor 11, 16. 04. 1990, https://passagen.univie.ac.at/goldylocks-prasident-roosevelt-und-die-teddy-bears-1990/ [21. 10. 2020]. 15 Christa Blümlinger über das Rededispositiv in der Sendung »Goldylocks, Präsident Roosevelt und die Teddy Bears«: »Miriam Hansen wird in einem kleinen Studio so ausgeleuchtet, dass ihr Gesicht teilweise überschattet ist, was weniger einen expressionistischen Kunstgriff darstellt als so etwas wie den Authentizitätseffekt der arte povera des Kulturfernsehens, einer Form von televisueller ›Gegenöffentlichkeit‹, die versucht, die dominanten Zeichen abzuschaffen und verarmen zu lassen, um sie auf Archetypen des Laufbildes zu reduzieren. Die dunklen Schatten tun Hansens Photogenität keinen Abbruch: Diesem sprechenden Gesicht ist die filmische Qualität der photogénie eigen […].« (Blümlinger, »Rededispositiv und Filmbegriff in Kluges Kulturmagazinen«, S. 107.)

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Sprechenden zu sehen sind (siehe Abbildungen 1–30). Hansen beschreibt zu Beginn des Gesprächs den Entstehungskontext des Films Teddy Bears, der von der Firma Edison bei einem ihrer Filmvorführer, Edwin S. Porter, in Auftrag gegeben wurde und in dem zwei Geschichten miteinander verbunden werden: ein populäres Märchen, dessen Quellen aus dem Mittelalter stammen, und die Urban Legend des Teddy Bears, der nach dem US-amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt benannt ist, dem im Film die Rolle des Retters des jungen Mädchens zukommt. Den Stummfilm auf einem größeren Bildschirm im Hintergrund abspielend, kommentiert Hansen davorstehend die Ästhetik und Inszenierung des Films und stellt gleichzeitig Vermutungen darüber an, was zeitgenössische Zuschauer*innen bei der Filmprojektion sahen. Die Frage nach der Rezeption des frühen Films, und in den letzten beiden Sendungen zum japanischen Film, d. h. die Frage nach dem Erfahrungshorizont der Zuschauer*innen und nach ihren jeweiligen Seherfahrungen ist eine, die sich als roter Faden durch die Sendungen zieht und die sowohl Hansen als auch Kluge immer wieder umtreibt. Aber auch die Zuordnung der Filmbeispiele im größeren Kontext der Filmgeschichte mit ihren Begriffen und Paradigmen ist Thema der Gespräche. Im Film Porters zeigt sich beispielsweise nicht nur der Übergang von dem, was Tom Gunning als ›Kino der Attraktionen‹ bezeichnet hat, zum narrativen Film: von der theatralen, fiktionalen, gemalten Kulisse der ersten Szene (Fairy Tale) bis hin zum Realismus der Verfolgungsjagd (Chase Comedy), die in der natürlichen Landschaft stattfindet. Sondern er setzt mit dem Mädchen, das zum Preis des Todes der Bäreneltern alle Plüschbären aus dem Bärenhaushalt für sich erhält, die Konsumentin des Spätkapitalismus in Szene, deren Sehnsucht nach dem Produkt immer mehr Sehnsucht nach weiteren Produkten generiert: »Sie will alle Bären, da sie eine gute Konsumentin ist; einer allein tut’s dann nicht.«16 Nach den Erläuterungen von Hansen bekommen wir den Film von Porter in extenso und mit Orchestermusik zu sehen und zu hören. Am Ende des Videos spricht Hansen noch einmal aus der Totalen, vor den beiden Bildschirmen sitzend, über die verschiedenen Versionen des Märchens und die Geschichte des Eindringens in einen Raum ›der Anderen‹. Dabei weist sie darauf hin, dass in der historischen Entwicklung das Narrativ des Eindringens in den Raum ›der Anderen‹ immer legitimer wird. Goldylocks wird nicht nur nicht bestraft, wie Hansen sagt, sondern sogar von Teddy Roosevelt belohnt, der die Bäreneltern tötet, das Bärenkind gefangen nimmt und die Plüschbären dem Mädchen aushändigt. Hier endet das Video und lässt uns darüber spekulieren, warum das Narrativ sich gerade 1907 so verändert. Liegt zunächst die Vermutung nahe, dass die kapitalistische Leistungsgesellschaft vom Fetisch der Ware besessen ist, zieht Hansen in einem knapp drei Jahre später erscheinenden Text eine Parallele vom frühen Film zum 16 Hansen in »Goldylocks, Präsident Roosevelt und die Teddy Bears« (1990).

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Avantgardefilm und beschreibt eine entscheidende Similarität. In »Early Cinema, Late Cinema. Permutations of the Public Sphere«17 zeichnet sie eine Entwicklung nach, die das post-klassische mit dem prä-klassischen Kino verbindet, und an der ein Verständnis von »Öffentlichkeit« virulent wird, das Hansen von den Autoren der Frankfurter Schule (Adorno, Horkheimer) sowie von Alexander Kluge und Oskar Negt herleitet.18 Sowohl das präklassische als auch das postklassische Kino sind von einer Transformation der öffentlichen Sphäre gekennzeichnet, die stark mit dem Nexus Zuschauer*innen, Massen- und Konsumkultur verbunden ist.19

Griffiths Intolerance als Symptom des Eintritts der weiblichen Zuschauerin in die Konsumsphäre

Abb. 4–6: Hansen in »Vom Kampf der Liebe durch die Jahrtausende«, Screenshot von Intolerance (US 1916).

Drei Monate später zeichneten Kluge und Hansen das nächste Gespräch für 10 vor 11 auf. Ein Gespräch, das dem Epos Intolerance (US 1916) von D.W. Griffith und der Frage der weiblichen Zuschauerinnen bzw. Protagonistinnen des Frühen Films gewidmet war. Das Textinsert am Anfang der Sendung kündigt an: »Griffith und die Biograph, (sic!) N.Y./ Publikumsmißerfolg Intolerance Das Projekt der ›Universal Language‹/ Miriam Hansen (Chikago) berichtet«.20 Hansen steigt in das Gespräch mit der Bemerkung ein, dass es sie interessiere, wie Griffith mit seinem Film Intolerance, der im Gegensatz zu The Birth of a Nation (US 1915) kein Kassenschlager war, am Publikum gescheitert sei. Ungewöhnlich ist schon die Aufführung der »viragierten und verräumlichten« Filmbilder in der Folge mit Hansen, die der authentischen Aufführungssituation der 1910er Jahre nahe kommt und einem heutigen Kinopublikum nicht unbedingt bekannt ist.21 17 Hansen, »Early Cinema, Late Cinema: Permutations of the Public Sphere«, in: Screen 34/3, 1993, S. 197–210. 18 Vgl. ebd., S. 201f. 19 Vgl. ebd., S. 201. 20 »Vom Kampf der Liebe durch die Jahrtausende« (1990), 10 vor 11, 16. 07. 1990, https://passa gen.univie.ac.at/vom-kampf-der-liebe-durch-die-jahrtausende-1990/ [19. 10. 2020]. 21 Vgl. Blümlinger, »Rededispositiv und Filmbegriff in Kluges Kulturmagazinen«, S. 109.

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In einer sog. Prismenprojektion sehen wir die vier wichtigsten Momente der Narration, die nicht chronologisch aufeinander folgend, sondern parallel zueinander erzählt werden (Parallelmontage): vier historische Kontexte, in denen Liebesbeziehungen die Narration triggern, vom Untergang Babylons im 7. Jahrhundert und der Jesus-Episode im Johannesevangelium zur Barthomoläusnacht im Renaissance Frankreich und der modernen Episode von 1915. Nachdem Hansen den komplexen Plot ausführlich und immer wieder durch Ergänzungen ihres Gesprächspartners unterbrochen, dargestellt hat, fragt Kluge: »Was kann das weibliche Publikum mit dem Film anfangen?«, »Das weiß ich nicht, das Problem war, dass zu dieser Zeit niemand etwas damit anfangen konnte.« Dies hängt, wie Hansen weiter ausführt, nicht nur mit der experimentellen Struktur des Films zusammen. Griffith verstehe Film als eine Universalsprache, die in intersubjektiv verständlichen Hieroglyphen vermittelt werde: Die spezifische Raumkonzeption bewirke, dass der Film gelesen werden müsse wie ein Fries, was umso erstaunlicher sei, als zu diesem Zeitpunkt filmische Techniken der ›Suture‹ (der Einbindung der Zuschauer*innen) bereits bekannt waren. Auch bei diesem Film spiele die grundlegende Veränderung des öffentlichen Raums eine maßgebliche Rolle. Griffith thematisiert diese ebenso intuitiv wie obsessiv. Frauen dringen in die Öffentlichkeit vor und zerstören jene Vorstellungen von Weiblichkeit (im Sinne eines viktorianischen keuschen Schönheitsideals à la Lillian Gish), mit denen Griffith aufgewachsen ist. Intolerance, so Hansen, sei geradezu überbevölkert von alleinstehenden Frauen, die der aus einer ländlichen Südstaaten-Region nach New York gekommene Griffith instinktiv als Problem fasst. Von den mörderischen alten Jungfern bis hin zu Prostituierten, sie alle verkörpern Aspekte moderner weiblicher Sexualität, verbunden sind sie durch das Geld bzw. den Konsum. Die These Hansens ist, dass Griffith von den Prostituierten und der Prostitution fasziniert war, und dass er dies in dem Film verarbeitet. Das Textinsert kündigt die Überleitung an: »Das frühe Kino und die Frauen –«. Hansen sieht in der filmischen Verarbeitung der Frauenproblematik eine Reaktion des Regisseurs auf jenes neue Publikumssegment der weiblichen Zuschauerin. Die Popularität des Kinos, die auch damit zu tun hatte, dass Kino einer der ersten Orte war, wo Frauen alleine hingehen konnten, ging durch alle Schichten: Hausfrauen, junge Arbeiterinnen, bürgerliche Frauen. In dem Maße als sich Kino zur Mittelklasseunterhaltungsform entwickelte, verfolgten die Kinobetreiber eine Strategie der ›Gentrifzierung des Publikums‹. Wie bereits bei den Variété-Theatern wurden gezielt Frauen als Zielgruppe angesprochen, mit dem Ziel, das Kino als gediegene Form der Unterhaltung zu etablieren.

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Blickregime in Hollywood und bei dctp

Abb. 7–9: Kluge blickt auf Hansen, Hansen blickt auf Kluge, Valentino blickt auf Hansen.

Die dritte der vier 1990 aufgezeichneten Sendungen wurde am 8. Oktober gesendet und war dem Stummfilmdarsteller Rudolph Valentino gewidmet.22 Es ist der spielerischste der zehn Clips und konfrontiert die erotischen Blicke Valentinos mit einem koketten Blick auf Hansen, der die Kamera immer näher kommen möchte, was in den letzten Einstellungen in einer Nahaufnahme kulminiert, die die entblößte Schulter Hansens zeigt. Man kommt nicht umhin, hierin das »klassische Codierungspaar Frau-Bild-Körper versus Mann-OffStimme-Blick«23 erkennen zu wollen, wie Christa Blümlinger das bereits in ihrer Analyse der vorangegangenen Sendung vom 16. 07. 1990 tut. Nichtsdestotrotz scheint mir die Gender-Codierung in dieser Aufzeichnung noch komplexer zu sein, sind doch weder die Blicke Kluges, noch jene Hansens Thema der Sendung, sondern die Blicke des Schauspielers Valentino und die weiblichen Zuschauerinnen, die ihrerseits in dem Schauspieler ein Objekt erkennen, auf das sie ihr Begehren richten. Wer blickt hier also auf wen? Und wer wird für wen zum Image? In ihrer Analyse der Filmfigur und der Persona Rudolph Valentinos zeigt Hansen, dass Valentino das klassische Hollywood’sche Blickregime interessant unterläuft. Hansen beschreibt den ›magischen‹ Blick Valentinos als einen, der entgegen dem Mythos, dass Frauen seinem Blick jederzeit verfallen würden, auf Gegenseitigkeit aus war. Ein Blick, der nicht unbedingt etwas erreichen will, sondern der sich selbst an ein Bild verliert. In ihrem Text »Pleasure, Ambivalence and Identification« führt sie das mit Bezug auf Laura Mulvey genauer aus: »Valentino’s appeal depends, to a large degree, on the manner in which he combines masculine control of the look with the feminine quality of ›to-belooked-at-ness,‹ to use Mulvey’s rather awkward term.«24 Der Körper Valentinos verbindet also die beiden Pole des Blickregimes des klassischen Hollywoodfilms, wie es viel später Laura Mulvey kritisiert hat: er ist zugleich Träger und Objekt des (begehrenden) Blicks. Für Hansen weist ihn diese sexuelle Ambivalenz, die 22 »Rudolph Valentinos Art zu blicken« (1990), 10 vor 11, 08. 10. 1990, https://passagen.uni vie.ac.at/rudolph-valentinos-art-zu-blicken-1990/ [21. 10. 2020]. 23 Blümlinger, »Rededispositiv und Filmbegriff in Kluges Kulturmagazinen«, S. 109. 24 Miriam Hansen, »Pleasure, Ambivalence and Identification. Valentino and Female Spectatorship«, in: Cinema Journal 25/4, 1986, S. 6–32, hier S. 12.

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herkömmliche Vorstellungen von Männlichkeit infrage stellt, als Chiffre für den Kampf zwischen den Geschlechtern aus, der den Eintritt des weiblichen Publikums in die Konsum-Öffentlichkeit begleitet. »Und was denkst Du als Feministin?«, fragt Kluge unvermittelt – als ob die Filmwissenschaftlerin a priori anders dächte als die Feministin. Hansen, nach kurzem Nachdenken: An der Gestalt Valentino kristallisiere sich ein Grundwiderspruch des amerikanischen Kinos, nämlich die zentrale Stellung der Frauen als Kinopublikum ab den 1910er Jahren und der Versuch, ihnen als Konsumentinnen gerecht zu werden, ohne dabei das Patriarchat in Frage zu stellen. Die Formel müsse heißen: konsumentinnenkonform und gleichzeitig patriarchatskonform. Valentino bringe mit seiner untypischen Männlichkeit Unruhe in die Schemata Hollywood’scher Repräsentation. Weiße Männer projizierten ihre Ängste auf den ethnisch Anderen, den Italiener, den ›schwarzen Mann‹. Tatsächlich ginge es aber um die freigesetzte Sexualität der Frauen. Auch der frühe Tod Valentinos und seine Bestattung, für die er testamentarisch festgehalten hatte, dass sein Körper für seine (weiblichen) Fans aufgebahrt werden solle, markiert eine gesellschaftspolitische Wende, indem weibliches Begehren sozusagen einen Raum erhält, sich auszudrücken. In der hysterischen Trauer um den Schauspieler, die sich letztlich auch darin äußert, dass Frauen (und Männer) zu seiner Bestattung pilgerten, um Knöpfe seines Anzugs, Kerzen oder Blumen vom Begräbnis mitzunehmen,25 zeigt sich ein Körperkult, den Hansen als Subversion patriarchaler Geschlechterverhältnisse liest. In ihrem Text über Valentino, der vier Jahre vor dem Gespräch mit Kluge erschien, schreibt sie über dieses Schlüsselmoment weiblicher Zuschauer*innenschaft: It may be read […] as a kind of rebellion, a desperate protest against the passivity and one-sidedness with which patriarchal cinema supports the subordinate position of women in the gender hierarchy. In such a reading, even the commercially distorted manifestation of female desire might articulate a utopian claim – to have the hollow promises of screen happiness be released into the mutuality of erotic practice.26

Den Kult, den weibliche Zuschauer*innen Valentino widmeten, versteht Hansen also als Rebellion gegen die Einseitigkeit der Darstellung der Geschlechterhierarchie im Hollywoodfilm. Der vermeintlichen Hysterie gewinnt sie einen Aspekt von Agency ab, die aktiv die Utopie einer »Gegenseitigkeit [heterosexueller, Anm. N.K.] erotischer Praxis« einfordert.

25 Ebd., S. 25. 26 Ebd., S. 25f.

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»Der Mann, der 176 Spielfilme inszenierte« (Primetime, 04. 11. 1990, 15.08mn)

Abb. 10–12: Irislinsen und Überblendungen in »Der Mann, der 176 Spielfilme inszenierte«.

Die letzte der vier Aufzeichnungen des Jahres 1990 wurde am 4. November 1990 gezeigt. Im Zentrum der Primetime-Sendung stand Michael Curtiz, der Regisseur des Kultfilms Casablanca (US 1942). Wie Kluge und Hansen zeigen, produzierte Curtiz lange vor seinem Durchbruch als Hollywood-Regisseur bereits Monumentalfilme, die noch unter seinem ungarischen Namen Michael Kertész (Mihály Kertész Kaminer) in den 1920er Jahren in Wien entstanden sind, und in denen er die Eindrücke von Verdun verarbeitete: Der Untergang von Sodom und Gomorrha (1921) und Die Sklavenkönigin (1923). Drei Dinge fallen in dieser Folge im Vergleich zu den ersten drei Folgen auf: die Redezeit Hansens ist mit knapp acht von insgesamt 15 Minuten relativ stark eingeschränkt. Hansen sitzt während des Gesprächs zwischen zwei Röhrenbildschirmen, wobei auf dem vorderen Der Untergang von Sodom und Gomorrha und auf dem hinteren Die Sklavenkönigin zu sehen ist. Das Mikrophon muss in dieser komplizierten Anordnung über den vorderen Bildschirm zu ihr hin installiert werden. Der Rest der Aufzeichnung besteht aus Sequenzen aus den beiden Filmen, wobei diese auf interessante Weise ineinander montiert sind: Die Sklavenkönigin sehen wir durch eine kreisförmige Irislinse auf dem Hintergrund der Negativ-Filmaufnahmen von Sodom und Gomorrha. Die Sklavenkönigin weist Einflüsse von Cecil B. de Milles Zehn Gebote auf und zeigt das Bedürfnis nach spektakulären Filmen, sagt Hansen. Im zweiten Teil dreht sich die Anordnung um, wir sehen Die Sklavenkönigin im Negativ-Hintergrund, und Sodom und Gomorrha in der Irislinse. Kluge und Hansen drücken beide ihre Erstaunen darüber aus, dass der Regisseur von Sodom und Gomorrha der Regisseur Casablancas war: Während Casablanca stilistisch einheitlich sei, sagt Hansen – sensibel, sagt Kluge –, sei das Besondere an Sodom und Gomorrha gerade die Heterogenität, der Eklektizismus der Inszenierung, die Zusammenstückelung aller stilistischen Traditionen der Zeit (Expressionismus, Realismus, Naturalismus). »Alles, was erfolgreich ist, wird zusammengebaut«, sagt Kluge – von Michael Kertész, über Courtice, zu Michael Curtiz. Am Ende der Episode sehen wir »Filmbilder von der Schlacht vor Verdun 1916« und im Anschluss daran noch einmal die Pyrotechnik in Der

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Untergang von Sodom und Gomorrha. Zwar fällt die Sendung in der Reihe der Hansen-Klugeschen Begegnungen etwas aus der Reihe, doch scheint der gemeinsame Nenner des Interesses jener zu sein, dass mit Michael Curtiz/Michael Kertész ein Filmemacher gewählt wurde, der einerseits die Wende vom frühen Film und des Kinos der Attraktionen hin zum narrativen Film und seiner Erfolgsgeschichte markiert und der andererseits sowohl als Filmemacher der Massenkultur als auch als früher Auteur in Erscheinung tritt. Dieses Wechselverhältnis von Filmkunst und Massenkultur, das sowohl Kluge als auch Hansen nachhaltig beschäftigt hat, scheint am Beispiel von Curtiz deutlich zutage zu treten.

»Organisiertes Glück« (News & Stories, 19. 09. 1994, 43.41mn)

Abb. 13–15: Hansen in »Organisiertes Glück« von der Geometrie der Fragmentarisierung (Gold Diggers, US 1933) zur Lust am Schock: (Electrocuting an Elephant, US 1903).

Vier Jahre nach den ersten vier Sendungen in 10 vor 11 und in Primetime mit Hansen war sie 1994 noch einmal Gast in einem der Kulturmagazine, in News & Stories.27 Diesmal, um sich »als führende Expertin auf dem Gebiet Kulturindustrie und Film in den U.S.A.« ausführlich auf »Siegfried Kracauer und die Attraktionen der Moderne«28 einzulassen. Das Zusammendenken der Kritischen Theorie und des Films steht tatsächlich im Zentrum der wissenschaftlichen Arbeit Hansens, ihr wichtigstes Buch zu diesem Thema erschien fast zwanzig Jahre später, 2012, posthum: Cinema and Experience. Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Gertrud Koch in ihrer Trauerrede: »To combine Adorno and film theory remained a lifelong enterprise that Miriam finally accomplished with a book that will be published posthumously, her legacy to all of us that gives us the opportunity to remain engaged with her work.«29 Die Auseinandersetzung zwischen Kluge und Hansen zu dieser Thematik fand 1994 nicht nur in der Aufzeichnung des Kultur27 Zu den Formaten der Kulturmagazine als televisuelle Gegenproduktionen, vgl. Christian Schulte: »Fernsehen und Eigensinn«, in: Schulte/Siebers (Hg.), Kluges Fernsehen, S. 65ff. 28 Vgl. den einführenden Text auf https://passagen.univie.ac.at/organisiertes-gluck-1994/ [21. 10. 2020]. 29 Koch, »Eulogy for Miriam Hansen«, S. 787.

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magazins statt; im Jahr vor der Aufzeichnung hatte Hansen einen Artikel in Screen publiziert, »Early Cinema, late cinema: Permutations of the Public Sphere«,30 in dem sie sich mehrfach auf Kluges filmische Arbeit und seine Beiträge zum Fernsehen bezieht sowie auf das 1972 im Suhrkamp Verlag erschienene Buch von Negt und Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung.31 In »Organisiertes Glück« berichtet Hansen von den rationalisierten Produktionsstrukturen des Spätkapitalismus und der Fragmentarisierung der Lebenserfahrung, die sowohl mit der Erfahrung des Ersten Weltkriegs, als auch mit der Zerlegung der Arbeitsprozesse zu tun hat. Die Geometrie der Fragmentarisierung, die Kracauer faszinierte, zeigt sich beispielsweise in den Musicals mit den Choreografien von Busby Berkeley in der Szene der Shadow Waltz (in Gold Diggers, bei dem Mervyn LeRoy Regie führte, US 1933) mit den tanzenden Violinen, an deren Rändern Lichtstreifen angebracht sind. Bezeichnete der Begriff »Gold Digger« (deutsch Goldgräber) zunächst pejorativ geldgierige und zu allem bereite junge Frauen, erfuhr die Bezeichnung nach der Depression in den frühen 1930er Jahren eine Neubewertung und galt als Selbstbeschreibung autonomer, erfolgreicher Frauen im Stil Joan Crawfords, die Karriere machten. Hier wird ein analytischer Blick Hansens deutlich, der im frühen Film sowie in Schriften über die Attraktionen der Moderne den Standpunkt der Frauen zu vergegenwärtigen sucht, wie das beispielsweise auch Heide Schlüpmann in ihrem Text »Kinosucht«32 getan hat. Ausgehend von Kracauers despektierlicher Bezeichnung der »Ladenmädchen« und indem sie sich auf eine soziologische Studie des Jahres 1924 von Emilie Altenloh bezieht, zeigt Schlüpmann, dass jenes großstädtische Kinopublikum der Angestellten, das mit Kracauer in den Kinos Zerstreuung sucht und damit auch Widerstand gegen die spätkapitalistische Rationalisierung betreibt, brisanterweise weiblich ist. Die Frauen sind das Publikum des frühen Films, und die Frauen sind es, die der Zeit etwas entgegensetzen.33 Hansen zielt in eine ähnliche Richtung, wenn sie den Ladenmädchen Kracauers die ›Gold Diggers‹ gegenüberstellt, die sie als frühe Figuren weiblicher Agency und feministischer Solidarität begreift. Im zweiten Teil der Sendung kommt das Dispositiv des Zirkus in den Blick und damit die Frage, wie es sich in den modernen Attraktionen fortsetzt. Kluge fragt: »Jetzt nimm mal die Elefanten […] wo setzen die sich fort?«, worauf Hansen antwortet, dass der Elefant im Sinne der Kontinuität der Faszination über das Monströse der Natur als Dinosaurier in Spielbergs Jurassic Park (US 1993) 30 Miriam Hansen, »Early Cinema, late cinema. Permutations of the Public Sphere«, in: Screen 34/3/, 1993, S. 197–210. 31 Oskar Negt/Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung, Frankfurt/M. 1972. 32 Heide Schlüpmann, »Kinosucht« (1982), in: Kathrin Peters/Andrea Seier (Hg.), Gender & Medien-Reader, Zürich-Berlin 2016, S. 61–71. 33 Vgl. Schlüpmann, »Kinosucht«, S. 62.

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endet. »Dinosaurier sehen und nicht gefressen werden«,34 so der Titel eines knapp ein Jahr später veröffentlichen Textes von Hansen, in dem sie über Gewaltwahrnehmungen im Kino bei Benjamin, Kracauer und Spielberg schreibt. Die Elefanten des Zirkus seien ja aber doch noch relativ harmlos (sagt Kluge), »außer sie agieren aus« (sagt Hansen), oder »sie brechen aus«, oder »der Zirkus brennt« (sagt Kluge), »und dann werden sie zum Tode verurteilt« (sagt Hansen) und Kluge hat gerade noch ein bisschen schneller die Frage gestellt: »Und was ist eine Fortsetzung des Zirkusbrandes? Also, dass der Artist herabstürzt, dass der Zirkus anfängt zu brennen, gehört zu den gefahrvollen Dingen des Zirkus.« Und Hansen setzt den Satz fort, den sie eben sagte: »Und dann hast du sowas wie Electrocution of an Elephant, diesen Edison-Film 1903«. Den Film, dessen Titel eigentlich Electrocuting an Elephant lautet und der tatsächlich die Todesstrafe der Elefantin Topsy aufzeichnet, die drei Männer, Wärter, umgebracht haben soll,35 sehen wir direkt anschließend an diese Gesprächspassage. An diesen Einminüter wiederum schließt direkt der Film The Kiss (US 1896) an, den man als frühes Sequel zur Broadway-Produktion The Widow Jones bezeichnen kann und der die Schlussszene des Theaterstückes – den Kuss – in Szene setzt und so die erste Kussszene (26 sec) des Kinos zeigt. Die Erfahrung, Gewalt und Erotik aus nächster Nähe zu erleben, gleichzeitig geschützt durch die Position des/der passiv Betrachtenden, ist die Verheißung und die Attraktion dieser frühen Filme.

34 Vgl. Miriam Hansen: »Dinosaurier sehen und nicht gefressen werden: Kino als Ort der Gewaltwahrnehmung bei Benjamin, Kracauer und Spielberg«, in: Gertrud Koch (Hg.), Auge und Affekt. Wahrnehmung und Interaktion, Frankfurt/M. 1995, S. 249–271. 35 Bei Alexander Kluge heißt es in einem ›Bericht des Rechercheurs und Kabelträgers Edwin S. Porters‹: »Die Wärter führten das delinquente Tier auf einen freien Vorplatz, auf dem durch Seile ein Abstand zwischen Tier und Zuschauern festgelegt war. […] Ich habe den Film vierzehnmal angeschaut. Ich kann sagen: Man sieht sehr wenig. […] Der für mich aufregendste Moment wurde nicht gefilmt: wie der Elefant sich von den Wärtern ruhig auf den Vorplatz führen lässt, er, der sich hätte losreißen und jedes Hindernis hätte niedertrampeln können.« Alexander Kluge, Geschichten vom Kino, Frankfurt/M. 2007, S. 53ff.

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Demokratisierung der Lebensverhältnisse vs. ›Ornament der Masse‹

Abb. 16–18: Hansen und Kluge in »The Making of America«, Screenshot aus The Crowd (US 1928).

Knapp ein Monat später findet das nächste Gespräch zwischen Kluge und Hansen statt.36 Das Gespräch findet sich in transkribierter Fassung in dem von Christian Schulte und Winfried Siebers herausgegebenem Buch Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine (2002).37 Eingestiegen wird mit Benedict Andersons mittlerweile etwas in die Jahre gekommenen Konzept der »Imagined Community«, das zum Zeitpunkt der Sendung knapp zehn Jahre alt war. Während sich eurasische und afrikanische Nationen über historisch gewachsene und homogene Komplexe von Narrativen und kollektive Erzählungen, Symboliken und Bilder konstituieren, verhält sich dies für die United States ganz anders. Wie entstand die Vorstellung einer vereinten Nation USA mit ihrer heterogenen und multi-ethnischen Bevölkerung, fragt Kluge Miriam Hansen. Durch die »Produktion einer Warenwelt, einer Konsumsphäre, die sowohl Arbeitsbereich als auch Freizeitbereich umfasste.« Die Tatsache, dass im ganzen Land dieselben Produkte zu finden waren, stellte eine Gleichheit her, die es, so Hansen, möglich machte, sich an jedem Ort in Amerika (wie) zu Hause zu fühlen. Als Folge dieser Demokratisierung der Lebensverhältnisse und der Verbreitung der MittelklasseIdee müssen die Strategien zur Nobilitierung der Massenunterhaltungsindustrie vom Variété (direkte Interaktion zwischen Performer*in und Publikum; Frauen alleine waren im Publikum nicht zugelassen) zum Vaudeville (Passivität des Publikums; Frauen und Familien) verstanden werden. Damit wird in The Making of Amercia ein Thema aufgegriffen, das bereits in der zweiten Sendung diskutiert wurde: die Rolle der weiblichen Konsument*innen und Zuschauer*innen in der Konstitution einer Öffentlichkeit, die nicht zuletzt durch das Kino in einer spezifischen Weise geformt wurde. Als ein filmisches Beispiel, das auf mehrdeutige Weise den Konflikt zwischen der Demokratisierung der amerikanischen Gesellschaft einerseits und der Uniformität der Massen andererseits reflektiert, 36 »The Making of America«, (1994), 10 vor 11, 17. 10. 1994, https://passagen.univie.ac.at/the-ma king-of-america-1994/ [19. 10. 2020]. 37 Schulte/Siebers (Hg.), Kluges Fernsehen, S. 119–127.

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nennt Hansen The Crowd (US 1928) von King Vidor. Ein Film, der den Aufstieg und Fall eines typischen jungen US-Amerikaners zeigt, der dem Versprechen eines guten Lebens folgt, letztlich scheitert und in einer Masse untergeht, die das Individuum aufzulösen scheint. In einem Artikel, der wenige Jahre nach dieser Sendung in deutscher Sprache erschienen ist, zeigt Hansen, wie der Film als exemplarischer Vertreter des neuen Mediums sein (Massen-)Publikum konstruiert.38 Eine Stelle, die in der Transkription des Gesprächs ausgespart ist und die ich hier gerne ergänzen möchte, ist jene, als Kluge Hansen, die man hier auch ausnahmsweise einmal zusammen im Bild sieht, eine Frage zu ihrer Professur stellt: »Du bist Professorin in Chicago, ja? Beschreib mir doch mal, wie ist die Bezeichnung deiner Professur? Was lehrst du da?« »Die Bezeichnung meiner Professur ist Andrew W. Mellon Professor in the Humanities.« Diese von der Mellon Stiftung gestiftete Professur ermögliche Hansen, wie sie weiter ausführt, ein Programm über Film- und Massenmedienstudien aufzubauen, für Studierende der Literaturwissenschaft, der Anthropologie, der Geschichte. Am Ende erzählt sie, dass sie derzeit an einem Buch über die Frankfurter Schule und den Film sitze, ein Buch, das erst posthum erscheinen sollte.

Film als Chance der Massenkultur

Abb. 19–21: Abb. 19–21: Hansen in »Wer hat Angst vor der Massenkultur«, Laterna Magica-Bild und hinter das Fenster montiert, Hitler und Charlie Chaplin, beide mit Hund.

Acht Jahre später, in einer Sendung über Walter Benjamin mit dem Titel: »Wer hat Angst vor der Massenkultur«39 begegnen wir Hasen wieder, das von links nach rechts eingeblendete Textinsert stellt sie uns als »Benjamin-Forscherin in Chicago« vor. Der erste Teil des Gesprächs ist der Theorie der Moderne gewidmet, wie sie Benjamin auch in Abgrenzung zu den Schriften der Frankfurter 38 Vgl. Miriam Bratu Hansen, »Ein Massenmedium konstruiert sein Publikum: King Vidors The Crowd (1928)«, in: Annette Graczyk (Hg.), Das Volk. Abbild, Konstruktion, Phantasma, Berlin 1996, S. 47–59. 39 »Wer hat Angst vor Massenkultur« (2002), News & Stories, 01. 12. 2002. Diese Sendung ist auch auf der Webseite dctp einsichtig: https://www.dctp.tv/filme/angst-vor-der-massenkultur-ne ws-stories-01-12-2002 [19. 10. 2020].

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Schule über die Kulturindustrie entwickelt hat. Der Film stellt für den NichtKinogänger Benjamin ein Potential dar, das er sich weniger über Kinobesuche als über das Studium einschlägiger Quellen in der Pariser Bibliothèque Nationale herleitet, in der er seine materielle Geschichte der Moderne entwickelt. Hansen beschreibt Sigmund Freuds Aufsatz »Jenseits des Lustprinzips« (1920) als wichtige Referenz für Benjamins Auffassung des ›Chocks‹, der zu einer Anästhesierung der Sinne führe. Die Erfahrung der Schützengräben und des Ersten Weltkriegs hätten zu einer Abstumpfung der Sinne geführt (zu einem Schutzpanzer, das Wort »Charakterpanzer« befindet sich auf einem Textinsert), die die Menschen gleichzeitig nach immer stärkeren Stimuli in der Unterhaltungskultur und dem Massenvergnügen verlangen ließe. Massenkultur, so Hansen, Benjamin referierend, führe in ihren vielfältigen Formen entweder immer wieder zur Entfremdung des Menschen und zum Krieg oder aber – und hier versteht Benjamin den Film als Chance – ermögliche ein Gleichgewicht von Mensch und Technik, das, gleich einem Spiel, immer wieder neu erfahrbar wäre.40

Die Filmwissenschaftlerin fährt Achterbahn

Abb. 22–24: Hansen mit Frames aus Lonesome (US 1928) hinter Hansen, der Weltraum-Hund Lajka.

Ein paar Monate später begegnen sich Kluge und Hansen wieder,41 um das Gespräch über Benjamin noch einmal zu vertiefen, indem sie sich über jenen Film unterhalten, der, laut Kluge, als Benjamins Lieblingsfilm gilt.42 Im selben Jahr erschienen wie King Vidors The Crowd, der bereits Thema eines gemeinsamen Gesprächs war, steht der Hollywood-Film Lonesome (US 1928) des ungarischen Regisseurs Pál Fejös (oder Paul Fejos) nun im Zentrum eines der fröhlichsten 40 Vgl. das posthum erschiene Buch Miriam Bratu Hansen, Cinema and Experience. Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und Theodor W. Adorno, Berkeley 2012. 41 Vgl. »Achterbahn ins Glück« (2003), 10 vor 11, 24. 03. 2003, https://passagen.univie.ac.at/achte rbahn-ins-gluck-2003/ [21. 10. 2020]. Diese Sendung ist auch auf der Webseite der dctp einsichtig: https://www.dctp.tv/filme/achterbahn-ins-glueck-10-vor-11-24-03-2003 [19. 10. 2020]. 42 Dieses Gespräch ist in transkribierter Form abgedruckt in dem Miriam Hansen gewidmeten Buch von Christian Schulte (Hg.), Eine Frage des Zusammenhangs. Alexander Kluge im Kontext, Berlin 2012, S. 130–137.

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und gelöstesten Gespräche zwischen Kluge und Hansen. Ähnlich wie in den anderen Gesprächen ist der Vergnügungspark Coney Island in New York wieder Thema, insofern als er der Liebesgeschichte als Kulisse dient und als Ort, an dem in Form der Achterbahn die Merkmale der modernen Massengesellschaft und ihrer Sucht nach der schwindelerregenden Vergnügung sichtbar werden, Jubel und Gefahr ganz eng beieinander liegen. Lonesome erzählt die Geschichte jener kleinen Leute (der Angestellten) der Moderne, deren Arbeitsleben ebenso streng geregelt ist wie ihre Freizeit; »organisiertes Glück« nannte das Siegfried Kracauer und war damit auch schon Thema der Gespräche zwischen Kluge und Hansen. Ist man (noch) nicht Teil der heteronormativen Paar-Schablone, kann man an der Glücksorganisation auch nicht teilhaben, weswegen es für die beiden Großstadt-Singles zunächst einmal sehr schwer ist, die Vergnügungen der Moderne rauschvoll zu konsumieren. Letztendlich werden sie von der Werbekutsche in ihren jeweiligen Zimmern angelockt und verbringen einen Abend und eine Nacht im Vergnügungspark, wobei sie ausgerechnet auf der Achterbahn voneinander getrennt werden und sich verlieren. Verzweifelt und enttäuscht heimgekehrt, stellt sich am Ende des Films, als der junge Mann die Platte mit der Musiknummer auflegt, zu der die beiden am Beginn des Abends gemeinsam tanzten, heraus, dass die beiden nicht nur in derselben Straße und im selben Haus, sondern sogar in demselben Stockwerk wohnen und Nachbar*innen sind. Die Verheißungen der neuen Technologien, die Geschichten, die das Kino erzählt, die Achterbahn als ultimativ moderne Attraktion scheinen das Protagonist*innenpaar blind für das Offensichtliche zu machen: dass die Stars der Kinoleinwand nämlich näher scheinen, als der Mann/die Frau, der/die neben mir wohnt. Der Film bilde Modernität in mehrerlei Hinsicht ab, betont Hansen: Er verbindet Stumm- und Tonfilmtechnologie (erst nach 20 Minuten wird gesprochen); teilweise ist er in Farbe, und die Liebesgeschichte, die erzählt wird, handelt nicht von der Überwindung von Klassen (klassischer Narrativ der Zeit: das Ladenmädchen heiratet den Sohn des Ladenchefs), sondern die beiden Protagonist*innen entstammen derselben Klasse. Es überrascht nicht, dass Paul Fejos später ethnografische Dokumentarfilme drehte, da Lonesome sich als Ethnografie der modernen Großstadtexistenz lesen ließe, so Hansen. Kluge betont eine gewisse Ähnlichkeit von Lonesome zu den in Deutschland produzierten Filmen Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt? (D 1932, R: Slatan Dudow) und Menschen am Sonntag (D 1929, R: Robert Siodmak und Edgar E. Ulmer), die ebenfalls in diesem kurzen Zeitfenster entstanden sind, und in denen »Modernität im Film zu sehen war«. Auffällig an dieser Sendung ist, dass Hansen immer wieder vor einem bildschirmfüllenden Screen zu sehen ist, während die vorangegangenen Sendungen stärker mit einem Dispositiv verschiedener kleiner Bildschirme und Screens ausgestattet waren, bzw. Räume in Szene setzten, deren Fenster den Blick auf weitere Screens/Leinwände frei gaben. Durch die Montage

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hat man den Eindruck, dass die schwarz gekleidete Hansen selbst Komparsin des s/w-Filmes ist. Besonders die Sequenz der Achterbahn, die Hansen detailreich und begeistert nacherzählt, schafft eine Bewegung im Hintergrund der Sprechenden, von der sie selbst mitgerissen scheint.

Von Deutschland und Europa über Amerika nach China und Japan: vernacular modernism

Abb. 25–27: Miriam Hansen, Frames aus Japanische Mädchen am Hafen (JAP 1933).

Zwei Jahre später treffen sich Hansen und Kluge ein weiteres Mal und die Aufzeichnung wird für zwei weitere Kulturmagazine verwendet: in der PrimetimeFolge vom 24. April 2005 besprechen Hansen und Kluge den japanischen Film Japanische Mädchen am Hafen (1933) von Hiroshi Shimizu, der von japanischeuropäischen Hybridfiguren bevölkert ist, deren Lebensraum mit der europäischen Moderne konfrontiert wird;43 und in der 10 vor 11-Folge vom 22. August im selben Jahr, in der Hansen und Kluge sich über Samurai-Filme und den japanischen Kapitalismus austauschen.44

Abb. 28–30: Hansen, Ryan Lingyu in The Goddess (J 1934) und Marlene Dietrich in Blonde Venus (D 1932).

Der erste Teil der Sendung ist teilweise identisch mit dem kurzen Beitrag aus der Primetime-Folge, »Japanische Mädchen am Hafen«; erst in der achten Minute, als Hansen auf die Krise der Männlichkeit zu sprechen kommt, beginnt ein neuer Teil, in dem Hansen über Männlichkeit und Samurai-Filme spricht. An ihrer 43 Vgl. »Japanische Mädchen am Hafen« (2005), Primetime, 24. 04. 2005, https://passagen.uni vie.ac.at/japanische-madchen-am-hafen-2005/ [19. 10. 2020]. 44 Vgl. »Kapitalistische Moderne und Intimität« (2005), 10 vor 11, 22. 08. 2005, https://passa gen.univie.ac.at/kapitalistische-moderne-und-intimitat-2005/ [19. 10. 2020].

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Analyse des chinesischen Films The Goddess (J 1934) von Wu Jonggang sowie Sternbergs Blonder Venus (D 1932) macht Hansen ihre Definition eines »vernacular modernisms« fest, der sich dadurch kennzeichnet, dass Protagonist*innen Begünstigte und gleichzeitig Opfer der Modernisierung seien.45 Greift man die Themen der zehn Sendungen mit Miriam Hansen und Alexander Kluge auf und beleuchtet sie vor dem Hintergrund der Texte und der wissenschaftlichen Arbeiten, die Hansen davor und danach verfasst hat, tritt eines deutlich zutage. So sehr ihr Denken den Autoren der Frankfurter Schule anverwandt ist, so evident die Einflüsse von Kracauer, Benjamin, Adorno in Hansens Schreiben sind, so klar lässt sich doch auch belegen, dass sie in ihren Rekonstruktionen des frühen Films, bis hin zu den Analysen des japanischen Kapitalismus, dem feministischen Projekt der Untersuchung der Agency weiblicher Figuren, Filmemacherinnen und Zuschauerinnen verpflichtet ist. Dies zieht sich wie ein roter Faden durch die Forschungsarbeit Hansens. Und die schwierige Beziehung zwischen Kritischer Theorie und Massenmedien scheint dieses Forschungsinteresse gleichermaßen zu beflügeln wie zu behindern.46 Gilt Hansens Arbeit einerseits dem Versuch, die Kritische Theorie für die Massenmedien zu retten, so geht es ihr andererseits um eine Rehabilitation der feministischen Filmtheorie für die Kulturwissenschaft und um das (gegenwärtig noch immer und immer wieder aufs Neue umkämpfte) Anliegen, den Standpunkt der Frauen retrospektiv in die (Film-)Geschichte des 20. Jahrhunderts einzuschreiben.

45 Miriam Hansen: »Fallen Women, Rising Stars, New Horizons. Shanghai Silent Film as vernacular modernism«, in: Film Quaterly, Autumn (2000), S. 10–22. 46 Vgl. dazu auch das Kapitel 1.3 »Mass Culture as Woman. Modernism’s Other« in Andreas Huyssens Buch After the Great Divide. Modernism, Mass Culture, Postmodernism, Bloomington 1986, S. 44–65.

Daniel Gönitzer

Von unbezähmbaren Elefanten und ratlosen Balancetieren. Alexander Kluge und der Zirkus

Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden.1

In Literatur, bildender Kunst und im Film werden Motive und Elemente des Zirkus immer wieder verhandelt, so auch bei Alexander Kluge. In diesem Beitrag möchte ich auf Grundlage des Films2 Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos3 sowie dessen Fortführung Die unbezähmbare Leni Peickert4 – die aus nicht verwendetem Material des ersten Films besteht – die Bedeutung des Themenfelds Zirkus für Alexander Kluge betrachten. Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos handelt von Leni Peickert, Tochter des Artisten Manfred Peickert, der eine völlig neue, höchst gefährliche Elefantennummer plant. Zu deren Umsetzung kommt es jedoch nicht, da er durch einen Sturz vom Trapez ums Leben kommt. Leni möchte das Erbe ihres Vaters antreten und einen neuartigen Zirkus gründen. Die Pläne für diesen Reformzirkus scheitern anfangs allerdings aufgrund von Geldmangel. Durch ein größeres Erbe kann Leni ihre Pläne schließlich doch in die Tat umsetzen. Kurz vor der Premiere bricht sie ihr utopisches Projekt jedoch plötzlich ab, verabschiedet sich vom Zirkus und geht zum Fernsehen. Dort setzt dann die Handlung von Die unbezähmbare Leni Peickert ein. Leni und ihrer Gruppe gelingt es einen politisch kritischen Film in das Abendprogramm des Fernsehens zu schmuggeln. Doch da die emanzipatorische Wirkung der Aktion sich in Grenzen hält, verlassen Leni und ihre Gefolgschaft das Fernsehen wieder und wenden sich erneut dem Zirkus zu. 1 Franz Kafka, »Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg« in: ders, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, hg. von Max Brod, Frankfurt/M. 1980, S. 30–40, hier S. 30. 2 Außerdem werde ich immer wieder aus der 1968 bei Piper erschienenen Buchausgabe zitieren. 3 Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, R: Alexander Kluge, DVD, 100 min., Edition Filmmuseum München 2015 (BRD 1968). 4 Die unbezähmbare Leni Peickert, R: Alexander Kluge, DVD, 33 min., Edition Filmmuseum München 2015 (BRD 1970).

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Im Gespräch mit Miriam Hansen »Organisiertes Glück – Siegfried Kracauer und die Attraktionen der Moderne« von 1994 bestimmt Kluge den Zirkus als ein Phänomen des 19. Jahrhunderts.5 Den Ursprung des modernen Zirkus verortet Kluge jedoch bereits in der Französischen Revolution.6 Matthias Christen bezeichnet den Zirkus als den »sanften Zwilling der Revolution«7: Beide, Zirkus und Revolution, sind Boten der Moderne, untrennbar verbunden mit dem Entstehen bürgerlicher Gesellschaften und dem anbrechenden industriellen Zeitalter. Wie das Streben nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ist das Programmangebot des Zirkus von der Überzeugung getragen, dass dem modernen Menschen nichts unmöglich ist, wenn er aus den Beschränkungen heraustritt, die Herkunft und Politik ihm auferlegen.8

Dem neuen Revolutionsmensch sowie den Zirkusartist*innen sind keine Grenzen gesetzt. In Kluges Artistenfilm heißt es: »Es gibt eigentlich überhaupt nichts, was der neue Revolutionsmensch nicht kann.«9 Während der Beginn des 20. Jahrhunderts noch gelegentlich als goldenes Zeitalter des Zirkus bezeichnet wird, entstehen ab den 1920er Jahren erhebliche Schwierigkeiten für den Zirkus. In Kongs große Stunde beschreibt Kluge passend »die Zahlungsunfähigkeit, die einem engagierten Zirkus in der amerikanischen Massengesellschaft generell droht«.10 Selbst die Sensation schlechthin, der »stockwerkehohe Dominus«11 King Kong, kann gegen die Unzeitgemäßheit des Zirkus im völlig durchkapitalisierten 20. Jahrhundert nichts ausrichten. Ähnliches bekommt Leni Peickert in Kluges Filmen zu spüren. Der Erste Weltkrieg, die darauffolgende Weltwirtschaftskrise und die zunehmende Konkurrenz durch den Film setzten dem Zirkus hart zu.

Dompteur und Gärtner Die Gegenüberstellung des Dompteurs und des Gärtners ist eine zentrale Metapher für Kluge im Zusammenhang mit dem Zirkus: 5 »Organisiertes Glück – Siegfried Kracauer und die Attraktionen der Moderne«, News & Stories, 19. 09. 1994, Minute: 26:15. Vor dem 19. Jahrhundert waren Zirkusvorstellungen ausschließlich für das Militär und den Adel zugänglich. Das transportable Zirkuszelt und damit auch der Wanderzirkus entstehen gegen Ende des 19. Jahrhunderts. 6 Alexander Kluge, Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, München 1968, S. 33f. Kluge bezieht sich dabei historisch wohl auf die 1768 von Philipp Astley in London gegründete Reitschule, die häufig als Geburtsstunde des Zirkus gilt. 7 Matthias Christen, »Der Zirkus als Weltmodell. Chaplin, Fellini, Ottinger und das Kino der Transgressionen«, in: Parallelwelt Zirkus, Ausstellungskatalog der Kunsthalle Wien, hg. von Verena Konrad, Wien 2012, S.43—57, hier S. 43. 8 Ebd. 9 Kluge, Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, S. 34. 10 Alexander Kluge, Kongs große Stunde, Berlin 2015, S. 43. 11 Vgl. ebd.

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Es gibt zwei Charaktertypen in der Kunst: den Dompteur und den Gärtner. Obwohl ich weiß, daß im Zirkus die Dompteure die größeren Erfolgschancen haben, verhalte ich mich als leidenschaftlicher Gärtner, was Texte und Film betrifft. Der Zusammenhang eines Gartens, das ist Montage.12

Vorerst scheint es, als ob Kluge die negative Seite der Kunst, die naturbeherrschende, autoritäre Seite des Dompteurs, mit dem Zirkus in Verbindung bringt und nicht die Seite des Gärtners, die einen versöhnlichen, reflektierten Umgang mit der Natur sucht. Dennoch ist Kluges Haltung zum Zirkus keine ablehnende. Ganz im Gegenteil, denn auch Leni Peickert, die Protagonistin seiner zwei Zirkusfilme, sieht den unreflektierten Umgang mit der Natur – vor allem mit den Tieren – im klassischen Zirkus und versucht aus diesem Grund einen Reformzirkus zu gründen. Während Leni Peickert die Referate von dem sogenannten Kongress der Zirkusunternehmer auswertet – die Aufnahmen, die Kluge dafür verwendet, stammen von dem letzten regulären Treffen der Gruppe 47 –, meint sie: »Nach zwei Weltkriegen habe ich es satt, Tiere zu zeigen, die Männchen machen.«13 Raubtierdressuren sollen aus dem Zirkusprogramm gestrichen werden, da sie laut Matthias Christens »im Verhältnis von Mensch und Tier die autoritäre Herrschaftsstrukturen reproduzieren, die für die weltgeschichtlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts mit verantwortlich sind.«14 Leni Peickerts Motivation dafür, den Zirkus grundlegend zu verändern, stammt aus einer tiefen Verbundenheit mit dem Zirkus. »Leni Peickert sagt: ›Ich will den Zirkus verändern, weil ich ihn liebe.‹ Antwort: ›Weil sie ihn liebt, wird sie ihn nicht verändern. Warum? Weil Liebe ein konservativer Trieb ist.‹ Leni Peickert: ›Das ist nicht wahr!‹«15 Die Thematik der Liebe taucht an einer späteren Stelle des Films erneut auf, wenn Dr. Busch, Leni Peickerts Freund, sie für ihre naive Hoffnung kritisiert: Ja was heißt denn da Liebe! Für Deine Liebe zum Zirkus zahlt Dir doch niemand was. Deine Liebe ist doch immer wieder der Irrglauben… Ist doch nicht intersubjektiv. Wenn Du was liebst, müssen das doch die andern noch nicht lieben. Und darum schlage ich Dir kombinierte Motiv-Image-Untersuchungen vor, daß du findest, was die anderen lieben…16

Lenis revolutionäres Vorhaben einen besseren, gerechteren und reflektierten Zirkus zu gründen kollidiert mit der kapitalistischen Realität. Um ihren Zirkus finanzieren zu können, muss sie Zuschauer*innen anlocken und dies ist mit ihren ambitionierten Ideen schwer vereinbar. 12 13 14 15 16

Alexander Kluge, Personen und Reden, Berlin 2012, S. 26. Kluge, Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, S. 45. Matthias Christen, Der Zirkusfilm, Marburg 2010, S. 239. Kluge, Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, S. 17. Ebd., S. 36.

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Im Gespräch mit einem berühmten Dompteur meint sie, dass sie in ihrem Reformzirkus die Tiere authentisch zeigen will, woraufhin der Dompteur ihr entgegnet: »Authentisch sind die nur im Dschungel«.17 Leni entgegnet dem Dompteur: »Ich habe Bücher gelesen über das sogenannte Böse. Sie müssen umdenken.«18 Als sie sich mit einem anderen Dompteur trifft, fragt sie diesen, ob es möglich wäre, ein Kind mit den für eine Zirkusnummer eingesetzten Delphinen spielen zu lassen, worauf der Dompteur meint, dass dies zu gefährlich sei. Darauf entgegnet Leni, dass sie ihn dann nicht einstellen könne.19 Sie wünscht sich ein nicht-entfremdetes, versöhntes Verhältnis zwischen Mensch und Tier, in dem es für Kinder gefahrlos möglich wäre mit den Zirkustieren zu spielen und zu interagieren. Leni sehnt sich nach einem utopischen Zustand, der sich für sie im Zirkus verwirklichen kann. Matthias Christen schreibt dem Zirkus trotz dessen territorialer Beschränkt- und Abgeschlossenheit eine utopische, emanzipatorische Kraft zu und meint, dass möglicherweise gerade in der Beschränkung ein Moment größter Freiheit steckt.20 Christen bestimmt die »Dialektik von Freiheit und Beschränkung als Bedingung der Utopie« und meint, dass diese sich bereits in Lenis Ausspruch über die Freiheit findet: »Die Freiheit bedeutet, daß der Zuschauer das für Unterhaltung hält, was wir ihm bieten. Dieses selbst braucht aber nicht Unterhaltung zu sein.«21 Der Zirkus ist somit sowohl für Leni Peickert als auch für Christen weit mehr als Unterhaltung. Im Zirkus steckt immer schon ein utopisches Moment: »indem er sämtliche Regeln, Zwänge und Restriktionen vorübergehend außer Kraft setzt, die für gewöhnlich die Wirklichkeit beherrschen, liefert der Zirkus den mit allen Sinnen greifbaren Beweis, dass eine andere, freiere und bessere Welt möglich ist.«22

Zirkus zwischen Schein und Spiel In seinem berühmten Essay »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« spricht Walter Benjamin von den zwei Seiten der Kunst, die des Scheins und die des Spiels.23 Der Kunst, die sich der Sphäre des Spiels zuordnen lässt, rechnet Benjamin ein höheres emanzipatorisches Potential zu; dazu zählt er die modernen, technischen Formen der Kunst, wie Film, Fotografie und 17 18 19 20 21 22 23

Kluge, Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, S. 18. Ebd. Ebd., S. 28. Vgl. ebd. Kluge, Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, S. 46. Christen, Der Zirkusfilm, S. 240. Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. VII, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, S. 368.

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Radio. Beim Versuch, den Zirkus einer der von Benjamin bestimmten Sphären der Kunst zuzuordnen ergeben sich nun einige Probleme. Sie bestehen darin, dass einerseits die Zirkuskunst stark vom Schein geprägt ist: Die Zauberkünstler*innen, die Clowns und andere Artist*innen täuschen uns mit ihren Tricks und Illusionen und präsentieren Nummern, die wir eigentlich für unmöglich halten. Andererseits kommt es im Zirkus, vor allem bei Akrobatik- und Tierdressur-Nummern zu einer Negation des Scheins, indem – anders als im Theater und im Film – die Artist*innen in tatsächlicher Lebensgefahr schweben und ein Fehler mit dem Tod oder mit schweren Verletzungen bestraft wird. Es ist dieses unhintergehbare Risiko, auf das auch Ernst Bloch in Das Prinzip Hoffnung hinweist: »[Der Zirkus] ist die einzige ehrliche, bis auf den Grund ehrliche Darbietung, die die Kunst kennt […].«24 Bloch beschreibt den Zirkus als ehrlich, offen, transparent und lebendig, weist jedoch gleichzeitig auf dessen magischen, zauberhaften Charakter hin: Er ist das Lokal ohne Hinterräume, außer Garderobe und Stall, und der kann in der Pause besichtigt werden, alles geht hellbeleuchtet in der Manege her, auf dem Trapez unter der Decke, und ist trotzdem Zauber, eine eigene Wunschwelt aus Exzentrik und präziser Leichtigkeit.25

Trotz des starken Einsatzes von technischen Hilfsmitteln ist der Zirkus von einer Archaik geprägt, die in gewisser Weise an die Sphäre des Magischen und Rituellen erinnert. Der Charakter des Zirkus ist zwar durch und durch Spiel, aber durch die gesteigerte Lebensgefahr, in der sich die Artist*innen oft befinden, ist er gleichzeitig bestimmt von einem packenden Ernst und einer unheimlichen Spannung. Diese versetzt die Zuschauer*innen in eine aufmerksame und aktive Haltung. Benjamin meint hierzu: Sein Publikum ist weit respektvoller als das irgend welcher Theater oder Konzertsäle. Das hängt damit zusammen, daß im Zirkus die Wirklichkeit das Wort hat, nicht der Schein. Es ist immer noch eher denkbar, daß während Hamlet den Polonius totsticht, ein Herr im Publikum den Nachbar um das Programm bittet als während der Akrobat von der Kuppel den doppelten Salto mortale macht.26

Benjamin spricht von den wirklichen, »nicht gespielte[n] Dinge[n]«,27 die sich im Zirkus ereignen. Zusammenfassend könnte festgehalten werden, dass der Zirkus sehr geschickt zwischen den zwei Sphären der Kunst, der des Spiels und der des Scheins, changiert. Sowohl Kunst als auch Zirkus bzw. die Zirkuskunst 24 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Frankfurt/M. 1979, S. 423. 25 Ebd. 26 Walter Benjamin, »Roman Gomez de la Serna, Le cirque. Paris: Simon Kra 1927«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. III, hg. von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt/M. 1991, S. 70ff., hier S. 71. 27 Ebd., S. 70

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sind Benjamin zufolge in der Lage, zwischen den zwei Seiten hin und her zu wechseln und diese dialektisch in sich zu vereinen. Kunstwerke bzw. Kunstformen, die diese Dialektik zwischen Spiel und Schein vollziehen, sind für Benjamin von großem Interesse. Gerade wegen dieser Unbestimmtheit übt der Zirkus eine so enorme Anziehungskraft auf zahlreiche Intellektuelle und Künstler*innen aus. Einer dieser Künstler, der sowohl für Benjamin als auch für Kluge einen besonderen Stellenwert hat, ist der Maler Paul Klee. In dem 1923 angefertigten Werk Seiltänzer (siehe Abbildung 1) setzt sich Klee mit dem Thema Gleichgewicht und Balance auseinander. Die Beschäftigung damit findet sich auch bei Kluge sowie bei Adorno wieder, worauf ich unten weiter eingehen werde. Klee hat neben dem Seiltänzer noch andere Werke mit Bezug zum Zirkus geschaffen. Eines davon ist Stachel, der Clown (siehe Abbildung 2). Dieses Bild von Klee hat Alexander Kluges Aufmerksamkeit auf sich gezogen. In mehreren Arbeiten, bspw. in der Ausstellung Pluriversum, greift Kluge Benjamins Beschäftigung mit Klees Engelbild Angelus Novus auf und setzt dieses in eine neue Konstellation, indem er diesem Stachel, der Clown zur Seite stellt.28 Zwei ungleiche Engel der Geschichte Mit Hacke und Spaten In den kurzen, ruhigen Zeiten der Geschichte Als Archäologe tätig Vorräte anzulegen An Mut29

28 Benjamin bezieht sich in seinen Schriften mehrmals auf Klees Bild Angelus Novus, welches er selbst 1921 erworben hat. Vgl. dazu insbesondere die XI Thesen aus Benjamins »Über den Begriff der Geschichte«, siehe: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, S. 697. Stachel, der Clown ist, wie der Angelus, mit dem Trümmerhaufen der Geschichte konfrontiert, doch der Clown, praktischer veranlagt als der Engel, eilt diesem zur Hilfe und macht sich daran, in guter archäologischer Manier, die Geschichtstrümmer mit seinem Spaten zu bearbeiten. Vgl. Alexander Kluge, Pluriversum, Katalog zur Ausstellung vom 15. September 2017–07. Januar 2018, hg. vom Museum Folkwang, Leipzig 2017, S. 14–20; sowie Alexander Kluge/Ben Lerner, Schnee über Venedig, Leipzig 2018, S. 97–103. 29 Diese Zeilen setzt Kluge der Gegenüberstellung von Klees Bildern – Angulus Novus und Stachel, der Clown –voraus. Vgl. Alexander Kluge, »Benjamin-Brecht-Kontainer«, in: Benjamin und Brecht – Denken in Extremen, hg. von Erdmut Wizisla, Berlin 2017, S. 125.

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Abb. 1: Paul Klee Seiltänzer 1923.30

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Abb. 2: Paul Klee Stachel, der Clown 1931.31

Neben Benjamin und Adorno ist auch deren gemeinsamer Freund Siegfried Kracauer ein scharfer Kritiker der Massenkultur seiner Zeit. Seine kritischen Beobachtungen sind dabei stets von einer gewissen Faszination begleitet. Er sieht in den Revuen der Unterhaltungsindustrie eine spielerische Form der standardisierten, rationalisierten Form der kapitalistischen Fabrikarbeit. Gleichzeitig erkennt Kracauer die Gefahr, dass diese Revuen mit gefährlichen, ideologischen Inhalten gefüllt werden können.32 Ähnlich wie Bloch oder Benjamin sieht auch er ein utopisches Potential im Zirkus. Kracauer meint: »die herkömmlichen Weltverhältnisse umzukehren«33 sowie die »gewohnte Ordnung«34 zu bagatellisieren sei die Bestimmung echter Clownerie. Es kommt zu einer Aufhebung jener Akzente, die wir als Selbstverständlichkeit hinnehmen und die »Hierarchie der

30 Abbildung 1: Paul Klee Seiltänzer 1923. last edit: 1. 1. 2011, Wikimedia Commons, abgerufen unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Paul_Klee_Seilt%C3%A4nzer_1923.jpg#/media/ Datei:Paul_Klee_Seilt%C3%A4nzer_1923.jpg [Stand 1. 10. 2020]. 31 Abbildung 2: Paul Klee Stachel, der Clown 1931. last edit: 13. 8. 2020, Creative Common, abgerufen unter: https://nat.museum-digital.de/index.php?t=objekt&oges=583105 [Stand 1. 10. 2020]. 32 Vgl. Sigfried Kracauer, »Das Ornament der Masse« in: Siegfried Kracauer, Der verbotene Blick – Beobachtungen, Analysen, Kritiken, hg. von Johanna Rosenberg, Leipzig 1992, S. 172–185. 33 Sigfried Kracauer, »Akrobat – schöön« in: ebd., S. 69–73, hier: S. 70. 34 Ebd.

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Werte«35, der wir im Alltag unterworfen sind, wird in Frage gestellt. Die Tierdressur-Akte im Zirkus subvertieren seiner Ansicht nach die ornamentalen Massenversammlungen, indem sie an die Stelle von autoritätshörigen Menschen Tiere setzen. Einerseits imitieren die Tiere im Zirkus die Massenaufmärsche der Menschen, andererseits überhöhen sie diese indem sie nicht einfach nur auf und ab marschieren, sondern, ganz im Gegenteil, spielerisch die unglaublichsten Kunststücke aufführen.36 Kluge denkt in gewissem Sinne Kracauer weiter. Auch er ist beeindruckt vom Zirkus und sieht dessen subversives Potential, weist aber auch kritisch auf die naturbeherrschenden Elemente des Zirkus in Form der Tierdressur hin. Diese Haltung überträgt er im Artisten-Film auf die Protagonistin Leni Peickert. Auch in Kongs große Stunde ironisiert Kluge die Tierdressur. Darin berichtet er von dem undressierbaren Gorilla, der selbst den erfahrenen russischen Dompteur Durow zur Verzweiflung treibt und in letzter Konsequenz neben dem Eingang zur Kassa platziert wird – mit einem angeketteten Braunbären als Accessoire.37

Elefanten gegen das Vergessen Neben Klee, Benjamin, Bloch und Kluge ist auch Franz Kafka ein großer Fan des Zirkus, der in seiner Literatur allgegenwärtig ist. Viele seiner Erzählungen stehen sehr direkt mit dem Zirkus in Verbindung, wie bspw. »Ein Hungerkünstler«,38 der kurzer Text über eine Kunstreiterin namens »Auf der Galerie«39, das Naturtheater von Oklahoma in Amerika,40 oder auch die Geschichte des Affen Rotpeter in »Ein Bericht für eine Akademie«.41 Doch noch prominenter als das Motiv des Zirkus zieht sich durch Kafkas Œuvre »das Tier«.42 Benjamin erkannte, dass die Tiere bei 35 Ebd. 36 Vgl. Alexander Kluge im Gespräch mit Miriam Hansen in: »Organisiertes Glück«, 20:25– 21:50. 37 Vgl. Kluge, Kongs große Stunde, S. 40. 38 Franz Kafka, »Ein Hungerkünstler«, in: ders., Die Erzählungen, hg. von Roger Hermes, Frankfurt/M. 1998, S. 392–405. 39 Franz Kafka, »Auf der Galerie«, in: Die Erzählungen, S. 251–252. 40 Der Roman wurde von Max Brod nach Kafkas Tod herausgegeben und basiert auf einem Fragment, welches Kafka in Tagebuchaufzeichnungen Der Verschollene nannte. Vgl. Franz Kafka, Amerika, Zürich 2008, S. 307–335. 41 Kafka, Die Erzählungen, S. 322–338. 42 Dabei handelt es sich keineswegs immer um reale Tiere. Kafkas Tiere haben oft menschliche Züge, wie auch Kafkas Menschen-Figuren häufig tierische Züge aufweisen. Benjamin verweist auf Odradek und das Katzenlamm, grenzt diese hoffnungslosen »Kreuzungen oder Gespinstwesen« jedoch von den »sonderbarsten Gestalten« ab, die er zusammenfassend »Gehilfen« nennt. Während Kafkas Tiere noch im »Bann der Familie« leben, fallen jene »unfertige Geschöpfe«, diese »Wesen im Nebelstadium« aus dem familiären Kreis heraus.(Walter

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Kafka, aber auch Figuren wie der Hungerkünstler, »Behältnisse des Vergessenen«43 darstellen. Kafka wurde nicht müde, »den Tieren das Vergessene abzulauschen«.44 Diese Funktion erfüllt bei Kluge der Elefant. Dieser steht bei ihm stellvertretend für die unterdrückten Lebewesen der Geschichte, er richtet sich demnach gegen das Vergessen (Elefantengedächtnis) und steht für die Unerschütterlichkeit (Dickhäuter).45 Bilder von Elefanten tauchen in etlichen Arbeiten Kluges auf.46 Georg Stanitzek macht den skurrilen, aber dennoch schlüssigen Brückenschlag: »Der Elefant, das ist zuvörderst Adorno, von Kluge gelegentlich als einer seiner ›Ober-Rabbis‹ bezeichnet (was man wohl mit Autorität übersetzen kann).«47 Beide, Adorno und der Elefant verweisen demnach auf Autorität, die Stanitzek zu Folge auch im Zentrum des »68er-Artisten-Films«48 stehe. »Das zentrale Motiv des Films besteht nämlich in einer durchaus schematischen Lektüre des ›Kulturindustrie-Kapitels‹ der Dialektik der Aufklärung.«49 In diesem findet sich eine interessante Bestimmung Adornos: Die Spur des Besseren bewahrt Kulturindustrie in den Zügen, die sie dem Zirkus annähern, in der eigensinnig-sinnverlassenen Könnerschaft von Reitern, Akrobaten und Clowns, der »Verteidigung und Rechtfertigung körperlicher Kunst gegenüber geistiger Kunst«.50

43 44 45 46 47 48 49 50

Benjamin, »Franz Kafka – Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.2, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, S. 409—438, hier: S. 414.). Zu diesen »Gehilfen« zählt Benjamin bspw. den Studenten, der nachts als der Nachbar Karl Roßmanns auftritt sowie natürlich Artur und Jeremias, die Gehilfen aus »Das Schloss«. »Für sie und ihresgleichen, die Unfertigen und Ungeschickten, ist die Hoffnung da.« (Benjamin, »Franz Kafka – Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages«, S. 415). Giorgio Agamben rückt schließlich Benjamins »bucklicht Männlein« in die Nähe dieser Gehilfen und meint, diese seien die Gestalt dessen, was man verliert. »Oder besser, des Verhältnisses zum Verlorenen. […] Was das Verlorene fordert, ist nicht, erinnert oder erfüllt zu werden, sondern als Vergessenes und als Verlorenes in uns – und einzig deswegen – unvergeßlich zu bleiben. In all dem ist der Gehilfe zu Hause.« (Giorgio Agamben, Profanierungen, Frankfurt/M. 2015, S. 29). Eine ähnliche Funktion kommt m.E, dem Elefanten bei Kluge zu. Walter Benjamin, »Franz Kafka – Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages«, S. 430. Ebd. Vgl. Axel Köhne, »Zwischen Wahrheit und Wirklichkeit. Gedanken zu Alexander Kluge und Thomas Demand«, in: Kluge, Pluriversum, S. 207–232 hier S. 210. Vergleiche hierzu: Birgit Haberpeutner, »Der langrüsselige Atem der Rache«, in: Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 5: Von Sinn(en) und Gefühlen, hg. von Vincent Pauval, Herbert Holl, Clemens Pornschlegel, Göttingen 2018, S. 379–389. Georg Stanitzek, »Autorität im Hypertext. ›Der Kommentar ist die Grundform der Texte‹ (Alexander Kluge)«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 23/2, 1998, S. 1–46, hier S. 31–32. Ebd. Ebd. Adorno zitiert hier Frank Wedekind. Siehe: Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Die Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1988, S. 151.

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Adorno zitiert Frank Wedekind, dieser arbeitete selbst als Sekretär beim Zirkus Herzog und war zutiefst fasziniert von den Zirkusaufführungen, die er sich regelmäßig ansah und die seine Dichtung inspirierten. Für Adornos gibt es weder ein außerhalb der Kulturindustrie, noch plädiert er für eine Rückkehr zu einer vermeintlich besseren und freieren Kunst vor Radio und Film: »[D]ie Provinziellen, die gegen Kino und Radio zur ewigen Schönheit und zur Liebhaberbühne greifen, sind politisch schon dort, wo die Massenkultur die Ihren erst hintreibt.«51 Die Totalität, mit der die Kulturindustrie alle künstlerischen und kulturellen Produkte erfasst, lässt nicht zu, dass es eine Kunstproduktion außerhalb der Kulturindustrie geben kann. Trotzdem gibt es auch innerhalb dieser Totalität Möglichkeiten, wie die Kunst der Vereinnahmung durch das Kapital trotzen kann – beispielsweise im Zirkus. Adorno weist aber darauf hin, dass diese Oasen innerhalb der Kulturindustrie nicht auf Dauer bestehen können und dass sie früher oder später ebenfalls vom Kapitalismus inkorporiert werden: Aber die Schlupfwinkel der seelenlosen Artistik, die gegen den gesellschaftlichen Mechanismus das Menschliche vertritt, werden unerbittlich von einer planenden Vernunft aufgestöbert, die alles nach Bedeutung und Wirkung sich auszuweisen zwingt. Sie läßt das Sinnlose drunten so radikal verschwinden wie oben den Sinn der Kunstwerke.52

An dieser Stelle setzt das Projekt von Leni Peickert an. Sie erkennt die herrschaftsaffirmierenden Tendenzen des Mainstream-Zirkus und will diesen mit ihrem Reformzirkus verändern. Sie möchte den Traum ihres Vaters Manfred Peickert verwirklichen, der darin bestand, die Elefanten in die Zirkuskuppel zu hieven. Der Elefant ist eine dialektische Figur, er steht einerseits für eine gewisse Autorität, andererseits steckt in ihm das Potential zur Überwindung von Autorität und Herrschaft. Kluge berichtet in seinem Artistenfilm vom Leiden der Elefanten: Der Brand des Elefantenhauses von Chikago. Alarm! Alarm! Feuer! Wieder sagt der Direktor: Das ist nur eine Übung. Das ist nur scheinbar Feuer. Die Dickhäuter, die das Feuer auf ihrer Haut spüren, sind verzweifelt. Freiheit, sagt einer der Elefanten, bedeutet das Wagnis des Lebens, nicht weil sie die Befreiung von der Knechtschaft bedeutet, sondern weil das Wesen der menschlichen Freiheit in sich durch die gegenseitige, negative Beziehung zum anderen definiert ist. (Hegel, Phänomenologie des Geistes, Leipzig, 1912, S. 120) Die Dickhäuter schwören, wir vergessen nichts.53

Die Elefanten zitieren Hegel, Adornos höchste Autorität. Sie berichten vom Durchbrechen des Scheins – das notwendig falsche Bewusstsein – und initiieren 51 Ebd., S. 156. 52 Ebd., S. 151. 53 Kluge, Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, S. 15.

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damit ihre Selbstbefreiung. Nach ihrer Befreiung folgt der Schwur der Elefanten, der sowohl als Akt der Selbstermächtigung als auch als Mahnung verstanden werden soll. Die Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben bleiben, aber die Wunden des Körpers vergiften den Geist. Die Dickhäuter schwören: Wir vergessen nichts. Mündig ist der Elefant, wenn er seinen Feind erkannt. Das ist der, der ihn nicht schützt, ihn aber dafür täglich ausnützt. Die Dickhäuter schwören: Wir vergessen nichts! Das werden wir den Feuerlöschern nicht vergessen und dem Direktor, der uns gerufen hat, es war nur Schein! Das war kein Schein, oder vielmehr, das war Feuerschein.

Die Wahrheit ist, der Tag ist nah, da ist kein Hitlerstaat mehr da. Wie glücklich, wer zu jener Frist noch unversehrt am Leben ist. Die Dickhäuter schwören: Wir vergessen nichts! Die Wahrheit ist, der Tag ist nah, da ist kein Hitlerstaat mehr da. Wie glücklich, wer zu jener Frist noch unversehrt am Leben ist.

Die Faschisten, welche brennen, müssen wir in Kisten packen und in tiefe See versenken. Die nicht brennen, aber auch nicht löschen, sind wie jene, welche brennen, müssen wir in Kisten packen und in tiefe See versenken. Unsere Erinnerungen an die Schmerzen und das Feuer müssen wir in Kisten packen und in tiefe See versenken. Oder aber, Rache, Rache. Aber der wird totgeschossen, der bei Rache wird getroffen. Lieber schießen als vergessen. Lieber in die See versenken.54

Kluges Elefanten werden zu Partisan*innen, die gegen das Unrecht, den Schein und das Vergessen ankämpfen. Die Elefanten gleichen dabei der Figur »des undressierbaren, eigensinnigen Gorillas ›Kong‹ (unter anderem Kongs große Stunde: Chronik des Zusammenhangs, 2015), der von unerschütterlicher Geduld ist und […] sich dem ganzen ›Zirkus‹ entzieht«.55 Sowohl die Elefanten als auch Kong stehen für das revolutionäre Potential, das im gewöhnlichen Zirkus mittels der naturbeherrschenden Funktion des Dompteurs gehemmt wird, welches jedoch Leni Peickert in ihrem Reformzirkus freisetzen will. Im bereits erwähnten Gespräch mit Miriam Hansen »Organisiertes Glück« fragt Kluge:

54 Ebd., S. 15f. 55 Vgl. Köhne, »Zwischen Wahrheit und Wirklichkeit«, S. 210. Siehe zu dieser Thematik auch Alexander Kluge, Facts & Fakes, Heft 4: Der Eiffelturm, King Kong und die weiße Frau, hg. von Christian Schulte/Reinald Gussmann, Berlin 2002.

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»Jetzt nimm mal die Elefanten und die Kragenbären und die Pferde im Zirkus. Wo setzen die sich fort? […] Was ist der Elefant mit anderen Mitteln?«56 Hansen antwortet darauf: »Der Elefant mit anderen Mitteln endet dann als Dinosaurier in Spielbergs Jurassic Park.57Also die Faszination mit der monströsen Natur, die ist ja noch genau so groß.«58 Der Reiz geht dabei von der echten Gefahr aus, die im Zirkus, wenn auch nicht immer akut, doch zumindest virtuell vorhanden ist. Kluge fragt weiter nach der Fortsetzung des Zirkusbrandes; ein Thema, das bei ihm immer wieder auftaucht. Die reale Gefahr des Zirkusbrandes, die Katastrophe und das damit einhergehende Ausbrechen der Tiere kann als Zurückschlagen der Natur gedeutet werden, als Aufbegehren gegen die Dressurmeister und die autoritäre Herrschaft. Doch dieses Aufbegehren kann eine noch restriktivere Form der Herrschaft provozieren. Als Beispiel dafür gilt für Kluge der Kurz-Dokumentarfilm Electrocuting an Elephant59 von 1903. Der Film handelt von der Hinrichtung der Zirkus Elefantin Topsy, die gegen ihre sadistischen Wärter aufbegehrte und diese dabei tötete. Das grausame Szenario wurde als Massenspektakel, als Attraktion der Moderne inszeniert. Alexander Kluge hat diesem Film viel Beachtung geschenkt.60 Er wird in Chronik der Gefühle thematisiert61, ist unter den Extras auf der DVD-Version von Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos enthalten und begegnet in mehreren Sendungen der Kulturmagazine. Die Hinrichtung des Zirkuselefanten gilt zweifelsohne als eines der zahlreichen Vergehen der Menschen, die mit dem Schwur der Dickhäuter, »Wir vergessen nichts!«62, adressiert werden.

56 Alexander Kluge im Gespräch mit Miriam Hansen in: »Organisiertes Glück«, Minute: 26:15– 26:42. 57 Jurassic Park, R: Steven Spielberg, US 1993. 58 Miriam Hansen im Gespräch mit Alexander Kluge in: »Organisiertes Glück«, Minute: 26:42– 26:58. 59 Electrocuting an Elephant, R: Thomas A. Edison, US 1903. Kluge spricht über diesen Film auch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann in: Alexander Kluge, Verdeckte Ermittlung: Ein Gespräch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann, Berlin 2001, S. 93–97. 60 Rainer Stollmann beschäftigt sich mit dem Film und Kluges Aufarbeitung davon in seinem Text »Ein Faktum als Metapher. Electrocuting an Elephant«, in: Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 4: Stichwort: Kooperation, hg. von Rainer Stollmann, Thomas Combrink, Gunther Martens, Göttingen 2017, S. 277–282. Birgit Haberpeutner leistet in ihrem Aufsatz: »Der langrüsselige Atem der Rache« darüber hinaus eine gründlich recherchierte Darstellung der historischen Hintergründe und des gesellschaftlichen Kontextes des grausamen Medienspektakels. 61 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Bd. 2, Frankfurt/M. 2000, S. 946. 62 Kluge, Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, S. 15.

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Die Vernunft ist ein Balancetier – Kluge, Adorno und der Zirkus Balance. Sie kennen die Bewegungen eines Artisten auf dem Drahtseil. Nach links fällt er herunter, nach rechts fällt er herunter, aber auch der Mittelweg trägt ihn nicht, sondern nur seine Kühnheit. Eine der gewaltigsten Eigenschaften des Menschen ist nicht das analytische Vermögen des Hirns, sondern das menschliche Beharrungsvermögen, also aufgrund seiner Fähigkeiten unter den unheimlichsten Umständen eine Balance herzustellen.63

»Die Vernunft ist ein Balancetier«, dieser Satz Kluges hat eine zentrale Bedeutung. Er taucht im Rahmen seiner Ausstellung Pluriversum, die 2017 und 2018 im Museum Folkwang in Essen und im 21er Haus in Wien zu sehen war, immer wieder auf und ist auch der Untertitel des dazugehörigen Ausstellungskatalogs. Darüber hinaus hat Kluge anlässlich des 50. Todestags Adornos (2019) einen gleichnamigen Filmessay produziert. Was sowohl in der Ausstellung, im Katalog, als auch im Filmessay wiederkehrend auftaucht, sind Bilder von Elefanten. Die Vernunft muss, wie Klees Seiltänzer, einen Balanceakt bewältigen. Klee weist in seinen Bildern immer wieder darauf hin, dass vieles, was als starr und bewegungslos wahrgenommen wird, bei genauerer Betrachtung doch flexibel und beweglich ist. Bereits eine kleine Ungenauigkeit genügt und die balancierenden Artist*innen stürzen vom Seil. Die Gefahren und Katastrophen, die mit einem Sturz der Vernunft entstehen, sowie die Schwierigkeiten tatsächlich die Balance zu halten, beschreiben Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung. Sie halten fest, dass sich angesichts der ursprünglichen Notwendigkeit der Naturbeherrschung – die überlebensnotwendige Selbstbehauptung des Subjekts gegenüber der fremden, bedrohlichen Natur – eine instrumentelle Vernunft durchgesetzt hat. Diese hat sich als Herrschaft über die innere sowie äußere Natur manifestiert. Durch diesen ›Herrschaftscharakter‹ der Vernunft kommt es zu einem Rückfall in den Mythos. In ihrem Anspruch alles zu erfassen wird die Aufklärung ebenso totalitär wie der Mythos und damit verkommt das Mittel zur Aufklärung, die Vernunft, zu einer rein instrumentellen, technologisch-wissenschaftlichen Rationalität. Die instrumentelle Vernunft erzeugt technische Errungenschaften, die im Krieg und zur Vergrößerung menschlichen Leids eingesetzt werden; der Mensch versucht, die Natur für sich nutzbar zu machen, sie zu unterwerfen und als Werkzeug zu begreifen. Es besteht demnach eine doppelte Gefahr für die Vernunft, einerseits darf sie nicht ausgeblendet und von Trieben und Instinkten überschattet, andererseits auch nicht zur obersten und totalitären Doktrin erhoben werden, wie dies bspw. in der Aufklärung praktiziert wurde, wodurch es schließlich zur

63 Kluge, Personen und Reden, S. 35.

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»Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt«64 kam. Als enger Vertrauter und gewissermaßen auch Schüler Adornos, ist Kluge natürlich mit dessen Thesen vertraut. 1970, im Jahr nach Adornos Tod, erscheint die Fortsetzung des Artistenfilms Die unbezähmbare Leni Peickert. Dieser Film kann als Hommage an Kluges Mentor Adorno verstanden werden. Gegen Mitte des Films65 beschäftig sich Leni, gemeinsam mit ihrem Kollegen, Herrn von Lüptow, mit der Dialektik der Aufklärung. Kluge lässt aus dem kurzen Stück »Genese der Dummheit«66 rezitieren. Dieser Text ist für ihn von besonderer Bedeutung, in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Adorno-Preises 2009 heißt es: In der Dialektik der Aufklärung gibt es einen versteckten Text (im Anhang): Genese der Dummheit. Die Intelligenz, die wache Neugier, das Herz der Philosophie ist dort mit dem Fühler einer Schnecke verglichen. Das ist eine Eigenschaft, die nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere besitzen. Dieser wache Geist ›wagt sich nur zaghaft hervor‹. Wird er verletzt, bedrohen ihn also Schrecken oder Terror, zieht er sich ins Schneckenhaus zurück. Äußerlich erscheint es wie Dummheit. Es wirkt sich auch als Trägheit, Passivität aus, ist in seiner Substanz aber lediglich ein anderer Aggregatzustand des Lebendigen. Ich kenne kein schöneres Gleichnis für den Leitsatz der Aufklärung als dieses Bild der feinfühligen Schnecke, das Bild des defensiven Charakters der Intelligenz, als sapere aude: Habe den Mut, dich deiner sinnlichen Gewissheit selber zu bedienen. Dieser Charakter ist immer gegenwärtig, auch wo wir ihn nicht sehen. Ihn zu locken, seinen Mut zu stärken, ist Bildung. Eine Zauberkunst, eine Verführungskunst, eine ars amatoria, wie es Ovid nennt. Das führt zu einer herausfordernden Fragestellung, die Adornos Werk überall zugrunde liegt: Es gibt einen eigenständigen Zugang der Liebesfähigkeit zur Aufklärung. Wenn die Vernunft erkrankt ist, welche menschlichen Kräfte enthalten ein Gegengift?67

Leni Peickerts Versuche den Zirkus zu verändern, können als ein solches Gegengift verstanden werden. Durch ihre kritischen Eingriffe versucht sie den Zirkus zu entgiften und zu verändern, doch sie wird immer wieder von den kalten Mechanismen des Kapitalismus in ihre Schranken gewiesen. Trotzdem weiß Leni: »Die Utopie wird immer besser, während wir auf sie warten«.68 Kluge weist dem Zirkus eine emanzipatorische Funktion zu, die vor allem darin besteht, dass er – wie die Kunst und die Gesellschaft – veränderbar ist. »Gerade das, was Zirkus ist, steht aber nicht fest.«69 Diese Wandelbarkeit und Flexibilität ist konstitutiv für 64 Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 6. 65 Die unbezähmbare Leni Peickert, R: Alexander Kluge, Kapitel 5: »Dialektik der Aufklärung. Genese der Dummheit«, 11:02–20:21. 66 Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 274f. 67 Alexander Kluge, »Die Aktualität Adornos. Rede zum Theodor-W-Adorno-Preis 2009«, in: Kluge, Personen und Rede, S. 67–76., hier: S. 73. 68 Kluge, Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, S. 47. 69 Ebd. S. 122.

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den Zirkus, die Hoffnung auf Veränderung und Neues ist sein revolutionärer Kern. Er setzt »sämtliche Normen und Abgrenzungen außer Kraft, die den Alltag des Publikums für gewöhnlich fraglos bestimmen«.70 Christen zufolge ist es in Filmen wie Kluges Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos »nicht der Alltag, der gegen eine bedrohliche andersartige (Zirkus-)Welt, sondern deren unverwüstlicher utopischer Kern, der gegen eine gewaltsame überhandnehmende Realität verteidigt wird«.71 Kluge setzt sich in den Artistenfilmen mit den Schwierigkeiten und Problemen einer Utopie auseinander. Dass Leni Peickerts Reformzirkus in den bestehenden Verhältnissen scheitert, spricht dabei jedoch nicht gegen diesen als solchen, sondern gegen die Verhältnisse, die dieses Scheitern hervorrufen.

70 Ebd. 71 Christen, Der Zirkus als Weltmodell, S. 56.

Alexander Kluge

Freitag, 21. Dezember 2018, auf der Fahrt in die Schweiz

Über die Autobahn Garmisch zu den Bergen. Zwei Koffer und vier Taschen auf den Rücksitzen des Fahrzeugs. Das sind meine Unterlagen: »Materialien«. Es ist aber kein Material wie ein Ding, sondern ein eigensinniger Stoff. Er redet mit mir. Er spricht in mir. In einigen Fällen sagt er mir, daß ich diesen Stoff einem Konzentrat, einem verdichteten Text, gegenüberstellen soll. Einem »Anführer«. In anderen Fällen verlangt das im Koffer und den Taschen transportierte »Material« – meist sind es Texte auf Papier – nach Bildern. In einigen Fällen wäre es gut, es »ungeschnitten« zu lassen. Das Mitgebrachte sucht sein Potential zu behalten: »ungeformt«. Wie eine weite, von Menschenfüßen unbetrapste, von Skispuren nicht geprägte Schneefläche. Was ist der Grund dafür, daß ich »Materialsammlungen« gegenüber Fertigprodukten vorziehe? Fertigprodukte schließen die Zuarbeit des Lesers aus. Der Leser als Konsument von »Werken«? Der Leser als Produzent seiner Erfahrung! Mein Vater war Arzt und Geburtshelfer. Er setzte seine Tätigkeit als Geburtshelfer in Gegensatz zur Arbeit der Chirurgen im Kreiskrankenhaus. Im Notfall müsse man schneiden, aber nur im Notfall. Bei Dammriß. Oder wenn ein Kaiserschnitt notwendig ist. Poetik »schneidet« nur im Notfall. Walter Benjamins Meister-Essay »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts« habe ich vor langer Zeit gründlich und interessiert gelesen. Dann habe ich den Text nie wieder angerührt. Diesem perfekten Text folgt im Passagen-Werk eine Sammlung zu Stichworten des 19. Jahrhunderts wie Eisen, Photographie, Revolution, Mode, Weltausstellung. Mehr als 1000 Seiten lang. In ihr zu lesen ermüdet meine Neugier nie. Mein Mitarbeiter Dr. Combrink spottet: Sie sind ein Telefonbuchleser. Fangen Sie nur nicht an, Telefonbücher zu schreiben. Tatsächlich lese ich im amtlichen Telefonbuch des Jahres 1938 meiner Heimatstadt Halberstadt mit unwiderstehlichem Interesse. Ich würde nicht auf die Idee kommen, ein solches Straßen- und Namenverzeichnis, das eine noch unzerstörte, mit meinem Leben persönlich verbundene Welt exakt kartographiert, zu phantasieren. Die Sammlung von Daten ist nur authentisch von Bedeutung. Zugleich beschreibe ich die Leuchtkraft der Phosphorziffern einer verschütteten

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Uhr, die unter den Trümmern meines väterlichen Hauses liegt und mir gehörte: eine Gestalt, feste Form. Das ist der Gegenpol zum Begriff der »Sammlung«. Dagegen wäre der Gegenpol zur Sammlung für mich niemals der Krimi, das Drama. Auf die Frage, warum ich keine Romane schreibe, erwidere ich: Was ich schreibe, sind Romane. Romane sind ihrem Prinzip nach Sammlungen. Die klassischen Romane gehören zu einer Schicht der Öffentlichkeit, die sie für die Gegenwart zu »Material« macht. Gerade das, daß man an ihnen weiterschreibt, daß ihr Potential größer ist als ihre Aura, fasziniert mich. Balzac, Flaubert, Fontane, Döblin, Joyce, Proust: Zu Sammlungen geworden, verlangen sie nach Fortsetzung. Am Sockel dieser Gebirge – unser Ferienfahrzeug fährt unter Regengüssen in die Alpentäler ein – läßt sich eine Hütte bauen, ein Steingarten einrichten. Insofern hat das Poetische den Charakter einer Baustelle. Nicht die geordnete Struktur einer Anstalt, sondern Material, Baugrund, Arbeitskraft in freier Bewegung. Ich weiß selbst nicht, warum ich nicht darin wohnen, sondern weiterbauen will. Da, wo ich gewohnt habe – in der Kaiserstraße 42, Adresse eingetragen im Telefonbuch seit 1929, Ort meiner Kinderzeit –, liegt das Haus in Trümmern. Mir würde ein Bau gefallen, der Bomben nur verschluckt, ein poetisches Haus, das, wenn der Brand es erfaßt, in neuem Federkleid wiederaufersteht.

Abb.: Mein Vater im Steingarten.

Florian Telsnig

Maßverhältnisse von Produktion und Revolution. Alexander Kluges Denken des Politischen

Revolutionen besitzen dort eine Notwendigkeit, wo Menschen vom Prozess der Vergesellschaftung ausgeschlossen werden, weil dieser von wenigen diktiert wird. In einem derartigen gesellschaftlichen Zustand haben sich Selbstentfaltung und Bestimmungsoffenheit so verengt, dass handelnde Subjekte zu Objekten faktischer Verhandlung degradiert werden. Revolutionen (lat. revolutio »Umdrehung«) wollen, wie das der Begriff schon sagt, derlei Verhältnisse umkehren. Eine Revolution ist aber nur dann eine Revolution, wenn sie die gesellschaftlichen Verhältnisse, die nicht selten als unumstößliche und geradezu naturwüchsige »Realität« erscheinen, so umwälzt, dass aus den Opfern der Geschichte wieder Subjekte werden, die über ihre Vergesellschaftung selbst bestimmen können. Den großen Revolutionen hat Alexander Kluge mikropolitische zur Seite gestellt, damit diese kleinen und alltäglichen Widerstände gegen Regulierung und Normierung, die jedes Subjekt als Subjekt auszutragen hat, jene großen möglich machen. Für Kluge gibt es kein Aufgehen von individuellen Schicksalen in der historischen Großerzählung, die als ein »Real-Roman« zu verstehen ist, der »ohne Rücksicht auf die Menschen« seine harten Fakten produziert, welche sie real treffen.1 Seine Arbeiten verstehen sich deshalb immer auch als konkrete Versuche, kleine Splitter von Protest, die sich als lebendiger Ausdruck gegenüber der Abstraktion toter Arbeit und eigensinniger Rest gegenüber der Ohnmacht des falschen Lebens begreifen, in ihrer Gegenständlichkeit so herauszustellen, als ob sie jede/r wiederholen und in dieser Wiederholung tradieren könnte – es sind also Versuche, ein alltägliches Material aufzusammeln, in welchem wir uns chiffreartig wiedererkennen und mit welchem sich, so es assoziativ gewendet wäre, eine »menschlich zentrierte Welt zusammensetzen« ließe.2 Auf Basis einer Art Urvertrauen in die mikropolitische und evolutionär bestimmte Kraft von 1 Alexander Kluge, »Die schärfste Ideologie: daß die Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft«, in: ders., In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, hg. v. Christian Schulte, Berlin 2002, S. 127–134, hier S. 134. 2 Oskar Negt/Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/M. 1993, S. 151.

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Erzählungen, die sich sowohl als gegengeschichtliche Protokolle menschlicher Lebensläufe als auch als Chroniken ihrer Gefühle verstehen, die naturgemäß nicht voneinander getrennt werden können, leisten sie wiederum, dass der unterdrückten proletarischen Kehrseite des sich als einzige Wirklichkeit gebenden Herrschaftsnarrativs punktuell Gehör verschafft wird. Aus diesen »beiden Urzellen«, einer dokumentarischen und einer fiktiven, also einer wirklich unwirklichen und einer unwirklich wirklichen, bestimmt sich Kluges transrealistische Ästhetik, die als Indifferenz von Differenzen heterogene Zusammenhänge zentriert, die quer zum Exklusionskontext von Herrlichkeit und Herrschaft stehen, den wir als Realität erfahren. Das, was wir als Realität begreifen, ist letztlich bloß eine warenvermittelte »Ersetzung von König, Bischof, Palast, Dienerschaft, Militärwesen«,3 also jener reale Schein von kohärenter und unveränderlicher Faktizität, den wir mit unserem »Realitätsprinzip«, verstanden als die Selbstdisziplinierung gegenüber einem selbst und gegenüber dem verkürzten Ganzen, akklamieren.

Der Produktionsrealismus des Kaputten Kluges transrealistische Methode, die in ihrer Orientierung an Sinnlichkeit und Geschichte materialistisch fundiert ist, weil sich in ihnen die Arbeitsvermögen der Sinne ausdrücken, steht quer zu all den Anstrengungen, welche endgültige und abgeschlossene Produkte im Sinne von reinen, in ihrer Reinheit widerstandslos konsumierbaren Waren zu liefern sucht. Die »Produktivkraft Kino«, wie die Produktivkraft Kunst überhaupt, kann »nur gemeinsam mit den Wahrnehmungskräften der Zuschauer entfaltet werden«.4 Wirkungsästhetisch lässt sich das nur dadurch gewährleisten, insofern die Arbeiten so sperrig, offen, unfertig, ja geradezu unrein (»impur«) sind, dass die Rezeption genötigt wird, sich zu den Gegenständen zu verhalten – kohärente Zusammenhänge, sofern diese gewünscht sind, haben also die ZuschauerInnen selbst zu konstruieren. Bei Kluge wird so die Rezeption integraler Bestandteil jener Prozesse, die gemeinhin unter dem Begriff Produktion gefasst werden, weil diese sich erst im Kopf der ZuschauerInnen vorläufig vergegenständlichen. »Das hat alles den Charakter einer Baustelle. Es ist grundsätzlich imperfekt […]. Deshalb Methode: ja, aber antiprofessionalistisch, mit aller Imperfektion«.5 Kluges Kunst- und Kulturproduktion setzt sich also den Momenten aus, welche arbeitsteilige Produktionspro3 Ebd., S. 249. 4 Alexander Kluge, »Die realistische Methode und das sogenannte ›Filmische‹«, in: ders., In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod, S. 114–122, hier S. 121. 5 Kluge, »Die schärfste Ideologie«, S. 132.

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zesse, sei es durch technisches Kalkül oder bürokratische Logistik, wegrationalisieren: dem Stocken und Stottern der Produktion bei Unterbrechungen und Stillständen, bei Leerläufen und Umwegen. Der Autor ist eben nur dann ein Produzent, wenn zum einen Produktionsapparate für eine Gegenproduktion besetzt werden, wie Kluge dies mit seinen Fernsehmagazinen vollzogen hat, und zum anderen der Produktionsprozess nicht hinter den Produkten verschwindet. Für ihn ist das allein deshalb bedeutsam, weil es ihm ja nicht um die »Produktion von Erfahrungen« geht, die wie beim »Banknoten-Kino« als Waren zu konsumieren wären, sondern um die »Erfahrung der Produktion von Erfahrungen«.6 Nicht nur die Arbeiten sollen den »Charakter einer Baustelle« haben, auch den Baustellencharakter der Produktion von Baustellen gilt es, soweit dies möglich ist, auszustellen. Kluges Arbeiten sind, das wurde nicht zuletzt von ihm selbst oft wiederholt, allein deshalb nie abgeschlossen, weil sie sich aufeinander beziehen und ständig überarbeitet werden; die Produktionswerkstatt, so ließe sich sagen, dürfte ständig in Betrieb sein, weil wohin man auch blickt, nur interimistische Lösungen zu finden sind: Texte, wie es sich augenscheinlich an Chronik der Gefühle zeigt, werden kontinuierlich erweitert, umgearbeitet, neu gruppiert, fremde Materialien wie Bilder gesammelt und sich angeeignet, Filme neu montiert und bestehendes Material in andere Kontexte und neue Zusammenhänge gestellt. Diese produktionsästhetische Grundannahme entspricht mimetisch dem Charakter ihrer motivischen Rohstoffe, bei denen es sich, wie am Beispiel der Schlacht von Stalingrad, um unaufgearbeitete Materialien der Geschichte handelt, deren Ursachen nicht nur dreihundert Jahre zurückliegen, sondern sich vielmehr seit dem Mittelalter über Jahrhunderte hinweg ausgebildet haben: bedeutsam für diesen historischen Zusammenhang ist nach Kluge nicht nur Friedrich der Große oder der deutsche Militarismus, sondern auch Napoleons gescheiterter Stalingradfeldzug und König Barbarossa.7 Eine so praktizierte Kulturproduktion ist allein deshalb materialistisch fundiert, weil sie in eine Produktionsanalyse eingebettet ist, die von Karl Marx vorgelegt wurde, an der sich Kluge mit Oskar Negt in Geschichte und Eigensinn abarbeitet. Marx bestimmt Wert, der von warenproduzierenden Gesellschaften geschaffen wird, als abstrakte in einem Gebrauchswert vergegenständlichte Arbeit, die von Menschen in der Lohnarbeit geleistet wird, wobei der Gebrauchswert, das sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt, auch eine Dienstleistung sein kann, die als Leistung in Echtzeit konsumiert wird. Der Wert einer Ware, dessen Größe sich gesellschaftlich in der Beziehung der Waren zueinander be6 Ebd., S. 131. 7 Vgl. Alexander Kluge, Schlachtbeschreibung, Freiburg im Breisgau 1964; Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Frankfurt/M. 2000, S. 509–793.

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stimmt, wird durch die Arbeitszeitquanten geschaffen, die bei der Produktion in die Ware eingegangen sind. Wertbestimmung und Produktionsprozess bleiben aber unsichtbar, weil der Produktionsprozess, der sich in Waren vergegenständlicht, vom realen Schein der Waren verdeckt wird, hinter dem er verschwindet. Im Arbeitsprozeß bewirkt also die Tätigkeit des Menschen durch das Arbeitsmittel eine von vornherein bezweckte Veränderung des Arbeitsgegenstandes. Der Prozeß erlischt im Produkt. […] Was auf seiten des Arbeiters in der Form der Unruhe erschien, erscheint nun als ruhende Eigenschaft, in der Form des Seins, auf seiten des Produkts. Er hat gesponnen, und das Produkt ist ein Gespinst.8

In der phantasmagorischen Textur des Produkts, die sich am Beispiel von Weben und Spinnen als Gewebe materialisiert, beruhigt und vergegenständlicht sich die verausgabte Arbeit so, als ob es sie nie gegeben hätte. Gegen diese strukturelle Undarstellbarkeit von Produktionsprozessen, mit der die Abstraktion der Arbeit bei der Wertproduktion durchgesetzt wird, schreibt Marx im Kapital an, wie es allein am Untertitel des dritten Bandes, »Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion«, unmissverständlich deutlich wird. Kapitalistische Warenproduktion hat nämlich ein fundamentales Interesse daran, den Produktionsprozess selbst nicht sichtbar zu machen, wie Marx festhält: Die Konsumtion der Arbeitskraft, gleich der Konsumtion jeder andren Ware, vollzieht sich außerhalb des Markts oder der Zirkulationssphäre. Diese geräuschvolle, auf der Oberfläche hausende und aller Augen zugängliche Sphäre verlassen wir daher, zusammen mit Geldbesitzer und Arbeitskraftbesitzer, um beiden nachzufolgen in die verborgne Stätte der Produktion, an deren Schwelle zu lesen steht: No admittance except on business. Hier wird sich zeigen, nicht nur wie das Kapital produziert, sondern auch wie man es selbst produziert, das Kapital. Das Geheimnis der Plusmacherei muß sich endlich enthüllen.9

Wertproduktion und Wertbestimmung sind nicht dasselbe, weil erstere durch die Verausgabung abstrakter Arbeit, letztere erst im Austausch von Waren realisiert wird. Dem fügt er zwei Seiten später hinzu: Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigne Haut zu Markt getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die – Gerberei.10

8 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, in: ders./Friedrich Engels, Marx Engels Werke, Bd. 23, Berlin 1962, S. 195. 9 Ebd., S. 189. 10 Ebd., S. 191; vgl. Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 87: »Es liegen zwei Produkte vor, wo der Kapitalist oder Nationalökonom nur eines sieht. Das eine Produkt entsteht im Tauschverhältnis zwischen kapitalistischer Produktion und Lohnarbeit; das andere besteht im

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Das bestätigt sich allein am Fokus auf die Zirkulationssphäre, den neoklassische Wirtschaftswissenschaften legen, mit welchem sie Wert alleinig als Resultat von Angebot und Nachfrage bestimmen, um so von der Mehrwertproduktion, die nichts anderes ist als eben die Gerberei derer, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, ablenken zu können. Kluges Gegenproduktion zieht daraus eine doppelte Konsequenz: Während sich ihm zufolge die kapitalistische Ökonomie in einer mimetischen Annäherung nur als eine »babylonische Sprachverwirrung« zu erkennen gibt, weil sie auf quantitative Einheiten, nicht aber auf qualitative Intensitätsgrade ausgerichtet ist, steht mit der Ökonomie der Arbeitskraft ein Gegenstand bereit, der beschrieben sein will, »weil sie mit den menschlichen Energien und Haltungen zu tun hat, die auf Veränderung drängen und sie machen.«11 Mit der Orientierung auf die Ökonomie der Arbeitskraft ist also ein Fokus auf das gelegt, was während eines Produktionsprozesses physisch verausgabt wird und in dieser Verausgabung gegen die Regulierungen des Prozesses selbst interveniert. In imperfekten Produkten, die ihre Irrtümer und ihren offenen Charakter akzentuieren, fallen Produkt und Produktionsprozess nicht mehr insoweit auseinander, als dass letzterer von ersterem getilgt wird, sondern der Bruch bleibt als Bruch erhalten.12 Der Bruch stellt aus, dass hier menschliche Arbeitskraft veräußert wurde, die in ihrer Endlichkeit so fehleranfällig und brüchig, unkontrollierbar und ergänzungsbedürftig ist wie eben die vorliegenden Produkte. Bei Kluge ist also, so könnte man versuchsweise sagen, eine sich politisch begreifende Gegenproduktion am Werk, welche der Zirkulationssphäre nicht moralisch wertvolle oder politisch ausgerichtete Produkte unterjubelt, sondern vergegenständlichte Chiffren einer Produktion von Erfahrung. Kluges Ästhetik des Imperfekten, das zeigt sich an seinem beharrlichen Eintreten für Irrtümer, korrespondiert mit Alfred Sohn-Rethels Neubestimmung von Technik, die von diesem in einem am 21. März 1926 in der Frankfurter Austausch des inneren Verhältnisses der Arbeitskraft zu sich selbst, also im Produktionsverhältnis der Arbeitskraft als Ware zu sich als Lebewesen. In der Perspektive der politischen Ökonomie der Arbeitskraft – entgegengesetzt zum Betrachtungswinkel der Kapitallogik – ist das Arbeitsresultat ein Nebenprodukt, der Prozeß im Arbeitenden selbst das Hauptprodukt; ein Stück wirkliches Leben.« 11 Heiner Boehncke/Alexander Kluge, »Die Rebellion des Stoffs gegen die Form und der Form gegen den Stoff: Der Protest als Erzähler«, in: Thomas Böhm-Christl (Hg.), Alexander Kluge, Frankfurt/M. 1983, S. 299–309, hier S. 301. 12 Exemplarisch vgl. dazu Anton Kaes: »Der Film ›Die Patriotin‹ legt den Konstruktionsprozeß offen dar, vor allem durch die Stimme im Off, die das Bildmaterial vorführt und kommentiert, sentenzenhaft zusammenfaßt und sich bisweilen mit dem Zuschauer direkt über das Gezeigte zu verständigen sucht. Die Stimme bietet eine Perspektive, die außerhalb derjenigen der Charaktere liegt und von ihnen nicht wahrgenommen wird.« (Anton Kaes, »Über den nomadischen Umgang mit Geschichte. Aspekte zu Alexander Kluges Film ›Die Patriotin‹«, in: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur. Alexander Kluge 85/86, 1985, S. 132–144, hier S. 137).

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Zeitung gedruckten Artikel »Das Ideal des Kaputten. Über neapolitanische Technik« vorgelegt wurde. Der Text kann durchaus als eine Art Ursprungsdokument einer kritischen Medientheorie der Frankfurter Schule bezeichnet werden. Für Kluge zählt Sohn-Rethel, wie einem Widmungsexemplar der Neuen Geschichten an Sohn-Rethel zu entnehmen ist, zu einem der »wichtigsten Lehrmeister« seiner Generation, was wohl, wenn man bedenkt, dass Kluge hier im Namen einer Generation spricht, auf dessen materialistische Erkenntnistheorie13 und weniger auf dessen Technikverständnis gemünzt sein dürfte.14 Was Negt, für den Sohn-Rethel wohl noch um einiges prägender war als für Kluge, wiederum in einer Laudatio über Sohn-Rethel sagt, weist zudem auf einige gewichtige Aspekte, welche sich durchaus auch für Kluge geltend machen lassen: Wenn ich von Sohn-Rethel als intellektuellem Handwerker spreche, dann auch, weil mir der Werkzeugcharakter seiner Produktion ebenfalls in seinem Sprachausdruck entgegentritt; er ist, glaube ich, ein großer Erzähler, trotz der sachlichen Kargheit, die seine Sprache insgesamt auszeichnet und die kein schmückendes Beiwerk, das die Sache verstellt, duldet, ja überflüssige Worte mit ironischer Verachtung straft.15

Damit wäre einiges gesagt, was über Kluges Methode und Stil zu sagen wäre, so man diese Begriffe bedienen will, obwohl sich diese naturgemäß bei einem Autor 13 Theodor W. Adorno spricht in einem Brief an Alfred Sohn-Rethel vom 17. November 1936, in welchem er emphatisch bekennt, dass die Lektüre Sohn-Rethels Exposés »die größte geistige Erschütterung bedeutete,« die er »in Philosophie seit« seiner »ersten Begegnung mit Benjamins Arbeit […] erfuhr«, von einer »kritisch-immanenten Überführung (= dialektischen Identifikation) des Idealismus in dialektischen Materialismus; in der Erkenntnis, daß nicht Wahrheit in Geschichte sondern Geschichte in der Wahrheit enthalten ist«. (Theodor W. Adorno/Alfred Sohn-Rethel, Briefwechsel 1936–1969, hg. v. Christoph Gödde, München 1991, S. 32). 14 Sohn-Rethel wird in Kluges Arbeiten ab und zu erwähnt; siehe bspw. eine Stelle, die sich erstmals in der Erstausgabe von Geschichte und Eigensinn findet, in der Neuausgabe von 1993 aber fehlt, weil sie in Maßverhältnisse des Politischen wiederabgedruckt wurde: Oskar Negt/ Alexander Kluge, Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen, Frankfurt/M. 1993, S. 126; Alexander Kluge, »Die fossile Spur des unabhängigen Gedankens«, in: ders., Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe. 402 Geschichten, Berlin 2012, S. 417; Rainer Stollmann/Alexander Kluge, Entstehung des Schönheitssinns aus dem Eis. Gespräche über Geschichten mit Alexander Kluge, Berlin 2005, S. 21; Alexander Kluge, »Was ist Erkenntnis? Jochen Hörisch über unreine Vernunft: ›Der Geist ist abgeleitet vom Geld‹«, News & Stories, 30. Juni 2013. 15 Oskar Negt, »Laudatio für Alfred Sohn-Rethel. Rede anläßlich der Verleihung des Ehrendoktors an Alfred Sohn-Rethel in der Universität Bremen am 5. Februar 1988«, in: Leviathan – Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft 16/2, 1988, S. 139–155, hier S. 146. Was er unter einem »intellektuellem Handwerker« versteht, charakterisiert er mit Blick auf Sohn-Rethel folgendermaßen: »Ich meine vielmehr, daß er nicht mit großen Bauplänen und Entwürfen hantiert, sondern daß die Begriffe, Kategorien und erworbenes Wissen, also die intellektuellen Produktionsmittel und Maßverhältnisse zwischen den Dingen, von ihm behutsam gedreht und gewendet werden, bis sie im lebendigen Arbeitsprozeß die präzise Form eines gestalteten Gebrauchswerts annehmen.« (Ebd.).

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Abb. 1: Widmung von Alexander Kluge an Alfred Sohn-Rethel, Quelle: Aus Sohn-Rethels reich annotierter Arbeitsbibliothek im Bestand des Antiquariat CO-LIBRI, Bremen-Berlin.

wie Kluge nicht trennscharf differenzieren lassen. Ob nun Kluge »überflüssige Worte« mit verachtender Ironie straft, wie es Sohn-Rethel angeblich zu tun pflegt, sei dahingestellt, sachlich entscheidender ist, dass Kluges Sprachpolitik ebenfalls die einer Nüchternheit von Sprache ist, die von einem Handwerker im Geiste mobilisiert wird, dessen Produktion nie nur l’art pour l’art sein will. Begriffshandwerker sind Intelligenzarbeiter, die, um Negts und Kluges Charakterisierung aufzugreifen, solange mit Informationen, Begriffen und Ideen zur Probe handeln, bis sie handlich werden, um so am Kampfplatz der Begriffsarbeit zur Hand zu gehen. In ihrem letzten gemeinsam verfassten Buch aus dem Jahre 1992, betitelt mit Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen, halten beide mit Blick auf Bertolt Brecht dazu fest: Brecht hat von Begriffen als Griffen gesprochen, mit denen Dinge und Verhältnisse in Bewegung gesetzt werden – ganz entsprechend dem Verhalten eines Handwerkes, der Werkzeuge benutzt, um das Material zu bearbeiten und ihm eine den Zwecken ange-

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messene Gestalt zu geben. Gehen diese Griffe verloren, büßen auch die Begriffe und Worte ihre verlässliche Wirkungsweise ein.16

Ein Begriff, der als Produzent von Wirklichkeit unser Verhältnis zur Welt bestimmt, ist nur dann ein brauchbarer Begriff, wenn er dem Bewusstsein so in der Hand liegt, dass er die Dinge in Bewegung bringt und die Verhältnisse zum Tanzen zwingt. Dafür bedarf es einer Fertigkeit der Griffe. Begriffe müssen benutzt, umgewertet und in dieser Inanspruchnahme abgenutzt werden, sonst verlieren sie allein dadurch ihre Bedeutung, dass sie entweder sakral und unantastbar oder vergessen werden. Aber es gilt auch die Eigengesetzlichkeit der Sprache, wie die von Dingen und Objekten gleichermaßen, in der Anwendung anzuerkennen, sonst wird die Anwendung zur instrumentellen Aneignung im Sinne einer von Zwecken bestimmten Relationalität. Eine die Eigengesetzlichkeit berücksichtigende Anerkennung entspricht dem, was als Selbstregulierungsvermögen der Sprache zu bezeichnen wäre. Gerade das Verhältnis von politischer Handlung und einem ihr entsprechenden Ausdrucksmittel, das als Verhandlung offen zu bleiben hat, unterrichtet auch darüber, wie die Beziehung des Menschen zur Technik eine sein kann, in der ein kooperativer Zusammenhang waltet. Nicht nur in der Beschreibung einer Vesuvbesteigung, die Negt mit seinen schönen Worten zuvorderst im Blick hat, auch in seiner Charakterisierung neapolitanischer Technik zeigt sich Sohn-Rethel als »großer Erzähler«, der sich kaum anders als Kluge als ein Chronist kleiner Aneignungen ausweist, mit welchen mechanistisch verselbstständigte Produktivkräfte wieder menschlich zentriert werden. Der Titel des Essays ist Programm, Technik im Sinne von materialisierten Fähigkeiten und Fertigkeiten (griech. téchne) einer sich als endlich begreifenden Vernunft nur als Imperfektes und Vorläufiges zu denken. SohnRethels Phänomenologie neapolitanischer Technik, die er während seiner Italienaufenthalte der 1920er Jahre dem neapolitanischen Alltag abringt, besitzt auf der Ebene der Reflexion eine Relevanz, die weder auf den lokalen noch auf den historischen Bezugsrahmen beschränkt ist. Das Ideal der Technik liegt grundlegend in einer Funktionalität, die sich erst aus dem ergibt, was mitgenommen, ja geradezu kaputt ist. Das Kaputte ist demnach kein Anderes gegenüber der Technik, verstanden im Sinne einer Fertigkeit oder eines zweckorientierten Handelns, sondern eine aus der direkten Lebensrealität sich ergebende andere Art, mit Technik umzugehen. Diese andere, sorglose und geradezu eigensinnige Art ist von einer zur Prämisse erhobenen dialektischen Einsicht bestimmt: Nur insofern beim Gebrauch von Maschinen und Technologien ihr liebevoller Ver16 Negt/Kluge, Maßverhältnisse des Politischen, S. 57. Vgl. dazu Bertolt Brecht, »Flüchtlingsgespräche«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 14, Frankfurt/M. 1967, S. 1381–1515, hier S. 1461: »Die Begriffe, die man sich von was macht, sind sehr wichtig. Sie sind die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann.« Vgl. auch Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 91.

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schleiß im Zentrum steht, kann gesichert sein, dass sie kaputtgehen – und sind sie nicht kaputt, können sie nicht wieder zum Leben erweckt werden. Die Differenz, die zwischen den ontologischen Registern des Kaputten auf der einen und ihrer ontischen Funktionalität auf der anderen Seite in Technik eingelassen ist, wird im Alltag neapolitanischer Praxis schlechterdings sublimiert: Aber nicht, daß diese nun darum, weil sie kaputt sind, etwa nicht funktionieren, sondern beim Neapolitaner fängt das Funktionieren gerade erst da an, wo etwas kaputt ist. Er geht mit einem Motorboot aufs Meer, sogar bei heftigem Wind, in das wir kaum den Fuß zu setzen wagten. Und es geht zwar niemals, wie es gehen sollte, aber so oder so doch immer gut. Mit unerschütterlicher Selbstverständlichkeit bringt er es, drei Meter von den Klippen, an denen ihn die wilde Brandung zu zerschmettern droht, zum Beispiel fertig, den beschädigten Benzinbehälter, in den das Wasser eingedrungen ist, abzulassen und neu zu füllen, ohne daß der Motor aussetzt. Wenn nötig, kocht er gleichzeitig auf der Maschine noch Kaffee für die Fahrgäste. […] für ihn [den Neapolitaner, F.T.] liegt vielmehr das Wesen der Technik im Funktionieren des Kaputten.17

Nur das Kaputte kann in einer Weise funktionieren, in der das Verhältnis von Mensch und Technik nicht ausschließlich nach denjenigen Regeln strukturiert wird, in denen Alterität, das Nichtidentische und eine Gerechtigkeit, für die Vorbehalte, Ablehnung und Verweigerung konstitutiv sind, durch eine Gouvernementalität technischer Reibungslosigkeit, logischer Fehlervermeidung und eines sich selbst vergewisserten Identischen ausgeschlossen sind. Es lassen sich aus den Analysen, die sich am ›Ideal des Kaputten‹ konkretisieren, einige Rückschlüsse darüber ziehen, was Gerechtigkeit heißen könnte. Indem es sich, als weder unversehrt noch unbrauchbar, auf ein Drittes hin öffnet, fügt sich das Kaputte weder ausschließenden Sätzen noch binären Entscheidungslogiken: In Gefahr und größter Not findet sich etwa immer noch Zeit für Kaffee. Nicht von ungefähr hegen die NeapolitanerInnen eine gesunde Distanz zu den technischen Maschinen, deren Vollendung sich aus ihrer Fehlerlosigkeit bestimmt, weil die Fehlerlosigkeit zur Vollendung getrieben wurde. Neue Technologien schaffen als Produktionsmittel nicht nur eine gesteigerte Produktivkraft, wie beispielsweise mit der Nähmaschine eine neue Art zu Nähen entstanden ist,18 sondern bedürfen mindestens ebenso einer eigensinnigen Beharrlichkeit, sich gerade nicht von diesen neujustierten Produktionsverhältnissen und ihrer technologischen Realität unumwunden vereinnahmen und regulieren zu lassen. Die Technik beginnt vielmehr eigentlich erst da, wo der Mensch sein Veto gegen den feindlichen und verschlossenen Automatismus der Maschinenwesen einlegt und selber in ihre Welt einspringt. Dabei erweist er sich allerdings dem Gesetz der Technik um 17 Alfred Sohn-Rethel, »Das Ideal des Kaputten. Über neapolitanische Technik«, in: ders., Das Ideal des Kaputten, hg. v. Carl Freytag, Bremen 1992, S. 33–38, hier S. 33f. 18 Vgl. Marx, Das Kapital, Bd. 23, S. 392.

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Spannen überlegen. Denn er eignet sich die Führung der Maschinen nicht so sehr dadurch an, daß er ihre vorschriftsmäßige Handhabung erlernt, als indem er den eigenen Leib darin entdeckt.19

Das zeigt die neapolitanische, weniger übermenschliche als unmenschliche Art, die Technik leibhaftig handzuhaben. Erst ein »Veto« gegen die rechnerische Zurichtung technizistischer Apparate ermöglicht das, was aus der Perspektive von Lebewesen wert wäre, Technik genannt zu werden. Dieses Veto ist kein korrigierender Einwand gegen den, sondern eine bedingungslose Negation des »Automatismus der Maschinenwesen«. Mehr als fragwürdig, ja geradezu dubios ist der neapolitanischen Handhabung, so etwas reibungslos funktioniert, weil gerade dann nicht gesagt sein kann, worin die monokausale Zweckförmigkeit ihrer Funktionalität in letzter Konsequenz mündet. Denn planmäßig läuft alles nach Plan, solange Maschinen laufen und sich die Produktivität exponentiell steigern lässt. Ob dies nun einer militärischen oder ökonomischen Logik folgt, ist mit Blick auf die strukturelle Ähnlichkeit der jeweiligen Produktionssteigerung mittels Kapitalvernichtung letztlich einerlei. Die historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts machen deutlich, wozu das kalte, jede Menschlichkeit vergessende Kalkül sich verselbständigter technizistischer Rationalität fähig ist. Indem der Ästhetik des Imperfekten, die sich in der humanen, weil praxisbasierten und erfahrungsgewendeten Modernität Neapels zeigt, eine technikontologische Fundierung zur Seite gestellt wird, mit der die Technik als Defektes überhaupt erst ihre Funktionalität erfährt, vermag Sohn-Rethel ein Bild der Technikentwicklung zu zeichnen, das im Gegensatz zum kalten Kalkül einer rechnenden Funktionalität die Lücken und Reste anerkennt, die vom individuellen Eigensinn des Arbeitsvermögens genutzt sein wollen. Im neapolitanischen Alltag wird ein Erfahrungswissen erprobt, das sich auf zwei Einsichten herunterbrechen lässt: Dinge und Sachen müssen möglichst schnell kaputtgehen, denn nur so zeigen sie, wozu sie fähig sind. Indem die Maschinen mittels selbstregulierender Protestenergien für den Moment stocken, um dann wieder von der Phantasie zum Laufen gebracht zu werden, vermögen sie ein menschliches Antlitz zu zeigen. Aus dem neapolitanischen Verständnis von Technik ließe sich ein neapolitanisches Arbeitsvermögen ableiten, das als Werk leibhaftigen Eigensinns im Zeichen von situativer Anverwandlung und Improvisation steht. Was für eine so ent-stellte, weil zurechtgestellte Technik spricht, ist nicht nur die aus der Neujustierung gewonnene andere Beziehung von Mensch und Technik, sondern auch ein anderes Verständnis davon, wie solche Beziehungen grundsätzlich zu denken sind. Im Kaputten, das sich gerade nicht gegen eigensinnige Zweckentfrem19 Sohn-Rethel, »Das Ideal des Kaputten«, S. 36.

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dungen wehrt, ist ein Neuanfang eingesprengt, der als nicht abschließbarer und ständig zu erneuernder Prozess auf andere Bereiche zu übertragen wäre.

Maßverhältnisse von Emanzipation und Revolution Jeder Versuch von Emanzipation ist aktualisiertes Zeugnis dafür, dass die Selbstentfaltung der Menschen einen konkreten Ort hat, der nicht bloß als Utopie abzutun ist, selbst wenn dieser nur ein Versprechen geblieben war. Gerade das Scheitern einer Revolution gibt zu erkennen, was einer solchen Bewegung im Wege gestanden sein mag. Der Emanzipationsprozess kann also nicht in einer sich durch bürgerliches Recht konstituierenden Vergesellschaftung enden, mit der zwar alle die gleichen Rechte, nicht jedoch die gleichen Mittel erhalten, ihre Rechte geltend zu machen. Mit der Trennung von Staat und Gesellschaft, so ließe es sich sehr verkürzt sagen, wurde aus der politischen Verknechtung im Feudalismus eine ökonomische Unterdrückung im Kapitalverhältnis. Marx macht diese Entwicklung an der »ursprünglichen Akkumulation« fest, welche den historischen Moment meint, an dem ProduzentIn und Produktionsmittel voneinander getrennt wurden. Den agraren ProduzentInnen blieb nach der Expropriation von Grund und Boden nichts anderes mehr übrig, als ihre Arbeitskraft als Ware an den städtischen Märkten feilzubieten. Aus diesem Grund verschieben sich für Marx die emanzipatorischen Bemühungen, wie sich Freiheit real umsetzen lässt, von den bürgerlichen Rechten und Vernunftpflichten zur Klassenfrage, weil BürgerInnenrechte zu nichts anderem ermächtigen als zum Recht auf Eigentum, auf dem letztlich die menschliche Trennung vom Gemeinwesen beruht. Was für die Theologie der Sündenfall, stellt für Marx das Privateigentum dar, was für erstere die Wiederkehr des Erlösers, ist für ihn die Revolution, mit der Privateigentum und Produktion von Tauschwerten ein Ende gesetzt wäre. Die Ursünde, die Eigentum heißt, hat vor Marx wohl niemand so eindrücklich geschildert wie JeanJacques Rousseau: »Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.« Was von Rousseau als Urszene bürgerlicher Vergesellschaftung ins Bild gesetzt wird, nämlich das, was als die Einhegung der Allmende bezeichnet werden kann, hat Konsequenzen gezeitigt, die schon im Ansatz hätten erstickt werden müssen: Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wieviel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: »Hütet euch, auf

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diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem«.20

Während die Theologie den paradiesischen Menschen anhand des Sündenfalls der Ursünde überführt, wird mittels der »ursprünglichen Akkumulation« aus lokal produzierten Gebrauchswerten das Prinzip Warentausch, aus der lebendigen die tote Arbeit: Der Warenaustausch beginnt, wo die Gemeinwesen enden, an den Punkten ihres Kontakts mit fremden Gemeinwesen oder Gliedern fremder Gemeinwesen. Sobald Dinge aber einmal im auswärtigen, werden sie auch rückschlagend im innern Gemeinleben zu Waren.21

Die individuellen Freiheiten, welche die bürgerlichen Errungenschaften erwirkten, sind nach Marx letztlich nur Ausdruck der kapitalistischen Produktionsweisen und der durch sie gewonnenen ökonomischen Unabhängigkeit gewisser Gesellschaftsschichten, die jedoch auf der anderen Seite eine neue Klasse an Unterdrückten zur Konsequenz hatte. Die bürgerliche Emanzipation hat sich nach Marx als eine proletarische Revolution neu zu erfinden. Weil jede/r durch die Gesellschaft produziert und von seinen/ihren Produktionsmitteln entfremdet ist, wodurch sich die einen Klassen in der Entfremdung einrichten, während die anderen unter ihr zu leiden haben, steht und fällt für Marx die Frage nach Emanzipation mit dem Ausgang aus der kapitalistischen Gesellschaft. Der sich durch Arbeit in einer warenvermittelten Gesellschaftsform reproduzierende Mensch ist ein sich entfremdeter, mag auch heute jede/r in seiner/ihrer Selbstoptimierung meinen, sich selbst zu verwirklichen. Eine so verstandene Emanzipation wird zum Klassenkampf derer, die sich ihrer unterdrückten und entfremdeten Situation bewusst sind und es verstehen, ihre jeweiligen Differenzen in einem Kollektiv- oder Indifferenzleib zu entdifferenzieren. Das Bewusstsein, das die individuelle Fragmentiertheit kollektiv verkleben könnte, dürfte in der holistischen Warenvermittlung vielleicht nur mehr der um sich greifende und allgegenwärtige Gefühlshaushalt sein, der sich im Pessimismus, in den Neurosen und neuerdings im Burnout manifestiert. Walter Benjamin hat auf die »Kardinalfrage«, wie der für Revolution und Emanzipation konstitutive Moment der Kollektivierung zu denken ist, im Anschluss an Pierre Naville mit der Formel, den »Pessimismus organisieren«, reagiert: »Den Pessimismus organisieren heißt nämlich nichts anderes als die moralische Metapher aus der Politik herausbefördern und im Raum des politischen

20 Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit / Discours sur l’inégalité, hg. v. Heinrich Meier, Paderborn u. a. 31993, S. 173. 21 Marx, Das Kapital, Bd. 23, S. 102.

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Handelns den hundertprozentigen Bildraum entdecken.«22 Der Bildraum, der sich aus einer doppelten Brechung gegenüber der Realität bestimmt, wie die affirmative Entstellung im Titel »Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz« verdeutlichen soll, wäre der Raum leibhaftiger und durch den Leib vermittelter Revolution, in welchem keine moralischen Bilder mehr das politische Handeln beeinträchtigen. Die Frage, ob »die Voraussetzungen der Revolution« in »der Änderung der Gesinnung oder der äußeren Verhältnisse« liegen, hat in revolutionsarmen Zeiten, in denen wir heutzutage anscheinend zu leben haben, an Kredit eingebüßt, wenngleich angesichts von Faschismus, Extremismus und Fanatismus die Alternative gegenwärtig nicht minder aktuell ist. Bis heute fällt nämlich kaum jemandem eine andere Lösung ein, als die ewige und fast mantraartige Wiederholung eines verzweifelten Rufes nach Bildung. Die meist individuell erfahrenen und alleinig zu bewältigenden Erschütterungen, Katastrophen, Leiden und Leidenschaften, die ungemeine Kräfte allein schon in der Kompensation freisetzen, heißt es in einem Zusammenhang gegen das zu sublimieren, was diese hervorgerufen haben. Aus den individuellen großen Katastrophen und Gefühlen des Alltags werden womöglich dann kleine, so sie mit anderen erfahren und geteilt werden. Kaum anders, wenn auch etwas ausgreifender und systematischer, haben Negt und Kluge sich der Frage gestellt, was es heißen kann, den Rohstoff des Politischen, der bei ihnen immer auch einer aus Gefühlen, Wünschen und Begierden ist, zu organisieren. Ihnen geht es dabei weniger um politische Sachgehalte als um einen Intensitätsgrad des Affekthaushaltes, den die Menschen beispielsweise in Liebesbeziehungen, Familien und Erziehung aufbringen, um es überhaupt in der Mehrarbeit aushalten zu können. Diesen privat aufgebrachten und ebenfalls nicht entlohnten Ausgleich, der einerseits eine regenerative Funktion hat, andererseits immer aber auch das herrschende Realitätsprinzip emotional verfestigt, nennen sie die Intensitätsgrade alltäglicher »Balancearbeit« einer sogenannten »Balance-Ökonomie«. In einer als Das Politische als Intensität alltäglicher Gefühle betitelten Rede von 1979, in der in nuce die zentralen Grundzüge 22 Walter Benjamin, »Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1972, S. 295–310, hier S. 308. Zur »fundamentalen Hoffnungslosigkeit«, die uneingeschränkt dem Wunsch nach einer »sozialen Revolution« nachgeht, schreibt Pierre Naville 1927 in der Zeitschrift La Révolution Surréaliste: »In Wirklichkeit fließt das Blut nur außerhalb der Adern. Man muß das Leben finden in der Subtraktion, die sich methodisch und pausenlos zwischen der höchsten bekannten Zahl und irgendeiner Unternehmung vollzieht, zwischen dem Boot und den Wellen, zwischen dir und mir, usw.« (Pierre Naville, »Besser und weniger gut«, in: Günter Metken (Hg.), Als die Surrealisten noch recht hatten. Texte und Dokumente, Stuttgart 1976, S. 96–107, hier S. 99) Grundlegend dazu vgl. das erstmals 1926 erschienene Buch von Pierre Naville, La révolution et les intellectuels, Paris 1975.

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seines Denkens des Politischen zur Sprache kommen, spricht Kluge von einer »Massenmobilisierung des Passivismus«, die für ihn Ausdruck einer massenmedial organisierten Kolonisierung des Bewusstseins ist.23 Die »Ästhetisierung des politischen Lebens«, von der Benjamin mit Blick auf den Faschismus spricht, welcher »Massenbewegungen größten Maßstabs unter Wahrung der überkommenen Eigentumsverhältnisse« in der Orientierung am Krieg aktiv zu bündeln wusste,24 ist nach Kluge in eine Medialisierung des Privaten umgeschlagen, die Mobilisierung für den Krieg in eine durch die Verwertungsindustrien vorstrukturierte Passivität. Aktive Mobilisierung für den Krieg und kollektive Passivierung mittels medial vermittelter Informationen haben eine gemeinsame Perspektive, wie Kluge 1983 daran anschließend festhält: es »gestattet einer gesellschaftlichen Minderheit zu tun, was sie will.«25 Die »Kolonisierung«, die »ins Innere der Menschen« verlegt wurde,26 ist dem Umstand geschuldet, dass die bürgerliche Öffentlichkeit mittlerweile den Menschen nicht nur als eine ungeheure Warensammlung von Gegenständen, sondern auch als eine ungeheure warenförmige Informationsmassierung entgegentritt. Die Masse an Information korrespondiert mit der Leere an Bedeutung, mit der eine Verflachung politischer Intensität im Alltag durchgesetzt wird. Das, was die Menschen subkutan allein aufbringen, um es trotz der Entmündigung ihres Bewusstseins aushalten zu können, sei es in der Arbeitslosigkeit, in der Arbeit oder eben in der Freizeit, gilt es, wie den Pessimismus, zu organisieren und für das politische Handeln zu aktivieren. Jeder Emanzipationsprozess, der nicht nur Theorie sein will, so Negts und Kluges Annahme, wird nicht nur die Gesinnungen, sondern eben auch diese »antirealistische Arbeit der Motive«, die nach außen hin passiv erscheinen, zu berücksichtigen haben.27 Für Negt und Kluge lässt sich jedoch »nicht jede Willensäußerung innerhalb der Gesellschaft mit dem Wort politisch« fassen, sondern eben nur diejenigen, welche »das Politische an die Kategorie des Gemeinwesens« binden.28 Die Aufgabe von Politik als Organisationsform sollte es sein, nicht betriebsförmig Ordnung, 23 Alexander Kluge, »Das Politische als Intensität alltäglicher Gefühle«, in: Thomas BöhmChristl (Hg.), Alexander Kluge, Frankfurt/M. 1983, S. 310–319, hier S. 317. 24 Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1972, S. 350–384, hier S. 382. 25 Alexander Kluge, »Die Utopie Film«, in: ders., In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod, S. 73–112, hier S. 95. 26 Ebd., S. 94. 27 Vgl. Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 106: »Sie äußert sich z. B. in der Umwegproduktion der Kultur, in der Phantasietätigkeit, Arbeit des Protests, der Deutungsarbeit, der Trauerarbeit, in der Fülle von Selbst- und Fremdtröstungen; sie ist praktisch als Annex Bestandteil eines jeden Arbeitsprozesses und zugleich Praxis einer kompensatorischen Gegenproduktion.« 28 Negt/Kluge, Maßverhältnisse des Politischen, S. 16.

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sondern Raum für die gemeinschaftliche Verhandlung darüber zu schaffen, was ein Gemeinwesen sein könnte. Gerade die strukturelle Modellierung von Politik informiert aber darüber, was eine derartige gemeinschaftliche Verhandlung über Gemeinschaft verhindert. Indem Politik primär fragt, wie Wahlen gewonnen werden und Macht sich verwalten lässt, sanktioniert und verfestigt sie letztlich bloß ökonomische Gesetzmäßigkeiten, denen sie sich unterwirft. Negts und Kluges Denken von Emanzipation und Revolution lässt sich nur auf Basis der Differenzbestimmung zwischen »der Politik« und »dem Politischen« verstehen, die von Carl Schmitt getroffen wurde. Gegen Schmitt, der aus dem Geist einer differenzfreien inneren Identität das Gemeinwesen in Abgrenzung gegenüber dem Feind bestimmt, ist es ihnen aber darum zu tun, den Intensitätsgrad des Politischen als einen unabgeschlossenen und antagonistischen Prozess zu denken, der sich nicht gegenüber einem Außen, sondern in der Mitte des Politischen selbst vollzieht. Die Unabschließbarkeit des Politischen hat für sie Rohstoffcharakter. Die Öffentlichkeitsform der Rohstoffe, um ein Beispiel zu geben, also das, was aus den Rohstoffen eine Öffentlichkeit herstellt, sind solche ›Maßverhältnisse des Politischen‹, mit denen nichts anderes als Unterscheidungsvermögen gemeint sind. Unterscheidungsvermögen formen Öffentlichkeit aus politischen Rohstoffen. Daraus ergibt sich ein Begriff des Politischen, der im Anschluss an Schmitt nicht nur gegen den der Politik entwickelt wurde, sondern eben auch gegen den, der von Schmitt fast wortgleich ursprünglich geprägt wurde: Vielmehr beschreibt der Begriff des Politischen den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Abstoßung oder Anziehung, einer Assoziation oder Dissoziation: in jedem Zusammenhang möglich und in jeder Eigenschaft, die erfahrungsfähig ist, aktualisierbar.29

Das, was demgegenüber mit dem Begriff Politik gefasst wird, meint rechtlich legitimierte und staatlich institutionalisierte Handlungsweisen, die gewissen sozialen Gruppen eigen sind (politischen Parteien, Polizei, Diplomatie etc.). »Wir sprechen nicht von der Politik als einem Sachgebiet und einer professionellen Tätigkeit,« wie sie hervorheben, »sondern von dem Rohstoff, dem Politischen, das in jedem Lebenszusammenhang versteckt ist. Zu diesem Rohstoff gehören massenreiche Antriebe. Sie wurzeln in der Regel in den Privatsphären (Beruf, Familie, Betrieb usf.).«30 Diese Rohstoffe, die in der Intensität des Alltags verankert und bisher weitgehend für ein politisches Handeln unausgeschöpft sind,

29 Ebd., S. 91. Dass Negt und Kluge sich mit ihrem Begriff des Politischen auf Schmitt beziehen, zeigt Oliver Marchart, Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Frankfurt/M. 2010, S. 41f. 30 Negt/Kluge, Maßverhältnisse des Politischen, S. 32.

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können nur dann politisch sein, so sie sich verallgemeinern und einen Geltungsanspruch stellen.

Eigensinnige Rohstoffe des Politischen Negt und Kluge erweitern in ihrem Buch Geschichte und Eigensinn, das erstmals 1981 gedruckt wurde, den Emanzipationsbegriff von Marx um eine unbewusste Protestenergie des menschlichen Gefühlshaushalts, die wie eine Art anthropologischer Schematismus Gefüge, Situationen und Zusammenhänge verklebt, indem sie gegen herrschaftsförmige Vergesellschaftungen interveniert und deren Regulierungs- und Normierungsabsichten durchkreuzt. Diese Annahme ist der Fokus, auf den hin sie ihren Perspektivenwechsel vollziehen, der die von Marx analysierte Kapitallogik um einen komplementären Aspekt erweitert: nämlich um eine politische Ökonomie der im kapitalistischen Verwertungszusammenhang gebundenen und in der Trennung fragmentierten Arbeitskraft, in der sie jedoch die noch nicht analytisch bearbeiteten Reste, Potentiale und ausgeschlossenen Abfallprodukte jeder Tätigkeit und der in ihr ausgebildeten Eigenschaften in den Blick nehmen. Ohne diese aktiven Reste, die nicht selten phantasiebeladene Gegenwelten bauen, kann keine Arbeit, deren unbezahlte Mehrwertproduktion abgeschöpft sein will, überhaupt produktiv werden. Man könnte über Geschichte und Eigensinn sagen, dass es mit einer Theorie der Gleichzeitigkeit, verstanden als die Vernetzung einer 2.000 Jahre alten, disparaten wie heterogenen Kulturgeschichte humaner Arbeitskraft, ein Reservoir des Lebendigen im Toten, des Konkreten in der Abstraktion freizulegen sucht, um so individuelle Überlebensenergien gegenüber der undurchdringlichen und allgegenwärtigen Unterdrückung starkmachen zu können. Während Marx mit dem Kapital den »Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion« aus dem Geist einer »Kritik der Ökonomie« darlegen will, wie die Untertitel unmissverständlich zu erkennen geben, stellen Negt und Kluge dem eine Produktionsgeschichte der menschlichen Arbeitskraft deshalb zur Seite, um so die virtuelle Realität eines Produktionsprozesses der Revolution freilegen zu können, welchen es in der Werkwerdung der Revolution zu aktualisieren gilt. Die Geschichte des Arbeitsvermögens lesen sie als eine Geschichte der sich ausbildenden, uneingelösten und unterdrückten Emanzipationsrealitäten, die als Reserven lebendiger Arbeit ein Resultat der entfremdeten Arbeit sind, gegen die sie im Arbeitsalltag mit kleinen Gesten opponieren. Nur wer das Buch nicht gelesen hat, identifiziert in einem solchen Ansinnen einen orthodoxen Marxismus, weil ihnen ja gerade gegenüber Marx auch daran gelegen ist, in der Entfremdung widerständige, weil sich selbst regulierende Arbeitsvermögen freizulegen. Weder die äußere Erscheinung der Erstausgabe, die sich wie ein Band der MEW-Aus-

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gabe gibt, noch die vielen Marx-Zitate sind als epigonale Imitation oder antiquarische Rekonstruktion zu verstehen. Sie sind vielmehr Ausdruck einer dislozierenden Aneignung, die den historischen Bestand, der angewendet sein will, als einen zu zitierenden und nicht als einen zu inventarisierenden begreift. Mit Friedrich Nietzsche ließe sich sagen, dass Negt und Kluge das Kapital nicht ›nachahmen‹, sondern im Durcharbeiten der Anthropologie des Arbeitsvermögens sich der Materialien »wie einer kräftigen Nahrung zu bedienen« wissen.31 Mit Geschichte und Eigensinn liefern sie so eine Art Werkzeugkasten fröhlicher Theoriearbeit, der darauf drängt, in Anspruch genommen zu werden. Arbeitsvermögen, so die zentrale These von Negt und Kluge, sind nicht ausschließlich durch die in der Kapitallogik organisierten Herrschaftsverhältnisse diszipliniert, sondern immer schon in einem komplexen anthropologischen Zusammenspiel kooperativer Gefüge und Gefühlshaushalte selbstreguliert. Ausgangspunkt dafür ist die Annahme, dass die »ursprüngliche Akkumulation« permanent stattfindet, jedoch immer auch nichtidentische Selbstregulierungspotentiale produziert, die sich quer zur Trennung stellen. Die Geschichte der Organisation von Arbeit bildet eine Art Vorgeschichte, die sich in jedem Arbeitsvermögen reaktiviert. Die Eigenlogik der Selbstregulierung, die durch die fünf Sinne, die Haut, die Zellen, das Gehirn und die darauf aufbauenden gesellschaftlichen Organe wie »Lieben, Wissen, Trauern, Erinnern, Familiensinn, Hunger nach Sinn, die gesellschaftlichen Augen, die kollektiven Aufmerksamkeiten«32 unbewusst reguliert wird, nennen sie Eigensinn. Die sich selbstregulierenden Vermögen lebendiger Arbeit, welche gattungsgeschichtlich verankert sind und sich individualgeschichtlich reaktivieren, treten als Störung in der entfremdeten Arbeit auf und schlagen in der Not in Widerstand und Rebellion um. Als Interventionsenergie, die einer Dialektik von lebendiger und toter Arbeit geschuldet ist, ist der Eigensinn weder als deren Synthese zu verstehen, noch als jenseits von Arbeit zu situieren. Er ist ein Produkt dessen, wogegen er sich richtet. Dieser Eigensinn zeigt sich beispielsweise am eigensinnigen und durchaus auch emanzipatorischen Sinn der Kinder, der sich bekanntlich nur mit viel Anstrengung regulieren und in folgsame Bahnen lenken lässt. Der Eigensinn ist »als emanzipatorischer Prozeß […] das Alles- oder Nichts-Prinzip der Revolution. […] Revolution ist ein Produktionsprozeß, der alle verschiedenen Eigensinnigkeiten der Selbstregulierung in einen assoziativen Zusammenhang setzt«.33 Ein so verstandener Eigensinn beharrt auf den emanzipatorischen Vermögen, wie unkultiviert das Wissen um die Gefühle bei einem jeden auch sein mag, die 31 Friedrich Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1988, S. 243–334, hier S. 329. 32 Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 41. 33 Ebd., S. 66.

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jeder Körper in seiner Eigengesetzlichkeit besitzt. Gesetz der Eigengesetzlichkeit ist, dass jeder Mensch eine ihm eigene Illusion von Zeit, eine Eigenzeitlichkeit besitzt, über welche die Zeit der Produktion gestülpt wird (Arbeitszeitmessung, Taylorismus, Statistik etc.), was eine Vertauschung von Subjekt und Objekt nach sich zieht. Mit diesem Prozess, der gemeinhin Entfremdung genannt wird, tritt das Außen ins Innere, was zu einer Trennung von einem selbst und einer entfremdeten Erfahrung von Zeit führt; »er ist der auf einen Punkt zusammengezogene Protest gegen Enteignung, Resultat der Enteignung der eigenen Sinne, die zur Außenwelt führen.«34 Dieser Eigensinn steht unter der Logik vom »Satz vom eingeschlossenen Dritten«, wie sie festhalten, der nicht in »der Wiederaneignung des Enteigneten«, sondern in einer »gemeinsame[n] Antwort der Enteigneten« eine Lösung sucht. »Der Weg der Aufhebung der Selbstentfremdung geht also, was Eigentum betrifft, über ein Drittes. Aneignung und Verwirklichung sind verschiedene Verkehrsformen.«35 Diese Antwort zielt auf eine Umwertung der Wirklichkeit, also auf Revolution ab, wenngleich Negt und Kluge in letzter Konsequenz einem etwas problematischen Begriff von nichtentfremdeter Identität das Wort reden, mit dem sie nicht nur hinter die Einsichten fallen, die sie bei Adorno gelernt haben, sondern auch hinter Kluges Auffassung von Realismus: »Vielmehr geht es um eine Umproduktion von nichtidentischen Verhältnissen in identische, vermöge der Selbstregulation von Erfahrung.«36 Der Eigensinn erwirkt zudem wohl weniger Revolutionen noch gesellschaftliche Umbrüche, als dass er im Alltag Wege, Fähigkeiten und Energien ausbildet und freisetzt, die sich nicht von der Unterdrückung gänzlich vereinnahmen lassen und weiter einen Ausweg aus ihr suchen. Sind die unterschiedlichsten Formen des Eigensinns assoziativ in einem Zusammenhang gebündelt, dann formt sich eine Produktivkraft, die womöglich in die Geschichte eingreift. Dass sich dieser Eigensinn letztlich solidarisch organisiert, ist jedoch nicht gesagt, mag auch der Mensch ein soziales Wesen sein. Mit dem Begriff »Verkehrsformen«, der sämtliche menschlichen Lebens- und Interaktionsformen adressiert, beziehen sich Negt und Kluge auf eine MarxInterpretation von Hans-Jürgen Krahl. Für Krahl lassen sich Emanzipationsversprechen nicht ausschließlich in einer ökonomischen, sondern erst in einer allumfassenden Revolution der Gesellschaft einlösen: »Emanzipation ist nicht primär eine veränderte Eigentumsorganisation der Industrie, sondern eine veränderte Verkehrsorganisation der Gesellschaft.«37 Eine staatsbürgerliche 34 35 36 37

Ebd., S. 768. Ebd., S. 38f. Ebd., S. 509. Hans-Jürgen Krahl, »Fünf Thesen zu ›Herbert Marcuse als kritischer Theoretiker der Emanzipation‹«, in: ders., Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution. Schriften, Reden und Entwürfe aus

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Gleichstellung rechtloser Gruppen ist eben dann nicht ausreichend, wie dies beispielsweise die Lebensrealitäten von Minderheiten zeigen, wenn man zwar die gleichen Rechte besitzt, sich die gesellschaftlichen Verkehrsformen, beispielsweise durch einen dem Staatsapparat inhärenten Rassismus, aber nicht im gleichen Maße entfalten können. Auch wenn an diesem Beispiel primär eine Klassendimension zum Ausdruck kommt und sich ausgehend von Benjamins »Tradition der Unterdrückten«38 mit Negt und Kluge all die, die unterdrückt werden, als proletarisch bezeichnen lassen, gehen Distinktionen nicht allein in Eigentumsfragen auf.

Gemeinschaft und Glück: Der Satz vom eingeschlossenen Dritten Dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten (lat. tertium non datur), dem zufolge entweder eine Aussage oder ihr kontradiktorischer Gegensatz bei einer Bestimmung von etwas als zulässig ist, haben Negt und Kluge, wie oben bereits erwähnt, den Satz vom eingeschlossenen Dritten entgegengestellt, mit welchem weniger Erkenntnisse als Vertrauensverhältnisse formuliert sein wollen. Es ist ein Satz, der nicht im Sinne einer Logik eines Kopfbewusstseins aufzufassen wäre, sondern als einer, der das Prinzip Entweder-oder aussetzt, um im Widerspruch selbst etwas Raum greifen zu lassen, das zufällig und womöglich wie »auf Tau-

den Jahren 1966–1970, Frankfurt/M. 1971, S. 298–302, hier S. 300. Krahl war auch derjenige, wie Negt in seiner Laudatio berichtet, der ihn 1967 auf Sohn-Rethel mit den Worten, er sei der »originellste marxistische Kopf der Gegenwart«, überhaupt erst aufmerksam gemacht hat. (Negt, »Laudatio für Alfred Sohn-Rethel«, S. 142) Auch für Kluge stellt Krahl eine konstante Bezugsgröße dar, den er sonderbarerweise, und das wohl im Sinne einer explosiven Kooperation, wiederholt mit Niklas Luhmann in Verbindung bringt: Alexander Kluge, »Die Küche des Glücks«, in: ders., Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe. 402 Geschichten, Berlin 2012, S. 351–367; dem hat Kluge, unter direkter Bezugnahme auf diese kooperative ›Küche des Glücks‹, die in der »Revolutionsstadt« Frankfurt 1968/69 möglich gewesen wäre, bei der Eröffnungsrede des Pluriversums in Wien noch hinzugefügt: »Krahl ist der intelligenteste mir bekannte Studentenführer gewesen – ein Theoretiker der Spitzenklasse. Dessen Theorien über die reele Subsumption der Intelligenz und des Kapitals ist die einzige Theorie, die mit Silicon Valley fertig wird, und nicht bloß negativ darüber reden kann. Das ist der eine, Luhmann der andere.« (Belvedere 21, »Alexander Kluge – Ausstellungseröffnung«, 2018, 28:50–30:25, verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=LpCNszCn3a4&feature=e mb_title [22. 11. 2020]). Darüber hinaus zu Krahl vgl. Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 880ff. Ein anderer Verweis auf Krahl, der sich noch in der Erstausgabe von Geschichte und Eigensinn findet, fehlt beim Wiederabdruck in Negt/Kluge, Maßverhältnisse des Politischen, S. 116. 38 Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1972, S. 691–704, hier S. 697.

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benfüßen«39 sich nähert. Zufälle sind, wie sie mit Blick auf Nietzsche schreiben, »glückliche Sprünge, auf die eine Reserve, in der Aufmerksamkeit des Subjekts längst vorbereitet, antwortet, die die Veränderungen, Vorgriffe, Kontinuität gewinnenden Eigenschaftsveränderungen bewirkt haben.«40 Diese Sprünge, die die herrschenden Verhältnisse womöglich wenden, sind antizipierendes Werk von Glück und Geistesgegenwart, Kooperation und Vertrauen. Eingriffe müssen immer auch Vorgriffe sein, sofern Veränderungen geglückte Sprünge sein wollen. Wer auf Sprünge setzt, die bestehende Normen und Verkürzungen überspringen sollen, darf sein Glück nicht in den Spielen suchen, in denen die Bank wie beim Roulette die Null befestigt hat. Die Regeln von derlei Spielen, die immer solche vom ausgeschlossenen Dritten als die des ausgeschlossenen Glücks sind, gilt es grundlegend zu brechen, weil ohne die Zahl Null, bei der das bestehende System immer gewinnt, wäre das Glück im Spiel keine sichere Bank. Und selbst wenn jemandem innerhalb dieser strukturellen Verkürzungen Glück zugesprochen wird, ist damit noch nichts gewonnen, wie Kluge richtig schreibt: »Weder bei dem Schicksal noch bei dem Geld der Lotterie kann ich wirklich wissen, ob es mich glücklich oder unglücklich macht.«41 Glück haben kann demgegenüber nur heißen, wie Benjamin in der Einbahnstraße festgehalten hat, »ohne Schrecken seiner selbst innewerden können.«42 Ohne Schrecken kann wiederum nur bedeuten, dass das drohende Schicksal ein für alle Mal abgewendet ist und ein Gewinn in der Lotterie nichts mehr ändern würde. Nicht der Ausnahmezustand, mit dem die Grenze zwischen Schicksal und Bestimmungsoffenheit überschritten ist, sondern die Revolution, die als eine eigensinnige wohl nur eine mikropolitische sein kann, hat zur Regel zu werden. Mit Blick auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, dessen logische Konsistenz immer ausschließend ist, zitieren Negt und Kluge einen Satz von Marx, der nicht nur auf die deutsche Gründlichkeit zu reduzieren wäre: »Das gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu revolutionieren.«43 Glück ist nur dann Glück, so Kluge, so »die Gefühle sich auch selbst organisieren« und verantwortlich für andere werden. Ohne die anderen, denen man in glücklichen Beziehungen vertraut, gibt es keine »Geschichten geglückter Gefühle, wo man im unerwartetsten Moment merkt, daß die Gefühle zwischen Menschen ein Ge39 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 4, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 2009, S. 189. 40 Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 413. 41 Alexander Kluge, »Glück«, in: Stadt Kassel (Hg.), Die Grimmwelt. Von Ärschlein bis Zettel, München 2015, S. 98–107, hier S. 98. 42 Walter Benjamin, »Einbahnstraße«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, hg. v. Tillman Rexroth, Frankfurt/M. 1972, S. 83–148, hier S. 113. 43 Karl Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«, in: ders./Friedrich Engels, Marx Engels Werke, Bd. 1, Berlin 1956, S. 378–391, hier S. 391; vgl. Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 1206.

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meinwesen bilden können.«44 Kluge wiederholt in diesem Zusammenhang eine Anekdote von einem blinden Lastwagenfahrer, erstmals abgedruckt in Chronik der Gefühle, der unter Anleitung seines Sohnes seinen Wagen fuhr. Ihr Gemeinwesen wird von einem Vertrauen füreinander organisiert, das es womöglich nur im Austausch von Gefühlen geben kann. In solchen Gemeinschaften, die sich durch die Arbeit an Beziehungen stiften, wird man sich seiner selbst bewusst, weil man mit anderen in eine Beziehung getreten ist. Eine solche Gemeinschaft ohne Schrecken, die sich nicht gegen das Außen abdichten darf, benötigt geglückte Sprünge, die »das wahre Reich der Freiheit […] jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion« anvisieren, das sich nach Marx dort situiert, wo »die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt,« anhebt und »das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört«. »Grundbedingung« hat nicht nur die »Verkürzung des Arbeitstags« zu sein, sondern auch der Abbau von Tauschwerten und die Lebendighaltung der Gefühle.45 Nach Jean-Luc Nancy denkt Marx mit der von ihm gezeichneten Gemeinschaft eine, die als »Gemeinschaft der Literatur« zu bezeichnen wäre; oder die zumindest eine wäre, wie Nancy schreibt, die sich »auf eine solche Gemeinschaft hin öffnet.«46 An einer so verstandenen, eben nicht waren-, sondern so etwas wie literaturvermittelten Gemeinschaft, die nach Nancy ›unwerkbar‹ oder ›entwerkt‹ (désœuvrée) und so als ständiger Prozess der Verhandlung unabschließbar zu sein hat, scheint Kluge unablässig zu arbeiten. Man könnte meinen, die analytischen Anstrengungen der »Kritik der politischen Ökonomie« im Kapital sind von einem Wissen darüber getragen, dass man nur die Kapitallogik vollständig zu durchdringen habe, um der Menschheit eine ihr andere, mit einem humanen Antlitz besetzte Wirtschaftsform zuzuführen. Aber mit dem avanciertesten Moment des Bewusstseins allein lässt sich noch keine Revolution machen, mit der ein anderes Denken überhaupt erst, und sei es ein unabgeschlossenes Denken darüber, was dieses Denken zu sein hat, in die Mitte der politischen Bemühungen tritt. Eine andere Gesellschaft, in der das aufgeladene Datum von Wünschen und Gefühlen nicht von einer ihnen entgegengesetzten Zeit der quantitativen Wertproduktion kontaminiert oder kolonisiert wird, hat ihren Bedingungsgrund gleichermaßen in einem den Gegenstand durchsteigenden Studium dessen, was als eine genetische Kritik der Ökonomie der Arbeitsvermögen die Intensitätsgrade antirealistischer Motive (Balancearbeit, Parteilichkeit für Erfahrung, Protest, Rebellion, Widerstand etc.) ausmisst. 44 Alexander Kluge, »Geglückte Gefühle«, in: ders., Die Kunst, Unterschiede zu machen, Frankfurt/M. 2003, S. 87. 45 Marx, Das Kapital, Bd. 25, S. 828. 46 Jean-Luc Nancy, Gemeinschaft, die sich nicht verwirklicht, Wien 2018, S. 129.

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Eine materialistische Umwertung der Produktion, die der Bedingungsgrund einer nicht auf Tauschwerten basierenden Gesellschaftsordnung zu sein hat, bedarf folglich einer Neubestimmung von Arbeit aus dem Geist der Produktivkraft Phantasie, um diese um- und anleiten zu können.

Andreas Becker

Kluges Benjamin. Verweise auf Walter Benjamin in Alexander Kluges Erzählungen und TV-Magazinen1

Walter Benjamin als Protagonist und Thema in Kluges Erzählungen Ein für Alexander Kluge stilbildender Autor ist Walter Benjamin. Sowohl zu dessen ›Zitieren ohne Anführungszeichen‹,2 d. h. zu seinem Montageverfahren, seinen medientheoretischen Prämissen, der Geschichtsphilosophie wie auch der Passagenarbeit ließen sich leicht Bezüge herstellen.3 So bezieht sich Kluge »in seinen filmtheoretischen Äußerungen mehrfach auf Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Sein Film Die Patriotin und die philosophische Materialmontage Geschichte und Eigensinn wären ohne die Geschichtstheorie Benjamins kaum denkbar. Mehrere Kulturmagazine sind Benjamin gewidmet«, wie Christian Schulte in seinem Aufsatz »Kairos und Aura. Spuren Benjamins im Werk Alexander Kluges« schreibt.4 Anschließend an Schultes Überlegungen, die sich auf die theoretischen und filmwissenschaftlichen Bezüge konzentrieren, möchte ich danach fragen, wo Kluge sich vor allem in seinem erzählerischen Werk direkt auf die historische Person Walter Benjamins bezieht. In welchen Kontext setzt er Benjamin und welchen literarischen Stil benutzt er? Wie erzählt Kluge einen theoretischen 1 Dieser Text ist ein ergänzter Wiederabdruck aus: Yoshiyuki Muroi (Hg.), Einheit in der Vielfalt?, Germanistik zwischen Divergenz und Konvergenz. Asiatische Germanistentagung 2019 in Sapporo, To¯kyo¯/München 2020, Ebook, https://www.iudicium.de/katalog/86205-331.htm, S. 563–570. Vielen Dank an den Iudicium-Verlag und Prof. Dr. Yoshiyuki Muroi. 2 So heißt es: »Diese Arbeit muß die Kunst, ohne Anführungszeichen zu zitieren, zur höchsten Höhe entwickeln. Ihre Theorie hängt aufs engste mit der der Montage zusammen. [N 1,10]« Walter Benjamin, »Das Passagen-Werk«, in: ders., Gesammelte Schriften Band V, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1982, S. 572. 3 Siehe hierzu Andreas Becker, Perspektiven einer anderen Natur. Zur Geschichte und Theorie der filmischen Zeitraffung und Zeitdehnung, Bielefeld 2004, S. 227f.; Kai Lars Fischer, Geschichtsmontagen. Zum Zusammenhang von Geschichtskonzeptionen und Text-Modell bei Walter Benjamin und Alexander Kluge, Hildesheim 2013. 4 Christian Schulte, »Kairos und Aura. Spuren Benjamins im Werk Alexander Kluges«, in: Detlev Schöttker (Hg.), Schrift Bilder Denken. Walter Benjamin und die Künste, Frankfurt/M. 2004, S. 220–232, hier S. 224.

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Ahnen? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Fiktion und Bericht? Abschließend möchte ich Kluges Interviewmagazine, in denen er seine Diskutantinnen und Diskutanten zu Benjamin befragt, mit in meine Überlegungen einbeziehen. Kluge hat Benjamin in folgenden Geschichten zu einem seiner Protagonisten gemacht bzw. sich, dessen Namen nennend, mit seinen Thesen auseinandergesetzt:5 »Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«6 »Begegnung in Marseille«7 »Das schockgefrorene Böse«8 »Kinder des Lebens«9 »Walter Benjamin in Moskau«10 »Wahrsagekraft aus dem Vergnügungspark«11 »Apokatastasis, die ›Heimholung aller‹«12 »Seelenwanderung nach Fourier«13 »Gußeiserne Balkons als Saturnring oder Saturnring aus Gußeisen«14 »Walter Benjamin kommt bis Halberstadt«15 »Eine Beobachtung von Walter Benjamin«16 »W. Benjamin, die Sterne und die Revolution«17 »Die schöne Krähe«18

Es ist klar, dass Kluge mit dieser ästhetischen Operation Fiktion und Realität ineinander windet, sich also jener Fake-Strategien bedient,19 die sein ganzes Werk durchziehen und die die Realität nicht als ein abgeschlossenes Gebilde anerkennen, sondern diese aufrauen. Sprache erzeugt also in dieser Hinsicht Realität und berichtet nicht nur von dieser – und Kluge thematisiert (und ironisiert) 5 Die folgende Liste ergänzt die von Christian Schulte geführte in ebd., S. 224, Fn 14. 6 Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt. Im Umfeld des neuen Jahrhunderts, Frankfurt/ M. 2003, S. 199–200. 7 Ebd., S. 239–241. 8 Ebd., S. 279–282. 9 Ebd., S. 492–498. 10 Ebd., S. 641–642. 11 Ebd., S. 692–693. 12 Ebd., S. 796–797. 13 Ebd., S. 888–890. 14 Ebd., S. 890–891. 15 Alexander Kluge, Tür an Tür mit einem anderen Leben, Frankfurt/M. 2006, S. 571–574. 16 Alexander Kluge, Geschichten vom Kino, Frankfurt/M. 2007, S. 143–145. 17 Alexander Kluge, Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe, Berlin 2012, S. 326–331. 18 Alexander Kluge, »Die schöne Krähe«, in: Christian Schulte, et al. (Hg.), Formenwelt des Dialogs. Alexander Kluge-Jahrbuch 3, Göttingen 2016, S. 149–150. 19 Siehe hierzu seine Bände Facts & Fakes Fernsehnachschriften, die im Verlag Vorwerk 8 erschienen sind: Alexander Kluge, Facts & Fakes. Verbrechen, Berlin 2000; ders., Facts & Fakes. Herzblut trifft Kunstblut. Erster imaginärer Opernführer, Berlin 2001; ders., Facts & Fakes. Der Eiffelturm, King Kong und die weiße Frau, Berlin 2002.

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genau diesen Prozess. Schon in seinem Text »Die schärfste Ideologie: daß die Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft« von 1975 heißt es: Es muß möglich sein, die Realität als die geschichtliche Fiktion, die sie ist, auch darzustellen. Sie hat eine Papiertiger-Natur. Den Einzelnen trifft sie real, als Schicksal. Aber sie ist kein Schicksal, sondern gemacht durch die Arbeit von Generationen von Menschen, die eigentlich die ganze Zeit über etwas anderes wollten und wollen. Insofern ist sie in mehrfacher Hinsicht gleichzeitig wirklich und unwirklich. Wirklich und unwirklich in jeder ihrer einzelnen Seiten: kollektive Wünsche der Menschen, Arbeitskraft, Produktionsverhältnisse, Hexenverfolgung, Geschichte der Kriege, Lebensläufe der Einzelnen. Jeder dieser Ausschnitte für sich und alle zusammen haben antagonistische Eigenschaft: sie sind eine reißerische Erfindung und sie treffen wirklich.20

Wie wenig Kluge an einer sachlichen Argumentation liegt, wird an dem protokollartigen Stil deutlich, der mehr die subjektiven Assoziationen wiedergibt und es den Leserinnen und Lesern dann überlässt, weiter zu denken. Seine Diktion ist die der Zeit der 1970er Jahre. Mao Zedongs Schriften waren damals in der europäischen Linken sehr populär, weshalb Kluge den Begriff »Papiertiger« von ihm übernimmt, ein Kuriosum. Dennoch, Kluges Verfahren ist höchst vielschichtig, weshalb ich es zunächst an einer Erzählung kurz darlegen möchte.

Kluges Geschichte »Walter Benjamin kommt bis Halberstadt«. Die Erzählung als Kunde Wir beginnen mit der Geschichte »Walter Benjamin kommt bis Halberstadt« aus Tür an Tür mit einem anderen Leben.21 Kluge ist bekanntlich in Halberstadt geboren. Einige seiner Geschichten und Filme handeln von dieser Stadt und seinem Elternhaus, so schon sein erster Langfilm Abschied von gestern (1966), aber auch einige der frühen Interview-Filme wie auch die vorangestellten Erzählungen.22 Sein Vater Ernst war Arzt und Opernkenner, so dass Kluge von Kindheit auf schon mit der Gattung vertraut ist. Die Geschichte handelt von Benjamin, der 1932 wegen eines Zugdefekts in Halberstadt strandet, um schließlich im Stadttheater Giacomo Puccinis Madame Butterfly zu sehen. Kluge spinnt darin die Fiktion, was geschehen und gesprochen worden wäre, wenn sein Vater an jenem Abend Benjamin getroffen hätte.23 Dazu setzt Kluge die Opernhandlung als eine Art Hintergrundrelief ein, was der 20 Alexander Kluge, »Die schärfste Ideologie: daß sich die Realität auf ihren realistischen Charakter beruft«, in: ders.: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt/M. 1975, S. 215–222, hier S. 215. 21 Kluge, Tür an Tür mit einem anderen Leben, S. 571–574. 22 Ebd., S. 559–570. 23 Ebd., S. 573.

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Geschichte eine Komplexität verleiht, denn auch sie handelt von der Begegnung zweier Menschen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Kluge kalibriert an diesem Mikroereignis die Geschichte neu und erprobt den historischen Konjunktiv: Walter Benjamin war nach der Vorstellung durch den Bühneneingang zu den Garderoben der Künstler vorgedrungen, hatte den Regisseur aufgestöbert. Sie besuchten dasselbe Lokal am Martiniplan, in dem meine Eltern in ihrer Runde saßen, da nur wenige Lokale in der Stadt nach Ende einer Oper noch geöffnet hatten.24

In der erzählerischen Fiktion spielt die zeitliche Distanz, auch die Faktizität, gerade keine Rolle. Kluge bewegt sich, über Benjamin schreibend, dabei vollends in einem Programm, das Benjamin unter anderem in seinem Aufsatz »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows« entwirft. Dort heißt es: Jeder Morgen unterrichtet uns über die Neuigkeiten des Erdkreises. Und doch sind wir an merkwürdigen Geschichten arm. Das kommt, weil uns keine Begebenheit mehr erreicht, die nicht mit Erklärungen schon durchsetzt wäre. Mit anderen Worten: beinah nichts mehr, was geschieht, kommt der Erzählung, beinah alles der Information zugute. Es ist nämlich schon die halbe Kunst des Erzählens, eine Geschichte, indem man sie wiedergibt, von Erklärungen freizuhalten.25

Kluge also schlägt sich auf die Seite Lesskows (und Johann Peter Hebels Kalendergeschichten) und der Kunde, erzählt also merkwürdige Geschichten, erklärt nichts, sondern spekuliert, setzt Gerüchte über Tote in die Welt, entwirft Vermutungen, lässt die Leserinnen und Leser ahnen, was passiert sein könnte. So lässt sich von außen nicht beurteilen, ob die ganze Konstellation als solche bereits eine Eulenspiegelei darstellt und frei erfunden ist (im Allgemeinen sollte man aber bei Kluge immer davon ausgehen, dass der historische Kern sehr gründlich recherchiert wurde und nicht gelogen, sondern höchstens geflunkert wird, wir dem Erzähler Kluge also durchaus vertrauen können). Der Geschichte ist ein Schwarzweißfoto vorangestellt, beschriftet mit »Halberstadt«,26 nach dem ersten Absatz folgt ein weiteres, kleiner gesetztes Foto, das offenbar biographische Bezüge hat und nach Art eines Fotoalbums betitelt ist mit: »Blumen im Wintergarten aus Anlaß der Geburt eines Sonntagsjungen«.27 Bilder, Informationen, verifizierbare Urteile und Aussagen also, werden in Kluges Genremix zwischen Anekdote, Bericht, Erzählung und Notiz manchmal bewusst unscharf gesetzt. Diese Fährten desavouieren nicht den Autor Kluge, sondern den Status des Informationellen, der durch die Zeitung und die Medien erzeugt wurde und 24 Ebd., S. 572. 25 Walter Benjamin, »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows«, in: ders., Walter Benjamin. Ein Lesebuch, hg. v. Michael Opitz, Frankfurt/M. 1996, S. 264, Abschnitt VI. 26 Kluge, Tür an Tür mit einem anderen Leben, S. 570. 27 Ebd., S. 571.

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dessen scheinbare Objektivität nur eine Inszenierung ist. Sie werten die dem Anschein nach familiengeschichtlich überlieferte Kunde Kluges auf und erzeugen ein Gespür für die Erzählbarkeit von Wahrheit. Es ist eine Hommage Kluges auf Benjamin, die diesen aber vom akademischen Podest herunterholt und wie in einem historischen Schnappschuss ungelenk und unsouverän zeigt, und den Alltag als eine Verkettung von beinah zufälligen Ereignissen, deren Sinn sich nur spekulativ und mit tagträumerischer Phantasie im Abstand von Jahrzehnten erschließt.

Benjamins Frauen und Kluges Geschichte »Die schöne Krähe« Eine weitere Geschichte ist in eben jenem probabilistischen Stil gehalten. Sie trägt den Titel »Die schöne Krähe« und handelt von einer der Frauen, zu denen sich Walter Benjamin hingezogen fühlte, und mit der er eine unbestimmte, wechselvolle, aber stets erfüllte Liebschaft über fast ein Jahrzehnt unterhielt, wir wollen das eine ›Beziehung‹ nennen […]. Leinen stand ihr gut. Ein festes Gesäß. Scharfe, kluge Augen. Ein Jungengesicht auf einem Mädchenkörper.28

Kluge nennt keinen Namen. Und wir wissen nicht, aus welcher Perspektive diese begutachtende Schilderung erfolgt. Auch die neuen Biographien Benjamins von Lorenz Jäger29 und von Michael Jennings und Howard Eilan30 geben wenig Auskunft dazu. Dokumentiert ist Benjamins Dreiecksbeziehung zu Asja Lacis mit dem Regisseur Bernhard Reich.31 Benjamin lernte Lacis auf Capri kennen. Er schreibt, sie sei eine »bolschwestische Lettin aus Riga, die am Theater spielt und Regie führt, eine Christin«.32 In der Einbahnstraße heißt es unter dem Titel »Waffen und Munition« über eine »Freundin« aus Riga, »sie habe die Lunte ihres Blicks an« ihn »gelegt – ich hätte wie ein Munitionslager auffliegen müssen«.33 In Benjamins ausführlichem Moskauer Tagebuch lesen wir dann über ein Gespräch mit Lacis: »Merkwürdigerweise verstand ich diese ganz einfache Geschichte […] erst jetzt. Es geht mir so öfter: ich höre kaum, was sie sagt, weil ich so intensiv auf

28 Kluge, »Die schöne Krähe«, S. 149. 29 Lorenz Jäger, Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten, e-Book-Ausg., Berlin 2017, 30 Howard Eiland/Michael W. Jennings, Walter Benjamin. A Critical Life, Kindle-Version, Harvard 2014. 31 Jäger, Walter Benjamin, S. 172. 32 Ebd., S. 157. Dort zit. aus: Walter Benjamin, Gesammelte Briefe II, hg. v. Christoph Gödde/ Henri Lonitz, Frankfurt/M. 1996, S. 466. 33 Walter Benjamin, »Einbahnstraße«, in: ders.: Gesammelte Schriften IV, hg. v. Tillman Rexroth, Frankfurt/M. 1991, S. 81–148, hier S. 110.

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sie sehe.«34 Benjamin besucht sie in Moskau. Lacis ist im Sanatorium, besucht Reich und Benjamin immer nur kurz, er ist nur wenig mit ihr allein: Ich schrieb am Tagebuch und glaubte nicht mehr, daß Asja noch kommen würde. Da klopfte sie. Als sie hereinkam, wollte ich sie küssen. Wie meist, mißlang es. Ich holte die Karte an Bloch hervor, die ich begonnen hatte und gab sie ihr, um heranzuschreiben. Neuer vergeblicher Versuch ihr einen Kuß zu geben. Ich las, was sie geschrieben hatte. Auf ihre Frage, sagte ich ihr: ›Besser, als wie Du an mich schreibst.‹ Und für diese ›Unverschämtheit‹ küßte sie mich doch, umarmte mich sogar dabei.35

Es wird in diesem Zitat deutlich, wie Benjamin die Liebe romantisiert und wie wenig Benjamin versteht, dass sich in Revolutionszeiten auch die Liebe politisiert.36 Lacis war eine selbstbewusste Frau, aber wir kennen ihre Perspektive nicht, denn ihre Autobiographie ist nicht in das Deutsche übersetzt.37 Kluges Geschichte ist von Unschärfen durchzogen, die zurückgenommene und problematisierte Ahnungen bilden. So wird kaum mehr fassbar, was Kluge hier eigentlich erzählt. Klar ist, dass die Person in Kluges Geschichte »eine etwas schrille, hohe Stimmführung« hat, wenn sie sich erregte. In Erregung verfiel sie fast überall und immer. Die Kehllaute störten die Anwesenden. Walter Benjamin hätte sich gern vor Dritten mit dieser Attraktion gezeigt, für die Stimme schämte er sich. Gretel [wohl Gretel Adorno, Anm. Andreas Becker], die Erfahrene, von der ich die Geschichte habe, riet ihm davon ab, das Beutemädchen in die Gesellschaft einzuführen. Er könne ja heimlich und privat mit ihr tun, was er wolle. Gretel war nicht ganz unparteiisch, teilte Benjamin nicht gern mit einer anderen.38

Ganz folgerichtig endet die Geschichte mit der Beschreibung einer Fata Morgana. Erzählt wird also nicht eine Begebenheit, sondern ein fiktiver Umgang Benjamins damit und wiederum eine herausgestellte Problematisierung seitens Kluges. Es ist dies ein Versuch, zugleich ein Gerücht zu streuen und der Person Benjamins gerecht zu werden. Die wertenden Färbungen der Erzählperspektive, die die Frau und ihre Eigenart wie ein Objekt beschreiben, bleiben ohne Urheber. Es sind Aussagen aus einem erzählerischen Nirgendwo. Es ist dies ein literarisches Verfahren, das erzählt und sich und seine Folgen gleichzeitig problematisiert. Hier ist ein Autor, der von der Ich-Perspektive in die Auktoriale springt und 34 Walter Benjamin, Moskauer Tagebuch, hg. v. Karl-Maria Guth, Berlin 2016, S. 14. Eintragung vom 14. Dezember 1926. Zur ausführlichen Diskussion der obigen Zitate wie auch zur historischen Kontextualisierung siehe: Jäger, Walter Benjamin, S. 172f. 35 Ebd., S. 19, Eintragung vom 16. Dezember 1926. 36 Siehe hierzu etwa Wilhelm Reichs Ausführungen: Wilhelm Reich, Die Sexualität im Kulturkampf. Zur sozialistischen Umstrukturierung des Menschen, Kopenhagen 1936, S. 137f. 37 Allgemein zu Lacis siehe: Beata Pasˇkevica, In der Stadt der Parolen. Asja Lacis, Walter Benjamin und Bertolt Brecht, Essen 2006, S. 163–237. 38 Kluge, »Die schöne Krähe«, S. 149.

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kurz später zum personalen Erzähler wird. So wird ein Mosaik von Erzählperspektiven entworfen, um Geschichte zu kalibrieren – aber mit Hilfe der Fiktion. Welche Vorbilder hatte Kluge im Sinn? Zu nennen wären etwa noch die Bildhauerin Jula Cohn,39 die Malerin Anna Maria Blaupot ten Cate40 oder (was sehr wahrscheinlich ist) eine weitere, den Biographen unbekannte (!) Frau. Und auch steht dem Erzähler die Möglichkeit offen, Figuren zu erfinden und in die Historie hineinzufabulieren. Auch dies wäre möglich.

Spuren von Benjamins Passagenarbeit in Kluges Arbeiten Die anderen Geschichten, auf die ich aus Platzgründen hier nicht eingehe, könnten auch aus Benjamins Passagenarbeit stammen, so sehr ähnelt Kluges Verfahren dem Benjamins. Zu nennen sind hier etwa die Erzählungen »W. Benjamin, die Sterne und die Revolution«41 und »Gußeiserne Balkons als Saturnring oder Saturnring aus Gußeisen«.42 Es sind dies höchst elaborierte Versuche, eine Mimikry auf Benjamin zu betreiben. So offen die Geschichten auf den ersten Blick wirken mögen, zeugen sie nicht nur von einer genauesten Kenntnis der Schriften Benjamins, sondern auch von Benjamins Umfeld, so dass Kluge wiederum in die Literatur (und in die Zeitgeschichte) Fragmente hinein fabuliert. Dabei handelt es sich nicht um große Ereignisse oder große Thesen, sondern um biographische Randnotizen. »Eine Beobachtung von Walter Benjamin«43 springt gar in die Meta-Perspektive der Forschung und beschreibt, wie Benjamins Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« interpretiert wird. Man könnte dies als eine Art intellektueller Empathie verstehen.

Die Fiktionalisierung von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen bei Kluge Nun hat Kluge dieses Verfahren der Fiktionalisierung nicht nur auf Benjamin angewandt, sondern auch auf Martin Heidegger,44 Theodor W. Adorno,45 Johann Wolfgang von Goethe,46 den früheren amerikanischen Verteidigungsminister 39 Siehe hierzu Eiland/Jennings, Walter Benjamin, S. 78f., S. 142f. sowie Jäger, Walter Benjamin, S. 113f. Zu Hélène Léger siehe: Jäger, Walter Benjamin, S. 323f. 40 Jäger, Walter Benjamin, S. 114, S. 269f. 41 Kluge, Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe, S. 326–331. 42 Kluge, Die Lücke, die der Teufel lässt, S. 890–891. 43 Kluge, Geschichten vom Kino, S. 143–145. 44 Alexander Kluge, »Heidegger auf der Krim«, in: ders.: Chronik der Gefühle, Frankfurt/M. 2000, S. 413–507.

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Donald Rumsfeld,47 Jean-Luc Godard,48 Heiner Müller,49 den früheren Gouverneur (›Bürgermeister‹) der Präfektur Tokyo Shintaro¯ Ishihara50 und zahlreiche andere historische Personen und Zeitgenossinnen und Zeitgenossen wie auch teilweise noch lebende Politikerinnen und Politiker. Es ist also kein Sonderfall, sondern eine Signatur von Kluges Alterswerk, eine erarbeitete Freiheit, die Kluge sehr geschickt und weise einzusetzen weiß.51 Seine Interviews mit Miriam Hansen, Michael Jennings, Burkhardt Lindner und Dirk Baecker über Benjamin bereiten dann einen gemeinsamen Denkraum vor und dienen zur Inspiration wiederum für Geschichten. So erfährt Kluge im Gespräch mit Hansen, dass Benjamins Lieblingsfilm Pál Fejös Lonesome (1928) ist und schreibt darüber eine Geschichte.52

Abb. 1 und 2: Filmstills aus Alexander Kluge/Burkhardt Lindner, »Inventar eines Jahrhunderts. Prof. Dr. Burkhardt Lindner: Könnte ein Wurf wie Benjamins PASSAGEN-WERK auch für das 21. Jahrhundert geschrieben werden?«, 42:24f.

In einem Gespräch mit Burkhardt Lindner über Benjamins Passagenarbeit ist das Verfahren Kluges und Benjamins – und auch das Lindners – folgendermaßen beschrieben:

45 Alexander Kluge, »Adornos Geliebte«, in: ders.: Die Lücke, die der Teufel lässt, Frankfurt/M. 2003, S. 30–31. 46 Alexander Kluge, »Goethes Kunstgriffe«, in: ders.: Das fünfte Buch, Berlin 2012, S. 132. 47 Alexander Kluge, »Wenn es hart auf hart kommt, braucht Politik das Unmögliche«, in: ders.: Die Lücke, die der Teufel lässt, Frankfurt/M. 2003, S. 613–627, inbes. S. 615–616. 48 Alexander Kluge, »Godards Fragment«, in: ders.: Die Lücke, die der Teufel lässt, S. 210–212. 49 Alexander Kluge, »Heiner Müller und ›Die Gestalt des Arbeiters‹«, in: ders.: Chronik der Gefühle, Frankfurt/M. 2000, S. 56–57; Kluge, »Zwischenmusik für große Maschinen«, in: ebd., S. 73–76. 50 Kluge, »Ein Bürgermeister von Tokyo«, in: ders.: Das fünfte Buch, S. 57. 51 Und die er sich bereits 1964 mit Büchern wie Schlachtbeschreibung erarbeitet hat, in: Kluge, Chronik der Gefühle, S. 509–791. Siehe dazu auch Andreas Becker, »Die wahren Einwohner der menschlichen Lebensläufe. Über Alexander Kluges Nautik der Geschichte der Gefühle«, in: Christian Schulte, et al. (Hg.), Formenwelt des Dialogs, Göttingen 2016, S. 101–117. 52 Alexander Kluge/Miriam Hansen, »Achterbahnfahrt ins Glück. Über Walter Benjamins Lieblingsfilm«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Frage des Zusammenhangs. Alexander Kluge im Kontext, Berlin 2012, S. 130–136; Kluge, »Kinder des Lebens«, in: ders., Die Lücke, die der Teufel lässt, S. 492–493.

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Lindner: Es gibt zum Beispiel einen Eintrag, den zitiere ich gern. Da steht nur, diesmal sogar ohne Quelle: »Lyon ist für seinen dichten Nebel bekannt.«. So – was ist das? Wofür braucht er den dicken Nebel von Lyon für das Paris-Buch? [lacht] Aber irgendwas ist da dran. Wir können es nicht von vorneherein herausfinden, aber wir spüren: Da ist was. Kluge: Ja, der Archäologe hat ja auch nicht eine Theorie, sondern er findet. Lindner: Genau, aber er muss eine Intuition haben, Gespür braucht er.53

Benjamins – und Kluges – Verfahren bestehe, wie es weiter heißt, nicht aus einer Ideologiekritik, sondern beide setzen den Machtverhältnissen der Imagination Phantasmagorien entgegen bzw. beschreiben die Welt als eine, die aus Phantasmagorien gewoben sei.54 Historische Phantasmagorien, Séancen, bei denen die Geschichte nicht der Gegenstand, sondern das Medium ist und die Erzählung zur Stimme der Toten wird, deren Geschichte sie murmelt.

53 Burkhardt Lindner/Alexander Kluge, »Inventar eines Jahrhunderts. Über Walter Benjamin und die Passagenarbeit. Burkhardt Lindner im Gespräch mit Alexander Kluge«, in: Jessica Nitsche/Nadine Werner (Hg.), Burkhardt Lindner: Studien zu Benjamin, Berlin 2016, S. 490– 506, hier S. 492. Im TV-Magazin: Alexander Kluge/Burkhardt Lindner, »Inventar eines Jahrhunderts. Prof. Dr. Burkhardt Lindner: Könnte ein Wurf wie Benjamins PASSAGENWERK auch für das 21. Jahrhundert geschrieben werden?« (News & Stories, 7. 4. 2013, 05:30– 06:01). 54 Ebd., S. 494f.

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Zwischen den Polen von Kälte und Glück. Alexander Kluges Anknüpfungen an Theodor W. Adornos Minima Moralia

In einem Internettelefonat mit dem Soziologen Wang Hu und der Literatin Wang Ge im Jahr 2012 lässt Alexander Kluge in der Antwort auf die Frage, ob es noch Klassen gibt, den Namen Adorno fallen. Aus Respekt für Adorno, so formuliert Kluge es, ist er dessen Mit-, Fort- und Gegendenker in einem.1 Aber vielleicht ist es kein Zufall, dass diese Aussage in einem »Ferngespräch« mit China (dem anderen Ende der Welt) fällt. Denn bei aller bekundeten Nähe zwischen Kluge und Adorno gibt es gewisse Differenzen, wie man auch in dem Ferngespräch lesen kann: »Adorno hat gesagt«,2 dass man sich nicht fürchten soll vor der Kooperation. An dieser Stelle geht es Kluge um den Klassenbegriff, genauer gesagt um den bürgerlichen Menschen und sein Verhältnis zur Arbeit – in diesem Punkt seien Kluge und Adorno Seelenverwandte.3 Das ist auf den ersten Blick ein wenig verblüffend. Zwar hat Adorno zum Klassenbegriff einiges zu sagen, aber er tut es selten und wenn, dann so wie 1942 eher mit Vorbehalt. Für ihn ist der Klassenbegriff, »so wahr und unwahr […] wie das System des Liberalismus«4 und könnte gern zugunsten einer Geschichte von Bandenkämpfen hin korrigiert werden.5 Der bürgerliche Mensch, der bei Adorno (trotz seiner zunehmenden Liquidation) aus der Vergangenheit als Flaschenpost fortwirkt, ist für Kluge die »einzige große, nachhaltige Revolutionierung, ein enormer Umbau der menschlichen Natur«.6 Mit Geschichte und Eigensinn entwickeln Oskar Negt und Alex1 Vgl. Rainer Stollmann/Alexander Kluge, Ferngespräche über Eisenstein, Marx, das Kapital, die Liebe und die Macht der zärtlichen Kraft, Berlin 2016, S. 43. 2 Ebd. 3 Vgl. ebd. 4 Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 8, Frankfurt/M. 2012, S. 379. Die Gesammelte Schriften werden fortan zitiert als AGS + Band. 5 Vgl. ebd., S. 381. 6 Rainer Stollmann/Alexander Kluge: »Das Marxsche Wertgesetz ist in der Natur verankert. Ein Gespräch zwischen Rainer Stollmann und Alexander Kluge«, in: Christian Schulte/Rainer Stollmann (Hg.), Der Maulwurf kennt kein System. Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge, Bielefeld 2005, S. 42–59, hier S. 50.

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ander Kluge gemeinsam eine politische Ökonomie der Arbeitskraft und verlegen die Gesellschaftskritik von der Avantgarde-Kunst in die Produktionszusammenhänge der Öffentlichkeit. Die Aufgabe ist, »nach dem Mechanismus der Verdrehung zu suchen, der die zusammengefaßten Resultate der Produktion zu etwas anderem macht als dem, was die unmittelbaren Produzenten meinten«.7 Ein neuer Typ von Arbeitenden sollte erforscht werden, der die gefügeartige Arbeitsweise anwendet, der nicht auf die Abschaffung des Eigentums, sondern auf »das Gelingen, das Glück einer Arbeit«8 setzt, der, und hier würde Adorno wahrscheinlich aufschrecken, aus dem Denkmilieu von Ernst Jünger stammt. »Diese neue Haltung kommt nicht aus der ökonomischen Auflehnung gegen Unterdrückungsverhältnisse, sondern aus der Schatzsuche. Der Schatz liegt darin, daß etwas, das gelingt schon an und für sich als Spielerisches Lust macht.«9 Der bewusste Bürger ist für Kluge »viel stärker im Moment, im glücklichen Versuch zu Hause […], ein im Lusthaushalt stärker befestigter Charaktertyp«.10 Während also Adorno 1967, gegen Ende seines Lebens, die Aspekte des neuen Rechtsradikalismus untersucht und zur Ansicht gelangt, dass diese Bewegung sich durch »außerordentliche Perfektion der [propagandistischen] Mittel«11 auszeichnet, scheint Kluge, im Bewusstsein dieser Gefahr, mit diesen Mitteln in einen kritisch distanzierten Wettstreit treten zu wollen. In einer aktuellen Darstellung der Kritischen Theorie schreibt Stuart Jeffries, die Kulturindustrie habe sich im 21. Jahrhundert triumphal durchgesetzt, in einer Weise, die sich Adorno nicht hätte vorstellen können. Die Onlinekultur mit ihren Algorithmen, digitalen Plattformen und Suchmaschinen erzeugt einen Effekt, der die Realität der Kritik immer mehr dadurch entzieht, dass sie nicht mehr authentifizierbar ist, weil die Einzelnen immer hermetischer von Ideen abgeschirmt werden, die ihre Weltsicht herausfordern könnten.12 Kluge knüpft auf vielfältige Weise an Adorno an, aber er tut das unter geänderten Vorzeichen. Dieser Aufsatz versucht das Verhältnis der beiden Ansätze zueinander darzustellen.

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Oskar Negt/Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/M. 1982, S. 504. Stollman/Kluge, »Das Marxsche Wertgesetz ist in der Natur verankert«, S. 52. Ebd., S. 53. Ebd. Theodor W. Adorno, Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Ein Vortrag mit einem Nachwort von Volker Weiß, Berlin 2019, S. 23. 12 Vgl. Stuart Jeffries, Grand Hotel Abgrund. Die Frankfurter Schule und ihre Zeit, Stuttgart 2019.

Alexander Kluges Anknüpfungen an Theodor W. Adornos Minima Moralia

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Ein Minimum an Moral zur Abwehr der Kälte Beim Schenken tritt die Kälte in die Moralphilosophie Adornos. Denn im Schenken hält sich noch eine Ahnung von den Fähigkeiten, derer die Menschen bedürfen, um miteinander »in Fühlung mit der Wärme der Dinge gedeihen [zu] können«.13 Ohne diese Fähigkeiten werden alle menschlichen Beziehungen in der kapitalistischen Gesellschaft von Kälte ergriffen; ohne sie macht sich der Mensch »zum Ding und erfriert«.14 Auch alltägliche Verhaltensweisen werden in den Minima Moralia zu besonderen Handlungen, zu Marksteinen der Umsichtigkeit und Sanftheit: das Öffnen von Türen, das Schenken, die Höflichkeit. Lebensgewohnheiten sind nicht privat. Die täglich geübte Haltung und die Art, wie man mit anderen Menschen umgeht, haben etwas mit der Wahrheit des eigenen Lebens zu tun. Die Bürger_innen sind in ihrem Verhalten Repräsentant_innen der kapitalistischen Realität und die Frage, in welcher Welt wir leben wollen, stellt sich an jede_n Einzelne_n jeden Tag aufs Neue. Das Ganze ist auch deswegen schlecht, weil die Teile sich darüber absichtlich selbst belügen, um ihre angepassten schlechten Gewohnheiten nicht ändern zu müssen. Lebensweisen haben für Adorno einen Wahrheitsanspruch, deren Widerpart die Lüge ist. Sich und andere über die Gesellschaft zu belügen, hat die Funktion des Bösen in der Moralphilosophie Adornos – es gibt warme und kalte Weisen zu leben und ein sich durch die Kälte verbreitendes »bürgerliches Böses«,15 ein »Symptom der universalen Kälte«.16 Die Lüge wird in den »Minima Moralia« als Mittel zur Verbreitung von Kälte denunziert, in deren Schutz die lügenden Individuen gedeihen können, um weiter zu lügen. Aber Lüge meint hier nicht den Angriff auf sakrosankte Wahrheiten, sondern einen Akt des Zudeckens von Widersprüchen, einen Akt des Verstummens, des Kalt- und Dumm-Werdens. Es gibt eine »Moral des Denkens«,17 die sich gerade den bürgerlichen Moralismen entziehen muss, damit sie es noch richtig denken kann. Denn diese Moralismen sind nichts anderes als die in der Lüge über die falschen Verhältnisse zum Ausdruck kommende »bürgerliche Kälte, die das Unausweichliche allzu gern unterschreibt«.18 Das bürgerliche Böse, wie Adorno in der »Negativen Dialektik« ausführt, ist die »Postexistenz des Älteren, Unterworfenen«.19 Eine »mikrologisch verblendete Moral«,20 eine self13 14 15 16 17 18 19 20

AGS 4, S. 47. Ebd. AGS 6, S. 240. AGS 10.2, S. 690. AGS 4, S. 82. AGS 4, S. 83. AGS 6, S. 240. AGS 6, S. 206.

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fulfilling prophecy der liberalen Existenz, der man nur entkommen kann, wenn man »gütig, zart, unegoistisch und aufgeschlossen«21 ist und »Anerkennung von Ferne im Nächsten«22 zulässt. Das Böse ist demnach eine Verhaltensweise, die durch die konkreten Lebensverhältnisse stets bestätigt und perpetuiert wird, das Gute wäre dagegen eine ideologiekritische Position. Die richtige Lebenspraxis am »fortgeschrittenen Stand der Theorie« beschreibt Adorno wie folgt: »Eine Idee des Guten, welche den Willen lenken soll, ohne dass in sie die konkreten Vernunftbestimmungen voll eingingen, pariert unvermerkt dem verdinglichten Bewusstsein, dem gesellschaftlich Approbierten.«23 Wie macht sich das Böse bemerkbar? Durch Kälte und die (bereitwillige) Abwehr von Glück; sie ist »ein Grundzug«24 der Beschaffenheit des Menschen. Gesellschaften bauen auf Verfolgung von Interessen auf, das hat sich in den Charakter der Menschheit eingeprägt, sodass sie auf ein »Sich-Zusammenrotten von Erkalteten, die die eigene Kälte nicht ertragen, aber auch nicht ändern können«,25 hinauswill. Oder noch stärker: Die Menschen, die man lieben soll, sind selber so, dass sie nicht lieben können. Sie können es nicht, weil die Welt ihnen präformiert und total verwaltet gegenübersteht. Die Welt ist kalt und die Menschen schaffen es schon deshalb nicht aus eigener Kraft, genug Wärme zu produzieren, um sie auch nur ein Stück weit aufzutauen. Daher kann man niemanden, der in dieser Gesellschaft existieren muss, zur Wärme bringen. Liebe zu predigen hat also eher zwanghaften, unterdrückenden Charakter.26 Wirklich moralisch wäre dagegen ein Denken, das »weder stur noch souverän, weder blind noch leer, weder atomistisch noch konsequent«27 verfährt, denn ein solches Denken sucht nach der Wahrheit, ist erkenntnistheoretisch betrachtet Kritik. Kritik ist das Mittel, die gesellschaftlichen Lügen zu durchschauen und einen Blick auf das Gegenteil, den Gegenspieler der Kälte zu werfen, auf das Glück. Kritik ist somit ein Weg aus der Kälte. »Treue hält dem bloß, der spricht: ich war glücklich.«28 Glück ist bei Adorno »Nachbild der Geborgenheit in der Mutter«29, Erinnerung an Vergangenes, von dem man in der Gegenwart zehren kann. Für ihn hat das Moralische also einen »konkreten Ansatzpunkt«30 im kompromisslosen Widerstand gegen »die ungezählten von außen auferlegten

21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

AGS 4, S. 109. AGS 4, S. 207. AGS 6, S. 240. AGS 10.2, S. 687. AGS 10.2, S. 687. Vgl. AGS 10.2, S. 689. AGS 4, S. 83. AGS 4, S. 126. AGS 4, S. 126. Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, Berlin 2010, S. 253.

Alexander Kluges Anknüpfungen an Theodor W. Adornos Minima Moralia

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Formen der Moralität«.31 Die Frage, die sich im Folgenden stellt, lautet also: Knüpft Kluge an Adorno in einer Weise an, dass man von einer Praxis des Widerstandes in diesem Sinne reden kann, oder nicht?

Die politische Theorie von Kluge und Negt Die Maßverhältnisse des Politischen von Oskar Negt und Alexander Kluge sind die Verlängerung der Minima Moralia hinein ins Politische. Kluges und Negts gemeinsamer Entwurf einer politischen Theorie macht sich zur Aufgabe, die Individuen dem verdinglichenden Betrieb der Verwaltung zu entziehen. Die von ihnen beschriebenen ›Maßverhältnisse‹ sind intensive Reibungsflächen, Ausdruck der Extreme.32 Aber zugleich sind sie Ausdruck einer Therapie gegen die Kälte, wie sie für das Individuum bereits in den Minima Moralia angedacht ist. Wenn die Maßverhältnisse des Politischen nicht stimmen, die Welt also falsch wird, verarmt die individuelle politische Erfahrung, der Sinn der Einzelnen für die Welt, und die Geschichte erkaltet. Denn nur wer erkennt, woran es gerade wäre, und also aktuelle Bedürfnisse auszudrücken vermag, ist in der Lage, einen Mangel in einen Anspruch zu verwandeln.33 Das bedeutet: Bei einem Mangel an Möglichkeit für die Ausdrucksbildung überstürzen sich die einander widersprechenden Geltungsansprüche innerhalb der Gesellschaft und beginnen einander tendenziell zu zerstören, die kassierten Widersprüche verwandeln die Reibungsflächen von Wärmeerzeugern in Explosionsbeschleuniger. Daher befindet sich der wichtigste Teil politischer Energien in Beziehungsnetzen, »in denen die Wiederherstellung von verlorenem Glück versucht wird«.34 Die zugrunde liegende These ist, dass im intimen Beziehungsbereich jede_r die Motive des Politischen unmittelbar durch Introspektion hinterfragen und konkret vergegenwärtigen, und dadurch erkennen kann, was brauchbar und unbrauchbar ist. Die Einzelnen müssen ohne diese Assoziation und Beziehungsarbeit der Übermacht des Staates unterliegen. Freiheit und Selbstbestimmung hängen davon ab, dass propagandistische Phrasen am »kritischen Unterscheidungsvermögen möglichst vieler Menschen abprallen«.35 In der politischen Sprache wird die Verarmung der Begriffe, der erdrückende Realitätszuwachs der Sprache und der Entzug öffentlicher Anerkennung für individuelle Bedürfnisse sichtbar. In der politischen Sprache ist die kollektive 31 Ebd., S. 252. 32 Vgl. Oskar Negt/Alexander Kluge, Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen, Frankfurt/M. 1992, S. 18. 33 Vgl. ebd. S. 33. 34 Ebd., S. 36. 35 Ebd., S. 58.

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Erinnerung an Verletzungen und zugleich das Versprechen auf ein besseres Leben verdichtet.36 Die öffentliche Sprache wird von geschichtlich unausgetragenen Problemen geprägt. Je unsicherer die gesellschaftliche Situation dadurch wird, desto mehr sprachliche Tabus kommen zur Anwendung, um diese zuzudecken – so weit, dass eine magische Sprachpraxis, die sich auf Gesinnungsformeln und Fachsprachen reduziert, die Politik ersetzt.37 Daher bedarf es für Negt und Kluge, wie für Adorno (etwa im »Jargon der Eigentlichkeit«), der Sprachkritik. Der aus dem Erkalten des öffentlich ausgelebten Unterscheidungsvermögens resultierende »Akt der Vereinfachung und der Herstellung unübersichtlicher Verhältnisse«38 dient zunächst dem Machterhalt der herrschenden Verhältnisse durch Verhinderung einer konkreten Untersuchung der aktuellen Situation. Aber aus der daraus resultierenden Unübersichtlichkeit droht nur ein einziges Mittel zur Wiederherstellung von Ordnung und Übersichtlichkeit zu verbleiben: Gewalt. Den Katastrophen der Geschichte geht immer eine »Tarnung der wirklichen Verhältnisse«39 voraus. Dabei hat man es auch in übersichtlicheren Zeiten nie mit vollständigen Texten inklusive Interpunktion zu tun, sondern mit einem »wüsten Gemisch von Zeichen«.40 Nicht die totale Verwaltung ist, was Negt und Kluge in erster Linie umtreibt, sondern das Chaos, das aus der Unübersichtlichkeit entsteht, wenn zugleich alle Fähigkeit der Einzelnen abgeschnitten wird, das Chaos kreativ zu formen.

Ausweitung des Widerstands in die Kulturindustrie »Man muss Till Eulenspiegel einmal über Marx […] hinwegziehen lassen, um eine Verwirrung zu erhalten, durch die sich Erkenntnisse und Emotionen neu verbinden.«41 Zu diesem Zweck begibt sich Kluge auf ein Gebiet, über das bei Adorno großes Unbehagen herrscht. Kluge und Adorno verbinden beide ungezwungenes Sein mit Wärme und Wahrheit.42 Sie suchen beide spontane Konstellationen erfüllender Zeit, um bei 36 37 38 39 40 41

Vgl. ebd., S. 67. Vgl. ebd., S. 78. Ebd., S. 161. Ebd., S. 214. Ebd., S. 219. Alexander Kluge, Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital (Booklet zur DVD), Frankfurt/M. 2008, S. 16. 42 In dem Aufsatz »Der Text ist die Wahrheit« schreibt Helmut Heißenbüttel: »Das Dazwischenliegende, das Ausgesparte, das Unformulierte und Nichtformulierbare ist es eigentlich, das zusammenhält.« In: Text+Kritik 85–86, 1985, S. 2–8, verfügbar unter: https://www.kluge -alexander.de/aktuelles/details/der-text-ist-die-wahrheit.html [28. 07. 2020]. Bei der Suche

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ihnen zu verweilen. Adorno eher in der Musik, Kluge eher im Film, beide im Essay. Kluges Umgang mit der Kulturproduktion reicht weiter als derjenige Adornos. Montage, Essay, Kurzgeschichte sind für Kluge die geeigneten Formen des kritischen Denkens. Darin kommt die Autonomie dessen zum Ausdruck, was beschrieben wird, der »Versuch, etwas schwer Verständliches in seinem Eigenleben zu erhalten«.43 Die Themen variieren, die Aufgaben bleiben strukturell ähnlich: Immanente Kritik bei Adorno, der Kritiker als Gärtner bei Kluge – es soll etwas wachsen aus dem fruchtbaren Wirrwarr komplexer Probleme. Diese Mimesis der sich wandelnden Form ist nötig, um das, was man verstehen will, nicht im Prozess des Verstehens abzutöten und kalt werden zu lassen – erkaltete Begriffe verlieren ihre politische Dimension.44 Das, was bei Adorno als das Nichtbegriffliche beschrieben wird, soll bei Kluge methodisch fruchtbar gemacht werden. Er will den Begriff solange theoretisch, analytisch, ästhetisch und spielerisch durcharbeiten, bis er sich an den Enden erweitert und einem weiteren Begriff zustrebt und damit auf das hinweist, was über ihn hinaus noch existiert. Daher ist für Kluge die unermüdliche Fantasietätigkeit äußerst relevant für die Verarbeitung von Erfahrung. Das wird auch durch die Psychologie bestätigt, wie jeder weiß, der intensiv träumt.45 Konsequent werden alle fantastischen Energien gleichermaßen ausgeschöpft. An einer Stelle stehen Helmut Lethen, Arno Schmidt, Ernst Jünger und Bertolt Brecht unvermittelt, aber seltsam einträchtig nebeneinander. Dort schreibt Kluge, mit Adornos Minima Moralia im Hinterkopf, die Menschheit habe in der Eiszeit die Unterscheidung von heiß und kalt gelernt, die »Grundlage aller GEFÜHLE«,46 und weiter: dass Menschen zwar aus der Kälte stammen, aber Herzenskälte auf Dauer nicht ertragen. Dieser Gedanke stammt, wie am Ende im annotierten Index sichtbar wird, ebenfalls von Ernst Jünger. »Die Eiszeit, so Ernst Jünger, sei Lehrmeisterin der Menschheit.«47 Adorno schreibt im »Résumé über Kulturindustrie«: Massen zu erreichen und für Massen zu senden wäre die Ideologie, »allgemeines unkritisches Einver-

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nach der Wahrheit geht es Kluge also immer um die Lücken, was er auch im Vorwort zu seinem Buch, Die Lücke, die der Teufel läßt bestätigt. Das Erzählen widersetzt sich der objektiven Welt, weil es in die Lücken vorstößt und Subjektivität »die schärfsten Waffen gegen das FALSCHE IN DER WIRKLICHKEIT« (Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt, Frankfurt/M. 2005, S. 7). Kluge zit. nach Christoph Streckhardt, Kaleidoskop Kluge. Alexander Kluges Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln, Tübingen 2016, S. 65. Vgl. AGS 6, S. 129–132. Vgl. Streckhardt, Kaleidoskop Kluge, S. 68. Alexander Kluge, Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd (Booklet zur DVD), Berlin 2010, S. 5. Ebd., S. 75.

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ständnis«48 sei ihr Ziel. Ihr Imperativ laute: »du sollst dich fügen, ohne Angabe worein«.49 Dies bedeutet, in der Positionierung zur Kulturindustrie liegt ein moralisches Problem versteckt: Wie kann ich die Kulturproduktion im Sinne des Widerstands gegen von außen auferlegte Formen der Moralität sinnvoll nutzen? Mit Kluge gesprochen, wie kann ich die Maßverhältnisse konstruktiv ausreizen und auf Extreme treiben, ohne auf eine verkitschte, instrumentelle Seite der Kulturproduktion zurückzufallen? Kluge will, gemeinsam mit dem Adorno nach der Dialektik der Aufklärung, die Kräfte der Kulturindustrie umpolen (die Pole nutzen um etwas zu verschieben), sie dem »unbewußten und irrationalen Wirkungszusammenhang entreißen und in den Dienst der aufklärenden Intention stellen«.50 Er kann sich dabei also nicht auf das Kulturindustrie-Kapitel in der Dialektik der Aufklärung stützen, aber in Teilen auf den späten Adorno berufen, der seine wissenschaftlichen Erfahrungen in Amerika (1968) dazu nutzt, seine Kritik der Kulturindustrie zu aktualisieren. Denn der kulturindustriellen »Manipulation sind Grenzen gesetzt«,51 Grenzen, die Kluge bewusst aufsucht und als Reibungsflächen nutzt. Die mögliche Arbeitsweise dazu, die Kluge später umsetzen wird, stellt Adorno bereits 1963 als Möglichkeit in den Raum: »Inhalte zu finden, Sendungen zu machen, die selber ihrem eigenen Gehalt nach diesem Medium angemessen sind, anstatt daß sie irgendwoher von außen übernommen werden.«52 Kluge kann das als Einladung auffassen, ins Medium hineinzugehen. Er teilt jedenfalls in seiner Arbeitsweise nicht das grundlegende Misstrauen Adornos gegen falsche Versöhnung, insofern, als seine Arbeitsweise nicht nur einzelne Modelle zur Kritik stellt, sondern sie geradezu anhäuft. Dieses Anhäufen ist aber nicht als rein numerisches Addieren zu verstehen, sondern laut Philipp Ekardt mehr als die Möglichkeit eines permanenten Anfangs durch ständige Trennung, eine unendliche Teilungsarbeit, die an den entstehenden Bruchstellen immer neue Möglichkeiten zur Neuverhandlung dessen auftut, was ist.53 Damit stellt er Kluges Strategie als den Versuch dar, mit ständig neuen Konstellationen aus der Kulturproduktion den ständig neuen Konstellationen der Realität zu opponieren und Verwirrung zu stiften, um durch sie neue Erkenntnisse und Emotionen zu ermitteln.

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AGS 10.1, S. 339. Ebd., S. 343. Ebd., S. 359. AGS 10.2, S. 718. Theodor W. Adorno, »Fernsehen und Bildung«, in: ders., Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969, hg. v. Gerd Kadelbach, Frankfurt/M. 2017, S. 50–70, hier S. 68. 53 Vgl. Philipp Ekardt, Toward fewer images. The work of Alexander Kluge, Cambridge/London 2018, S. 331.

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Es drückt sich in der speziellen ästhetischen Disposition zur Kulturindustrie Kluges eine Zwischenstellung aus, die Adorno in vergleichbarer Weise zwischen Moderne und Postmoderne einnimmt.54 Bei Kluge gibt es ein »Vertrauen in die gesellschaftliche Kraft langfristiger Bewusstseinsänderung durch ästhetische Innovation«.55 Er steht zwischen Adornos dialektischem Pessimismus und Jürgen Habermas’ deliberativem Optimismus. Zwischen Polen von Pessimismus und Optimismus kommt »zuversichtlicher Realismus« zur Anwendung, der über die »Inkubationszeit des Emanzipativen«56 Bescheid weiß. Kluge ist methodisch sehr nah an Adorno und nimmt auch in seiner filmischen Arbeit dessen »methodisch unmethodischen«57 Zugang zum Essay ernst. Der Essay ist grenzenlos in seiner formalen Offenheit. Kluge setzt die Mittel der Kulturindustrie listig ein und schöpft vor allem aus den filmischen Darstellungsmöglichkeiten, wie der Montage in Anknüpfung an Eisenstein, moralische Energien im Sinne der Minima Moralia.58 »Durch die Montage wird auch das Objektive in unmittelbare Reichweite des Subjektiven, das Entscheidungsferne an den eigenen Zuständigkeitsbereich gesetzt, die Entscheidungsgewalt und mit ihr der Bereich des Möglichen in die Breite gezogen.«59

Moral- und Kritikverständnisse Dass Wahrheit immer durch den Identitätszwang vermittelt ist, es also keine Wahrheit jenseits des Identitätszwanges als »dessen schlechthin Anderes«60 gibt, verweist auf das Problem des »Dispens des Moralischen von der vernünftigen kritischen Besinnung«.61 Dass moralische Regeln selbstverständlich werden, deutet darauf hin, dass sie nicht hinterfragt werden und das ist wiederum ein Zeichen dafür, dass wir sie »bloß hinnehmen«.62 Es steckt ein repressives Element selbst noch in der Moralphilosophie, die sich der Ideologiekritik widmet.

54 Vgl. Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt/M. 1985, S. 115f. 55 Michael Wedel, Filmgeschichte als Krisengeschichte. Schnitte und Spuren durch den deutschen Film, Bielefeld 2011, S. 381. 56 Streckhardt, Kaleidoskop Kluge, S. 278. 57 AGS 11, S. 29. 58 Vgl. Sergej M. Eisenstein, »Montage 1938«, in: ders., Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie, hg. v. Felix Lenz/Helmut H. Diederichs, Frankfurt/M. 2006, S. 158–202, hier S. 162. 59 Streckhardt, Kaleidoskop Kluge, S. 279. 60 Theodor W. Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (1964/65), Frankfurt/ M. 2006, S. 370. 61 Ebd., S. 362. 62 Ebd.

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So ist Kluge, auch was seine Verwendung von Begriff und Erkenntnis betrifft, an Adorno orientiert: Er will akademische Begriffe mit Hilfe der Poesie in Bewegung versetzen. Wo Adorno die reduktionistische Starrheit analytischer Begriffe durch das dialektische Aufbrechen des identifizierenden Denkens erreichen will, fokussiert sich Kluge auf das Spiel mit Konstellationen von Öffentlichkeit und Erfahrung, Geschichte und Eigensinn. Seine Arbeitsweise entspricht aber gerade dadurch der konstellativen anti-hierarchischen Darstellungsweise, wie sie Adorno in der Negativen Dialektik vorschlägt.63 Die narrative Fortsetzung der Kritischen Theorie ergänzt deren diskursive Gesellschaftskritik durch eine ästhetische. Adorno bestätigt das in der »Ästhetischen Theorie«: »Kunst berichtigt die begriffliche Erkenntnis […].«64 Die Methode der Kritik ist die »Umproduktion der Öffentlichkeit«65 und daher die permanente ästhetische Produktion Kluges unter Bereitstellung von Erfahrungswerten. Über dctp stellte Kluge im Laufe der Jahre verschiedene Themenschleifen auf Dauersendung. Eine große Anzahl ständig abrufbarer Videos, die jeweils bestimmte Themen aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtbar machen, ist heute im Internet jederzeit verfügbar. dctp setzt auf die Macht der Redakteur_innen gegenüber den technischen Strukturen und Abläufen, auf Verlinkungen sowie Inter- und Multimedialität.66 Sie greift somit auf die in den Minima Moralia aufgezeigten philosophischen Konzepte des Widerstands gegen die Kälte zurück. »Das erste wäre darum, der Kälte zum Bewusstsein ihrer selbst zu verhelfen, der Gründe, warum sie wurde«,67 schreibt Adorno über die »Erziehung nach Auschwitz«. Sein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse richtet sich gegen eine Ideologie, »welche die Kälte verewigt«.68 Bei Kluge taucht dieser Gedanke in einer um die Erfahrung der produktiven Wirkungsweise der Massenmedien bereicherten Version auf: »Erlöst die Tatsachen von der menschlichen Gleichgültigkeit.«69 Von Marx versucht er zu lernen, dass Geschichte auch Trauerarbeit ist, eine Beobachtungsaufgabe, die sich mit der Möglichkeit befasst, dass Geschichte jederzeit entgleisen kann. Auf diese Möglichkeit des Entgleisens legt Kluge sein Augenmerk, indem er in seiner Produktion auf alle möglichen Bruchstellen gleichzeitig deutet.

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Vgl. Streckhardt, Kaleidoskop Kluge, S. 65. AGS 7, S. 173. Streckhardt, Kaleidoskop Kluge, S. 127. Vgl. ebd., S. 188. AGS 10.2, S. 689. Ebd. Stollman/Kluge, Ferngespräche über Eisenstein, Marx, das Kapital, die Liebe und die Macht der zärtlichen Kraft, S. 38.

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Von Max Horkheimer stammt die frühe Warnung, dabei aber immer darauf zu achten, dass materialistische Theorie mehr als bloße Faktensammlung ist.70 Sie muss sich auch im Existenzialurteil – also wieder moralphilosophisch – ausweisen lassen, sonst bleibt sie reine akademische Übung. Auch Adorno betreibt seine »traurige Wissenschaft«71 als Nachforschung nach »den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen«,72 auf dem Weg durch »die Eiswüste der Abstraktion«73 – also materialistische Theorie in Kombination mit Ideologiekritik und Wissenschaft als kritische Anschauung der Wirklichkeit unter dem Vorbehalt des moralischen Urteils. Diese »Moralphilosophie durch die Hintertür der Psychologie«74 folgt einem Wissenschaftsverständnis, das der (warmen) Wahrheit (als Kontrapunkt zur kalten Wirklichkeit), so flüchtig sie auch erscheinen mag, stets verpflichtet ist. Es geht in der Begründung des emanzipativen Interesses der Theorie nicht um moralische Kategorien, sondern um das Differenzieren von »psychischen Tatbeständen«.75 Aber dieser Differenzierung zugrunde liegt eine moralphilosophische Prämisse, nämlich die Frage nach zweckfreier und zweckgerichteter Liebe. Die moralphilosophischen Implikationen dieses Spannungsverhältnisses werden zu Ressourcen einer Einspruchsinstanz gegen den Zwang des gesellschaftlich Falschen. Adorno versucht mit dem moralisch gewendeten Begriff der Kälte den »Aufweis verschiedener Formen der Unangemessenheit«76 im Alltagsleben, um damit implizit den »Aufweis objektiver Kriterien des Gelingens«77 des Alltagslebens auch bei größter Kälte doch noch durchführen zu können. Wissenschaft bedeutet in diesem Sinne auch für Kluge eine Kritik, die über die bloße Faktensammlung hinausgeht, das aus möglichst vielen Perspektiven durchgeführte Aufzeigen der Verstricktheit des Ganzen, die Adorno als »gesellschaftliche Verflochtenheit«78 der Individuen bezeichnet. Der Kapitalismus ist wandlungsfähig und die demokratischen Gesellschaften reagieren anders als totalitäre Gesellschaften auf radikale Kritik. Sie verleiben sie sich ein. Sie wird auf 70 Vgl. Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, hg. v. Alfred Schmidt/Gunzelin Schmid Noerr, Bd. 3, Frankfurt/M. 2009, S. 149. 71 AGS 4, S. 13. 72 Ebd. 73 AGS 6, S. 9. 74 Jan Weyand, »Das paradoxe Verhältnis der frühen Kritischen Theorie zur Moralphilosophie«, in: Diethard Behrens (Hg.), Materialistische Theorie und Praxis. Zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Kritik der Politischen Ökonomie, Freiburg 2005, S. 13–23, hier S. 14. 75 Ebd., S. 21. 76 Rahel Jaeggi, »›Kein einzelner vermag etwas dagegen‹. Adornos Minima Moralia als Kritik von Lebensformen«, in: Axel Honneth (Hg.), Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt/M. 2005, S. 115–142, hier S. 141. 77 Ebd. 78 Adorno, Probleme der Moralphilosophie, S. 260.

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eine ›interne‹ akademische Prozedur reduziert, die sich durch Kompetenz, Autorität, hohe Zugangshürden und oft genug Abhängigkeit von Politik auszeichnet.79 Man könnte also sagen, der Kapitalismus hat spezifische wissenschaftstheoretische Eigenschaften. Herrschaft bietet in der aktuellen Situation wenig Angriffsfläche, weil sie mittels einer »Vielfalt von Interventionen« die Kritik »entwaffnet«.80 Das bedeutet, die kritische Energie verpufft weitgehend auf dem Weg in das kollektive öffentliche Bewusstsein, weil ihr »ein Hintergrund, von dem sich die Kritik absetzen und Gestalt gewinnen könnte«, fehlt, so »als wäre sie, kaum formuliert, auch schon den Formaten integriert, die die Realitäten in ihrer öffentlichen Dimension gestalten«.81 Die Ideologie, die darüber betrügt, dass es kein Leben mehr gibt,82 ist übergegangen in das Leben, das Ideologie nicht einmal mehr (an)erkennt, wenn es daran zugrunde geht. Die Realitätsmasse, die die Individuen kalt bedrückt, zeichnet sich nicht mehr durch totale Verwaltung, sondern durch totale Verwirrung aus. Die Kälte im 21. Jahrhundert entsteht nicht mehr, wie Adorno noch beobachten konnte, durch Verdinglichung und Erstarrung der Wirklichkeit, sondern durch den Entzug aller Gewissheit und jeglichen Sinns.

Übertragung von Glück aus der Ästhetischen Theorie in heterotope Medien Dieter Prokop attestiert den Massenmedien 1979 in der Wirkung auf das Publikum ein Schwanken zwischen Disziplinierung und einer gewissen Phantasiearbeit.83 Für Horkheimer und Adorno sind die Kulturprodukte, die uns zum Ausgleich von anstrengender Arbeit leicht unterhalten sollen, Amüsierwaren, nichts als »Nachbilder des Arbeitsvorgangs selbst«, letztlich »Verlängerung der Arbeit«.84 Sie disziplinieren die Menschen, indem sie ihnen statt Kreativität nur Rekreation für den nächsten Arbeitstag erlauben. Kluge versucht gegen diese Abwärtsspirale die Fantasiearbeit zu mobilisieren. Die Verwirrung, die seine massenhaften Interventionen auslösen können, sollen Erkenntnisse und Emotionen neu verbinden.

79 Vgl. Luc Boltanski, Soziologie und Sozialkritik. Frankfurter Adorno Vorlesungen 2008, Berlin 2010, S. 200. 80 Ebd., S. 188. 81 Ebd., S. 71. 82 Vgl. AGS 4, S. 13. 83 Vgl. Dieter Prokop, Faszination und Langeweile. Die populären Medien, Stuttgart 1979, S. 3. 84 Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, hg. v. Alfred Schmidt/Gunzelin Schmid Noerr, Bd. 5, Frankfurt/M. 1987, S. 162.

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In der »Ästhetischen Theorie« schreibt Adorno: »Den Abgrund zwischen der Praxis und dem Glück mißt die Kraft der Negativität im Kunstwerk aus. […] Um des Glücks willen wird dem Glück abgesagt. So überlebt Begehren in der Kunst«,85 und weiter: »Das Glück an den Kunstwerken ist jähes Entronnensein«86 und »Glück des Standhaltens«87 zugleich. Für ihn gibt es sogar einen Zusammenhang von Glück und Humor, denn »übrigens hat Glück, der Sexus, aus dem Reich der selbsterhaltenden Praxis gesehen, ebenfalls jenes Alberne, auf das, wer von ihm nicht getrieben wird, so hämisch hindeuten kann.«88 Sichtbar wird dieses Verhältnis von gelungener Unterhaltungskunst und Glück beim Clown. Menschen können ihre Herkunft vom Tier nicht ganz verdrängen, sodass sie sie in den Possen eines Clowns wiederkennen können und »dabei von Glück überflutet«89 werden. Das Subjekt hat »in der Erschütterung sein wahres Glück an den Kunstwerken«,90 also darin, dass sie »kein Harmloses mehr in sich«91 dulden. Kluge erschüttert durch Detailarbeit, durch die sich auch ein_e Zuschauer_in hindurcharbeiten muss, und wechselt Konkretion und Fülle mit ausfransenden Collagen und konstellativen Assoziationen. Der kritische Clown Kluge überwiegt an einigen Stellen den Kritiker Kluge, und er sucht bewusst nach dem Glück als Gegenpol zur Kälte, denn der Mensch besitzt potentiell Urvertrauen und Glücksfähigkeit. Kluge nimmt das als Faktum der Hoffnung und benutzt für sein Projekt der Kritik unvoreingenommen die Kategorien des Irrationalen, Imaginären und Revolutionären, die über Adornos Vertrauen in diese Begriffe sicherlich hinausgehen.92 Kluge bringt das Misstrauen Adornos auf die Formel: »Warmherzige Gefühlsproduktion plus Ausgrenzung = Kältestrom.«93 Überhaupt hat die Perspektive auf Glück oder gar das Versprechen von Glück seine Fallstricke: Denn das verdinglichte Bewusstsein hält am Glücksversprechen fest, aber in seiner »unmittelbaren, stofflichen Gestalt«,94 woran die Kulturindustrie durch ihre Produkte suggestiv anknüpft und zugleich doch nie für das von ihr verdinglichte ästhetische Bewusstsein entschädigt. Das unterläuft Kluge freilich wiederum durch die Form seiner Beiträge. Er macht keine Kulturpro85 86 87 88 89 90 91 92

AGS 7, S. 26. Ebd., S. 30. Ebd., S. 31. Ebd., S. 181. Ebd., S. 182. Ebd., S. 401. Ebd., S. 371. Vgl. Harro Müller, »Verwendungsweisen des Authentizitätsbegriffs bei Theodor W. Adorno und Alexander Kluge«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Frage des Zusammenhangs. Alexander Kluge im Kontext, Berlin 2012, S. 50–64, hier S. 57. 93 Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt, Frankfurt/M. 2005, S. 751. 94 AGS 7, S. 461.

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duktion, sondern bewusste Gegenproduktion.95 Das authentische Kunstwerk ist autonom und Abbild sozialer Tatbestände,96 darüber sind sich Kluge und Adorno einig. Aber gerade darum erweitert Kluge die aus der Dialektik der Aufklärung stammende radikale Kritik des Bewusstseinsapparates »um die Kritik der Arbeitskraft an dem gesamten historischen Apparat der Arbeitskraft«.97 Er blickt auf die Möglichkeiten der Produktion anstatt auf die Restriktionen des Bewusstseins. Gegenproduktion ist daher ein zentraler Begriff der kritischen Wirklichkeitsaneignung. Kluge geht es weniger um die Autonomie seiner Kunstwerke von der medialen Struktur, als vielmehr um die Strukturen medialer Vermittlung selbst.98 Es geht nicht mehr darum, den totalen Verblendungszusammenhang zu denunzieren, sondern um kleinteiligere Arbeit. Die Gesetzmäßigkeit der Fernsehmaschinerie zu erkunden und sie sichtbar zu machen. Der »großen Maschinerie eine kleine Maschine zu implantieren«,99 die Möglichkeiten der Nichtidentität aus dem Inneren heraus testet. Er geht weiter: Authentische Kunst ist »Fiktion und Dokument, Montage und ungekürzte Wiedergabe, Märchen und Soziologie«.100 Das würde Adorno so nicht unterschrieben haben. Kluge ist eben Pragmatiker mit zerbrechlicher Zuversicht. Daher arbeitet er auch weniger auktorial und tendiert zur Mehrstimmigkeit. Er vertritt einen engagierten Pluralismus101 und ist damit näher am Begriff der Heterotopie102 als an dem der Authentizität oder Autonomie.

95 Dies ist ein zentraler Begriff für die Definition von Kluges Selbstverständnis als Kulturproduzent. Vgl. Kluges Internetauftritt, etwa den Text »Kluges Fernsehen«, 2002, verfügbar unter: https://www.kluge-alexander.de/zur-person/texte-ueber/details/kluges-fernsehen1.html [31. 07. 2020]; sowie Streckhardt, Kaleidoskop Kluge, S. 179. 96 Vgl. AGS 7, S. 16. 97 Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 494. 98 Vgl. Carlos Becker/Magnus Krümpelbeck/Florian Vietze, »Antirealistische Parteinahme. Möglichkeiten des Subjektiven im Werk Alexander Kluges«, in: Thomas Jung/Stefan MüllerDoohm (Hg.), Fliegende Fische. Eine Soziologie des Intellektuellen in 20 Porträts, Frankfurt/ M. 2008, S. 387–408, hier S. 406. 99 Klaus Kreimeier, »Das Seiende im Ganzen aber steuert der Blitz«, in: Christian Schulte/ Winfried Siebers (Hg.), Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt/M. 2002, S. 39–52, hier S. 41. 100 Müller, »Verwendungsweisen des Authentizitätsbegriffs bei Theodor W. Adorno und Alexander Kluge«, S. 56. 101 Vgl. ebd. sowie Ekardt, Toward fewer images, S. 196. 102 Die Heterotopie wird bei Foucault in Ordnung der Dinge als ein »Ordnung aufstörender Diskurstyp« verstanden (Tobias Klass, »Heterotopie«, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2014, S. 263–266, hier S. 264).

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Die Geburt der Zwangsästhetisierung aus dem Kapitalismus Adornos Denken liegt zugrunde, dass Moralphilosophie eine Praxis hat. Martin Seel beschreibt diese alternative Ethik folgendermaßen sehr treffend: »Die Forderungen und Verpflichtungen des Sollens ergeben sich in dieser Überlegung erst aus der Treue zu Episoden der Erfahrung ungezwungenen Seins.«103 Adornos Minima Moralia nehmen die Vergangenheit, das Stürzende als Anlass zur Sorge um die Potentiale der Zukunft. Kluge spielt mit der Potentialität der Gegenwart, um die Zukunft bewusst gestaltbar zu machen. Beide betrachten dabei unterschiedliche Ausformungen des Kapitalismus. Die Kritik muss sich anpassen oder die kritische Energie verpufft wirkungslos. Kluge hat das verstanden und indem er über Adorno hinausgeht, zugleich zentrale Aspekte von Adornos Ethik aus der Minima Moralia ins 21. Jahrhundert hinübergerettet. Während Adorno Kälte mit dem kapitalistischen Realisten in Verbindung bringt, der nur die instrumentelle Vernunft des Systems gelten lassen will und daher alles zur Kälte verdammt, hat es Kluge mit dem ›kapitalistischen Surrealisten‹ zu tun. Dieser versucht, Dinge zusammenzutragen, die nichts miteinander zu tun haben und dadurch nicht die Herrschaft der instrumentellen Vernunft oder des Kapitals aufrecht zu erhalten, sondern alle Ordnungen und Beziehungen gleichermaßen zu zerstören. Der kapitalistische Surrealismus des 21. Jahrhunderts ist, bei aller Immergleichheit seiner Ausdrucksformen, doch etwas Neues. Er ist z. B. digital. Er sucht nicht mehr nur die Aneignung des Mehrwerts, sondern auch der Gedanken. Nicht mehr nur Kapitalisierungszwang aller Lebensverhältnisse, sondern auch »Ästhetisierungszwang« aller Produkte.104 Gesucht wird Material zum »Zitieren, Übermalen, Collagieren«,105 dadurch wird die Dynamik des Warenzyklus beschleunigt und zugleich die mögliche Reaktionszeit auf neue Krisen verkürzt. Diese Dominanz der rasenden Unberechenbarkeit erfordert wiederum eine Dominanz der Rechner, denn der digitale Kapitalismus versucht aktuell auch mittels Verhaltensmodifikation auf die Wunschproduktion seiner Kund_innen Einfluss zu nehmen.106 Kluge ähnelt sich diesen erweiterten Spielarten des Kapitalismus mimetisch an und begegnet dem digitalen Kapitalismus im digitalen Raum. Vielleicht geht es ja mittlerweile wirklich mehr darum, wie Robin Celikates vor Kurzem formuliert hat, »über komplexe und verworrene Prozesse der sozialen Transformation nachzudenken, ohne das theoretische Vokabular des Fort103 Martin Seel, Adornos Philosophie der Kontemplation, Frankfurt/M. 2004, S. 40. 104 Vgl. Markus Metz/Georg Seeßlen, Kapitalistischer (Sur)realismus. Neoliberalismus als Ästhetik, Berlin 2018, S. 212. 105 Ebd., S. 96. 106 Vgl. Shoshana Zuboff, The Age of Surveillance Capitalism. The Fight for a Human Future at the new Frontier of Power, London 2019.

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schritts und der Lernprozesse zu gebrauchen«.107 Vielleicht geht es an den neuen politischen Konfliktzonen weniger um moralischen Fortschritt und Lernprozesse als um die Reibungsflächen von Extremen, die einander konkurrenzierend gegenüber stehen und erst einmal der gegenseitigen Vorstellung bedürfen, bevor sie aufeinander losgelassen werden können, wenn man Gewalt vermeiden will. Wie wir gesehen haben, wird bei Adorno bereits das Problem aufgeworfen, dass eine Neugestaltung der Gesellschaft nicht von der Politik alleine ausgehen kann, weil dieser Versuch immer in Totalitarismus mündet. Der relevante Teil, der gestalterisch handeln kann, liegt innerhalb des Kräftespiels der Gesellschaft, aber damit auch in der Kulturproduktion derselben. Und dort setzt Kluge an, ohne sich im Authentizitätsbegriff zu verheddern. Er geht mit der ästhetischen Gewissheit an seine Arbeit, dass der Mensch ein Bedürfnis hat, den Dingen, die ihm widerfahren, Sinn zuzuschreiben. Die Zerrissenheit der Welt wäre ohne Suche nach dem Sinn nicht zu ertragen. Deshalb sucht Kluge Realitätsmomente auf, die dem Verhalten der Welt opponieren, »dass die Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft«.108 Das Ziel, die hemmenden Impulse der überbordenden Realität zu unterwandern, um Erkenntnis vermitteln zu können, die zur Emanzipation beiträgt, ist Adornos und Kluges verbindende Arbeitsprämisse. Ihr gemeinsames Denken findet zwischen Polen statt. Kälte und Glück definieren ihre normative Perspektive auf ihre jeweiligen Kritikprojekte. Und auch wenn sie im Stil voneinander leicht abweichen, Adorno pessimistischer und fantastischer, Kluge optimistischer109 und realistischer ist, verbindet sie mehr als sie trennt.

107 Robin Celikates, »Moralischer Fortschritt, soziale Kämpfe und Emanzipationsblockaden: Elemente einer kritischen Theorie der Politik«, in: Ulf Bohmann/Paul Sörensen (Hg.), Kritische Theorie der Politik, Berlin 2019, S. 397–426, hier S. 425. 108 Alexander Kluge, Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt/M. 1975, S. 215. 109 Vgl. Peter C. Lutze, »Alexander Kluge und das Projekt der Moderne«, in: Schulte/Siebers (Hg.), Kluges Fernsehen, S. 11–39, hier S. 15.

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Sekretärin – Die Frau mit Eigenschaften. Dritte in der Schreib-Kooperation von Negt und Kluge

Hinlänglich bekannt ist, dass Alexander Kluge gemeinsam mit Oskar Negt mehrere Bücher verfasste. Mit Öffentlichkeit und Erfahrung (1972)1 legten sie eine Schrift vor, aus der die Neue Linke Westdeutschlands nach dem Zerfall der studentischen Protestbewegung das zentrale Konzept der Gegenöffentlichkeit für die weitere politische Praxis bezog, gefolgt von dem Erfolgsbuch Geschichte und Eigensinn (1981),2 das eine Kritik der lebendigen Arbeitskraft entwickelt.3 Weniger bekannt ist hingegen – obwohl Negt und Kluge vor allem seit der Neuauflage ihres gemeinsamen Werkes 2001 wiederholt darauf aufmerksam gemacht haben4 –, dass die beiden Autoren zur Produktion ihrer Bücher immer auf die Zuarbeit eines »Dritten im Raum«5 angewiesen waren: auf Sekretärinnen, deren hauptsächliche Rolle in der Verschriftlichung der gemeinsam mündlich geäußerten Gedanken bestand. Dass die Autoren ihre Mitarbeiterinnen Karin Niebergall und Elfriede Olbrich in der Nachbemerkung zu Geschichte und Eigensinn6 durch Namensnennung würdigen und ihnen darüber hinaus eine »Auswirkung auf den ganzen Inhalt und die Kooperation«7 attestieren, ist angesichts der west1 Oskar Negt/Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 1972. 2 Oskar Negt/Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/M. 1981. 3 Das dritte gemeinsam verfasste Buch von Oskar Negt/Alexander Kluge, Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen, Frankfurt/M. 1992, besteht aus teils schon davor veröffentlichten Texten, die von Negt oder Kluge einzeln verfasst wurden, aber auch aus gemeinsam geschriebenen Texten. 4 Vgl. Alexander Kluge, »Momentaufnahmen aus unserer Zusammenarbeit«, in: Oskar Negt/ Alexander Kluge, Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden, Bd. 1, Frankfurt/M., 2001, S. 5–19; Oskar Negt, »Meister der Verschlüsselungen. Einblicke in die Werkstatt. Zum 70. Geburtstag von Alexander Kluge«, in: Hans-Peter Burmeister/Evangelische Akademie Loccum (Hg.), Maßverhältnisse des Politischen. Öffentlichkeit und Erfahrung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Rehburg-Loccum 2003, S. 193–196. 5 Kluge, »Momentaufnahmen aus unserer Zusammenarbeit«, S. 9. 6 Oskar Negt/Alexander Kluge, »Geschichte und Eigensinn«, in: Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden, Bd. 2, Frankfurt/M. 2001, S. 1245. 7 Ebd.

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deutschen Buchkultur der 1970er beachtenswert, die vor allem die weiblichen Anteile intellektueller Arbeit mit einer gewissen Selbstverständlichkeit ignoriert. Auffällig ist jedoch, wo die Mitarbeiterinnen nicht sichtbar sind. An jenen Orten nämlich, wo kooperative Autorschaft rezipierbar wird: auf den Buchcovers, auf den abgedruckten Fotos der Autoren am Schreibtisch, in den selbstreflexiven Textpassagen, die den gemeinsamen Schreibprozess thematisieren,8 und beim Autorengespräch nach der Bucherscheinung.9 Nicht zuletzt verrät bereits die Klassifizierung der Mitarbeiterinnen als Dritte eine gewisse Unbeholfenheit in der Frage, wie man sie in der Auseinandersetzung mit gemeinsamer Autorschaft und dem Schreiben adressieren soll. Meint der Begriff im Recht einen imaginären »Modellmenschen«, eine ideelle Normvorstellung, anhand derer »das abstrakte Gesetz für konkrete Fälle passend gemacht wird«,10 so ist er hier entweder im Sinne einer Rangzahl zu verstehen – neben Negt und Kluge gibt es »eine dritte Person«11 im Raum –, oder aber als offene Positionsbestimmung im Diskurs, der mit den binärlogischen Werten ›Autor‹ und ›Leser‹ operiert und unter der Hand dritte, vermittelnde Größen enthält.12 Warum aber wird die für den Schreibprozess konstitutive Dritte von der Inszenierung dualer Autorschaft ferngehalten und an den Rand des Textes gedrängt, wo sie am Ende doch noch beiläufig Erwähnung findet? Der folgende Text sucht in der Kultur der Sekretärinnen13 der 1970er Jahre nach Antworten und dient daher einer literatursoziologischen Einbettung der Fragen aufwerfenden Nachbemerkung von Geschichte und Eigensinn, nach der die Mitarbeiterinnen neben ihrer Aufgabe der Verschriftlichung auch eine inhaltliche Auswirkung auf die Kooperation haben und somit, wenn auch nicht Autorinnen, doch mehr als bloße Schreiberinnen sind.14 Hierzu nimmt der Text die Eigenschaften jener Dritten in den Blick, die in der industriellen Angestelltenkultur der Nachkriegszeit die kooperative Schreibarbeit professionalisierten und infolgedessen auch den Autoren Negt und Kluge im Produzieren von Büchern zuarbeiteten. Denn 8 Vgl. ebd., S. 54 und S. 1128. 9 Vgl. Oskar Negt/Alexander Kluge, »Die Geschichte der lebendigen Arbeitskraft. Diskussion mit Oskar Negt und Alexander Kluge«, in: Ästhetik und Kommunikation. Beiträge zur politischen Erziehung 48, 1982, S. 79–109. 10 Elena Barner, »Der Dritte im Recht«, in: Eva Esslinger et al. (Hg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin 2010, S. 254–263, hier S. 256f. 11 Oskar Negt, »Über Vertrauen und Kooperation«, in: Der Deutschunterricht: Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung 2012/3, S. 18–24. 12 Vgl. Albrecht Koschorke, »Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften«, in: Eßlinger et al. (Hg.), Die Figur des Dritten, S. 9–31. 13 Damit ist auf den Sammelband von Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Europa. Kultur der Sekretäre, Zürich 2003 verwiesen, dessen Beiträge die maskuline Schreibweise des Titels rechtfertigen. 14 Vgl. Bernhard Siegert/Joseph Vogl, »Vorwort«, in: Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Europa. Kultur der Sekretäre, Zürich 2003, S. 7ff., hier S. 7.

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dass sie »in drei Jahren gemeinsamer Arbeit«15 die 1.283-seitige Mammutaufgabe Geschichte und Eigensinn bewerkstelligen konnten, verdankt sich nicht zuletzt diesen professionellen Koproduzentinnen.

Die »unentbehrlichen« Eigenschaften einer Sekretärin Die Schreibszene Negt und Kluges ist eigentlich eine Diktatszene.16 Basierend auf gemeinsamen Gesprächen, in denen sie ihre Positionen entwickelten, diktierten Negt und Kluge gemeinsam, eigener Aussage nach jeweils den begonnenen Satz des anderen abschließend,17 der Mitarbeiterin ins Stenogramm. Wenn diese bereits während der thematischen Sondierung bestimmte Formulierungen aufgrund ihrer eigenen Einschätzung für relevant hielt, wurden sie selbsttätig notiert und von ihr später in den zu formulierenden Text eingebracht. Aus den Stenogrammen stellte die Mitarbeiterin dann eine »Reinschrift«18 her, die sie »am nächsten oder übernächsten Tag«19 mitbrachte und auf deren Grundlage die Autoren direkt am Text Ergänzungen und Korrekturen vornahmen. Die Arbeitssitzungen wurden in oft mehrere Wochen dauernden Blocks gehalten, zwischen denen auch mehrere Monate Pause liegen konnten. Auf diese Weise produzierte das Trio entweder in der Wohnung von Negt oder in jener von Kluge, wodurch sich Diskontinuitäten in den Ausgaben der zitierten Quellen ergaben.20 Was Negt und Kluge an ihren Mitarbeiterinnen neben den handwerklichen Fähigkeiten und wohl auch einer gewissen zeitlichen Flexibilität schätzten, waren deren hohe Auffassungsgabe, das sich auf die Diktierweise der beiden EinstellenKönnen und das selbsttätige Unterscheiden zwischen Relevantem und NichtRelevantem – übrigens alles Eigenschaften, die von Sekretärinnen auch in der Industrie erlernt und verlangt werden.21 Über die Mitarbeiterin Karin Niebergall ist bekannt, dass sie als Unternehmerin ein Schreibbüro betrieb und sich später unter dem Namen ›Freund‹ verheiratete. Sie folgte als Mitarbeiterin auf Elfriede Olbrich, der Negt und Kluge während des gesamten Schreibprozesses von Öffentlichkeit und Erfahrung und 15 Negt/Kluge, »Geschichte und Eigensinn«, S. 5. 16 Vgl. Michael Ott, »›Setz dich. Schreib.‹ Diktier-Szenen bei Schiller und Kleist«, in: Claudia Lubkoll/Claudia Öhlschläger (Hg.), Schreibszenen. Kulturpraxis – Poetologie – Theatralität, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2015, S. 191–213; Natalie Binczek/Cornelia Epping-Jäger (Hg.), Das Diktat. Phono-graphische Verfahren der Aufzeichnung, Paderborn 2015. 17 Vgl. Negt, »Über Vertrauen und Kooperation«, S. 18f. 18 Kluge, »Momentaufnahmen aus unserer Zusammenarbeit«, S. 11. 19 Ebd., S. 9. 20 Vgl. Negt/Kluge, »Geschichte und Eigensinn«, S. 1245. 21 Vgl. Otto Christian Gerlach, Die perfekte Sekretärin, Frankfurt/M./Wien 1954, S. 130f.; Annemarie Lennartz, Sekretärin – mit Erfolg, München 1973, S. 24f.

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des ersten Teils von Geschichte und Eigensinn diktierten. Der langjährig im Institut für Sozialforschung Tätigen – sie arbeitete dort als eine Sekretärin von Adorno – kommt auch eine überlieferungsgeschichtliche Bedeutung zu. Sie war es nämlich, der Adorno vor seinem Tod die Ästhetische Theorie diktierte, weshalb sie als personifizierte Textzeugin eines unautorisiert gebliebenen Werkes gilt. Im Text Adornos Sekretärin spitzt Alexander Kluge diese prekäre Überlieferungsgeschichte zu,22 wenn er behauptet, dass »ihr Stenogramm mehr als die Hälfte der Ästhetischen Theorie« enthält und nur sie es entziffern könne.23 Kluge mag hier ein wenig übertreiben – der Text wurde nicht auf Basis der Stenogramme, sondern der nachgelassenen Typoskripte publiziert24 – wohl aber aus dem Grund, um Elfriede Olbrichs Schlüsselrolle in der Hervorbringung des Werkes herauszustreichen. Welche Stelle besetzen die Mitarbeiterinnen Negt und Kluges im Autorschaftsdiskurs? Wie stille Teilhaberinnen aus dem Gesellschaftsrecht, die nicht ins Firmenbuch eingetragen sind, keine Haftung für den Betrieb übernehmen und nicht als dessen Eigentümerinnen fungieren, sind auch die Mitarbeiterinnen in keinem Bibliothekskatalog verzeichnet, für das Publizierte juristisch nicht zu belangen und ohne urheberrechtliche Entscheidungsbefugnis über die Reproduktion der Texte. Still sind die Mitarbeiterinnen auch hinsichtlich ihrer Rolle als Transkriptorinnen des mündlichen Gesprächs in Schrift, die durch ihr schweigsames Schreiben die Gedanken der sprechenden Männer in Bücher verwandeln.25 Die Mitarbeiterinnen Negt und Kluges entstammen als Sekretärinnen der Angestelltenwelt und vertreten die sogenannte ›Mittelschicht‹ zwischen Arbeiter*innen und Gewerbetreibenden, die sich nach dem Ersten Weltkrieg rasant entwickelte. Wollten Frauen auf dem Angestelltenmarkt der 1920er Jahre in Deutschland Fuß fassen, konnten sie sich Eigenschaftslosigkeit, die in Musils Der Mann ohne Eigenschaften paradoxerweise zum Kennzeichen seines Protagonisten wurde,26 nicht leisten. Für die Goldenen Zwanziger in Deutschland merkt 22 Ich danke Oliver Kunisch für seinen Hinweis auf den Text. 23 Alexander Kluge, »Adornos Sekretärin«, in: Ulrich Pohlmann (Hg.), Stefan Moses. Die Monographie, München 2002, S. 144f., hier S. 144. 24 Vgl. Martin Endres, »Von der Produktionsseite. Zur Revision der ›Ästhetischen Theorie‹«, in: Adorno. Zeitschrift für Ideengeschichte 13/1, 2019, S. 97–106, hier S. 100–103. 25 Heinrich Bosse verortet den Ursprung des modernen Urheberrechts im Deutschland der Goethezeit, genau an jenem Umschlagpunkt, als Schreiben nicht mehr bloß als medial transformierte Rede verstanden wird, sondern als Konstitution eines Werkes, in das der Autor eingeht: Heinrich Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn 2014 [Orig.: 1981], S. 15–22. 26 Der Romanprotagonist Ulrich hat seine geistigen und körperlichen Eigenschaften geradezu hochgezüchtet, verliert aber angesichts eines als »genial« geltenden Rennpferdes, »das bedeutende Eigenschaften ins Spiel« setzt, um »über eine Hecke« zu springen, ein verbindliches

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Siegfried Kracauer an, dass die »arbeitswichtigen Eigenschaften« eines Angestellten in Form von »Buchungsproben, Telephonproben« sowie »physiognomischen und graphologischen« Studien erst in einer »›Totalschau‹« streng geprüft hatten werden müssen, ehe es zu einer Anstellung kam – im Gegensatz zu Arbeiter*innen, für die eine »einfache Funktionsprüfung« ausreichte.27 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trat neben den mechanischen Funktionen und geistigen Eigenschaften noch eine weitere, man könnte nun sagen ›angestelltenwichtige‹ Fähigkeit hinzu, die Arlie Russell Hochschild in ihrer Studie The Managed Heart (1983) anhand von Flugbegleiterinnen und Geldeintreibern, aber auch anhand von Sekretärinnen untersucht: »emotionale Arbeit«.28 Gefühle werden evoziert oder unterdrückt, um bei Dritten zu Gewerbezwecken einen bestimmten Gemütszustand hervorzurufen.29 Wie bereits Kluges Bezeichnung des »Dritten« gewisse Schwierigkeiten in der Positionsbestimmung ihrer schreibenden Mitarbeiterinnen erkennen lässt, so verhält es sich auch mit der »prinzipielle[n] Stellung einer Sekretärin«30 im Unternehmen: Sie ist weder Chefin noch bloße Mitarbeiterin. Ein Sekretärinnenratgeber aus dem Jahr 1954 umreißt ihre Situation durch ein Gedankenexperiment: Gesetzt den Fall, ein wichtiger Geschäftspartner kann den Firmenchef im Betrieb nicht antreffen, will aber »unbedingt […] ein Mitglied der Firmenleitung sprechen […]. Dann kommt nur noch die Sekretärin in Frage.«31 Obwohl eine Sekretärin niemals Mitglied der Geschäftsleitung ist, wie der Ratgeber nicht müde wird zu betonen, so repräsentiert sie doch das Unternehmen und handelt »in Stellvertretung des Chefs«.32 Sie ist »nicht nur seine rechte Hand […], sondern auch seine Visitenkarte.«33 Sie ist »Führungsgehilfin«34 des Chefs, aber ohne Entscheidungsbefugnis und bei prekärer Bezahlung und Anstellung. Die Proletarisierung und Prekarisierung machen bereits die frühen Angestelltensoziologen Emil Lederer, Carl Dreyfuß, Hans Speier und Siegfried Kracauer zum Thema. Wovon Sekretärinnen der 1960er und 70er ein Lied zu singen wissen, kommt in diesen Studien zu den Angestellten in der Weimarer Republik

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Ziel aus den Augen, für das es seine Eigenschaften einzusetzen lohnt: Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg 2014 [Orig.: 1930], S. 44–47. Siegfried Kracauer, Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, Frankfurt/M. 2017 [Orig.: 1930], S. 20. Arlie Russell Hochschild, The managed heart. Commercialization of human feeling, Berkeley/ Los Angeles/London 2012 [Orig.: 1983], S. 7. »This labor requires one to induce or suppress feeling in order to sustain the outward countenance that produces the proper state of mind in others.« (Ebd.) Gerlach, Die perfekte Sekretärin, S. 59 [i.O. fett]. Ebd. Ebd. [i.O. fett]. Vilma Link, Vorzimmer, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 11. Gerlach, Die perfekte Sekretärin, S. 59 [i.O. fett].

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aber nur am Rande vor: nämlich wie Arbeit an Geschlecht geknüpft, sexualisiert und prekarisiert wird.35 Die seit den 1950ern überbordende Ratgeberliteratur mit Titeln wie Der Weg von der Stenotypistin zur Sekretärin,36 Die perfekte Sekretärin,37 Sekretärin mit Erfolg,38 oder Die Sekretärin als Führungsgehilfin des Chefs39 definiert einstimmig das Vorzimmer als Wirkungsbereich der Frau – eine suggerierte Vormachtstellung, die das weibliche Geschlecht seiner Natur verdanke: »Es ist keinen Augenblick zu vergessen, daß ›Sekretärinnen‹ gegenüber ›Sekretären‹ bevorzugt werden, weil Frauen bekanntlich die besseren Diplomaten sind.«40 Qua Geschlecht kommt der Frau die Rolle zu, diskret, genau, taktvoll und psychologisch feinfühlig zu sein. Die Soziologin Louise Kapp Howe prägte 1977 im Anschluss an die sogenannte Kragenlinie zwischen blue und white collar den Begriff des pink collar worker,41 mit dem sie die prekären Angestelltenverhältnisse in Branchen wie der Gastronomie oder eben dem Sekretariat bezeichnet, die beinahe ausschließlich Frauen betreffen. Abgeleitet aus dem Lateinischen secretio, was das Geheime, Nicht-Öffentliche und später auch das Schreibmöbel mit verschließbarer Schublade bezeichnet, ist für die Tätigkeit der Sekretärin die Pflicht zur Verschwiegenheit namensgebend. Wie eine Membran ist sie zwischen das Betriebsgeheimnis und die Öffentlichkeit geschaltet, wofür Diskretion und Selbstkontrolle unentbehrlich sind: »Zu vieles wird vor ihren Ohren abgehandelt, […] was auf gar keinen Fall über das Sekretariat hinausdringen darf.«42 Die Klassifizierung einer bestimmten Angelegenheit als ›geheim‹ obliegt dabei ihrem diplomatischen Gespür ebenso wie die Frage, wann es die Klugheit gebietet, die Geheimhaltungspflicht auszusetzen.43

35 Vgl. Franziska Schössler, Femina Oeconomica. Arbeit, Konsum und Geschlecht in der Literatur, Frankfurt/M./New York 2017, S. 20–25. 36 Anton Karl Stephan, Der Weg von der Stenotypistin zur Sekretärin. Welche Voraussetzungen sind für die Ausübung des Berufes einer Sekretärin zu erfüllen und auf welche Weise können die erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse erworben werden? Eine Abhandlung über das Berufsbild der Sekretärin, Wien 1949. 37 Gerlach, Die perfekte Sekretärin. 38 Lennartz, Sekretärin – mit Erfolg. 39 Reinhard Höhn/Gisela Böhme/Fritz Raidt, Die Sekretärin als Führungsgehilfin des Chefs, Bad Harzburg 1981. 40 Gerlach, Die perfekte Sekretärin, S. 42 [i.O. fett]. 41 Vgl. Louise Kapp Howe, Pink collar workers. Inside the world of women’s work, New York 1977. 42 Lennartz, Sekretärin – mit Erfolg, S. 24. 43 Die Sekretärin Heide Sommer geriet beispielsweise in einen Interessenskonflikt zwischen ihrem Chef, dem Spiegel-Redakteur Rudolf Augstein, und ihrem Mann, Zeit-Chefredakteur Theo Sommer: Der Autor Hellmuth Karasek wollte von der Zeit zum Spiegel wechseln, wovon Heide Sommer im Gegensatz zu ihrem Mann selbstverständlich wusste. »Wer mich bezahlt, kauft meine Loyalität mit,« so Heide Sommer. Weil ihr Mann aber ebenso Loyalität verdiente, entschied sie sich, »ihm am Abend vor der Vertragsunterzeichnung doch noch einen kleinen

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Der strategisch wichtige Platz im Vorzimmer zum Büro des Chefs erfordert immer wieder aufs Neue die Entscheidung sowie das Gespür, welche Information die Türschwelle passieren soll und welche nicht – auch in Richtung des Chefs. Unliebsamer Besuch muss im rechten Moment unbemerkt abgefangen oder mit dem restlichen Besuch sinnvoll koordiniert werden. Gelingt dies, so ist ihr das Lob des verblüfften Chefs sicher: »Wieso weiß sie, daß sie diesmal den Fertigungsleiter vor dem Einkäufer vorzulassen hat?«44 Ihr Zwischengeschaltet-Sein führt in manchen Situationen dazu, dass das, was im Rahmen des Betriebs als öffentlich gilt, sich in sein Gegenteil verkehrt. Die traditionelle Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem dupliziert sich im Vorzimmer, etwa wenn die Sekretärin eine Information vor der Familie des Chefs geheim zu halten hat. Selbst wenn der »Privatbesuch« des Chefs »reizvoll hübsch ist und bestimmte Gedanken noch so nahelegt, auch wenn die Sympathie der Ehefrau des Chefs gehört, eine Sekretärin gibt auch hier keinerlei Auskunft.«45 Der allgegenwärtige Topos, die Sekretärin sei die Büroehefrau des Chefs,46 zeugt von einer dritten Sphäre, die weder privat noch öffentlich ist und die die Sekretärin abriegelt. In der Betriebsöffentlichkeit, in der sich geschäftliche, aber auch sexuelle Beziehungen anbahnen, entsteht ein Abgrenzungsbedürfnis zum Familienleben des Chefs, für das die Sekretärin Sorge zu tragen hat. Eng verwandt mit dieser Membran-Funktion der Sekretärin ist ihre Aufgabe, Emotionen zu puffern: Sie katalysiert durch Gefühlsarbeit das toxische Betriebsklima, ihr »Eingeschaltetwerden in menschliche Konflikte«47 zwischen dem Chef und seinen (restlichen) Mitarbeiter*innen erfordert ein hohes Maß an »angewandte[r] Psychologie«,48 mit deren Hilfe sie in freudianischer Manier »beiläufige Bemerkungen«49 interpretieren und so die Sache zum Guten wenden müsse. Für die Wut des Chefs muss sie dabei aber genauso herhalten wie für den Frust der restlichen Mitarbeiter*innen, die ihre Sorgen an der Türschwelle des Chefs abladen. Als Medium, das Gefühlslagen transformiert, kommt ihr eine »Mittlerstellung«50 und damit die Aufgabe zu, die »Geschäftsleitung und die einzelnen Betriebsabteilungen«,51 aber auch die »Botengänger und die Putz-

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Wink und damit die Chance zu geben, mit Karasek zu reden.« Heide Sommer, Lassen Sie mich mal machen. Fünf Jahrzehnte als Sekretärin berühmter Männer, Berlin 2019, S. 167. Gerlach, Die perfekte Sekretärin, S. 29. Lennartz, Sekretärin – mit Erfolg, S. 97. Vgl. Gerlach, Die perfekte Sekretärin, S. 33 sowie Stephan, Der Weg von der Stenotypistin zur Sekretärin, S. 17: Die Sekretärin sei »eine wahre Berufsgefährtin.« Gerlach, Die perfekte Sekretärin, S. 43. Höhn/Böhme/Raidt, Die Sekretärin als Führungsgehilfin des Chefs, S. 188. Ebd. Gerlach, Die perfekte Sekretärin, S. 43 [im Orig.: fett]. Stephan, Der Weg von der Stenotypistin zur Sekretärin, S. 16.

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frauen« sowie »Geschäftspartner« miteinander in Verbindung zu setzen.52 Hierzu ist Empfindsamkeit gegenüber der emotionalen Lage des Chefs gefragt. Die Sekretärin des Spiegel-Herausgebers Rudolf Augstein, Heide Sommer, beschreibt das als beinahe übersinnliches Gespür für die Belange ihres Chefs: » [W]ir verstanden uns ohne viele Worte, manchmal sogar per geistiger Osmose durch die Mooreichenwand im Büro. […] Ich konnte durch die Tür hindurch spüren, welche Probleme er wälzte, woran er dachte.«53 Des Weiteren zählen zu den unentbehrlichen Eigenschaften einer Sekretärin ein Sinn für Ästhetik, der sich anhand des eigenen Kleidungsstils und der Bürodekoration in dezenter Weise bemerkbar macht, und ein achtsames Auge, das die »gute ›Bürohausfrau‹«54 auf das leibliche Wohl der Geschäftspartner und vor allem auch auf den Chef wirft. Die genannten Ratgeber gehen davon aus, dass Sekretärinnen das verlangte loyale, empfindsame und diplomatische Verhalten und ästhetische Gestaltungsvermögen von Natur aus besitzen oder zumindest aus der guten Kinderstube mitbringen. Jedenfalls müssen sie sich aber von der häuslichen Sphäre trennen, um ihre Arbeitseigenschaften im Großraumbüro proletarisieren zu können.

Die Angestellten von und in Geschichte und Eigensinn Das Prinzip von Geschichte und Eigensinn, dass Arbeitseigenschaften das Resultat von Trennungsprozessen sind, trifft auch für den biografischen Schnitt einer Sekretärin zu, die ihr Heim verlässt, um im Büro als Neue Frau zu arbeiten.55 Da Negt und Kluge davon ausgehen, dass in »der Industrie kooperierende Gruppen [… nur] über Abstraktheit vermittelt« sind, widmet sich Geschichte und Eigensinn an keiner Stelle explizit der administrativen Arbeitswelt. Ihre Begrifflichkeit ist auf die lebendige, »stoffverändernde Arbeit«56 ausgerichtet, nicht auf deren Verwaltung. Lebendige Arbeit wie Planen, Kontrollieren oder Pflegen, die durch das »herrschende Patriarchat«57 geschlechtsspezifisch verteilt ist, adressiert zwar die Administration, nicht aber als konkreten Bereich. Zu Beginn

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Gerlach, Die perfekte Sekretärin, S. 43. Sommer, Lassen Sie mich mal machen, S. 157. Lennartz, Sekretärin – mit Erfolg, S. 118. Vgl. Annegret Pelz, »City Girls im Büro. Schreibkräfte mit Bubikopf«, in: Julia Freytag (Hg.), City Girls. Bubiköpfe & Blaustrümpfe in den 1920er Jahren, Köln/Wien/Weimar 2011, S. 35–53, hier S. 35. 56 Negt/Kluge, »Geschichte und Eigensinn«, S. 229. 57 Ebd., S. 314.

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der 1980er Jahre waren in Westdeutschland 42,3 Prozent aller Erwerbstätigen Arbeiter*innen und 37,2 Prozent Angestellte.58 Frauen wie etwa die »Röhrenschweißerin«59 Frau Heinrich arbeiten in Geschichte und Eigensinn also am Fließband, nicht im Büro. Im Kommentar 2, »Der Anteil von Frauenarbeit an der Menschenproduktion«, wo man das AngestelltenThema aufgrund des höheren Frauenanteils in diesem Bereich vermuten könnte, heißt es explizit, dass der »Fragenkomplex […]: Frauen in der industriellen Arbeitswelt« nicht behandelt wird.60 Negt und Kluge untersuchen hingegen die geschlechtsspezifische Zuteilung von Hausarbeit im Verlauf der Geschichte und das daraus resultierende Doppelprogramm: Frauen müssen gleichzeitig Beziehungsarbeit und unbezahlte industrielle Zuarbeit leisten, was sich aufgrund der gegensätzlichen ökonomischen Prinzipien, nach denen sich diese Bereiche organisieren, ausschließt. Daher kommt dieses Doppelprogramm einem permanenten »Zerreißungsprozess«61 gleich, einem »besondere[n] Fall von Entstehung des Arbeitsvermögens aus der Trennung«.62 Da Negt und Kluge die Arbeit »gegenüber der Maschine«63 in den Blick nehmen und jene gegenüber der Schreibmaschine weitestgehend ausblenden, übersehen sie, dass viele weibliche Angestellte ihre Beziehungs- und Zuarbeit längst in die Industrie integrieren mussten. Beziehungsarbeit, die zur Reproduktion der Arbeitskraft zählt, denken Negt und Kluge in einer Analogie zur Naturalienwirtschaft. Damit sind aber gerade nicht Lebensmittel, Werkzeuge oder Leistungen gemeint, sondern die nicht dinghaften »mimetische[n] Vermögen […] der Berührung, des Blickkontakts, [und der] unmerkliche[n] Übertragung der Gesten«.64 Hiernach entwickelt das Kapital zur Stillung seines Bedürfnisses nach reproduzierter Arbeitskraft einen »Heißhunger[…]«.65 Beziehungsarbeit rettet durch diese mimetischen Vermögen, die in Erziehung und damit in die Herstellung neuer Arbeitskraft eingehen, das kapitalistische System permanent vor der Krise, ohne jedoch entlohnt zu werden.66 Weitet man diese Analogie Negt und Kluges auch auf die Angestelltenkultur der 1970er in Deutschland aus, so zeigt sich, dass der Verwaltungsapparat der Industrie diese Naturalienwirtschaft bereits partiell in seinen Produktionsprozess integrierte 58 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, »Erwerbstätige nach Stellung im Beruf«, 2013, https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/616 98/erwerbstaetige-nach-stellung-im-beruf [15. 10. 2020]. 59 Negt/Kluge, »Geschichte und Eigensinn«, S. 107. 60 Ebd., S. 309. 61 Ebd., S. 320. 62 Ebd., S. 330. 63 Ebd., S. 893. 64 Ebd., S. 919f. 65 Ebd., S. 931. 66 Vgl. ebd., S. 331.

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und durch die mimetischen Vermögen Mehrleistungen aus der Arbeitskraft erbeutete. Diesen Ausbeutungsprozess von Naturalien innerhalb des Betriebs schildert die Sekretärin Heide Sommer in ihrer Autobiografie Lassen Sie mich mal machen. Fünf Jahrzehnte als Sekretärin berühmter Männer67 anhand einer Diktatsituation mit dem Spiegel-Chefredakteur Günter Gaus: Wie schon mit früheren Chefs entstand auch mit Gaus »in der physischen Intimität der Diktatsituation diese leicht erotische Spannung,« die die beiden zwar »nicht ernst nahmen, die [ihnen] aber ein Flirtlächeln ins Gesicht zauberte und den Arbeitseifer enorm ankurbelte.«68 Manchmal aber, ganz selten, wenn er beim Umherwandern an mir vorbeikam, strich er mir sacht mit der Hand über den Nacken und beobachtete interessiert die Wirkung, die das auf mich hatte. Und es hatte eine Wirkung, das war für ihn deutlich zu erkennen, doch lag das eher an meinem sensiblen Nacken als an ihm. Wir machten nichts draus, es blieb bei der leeren, verspielten Geste, einem Hauch von Nichts. Ich fühlte mich weder bedrängt noch beleidigt, und spürte, dass er, der enorm Eitle, stets Unsichere, nach Lob und Bestätigung Lechzende, das nur machte, um seine eigene innere Anspannung, den Druck, ob der Artikel gelingen würde, abzubauen. Die kurzen Berührungen waren seine Blitzableiter, die Blicke eher fragend, Zustimmung erheischend.69

Die im Vorhof der Öffentlichkeit, in der Semi-Privatheit eines öffentlichkeitsproduzierenden Betriebes erzwungene Intimität empfindet Heide Sommer nicht als bedrängend oder beleidigend, sondern interpretiert sie als notwendiges Übel des gelingenden Schreibvorgangs. Diese hermeneutische Leistung ist Gefühlsarbeit, die im nonchalanten Ignorieren der sexuellen Belästigung besteht, um die emotionale Anspannung des Chefs gewerbsmäßig zu entladen. Eine solche Berührung, wie sie Heide Sommer schildert, ist mehrdeutig und richtet sich gleichzeitig an die Sekretärin als Mensch und an die Sekretärin als Schreibgerät. Denn generell gilt, dass Diktierende die Diktatnehmer*in »auf ein quasi-mechanisches Medium«70 reduzieren, mittels dessen gesprochene Sprache in Schrift transformiert wird. Die Ausbeutung ihres Körpers als Erotikquelle und Schreibimpuls ist ein weiterer Verweis auf ihre bloße Zuhandenheit. Andererseits aber ist sie als zuhörende Adressatin der gesprochenen Rede auch inhaltliche Lieferantin, die gerade dann auftritt, wenn der Chef und Autor in der Krise steckt: Ist er »an einem toten Punkt« seines neuen Projektes angelangt, möchte er sich, 67 Sie war Sekretärin von Helmut Schmidt, Rudolf Augstein, Carl Zuckmayer und Fritz Raddatz, auch Günter Gaus. 68 Ebd., S. 122. 69 Ebd., S. 122f. 70 Sabine Gross, »Fremd Schreiben. Situative und mediale Aspekte des Diktats«, in: Natalie Binczek/Cornelia Epping-Jäger (Hg.), Das Diktat. Phono-graphische Verfahren der Aufschreibung, Paderborn 2015, S. 73–93, hier S. 85.

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ganz wie es Kleist anhand seiner Schwester beschrieben hat,71 »gerne einmal mit seiner Sekretärin [darüber] unterhalten […], die von der Sache nichts versteht. […] Das brave Zuhören allein, das die Sekretärin überzeugend darzutun vermag, setzt die unterbrochene Gedankenreihe wieder in Bewegung.«72 Ihr mimetisches Vermögen macht sie auch nicht ohne Weiteres durch eine Maschine ersetzbar, denn wer »einem Menschen zu diktieren gewöhnt ist, hat oft große Schwierigkeiten bei der Umstellung auf ein (doch so gefügiges) Diktiergerät«.73 In dieser Hinsicht kommt auch den Mitarbeiterinnen Negt und Kluges eine »Auswirkung auf den ganzen Inhalt und die Kooperation«74 zu. Aufgrund intensivierter Aushandlungsprozesse, wie sie in Diktatszenen mit mehr als zwei Personen vorauszusetzen sind, könnte man vermuten, dass bei Negt, Kluge und deren Mitarbeiterinnen Konflikte gehäuft auftraten. In deren Kooperation fungierte die Sekretärin aber interessanterweise gerade nicht als Gefühlsarbeiterin, die diese Konflikte zu lösen hätte. Diese Aufgabe übernahm vielmehr der Sekretär, nämlich das Schreibmöbel: Wenn sie »manchmal wochenlang« diktierend am gemeinsamen Schreibtisch saßen, so Oskar Negt in seinem »Einblick in die Werkstatt«, und aufgrund persönlicher Unstimmigkeiten plötzlich »Nervosität auftrat, haben [sie] den gemeinsamen Tisch verlassen,« um erst nach oft monatelanger Kommunikationspause »an denselben Tisch mit den liegen geblieben Manuskripten und Büchern«75 zurückzukehren. Der Tisch der Autoren darf, übrigens im Unterschied zu jenem der Sekretärin, die individuellen Spuren seiner Benutzer in Form von liegengebliebener Arbeit tragen und so die Arbeitsbeziehung stabilisieren. Es ist also gerade nicht die Sekretärin, die abwiegelt, sondern das Verstreichenlassen von Zeit und der Tisch, der die strittige Situation konserviert, emotionale Spannungen abbaut und zum gewünschten Textresultat führt.76

71 Kleist, Heinrich von, »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«, in: Der Zweikampf. Die heilige Cäcilie. Sämtliche Anekdoten. Über das Marionettentheater und andere Prosa, Stuttgart 1986, S. 88–94. 72 Gerlach, Die perfekte Sekretärin, S. 49. 73 Ebd., S. 86. 74 Negt/Kluge, »Geschichte und Eigensinn«, S. 1245. 75 Negt, »Meister der Verschlüsselungen«, S. 193. 76 Vgl. Annegret Pelz/Christian Wimplinger, »Ein Tisch – zwei Autoren – eine Sekretärin. Kooperatives Schreiben bei Negt und Kluge«, in: Daniel Ehrmann/Thomas Traupmann, Kollektives Schreiben, Paderborn 2022, S. 149–168. [Zur Genealogie des Schreibens, Bd. 28].

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Trialer Schreibprozess, duale Autorschaft Analysiert man den Schreibprozess in der Arbeitskonstellation Negt und Kluge, wird die systemrelevante Stelle der Dritten im Raum augenfällig. Sie ist es, der das Gedachte »gleich diktier[t]« wird, um den Autoren Kopf und Hände freizuspielen, die so abwechselnd Gedanken formulieren und zur selben Zeit kritisch prüfen können.77 Die assoziationsreiche mündliche Rede stärkt die »Rohstoffebene«,78 hält den Diskurs länger im Bereich der »Erwägung«79 und bringt die gewissermaßen illegitime Grammatik eines historischen und gesellschaftlichen Erzählstroms ins Spiel, die der bloß »äußerlich-sprachlichen Grammatik […] einer an sprachliche Ausgrenzung gewöhnten Ober- und Mittelschicht [überlegen] ist«.80 Im Resultat ist Geschichte und Eigensinn sowie davor schon Öffentlichkeit und Erfahrung jedoch ein Produkt dualer Autorschaft. Das zeigen die Entscheidungen in der Buchgestaltung, die daran anschließende Diskussions- und Rezeptionspraxis und vor allem der Nachdruck der Bücher. Denn ein Werk nachdrucken zu lassen, ist seit ca. 1800 ein Recht, das in Deutschland Autoren vorbehalten bleibt.81 Ebenso nachdrücklich in Der unterschätzte Mensch wird die Frage behandelt, wer die Autoren des neuaufgelegten Werkes sind: »Wir haben über die Jahre hinweg zu zweit gearbeitet, daher der Ausdruck: gemeinsame Philosophie«.82 Die Sekretärinnen sind also, wenn es um das Werk geht, nicht mehr an der Hervorbringung der gemeinsamen Philosophie beteiligt. Der unterschätzte Mensch ist mit einer Reihe von Texten verknüpft, in denen sowohl Negt als auch Kluge für sich den gemeinsamen Schreibprozess reflektieren.83 An diesen Erinnerungstexten fällt auf, dass den Mitarbeiterinnen, anders als in der Nachbemerkung zu Geschichte und Eigensinn von 1981, keine inhaltliche Auswirkung mehr zugesprochen wird. Auch werden sie nicht erneut namentlich genannt, sondern anhand ihrer Funktion aufgerufen. In dem Moment also, in dem über die gemeinsame Autorschaft in Form einer Werkausgabe Bilanz gezogen wird, treten in der Reflexion der Autoren die inhaltlichen Anteile der Mitarbeiterinnen am Werk wieder zurück.

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Vgl. Kluge, »Momentaufnahmen aus unserer Zusammenarbeit«, S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 9. Ebd., S. 11. Zum genaueren historischen Hintergrund: Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft, S. 97–107. Oskar Negt/Alexander Kluge, »Vorwort«, in: Der unterschätzte Mensch, Bd. 1, Frankfurt/M. 2001, S. 17ff., hier S. 17. 83 Kluge, »Momentaufnahmen aus unserer Zusammenarbeit«; Negt, »Meister der Verschlüsselung«; Negt, »Vertrauen und Kooperation«.

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Fusionierende Gruppen Gemäß ihrem Selbstanspruch ist Negt und Kluges Werk nach seinem Prozessund Fragmentcharakter zu bewerten.84 Seine Entstehung verknüpft Kluge außerdem mit der Haltung der antiautoritären Bewegung, wie sie in den späten 1960er Jahren in Frankfurt gelebt wurde. Dort geht es »um das Verhalten fusionierender Gruppen, um etwas, das nicht festgelegt ist und sich auch nicht festlegt«,85 so Kluge. Ohne Sartre zu nennen, auf den der Begriff der fusionierenden Gruppe zurückgeht, gibt ihm Geschichte und Eigensinn eine feministische Deutung, wenn es heißt, dass fusionierende Gruppen vor allem bei »kooperativ tätige[n] Frauen«86 beobachtbar seien. Bei drohender Gewalt von außen fusioniert die von der Aggression betroffene Menschenansammlung spontan und organisiert sich nach Maßgabe der »Intensität der Gefühle, Intimität der Situation, und nicht [durch] eine äußere Anordnung«.87 Wäre der Gruppenzusammenhalt stark genug, würden in ihr »Öffentlichkeit und Intimität«88 eine Einheit bilden. Allerdings sind die Organisationsformen fusionierender Gruppen zu schwach, um »libidinös verwurzelte starke Besonderheiten jeder Frau zur Abtrennung und Neubindung zu bringen«,89 weshalb sie immer nur für kurze Zeit bestehen. Auch der studentischen Protestbewegung in Deutschland, in der die Frauenfrage unterschwellig kochte, misslang der Spagat zwischen Öffentlichkeit und Intimität. Das machten die Delegiertenkonferenzen des ›Sozialistischen Deutschen Studentenbundes‹ (SDS) am 13. September und 20. November 1968 deutlich, an denen der gerade erst gegründete Aktionsrat zur Befreiung der Frau seine Thesen präsentierte. Die »vom politischen Kampf ausgenommene[…] Privatsphäre«90 sei jener Bereich, in dem Frauen unterdrückt werden, was aber nicht öffentlich zur Sprache gebracht werden dürfe, weil das Private als unpolitisch diffamiert sei. Nachdem die Delegiertenkonferenz bezeichnenderweise daraufhin abgebrochen worden war, trug der Aktionsrat bei der nächsten Konferenz 84 Vgl. Negt/Kluge, »Geschichte und Eigensinn«, S. 104: »Im Resultat geht nie der Prozeß auf. Das Resultat selber ist ein stillgestellter Ausschnitt des Prozesses, deshalb ist vom Resultat aus der Gesamtprozeß nicht zu rekonstruieren, aus dem Prozeß auch nicht zwingend das Resultat.« 85 Kluge, »Momentaufnahmen aus unserer Zusammenarbeit«, S. 10. 86 Negt/Kluge, »Geschichte und Eigensinn«, S. 338. 87 Ebd. 88 Ebd., S. 339. 89 Ebd. 90 Aktionsrat zur Befreiung der Frau, »Resolutionsentwurf für die 23. o. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes«, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail. 1946–1995, Bd. 2, München 1998, S. 456–457, hier S. 456.

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seine Behauptung anhand eines provokanten Flugblattes erneut vor.91 Die inhaltlichen und organisationsbezogenen Vorwürfe der Frauen bestätigten sich in den darauffolgenden männlichen Reaktionen in Form von erneuten Ausgrenzungsversuchen des Themas und obszönem Spott.92 Laut Negt und Kluge nahmen die »Frankfurter SDS-Gruppierungen« eine dritte Position ein, die »eine Vermittlung« zwischen den zwei weiteren rivalisierenden SDS-Gruppen versuchte, allerdings erfolglos.93 Die einander wie Fremde gegenüberstehenden Fraktionen fanden zu keiner fusionierenden Gruppenpraxis. Für Jean Paul Sartre, der den dialektischen Entstehungsprozess von einer Ansammlung zu einer fusionierenden Gruppe anhand des Pariser Viertels Saint Antoine am Tag des Sturms auf die Bastille nachzeichnet, ist es gerade die Inklusion des Dritten,94 die die Dialektik vom Ich und dem Anderen aufbricht und die Gruppe fusionieren lässt. Würden die Fraktionen im SDS jeweils einander als Dritte begegnen, könnten sie wechselseitig »jede Vielheit innerhalb [ihres] Aktionsfeldes […] vereinigen.«95 Negt und Kluge verstehen wohl aufgrund des historischen Hintergrundes in Frankfurt 1968 die fusionierende Gruppe als gemeinsame Realisierung von vor allem weiblichen Arbeitseigenschaften, im Gegensatz zu Sartre, für den geschlechtsspezifische Fragen in diesem Zusammenhang keine Rolle spielen. Für Kluge ist die Haltung einer fusionierenden Gruppe für seine Kooperation mit Negt maßgeblich, wenngleich offensichtlich keine drohende Gewalt die Gruppe im Schreibzimmer formiert, sondern, was die Sekretärinnen betrifft, »eine äußere Anordnung« in Form einer Geschäftsbeziehung. Die beiden Autoren schätzen Karin Niebergall und Elfriede Olbrich als intelligente Mitarbeiterinnen und erfahrene Textproduzentinnen, ihre weibliche und berufliche Sozialisation schlägt sich jedoch nicht im Text durch. Auf die Autoren trifft in dieser Hinsicht der Satz aus Geschichte und Eigensinn, dass in »der gesamten Geschichtsfolge […] Frauen etwas [produzieren], das die Männer anschließend aneignen und veröffentlichen«,96 sicherlich nicht zu.

91 Vgl. Wolfgang Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail. 1946–1995, Bd. 1, München 1998, S. 372. 92 Vgl. Der Deutschland-Komplex – 21.915 Tage Bundesrepublik, https://www.dctp.tv/filme/ne ws-stories-14-06-2009 [15. 10. 2020], München: Kairos Film 2009, 01:11:47–01:12:20. 93 Negt/Kluge, »Geschichte und Eigensinn«, S. 881. 94 »In dem Maße nämlich, wie die Möglichkeit einer Unterdrückungsaktion gegen das SaintAntoine-Viertel sich als immer wahrscheinlicher erweist, ist ein Bewohner dieses Viertels als Dritter direkt bedroht.« Jean-Paul Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 393. 95 Ebd., S. 394. 96 Negt/Kluge, »Geschichte und Eigensinn«, S. 330.

Alexander Kluge

Auszüge aus dem Habermas-Kommentar1

1 Die nachfolgenden Geschichten beziehen sich auf das Buch von Jürgen Habermas Auch eine Geschichte der Philosophie, erschienen 2019 im Suhrkamp Verlag.

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Sehr geehrte Damen und Herren, Bei dem Brand der Bibliothek von Alexandria, den das kaiserliche, siegende Christentum auslöste, weil einer der Patriarchen dieses Christentums das alexandrinische Volk aufrief, die Bibliothek, Hort des Heidentums, anzuzünden, fiel eine Tragödie des Sophokles dem Feuer zum Opfer. Die Tragödie handelte vom »Tod des Odysseus«. Erhalten sind nur Fragmente, zwei Halbsätze und ein verstümmelter Satz, zitiert in fremden Dramen. Was tun? Wir müssen dieses Werk neu herstellen. Können wir das nicht als einzelne Autoren, dann zu vielen. Ich glaube, dass GROSSE WERKE durch Feuer nicht endgültig vernichtet werden können. Sie selber bestehen aus Feuer. Sie haben diesen Charakter und sind daher immun gegen das bloße Angezündetwerden durch eine Meute. Das weiß ich, »weil ich es mir wünsche«. Aus den drei Fragmenten in fremden Texten allein können wir das Drama des Sophokles nicht rekonstruieren. Wir können uns die Umstände, unter denen »das Leben des Odysseus endete«, nur ausdenken. Der Held ist gealtert. Penelope längst tot. Ein Sohn, den er mit der Göttin Kirke zeugte, und der erst nach der Flucht des Odysseus von Kirkes Insel geboren wurde und von dem der antike Held nichts weiß, hat sich mit Gefährten zu Schiff auf den Weg gemacht. Über das Mittelmeer gelangt er an den Strand Ithakas. Wie sein Vater auf der Rückfahrt von Troja bei seinen Plünderzügen an verschiedenen Küsten, lebt der Sohn vom Rinderraub, von der Brandschatzung von Küsten. Das Orakel hat dem Odysseus mitgeteilt, dass er durch seinen »leiblichen Sohn« sterben werde. So hat Odysseus seinen erstgeborenen Sohn Telemachos, der ihn jetzt gegen die räuberische Horde, die in Ithaka landete, hätte schützen können, aus dem Lande verbannt. Daher muss jetzt der alte Mann, dem die Rüstung für den schmal gewordenen Leib zu groß geworden ist, dem JUNGEN GEGNER allein gegenübertreten. Minuten später liegt er erschlagen da. Aus dem Geiste des Jahres 2021 neu erzählt, verwandelt sich das Drama in eine ÜBERSICHT. Es ist unserem Autorenkollektiv gelungen, in einem ersten Entwurf die Erzählung, die vermutlich den Hauptinhalt der Tragödie des Sophokles ausmachte, bereits in der ersten Szene wiederzugeben. Dazu sind nicht mehr als acht Minuten nötig. Der Prosatext dieser ersten Szene wurde durch den Komponisten Mark Andre vertont. Die folgenden Szenen (und wir fordern andere Autoren und Künstler auf, durch Gegenentwürfe das Konvolut, den »Aufstieg des Phönix«, zu begleiten und zu bereichern) sind ohne Musik. Eine Umkehrung gegenüber der Tragödie des Sophokles enthält ein keltischer Mythos: Der altgewordene Held Hildebrand – Waffenmeister Dietrichs von Ravenna (im Nibelungenlied verstümmelt: »Bern«) – trifft bei seiner Rückkehr in die Heimat in einem engen Alpental, das kein Ausweichen zulässt, auf seinen Sohn Hadubrand. Dieser Sohn ist auf der Suche nach dem sagenhaften Vater. Er

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hat diesen Vater zuletzt gesehen, als er vier Jahre alt war. Als Hildebrand seinen Namen nennt und behauptet, dieser Vater zu sein, erklärt ihn der Sohn für einen Scharlatan, einen Aufschneider. Sein Vater, so Hadubrand, sei nämlich jung, rüstig und wehrhaft, kein Klappergreis. Die beiden geraten in ein hitziges Gefecht. Hadubrand hat das Raffinement seines Gegners unterschätzt: die GELEHRSAMKEIT des Hildebrand, was Waffengebrauch, Listen, Körperbeherrschung und Kenntnis der Schwachstellen des Gegners betrifft. Eine gewisse Zeit später liegt Hadubrand erschlagen auf der Gebirgswiese. Nichts trostloser für Hildebrand als dieses Ergebnis seiner Heimkehr. Der Mythos spiegelt eine lange, düstere Vorgeschichte. Väter töten ihre Söhne. Söhne töten die Väter. Brüder verbinden sich zum Vatermord. Schon in Szene 3 der kooperativ entwickelten Nachbildung der verlorenen Tragödie des Sophokles enthält der Dramenentwurf unseres Teams eine Übersicht über 66 ähnliche Fälle. In einem Exkurs geht es um die MYTHISCHE SEITENLINIE der »Opferung des Erstgeborenen«. Dieser Teil des Dramenentwurfs ist facettenreich und wird durch Filme unterbrochen. Erst der Engel, der Abraham hindert, seinen Erstgeborenen Gott zum Opfer zu bringen, zeigt, dass die Urform eines Gesellschaftsvertrages, der FAMILIENVERTRAG, das Morden unterbricht. Die mythische Erzählung folgt dem tatsächlichen Geschehnis nach. Einige Jahrtausende lang, scheint es, wird dieser Familienvertrag permanent neu erfunden und geschlossen. Dann wieder gebrochen und vergessen, erneut geschlossen, solange bis er endlich mehr oder minder Bestand hat. Der Tod des Odysseus und die – in umgekehrter Konstellation (Vater tötet Sohn) – Geschichte des Todes von Hadubrand sind Ausreißer am Ende der tragischen Reihe. Zum vorläufigen Abschluss des Entwurfs fehlen uns sechs weitere Szenen. Für eine davon liegen tagebuchartig skizzierte Entwürfe des Dramatikers Heiner Müller vor. Müller bewegt die Beobachtung, dass der mit viel Blut besiegelte Pakt, dass künftig nicht Väter die Söhne und nicht Söhne die Väter, nicht Väter die erstgeborene Tochter (wie Agamemnon die Iphigenie) und niemand die Mütter, die Mütter wiederum nicht ihre Kinder umbringen – der FAMILIENVERTRAG also, der die Voraussetzung für den späteren GESELLSCHAFTSVERTRAG darstellt –, die Ursache dafür ist, dass künftig sich die Mordlust nach außen wendet. Es geht nunmehr darum, statt der Eigenen Fremde zu töten. Die Aggression endet durch keinen dieser Verträge, so Müllers resignative Behauptung. Erst der SIEBTE Vertrag – nach Familienvertrag, Gesellschaftsvertrag und »fünf weiteren Verfassungen des Menschengeschlechts« – habe Aussicht darauf, dass statt Menschentötung das Zerschlagen von großen Massen Porzellan zur Befriedigung des immer erneut aufsteigenden Zorns ausreicht. Ein Chor besingt, am Schluss von SOPHOKLES 2021, »die Schwierigkeit, das Menschengeschlecht zu zähmen«. Die Hoffnung auf den Siebten Vertrag liegt, so Müllers Formulierung, weit jenseits aller Perioden des NATIONALISMUS.

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Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, dass die Bilder von Thomas von Aquin oder von William of Ockham, so wie sie in Großbuchstaben von Handschriften eingemalt und uns überliefert sind, realitätsgetreue Porträts darstellen. Sie sind Ikonographie, Zuschreibungen in Bildform. So porträtiert das Bild von Thomas die Anerkennung, die er genießt: KÖRPERLICH BREITSCHULTRIG UND INSGESAMT FEIST, VOLL DES SPECKS DER HOCHACHTUNG ALLER. Ich aber wette mit Ihnen (um was, das müssen Sie mir vorschlagen!), dass Thomas bis in sein höheres Alter ein Wenig-Esser, ein schlanker Körper war. Erst der Umfang seines wachsenden Ruhms machte seine Bauchpartie unmäßig. Die ikonographische Kennzeichnung (machtvoller Körper) wiederholt sich nicht für den Spätscholastiker William of Ockham. Alle Bilder von ihm zeigen ihn als einen filigranen, dünnen, »vergeistigten« Körper. Eine Köchin würde den Mann päppeln wollen. Fischöl her, Mehlspeisen. Etwas Alkohol. Nur, um ihn lebendig zu halten! Das Bild aber bedeutet in Wahrheit, gleich ob er im Leben dick oder dünn war: Er ist Repräsentant einer Minderheit. Er darbt, was öffentliche Zustimmung betrifft. Das ist der Grund dafür, sage ich als Kenner der Ikonographie des 12. Jahrhunderts, dass er nicht fett gemalt wird wie ein Luther, sondern schmalgliedrig wie ein »Vorläufer«: der Vorläufer Johannes. Was er vermag: Er objektiviert den »gelehrten Blick«. Keine Gemengelage von Hoffen, Wünschen, Zitaten, Beobachtung. Indem meine Wissenschaft sich die Dinge aneignet, »objektiviere« ich. Dann – so führt Jürgen Habermas die Beobachtung weiter – werde ich aber auch nach innen, zu meiner Subjektivität hin, objektivieren. Ich werde zu »einem Ding, das denkt«. Das ist der Anfang der »künstlichen Intelligenz«.

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Beginn eines philosophischen Seminars inmitten des aufgeregten Dezembers 1968 an der Universität Frankfurt am Main Der Jurist und legendäre Soziologe Niklas Luhmann, direkter spiritueller Nachkomme des Amerikaners Talcott Parsons, entwickelte in dem Seminar im Dezember 1968, in welchem er an der Johann Wolfgang Goethe-Universität während des Sabbaticals Adornos diesen in seiner Planstelle vertrat, eine POLITISCHE ÖKONOMIE DES INTIMEN. Das Seminar hatte den Titel Liebe als Passion. Plan war eine einigermaßen exakte Analyse der Formen, in denen Menschen aus ihrer in individuelle Lebenshäuser getrennten Welt auch aus ihrem sozialen Kontext ausbrechend, einander die Erlaubnis erteilen, intime Beziehungen aufzunehmen. Dazu, so trug Luhmann vor, muss man den Begriff Liebe zunächst wie ein Fremdwort, nämlich als ein Zeichen dafür verstehen, was ich nicht weiß, was ich also durch Untersuchungsarbeit – hier fiel ein Stichwort, das den mehrheitlich sozialistisch denkenden Studenten aus der chinesischen Theorie vertraut war –, also durch Sammeln, Sortieren, Miteinander-ins-Verhältnis-Bringen und anderen Arbeitsformen des Denkens herstellen muss. Ich stelle zunächst die Fremdheit davon her. Erst dann kann ich mich damit verbrüdern. Die Chiffren Liebe und Passion wie eine altägyptische Hieroglyphe. Und zwar als ein Bild, Zeichen oder besser als ein Vakuum, fremd wie eine Hieroglyphe vor Entdeckung des Steins von Rosette, der die Übersetzung der antiken Hieroglyphen in das demotische Neuägyptisch und das Griechische nebeneinanderstellte. Nehmen Sie weiter an, es gäbe außer der Unbekanntheit des Wortes in der Praxis mehr als siebzehn verschiedene Formen des Sich-Liebens. Nur einige davon handeln von der Annäherung der Geschlechter und von erotischen Attraktoren. Wiederum andere handeln von Hoffnungshorizonten, einem inneren Zentrum im Menschen, das von den Vorfahren, den Eltern oder von gewissen Einbildungen angelegt ist, aber einen Vorrat von Brennmaterial, nämlich Passion, enthält, das mit einem Funken entzündbar wäre. Den aktivistisch gesinnten Studenten, die sich in geringer Zahl aus dem Protest, der überall auf dem Universitätsgelände sich ausbreitete, gelöst und in diesem Seminar eingefunden hatten, waren das schon zu viele Worte. Ich kenne den Begriff nicht, fuhr Luhmann ohne Rücksicht auf die sich im Raum verbreitende Unruhe fort, wenn ich ihn nicht zuvor versammle. An die frischgeschaffene gedankliche Leerstelle im Kopf setzt sich vermutlich statt des zu suchenden Begriffs für »Liebe«, so Luhmann, zunächst eine Fülle von Schlagertexten, Liebeserzählungen und zahlreichen bildhaften Vorstellungen von Liebe und Leidenschaft, möglicherweise auch von Abneigung und Trennungsschmerz. »Ich weiß, dass ich nichts weiß« ist schwer herzustellen.

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Liebe sei die Erlaubnis eines Menschen gegenüber einem bestimmten anderen, gemeinsam intim zu werden, nahm Luhmann seinen Faden wieder auf. Immanuel Kant spreche etwas »angelsächsisch«, verkürzt und an die Maschinensprache angelehnt, von einem »Vertrag zum wechselseitigen Gebrauch der Geschlechtswerkzeuge«. Das lasse einen größeren Teil der Ereignisse, die nur gemeinsam die Intimität ausmachen, außer Betracht. Die Kürze von Kants Formulierung sei vermutlich dem Wunsch geschuldet, Phrasen zu vermeiden. Es sei eine gute Methode, an diesem schwierigen Doppelgegenstand LIEBE und LEIDENSCHAFT Worte und Sätze zu erproben, wenn etwas von diesen Worten an der vorgestellten Erfahrung abprallt, findet sich vielleicht ein anderer Ausdruck. In jedem Fall werde das Vorstellungsvermögen »aufgemischt«. Die Haltung, in der Luhmann sprach und auf der er mit ruhiger Intensität bestand, schuf eine heikle Situation inmitten unwilliger studentischer Zuhörer.

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Wie zwei Liebende sich trotz Schwierigkeiten im Winter 1941 näher kamen Er kam im Winter 1941 auf zehn Tage Heimaturlaub von Lappland ins Reich. Wie ein Hindernislauf zwischen ihm und der geliebten Frau der Ritus der Weihnachtstage. Essen, Geschenke, Besuche, geschlossene Öffentlichkeit, Kirchenbesuche, Schneeräumen, Aufräumen. Der Liebesdruck, der in seinem Kopf und Körper über das Jahr hin sein Wesen getrieben hatte, war nicht fähig, das Schema der »Festtage« zu durchbrechen. Was vermag die »Gewalt der Liebe«? Wie mächtig ist der »Ernst des Krieges«? Beide starken Kräfte, Liebe und Krieg, können gegen die Kürze der Urlaubszeit, die Beharrlichkeit der »Sitten ab 24. Dezember« nichts ausrichten. Die Einteilung der Festtage – unter Eingemeindung des als Wochentag firmierenden 24. Dezembers – bestand aus zwei Feiertagen, sodann aus Samstagen und Sonntagen und dem Kontingent um Silvester und Neujahr. Die letzteren Tage waren schon jenseits seiner Abfahrt. Vierzig Stunden für Herantransport und Rückkehr an die Front waren nämlich vom Heimaturlaub abzuziehen. War die Kürze der Zeit, die für kein ruhiges Tun, kein langsam wachsendes Gefühl Raum ließ, das schärfere Schneidemesser oder war die »besessene Eintracht«, die zum »Feiern«, zu den »gemeinsamen Mahlzeiten«, zum Ausschmücken der Räume, zu rituellen gemeinsamen Spaziergängen verpflichtete, das schlimmere Werkzeug, das die verliebte Nähe beschnitt, die sich der Urlauber wünschte und die seine Geliebte ihm gerne gewährt hätte? Kein Kuscheln, kein Ausschlafen, keine »heilige Nüchternheit«, kein Traum. Am dritten Tag hatten er und die geliebte Frau eine Darmkolik. Alles Innere geriet in Fluss. Der ruckartige Übergang von kargen Mahlzeiten auf plötzliche Fettlebe ruinierte ihnen das System von Magen, ja vom Schlund abwärts über die ganze »Röhre, die den Körper teilt« bis zum UNTEREN ENDE. Bei Tisch sahen sie einander in die Augen. Zweiflerisch. Entkommen in ein Bett zur Tageszeit oder ein Treffen in einer Kellernische war unmöglich. Familie und Besucherschaft wachten. Es war ein kleiner Ort, in dem sie lebten. Enge Verhältnisse. Auch hätte ihnen ein kurzfristiges Entkommen aus der Festrunde nach dem dritten Tag nicht mehr geholfen. Durch die Sabotage der Körpersäfte und des Darmes (eine Art Volksaufstand) waren die erotischen Vermögen dezimiert. Ein schwaches Lächeln brachten sie zustande. Immerhin gab es Intimität dadurch, dass sie einander auf der Toilette halfen. Beide fühlten sich schwach. Auch liehen sie einander Unterwäsche. Die Unterkleidung war so rasch befleckt, dass sie nicht so rasch trocknete, wie sie gewaschen werden musste. In einteiliger Militärunterhose sah die Liebste bezaubernd aus. Darüber mussten beide lachen. Sein Körper, einst mit dem Begriff Stattlichkeit konnotiert, wirkte in improvisierter Unterhose grotesk. DAS LÄCHERLICHE IST DER FEIND DES ERHABENEN. Und so

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konnten sie in dem Rest der zehn Urlaubstage (abzüglich nämlich des Transports von und nach Lappland) die »hohen Empfindungen«, von denen beide Liebenden wussten und über die sie einander Briefe geschrieben haben, im Moment nicht aktualisieren. Nicht unter den herrschenden Bedingungen der Festtage. Nichts wollte gelingen. Schon packte er für die Abfahrt.

Marcus Steinweg

Notizen zu Alexander Kluge

1.

Komplexität

Verlässlichstes Indiz der Dummheit: die Unfähigkeit zur Differenzierung. Dummheit ist immer pauschalierend, grob und gewalttätig. Es gibt sie nur selbstgerecht. Was meint Alexander Kluge, wenn er von der kritischen Kompetenz der Gefühle spricht? Nicht narzisstische Hyperirritabilität, sondern die Fähigkeit, auf Differenzen präzise zu reagieren = die Bereitschaft, auf der Höhe der Komplexität der Realität zu operieren. Dafür braucht es Beharrlichkeit und Fantasie.

2.

Aufklärung

Sollen wir Aufklärung nennen, was »Spurenelemente von Vernunft […] über die Welt verteilt« oder sind es »Spurenelemente von Chaos […] die Aufklärung hervorbringen«? Kluge richtet die Frage an Heiner Müller, der die »Aufgabe der Intelligenz« darin erkennt, »Chaos zu schaffen«, um »alle Illusionen, alle Koalitionen, alle Allianzen in Frage [zu] stellen.«1 Letztlich geht es darum, die Opposition zwischen Vernunft und Chaos zu komplizieren. Was tut Vernunft anderes, als Chaos in die Welt zu bringen und was leistet Chaos, wenn nicht die hypervernu¨ nftige Infragestellung des Vernunftchaos, das der rationalistische Totalismus ist? Die Dialektik der Aufklärung lässt Vernunft und Chaos in eine Wechselwirkung treten, die keine der beiden Seiten der jeweils anderen vorzieht. Wir haben uns daran gewöhnt, die Geburt des Logos aus dem Chaos oder Mythos als Emanzipation des Denkens vom Irrationalen zu beschreiben. Zugleich wissen wir, dass die Emergenz der Vernunft in der prärationalen Chaossphäre ein Gewaltereignis darstellt, das chaotische Effekte generiert. Ins System Natur/Kultur übersetzt heißt dies, dass wir, indem wir vom Mythos einer die »wilde« Natur substituierenden Kultur Abstand nehmen, nicht zur Gegenideologie einer durch 1 Heiner Mu¨ ller, Werke 12. Gespräche 3: 1991–1995, Frankfurt/M. 2008, S. 294f.

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Marcus Steinweg

die Kultur ihrer »Unschuld« beraubten Natur wechseln können. Weder ist die Natur wild, rein und unschuldig, noch die Kultur zivilisatorisch oder gewaltsam. Um es so primitiv wie möglich zu formulieren: Das eine ist nicht besser als das andere. Weder ist Natur gut und Kultur böse, noch umgekehrt. Aufklärung beginnt mit der Suspension dieser Anthropomorphismen. Zur Komplexität gehört, sich jenseits von Gut und Böse zu artikulieren. Was im Namen (tendenziell faschistoider) Naturalismen und (ideologischer, religiöser) Kulturalismen an interessensorientierter, strategischer oder irrationaler Gewalt, Brutalität und Grausamkeit geschieht, ist das Produkt des Austritts des Subjekts aus der Aufklärungsdialektik. Statt sich auf der Höhe der Komplexität seiner Welt zu bewegen, reduziert es diese Komplexität zugunsten einer Einseitigkeit, die es Wahrheit oder Gerechtigkeit nennt. Sollte es sinnvoll sein, in diesem Zusammenhang von Wahrheit und Gerechtigkeit zu sprechen, dann lehrt uns die Dialektik der Aufklärung, dass sie auf Seiten der Komplexität, statt der Einseitigkeit stehen.

3.

Nähe zu Roland Barthes

Von Roland Barthes lässt sich lernen, was die politische Deklamation sich kaum erlaubt: ausdifferenzierter Sprachgebrauch. Die Genauigkeit seiner Sätze verdankt sich feinster Sensorik. Immer transportieren seine Texte so etwas wie Empfindung, taktile, haptische Sensibilität. Ähnlich macht es Kluge, der die erkenntnistheoretische Urteilskraft auf Hitze-Kälte-Wahrnehmung, auf vorbewusstseinsmäßige Rezeptivität zurückführt. Fraglich bleibt, ob das auf dieser Stufe Erfahrene in Begriffe zu fassen sei, oder ob nicht Wörter an ihre Stelle treten müssen, um den Singularitätswert des Gespürten zu erhalten, ihn nicht überhastet zu generalisieren. Barthes’ Schreiben bewegt sich auf der (porösen, durchlässigen, unentscheidbaren) Trennscheide von Wort und Begriff. Daher der »poetische« Zug seiner Bücher, noch wenn sie wissenschaftlich ausfallen. Nie erliegen sie der Versuchung zur Sentimentalität. Barthes ist Lacanianer genug, um die Falle des Imaginären zu umgehen. Dabei hilft ihm Genauigkeit, Disziplin im Umgang mit Sprache, von der er weiß, wie folgenreich sie lügen kann. Mit der Doxa steht er auf Kriegsfuß, wie mit dem Empfindungskitsch schlechter Literatur. Kafka ist der Maßstab. Ein Denken und Schreiben, das in der Beschreibung von Ohnmacht und Verzweiflung Ruhe bewahrt. Die gelassene Aufzeichnung ruheloser Verhältnisse fordert ein Minimum an Unaufgeregtheit angesichts dessen, was einem leicht den Atem nimmt. Die Politizität Barthes’ liegt in der Weigerung zu deklamieren oder zu poltern – durch Differenzierungsbereitschaft, die er zur Bedingung der Möglichkeit politischer Sensibilität erklärt. Ähnlich verhält es sich bei Kluge.

Notizen zu Alexander Kluge

4.

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Löcher

Momente, die zu politischer wie philosophischer Ratlosigkeit führen, nehmen den Verantwortlichen die Sprache. Unter Berufung auf Hegel und Hölderlin nennen Oskar Negt und Alexander Kluge diese Momente solche der Antwortlosigkeit.2 In ihnen mündet das ohnehin begrenzte Wissen vom Geschehen in Hilflosigkeit. Kontinuitäten und Kausalitäten, selbst lose Serien und bloße Wahrscheinlichkeiten, werden gesprengt. Da sind nichts als fluktuierende Elemente. Der Ordnungszusammenhang fehlt, das Prinzip, die Linie. Das Maß ist verloren gegangen, die Subjekte irren in blinder Objektivität. Im Inkommensurablen lösen sich die Zusammenhänge auf. Zumindest büßen sie ihre Plausibilität ein. Dem Denken gehen die Lichter aus. Als Element unter Elementen droht es sich zu verlieren. So ungewöhnlich solche Augenblicke erscheinen mögen, sie exemplifizieren das Reale der Realität. Nicht, dass es Realität nicht gäbe, doch ihre Kohärenz fehlt, das Subjekt erfährt ihre Kontingenz als Notwendigkeit. Das »Verwirrende« und »Zerreißende« sowie die »Inkongruenz des Subjektiven und des Objektiven« bringen das Quasiprinzip der Nichtidentität zur Geltung. Der Wirklichkeitsstoff hat Löcher. Er ist kaum mehr als eine Multiplizität benachbarter Löcher, was nicht heißt, dass sie nicht miteinander verbunden sind. Es gibt Knoten und Linien. Statt Stabilität nur zu suggerieren, exemplifizieren sie sie auch. Ein Minimum an Identität und Repetitivität kann ein Maximum an historischer Blindheit provozieren. Sie ermutigt zu einem Vulgärhegelianismus, der die Substanz durchs Subjekt substituiert sieht. Das behauptet vor allem nicht Hegel. Der Ort, an dem das Hegel’sche Subjekt auf sich trifft, ist die Wasserscheide von Objekt und Subjekt. Denken heißt, mit dem Undenkbaren als Gegenstand des Denkens zu rechnen. Und dieses Rechnen schließt das Inkommensurable in seine Kalkulationen ein.

5.

Gewebe, Fragment, Text

Dass die von Jacques Derrida Text genannte Textur Löcher aufweist, verhindert ihre Selbstschließung zum Buch. Dem Text eignet Unabschließbarkeit. Er ist löchrig = franst ins Unendliche aus. Der phonologozentrischen Metaphysik der Schließung (clôture) und Abschließbarkeit hält Derrida das Modell des unabschließbaren Textes entgegen, vergleichbar dem, was Maurice Blanchot entretien infini nennt, unabschließbares Gespräch. Doch die Sache ist komplizierter. Auf dieser Kompliziertheit zu insistieren, nennt Derrida Dekonstruktion. Text und 2 Vgl. Oskar Negt/Alexander Kluge, Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen, Frankfurt/M. 1993, S. 21.

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Buch bilden keine einfache Opposition aus. Sie würde den Rückfall ins Binärsystem metaphysischer Provenienz markieren. Vielmehr handelt es sich um eine strittige Komplizität. Sie ist analog zu Heideggers Streit von Welt und Erde (insbesondere im Kunstwerkaufsatz von 1935–1936) aufzufassen. Zu dem also, was Heidegger auch διαφορά nennt: den Austrag oder das Sichaustragen dieses Streits. So wie die komplizenhafte Strittigkeit von ἀλήθεια (Unverborgenheit, Offenheit) und λήθη (Verborgenheit, Verschließung) bei Heidegger zu keiner vulgärhegelianischen (finalen) Synthesis führt. Beide Seiten der jeweiligen Binärkonstruktion stehen in einem Austragsverhältnis zueinander, das weder die Privilegierung einer von ihnen noch ihre Schlichtung oder Harmonisierung erlaubt. Eher handelt es sich um eine Unschärferelation, die die Fokussierung einer Seite nur um den Preis wachsender Unbestimmtheit der anderen erlaubt, ganz gleich welcher man bevorzugt zuneigt. Dieses Unbestimmtheitsmodell, das wir Ort und Impuls eines Elektrons im Atomkern betreffend aus der Quantenmechanik Werner Heisenbergs kennen (Ort und Impuls lassen sich nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmen), eignet sich – in zugegebenermaßen wilder Analogie – zur Charakterisierung des Konflikts von Text und Buch im Denken Derridas. Beide Dimensionen sind unerlässlich. Nie hat Derrida sich gegen das Buch zugunsten des Textes ausgesprochen, obwohl er Letzterem gesteigerte Aufmerksamkeit entgegenbringt. Dies, um zu zeigen, dass es kein Buch gibt, das nicht letzten Endes ein (endloser) Text bliebe, um zudem auf der Notwendigkeit provisorischer Schließungen des Text genannten Gewebes zu insistieren. Statt sich auf eine der beiden Seiten zu schlagen, operiert Dekonstruktion im Sinne Derridas auf der unentscheidbaren Trennlinie beider Register. Sie vermittelt zwischen Konsistenz und Inkonsistenz, Schließung und Öffnung, sodass diese Vermittlung Züge der Unabschließbarkeit, also einer gewissen Endlosigkeit, aufzuweisen beginnt, ohne sich nicht der Gefahr schlechter Unendlichkeit bewusst zu sein, ohne sich also der Notwendigkeit, wie der spätere Derrida ausführt, von Entscheidungen im Unentscheidbaren zu sperren. Was bleibt, sind die Löcher im Gewebe. Sämtliche Realitäten sind durch sie bestimmt. Im Gespräch mit Alexander Kluge, einig mit ihm, insistiert Joseph Vogl unter Verweis auf Kafkas Beim Bau der chinesischen Mauer auf der Notwendigkeit dieser Fragestellung: »Wie baut man ein Werk, das im Wesentlichen aus Löchern besteht? Wie verhindert man ein fertiges Werk?«3

3 Alexander Kluge/Joseph Vogl, Senkblei der Geschichten. Gespräche, Zürich 2020, S. 119.

Notizen zu Alexander Kluge

6.

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Grammatik der Gefühle

Es gibt eine Grammatik der Gefühle, die nicht von ihrer Beanspruchung durchs Narzisstisch-Imaginäre des Subjekts absorbiert wird: eine wilde und flinke Grammatik, wenn man so will, hakenschlagende emotive Intelligenz. Wie jede Intelligenz ist sie Weigerung, sich den nächstliegenden Optionen und Mustern zu ihrer Identifizierung zu beugen. Mit gleicher Intensität verwehrt sie sich kindischer Insistenz auf absolute Singularität. Das Singularitätsbegehren hat ihrem Verständnis gemäß nur dann Berechtigung, wenn es seine Motivation im kindlichen Narzissmus nach exzeptioneller Anerkennung durch welche Autorität auch immer (es muss nicht die maternale oder paternale sein) erkennt, um seine originäre Reaktivität zu demonstrieren. Grammatik der Gefühle: weil es sich um ein, wenn auch nicht geschlossenes, Regelwerk sprachlicher Äußerungen handelt, einer Sprache, die Gesten so gut wie Wörter umfasst. Ihre Intelligenz hindert sie an der Verabsolutierung dessen, was man als authentisches Sprechen des Körpers verkennt: Tränenfluss, Empörungsäußerungen, Zittern. Vielleicht entspricht sie einer Gegenintelligenz zur Selbstbehauptung sentimentaler Ideologien, egal in welchen Kontexten und zur Erlangung welcher Zwecke sie sich artikulieren. Analog zum Projekt Alexander Kluges ließe sich die Affirmation einer dem romantisch-imaginären Selbsttheater entgegengesetzten Grammatik der Gefühle als gleichermaßen poetisches wie politisches, fiktionales wie dokumentarisches Vorhaben bezeichnen. Jedenfalls geht es darum, die Gefühl genannte Instanz zwei Ideologien zu entziehen. Die erste Ideologie entspricht dem Mythos der Innerlichkeit, ihrer narzisstischen Selbstfeier, der Selbstverklärungsbereitschaft also derer, die nicht übertrieben viel denken, während sie sich unter Gebrauch feierlichen Vokabulars den gängigsten Stereotypen irgendwelcher Romantismen assimilieren. Die zweite Ideologie koinzidiert mit dem flachen Bewusstsein von Nietzsches letztem Menschen, mit Selbstschutzrhetorik, die aus der Enttäuschung und Verletztheit kommt, aus dem Ressentiment des geschrumpften Herzens, das jeder weiteren Verletzung durch Selbstabstumpfung, Selbsterniedrigung, Selbstabtötung zuvorkommen will. Sowohl die erste als auch die zweite Ideologie verdanken sich der Bereitschaft, statt mit ihm zu beginnen, mit dem Denken zugunsten unreflektierter Gefühlsdiktate apriorisch aufzuhören. Grammatik der Gefühle nenne ich die Resistenz gegenüber diesen beiden Ideologien. Sie stellt sich nicht auf die Seite »gefühlloser Rationalität« (was immer das hieße!). Eher drückt sie Unversöhnlichkeit mit dem Intelligenzverzicht der Ideologien sentimentaler Glorifizierung wie der nicht minder sentimentalen autoprotektiven Selbstverleugnung dar. Tout court ist sie ein Synonym für Intelligenz.

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7.

Marcus Steinweg

Geisterfahrer

Soll man Begehren sagen, Streben, Verlangen? Das Erste klingt zu erotisch, das Zweite zu passiv, das Dritte zu fordernd. Dabei ist die Leselust von all dem nicht frei. Am ehesten entspricht sie der Gier. So ließe sich die griechische ὄρεξις übersetzen, als hyperbolischer appetitus. Im Gespräch mit Kluge konstatiert Heiner Müller: »Der Impuls zur Philologie ist eigentlich Gier. Es gibt ja nicht nur Neugier, es gibt auch eine Altgier. Das ist fast dasselbe. Einfach alles haben wollen, alles greifen, alles wissen wollen.« Und: »Kunst ohne Hunger geht überhaupt nicht. Also Kunst ohne den Anspruch, alles fressen und haben zu wollen, geht nicht.« Die Gier sei »etwas ganz Positives in der Kunst, geradezu eine Voraussetzung für Kunst.«4 Das gilt auch fürs Lesen. Es gibt Texte, die einen Hunger entfachen, der den Lesenden aus sich heraustreibt. Texte, die man rückwärtslesen muss. Als Geisterfahrer bewegt man sich in die falsche Richtung, die sich plötzlich als richtige erweist. Folgt man den Überlegungen Kluges hat man oft das Gefühl mit einem Geisterfahrer unterwegs zu sein. Kluge liest und spricht in immer mehr als eine einzige Richtung. Es ist seine Neugierde, die ihn in alle möglichen Richtungen treibt. Und dies gleichzeitig, was die befremdlichsten Effekte seiner hakenschlagenden Intelligenz generiert. Ihn auf diesen Geisterfahrten zu begleiten, hat einen emanzipatorischen Effekt. Man wird gezwungen sich von lieb gewordenen Wissensbeständen zu lösen, um unbekannte Wege zu nehmen, ins Ungewisse hin. Nicht nur die Philologie ist giergetrieben, die Kunst, das Denken sind es allgemein. Das ist das Mindeste, was man von Kluge lernen kann. Diesen Appetit aufs Neue, durch den das Alte zu etwas Neuem wird, durchs Fernrohr oder die Lupe der Gegenwart gesehen.

8.

Urvertrauen

Das Subjekt ist eingelullt in Sprachspiele und Lebensformen, sagt Wittgenstein. Wie das Kind des Urvertrauens. Hier treffen sich Wittgenstein und Kluge. Man muss vertrauen, man tut es von Anbeginn. Wittgenstein sagt, dass dieses Vertrauen nichts mit »Dummheit« oder »Leichtgläubigkeit«5 zu tun hat. Es ist grundsätzlicher. Es zielt auf den eigenen Grund. Vertrauen wie Misstrauen gründen im Bezugssystem, auf das sie rekurrieren. Man könnte meinen – hier kommt erneut Kluge ins Spiel –, der Mensch nähme sein Eingebettetsein ins Bezugssystem hin wie das Kind seine Mutter: fraglos – doch nie ohne Fragen zu stellen. 4 Heiner Mu¨ ller, Werke 12. Gespräche 3, S. 283f. 5 Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, Frankfurt/M. 1970, S. 65.

Notizen zu Alexander Kluge

9.

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Nicht ohne Gespenster

Die Wirklichkeitszone bleibt von Gespenstern durchquert. Sie tummeln sich überall: im Finanzkapitalismus, dem digitalen Marketing, dem Kino, der Politik, dem Algorithmenwesen und der Liebe. Immer sind da Gespenster, die ein Wörtchen mitzureden haben. Wer ihnen das Mitspracherecht entzieht, bringt sämtliche Realitäten ins Wanken, zerstört sie. Sie sind nichts ohne Gespenster. Robert Walser wusste das genauso gut wie Walter Benjamin und Franz Kafka: dass wir von Gespenstern Umhangene sind. Kluge geht dem in seiner Arbeit nach. Er stützt sich dabei auf seine »Vertrauenspersonen«, wie er sagt. Das können Musil sein, Heiner Müller, Montaigne oder Ovid. Auch Marx wird ihm nicht ausreden können, dass die Wirklichkeit genannte Fiktion von Gespenstern bewirtschaftet wird, deren Existenz zu bestreiten Ausdruck von Weltfremdheit wäre, da es keinen Realismus ohne dessen Öffnung auf die gespenstischen Anteile des Wirklichen geben kann. Im Denken, in Filmen, in Texten, sagt Kluge, »muß das Spirituelle da sein, weil es an die Wände unserer Welt klopft. Selbst wenn dahinter nichts ist, werden wir nicht aufhören zu klopfen.«6 Sämtliche Wirklichkeiten verdanken sich ihrer Heimsuchung durch ihnen nicht integrierbare Größen. Da schwirren immer ein paar Gespenster durch den Raum. Fantasie ist das Vermögen mit ihnen zu kommunizieren, statt sie auszuschließen, was ohnehin nicht gelingen kann. Wenn es irgendetwas gibt, was dem Realitätskäfig, in dem die Menschen wohnen, Konsistenz und Kohärenz verleiht, dann ist es die Fantasie und das ihr angeschlossene Begehren. Liebe, politische Utopien, ökonomischer Übermut halten den Laden zusammen, indem sie seine Grenzen sprengen. So paradox ist die Lage, so komplex die Situation! Menschsein heißt, über sich hinauszugreifen, aufs Monströse des Außermenschlichen hin. Anspruch zu erheben auf das, worauf Anspruch anzumelden der Verrücktheit gleicht. Eben dieser Verrücktheit im Menschen spürt Kluge nach, diesem Hyperbolismus, dieser Anmaßung und Drift, die, weit davon entfernt, nichts als Unglück zu provozieren, an der Wurzel der edelsten Anstrengungen persistieren. Es handelt sich um Selbsttranszendenz, die Kluge sich auch von Kant nicht verbieten lassen will (selbst Kant hat sie sich nicht komplett verboten, was die transzendentale Dialektik seiner Kritik der reinen Vernunft bezeugt). Zur Realität des Menschen gehört dessen Selbstüberschreitung aufs Unbestimmte hin. Dafür lebt er: fürs noch Namen- und Gesichtslose seiner Existenz. Den Versuchungen der Ideologien kann er nur mit Fantasie opponieren, mit Ideen, die sich prüfen, ohne sich domestizieren zu lassen, während sie das Denken über sich hinausreißen, um die Kompossibilität von Kritik und Einbildungskraft zu de6 Alexander Kluge, Verdeckte Ermittlung. Ein Gespräch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann, Berlin 2001, S. 30.

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monstrieren. Das Entscheidende an Kluges Projekt ist die Insistenz auf der Allianz von kritischer Theorie und Fantasie, wie sie in Benjamins Werk exemplarisch wird. Was Kluge Gefühle nennt, öffnet sich solcher Allianz, gewährt ihr Spielraum. Immer geht es darum, der falschen Alternative von Realismus versus Idealismus zu widerstehen. Das Wirkliche spielt sich woanders ab. Jenseits von Realismus und Idealismus. Als Gefühl jenseits des Sentiments und als Kritik abseits der fantasielosen Mäkelei. Man muss den ganzen Wirklichkeitsstrom in sich aufnehmen, samt seiner Strudel und Wirbel, seiner Gegenläufigkeiten und Widersprüche, seiner plätschernden Indifferenz und unleugbaren Gewalt. Hierin kommen Kunst und Denken überein. In der Bereitschaft, auf unabweisbare Realitäten mit Fantasie wie auf ideologische Verkürzungen mit Fakten, mit Statistik, kurz mit den Ergebnissen der Wissenschaften zu reagieren.

Birgit Haberpeuntner

Anthropophagische Autorschaft

1980 verfasst der brasilianische Kritiker, Dichter, Schriftsteller und Übersetzer Haroldo de Campos einen Essay mit dem Titel »Da razão antropofágica«, ins Deutsche übersetzt als »Über die anthropophagische Vernunft«.1 Darin befasst er sich mit der kulturellen Metapher des Kannibalismus im Kontext der brasilianischen Literatur, und verweist damit auf die 1928 von Oswald de Andrade mit seinem »Manifesto Antropofago«, dem »Anthropophagische[n] Manifest«,2 begründete Anthropophagie-Bewegung. In de Andrades Manifest aus dem Jahr 1928 gibt die Anthropophagie einer Gegenkultur ihre Züge, die sich kultur-, sozial- und epistemologiekritisch mit der Komplexität (post_)kolonialer Relationen zwischen Europa und Brasilien, sowie mit prekolonialen Kulturtraditionen auseinandersetzt. De Campos führt eben diese Auseinandersetzung mehr als 50 Jahre später, im Jahr 1980, in seinem Text zur anthropophagischen Vernunft fort. Seinem Essay stellt er die zehnte These aus Walter Benjamins »Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen« voran: »Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.«3 Benjamins Buch, aus dem dieser kurze Text stammt, die »Einbahnstraße«, wurde 1928 publiziert – im selben Jahr, in dem auch das »Manifesto Antropofago« von Oswald de Andrade erschien.

1 Ich verweise hier auf die 1987 publizierte Übersetzung von Lothar Quandt (Haroldo de Campos, »Über die anthropophagische Vernunft: Europa im Zeichen des Gefressenwerdens«, in: Curt Meyer-Clason (Hg.), Lateinamerikaner über Europa, Frankfurt/M. 1987, S. 101–117.) 2 In diesem Fall beziehe ich mich auf die deutsche Übersetzung von Maralde Meyer-Minnemann und Berthold Zilly aus dem Jahr 2015. (Oswald de Andrade, »Anthropophagisches Manifest«, übers. v. Maralde Meyer-Minnemann/Berthold Zilly, in: Isabel Exner/Gudrun Rath (Hg.), Lateinamerikanische Kulturtheorien. Grundlagentexte, Konstanz 2015, S. 45–50.) Eine neue Übersetzung von Oliver Precht wurde 2016 unter dem Titel »Anthropophages Manifest« publiziert. (Oswald de Andrade, »Anthropophages Manifest«, übers. v. Oliver Precht, in: ders. (Hg.), Manifeste. Portugiesisch–Deutsch, Wien 2016, S. 34–59.) 3 Walter Benjamin, »Einbahnstraße«, in: ders., Gesammelte Schriften Band IV, hg. v. Tillmann Rexroth, Frankfurt/M. 1991, S. 83–148, hier S. 108.

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Aus dieser Gleichzeitigkeit lässt sich eine komplexe transatlantische Geschichte der Hervorbringung, Zuweisung, Projektion und Metaphorisierung der Figur des Kannibalen im Spannungsfeld kolonialer Machtverhältnisse erzählen. Eine solche, durch post_koloniale Lektüren angereicherte, Perspektivierung werde ich im Folgenden versuchen, bevor ich den Blick auf das »neue[m] Barbarentum«4 im Europa des späten 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts richte, vor allem in seiner Verschränkung mit Kritik, Polemik und Anthologie bei Walter Benjamin, mit dem Alexander Kluge wiederum eine tiefgreifende »Wahlverwandtschaft«5 verbindet. Es ist demnach nicht verwunderlich, dass sich Spuren dieses »neuen, positiven Begriff[s] des Barbarentums«6 auch bei Alexander Kluge wiederfinden, und darauf wird sich dieser Text schlussendlich konzentrieren: auf Spuren des Kannibalischen bei Alexander Kluge, die vor dem Hintergrund der zuvor identifizierten Verschränkungen mit kolonialen und imperialen Momenten der europäischen Aufklärung sowie der Aneignung über das ›positive Barbarentum‹ Walter Benjamins, vor allem im Kontext von Kluges Verständnis von Autorschaft, perspektiviert werden sollen.

»Tupi or not Tupi«: Transatlantische Kannibalismus-Imaginationen Im Zentrum des anthropophagischen Manifests von Oswald de Andrade (Abb. 1) steht eine Zeichnung. In der Mitte der Seite sitzt ein menschlich anmutendes Wesen mit überdimensioniertem Arm und Bein, dafür aber mit Miniaturkopf. Aus dem Kopf ragt, fast wie ein Rüssel, etwas Längliches. Rechts hinter dem Wesen zeigen sich ein Kaktus und die Sonne. Es handelt sich dabei um eine Zeichnung mit dem Titel »Abaporu VI« (1928) von der brasilianischen Malerin Tarsila do Armal, die sich das Konzept des Kannibalismus in ihrer Kunst aneignet. »Abaporu« ist ein aus den Tupí-Guaraní-Sprachen übernommenes Wort:

4 Vgl. Manfred Schneider, Der Barbar: Endzeitstimmung und Kulturrecycling, München 1997. Den Begriff des »neue[n] Barbarentum[s]« entnimmt Schneider Benjamins Text »Erfahrung und Armut«; er bezeichnet damit aber eine weit über Benjamin hinausgehende, zeitgenössische Tendenz. (Walter Benjamin, »Erfahrung und Armut«, in: ders., Gesammelte Schriften Band II, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, S. 213–219, hier S. 215.) Siehe auch: Manfred Schneider, »›Lachender‹, ›barbarischer‹. Zum Komparativen in Walter Benjamins Erfahrung und Armut«, in: Christian Schulte (Hg.), Erfahrung und Zerstörung, Berlin 2018, S. 95–155. 5 Christian Schulte, »Kairos und Aura. Spuren Benjamins im Werk Alexander Kluges«, in: Detlev Schöttker, et al. (Hg.), Schrift. Bilder. Denken. Walter Benjamin und die Kunst der Gegenwart, Frankfurt/M. 2004, S. 219–232, hier S. 219f. 6 Benjamin, »Erfahrung und Armut«, S. 215.

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Abb. 1: Das »Manifesto Antropofago« in der Literaturzeitschrift Revista de Antropofagia (1928).

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»Mensch, der Menschen isst«.7 Die Tupinambá waren eine der größten in Brasilien während der Kolonialzeit vertretenen ethnischen Gruppen, die in Europa wiederum vor allem durch Kolonialberichte Bekanntheit erlangten, in denen ihnen eine umfangreiche Praxis des Kannibalismus zugeschrieben wurde; so wurden die Tupinambá zum »Synonym der kannibalischen Wilden«.8 Bereits anhand der zentralen Zeichnung von Tarsila do Amaral verweist das Manifest also auf die verwobene transatlantische Geschichte des Kannibalismus. Rund um sie herum (und auf der nächsten Seite) sind schließlich 48 kurze Paragrafen abgedruckt. Der erste Absatz beginnt mit den wegweisenden Worten: »Tupí or not Tupí: that is the question,«9 und führt damit bereits in die anthropophagische Praxis der Aneignung westlicher Kunst und Epistemologie ein, die auch die restlichen Paragraphen bestimmt. Das »Manifesto Antropofago« begründet damit nicht nur einen eigenen Diskurs der brasilianischen Moderne, sondern bezieht dezidiert Position in der transatlantischen Geschichte der Auseinandersetzung mit und Zuschreibung von Kannibalismus – wobei de Andrade, wohl sehr bewusst, auf den Begriff des Kannibalismus verzichtet.10 Seit dem frühen 16. Jahrhundert wird Kannibalismus vor allem der ›Neuen Welt‹ zugeschrieben, in einem wiederkehrenden Akt der kolonialen Imagination und Konstitution des ›Anderen‹, der Fremd- und dadurch auch der Selbstbestimmung. Wie Claudia Hein schreibt, ist [d]er Kannibale, der in seinem verschlingenden Über- und Zugriff auf das menschliche Fleisch eine, wenn nicht die zentrale Tabugrenze menschlicher Kultur überschreitet, […] genau betrachtet keine Gestalt, die einfach da ist. Vielmehr entsteht der Kannibale in dem Moment, in dem europäische Entdecker bzw. Eroberer und indigene Bevölkerung der ›Neuen Welt‹ aufeinandertreffen.11

Hein argumentiert hier dezidiert für eine intrinsische Verknüpfung dieses Akts der Fremd- und Selbstkonstitution über die Figur des Kannibalen mit der konkreten historischen Situation des Kolonialismus.12 Nicht umsonst sei der Vorwurf des Kannibalismus in kolonial-imperialen Kontaktzonen in seiner Pro7 Ruth Gallego Fernández, »Abaporu VI«, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia, verfügbar unter: https://www.museoreinasofia.es/en/collection/artwork/estudio-abaporu-stud y-abaporu [19. 08. 2020]. 8 Claudia Hein, »Der Kannibale«, in: Lars Friedrich/Karin Harrasser, et al. (Hg.), Figuren der Gewalt, Zürich 2014, S. 87–92, hier 87. 9 De Andrade, »Anthropophagisches Manifest«, S. 45. 10 Vgl. Hein, »Der Kannibale«, S. 91. 11 Ebd., S. 88. 12 Hein bestärkt ihr Argument der engen Verzahnung von Kolonialismus und ›Othering‹ via Kannibalismus mit Verweis auf ein politisch-ökonomisches Dekret aus dem frühen 16. Jahrhundert: Die spanische Königin Isabel de Castilla untersagte die Versklavung ›neu entdeckter‹ Völker – außer es handelte sich um Kannibalen, »una gente que se dice Canibales.« (89)

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jektion ubiquitär:13 Wird das ›Andere‹ als kannibalisch markiert, sind Unterdrückung und, ›im Gegenzug‹, kultureller Kannibalismus als Imperialismus nach dem Gesetz des ›Fressens oder Gefressen-Werdens‹ gerechtfertigt.14 Auf diese Weise kommt den Imaginationen des Kannibalischen eine für das Europa der Neuzeit zentrale identitätsstiftende Funktion zu. Diese in die Machtverhältnisse des Kolonialismus eingebettete Art der Selbstund Fremdbestimmung über die Figur des Kannibalen wird schließlich auch innerhalb westlicher Diskurse zu einem Instrument der Zuschreibung kultureller Inferiorität, um marginalisierte Gruppen zu primitivieren.15 Gleichzeitig führen Diskurse der ›Menschenfresserei‹ innerhalb Europas zu einer Kritik der westlichen ›Zivilisation‹ ›von innen‹.16 Hier ist beispielsweise Michel de Montaignes Essay »Von den Cannibalen«17 (1580) zu nennen, der zwar die Dichotomie des (imaginierten) Kannibalismus aufrecht erhält, dabei aber die Relativität der Zuweisung von Un/Zivilisiertheit zur Debatte stellt und die Frage aufwirft, ob europäische Foltermethoden nicht unzivilisierter seien als der ›humane‹ Kannibalismus der Tupinambá.18 Ebenso ist die beißend satirische Selbstkritik am im Entstehen befindlichen westlich-industrialisierten Kapitalismus durch Jonathan Swift in »A Modest Proposal« (1729) zu erwähnen, in dem Swift vorschlägt, wie der Untertitel andeutet, irische Babys als Nahrungsmittel zu verwenden: »For Preventing the Children of Poor People from Being a Burthen to Their Parents or Country, and for Making Them Beneficial to the Publick«. Hier ist es gerade die westliche Kultur der Moderne, die durch die rücksichtslose Natur- und Selbst13 Vgl. ebd., S. 89. Sie führt weiter aus, dass solche Erklärungsansätze der postcolonial studies oft psychoanalytische Erkenntnisse auf die Situation des Kolonialismus anwenden würden. Hein verweist auf Melanie Klein, die die Angst des Kindes aufgefressen zu werden auf dessen Projektion des eigenen Begehrens zurückführt, alles in sich selbst aufzunehmen. Angewandt auf die Situation des Kolonialismus führe so die ›Zuweisung‹ des Kannibalismus eben das koloniale Begehren der Aneignung des fremden Landes vor Augen. 14 Vgl. Maggie Kilgour, From Communion to Cannibalism: An Anatomy of Metaphors of Incorporation, Princeton 1990, S. 148. 15 Vgl. Kristen Guest, »Introduction: Cannibalism and the Boundaries of Identity«, in: dies. (Hg.), Eating Their Words: Cannibalism and the Boundaries of Cultural Identity, Albany 2001, S. 1–10, hier S. 2. 16 Vgl. Rainer Guldin, »Devouring the other: cannibalism, translation and the construction of cultural identity«, in: Paschalis Nikolau/Maria-Venetia Kyritsi (Hg.), Translating selves: experience and identity between languages and literatures, London 2008, S. 109–122, hier S. 110. 17 Ich übernehme den deutschen Titel aus der 1996 Diogenes Ausgabe der Essais in drei Bänden; oft wird der Titel aber auch als »Über die Menschenfresser« angegeben (Michel de Montaigne, »Von den Cannibalen«, in: ders., Essais I, nach der Ausgabe von Pierre Coste, übersetzt von Johann Daniel Tietz, Zürich 1996, S. 362–387.) 18 Vgl. Montaigne, »Von den Cannibalen«, S. 377: »Ich dächte es wäre barbarischer einen Menschen lebendig zu fressen, als ihn tot zu fressen: einen Körper der noch die völlige Empfindung hat, durch die grausamsten Martern und Peinigungen zu zerfleischen, ihn langsam braten zu lassen, ihn von Hunden und von Schweinen zerreissen zu lassen; als ihn, wen er todt ist, zu braten und zu essen.«

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ausbeutung kannibalisch wird. In vielerlei Hinsicht erlaubt es also der Blick auf Diskurse des Kannibalismus nicht nur, komplexe Verschränkungen (post_)kolonialer Relationen und Konstruktionen nachzuverfolgen, sondern eröffnet auch eine neue Perspektive auf grundlegende »Ängste, die das scheinbar stabile Zentrum westlicher Kultur heimsuchen.«19 Um die Jahrhundertwende geht die ›Menschenfresserei‹ in die europäische Avantgarde ein, wie der Aufsatz »Anthropophagie« (1902) von Alfred Jarry, oder das »Manifeste Cannibale Dada« (1920) von Francis Picabia und die von Tristan Tzara begründete Zeitschrift Cannibale andeuten mögen.20 Die Chiffre der ›Menschenfresserei‹ geht hier wiederum mit einer zunehmenden Positiv-Besetzung einher, einer »Positivierung des Barbaren«,21 die die Schockwirkung des Tabus mit einer angestrebten kulturellen Neuausrichtung verbindet, die dem als destruktiv-produktiv gelesenen Akt inne liegt. Man möchte meinen, de Andrade schreibe sich mit seinem »Manifesto Antropofago« direkt in diesen Diskurs ein. Er eignet sich wiederum die ambivalente Geschichte der Aneignung dieser Chiffre durch europäische Denker_innen selbst an, bejaht die Anthropophagie, macht sich die Unübersichtlichkeit der Bezüge, das Aufbrechen von Genealogien und Ideen ›originaler‹ Bedeutung zum Thema, und verschlingt somit nicht nur die Fremdzuweisung des Kannibalismus, sondern den gesamten damit einhergehenden kulturellen und epistemologischen Apparat. Gleich zu Beginn des Manifests schreibt de Andrade: »Nur die Anthropophagie vereint uns«,22 und stellt damit an die Stelle eines zweipoligen Systems einseitigen Verlaufs – einer brasilianischen Literatur- und Kulturgeschichte, die nur in Abhängigkeit und rein derivativ in einseitigem ›Empfänger‹-Verhältnis zu Europa denk- und erzählbar ist – das Bild der Anthropophagie als ständige Differenz und Verwandlung, eine »ständige Verwandlung von Tabu in Totem«,23 die davon absieht vor dem ›Anderen‹ zurückzuschrecken, es sich stattessen einverleibt und aneignet, um einen neuen, eigenen Weltbezug hervorzubringen. Die Wirkmacht dieser von de Andrade entworfenen anthropophagischen Chiffre der Wieder-und-Wiederaneignung im Kontext der brasilianischen Moderne findet ungefähr ab den 1960ern in neuen brasilianischen Bewegungen Ausdruck. Unter anderem wird sie von der Künstler_innengruppe Noigrandes rund um Haroldo und Augusto de Campos wieder aufgegriffen, die die brasilianische Konkrete Poesie begründet. Und eben dieser Haroldo de Campos 19 Guest, »Introduction«, S. 3, my translation: »the anxieties that haunt the apparently stable center of western culture.« 20 Mehr dazu: Peter W. Schulze, Strategien ›kultureller Kannibalisierung‹: Postkoloniale Repräsentationen vom brasilianischen Modernismo zum Cinema Novo, Bielefeld 2015, S. 68f. 21 Schneider, Der Barbar, S. 210. 22 De Andrade, »Anthropophagisches Manifest«, S. 45. 23 Ebd.

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verfasst 1980 den bereits erwähnten Essay zur anthropophagischen Vernunft, in dem er die brasilianische Literatur dezidiert im Lichte von de Andrades anthropophagischem Manifest betrachtet. Das Bild der Anthropophagie nach de Andrade sei eines, so de Campos, des kritischen Verschlingens von universellem (oder universalisiertem) kulturellem Erbe, aber nicht aus einer Perspektive des ›edlen Wilden‹, »sondern vom respektlosen Gesichtspunkt des ›bösen Wilden‹, des Weißenfressers, des Anthropophagen.«24 Es ist wenig verwunderlich, dass dieser Topos vor allem in den zu dieser Zeit im Aufblühen befindlichen postcolonial studies auf fruchtbaren Boden fällt; so wird auch in diesem Bild das universalisierte Europa, im Verschlingen, provinzialisiert, und gleichzeitig der enthistorisierende Mythos des ›edlen Wilden‹ dezidiert verweigert. »Alle Vergangenheit,« sagt de Campos, die eine ›andere‹ ist, nicht ›unsere‹, verdient, verneint zu werden. Diese aufschlußreiche Spezifizierung macht klar: Der Kannibale war ›Polemiker‹ (vom griechischen Pólemos = Krieg, Kampf), aber auch ›Anthologe‹: Er fraß nur die Feinde, die er für tüchtig hielt, und entzog ihnen Protein und Mark zur Stärkung und Erneuerung der eigenen Kräfte …25

De Campos verweist hier einerseits auf das seinem Text vorangestellte Motto, ein Zitat Walter Benjamins: »Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.«26 Gleichzeitig verschränkt er die Chiffre der kulturellen Anthropophagie nicht nur mit der kämpferischen Polemik, sondern mit einer zweiten literarischen Form, die auch bei Benjamin Ende der 1920er Jahre Betrachtung findet, und mit der Polemik in enger Verbindung steht: die Anthologie.

Von Anthologie zu Anthropophagie: Kritik bei Walter Benjamin Als de Andrade in Brasilien sein anthropophagisches Manifest schreibt, beschäftigt sich Benjamin in vielen seiner Texte mit Literaturgeschichte und Literaturkritik. Letztere habe sich, so Benjamin, dem gesamten »Lebens- und Wirkungskreis«27 von Werken zu widmen, also auch jenen Formen, in denen deren ›Fortleben‹ zum Ausdruck kommt. Eine dieser Formen sei die Anthologie. Diese dürfe wiederum, um ihrer Form zu entsprechen, nicht unkritisch reiner Repräsentationslogik folgen; ein Gedicht dürfe nicht einfach Repräsentant sein und für 24 25 26 27

De Campos, »Über die anthropophagische Vernunft«, S. 103. Ebd. Benjamin, »Einbahnstraße«, S. 108. Walter Benjamin, »Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft«, in: ders., Gesammelte Schriften Band III, hg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt/M. 1991, S. 283–290, hier S. 288.

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die_den Dichter_in, für eine Schule, und schließlich für eine Nation einstehen.28 Diese »übliche[n] Blütenlese«29 solle vermieden werden; stattdessen müsse man die Texte sich selbst durch die neue Zusammenstellung ergänzen, sie eine neue Qualität aufschlagen lassen, die über die einzelnen Schriften hinausgehe. Und in diesem Punkt ähneln sich, laut Benjamin, Formen wie Anthologie, Übersetzung, Kommentar, oder auch Kritik: Sie erwachsen aus dem Fortleben der Schriften, das transformierend und anreichernd sei, dynamisch, sich ausdehnend, aber nie überwindend; »Fort«-Leben in doppeltem Sinn, als weg- und weiterführend. Im Idealfall verbänden sich demnach in einer Anthologie, die ihrer Form entspricht, die Schriften zu einer neuen Gestalt, einer Größe […], die nun nicht im abstrakten Sinne »historisch,« sondern unmittelbares, wenn auch bedachteres, wehrhafteres Fortblühn des Alten ist. Was hier gewirkt wird, ist Wirkung des ursprünglichen Schrifttums selber […].30

Anthologie kann so durch ein neues In-Zusammenhang-Stellen dem Fortleben von Werken und damit einer neuen Aktualität Ausdruck geben – was schlussendlich auch die Kritik tun müsse. Notizen zu einem von Benjamin zu dieser Zeit geplanten (aber nie realisierten) Buchprojekt über Literaturkritik verraten, dass diese ebenso das Stadium des Fortlebens eines Werkes zum Ausdruck bringen müsse, da »dieses Fortleben den Gebietscharakter ›Kunst‹ als einen Schein entlarvt«.31 Auch hier tritt die Kritik in die Nähe der Anthologie: Um mit Burkhardt Lindner zu sprechen würde dadurch die Vorstellung entlarvt, »Kunstwerke seien als Werke Repräsentanten der Wahrheit oder des Wesens einer Epoche«.32 Stattdessen müsse Kritik die Literaturgeschichte, und damit vor allem einen neuen Geschichtsbegriff ernstnehmen, nach dem in der Entstehungszeit der Werke, wie Benjamin sagt, »die Zeit, die sie erkennt – das ist die unsere – zur Darstellung zu bringen«33 sei. Nach dieser Auffassung bestehe, laut Lindner, eine »Aktualitätsspannung« zwischen der Vergangenheit des Werks und der Gegen-

28 Vgl. Walter Benjamin, »Rezension zu: Josef Kalmer, Europäische Lyrik der Gegenwart«, in: ders., Gesammelte Schriften Band III, hg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt/M. 1991, S. 65–66, hier S. 65. 29 Walter Benjamin, »Rezension zu: Rudolf Borchardt, Der Deutsche in der Landschaft«, in: ders., Gesammelte Schriften Band III, hg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt/M. 1991, S. 91–94, hier S. 91. 30 Ebd., S. 91f. 31 Walter Benjamin, »Kritik als Grundwissenschaft der Literaturgeschichte [fr 140]«, in: ders., Gesammelte Schriften Band VI/1, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, S. 173f, hier S. 174. 32 Burkhardt Lindner, »Technische Reproduzierbarkeit und Kulturindustrie. Benjamins ›Positives Barbarentum‹ im Kontext«, in: ders. (Hg.) Walter Benjamin im Kontext, 2. Auflage, Königstein 1985, S. 180–223, hier S. 193. 33 Benjamin, »Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft«, S. 290.

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wart der Interpretation, in der »Erkenntnis des Vergangenen und Selbstdarstellung der erkennenden Gegenwart«34 zusammentreffen. Allerdings vermag die Darstellung dieser Aktualitätsspannung, und damit die Destruktion des Gebietscharakters der Kunst, nur jene Kritik zu leisten, die zwei unterschiedliche Standpunkte in sich vereint: einen subjektiven, und den einer »objektive[n] Wahrheit als Gegenstück dieser subjektiven Auffassung«.35 Diese beiden Auffassungen gehen in unterschiedliche kritische Verfahren ein: die subjektive in eine Art polemisch-strategische, die objektive in eine exegetisch kommentierende Kritik.36 Wenn diese einander grundsätzlich widersprechenden Verfahren wiederum in einem dialektischen Spannungsfeld zusammengeführt werden, dann spannt sich jener Bereich der Kritik auf, den Benjamin anvisiert: »strategische, polemische Schulkritik und exegetisch kommentierende Kritik heben als Gegensätze in einer Kritik sich auf, die zum einzigen Medium das Leben, Fortleben der Werke hat.«37 Polemik, als eine Seite der Kritik, findet sich, laut Benjamin, in vollendeter Form bei dem Satiriker Karl Kraus, dem er 1930/1931 einen umfangreichen Essay widmet. Im dritten Teil dieses Textes, der als »UNMENSCH« betitelt ist, tritt schließlich die Figur des Menschenfressers in den Vordergrund:38 »Der Satiriker ist die Figur, unter welcher der Menschenfresser von der Zivilisation rezipiert wurde.«39 Vor dem Hintergrund der kurz umrissenen transatlantischen Kulturgeschichte des Kannibalismus ist diese Formulierung, vor allem in ihrer prägnanten Gegenüberstellung von ›Menschenfresser‹ und ›Zivilisation‹ durch die angedeutete Übertragung primitivierter Charakteristika in zivilisatorisch akzeptable Form, gleichzeitig problematisch und wenig überraschend. Bei genauerer Betrachtung und Kontextualisierung40 zeugt sie aber vor allem von der 34 Ebd., S. 182. 35 Walter Benjamin, »Erste Form der Kritik [fr 136]«, in: ders., Gesammelte Schriften Band VI/1, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, S. 170f, hier S. 170. 36 Vgl. Heinrich Kaulen, »›Die Aufgabe des Kritikers‹. Walter Benjamins Reflexionen zur Theorie der Literaturkritik 1929–1931«, in: Wilfried Barner (Hg.), Literaturkritik. Anspruch und Wirklichkeit, Stuttgart 1990, S. 318–336, hier S. 321ff. 37 Benjamin, »Erste Form der Kritik [fr 136]«, S. 170. 38 Auch im zweiten Teil, zum »DÄMON«, finden sich zahlreiche Figuren der Einverleibung und der Verkörperung, aber kein Menschenfresser. 39 Walter Benjamin, »Karl Kraus«, in: ders., Gesammelte Schriften Band II, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, S. 334–367, hier S. 355. 40 Benjamin weist auch prompt und wenig überraschend sein Bezugssystem aus, in das er die anthropophagische Metapher einbettet: Direkt im folgenden Satz verweist er auf Swifts »A Modest Proposal«, und damit auf eine Tradition der anthropophagischen Metapher in der satirischen Kapitalismuskritik: »Nicht ohne Pietät erinnert er [der Satiriker, Anm. B. H.] sich seines Ursprungs und darum ist der Vorschlag, Menschen zu fressen, in den eisernen Bestand seiner Anregungen übergegangen, von Swifts einschlägigem Projekt betreffend die Verwendung der Kinder in minderbemittelten Volksklassen bis zu Léon Bloys Vorschlag,

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Komplexität dieser Dichotomie, insbesondere im Kontext des von Benjamin in seinem Text »Erfahrung und Armut« so bezeichneten »neuen, positiven Begriff[s] des Barbarentums.«41 Laut Josef Fürnkäs kann der Kraus-Essay insgesamt als »eine andere Dialektik der Aufklärung in drei Aufzügen«42 gelesen werden: Verhandelt Teil 1, »ALLMENSCH«, Aufklärung und Humanismus, so widmet sich Teil 2, »DÄMON«, dem Mythos als geschichtlichem Verblendungszusammenhang. Diese Dialektik kehrt sich aber schlussendlich nicht in kritische Selbstreflexion, sondern in den »realen Humanismus«43 des »UNMENSCH[en]«. Dieser Unmensch ist zu den »positiven Barbaren« zu rechnen, und in diesen Kontext, der eben nicht dem Mythos zuzurechnen ist, wird auch die Figur des Menschenfressers bei Benjamin eingeschrieben. Christian Schulte zieht hier in seinem Buch zu Benjamins KrausEssay, Ursprung ist das Ziel: Walter Benjamin über Karl Kraus, eine direkte Verbindung zwischen den »positiven Barbaren« und dem Menschenfresser, indem er auf eine Stelle aus Benjamins Text »Erfahrung und Armut« verweist, in der dieser die »neuen Barbaren« anhand eines Akts der anthropophagischen Einverleibung beschreibt: »Sie haben das alles ›gefressen‹, ›die Kultur‹ und den ›Menschen‹ und sie sind übersatt daran geworden und müde.«44 Diese positiven Barbaren nach Benjamin stehen jeglicher Art der Vorstellung entgegen, (kulturelle) Erneuerung könne aus einem schöpferischen Gestus und der Einbindung in einen vermeintlich kontinuierlichen Traditionszusammenhang entstehen. Burkhardt Lindner verweist hier auf den für das ›neue Barbarentum‹ konstitutiven Erfahrungsverlust: Erfahrungsarmut, das heißt also reinen Tisch machen zu können, den Verheißungen des Humanismus, ›des Menschen‹ und ›der Kultur‹ zu mißtrauen […]. Erfahrungsarmut, das heißt zu allererst: Verzicht auf den kulturgeschichtlichen Reichtum, der in den Händen der Bourgeoisie faulig geworden ist.45

Auf ähnliche Weise wendet de Andrade die Figur des Menschenfressers gegen die koloniale Herrschaft. In komplexer, transatlantischer Verschränkung ohne »Ursprung« und Genealogie, wird hier anhand der Figur der Anthropophagie ein

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Hauswirten insolventen Mietern gegenüber ein Recht auf die Verwertung ihres Fleisches einzuräumen.« (Benjamin, »Karl Kraus«, S. 355) Benjamin, »Erfahrung und Armut«, S. 215. Josef Fürnkäs, Surrealismus als Erkenntnis. Walter Benjamin – Weimarer Einbahnstraße und Pariser Passagen, Stuttgart 1988, S. 263. Benjamin, »Karl Kraus«, S. 355. Vgl. Christian Schulte, Ursprung ist das Ziel: Walter Benjamin über Karl Kraus, Würzburg 2003, S. 102. Benjamin, »Erfahrung und Armut«, S. 218. Burkhardt Lindner, »Technische Reproduzierbarkeit und Kulturindustrie. Benjamins ›positives Barbarentum‹ im Kontext«, in: ders. (Hrsg.), Walter Benjamin im Kontext, 2.Aufl., Königsstein 1985, S. 180–224, hier 195.

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Grundgedanke der Dialektik der Aufklärung in einer grundlegenden Kolonialismuskritik fruchtbar gemacht. Auch in Benjamins Essay funktioniert die Figur des Kannibalen, laut Schulte, ähnlich: Der Gegner, den der Unmensch in seiner Eigenschaft als kannibalischer Satiriker sich einverleibt, ist jene allmenschliche Ideologie, die sich auf Menschenrechte beruft, welche nie eingelöst worden sind, auf eine Humanität und eine Kultur, die nur noch als Besitz derjenigen figurieren, die sie faktisch mißbrauchen […].46

Vor dem Hintergrund der transatlantischen Geschichte der KannibalismusImagination und im Kontext des ›neuen Barbarentums‹, deuten Benjamins Menschenfresser und de Andrades Anthropophagen, zusammengelesen, auf eine intrinsische Verstrickung von Aufklärung und Kolonialismus. Benjamin und de Andrade operationalisieren in ihrer jeweiligen Kritik anthropophagische Figuren, die Kontinuitäten, Genealogien und Schöpfertum im destruktiven Akt außer Kraft setzen. Dieser Akt, der schlussendlich ein paradoxes ›Fortleben‹ nach sich zieht – als fort vom Leben, und fort- des Lebens –, ist jedoch wiederum angeleitet von Gefühlen der Wertschätzung und Zuneigung: Der Kannibale isst »nur die Feinde, die er für tüchtig [hält]«, den Säugling richtet er sich »liebevoll« zu.

Alexander Kluge: »Kannibale der Aneignung« In seinem Text zu Alexander Kluges Fernsehmagazinen überschreibt Klaus Kreimeier ein ganzes Unterkapitel mit dem Titel »Kannibalismus«. Er verfolgt darin einerseits die »ambivalente Figur«47 des Kannibalen durch Kluges Fernsehgespräche, gleichzeitig schreibt er Kluge selbst, auf unterschiedlichen Ebenen, Züge dieser Figur zu: Dieser sei, aufgrund seines Umgangs mit den Programmstrukturen und Sendebedingungen im Fernsehgeschäft, aufgrund seiner »Politik der Nichtanschlussfähigkeit«,48 ein »Kannibale der Aneignung«,49 bzw. ein »Fernsehzeit-Aneignungs-Kannibale[n]«;50 gleichzeitig bezeichnet er Kluge in den von ihm geführten Fernsehgesprächen als »kannibalistische[n] Reporter«;51 und schlussendlich verweist er auf Kluges Konzept »produktive[r] Aneignung der Geschichte als Kannibalismus«.52 Im Folgenden soll einerseits die Figur des 46 Schulte, Ursprung, S. 104. 47 Klaus Kreimeier, »›Das Seiende im Ganzen aber steuert der Blitz.‹ Anmerkungen zu Alexander Kluges Magazinen«, in: Christian Schulte/Winfried Siebers (Hg.), Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt/M. 2002, S. 39–51, hier S. 43. 48 Ebd., S. 41. 49 Ebd., S. 44. 50 Ebd., S. 47. 51 Ebd., S. 45. 52 Ebd., S. 44.

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Kannibalen bei Kluge anhand weiterer Texte, Fernseh- und Filmproduktionen vor dem Hintergrund der bereits ausgeführten transatlantischen Kulturgeschichte der Kannibalismus-Metapher, sowie in Bezug auf Benjamins ›neues Barbarentum‹ kontextualisiert werden. Gleichzeitig möchte ich die Zuschreibungen Kreimeiers ernstnehmen und die Frage aufwerfen, ob das Kannibalische bei Kluge auf ein Konzept ›anthropophagischer Autorschaft‹ hindeutet. Der Kannibale ist bei Kluge in der Tat eine ambivalente Figur. Sie findet sich häufig in Kriegskontexten, wie beispielsweise in dem Ausschnitt »Zwei Brüder« aus der Filmsammlung Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd, oder in der Geschichte »Brennstoff der Freiheit« aus Chronik der Gefühle, über von in Russland eingekesselten deutschen Soldaten gegründete Antikannibalismustruppen. Es scheint naheliegend, dass die Figur des Kannibalen in diesen Zusammenhängen eine Funktion übernimmt, die mit der im KolonialisierungsKontext beschriebenen übereinstimmt: Die Zuweisung von Andersheit an die Gegner_innen, die sich – durch eben ihren Kannibalismus – »in ein Jenseits von Zivilisation und Kultur [befördern]«.53 In einem Fernseh-Porträt über den Filmemacher Eckhart Schmidt bringt Kluge diese Funktionalisierung durch eine recht beiläufige Gegenüberstellung auf den Punkt: »Wenn wir das Stichwort kannibalisch nehmen. Wer ist Kannibale und wer ist der Zivilisierte?«54 Allerdings wird diese klare Gegenüberstellung in Kluges Medienproduktion durchwegs drastisch verkompliziert, wie ein Gespräch mit Peter Berling aus der Reihe »Facts & Fakes« besonders eindrücklich verdeutlicht. Kluge spricht in dem Fernsehgespräch mit Berlings Persona, dem SS-Standartenführer a.D. Fred Füllgrabe, über »Kannibalenforschung im Dritten Reich«.55 Die Sendung des Formats Primetime/Spätausgabe beginnt mit einem visuellen Verweis auf die Geschichte der »Zwei Brüder«. In diesem Filmausschnitt stirbt einer der beiden Brüder in der Kälte bei Stalingrad; der Überlebende kann den Toten nicht vor vermeintlichen Kannibalen retten, obwohl sie einander versprochen hatten sich zu beschützen. Allerdings sieht man den Akt des Kannibalismus nicht; der Ausschnitt endet damit, dass der überlebende Bruder während seiner Totenwache einschläft und damit den vermeintlichen Kannibalen freies Feld lässt. Ebenso bleibt unklar, wer diese Kannibalen sind, und welcher durch den Krieg vorgegebenen ›Seite‹ sie angehören. Auch in der einleitenden Sequenz zum Gespräch mit Berling wird der kannibalische Akt nicht gezeigt, dafür aber das vermeintliche ›Resultat‹: Die Sendung beginnt mit einer kurzen Bildfolge unscharf gezeigter Innereien und abge53 Hein, »Der Kannibale«, S. 88. 54 »Der verfeinerte Kannibalismus heißt Sehnsucht. Porträt des Filmemachers Eckhart Schmidt«, News and Stories, SAT 1, 20. 12. 1993. 55 »Kannibalenforschung im Dritten Reich«, Primetime/Spätausgabe, RTL, 26. 08. 2001.

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trennter Körperteile, versehen mit der Bildunterschrift »Reste von KannibalenMahlzeiten im Kriegsjahr 1942« (Abb. 2 und Abb. 3), darauf folgt ein Teil der ersten Szene aus »Zwei Brüder« (Abb. 4): Der später verstorbene und den Kannibalen überlassene Bruder blickt hier noch lebendig aus dem Bunker. Bezeichnend ist dabei, dass in »Zwei Brüder«, wie auch in der Anfangssequenz von »Kannibalenforschung im Dritten Reich«, der kannibalische Akt ausgespart bleibt. Dadurch entsteht einerseits eine Unschärferelation, die visuell einen zentralen Punkt der Kannibalismus-Imagination reflektiert: Ob der Akt tatsächlich stattgefunden hat oder nicht, ist irrelevant für dessen symbolische Wirkmacht; die Parameter für die Fremd- und Selbstbestimmung entlang einer Dichotomie von Kultur und Barbarei sind allein durch die Andeutung gegeben. Gleichzeitig wird allerdings eben dieser Mechanismus der Selbst- und Fremdbestimmung bei Kluge dadurch destabilisiert, ja verunmöglicht, dass eben nicht ausreichend geklärt ist, ob es sich bei den vermeintlichen Kannibalen überhaupt um die auszugrenzenden ›Anderen‹ handelt.

Abb. 2–4: Filmstills aus »Kannibalenforschung im Dritten Reich« (Kluge, 2001).

Im folgenden Gespräch wird Berling schließlich als vom Reichssicherheitshauptamt beschäftigter Ethnologe situiert, der in einer kleinen Sektion der Hauptabteilung ›Rassenforschung‹ ›Germanenforschung‹ betreibt. Dazu wirft Kluge, eine Gesprächsrichtung vorschlagend, ein: »[U]nd eigentlich ist ihr Auftrag Kannibalenforschung. […] Sie wollten im Grunde, dass die Ägypter Kannibalen sind, dass die Karthager Kinder opfern oder Kannibalen sind, das sollte erforscht werden.« Kluges klare Setzung geht davon aus, dass Füllgrabes nur vorgeblich historische Forschung mit dem Auftrag der Ausgrenzung, der Zuweisung der Andersheit und des Unzivilisiert-Seins über die Praktik des Kannibalismus die eigene, ›germanische‹ Ursprungserzählung singularisieren und zivilisieren soll. Der NS-Wissenschaftler Füllgrabe weigert sich aber, wenig überraschend, diese Setzung anzunehmen: Das wäre vielleicht das Forschungsergebnis gewesen, nicht aber der Auftrag. Doch Kluge lässt nicht locker, und schlägt gleichzeitig eine leichte Diskursverschiebung vor: Wäre der Auftrag dann vielleicht gewesen zu erforschen, wie man Kannibalen aus möglicherweise zurückzugewinnenden ehemaligen Kolonien im Südpazifik reformieren könnte? »Wie kann man Kannibalen so befriedigt halten, dass sie den Kannibalismus aufgeben«, fragt Kluge, »oder, wie kann

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man Kannibale werden?« Er ruft hier anhand seiner nonchalanten Bezeichnung der Bewohner_innen ehemaliger im Südpazifik gelegener deutscher Kolonien als Kannibalen die bereits beschriebenen Dynamiken der Selbst- und Fremdbestimmung kolonialer Machtverhältnisse auf, und bleibt damit ganz klar im Spannungsfeld der Dichotomie von Kultur und Barbarei. Gleichzeitig stellt er – direkt, nachdem er diesen Mechanismus der Kannibalismus-Zuschreibung als ›Auftrag‹ offenlegt – die Frage nach der Möglichkeit der ›Zivilisierung‹ der als Kannibalen gebrandmarkten Kolonisierten, bzw., im Umkehrzug, der Möglichkeit einer allgemeinen ›Barbarisierung‹. Von dieser leichten Verschiebung beflügelt beginnt Füllgrabe, mit einiger Faszination, den Akt des Kannibalismus zu ›normalisieren‹. In weiterhin primitivierender Manier spricht er zwar archaisierend von einem »vorzeitlichen«, ritualisierten Kannibalismus, bezeichnet diesen aber als »normalen« Akt, in dem die Kräfte der Gegner_innen übernommen werden. Diese Perspektive auf Kannibalismus ist für Kluge gefundenes Fressen: K: »Eigentlich müsste man doch für einen fortgeschrittenen Nationalsozialisten, einen konsequenten Nationalsozialisten sagen, dass Kannibalismus, in der richtig angewandten Form, wenn ich nämlich das richtige am Gegner esse…« F: »Adäquat ist! Eigentlich adäquat ist, das darf man natürlich nicht sagen.« K: »Nein.«

Die Ambivalenz der Kannibalen-Figur wird im Kosmos des Gesprächs auf die Spitze getrieben: Es sei, sagt Kluge, ein durchwegs »bürgerlicher Standpunkt zu sagen, Menschenfresser sind abzulehnen«. Um fortschrittlicher, konsequenter zu sein, müsse der Nationalsozialismus von der versuchten Reinigung der eigenen Ursprungsmythologie über die Zuweisung des Kannibalismus an das unzivilisierte ›Andere‹ absehen, und den Kannibalismus annehmen, der schließlich »den Gegner ehrt, indem ich ihn in mich bringe. […] Er überlebt gewissermaßen in mir, dem Stärkeren.« Schlussendlich habe gerade dieser unaufgelöste Konflikt zur Schließung der Abteilung von Fred Füllgrabe geführt, da sich bei seinen Forschungen herausgestellt habe, dass die Germanen selbst ›kannibalische Frühphasen‹ durchmachten, nicht aber die Karthager. Er habe dazu naiv einen Artikel veröffentlicht, in dem er »in euphorischen Worten das Lob des germanischen Kannibalismus [predigte]«.

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»Kein Kannibale isst, was er hasst!«: Aspekte ›anthropophagischer Autorschaft‹ Die hier unter anderem diskutierte und verkomplizierte Funktion der Kannibalismus-Zuschreibung verbindet sich in anderen Texten, Filmen und Fernsehbeiträgen mit einer weiteren Evokation, die Klaus Kreimeier bereits als »produktive[n] Aneignung der Geschichte als Kannibalismus«56 andeutet. So finden sich beispielsweise in Kluges zur Verleihung des Kleist- sowie des Heinrich-BöllPreises gehaltenen Reden, in denen er sich mit seiner (anti-)realistischen Autorentätigkeit, und mit seinem Zugang zu Zeitgeschichte beschäftigt, Kannibalismus-Metaphern. In »Der Autor als Dompteur oder Gärtner« geht Kluge unter anderem auf den Umgang (anti-)realistischer Autor_innen mit dem 20. Jahrhundert ein. Erst identifiziert er in diesem Kontext die Chiffre dieses Jahrhunderts, die »so unverwechselbar [sei] wie ein Fingerabdruck. Diese Chiffre heißt Ausgrenzung.«57 Im Ersten Weltkrieg wird das Menschliche »ausgeliefert und zerrissen«,58 und dieses Prinzip wiederholt sich nicht nur im Genozid während des Zweiten Weltkriegs, sondern es »liegt auch der Einteilung des Erdballs in entwickelte und vernachlässigte Zonen zugrunde.«59 Damit benennt Kluge nicht nur eine Chiffre des 20. Jahrhunderts, sondern auch ein Grundprinzip des Kolonialismus, das bereits lange davor wirksam ist. Und in diesem Kontext kommt die Figur des Kannibalismus ins Spiel. Breite Teile des Menschlichen und der Wirklichkeit werden nicht in ein Gemeinwesen eingesogen, sondern entrealisiert mit den Mitteln des Kannibalismus, aber auch nach dem vomitorischen Prinzip (»auskotzen«) oder kannibalo-vomitorisch.60

Die Idee der Entrealisierung »mit den Mitteln des Kannibalismus« kann hier durchaus im Kontext ihrer kolonialen Funktionalisierung gelesen werden, da die Ausgrenzung, das Ausstoßen oder Auskotzen aus dem Gemeinwesen, über die Zuweisung der Anders- und Unzivilisiertheit geschieht. Gleichzeitig wird in diesem einverleibend-ausstoßenden, kannibalo-vomitorischen Bild eine GrundDialektik der Aufklärung angedeutet: Die Selbstbestimmung als zivilisiert geht mit eben dieser Entrealisierung des ›Fremden‹ und dessen Relegation in die Sphäre des zu beherrschenden Natürlichen als Ausgrenzungsmechanismus und Legitimation für Gewalt einher, und wird als Wurzel von Imperialismus, Kolonialismus und der Kriege des 20. Jahrhunderts identifiziert. 56 Kreimeier, »Anmerkungen zu Alexander Kluges Magazinen«, S. 44. 57 Alexander Kluge, »Der Autor als Dompteur oder Gärtner. Rede zu Heinrich-Böll-Preis«, in: ders., Personen und Reden, Berlin 2012, S. 23–40, hier S. 27. 58 Ebd. 59 Ebd., S. 28. 60 Ebd.

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Schlussendlich erläutert Kluge in dieser Rede, was er als »aufklärerische Traditionen der Kunst«61 bezeichnet. Denn er sieht Aufklärung trotz allem nicht als etwas Unmögliches, »sondern es wird nicht daran gearbeitet.«62 Das müsse dringend getan werden, und zwar nach dem Prinzip der Kooperation. Künstler_innen stünden unterirdisch, subkutan miteinander in Austausch, seien rhizomatisch miteinander verwoben, über Generationen hinweg, sodass »geglückte Einfälle früherer Generationen, kooperativ eingeflüstert, ein unbewusstes Gegenwerk schaffen.«63 Paradoxerweise ist diese Vorstellung der generationenübergreifenden Kooperation »eine konservative Tugend«, sie »ist die Grundlage der ›aufklärerischen Tradition der Kunst‹ inmitten einer Wegwerfgesellschaft.«64 Ich lese das, was Kluge hier als konservative – aber inmitten einer ›Wegwerfgesellschaft‹ beinahe subversive – Ausrichtung beschreibt, im Lichte dessen, was Benjamin im Begriff des ›Fortlebens‹ fasst: als eine nicht-lineare Verschränkung und ein wechselseitiges Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit, das eben nicht als Ablösung sondern, hier mit Kluge, als Kooperation gedacht wird; ein widersinniges Fort-Wirken mit transformativer Qualität.65 »Kooperativ eingeflüstert« mag hier ebenso übersetzt werden als: einverleibt, aufgegessen – um den ›geglückten Einfällen‹ in der gegenwärtigen Konstellation des_der Autor_in neuen Ausdruck und neues Leben zu verleihen. In Kluges Kleist-Rede »Die Differenz« ist der Zugang zur Geschichte des 20. Jahrhunderts ebenso ein zentrales Thema. Es geht auch hier um einen veränderten Zugang zur Geschichte; immer wieder ist die Rede vom »Nachsitzen«, entweder des 20. Jahrhunderts selbst oder von unserem, da wir in unserer »Arbeit« am 20. Jahrhundert versagt haben und es besser machen müssen.66 Um 61 62 63 64 65

Ebd., S. 23. Ebd., S. 34. Ebd., S. 35. Ebd. Interessanterweise beschreibt gerade der postcolonial studies Theoretiker Homi Bhabha diese Qualität des Fortlebens in Bezug auf Tradition besonders eindrücklich, indem er Tradition um Translation erweitert. In einem frühen Text aus dem Jahr 1989 schreibt Bhabha: »Where once we could believe in the comforts and continuities of Tradition, today we must face the responsibilities of cultural Translation.« (Homi Bhabha, »Beyond fundamentalism and liberalism«, The New Statesman and Society, 3. März 1989, S. 34–35, hier S. 34) Bhabha verweist damit hier, wie in anderen Texten, auf den Übersetzungsbegriff Walter Benjamins, mit dessen Hilfe er ausführt, in welchem komplexen wechselseitigen Verhältnis ›Original‹ und ›Übersetzung‹, Gegenwart und Vergangenheit zu denken sind; ein Verhältnis, das eben nicht mehr als Kontinuität gedacht werden kann. Übersetzungen gehen zwar aus dem Text hervor, sie realisieren aber gleichzeitig seine neueste Entfaltung, sein Fortleben. Übersetzung über-lebt den Text, löscht ihn dabei aber nicht aus, sondern verleiht dem Fortleben performativ Ausdruck. 66 Vgl. Christian Schulte, »›Die Muskeln der Vorstellungskraft.‹ Geschichtswahrnehmung und Responsivität bei Alexander Kluge«, in: ders., et al., (Hg.) Vermischte Nachrichten. Alexander Kluge-Jahrbuch 1, Göttingen 2014, S. 43–62, hier S. 43f.

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diese Arbeit an der Geschichte zu umreißen, nimmt sich Kluge erst Robert Musil als Bezugsperson, und zwar, wie Helmut Heißenbüttel in einer Rundfunkbesprechung meint, »weil dieser versucht hat, sich dem 20. Jahrhundert kannibalisch zu nähern, es zu verschlingen, seine Wirklichkeit, die für Kluge die Wirklichkeit dessen ist, was zum Ersten Weltkrieg geführt hat, in sich aufzunehmen und darzustellen«.67 Sieht man sich den Text genauer an, bezeichnet Kluge nicht Musil als jemanden, der sich dem 20. Jahrhundert kannibalisch nähert; stattdessen beschreibt er die kannibalische Qualität historischer Momente selbst. Er [Musil] behandelt fast ausschließlich zwei Jahrzehnte, die seine Aufmerksamkeit magnetisiert haben. Diese Aufmerksamkeit rechtfertigt er, weil das, was sich zwischen 1890 und 1910 – das sind die zwei Jahrzehnte, die ihn beschäftigen – vorbereitet hat, die Tendenz hat, die ganze Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts zu verschlingen, sich gewissermaßen zur Zukunft kannibalisch zu verhalten, und ein imaginäres Jahrhundert zu erzeugen.68

Kluge beschreibt hier einen Sog, der von der Geschichte ausgeht, der die zukünftige Wirklichkeit ansaugt und in sich aufnimmt, um eine neue, eigene daraus zu erzeugen. Für Musil selbst wird die Sogwirkung historischer Momente wiederum zum Motiv, sich diese einzuverleiben, und in der Konstellation seiner eigenen Erfahrungszusammenhänge, in Form seiner Texte, darzustellen. So ist vielleicht auch die Lesart Heißenbüttels nicht ganz abzuweisen. Zusätzlich scheint die von Kluge hier beschriebene Sogwirkung, die kannibalisch-komplexe neue Zeitverschränkungen erzeugt, jener Art des galaktischen Kannibalismus verwandt, die Kluge in einem besonders experimentellen TV-Essay mit dem Titel »Galaktischer Kannibalismus«69 thematisiert. In einer Montage aus beeindruckenden Teleskopaufnahmen von Sternenkonstellationen und Galaxien, Diagrammen und erklärenden Inserts (Abb. 5–7), unterlegt von teils atmosphärischer, teils treibender Elektromusik, wird unter anderem dargestellt, wie Materie, Zeit und Raum, von schwarzen Löchern aufgesogen wird und schließlich neue Sterne daraus entstehen.

67 Helmut Heißenbüttel, »Zum Lesen empfohlen: Theodor Fontane, Heinrich von Kleist und Anna Wilde. Zur Grammatik der Zeit«, Alexander Kluge, Transkript einer Radiobesprechung am 15. 04. 1988 im Norddeutschen Rundfunk, verfügbar unter: https://www.kluge-alexande r.de/zur-person/texte-ueber/details/zum-lesen-empfohlen-1.html [Zugriff: 28. 08. 2020]. 68 Alexander Kluge, »Die Differenz. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin«, in: ders., Theodor Fontane, Heinrich von Kleist und Anna Wilde. Zur Grammatik der Zeit, Berlin 1987, S. 73–89, hier S. 74. 69 »Galaktischer Kannibalismus«, Primetime Spätausgabe, RTL, 16. 03. 2003.

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Abb. 5–7: Filmstills aus »Galaktischer Kannibalismus« (Kluge, 2003).

In seiner Kleist-Rede weist Kluge direkt im Anschluss an seine Ausführungen zu Musil erneut darauf hin, dass die Arbeit am 20. Jahrhundert nur in Kooperation möglich ist, daß wir in einem imaginären Laboratorium mit anderen Menschen, die es ernst meinen, leben, wenn wir mit unserem Bleistift vor einem Stück Papier sitzen. Und nicht ich schreibe Texte, sondern ich schreibe Texte, wenn ich davon absehen kann, daß ich ich bin.70

Hier liegt ein zentraler Knotenpunkt, der es erlaubt, die Erträge aus den bisherigen Streifzügen durch unterschiedliche Kannibalen-Kontexte auf Kluges Konzept der Autorschaft anzuwenden, und darin eine Art der dezentrierenden, ›anthropophagischen Autorschaft‹ zu lesen. In seinem Text »Verteilte Autorschaft« schreibt Christian Schulte, dass Kluge den Begriff der Autorschaft im Kontext seiner »(auch imaginären) Kooperation mit Vergangenheit und Zukunft benötigt«, und zwar als »Chiffre für empathische Mitteilungs- und Aneignungsprozesse.«71 Die Figur des Autors tritt nicht als schöpferisches, auktoriales Ich in Erscheinung, das Rezipient_innen entlang einer klaren Intention überzeugen will, sondern eben als Chiffre, oder als Ort,72 für Prozesse der Zeug_innenschaft, in generationenübergreifender Kooperation mit Vergangenheit und Zukunft, und Akten der Übersetzung von Erfahrungszusammenhängen. Auch die »produktive[r] Aneignung der Geschichte als Kannibalismus«73 kann als zentrales Element dieses Zugangs zu Autorschaft gelesen werden – und, damit einhergehend, die »schöpferische Zerstörung«, um mit einer Formulierung Kluges zu sprechen, die eigentlich, bezeichnenderweise, gar keine Formulierung Kluges ist. In Kluges Fernsehgespräch mit dem russischen Filmregisseur

70 Alexander Kluge, »Die Differenz. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin«, in: ders., Theodor Fontane, Heinrich von Kleist und Anna Wilde. Zur Grammatik der Zeit, Berlin 1987, S. 73–89, hier S. 75. 71 Christian Schulte, »Verteilte Autorschaft«, in: Rainer Stollmann, et al., (Hg.), Stichwort: Kooperation. Keiner ist alleine schlau genug, Alexander Kluge Jahrbuch 4, Göttingen 2017, S. 133–139, hier S. 134. 72 Vgl. Christian Schulte, »Kritik und Kairos«, in: Hermann Blume, et al. (Hg.), Inszenierung und Gedächtnis. Soziokulturelle und ästhetische Praxis, Bielefeld 2014, S. 243–260, hier S. 245. 73 Ebd., S. 44.

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Oleg Kowalow74 erläutert dieser anhand der Arbeit an seinen historisch-biografischen Filmen, dass immer ein Punkt komme, an dem »reale Fakten stören«, und sich stattdessen »ein eigenes Gefühl« einstelle. Als hätte er auf diesen Anstoß gewartet, wirft Kluge sofort ein: wie bei einem Kannibalen – irgendwann ist der Gegner, dessen Kraft ich in mich bringe, verschwunden – und das bin ich – und ich werde das Verschlungene verteidigen gegen jeden, der es mir wegnimmt – das ist die Unverletzlichkeit der Person – ein schöpferischer Akt – schöpferische Zerstörung.75

Kluges Replik zeigt eindrücklich, laut Kreimeier, wie er diese Art der Aneignung der Geschichte denkt, nämlich als »Prozess, der nur als kannibalischer künstlerische Authentizität reklamieren darf«, der also nur als schöpferisch/künstlerisch gilt, sofern er kannibalisch ist. Und dieser Prozess sei wiederum, so Kluge im Gespräch, ganz zentral an dem von Kowalow angesprochenen »eigenen Gefühl« ausgerichtet: »Kein Kannibale isst, was er hasst!«76 Es ist also das Gefühl, das »eigene Gefühl«, das den schöpferischen Akt der Zerstörung anleitet. Gefressen wird die Geschichte, das Material, die Ahn_innen; das, wovon man magnetisiert ist, was geliebt oder verehrt wird. Außerdem übernimmt Kluge hier unausgewiesen, in einem beispielhaften Akt ›anthropophagischer Autorschaft‹, eine zentrale Formulierung des Ökonomen Joseph Schumpeter, dessen »schöpferische Zerstörung« unter anderem in Verbindung mit Walter Benjamins Text »Der destruktive Charakter« gelesen wird.77 Bedingung für in diesem Sinne motivierte Autorschaft, für die Übersetzung von Erfahrungszusammenhängen in Zeug_innenschaft, scheint die Zerstörung des schöpferischen Ichs, des identitären Individuums zu sein – »[…] ich schreibe Texte, wenn ich davon absehen kann, daß ich ich bin«78 –, eine Dezentrierung, die sich unter anderem durch die von Kluge in den Reden stark gemachte Kooperation auszeichnet. Zum anderen erstreckt sich die »schöpferische Zerstörung« auch auf die Materialien der Zeitgeschichte, die historischen Fakten und Momente, die im Akt der Zeug_innenschaft einverleibt und mit neuem Leben erfüllt wiedergegeben werden; die Arbeit am »Eigenen« durch die Aneignung, Einver74 75 76 77

»Eisenstein 2000«, 10 vor 11, RTL, 05. 08. 1996. Zitiert nach: Kreimeier, »Anmerkungen zu Alexander Kluges Magazinen«, S. 44. Ebd. Siehe dazu: Irving Wohlfarth, »›Knapp an die knappe Wirklichkeit heran‹. Walter Benjamins ›Destruktiver Charakter‹ in neuer dürftiger Zeit«, in: Christian Schulte (Hg.), Erfahrung und Zerstörung, Berlin 2018, S. 85–128, sowie: Florian Telsnig, »Am Kreuzweg der Extreme. Notizen zu Walter Benjamins ›Der destruktive Charakter‹«, in: Christian Schulte (Hg.), Erfahrung und Zerstörung, Berlin 2018, S. 129–166. 78 Alexander Kluge, »Die Differenz. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin«, in: ders., Theodor Fontane, Heinrich von Kleist und Anna Wilde. Zur Grammatik der Zeit, Berlin 1987, S. 73–89, hier S. 75.

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leibung des »Anderen«. In diesem Sinn ist Kluges Verständnis von Autorschaft kritische Intervention durch Aneignen und Einverleiben, die Produktion von Unterscheidungsvermögen und Möglichkeitssinn durch eine Verunmöglichung der klaren Unterscheidung zwischen Selbst und Anderem. Der anthropophagische Autor ist Unmensch, »Geschöpf aus Kind und Menschenfresser«,79 der einen kindlichen Sinn für den Magnetismus der Dinge und die »schöpferische Zerstörung« des Kannibalen vereint.

Bildnachweise Abbildung 1: »Manifesto Antropófago by Oswald de Andrade, line drawing of Abaporu by Tarsila do Amaral«, Wikimedia Commons, verfügbar unter: https://upload.wikimedia.o rg/wikipedia/commons/f/fa/O_Manifesto_Antrop%C3%B3fago.png [21. 09. 2020]. Abbildung 2–4: »Kannibalenforschung im Dritten Reich«, Primetime/Spätausgabe, RTL, 26. 08. 2001, 00:00:28; 00:00:37; 00:00:47. Abbildung 5–7: »Galaktischer Kannibalismus«, Primetime Spätausgabe, RTL, 16. 03. 2003, 00:03:57; 00:05:20; 00:11:04, verfügbar unter: https://www.dctp.tv/filme/galaktischer-k annibalismus?thema=kosmos [21. 09. 2020].

79 Benjamin, »Karl Kraus«, S. 367.

Prime Time/Spätausgabe vom 26. 08. 2001 (Kluge / Berling)

Kannibalenforschung im Dritten Reich. SS-Standartenführer a. D. Fred Füllgrabe verliert seinen Posten

Reste von Kannibalen-Mahlzeiten im Kriegsjahr 1942 ALEXANDER KLUGE: Mit welchen Instrumenten haben Sie da gearbeitet? FRED FÜLLGRABE: Historische Untersuchungen. KLUGE: Technische Geräte hatten Sie? FÜLLGRABE: Weniger. KLUGE: IBM? FÜLLGRABE: Ja, Hollerith natürlich, aber das ist ja nur ein Mittel um Forschungsergebnisse aufzuarbeiten und zu analysieren. KLUGE: Also, Sie hätten diese Forschung nicht machen können ohne die Hilfe dieser Hollerith-Maschinen der Firma IBM, die deutsche Tochter von IBM, die hier vertrieben wurden, und auch das Reichsicherheitshauptamt hatte diese Geräte angeschafft. FÜLLGRABE: Die Ergebnisse, das vorliegende Ergebnis hätte hunderte von Jahren gedauert, wenn wir diese Maschinen nicht gehabt hätten. Das mit den Lochkarten vereinfacht natürlich die Sache ungeheuer. KLUGE: Sie haben jetzt geforscht und verglichen phönizische Daten, Karthagos Daten. Phönizier sind ja praktisch Semiten. FÜLLGRABE: Ja. KLUGE: Und Sie haben unparteiisch damit die Griechen verglichen? FÜLLGRABE: Ja. KLUGE: Und Sie haben Germanenforschung betrieben. FÜLLGRABE: Als Letztes, ja. KLUGE: Weil’s zu Ihrer Abteilung gehört. FÜLLGRABE: Ja. KLUGE: Keltenforschung nicht? FÜLLGRABE: Nö, nö, nö. Es interessierte eigentlich mehr dieser Sprung von Karthago über Asia Minor bzw. Magna Graecia, also Sizilien, in den germanischen Bereich.

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KLUGE: Griechisches Vaterland … Sie sind ein begeisterter Griechenverehrer und bekannt als etwas parteiisch. FÜLLGRABE: Ja, gut. KLUGE: Im Stürmer wurden Sie angegriffen, im Schwarzen Korps wurden Sie angegriffen, wegen einer gewissen Bevorzugung der Antike in Griechenland, wenn wir doch in einer glorreichen und, sagen wir, selbstbewussten Jetztzeit des NS-Staates leben. FÜLLGRABE: Ja gut, ich meine, das Problem war ja schon die römische Zeit, die dazwischen liegt. KLUGE: Die werden ja abgelehnt, die Römer. FÜLLGRABE: Ja gut, das war die Besatzungsmacht, aber ich meine … KLUGE: Sie sind ja auch rassisch nicht eine Einheit, sondern sozusagen ein Völkerkonglomerat … FÜLLGRABE: Richtig, richtig. KLUGE: … wenn die Griechen von Norden eingewanderte Indogermanen sind. FÜLLGRABE: Richtig, und zwar aus der Wolgagegend, Kaukasus nach … KLUGE: Richtung Halbinsel. Warum wollten die auf dieses kleine Halbinselchen da, Griechenland, Peloponnes. FÜLLGRABE: Weil sie unter Druck vertrieben wurden aus der Gegend. KLUGE: Flüchtlinge. FÜLLGRABE: Außerdem war es ja auch etwas wärmer dort. KLUGE: Flüchtlinge. Flüchtlinge vor der Kälte, vor den Hunnen. FÜLLGRABE: Ja, ich meine, alle großen Völkerwanderungen sind letzten Endes Fluchtbewegungen, nicht. Oder Eroberungsbewegungen. KLUGE: Das stand in Ihren Akten, wurde nicht besonders gebilligt. Sie galten als aufsässig, im wissenschaftlichen Sinne aufsässig. FÜLLGRABE: Das Problem kam eigentlich erst später mit der Germanenforschung, und bis dahin war alles in Ordnung. Wir hatten zwar Schwierigkeiten mit Mussolini damals und der natürlich mit unserer Art römische Geschichte zu betrachten. Troja und die Aeneas-Geschichte abzutrennen von der römischen Staatsgründung, das gefiel natürlich dem Duce nicht. Der hat sich auch beschwert bei dem Reichskanzler. KLUGE: Ohne Erfolg, denn der Reichskanzler wusste gar nicht, dass es Ihre Abteilung gab. FÜLLGRABE (lacht) KLUGE: Das Reichsicherheitshauptamt ist ja im Grunde eine Nebenbehörde zu diesem Zeitpunkt und hat eben diese wissenschaftlichen Interessen? FÜLLGRABE: Also, dass es das Reichsicherheitshauptamt gab, das wusste er schon. Bloß womit sich das befasste … KLUGE: Das war nicht ganz klar.

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FÜLLGRABE: Das ist genau dieselbe Geschichte wie mit Otto Rahn, als wir im Languedoc unsere Forschung betrieben haben. KLUGE: Sie unterstanden Pohl, also der »Hauptabteilung 3, Wirtschaft«, und die forschten wie die Wilden mit dem Geld, das man durch Selterswasserverkauf – die SS hatte ja das Monopol auf alle Wasser der Tschechei … FÜLLGRABE: Ja, ja. KLUGE: Na gut. Sie haben jetzt im Grunde in Ihrer kleinen Unterabteilung, der »Hauptabteilung Rassenforschung«, also hollerithmäßig, ja, Bevölkerungsschnitte berechnet, und eigentlich ist Ihr Auftrag Kannibalenforschung. Kannibalenforschung nicht etwa in diesen Breiten, wo Sie sie betrieben haben, sondern Sie wollten im Grunde, dass die Ägypter Kannibalen sind, dass die Karthager Kinder opfern oder Kannibalen sind, das sollte erforscht werden. Das semitische Element ist kannibalisch, das war die These. Wie kann man Kannibalen so befriedigt halten, dass sie den Kannibalismus aufgeben, oder wie kann man Kannibale werden? Was war der Forschungsauftrag? FÜLLGRABE: Überhaupt der Umgang mit dem Phänomen, das ja nichts Besonderes ist, denn in der Vorzeit hatte Kannibalismus ja nicht diesen Hautgout, den er heute hat. KLUGE: Nein. FÜLLGRABE: Das heißt, das Verspeisen des getöteten Gegners war ja ein ganz normaler ritueller Akt … KLUGE: … eines Achtung gebietenden Gegners verstärkt die Kräfte. FÜLLGRABE: Ja natürlich, und mehr war das ja nicht. Und in Schwarzafrika wird es ja auch heute noch so betrieben. KLUGE: Im Grunde müsste man doch für einen fortgeschrittenen Nationalsozialisten, einen konsequenten Nationalsozialisten sagen, dass Kannibalismus in der richtig angewandten Form, wenn ich nämlich das Richtige am Gegner esse … FÜLLGRABE: Eigentlich adäquat ist! Das darf man natürlich nicht sagen. KLUGE: Nein. FÜLLGRABE: Das wäre völlig richtig. Man hätte sich auch sehr viele Eroberungskriege gespart, wenn man sie vereinfacht und reduziert hätte auf Kannibalismus. KLUGE: Es ist ein bürgerlicher Standpunkt zu sagen, Menschenfresser sind abzulehnen. Ja, denn sie sind im kämpferischen Sinne eine Elite, und in einer Notsituation, wenn eine Armee eingekesselt ist in einer Schneewüste, wenn sie die Pferde alle aufgegessen hat … FÜLLGRABE: Nee, nee, Notkannibalismus ist nun wirklich damit nicht zu vergleichen. Ich rede jetzt vom rituellen Kannibalismus, der sozusagen einer höheren Aufgabe dient. KLUGE: Der den Gegner ehrt, in dem ich ihn in mich bringe. FÜLLGRABE: Ja, und vor allem mich selber stärkt.

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KLUGE: Er überlebt gewissermaßen in mir, dem Stärkeren. FÜLLGRABE: Und das wäre natürlich eine Vereinfachung von Kriegsführung, ja. Man muss nicht Hunderttausende von Soldaten sozusagen in riesige Räume schicken, wie in den Norden oder in den Osten. KLUGE: Ein Volk frisst das andere, wie man weiß, ja. FÜLLGRABE: Man kann ja eine Auswahl treffen. KLUGE: Man unterwirft es und indem man es unterwirft, lebt das unterworfene Volk im siegreichen fort und steigert sich. FÜLLGRABE: Richtig. Wie es früher Einzelduelle in Vertretung von Heeren gegeben hat…

Wie schmeckt der Gegenmensch? KLUGE: Wie schmeckt für einen Kannibalen nach Ihren Forschungen eigentlich der Gegenmensch, der Besiegte, also was isst man überhaupt vom anderen, das Hirn? FÜLLGRABE: Nein, nein, nein, nein, nein. Also nach unseren Ergebnissen werden vor allem, wie beim Schwein auch, die Schenkel gegessen. Das Normale sind die Schenkel. KLUGE: Die Geschlechtsteile? FÜLLGRABE: Das ist schon wieder eine Unterstellung. Das Verspeisen der Hoden, das ja auch im Stierkult gehört, ja, die Stärke des Stieres durch das Verspeisen der Stierhoden auf sich zu ziehen, dafür gibt es eigentlich wenig Beispiele im angewandten Kannibalismus. Das Normale sind der Schinken, die Pobacken und der Oberschenkel. KLUGE: Das ist das Genussreichste, während das Nasenfleisch als zäh gilt … FÜLLGRABE: Also da ist doch kaum Fleisch dran. KLUGE: Ohren? FÜLLGRABE: Nein. KLUGE: Geröstete Ohren? FÜLLGRABE: Nein! Ach. KLUGE: Augen? FÜLLGRABE: Es ist keine Feinschmeckerart, es ist eine Perversion. Natürlich gibt es Perversionen, wie zum Beispiel Spare Ribs, die Finger von fast Neugeborenen zu sieden, mit einer bestimmten Soße, ja. Aber das ist total dekadent. KLUGE: Ja. FÜLLGRABE: Natürlich kann ich dem Gegner die Gehirnschale abschlagen und das Gehirn auslöffeln, aber das hat mit Kannibalismus gar nichts mehr zu tun.

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KLUGE: Es ist sozusagen eine steinzeitliche und inzwischen durch den Kannibalismus überwundene Form, denn der Kannibalismus ist frühhochkulturell, wie man sagt. FÜLLGRABE: Ja, ja. Aber die Gehirngeschichte ist eben noch viel früher. Das ist dann überwunden worden. KLUGE: Und zwar nicht, weil man sich das Hirn aneignet, sondern weil es leicht zu essen ist, weil’s fast schon wie ein Teller aussieht. FÜLLGRABE: Jein. Es ist natürlich doch das Gefühl, das Wesentliche des anderen zu übernehmen. KLUGE: Das wissen die frühen Menschen? FÜLLGRABE: Das wussten die frühen Menschen oder spürten es zumindest. KLUGE: Weil das so verborgen war in einem Schädel. FÜLLGRABE: Ja, ja. KLUGE: Was so geheimnisvoll in einem Kasten liegt aus Knochen. FÜLLGRABE: Und es war auch nicht so einfach zu bekommen, ja. Bloß, die Blöcke, mit denen wir uns beschäftigt haben, also Phönizier, Karthago, Hellenen, in der Magna Graecia, Sizilien und dann rüber… KLUGE: Zu den Nordgermanen, nach Gotland, Schweden. FÜLLGRABE: Naja, nicht so weit. Nur in den germanischen Urbereich. Und da ist dann schon das, was auch in Westafrika heute noch praktiziert wird, eben ganz bequem … KLUGE: Während Sie im Kongo oder in Nordafrika überhaupt keine Kannibalismen festgestellt haben. FÜLLGRABE: Doch, doch, den gibt es dort, das ist ja bekannt. Den gibt’s auch heute noch dort. Das ist nicht das Problem, sondern uns interessierte, wie war es früher, wie war es bei den Völkern, die wir als Hochkulturen betrachten, wie ja zum Beispiel die Hellenen. Gab es da Phasen, Frühphasen des Kannibalismus? Das ist interessant, zum Beispiel Kreta, der ganze Minotaurus-Kult. KLUGE: Ist kannibalisch? FÜLLGRABE: Hat eine kannibalische Komponente in der Frühzeit. KLUGE: Und jetzt wird Ihre Unterabteilung der Hauptabteilung geschlossen, ja, ersatzlos geschlossen, Sie werden entlassen. FÜLLGRABE: Ja, das war eben das Germanenergebnis. KLUGE: Sie werden entlassen, weil sie nachweisen, dass die Griechen und Germanen kannibalistische Formen haben. Sie sollten nachweisen, dass die Karthager das haben, aber nicht die Germanen. FÜLLGRABE: Ja, das mit den Griechen wäre ja auch noch durchgegangen, aber mit den Germanen, da gab’s dann Schwierigkeiten, weil das einfach nicht zu vermitteln ist.

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KLUGE: Aber das konnten Sie im Grunde Ihrem wissenschaftlichen Ethos nach und den Hollerith-Maschinen von IBM entsprechend, Ihren Ergebnissen nach, nicht unterdrücken. FÜLLGRABE: Ja, ich meine, es wurde unterdrückt. Letzten Endes wurden diese ganzen Lochkarten … KLUGE: Aber in Ihrer Abteilung, wo immerhin vier Leute zugucken, wenn sie was unterdrücken. FÜLLGRABE: Das ist es eben. KLUGE: Da war’s Ihnen nicht möglich, und vor Ihrem Gewissen war’s auch nicht möglich. FÜLLGRABE: Nein nein, nein nein. Außer meiner eigenen Person sind ja auch die ganzen Mitarbeiter zum Schweigen gebracht worden. KLUGE: Wenn Sie gewusst hätten, dass das zur Schließung Ihrer Abteilung und Ihrer Absetzung führt, hätten Sie dann die Ergebnisse gefälscht? Ja. Aber Sie wussten es nicht, Sie vermuteten, dass nach altgermanischen Gesichtspunkten der Wahrheit Genüge getan wird. FÜLLGRABE: Sagen wir mal so, ich hätte sicher länger drüber nachgedacht, bevor ich irgendeinen Schritt an die Öffentlichkeit getan hätte und ich hätte vor allem dafür gesorgt, dass das Wissen nur in meiner Person gebündelt ist und nicht von anderen eingelesen werden konnte. KLUGE: Das Interessante ist ja, dass Sie ganz naiv im Schwarzen Korps einen Artikel veröffentlichen, in dem Sie in euphorischen Worten das Lob des Kannibalismus, und zwar des germanischen Kannibalismus predigen, weil Sie sagen, es gibt immer die Korrelation zwischen Kult und Kannibalismus. FÜLLGRABE: Also ich will Ihnen was sagen, diesen Artikel habe ich gar nicht geschrieben, der wurde geschrieben, um mich abzuschießen, lanciert unter meinem Namen. In Wirklichkeit, das kam auch raus, und ich habe natürlich diesen Artikel nicht geschrieben, denn so blöd bin ich nicht und so naiv auch nicht. KLUGE: Die Bundesrepublik hat ja die Rechtsnachfolge des Dritten Reiches, und so klagen Sie gegen die Bundesrepublik um Wiedereinstellung? FÜLLGRABE: Ja. KLUGE: Wo ist das jetzt inzwischen, im Oberlandesgericht? FÜLLGRABE: Bloß, es geht eigentlich mehr um die Pension als um die Wiedereinstellung, denn inzwischen habe ich ja ein Alter erreicht, das eine Neubeschäftigung gar nicht mehr … KLUGE: Sie sind aber immer noch als Kammersänger tätig. FÜLLGRABE: Ja gut, da gibt es ja auch sozusagen gar keine Altersgrenze, wenn jemand den Beruf ausüben kann, kann er das mit achtzig auch noch. KLUGE: Und Sie bringen im dritten Akt der Meistersinger immer noch die Stimme.

Kannibalenforschung im Dritten Reich

FÜLLGRABE: Ja. KLUGE: Wer kann, der kann. FÜLLGRABE: So isses.

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Relationalität, Gewalt und die tiefen Schnitte kollektiver Trauerarbeit. Alexander Kluge und Rainer Werner Fassbinder in Deutschland im Herbst

Dieser Aufsatz verfolgt das Ziel anhand des Kollaborationsprojekts Deutschland im Herbst (1978),1 die in Rainer Werner Fassbinders Arbeiten entwickelten ästhetischen Verfahren und die in seinen Filmen zum Ausdruck kommenden Darstellungsformen, Relationalität und Intimität herzustellen, mit jenen von Alexander Kluge vergleichend zu analysieren. Wie Thomas Elsaesser detailliert beschrieben hat, sind in Fassbinders Filmen Machtverhältnisse, Gewalt, Hassund Liebesbeziehungen und gesellschaftliches Ein- und Ausgeschlossen-Sein die zentralen Themen.2 Auch in Hinblick auf das Œuvre von Alexander Kluge sind ähnliche thematische Setzungen von besonderer Relevanz, auch wenn sie dort zu anderer Sichtbarkeit gelangen, als in Fassbinders Filmen, und andere Ausgangsbedingungen haben. Obwohl sich die dafür gewählten ästhetischen Formen stark voneinander unterscheiden, operieren beide Filmemacher mit vergleichbaren Darstellungsformen der Herstellung von Zusammenhängen: Nebeneinanderstellen extremer bzw. divergierender Positionen sowie dokumentarischer und szenischer Elemente, verschachtelte narrative Stränge, verworrene Beziehungsnetze, Fokus auf Prozesse und Praktiken, anti-autoritäre und anti-iden1 Deutschland im Herbst, R: Alexander Kluge, Volker Schlöndorff, Edgar Reitz, Rainer Werner Fassbinder, Hans Peter Cloos, Maximiliane Mainka, Bernhard Sinkel, Katja Rupé, Peter Schubert und Alf Brustellin, DE 1978; Kamera: Michael Ballhaus, Jürgen Jürges, Bodo Kessler, Dietrich Lohmann, Werner Lüring, Colin Mounier, Jörg Schmidt-Reitwein; Gesamtmontage: Beata Mainka-Jellinghaus; Mischung: Willi Schwadorf; Ton: Roland Hentschke, Martin Müller, Günter Stadelmann; Regiesassistenz: Mulle Goetz-Dickopp, Petra Kiener, K. Scheydt, Christian Virmond; Kameraassistenz: Renato Fortunato, Peter Helmer, Harald Zellner; Ausstattung: Henning v. Gierke, Winfried Henning, Toni Lüdi; Kostümberatung: Ruth Gilbert, Katharina von Martius; Maske: Sybille Danzer, Ingrid Meyer-Ringel, Melanie Munkova, Eva Uhl; Technik: Toni Auracher, Franz Bauer, Ludwig Probst, Walter Seelinger, Ludwig Weidenthaler; Produktionsleitung: Heinz Badewitz, Karl Helmer, Herbert Kerz; Herstellungsleitung: Theo Hinz, Eberhard Junkersdorf; Eine Gemeinschaftsproduktion der ABS-Filmproduktion, tango-film GmbH., Kairos-Film, Halleluja-Filmproduktion, Edgar Reitz Filmproduktion u. a. mit ProjektFilmproduktion im Filmverlag der Autoren, DVD, 119 min. 2 Vgl. Thomas Elsaesser, Rainer Werner Fassbinder, Berlin 2001 [Orig. Fassbinder’s Germany. History, Identity, Subject, Amsterdam 1996].

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titäre Bildpolitiken sowie die Macht von Gefühlen, die als spezifische Ansätze im Sinne ›relationaler Ästhetiken‹3 beschrieben werden können.4 Diese für Fassbinder wie Kluge zentralen Perspektivierungen ihrer Arbeiten sind stark mit dem Versuch verbunden, durch die Verschiebung eingefahrener Blickwinkel neue ästhetische Mittel und filmisch-politische Interventionen zu generieren. Als Relationalität adressiere ich in diesem Text, ausgehend von Kluges Konzepten des ›Zusammenhangs‹, der ›Kooperation‹ und der ›Erfahrung‹, all jene ästhetischen Mittel und medialen Effekte, die ein selbstständiges Sich-in-Beziehung-Setzen von Zuschauer_innen ermöglichen bzw. herausfordern und die in einer Tradition stehen, die sich spätestens seit den 1960er Jahren mit politischen Verhältnissen der Produktion, Distribution und Konsumption kultureller Güter und den darin zum Ausdruck kommenden gesellschaftlichen Bedingungen kritisch befasst. Was mich hier ganz besonders interessiert, ist ein Vergleich der Darstellungsformen durch die Relationalität und Gewaltförmigkeit entstehen, also Zusammenhänge unter dem Gesichtspunkt ihrer affektiven und beziehungsförmigen Wirkmächtigkeit. Bewegungen zwischen Nähe und Distanz, Zuneigung und Gewalt, sind dafür von zentraler Bedeutung. In Deutschland im Herbst lassen sich zentrale Bezugspunkte des jeweiligen Filmemachers ausmachen, die auch in vielen weiteren Arbeiten von Bedeutung sind. Für Kluge gehe ich hier von einem Setting aus intertextuellen Verfahren der (Re-)Zitation und (Re-)Montage dokumentarischer und szenischer Elemente aus, das Zwischenräume und Nischen für eigene Auseinandersetzungen und eigene Erfahrungen lässt oder ggf. auch dafür aufbricht,5 und das seinem Verständnis von Geschichte und der Wirkmächtigkeit von Gefühlen geschuldet ist.6

3 Der Begriff ›relationale Ästhetik‹ stammt von Nicolas Bourriaud, in diesem Aufsatz versuche ich jedoch einen durchaus verwandten aber anders gelagerten Begriff von Relationalität zu ergründen. (Vgl. Nicolas Bourriaud, Relational Aesthetics, übers. von Simon Pleasance/Fronza Woods, unter Mitarbeit von Mathieu Copeland, Dijon 2002 [Orig.: 1998].) 4 Nach Walter Benjamin kann auch bei Alexander Kluge von einem relationalen Bildbegriff ausgegangen werden, indem Bilder beziehungsförmig gedacht werden. (Vgl. Alexander Kluge, In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod, hg. von Christian Schulte, Berlin 32011, S. 153). Schulte spricht auch vom Bild als einem »Raum der Erfahrung« bzw. einem »ResonanzRaum«. (Vgl. Christian Schulte, »›Die Muskeln der Vorstellungskraft‹. Geschichtswahrnehmung und Responsivität bei Alexander Kluge«, in: ders., et al. (Hg.) Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 1: Vermischte Nachrichten, Göttingen 2014, S. 43–61, hier S. 52.) 5 Die Montage bei Kluge wird von Schulte in diesem Zusammenhang auch als »Medium der Entgrenzung« bezeichnet, das Öffnungen produziert und gegen immer schon abgeschlossene Erklärungsmodelle gerichtet ist. (Vgl. Schulte, »›Die Muskeln der Vorstellungskraft‹«, S. 51.) 6 »Es gibt nichts Objektives ohne die Gefühle, Handlungen, Wünsche, d. h. Augen und Sinne von Menschen, die handeln. Ich habe nie verstanden, warum man die Darstellungen solcher Handlungen (meist müssen sie inszeniert werden) Fiktion, fiction-Film, nennt. Es ist aber auch Ideologie, daß einzelne Personen die Geschichte machen könnten. Deshalb gelingt keine Erzählung ohne ein gewisses Maß an authentischem Material, also Dokumentation. Sie gibt

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Für Fassbinder fokussiere ich mich auf Aspekte der Selbstdarstellung und auf Elemente des melodramatischen Films – von Anton Kaes auch als »Politiken des Privaten« bezeichnet –,7 die durch extreme affektive Aufladung die Verschiebung von Perspektiven auf dominante Erzählungen provozieren und eine Reflexion der eigenen Positionierung anstoßen können.

Das Erzählen von Geschichte(n) ist immer auch Beziehungsarbeit In Bezug auf Relationalität gehe ich von zwei unterschiedlich ausgerichteten Horizonten aus, die den Rezipient_innen unterschiedliche Nähe- und Distanzverhältnisse ermöglichen.8 Bei Kluge besteht die schon vielfach kommentierte Darstellungsform, angelehnt an den frühen Film, im ›Nummernprinzip‹. Dieses Prinzip umfasst eine großangelegte Streuung auf der inhaltlichen Ebene, eine Mannigfaltigkeit der Zugänge zu sensorischer Wahrnehmung sowie das Auffalten eines Netzes an Beziehungen und Suggestionen möglicher Zusammenhänge zwischen den in unterschiedlicher Form aufgeworfenen Themen.9 In Deutschland im Herbst wird dies besonders in den von Kluge (mit-)produzierten Passagen anschaulich, aber auch in der Gesamtmontage des Films von Beata Mainka-Jellinghaus. In dieser Hinsicht werden Zusammenhänge, die über synchrone und diachrone Quer- und Längsschnitte durch das angehäufte Material konstruiert werden,10 aber niemals vollständig ausformuliert, sondern angedeutet, um durch die entstehenden Lücken und Leerstellen,11 Möglichkeiten zur Auseinandersetzung vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen sowie in Bezug

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den Augen und Sinnen sozusagen den Kammerton A: wirkliche Verhältnisse klären den Blick für die Handlung.« (Alexander Kluge, Die Patriotin, Frankfurt/M. 1979, S. 41.) Vgl. Anton Kaes, Deutschlandbilder. Die Wiederkehr der Geschichte als Film, München 1987, S. 77–85. »Die eigenen Erfahrungen werden in Gesellschaft gebracht mit den Erfahrungen anderer, Privates wird auf der Ebene der allgemeinen Geschichte verhandelt, und offizielle Geschichtsbilder werden umgekehrt durch die Kontrastierung mit Individualerfahrungen relativiert. Auf dieser Folie ist die Arbeit an der Geschichte immer zugleich als kollektives und zeitenübergreifendes Projekt konzipiert.« (Schulte, »›Die Muskeln der Vorstellungskraft‹«, S. 54.) Vgl. Christian Schulte (Hg.), »›Alle Dinge sind verzauberte Menschen‹. Über Alexander Kluges Nachrichten aus der ideologischen Antike«, in: Die Frage des Zusammenhangs, S. 270– 279. Vgl. Alexander Kluge/Thomas Y. Levin/Miriam Hansen, »On Film and the Public Sphere«, in: New German Critique 24/25, 1981–82, S. 206–220, hier S. 216. »In film history, this concept recalls Dziga Vertov’s emphasis on ›intervals‹ as part of his concept on montage as practical epistemology, which met with increasing opposition within Soviet cinema, including from colleagues such as Eisenstein.« (Hansen, »Cooperative Auteur Cinema and Oppositional Public Sphere. Kluge’s Contribution to Germany in Autumn«, in: New German Critique 24/25, 1981–1982, S. 36–56, hier S. 48, FN 23.)

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auf das Vorstellungsvermögen der Rezipient_innen zu bieten.12 Christian Schulte hat dies mit dem Begriff der ›Responsivität‹ und mit einer ›Autor_innen-Position als Bote_in‹ beschrieben.13 Dietrich Scheunemann weist in diesem Zusammenhang auch auf die »kontrapunktische[] Fügung« der Elemente von Deutschland im Herbst hin und geht davon aus, dass die politische Haltung, die im Film zum Ausdruck kommt, von diesen »Rissen und Fugen, den Spannungen und Widersprüchen in seiner formalen Organisation nicht zu trennen ist.«14 Das Weiterspinnen von vielfach auf historischen Fakten basierenden Erzählungen mündet dabei in von Kluge (mit-)gestalteten Abschnitten oft in rasend schnellen, verwirrenden Montagen sowie offensichtlichen Fiktionalisierungen oder sogar falschen Behauptungen. Für Kaes ist die wichtigste Funktion dieses konstruktivistischen Prinzips – das immer darauf aus ist, alternative Vorstellungen zu provozieren –, der vehemente Widerstand gegen die hegemoniale »Vorstellung von der unausweichlichen Zwangsläufigkeit der Verhältnisse.«15 Dem zugrunde liegt ein Geschichtsverständnis, das Zusammenhänge im geschichtlichen Kontext aufzeigt, die »nur über aktive Erinnerung herstellbar (sind) […]: im Rahmen einer dialogisch-reziproken Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit.«16 Die so bearbeiteten Themen erlangen dadurch nicht nur gesteigerte Sichtbarkeit, sondern werden auch nachhaltiger reflektiert, da sie eine eigene Involvierung herausfordern, und nichts hinterlässt mehr Spuren in uns, als die Themen, die wir uns selbst erarbeitet haben oder die Erfahrungen, die wir selbst gemacht haben – wie marginal diese auch scheinen mögen. Heide Schlüpmann hat dem eine kritische Perspektive hinzugefügt, denn diese filmtheoretische Grundannahme »zeigt in der Praxis der Zuschauerin nicht nur ihre emanzipatorische Seite, sondern enthüllt auch ihre restriktive: der Blick bleibt reflexiv auf die Erinnerung eigener Erfahrung bezogen, geht letztlich nicht nach außen.«17 Berechtigte Kritik, die aber das Potential des Ansatzes einer Aktivierung des Vorstellungsvermögens nicht per se negiert. 12 Vgl. Christian Schulte, »Dialoge mit Zuschauern. Alexander Kluges Modell einer kommunizierenden Öffentlichkeit«, in: Irmela Schneider/Christian Bartz/Isabell Ott (Hg.), Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 3: Medienkulturen der 70er Jahre, Wiesbaden 2004, S. 231–250. 13 Vgl. Schulte, »›Die Muskeln der Vorstellungskraft‹«, S. 48. 14 Dietrich Scheunemann, »›Konstellationen‹. Ästhetische Innovation und politische Haltung in Deutschland im Herbst«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Schrift an der Wand. Alexander Kluge. Rohstoffe und Materialien, Osnabrück 2000, S. 69–78, hier S. 72. 15 Kaes, Deutschlandbilder, S. 55. Kaes bespricht außerdem den Zusammenhang zu Verhandlungen des Traums und des Erwachens bei Benjamin und wie sich dies in der Bedeutung von Wünschen, Gefühlen und Fantasie bei Kluge niederschlägt. (Vgl. ebd., S. 59–65.) 16 Christian Schulte, »Konstruktionen des Zusammenhangs«, in: ders. (Hg.), Die Schrift an der Wand, S. 45–67, hier S. 67. 17 Heide Schlüpmann, »›Unterschiedenes ist gut‹. Kluge, Autorenfilm und weiblicher Blick«, in: Frauen und Film 1989/46, S. 4–20, hier S. 18.

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Was kann es heißen, wenn Kluge eine Darstellung des Attentats auf König Alexander I. von Jugoslawien in einen Film über den Deutschen Herbst montiert, und zwar an eine Stelle, an der sie unmittelbar mit Szenen zu den Bestattungsfeierlichkeiten für Hanns Martin Schleyer zusammentrifft? Was kann es außerdem bedeuten, zu behaupten, der deutsche Geheimdienst hätte den König 1938 ermordet – was nicht den historischen Fakten entspricht (der König wurde 1934 ermordet) oder sich nicht belegen lässt (das Zutun des deutschen Geheimdienstes konnte nie bewiesen werden)? An einer anderen Stelle finden wir eine ähnliche Vorgehensweise, diesmal vor allem auf der Ebene bildlicher Darstellung realisiert: Kluge spricht über Rosa Luxemburg, die im Zuge der gescheiterten Novemberrevolution von 1919 von deutschen Freikorps-Offizieren ermordet wurde, währenddessen sehen wir auf der Bildebene Material der Exekution einer Frau durch Wehrmachtssoldaten. Kurz darauf erscheinen Bilder vermeintlicher leninistischer oder stalinistischer ›Säuberungen‹ – erhängte Menschen, die entlang von Hausfassaden von den Gesimsen baumeln. Es sind Bilder extremer Gewalt, von denen oft gesagt wurde, dass sie per se ein Sich-in-Beziehung-Setzen durch ihre spezifische Verfasstheit verunmöglichen.18 Trotzdem werden wir als Rezipient_innen affiziert und subjektiv herausgefordert Parallelen zu erkennen oder selbst zu ziehen und weiterzudenken.19 Dazu gehört laut Tara Forrest auch, Fabulationen und Alternativszenarien miteinzubeziehen sowie Ressourcen zu nutzen, die ein hegemoniales und lineares Verständnis von Geschichte in schmal gezogenen Bahnen aushebeln und ausdifferenzieren.20 Gibt es Verbindungen zwischen diesen Ausbrüchen extremer Gewalt? Wer waren die Opfer, wer die Täter_innen? Hätte der Verlauf der Ereignisse auch ganz anders aussehen können? Kluge belässt es dabei, einen Zustand herzustellen, der mehr Fragen als Antworten liefert und der auch nicht emotionalisiert. Laut Schulte handelt es sich bei dieser Vorgehensweise um eine »Archivarbeit mit künstlerischen, experimentellen Mitteln«, die in das Material selbst eingreift und somit zum »Zeugnis lebendiger Aneignung« wird.21 ›Sentimentales Genie-

18 Vgl. Étienne Balibar, »Violence and Civility. On the Limits of Political Anthropology«, in: differences. A Journal of Feminist Cultural Studies 20, 2009, übers. von Stephanie Bundy, S. 9– 35. 19 Christian Schulte beschreibt Kluges Versuche der Involvierung und Historisierung als auf einer Geschichtsbetrachtung fußend, die »aus der subjektiven Innen-Perspektive der am Geschichtsprodukt – wie ohnmächtig und entfremdet auch immer – unablässig arbeitenden Akteure« resultiert. (Schulte, »›Die Muskeln der Vorstellungskraft‹«, S. 44.) 20 Vgl. Tara Forrest, »Part 3: Alexander Kluge«, in: dies., The Politics of Imagination. Benjamin, Kracauer, Kluge, Bielefeld 2007, S. 137–168. 21 Schulte, »›Die Muskeln der Vorstellungskraft‹«, S. 60f.

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ßen‹ ist kein brauchbares Werkzeug für Kluge,22 Gefühle sind für ihn jedoch essentiell für die durch Aneignung geleistete ›Verknüpfungsarbeit‹ und »fungieren […] als selbstständig arbeitende Regulative, die unterhalb des absichtsvollen Handelns, der diskursiven Verständigung und der die Kommunikation leitenden Codices wirksam«23 werden. Ähnlich, aber anders gelagert verhält es sich auch mit den Zugängen, die in Fassbinders Arbeiten gelegt werden. Laut Elsaesser hat Fassbinder melodramatische Formen und ihre Wirkmächtigkeit für seine emanzipatorisch ausgerichteten Ästhetiken nutzbar gemacht und gleichzeitig faschistische Filmtraditionen reflektiert.24 Seine Arbeiten sind durchzogen von Konstellationen unlösbarer Konflikte und Figuren großer Fragmentiertheit. Innere Kämpfe sind dabei von ähnlicher Bedeutung wie gesellschaftlich-politische. Fassbinders Figuren bevölkern meist Orte, an denen widerständige und einander widerstrebende Kräfte aufeinander wirken. Relationalität wird hier nicht nur durch affektive Ansprache anhand der Themen Liebe, Gewalt und Machtverhältnisse (in alltäglichen Settings) hergestellt, sondern auch in Bezug auf die Zerrissenheit der Protagonist_innen, die oft aus großer Nähe dargestellt werden. Dafür hat Fassbinder stark an melodramatische Formen angelehnte ästhetische Mittel entwickelt, die trotzdem nach Öffnungen und Brüchen streben, auch wenn diese nie zu einer Lösung von Konflikten führen.25 Scheunemann hat Deutschland im Herbst als einen der grundlegendsten Filme des sog. Neuen Deutschen Filmes beschrieben26 – zumal er den oft beschworenen Kooperationscharakter im Neuen Deutschen Film umsetzt. Den Kontext für Scheunemanns Feststellung bilden sowohl die auf den Grundsätzen des Oberhausener Manifests basierenden und am Ulmer Institut entwickelten Arbeitsweisen und ästhetischen Mittel in der Produktion des Films (pluraler Materialeinsatz, kurze Formen, starker Montagecharakter und sichtbare Schnitte, un22 ›Sentimentales Genießen‹ ist ein Begriff den ich hier aus Anja Sunyun Michaelsens Buch Kippbilder der Familie (Bielefeld 2017) entlehne, in dem Michaelsen u. a. Topoi des melodramatischen transnationalen Adoptionsfilms analysiert. 23 Schulte, »›Die Muskeln der Vorstellungskraft‹«, S. 45. 24 Vgl. Thomas Elsaesser, »Fassbinder, Spiegelbilder des Faschismus und der europäische Film«, in: ders., Rainer Werner Fassbinder, Berlin 2001, S. 207–238. 25 Laut Kaes wurde Fassbinder maßgeblich von Arbeiten Douglas Sirks geprägt, der als UFARegisseur gearbeitet hat und 1937 von Hamburg aus in die USA emigriert ist. Durch Sirk, so Kaes, konnte Fassbinder an eine deutsche Filmtradition anknüpfen, die nicht unmittelbar mit der des Nationalsozialismus verstrickt war. »Sirks große Melodramen aus den fünfziger Jahren – vor allem All That Heaven Allows (1955) und Imitation of Life (1958) – handeln im Stil klassischer Trivialromane von großen Gefühlen kleiner Leute, von ihrem unrealistischen Glücksanspruch, der an der feindseligen Umwelt scheitern muß.« (Kaes, Deutschlandbilder, S. 79.) 26 Vgl. Scheunemann, »›Konstellationen‹«, S. 70f.

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konventionelle Dramaturgien, dokumentarische gemeinsam mit szenischen Elementen, subjektive Perspektiven),27 als auch die aus Deutschland im Herbst weiterentwickelten Filmprojekte: Die Patriotin (Kluge), die sog. BRD-Trilogie: Die Ehe der Maria Braun, Lola und Die Sehnsucht der Veronika Voss (Fassbinder), Die Blechtrommel (Schlöndorff) und Heimat (Reitz).28 Deutschland im Herbst ist ein Film, der aus Miniaturen bzw. Episoden besteht, die eine Konstellation unterschiedlicher Blickwinkel auf den sog. Deutschen Herbst 1977 und die damit verbundenen Ereignisse bilden.29 Die 1970er-Jahre sind in Westdeutschland eine sehr turbulente Zeit des Aufbruchs, der Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus bei gleichzeitigem Wiedererstarken des autoritären Staates und des damit wechselseitig verbundenen linksextremen Terrors. Der sog. Neue Deutsche Film steht dazu in einem komplexen Verhältnis, da er sich mit der nationalen Identität und der patriarchalen Familie programmatisch auseinandersetzen musste, die gerade von der deutschen, größtenteils studentischen, 68er-Bewegung – u. a. beeinflusst durch die Frankfurter Schule – als Wurzel von Autoritätshörigkeit und letztlich des Faschismus gesehen wurde. Das rahmende Thema für alle Episoden in Deutschland im Herbst ist letztlich ein diffuses Gefühl der Ohnmacht und des Horrors im Erkennen der Fortführung faschistischer Strukturen in der noch jungen demokratischen BRD.30 Im Sinne einer bürgerlichen Öffentlichkeit wird das Fernsehen nach dem Zweiten Weltkrieg zum Austragungsort politischer und gesellschaftlicher Kämpfe und damit, laut Miriam Hansen, auch zum Raum, in dem Deutschland im Herbst inhaltlich wie formal als ein Kristallisationspunkt

27 Vgl. Kluge, In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. 28 Vgl. Scheunemann, »›Konstellationen‹«, S. 70f. Als Hommage auf Deutschland im Herbst kann auch der von Tom Tykwer initiierte Kollaborations-Film Deutschland 09. 13 kurze Filme zur Lage der Nation (2009) gesehen werden, der sowohl formal Ähnlichkeiten als Episodenfilm aufweist, wenn auch wesentlich geschlossener montiert, als auch inhaltlich zentrale Themen von Deutschland im Herbst für unterschiedliche Perspektiven auf ›Deutschland‹ zu Beginn des 21. Jahrhunderts verhandelt (Regie: Fatih Akın, Wolfgang Becker, Sylke Enders, Dominik Graf, Christoph Hochhäusler, Romuald Karmarkar, Nicolette Krebitz, Dani Levy, Angela Schanelec, Hans Steinbichler, Isabelle Stever, Tom Tykwer, Hans Weingartner). 29 »On a smaller scale and with less explicit interventionist intentions, Germany in Autumn actually has a precursor in Reitz and Kluge’s 1974/75 production of In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod […], a brilliant montage film which deals with the fragmentation of public events and private experience as observed during the Frankfurt ›Häuserkampf‹ 1974«. (Hansen, »Cooperative Auteur Cinema and Oppositional Public Sphere«, S. 54, FN 38.) 30 Vgl. Paul Cooke, »The long shadow of the New German Cinema. Deutschland 09, Deutschland im Herbst and national film culture«, in: Screen 52/3, 2011, S. 327–341, hier S. 329. »Germany in Autumn, operating in the crevices of historical consciousness, presented an attempt, among other things, to turn this confusion into a creative strategy: the failure of a ›rational‹ political discourse made way for a collective effort at ›Trauerarbeit‹ (work of mourning).« (Hansen, »Cooperative Auteur Cinema and Oppositional Public Sphere«, S. 44.)

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von Gegenöffentlichkeit interveniert.31 Die Geschichte der ökonomischen Gewalt des industrial-military-complex seit der Nazi-Zeit (verkörpert durch Hanns Martin Schleyer und seine gesellschaftliche Position), die Medien- und Kulturpolitik der Wirtschaftswunder-Jahre, das Spannungsverhältnis zwischen den Generationen (vor allem innerhalb der Mittelschicht), die als stumm gezeigten migrantischen Arbeiter_innen, die nicht zuletzt auch für die ›Gastarbeits-Politik‹ der Nachkriegszeit und die Kapitalisierung von Migration stehen (Szenen in den Daimler-Benz-Werken und bei der Beerdigung der RAF-Terrorist_innen) sowie das Mundtot-Machen von Frauen (Szenen im Abschnitt von Katja Rupé sowie die Rolle der Figur Gabi Teichert) – insbesondere im Zusammenhang mit dem Dachthema der Marginalisierung divergierender Blickwinkel32 – sind Themen, die in Deutschland im Herbst in einer kaleidoskop-artigen Zusammenschau versammelt und montiert wurden.33 Deutschland im Herbst wurde aber auch heftig kritisiert, vor allem bezogen auf die Grundsätze des Oberhausener Manifests und den Anspruch, autonom Filme machen zu wollen, die sich kritisch mit gesellschaftlichen Themen auseinandersetzen. Unter anderem wurde von den berliner filmarbeiterinnen dazu 1978 ein offener Brief in Frauen und Film veröffentlicht, in dem sie die Entwicklung problematisieren, daß eure begrüßenswerte entscheidung, zum erstenmal in einer kooperative zusammenzuarbeiten, und die entscheidung des filmverlags der autoren, zum erstenmal als produktion filmisch auf aktuelle ereignisse in der brd zu reagieren, gleichgesetzt wird mit dem beginn des politischen films in deutschland schlechthin. ihr fallt den vielen anderen filmemachern, die oft gerade wegen ihres schnellen filmischen reagierens auf ereignisse jahrelang arbeitslos sind, in den rücken, wenn ihr verschweigt, unter welchen bedingugen es euch möglich war, dieses projekt zu realisieren.34

Gemeint sind dabei der ›Marktwert‹ der zu diesem Zeitpunkt zumindest im Ausland schon bekannten Namen von Schlöndorff, Fassbinder und Kluge sowie die zuvorkommende Bezuschussung des Produzenten (Theo Hinz), der dem Projekt einen ›flüssigen Start‹ ermöglichte. »dies für ein übertragbares modell zu 31 Vgl. ebd., S. 52. 32 »Vergleicht man die Masse von Arbeit und Erfahrungen, die unser Land ausmachen, mit dem, was in den deutschen Filmen davon wiedergegeben wird, so lassen sich zwei Feststellungen treffen: Das meiste kommt im Film nicht vor; die Filmkunst seit den 20er Jahren ist ein Versprechen, aber nie erfüllt worden. Die Erfolge des deutschen Films im Ausland und bei den vereinigten Filmgemeinden der Filmregisseure täuschen darüber hinweg, daß auch der deutsche Film, gemessen an den Horizonten seines Mediums, sich unbeweglich verhält. Es gibt zu wenig Chronik und Dokumentation, als daß Zusammenhang entstünde.« (Kluge, Die Patriotin, S. 281.) 33 Vgl. Cooke, »The long shadow of the New German Cinema«, S. 330f. 34 berliner filmemacherinnen, »offener brief an den filmverlag der autoren und die regisseure des film ›deutschland im herbst‹«, in: Frauen und Film 16, 1978, S. 22f., hier S. 22.

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halten, finden wir im besten fall naiv, von bewußten leuten aber arrogant und zynisch anderen filmemachern gegenüber.«35 Aufgrund der Fortführung gewisser Züge an Populärkultur in den 1950ern, die während des Nationalsozialismus entstanden waren und die eine kleinbürgerliche Mittelschicht weiterhin ansprachen auf der einen Seite, und aufgrund des vermehrten Einflusses US-amerikanischer Unterhaltungsformen auf der anderen, blieb dem deutschen Kino laut Elsaesser weniger Raum im Feld des Populären zu agieren, als dies in anderen nationalen Filmkulturen möglich war.36 Die deutsche Medienlandschaft der Nachkriegszeit, vor allem Film und Fernsehen, wurden von jungen kritischen Filmemacher_innen als verstaubt und kommerzialisiert betrachtet und es wurden Auswege gesucht, um mehr Diversität zu ermöglichen.37 Fassbinder interessierte sich zum Beispiel explizit auch für die ›Enge‹ dieses Raums, insbesondere im US-amerikanischen Genre-Kino, aus dem er Elemente extrahierte und in seinen Filmen weiterverarbeitete, die versehen mit kontrapunktischen Elementen den spezifischen Realismus seiner Filme bilden.38 Auch Kluge operiert mit mindestens einem (abgrenzbaren) Realismus-Konzept. Die Annahme einer gleichzeitigen Wirklichkeit (›wir nehmen an, so ist es passiert‹) und Unwirklichkeit (›es hätte genauso gut anders passieren können‹) von Realität wird dabei zum Ausgangspunkt für den spezifischen Einsatz kreativer Mittel und fantasievoller Verknüpfungs- und Verschiebungsarbeit in einer jeweils spezifischen Material-Konstellation.39 Als ›analytische Methode‹ wurde 35 Ebd. »The long-standing dilemma endemic to state-subsidized cinema was exacerbated yet crudely clarified under the pressure of events: how could a film set out to subvert the government’s politics of information and at the same time ask for public funding?« (Hansen, »Cooperative Auteur Cinema and Oppositional Public Sphere«, S. 45.) 36 Vgl. Thomas Elsaesser, »Fassbinders Deutschland«, in: ders., Rainer Werner Fassbinder, S. 15–66, hier S. 16ff. »The split between commercial and auteur cinema (Autorenkino) was seen as detrimental to German film culture as a whole. By imposing conventional divisions on film production (›art‹ vs. ›entertainment‹), this split not only diminished the creative potential of either branch, but effectively departmentalized the interests of the spectator along the same lines. Thus it widened the gap between production and reception, between the interests of film-makers and the experience of the spectators«. (Hansen, »Cooperative Auteur Cinema and Oppositional Public Sphere«, S. 37.) 37 Jean-Marie Straubs und Danielle Huillets Verfilmungen von Texten Heinrich Bölls in den 1960er Jahren waren laut Kaes »von großem Einfluß für den Jungen deutschen Autorenfilm, indem sie das Medium rigoros aus dem kommerziellen Unterhaltungsbereich herausgelöst und im avantgardistisch-literarischen Kunstbereich verankert haben.« (Kaes, Deutschlandbilder, S. 26.) 38 Vgl. Elsaesser, Rainer Werner Fassbinder, S. 28 sowie Hansen, »Cooperative Auteur Cinema and Oppositional Public Sphere«, S. 49, FN 25. 39 Vgl. Kluge/Levin/Hansen, »On Film and the Public Sphere«, S. 215–220; vgl. Eike Friedrich Wenzel, »Baustelle Film. Kluges Realismuskonzept und seine Kurzfilme«, in: Schulte (Hg.) Die Schrift an der Wand, S. 103–118.

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dies von Kluge auch in eine Abfolge von Vorbedingungen und Vorarbeiten für eine Produktion in ›Realismus des Motivs‹, ›Realismus der menschlichen Wahrnehmung‹, ›gegenständliche Wahrnehmung‹ und ›authentische Beobachtung‹ aufgeschlüsselt.40 Dieser Realismus dient immer dem Protest und bedient sich der Verschränkung dokumentarischer und szenisch-fiktionaler Formen.41 Durch diese auf emanzipatorische politische Politiken gerichtete Arbeitsweise(n) wurde zwar in Deutschland im Herbst die Notwendigkeit alternativer politischer Diskurse artikuliert, die damals aktuelle Rezeption durch die größten an Gegenöffentlichkeiten interessierten politischen Netzwerke, nämlich die radikale Linke und feministische Kreise, fiel laut Hansen jedoch äußert kritisch aus, weil diese ihre Standpunkte als solche nicht vertreten sahen und mit der Ausdifferenzierung von ästhetischen Mitteln und Wahrnehmungshorizonten weniger anfangen konnten, als vermutlich erhofft.42

Fragmentierte Positionen. Gefühle, Gewalt und Demokratie bei Fassbinder Durch die spezifische Arbeitsweise Fassbinders, die u. a. melodramatische Elemente und Formen der Selbstdarstellung umfasst, ist es für die Analyse der Arbeiten von besonderer Wichtigkeit, sie im Verhältnis zu seiner Biografie zu verorten, sie aber nicht per se als biografisch aufzufassen. Fassbinders historische Situiertheit als offen sexuell devianter, westdeutscher Filmemacher in den 1970er-Jahren verweist auf Faktoren, die den gesellschaftspolitischen Kontext und die Möglichkeitsbedingungen seiner Arbeiten formen, sie determinierten diese aber nicht. Wichtig ist also vor allem die ›Historizität‹ seines Schaffens.43 Im Zusammenhang dieses Aufsatzes sollen konkreter vor allem Aspekte von Rela40 »Realität ist wirklich insofern, als sie Menschen real unterdrückt. Sie ist unwirklich insofern, jede Unterdrückung die Kräfte lediglich verschiebt. Sie verschwinden aus der Oberwelt, aber arbeiten im Untergrund weiter. Das Verdrängte leistet unterhalb des Real-Terrors alle Arbeit.« (Alexander Kluge, »Die schärfste Ideologie: daß die Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft«, in: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt/ M. 1975, S. 127–134, hier S. 127.) 41 Vgl. Hansen, »Cooperative Auteur Cinema and Oppositional Public Sphere«, S. 49. 42 Vgl. Ebd. S. 54. 43 Vgl. Elsaesser, Rainer Werner Fassbinder, S. 11. »The manifestation of an individual style, the artist’s signature, in the work of Fassbinder, for instance, has encouraged a primarily aesthetic reception abroad – at its best in terms of avant-garde film theory, at its worst in the American blend of auteur criticism or celebration. Such approaches tend to occlude the more specifically political dimensions of Fassbinder’s films which – his fascination with American genre film notwithstanding – address problematic continuities of German history on a more complex level than merely that of subject matter.« (Hansen, »Cooperative Auteur Cinema and Oppositional Public Sphere«, S. 41.)

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tionalität und der Auflösung der Grenzen zwischen Privatheit(en) und Öffentlichkeit(en) diskutiert werden. Alle Filme aus Fassbinders Œuvre kreisen um Machteffekte und Herrschaftsverhältnisse sowie den Umgang mit dem Nationalsozialismus in Deutschland.44 Zur Herstellung von Relationalität durch affektive Ansprache und die Offenlegung und Enttäuschung von Erwartungshaltungen sind vor allem Rahmungs- und Blickregime (mittels »Blickfängen und ihren barocken trompe l’oeil-Fallen«)45 essentiell für seine Arbeitsweise. Die Filme erzeugen durch diese Regimes nicht nur ein Wechselspiel aus »voyeuristischer Teilhabe und exhibitionistischer Zurschaustellung«,46 sondern auch eine besondere Art Zuschauer_in, der_die zu den meisten Arbeiten in ein komplexes Verhältnis gesetzt wird, weil es meist keine klaren Bezugspunkte gibt, die eine friktionsfreie Identifikation mit einer bestimmten Position oder Figur ermöglichen. In der nun folgenden Analyse werden die Eckpunkte dieser Beschreibung auf Teile von Fassbinders Sequenz für Deutschland im Herbst bezogen und in einem weiteren Schritt mit Kluges Herangehensweise an spezifischen Punkten gegengelesen. Fassbinders Beitrag zu Deutschland im Herbst dreht sich inhaltlich um Auslotungen eines emanzipatorischen Verständnisses von Demokratie und (Gegen-) Öffentlichkeit(en) sowie um die Rolle der Staatsgewalt vor dem Hintergrund der Terror-Aktionen der RAF und der Reaktionen und Maßnahmen der BRD im sog. »Deutschen Herbst« 1977. Fassbinder, der sich selbst spielt, gerät dabei zu unterschiedlichen Aspekten und in unterschiedlichen Situationen in Streit mit seinen nächsten Angehörigen, seinem Partner Armin Meier und seiner Mutter Liselotte Eder (Lilo Pempeit), die sich ebenfalls selbst spielen. Wichtig ist hier noch einmal zu unterstreichen, dass Fassbinder, Meier und Eder zwar Repräsentationen ihrer selbst verkörpern, diese aber von ihnen als Personen zu unterscheiden sind. Im Laufe der Handlung verkörpern Armin Meier und Liselotte Eder eine als durchschnittlich und ›normal‹ verstandene anti-demokratische Position, die Menschenleben opfern würde, um ›den Normalzustand‹ wiederherzustellen und die in den ersten Minuten des Abschnitts bereits als dezidiert anti-demokratisch eingeführt wird. Gleichzeitig inszeniert Fassbinder eine tiefgreifende Sorge um demokratische Freiheitsrechte in der BRD, die seine Figur in die Verzweiflung und schließlich in die Paranoia treibt. Fassbinder lässt seine Figur in einer ›Treibhausatmosphäre‹47 und im Streit mit ihren engsten sozialen 44 Vgl. Elsaesser, Rainer Werner Fassbinder, S. 9. 45 Ebd., S. 12. »Daneben hatte Fassbinder ein außerordentliches Gespür dafür, was es für Männer und Frauen bedeutet, füreinander als Bilder zu existieren, produziert mittels ganz verschiedener Arten von Blicken, die nicht immer an ein Auge rückgebunden sind.« (Ebd., S. 13) 46 Ebd., S. 12. 47 Vgl. ebd., S. 28.

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Kontakten die Angst vor dem Widererstarken eines autoritären Polizeistaates durchspielen, die in einen Strudel selbstzerstörerischer Ohnmacht führt. Vor dem Hintergrund einer von Tabus und Traumata gelähmten Zivilgesellschaft im Kontext der NS-Geschichte findet dabei auf mehreren Ebenen eine intensive affektive Verhandlung emotionaler Impulse und Bezugnahmen zu aktuellen politischen Ereignissen statt, die vor allem in Form privater Gesprächssituationen inszeniert wird. Der Abschnitt Fassbinders in Deutschland im Herbst kann in 14 Sequenzen eingeteilt werden, wobei ein längeres Gespräch mit der Mutter, das innerhalb der Diegese zeitlich vor den anderen Sequenzen stattfindet, immer wieder mit anderen Szenen gegengeschnitten wird und den zentralen Strang der szenischen Erzählung bildet. Dieses Gespräch ist außerdem ein maßgeblicher Auslöser der Verzweiflung der Fassbinder-Figur, die ihre weiteren Handlungen motiviert. Fassbinder sitzt in dieser Szene mit seiner Mutter in deren Wohnung am Küchentisch und führt ein ›fiktives‹ Gespräch über Demokratie und die derzeitige Situation vor dem Hintergrund des Terrors der RAF und der Antworten des Staates darauf. Die Aufnahmen zeigen beide als ›talking heads‹. Eine Kamera wechselt zwischen beiden hin- und her.48 Zunächst sind beide einzeln im Bild, im Verlauf der Szene werden schließlich beide zusammen ins Bild gerückt. Dem Gespräch mit der Mutter wohnt auch Armin bei. Fassbinder und seine Mutter rauchen und trinken Alkohol. Die Diskussion wird mit der Zeit immer hitziger. Die Mutter zieht sich auf eine auf den ersten Blick apolitische Position zurück, die sie trotz Fassbinders zunehmend vehementer Fragen hartnäckig verteidigt. Aus dem Gespräch werden nachfolgende ausgewählte Passagen detaillierter beschrieben.

48 Diese Kamera bleibt vergleichsweise statisch, es gibt kaum sichtbare Schnitte, sondern es kommen insbesondere Formen von continuity editing vor, auch diametral verzahnend zwischen Bild- und Tonebene. So gibt es einige harte Schnitte auf der Bildebene, die aber auf der Tonebene verknüpfend kombiniert wurden. Armin spricht etwa in einer Szene zum Ende einen Satz, an den Fassbinder in der nächsten Szene (im Gespräch mit der Mutter) fast nahtlos anknüpft. »Ich versteh’ das alles nicht mehr …« Schnitt. Fassbinder zur Mutter: »… warum du die Ordnung, die freiheitliche Ordnung, an die du glaubst, die du so positiv findest, warum du die Sorge delegieren möchtest.« (Deutschland im Herbst, 00:19.)

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Abb. 1 & 2: Fassbinder im Streit mit Liselotte Eder, Deutschland im Herbst, 00:11.

Die Mutter ist dafür, dass jetzt nicht öffentlich diskutiert werden sollte. Die Zeit erinnere sie an den Nationalsozialismus und damals war es gefährlich sich öffentlich zu positionieren oder Kritik öffentlich zu äußern. »Verstehst du das? Du weißt ja nicht was in dieser hysterisierten Situation im Moment mit irgendetwas, das du sagst, gemacht wird.« Fassbinder befragt seine Mutter hartnäckig zu dieser Position. »Ich kann das wirklich nicht verstehen, weil …« – »Du mich erinnert das wirklich an die, an die Nazi-Zeit, wo man einfach geschwiegen hat … um sich nicht in Teufels Küche zu bringen.«49 »Als der Pilot in Mogadischu oder in Aden erschossen worden ist, hast du gesagt, du möchtest gerne, dass für jeden der da erschossen wird in Aden, ein Terrorist in Stammheim erschossen wird.« – »Ja. Öffentlich.« – »Öffentlich, ja?« – »Ja.« – »Und das ist demokratisch?« – »Ne, das ist nicht demokratisch. Es war ja auch nicht demokratisch dieses Flugzeug zu entführen und zu sagen: ›Jetzt erschießen wir nach und nach jeden.‹ Wenn du da drin’ gesessen wärst oder wäre ich da drin’ gesessen, wie wäre denn dann deine Meinung gewesen? … Das muss man doch mitberücksichtigen!« – »Also, Auge um Auge, Zahn um Zahn?« – »Nein, nicht Auge um Auge, Zahn um Zahn! Aber in einer solchen Situation kannst du einfach nicht ankommen mit Demokratie!«50 »Und die Demokratie ist doch die menschlichste Staatsform oder ist sie das nicht?« – »Es ist das kleinste aller Übel, nicht?« – »Das kleinste aller Übel?« – »Ja. Im Augenblick ist es wirklich ein Übel.« – »Die Demokratie?« – »Ja.« – »Was wäre denn besser? Was Autoritäres?« – »Nein! Bei uns im Moment …« – »Na, was wäre denn besser? Wenn es das kleinste Übel ist, dann muss es ja vielleicht, was weiß ich, was Gutes geben? Was wäre denn das?« – »Das Beste wäre so ein autoritärer Herrscher, der ganz gut ist und ganz lieb und ordentlich.«51

Das Gespräch mit der Mutter ist eine Szene, die einige wohl gefühlt schon hundertmal erlebt haben, nämlich dann, wenn die Grenzen der Zugehörigkeit zu politisch-ideologischen Fraktionen quer durch eine Familie oder einen Freund_innenkreis hindurchgehen und Generationen sowie Partner_innen 49 Ebd., 00:11. 50 Ebd., 00:21. 51 Ebd., 00:29.

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voneinander trennen. Die Mehrheit in dem hier zu diskutierenden Setting, Armin und die Mutter, ist anti-demokratisch eingestellt bzw. sieht keinen Wert im Leben von Gegner_innen des gesellschaftlichen Systems. Die einzige mögliche Verbündete, Ingrid, ist weit weg in Paris und wirkt zwar interessiert, kann Fassbinder aus der Ferne aber nicht helfen, und dieser will auch unbedingt in Deutschland bleiben. Er scheint isoliert zu sein, mit zwei ihm nahestehenden Personen, die seine Empörung nicht nachvollziehen können und vom Staat eine harte Politik erwarten. Fassbinders Inszenierung lässt mehrere Schlussfolgerungen zu, eine davon wäre: Deutschlands Verhältnis zu seiner Vergangenheit (und Gegenwart) muss in den Familien diskutiert werden, innerhalb der privatesten Beziehungen der Menschen zueinander, am Küchentisch und im Schlafzimmer. Fassbinders Figur äußert den Wunsch nach einer öffentlichen Diskussion, die wirkliche Debatte findet aber trotzdem im Privaten statt, weil es in Fassbinders Inszenierung zu diesem Zeitpunkt keine bürgerliche Öffentlichkeit zu geben scheint, in der solche Debatten überhaupt wirklich geführt werden könnten, ohne systemsprengend zu wirken – oder, weil die Figur die öffentliche Debatte selbst gar nicht wagt. In Kluges Zugang hingegen sind persönliche Beziehungen zwar von großer Bedeutung, aber ›gesellschaftliche Erfahrung‹ umfasst auch explizit Arbeitszusammenhänge und Beziehungen,52 die in die bürgerliche Öffentlichkeit hineinreichen, während die öffentliche Sphäre bei Fassbinder immer schon als korrumpiert und dysfunktional beschrieben wird. Bei Fassbinder wird das Band der Generationen nicht auf der Straße neu geknüpft, sondern in der Prekarität unmittelbarer Beziehungsarbeit zu unangenehmen Themen in intimen Settings, in denen (überwältigende) Gefühle eine große Rolle spielen – denn gerade in der Generation der Nachgeborenen regte sich Widerstand gegen das Schweigen der Eltern-Generation zu den Gräuel des Nationalsozialismus. Die Fassbinder-Figur wirkt bedrohlich und übergriffig gegenüber der Mutter, die von ihr ins Kreuzverhör genommen und regelrecht bedrängt wird, und rekurriert damit auf Konventionen der Darstellung ›toxischer Männlichkeit‹.53 Bezogen auf Aussagen zu gesellschaftspolitischen Themen können die Figuren von Armin und der Mutter jedoch auch vor einem ganz anderen Hintergrund gesehen werden, denn sie sind es, die etwa nach öffentlichen Hinrichtungen verlangen und auch keine zähen und schwierigen demokratischen Aushandlungsprozesse in der Öffentlichkeit wie im Privaten sehen wollen. Sie fordern im Gegenteil hartes einseitiges Durchgreifen um ›Recht und Ordnung‹ wieder her52 Vgl. Kluge, Die Patriotin, S. 294. 53 ›Toxische Männlichkeit‹ ist ein Begriff, der im Kontext der sozialwissenschaftlichen Männlichkeitsforschung insbesondere um Raewyn Connells Begriff der ›hegemonialen Männlichkeit‹ (Masculinities, 1995) geprägt wurde und mit dem zerstörerisches und aggressives Verhalten im Rahmen einer hyper-maskulinistischen Ausrichtung verbunden wird.

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zustellen – wovon sie aber keine darüber hinausreichenden konkreten Vorstellungen äußern können. Die durch dieses Spannungsverhältnis und die Arglosigkeit, mit der diese extremen anti-demokratischen Forderungen gestellt werden, resultierende Ohnmacht für die Fassbinder-Figur konterkariert ihre Position als egomanischer Meinungsmacher und Tonangeber. Fassbinders antiautoritäre Position scheint auch nur so stabil zu sein, wie das Maß an Unterstützung, das aus seinem unmittelbaren Umfeld dafür aufgebracht wird, und das Maß an Klarheit, die er für die Analyse seiner eigenen Situation aufbringen kann. Im entscheidenden Moment scheitert Fassbinder aus Angst schließlich daran, einem Fremden in Not gegenüber solidarisch zu handeln und lässt ihn von Armin davonjagen.54 In der Kritischen Theorie wird gesellschaftliche Kälte und Empathielosigkeit der Einzelnen und der Gesellschaft als ganzer als enorm zerstörerisch betrachtet und im Sinne einer Verstümmelung der Entfaltungsmöglichkeiten aller gedacht.55 In Kluges Arbeiten werden hierfür Auswege gesucht,56 indem der geschichtliche Zusammenhang – die wirklichen Verhältnisse – und die damit in Verbindung stehende Gewalt zwar sichtbar gemacht werden, aber versucht wird, das menschliche Sensorium vor der schieren Härte des Zutagetretenden zu schützen, um Verletzungen und Abstumpfung zu verhindern. In der FassbinderSequenz wird wiederum genau diese Härte als bestimmender Faktor der Inszenierung des Zusammenbruchs der Fassbinder-Figur auf der einen sowie der Hinwendung der anderen Figuren zu extrem autoritären Politikverständnissen auf der anderen Seite greifbar. Nur ein bewusster und entschleunigender Zugriff kann in einer solchen Situation überhaupt dazu führen, kritisches Hinterfragen zu ermöglichen und die geschichtlichen Gegenstände bearbeitbar zu machen.57 Die aus negativen Erfahrungen entstandene Gleichgültigkeit gegenüber den Verhältnissen muss außerdem abgebaut werden, indem »nach den Möglichkeitsbedingungen für ein Selbstbewusstsein der Gefühle« gesucht wird, das Kluge »in kooperativen Formen der Auseinandersetzung mit den geschichtlich ge54 »The ultimate irony, however, is that his behaviour points to continuing fascistic traits in his own personality, an irony which simultaneously undermines his moral position while effectively underlining the value of his critique.« (Cooke, »The long shadow of the New German Cinema«, S. 330.) 55 Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, »Zur Genese der Dummheit«, in: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1988, S. 274f. 56 »Die Vorstellungskraft ist bei Kluge – ähnlich wie die Jetzt-Zeit-Emphase bei Benjamin – eng mit dem Kairos verknüpft, jenem Ahnungsvermögen, das Gefährdungen in ihrer Latenzphase erkennen und – zumindest imaginär wie in Kluges zahlreichen Rettungsgeschichten – ihren Auswirkungen zuvorkommen kann. Die Agentur dieses Imaginären ist die Montage, die zwischen Mikro- und Makroebene, zwischen den Intimbereichen und der Weite des Geschichtsraums vermittelt.« (Schulte, »›Die Muskeln der Vorstellungskraft‹«, S. 51.) 57 Vgl. Schulte, »Konstruktionen des Zusammenhangs«, S. 53.

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wordenen Einteilungen der bürgerlichen Gesellschaft«58 verortet. Aufgeschlossenheit, Neugierde, Liebesfähigkeit und Vorstellungskraft sind menschliche Eigenschaften, die es zu erhalten, zu fördern oder wiederzuentdecken gilt, denn sie sichern Kompetenzen wie Verständnis und Solidarität zwischen den Menschen, also ihre Beziehungsfähigkeit, ohne die es zu Ausbrüchen von extremer Gewalt kommt.

Vexierbilder. Machtverhältnisse, Sinnlichkeit und Sexualität bei Fassbinder und Kluge Die Szenen mit Armin Meier sind einerseits sehr intim, vor allem in Bezug auf körperliche Nähe und Gesten der Fürsorge und Zärtlichkeit, gleichzeitig sind sie aber auch gewaltförmig:59 Fassbinder kommandiert Armin während mehrerer Sequenzen durch die gemeinsame Wohnung, und Armin sprengt seinerseits das Verhältnis zu Fassbinder mit seinen extrem anti-demokratischen Positionen in Bezug auf die Art und Weise, wie seiner Ansicht nach mit den Terrorist_innen umgegangen werden sollte. Es mag am für Fassbinder typischen Hereinholen gesellschaftlicher Konflikte in die engsten sozialen Beziehungen liegen, dass ihre Partnerschaft von unausgeglichenen Machtverhältnissen und passiv-aggressiv geführten Konflikten bedroht wirkt. Im Folgenden möchte ich auf eine Szene eingehen, die u. a. zur Analyse von Darstellungsformen der komplizierten Verschränkung ›öffentlicher‹ und ›privater‹ Sphären in der Fassbinder-Sequenz besonders geeignet ist. Die Szene macht Machtverhältnisse sichtbar, die durch eine spezifische normalisierte Form der Trennung dieser Sphären auf der visuellen Ebene erzeugt wird. Fassbinder liegt mit Armin im Bett. Er ist mitten in der Nacht aufgewacht und dreht sein Aufnahmegerät ab – Fassbinder performt sich selbst als Regisseur in Vorbereitung der Fernsehadaption von Alfred Döblins 1929 veröffentlichtem Roman Berlin Alexanderplatz60 –, vermutlich hat er noch bis tief in die Nacht gearbeitet. Die Kamera filmt aus dem Nebenraum durch die offene Tür ins 58 Schulte, »›Die Muskeln der Vorstellungskraft‹«, S. 57. 59 Ein wichtiges Moment bildet hier meiner Ansicht nach auch der unterschiedliche Sprachgebrauch von Armin und Fassbinder, da Armin einen starken bayrischen Dialekt spricht und Fassbinder fast immer Standarddeutsch verwendet. Armin wirkt dadurch und durch seine ständige Arbeitsbereitschaft mehr wie ein Angehöriger der Arbeiter_innen-Schicht, während Fassbinder, der ständig bei der (geistigen/kreativen) Arbeit gezeigt wird, einem bürgerlichen Milieu zugerechnet werden kann. 60 Cooke wertet dies als Moment des dezidierten Aufbrechens der Grenzen zwischen fiktionaler und dokumentarischer Erzählung und als Hinweis Fassbinders auf die Konstruiertheit aller Bilder, insbesondere auch jener aus den Linsen der Filmemacher_innen des Neuen Deutschen Films. (Vgl. Cooke, »The long shadow of the New German Cinema«, S. 332.)

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Schlafzimmer. Fassbinder zündet sich eine Zigarette an und weckt unsanft den schnarchenden Armin. »Armin? … Armin!! Gib mir noch einmal die Nummer von der Ingrid in Paris!«61 Fassbinder läuft nackt und rauchend durch die Wohnung, wirft sich etwas über, wäscht sich das Gesicht und starrt einen Moment lang in den Badezimmerspiegel. Armin stolpert nackt und schlaftrunken durch das Zimmer und wählt die Nummer, um Ingrid in Paris zu erreichen. Ingrid hebt ab, Armin grüßt und übergibt den Hörer an Fassbinder, der Armin wiederum Schnaps holen schickt, obwohl dieser sich gerade erst wieder hingelegt hatte. »Nur am Schikanieren …« Schnitt. Fassbinder sitzt in dem Raum, in dem auch die Kamera steht. »Sie sind tot. Baader, Ensslin und Raspe. Sie haben sich umgebracht in ihren Zellen. Ja … Sie hat sich aufgehängt und der Baader und der Raspe haben sich erschossen.«62 Armin kommt mit dem Schnaps zur Tür herein, reicht ihn Fassbinder und setzt sich ihm gegenüber in einen Bereich außerhalb der Reichweite der Kamera. Sein Spiegelbild bleibt jedoch links neben Fassbinder im Bild. Armin wirkt müde und besorgt, während Fassbinder rastlos und mitten in der Nacht auf Ingrid im fernen Paris mit Details zum Tod der RAF-Terrorist_innen einredet.

Abb. 3 & 4: Fassbinder und Armin Meier, Deutschland im Herbst, 00:13–00:14.

Die Inszenierung von Armins Nacktheit wird in dieser Szene durch den übergroßen Kreuzanhänger, der an seiner Brust baumelt, unterstrichen, während sein Geschlecht gut sichtbar parallel dazu in Nahaufnahme ins Bild kommt. Man kann den analytischen Horizont an dieser Stelle auf der Ebene der Darstellung breiter anlegen und sich auf den Subtext konzentrieren, der hier entsteht. Die Darstellung von devianter Sexualität im Kontext heteronormativer Strukturen wird vor allem durch die Nacktheit beider Schauspieler und ihre körperliche Nähe angedeutet. Besonders wichtig sind dabei jene Momente, in denen ihre Penisse unverhüllt gezeigt werden, was bis heute im Film relativ selten vorkommt und zu

61 Deutschland im Herbst, 00:12. 62 Ebd., 00:13.

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jener Zeit für einen szenisch erzählenden Film mit starken Anleihen am melodramatischen Spielfilm sicherlich (auch im Kunstkino) eher ungewöhnlich war.63 Die Darstellung des Penis und des männlichen Körpers als Ganzem unterliegt laut Peter Lehman in einer patriarchalen symbolischen Ordnung strengen Konventionen, die mit der Abwertung des weiblichen Körpers und männlicher Homosexualität und ihrer Attribuierungen zusammenhängen.64 Für männliche Subjektivierungen können unter diesen Bedingungen Machtpositionen (und Attraktivität) durch performative Akte der Handlungsfähigkeit, körperlich wie geistig, und damit auch durch den aktiven Gebrauch der Sprache erlangt werden.65 Männer* müssen nicht schön sein, um begehrenswert zu wirken und phallische Macht zu erlangen. Weil der Penis eng mit phallischer Macht verbunden wird, aber nicht dasselbe ist, ist seine Darstellung jedoch laut Lehman vor allem von Verhüllung (klassisches Kino) oder ›sorgfältiger Regulierung‹ (Pornografie) geprägt, wodurch eine dominante Darstellungsgrammatik (re-) produziert wird, in der nur als besonders viril betrachtete Penisse auch gezeigt werden.66 Die Repräsentation des Penis unterliegt also sehr strengen Normen, sodass die Darstellung bspw. unterschiedlich großer und unterschiedlich geformter Penisse bereits mit Darstellungskonventionen bricht, besonders im Spielfilm. Die Szene ist auch in Bezug auf die Konventionen der Repräsentation anderer männlich konnotierter Körpernormen interessant und von Bedeutung. Armins (und auch Fassbinders) Körper und insbesondere seine Genitalien kommen zwar mehrfach prominent ins Bild, er bleibt aber immer in Bewegung und lässt sich nicht betrachten. Ein weiterer Punkt, auf den ich hier noch kurz zu sprechen kommen möchte, betrifft daher nach Gender differenzierte Formen des Angesehen- bzw. Betrachtet-Werdens. In einer patriarchalischen Ordnung ist es für eine männliche Figur nämlich paradox betrachtet zu werden, sich ansehen zu lassen, wie weibliche Figuren dies zulassen. Laut Richard Dyers Essay über Paradoxien des Blickens und Angesehen-Werdens von männlichen Pin-ups, werden männliche Figuren zwar angesehen oder erwidern den Blick, sie lassen sich aber nicht aktiv betrachten, weil sie den Konventionen entsprechend selbst immer aktiv erscheinen müssen. Sie richten ihren Blick deshalb auf etwas oder jemanden außerhalb des Bildausschnittes oder auf die Betrachter_innen – sie schlagen aber normalerweise nicht scheu die Augen nieder.67 63 Ich danke Sebastian Fitz-Klausner sehr herzlich für diesen Hinweis. 64 Vgl. Peter Lehman, Running Scared. Masculinity and the Representation of the Male Body, Detroit: Wayne State University Press 2007, S. 6ff. 65 Vgl. ebd., S. 12. 66 Vgl. ebd., S. 30. 67 Richard Dyer, »›Don’t Look Now.‹ Die Unstimmigkeiten des männlichen Pin-up«, in: Frauen und Film 40/1986, S. 13–19.

Alexander Kluge und Rainer Werner Fassbinder in Deutschland im Herbst

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Anders als in Fassbinders Arbeiten, in denen Darstellungen von Sexualität(en) mit der Konstruktion komplexer Charaktere einhergehen, gibt es aus Sicht der feministischen Filmkritik in Kluges Arbeiten dazu eine bemerkenswerte Lücke. Claudia Lenssen dazu in einer Kritik zu Die Patriotin in einer Ausgabe von Frauen und Film 1980: »gabi teicherts sinnlichkeit ist asexeull (sic!). eine szene, in der sie die trennung der körper und der gefühle an/mit einer konkreten anderen person erforscht und zu überwinden versucht, wäre in ihrem interesse, ist nicht erprobt.«68 Kluge operiert mit einem spezifischen Konzept von Sinnlichkeit, das sehr gegenständlich-materialistisch verfasst ist.69 Wie bereits in Deutschland im Herbst, wird Gabi Teichert in Die Patriotin beim Graben nach Materialien für den Geschichtsunterricht gezeigt, aber auch beim ›Einverleiben‹ und ›Durchbohren‹ der Zeugnisse geschichtlicher Überlieferung, nachdem ihr im Herbst 1977 bewusst wird, dass die deutsche Geschichte, wie sie sie kennt und unterrichtet hat, eine verformte Abstraktion ist. Uta Berg-Ganshow schreibt dazu in Bezug auf Die Patriotin: gabi teicherts versuche, sich geschichte anzueignen sind naiv praktisch und damit der gesellschaftlichen realität systematisch unangemessen. […] bei gabi teichert bleibt die sinnliche erfahrung unabstrahierbar, identisch, schrumpfen die körper nicht zur abstrakten formel. wenn sie nach geschichte gräbt, findet sie keine herrschaftsgeschichte sondern gebrauchsgegenstände.70

Auf Ebene der ästhetischen Mittel ist außerdem die Arbeitsteilung nach Bild und Ton/Stimme zwischen Gabi Teichert (Hannelore Hoger) und Kluge erwähnenswert.71 Scheunemann hat in seinem Text über Deutschland im Herbst die Rolle 68 Vgl. Claudia Lenssen/Hannelore Hoger/Uta Berg-Ganschow/Sigrid Vagt, »kein dunkel hat seinesgleichen. zu alexander kluges film ›die patriotin‹«, in: Frauen und Film 1980/23, S. 4–13, hier S. 10. Zu Ende ihres Abschnittes schreibt Lenssen außerdem: »wunschbilder, die auch sexuelle bedürfnisse assoziieren, sind selten und mit den wenigen, comic-ähnlichen, die auftauchen, geht der film nicht um.« (S. 11) 69 Bei Hansen findet sich dazu ein Vermerk bzgl. einer Konversation mit Gertrud Koch, in dem es heißt: »Gertrud Koch suggests (in conversation) that the qualities projected onto female chacters (sic!) correspond to an androgynous dimension of Kluge’s creative personality and therefore could be seen as the sensual embodiment of a utopian mode of aesthetics. Granting that possibility would still not resolve the difficulty that while some of Kluge’s women succeed in creating their own presence as sensual human beings – in Kluge’s highly allegorical mode of ›Sinnlichkeit‹ – they very rarely do so as sexual ones.« (Hansen, »Cooperative Auteur Cinema and Oppositional Public Sphere«, S. 51f., FN 34.) 70 Lenssen/Hoger/Berg-Ganschow/Vagt, »kein dunkel hat seinesgleichen«, S. 8f. 71 »Sicherlich gehört zu Kluges Opposition gegen das herrschende Kino auch die (Ideologie-) Kritik am verdinglichten Frauenbild. Sie reicht jedoch nicht, um den Ausschluß weiblicher Erzählperspektive, die dem Autorenfilm immanent ist, aufzuheben. Benjamins Revision des Autors am Leitfaden der Technik war dieses Problem kein Thema. In Kluges Filmarbeit wird es sichtbar. Daß er immer und nur Frauen in das experimentelle Feld der Genremischung schickt, fällt auf. In den Frauenbildern, des Kontextes des klassischen narrativen Kinos beraubt, kehrt die verdrängte weibliche Erzählperspektive wieder, aber ohne daß der Autor

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des Voice-over-Kommentars durch Kluge hervorgehoben und als eine Form ausgewiesen, die aus der dokumentarischen Tradition in der Neuadjustierung filmischer Mittel durch das Ulmer Institut einbezogen wurde und in Kluges Arbeiten besondere Bedeutung erlangt hat. Das Prinzip alle Elemente eines Filmes »gleichberechtigt und selbständig an der Produktion des Werkes zu beteiligen, geht auf Projekte Eisensteins und Brechts aus den zwanziger Jahren zurück.«72 Laut Kaes haben das Voice-over und sein teilweise kontrapunktischer Einsatz aber auch die Funktion eine kritische Distanz zu den Bildern aufrechtzuerhalten und ›Identifikation‹ zu erschweren, die ein Aufgehen in der Filmhandlung zur Folge hätten und damit eine Blockade der Reflexionsfähigkeiten der Zuschauer_innen.73

Perspektivwechsel. Zur Geschichtslehrerin Gabi Teichert Ein vor allem von Kluge gestalteter Teil von Deutschland im Herbst handelt von der Perspektive der fiktiven Protagonistin Gabi Teichert, der Kluge auch einen eigenen Film widmen wird, Die Patriotin (1979). Eine mögliche Interpretation der stark fragmentierten Sequenz, geht davon aus, dass die Montage hier Bilder aus dem Bewusstseinsstrom der Protagonistin montiert. Im ersten Teil geht es um Selbstmorde, die begangen werden, weil die Liebe zwischen zwei Menschen von außen erstickt wird.74 Der zweite und dritte Abschnitt verarbeiten inhaltlich Gabi Teicherts Sicht auf die sozialistischen und faschistischen Bewegungen vor dem Hintergrund der Formierung des deutschen Nationalstaats (immer wieder geht es um das Deutschland-Lied, Haydns Kaiserquartett).75 In einer Montage

72

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[ähnlich wie bei Benjamin] sie zur Sprache kommen ließe. Würde diese Sprache den Autorenfilm aufheben?« (Schlüpmann, »›Unterschiedenes ist gut‹«, S. 8.) Zu Stimmen bei Kluge vgl. Maguelone Loublier, »Eine gespenstische Stimme geht um in Alexander Kluges Filmen«, in: Vincent Pauval/Herbert Holl/Clemens Pornschlegel, Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 5: Von Sinn(en) und Gefühlen, Göttingen 2018, S. 101–114. Scheunemann, »›Konstellationen‹«, S. 72. »[T]he use of voice-over commentary, a technique usually reserved for documentary, does not provide information complementary to the visual, but adds another dimension, counterpointing that of the image track. The panning to the margins underlines the decentering effect produced by the disjunction of sound and image; its polemical thrust is towards a deconstruction of the hierarchy of newsworthy events as presented by public television.« (Hansen, »Cooperative Auteur Cinema and Oppositional Public Sphere«, S. 47.) Vgl. Kaes, Deutschlandbilder, S. 79. Die Sequenz um Gabi Teichert ist nicht trennscharf abgrenzbar. In diesem Aufsatz werden folgende Abschnitte aus Deutschland im Herbst dazugezählt: ca. 00:31–00:36, 01:12–01:14, 01:20–01:23. Hansen schreibt zur Verwendung des Deutschland-Liedes: »This politically complex use of the Deutschlandlied goes back to Kluge’s first feature film, Abschied von gestern (Yesterday Girl; 1966) where it underlines the cruel contradictions of German history along with its

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aus Anspielungen auf den NS-Staat und auf leninistische oder stalinistische ›Säuberungen‹ wird klar, dass beide Bewegungen in furchtbare Grausamkeit geführt haben. Mittendrin in der damaligen Gegenwart: Deutschland und die institutionalisierte moderate Linke in Form der SPD.

Abb. 5 & 6: Gabi Teichert auf der Suche nach den Grundlagen der deutschen Geschichte, Deutschland im Herbst, 00:31–00:32.

Gabi Teichert hat mit ihrer Obrigkeit Krach. Zum Beispiel sagt der Schulleiter: »Ihre Auffassung von der deutschen Geschichte ist Kraut und Ru¨ ben! … Das ist in dieser Form fu¨ r den Schulunterricht ungeeignet.« Gabi Teichert antwortet: »Ich versuche die Dinge in ihrem Zusammenhang zu sehen.«76

Der zweite Abschnitt um Gabi Teichert beginnt mit einem abgefilmten Buchtitel in Frakturschrift. Kluge liest im Voice-Over den Buchtitel: »Das deutsche MilitärEisenbahnwesen im Weltkrieg 1914–1918« und rezitiert auf der Tonebene die umstrittene erste Strophe des Deutschland-Liedes, während auf der Bildebene historische Fotografien von Infrastrukturausbauten zu sehen sind, vor allem zum Bau von Eisenbahnbrücken. »Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt, Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!«77 Schnitt auf Gabi Teichert, die mit angezogenen Beinen ein großes Buch lesend in einem vollgestellten Raum gefilmt wird. Die Kamera ist dabei ca. auf ihrer Aufrustrated utopian yearnings, especially as Anita G. (Alexandra Kluge) starts humming the Becher/Eisler version of the text (›Glück und Frieden … uns beschieden‹).« (Hansen, »Cooperative Auteur Cinema and Oppositional Public Sphere«, S. 50f., FN 32.) Für Kaes signalisiert die Verwendung des Deutschland-Lieds sowie der klassischen Stücke in Deutschland im Herbst und Die Patriotin eine starke Verknüpfung zur deutschen Romantik, »ihre Lust am Märchen und ihre Unzufriedenheit mit der Gegenwart, aus der man sich herausträumt, entweder in Richtung tiefe Vergangenheit oder in andere imaginative Welten, auch ihre formale Zerrissenheit und Selbstreflexivität«. (Kaes, Deutschlandbilder, S. 70.) 76 Deutschland im Herbst, 00:36. 77 Deutschland im Herbst, 01:12. Die Maas fließt von der Schweiz aus durch Frankreich, Belgien und die Niederlande und ist ein Nebenfluss des Rhein. Der Rhein mündet in die Nordsee. Die Memel fließt von Weißrussland über Litauen in das Kurische Haff und schließlich in die Ostsee. Die Etsch entspringt in Südtirol und fließt über die Po-Ebene in die Adria. Als Belt bezeichnet man eine Meeresstraße zwischen den dänischen Inseln Fünen und Seeland.

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genhöhe. Kluge im Voice-Over: »Die Geschichtslehrerin Gabi Teichert hat durch Lesen eines dicken, eng bedruckten Buches festgestellt, dass das DeutschlandLied seit 1918 häufig unter diesem Text gesungen wird. Von der Maas bis an die Memel.« Darauf folgt die einzige mündliche Äußerung Gabi Teicherts im gesamten Film: »Was mein Volk für Märchen erzählt …«78 Die darauffolgende BildTon-Montage erzeugt Assoziationsketten im Zusammenhang mit der Arbeiter_innen-Bewegung, durch Einspielungen von Bildern antifaschistischer Demonstrationen mit Plakaten, auf denen steht: »Faschismus heisst Hunger und Krieg«, sowie in Bezug auf Textpassagen des Arbeiter_innen-Liedes: »Vielleicht ist er schon morgen eine Leiche […] wie es so vielen Freiheitskämpfern geht«. Dazu sind auf der Bild-Ebene einzelne Individuen zu sehen. Kluge im VoiceOver: »Rosa Luxemburg sagt vor ihrem Tod: ›Es gibt nur eine Alternative fu¨ r Deutschland, Sozialismus oder Barbarei.‹«79 Darauf folgen mehrere Porträts von Wehrmachtssoldaten sowie Bilder von Erhängten, die hoch über einem Bürgersteig mit Schildern um den Hals baumeln, während Passant_innen unter ihnen hindurchgehen.80 Auf der Tonebene wird das Kaiserquartett eingespielt, während auf der Bildebene weitere in Reihen erhängte Menschen zu sehen sind. Gegen Ende der Sequenz gehen diese Bilder in historische Filmaufnahmen von durch frostige Windböen und Schnee tiefgefrorene Leichname über, die in Reih und Glied an Stricken baumeln. Darauf folgen Bilder trauernder Frauen in traditioneller Kleidung, die über mehreren Holzsärgen kauernd dargestellt werden.81 Bezugnehmend auf Gabi Teichert in Die Patriotin – als Weiterentwicklung und Ausformulierung der in Deutschland im Herbst angelegten Figur – beschreibt Schulte ihr Tun als eines der »allegorischen Personifikation praktischen Eingedenkens«,82 als eine Form der Verkörperung »zur Zeugenschaft verpflichtender Erfahrung«83 nach Walter Benjamin. Sie tritt als Zeugin des ›katastrophischen Geschichtszusammenhangs‹ auf, wobei sie ihre ›Haltung‹ durch ihr Wissen um »alle[] unsinnigen Tode der Geschichte«84 entwickelt. Besonders an dieser Sequenz ist die Art und Weise, wie der Bewusstseinsstrom von Gabi Tei78 Ebd., 01:13. Zur Sprachlosigkeit von Gabi Teichert vgl. Schlüpmann, »›Unterschiedenes ist gut‹«, S. 8f. 79 Deutschland im Herbst, 01:14. 80 Die Bilder könnten aus der ehemaligen Sowjetunion kommen, deren Abkürzung UdSSR auf russisch CCCP lautet. CCC und vermutlich der Name eines Unternehmens oder einer Organisation finden sich in kyrillischer Schrift rechts im Bild neben den erhängten Menschen. 81 Nach diesem zweiten Abschnitt mit Gabi Teichert folgt ein dokumentarischer Abschnitt mit Realfilmaufnahmen von Maximiliane Mainka und Peter Schubert zum Bundeswehrmanöver »Standhafte Chatten«, der etwas mehr als vier Minuten dauert. 82 Schulte, »Konstruktionen des Zusammenhangs«, S. 65. 83 Ebd., S. 50. 84 Ebd., S. 65.

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chert assoziativ in Szene gesetzt wird. Die Sequenz versinnbildlicht einen extrem dynamischen Strom geschichtlicher Ereignisse, der den Zusammenhang zwischen individuellen und kollektiven Erfahrungen des ›Mitgerissen-Werdens‹ ebenso umfasst, wie den Unterschied, den die Handlungen Einzelner bedeuten können. Somit wird Kluges Perspektive auf »Geschichte als die Arbeit an einem Wahrnehmungsverhältnis und ein fortwährendes Infragestellen von Geschichtsbildern« erkennbar.85 Durch den starken Montage-Charakter der Sequenzen, so Schulte weiter, »entsteht erst gar nicht der Eindruck eines hermetischen Individualcharakters«, aber ein »komplementäre[s] Bedürfnis nach Zusammenhang.«86 Dieser Zusammenhang ist immer ein Produkt eigener Aneignung, d. h. ›lebendiger Arbeit‹.87 Laut Hansen wurde die Frage danach, warum Kluge diese ›assoziative Anarchie‹ in das Bewusstsein einer weiblichen Protagonistin projiziert, aus mehreren Gründen intensiv diskutiert und auch problematisiert.88 Das als vielfach abwegig und irrational verstandene Verhalten der Kluge’schen Frauen-Charaktere in den bekanntesten Langfilmen, die Projektion weiblicher Lebenszusammenhänge aus der Position eines männlichen, bürgerlichen Filmemachers sowie die Behauptung eines spezifisch ›weiblichen Produktionszusammenhangs‹, der sich niemals vollständig der Totalität der patriarchalen, kapitalistischen Warenwelt unterwerfen ließe, wurden vor allem von feministischer Seite kritisch gesehen.89 Eine besondere Position nimmt hier der Film Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1973) ein, der von der feministischen Kritik besonders schlecht aufgenommen wurde. Diese Rezeption steht für Hansen aber in einem komplexen Verhältnis zu »ei-

85 Wenzel, »Baustelle Film. Kluges Realismuskonzept und seine Kurzfilme«, in: Schulte (Hg.) Die Schrift an der Wand, S. 103. 86 Schulte, »Konstruktionen des Zusammenhangs«, S. 65. 87 »Der Betrachter muß selbst diese Vorlage beisteuern, um die Teile zusammenzufügen – ein Prozeß, der Phantasie freisetzt, aber Assoziationsvermögen und Mitarbeit an der Sinnkonstitution von seiten des Zuschauers erfordert. […] Damit fällt neues Licht nicht nur auf die Vergangenheit (als Vorgeschichte der Gegenwart), sondern auch auf die Gegenwart selbst in ihrer historischen Dimension.« (Kaes, Deutschlandbilder, S. 45.) 88 Heike Hurst, »vom großen verhau zum großen verschnitt: ›deutschland im herbst‹«, in: Frauen und Film 1978/16, S. 15–21. 89 Vgl. Schlüpmann, »›Unterschiedenes ist gut‹«, S. 4–20. »Daß die Geschichten der Frauen im herrschenden Kino nicht wirklich von dem Leben und den Problemen der Frauen handeln, sind wir gewohnt. Daß die Heldinnen für etwas ›Fehlendes‹ stehen, hat die Filmtheorie in unterschiedlichsten Variationen forumuliert (sic!); daß es der Analyse bedarf, die die ›Subgeschichte‹ der Filme bewußt macht, damit die Frauen sich der Negation ihres eigenen Geschlechts im Kino erwehren können, motiviert die feministische Kritik. Die Geschichte in Kluges Film [Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos] legt jedoch ihre Subgeschichte zugleich offen: es geht um die Produktionsverhältnisse und die Produktivität des Autors.« (Ebd., S. 14.)

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genen Hierarchien von Wahrnehmung und Rationalitätsstandards«90 der Kritiker_innen; sie wurde auch bei weitem nicht von allen feministischen Filmkritiker_innen und -theoretiker_innen geteilt und mit der Zeit – und weiteren Filmen – breiter diskutiert und ausdifferenziert. Über Leni Peickerts ›Trauerarbeit‹ aus Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos (1969) schreibt etwa Schlüpmann, dass diese »einer väterlichen, einer patriarchalen Welt der Kunst [gilt], die zu lieben auch die Frau gelernt hat. Ihre Trauer über den Verlust verbindet sich jedoch mit einem älteren Schmerz, dem des Ausgeschlossenseins von dieser Kultur.«91 Weibliche, widerständige Charaktere in den Fokus zu stellen, wird somit von der feministischen Rezeption sehr begrüßt, vor allem weil diese Charaktere im Vergleich zu den männlichen, trotz ihrer Spleens, als komplex und zugänglich gesehen werden. Die spezifische Form anhand derer die Inszenierung geschieht, bleibt aber bis heute zentral für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Material.92 Schnitt zu einem Parteitag der SPD, der in schwarz/weiß gefilmt wurde. Kluge im Voice-Over: »Spätherbst 1977. Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Hamburg.«93 Es werden mehrere Sprecher gezeigt, darunter auch der Schriftsteller Max Frisch, es geht inhaltlich um die RAFTerrorist_innen und ihre Sympathisant_innen sowie die Situation an den deutschen Hochschulen, die Perspektivlosigkeit der jungen Generation außerhalb der Konsumkultur, die Aufrüstung der Polizei und großangelegte Abhörmaßnahmen. Während Max Frisch zu hören ist, schwenkt die Kamera auf die erste Reihe und damit die Granden der SPD, weiter in die Reihen der Funktionär_innen und scheinbar mittendrin, Gabi Teichert, die sich aufmerksam Notizen macht.94

90 »The feminist issue with Kluge is rather complex, for it implicates the critic’s own hierarchies of perception and standards of rationality.« (Hansen, »Cooperative Auteur Cinema and Oppositional Public Sphere«, S. 51, FN 34.) 91 Schlüpmann, »›Unterschiedenes ist gut‹«, S. 16. 92 Heide Schlüpmann betont vor allem drei Aspekte in Kluges Arbeitsweise, die für einen feministischen Zugang von Relevanz sind: »Kluge hat mit seinen theoretischen Äußerungen zum Kino Koordinaten markiert, in denen eine solche Reflexion auf den weiblichen Blick im Kino auftauchen könnte. Die Koordinaten sind: die Produktivkraft Zuschauer oder ›der Film im Kopf des Zuschauers‹, die Produktion von Öffentlichkeit als Teil lebendiger Filmkultur und die Phantasie – gesellschaftliche absorbiert als ›Kitt‹ oder ausgegrenzt als ›Zigeuner‹ – als ›wichtigste Form menschlicher Arbeit‹.« (Ebd., S. 8.) 93 Deutschland im Herbst, 01:21. 94 »This mock mise-en-scène device brings out the fictional element inherent in the political muscle show: it makes Gabi Teichert’s curiosity and hunger for first-hand experience more real than the rhetoric of model democracy intoned by Swiss writer Max Frisch«. (Hansen, »Cooperative Auteur Cinema and Oppositional Public Sphere«, S. 50.)

Alexander Kluge und Rainer Werner Fassbinder in Deutschland im Herbst

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Abb. 7 & 8: Gabi Teichert beim Parteitag der SPD, Deutschland im Herbst, 01:21–01:22.

Gabi Teichert wirkt auf den ersten Blick unbedarft und verträumt, in ihrer Darstellung werden wir jedoch sehr direkt mit den düstersten Bildern des gesamten Films konfrontiert. In ihr geht ein Abgrund auf, der durch ihr Wissen über die Geschichte entstanden ist. Der Zugang, den Kluge über die Darstellung der Figur und ihrer Umgebung zur Betrachtung der deutschen Geschichte legt, ist paradigmatisch für seine Arbeiten geworden. Gabi Teichert sieht, gleich dem Engel der Geschichte bei Benjamin, wie sich die Trümmer des ›geschichtlichen Katastrophenzusammenhangs‹ endlos vor ihr auftürmen.95 Fassbinder erlebt die Katastrophe im Moment, in nervenaufreibenden endlosen Augenblicken, Gabi Teichert hat hingegen, durch ihr Wissen über die Geschichte und ihre Vorstellungskraft, die Möglichkeit unterirdische Verknüpfungen zwischen geschichtlichen Momenten zu bilden, die vielleicht übersehen worden wären, weil sie im anscheinend stetigen Fluss der Zeit vorüberziehen. Die Geschichtsbetrachtung, die hier erprobt wird, orientiert sich nicht an einem linearen System, sondern versucht spezifische Konstellationen und – durch diese hergestellte Relationalität – neue Perspektiven zu ermöglichen. Kluges und Fassbinders Herangehensweisen können laut Hansen auch so beschrieben werden, dass sie sich gegenseitig kritisieren:96 Kluge streut und zerstreut, um Raum zu schaffen – ›es gibt einen Ausweg!‹ –, Fassbinder versucht Intensität aufzubauen, der man sich nicht so leicht entwinden kann – ›das Unheil wird hereinbrechen‹, ›die Konfrontation muss stattfinden‹. Beide reflektieren dabei auch die jeweiligen Bedingungen, unter denen sie aufgewachsen sind. Kluge (*1932) hat den Nationalsozialismus und seine Überwältigungsstrategien als Kind und Jugendlicher erlebt, Fassbinder (*1945) gehört zur Generation der Nachgeborenen, die mit der Last einer Elterngeneration umgehen lernen musste, die die Diskussion oder gar ein Schuldeingeständnis

95 Vgl. Lenssen/Hoger/Berg-Ganschow/Vagt, »kein dunkel hat seinesgleichen«, S. 8. 96 Vgl. Hansen, »Cooperative Auteur Cinema and Oppositional Public Sphere«, S. 55.

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zur Mittäter_innen- oder Mitläufer_innenschaft in Bezug auf die Shoah so lange wie möglich versuchte zu unterbinden.97

97 Diese Gegenüberstellung wird von Kaes in Deutschlandbilder paradigmatisch als ›Suche nach Deutschland‹ bei Kluge und ›Leiden an Deutschland‹ bei Fassbinder bezeichnet.

Michel Gaißmayer im Gespräch mit Birgit Haberpeuntner, Melanie Konrad und Christian Schulte

Eine Stimme – tausend Interviews

Am 4. Mai 2019 sprachen wir in der Lobby des Hotels am Steinplatz in Berlin mit Michel Gaißmayer. Fast drei Stunden lang erzählte er uns über seine Arbeit mit Alexander Kluge. Das Interview wurde transkribiert und für die Publikation bearbeitet. Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? Bertolt Brecht, Fragen eines lesenden Arbeiters

Michel Gaißmayer, Sophie Kluge, Alexander Kluge, Tilda Swinton, Februar 2008. © Ekko von Schwichow

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Michel Gaißmayer im Gespräch

Frage: Herr Gaißmayer, Sie arbeiten bereits lange Zeit mit Alexander Kluge. Können Sie uns erzählen, wie Sie ihn kennengelernt haben und wann Sie begonnen haben für ihn zu arbeiten? Gaißmayer: Kennengelernt habe ich ihn durch seine Schwester, die 1957 aus der DDR, aus Halberstadt kam. Meine damalige Freundin lebte in einer Wohngemeinschaft in München mit Karen Kluge. Das war der eine Weg, der andere ergab sich aus der zufälligen Begegnung mit der Cutterin Ursula Werthner in einem Schwabinger Lokal in München zu Beginn meines Studiums. Sie schnitt fast alle Filme des sogenannten Neuen Deutschen Films, also die Filme von Haro Senft, Raimond Ruehl, Franz-Josef Spieker usw. Durch sie habe ich Kontakt zu den Leuten des Neuen Deutschen Films in München bekommen, auch zu Kluge, ohne Nähe allerdings. Die gab es zu seiner Schwester und das bis zum Ende ihres Lebens. Die erste Begegnung mit ihr muss 1959 gewesen sein. Dann kam Brutalität in Stein von Alexander Kluge und Peter Schamoni heraus, mit dem Karen damals befreundet war. Viele Jahre später hat Schamoni ein Fazit aus dieser Zusammenarbeit mit Kluge gezogen: »Danach war ich meinen Film los und meine Freundin.« Im Film geht es um das Reichsparteitagsgelände, und er hatte Kluge als Juristen bei den Vorbereitungen um Rat gefragt, so dass Kluge auf diese Weise mit dem Filmprojekt in Berührung kam. Ein Jurist war wichtig, weil die Rechtsfragen im Zusammenhang mit dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, wo Brutalität in Stein entstanden ist, sehr kompliziert waren. Als der Film 1961 herauskam, war ich schon in Berlin. Von da an habe ich verfolgt, was Kluge gemacht hat. Zusammengetroffen sind wir wieder 1964, als ich kulturpolitischer Berater von Willy Brandt wurde und einen Kongress über Städtebau in Bochum vorbereitete. Dafür wollte ich eine interdisziplinäre Besetzung, unter anderem mit Adorno. Aus diesem Grund habe ich den Kontakt zu Alexander hergestellt, der mir den Rat gab, Adorno ein kleines Honorar zu bieten. Aber das Honorar war wohl zu klein, Adorno sagte ab. Die nächste Niederlage erlitt ich, als ich Habermas gewinnen wollte. Habermas, Assistent von Adorno, saß in seinem Wochenendhaus im Taunus. Dort suchte ich ihn auf, um ihn davon zu überzeugen, sich an diesem Symposium zu beteiligen und sich für Brandt und für die SPD zu engagieren (das war die Wahl im September 1965). Aber das lehnte er ab mit den Worten: »Wahrscheinlich werde ich wieder am 19. September irrational reagieren und SPD wählen.« An diese Ablehnung habe ich ihn Jahre später erinnert, als er einem öffentlichen Dialog mit Gerhard Schröder führte. Er war darüber nicht amüsiert. Diese Bekanntschaft mit Habermas war auch eine zu Kluge. Habermas erzählte mir später einmal, dass Kluge ihm damals sehr oft Gesellschaft leistete, indem er ihn morgens vom Haus abholte, mit ihm zu Vorlesungen ging, und ihn danach wieder nach Hause begleitete.

Eine Stimme – tausend Interviews

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Habermas berichtet, dass Kluge ihm dabei die Plots seiner Geschichten aus den Lebensläufen erzählt hat. Ja natürlich, die Lebensläufe entstehen ja 1962. Aber hatten Sie in der Zeit, als die Lebensläufe rauskamen und das Oberhausener Manifest proklamiert wurde, auch Kontakt zu Kluge? Nein. Das Oberhausener Manifest habe ich natürlich sehr aufmerksam verfolgt, weil ich in München mit Franz-Josef Spieker, einem der wichtigen Regisseure, zusammengearbeitet hatte. Neben Spieker hatte ich auch mit Raimond Ruehl einen Film gemacht, Gesicht von der Stange. Ruehl wurde damit 1962 zu den Filmfestspielen nach Berlin eingeladen, wo ich gerade mein Studium an der FU fortsetzte. Dadurch war das Oberhausener Manifest präsent, und natürlich durch Leute, die ich aus der Münchner Zeit sehr gut kannte, wie Haro Senft, Herbert Vesely, Detten Schleiermacher. Was hatten Sie in München studiert? Germanistik, Philosophie, Geschichte und Theaterwissenschaft. Wann haben Sie zum ersten Mal mit Kluge gearbeitet? Die erste konkrete Zusammenarbeit fand 1985 statt. Ich habe in Nürnberg eine große Veranstaltung für Willy Brandt zum 8. Mai 1985 organisiert, vierzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Dazu haben wir Autoren und Autorinnen aus acht europäischen Ländern eingeladen, vier aus dem sogenannten Ostblock und vier aus Westeuropa. Dazu Sänger und Sängerinnen wie Udo Lindenberg, Hana Hegerová, Eric Burdon, Herman van Veen, Bulat Okudschawa, und Komponisten wie Witold Lutosławski und Olivier Messiaen, und Orchester wie das Ensemble Modern. Es gab Musikstücke und davor sprach immer der Autor oder die Autorin eines anderen Landes. Ich hatte Alexander dafür gewonnen vor dem Auftritt des sowjetischen Sängers Bulat Okudschawa über die Blockade von Leningrad zu sprechen, was durch Schlachtbeschreibung (1964) nahelag. Umgekehrt musste der Leningrader Schriftsteller Daniil Granin vor dem Auftritt von Lindenberg über die Zerstörung von Köln sprechen. Durch dieses Prinzip gab es keinen Wettbewerb der Nationen. Haben Kluge und Heiner Müller sich da zum ersten Mal getroffen?

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Michel Gaißmayer im Gespräch

Nein. Heiner kam nicht. Er war der Einzige, der zu dieser Geschichte nicht kam. Es waren damals wirkliche Drahtseilakte … Aus der DDR kam Friedrich Goldmann mit der Gruppe Neue Musik Hanns Eisler, das berühmteste Ensemble für Neue Musik in der DDR und der Sängerin Roswitha Trexler, auch ein Star. Goldmann hatte mit Müller für dieses Ereignis in Nürnberg ein Oratorium geschrieben. Aber zu meiner Überraschung kam er nicht, obwohl er einen gültigen Pass hatte. Kluge sprang für Müller ein. Es war ein viereinhalbstündiges Programm, und zur Eröffnung eines jeden Programmblocks gab es einen Film aus der Sicht der Opfer. Daniil Granin hatte mit Ales Adamowitsch das Blockadebuch über die Belagerung von Leningrad geschrieben und sprach über die Zerstörung von Köln. Granin fand es ein wenig absurd, dass ausgerechnet er, der als Panzerkommandeur Leningrad massiv verteidigt hatte, über die Bombardierung von Köln sprechen sollte. Kluge traf Müller dann das erste Mal 1987 bei einer Veranstaltung in der Westberliner Akademie der Künste, die ich organisiert habe. Das war eine Veranstaltung über Film, Literatur und Musik aus der Sowjetunion im Zeichen der gerade begonnenen Perestroika. Die Elem-Klimov-Retrospektive dauerte drei Tage. Zu dieser Veranstaltung hatte ich Alexander eingeladen, um mit Elem Klimov, Heiner Müller, Wim Wenders, Volker Schlöndorff, Luigi Nono, Ales Adamovich, Valentin Rasputin und anderen über Klimovs Film Geh und sieh zu diskutieren. Dabei haben sich Müller und Kluge kennengelernt. Das erste Interview kam aber erst 1990 in Garath, einem Stadtteil von Düsseldorf zustande. Das war der Wahlkreis von Jürgen Büssow, ein SPD-Mann, der sich Verdienste in der Zeit erworben hatte, als es für Kluge, bzw. die Arbeitsgemeinschaft Kabel und Satellit um die Lizenz ging. Büssow kannte ich durch Johannes Rau, mit dem ich irgendwann in den 1980er-Jahren auch in Moskau gewesen bin. Ich hatte Moskau oft besucht und galt als Russlandexperte. Meine erste gemeinsame Reise mit Kluge fand 1987 statt und zwar mit Richard von Weizsäcker, der als Bundespräsident seinen ersten Moskaubesuch machte. Er nahm Kluge als interne Delegation mit in seiner Entourage. Da war ich auch in Moskau, und Karen, die bei Alexander immer das Interesse für Russland forciert hat. Sie hatte viel genauere Kenntnisse als er. Das erste Interview von Kluge mit Heiner Müller fand also in Garath statt, weil man sich da zur Unterstützung von Jürgen Büssow versammelt hatte. Es wurde ein historisches Ereignis, weil Oskar Lafontaine daran teilnahm, der am Tag danach in Köln abgestochen wurde. Er trat im Wahlkampf mit Johannes Rau auf und wurde durch ein Attentat lebensgefährlich verletzt. Ich weiß noch wie Heiner Müller das kommentierte: »Da wird sich der Rau aber schwer grämen, dass es nicht ihn getroffen hat.« Die Frau, die das Attentat ausführte, hatte sich die Figur ausgesucht, die am kontroversesten, am schillerndsten war. Rau war blasser, eigentlich ein Harmonisierer. Dieses erste Interview mit Heiner Müller war für mich auch deshalb markant,

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weil ich ihn am Bahnhof Zoo traf und sah, dass die ganze Haut einer Hand in Fetzen herunterhing. Er hatte versucht ein Feuerzeug zu reparieren, das bei dieser Gelegenheit explodierte. Ich ging mit ihm zum Arzt, der die Hand verbunden hat, weshalb er bei diesem ersten Interview mit Kluge einen dicken weißen Verband trug. Aus den Fernsehgesprächen sind ja inzwischen einige Bücher hervorgegangen. Das erste Buch enthielt die Verschriftlichung eines Interviews mit Valentin Falin, das ich damals bei meinem Hausbesitzer Kurt Groenewold angeregt habe, der auch der Besitzer der Europäischen Verlagsanstalt war. Groenewold war einer der Verteidiger der RAF in Stuttgart gewesen und hat gleichzeitig ein großes Konglomerat an Häusern in Hamburg und Berlin. Als Anwalt war er sehr progressiv. Er brachte das Interview als Buch heraus, eigentlich ein Ergebnis meiner Zusammenarbeit mit Falin. Ich hatte das erste Interview vermittelt, aber wie so oft bei Kluge laufen die Interviews anschließend alleine weiter. Bei Müller war ich an fast allen zwanzig Interviews beteiligt, weil ich die immer vorbereitet habe. Kluge interessierte sich nicht so sehr für Theaterarbeit, stattdessen behandelte er lieber Ovids Metamorphosen. Da ich Müller gut kannte, schlug ich Kluge ein Gedicht von Müller vor, anhand dessen er das Gespräch entwickelte. Es war auch immer ein kleiner Kampf, denn Heiner sagte immer »Ja«, wollte etwas ausführen, aber Kluge fuhr schon dazwischen. Das war häufiger der Fall, nicht nur bei Müller, aber besonders bei Interviews mit Schriftstellern oder Filmemachern. Da entstand eine Art Wettstreit. Im Gegensatz zu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sehr ungestört reden konnten. Der Ausgangspunkt der Interviews mit Müller war dieses Gespräch in Garath, und das wurde dann fortgesetzt. Die Gespräche waren keine Selbstläufer. Müller war schwer zu bekommen, ich musste ihn für jedes Gespräch einfangen. Und Sie haben dann jedes Gespräch mit Müller ausgemacht? Ja, wir kannten uns seit 1966 und hatten ein, wie ich meine, sehr enges Verhältnis, obwohl er mich in den 1990er Jahren mal gefragt hat: »Bist du mein Freund?« Und ich: »Na, das weiß ich nicht.« »Würdest du dich für mich foltern lassen?« Ich hielt das für eine merkwürdige Frage und sagte: »Ich glaube, nein.« Daraufhin sagte er: »Ich glaube, dann bist du auch nicht mein Freund.« Das hatte er durchaus ernst gemeint. Das vorletzte Interview, das wir machten, fand nach seiner ersten Operation am Starnberger See in einem Hotel statt. Dort besuchten wir Müller, der flüsterte, da die Krebsoperation sich auf die Stimmbänder ausgewirkt hatte. Daraus ergab sich dieses Gespräch, bei dem Kluge mitflüsterte. Das fand ich sehr berührend. Beim letzten Gespräch mit Müller war ich nicht dabei.

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Das fand meiner Erinnerung nach in München statt, während seines zweiten Aufenthalts im Krankenhaus Rechts der Isar. Einige Gespräche fanden auch in Müllers Kreuzberger Wohnung in der Muskauerstraße statt. Ja, das erkennt man an der Schreibmaschine. Die vorherige Wohnung in Friedrichshain lag gegenüber vom Tierpark. Das Schöne an dieser Wohnung war, dass man vom Balkon auf das Eisbärengehege ’rüber schauen konnte. Müller freute das immer, weil dieses Eisbärengehege von der Staatssicherheit gestiftet wurde. Wie kam die Zusammenarbeit mit Gorbatschow zustande? Ich hatte ihn 1987 kennengelernt, als ich für ihn das Internationale Friedensforum in Moskau organisierte, zusammen mit dem Regisseur und Vorsitzenden des sowjetischen Filmverbandes Elem Klimov. Dahin waren Leute aus der ganzen Welt, aus allen Kulturbereichen gekommen, von Norman Mailer, über Max Frisch, Dürrenmatt bis hin zu Graham Greene, um nur einige von den Schriftstellern aus dem Westen zu nennen. Dadurch gab es eine Verbindung, so dass ich nach seinem Machtverlust 1991 seinen ersten Besuch in Berlin organisiert habe. Das war 1992. Wir sind vom Platz vor dem Reichstag, wo er mit dem Hubschrauber landete, ins Berliner Ensemble gefahren, das Heiner Müller neben Zadek und anderen geleitet hat. Das Ganze hat Alexander filmen lassen, Gorbatschow im Berliner Ensemble heißt der Film. Das war zu der Zeit, als Gorbatschow auch München besuchte, und ich ihn gebeten hatte, in einem Film von Wim Wenders mitzuwirken: In weiter Ferne so nah. Er spielte einen Politiker, der am Fenster saß, als ein Engel hinzutrat, gespielt von Otto Sander, und ihm die Hand auf die Schulter legte. Das fand im Hotel Vier Jahreszeiten in München statt, so wie das erste Interview mit Kluge. Dieses Interview hat Gorbatschow sehr berührt, weil Kluge ihm einen Packen Fotos aus Gorbatschows Kindheit und Jugend gezeigt und ihn gebeten hat, diese Bilder zu kommentieren. Das nächste Interview mit ihm fand in Bayreuth statt, weil Heiner Müller dort Tristan und Isolde inszenierte, 1993. Ich hatte Gorbatschow überredet zur Premiere zu kommen. Für die Kulturmagazine, die ich mit Kluge vorbereitet habe, musste sehr gut recherchiert werden. Das war damals noch schwierig, weil ich nur zwei Archive zur Verfügung hatte, das vom Stern und vom Spiegel, von denen ich Material über Personen und Ereignisse bekam. Eine große Rolle spielte auch das Munzinger Archiv … Das auch personenbezogen war.

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Ja. Mit jedem Vorschlag, den man für ein Interview machte, war zugleich die Suche und das Sammeln von Material verbunden, um Alexander davon zu überzeugen, sein Interesse zu wecken. Das ist nicht immer gelungen. Das hat später auf der Buchmesse zu Diskussionen geführt, weil zum Beispiel Bildende Kunst für Alexander im Fernsehen nicht darstellbar war. Genauso wenig kam anfangs Theater in Frage, denn das Theater und das Fernsehen haben »unterschiedliche Geschwindigkeiten«. Das wurde dann bei Müller und auch bei Schleef durchbrochen. Später wurden häufiger die Protagonisten und Protagonistinnen des Theaters interviewt. Ein einziges Mal kam ein Künstler, Jürgen Partenheimer, vor die Kamera, der Film existiert. Dagegen stieß Gerhard Richter damals auf glatte Ablehnung. Ich freue mich, dass Kunst dann ein großes Thema für Alexander wurde. Durch die Bücher eigentlich, war das der Grund? Nein, ich glaube, das ist eine Mutmaßung von mir, es kam unter anderem durch Dagmar; seine Frau sammelt Kunst. Und ich erinnere mich, dass er mich einmal fragte: »Sag mal, kann man bei dem Richter nicht mal etwas preiswerter kaufen?« Das war aber nicht das ausschlaggebende Moment für die Zusammenarbeit, sondern er lernte ihn in Sils Maria kennen. Er ging in diese teuren Hotels, weil er dort extravagante Leute traf. Das war das Waldhaus, oder? Das war das Waldhaus, aber auch Schloss Elmau. Im Waldhaus hat er nicht nur Richter kennengelernt, sondern auch Baselitz usw. Es gab dann die erste Publikation mit Gerhard Richter bei Suhrkamp, Dezember. In Dezember beschreibt Kluge das Arbeitszimmer Gorbatschows. Ich habe das ins Russische übersetzen lassen und Gorbatschow gegeben. Der hat gesagt: »Das war nicht mein Arbeitszimmer.« Alexander entgegnete mir daraufhin: »Ach Mensch, lass dir das doch schriftlich geben, ist doch toll, wenn ein ehemaliger Staatschef von der Bedeutung Gorbatschows eine Geschichte von mir dementiert.« In dieser Art von Dialektik liegt eine der großen Stärken von Kluge. Ich erinnere mich an das erste Interview mit Schlingensief, dass im Hotel Interconti stattfand. Die Berliner Filmfestspiele waren damals noch gleich nebenan, im Bikinihaus am Zoo, und dort drehten wir auch seit den 80er-Jahren regelmäßig, manchmal vor der Bürotür vor Ulrich und Erika Gregor (Internationales Forum des jungen Films). Wir waren zu der Zeit, also zumindest ich, noch nicht so perfektioniert wie ab den 2000er-Jahren, als mit sehr umfänglichen Vorschlagslisten gearbeitet wurde. Zumeist erstellten wir, Claudia Toursarkissian und ich, eine Vorschlagsliste mit über 100 Positionen zu verschiedenen The-

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menkomplexen, die wir miteinander erörterten. Die kamen zum Teil auch auf Vorschlag von Kluge zustande. Dann haben wir die bearbeitet, zumeist sehr kurzfristig, denn bei Kluge gibt es nie einen langen Vorlauf, was nicht einfach war. Sobald er sich entschieden hatte, hat man sich mit den »Ausgewählten« in Verbindung gesetzt, und musste die überzeugen, das zu machen. Da die Magazine bei Wissenschaftlern nicht sehr bekannt waren, musste man erklären, worum es ging, wer Kluge war. Eine Frage, die immer wieder gestellt wurde, war die nach dem Honorar. Darauf antwortete ich: »Wissen Sie, wir stellen Ihr Buch oder Ihr Projekt vor, dafür stellen wir Ihnen eine halbe oder dreiviertel Stunde Sendezeit zur Verfügung, mit einem der besten Autoren unserer Zeit, das ist sozusagen das Honorar. Nirgendwo sonst werden Sie im Fernsehen so viel Sendezeit bekommen«, was ja tatsächlich zutrifft. Das ist bei 10 vor 11 ebenso der Fall gewesen wie bei NEWS & STORIES, und selbst die 15 Minuten bei Primetime/Spätausgabe waren für ein Fernsehinterview immer noch sehr lang. Dazu kamen später die Sendezeiten bei Vox und XXP. Also das war im Vorfeld abzuklären. Gab es trotzdem Gäste, die auf einem Honorar bestanden? Ich habe da nachgegeben, wo soziale Bedürftigkeit vorlag. Zum Beispiel bei einem Marxforscher, der wirklich sehr arm war. Wenn sie ganz hartnäckig waren, habe ich bei Kluge nachgefragt, da ich das nicht selbst entscheiden konnte. Vom Inhalt des Gesprächs, das muss man sagen, waren die Leute in der Regel fasziniert. Es gab natürlich auch Ausnahmen. Die Faszination rührte daher, dass da jemand war, der mit einem großen Enthusiasmus an die Geschichte heranging. Dieser Enthusiasmus kam meiner Meinung nach auch daher, dass Alexander neugierig war. Er kannte diese Leute nicht und war gierig kennenzulernen, was sie »zu bieten« hatten. Auch deshalb entwickelten sich gerade mit Wissenschaftlern wie dem Chemienobelpreisträger Erhard Ertl oder dem Nobelpreisträger für Medizin Eric Kandel sehr gute Gespräche. Anfang der 2000er-Jahre waren die Erinnerungen von Eric Kandel bei Siedler erschienen. Der Verlag und die Frau von Rüdiger Safranski, Frau Nicklaus, gaben mir da die Möglichkeit an einem Essen für Kandel teilzunehmen, und bei der Gelegenheit habe ich ihn dann für das Interview gewonnen. Auch auf mich wirkte er sehr faszinierend: Ein Wiener, der 1939 in die Emigration gegangen war, zuvor die schlimmsten Pogrome erlebt hatte, die es gegen Juden im westlichen Europa gab. Das war in Wien nach dem Einmarsch Hitlers sehr viel schlimmer als in Berlin. Und Kandel beschreibt das in diesem Buch Auf der Suche nach dem Gedächtnis, das auch eine Autobiografie ist. Kluge bekam also nur mit, Autobiografie, das war für ihn keine Wissenschaft, also hatte er kein Interesse. Und dann habe ich ihm erklärt, worum es in dieser Autobiografie geht, um Erinnern, dass Erinnern ein Teil der Forschung von Eric Kandel war, der dafür den No-

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belpreis für Medizin bekommen hatte. Kluge ließ sich in diesem Fall, manchmal bei anderen auch, davon überzeugen. Aber ich sehe noch, wie er das Buch durchblätterte: »Das ist doch keine Wissenschaft!« Es gab natürlich Themen, die immer aktuell blieben; alles, was mit Astronomie zu tun hatte, zum Beispiel: schwarze Löcher, Cern, wo der Urknall bis auf den heutigen Tag simuliert wird, überhaupt alles, was mit dem Himmel zu tun hatte. Das ging immer. Oder das Thema Europa. Es ging darum, alle Aspekte zu erfassen. In diesem Zusammenhang gab es eine schöne Geschichte mit Robert Menasse, den ich das erste Mal auf der Buchmesse in Frankfurt versuchte einzufangen. Er lief mir über den Weg, und ich sagte: »Robert, du könntest doch mit Kluge ein Interview machen.« »Ja, ja«, sagte er, »ich muss aber noch rasch auf die Toilette«. Ich wartete vor der Toilettenanlage, bis ich entdeckte, dass diese Toilette auf der anderen Seite einen Ausgang hatte, durch den Menasse geflüchtet war. Aber später hat er das Interview doch gemacht und das wurde zu einer großen Geschichte über Europa. Ich erinnere mich an einen Tag auf der Buchmesse in Frankfurt. Martin Walser hatte gerade seine ersten Tagebücher veröffentlicht. Bis dahin wäre er mit seinen Romanen kein Gesprächspartner gewesen, aber die Tagebücher fand Kluge sehr interessant. Vor dem Gespräch mit Walser hatten wir einen Wissenschaftler vom Senckenberg Institut, der über Sackflügelfledermäuse sprach, die es nur auf Kuba gibt. In dem Gespräch ging es um Orientierung, Gehör und das Echolot dieser Fledermäuse. Die erste Frage nach diesem einstündigen Gespräch mit dem Fledermausforscher an Walser lautete: »Martin Walser, welche Rolle spielt das Gehör in der Literatur?« Natürlich war Walser total überrascht. Das war ein Beispiel dafür, wie Kluge aus der Unterschiedlichkeit der Gespräche Funken schlägt. Wenn man die Magazine chronologisch aneinanderreihte, könnte man feststellen, wie er von einem Gespräch Fragestellungen in andere überträgt. In seinen Geschichten auch? Natürlich. Was ihn auszeichnet, ist eine Missachtung der Nichtübertragbarkeit von einer Disziplin auf ein ganz und gar anderes Phänomen. Keiner sieht die Magazine in der Reihenfolge, in der sie gemacht sind. Wenn man all diese Magazine chronologisch, anhand der Aufnahmelisten aneinanderreiht, würde man ein sehr interessantes und aufschlussreiches neues Bild gewinnen. Nach dieser Überraschung hat Walser das Gespräch nicht mehr so interessiert. Aber immerhin war es der erste Versuch eine Verbindung wiederaufzunehmen, die in der Gruppe 47 bestanden hatte. Kluge hatte dort 1964 Schlachtbeschreibung vorgestellt, und wurde von Marcel Reich-Ranicki total verrissen. Das war erst einmal das Ende der belletristischen oder besser der literarischen Arbeit von Kluge.

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Bis 1973, also fast für ein Jahrzehnt. Ich versuchte auch Reich-Ranicki für ein Gespräch zu bekommen. Kluge war sofort dazu bereit, Reich-Ranicki war ja immer anwesend auf der Buchmesse in Frankfurt. Ich fragte ihn beim Messeempfang der FAZ. Er schien Interesse zu haben. Als ich ihn einige Wochen später zufällig in Berlin traf und ihn fragte, kanzelte er mich mit den Sätzen ab: »Immer kommen Sie mir mit Ihrem Kluge. Wissen Sie was das Problem des Herren ist: Er kann nicht schreiben. Sagen sie ihm einen schönen Gruß, er kann mich am Arsch lecken.« Wie war das Verhältnis von Kluge zur Akademie? Kluge nahm zu der Zeit nicht am Leben der Akademie teil. Das hat sich erst mit Jeanine Meerapfel als Präsidentin geändert. Jetzt ist das ein neues Verhältnis zur Akademie, und deswegen hatten sie vor einigen Wochen diese Gespräche über die Ulmer Hochschule für Gestaltung und Kluges Abteilung für Film. Jeanine Meerapfel war dort Studentin von Kluge gewesen. Waren Sie bei den Drehs immer dabei? Meistens, mit Ausnahme von München. Die Interviews dort wurden in Kluges Arbeitsräumen gedreht. Da musste ich nicht vor Ort sein. Bei den jeweils zwei oder drei Drehtagen war ich von Berlin aus telefonisch präsent. Das eine war die inhaltliche Vorbereitung, dann die Gewinnung derjenigen, die zu interviewen waren, was sehr oft ein Kunststück war. Und die andere Sache war, das Interview auch zu realisieren, dafür zu sorgen, dass die Leute erschienen, dass wir einen Drehort hatten, wobei es immer darum ging, ihn möglichst kostenlos zu bekommen. Orte wie die Bar im Hotel Bristol Kempinski oder die Lobby, die Akademie der Künste, später am Pariser Platz der Neubau. Kluge ging zwar nicht zu den Sektionssitzungen oder zu den Versammlungen der Mitglieder der Akademie, aber wir drehten dort. Auch zu Zeiten von György Konrad als Präsident und Adolf Muschg lief das problemlos, nur als Staeck Präsident wurde, gestaltete sich das plötzlich schwierig. Eine Verbindung, die bis auf den heutigen Tag wichtig geblieben ist, kam mittelbar durch Peter Glotz zustande. Er war in zweifacher Hinsicht wichtig. Einmal hat er das Wissenschaftskolleg in Berlin Ende der achtziger Jahre geründet. Und dieses Wissenschaftskolleg war für Kluge, aber auch für mich, der »Goldfischteich«. Du brauchtest nur die Angel rein zu halten und hast deine Goldfischlein rausgezogen, d. h. es erschienen dort jedes Jahr bis zu siebzig internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, mitunter auch einige Literaten wie der Nobelpreisträger Kenzaburo Oe oder Komponisten wie Helmut

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Lachenmann, meistens für jeweils ein Jahr als Gäste des Wissenschaftskollegs. 25 Jahre oder länger haben wir sehr viele der Interviews, vor allem mit internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, aus dem Wissenschaftskolleg gespeist. Insofern müsste Kluge Peter Glotz im Nachhinein dankbar sein. Auch deshalb, weil Glotz in den achtziger Jahren nach seiner Berliner Zeit Bundesgeschäftsführer der SPD in Bonn wurde. Er hat den Schwenk der SPD von den Öffentlich-Rechtlichen zu den Privaten durchgeführt. Dabei war ihm Kluge behilflich, was Alexander den Einstieg ins Privatfernsehen bescherte. Wie war Ihr Näheverhältnis genau in dieser Übergangsperiode, bzw. als DCTP sich formiert hat? Sehr nah. 1987 wurde DCTP gegründet. Die eine Seite war die Arbeitsgemeinschaft für Kabel und Satellit, und innerhalb dieser war Kluge der Sprecher der Spielfilmproduzenten. Die Arbeitsgemeinschaft bekam unabhängige Sendeplätze, Fenster bei RTL und SAT1. Dafür zuständig war u. a. die Staatskanzlei von Johannes Rau, die damals Wolfgang Clement in Düsseldorf/NRW leitete. Bei den Leitern der Staatskanzleien lag die Frage der Medienhoheit auch in anderen Ländern der Bundesrepublik, und daher waren die Staatssekretäre gefragt. Dazu gehörten Paul Leo Giani, der Staatssekretär bei Holger Börner in Hessen war, und Hans Helmut Euler in Bremen. Die Verbindung zur japanischen Werbeagentur Dentsu stellte Wolfgang Clement her, denn Clement war der Ansicht, dass der Film, die Literatur, die Musik, die Oper nur dann die Möglichkeiten eines Fensters am Himmel tatsächlich ausschöpfen könnten, wenn die Kulturleute professionelle Hilfe erhielten. Dentsu war einer der weltweit wichtigsten Werbekonzerne mit 28 Abteilungen und u. a. auch Produzent von Filmen. Die eröffneten damals ihre Repräsentanz in Düsseldorf unter Fumio Oshima, und Oshima war ein europäisch denkender Mensch, für einen Japaner eine große Seltenheit. Er glaubte, dass die Verbindung zu Kluge und dieser Arbeitsgemeinschaft für Kabel und Satellit und natürlich NRW, wo sie ohnehin saßen, sozusagen der door-opener für ihre Werbeagentur in der Bundesrepublik sein würde. Deshalb war das erste Büro von DCTP bei Dentsu angesiedelt, daher der Name auch in englischer Sprache: Development Company for Television Program. Karin Petraschke, die in München für Kluge arbeitete, schlug Paul Leo Giani später als Rechtsberater vor. Das war der Einstieg von Giani, natürlich von unschätzbarem Wert, solange Kluge im Fernsehbereich eine bedeutende Rolle spielte. Kluges Verbindungen mit der Neuen Züricher Zeitung, der Süddeutschen Zeitung, der Zeit, dem Stern und dem Spiegel, machten ihn zu einem wichtigen Player innerhalb der Film- und Fernsehlandschaft. Von den übrigen Akteuren der Arbeitsgemeinschaft Kabel & Satellit kam übrigens bei DCTP kaum einer zum Zuge.

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Dieses Kapitel ist nach über dreißig Jahren fast abgeschlossen. Bei seinen großen Ausstellungen, auf die er sich jetzt konzentriert, kehrt er auch zu seinen Anfängen zurück, nach Ulm, wo er in den sechziger Jahren mit Edgar Reitz die Filmabteilung Hochschule für Gestaltung leitete. Kluge ist konsequent dem Minutenfilm treu geblieben, der aus den Miniaturen in Ulm resultiert, und diese Form des Minutenfilms setzt er bis heute ein. In welcher Weise sind Sie involviert in die aktuelle Produktion? Überhaupt nicht. Die letzten Produktionen, in die ich involviert war, fanden im Haus der Kulturen der Welt Anfang dieses Jahres statt. Bis letztes Jahr haben wir immer noch beständig gedreht. Jetzt bin ich nur noch mittelbar involviert, wie bei der ersten eigenständigen Ausstellung Pluriversum von Kluge im Museum Folkwang in Essen. Dort tauchen immer wieder die Magazine auf, die jetzt digitalisiert werden oder es schon sind. Im Rahmen der Brecht-Benjamin-Ausstellung,1 die im letzten Frühjahr hier in Berlin an der Akademie der Künste stattfand, an der auch Kluge beteiligt war, haben wir auch gedreht, etwa mit einer Frau, die sich ausführlich mit dem proletarischen Kindertheater von Asja La¯cis auseinandergesetzt hat.2 Das hat Kluge plötzlich interessiert, weil er ja seit 2015 mit Chris Dercon assoziiert war, also jenem Kurator, der die Volksbühne vernichtet hat. 2017 zog Dercon als neuer Intendant in das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz ein, und Kluge hat dort mit Im Auge der Libelle ein Programm installiert, durch das plötzlich das Theater wieder eine andere Bedeutung bekam. Da wurde alles hervorgeholt, was mit Castorf, mit Schlingensief zu tun hatte. Ich weiß noch, dass Lothar Müller von der Süddeutschen mich anrief, als durch Staatssekretär Tim Renner und den damaligen Kultursenator Klaus Wowereit bekannt gegeben wurde, dass Dercon Intendant der Volksbühne werden sollte. Dercon nannte seine Mannschaft, und in dieser war auch Alexander Kluge. Und Müller fragte: »Es kann doch nicht stimmen?«, weil er Dercon als Hochstapler entlarven wollte. Ich riet ihm, Kluge anzurufen. Das tat er, und Kluge wird laviert haben; »Ja« zu Dercon, aber auch »Ja« zu Castorf. Es erschien nichts mehr dazu von Müller in der Süddeutschen, nur Kluge hatte ein kleines Interview. Mir gegenüber sagte er: »Ich bin doch viel zu alt, um zu dem Team von Dercon zu gehören.«

1 Benjamin und Brecht. Denken in Extremen, 26. 10. 2017–28. 01. 2018 in der Akademie der Künste, Berlin. 2 Dazu einschlägig: Walter Benjamin, »Programm eines proletarischen Kindertheaters«, in: ders., Gesammelte Schriften Band II, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, S. 763–769.

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In dieser Frage gab es keine Übereinstimmung, denn die Volksbühne war unter der Leitung von Frank Castorf eines der besten Theater mit einem exzellenten Ensemble gewesen. Herbert Fritsch machte dort mit Murmel Murmel eine seiner ersten Inszenierungen. Sophie Rois hat dort lange gearbeitet, mit der wir sehr viel gedreht haben. Überhaupt war die Volksbühne über ein viertel Jahrhundert lang unser unentgeltlicher Aufnahmeort. Und wir haben mit allen wichtigen Figuren der Volksbühne Interviews geführt, einschließlich René Pollesch, Martin Wuttke, Christoph Schlingensief, Frank Castorf. Nach Kluges Einstieg bei Dercon brach Sophie Rois die Verbindung zu ihm ab. Castorf habe ich vor einiger Zeit wegen eines Interviews angerufen, weil er im Berliner Ensemble Galileo inszeniert hatte. Er sagte ja. Das war die Souveränität von Castorf, obwohl es diesen starken Dissens mit Kluge gab. Es ging auch in der Volksbühne weiter, aber die Volksbühne war nur noch ein Drehort, wo dann Leute wie Herfried Münkler und andere interviewt wurden. Wir haben auch bei den Berliner Filmfestspielen ähnlich gearbeitet und Leute aus ganz anderen Bereichen hingeholt und sie dort interviewt. Dank Dieter Kosslick hatten wir während der Filmfestspiele fast zwanzig Jahre einen großen Raum, in dem wir ungestört und unentgeltlich drehen konnten, das unterirdische Restaurant. Dort sind die Filme mit Zhang Yimou und Chén Kaˇige¯, den großen Regisseuren Chinas, mit einer wunderbaren Schauspielerin wie Gong Li oder mit dem Dokumentarfilmer Wang entstanden. Vanessa Redgrave wurde interviewt und immer wieder Tilda Swinton. Wir haben die Filmfestspiele für Interviews mit Regisseuren, Schauspielern, Kameraleuten, Produzenten oder Drehbuchautoren, national und international, extensiv genutzt, aber sie waren eben zugleich auch Drehort für die anderen Magazine. Man traf sich mit den Leuten im Hotel Hyatt und ging dann mit ihnen rüber in den sogenannten Festivalpalast, z. B. mit Fellows von der American Academy, Professoren der Freien Universität oder Gästen des Wissenschaftskollegs. Aber manchmal wurde auch im Hyatt gedreht. Ganz am Anfang. Dort waren unsere Bedingungen sehr viel eingeschränkter. Aus einzelnen Interviews haben sich sehr langfristige Arbeiten Kluges entwickelt, wie die immer wiederkehrenden Gespräche mit Schlingensief oder Joseph Vogl. Das geht bis zu Hermann Parzinger, dem Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Parzinger war außerhalb der Fachwelt ein weitgehend unbekannter Archäologe. Aber er hatte damals im Altai-Gebirge eine Mumie gefunden und einen Goldschatz, das prädestinierte ihn für ein Interview mit Kluge. Als er Präsident der Stiftung wurde, hat das nächste Interview stattgefunden. Es hat sich eine Art festes Ensemble um Alexander gebildet. Da ist Helge Schneider, der Feuer gefangen hatte und die wechselseitigen Möglichkeiten in dieser Zusam-

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menarbeit sah, und auch wirklich fasziniert ist von Kluge, weil er sagt: »Der kann ja richtig spinnen.« Das zeichnet auch die Magazine aus, so wie sein Enthusiasmus, der diese Gespräche trägt. Dazu gehörte das Prinzip, keine Vorbereitungsgespräche zu führen, wenn die Eingeladenen am Drehort erschienen und auf das Interview mit Kluge warteten. Ich habe mit den Leuten dann ganz allgemein über unsere Arbeit gesprochen, nicht über das Thema des Interviews. Sie wären sonst, wie Kluge meint, leer vor der Kamera gewesen. Kluge brauchte manchmal nur Stichworte für ein großes Interview. Es war eine enorme Leistung, sechs Interviews von jeweils einer Stunde zu machen, von zehn Uhr früh bis abends um sechs oder sieben. Manche zogen sich auch noch hin. Manchmal war es so, dass aus einem Interview zwei wurden: Er stoppte bei einem Thema und nahm ein neues auf, das natürlich im Kontext zu der Person stand, die vor der Kamera saß. Unter den Wissenschaften gibt es praktisch keine Disziplin, die in den Magazinen nicht vorgekommen wäre, mit Ausnahme der Politologie, die für Kluge keine Wissenschaft war. Auch gegenüber der Soziologie gab es gewisse Vorbehalte. Auf der anderen Seite fand man Leute im Wissenschaftskolleg, die ganz ungewöhnliche Expertisen mitbrachten: so z. B. einen Native American, Tecumseh Fitch, ein Evolutionsbiologe, der alle Tierstimmen nachahmen konnte. Oder Professor Gadagkar, der Bienenspezialist weltweit, der mit zwei Bienenvölkern in Indien seit Jahrzehnten zusammenlebt. Das eine ist ein armes Bienenvolk, weil es in einer Gegend angesiedelt ist, in der es nicht so viel zu saugen gibt, und das andere ist ein reiches. Der weiß alles über Bienen, und das ist für Kluge sofort von Interesse. Da sprechen sie etwas Interessantes an, es ist ja verschiedentlich schon so eine Parallele gezogen worden zum Prinzip der Enzyklopädie, was diese thematische Weite angeht. Würden Sie das so auch als Mitwirkender aus ihrer Perspektive akzeptieren? Es ist ja eine andere Form von Wissen. Es ist wirklich eine enzyklopädische Antriebskraft. Wenn Kluge einmal etwas formuliert hat, wird er es nie wieder anders formulieren. Auch bei seinen Texten – er korrigiert nicht. Na ja, es gibt schon Korrekturdurchgänge. Ich denke da an die Arbeit von Thomas Combrink, der praktisch alle Bücher betreut, und auch von Wolfgang Kaußen bei Suhrkamp. Aber ansonsten ist es so, wenn er einmal etwas formuliert und veröffentlich hat, kehrt das auch immer so wieder. Ein Beispiel: Wir drehten in der Akademie der Künste mit Irmela Roelcke am Flügel. Dort sah ich plötzlich Stéphane Hessel, der damals das Büchlein Empört Euch! geschrieben hatte, das ziemlich viel Aufsehen

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erregte. Hessels Vater Franz, ein Deutscher, war nach Paris gegangen, und Truffaut hatte eine Dreiecksgeschichte des Vaters mit Oskar Werner in Jules et Jim verfilmt. Ich wusste, dass Stéphane bei der UNO gearbeitet hatte, dass er im KZ gewesen war. Wir machten also das Interview. Als Stéphane Hessel Jahre später starb, rief Neues Deutschland an, der Chefredakteur wollte von Kluge einen Beitrag zu Hessels Tod haben. Am nächsten Tag erschien ein ziemlich ausführliches Interview. Kluge hatte sicher in der Zwischenzeit keine Gelegenheit nachzuschlagen, aber er hat zum Teil das, was sich vor vielen Jahren in dem Gespräch ereignete, wortwörtlich wiedergegeben. Insofern vergisst er auch nichts, was natürlich nicht für alle Beteiligten gut ist. Die Gründung der DCTP fiel ja fast mit der Wende zusammen, und gerade in den frühen Jahren gab es viele Sendungen mit Künstler_innen und Politiker_innen aus der DDR. Welche Rolle spielten Sie dabei? Mir fiel die Rolle zu, 1989/1990 praktisch eine Ost-DCTP zu schaffen. Mit dem Fernsehen der DDR, unter dem letzten Intendanten Albrecht, entstand so unter anderem Tele Potsdam und damit ein Modell für die noch existierende DDR, wie es die DCTP in der alten Bundesrepublik war. Das hat lange existiert, und viele Filmemacher, wie Peter Voigt und andere, vor allem Dokumentarfilmer, die es sehr schwer hatten, sich bei den Öffentlich-Rechtlichen des vereinigten Landes durchzusetzen oder Sendeplätze zu finden, haben ihre Filme dadurch realisiert. Dazu kam, die Überlebenden der DDR zu interviewen, wenn ich das mal so nonchalant formulieren darf. Es gibt z. B. ein Interview mit Egon Krenz, dazu kamen dann die Volksbühne, das Berliner Ensemble und Leute, zu denen Kluge vorher keine Verbindung hatte. Aber das war nach der Wende dann ein Terrain, das neu erschlossen wurde, auf dem ich mich auskannte. Natürlich gehörte auch Heiner Müller dazu. Und Einar Schleef. Schleef sowieso. Schleef hat die DDR 1976 verlassen und kehrte nach dem Fall der Mauer als Regisseur ans Berliner Ensemble zurück, als dieses Fünferdirektorium mit Zadek, Müller, Marquardt und anderen auf ein Konzept von Ivan Nagel hin durch den Senat eingesetzt wurde. Peter Zadek, dessen Bedeutung Kluge in Ulm nicht erkannt hatte, wurde erstmals ein Gesprächspartner für uns. Fritz Marquardt, der wichtige Müller-Stücke an der Volksbühne zu DDR-Zeiten inszeniert hatte, und natürlich Ruth Berghaus, die ohnehin interessant war, wegen der Musik und der Oper. Dadurch war das Berliner Ensemble ein wichtiger Ort für Kluge. Unser erstes Gespräch mit Schleef fand statt, als er dort das Brecht-Stück Herr Puntila und sein Knecht Matti inszenierte. Das war insofern eine interes-

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sante Aufführung, weil Schleef selbst den Puntila spielte. Martin Wuttke, die ursprüngliche Besetzung für die Titelrolle, hatte sich verletzt, weshalb Schleef den Puntila übernahm. Wuttke, der wichtigste Protagonist in Frankfurt, hatte kurz zuvor mit der Titelrolle von Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui unter der Regie von Heiner Müller einen großen Erfolg. Schleef wollte es ihm zeigen, weshalb er nicht nur Regie führte und das Bühnenbild machte, sondern auch die Titelrolle spielte. Schleef stotterte immer, aber bei dieser Inszenierung, stotterte er, solange er den Puntila spielte, nicht ein einziges Mal. Überhaupt, wenn er auf der Bühne gestanden ist. Ja, meine Erklärung ist: Er sprach fremde Texte und musste nicht lügen. Als diese Premiere zu Ende war, trat er vor die Zuschauer und stotterte wieder: »Wir hatten ja nur drei Tage Probenzeit.« Das war gelogen. Aber was auch an dieser Aufführung großartig war, er zeigte dem Wuttke, indem er die Rolle spielte, woher Wuttke alles als Schauspieler hatte. Und danach kam es mit Schleef zu einer ganzen Reihe von Interviews, bis Schleef zu mir sagte: »Wenn der Herr Kluge sich beim nächsten Mal nicht vorbereitet, dann mache ich kein Interview mehr mit ihm.« Aber trotzdem ging es weiter bis zu Schleefs Tod. Schleef hat wie ein Berserker gearbeitet. Für den gab es immer nur die Gerade: Wenn da eine Wand im Wege stand, ging er durch die Wand. Diese Geradlinigkeit hatte er auch gegenüber Müller; Müller fürchtete Schleef. Welche Wünsche brachte Kluge denn mit, was den Drehort betrifft? Der Drehort musste ruhig sein, es durften keine Leute störend hereinkommen. Er musste kostenlos sein, vor allem mussten die Lichtverhältnisse stimmen. Drehorte waren in Berlin die Volksbühne, die Akademie der Künste, das Hotel Bristol Kempinski, das Adlon, die Freie Volksbühne, heute das Haus der Festspiele, und das Haus der Kulturen der Welt, lange, bevor dort Veranstaltungen von Kluge stattfanden. Ein anderer Drehort war der Filmpalast während der Filmfestspiele. Und der vielleicht wichtigste Ort seit den 1980er-Jahren, die Frankfurter Buchmesse. Wir haben jedes Jahr dort gedreht bis 2014, und zwar sehr intensiv, immer drei oder vier Tage, zum Teil fünf, sechs Interviews jeden Tag. Es war nicht einfach, auf der Buchmesse einen Platz zu finden, wir hatten dann eine Location dort, die über all die Jahre Bestand hatte. Es gab auch ein Agreement mit dem Generalmanager des InterContinental Hotels, in dem wir wohnten, so dass wir immer dort in der Lobby, da gab es so eine Bar, die tagsüber nicht besucht war, drehen konnten oder in einem Salon in der obersten Etage des Hotels. Nie in einem Zimmer, weil das einfach keine Perspektive zulässt. Es sollte aussehen wie Film. Es gab ja zwei oder drei Teams bei Kluge, das in Berlin wurde

Eine Stimme – tausend Interviews

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ja schon angesprochen – mit Walter Lenertz als Kameramann und Arno Wilms als Tondesigner. Und in München gab es einen ebenso exzellenten Kameramann, Thomas Wilke, und Michael Kurz, der für den Ton zuständig war. Die Teams richteten ein, dann wurde auch noch umgebaut, denn Kluge hatte immer das letzte Wort. Es wurden immer große Anforderungen an den Ort gestellt. Es konnte auch bei den Filmfestspielen durchaus im Hyatt gedreht werden, wo sehr viele Leute herumwuselten, was dann miteingebaut wurde. Oder aber wir haben ad hoc, wenn wir einen Drehort hatten, Leute, die vorbeikamen interviewt, wir nannten das ›einwinken‹. Das InterConti in Frankfurt war der wichtigste Drehort für zwanzig, dreißig Jahre, dort fanden Gespräche mit Neil MacGregor, Jean Ziegler oder Slavoj Zˇizˇek statt. Welche Rolle spielte Salzburg? Salzburg war der zweite wichtige Drehort. Da gibt es ein Interview mit Pierre Boulez, das einzige Interview, das mit Pierre Boulez geführt wurde. Leute wie Pierre Boulez zu kriegen, war ungeheuer schwer. Ich spreche ja kein Französisch, aber zum Glück sprach Boulez deutsch. Insofern war es gelungen, aber Kluge wollte etwas von ihm, deswegen war er nicht so ganz mit dem Interview zufrieden. Heiner Müller hatte einen kurzen Text für eine Oper geschrieben, und Kluge wollte Boulez nach Müllers Tod dazu bewegen, den Text zu komponieren. Boulez war dazu auf keinen Fall bereit. Ich weiß nicht einmal, ob der Text von Müller wirklich existiert. Salzburg war wichtig wegen der Musik, der Opernaufführungen und der österreichischen Wissenschaftler und etwas, das Kluge immer fasziniert hat: Gebirge. Was war da besser geeignet als Österreich. In Salzburg waren die Leute konzentriert, während der Festspielzeit einfach zu kriegen, und so sind viele Interviews entstanden, u. a. mit Nina Hoss, Christoph Marthaler, Jürgen Flimm und Nikolaus Harnoncourt. Salzburg war auch der Hintergrund zu Mozart, Schikaneder usw., wofür sich natürlich sehr gute Leute in Österreich fanden. Anna Netrebko haben wir nicht bekommen, nicht jeder Versuch ist geglückt, und auch nicht jedes Interview war verwertbar. Aber die Interviews, die wiederholt stattfanden, sind oft in neuen Formationen wiederverwendet worden. Wenn man z. B. Happy Lamento sieht, erkennt man, wie sehr die Magazine dort eine Rolle spielen, und wie offen und geschickt Kluge in der Zusammenarbeit ist, in diesem Fall mit Rapid Eye Movies, die ja mit dem philippinischen Spielfilmregisseur Khavn De La Cruz kollaborieren. Mit Happy Lamento ist Kluge zum ersten Mal wieder bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig angetreten. Das war Jahre davor einer der Drehorte für die Kulturmagazine. Dort war es immer schwierig an Interviewtermine zu

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gelangen, aber da halfen manchmal Glücksfälle. Ich erinnere mich an eine Sache, die sehr schön war. Ken Loach war im Wettbewerb mit Land and Freedom, und wir hatten uns vergeblich bemüht, einen Interviewtermin zu bekommen. Ich wohnte im selben Hotel wie er und so gelang es mir, ihn persönlich von einem Gespräch mit Kluge zu überzeugen. Obwohl Ken Loach ein sozialkritischer Filmemacher ist, ein Trotzkist, wäre man über den Apparat nicht an ihn herangekommen. In Venedig begann Kluges Karriere 1966 mit Abschied von gestern, da hat er allerdings ›nur‹ den Silbernen Löwen bekommen und dann mit Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos den Goldenen Löwen. Deswegen war natürlich Venedig ein ganz besonderer Ort für ihn, und dort haben ihm auch oft Erika und Ulrich Gregor geholfen, die Verbindung zu japanischen Filmemachern klarzumachen. Er hat nach wie vor ein großes Talent darin, Leute anzusprechen und sie krumm zu reden, aber auch wieder gerade. Der Höhepunkt unserer Zusammenarbeit war sicher die Werkschau Alexander Kluge vom 21. bis 28. Juni 2004 bei dem XXVI. Internationalen Moskauer Filmfestival, die von mir in Zusammenarbeit mit dem Festivalpräsidenten, Nikita Michalkow, dem Leiter des Moskauer Filmmuseums, Naum Kleiman, und Irina Prochorowa, der Leiterin des Moskauer Verlags Neue Literarische Rundschau kuratiert wurde. Als ich Kluge das Programm vorstellte, wonach sieben seiner wichtigsten Spielfilme in einem der besten Moskauer Kinos und sieben Programme von je zwei Stunden mit Kulturmagazinen im Filmmuseum gezeigt werden sollten, und die gerade erschienene russische Ausgabe seines Buches Chronik der Gefühle von Viktor Jerofejew und Boris Groys im Klub Na Brestskoy vorgestellt wurde, fragte er mich: »Und was mache ich tagsüber?« Daraufhin engagierte ich über meinen Freund Dirk Sager, der damals das ZDF in Moskau leitete, ein Kamerateam und Übersetzer, so dass wir täglich im Hotel Baltschug Kempinski das gemacht haben, was wir immer machten – Interviews drehen: Von Jewgeni Primakow, dem ehemaligen Regierungschef, mit dem Nobelpreisträger Schores Alfjorow, dem Krimiautor Boris Akunin und den Putzfrauen, den Bühnenarbeitern und Souffleusen im Bolschoi Theater. Auf riesigen Plakaten in ganz Moskau die Ankündigung der Werkschau, mit einem großen Foto von Kluge, gesponsert von der Wall AG Wostock. Ein Novum bei den Internationalen Filmfestspielen in der russischen Metropole.

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Reden über das Jahrhundert1

»Das dünne Eis der Zivilisation«

1 VIDEO: Hommage für Luigi Nono. Länge 04:14 Min. Meine Damen und Herren, es ist ein starkes Gefühl, hier in der Felsenreitschule zu sitzen. Und es ist ein vielleicht noch stärkeres in einer Inszenierung, in einem Bühnenbild zu sitzen. Hier, in dem Blau der Elektra. Oft müssen wir uns auf die Schultern von Riesen stellen und dann haben wir es mit Balance-Fragen zu tun. Bevor ich mit meiner eigentlichen Rede beginne, möchte ich deshalb gute Geister herbeirufen. »Gute Geister«, damit meine ich diesem Fall Luigi Nono. Und das ist eine Hommage für Luigi Nono, aber auch eine für Markus Hinterhäuser. Vor einigen Jahren habe ich hier auf dem Festival mit meinem Team Dreharbeiten durchgeführt. Plötzlich sagte er zu mir: »Sie müssen ganz dringlich rüber in die Kollegienkirche, dort gibt es Prometeo von Nono«. Und ich muss Ihnen sagen, unter den vielen starken Eindrücken dieses Festivals, die ich kenne, ist das für mich einer der stärksten gewesen. So etwas von Authentizität, Besonderheit, Individualität in den Künsten, so etwas »Ganzes« habe ich sonst nicht erlebt. Und ich möchte gerne, als Gefährten neben mir, Luigi Nono sitzen haben, und spiele Ihnen deshalb dieses Triptychon. »Reden über das Jahrhundert«. Was mir sofort auffällt: wenn wir hier in Salzburg über den Zeitraum von 1920 bis 2020 uns gemeinsam Gedanken machen, dann sind das zwei recht verschiedene Jahrhunderte. Beide zerrissen,

1 Rede gehalten anlässlich des hundertsten Geburtstags der Salzburger Festspiele am 1. August 2020.

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amorph, offensichtlich unvollendet, kantig und nicht gut verschraubt miteinander. Etwas Zweites fällt auf: es gibt ein Jahrhundert von Afrika, ganz anders als das Jahrhundert Chinas, ganz anders als das von Indien, oder Russland. Jeder Kontinent hat seine eigene Zeit, scheint es. Das Narrativ des Doppeljahrhunderts von 1920 bis 2020 hat für uns in Europa einen anderen Rhythmus als das angelsächsische, das transatlantische Jahrhundert und alles dies, wovon ich hier spreche, ist deutlich verschieden von der Algorithmenwelt von Silicon Valley, mit deren mächtigem Auftritt wir uns konfrontiert sehen. Ein Jahrhundert ist wie eine Kugel. Wenn man die Kugel dreht, tritt ganz Verschiedenes ans Licht. Es gibt das Jahrhundert der Ingenieure, das Jahrhundert der Arbeit. Es gibt auch ein Jahrhundert der Börse mit Katastrophen, Schwarzen Freitagen und viel Kletterkunst der Kurse. Ganz anders die scharfen Dissonanzen und Glücksmomente, wenn man vom Jahrhundert der Künste spricht, und das liegt bei den Salzburger Festspielen doch als Thema fest, dass wir nicht über alles sprechen, sondern eben über Künste und das Glück, dass Festspiele überhaupt stattfinden. Es gibt Goldgräberjahre der Astrophysik in dem Jahrhundert, über das wir sprechen. Die Perspektive auf den Kosmos ist weiter geworden in der Zeit von 1920 bis 2020. Auf unserem Planeten selbst, Verbrechen und unabgeräumte Minenfelder. Halbentschärfte Munition liegt im Gelände. Es ist nichts so gefährlich, wie der Versuch mit halbentschärfter Munition umzugehen. Der Historiker Reinhart Koselleck hat gesagt: von Geschichte im Singular kann man erst seit der »Sattelzeit« sprechen. Das ist die Zeit vom Beginn der Großen Französischen Revolution, von 1789 bis etwa 1815. Vorher gab es Chroniken, viele Geschichten, lateinisch: Gesta, »Taten und Geschehnisse«, wie im Ausdruck Gesta Romanorum. Die Geschichte im Singular entfaltet sich dann bis etwa zum Ende des Dualismus der Imperien im 20. Jahrhundert. Heute beobachten wir, zeitgleich mit der Globalisierung, eine neue Fragmentierung, wieder Vereinzelung und getrennte Geschichte(n). Nur in den Künsten, und vor allem in den Opern, diesem Gesamtkunstwerk, das Handlung und Musik verbindet, und, wie Sie heute Nachmittag hören werden, gelegentlich die Wucht der Elektra annimmt, da gibt es noch Beispiele für ein kompaktes Ganzes.

2 Wenn ich an den Gründungsakt der Salzburger Festspiele im Jahr 1920 denke, denke ich an das Stück Jedermann. Es ist eindrucksvoll, wie der Tod in diesem Stück erscheint.

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»Tod (zur Buhlschaft) Ich bin der Tod, ich scheu keinen Mann tret jeglichen an und verschone keinen« »Tod Von deines Schöpfers Majestät bin ich nach dir ausgesandt und das in Eil: drum steh ich da.« »Jedermann Ach Gott, wie graut mir vor dem Tod.« »Tod Allmächtiger Gott, hier sieh mich stehn, Nach deinem Befehl werd ich botengehn.«

Die Gesichter des Todes im 20. Jahrhundert und auch in unserer Zeit sind sehr verschieden. Der Tod, der an die Kehle geht, ist das Fürchterlichste. Das Gas in Verdun oder in der Gaskammer geht an die Kehle. Die Kehle als das Organ, mit dem hier auf den Salzburger Festspielen gesungen wird. Und COVID-19 geht an die Lungenbläschen, den Atem. Die große Virologin Karin Mölling hat mich bei einem Gespräch über das Virus auf das Arioso von J.S. Bach aufmerksam gemacht (sie kann dieses spielen). Es hat den Text: »Ich steh mit einem Fuß im Grabe«. VIDEO: Ich steh mit einem Fuß im Grabe. Länge 01:59 Min.

3 Meine Mutter ist 1908 geboren. Sie ist etwa ein Jahr alt, als im Januar 1909 Elektra, die Oper, die heute Abend die Festspiele eröffnet, in die Öffentlichkeit tritt. Drei Jahre später schreibt Thomas Mann seine Novelle Tod in Venedig. Es heißt, dass die Hauptperson in dieser Oper, der Dichter Aschenbach, Gustav Mahler in seinem Todesjahr nachgezeichnet ist. Ich möchte diese Jahrhundertgeschichte in unseren Erzählrahmen stellen, und damit ein kleines Stückchen des Jahrhunderts erkunden. In der Novelle stirbt ein Dichter in einem Grand Hotel in Venedig. TEXT Tod in Venedig 1912 / Tod in Russland 1940 Der Dichter hat sich an der Cholera infiziert. Sein letzter Blick gilt einem Kind, einem schönen Jüngling. Es wird beschrieben wie dieser Junge, Thomas Mann

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nennt ihn einen Psychagogen, einen »Seelenführer«, in eleganter Weise seiner Mutter die Hand küsst. Dieser algorithmische Schöne, ein Pole, wird im September 1939, so wird man Thomas Manns Novelle forterzählen müssen, vermutlich ein Oberst in der polnischen Armee sein. Wenn er sich entscheidet, zu Ross mit seiner Truppe nicht in die Gefangenschaft der Deutschen zu reiten, wird er in die Gefangenschaft der Russen geraten. In diesem Fall wird er von einem GPU-Mann in den Nacken geschossen sein. Er wird im hässlichen Haufen der Übrigen liegen. Seine Mutter ist zu diesem Zeitpunkt schon nach New York geflohen. Sie will ein Bild ihres Jungen haben. Sie bittet einen künstlerischen Fotografen in Lemberg, dass er ihren Jungen auf dem Totenfeld sucht und ihr ein Bild macht. Der Kopf des Mannes, ihres Jungen, ist aber so ungeschickt zerschossen, dass der Künstler lieber einen Nachbarn aus Lemberg herrichtet und fotografiert und diesen Ersatz nach New York schickt. Mein kurzes narratives Echolot reicht gerade einmal für 27 Jahre in das Jahrhundert hinein. Von 1912 bis 1939. Aber das Idol des Schönen hat sich in Charaktere der Hässlichkeit umgewandelt. Innerhalb der gleichen Lebensgeschichte. Ovid ist ein Meister der Metamorphosen. Wo etwas Grausames, Menschenfeindliches geschieht, durch Willkür der Götter, da rettet er das Opfer, indem er es verwandelt. So ist die erste Oper der Welt entstanden. 1598, von Jacopo Peri komponiert. Noch 11 Jahre vor Monteverdis Orfeo, dieser ersten in der Operngeschichte gezählten Oper. Und da geht es um Dafne. Und als der athletisch aussehende, elastische Gott, dieser schöne Mann, nach dieser Nymphe grapscht, die ihn doch nicht haben will, erstarrt diese zu Holz. Und jetzt Ovid: nicht in ein beliebiges Holz, sondern »in das Holz des Lorbeerbaumes, dessen Blätter nie welken«. Und von diesem Moment an, so erzählt Ovid, wachsen überall am Mittelmeer die Lorbeerbäume. Und noch auf der Glatze des Tyrannen Cäsar, drei Tage vor dessen Tod, finden sich Lorbeerblätter. Sie retten ihn aber nicht, weil ihr Ursprung aus einer Vergewaltigung stammt. Und das sind die Zusammenhänge, die die früheste Oper erzählt. Und wie reich ist diese Welt der Oper, die in 80.000 Opernpartituren uns manchmal auf verdrehte Weise und manchmal ganz realistisch, manchmal auf zauberische Weise die Welt der letzten 425 Jahre erzählt?

4 »Reden über das Jahrhundert« Wenn man über den Zeitraum von 100 Jahren redet, verändert sich das Wort AKTUALITÄT massiv. Aktualität heißt für gewöhnlich Gegenwart. Zur Gegenwart gehört für mich heute ein Bombenangriff in Syrien oder in Libyen. Aber genauso bleibt für mich selbst der Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg, den ich

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als Kind miterlebt habe, am 8. April 1945, aktuell. Und beides ist 75 Jahre voneinander entfernt, so dass die Zeitstrecke von 75 Jahren das Mindestmaß an Gegenwart enthält. Und wenn ich das jetzt umkehre in die Zukunft und überlege, was wird in 75 Jahren sein, dann rede ich nicht von irgendetwas Unrealistischem, sondern ich rede genau von dem Reich unserer Taten in der Gegenwart, von der Verantwortung, die wir für unser Jahr 2020 ausüben, und die Folgen, die das, was wir heute tun, in künftigen Jahren für unsere Kinder und Kindeskinder haben wird. Die Zeitstrecke der kommenden 75 Jahre ist hinzuzuzählen zu dem Moment, in dem ich jetzt lebe. Und dem Moment, in dem wir hier sitzen. Wir sprechen hier über Zeit und Aktualität. VIDEO: Meine phosphoreszierende Uhr. Länge 01:57 Min. Mit Tango Ich lese eine Geschichte, sie ist dem New Yorker Dichter Ben Lerner gewidmet, mit dem ich auch sonst viel zusammenarbeite. TEXT »Der Himmel hört auf zu malen und wendet sich der Kritik zu« (→ nach Ben Lerner: »The sky stops painting and turns to criticism«) Dort über den Bergen, wo aus den Morgennebeln die Sonne heraustrat: jetzt silbrige Glitzerpunkte in Reihe. Um sie herum färbte sich der Himmel: stachelbeerfarb, bläulich-virtuos, flanellgelb, rotschimmernd, engelsfarb, hysterieweiß, rosa-melange. Die Farbfülle war zerstochen von winzigen Artefakten, deren Motorenlärm in der Höhe ihrer Erscheinung vorauseilte. Noch waren sie Punkte. Und schon zog ihr Geräusch (»die Posaune«), nämlich die Vorauserwartung der Explosionen, alle Aufmerksamkeit der Betrachter auf sich. Zwanzig Minuten später war die Stadt zerstört. Im Luftschutzkeller gefragt: Wo war die letzte Abzweigung für mich und meine Kinder, wenn es darum geht, dem Verhängnis, das in zwei Meilen Höhe über uns hereinbricht, zu entgehen? Vor zwanzig Jahren? Hätte ich gestern noch entkommen können? Wohin ausweichen? Kenntnis der sicheren Orte ist der Anfang der Philosophie. Ein Bombengeschwader am frühen Morgen am wie immer gefärbten Himmel begründet das Denken neu. Einige Sekunden vor meinem Ende (und das meiner Lieben) – und wenn der Einschlag den Nachbarn trifft künftig immerfort – will ich himmelschreiender Kritiker sein. Ich sauge an den Zitzen der Wölfin, um dieses Wundermittel in mich hineinzufüllen, falls mir Zeit bleibt.

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5 »Reden über das Jahrhundert« TEXT Rundfunkarbeit der letzten Stunde im Jahr 1945 in Salzburg Vom Funkhaus in Wien waren die drei, ein Rundfunktechniker, zwei Schriftleiter, mit ihrem Gerät zum Reichssender Salzburg ausgewichen. Die zwei Schriftleiter legten Platten auf aus dem Bestand, den sie mitgebracht hatten. Viel Nachdenklichkeit beim Auflegen der Platten. Es wird in 100 Jahren wieder so ein Frühling sein. (Das war der Titel einer der Platten.) Dieser Schlager betrifft ein Liebespaar, das einige Jahre zuvor auf einer Bank sitzt und sich vorstellt, dass es in 100 Jahren selber nicht mehr lebt, aber andere Verliebte auf dieser Bank sitzen werden. Austausch einer Glücksvorstellung über 100 Jahre hinweg. Ich habe mit Einar Schleef über diesen Schlager debattiert. Und Schleef sagte: Freilich ist das Kitsch. Aber es ist ein Kitsch, der zum Ausdruck von Gefühlen gehört. Wir befassen uns mit Kunst, fuhr er fort, also mit Akrobatik und Gefahren hoch oben in der Spitze des Zirkuszeltes, Höchstkunst, aber wir sind gleichzeitig die Clowns, die Bodenhaftung haben. Auch die Füße der Elefanten in der Manege, wegen der Erdanziehung und ihrer Schwere, werden am Boden festgehalten. Man darf, so Einar Schleef, die Intelligenz der Gefühle und ihre Trivialität nicht voneinander trennen. Es gibt zwischen dem Sumpfgelände der Gefühle und den höchsten Ausdrucksformen der Kunst keine festen Grenzen. Ich komme zu den Grenzen und zeige Ihnen ein Triptychon:

6 VIDEO: Film-Triptychon, Der Stolz Europas endigt an der befestigten Grenze. Länge 02:43 Min. Ich wusste, bevor ich diesen kleinen Film gemacht habe, nicht, dass Apple gar nicht existieren würde, wenn der Vater von Steve Jobs, ein Migrant aus Syrien, nicht in die USA hineingelassen worden wäre. Auswanderung, Flucht, Glückssuche, Verschleppung, Exodus, das sind Grundthemen in der Geschichte der Menschheit, und sind für unser Jahrhundert, von dem wir hier sprechen, eines der Kennzeichen. Ich kann diese Geschichte von Steve Jobs, der glücklichen Einwanderung, nicht beliebig wiederholen. Wenn z. B. Aeneas, seinen Vater Anchises auf dem Rücken, wie in der Oper oft dargestellt, zu Dido nach Karthago flüchtet und diese schöne Königin dann wieder verlässt und dieser Sopran stirbt

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den Feuertod, dann tut mir das leid. Und das Lamento der Dido gehört zu den großen Stücken der Musik. Aber das Lamento überhaupt ist die Kernform, um die die ersten und frühesten Opern sich gruppieren und ich glaube, dass die öffentliche, gemeinsame Trauerarbeit das Wesentliche ist in den Festspielen, auch wenn sie in Salzburg ihre heitere Seite haben. D. h., dass wir das gemeinsame Trauern, das Lamento, das Weinen, die Trauer um den Tod der Soprane, dass wir das quasi feiern und wiederholen, damit etwas von der Grausamkeit der Realität draußen sich vermindert und etwas auf der Bühne an Ausdrucksvermögen reicher wird. Das ist die Aufgabe für die die Oper, die Operngeschichte, und die Festivals angetreten sind. Zitat aus Jedermann: Der Tod: »Jedermann, o weh! Nun ist wohl Weinenszeit! Nun steh ich da, hab kein Geleit.«

TEXT Regeln für das Weinen Wenn feuchtes Holz beim Brennen singt, ist es das Weinen der armen Seelen. Wenn der Wind im Holz um die Ecke des Hauses pfeift, weinen die ungetauften Kinder. In der Schweiz heißt es, man müsse Kinder weinen lassen, denn während sie weinen, wächst ihnen das Herz. Bei Homer, bei den Sioux, auf den Andamanen und auf Neuseeland werden Heimkehrer mit Tränen empfangen. Das sei, sagt Derrida, nicht Ausdruck seelischer Erregung, sondern eine das Übel abwehrende Kraft. Es soll dem Heimkehrer gutgehen, und er soll keine Übel importieren. Die Tränen der im Leben Zurückbleibenden, die den Toten liebten, brennen im Verstorbenen wie Feuer. Je mehr man um den Toten weint, desto mehr Wasser muss er in der Unterwelt schöpfen. Deshalb sagt man in einem Seitental der Etsch, wo ein altes Latein gesprochen wird, es dürften um ein totes Kind nicht mehr Tränen vergossen werden, als eine Tasse davon fasst. Da der Tote noch zwei Tage lang alles sieht, soll man in diesen Tagen nicht zu viel weinen. Gestorbene Kinder, die unter den Tränen ihrer Mutter litten, erschienen im Hause und wiesen auf ihr nasses, schweres Hemdchen hin. Sie schleppten einen Krug mit sich, bis zum Rande mit Tränen gefüllt, und ließen sich erst wieder ins Grab niederlegen, als die Mutter versprach, nicht mehr zu weinen. VIDEO: Peter Weibel, Weh dem, der keine Heimat hat. Länge 01:59 Min.

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7 Reden über das Jahrhundert. Reden über tausend Jahre. Ich spreche dabei von dem, was mich bewegt. Nicht nur in diesem Jahrhundert. Und ich spreche über Verlusterfahrung. Ich spreche von dem, für das ich Patriot bin, stellvertretend für andere Verluste. Ich spreche von … … »Bücherverbrennung« Ich bin ein Patriot der Bücher von meinem Beruf her. Wir Menschen sind keine Jahrhunderttiere. Unser Haus sind die Lebensläufe. Und in diesen Lebensläufen orientieren wir uns an niedergelegtem Ausdruck, Büchern, die wie Schiffe die Erfahrung durch die Jahrhunderte und manchmal durch die Jahrtausende tragen. VIDEO: Die Bibliothek von Alexandria brennt. Länge 02:04 Min. Wir Menschen haben einen ganz bestimmten Rhythmus. Es ist nicht der Taktschlag der Fakten. Es ist nicht der Rhythmus im Dezimalsystem. Insofern, und das meinte ich, als ich sagte: wir sind keine Jahrhunderttiere, sind Lebensläufe immer etwas mehr oder etwas weniger als 100 Jahre lang. Die Musik der Zellen und der Körper hat ihren eigenen Rhythmus. Das Leipziger Publikum hielt es seinerzeit für einen Tick von J.S. Bach, dass er jedes Mal, bevor er dirigierte, sich ans Handgelenk fasste. Er hat dort seinen Pulsschlag gemessen. Und das war für ihn »tempo ordinario«. Von dem Pulsschlag entscheidet sich, was langsam oder was schnell ist in der Musik. Und ich möchte das fortsetzen, indem ich einen zweiten Gefährten herbeirufe für unsere jetzt schon Mittagssitzung, zusätzlich zu Nono: Heiner Müller. Die beiden haben zusammengearbeitet. Ihre innovative Ästhetik errichtet immer erneut zwischen Hochkunst und Bodenhaftung Jakobsleitern. Ich widme Heiner Müller einen kurzen Film. VIDEO: Heiner Müller mit summenden Stimmen. Nach einem Lamento von Barbara Strozzi. Länge 01:49 Min. Dieses Lamento und Ostinato, das dem Pulsschlag übrigens sehr ähnlich ist, wird gespielt von der Banda-Gruppe Franui, wie auch schon das vorige Stück. Ich lese jetzt hierzu eine Geschichte, die gewissermaßen die Gegenbewegung zum Lamento enthält und auch dazugehört, wenn man über die Moderne spricht. Denn wir wissen alle, dass der Zeitpfeil vorwärts zeigt und man nicht physikalisch in der Zeit zurückspringen kann. Die Wünsche können das jedoch. Die Künste

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können es auch. Adorno hat bewundernd in einem Essay geschrieben, wie Tschaikowski erst in einer Ouvertüre alle Hauptpersonen der Oper sterben lässt, dann kommt ein Zwischenspiel, und dann stehen sie wieder auf. Die Musik kann das und es ist etwas Bezauberndes, wenn in meiner Heimatstadt, im Halberstädter Stadttheater, seinerzeit für einen Siebenjährigen der Sopran, der eben getötet wurde, wieder aufsteht und den Beifall entgegennimmt. TEXT »Habe Berge versetzt, habe Wurzeln im Mund« Heiner Müller, das Whiskyglas in der Hand, die Zigarre fast nur noch Asche. Wir reden zu zweit. Lässt sich der Kreislauf eines von Jägern erschossenen Hirschen wieder aktivieren? Lässt sich das im Körper des Hirschen »zerlegte« Geschoß dort einsammeln, vor Ort zu einer Patrone wiedervereinigen und unter Rekonstruktion seiner Flugbahn erneut im Gewehr des Schützen verwahren, während es außerdem noch darauf ankommt, den Sinn des Jägers dahingehend zu wenden, dass er von seinem Vernichtungs- und Beutewillen ablässt und seinen Schuss nicht sofort wiederholt? Heiner Müller und ich stimmten, besoffen wie wir waren, darin überein, dass die Vorkehrungen für ein solches »Wunder« die Arbeit von Jahrtausenden erfordert. Wir sangen: »Es gingen drei Jäger in den Wald, Sie wollten schießen den weißen Hirsch…« Sie wollten schießen den weißen Hirsch. Darüber schliefen sie ein. Das seltene Geschöpf trat überraschend in Erscheinung, sprang über seine Jäger hinweg. Es rettete sich in die Tiefe des Gebirges. Die übertölpelten Schützen waren mit ihrem Erwachen noch gar nicht fertig geworden. Auch wenn die Szene Heiner Müller für eine Theateraufführung unbrauchbar schien, war sie doch ein gutes Beispiel für den »umgelegten Schalter« der Geschichte. Das Herz des weißen Hirsches, gut durchblutet, in Waldesluft erfrischt, voller Wachheiten, entfernte sich im Gelände. Eine ungenaue Zärtlichkeit ergriff uns. Wir wollten wenigstens einmal im Leben ein tödliches Geschoß in die wartende Patrone im Gewehr des Jägers zurückverwandeln. Und das Gewehr in eine Pflugschar, insistierte Müller, der schon nach den Reimen suchte für ein Gedicht. Was willst Du mit der Pflugschar? fragte ich. Das Erz gehört zurück in die Adern der Berge. Es scheint so, sagt Heiner Müller, dass im Lauf eines Jahrhunderts der Zeitpfeil linear ist und nie umkehrbar. Er zeigt mir aber auch bei Walter Benjamin die Stelle, wo es um die Apokatastasis Panton geht, die Wiederkehr der Toten. Das sei keine Theologie, sondern eine Tatsache der Wünsche.

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8 »Reden über das Jahrhundert …« Ein Jahrhundert, das sind 36.500 Tage. Es sind mehr als 3 Milliarden Sekunden. In jeder dieser Sekunden kann ein älterer Mensch sich den Oberschenkelhalsknochen brechen. Man kann sich auch verlieben. Ein Kind zeugen, einen Baum pflanzen, das braucht mehr Zeit. Wenn jemand alle zwei Monate zum Frisör geht, sind es, wenn es hochkommt, 600 Haarschnitte. VIDEO: Absturz eines Schwarzspechts. Lamento. 01:46 Min Die Schwarzspechtmutter hat ihr Junges umgebracht. Das ist grausam. Ich mute Ihnen diesen kurzen Film zu, weil ich hier im Bühnenbild der Elektra sitze. Und wie die Atriden miteinander umgingen, wissen Sie. Klytämnestra wird allerdings hinter der Bühne gemordet. In einem der Atriden-Dramen zuvor aber opfert Agamemnon das Liebste, was er hat, die Tochter Iphigenie, den Göttern, damit eine günstige Überfahrt nach Troja möglich wird. Es geht um einen Eroberungszug. Der Kriegszug ist grausam, Agamemnons Tat nicht weniger. Und es hat einen Sinn, wenn Sophokles, und im Fall der Elektra alle drei großen Tragiker, die Mordhandlungen in den Bühnenhintergrund setzen. Und es hat auch einen Sinn, dass die Oper und die Tragödie die Grausamkeit auf die Bühne bannt und damit von der Realität abzusaugen versucht. Wenn ich hier sitze und ich empfinde sehr stark diese sehr kurze, aber doch unglaublich wuchtige Oper von Hofmannsthal und Strauss, dann denke ich an eine Eintragung in den Tagebüchern von Ernst Jünger. Und er beschreibt da zunächst die Geschichte, wie der Agamemnon, der aus Troja heimkehrt, ins Bad geführt und dort erschlagen wird. Das Blut fließt aus dem Bad bis zum Palasteingang. Und jetzt ergänzt Ernst Jünger (und das ist die richtige Art, in der Zeit zu springen): Heute sehen wir, wie die Staatsmänner auf einem roten Teppich empfangen werden. Und dieser rote Teppich ist so doppelbödig wie das Blut des Agamemnon. Denn der rote Teppich ist nachgeahmt, entspricht der Metapher, die diese Erfahrung des Agamemnon auf Dauer wiederholt bei Staatsempfängen. »Gleich wirst du im Bade geschlachtet sein« hat dieselbe Bedeutung wie »Willkommen in der Hauptstadt«. Mich bewegt das, weil sozusagen die Aktualität, das platte Fernsehbild, dadurch die Tiefendimension der Realität gewinnt. Und das auszudrücken, dafür sind Festspiele da.

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9 Wenn man vom Jahrhundert spricht, soll man auch von den Gegenpolen eines Jahrhunderts sprechen. Die Sekunde nannte ich schon. Ich möchte sie noch einmal beleuchten. Mein Vater war Theaterarzt. Ich habe zugesehen, wie er während einer Probe der Tosca dem Sänger des Cavaradossi im dritten Akt beibringt, wie man »zum Schein tot umfällt«. Cavaradossi steht vor dem Exekutionspeleton. Ihm ist (fälschlich) versprochen, dass er nicht wirklich erschossen wird. Mein Vater erklärt dem Sänger, wie er sich in einer Pirouette drehen muss, damit er auf den Hintern fällt und sich nicht das Bein bricht. Als mein Vater aber dann 84 Jahre alt war, und die Stäbchen in seinen Augen waren schon nicht mehr sehr lichtempfindlich, da will er eilig in der Dämmerung nach Hause und stolpert über einen Stein. Den Ratschlag, den er dem Sänger gab, beachtet er nicht. Er fällt auf den Oberschenkelhals. Sehen Sie, das bewegt mich und das geschieht in einer Sekunde. Und jetzt gehe ich auf den absoluten Gegenpol. Das dient der Beleuchtung der Begriffe »Zeit« und »Jahrhundert«. Und zwar von ihrem Gegenpol her. Wir Filmemacher arbeiten ja mit Licht und Perspektiven. Als Gegenpol zu unserer menschlich-gewohnten Zeit nehme ich die zwei großen Galaxien: den Andromeda-Nebel und die Milchstraße. Sie rasen in hoher Geschwindigkeit aufeinander zu. In der kosmisch kurzen Zeit von nur 4 Milliarden Jahren werden sie erst nahe aneinander vorbeijagen, einander überholen und dann, durch ihre Schwerkraft zueinander gezogen, einander durchmischen. Dabei wird, weil die Sterne so viel Leerraum um sich haben, so viel Zeit übrigens auch, kein Stern den anderen verletzen. Und dann bilden sie etwas Neues: die »Vereinigten Milchstraßen«. Und dabei wird sich der Himmel unglaublich verändert haben. Und ich führe Ihnen das vor, nur damit wir an diesem Vormittag ein Gefühl für Zeit überhaupt gewinnen. Und von langem Rhythmus ist die Zeit der Künste, auch der Musik, so wie sie Johannes Kepler, der Astronom, als Noten, in den Harmonices Mundi aufgezeichnet hat: der Jupiter, mit seinen tiefen Elefantentönen, der Saturn singt ganz anders, der Merkur klingt spitz wie ein hoher Tenor. VIDEO: Sieben Milliarden Jahre wie ein Tag. Länge 02:10 Min. Zitat aus Elektra: »Von den Sternen stürzt alle Zeit herab«

»Reden über das Jahrhundert…« Ich komme zum Schluss.

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In den 100 Jahren von 1920 bis 2020 hat uns der grausame Gott Chronos, der seine Kinder frisst, mehrfach seine Gewalt gezeigt. Zu den Fragen der Kunst und ihrer Innovation tritt deshalb etwas Elementares hinzu: Die Kenntnis der Notausgänge. Kenntnis der Notausgänge gehört zum Welttheater. Eines Tages sitzt Marcel Proust in einem Boulevard-Theater und langweilt sich grässlich. Sein Blick fällt auf die damaligen Zeichen für Notausgänge, das waren blaue Leuchtkörper. Er stellt sich vor: Wenn jetzt das Theater brennt, werde ich wissen, wohin ich mich rette. Der Abend war für Marcel Proust gerettet. Glücklich der Moment, in dem kein Feuer droht, aber die Einbildungskraft es sich vorstellt. Hohe Dramatik und außerdem noch Kenntnis, wie einer sich im Ernstfall retten könnte. In der Elektra ist das allgemeine Morden auf die Bühne gebannt und dies hat Trost und nicht nur Erschütterung zur Folge. Hans Blumenberg hat eine zentrale Szene der Moderne beschrieben. In seinem Bild stehen Museumsbesucher vor dem Gemälde Das Floß der Medusa. Hans Blumenberg, der Philosoph, sagt, der Irrtum dieser Besucher liegt darin, dass sie glauben, dass sie vor dem Bild stünden. Aber wir Menschen sind längst in die Katastrophe, die dort abgebildet ist, eingeschifft. Ich möchte das darauf beziehen, was parallel ist zu dem ersten Beispiel, das ich Ihnen gab, das war die Reise von 1912, von Tod in Venedig. Im selben Jahr, 1912, geht die Titanic unter. »Wir sind eingeschifft«. Der zweite Geiger im Salon-Orchester in der Bar des Dampfers befindet sich bereits seit einigen Stunden mit allen, die die Rettungsboote nicht erreichen konnten, in einiger Ozeantiefe. Es gibt nämlich beim Untergang großer zivilisatorischer Dampfschiffe noch lange Zeit eine Sauerstoffblase, in der Menschen nach dem Schiffsuntergang für einige Stunden weiterleben. In dieser Situation, also schon näher zum Meeresgrund, geht dieser zweite Geiger von den Potpourris und Tangos, die die Kapelle bis dahin gespielt hatte, über auf Kinderlieder. Auf eine Musik, die ewig ist, wie sie Franz Schubert komponiert hat und die das Herz bewegt. Ein Ingenieur, der bis dahin stoisch vor seinem Whiskyglas in dieser Bar gesessen und mit dem Leben schon abgeschlossen hatte, blickte auf das erstklassige finnische Holz, das die Wandtäfelung des Salons bildete. Die Musik hatte ihn bewegt und erfinderisch gemacht. Und so sagt er: »Dieses ornamental in dieser Dampferbar verbaute Material, das werden wir nutzen.« Er lässt es herausreißen, er lässt ein Floss aus diesem Holz bauen, und so kommen die Insassen der Bar irgendwie doch nach oben, schwimmen auf dem Eiswasser. Das ist eine Metapher, das ist ein Wunschkonzert. Das ist nichts Wirkliches. Und wir sitzen hier nicht in einem Dampfer. Aber im übertragenen Sinn befinden wir uns alle, eingeschifft auf unserem Blauen Planeten, in einem sinkfähigen, zerstörbaren Objekt. Und deswegen ist das Gesetz der Moderne die Innovation, die Verknüpfung von Hochkunst und Robustheit. Das ist das, was unser Doppeljahrhundert braucht und was wir brauchen für die nächsten 40 oder

Reden über das Jahrhundert

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80 Jahre. So etwas in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu lenken, dazu sind Salzburger Festspiele da. VIDEO: Jedes Mal nach dem Untergang taucht ein Dampfer auf und macht alles wieder gut. Länge 40 sek Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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Die Götterdämmerung in Wien (für Heiner Müller) »Die Art, wie das 20. Jahrhundert sich Musik aneignet.« Gerard Schlesinger, Cahiers du Cinéma »Was nicht gebrochen wird, kann nicht gerettet werden.« H. Müller, Grausame Schönheit einer Opernaufzeichnung

Im März 1945 war die Metropole Wien von sowjetischen Stoßtruppen umstellt. Nur nach Norden und Nordwesten bestand noch Landverbindung zum Reich. In diesem Moment befahl der Gauleiter und Reichsverteidigungs-Kommissar Baldur von Schirach, Herrscher der Stadt, eine letzte Festaufführung der »Götterdämmerung«. In aussichtsloser Lage der Stadt und des Reiches sollte die von Richard Wagner komponierte Verzweiflung der Nibelungen (aber auch die in den Schlußakkorden enthaltene Hoffnung auf Wiederkehr) über alle Sender des Südostens übertragen werden, sofern diese in deutscher Hand waren. »Wenn schon das Reich untergeht, muß uns die Musik doch bleiben.« Die seit Oktober stillgelegte und allseits verriegelte Oper wurde wieder aufgeschlossen. Orchestermitglieder wurden von den Fronten in die Gauhauptstadt geschafft. Am Vorabend der Hauptprobe I (mit Orchester und Kostümen, aber ohne Brand Walhalls im Dritten Akt, die Generalprobe sollte dann vom Rundfunk aufgenommen und übertragen werden, auf eine Premiere wurde verzichtet) flogen USGeschwader von Italien nach Wien und bombardierten das Zentrum. DIE OPER BRANNTE AUS. Nunmehr übte das Orchester in Gruppen, aufgeteilt auf verschiedene Luftschutzkeller der Stadt. Die linke Orchesterseite arbeitete in fünf Gruppen in Kellern der Ringstraße; die rechte Orchesterseite einschließlich Pauken in vier Kellern der Kärntner Straße sowie in Nebenstraßen. Die Sänger waren auf die Orchestergruppen verteilt. Sie sollten versuchen, »wie Instrumente« zu singen. Zuzuordnen waren sie einander nicht, da sie ja in verschiedenen Kellern sangen. Der musikalische Leiter saß, zunächst anschlußlos, im Weinkeller einer Gastwirtschaft, war jedoch bald mit sämtlichen Kellern durch FELDTELEFONE verbunden. Artillerieeinschläge im Umfeld. Während der Proben fanden zwei Tagesangriffe der US-Luftstreitkräfte statt. Eigene schwere Artillerie war in der Nähe eingegraben und schoß sich auf sowjetische Fernkampfgeschütze ein. Infante-

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risten und Eisenbahner waren als Läufer den probenden Musikteilen beigestellt. Die so überbrachten Nachrichten wurden ergänzt durch Feldtelefone, die nicht nur den Dirigenten mit den Orchesterteilen, sondern auch diese untereinander verknüpften. Das über Standleitung hergestellte Klangbild der Übungsnachbarn wurde über Lautsprecher jeweils verstärkt. Im groben Umriß konnten so die Musiker die Klänge der von ihnen getrennt spielenden Klangkörper registrieren, während sie selbst die Teile der Partitur probten, für die sie zuständig waren. Später ging der musikalische Leiter dazu über, von Keller zu Keller zu eilen und Instruktionen vor Ort zu geben. ES SIND VÖLLIG ANDERE RÜCKSICHTEN ZU NEHMEN, SAGTE ER, ALS BEI EINER HAUPTPROBE UNTER ANWESENDEN. Es ergab sich auch ein anderes Klangbild. Die Geräusche des Endkampfes um Wien waren nicht auszufiltern, die Orchesterfragmente ergaben keinen einheitlichen Klang. Da die Wiener Brücken bedroht waren, gab der befehlsführende Generaloberst Rendulic an den Stab des Reichsverteidigungskommissars eine Warnung durch. Der Abtransport der Sänger und Orchestermitglieder in den Westen Österreichs müsse vorgezogen werden, wenn man sie retten wolle. Man könne deshalb nicht auf die Hauptprobe I warten, sondern müsse improvisieren. Daraufhin befahl der Reichsverteidigungskommissar, ein noch junger Mann, daß die Rundfunkaufnahmen des bis dahin erarbeiteten Klangbildes sofort, d. h. noch am gleichen Tag, durchzuführen seien. Die funktechnische Aufnahme der »Fragmente« der »Götterdämmerung« begann deshalb um 11.30 Uhr mit der ersten Szene des Dritten Aufzugs (Siegfried und die Rheintöchter). Es wurde bis zum Schluß der Dritten Szene des Dritten Aufzugs durchgespielt. Anschließend sollten die Aufzüge 1 und 2 des Musikdramas nachgezogen werden. Beabsichtigt war die Zusammenstückelung im Rundfunkhaus oder aber, nachdem die Originalbänder aus Wien herausgeflogen wären, die Zusammenfügung und geschlossene Übertragung des Werkes vom Reichssender Salzburg aus. Es waren aber DURCH ZUFALL noch dreitausend Meter 35-mm-AgfafilmFarbmaterial in der Stadt Wien gelagert. Oberstleutnant i.G. Gerd Jänicke, der die ihm unterstehenden vier Propaganda-Kompanien in den belagerten Raum Wien zusammengezogen hatte, ging von der festen Absicht aus, das Unglück dieser Stadt zu filmen. Jetzt konkretisierte er seinen Entschluß. Er befahl, die Orchesterleistung in Bild und Ton festzuhalten, und zwar ohne Rücksicht auf das Kamerageräusch, da ein Blimp1 nicht zur Verfügung stand. Jänicke schien die Aufnahme des letzten Aufzugs der »Götterdämmerung« ein krönender Abschluß einer seit sieben Jahren andauernden hingebungsvollen Chronisten- und Propagandatätigkeit. Es gab nichts zu beschönigen, ein Durchhaltevermögen war zu

1 Dämpfendes Schutzgehäuse, das den lauten Ton des Kameramotors abdichtet.

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dokumentieren, das das festhielte, was mit dem Deutschen Reich nicht zugrunde gehen würde: die deutsche Musik. Mit fünf Kameras und jeweils verbundener Tonapparatur wurden der Dritte Akt und Teile des Ersten Akts aufgezeichnet. Als Lampen wurden Flakscheinwerfer aufgestellt: sie strahlten an die Kellerwand und gaben ein grelles, indirektes Licht. Für den vollständigen Eindruck waren robuste Improvisationen erforderlich: so wurden die von den Aufzeichnungsgruppen nicht erfaßten Sänger und Orchesterteile anderer Keller über Funksprechgerät in die Aufführung übertragen und auf 17,5-Perfo-Bändern gespeichert; sie wurden später in die Mischung eingespielt. Nachdem man sich beim Dritten Aufzug/Erste Szene noch um einen Gesamtklang bemüht hatte, ging man bei den Szenen 2 und 3 des Dritten Aufzugs dazu über, die Fragmente den Zuhörern hintereinander vorzustellen. Man hörte und sah diese Szenen in der Aufzeichnung neunmal hintereinander: Jedesmal ging es um die lärmende Teilgruppe der Partitur, die in dem betreffenden Keller geübt wurde. Die zivile Leitung des Rundfunks Salzburg legte die institutionelle Feigheit an den Tag, wie sie für Rundfunkanstalten typisch ist. Sie hielt die aus mehreren ungleichen Teilen zusammengebaute Tonaufnahme der »Götterdämmerung«, deren Eingang sie quittiert hatte, aus »qualitativen Gründen« nicht für sendefähig. Sie war durch Telefonate mit dem Stab des Reichsverteidigungskommissars in ihrem Urteil nicht umzustimmen. Als kommt es in dieser Lage des Reiches auf irgendeine friedensmäßige Aufzeichnungsqualität an!, sagte der für die Operation zuständige Offizier im Stab von Schirachs, Hauptmann von Tuscheck. Doch die zivile Sendeleitung in Salzburg blieb unerschütterlich. Sie sendete eine Konserve des Dritten Aufzugs der »Götterdämmerung« und anschließend, bis zur Übergabe von Salzburg, nur noch Märsche. Die Propagandatrupps des Oberstleutnant Jänicke dagegen sicherten die unentwickelten Negative und Tonmaterialien in einer Garage der Wiener Hofburg. Beabsichtigt war die Verfrachtung nach Oslo oder Narvik mit einer der letzten Maschinen, die aus Wien abflogen. Im Norden gab es ein Kopierwerk. Die Aufzeichnung sollte dem Feind entzogen werden und eine letzte Botschaft des kämpfenden Reichs darstellen. Im Gegensatz zu 1918 wurden in diesem Krieg die Körper, die Panzer, die Städte zersprengt, der Geist dagegen blieb unverletzt. Theoretisch, sagte Jänicke, ist der Endsieg auch bei Zerschlagung aller Wehrmittel, allein durch den Willen und geistige Waffen möglich. Vor allem gilt das für die Mittel der Musik. Die Verfrachtung der »Götterdämmerungs«-Aufzeichnung gelang nicht mehr, weil keine Kraftfahrzeuge für den Transport zum Flughafen zur Verfügung standen. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Aus ihren Kellern stiegen die Musiker ins Freie. Infanterie-Unteroffiziere führten sie durch die unter unge-

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zieltem Feuer liegende Innenstadt. Sie erreichten die Busse und wurden (als letzte aus dem sich schließenden Kessel) aus Wien herausgefahren. Der Morgen grüßte sie in ländlicher Umgebung. Sie wurden auf Bauernhöfe in der Nähe von Linz verteilt und sahen sich wenige Tage später von amerikanischen Truppen arrestiert. Die Filmbüchsen in der Garage, noch ordnungsgemäß beschriftet, wurden von sowjetischen Offizieren sichergestellt und vergessen. Ein georgischer Oberst, der Französisch sprach, übergab den Stapel einem tartarischen Oberstleutnant, der die deutsche Schrift lesen konnte (was er freilich nur zuverlässigen Freunden verriet, nicht dem georgischen Kollegen). Der Oberstleutnant ließ das unbelichtete Filmmaterial in seine Garnisonsstadt Sotschi bringen, wo es jahrzehntelang im Keller des städtischen Museums aufbewahrt wurde. 1991, nach dem Zusammenbruch des Imperiums, entdeckte ein junger Komponist, der sich als Beauftragter Luigi Nonos für Rußland bezeichnete, diesen Bestand. Er folgte einem Hinweis in einem Musikfachblatt der Krim, das im Internet als Einzelseite angewählt werden kann. Ohne jemals etwas von dem Material selber gesehen zu haben oder auch nur den Ort zu kennen, an dem es lagerte, organisierte der junge Mann den Transport zu einem Filmstudio in Ungarn, wo er das Material entwickeln ließ. Die Positive wurden nach Venedig gebracht. Absicht war, die Tonspur im 10. Jahr nach Luigi Nonos Tod im Dom von Venedig vorzuführen. Eine Cutter-Assistentin J. L. Godards, die von diesem Transfer gehört hatte, beharrte jedoch darauf, die Materialien in Paris in den Labors der CinétypeStudios anlegen zu dürfen, und führte einer Gruppe von Mitarbeitern der Cahiers du Cinéma und der Cinémathèque die dreitausend Meter Film in Ton und Bild vor.2 Die Wirkung des Materials war (nach fünfzig Jahren Lagerung) »verzaubernd« (»enchantant«), schreibt Gerard Schlesinger in den Cahiers du Cinéma. Das 35-mm-Filmmaterial ist durch Selbstbelichtung zunächst in Umrissen und in Fehlfarbe entwickelt und durch die anschließende Entwicklung der unbelichteten Negative im Kopierwerk nochmals entwickelt worden, so daß sich über die Umrisse und Fehlfarben Schatten und Echos gelegt haben. Teile des Materials sind verschrammt und erhalten durch die Beschädigung eine den Thesen Walter Benjamins entgegengesetzten einmaligen Charakter. Die Tonspur zeige, schreibt Schlesinger, eine »grausame Schönheit« oder »so etwas wie Cha2 Anlegen = Bild und Ton werden am Schneidetisch synchron zusammengefügt. Die 17,5-PerfoBändermit den eigenartigen Tonfragmenten hatte sie zu einer einheitlichen Version zusammengemischt. Andernfalls wären die Bildteile und die viel längeren Tonteile nicht zu synchronisieren gewesen, sagte sie. Sie hatte sich nach den Bezeichnungen gerichtet, die auf den Tonbüchsen notiert waren. Sie selbst sprach kein Wort Deutsch, hatte aber einen Bekannten im Goethe-Institut Paris, mit dem sie gelegentlich schlief.

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rakterstärke«. Man sollte Richard Wagner immer in dieser Weise »fragmentieren«. Eine authentische Lärmspur zeichnet das technische Kamerageräusch und die Artillerie- und Bombeneinschläge auf. Dieser Originalton, das »In-MittenSein«, rhythmisiere die Musik Wagners und mache sie von einer Phrase des 19. Jahrhunderts zum EIGENTUM des 20. Jahrhunderts. In einigen Bildern sind die Kamera und das Stativ sowie die Tonapparaturen im Bild zu erkennen. Die »Einsprüche der Souffleuse haben die helle Klangfarbe des Ufa-Tonfilms. Die Stimmhöhen in den Tonfilmen jener Zeit scheinen also nicht nur auf Sprecherziehung der Darsteller, sondern auf Regeln der Tonaufnahme zu beruhen.« Ein Fehler wäre es, meint Schlesinger, die Tonfragmente zu mischen. Es entsteht dadurch – anders als bei der Originalaufzeichnung – ein SCHLECHTER GESAMTKLANG. Die Mischung der Tonteile dokumentierte nur die damalige Absicht der Aufzeichnenden, nicht dagegen das, was sie getan haben: Es gehe, schreibt Schlesinger, um einen genialen Fund, nämlich die SCHÖNHEIT DER FRAGMENTE. Aufgrund der Intervention der Cahiers du Cinéma werden die dreitausend Meter Film und die überzähligen Tonfragmente deshalb in insgesamt 102 getrennten Stücken vorgeführt. Jedem Bildteil ist jeweils nur eine Tonspur zugeordnet. Wo Bilder fehlen, ist im Kino Konzert ohne Bild zu hören. Der Beauftragte Nonos nahm das Werk auf Anregung der Cahiers du Cinéma in dessen Werkverzeichnis auf. Nicht, was ein individueller Kopf sich an Partituren ausdenkt, ist ein gelungenes Werk, sondern das, was er an Schätzen der Musik findet und bewahrt. Ja, es ist eine Kunst, einen solchen Schatz zu beschaffen. Ich hätte mir eine Telefonkastenstimme, sagt der Beauftragte Nonos, nicht ausdenken können, noch dazu eine, die eine solche Ausdruckskraft besitzt. Es handelt sich um ein Bild-Ton-Werk des 20. Jahrhunderts, das einzigartig ist. »Eigentum ist das Glück, im Menschenleben einmal einen solchen Schatz zu finden.«

Bildbeschreibung Sie saßen im Hintergrund des Vorführraums im Kopierwerk der Firma Cinétyp Paris. Sie sollten gemeinschaftlich die angelegten Muster (Ton und Bild kombiniert) protokollieren. Es ging um Qualitätskontrolle. – Man sieht überstrahlende Glühlampen an der Kellerdecke und ebenfalls überstrahlende Taschenlampen auf den Notenpulten. – Außerdem leuchten die Wände. – Ja. Die Taschenlampen werden von Zeit zu Zeit ausgewechselt.

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– Wenn die Batterie gewechselt werden muß. Es ist zu sehen, daß einige der Lampen bereits schwächer leuchten. – Die Gesichter liegen im Schatten. – Ja, aber die heftige Bewegung der Musiker bewegt die Schatten, so daß etwas »Geistiges« den Raum bewegt hält, die Ahnung von »fleißigen Gestalten«. – Staubfahnen, die an den Lampen vorbei niederwehen. Das sind Treffer von Artilleriegeschossen. – Oder Bombentreffer. – Ja. – Die Instrumente müssen von Staub befreit werden. Häufiger als bei Proben in der Oper. Sehen Sie hier: Die Blechbläser-Gruppe, wie sie pausiert und die Instrumente putzt. Es haben sich Staub und Spucke vermischt. – Jetzt muß diese Gruppe auf Takt 486 springen? – Genau. So ist sie jetzt wieder synchron mit den Streichern und der einzelnen Sängerin, die wir, lautsprecherverstärkt, über das Sprechfunkgerät aus dem Nachbarkeller hören. – Würden Sie sagen, daß das »krächzend« klingt? – Wie ein Wehrmachts-Nachrichten-Gerät eben klingt. Auch die Artillerie, hören Sie, klingt in der Übertragung blechern, d. h., tonqualitativ ist es ein Fehler. – Hier geraten jetzt drei von sieben Orchesterteilen auseinander. – Ganz ähnlich wie in den Kirchen des Hochmittelalters. Die Töne wandern im Raum. Es gibt keinen »Gleichklang«. – Nun kann man beim besten Willen nicht sagen, daß die Funksprechgeräte, und hier sehen Sie nur eine Telefonverbindungmit direkt durch Draht angeschlossenen Lautsprechern, einen qualifizierten Raum erzeugen. Es handelt sich eher um einen Anti-Dom. – Aber die Vorstellung des Raums funktioniert um so besser. – Wieso besser? – Denken Sie an die reale Situation. In jedem Moment kann einer der anderen Musikerkeller (oder auch der eigene) getroffen sein und einstürzen. Dann hören Sie nur noch das Geräusch der Katastrophe. Die tatsächliche Lage bestimmt die Vorstellung. – Es ist nicht der Klang eines Raums, sonders eines Käfigs? – Natürlich: das Gruppengeräusch vieler Räume. Eine Art Lebensraum, und endlich einmal ist die Musik in den wirklichen Verhältnissen angekommen. Das gelingt ja nicht dadurch, daß ein Symphonieorchester sich in einer Fabrik aufstellt und so tut, als sei das ein Ort für Symphoniekonzerte. Die Fabrik wird unwirklich gemacht, und das ist keine Methode, die Musik wirklich zu machen. Hier aber, in der Notlage des Wiener Kessels, entsteht ein neuartiger Klangraum von realer Musik: die Wiedererstehung der Musik aus dem Geiste der Zeitge-

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schichte. Die Räume sind die Nachricht. Ich stelle mir in dem Geratter von Musiktönen den Sternenhimmel vor. Etwas Reines, Klares. – Und Sie meinen, das schwebte Richard Wagner vor? – Ich gehe davon aus. – Er gehört aber nicht zum 20. Jahrhundert. – Ein zeitloses Genie ist gewohnt, sich alles musikalisch Wertvolle anzueignen. Hören Sie hier? Das ist die Blechgruppe 4 mit einer Pauke und drei Celli von der rechten Orchesterseite. Das klingt unmittelbar wie Giacomo Meyerbeer, »Die Jüdin«, Fünfter Akt, Erste Szene. Wagner hat es daher, und er kommt hier wieder in den rechten Raum: zu Meyerbeer zurück. Musik läßt sich nicht enteignen. – Es klingt »interessant«. – »Hinreißend«. Der richtige Ausdruck. – Hier ist es dunkel. – Ja, eine Serie von Naheinschlägen hat die elektrischen Kabel zerstört. Ein Teil der Taschenlampen liegt am Boden. Sehen Sie, Infanteristen rennen die Kellertreppe nach oben, die elektrischen Anschlüsse zu reparieren. Etwas sieht man ja mit Hilfe der Taschenlampen, die jetzt wieder an den Pulten befestigt werden. Und da Kerzenlicht, ein Leuchter mit zwölf Kerzen als allgemeines Licht. Nutzlos für das Lesen der Noten am Einzelpult, aber tröstend für den Gesamtraum. Da kommt der Dirigent herein. Er gibt dem ersten Geiger und den zwei Sängern flüsternd Anweisungen. Er hat einen Korb bei sich mit zwölf neuen Taschenlampen und Proviant. – Die übrigen Keller wissen nichts vom momentanen Ausfall dieser Musikergruppe? – Doch. Es wird ihnen zugefunkt. Dort links sehen Sie einen Wehrmachtsfunker. Es sind auch Souffleusen auf die Keller verteilt. Diese hier hat einen ungarischen Akzent und ist von der Operette ausgeborgt. – Hätte man statt der »Götterdämmerung« nicht besser »Rheingold« spielen sollen? Es wäre ein hoffnungsfroher Anfang gewesen. Von der propagandistischen Wirkung her besser als ein Untergangsdrama. – Die in Wien neigten nicht mehr zur Übertreibung und konnten auch nicht mehr lügen. Die das organisierten, waren verzweifelt und voller Trauer. – Ein unbewußtes Kunstwerk mit Wahrheitsanspruch? – Insofern, als alle Absichten fehlschlugen und etwas anderes entstand, was kein einzelner wollte. Nie war daran gedacht, daß Luftschutzkeller Kunstwerkstätten werden. – Kaum zu glauben. – Eine Fundsache. Die Hauptleistung bestand darin, diesen Fund in den Kellern des Museums in Sotschi zu machen. – Ob es noch viele solche Fundsachen auf der Welt gibt?

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– Viele. Sie müssen davon ausgehen, daß seit sechstausend Jahren immer irgendwo etwas versteckt liegt oder vergessen wurde.

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Zwischenmusik für Große Gesangsmaschinen

Ein Projekt von Heiner Müller und Luigi Nono Im 19. Jahrhundert wurde noch stark improvisiert. Der klassische Gesangstil der Kastratenstimmen (mit liegendem, ruhigem Atem) war ungeduldig aufgegeben worden. Damit war der Vorrang der Stimme dahin, der Stimmenträger wurde Teil des Orchesters, ein »Symphoniker«. Später wurde, zur Wiederherstellung des Einzigartigen, des aus der Symphonie Hinausweisenden, nach Glanzstimmen und Stimmstärke gesucht. Richard Wagner adelte, in Kontrast dazu, den »notenkundigen Laien«, den naiven Stimmgewaltigen. Im 20. Jahrhundert aber entwickelten sich vor allem in den Ausbildungsstätten der beiden Supermächte die Großen Gesangsmaschinen. Eine mit letztem Einsatz gesungene Stimme konnte Trommelfelle zerstören, ja, das Hirn durch Einsatz der Resonanz auf kürzestem Abstand unwiederbringlich zerstören. Die entschlossene Stimme tötet. Müller/Nono schrieben, als »Großes Tableau« vor dem 5. Akt ihres »König Lear«, eine »Zwischenmusik für Große Gesangsmaschinen«. Sie war im genauen Sinn keine Musik mehr, sondern die Parade der technischen Laute und Geräusche, die das gewalttätige Singen begleitet, wenn es sich zu äußerster Anstrengung konzentriert. Ein hoher Sopran, der das Paukengetümmel in Verdis »Requiem« übertönen will, sagte Heiner Müller, schifft naturgemäß in die Windel, weil kein Unterleib die Region vom hohen As aufwärts bei halbgefüllter Blase aushält. Dies gibt ein schmatzendes, fließendes Geräusch, das mit einem unterhalb des Gürtels befestigten Mikrophon aufgenommen wird. Die Luftholer für den Bariton in der Stretten-Folge in »Rigoletto«, 2.Akt, kommen »reißend«. Die Sängerin der Isolde, Hildegard Behrens, kämpfte während des Liebestodes mit einem Hustenreiz. In seinem Freiburger Studio isolierte Nono die in den Pausen durch den unterdrückten Hustenanfall aufwärts gejagte Atmung, die durch den nächsten langgezogenen Ton, d. h. durch schiere Disziplin besiegt wird. So sammelt Nono eine »Bibliothek der sanglichen Leistung«. Dieses Rohmaterial

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hat er in Form einer Kassette an Heiner Müller übergeben. Ziel ist es, eine Bewegung dieser Töne im Raum zu organisieren und den so geschaffenen Raumton exzessiver Leistung in den 66 Chören des Doms von Venedig aufzuführen. In seinen Tischgesprächen weist A. Hitler daraufhin, wie falsch es sei, die Stimmausbildung oder den Autobahnbau von der sogenannten Bedarfsfrage abhängig zu machen. Man habe ihm mitgeteilt, sagte er, es seien genug Wagner-Tenöre vorhanden. Doch dann habe sich gezeigt, wie groß der Engpaß überhaupt sei. Man komme jetzt, 1942, im Krieg gar nicht nach mit der Ausbildung gewaltiger Stimmen. Und dies betreffe nur Wagner, man müsse aber auch an die Musik denken, die man nach dem Endsieg benötige. In welcher Stimmstärke werde man ausgebildet sein müssen, um die gewaltigen Denkmäler für die gefallenen Soldaten im Osten mit Tönen auszufüllen. Ob die menschliche Stimme auch als ultimative Waffe in Betracht komme, über Verstärker die Willenskraft des Gegners zertrümmernd, sozusagen die Wirkung der Luftwaffe und der Artillerie aus dem Geiste der Musik verstärkend, das könne er im Augenblick nicht beurteilen. Er habe aber den Eindruck, daß die menschliche Entwicklung, die uns jetzt von der Tierwelt trenne, zugleich aber auch von Sagen und Künsten, die früher den Götterhimmel erfüllten, Gesängen, Sturmliedern usw., noch keineswegs abgeschlossen sei. Gerade die Technik multipliziere die menschliche Willenskraft ins Unglaubliche. Er rechne es den großen Künstlern hoch an, daß sie mit der Stärke ihrer Stimme einen Menschen in Stücke schlagen, ein Hirn erschüttern oder zersetzen könnten, dies aber (selbst im Zorn, selbst aus dem leidenschaftlichen Spiel heraus, das sie auf der Bühne vollbrächten) noch nie getan hätten. Insofern, sagte der Führer, sei die Musik grundsätzlich sanft.

Den von Müller hierzu entworfenen Text, der sich nicht unmittelbar auf die Töne bzw. das Projekt bezieht, konnte man während des Konzerts mit Hilfe einer Taschenlampe lesen. Wie in einer Ausstellung oder einem Zoo, in dem Invaliden (alle klassischen Verwundungen beider Weltkriege) zu sehen wären, sollten die Ruinen extremer Stimmbewältigung in Venedig aufgeführt und in ein Filmdokument gebannt werden. Der Film – die Texte von Müller werden über vier Lautsprecher hinzugegeben – bildet das »Große Tableau«, das den 5. Akt des »Lear« eröffnet. Der verzweifelte König herrscht nicht einmal mehr über ein Restreich. Sein Reich liegt in Trümmern. Von Harry Kupfer sagte man, daß er seine Tristan-Bühnenbilder so gestaltete, daß die Wassergläser für die Sänger angemessen versteckt werden konnten. Nono ließ die pfeifende Atmung und das Geräusch des hastig in die Kehle geschütteten Wassers von seinem Mikrophon aufnehmen. Beide, Müller und Nono, waren nicht träge oder faul, wenn sie sich unnötiger Eingriffe enthielten und die gesammelten Geräuschfolgen so beließen, wie sie waren. Die Ausdruckskraft bestand in der AUTHENTIZITÄT.

Christian Schulte

»Die Räume sind die Nachricht« – Oper als Material und Metapher1

»Die Macht des Schicksals: Name einer Oper, der auf fast alle Opern paßt. Aber es bleibt zweifelhaft, ob es Schicksal wirklich gibt. Vielleicht gab es nur hunderttausend Gründe, die hinterher Schicksal heißen […]. Ich möchte Geschichten erzählen, wieso die Gefühle nicht ohnmächtig sind.«2

»In jeder Oper, die von Erlösung handelt, wird im fünften Akt eine Frau geopfert.«3 Prägnante Sätze wie dieser aus dem Film Die Macht der Gefühle (1983) stehen im Zentrum eines Projekts, das Alexander Kluge seit den frühen achtziger Jahren – in den Medien Literatur, Film und Fernsehen – beharrlich verfolgt. Dieses Projekt trägt den Titel: »Der imaginäre Opernführer«.4 Imaginär ist dieser Opernführer deshalb, weil er sich eben nicht in einer Führung durch das Repertoire des Musiktheaters (und den Bestand der vielen vergessenen Werke) erschöpft, sondern weil er sich mit dem traurigen Befund des Eingangszitats keineswegs abzufinden vermag und vielmehr bemüht ist, auf der Ebene des Ästhetischen Auswege zu markieren, Wege, die aus der tragischen Finalität der Oper hinausführen. Das Imaginäre bezeichnet dabei jenen offenen Horizont, vor dem die Aussetzung des Dramas möglich erscheint. Der Macht des Schicksals setzt Kluge die Kraft der Gefühle, der Phantasie entgegen. Der quasi-teleologische Verlauf, dem die bürgerliche Gesellschaft ihre hochgezüchteten Leidenschaften und Exaltationen anempfahl, ist einer Logik eiserner Konsequenzen verschrieben, einer Logik des Opfers. Ihr die Spitze zu nehmen und die in ihr gebundenen Emotionen neuer Erfahrung zuzuführen und in der Lebenswelt zu 1 Der vorliegende Text ist die Fortschreibung meines Kurzessay »Opern-Stenogramme«, in: Die Bauweise von Paradiesen – für Alexander Kluge, hg. v. Klemens Gruber/Christian Schulte, Wien/Köln/Weimar 2007. 2 Alexander Kluge, Die Macht der Gefühle, Frankfurt/M. 1984, S. 5. 3 Ebd., S. 114. 4 Alexander Kluge, »Xaver Holtzmanns Projekt: ›Imaginärer Opernführer‹«, in: ders., Chronik der Gefühle, Bd. I: Basisgeschichten, Frankfurt/M. 2000, S. 840f. Siehe auch: Alexander Kluge, Facts & Fakes. Fernseh-Nachschriften, Bd. 2/3: »Herzblut trifft Kunstblut. Erster imaginärer Opernführer«, hg. v. Christian Schulte/Reinald Gußmann, Berlin 2001.

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verankern, diesem Ziel gelten die Interventionen des Autors und Regisseurs. Gegenentwürfe und Abrüstungsversuche zugleich, sind sie vor allem eines: Orientierungen im Gelände des Tragischen. In seinem literarischen Opus magnum, Chronik der Gefühle, lässt Kluge sein Alter Ego, Xaver Holtzmann, Verfasser eben eines »Imaginären Opernführers«, seine Vorschläge zur »Abrüstung des tragischen Geschehens«5 vortragen. Holtzmann interessiert sich weniger für den Bestand der vorhandenen Musiktheater-Werke, sondern vor allem für die opernfähigen Stoffe, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, die aber nicht vertont wurden. Es geht um Möglichkeits-Opern, die »zur Wiedergabe des Erfahrungsgehalts unserer Zeit«6 geeignet wären. Die Holtzmann-Geschichte kann als Schlüsseltext gelesen werden, denn indirekt fordert sie die Lesenden auf, Kluges Prosa, Filme und Fernsehmagazine einmal probehalber als Entwürfe zu einer anderen, entdramatisierten Oper zu ›lesen‹ – einer Oper, der jede Art eines Finalduktus, der Zuspitzung auf ein Ende hin fremd ist, weil sie eben nicht auf lineare Verläufe setzt, die – je nach Strenge ihrer Durchführung – den Schein unausweichlicher Entwicklungen evozieren und damit alternative Möglichkeiten ausgrenzen. Diese Anti-Oper würde vielmehr die Bauelemente, aus denen sich das Drama zusammensetzt, desorganisieren und in einer losen Anordnung, die an keiner Stelle als zwingend erscheint, als autonome Fragmente exponieren. In Kluges literarischem Entwurf fordert Xaver Holtzmann siebenundachtzig Opern an, um allein den Stoff der Tosca in eine zeitgemäße Form zu bringen – diese habe sich daran zu orientieren, wie viele Polizeichefs es in der Welt gebe. Dass Kluge diesen Gedanken ernst meint, wird wenige Seiten später deutlich, wenn unter dem Titel »Scarpia als Männerkörper«7 der Tosca-Stoff in acht Variationen zerlegt und hintereinander durchgespielt wird. Die Oper, das »Kraftwerk der Gefühle«,8 zu fragmentieren und an die zeitgeschichtliche Erfahrungswelt zurück zu binden, das heißt für Kluge auch, die Leidenschaft vom Kopf auf die Füße stellen. Dieses Projekt richtet sich nicht allein gegen das Musiktheater als Kunstform, sondern ebenso gegen die Institution des Opernhauses, das sich hermetisch nach außen hin abschottet, während es innen die kultische Aura des Gesamtkunstwerks zelebriert. Nicht ohne Grund ist der Brand des Opernhauses ein wiederkehrendes Motiv in seinen Arbeiten. Der Brand verwandelt den Ort des Dramas in eine Ruine, die als neue Gegebenheit, als neue Bedingung eine andere Organisation des musikalischen Materials nahelegt. Der Brand des Opernhauses avanciert bei Kluge zu einer Chiffre, durch die hindurch die Verwüstungen des 20. Jahrhun5 6 7 8

Ebd., S, 841. Ebd. Ebd., S. 845–851. Kluge, Die Macht der Gefühle I, S. 68.

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derts lesbar werden. Um ein genuiner Ausdruck dieser historischen Bedingtheit sein zu können, hätte eine zeitgenössische Oper (bzw. zeitgenössische Bearbeitungen klassischer Stücke) Maß zu nehmen an eben diesen Verheerungen, die den Erfahrungshorizont von Produzent_innen und Rezipient_innen – quasi als »kollektiver Unterstrom«9 – bestimmen. Die kraft dieses Unterstroms ohnehin gegebene Teilhabe an der Zerrissenheit der Zeitgeschichte hat Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie – mit Blick auf die Ausdrucksmöglichkeiten der Kunst nach Auschwitz – auf die trostlose Formel einer »Methexis am Finsteren« gebracht. Die Passage lautet: »In ihrer Spannung zur permanenten Katastrophe ist die Negativität der Kunst, ihre Methexis am Finsteren mitgesetzt. Kein daseiendes, erscheinendes Kunstwerk ist des Nichtseienden positiv mächtig.«10 Und im selben Kontext heißt es: »Opposition gelingt ihr [der Kunst] einzig durch Identifikation mit dem, wogegen sie aufbegehrt.«11 Kluges »Gegenproduktion« verfährt weit pragmatischer als Adornos radikaler, an Schönberg und Beckett orientierter Ikonoklasmus, ohne allerdings dessen Grundimpuls aufzugeben. So schließt ein zentraler Text seiner Poetik mit den Sätzen: Entweder erzählt die gesellschaftliche Geschichte ihren Real-Roman, ohne Rücksicht auf die Menschen, oder aber Menschen erzählen ihre Gegengeschichte. Das können sie aber nicht, es sei denn in den Komplexitätsgraden der Realität. Das fordert im wörtlichsten Sinne den »Kunstgegenstand«, ein Aggregat von Kunstgegenständen. Sinnlichkeit als Methode ist kein gesellschaftliches Naturprodukt.12

Dass die Utopie einer anderen Verfasstheit der Welt letztlich bilderlos bleiben muss, davon ist auch Kluge überzeugt. Im Gegensatz zu Adorno und im Anschluss an Brecht und Benjamin insistiert er allerdings darauf, dass Menschen Glückssuchende sind, die sich die Möglichkeit, Auswege zu finden, nicht ausreden lassen. Becketts Allegorie der verstümmelten Körper, die zum Passivismus verurteilt sind, ist für Kluge keine Option. Aber dass die Gegen-Erzählung den tatsächlichen Grad gesellschaftlicher Entfremdung in sich – d. h. in ihre Form – aufzunehmen hat, in dieser modalen Bestimmung sind beide Ansätze durchaus verwandt. Eine Darstellung, die sich quasi-mimetisch die »Komplexitätsgrade der Realität« anverwandelt, und eine, die sich mit dem Gegenstand ihres Protests identifiziert – sie koinzidieren beide in einem dialektischen Einverständnis mit jener antagonistischen Wirklichkeit, an der sich die kritischen Verfahren beider Autoren entzünden. Das Realitäts- und Geschichtsverständnis Alexander Kluges 9 Theodor W. Adorno, »Noten zur Literatur«, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 11. Frankfurt/M. 1997, S. 58. 10 Theodor W. Adorno, »Ästhetische Theorie«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 204. 11 Ebd., S. 201. 12 Alexander Kluge, In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, hg. v. Christian Schulte, Berlin 1999, S. 134.

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ist dabei nachhaltig von der Zerstörungskraft der in den Weltkriegen zur Anwendung gelangten Technik (Gas- und Bombenkrieg) und der bei den Reaktorunglücken (Tschernobyl und Fukushima) freigesetzten Radioaktivität geprägt. Diese Katastrophen schreiben gewissermaßen den zeitgeschichtlichen »Real-Roman«, der die Erfahrungen und die Vorstellungskraft von Menschen beschneidet und entmutigt. Kluges »agentieller Realismus«13 – ich leihe mir diesen Begriff von Karen Barad – setzt genau hier ein. Seine audiovisuellen und literarischen Gegenmodelle zielen auf nichts anderes als auf die Herstellung von Handlungsmacht, von Agency, die jedem Menschen als Potenzial eigen ist. Dabei verfährt Kluges Ikonoklasmus durchaus reduktionistisch, privilegiert kurze Formen, Anfänge, artikuliert sich lakonisch und ähnelt gestisch jener raumschaffenden Praxis, die Walter Benjamins Akteur, den destruktiven Charakter, auszeichnet: Dem destruktiven Charakter schwebt kein Bild vor. Er hat wenig Bedürfnisse, und das wäre sein geringstes: zu wissen, was an Stelle des Zerstörten tritt. Zunächst, für einen Augenblick zumindest, der leere Raum, der Platz, wo das Ding gestanden, das Opfer gelebt hat. Es wird sich schon einer finden, der ihn braucht, ohne ihn einzunehmen.14

»Zwischenmusik für Große Gesangsmaschinen« Kluges Versuche über die Oper gehen also durchweg der Frage nach, wie Situierung und Form des Musiktheaters in der veränderten Lebenswelt des 20. Jahrhunderts aussehen könnten, wie sich Authentizität in der Kunst herstellen lasse. In dem Text »Zwischenmusik für Große Gesangsmaschinen«15 wird ein geplantes Projekt, ein Tableau von Heiner Müller und Luigi Nono für William Shakespeares König Lear beschrieben, in dem nicht die (geskriptete) Musik im Vordergrund steht, sondern vielmehr »die Parade der technischen Laute und Geräusche, die das gewalttätige Singen begleitet, wenn es sich zu äußerster Anstrengung konzentriert.«16 ›Authentisch‹ wäre diese Aufführung, weil sie, mit speziell angebrachten Mikrophonen und einer Kamera, neben der künstlerischen Leistung auch die körperlichen Begleitumstände ihres Gelingens in Bild und Ton festhalten würde: das schmatzende Geräusch, wenn der hohe Sopran in die Windel macht oder den Kampf der Sängerin der Isolde mit einem Hustenreiz. Was eine traditionelle, nach Perfektion strebende Inszenierung unterdrücken 13 Vgl. Karen Barad, Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken, Berlin 2012. 14 Walter Benjamin, »Der destruktive Charakter«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV/1, hg. v. Tillman Rexroth, Frankfurt/M. 1980, S. 397. 15 Kluge, Chronik der Gefühle, S. 58f. 16 Ebd., S. 59.

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würde, käme in der »Zwischenmusik« voll zum Ausdruck: dass die »Gesangsmaschinen« Menschen sind, deren Kunst nicht ohne einen physischen Preis zu haben ist. Der Text praktiziert jenes »Eingedenken der Natur im Subjekt«,17 von dem in der Dialektik der Aufklärung die Rede ist – einem Subjekt, das als Gesangsmaschine Teil der zweckrationalen Ordnungen ist, das aber eben auch eine innere Natur besitzt, die sich gegen ihre Beherrschung zur Wehr setzt. In Kluges Text-Inszenierung werden beide Pole dieses subjektiv-objektiven Verhältnisses in ihrer Wechselwirkung ausgestellt. Der unmittelbare somatische Ausdruck, der dem bürgerlichen Kunstverständnis zufolge den Kunstgenuss nur stört und unterdrückt werden muss, schiebt sich nicht allein als tonaler Index physischer Überforderung in die musikalische Textur hinein, er wird der Aufführung bewusst integriert: als ein – den chance operations von John Cage ähnliches – anarchisch-aleatorisches Moment, das die kalkulierte Präzision der Partitur nun performativ untergräbt. Ebenso wird aber auch die dispositive Anordnung einer abgefilmten Opernaufführung unterlaufen, wenn Kamera und Mikrophon die »Zwischenmusik« der Körper in den Vordergrund spielen. Sind es hier die extrem geforderten menschlichen Körper, deren Laute sich in die Musik einschreiben und als generischer Ausdruck ihrer Hervorbringung diese – im Sinne einer Expanded Music – quasi erweitern, so trifft im nächsten Beispiel die Musik auf den Ernstfall der Geschichte, die – wie ein Autor – in die Gestalt der Werke eingreift. Und abermals konstruiert der Text eine intermediale Anordnung, in der musikexterne Paratexte der komponierten Musik integriert, mindestens aber hinzugefügt werden.

»Die Götterdämmerung in Wien« Der Heiner Müller gewidmete Text »Die Götterdämmerung in Wien«18 unterwirft die Oper Wagners einer Dekonstruktion durch die zeitgeschichtliche Aktualität. Im März 1945 befiehlt Baldur von Schirach in aussichtsloser Lage (die Stadt ist von sowjetischen Truppen umstellt) »eine letzte Festaufführung der ›Götterdämmerung‹«.19 Da die Oper ausgebrannt ist, verteilt sich das Orchester, nur durch Feldtelefone verbunden, auf verschiedene Luftschutzkeller. Mit zahlreichen Notbehelfen gelingt es, inmitten des Kampfgeschehens einzelne Teile des Werks durchzuspielen und filmisch zu dokumentieren. Die Filmfragmente fallen einem georgischen Oberst in die Hände, der sie nach Sotschi bringen lässt, wo sie 17 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt/M. 1997, S. 58. 18 Kluge, Chronik der Gefühle I, S. 66–73. 19 Ebd., S. 66.

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bis 1991 in einem Museumskeller liegen bleiben. Dann werden sie von einem Beauftragten Luigi Nonos entdeckt, entwickelt und in Paris in Gegenwart JeanLuc Godards vorgeführt. Was hier, nach einem halben Jahrhundert, zu sehen und zu hören ist, wird in der nachfolgenden »Bildbeschreibung« auf den Begriff gebracht: »die Wiedererstehung der Musik aus dem Geiste der Zeitgeschichte. Die Räume sind die Nachricht.«20 Es geht also darum, Räume zu schaffen, in denen die Musik – und Kunst überhaupt – zu einem authentischen Zeugnis der Geschichte wird. Kluges Überzeugung, dass z. B. Wagner für das 20. Jahrhundert nur gerettet werden kann, wenn man sein Werk durch den Ernstfall hindurchgehen lässt – »Zerstörung, Irrtum und BESCHÄDIGTE Musik inbegriffen«21 –, führt ihn fast zwangsläufig an die Nahtstelle von Fiktion und Dokument, von Wünschen und Fakten. Jeder dieser antagonistischen Pole für sich bliebe aber abstrakt; erst ihre Konstellation schafft Raum für soziologische Phantasie, für Mischformen aus subjektiver Gefühls- und objektiver Tatsachenwelt. Die durch Artillerieeinschläge fragmentierte Musik, überliefert auf einem ruinierten Filmstreifen, wäre gewissermaßen das emotionale Nadelöhr, durch das hindurch eine als bedrohlich erfahrene Realität überhaupt im menschlichen Inneren ankommt. Insofern handelt es sich bei Kluge immer auch umgekehrt um die Aneignung der Zeitgeschichte aus dem Geist der Musik im Medium des Films, in diesem Falle überliefert durch einen Text. Wie dies zu verstehen sei, hat er einmal so formuliert: Ohne daß ich einen neuen Namen dafür wüsste, liegt mir daran, die Instanz, die im 20. Jahrhundert die Fiktionen erstellt, das heißt die Zeitgeschichte, heranzuziehen, sie zu dokumentieren und diese Dokumente durch Musik wieder subjektiv zu beleben und zu magnetisieren. Nachrichten und Zeitgeschichte sind nicht bloß sachlich.22

20 Ebd., S. 72. 21 So heißt es im einführenden Text der 10 vor 11-Sendung vom 23. 06. 1997: »Das Ruinengesetz in der Musik / Gespräch mit Pierre Boulez zu Entwürfen von Heiner Müller«. Siehe auch das publizierte Transkript der Sendung in: Die Schrift an der Wand. Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien, hg. v. Christian Schulte, Osnabrück 2000, S. 15–22, hier S. 15. 22 Alexander Kluge, »Was ich als Autor im Fernsehen treibe«, in: Funk-Korrespondenz, Nr. 48, 3. Dez. 1993, S. 22.

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»Fünf Stunden Parsifal in 90 Sekunden«

Wie Kluge die Idee seines imaginären Opernführers mit audiovisuellen Mitteln inszeniert und wie eng diese Inszenierungsform mit seinen literarischen Entwürfen zusammenhängt, ließe sich exemplarisch an dem Essayfilm Die Macht der Gefühle zeigen. Ich beziehe mich hier aber auf eine Miniatur, die aus zwei Fernsehbeiträgen mit Einar Schleef kompiliert und einem Zyklus von MinutenOpern einverleibt wurde, die quasi einen eigenen Bereich innerhalb der Minutenfilme Kluges bilden. Dabei handelt es sich um eine Form, die Kluges Konzept der »Dramaturgie der Kürze«23 verpflichtet ist und die – ebenso wie die Verwendung des Zeitraffers – auf die frühen Filmexperimente an der Hochschule für Filmgestaltung in Ulm zurückweist. Der Titel dieses filmischen Opernkonzentrats lautet: »Fünf Stunden Parsifal in 90 Sekunden / Einar Schleef in Zusammenarbeit mit dem Berliner Ensemble«.24 23 Kluge, In Gefahr und größter Not, S. 57. 24 Minutenfilme, R.: Alexander Kluge, D 1995–2005 (https://www.dctp.tv/filme/minutenfilme -volle-laenge [18. 07. 2020]).

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Dieses Opern-Stenogramm ist ein Fake. Kluge öffnet für 90 Sekunden ein Fenster, um einer Inszenierung Raum zu geben, die es nie gab. Schleef wollte zwar Parsifal tatsächlich auf die Bühne bringen, jedoch kam dieser Plan nicht zustande. Was es gibt, sind gezeichnete Bühnenbildentwürfe, das Buch Droge Faust Parsifal25 sowie ein Fernsehgespräch mit Kluge über sein Vorhaben. Was wir hier in extremer Beschleunigung sehen, ist die Inszenierung von Brechts PuntilaStück am Berliner Ensemble, in dem Schleef selbst die Hauptrolle übernahm. Kluges Eingriff versetzt Wagner nicht nur in den Konjunktiv; indem er Schleefs Brecht-Inszenierung verwendet, teilt er uns ohne Worte mit, wie eine künftige Inszenierung des Parsifal aussehen könnte. Gleichwohl lässt er die Musik Wagners unangetastet, was wir hören, ist tatsachlich ein Ausschnitt aus Parsifal, aus dem Beginn des 2. Aktes, eine Passage, die der Arie »Die Zeit ist da« vorausgeht. Auch die gezeigte Skizze ist authentisch, es handelt sich um den Entwurf Schleefs für eine Kundry-Szene. Ebenfalls die Einstellungen, die Schleef als Puntila auf der Bühne zeigen, zunächst eng kadriert, dann weiter aufgelöst als Mittelpunktsfigur einer Tischszene, die sich schließlich, nach dem Schnitt auf den computeranimierten Aufriss des Opernhauses, in einen zu einer Totalen geöffneten Bildraum fortsetzt. Diese Bilder stehen ebenfalls in einem expliziten Bezug zur Oper Wagners, denn Schleef hat die Tischrunde aus Parsifal – wie auch die Figur der Kundry – bewusst in seine Puntila-Inszenierung aufgenommen. Unerheblich, ob der zunächst rätselhaft wirkende Querschnitt des Raumensembles in seinen Proportionen mit einem tatsächlich existierenden Musiktheater oder sogar mit dem Berliner Ensemble übereinstimmt. Interessanter sind hier die Proportionen zwischen dem Bühnen- und dem Zuschauer_innenraum und den vielen Nebenräumen und Kammern, der Versenkung, dem Ventilationsschacht etc. – Proportionen, die eine Ahnung von dem enormen Aufwand vermitteln, den die Realisierung des Musiktheaters mit sich bringt. Vor allem aber konfrontiert Kluges virtuelles Arrangement die Zuschauenden mit verschiedenen Zeitökonomien, einer Inszenierung von Zeitverhältnissen durch Parameter des Raums: Denn das in den Sternenhimmel hineinprojizierte Opernhaus scheint die Erde längst verlassen zu haben und sich immer weiter zu entfernen. Die hier angedeutete Hermetik und Erfahrungslosigkeit der Oper könnten die Frage aufwerfen, ob ihr Zeitmaß vielleicht mit der Ewigkeit der Sterne korrespondiert, so wie sich die Frankfurter Oper in großen Lettern zu den ewigen Werten bekennt: »Dem Guten, Wahren, Schönen«. Wie eine Antwort darauf hebt Kluges fiktionalisierende Zeitraffung den vergänglichen Charakter einer Live-Performance hervor und unterstreicht so, dass das Überleben des Musiktheaters davon abhängen wird, ob seine Inszenierungen in der heutigen Lebenswelt verankert sind oder nicht. Kluges intermediale Konfiguration übt 25 Einar Schleef, Droge Faust Parsifal, Frankfurt/M. 1997.

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praktische Kritik am Gesamtkunstwerk, indem sie dieses in der verkürzten Form eines Stenogramms zitiert und imaginativ verfälscht: Es geht hier nicht mehr um Illusionswirkungen, sondern um eine »Auffächerung der Dramaturgien«,26 um die Kritik des Gesamtkunstwerks mit den Mitteln eines anderen Gesamtkunstwerks, autonom in seinen einzelnen Elementen und verteilt auf die polymedialen Darstellungsraster der Gegenwart.

»Abrüstung der fünften Akte« Das eingangs erwähnte Frauenopfer war nicht allein ein Thema der Oper – man denke nur an Romane wie Madame Bovary, Effi Briest oder Anna Karenina. Wie der Stoff des Tolstoi-Romans als Teil des »Imaginären Opernführers« aussehen könnte, hat Kluge in mehreren Geschichten exemplarisch vorgeführt: durch radikale Kürzung, so dass für eine epische Entfaltung des Dramas kein Raum mehr bleibt und die Heldin überleben und sogar in anderen Geschichten wiederkehren kann. Wie sich dem Drama zuvorkommen lasse, darauf machen vor allem seine Kairos-Geschichten die Probe, Erzählungen etwa, die vom Zu-spät-Kommen handeln wie die von der unterlassenen Hilfeleistung des Reichskanzlers a.D. Fürst Bülow, der mit einer kleinen Geste das Leben der Rosa Luxemburg hätte retten können, den Konflikt aber scheut und es vorzieht, pünktlich in der Oper zu erscheinen (»Feigheit ist die Mutter der Grausamkeit«27). Oder die Geschichte über die öffentliche Hinrichtung einer jungen Frau, deren unprofessionelle Ausführung das zunächst sensationslüsterne Publikum schließlich veranlasst, sich gegen den Henker zu wenden und die Delinquentin zu retten (»Die Zeit, die vergehen muß, bis eine Zuschauermenge Initiative ergreift«28). Die Geschichte mit der unwahrscheinlichsten Rettungsaktion dürfte »Abbau eines Verbrechens durch Kooperation«29 sein, in der ein erschlagener Zuhälter von einer Prostituierten durch ausdauernde Zuwendung ins Leben zurückgeholt wird. Die theologisch inspirierte Vorstellung, dass geschehene Ereignisse durch die Kraft des Wünschens ungeschehen gemacht werden können – eine Vorstellung, für die sowohl Walter Benjamin als auch Heiner Müller als Bürgen aufgerufen werden –, bezeichnet sicher den extremsten Punkt des Kluge’schen »Anti-Realismus des Gefühls«,30 der als Kraftreserve und Protestenergie in den Handlungsmotiven jedes und jeder Einzelnen – wie verdreht und entstellt auch immer – anwesend und wirksam ist. In Bezug auf die angeführten Beispiele äußert er sich im Un26 27 28 29 30

Kluge, In Gefahr und größter Not, S. 57. Kluge, Chronik der Gefühle, S. 890–892. Ebd., S. 901f. Kluge, Die Macht der Gefühle, S. 154–158. Kluge, In Gefahr und größter Not, S. 287.

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glauben gegenüber der Überredungskraft des Faktischen, dem Status quo gegebener Verhältnisse ebenso wie der nachträglichen Sinngebung von Geschichtsprozessen. Entwirft Kluge mit seinen Geschichten Möglichkeits-Opern, die das Repertoire des Musiktheaters – quasi à rebours – um antidramatische Perspektiven erweitern, so greift er auch in den Plot bestehender Opern ein, wenn er z. B. verschiedene Möglichkeiten durchspielt, die Othello davon hätten abhalten können, Desdemona zu töten. So hätte die Zofe, wäre sie Sekunden vor der Tat ins Zimmer gekommen, den Helden in seinem Furor abgelenkt und den Mord vielleicht verhindert. Ein anderes Szenario geht so: Othello und Desdemona litten an einer fiebrigen Erkältung ihrer Därme. Den Helden, das Messer schon erhoben, überfiel eine momentane Schwäche. Er sucht das Örtchen auf. Später war er müde. Der Beleidigte schlief ein. Am anderen Morgen, mit erfrischten Nerven beide erwacht, wußten sie gar nicht mehr, was sie Böses von einander gewollt hatten.31

Ist es im einen Fall eine zufällige Störung, die den Mord verhindert, so ist es im anderen die körperliche Verfassung, die im Handelnden Müdigkeit auslöst, die Wut quasi entschleunigt und über Nacht in etwas anderes verwandelt. In welchem Maße Kluges Kairologie auf unvorhersehbare Interventionen wie diese setzt, verdeutlicht auch der Minutenfilm Der Darm denkt, der davon handelt, wie ein Kampfpilot sein Ziel verfehlt, weil ihn eine Darmkolik gerade rechtzeitig dazu bringt, die Maschine zu verreißen. Wenn Kluge von der »Abrüstung der fünften Akte«32 spricht, so ist diese Formel als programmatische Arbeitsmetapher zu verstehen. Sie zielt darauf ab, Prozesse, die sich von der einzelmenschlichen Erfahrung entfernt und verselbständigt haben, abzubremsen und so ihrer tragischen Finalität zuvorzukommen; darauf, den schicksalsförmigen Narrativen des bürgerlichen Zeitalters durch Techniken der Verkleinerung, durch Raffung und Montage ihre Macht zu nehmen und die Möglichkeiten von glücklichen Ausgängen zu erproben. »Etwas fängt sehr schön an und es endet grausig. Das ist sozusagen das Wahrscheinliche in der Welt oder die Erfahrung. Das andere wäre, daß etwas hart anfängt, durch Arbeit geändert wird und anschließend glücklich endet, das wäre die Bauweise von Paradiesen.«33 Die Fragmentierung dient Kluge dazu, dem konsequenten Aufbau von Spannung, der Logik der Steigerung und dem ›dramaturgischen Inzest‹ (alle Elemente sind sinnhaft aufeinander bezogen) entgegenzuwirken; sie bewirkt ein Innehalten, indem sie die Bauelemente des Dramas entflechtet und räumlich zugänglich macht. Was in Film und Literatur nur durch Ellipsen, durch weiträumige Montagen gelingen kann, nämlich die Exposition der Elemente als 31 Kluge, »Herzblut trifft Kunstblut«, S. 133. 32 Kluge, Die Macht der Gefühle, S. 176. 33 Ebd., S. 183.

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autonomer Einzelheiten, das gelingt der Ausstellungsform durch die schiere Versammlung und Vergleichzeitigung sämtlicher Materialien im selben Raum. Deren lose (und das heißt immer auch: variable) Verknüpfung ist quasi die Möglichkeitsbedingung für weitgehend selbstregulierte Wahrnehmungs-, Orientierungs- und Bewegungsformen, kurz: für ein Training im Umgang mit Kontingenz. Kluge setzt auf die so entstehenden Zwischenräume und die durch diese eröffneten Perspektiven, um eine komplexere Wahrnehmung und damit auch andere Formen der Auseinandersetzung mit der Realgeschichte zu ermöglichen. Diese Arbeits- und Darstellungsweise entspricht nicht nur Postulaten der neuen Musik, sondern sie steht auch in der Tradition der operativen Ästhetik Brechts, deren Kernformel eben lautete: »Trennung der Elemente«.34 Sie ist konstitutiv für jenes Dazwischen, dessen strategische Funktion Kluge an den bewegten Einzelbildern des Films entwickelt hat, deren Abstände – so die These – nur das Gehirn, nicht aber das Auge zu registrieren vermag. Deshalb markiert Kluge die Dunkelphasen im Kino, indem er oft ein Stück Schwarzfilm zwischen die Bilder schneidet. Das Unsichtbare wird quasi sichtbar gemacht, exponiert. An diesen Stellen, sagt der Regisseur, kann die Phantasie der Zuschauenden eindringen, entsteht in jedem Rezeptionsakt ein neuer Film, der sich aus dem auf der Leinwand Gezeigten und den unabsehbar vielen Erfahrungshorizonten der Zuschauenden zusammensetzt. In diesem Sinne ist es in allen Arbeiten Kluges die halbe Zeit dunkel.

34 Bertolt Brecht, »Anmerkungen zur Oper ›Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‹«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 17: »Schriften zum Theater« 3, Frankfurt/M. 1967, S. 1004–1016, hier 1010.

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Eine Ausstellung des Württembergischen Kunstvereins Stuttgart (WKV) in Kooperation mit dem Kunstmuseum Ulm und der Staatsoper Stuttgart, 08.05.– 14. 06. 2020 Ausstellungsansichten von Hans D. Christ

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Musiktheater / Plebejische Öffentlichkeit In den »Vermischten Nachrichten« auf der letzten Seite einer Leipziger Zeitung fand sich der Bericht vom Soldaten Johann Christian Woyzeck, der die Witwe Johanna Christiane Woost erstochen hatte. Fast hundert Jahre später entzündete sich die Phantasie des Komponisten Alban Berg an dieser Geschichte und deren literarischer Umsetzung bei Georg Büchner. Daraus entstand die Modell-Oper des 20. Jahrhunderts Wozzeck (1925). Der Stoff für die Oper Die Soldaten von Bernd Alois Zimmermann (1965) geht auf eine Erzählung des Dichters J. M. R. Lenz zurück, die sich auf eine populäre Schauergeschichte stützt: vom Schicksal eines lebenshungrigen Mädchens, das unter die Soldaten einer Garnisonstadt gerät. Ihr junges Leben wird wie im Krieg vernichtet. Daraus entstand die bedeutendste Oper der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aus plebejischer Öffentlichkeit stammen auch Opernstoffe wie: Der Troubadour, Madama Butterfly, La Traviata, The Rake’s Progress und Die Nase. Zwar hat Richard Wagner den Stoff für seinen Fliegenden Holländer aus einer Ideenskizze von Heinrich Heine bezogen, der aber verdankt die Geschichte einer berühmten Moritat, die auf Jahrmärkten gesungen wurde.

Ein Findlingsblock in der modernen Stadt Zu den Merkwürdigkeiten des Abendlandes gehören die Opernhäuser. Da bauen sich Adelsgesellschaften, Republiken und große Städte, imposante Tempel, in denen »Dramen mit Musik« gespielt werden. Die Opernhäuser (in ihrer Mehrzahl) haben die Architektonik von Regierungssitzen, der Börse oder (in der bürgerlichen Epoche) des Justizministeriums: sie sind Ausdruck eines Selbstbewusstseins. So wie das Selbstbewusstsein einer Stadt im Mittelalter sich durch die Zahl und Höhe der Kirchtürme äußerte. Im Keller solcher Operntempel werden Gespenster, Untertunnelung, im Fall der Pariser Oper ein unterirdischer

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See vermutet. Wie kommt es zum Tempelbau? Wie kommt es zu solchen Vermutungen? Warum war in klassischen Opernhäusern die Decke des Saals mit der Abbildung von Göttern bedeckt? Warum sind Opernhäuser zum Himmel hin geschlossen? In einer intakten Öffentlichkeit gehört das Opernhaus zu dem Gegen-Algorithmus, der das Gleichgewicht zur Algorithmenwelt der Medien, zur Macht des Faktischen und zur Übermacht des Objektiven herzustellen hilft. Das Schiff sind die GEFÜHLE, das Opernhaus ist der ANKER. Der Sturm, der das Schiff auf Grund setzen kann, sind die wirklichen Verhältnisse. Wenn ein so altes Schiff wie unsere Zivilisation auf eine Felsenküste zutreibt, dann sind gut eingefettete Anker nötig, die aus ihren Klüsen rasseln. Musik und die Intelligenz der Gefühle sind für mich solche Anker. Fest wie Beton.

»Gegensätze ziehen sich an!« Als mir die Oper als Kind von etwa neun Jahren erstmals unter die Haut gefahren ist, habe ich gewiss nichts von ihr verstanden. Das ist, wenn ich heute in den vielen Partituren und Einzelheiten der Oper gründele, nicht wirklich anders geworden. Umso mehr reizt es mich, diese sperrige Kunst, eine Schrift an der Wand zum Hören, zu entziffern, zu hegen und zu kommentieren. Die Ausstellung Die Macht der Musik. Oper: Der Tempel der Ernsthaftigkeit hat drei Flügel: die Ausstellung in Ulm, die Halberstädter Brennpunkte und die Ausstellung im Württembergischen Kunstverein. Das erlaubt es, thematische Ausschnitte zu bilden. In Stuttgart liegt der Fokus auf INTELLIGENZ, MODERNE und ERKENNTNIS. Alle drei Kategorien sind Opern von Haus aus eher fremd. Alle Opern zusammen: EINE SPHINX.

Transitionen Als Bestandteil einer Ausstellung und literarisch-filmischen Gattung. Ich sitze in dem großzügigen Studio von Katharina Grosse in der Lehrter Straße in Berlin. Katharina wünscht sich, dass in der Ausstellung unsere gemeinsamen Arbeiten nicht an einer Wand aufgereiht, überhaupt nicht statisch oder geometrisch, insbesondere nicht viereckig im Raum zu stehen kommen. Es sollen KONSTELLATIONEN entstehen. Die Stücke der Ausstellung sollen in loser Verknüpfung aufeinander einwirken. Nicht von Autoren platziert, sondern in ihren »Schwerkraftfeldern«. Sie sollen den Raum queren, zerschneiden. Ato-

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pische Vielfalt, bizarr. Ihre Aufstellung soll »stören«. Der Raum muss »empfunden« werden. Ich zeige auf ein antikes Bild der Medea, das auf die Bühne Nr. 4 – die Scherenkranbühne von Katharina Grosse – projiziert, davon abfotografiert und auf Aluminium gedruckt ist. Ein solches Bild kann man im Film nicht festhalten und bildnerisch-konstruktiv in einem Gang nicht herstellen. Die atopische Verknüpfung zwischen dem steinernen Medea-Fragment von vor 3.000 Jahren und der Scherenkranbühne von 2019 schafft eine TRANSITION in der Zeit: eine ZEITPERSPEKTIVE. Das Poetische schafft eine solche Verbindung zwischen den Zeiten seit Ovid permanent. Erst sekundär gelingt solche Verbindung zwischen Orten.

»Trinklied der leichten Landschaften« Der beste Fortsetzer von Mozarts ZAUBERFLÖTE, der Dichter und Komponist von DER BAUER ALS MILLIONÄR, Ferdinand Raimund, dichtete das Lied: »Erkenntnis, du lieblich erstrahlender Stern, Dich suchet nicht jeder, dich wünscht mancher fern …«. Um die Intelligenz zu finden, muss ich, so Ferdinand Raimund, alle Annahmen, ich wüsste, was sie ist, woraus sie besteht, was sie zu bewirken vermag, ausschalten. Angenommen die Intelligenz beruhe auf Unterscheidungsvermögen und sie wurzele in keinem einzelnen unserer Sinne, sondern in den weiten Zwischenräumen zwischen ihnen – dann ist sie ein Rhizom, ein Wurzelwerk: »Intelligenz der Gefühle«. Das wäre sicher ein leichtes, flüchtiges, ja fliegerisch begabtes Wesen. Wut, Mut, Identitätsgefühl, Abstammung, Vorurteil, Hunger, Gefolgschaftstreue, Ehrgeiz, Selbstverwirklichung, Begierde, starke Erinnerung – was sind das für massive Kräfte verglichen mit den zwar mit viel Nerven, aber mit wenig Muskeln versehenen Attributen der Intelligenz! Hinzu kommt, dass wir Menschen seit dem Anthropozän, aber beschleunigt in den letzten etwa 100 Jahren, in einer ZWEITEN NATUR leben. Alle individuellen Kräfte sind eingekrallt in gesellschaftliche Sinne und Kräfte, in abstrakte Steuerungen, in den Warenfetisch, die GROSSE ÖKONOMIE, die uns von den Ackerböden der Seele, in der wir einst aufwuchsen, abtrennt, in die Luft erhebt: Wolkentiere. Die Intelligenzleistung weit abgeschlagen im Tross dieses Fluges.

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Abb. 1: Helden unter dem Sternenzelt / Heroes under a starry sky. With Baselitz material. For the Württembergischer Kunstverein. Print on wood, 2020.

Abb. 2: Königin der Nacht / Queen of the Night. Stage set by Schinkel. With a text by Paul Klee. Print on aluminium, 2020.

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Abb. 3: Der Koloratursopran Calvelli-Adorno, Mutter von Th. W. Adorno. Mit Scherenkranbühne von Katharina Grosse. 2019.

Abb. 4: »Wir Philosophen aus der Rippe Evas«. Druck auf Aluminium. 2020.

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Abb. 5: Fledermaus und Wiesel. Nach einer Zeichnung von Grandville. Die Fledermaus: Wappentier der aufgeklärten Intelligenz. Das Tier ist gewohnt, Echos nach allen Seiten zu werfen und aus der Antwort der Horizonte seinen sicheren Flug durch die Nacht festzulegen. Ein EcholotTier. Seine Hauptwaffe: das große Ohr.

Alexander Weil im Gespräch mit Birgit Haberpeuntner, Melanie Konrad und Christian Schulte

»Dann schicke ich Sie mal an die Oper …«

Am 2. Mai 2019 sprachen wir mit Alexander Weil über seine Arbeit für und mit Alexander Kluge. Das Gespräch fand in seiner Wohnung am Prenzlauer Berg in Berlin statt und dauerte insgesamt ca. eineinhalb Stunden.

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Alexander Weil im Gespräch

Frage: Wie bist du auf Alexander Kluges Arbeit aufmerksam geworden und wie kam es zur Zusammenarbeit? Alexander Weil: Ich kannte Abschied von gestern (1966). Also, das war der einzige Film, den ich von ihm kannte, und den hatte ich während der Schulzeit schon gesehen. Dann bin ich nach München gezogen und habe zufälligerweise in dem Pilotprojekt-Gebiet in der Au gewohnt, wo man Privatfernsehen schon sehr früh empfangen konnte. Da gab es dann plötzlich diese Kluge-Sendung und parallel dazu habe ich seinen Cutter, Kajetan Forstner, der bei mir um die Ecke wohnte, kennengelernt. Kajetan hatte wiederum einen Film von mir gesehen, den ich mit einem Freund zusammen über Punk in Deutschland gemacht hatte.1 Das war 1979, als ich angefangen habe mit Video zu arbeiten. Das heißt, du bist als Filmemacher erstmals mit Kluge in Berührung gekommen? Ja. Komischerweise war aber das Erste, was ich ihm gebracht habe, gar kein Film, sondern eine Text-Foto-Geschichte, die damals die Zeitschrift TransAtlantik veröffentlich hatte. Kajetan sagte: »Bring die doch mal Kluge!« Also habe ich ihm die Geschichte gebracht und eben auch den Punk-Film, die beiden Sachen. Und ja, so begann das. Und wann war dein Einstieg als Interviewer, quasi in der Rolle Kluges? Am Anfang war es so, dass ich mit Kajetan und Roland Forstner zusammen produziert habe. Das heißt, die beiden haben ihre Geräte zur Verfügung gestellt, Kamera usw., und ich habe die Kosten getragen, Reisekosten und so, und habe Themen vorgeschlagen. Das erste Projekt war ein Film über Blindenführhunde. Da hatten Kajetan und ich den Rohschnitt gemacht. So ging das los und dann habe ich weitere Vorschläge gemacht. Das nächste Projekt war ein Film über Leute, die vom Blitz getroffen wurden und überlebt haben. Kluge hat das Material dann gekauft. Die Rechte sind bei uns geblieben, da wir ja praktisch selbst produziert hatten. Irgendwann hat er mich gefragt, ob ich auch zu Opernhäusern fahren würde, um für ihn Interviews zu machen, weil er selbst nicht immer hinfahren konnte. Die ersten Opernsendungen waren dann 1991/92. Hattest du selbst auch eine Affinität zur Oper? Ich hatte überhaupt keine Affinität zur Oper. Ich hatte vorher noch nie eine Oper gesehen oder auch nur ganz gehört, also das kam ganz von Kluge. Ich fragte mich 1 Aufbruch in die Endzeit, Regie: Alexander Weil und Thomas Kistner, BRD 1980.

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natürlich, wie gehe ich da vor? Ich hatte sofort spontan ja gesagt, und hinterher habe ich mir überlegt, was mache ich denn jetzt? Kluge hat dann gleich ein bisschen drohend gesagt, ja, dann schicke ich Sie nach Berlin an die deutsche Oper! Und dann dachte ich, soll er mal … (lacht). Dann kam irgendwann ein Päckchen, in dem ein Heft von einem Musikverlag drinnen war mit allen gängigen Opernaufnahmen, die es so gab. Mir war klar, dass das von Kluge kam, beziehungsweise von Frau Petraschke. Und dann dachte ich, was soll ich jetzt machen, soll ich mir alle Mozart-Opern anhören oder alle Verdi-Opern? Und dann habe ich mich ganz bewusst dagegen entschieden. Ich habe mir gedacht, wenn er jemanden braucht, der sich mit Oper auskennt, dann hätte er jemand anderen gesucht – da hatte ich allerdings schon einen Operndreh gemacht. Ich habe mir dann vorgenommen, mich immer auf die jeweilige Oper vorzubereiten, und zwar nicht länger als einen Tag, also zwölf Stunden, wobei ich das nicht immer so genau eingehalten habe. Ich machte auch bald Nachbereitungen, weil ich ziemlich schnell merkte, dass es Verschiebungen gab zu dem, was inszeniert wurde, und ich kam zu ganz neuen Einsichten, die mich dann zum Teil doch weiter beschäftigten. Und so hat sich irgendwann die Katze in den Schwanz gebissen und die Sachen, die ich nachbereitet habe, waren irgendwann die Vorbereitung für die nächste Oper. Man fängt dann einfach an, sich damit zu befassen und orientiert sich nicht an der Chronologie der Opern- oder Aufführungsgeschichte, sondern an dem, was der Spielplan bietet und wo es einen gerade hin verschlägt. Gab es Vorgaben von Kluge, was die Opernsendungen selbst betraf ? Ja schon, aber ich hatte einen ziemlich einfachen Zugang zu seiner Arbeitsweise. Das heißt, mir war sofort klar, wie er arbeitet, schon aufgrund der Sendung, die ich damals in diesem Pilotprojekt gesehen hatte, und das hat mir sofort gefallen. Also, dass man jetzt nicht nur den Sänger oder den Dirigenten interviewt, sondern auch die Souffleuse oder vielleicht Statist_innen. Da musste er mir gar nicht viel sagen. Ich habe sofort kapiert, dass es dadurch lebendiger wird, als wenn man sich nur, ich sage mal so, auf die künstlerische Seite schlägt. Das ist ja auch ein Alleinstellungsmerkmal. Mit der Oper ging das also los, und wann kam die Naturwissenschaft dazu? Das ist ja so ein zweiter Schwerpunkt. Im Prinzip ging es im Blindenhund-Film schon um Biologie, also um die Projektion von Hindernissen aus dem Raum des Menschen in den Raum des Hundes. Ich hatte einen Hundeausbilder gefunden, der im Zweiten Weltkrieg Blindenhunde ausbildete, einen Biologen, Doktor Heinz Brüll. Brüll gründete später auch den Naturschutzpark in Schleswig-Holstein. Er war Falkner, von der

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alten Biologie-Schule, und ein Schüler von Jakob von Uexküll. Kluge war ein großer Bewunderer von Jakob von Uexküll, den ich damals noch gar nicht so richtig auf dem Radar hatte, und das war eigentlich das erste naturwissenschaftliche Interview mit einem biologischen Thema. Es ging dabei nicht so sehr um die Details bei der Blindenhund-Ausbildung, sondern um grundlegende Fragen, Unterschiede in der Wahrnehmung zwischen Hund und Mensch. Was ist denn mit dem Film passiert? Ist er in eine Sendung eingegangen? Ich habe unendlich viel Material gedreht und daraus wurden zwei oder drei Sendungen gemacht.2 Damals war es noch so, dass Kajetan und ich einen Rohschnitt machten, und dann übernahm Kluge den Feinschnitt, schrieb den Text dazu und brachte das Ganze auf die Formatlänge, also 15, 24 oder 45 Minuten. Damit hatte ich dann nichts mehr zu tun. Abgerechnet wurde pro Minute, ich habe eine Rechnung geschrieben und das Geld überwiesen bekommen. Verkauft habe ich dieses Material im Dezember 1989, und es wurde dann 1990 gezeigt. So ging das los mit den Naturwissenschaftler_innen. Und dann habe ich weitere Vorschläge gemacht, anfangs v. a. im Bereich der Biologie, denn die mochte ich schon seit der Schulzeit. Ich wollte Biologie studieren, habe das aber nie gemacht. Aber das hat mich interessiert. Ein ganz wichtiges Charakteristikum von Kluges Autorentheorie ist, dass man sein eigenes Interesse als Kompass benutzt, auch in der Auswahl der Themen. Auch in deinem Fall waren es also nicht ausschließlich Themen, die Kluge vorgeschlagen hat, sondern du konntest nach deinen eigenen Interessen recherchieren und ihm das dann vorschlagen, und er gab den Raum dafür. Das fand ich auch von Anfang an wahnsinnig angenehm. Ich hatte davor gemeinsam mit einem Freund beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk Erfahrungen gemacht. Wir hatten eine Sendung konzipiert, die hieß Neues aus… Sie wurde sonntagmorgens von 11:15–12:00 Uhr im Ersten ausgestrahlt. Das war so eine Art Zeitgeist-Sendung. Die wurde dann aber in unendlich vielen Kantinengesprächen so lange totgeredet, dass wirklich nichts mehr davon übrig geblieben war, bevor wir überhaupt die erste Minute davon drehten. Das war bei Kluge genau anders rum. Das heißt, es hat ein Telefonat genügt, ein oder zwei Minuten, ich habe gesagt, was ich gerne machen würde, und im Rahmen der üblichen Produktionsbedingungen habe ich das mit dem Team gemacht.

2 10 vor 11: »Mit den Augen der Hunde«, 07. 05. 1990 / News & Stories: »Du bist mein bester Kamerad / Der Blindenführhund«, 24. 07. 1995.

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War das also anfangs das Münchner Team? Und habt ihr damals schon in gleichbleibender Frequenz Sendungen produziert oder war das erst mal vereinzelt? Ich habe damals in München gelebt und mit Michael Kurz und Thomas Wilke gearbeitet, praktisch vom ersten Tag an. Also, wie gesagt, ganz am Anfang habe ich selber produziert, ohne festes Team, mit wechselnden Kameraleuten, dann aber eben mit dem Team in München. Später kamen dann Walter Lenertz und wechselnde Tonleute dazu. Die Sendungen entstanden in unterschiedlichen Abständen. Am Anfang war es noch weniger, und dann wurde es ein bisschen mehr. Der Höhepunkt war, als XXP hier in Berlin produziert hat. Da war hier richtig viel zu tun. Aber das war dann schon deutlich später. Ich dachte, dass die Kluge-Beiträge auf XXP nur recycelt worden wären? Oder habt ihr auch für XXP speziell gedreht und das Material nachher bei 10 vor 11 oder News & Stories gezeigt? Auf VOX wurden meines Wissens nur 10 vor 11-Sendungen wiederholt. Also zum Teil wurden tatsächlich Beiträge recycelt, zum Teil wurden aber auch neue Sachen produziert. Es gab da kein festes Muster. Bei VOX weiß ich das gar nicht. Es gab das Mitternachtsmagazin und eine Zeit lang auch noch die Stunde der Filmemacher. Also für die Stunde der Filmemacher hast Du auch produziert? Ja, praktisch für alle Formate. Ich habe das ja gar nicht entschieden, wo welches Material gesendet wurde. Das hing von verschiedenen Dingen ab. Die Stunde der Filmemacher lief ja immer nachts um drei auf SAT.1. Ich erinnere mich gut an die Filme von Agnes Ganseforth und Rudolf Kersting, die ausschließlich dort zu sehen waren. Ich hatte den Eindruck, in Stunde der Filmemacher liefen eher die experimentelleren Arbeiten. Das war auch so. Ich erinnere mich, dass wir in München einmal mit einer Band namens Sleep Chamber gedreht hatten. Das war auch eine typische Stunde der Filmemacher, schon ein bisschen experimenteller. Weniger vom Format her, als von den Personen, die aufgetreten sind. Das Format war ja praktisch immer das gleiche, auch die Art und Weise, wie es gemacht war, mit den Schriftbanderolen etc.

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Würdest Du insgesamt den Eindruck teilen, dass die Sendungen bis Mitte der 90erJahre ein ganz hohes Maß an Innovation aufgewiesen haben, dass also ständig etwas Neues passierte? Es war unglaublich aufregend manchmal, weil man nie wusste, was kommt. Es gab auch sehr viele Sendungen, in denen die Gesprächsanteile eher gering waren, Montageessays. Ich kann mich z. B. an eine Performance in Kluges Münchner Wohnung erinnern, in der der New Yorker Künstler Monty Cantsin mit einem Riesenhammer irgendwelche Blechteile zerstörte. Irgendwann war ein Punkt erreicht, so Mitte der 90er, als dann die Schriftgrafiken sehr dominant wurden, mal ein, zwei Jahre lang, fast in jeder Sendung. Oder auch eine bestimmte tonale Ebene: Es gab ein Jahr, in dem jede Woche mindestens einmal Death Metal zu hören war. Das kam von den Forstners. Das stimmt, die Forstners hatten so musikalische Phasen. Die haben die Musik einfach in den Schneideraum mitgenommen und Kluge hat sie dann je nachdem eingesetzt. Das hatte viel mit den Forstners zu tun und natürlich auch mit den Apparaten, die sie sich dann zugelegt haben, wie z. B. diese Schriftgeneratoren. Ein weiterer Einschnitt war die Blue Box. Plötzlich wurden Hintergründe notwendig und dadurch hat sich die Arbeitsweise verändert. Also, das waren von der technischen Seite her Innovationen, die zustande kamen. Da hatte man schon den Eindruck, dass das Format für einige Jahre sehr ähnlich blieb, als wäre es ein Genre geworden? Ja, ich erinnere mich, dass es ganz am Anfang stundenlange Monologe gab, mit dem Filmemacher Syberberg, mit Edith Clever, etwa über Amphitryon. Die wurden dann wirklich gesendet, das war fast schon ein Vorläufer von Harald Schmidt. Aber das war gar nicht komisch, sondern einfach eine andere Art von Fernsehen. Da wurde ausprobiert. So etwas wurde ja auch in den ersten Jahren von den Sendern als extreme Provokation aufgefasst, wenn man an die Äußerungen von Helmut Thoma denkt. Ich denke auch, dass die gar nicht damit gerechnet haben, dass Kluge so lange durchhält. Die haben sich einfach gar nicht überlegt, was mit Video möglich ist, sondern die dachten, irgendwann geht dem die Luft aus. Dann fällt ihm nichts mehr ein, wenn der jede Woche einen Film machen will, als mehr oder weniger Kleinbetrieb. Der wird irgendwann mal die Flinte ins Korn werfen. Denen war die Wirkung von Interviews nicht klar, wie interessant ein Interview im Fernsehen sein kann, wenn man es richtig macht. So kann man natürlich auch viel produzieren und ganz anders arbeiten, als wenn man jedes Mal eine Langzeit-Doku machen oder fünf Tage drehen müsste.

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Kluge wird ja sicher auch darin unterschätzt, dass er eben eine ganz robuste Produktionsweise entwickelt hat. Zum Beispiel auf der Buchmesse, wenn die Interviewpartner_innen quasi Schlange standen. Er hat vielleicht kurz in einem Buch geblättert, und dann ging es schon los. Das war extrem effizient. Jaja, klar. Kluge hat mir mal den Tipp gegeben: »Versuchen Sie dem Interesse Ihrer Gesprächspartner_innen zu folgen!« Dann kommt es gar nicht mehr so sehr darauf an, was man alles schon weiß über die Sache, sondern wie genau man zuhört. Und dadurch kommen dann Gespräche zustande, für die man gar nicht so viel vorbereitet haben muss. Gab es auch mal Probleme, v. a. mit den Naturwissenschaftler_innen, das Gespräch am Laufen zu halten? Wenn man vielleicht das Fachwissen gar nicht hat? Es gab einen Wandel bei den Naturwissenschaftler_innen. Die alte Schule fand nicht, dass Fernsehen ein Medium sei, in dem man auftreten sollte. Geeignete Medien waren Bücher und in Fachkreisen Zeitschriftenartikel. Die mochten zum Teil das Fernsehen nicht und entsprechend war es manchmal schwierig, sie zum Reden zu bringen. Gar nicht so sehr, weil man kein Fachmann war, sondern weil sie eine gewisse Reserviertheit gegenüber dem Fernsehen zeigten. Das hat sich aber gegen Ende der 90er-, Anfang der 2000er-Jahre gewandelt. Da wurde klar, dass sie auch Öffentlichkeit brauchten, nicht nur weil sie Gelder locker machen mussten, sondern einfach auch ganz strategisch, um ein gewisses öffentliches Interesse an ihrer Arbeit zu wecken. Dann haben sie gewissermaßen akzeptiert, dass man eben kein Fachmann war. Ich habe trotzdem immer versucht, mich gut vorzubereiten. Es waren ja auch immer Themen, die ich vorgeschlagen hatte. Die konzeptionellen Gespräche mit Kluge haben sich dann also darauf beschränkt, dass du nach deinem Interesse einen Themenvorschlag gemacht hast, und das war’s? Ja genau und vielleicht noch ein bisschen kürzer. Also die konzeptionellen Gespräche liefen ungefähr so, dass ich angerufen und gesagt habe, ich würde gerne ein Gespräch mit dem und dem machen, der macht das und das. Und dann hat er gesagt, ja, machen Sie! Und das war’s dann. Ganz selten hat er nachgefragt und ganz selten fand er es mal nicht so gut. Und da lag er meistens auch richtig. Wahrscheinlich hat er es schon an der Art und Weise gemerkt, wie ich es vorgestellt habe. In der Regel war es immer so, dass ich einen Vorschlag gemacht habe, den er dann mehr oder weniger abgenickt hat. Bei den Opern ist es aber anders gelaufen?

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Ja, da war es am Anfang so, dass fast ausschließlich von ihm Vorschläge kamen, weil ich mich einfach auch nicht auskannte. Das hatte natürlich auch mit den Musik- und Bildrechten zu tun. Er musste dazu ja mit den Opernhäusern Absprachen treffen. Im Laufe der Zeit kannte ich aber schon so viele Regisseur_innen und wusste, in welchem Opernhaus es relativ einfach war, zu drehen. Es gab etwa 20 Regisseure mit interessanten Projekten im deutschsprachigen Raum und zu diesen 20 kamen ab und zu mal neue dazu. Ich hatte immer den Eindruck, dass das Frankfurter Opernhaus einen besonderen Stellenwert bei Kluge hat. Vielleicht auch, weil er dort lange gelebt und die Leute gut gekannt hat. Ich habe nur einmal in Frankfurt gedreht, das war mein zweiter Operndreh, La Traviata. Praktisch angefangen und gelernt habe ich in Ulm. Viele junge Sänger von dort wurden richtige Stars. Philippe Jordan war damals Kapellmeister, der ist jetzt Leiter der Oper in Paris. Angela Denoke wurde eine berühmte Sopranistin. Die haben alle dort angefangen, das war natürlich eine klasse Chance zu üben. In Ulm hat Kluge ja Anfang der ’60er auch das Institut für Filmgestaltung mitbegründet, gemeinsam mit Edgar Reitz und Detten Schleiermacher. Gab es aus dieser Tradition heraus auch eine Verbindung zur Oper? Ich kann mich nur erinnern, dass es beim ersten Dreh mit Kluge, als ich noch Kameramann war, eine Veranstaltung an der Hochschule für Gestaltung in Ulm gab, die hieß »Intimität und Öffentlichkeit«. Da waren Architekt_innen, Politiker_innen und Leute aus ganz verschiedenen Bereichen. Das ging den ganzen Tag. Am Abend waren wir dann in der Oper in Ulm und haben Le Grand Macabre von György Ligeti gedreht und danach noch Interviews gemacht. Morgens haben wir um neun Uhr angefangen und abends um elf waren wir immer noch am Drehen. Uns hing allen die Zunge aus dem Hals und er hat munter weiter gemacht. Er hat das gleich kombiniert. Ein Thema an einem Tag hat ihm nicht genügt. Aber das war eigentlich das einzige Mal, dass wir an der Hochschule für Gestaltung waren. Aber ich habe das erst retrospektiv mitbekommen, dass es die Hochschule für Gestaltung bzw. so etwas wie eine Filmklasse gab. Du hast auch selbst nicht Film studiert, sondern einfach so angefangen Filme zu machen? Ja, ganz genau. Ich bin nach München gegangen und wollte Filme machen, wurde aber an der Filmhochschule nicht angenommen. Ich habe durch Zufall in einer Gegend gelebt, wo es einen alternativen Jugendklub gab, und der Leiter war

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ursprünglich Kameramann beim Bayrischen Rundfunk. Er war sehr film- und technikaffin. Irgendwann war ich bei einer Abendschau in diesem Klub und dann hieß es am Schluss, wir suchen noch Leute, die mitarbeiten. Da habe ich mich beworben und mitgearbeitet und das habe ich ein Jahr lang gemacht. Er wollte mich dann einstellen, weil das ein Riesenerfolg war. Ich hätte eine Art Hausmeister oder Filmwart sein sollen, aber das wollte ich nicht. Ich habe ihm aber gesagt, dass ich gerne irgendwann die Geräte benutzen würde, um etwas Eigenes zu machen. Dann habe ich diesen Film über Punk in Deutschland gemacht, den Kluge dann gesehen hat. Das hat ihn interessiert, weil das Musik mit deutschen Texten war. Hat er davon auch Teile gesendet? Ja, daraus hat er eine Sendung gemacht. Ich glaube für die Reihe 10 vor 11. An wie vielen Sendungen warst du denn insgesamt beteiligt, kannst du das sagen? Das waren im Schnitt 24 Sendungen pro Jahr, also in der Hochzeit, jetzt am Schluss nicht mehr. Es war natürlich auch so, dass ich immer wesentlich mehr Interviews gemacht habe, als dann gesendet wurden. Bei einer Opernproduktion habe ich, sagen wir, fünf Interviews gemacht, von denen vielleicht drei gesendet wurden. Es kam auf die Länge, die Qualität der Interviews und auf den thematischen Zusammenhang innerhalb der Sendung an. Aber darauf hatte ich keinen Einfluss, ich habe nur ganz selten darauf gedrängt, etwas Bestimmtes zu senden. Du meintest vorher, dass du auch bei einigen Drehs als Kameramann dabei warst? Nur ganz am Anfang, da habe ich auch Ton gemacht, aber ich war kein begeisterter Kameramann. Eigentlich habe ich hauptsächlich Interviews gemacht. Ab und zu habe ich auch praktisch geholfen, also Aufnahmeleitung, Kaffee holen, Leute hinhalten oder Gesprächspartner_innen organisieren, bei der Berlinale beispielsweise. In diese Art der logistischen Arbeit geriet man wahrscheinlich automatisch, wenn man sich nur in der Nähe befand. In den ersten Jahren ging es wohl, Erzählungen nach, ein bisschen durcheinander mit den Zuständigkeiten. Irgendwann war es dann aber ziemlich gesetzt, dass jede Person ihre Aufgabe hatte. Ja, mir ging es z. B. bei diesem Dreh in Ulm so. Da habe ich vormittags Kamera gemacht, dann kam Thomas Wilke, und ich habe Ton gemacht. Und dann kam

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Michael Kurz, und er hat Ton gemacht, denn es war eigentlich immer klar, dass Thomas Wilke Kamera und Michael Kurz Ton macht. Wie hat sich dann über die Jahre dein eigenes Interesse für die Oper entwickelt? Die Oper hat mich schon auch immer mehr interessiert, wobei ich nie ein großer Fan geworden bin. Mich hat diese Verbindung zwischen Bild und Klang interessiert, dass man Dinge anders hört, wenn man sie anders sieht, und anders sieht, je nachdem wie man sie hört. Und die Verbindung, dieser Synergieeffekt der Oper, hat mir gefallen. Man wird mit der Zeit natürlich ein bisschen anspruchsvoller und merkt, dass es gewaltige Unterschiede gibt, sowohl in der musikalischen Darbietung als auch in der Inszenierung. Das hat mir schon Spaß gemacht. An einige Interviews mit Regisseur_innen erinnere ich mich wahnsinnig gerne, z. B. an die mit Hans Neuenfels. [Alexander Weils Frau, Bianca, kommt zum Gespräch dazu. Er erzählt, dass sie sich bei der Arbeit für Kluge kennengelernt haben. Bianca ist Dolmetscherin (Deutsch-Englisch, Englisch-Deutsch) und war damit auch immer Teil des Geschehens.] Also ihr habt gleich von Anfang an zusammengearbeitet? B: Ich glaube, wir arbeiten seit zwanzig Jahren zusammen. Über eine Ansprechpartnerin von Herrn Kluge in Berlin, die Dolmetscher_innen organisiert hat, wurden wir zusammen zum Architekturkongress gebracht. Er wollte interviewen und ich sollte dolmetschen. A: Wenn ich dann eine_n Dolmetscher_in gebraucht habe, auch für andere Sprachen, habe ich sie immer angerufen und gefragt, ob sie jemanden kennt. Dann haben wir auch immer wieder miteinander gearbeitet und so haben wir uns kennengelernt. Das spielt sich natürlich auch ganz anders ein, wenn man miteinander vertraut ist. B: Das kommt darauf an, manchmal ist es gut und manchmal ist es gar nicht so gut. Wird man dann erklärend oder vorwegnehmend in der Situation?

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B: Ja, das darf man eben nicht. Man muss immer versuchen, so neutral zu sein, wie es nur geht. Aber auch so empathisch wie der Redner. Übersetzt man ein Gespräch mit Kluge anders, als man normalerweise übersetzen würde? B: Das weiß ich jetzt nicht genau, weil ich nicht so viel mit Herrn Kluge gearbeitet habe, sondern mit Alexander. Aber dieses Sätze-fertig-Machen oder Sätze-nichtfertig-Machen, das ist so ein Ding. Wenn man dolmetscht, möchte man immer, dass die Zuhörer_innen einen fertigen Satz bekommen. Und wenn man ihn selber nicht kriegt, ist man frustriert oder überlegt sich, was mache ich jetzt? Und dann ist das manchmal ein Gefecht, ob man sich jetzt so oder so entscheidet. Wenn es keinen Sinn ergibt ohne einen fertigen Satz, dann stellt man ihn fertig. Bei Kluge kommt es ja auch vor, dass er in ganz seriösen Gesprächen – also nicht in den dafür vorgesehenen Facts & Fakes-Dialogen, wie etwa mit Peter Berling oder Helge Schneider – plötzlich anfängt zu fiktionalisieren. Da wechselt er abrupt die Perspektive, und man sieht das manchmal an den Reaktionen seines Gegenübers, dass die Person plötzlich völlig auf dem Schlauch steht. Da provoziert er genau diese Momente, in denen der Gesprächsfluss auch mal implodiert, und dann sucht man nach irgendwelchen Lösungen. Ist das etwas, das ihr in eurer Arbeit auch gemacht habt? A: In dieser Form nicht. Ich glaube, dass ich Fragen ganz anders stelle als Kluge, also völlig anders. Ich habe auch nie versucht, das zu imitieren, denn das geht sowieso nicht. Das ist eine völlig andere Vorgehensweise. Mich hat das immer schwer beeindruckt oder es beeindruckt mich immer noch, wie er Interviews führt. Bei mir ist es – und das meine ich nicht wertend – sachlicher, also nicht so assoziativ wie bei Kluge. Das liegt ganz einfach auch daran, dass er so viel weiß. Ich kann da nicht so springen. Ich tue das natürlich in gewisser Weise bei Themen, mit denen ich mich auskenne, aber es ist ganz anders. Man kann diese spontane Gesprächsführung eigentlich nur auf Basis der eigenen Erfahrungen machen. Das ist etwas, das man nicht nachahmen kann. A: Das kann man in dem Sinn auch nicht als Technik lernen. Das ist eigentlich keine Technik. Was ich immer interessant fand, war der Plural in der Bezeichnung »Fernsehen der Autoren«, wie Kluge seine TV-Arbeit im Anschluss an das »Kino der Autoren« ja gelabelt hat. Diese Selbstzurücknahme adressiert ja ein nicht näher bestimmtes

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Kollektiv, zu dem sicher die Mitarbeiter_innen und Gesprächspartner_innen gehören, aber auch – quasi in rezeptionsästhetischer Perspektive – das Kollektiv der Zuschauer_innen. Gleichzeitig trägt jede Sendung Kluges Handschrift. A: Es standen ja eigentlich weder die Namen von Mitarbeiter_innen noch Kluges Name irgendwo. Dass es von Kluge war, wussten die Leute, die es interessiert hat. Wenn jemand zufällig eingeschaltet hat, dann nicht. Es hat mich ein bisschen an die Vorgehensweise beim Spiegel vor dem Tod von Rudolf Augstein erinnert. Da standen auch nie die Namen unter den Artikeln. Das hatte einen kollektivistischen Anschein, dass man glauben sollte, durfte, konnte, das hat das Kollektiv geschrieben und nicht ein oder zwei Autor_innen. Das ist mir sofort aufgefallen, als ich mitgekriegt habe, wie das bei Kluge läuft. Ich dachte wirklich, dass er sich das von Augstein abgeguckt hat. Über die Analogie habe ich nie nachgedacht, aber das macht tatsächlich Sinn. Als wäre der Spiegel ein_e Autor_in. Auch von der Diktion her, die Artikel waren ja alle ähnlich. A: Die hatten alle einen ähnlichen Klang, diesen leicht ironischen Unterton. Vielleicht kommen wir noch einmal zurück zur Produktionsweise. Wie hast du z. B. konkret eine Sendung oder ein Interview vorbereitet? A: Ich rede jetzt mal von den Naturwissenschaften oder anderen Sachthemen. Da war es eigentlich immer so, dass ich versucht habe herauszufinden, was mich interessiert, z. B. eben bei den Blindenhunden. Da interessierte mich, wie Menschen Hindernisse aus dem Raum des Menschen in den Raum des Hundes projizieren. Das war für mich eine wichtige Frage. Emotionale Sachen habe ich nie direkt angesprochen, aber natürlich war für mich das Thema Konditionierung bei den Blindenhunden extrem präsent. Die Orte, an denen diese Hunde ausgebildet wurden, hießen ja auch Schulen. Das war unterschwellig da. Ein Thema, zu dem ich immer noch viel mache, ist die Gravitationsforschung. 2005 war das Einstein-Jubiläum, 100 Jahre spezielle Relativitätstheorie. Da dachte ich, da musst du jetzt mal was machen! Das war wahrscheinlich das, wo ich mich am längsten vorbereitet habe, weil ich überhaupt erst ein Buch finden musste, das ich einigermaßen verstehen konnte. Das habe ich dann allerdings immer wieder gemacht und da bin ich jetzt relativ gut drin. Da müsste ich mich nicht einmal mehr vorbereiten, um ein Gespräch zu führen. Sonst habe ich immer versucht, irgendeinen besonderen Aspekt zu finden. Ich habe einmal etwas über Frösche gemacht und jemanden gefunden, der sich mit dem Quaken befasst. Ich wollte diese akustische Seite ins Fernsehen bringen, dass man nicht das Visuelle so stark

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betont, sondern die Akustik. Auch bei den Opern habe ich irgendwann versucht, etwas sehr Spezielles zu finden, das mich besonders interessiert, und das dann in den Mittelpunkt gestellt. Das kam auch Kluge immer sehr gelegen. Er hat das »monografisches Arbeiten« genannt, also zu einem ganz bestimmten Aspekt zu arbeiten. Das trifft auch auf die Gespräche mit den Blitzleuten zu, weil es mich wirklich interessiert hat, mit Leuten zu reden, die einen Blitzschlag überlebt haben, um zu erfahren, wie sich das anfühlt. Das ist im Grund ja auch das, was Kluge an den Gesprächspartner_innen interessiert, wenn er Interviews führt: die libidinösen Antriebe, wenn sich jemand mit Themen wie Astrophysik beschäftigt. Das ist dann auch sehr konsequent, wenn jemand in die Rolle des Fragenstellers gerät, dass dann auch dieses Eigeninteresse den Ton angibt. A: Wenn man ein Interview über Gravitationswellen macht, werden die Zuschauer_innen hinterher ja auch nicht wesentlich mehr wissen als vorher. Die Information vergisst man wahnsinnig schnell, weil im Fernsehen alles so flüchtig ist. Aber was sie sich natürlich merken, das sind die Dinge, auf die man vielleicht gar nicht so geachtet hat: wie der Mensch spricht oder seine sinnlichen Eindrücke wiedergibt, so dass man plötzlich ein Bild von einer Person hat, ein ganz persönliches Bild, ohne dass diese überhaupt etwas Persönliches zur Sprache gebracht hat. Deshalb bin ich immer sehr, wie soll ich sagen, gelangweilt oder enttäuscht, wenn mir jemand sagt, du musst unbedingt auch persönliche Dinge fragen. Weil ich mir dann denke, das interessiert mich ja nicht. Ich will ja nicht wissen, ob jemand glücklich verheiratet ist oder nicht, oder Kinder hat oder nicht, sondern ich will den spezifischen Blick auf das erleben, wofür sich jemand interessiert. Das Persönliche steckt in dem Verhältnis. A: Im Verhältnis, genau. Und das hat mir bei Kluge eigentlich gleich eingeleuchtet. Bevor ich begonnen habe für Kluge zu arbeiten, habe ich eine Sendung gesehen, in der er ein Interview mit einem Rechtsprofessor darüber geführt hat, ob man im Lateinischen »C« als »C« und »K« als »K« ausgesprochen hat. Das ging eine Viertelstunde lang und ich saß vor dem Fernseher und habe mich so amüsiert, ohne dass es irgendwie blöd war. Das werde ich nie vergessen. Was er zivilrechtlich drauf hat, könnte ich nicht sagen. Aber er war mir unglaublich sympathisch, wie er darüber gesprochen hat. Nochmal zurück zu den tatsächlichen Produktionsabläufen. Waren die immer gleich, oder wie würdest du sie beschreiben?

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A: Im Prinzip, ja. Bei den Naturwissenschaftler_innen war klar, man trifft sich, baut auf, dann kommen die Gesprächspartner_innen und dann dauert das Interview eine Dreiviertelstunde. Ich habe immer ungefähr eine Viertelstunde oder zehn Minuten Puffer gelassen. Manchmal war vorher schon klar, dass das keine Dreiviertelstunde wird mit dem Menschen, sondern eine Sendung von 15 Minuten, dann hatten wir 20 oder 25 Minuten Interview. Und meistens hat man geschaut, dass man mehrere Interviews an einem Tag machen kann – sowohl aus Produktionskostengründen, also weil das Team da ist, aber auch, weil man sonst ein bisschen unbefriedigt ist, wenn man das Gefühl hat, man könnte eigentlich noch mehr machen und jetzt muss man schon wieder gehen. Es gab schon auch obere Limits, gerade an Opernhäusern. Wenn man eine Drei- oder Vier-StundenOper hatte und dann noch Interviews und dann noch Klavierspieler_innen und so, dann wurde das manchmal schon anstrengend. Wurde das Material dann auch sehr zeitnah bearbeitet? A: Das Material ging direkt an Kluge und wurde relativ zeitnah bearbeitet, genau. Und es wurde wenig hinterher drüber gesprochen. Ab und zu hat er mich mal gefragt, ob ich ihm eine Stelle sagen kann, von der ich finde, dass sie interessant ist. Ganz selten habe ich ihn angerufen und gesagt, diese oder jene Stelle soll er sich doch bitte genauer anschauen. Die Kommunikation lief wirklich über das Material. Deshalb kennt er mich wahrscheinlich ganz gut, weil er wahnsinnig viele Stunden Interviews von mir gesehen hat. Ich habe mir die Sendungen eigentlich auch alle angeschaut. Früher habe ich sie mit dem Video-Rekorder aufgenommen, wenn ich sie nicht sehen konnte, und später mit anderen Aufzeichnungsmöglichkeiten. Ich habe also von Anfang an immer alles gesehen, nicht nur das, wo ich mitgewirkt habe. Das war dann gewissermaßen die Kommunikation, rein über das Material, weniger über Telefonate oder so. Weißt du etwas darüber, wie das im Studio bei Arri aussah? Hat Kluge jede Schnittanweisung gegeben oder war das relativ autonom? Haben die Forstners, oder wer auch immer dort war, für den Schnitt gesorgt? A: Beim richtigen Schnittablauf war ich nie dabei. Ich denke aber, dass das so eine Mischung war. Also, dass man das Material nochmal spontan als etwas Neues begreift. So, wie man auch den Dreh als etwas Neues begreift, im Vergleich zur Vorbereitung. Man macht also alles so gewissenhaft wie möglich, aber man vergisst dann auch wieder, was man sich eigentlich vorgenommen hat. Wie verlief dann die Kommunikation, wenn Kluge im Studio war? Das war ja immer donnerstags und freitags, oder?

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A: Ja und am Wochenende! Im Büro war er immer Montag und Dienstag und manchmal noch Mittwochvormittag. Und dann ging es eigentlich los, Mittwochnachmittag, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag. Sonntag hat er oft meine Sachen geschnitten und Sonntagnachmittag kamen dann oft die Anrufe, wie heißt die Sängerin, die von links nach rechts über die Bühne lief ? Aber die Oper hatte ich vor einem Vierteljahr gedreht und wusste schon gar nicht mehr, wie sie hieß. Dann musste ich die Namen rausfinden, am Sonntagnachmittag, als niemand zu erreichen war … Das waren dann schon so Spezialaufträge … Das heißt, er war Montag und Dienstag im Büro, mittwochmorgens manchmal auch, und Mittwochnachmittag ging es in den Schneideraum. Zumindest, als es noch richtig viele Sendungen gab. In letzter Zeit war das nicht mehr so. Ja, das ging ganz langsam, wie ein Fade-out. Erst gab es nur noch zwei, dann nur mehr eine Sendung und dann war absehbar, dass es ein Ende nehmen würde. Aber die Produktion hat auch auf gewisse Weise den Ort gewechselt, in die Ausstellungen. Letztes Jahr liefen drei parallel, es war viel los. Und es wird vermutlich noch weitergehen in diesem Bereich. Die Kooperation mit Künstlern wie Richter und Baselitz war ja auch schon ein Indiz in diese Richtung. Und in den Ausstellungen sind natürlich die Fernsehmagazine viel prominenter vertreten als die Kinofilme. Insofern findet deine Arbeit jetzt dort gewissermaßen einen weiteren Abspielort. A: Wobei ich das gar nicht mehr als meine Arbeit sehe, gerade in den Ausstellungen. Das ist schon so weit weg. Da sind ja auch die Interviews nicht mehr so wichtig. Da geht es eigentlich mehr um eine Szene, um den Inhalt und um die Verknüpfung dieses Inhalts mit anderen Themen. Wenn Du aber die Sendung im Fernsehen gesehen hast, dann war das Deine Sendung? A: Je nachdem, es gab solche und solche. Es gab Interviews, wo ich gedacht habe, ja, das war jetzt mein Interview. Und es gab Interviews oder Sendungen wo ich dachte, na gut, da ist jetzt nicht mehr viel von dem übrig geblieben, was ich mal gemacht habe. Kann man festmachen, woran das gelegen hat? A: Das kann man schon festmachen, weil ich noch weiß, was mein ursprüngliches Interesse war und wie es sich in den Interviews niederschlug. Und entweder hat Kluge dieses Interesse aufgegriffen oder er hat es eben nicht aufgegriffen und etwas ganz anderes daraus gemacht. Manchmal wurde es sozusagen antithetisch,

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was dann wieder interessant sein konnte. Aber das war ja dann nochmal eine zusätzliche Arbeit, das war eher selten. Am Anfang war die Kommunikation über das Material intensiver, da war ich dann wirklich überrascht, was er daraus gemacht hat. Gerade, wenn ein Interview nicht so gut war und ich es dann gesehen habe und dachte, da hat er jetzt aber echt noch etwas rausgeholt. Und umgekehrt, wo ich dachte, warum hat er das jetzt so geschnitten? Ich nannte das dann die Bonsai-Technik, wenn er den Baum sozusagen herunterschrumpft auf so ein kleines Bäumchen, dann dachte ich mir, jetzt ist ein kleines Pflänzchen draus geworden. Man kann gespannt sein, wie das nun weitergeht. Es gibt auf jeden Fall auch ein Bedauern darüber, dass dctp in dieser Form nicht mehr existiert. Es hat sicher immer wieder Leute gegeben, die Interesse daran hatten, das – vielleicht auch als Kollektiv – weiterzuführen. Aber es ist doch nur schwer vorstellbar, denn Kluge hat ja nicht nur wöchentlich Inhalte geliefert, sondern das ganze Projekt immer wieder auch juristisch abgesichert. Die Lizenzen mussten ja regelmäßig verlängert werden. A: Ich glaube, alle sieben Jahre. Da die Ausschreibungen aber zeitversetzt waren, also bei RTL und SAT.1, passierte das praktisch alle drei Jahre. Das musste durch die Landesmedienanstalt abgesegnet werden, und es gab dann auch wirklich heftigen Widerstand. Ich glaube, die wichtigste Maßnahme war, dass er Spiegel und Stern, NZZ und Süddeutsche sozusagen als Flaggschiffe oder Flugzeugträger dabei hatte und mit seinem Kanonenboot dazwischen rumfahren konnte. Das war der cleverste Schachzug, weil er damit natürlich eine Riesenöffentlichkeit hatte.

Alexander Weil

Warten auf Hans Neuenfels

Das Interview war auf 17 Uhr 30 angesetzt. Aber ich wusste, dass er da nicht kommen würde. Dann die Absage. Nach der Generalprobe ist es auch besser, dachte ich. Nein, nein. Nach der Generalprobe gibt er auch keine Interviews; heißt es. Doch, doch. Da war ich mir auch wieder sicher. Und jetzt war es kurz vor Mitternacht. Vor zwei Stunden war die Generalprobe zu Don Giovanni über die Bühne gegangen. Der Generalmusikdirektor der Staatsoper Stuttgart, Lothar Zagrosek, hatte die musikalische Leitung; Intendant Klaus Zehelein besorgte die Dramaturgie und Hans Neuenfels führte Regie. Herr Zagrosek hatte die Mitglieder seines Orchesters anders gruppiert als sonst. Ich merkte es an der 1. Geige. Die sitzt sonst links vorne. Jetzt sitzt sie rechts und ein wenig zur Rückwand des Orchestergrabens hin orientiert. Etliche Musiker sind nicht dort, wo ich gewohnt bin, sie zu sehen. Ich kann mir die Gründe dafür nicht erklären. Das Bühnenbild deutet eine Stierkampfarena an. Der Orchestergraben ist weiter als sonst hochgefahren. Etwas in der Hierarchie des gesamten musikalischen Apparats ist offensichtlich verändert worden. Sichtbar verändert worden. Aber was genau? Und warum? Es bringt nichts, jetzt darüber nachzudenken, denke ich. Du hattest zehn Jahre Zeit, darüber nachzudenken. Erinnern wir uns also stattdessen lieber an einen grausamen Stierkampf. Vor fünfzehn Jahren in der Arena einer andalusischen Provinzstadt. Der Kapellmeister steht mit dem Rücken zur Arena. Der Stier will nicht sterben. Der Torero setzt mehrere Male zum Todesstoß an und sticht unter den höhnischen Rufen des Publikums ohne sichtbare Wirkung zu. Ein furchtbares Gemetzel kommt in Gang. Der Kapellmeister dirigiert auf Teufel komm’ raus. Seinen Bläsern bleibt einem nach dem anderen die Spucke weg. Während er sie wildfuchtelnd anfeuert weiterzuspielen, dreht er sich immer wieder nach der Arena um. Ein Picador auf seinem Klepper reitet ein und schraubt die Lanze in den Rücken des Stiers. Der geht in die Knie und bricht in der Kakophonie endlich tot zusammen. Die Oper ins Jenseits befördern. Darum geht es. So einfach ist das. Warum begreife ich das erst jetzt? Weil ich nie wirklich Opernliebhaber geworden bin? Von den etwa achtzig Opern, die ich gesehen habe, habe ich bei sechs etwas für

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mich Entscheidendes über das Hören gelernt, etwas, das mir so wichtig wurde, dass ich mir nicht mehr vorstellen kann, wie und was ich ohne diese Erfahrung heute überhaupt hören würde. Drei dieser Opern sind Inszenierungen von Hans Neuenfels. Mozarts Entführung aus dem Serail an der Staatsoper Stuttgart. Verdis Nabucco an der Deutschen Oper Berlin. Und jetzt Don Giovanni. In der Entführung, einem Singspiel, hatte er die Rollen doppelt besetzt. Mit Schauspielerinnen, die die Texte sprechen und nie singen; und mit Sängerinnen, die nur manchmal sprechen. Da begann ich zu begreifen, dass jede Oper die Frage nach dem Sinn des Singens aufwirft. Das ergab sich aus dem greifbaren Wechsel der Sprache in den Gesang und umgekehrt. Oder, wie er es formulierte, »aus der Untersuchung des Wechsels von Sprache in Gesang und umgekehrt.« Bei Nabucco habe ich gelernt, dass ich Chöre musikalisch nicht einfach dem Orchester zuordnen darf; was ich wegen der vergleichbaren Fülle des Klangs aber gerne tue. Dass ich Chöre, um ihre Funktion innerhalb einer Oper zu verstehen, noch mehr als jedes andere musikalische Element der Oper gegen meine Intuition hören muss. Mehr Abhören. Weniger Zuhören. Jetzt, während ich warte, beginne ich zu begreifen, dass es eine Anhäufung willentlich und unwillkürlich herbeigeführter Momente ist, von denen abhängt, ob eine Aufführung den Lebensnerv der Oper trifft. Und dass davon im Gesang der Oper die Rede ist. Und zwar schon lange bevor das Textbuch vom Tod spricht und manchmal noch lange danach. »Das kommt davon, wenn man die Frauen betrügt und die Toten verhöhnt. Jetzt schmorst du in der Hölle, Don Giovanni!«, geht es mir durch den Kopf. Ich werde albern. Ist aber auch schon spät. Wo bleibt Herr Neuenfels nur? Ich werfe einen Blick ins Parkett. Beleuchtungsdoubles gähnen im Scheinwerferlicht, schleppen sich nach seinen Anweisungen über die Bühne. Ich muss kurz hoch zum Team! Das wartet! Schnell hoch zum Team. Schnell! »Und? Kommt er?« Kameramann Thomas Wilke und Tonmann Michael Kurz haben im ersten Rang des Foyers den Drehort vorbereitet. »Ja. Er kommt. Ich weiß nur nicht wann.« Ich schaue auf den Monitor. Zu sehen ist das breitgeschwungene Foyer mit den Säulen und den schweren Kronleuchtern. Im Vordergrund zwei leere Stühle. Davor, auf Stativen, zwei Mikrophone. Warum ist es auf einmal so still im Haus? Schnell wieder runter! Schnell! Bevor er mir entwischt! Er ist mir entwischt! Mitternacht. Die Stunde der Gewerkschaft. Ab in die Kantine. Vielleicht ist er ja dort. Ja. Da ist er. Zum Glück. »Herr Neuenfels, mein Name ist…« »Ich weiß.« »Könnten wir jetzt vielleicht das Interview machen?«, will ich fragen. »Geh’n wir hoch.«, kommt er mir zuvor.

Warten auf Hans Neuenfels

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»Ja, geh’n wir hoch«, plappere ich nach, gehe voraus und dann wieder hinterher. Die Dramaturgin Yvonne Gehbauer begleitet uns. Das letzte Mal, anlässlich Nabucco, hatte er das Interview unterbrochen. »Sie bringen mich auf den falschen Weg mit Ihren Fragen! Oder sehe ich das falsch?«, er sah zu Yvonne Gehbauer, die außerhalb des Bildes zu unseren Füssen saß. »Dann frag ich jetzt was anderes.«, sagte ich. Das war mir eine Lehre. Diesmal gibt es keine Unterbrechung. Nur einmal ist ein kurzes Rascheln aus ihrer Richtung zu hören. Und ich sage mir: aufgepasst! Missklang kündigt sich an! Überschwang! Hoffentlich komm’ ich wieder ins rechte Fahrwasser. Das erste Mal wartete ich im Frühsommer 1998. Er begrüßte uns mit den Worten: »Nur mal, um das Team kennen zu lernen.« Dann nahm er Platz. Bei Nabucco sagte er: »Das wird sowieso nichts!« Diesmal, nachdem er sich gesetzt hatte, zündete er eine Zigarette an. Ein Luftzug trug den Rauch in Richtung Kamera. Ein schmales weißes Band lag in der Luft. Ich sah es mir an. »Daran entlang fragen!«, nahm ich mir vor. Er schaute mich an und ich begann. Eineinhalb Jahre nach der Entführung gehe ich spät nachts über den Hof der Stuttgarter Oper. Aus einer Türe heraus höre ich: »Guten Abend!« Da steht er. Mit Sonnenbrille. In nahezu völliger Dunkelheit. Hat er etwa Katzenaugen? »Hat Ihnen die Sendung zur Entführung gefallen?«, frage ich ihn. »Ja. Gut.« »Inszenieren Sie hier etwas?«, frage ich. »Nein.« »Warum sind Sie dann hier?«, will ich fragen. Tu es aber nicht. »Wiederaufnahme. Entführung.«, sagt er. »Ach, so. Ja. Dann noch einen schönen Abend.« »Ihnen auch.« Ich sitze mit baumelnden Beinen auf der Garderobentheke und wippe mit den Füßen. So, wie ich mich jetzt dasitzen sehe, könnte es beinahe den Anschein haben, ich hätte Lust zu warten; kurz vor Mitternacht. Als sei ich mir sicher, dass aus dem Interview noch etwas wird. ›nachtarbeit ist arbeit in der nacht!‹ Mein Lieblingstitel auf ›die kleinen und die bösen‹. 1980. ›Deutsch-AmerikanischeFreundschaft‹. Jetzt also Oper. »Mein Lohn. Mein Lohn. Mein Lohn!«, sagt Sganarell (Leporello) zum Tod von Molières Don Juan. »Weh!!«, sagt Leporello zu Mozarts / Da Pontes Tod des Don Giovanni. »Bringt mich heil hinaus ins Freie.«, sagt Catalinón (Leporello) zu Tirso de Molinas Tod des Don Juan. »Ich muss verbrennen!«, sagt Leporello zu Christian Grabbes Tod des Don Juan. »Und mein Lohn? Mein Lohn?«, sagt Leporello zum Verschwinden von Max Frischs Don Juan. Es macht keinen Spaß zu warten. Aber Litaneien verkürzen die Zeit.

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Hauptprobe. »Süße, sing doch bitte aus! Du weißt schon. Wegen der Gefühle.«, ruft Hans Neuenfels seinem Don Giovanni mitten in die Arie hinein zu. Und der antwortet mit einer kurzen Bewegung. Ein angedeuteter Schnitt durch die Kehle. Die Stimme von Hans Rosen ist fast ganz weg. Generalprobe. »Es ist eine Generalprobe. Aber es ist eine Probe!«, schärft der Intendant dem Publikum ein. »Es ist eine Probe. Das heißt, es kann auch heute noch zu Unterbrechungen kommen. Das ist keine Aufführung!« Das ist keine Übung. Das ist keine Übung. Das ist eine Probe. Beifall. Aushusten. Geraschel. Lothar Zagrosek betritt den Orchestergraben. Beifall. Er streift die Armbanduhr ab. Legt sie zu seinen Füßen aufs Podest. Hält den Dirigentenstab in die Luft. Legt einen Finger auf die Lippen. Stille. Mozart erklingt. Warten auf die ersten Bilder. Was passiert während der Ouvertüre auf der Bühne? Nichts. Auch gut. Wird schon noch was passieren. Auftritt Leporello. Wie sieht denn der aus! Mit Schamkapsel. Na, also bitte. Das kann ja heiter werden. Donna Anna. Donna Elvira. Die gute Zerlina. Da sind sie alle. Die Frauen. Eine nach der anderen. Aber jetzt, wo kommt denn diese Arie der Donna Elvira her? Das ist doch die Prager Fassung, Herr Neuenfels, und nicht die Wiener? Oder bring ich da was durcheinander? Warum denn jetzt auf einmal eine Arie aus der Wiener Fassung? Was ist das für ein schöner Gesang! So habe ich das noch nie gehört. Noch nie gesehen. Was singt Frau Denoke denn da! Nach dieser Arie macht der Kameramann etwas, das er so noch nie getan hat. Er legt die Kassette aus, obwohl sie gerade mal halb voll ist, und der Tonmann flüstert: »Warum legst du die Kassette aus?« Der Kameramann sagt nichts. Vielleicht hat er die Kassette ausgelegt, weil er für fünf Minuten ausschließlich die Großaufnahme von Frau Denoke hielt, ihr Gesicht verfolgte, dabei gleichzeitig die Schärfe zog, er jetzt ganz einfach eine Pause braucht. Nur, warum legt er zuvor die Kassette aus? Oder will er diese Arie als eine Zäsur verstanden wissen? »Bekomme ich jetzt eine neue Kassette?«, fragt er, als würden wir Kassetten grundsätzlich nur zur Hälfte bespielen. Geräteverstauen im Auto. Verabschiedung vom Team. Ich biege in den Schlossgarten ein und laufe Elisabeth Trissenaar und Hans Neuenfels in die Arme. Hand in Hand sind sie unterwegs. Kurzes Winken. Nein! So geht das jetzt nicht. Kurzes Händeschütteln mit Frau Trissenaar. Jetzt aber nichts wie weg. Ich gehe durch den nächtlichen Schlossgarten und denke nach: Dass er den Leporello in das gleiche Kostüm gesteckt hat wie Don Giovanni soll ein Selbstzitat sein? Ein Hinweis auf die Verdoppelung der Figuren in seiner Entführung? Nie im Leben. Dieser Stuttgarter Don Giovanni ist ganz einfach ein Stierkämpfer. Und Hemingway sagt: »Der beste Stierkämpfer ist die Sonne, und ohne die Sonne ist der beste Stierkämpfer einfach nicht da. Er ist wie ein Mann ohne Schatten.« Wie ein Don Giovanni ohne Leporello. Ja. So einfach ist das. Das muss es sein.

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»Das Netz ist groß, die Fische sind klein«. Alexander Kluges frühe Kurzfilme, das »Prinzip Kürze« und Grundsätze eines filmtheoretischen (Anti-)Realismus an der Hochschule für Gestaltung Ulm

»Film ist keine Disziplin, die sich esoterisch mit ihren Problemen beschäftigt, sondern ein Instrument zur Analyse und Veränderung der Umwelt«,1 formuliert Otl Aicher, Mitbegründer der Hochschule für Gestaltung Ulm, in Rückschau auf die politische Ausrichtung der Lehre in den frühen Jahren der HfG – ein Hochschulprojekt, das in seiner pädagogischen und politischen Konzeption einmalig in der Geschichte der deutschen Nachkriegszeit war. Studierende, Lehrende und Gründer*innen knüpften Hoffnungen an eine demokratische, reformorientierte Hochschule, welche durch theoretische sowie künstlerische Auseinandersetzungen mit der jüngsten deutschen Geschichte am Projekt einer Überwindung des Faschismus mitwirken sollte. Die Hochschule für Gestaltung existierte zwar nur 15 Jahre lang, von 1953 bis 1968, doch trotz ihrer kurzen Geschichte galt sie als pädagogisch-künstlerischer Neubeginn in der BRD und hatte erheblichen Einfluss auf die Herausbildung der kulturellen Umbrüche, die sich in den späten 1960er Jahren vollziehen sollten.2 Die Gründung des Instituts für Filmgestaltung an der HfG 1962 ist insbesondere als Folge der Veröffentlichung des Oberhausener Manifestes im gleichen Jahr zu betrachten. Die HfG war damit die erste Ausbildungsstätte für Film in der Bundesrepublik Deutschland. Alexander Kluge spielte bei der Gründung des Instituts für Filmgestaltung eine entscheidende Rolle und wurde gleichzeitig mit Edgar Reitz zunächst Dozent und wenig später zeitweise Leiter des Instituts. Bis zum Antritt seiner Stelle in Ulm hatte Kluge selbst erst zwei Filme gedreht: Brutalität in Stein,3 in Zusammenarbeit mit Peter Schamoni, und Rennen,4 in Co-Regie mit Paul Kruntorad – beides Kurzfilme, welche eher experimentellen Charakter haben, dabei jedoch einige von Kluges später als typisch zu bezeichnenden ästhetischen Verfahren aufweisen. In Kluges umfassendem Werk – sei es in Film, Fernsehen oder seinen 1 Herbert Lindinger, Die Moral der Gegenstände, Berlin 1987, S. 125. 2 Vgl. Peter Schubert, »Wir wollen Filme machen wie Braun-Radio – Das Bauhaus, die HfG Ulm und der Film«, in: Maske und Kothurn Nr. 57, Wien 2011, S. 175–193, hier S. 180. 3 Brutalität in Stein, R: Alexander Kluge/Peter Schamoni, BRD 1960. 4 Rennen, R: Alexander Kluge/Paul Kruntorad, BRD 1961.

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zahlreichen Schriften – äußern sich Verfahren des Fragmentarischen, der Montage und einer konstellativen Erzählweise, sowie ein besonderes Interesse an Lebensläufen und Biografien in Situationen des Umbruchs.5 Ausgehend von Kluges Rolle als Leiter des Filminstituts der HfG behandelt dieser Text, in Auseinandersetzung mit den dort entstandenen Lehrkonzepten, Kluges Verständnis der Miniatur als ästhetisches Konzept und Erzählform. Die Ulmer Miniaturen – Kameraübungen, welche ursprünglich Edgar Reitz konzipierte – stellen dabei einen Ausgangspunkt für die nähere Beschäftigung mit Kluges frühen Kurzfilmen dar. Es soll gefragt werden, inwiefern die Lehrkonzepte der Miniatur Einfluss auf Kluges Kurzfilme ausübten und sich während der Ulmer Zeit ein filmtheoretisches wie politisches Begriffswerk, sowie ein (anti-)realistisches Verhältnis zum Dokumentarischen bei Kluge entwickelte, welches ebenfalls in den späteren TV-Produktionen, sowie in Kluges jüngsten Ausflügen in die bildende Kunst wiederzufinden ist.

Labor der Nachkriegsmoderne: die HfG Ulm und das Institut für Filmgestaltung Die Hochschule für Gestaltung wurde 1953 gegründet und war zunächst in den Räumen der Ulmer Volkshochschule angesiedelt. Der Gründungsrektor Max Bill – selbst vor dem Krieg am Bauhaus in Weimar aktiv gewesen – schlug nicht nur in der Gestaltung des Hochschulgebäudes am Ulmer Kuhberg einen Bogen zum Bauhaus, sondern sah auch inhaltlich ähnliche Reformkonzepte in beiden Schulen verwirklicht. Die Idee der HfG als »Wiederauferstehung und Fortsetzung«6 des Bauhaus war jedoch umstritten. Die HfG-Mitbegründer Otl Aicher und Inge Aicher-Scholl waren durch ihre politische und antifaschistische Ausrichtung nicht an einem neuen Bauhaus interessiert. Zu sehr war die Idee eines Wiederaufbaus mit dem sich im Vergessen übenden westdeutschen Zeitgeist der 1950er Jahre verbunden. Die Hochschule in Ulm sollte einen Neuanfang darstellen. »Es ging um eine Gegenkunst, um Zivilisationsarbeit, um Zivilisationskultur«,7 so Otl Aicher. Trotz dieser gesellschaftspolitischen Ausrichtung, aufgrund welcher es wiederholt zu Konflikten zwischen den Aichers, Max Bill und 5 Zu den Lebensläufen als Kluge’scher Gattung und zu Ähnlichkeiten des in Filmen wie Texten angewandten Montageprinzips siehe: Ludgera Vogt, »Der montierte Lebenslauf: Soziologische Reflexionen über den Zusammenhang von Kluges ›Lebensläufen‹ und der Form des Biographischen in der Moderne«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Schrift an der Wand – Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien, Osnabrück 2000, S. 139–153. 6 Schubert, »Wir wollen Filme machen wie Braun-Radio – Das Bauhaus, die HfG Ulm und der Film«, S. 175–193, hier S. 182. 7 Lindinger, Die Moral der Gegenstände, S. 125.

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der konservativen Stadtregierung in Ulm kam, kann man aus heutiger Sicht zumindest einen konzeptuellen Vergleich zum Bauhaus ziehen. Ausbildung und Lehre in gestalterischen Disziplinen sollten auf wissenschaftlicher Basis stehen. Theorie- und Praxislehrveranstaltungen wechselten einander ab, und das Lehrprogramm wurde durch zahlreiche Gastdozent*innen ergänzt.8 Gerade das innovative Programm der HfG stand in Widerspruch zum Provinzcharakter Ulms und bildete die Grundlage für Konflikte, die letztlich 1968 zur Schließung der HfG führten.9 Die Gründung der Filmabteilung an der HfG im Wintersemester 1962/63 erscheint dahingehend umso erstaunlicher. Trotz der internen Grabenkämpfe um die Ausrichtung der Hochschule wurden Film und Fotografie seit 1955 in der Abteilung Visuelle Kommunikation gelehrt. Bis zur Berufung von Edgar Reitz und Alexander Kluge war der Schweizer Fotograf Christian Staub maßgeblich als Dozent für die Gestaltung der Film- und Fotolehre verantwortlich. Das gesellschaftspolitische und ästhetische Verständnis von Film und Fotografie war jedoch zunächst eher funktional und Film wurde als Mittel zur Dokumentation und Kommunikation verstanden.10 Die Bedeutung des Oberhausener Manifestes, welches am 28. Februar 1962 der krisengeschüttelten Filmindustrie in Deutschland ein Gegenprogramm zu Papas Kino in Aussicht stellte, bedeutete auch für die HfG Ulm einen Umbruch. Neben der ideologischen Abrechnung mit dem Wirtschaftswunderkino und der Forderung nach neuen Filmformen, ist das Manifest als wichtiger Ruf nach Institutionen und Strukturen zur Filmausbildung sowie Filmförderung zu verstehen, um neue Filmproduktionen einer jungen Generation von Filmemacher*innen in Deutschland zu ermöglichen.11 Alexander Kluge hatte maßgeblichen Einfluss auf die Formulierung des Oberhausener Manifests und übernahm als ausgebildeter Jurist und durch seine Kontakte zur Politik eine führende Rolle in der Umsetzung der Oberhausener Forderungen sowie der Gründung der Förderinstitution Kuratorium Junger Deutscher Film.12 Die Hochschulleitung in Ulm stand ebenfalls in Kontakt mit der Oberhausener Gruppe und es wurde ein gemeinsamer Studienplan für das zweite Studienjahr ›Visuelle Kommunikation – Sektor Film‹ erarbeitet, an dessen Abschluss der Ruf von Detten Schleiermacher, später Edgar Reitz und Alexander Kluge, als Lehrende stand. Die Idee, den Regisseur Fritz 8 Vgl. Schubert, »Wir wollen Filme machen wie Braun-Radio«, S. 175–193, hier S. 183. 9 Zu einer ausführlichen Geschichte der HfG Ulm und des Instituts für Filmgestaltung siehe: Daniela Sannwald, Von der Filmkrise zum Neuen Deutschen Film – Filmausbildung an der Hochschule für Gestaltung Ulm 1958–1968, Berlin 1997 und Klaus Eder/Günther Hörmann (Hg.), Anschauung und Begriff: Die Arbeiten des Instituts für Filmgestaltung Ulm 1962–1995, Frankfurt/M. 1995. 10 Vgl. Sannwald, Von der Filmkrise zum Neuen Deutschen Film, S. 69. 11 Siehe Oberhausener Manifest: Hans Helmut Prinzler/Eric Rentschler (Hg.), Augenzeugen – 100 Texte neuer deutscher Filmemacher, Frankfurt/M. 1988, S. 29ff. 12 Vgl. Schubert, »Wir wollen Filme machen wie Braun-Radio«, S. 175–193, hier S. 187.

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Lang als Leiter der Filmabteilung einzusetzen, zerschlug sich laut Kluge »aus dem Grund, daß Otl Aicher Fritz Lang nicht verstand; ihm war die gesamte Spielfilmrichtung suspekt.«13 Bis auf einige Äußerungen Kluges kann diese Anekdote jedoch nicht bestätigt werden.14 Im Studienjahr 1963/64 wurde Kluge Leiter der Abteilung und sorgte 1966 für deren Umbenennung in Institut für Filmgestaltung sowie für eine relative institutionelle Unabhängigkeit von der HfG.15 Hauptgründe für diesen Schritt waren die Ausweitung der Fördermöglichkeiten und eine Loslösung von internen Konflikten in der HfG, weswegen das Institut auch nach Schließung der Hochschule weiterbestehen konnte.

Lehre am Institut für Filmgestaltung: die Utopie Film Nicht nur durch Alexander Kluge, der sein juristisches Referendariat am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main absolviert hatte, war die Kritische Theorie auch in Ulm ein starker theoretischer Einfluss auf die Lehre. Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Thesen zur Kulturindustrie waren, trotz Adornos vielzitierter Ablehnung des Kinos, besonders in der deutschen Filmkrise für eine Negation von Papas Kino wichtig. Die Idee eines neuen deutschen Autorenfilms sollte Zuseher*innen aktivieren statt sie in »passiver Bereitschaft den Bilderfolgen«16 auszuliefern. Die von den Oberhausenern vertretene Idee der Filmemacher*innen als Autor*innen förderte die Übernahme theoretischer Überlegungen in die filmische Gestaltung. Theoriebildung wurde zu einem wichtigen Bestandteil der Lehre an der HfG. Kluge legte dabei besonderen Wert auf Interdisziplinarität. Die Studierenden sollten als Gesamtgestalter*innen der eigenen Arbeit eine Sensibilität gegenüber der Wirklichkeit herausbilden. Die klassische Arbeitsteilung des Zutatenfilms wurde abgelehnt, stattdessen wurden die Studierenden in allen Bereichen der Filmarbeit ausgebildet, von Regie über Kamera zu Schnitt.17 Ziel des von Kluge 1964 veröffentlichten Texts »Die Utopie Film«18 war es, die Kinogewohnheiten auch abseits eines Genredenkens hinter

13 Alexander Kluge, »Arbeit in Ulm«, in: Hans Helmut Prinzler/Eric Rentschler (Hg.), Augenzeugen – 100 Texte neuer deutscher Filmemacher, Frankfurt/M. 1988, S. 256–258, hier S. 256. 14 Vgl. Sannwald, Von der Filmkrise zum Neuen Deutschen Film, S. 82. 15 Vgl. Schubert, »Wir wollen Filme machen wie Braun-Radio«, S. 175–193, hier S. 188. 16 Sannwald, Von der Filmkrise zum Neuen Deutschen Film, S. 97. 17 Vgl. Alexander Kluge, »Die Utopie Film«, in: ders., In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod – Texte zu Kino, Film, Politik, hg. v. Christian Schulte, Berlin 1999, S. 42–56, hier S. 49. 18 Zusätzlich zu Kluges »Die Utopie Film« erschien 1963–65 auch der Text »Utopie Kino« von Edgar Reitz, in dem eine ähnliche Forderung nach einem Autor*innen-Konzept geäußert wird: »Utopien für das Kino waren in den ersten Jahren unser Lieblingsthema«, siehe: Edgar

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sich zu lassen und Filme »unabhängig vom jeweiligen augenblicklichen Zweck [zu] gestalten […]«.19 Der schon erwähnte Einfluss der Kritischen Theorie zeigt sich hier auch an Kluges Interesse gegenüber einer Überwindung der Kinogewohnheiten durch eine Negation der klassischen Filmlänge von 90 Minuten. Kluges Lob des Unabgeschlossenen in »Die Utopie Film« weist Verbindungen zu Adornos Text »Der Essay als Form« sowie seiner Aphorismen-Sammlung Minima Moralia auf. Für Adorno trägt der Essay »[…] dem Bewusstsein der Nichtidentität Rechnung, ohne es auch nur auszusprechen; radikal im Nichtradikalismus, in der Enthaltung von aller Reduktion auf ein Prinzip, im Akzentuieren des Partiellen gegenüber der Totale, im Stückhaften.«20 Adornos Verständnis des Essay als eine partielle Erzählform, die gerade durch die Zurückweisung der Reduktion auf ein Erzählprinzip ihre Radikalität gewinnt, entspricht Kluges Forderungen in »Die Utopie Film«. Wie sich später zeigen wird, besteht Kluges Filmtheorie eben nie aus nur einem, sondern aus mehreren Prinzipien, die die Zusammenhänge von Wirklichkeit und Erfahrung – einer experimentellen Versuchsanordnung gleich – untersuchen. Gerade durch die Verwendung von Episoden – oder, mit Adorno gesprochen, »im Stückhaften« der Erzählform – konnte in späteren Filmprojekten Kluges wie Deutschland im Herbst21 der illusionsstörende Bruch mit traditionellen Erzählformen vollzogen werden.22 Neben der geforderten formalen Erneuerung des Films war Kluges Einfluss auf die Lehre in Ulm, laut dem damaligen Studenten Peter Schubert, insbesondere durch eine politische Haltung geprägt. Film wurde in Ulm als Universalmittel verstanden, das eine kritische Auseinandersetzung mit der bundesrepublikanischen Gegenwart und der jüngsten deutschen Geschichte ermöglichen sollte.23 Retrospektiv unterteilt Kluge den Ausbildungsplan des Instituts für Filmgestaltung in drei Aspekte. Erster wichtiger Lehrinhalt war die Kritische Theorie, der zweite Bestandteil der Umgang mit Kamera und Montage, und der dritte Aspekt die inhaltliche Ausrichtung der Filme an literarischen Vorbildern sowie Neuer Musik.24 Die Lehre in Ulm wurde »von Leuten ausgedacht […], die

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Reitz, »Utopie Kino«, in: Edgar Reitz, Edgar Reitz – Zeitkino, hg. v. Christian Schulte, Berlin 2015, S. 42–58, hier S. 43. Alexander Kluge, »Die Utopie Film«, S. 42–56, hier S. 55. Theodor W. Adorno, »Der Essay als Form«, in: ders., Philosophie und Gesellschaft – Fünf Essays, Frankfurt/M. 2015, S. 5–32, hier S. 13. Deutschland im Herbst, R: Alexander Kluge/Volker Schlöndorff/Rainer Werner Fassbinder/ Alf Brustellin/Bernhard Sinkel/Katja Rupe/Hans Peter Cloos/Edgar Reitz/Maximiliane Mainka/Peter Schubert, BRD 1978. Vgl. Dieter Scheunemann, »Konstellationen. Ästhetische Innovation und politischen Haltung in Deutschland im Herbst«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Schrift an der Wand – Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien, Osnabrück 2000, S. 69–78, hier S. 71f. Vgl. Schubert, »Wir wollen Filme machen wie Braun-Radio«, S. 175–193, hier S. 189. Vgl. Klaus Eder/Alexander Kluge (Hg.), Ulmer Dramaturgien, Reibungsverluste, München 1980, S. 34f.

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selbst noch keine Spielfilme gemacht hatten, sondern nur Kurzfilme.«25 Dieses außerordentliche Interesse an kurzen Formen seitens Kluge und Reitz, sowie der notwendige Drang, sich von der bestehenden Filmproduktion in der BRD abzugrenzen und eine eigene neue Tradition des Filmemachens in Deutschland zu erschaffen, führte letztendlich zur Entwicklung des Lehrkonzeptes der Miniatur. Die in Ulm erprobte Beschäftigung mit dem Kurzen als »das natürliche Experimentierfeld für die Erneuerung im Film«,26 diente Kluge so als Grundlage für die spätere Formulierung des »Prinzip Kürze«.27 Erfahrbarer Moment und größerer Zusammenhang finden im Kurzfilm wie kleine Fische in einem Netz zueinander, so Kluge28 – ein Prinzip, dass sich auch in seinen späteren TV-Produktionen verstetigen wird.

Die Ulmer Miniaturen: das Prinzip Hoffnung Bei der filmischen Miniatur handelte es sich um die wohl wichtigste Errungenschaft des Instituts für Filmgestaltung: »Das Prinzip der Miniaturen war eine ästhetische Innovation, die von der Filmabteilung der HfG Ulm erarbeitet und perfektioniert wurde.«29 Unter der technischen Anleitung von Edgar Reitz wurden für die Studierenden des Instituts Kameraübungen konzipiert, in denen zunächst die Beherrschung der Filmtechnik der inhaltlichen Arbeit vorstand. Edgar Reitz entwickelte dafür die Terminologie der Parameter, die in den kurzen Filmübungen erprobt und variiert werden mussten. Diese Faktoren der Filmproduktion waren das gefilmte Motiv, die Kameraoperation, das Filmmaterial, die Drehzeit und der Ton. Das Verhältnis von verwendetem und gedrehtem Filmmaterial durfte die Ratio von 1:1,5 jedoch nicht überschreiten. Die technischen Übungen, wie Kameraschwenks, Zeitlupen-Versuche und Mehrfachbelichtungen, waren vorgegeben und sollten dann in kurze dramatische Einheiten – die Miniaturen – überführt werden.30 Eine ästhetische wie technische Herausforderung für die Studierenden, welche aber auch aus dem geringen Budget des Instituts für Filmmaterial und Equipment entstand. Das eigentlich Innova25 Kluge, »Arbeit in Ulm«, S. 256–258, hier S. 257. 26 Alexander Kluge, »Kurze Filme, Lange Filme – Ein Erfahrungsbericht«, in: Klaus Behnken (Hg.), kurz und klein. 50 Jahre Internationale Kurzfilmtage Oberhausen, Ostfildern-Ruit 2004, S. 169–180, hier S. 170. 27 Vgl. ebd., S. 169–180, hier S. 174. 28 Siehe Kluges Metapher zum »Prinzip Kürze«: »Das Geglückte aber hat zwei Aggregatzustände: Es findet zueinander im MOMENT oder IM GROSSEN ZUSAMMENHANG (sozusagen im Netz, bei extensiver Landwirtschaft). Dies spricht wiederum für das PRINZIP KÜRZE: Das Netz ist groß, die Fische sind klein«, ebd., S. 169–180, hier S. 177. 29 Schubert, »Wir wollen Filme machen wie Braun-Radio«, S. 175–193, hier S. 190. 30 Vgl. Sannwald, Von der Filmkrise zum Neuen Deutschen Film, S. 104.

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tive an der Miniatur war jedoch die niederschwellige filmische Form des Erprobens: die Produktion einer unabgeschlossenen Filmeinheit, welche zu einem späteren Zeitpunkt für einen längeren Film weiterverwendet werden konnte. Die Filmemacherin Ula Stöckl beschreibt dieses Miniaturdenken als »Prinzip Hoffnung«,31 das die Möglichkeit bot, durch die Unabgeschlossenheit Verfahren eines individuellen Ausdrucks auszutesten. 1980 bezeichnete Alexander Kluge in »Ein Hauptansatz des Ulmer Instituts«32 das Lehrkonzept als eine Übung, die fünf dramaturgischen Regeln folgte.33 Zunächst der »Dramaturgie der Kürze«34 – die Miniaturen sollten in einer klar vorgegebenen Zeit montagefähige Kurzschriften der Erfahrung darstellen. Die Fähigkeit zur freien Assoziation bei formaler Geschlossenheit der Miniatur erlaubt die Herstellung eines Zusammenhangs mit anderen Filmen. Dies bezeichnet Kluge als »Dramaturgie des Zusammenhangs«.35 Er betrachtet die Miniaturen immer in Flotten von mehreren einander ergänzenden Filmen, die einen Wirklichkeitsausschnitt aus verschiedenen Perspektiven konstruieren. Die Dramaturgie der »Mischform, Querschnittsmethode«36 ermöglicht wiederum die Verästelung verschiedener Filmformen, während die Dramaturgie »Fiktion, Dokumentation«37 eine Vermittlung zwischen Montage und ungekürzter Wiedergabe anstrebt. Die Dramaturgie »Einfachheit«38 zielt hingegen auf eine einfache und schnelle Produktionsweise. Ähnlich dieser Schematisierung von Erzählweisen kann man auch Edgar Reitz’ Begriff des »analytischen Films«39 als Konzeptualisierung eines Miniaturen-Denkens verstehen. Reitz versucht in Unterscheidung zu Spiel-, Dokumentar- und Experimentalfilm mit dem analytischen Film eine Gattung zu definieren, die in die »untrennbaren Zusammenhänge der Wirklichkeit«40 eindringt und das Vokabular des Kinos erweitert. Der analytische Film »[…] zerlegt […] die bestehende Welt in ihre Elemente […]«,41 und setzt diese durch Fantasie wieder neu zusammen. Der analytische Film

31 Ebd., S. 103. 32 Alexander Kluge, »Ein Hauptansatz des Ulmer Instituts«, in: Eder/Kluge (Hg.), Ulmer Dramaturgien, Reibungsverluste, S. 5–7, hier S. 5. 33 Ähnlich dazu Günter Hörmanns Beschreibung von fünf Typen von Miniaturen siehe: Eder/ Kluge (Hg.), Ulmer Dramaturgien, Reibungsverluste, S. 44. 34 Kluge, »Ein Hauptansatz des Ulmer Instituts«, S. 5–7, hier S. 5. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 5–7, hier S. 6. 37 Ebd., S. 5–7, hier S. 7. 38 Ebd. 39 Reitz, »Utopie Kino«, S. 42–58, hier S. 47. 40 Edgar Reitz, Liebe zum Kino. Utopien und Gedanken zum Autorenfilm 1962–1983, Köln 1984, S. 26. 41 Reitz, »Utopie Kino«, S. 42–58, hier S. 48.

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erwirkt so ein Engagement durch Verfahren des Bewusstmachens, des Sichtbarmachens und der Veränderung.42 Es wird deutlich, dass die Ulmer Miniaturen aus einer situationsbedingten materiellen Knappheit und einer zeitgeistbedingten formalen Experimentierfreudigkeit das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion im Film neu zu definieren versuchten. Die damalige HfG-Studentin und Filmemacherin Jeanine Meerapfel spricht diesbezüglich von einer Prägung durch Alexander Kluges zwischen Fiktion und Dokumentarischem oszillierende Erzählweise. »Dieser Versuch die Realität zu fiktionalisieren und die Fiktion dokumentarisch darzustellen, sind sicher Dinge, die wir bei ihm [Kluge] gesehen haben und die uns geprägt haben.«43 Dieses Verhältnis von Fiktion und Dokumentarischem äußert sich nicht nur in der Ulmer Lehre, sondern scheint ebenfalls früher Bestandteil seines Filmverständnisses zu sein: »Ich glaube nicht an einen Realismus, der irgendetwas abbildet. […] Diesen Realismus müssen wir versuchen zu überwinden, daß die Illusion, hier sei ein Abbild der Gesellschaft, gar nicht aufkommt.«44 Dieser Versuch einer Neudefinition eines filmischen Wirklichkeitsbegriffs lässt sich auch anhand der von Kluge 1983 formulierten Thesen zur Dokumentation veranschaulichen. Im Gegensatz zum Genre Dokumentarfilm gilt das »Prinzip Dokumentation«45 als gemeinsame Wurzel aller Filmgenres und bedeutet zunächst eine Sachlichkeit, die dennoch die Fähigkeit besitzt Geschichten zu erzählen. Das Erzählen nimmt in Kluges Filmtheorie eine entscheidende Rolle ein und zeugt darüber hinaus von Walter Benjamins Einfluss. In seinem kurzen Aphorismus »Kunst zu erzählen« stellt Benjamin die Information der Erzählung gegenüber. Während die Information nur im Augenblick ihrer Neuheit einen Wert erzielt, verausgabt sich die Erzählung nicht. Sie versammelt eine Kraft die auch »nach langer Zeit der Entfaltung fähig«46 ist. Auch in Kluges Utopie Film verbirgt sich ein erzählerisches Potential, das mehr ist als nur Information.47 Kluge ist auf der Suche nach einem Realismus der »die Wünsche von Menschen 42 Vgl. ebd. 43 »Absolventen der HfG im Gespräch: Lothar Spree und Jeanine Meerapfel (1992/93)«, in: Ulmer Dramaturgien – Film an der Hochschule für Gestaltung, R: Günther Hörmann/Günther Merkle, DVD, Fridolfing, Absolut Medien 2017, 10:40–11:00 min. 44 Alexander Kluge, »Tribüne des Jungen Deutschen Film – II. Alexander Kluge«, in: Filmkritik 9/66, S. 491. 45 Alexander Kluge, »Thesen 1–4«, in: Alexander Kluge, In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod – Texte zu Kino, Film, Politik, hg. v. Christian Schulte, Berlin 1999, S. 155– 163, hier S. 157f. 46 Walter Benjamin, »Kunst zu erzählen«, in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften I, hg. von Siegfried Unseld, Frankfurt/M. 1977, S. 314–315, hier S. 315. 47 Vgl. Alexander Kluge/Florian Rötzer, »Kino und Grabkammer – Gespräch mit Alexander Kluge«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Schrift an der Wand – Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien, Osnabrück 2000, S. 31–43, hier S. 36.

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ebenso ernst nimmt wie die Welt der Fakten.«48 Der Film ermöglicht es, sich im »[…] Widerspruch zwischen dem Antirealismus der Gefühle und dem Realismus weltlicher Tatsachen«49 zu bewegen. »Es ist in der Wirklichkeit ein Schatz versteckt«,50 so Kluge, und dieser Schatz kann durch die kurze Form, durch einen kurzen Zugriff auf die Wirklichkeit, mittels eines filmischen Moments freigelegt werden. Dem entsprechend kann in Kluges Filmtheorie von einem (Anti-)Realismus gesprochen werden, der zwischen Sinnlichkeit, Gefühlen und Wünschen, und der gelebten Wirklichkeit vermittelt.51 In Kluges »Prinzip Dokumentation« sowie in seinem »Prinzip Kürze« ist Film ein Mittel, um sich entlang einer (anti-)realistischen Haltung gegenüber der Wirklichkeit – im Zusammenführen fiktionaler und dokumentarischer Verfahren – die Welt zu erschließen. Diese filmtheoretische Konzeption Kluges ermöglicht wiederum einen Vergleich mit Siegfried Kracauers Vorstellung von Film als einem Messgerät für ein Denken des Unverwirklichten, insofern sich Film wie kein anderes Medium zur »[…] Sichtbarmachung des Imaginären«52 eigne.53 In seinem Text »Außerhalb der Universität« formuliert Kracauer, in Auseinandersetzung mit Kurd Laßwitz’ Märchen und einem Vortrag Albert Einsteins, den Begriff der Märchenvernunft. Kracauer sieht in den wissenschaftlichen Erläuterungen Einsteins gleichermaßen wie in Laßwitz’ fantastischen Erzählungen eine Abstraktion von der Wirklichkeit zwischen Rationalität und Einbildungskraft. Diese führe laut Kracauer dazu, dass selbst wenn sich in Laßwitz’ und Einsteins Ausführungen die Argumente der Märchenvernunft von der Wirklichkeit entfernt hätten, der Wirklichkeit nichts anderes übrigbliebe »[…] als ihr [der Märchenvernunft] Folge zu leisten.«54 Kracauer beschreibt so mit der Märchenvernunft einen Zusammenhang von Fabulation und Wirklichkeit im Erzählen, welcher der Ambiguität von Kluges (anti-)realistischer Haltung

48 Kluge, »Ein Hauptansatz des Ulmer Instituts«, S. 5–7, hier S. 7. 49 Ebd. 50 Alexander Kluge, »Begriff ohne Anschauung ist leer. Anschauung ohne Begriff ist blind«, in: Klaus Eder/Günther Hörmann (Hg.), Anschauung und Begriff: Die Arbeiten des Instituts für Filmgestaltung Ulm 1962–1995, Frankfurt/M. 1995, S. 7–14, hier S. 11. 51 Vgl. Valentin Mertes, »Sinnlichkeit als Methode – Alexander Kluges antirealistischer Realismus«, in: Elisabeth Büttner/Vrääth Öhner/Lena Stölzl (Hg.), Sichtbar machen – Politik des Dokumentarfilms, Berlin 2018, S. 144–155, hier S. 146f. 52 Siegfried Kracauer, Theorie des Films – Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1964, S. 122. 53 Vgl. Karin Harrasser, »Dokumente zu einer Kulturgeschichte der Saponier. Gegen den Tag mit Siegfried Kracauer«, in: Bernhard Groß/Vrääth Öhner/Drehli Robnik (Hg.), Film und Gesellschaft – Denken mit Siegfried Kracauer, Wien 2019, S. 23–32, hier S. 23ff. 54 Siegfried Kracauer, »Außerhalb der Universität«, in: ders., Werke in neun Bänden. Band 5.3: »Essays, Feuilletons, Rezensionen«, Frankfurt/M. 2011, S. 655–658, hier S. 657.

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zum Dokumentarischen im Film in Hinblick auf ein »Neudenken der Wirklichkeit«55 stark ähnelt. In Bezug auf dieses (anti-)realistische Verfahren lässt sich ebenfalls auf das sich durch Kluges Werk ziehende Verständnis von Film als ein Rohstoff 56 oder auch als eine Baustelle57 verweisen. Der Film ermöglicht demnach als Baustelle – oder Provisorium – eine Arbeit an der Wirklichkeit und der Geschichte.58 Die Ulmer Miniaturen folgen diesem Verständnis von filmischer Arbeit an der deutschen Geschichte. Daniela Sannwald teilt dabei die Miniaturen in drei Kategorien ein: Zunächst Filme, die sich mit einem bundesdeutschen Charakter zwischen Vergangenheitsverdrängung und Wirtschaftswunder beschäftigen; daneben Filme über bundesdeutsche Biografien, die Studien von deutschen Lebensläufen im Wechsel der politischen Systeme darstellen; und schließlich identifiziert Sannwald die Beschäftigung mit dem bundesdeutschen Alltag.59 Die unübersehbaren inhaltlichen Ähnlichkeiten zu Kluges aber auch zu Edgar Reitz’ frühen Filmen sind natürlich zunächst als zeitbedingt zu deuten. Gleichzeitig kann hier durchaus von einer Wirkung der beschriebenen Lehrkonzepte und der politischen Ausrichtung der HfG als »Labor der Nachkriegsmoderne«60 gesprochen werden. Der theoretische Einfluss Kluges und der technisch-konzeptuelle von Reitz sorgten dafür, dass sich aus der Strenge einer Übung eine innovative Form filmischer Gestaltung entwickelte, die sich in den Arbeiten der Studierenden, aber auch in Kluges Kurzfilmen – in ihrer Individualität, ihrer politischen Haltung und Hinwendung zur bundesrepublikanischen Wirklichkeit – äußert.

Kurz- und Minutenfilme: Gegenprodukte eines (Anti-)Realismus Vor diesem Hintergrund ist eine Betrachtung der frühen Kurzfilme Kluges in Auseinandersetzung mit den Lehrkonzepten an der HfG Ulm aufschlussreich und bietet ein weiterführendes Verständnis des »Prinzips Kürze«. Inwiefern stellte sich die von Kluge in den Ulmer Lehren antizipierte (anti-)realistische 55 Harrasser, »Dokumente zu einer Kulturgeschichte der Saponier. Gegen den Tag mit Siegfried Kracauer«, S. 23–32, hier S. 31. 56 Vgl. Eder/Kluge, Ulmer Dramaturgien. Reibungsverluste, S. 102. 57 Vgl. Eike-Friedrich Wenzel, »Baustelle Film – Kluges Realismuskonzept und seine Kurzfilme«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Schrift an der Wand – Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien, Osnabrück 2000, S. 103–118. 58 Vgl. Alexander Kluge, »Die schärfste Ideologie«, in: Alexander Kluge, In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod – Texte zu Kino, Film, Politik, hg. v. Christian Schulte, Berlin 1999, S. 127–134, hier S. 132. 59 Vgl. Sannwald, Von der Filmkrise zum Neuen Deutschen Film, S. 108ff. 60 Ebd., S. 201.

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Filmtheorie auch schon in seinen frühen Kurzfilmen dar, und was für ein Politikverständnis äußert sich hier? Kluges erster Film, Brutalität in Stein, erscheint 1961 und ist als eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit dem faschistischen Charakter nationalsozialistischer Architektur zu betrachten.61 Die Kamerafahrten über die Überwältigungsarchitektur des verlassenen Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg deuten eine Kontinuität zwischen der NS-Zeit und der BRD an. Durch seine »Dramaturgie des Zusammenhangs« deckt der Film das Hineinreichen materieller wie ideeller Spuren der NS-Zeit in der Gegenwart der Zuschauer*innen auf.62 Die versammelten Elemente von Architekturplänen, Skizzen und Führerbefehlen in Ton und Bild stellen eine Archäologie der deutschen Vergangenheit dar. Film ist hier auch als Materiallager der Geschichte zu verstehen, aus dem sich bedient wird, nicht um eine Wirklichkeit wiederzugeben, sondern um diese als die »geschichtliche Fiktion, die sie ist […] darzustellen.«63 Der mit Peter Kruntorad und Peter Berling realisierte Film Rennen beginnt hingegen mit einer Referenz an die Miniaturen des frühen Kinos. Wie Kluge immer wieder behaupten wird, liegt im frühen Kino die Ur-Form der Miniatur und des Kurzen. »Die Filmgeschichte kannte in ihren Anfängen […] nur kurze Längen«,64 da um die Jahrhundertwende nur wenige Meter Filmmaterial produziert werden konnte. Die frühen dokumentarischen Ansichten und Trick- und Zaubererfilme des Kinos der Attraktionen unterliegen einer Logik des Zusammensetzens, weswegen Kluge die kurzen Längen »[…] lebenslänglich interessieren.«65 Ihrem Prinzip entspricht auch die Bild- und Ton-Montage in Rennen. Polyrhythmische Trommeln begleiten die schnellen und dynamischen Schnitte eines Autorennens. Die lakonischen Formulierungen des vom deutschen Schauspieler Mario Adorf eingesprochenen Kommentars vermessen die Logik des Siegens, jener aberwitzigen Vorstellung des konkurrierenden Gegeneinander-Antretens, und sind dabei Spiegel der beschleunigten Wirtschaftswunderjahre: »Sieg und Sieger, Maschine und Politik sind in Harmonie«.66

61 Vgl. Christian Schulte, »Kritik und Kairos. Essayismus zwischen den Medien bei Alexander Kluge«, in: Hermann Blume/Elisabeth Großegger, et al. (Hg.) Inszenierung und Gedächtnis. Soziokulturelle und ästhetische Praxis, Bielefeld 2014, S. 243–260 und Eike-Friedrich Wenzel, »Baustelle Film – Kluges Realismuskonzept und seine Kurzfilme«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Schrift an der Wand – Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien, Osnabrück 2000, S. 103–118, hier S. 103. 62 Vgl. Sannwald, Von der Filmkrise zum Neuen Deutschen Film, S. 114. 63 Eder/Kluge (Hg.), Ulmer Dramaturgien, Reibungsverluste, S. 119. 64 Kluge, »Kurze Filme, Lange Filme – Ein Erfahrungsbericht«, S. 169–180, hier S. 171. 65 Ebd. 66 Rennen, R: Alexander Kluge/Peter Kruntorad, DVD, 9 min., Frankfurt/M.: Zweitausendeins 2008 (BRD 1961), 08:08–08:15 min.

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Das nüchtern kommentierte Gefälle zwischen Bild und Ton und dessen Effekt einer sich vor den Zuseher*innen entblößenden Wirklichkeit, kann man ebenso in dem mit seiner Schwester Alexandra Kluge produzierten Film Lehrer im Wandel67 entdecken. Das einer provinziellen Sporthallen-Schulfeier vorangestellte Sokrates-Zitat, »Kallias, wenn Deine Söhne Füllen oder Kälber wären, dann ließe sich gegen Lohn ein Wärter für sie finden. Es handelt sich aber um Menschen. Wen also gedenkst Du ihnen zum Erzieher zu geben?«,68 verstärkt nicht nur den bedrückenden Eindruck eines veralteten Verständnisses von Pädagogik, sondern spiegelt sich auch in der sich wiederholenden Bilderserie von Pädagogen, Philosophen, wie Politikern wider, welche »die traurige Geschichte des Lehrers im 19. Jahrhundert bezeugen«.69 Deutschland verlangt als ein Land, in dem die autoritäre Erziehung eine lange Tradition hat, nach einem Neubeginn. Interessant erscheinen erzählerisch insbesondere zwei Sequenzen gegen Ende des Films, die dem Reformpädagogen Adolf Reichwein, sowie der Geschichte des Assessors Friedrich Rühl, welche auch in Kluges Chronik der Gefühle unter dem Titel »Der Pädagoge von Klopau«70 nachzulesen ist, gewidmet sind.71 Die Erzählform des Lebenslaufs tritt hier erstmals bei Kluge im Film auf und wird sich im darauffolgenden Kurzfilm Porträt einer Bewährung72 noch konkretisieren. Der Film wurde 1964/65 von Kluge in Zusammenarbeit mit den Studierenden der HfG Günter Hörmann, Wilfried Reinke und Peter Schubert produziert und unterliegt am ehesten einem direkten Einfluss der Ulmer Dramaturgien. Die Erzählung über den Polizeibeamten Karl Müller-Seggeberg und dessen sich über fünf verschiedene deutsche politische Systeme hinweg ziehendes Selbstverständnis als Polizist könnte man als verlängerte Ulmer Miniatur bezeichnen. Der Filmkritiker Ulrich Gregor sieht im Hinblick auf Kluges späteres Werk zum ersten Mal die Spezifika des Kluge’schen Erzählstils vereint, »der CollagenCharakter von Bild und Ton, der Niederschlag gesellschaftlicher Deformation im Medium Sprache, die Vorliebe für bestimmte Bilder, die in Kluges Werk leitmotivisch wiederkehren. […] In seiner artifiziellen Struktur steht dieser Film auch an der für Kluge typischen Grenzlinie von Dokument und Fiktion.«73 Die Frage, ob Kluges frühe Kurzfilme und ihre motivischen, strukturellen wie ästhetischen Ähnlichkeiten zu den Filmen der Studierenden durch die zusam67 Lehrer im Wandel, R: Alexander Kluge/Alexandra Karen Kluge, BRD 1962/63. 68 Lehrer im Wandel, R: Alexander Kluge/Alexandra Karen Kluge, DVD, 11 min., Frankfurt/M.: Zweitausendeins 2008 (BRD 1962/63), 00:15–00:33 min. 69 Ebd., 05:23–05:27 min. 70 Alexander Kluge, »Der Pädagoge von Klopau«, in: ders., Chronik der Gefühle – Lebensläufe, Frankfurt/M. 2004, S. 927–928, hier S. 927. 71 Vgl. Kluge, »Kurze Filme, Lange Filme – Ein Erfahrungsbericht«, S. 169–180, hier S. 176. 72 Porträt einer Bewährung, R: Alexander Kluge, BRD 1964. 73 Ulrich Gregor, »Alexander Kluge: Kommentierte Filmografie«, in: Peter W. Jansen/Wolfram Schütte (Hg.), Herzog, Kluge, Straub, München 1976, S. 131–152, hier S. 134.

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men erarbeiteten Konzepte an der Hochschule bedingt, dem Einfluss von Edgar Reitz oder doch Kluges theoretischer Utopie Film geschuldet waren, wurde teilweise schon in den 1960ern gestellt.74 Doch anstatt nach einer eindeutigen Autorschaft zu fragen, sollte man Kluges frühe Filme und die Miniaturen der Studierenden eher als Dokumente einer Selbstbehauptung des experimentellen Kurzfilms und als dessen Beitrag an einer Erneuerung des deutschen Films abseits eindeutiger Genres und Erzählweisen betrachten. Letztlich könnte man das Verhältnis von Kluges Filmen und den Ulmer Miniaturen mit Kluges eigener Diktion beschreiben. Als »Flotten von Filmen«,75 welche die Nachkriegszeit und Geschichte der Bundesrepublik durch einen filmischen (Anti-)Realismus – also durch die Herstellung theoretischer wie praktischer Zusammenhänge und ihrer zeitdiagnostisch-analytischen Arbeit mit der Wirklichkeit – bearbeiten. Darüber hinaus sind die Filme als Vorläufer oder frühe Beiträge der in den 1960ern entstehenden Protestbewegungen in der Bundesrepublik zu verstehen.76 Kluges Interesse an den Potentialen des Kurzfilms äußert sich ebenfalls im Hinblick auf die seit den späten 1980ern im Rahmen der dctp-Magazine gestalteten Minutenfilme. Die anhand von Kluges Kurzfilmen und den Ulmer Miniaturen beschriebene (anti-)realistische Haltung Kluges zwischen Wissenspoetologie und Filmpolitik zeigt sich hier ein weiteres Mal. Für Kluge greifen die Minutenfilme, ähnlich den Ulmer Miniaturen, auf die Zeit der Nickelodeons zurück und es »[…] kommen die Anfänge der Filmgeschichte aus der Zukunft als Forderung neu auf den Film zu.«77 Für die Charakteristika des frühen Attraktionskinos der Jahrhundertwende und ihrer speziellen Ästhetik zwischen zeitlicher Sparsamkeit und Sensations- wie Überraschungseffekten greift Kluge den Begriff der »primitive diversity«78 auf. Damit sind insbesondere die frühen Filme der USamerikanischen Ostküste gemeint, welche bis etwa 1916 von Thomas Edison aber auch von D.W. Griffith produziert und insbesondere auf Jahrmärkten wie Coney Island gezeigt wurden. Kluge schätzt an den Filmen der »primitive diversity« 74 Vgl. Sannwald, Von der Filmkrise zum Neuen Deutschen Film, S. 147. 75 Kluge, »Ein Hauptansatz des Ulmer Instituts«, S. 5–7, hier S. 6. 76 Interessant erscheinen hier Günter Hörmanns Ausführungen im Gespräch mit Klaus Eder, inwiefern nicht nur durch das hier erwähnte antifaschistische Selbstverständnis der Aichers, sondern auch durch die Studierenden die HfG ein Ort linker Diskurse war, bevor die Studierendenproteste in Deutschland einsetzten. Als Beispiel nennt Hörmann die erste Sammlung für Vietnam 1965 »zu einem Zeitpunkt, zu dem sich in der Bundesrepublik noch niemand dafür interessierte«. Eder/Kluge (Hg.), Ulmer Dramaturgien, Reibungsverluste, S. 36. 77 dctp, »Minutenfilme im 65 mm Format«, verfügbar unter: https://www.dctp.tv/filme/minu tenfilme-65mm-format [13. 5. 2020]. 78 Alexander Kluge, »Primitive Diversity – Über frühe Kurzfilme von Ostküste der USA, das Nummernprinzip und die ›einfache Vielfalt‹/das Prinzip der Minutenfilme«, in: Alexander Kluge, Facts & Fakes 4 – Fernseh-Nachschriften: Der Eiffelturm, King Kong und die Weiße Frau, hg. von Christian Schulte/Reinald Gußmann, Berlin 2002, S. 26–31, hier S. 26.

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– auch für die eigene Arbeit an seinen Minutenfilmen in den dctp-Magazinen – ihre Neugier und eine die Zuseher*innen betörende »Verblüffung als Erkenntnismittel«.79 Das pre-hollywood-cinema hat mit den Entdeckern der Filmkamera, die Wissenschaftler waren, am meisten zu tun. Es umfaßt den ganzen Bogen von Sensationsgier, Neugier, Altgier bis zu den Fähigkeiten, die die Kamera selbst unmittelbar besitzt, die strikt instruktiv, wissenschaftlich sind und die, ohne daß ich hier sehr viel Bewußtsein brauche, Intelligenzformen enthalten, die zum Kennzeichen der Moderne gehören.80

Die zuvor schon angesprochene Fähigkeit des Kurzen zur Partikularisierung bedeutet etwas Direktes, Elementares – oder auch: Anti-Kontemplatives –, Aufmerksamkeit wird so neu verteilt. Für Kluge zieht sich ein Miniaturendenken durch die Filmgeschichte: »Je intensiver ich etwas darstellen will, umso geeigneter sind zwei Minuten oder eine Minute.«81 Die in den nächtlichen dctp-Kulturmagazinen des Privatsenders Sat.1 ausgestrahlten Minutenfilme sind durch ihre Unterbrechung des Sendeflusses als Gegenprodukte zu Werbung und gewöhnlichen TV-Formaten zu verstehen. Denn auch im Fernsehen ist für Kluge mit dem Verstoß gegen traditionelle Längen, also mit der Restrukturierung der Zeiterfahrung der Zuseher*innen, eine veränderte Aufmerksamkeit zu erreichen.82 In seinen TV-Arbeiten reformuliert sich das Programm der Utopie Kurzfilm, wie Kluge selbst im Rahmen des 50-jährigen Jubiläums der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen zugibt: Ich bin hier, im Jahr 2003, an derselben Stelle, an der wir 1962 (etwas pathetisch) den Kurzfilm als das natürliche Experimentierfeld für die Erneuerung des Films bezeichnet haben. Knappheit, Authentizität, Andockfähigkeit und Zusammenhang […].83

Diese Dramaturgien der Kürze und des Zusammenhangs, und ihre (anti-)realistischen Anschlüsse an Wirklichkeit, Geschichte und Zeitgeschehen, wurden zuletzt auch in den Ausstellungskontext übertragen.84 In Anbetracht der dargestellten Genealogie des Kurzen in Kluges Werk und dessen partiellem Ursprung an der Hochschule für Gestaltung Ulm wäre abschließend noch auf eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Kluges Kurzfilmen, der Ulmer Lehre und den Minutenfilmen zu verweisen: Ihnen allen ist eine politische Qualität gemein. Denn Kluges Arbeit ist immer auch am Schreiben von Gegengeschichten, an der 79 80 81 82 83 84

Ebd. Ebd. Ebd., S. 26–31, hier S. 29. Vgl. Kluge, »Kurze Filme, Lange Filme – Ein Erfahrungsbericht«, S. 169–180, hier S. 177. Ebd. Nicht nur die erste Kunstraum-Präsentation von Kluges Minutenfilme in der Londoner Serpentine Gallery 2006 wäre hier zu nennen, sondern ebenfalls die umfangreiche 2017 im Folkwang Museum Essen und Belvedere 21 Wien realisierte Ausstellung Pluriversum.

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Herstellung von Gegenöffentlichkeit interessiert.85 Der Kluge’sche (Anti-)Realismus erhebt Protest gegen das, so Kluge, »was die Realität mir antut«.86 Im Widerspruch mit dem Realitätsprinzip verhält man sich »[…] realistisch aus einem anti-realistischen Grund.«87 Die hier ausgeführte (anti-)realistische Haltung in Kluges Ästhetik zwischen Dokument und Fiktion muss dabei in Hinblick auf die Zuseher*innen als Teil einer filmischen Gegenproduktion gedacht werden. Die von Film oder Fernsehen antizipierte Wirklichkeit liegt für Kluge in der Erfahrung der Zuschauer*innen und diese ist immer auch gesellschaftspolitisch. Die filmtheoretischen Konzepte lassen sich immer nur vor dem Hintergrund der von Kluge geforderten Emanzipation der Zuschauer*innen verstehen. Die Möglichkeit zur Kritik ist maßgeblich von der Selbstbestimmung der Zuseher*innen abhängig, wie es Kluge und Oskar Negt in Öffentlichkeit und Erfahrung formulieren: Produkte lassen sich wirksam nur durch Gegenprodukte widerlegen. Fernsehkritik muß von dem geschichtlichen Körper des Fernsehens ausgehen, das heißt vom Fernsehen als Produktionsbetrieb. Ebenso muß eine Selbstbestimmung der Zuschauer, als Grundlage einer möglichen emanzipatorischen Weiterentwicklung des Fernsehens, sich an diesem Produktionsbetrieb, also an dem, was im einzelnen Sendemoment nicht ohne weiteres zu erkennen ist, orientieren.88

Kluges Politik der Abweichung ist insofern an Verfahren gebunden, die Erfahrungszusammenhänge fördern. Diese Haltung lässt sich anhand seiner langjährigen Arbeit am »Prinzip Kürze« – im Spannungsfeld der frühen Kurzfilmen, der Ulmer Lehre und den Minutenfilmen – betrachten und beschäftigt sich immer mit der Frage inwiefern »[…] eine Filmpolitik die nicht von oben verordnet wird, sondern die aus den Filmen selbst abzuleiten wäre«,89 denkbar ist. Erfahrung, Zusammenhang und ein Glaube an die Vorstellungskraft der Zuseher*innen sind damit Teil einer Filmpolitik, deren kleine Fische sich im Netz der Zusammenhänge verfangen und eine politische Haltung gegenüber der Wirklichkeit einfordern.90

85 Vgl. John E. Davidson, »A kind of species memory: the time of the elephants in the space of Alexander Kluge’s cinematic principle«, in: Paul Cooke/Chris Homewood, New Directions in German Cinema, London 2011, S. 20–28, hier S. 25. 86 Alexander Kluge, »Interview mit Ulrich Gregor«, in: Peter W. Jansen/Wolfram Schütte, Herzog, Kluge, Straub, München 1976, S. 153–178, hier S. 160. 87 Ebd. 88 Alexander Kluge/Oskar Negt, »Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse bürgerlicher und proletarischen Öffentlichkeit«, in: dies., Der unterschätzte Mensch – Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden. Band I, Frankfurt/M. 2001, S. 462. 89 Eder/Kluge (Hg.), Ulmer Dramaturgien, Reibungsverluste, S. 89. 90 Vgl. Kluge, »Kurze Filme, Lange Filme – Ein Erfahrungsbericht«, S. 169–180, hier S. 177.

DOSSIER ENNO PATALAS

Alexander Kluge spricht über die »Geschichte des Films« von Enno Patalas und Ulrich Gregor. Radio-Essay Süddeutscher Rundfunk, Sendung: 3. April 1963, 21.45 Uhr UKW

Ein Buch und eine Meinung I. Das Volk der Dichter und Denker hat nie in seiner Gesamtheit gedichtet und gedacht. Künstler und Denker besaß nur die schmale Oberschicht. Dieser ständische Aufbau, aus dem 19. Jahrhundert übernommen, prägt noch heute die Schwerpunkte unserer Kultur. Die gesellschaftlichen Standesunterschiede sind abgestumpft, die Hierarchien von Wissenschaft, Kunst und Bildung bestehen weiter. Was in den Kanon der klassischen Kulturgüter um 1900 nicht aufgenommen war, ist aus dieser Hierarchie ausgeschlossen. Das gilt z. B. für den Film, obwohl inzwischen feststeht, daß im internationalen Wettbewerb das Gesicht der Völker stärker durch ihre Filme als durch ihre Literatur oder ihre Wissenschaft bestimmt wird. Deutschland ist seit rund 30 Jahren, was den Film betrifft, Provinz. Das bezieht sich nicht nur auf die Filme selbst und auf die Praxis der Filmwirtschaft, sondern auf alles, was sich mit Film befaßt.

II. In Deutschland gab es bisher keine wissenschaftlich oder kritisch qualifizierbare Filmgeschichte. Das ist anders in Polen, Frankreich, Italien, England, Japan, der Sowjet-Union, Schweden, Indien. Darüber braucht man sich nicht zu wundern. Frankreich besitzt z. B. sechs periodische Fachzeitschriften für Film und Filmkritik, die sich in unabhängiger Weise mit den Fragen des Films befassen, es besitzt eine ausgebreitete Filmwissenschaft, eine Filmhochschule und eine Filmwirtschaft, zu der die geistigen Kräfte des Landes Zugang haben.

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Die Situation in den anderen genannten Ländern ist ähnlich. In Deutschland befinden sich Pläne für eine Film- und Fernseh-Akademie erst in Vorbereitung, das geistige Niveau der Filmbranche ist begrenzt, nur eine einzige Fachzeitschrift für Filmkritik kann auch im Ausland Anerkennung beanspruchen. Es handelt sich um die wöchentlich erscheinende Zeitschrift »Filmkritik«. Der Chefredakteur dieser Zeitung Enno Patalas hat jetzt gemeinsam mit einem seiner Mitarbeiter, dem Berliner Filmkritiker Ulrich Gregor, die erste in Deutschland erscheinende Filmgeschichte von Rang geschrieben. Die Arbeit umfaßt 524 Seiten, eine ausführliche Bibliographie und einen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat. Eine Arbeit über Film von diesem Umfang und dieser Intensität ist in Deutschland ein Novum.

III. Das Buch behandelt dem Titel nach die Geschichte des Films. Im Vorwort wird die Absicht des Buches eingeschränkt auf die Formel: Kritische Einführung in die Geschichte der Filmkunst für Zeitgenossen. Patalas und Gregor haben also keine enzyklopädische Absicht. Sie nehmen von Anfang an politisch Partei, indem sie den Film, der sich als Mittel der Gegenaufklärung erweist, bekämpfen. Sie nehmen ästhetisch Partei, weil sie glauben, daß der Film die revolutionärste unter den Kunstformen sein kann, daß er nur in einer revolutionierenden Form überhaupt Kunst sein kann; sie nehmen schließlich auch methodisch Stellung insofern, als sie nicht vollständig sein und Material anhäufen wollen, sondern ihr persönliches und ästhetisches Engagement zugleich als ein Mittel der Ökonomie und Stoffbeschränkung benutzen. Das Buch folgt zwei Einteilungsprinzipien. Es behandelt in besonderen Abschnitten die Filmentwicklung in den verschiedenen Filmländern: Deutschland, Frankreich, Rußland, Amerika, England, Skandinavien. Diese Einteilung wird überlagert durch eine chronologische zweite Einteilung nach Zehnjahresabschnitten. Das beste Bild erhält der Leser, wenn er sich nicht an die Chronologie hält, sondern die Filmgeschichte der einzelnen Länder (z. B. die Amerikas, Rußlands, Deutschlands, Frankreichs) hintereinander wegliest. Die Filmgeschichte schließt sich zu einem Bogen in den einzelnen Filmkulturen, nicht aber in Form einer internationalen Gesamtgeschichte. Sehr pointiert erscheint das am Schluß des Buches in dem Kontrast zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten. In Frankreich: Versöhnung von Filmindustrie und neuen Kräften. In den Vereinigten Staaten: Auseinanderklaffen zwischen der Industrie in Hollywood und den neuen Kräften der New Yorker Schule. Das Buch verarbeitet in Deutschland zum großen Teil nicht bekannte Literatur und gibt einen umfassenden Überblick über alle wesentlichen Tendenzen der Filmarbeit.

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Dieses Buch hätte nicht geschrieben werden können, wenn sich Patalas und Gregor seit Jahren als Filmkritiker nicht wirklich zahllose Filme angesehen hätten. Sie konnten daher auf einen festen Fundus von Kritiken zurückgreifen. Die Spur solcher Kritikermeinung findet sich an verschiedenen Stellen. Eine zweite Besonderheit der Darstellung liegt darin, daß beide Verfasser vor allem die Entwicklung von Künstlerpersönlichkeiten (z. B. Fritz Lang, Eisenstein, Pudowkin, Orson Welles) verfolgen. Die Filmanalyse der einzelnen Filme erhält dadurch einen biographischen Akzent. Man hätte stattdessen auch von der Entwicklung der Formensprache des Films ausgehen können, also von den Filmen, unabhängig von den Filmschöpfern. Das Verfahren von Patalas und Gregor ist immer noch dem Verfahren der Kunstgeschichte verwandt, das den wertvollen Schatz von Künstlerpersönlichkeiten und Kunstwerken periodisieren und beschreiben will. Es geht also um einen musealen Ansatz. Die Position von Patalas und Gregor führt aber gleichzeitig darüber hinaus. Patalas und Gregor betreiben Filmgeschichte nicht aus musealen Gründen, sondern weil sie einen neuen Film wünschen. Für einen neuen Film wäre aber die Filmgeschichte vor allem ein unerschöpfliches Arsenal filmischer Erfahrung, kein Arsenal von Biographien. Die Autoren haben das Buch gemeinsam geschrieben, d. h. sie haben die verschiedenen Abschnitte untereinander aufgeteilt. Dabei ist für denjenigen, der die Kritikerpraxis von Patalas und Gregor kennt, deutlich die individualisierende, genauere, auch stilistisch gelungenere Schreibart von Patalas (z. B. Abschnitt Deutschland, Amerika) zu unterscheiden von der eher generalisierenden Methode Gregors (z. B. Abschnitt Frankreich, Rußland). Als Faustregel kann man sagen: Patalas geht mit dem Werturteil vorsichtig um; er konzentriert sich auf eine möglichst genaue Beschreibung, in der ja ebenfalls eine Stellungnahme enthalten sein kann; sein Werturteil bevorzugt die bestimmte Negation: Er beschreibt die filmischen Versager. Gregor ist dagegen mit Werturteilen weniger vorsichtig. Hier zeigt sich, daß gerade bei vielen positiven Kritikerurteilen die theoretische Grundlage – die Gregor und Patalas zweifellos besitzen – nicht ausreicht. In Kurzfassung werden dann die Kritikerurteile Gregors gelegentlich genauso zu Klischees wie die Urteile der sonst üblichen Filmkritik. Wenn es über einen Film von Pudowkin heißt »ausgezeichnet in ihrer Wortlosigkeit und bildlicher Konzentration auch die Erschießungsszene«, so vermittelt lediglich das Wort »Erschießungsszene« eine klare Vorstellung. »Bildliche Konzentration« und »Wortlosigkeit« ist zunächst ein für den Leser schwer auszufüllender Wertbegriff. So finden sich auf einer Seite von Gregor etwa folgende Leerbegriffe: »fragwürdiger dagegen«, »wiederum sehr eigenwillige, optische Formen«, »raffiniert«, »literarisch drapierter Formalismus«, »Rückfall in die alte Tradition«, »fatalistische Weitsicht«, »sensible Form- und Farbwerte«. Solche Leerbegriffe sind deshalb in der Filmkritik und Filmbewertung gefährlich, weil sich hinter ihnen

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Kluge spricht über Die Geschichte des Films

– nicht bei Gregor, aber bei zahlreichen offiziellen Filmbeurteilern – Vorurteile verstecken: als sei Wortlosigkeit eine filmische Tugend, als sei optische Qualität im Film immer Bewegung, als sei Literatur oder Formalismus im Film verboten, als sei Eigenwilligkeit für sich bereits ein Vorzug. Alles das ist in Form einer allgemeinen Aussage unwahr. In den Abschnitten des Buches, die Patalas bearbeitet hat, sind deshalb allgemeine Werturteile auch kaum enthalten. Patalas und Gregor gehören der Generation von 1929–1932 an, die gerade noch das Endstadium des Krieges registriert hat, ohne selbst vom Krieg verbraucht zu werden. Diese Generation hat einen größeren Ernst entwickelt als die ältere Generation; sie besitzt außerdem nicht den natürlichen Respekt vor Machtverhältnissen, wie ihn breite Teile der älteren Generation entwickelt haben. Bei Gregor und Patalas wirkt sich das durch eine seit Jahren gleichbleibende und in dem vorliegenden Buch zum Ausdruck kommende Entschiedenheit der Kritik aus, die in der Branche Filmkritik sonst nicht üblich ist. Dabei besitzt insbesondere Patalas das Wissen und die Methode, um neben seinem publizistischen Rang auch einen wissenschaftlichen Rang beanspruchen zu können. Es ist gewiß nicht übertrieben zu sagen, daß eine gründliche Arbeit wie die Filmgeschichte von Gregor und Patalas in einem wissenschaftlich erschlossenen Bereich als Habilitationsleistung ausreichen würde.

IV. Eine Haupttugend der Filmgeschichte von Patalas und Gregor ist: Sie macht neugierig. Man möchte die in dem Buch referierten Filme zu sehen bekommen. Im Kinoprogramm – selbst in dem Programm der Filmkunst-Theater – ist nur eine ganz geringe Auswahl davon enthalten. Es verhält sich mit den Filmprogrammen ähnlich wie mit den Opernkonzerten der Rundfunkanstalten: Es werden immer wieder die gleichen bekannten Bravourstücke vorgeführt. Der Reiz läge aber in Wirklichkeit in einer ungekürzten Wiedergabe gerade der nicht bekannten Opern. Das Buch von Patalas und Gregor beschreibt und nennt eine große Zahl unbekannter Filmwerke, die aufgeführt werden sollten. Um nur die auf einer herausgegriffenen Buchseite aufgeführten Titel als Beispiel zu nennen: Robert Wienes »Genuine« aus dem Jahr 1919, »Hintertreppe« von Leopold Jeßner, von Lupu Pick »Scherben« und »Sylvester«, von Gerlach »Vanina«; weitere Titel: »Der Knabe in Blau«, »Satanas«, »Der Bucklige und die Tänzerin«, »Nosferatu«, »Halbblut«, »Die Spinnen«, »Die Pest in Florenz«, »Spione«, aber auch »Siegfrieds Tod« und »Krimhilds Rache«. Man könnte die Liste interessanter Filme, die vollkommen unbekannt sind, weiterführen. In dem Buch von Gregor und Patalas wird übrigens keineswegs nur die Geschichte der Filmkunst berichtet, sondern es wird auch das gezeigt, was die

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Filmkunst behindert: die Struktur der Filmwirtschaft und die Zensur. Für denjenigen, der selbst Filme macht, ist das Buch eine Aufforderung, dem Film gegen diese Mächte ein Feld freier Arbeit zu schaffen. Für denjenigen, der Filme sieht, ist das Buch eine Aufforderung, seine Wünsche gegenüber dem Kino zu radikalisieren. Das Kino braucht seiner Natur nach das Fernsehen nicht zu fürchten. Es hat im Verlauf seiner Geschichte gezeigt, daß es Kunst sein und dabei zugleich gefallen kann. Die Arbeit von Patalas und Gregor bedarf der Fortführung. Es wäre jetzt an der Zeit, der Gesamtdarstellung der Filmgeschichte einzeln Monographien folgen zu lassen. Im Rahmen der Hochschule für Gestaltung in Ulm wird neuerdings der Versuch gemacht, jüngere Kräfte auf filmgeschichtliche Themen anzusetzen. Es ist kein Zufall, daß an den Planungen und Arbeiten in Ulm (die sich in den Gesamtrahmen der geplanten Film- und Fernseh-Akademie einfügen) auch Gregor und Patalas beteiligt sind. Die Zeit ist vorbei, in der zur Beschäftigung mit Film lediglich persönliche Geschmacksvorurteile gehörten. Wir wissen zu wenig vom Film. Die Geschichte der Filmkunst läßt sich überblicken – wie sieht die Geschichte der Gebrauchsfilme aus? Wir wissen, daß diese Frage für den Gesamtbereich Film, für das Filmpublikum und für die Zukunft des Films wichtiger ist als die Frage nach der Filmkunst. Wer schreibt die Geschichte der technischen Erfindungen im Film? Die Cinemascope-Linse ist viele Jahre nach ihrer Erfindung durch Zufall wiederentdeckt worden. Wer untersucht die Schätze der Erfindungen, die in der noch nicht untersuchten Filmgeschichte ruhen? Man könnte noch viele weitere Fragen stellen. Bisher besteht dem Film gegenüber eine Art Schizophrenie: Die Filmkritik ist vorwiegend Kunstbetrachtung und Betrachtung der höheren Werte des Films; es handelt sich dabei um Werte, um die sich wiederum die Wirtschaft und der Gebrauchsfilm nicht kümmern. Beide getrennte Betrachtungsweisen, die künstlerische und die wirtschaftliche, haben dem Film in Deutschland nicht aus der Krise geholfen. Deshalb sind die hier aufgeworfenen und die von Patalas und Gregor an die Filmgeschichte gestellten Fragen keine akademischen Untersuchungen, sondern Arbeiten, die zu einem späteren Zeitpunkt neue Formen des Films ermöglichen. Wie sähe eine Wissenschaft aus, wenn es nur angewandte Forschung gäbe? Wahrscheinlich besäßen wir ohne Grundlagenforschung eine ziemlich provinzielle Wissenschaft. Auch der Film kann nicht geistig von der Hand in den Mund leben. Wir müssen über den Film sehr viel mehr wissen, wenn wir in Zukunft auch in Deutschland einen neuen Film entwickeln wollen.

News & Stories vom 18. 12. 2005 (Kluge / Patalas)

Der Klang der stummen Filme. Enno Patalas über Klassiker der Filmgeschichte

ALEXANDER KLUGE: Als wir beide unsere ersten Filme gesehen haben, gab es Sperrsitz, erster Platz, Loge, eigentlich theaterähnliche Kinos. Es war eine feinere Sorte von Filmempfang. ENNO PATALAS: Unser Arzt in Quakenbrück hatte in der Loge im Kino die Wochenschau kommentiert in der Nazizeit. Zu Gräuelaufnahmen von der Ostfront sagte er: Quatsch, das haben nicht die Russen gemacht, das sind unsere gewesen. Die Vorstellung von Loge im Kino verbindet mich mit solchen Geschichten. KLUGE: Jetzt gibt es ein anderes Kino in der Zeit von 1902 bis 1916. PATALAS: Da gab es noch keine differenzierten Plätze, Ränge, das ist erst später gekommen.

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KLUGE: In New York finden sich Stehkinos, in denen Griechen, Polen, Iren, also Menschen, die einander sprachlich nicht verstehen, aufeinandertreffen. Aber sie einigen sich auf das, was sie erkennen auf der Leinwand. PATALAS: Das amerikanische Kino ist von vornherein ein Einwandererkino gewesen. Die große Chance von Hollywood über die Jahrzehnte hin ist es gewesen, dass das Kino von Einwanderern gemacht wurde für Leute verschiedener Herkunft. Eigentlich war es amerikanisches Kino höchstens in dem Sinn, in dem es ein kosmopolitisches Kino gewesen und dann auch geblieben ist. Lange Zeit gab es Hollywoodfilme, die in Europa besser gingen. Josef von Sternbergs Filme besaßen so viel europäischen Hintergrund, dass sie in Europa besser rezipiert wurden als in Amerika. KLUGE: Es gibt ein babylonisches Sprachgewirr, eine Geräuschkulisse, weil der Film stumm ist. Dadurch entstand auch eine Publikumsbindung, wie sie die anderen Künste nicht haben. PATALAS: Das kann heute noch funktionieren, wenn man Kindern Stummfilme zeigt. Ich fand diese kindertümlichen Veranstaltungen falsch mit neuen, für Kinder gedrehten Filmen. Es ist wunderbar, wenn man Die Nibelungen Kindern zeigt. Die, welche schon lesen können, lesen laut die Zwischentitel mit, die Kleineren kriegen das auf diese Weise mit, kommentieren unentwegt das Geschehen und fragen, wie denn das gemacht ist. Wenn der Drache erscheint, fragen sie: Wie haben die den Drachen gemacht? Sie kommentieren, reden und werden nicht durch den Ton vom Film zum Schweigen verurteilt. KLUGE: Wann kommt die Musik hinein, wann gibt es Filme mit Musikbegleitung? PATALAS: Das hat es immer schon gegeben, es gab früh schon Klavier und Geige. Die erste Komposition für einen Film ist von Camille Saint-Saëns schon 1908 gewesen. Das war ein anspruchsvollerer Film, Die Ermordung des Herzogs von Guise. Dann hat es immer wieder Originalkompositionen gegeben. Die großen Kinos ab 1912 hatten eigene Orchester. Das war ein Metier, das florierte während der Zwanzigerjahre. Es war eine große Tragödie, als der Tonfilm aufkam. Da wurden alle arbeitslos, weil die nur das konnten. Das waren fantastische Kinoorchester. Die Musiker bekamen ihre Noten am Tag vor der Premiere. Drei Tage vor der Premiere stellte der Kapellmeister Noten zusammen, Kinothek hießen die Noten, die für Filme gemacht wurden. Die Musiker waren professionell. Das war üblich in den Premierenkinos, aber es ist auch immer wieder vorgekommen, dass zu anspruchsvollen Filmen eine neue Musik komponiert wurde. Von Edmund Meisel gibt es die berühmten Kompositionen zu Eisenstein-Filmen, zu Panzerkreuzer Potemkin oder von Gottfried Huppertz zu Fritz Lang-Filmen. KLUGE: Bei Alexander Newski war Prokofjew für die Musik verantwortlich. PATALAS: Das war dann später im Tonfilm. Die Russen wollten Prokofjew aus dem Exil holen, damit er die Musik zum Panzerkreuzer Potemkin komponierte.

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Das war 1926, aber er wollte nicht. Er blieb in Paris und diese Verbindung ist erst später zustande gekommen. Aber Schostakowitsch hat schon im Kino Klavier gespielt, auch Hindemith. Viele junge Komponisten haben sich in den Zwanzigerjahren ihren Lebensunterhalt dadurch verdient, dass sie in Kinos Klavier gespielt haben. KLUGE: Was hatte Panzerkreuzer Potemkin für eine Originalmusik? PATALAS: Zur Aufführung im Bolschoi und auch beim Verleih in Russland, als er dann regulär rauskam, hat es eine Potpourri-Musik gegeben mit viel Beethoven. Als Meyerhold den Film wiederum (nachdem er schon erfolgreich im Kino gelaufen war) in seinem Theater zeigen wollte, hatte er einen Hauspianisten, so wie wir Aljoscha Zimmermann im Filmmuseum München gehabt haben. Grigori Roschal war das, der später auch Filme gemacht hat. Dem hat er gesagt: Jetzt begleite Du mal den Panzerkreuzer Potemkin. Der hat nur Bachfugen gespielt und eine Chaconne zum fünften Akt. Es hat verschiedene Begleitungen gegeben und das geht bis heute so. Seitdem es wieder in Gang gekommen ist, dass man Stummfilme mit Begleitung zeigt, haben Filme auch Pianisten zu verschiedenartigen Begleitungen inspiriert. Beim Nosferatu kenne ich fünf oder sieben verschiedene Begleitungen. Ich bin einmal von Küste zu Küste durch Amerika getingelt mit einer Kopie von Nosferatu mit einem Organisten, der hat ein Poulenc-Orgelkonzert dabei verwendet, gemischt mit Hollywoodmusik. Es war eine Kinoorgel. Wir sind durch Amerika gefahren, von San Francisco bis New York. In allen Orten, wo es noch Kinos gab mit Orgeln, haben wir Nosferatu gezeigt. Es gibt eine wunderbare Orgel im Castro in San Francisco mit riesen Pfeifen zu beiden Seiten der Leinwand, die so richtige 3-D-Effekte machen können. Das ist eine Kino-Orgel mit Geräuschen. Später haben wir das nochmal mit Nibelungen gemacht. Da hat unser Organist die Partitur von Gottfried Huppertz auch verwendet. Das war eine Musik, die für Fritz Lang und den Film geschrieben worden war. KLUGE: Du rekonstruierst Filme auch dadurch, dass Du die Musikpartitur wiederherstellst und so Lücken oder falsche Zusammenschnitte identifizieren kannst. PATALAS: Die Partituren sind die Direktionsstimme, was der Dirigent vor sich hatte, wenn er dirigiert hat. Das sind meistens der Klavierpart und ein paar Eintragungen für andere Instrumente. Dann stehen da noch Stichworte für den Dirigenten, damit er weiß, wo er zu sein hat mit der Musik. Der hat frei dirigiert und an bestimmten Stellen musste es stimmen. Manchmal wurden auch Geräusche imitiert, aber vor allem die Themen, also zum Beispiel die Musiken vom Huppertz zu Metropolis und zu Nibelungen, sind Leitmotive, die funktionieren müssen. Wir haben jetzt zum ersten Mal die Musik zu Metropolis in voller Länge eingespielt, auch mit Aljoscha Zimmermann. Es funktioniert so fantastisch, dass es nicht so aussieht, als ob die Musik für den Film komponiert wäre, sondern als

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ob der Film auf die Musik hin geschnitten worden wäre. Die Originalfassung von Metropolis ist nicht überliefert, sondern nur die amerikanische Verleihfassung und verschiedene Derivate. KLUGE: Du bist wie ein Philologe tätig, der verderbte Texte der Antike wieder herstellt. Es gehört zu Deiner Lebensaufgabe, diese Filme zu rekonstruieren. PATALAS: Das ist wie der lange Ritt im Western. Man reitet los mit einer bestimmten Absicht und kommt woanders an oder es ergibt sich eine andere Beziehung. Der Sheriff reitet mit dem Verbrecher und unterwegs freunden sie sich an. KLUGE: Die Frechheit, mit der Fälschungen in der Filmgeschichte stattfinden, fasziniert Dich. PATALAS: Es braucht auch wieder eine gewisse Frechheit, wenn man zum Ursprung zurückwill. Das heutige Filmmaterial ist anders, noch dazu, wenn man darauf angewiesen ist, digital zu rekonstruieren. Es kommt kein Film so heraus, wie er am Anfang gewesen ist. Es sind so viele Dinge anders, die Bedingungen der Projektion sind auch andere. Wenn man originalgetreu einen Film wiederherstellen wollte, müsste man auch die Projektoren wiederherstellen, müsste man mit Kohle projizieren und das Licht ist anders. Wenn man eine Nitrokopie spielt, dann sieht die anders aus auf der Leinwand als etwas, was man heute hat. Man kann immer nur versuchen, die Effekte, die es mal gegeben hat, zu imitieren, zum Beispiel beim Färben und Tonen. Man kann versuchen, die Verfahren wieder anzuwenden, mit denen in den Zwanzigerjahren Filme gefärbt wurden. Aber schon die früheren Verfahren, also mit Schablonen oder Einzelbildfärbung, sind nicht nachzumachen, weil das eine Industrie war. Man kann nicht die Industrie wieder ins Leben rufen, deshalb muss man neue Techniken finden, die einen nah heranbringen an die Effekte von früher. Ich war immer unglücklich über einen Stummfilm in den originalen Farben, die sich einigermaßen erhalten hatten, wenn man davon ein Farbnegativ gemacht hat und davon Kopien. Das sah anders aus als diese Kombination von Färben und Tonen, wie das damals gemacht worden ist. Bei der belgischen Kinemathek sind erfinderische Leute auf Verfahren gekommen, wie man das Negativ schwarzweiß halten, aber die Kopien dann auf Farbmaterial kopieren kann, wie man also diese alten Zweifarbigkeitseffekte wiederherstellen kann. KLUGE: Du hast angefangen als Filmkritiker, hast dann eine große Filmgeschichte geschrieben, warst Historiker. Dann hast Du Filme rekonstruiert mit den Mitteln des Filmmuseums. PATALAS: Das ist ein Umgang mit Geschichte, eine Möglichkeit, Geschichte herzustellen. KLUGE: Eine Zirkuskapelle hat einen etwas schrillen Sound. Eine Kaffeehausmusik im Café Kranzler ist eine Unterhaltungsmusik der Besonderheit. Was ist bei Filmmusik aus der Stummfilmzeit das Besondere?

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PATALAS: Eigentlich funktioniert die Musik ähnlich wie die Farben. Wir haben den Nosferatu zum ersten Mal wieder in Farbe hergestellt und ein junger Komponist hatte versucht, die Originalmusik wiederherzustellen, ausgehend von einer Suite, die überliefert ist. Wir haben eine Vorführung gegeben mit Orchesterbegleitung und ich hatte, während der Film lief, den Eindruck, dass die Musik merkwürdig mit den Farben zusammenging. Das Erste, was der Dirigent, Komponist und Arrangeur zu mir sagte, war: Fanden Sie nicht, dass die Farben mit der Musik zusammengehen? Der junge Held Freder in Metropolis kommt in das Büro seines Vaters gestürzt und erzählt dem Sekretär etwas. Was er ihm sagt, erscheint nicht in Zwischentiteln, aber die Musik zitiert die Musik aus der Szene, von der er dem anderen berichtet. Vorwegnahmen gibt es häufiger, wenn der Freder seinen Vater fragt, was passiert, wenn die Arbeiter revoltieren. Dem Ausdruck des Vaters entnimmt man, dass die nie revoltieren werden. Dann leuchtet ein Alarmlämpchen und in dem Moment erklingt die Carmagnole, eine revolutionäre Weise. KLUGE: Würde besser Richard Wagners Musik mit Klavier gespielt (und etwas vergröbert) oder Jacques Offenbachs Musik passen zum Film? PATALAS: Das kommt auf die Motive an. Offenbachs Musik zu Nana von Renoir, der Verfilmung von Zola, ist bei der Premiere gespielt worden. Als wir den Film im Filmmuseum gezeigt haben, habe ich zu Aljoscha Zimmerman gesagt: Diesmal nicht Prokofjew oder Rimski-Korsakow, sondern die Franzosen, Offenbach. Er hat französische Operettenliteratur des 19. Jahrhunderts studiert und eine fantastische Musik dazu gemacht. Leider wird der Film selten gespielt, weil es ihn nur mit französischen Zwischentiteln gibt. Hoffentlich gibt es bald eine Fassung mit Untertiteln, damit seine Musik wieder zum Zuge kommt. Es kommt auf das Genre an. Die Leitmotivtechnik von Wagner ist viel imitiert worden. Es hat auch einen Wagner-Film gegeben. Da haben aber die Macher das Recht nicht bekommen, Wagner zu verwenden. Da ist eine komische Musik entstanden, die immer haarscharf auf Wagner zusteuert. Ein zusätzliches Vergnügen bei diesem Film ist, dass man denkt, das ist doch dies, das ist doch das. Nein, ist es nicht und durfte es auch nicht sein, weil sie die Rechte nicht hatten. Als man den Film im Fernsehen herausgebracht hat, hat man richtige Wagner-Musik dazu gespielt. Das war längst nicht so komisch wie diese Originalkomposition. KLUGE: Hier gibt es einen Film von Ernst Lubitsch, Das Weib des Pharao mit Emil Jannings. Hat der eine Musik? PATALAS: Das war die einzige originale Musik von Eduard Künneke, die auch lange als verloren galt. Als Evelyn Künneke bei uns im Kino war mit einem Film von Rosa von Praunheim über sie, Ich bin ein Antistar, meinte sie, dass es eine ägyptische Suite von ihrem Vater gäbe, die darauf basieren würde. Aber inzwischen ist die komplette Partitur aufgetaucht. Der Film wird gerade rekonstruiert, es hat verschiedene Anläufe gegeben. Wir haben mal eine Kopie aus Russland

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bekommen, eine russische Verleihfassung. Es war eine Kopie von Trümmern einer russischen Verleihfassung, die wir in die richtige Reihenfolge bringen mussten, wo auch viel fehlte. Es war eine Schwarzweißkopierung von einer Kopie, die farbig gewesen war. Die gefärbten Positive wurden exportiert aus dem Land, das den Film produziert hat. KLUGE: Das ist jetzt der Spurensicherer, auch Dein Metier. PATALAS: Überhaupt waren für die Gründerväter und -mütter der Kinematheken die Zwischentitel eine Art quantité négligeable. Die dachten, dass diene dazu, die Dialoge und die Handlung zu verstehen, aber das ist nicht Kino. Der wahre Film tendierte immer dazu, keine Titel zu haben. Das ist eine nicht ganz richtige Hypothese gewesen. Gerade im deutschen Film waren Zwischentitel wichtig, aber auch bei Panzerkreuzer Potemkin. Wir sind jetzt darauf gekommen, was mit einer Kopie, die Jay Leyda, ein amerikanischer Schüler von Eisenstein, ins Museum of Modern Art gegeben hat, geschehen ist. Eisenstein hat Leyda die letzte Kopie der Originalfassung gegeben. Leyda dachte, die ist sicherer im Museum of Modern Art in New York als in Moskau. Die haben das dort umkopiert, daraus eine Verleihfassung gemacht. Aus ihrer Verleihfassung in ihrem Duplikat haben sie die russischen Zwischentitel rausgeschmissen, amerikanische reingemacht, aber die Nitrokopie mit den Originaltiteln, haben sie weggegeben. Die ist in London gelandet. Wir haben jetzt zum ersten Mal die Originaltitel gesehen, die grafisch anders aussahen. Auch die Russen haben später nachgemachte Titel gehabt, die viel länger waren. Wir haben zum ersten Mal gesehen, dass die kurz waren bei Eisenstein. So knapp, dass man sie oft kaum lesen kann, wie Signale. Die funktionieren wie Zeichen. Die Fassung, die jetzt auch auf der Berlinale gezeigt worden ist, hat die originalen Titel gehabt, abgesehen davon, dass das Trotzki-Motto zu der Zeit auch schon nicht mehr drin war, als die Kopie nach Amerika gekommen ist. Aber da haben wir den Text immerhin wiederherstellen können. Der Potemkin hat auch so etwas Akrobatisches. Das kam bei Eisenstein von der Music Hall und vom Zirkus her, gerade auch bei seinen frühen Theaterinszenierungen. Beim Potemkin wird das nicht so wahrgenommen, weil das ein revolutionäres Sujet ist. Aber da wird unentwegt gesprungen, gefallen und gestürzt und Saltos werden gedreht. Das waren die Assistenten von Eisenstein, die von seiner Theatertruppe kamen und die zum Teil auch Moskauer Schwimmmeister waren. KLUGE: Jetzt nochmal zur Handlung von Das Weib des Pharao. Es gibt einen großen Konflikt zwischen Ägypten und den Barbaren, den Äthiopiern. PATALAS: Es gibt eine Sklavin, in die sich ein Ägypter, Harry Liedtke, verliebt. Er hat sie befreit und entführt. Auf dem Nil ist er nach Ägypten gekommen. Dann kommt der Äthiopierkönig und will die Tochter des Pharaos heiraten, was von den Ägyptern als Mesalliance gesehen wird, obwohl der Äthiopier ein mächtiger König ist. Er beschwert sich bei den Ägyptern, dass ihm eine Sklavin geraubt

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worden ist. Dann wird die Sklavin auch gefunden, aber der Pharao verliebt sich nun selber in sie, die ihrerseits aber in einen anderen jungen Mann verliebt ist. KLUGE: Das könnte alles in einem Schuhsalon spielen oder im Kaufhof. Wie endet das? PATALAS: Die Tochter wird in einer Pyramide eingemauert und die Sklavin und ihre Verehrer werden in eine Strafkolonie geschickt. Sie kommt frei, als die Äthiopier Ägypten mit Krieg überziehen. In der Schlacht scheint der Pharao zu Tode zu kommen. In der Originalfassung sagt der scheinbar sterbende Pharao zu dem Äthiopierkönig: Wenn Du Theonis triffst, schone sie, sie ist meine Frau. In der russischen Fassung konnte man einem Tyrannen nicht nachsagen, dass er Gefühl hätte. Im russischen Zwischentitel an der Stelle sagt der Pharao: Wenn Du Theonis triffst, nimm sie Dir, sie ist meine Frau. Der Verehrer kommt aber auch und befreit sie dann. Der Pharao scheint tot zu sein und der Verehrer verteidigt seinerseits die Hauptstadt gegen die anrückenden Äthiopier. Er wird von den Soldaten selbst zum Pharao gekürt. Dann kommt aber der Pharao zurück. Es kommt zum Konflikt darüber, wer der echte Pharao ist. Zum Schluss sitzt der alte Pharao wieder auf dem Thron. Es wird ihm seine Krone aufgesetzt und unter dem Gewicht sinkt er vom Thron herunter, aber die jungen Liebenden werden zu Tode gesteinigt.

Frieda Grafe und Enno Patalas im Gespräch mit Alexander Kluge (Filmkritik Nr. 9/1966)

Tribüne des Jungen Deutschen Films. II. Alexander Kluge

Gesprächsfetzen. Wir setzen unsere Serie von Selbstzeugnissen junger deutscher Filmregisseure, die wir mit einer schriftlichen Befragung Volker Schlöndorffs (vgl. Fk 6/66–307) begannen, fort mit fragmentarischen Ausschnitten aus einem längeren formlosen Gespräch, das Frieda Grafe und Enno Patalas mit Alexander Kluge geführt haben. Mit unserer Zusammenstellung weitgehend isolierter und unretuschierter Äußerungen unseres Gesprächspartners – eine repräsentative Auswahl wäre wegen wiederholter technischer Pannen bei der Aufzeichnung ohnehin nicht möglich gewesen – wollen wir weniger die Gedankenwelt als die Denkweise des Autors von Abschied von gestern (Anita G.) dokumentieren. Zur Person des Autors vgl. Filmkritik 1/66, S. 44, zu seinem Film Ein Film, auf den wir warten, S. 482 (Fotos s. Fk 8/66, S. 439 u. 440).

Anita ist wie ein Seismograph, der durch unsere Gesellschaft geht, wie eine Sonde. Ich habe versucht, deren Ausschläge zu registrieren. Anita hat als Kind jüdischer Eltern im Dritten Reich die Verfolgung kennengelernt. Es ist eine weit verbreitete Auffassung, daß ein Kind, das 1945 acht Jahre alt war, nicht unmittelbar betroffen, sondern nur bedroht war, davon nicht eigentlich bestimmt sein könnte. Das stimmt offensichtlich nicht. Wenn ich an meine Kindheit denke: Wir haben zwar nicht genau verstanden, was vor sich ging, aber doch die Machtverhältnisse genau registriert; wir haben die Hierarchie, die ja von der heutigen ziemlich verschieden war, recht genau mitbekommen. Und so hat die Anita im Dritten Reich als Kind jüdischer Eltern ihre Prägung erfahren. Nach dem Kriege konnten ihre Eltern in der Ostzone zunächst Fabriken gründen. Anita bekam ein paar Jahre Schulbildung in der DDR mit, dann fühlte sie sich als »Kapitalistentochter« nicht mehr sicher und ging in den Westen. Ich glaube, daß sie wegging, weil sie sich nicht mehr mit ihren Eltern identifizieren wollte, deren Machtlosigkeit sie erfahren hatte. Es ist bezeichnend für sie, daß sie nicht in der Realität ihrer Eltern Fuß zu fassen, sich zu behaupten sucht, also etwa in Leipzig Abitur macht und studiert, sondern daß sie in den Westen abrückt, um dort ihre unbestimmten Vorstellungen zu erfüllen.

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Grafe und Patalas im Gespräch mit Alexander Kluge

E. P.: Nach welchem Prinzip sind die Figuren ausgewählt, denen sie dann begegnet? Repräsentiert dieses Ensemble etwa die Gesellschaft der Bundesrepublik? Nein. Es ergibt sich einfach aus dem Weg der Anita. Eine bewußte Auswahl liegt vor in Fällen wie dem frankfurter Generalstaatsanwalt Bauer und dem Geschäftsführer des Hotel Carlton, weil ich fand, daß in einer Welt, die aus Rollenträgern besteht, auch wirkliche Menschen gezeigt werden müssen. Ich wollte deutlich machen, daß es nicht nur den utopischen Sinn der Anita gibt, sondern auch Menschen, die von dieser Utopie etwas verstehen, sozusagen berufsmäßig. Ich hätte gern noch mehr davon gezeigt, beispielsweise im Bereich der Universität. Die anderen, die fiktiven Personen, ergeben sich einfach aus dem Weg der Anita, den der Film zeigt. Der Richter, die Bewährungshelferin, der Chef, seine Frau, eine Zimmerwirtin undsoweiter. Eine Nebenfigur wie der junge Mann, den Anita kennenlernt, bleibt verhältnismäßig unkonturiert; du wirst nicht feststellen können, welche Meinung ich von ihm habe oder welche Meinung Anita von ihm hat, auch nicht, was für einen Beruf er hat. Dagegen ist der Richter unverkennbar: die déformation professionnelle nimmt zu mit der Nähe zur Autorität. Die Verzerrung ist deshalb bei dem Richter oder dem Ministerialrat, dem Pichota, größer als etwa bei den Frauen, die in dem Film Vorkommen. Aber repräsentativ ist das Ensemble für die Bundesrepublik nicht. E. P.: Oder bis zu welchem Grade sind die Figuren, die der Anita begegnen, spezifisch für die Bundesrepublik? Anita selbst und ihre Geschichte sind spezifisch für die Bundesrepublik. Ihre Geschichte wäre eine andere, wenn sie in einer anderen Gesellschaft leben würde. Und sie wäre auch eine andere, wenn die Deutschen eine andere Geschichte hätten. Anita hat gelernt von ihren Eltern, daß man Unternehmer sein muß, und das kommt immer wieder durch. Das ist auch der Punkt, wo sie korrumpiert wird. Wenn sie etwa den Ministerialrat Pichota liebt und sich auch zu dieser Liebe anhält, spielt ein unternehmerischer Gesichtspunkt eine Rolle. Auch sonst hat Anita die Tendenz, dahin zu gehen, wo Autorität oder auch Bildung ist, wo ein Geschäftsführer sie liebt, wo ein Chef ihr zu besonderen Erfolgen verhilft. Und wo sie Erfolg hat, will sie ihn auch krönen dadurch, daß sie die Geliebte dieses Chefs wird. Außerdem kauft sie sich noch einen Pelz, der sie sozusagen gegen das Mißverständnis schützen soll, sie sei nicht selbst reich – man könnte ja denken, sie sei angewiesen aufs Geldverdienen. Diese Vorstellungswelt ist natürlich von den Eltern übernommen. Gleichzeitig fehlt für die Verwirklichung dieser Vorstellungswelt aber das Motiv. Der Impuls, der in Anita steckt, ist völlig unabhängig von den Umständen,

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die sie umgeben. Er ist so etwas wie eine formale Tugend, sie wird im Film niemals wirklich eine Tugend; aber es ist eine potenzielle Tugend, die aktiv würde, wenn die Gesellschaft sie benutzen könnte. Es gibt kein Motiv für Anita, für etwas zu kämpfen oder gegen etwas. Sie hat zwar gemerkt, daß die Geschichte brutal ist – ihre Großeltern wurden abgeholt, ihre Eltern verfolgt –, aber gleichzeitig wurde die Brutalität auch wieder versteckt. Die Welt geht zwar auch mit ihr nicht gerade sanft um, aber das reicht nicht dazu, daß sie sie nun wirklich haßt. In der Gegenwart gibt es nicht SA-Leute, sondern Zimmerwirtinnen, mit denen sie sich rumkeilt, aber sie sind nicht wirklich gefährlich. Anita hat keine Zielvorstellung. Wichtig ist, daß die Gesellschaft einerseits dem Menschen nicht das gibt, was er verlangen kann, daß sie aber andererseits so wenig aggressiv ist, daß sie nicht zum direkten Kampf reizt. Diese Gesellschaft fordert imgrunde vom Menschen ein gewisses skeptisches Gleichmaß, dagegen verlangt sie keine wirkliche Willensbildung. Und die Anita versucht permanent Willensbildung. Anders gruppiert und mit anderen Herausforderungen wäre die Anita ein sozialer Mensch und wahrscheinlich eine erstklassige Funktionärin. Da sie aber niemals ernsthaft einsieht, warum man etwas tut, zum Beispiel arbeitet, hält sie sich nur an das äußere Schema. Ich glaube, daß der Autor nicht eigentlich das Bild gestalten sollte. Er setzt seine verschiedenen Fühler, sein Tonteam, seinen Kameramann, seine Darsteller an, er setzt sie in eine Situation und sorgt dafür, daß sie diese Situation wirklich erfassen. Das Team muß die Sensibilität des Autors entfalten. Der Autor ist dazu da, das Team zu programmieren. Die Darsteller, der Kameramann, das Tonteam sind seine Instrumente, auch die Organisationsleitung. Der Konzeptionsvorgang, in dem der Autor souverän ist, liegt vor dem Drehbeginn, später hat er eine mehr interpretierende Funktion, er ist gewissermaßen Hebamme. Man muß natürlich sehr genau die Mitarbeiter beobachten; wenn die Intensität nachläßt, muß man abbrechen. Von unserem Team wurde eine hohe Beweglichkeit verlangt, weil wir an vielen Orten sehr rasch drehen und vor allem einen hohen Grad an Spontaneität erreichen wollten. Ich glaube, daß der Regisseur nichts anderes tut, als einen Kontakt herzustellen – einen Kommunikationsprozeß ingangzubringen zwischen den Darstellern, dem übrigen Team und dem Kameramann. Er inszeniert den Kameramann fast mehr als den Darsteller. Der muß vor allem beobachtet werden. Es gibt zwei Verdichtungsprozesse: Der Darsteller spielt und versetzt sich in eine Situation; aus der Situation werden nur Teile fotografiert und mit Ton aufgenommen, und nur Teile davon werden wiederum geschnitten. So finden zwei Siebungsprozesse statt, bei denen sich das, was man ausdrücken will, nun wiederum verdichtet. Meine Darstellerin mußte nicht irgendetwas spielen, sie konnte das tun, was in ihrer Phantasie vorging. Sie brauchte sich nur in die Situation hineinzuversetzen. Im Gefängnis hat sie sich sehr intensiv vorgestellt, daß sie jetzt

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tatsächlich im Gefängnis sei. Bei dem Wutanfall, den sie da spielt, hat sie sicher das Gefühl gehabt, daß jetzt irgendetwas aus ist; es war nicht nötig, sie etwa zu ärgern. Viel bewirkt auch der Raum. Obwohl das Gefängnis, in dem wir gedreht haben, wirklich mustergültig geführt ist, war der Eindruck verheerend. Dieses Hineinversetzen versagt bei Vorgängen, die stark biologisch bedingt sind. Die Darstellerin kann sich vorstellen, ins Gefängnis zu gehen. Ein Kind zu kriegen, kann sie sich, wenn sie keins bekommen hat, nicht vorstellen. Hier würde es mir widerstreben, eine scheinbare Geburt darzustellen. Das mindeste, was die Dokumentation leisten muß, ist, daß sie die Phantasievorstellungen einer Person dokumentiert. Geht man davon ab, so entsteht eigentlich automatisch ein Klischee. E. P.: Aber du inszenierst doch auch. Du benutzt nicht nur vorgegebenes Material oder versuchst nicht nur, die Realität zu provozieren, um ein Bild zu bekommen, sondern du inszenierst, und du benutzt Schauspieler, die ganz unverkennbar mimen. Dazu ist zweierlei zu sagen. Erstens wird eigentlich immer kenntlich gemacht – an der Textbehandlung, an der Redeweise –, daß hier Schauspieler auftreten, die nicht eigentlich als Personen, sondern als Rollenträger sprechen, und das auch auf Kosten der Identifikation; es wirkt auch manchmal übertrieben. Es soll ja auch keine völlige Identifikation stattfinden. Zweitens aber versuche ich auch, möglichst auf die Interessen der Schauspieler einzugehen, also auch dort Punkte, die originär sind, aufzuspüren. Beispielsweise hat mir der Darsteller des Pichota erzählt, er interessiere sich für Hemingway. Dann haben wir ihn über Hemingway interviewt. Dabei kamen wir darauf, daß ihn Brecht interessiert, und da haben wir ihn die Geschichte »Wenn Herr K. einen Menschen liebte« aus den KeunerGeschichten sprechen lassen. Dabei hat sich dann ganz automatisch ergeben, daß die Darstellerin der Anita Abstraktion nicht versteht und findet, daß der Entwurf ganz praktisch dem Menschen ähnlich werden müßte – umgekehrt wie in der Geschichte. Das ist ein ganz typisches Mißverständnis. E. P.: Das Mißverständnis hat sich bei der Aufnahme zwischen den Darstellern ergeben, es ist nicht fingiert? Genau. Wir haben die Szene nur aufgenommen, weil wir den Pichota porträtieren wollten, nicht die Anita, und dabei hat sich sofort ergeben, daß das Verhältnis der beiden sich eigentlich recht genau herstellt. E. P.: Nun gibt es ja eine ganze Skala von Darstellern, von solchen, die direkt sich selber spielen, wie der Generalstaatsanwalt Bauer, über solche, die eigene Er-

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fahrungen in ihre Rolle einbringen, bis zu Schauspielern, die nur Rollen verkörpern, wie Eva Maria Meineke. Genau. Je stärker eine Nebenrolle ist, desto stärker splittert sich das aber auf. Den Geschäftsführer vom Hotel Carlton haben wir zunächst nur befragen wollen, wie sein Hotel organisiert ist. Dann hat er uns sein Leben erzählt, und später kam er nochmal zurück und sagte, er sei im KZ gewesen. Ich habe erst nicht die Absicht gehabt, das in den Film hineinzunehmen, ich dachte, das würde sich zu pittoresk ausnehmen. Es ergab sich aber nachher im Material, daß es sich genau einfügt. Da ist eine wichtige Sache für unser Aufnahmeverfahren: Wir arbeiten nicht so, daß wir das Drehbuch in Einstellungen zerlegen und dann nach der günstigsten Organisation einzelne Einstellungen abdrehen, also etwa den Schluß zu Anfang, dann den Mittelteil und am Ende die Zwischenschnitte, sondern wir arbeiten lieber mit zwei oder auch drei Kameras, lassen aber den Vorgang ganz. Dabei versenkt sich das Team mit in die Situation. Das führt dann beispielsweise dazu, daß Anita eben noch im Zimmer war, sich schmückt und mit dem anderen Zimmermädchen plauscht; plötzlich ertönt draußen im Hotelflur Lärm, und es fängt Klaviermusik an; dann läuft das ganze Team raus und filmt die Mädchen, die da klavierspielen. Ich glaube, daß eine solche Präzision im Team nur möglich ist, wenn man diesen Spontaneitätsgrad hat, wenn – in diesem Fall – das Team sich vorgenommen hat, dieses Hotel einzufangen. Ich habe auf diese Weise natürlich sehr viel mehr Material bekommen, als in dem Film zu verwenden war, ich könnte daraus gut noch einen Kurzfilm machen, vielleicht mache ich das auch irgendwann mal. Aber es ist wichtig, daß dieser Spontaneitätsgrad erreicht wird. Ist das der Fall, dann arbeitet das Team mit einer schlafwandlerischen Sicherheit. Ich glaube, das ist der Kern: Der Film stellt sich im Kopf des Zuschauers zusammen, und er ist nicht ein Kunstwerk, das auf der Leinwand für sich lebt. Der Film muß deswegen mit den Assoziationen arbeiten, die, soweit sie berechenbar, soweit sie vorstellbar sind, vom Autor im Zuschauer ausgelöst werden. Ich glaube, das ist etwas, was Godard auch macht. Und das fordert eine indirekte Methode, bei der das, was nachher im Kopf vorgestellt werden soll, niemals direkt abgebildet wird. F. G.: Für den Zuschauer ist es immerhin so genau und so vage zugleich, daß er sofort die Verbindungslinie herstellt zu seinen eigenen Vorstellungen; dadurch ist der Zuschauer frei und animiert zugleich, das Gezeigte zu komplettieren. Ganz kraß gesagt: die Schnittstellen, die nicht im Film enthalten sind, sind genauso wichtig wie das Bild. Adorno hat einmal gesagt – um zu spotten –, am Film störte ihn eigentlich nur das Bild. Damit meint er, daß die permanente Konkretion die Phantasie eher abtötet als fördert – wenn nicht Bruchstellen da sind,

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an denen die Phantasie ansetzen kann. Der Film muß der Phantasie einen Raum geben, in dem sie sich bewegen kann, und muß trotzdem bildlich etwas mitteilen. Am Stummfilm haben mich immer wieder die Titel begeistert. Da die Titel literarisch meistens wirklich idiotisch sind, garnicht informativ und auch nicht gut gesetzt, habe ich mich gefragt, warum ich das so gern sehe. Ich sehe es gern, weil in dem Moment mein Hirn zu arbeiten anfängt und einen Moment Zeit hat, selbständig Phantasie zu entwickeln. Danach bin ich wieder glücklich, wenn Bilder kommen. Der Tendenz nach wäre es mir lieb, wenn man Filme machen könnte, bei denen der Gedankengang, warum man zu etwas kommt, mit dargestellt würde, ohne daß man das Team porträtiert. F. G.: Das kommt aber in den Teilen Ihres Films raus, wo ein absoluter Mangel an Artifizialität herrscht. Ein Beispiel: Der Geschäftsführer des Hotels Carlton fragt: Langweilt euch das? Und das Team antwortet: Nein, das interessiert uns. Das ist ja im Film drin. Oder bei der Geburt, wenn die Hebamme im Gefängnis etwas blöde Reden führt, lacht das Team. Das ist auch drin. Anderes Beispiel: Die Anita lacht am Ende der Geschichte von Herrn K. und korrespondiert mit den Augen mit dem Team. Man sieht das, sie schaut ja aus dem Bild heraus; sie lacht und wiederholt ihren Satz; sie fällt aus der Rolle. Das sind Dinge, die ich garnicht schlecht finde, weil sie sich ja nicht außerhalb des Films bewegen. Wir hatten auch eine Sequenz halb gedreht, die das Frankfurter Bahnhofsviertel sozusagen als Goldgräberstadt zeigte – das ist spontan aus der Diskussion entstanden. Ich hätte auch mein Team selbständig hinschicken können und garnicht mitzugehen brauchen, weil es darauf programmiert war. Das hätte aber zu stark aus dem Film rausgeführt. Dazu hätte ich Frankfurt als Thema haben müssen – ein schönes Thema! Die Musik hat eine kommentierende Funktion. Ich versuche, den Zusammenhang mit einzubringen, in dem eine Musik steht. Eine Aura wird mit Hilfe der Musik gegenwärtig gemacht. Bei dem Schlager »Zwei blaue Augen« etwa wird allen Altersgenossen von mir allein durch die Orchestrierung schon klar, was ich meine. Während für die Jüngeren die Musik eine Exotik hat, die auch das Dritte Reich für sie haben muß. Das setzt nicht voraus, daß man diesen Schlager lokalisieren kann. F. G.: Man hat automatisch Vergangenheit immer mit im Bild, weil man, selbst wenn die Musik nicht da ist, immer diesen Klang von Dreißiger- und Vierzigerjahren mit im Ohr hat. E. P.: Könnte man bei anderen Figuren überhaupt Musik so ausgiebig als Assoziationsmittel verwenden? Auch abgesehen von der historischen Dimension?

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Die Musik hat eine Entsprechung in der Unbestimmtheit der Denkwelt der Anita. Alles was sie denkt und fühlt, ist einerseits aggressiv und, wenn man so will, rebellisch; aber es ist eben auf eine ganz unbestimmte Weise rebellisch. Ich glaube nicht, daß Anita Gedanken so liebt wie diese Töne. Es ist natürlich auch die Musik ihrer Eltern, im Grunde eine Musikalität, wie sie sie gelernt hat. Die Welt im Elternhaus war ja noch relativ ganz. Sie war zwar von außen bedroht, weil die Eltern Juden sind, aber sie hatte sich doch an diese Welt gewöhnt. Zu dieser Welt gehört als Attribut diese Musik, gehört »Hör mein Lied, Violetta«, gehören diese Tangos. Ich habe diese Musik nicht selber ausgesucht. Die Kranzlermusik habe ich genommen, weil Anitas Lieblingsaufenthalt – der der Darstellerin – in Frankfurt das Café Kranzler ist, und da hört man genau diese Musik. Anita hängt dabei ihren Träumen nach. Sie hat auch die anderen Musiken ausgesucht, zum Beispiel die Schlußmusik, die lustige spanische Musik, weil, fand sie, das Gefängnis doch nicht so enden dürfe. Sie fand, das sei – diese billige Musik – eine progressive Musik. E. P.: Aber sie trifft ja genau die Haltung der Anita, das Beschädigte und Ungefähre ihres Aufbegehrens. E. P.: Wie bist du überhaupt dazu gekommen, Filme zu machen? Ich habe ja ursprünglich Jurisprudenz studiert, und das hat mich sehr gelangweilt. Als ich damit fertig war, habe ich überlegt, was ich jetzt für einen Beruf ergreifen sollte und vor allem, wie ich wieder rauskomme aus der Juristerei. Theater hat mich nicht besonders interessiert, und Literatur, glaubte ich, könnte ich nicht. Dann hat eine Freundin mir gesagt, ich solle doch zum Film gehen. Adorno hat mich beraten und hat Fritz Lang, der gerade in Deutschland war, einen Brief gechrieben, er solle mich bei sich assistieren lassen. Das hat er natürlich nicht gemacht, aber ich durfte als Volontär zuschauen. Das hat mich dann nicht sehr beeindruckt. Fritz Lang hörte praktisch schon am dritten Tage auf, Regie zu führen und beschränkte sich auf die Überwachung der Dreharbeiten, weil Artur Brauner grundsätzlich gegen ihn die Partei der unteren Mitarbeiter und des Architekten ergriff und Langs Qualitäten garnicht sah. Ich habe dann in der Zwischenzeit in der Kantine Geschichten geschrieben, daraus wurden die Lebensläufe. Dann kam ich hierher nach München und habe das Exposé zu Brutalität in Stein geschrieben und in Nordrhein-Westfalen eingereicht. Daraus hat sich der Film ergeben, und dann habe ich Geschmack daran gefunden. Heute wüßte ich genau, warum mich Film interessiert, und zwar mehr interessiert als Literatur. Film arbeitet immer mit konkreten Ausdrucksformen. Das Bild ist immer konkret, da kann man machen, was man will. Durch die Montage kann man aber gleichzeitig Begriffe bilden, also Summen von Konkretionen.

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Mich reizt dieser Zwang zur Anschaulichkeit, den die Sprache nicht hat. Wenn eine Geschichte nicht stimmt, würde ich das garnicht merken, wenn ich glaubte, daß sie stimmt, während beim Film eine falsche Konzeption, eine falsche Drehbuchvorstellung von einem Vorgang durch diesen selbst während des Drehens dementiert wird. Ich finde es sehr interessant, daß sich Drehbuchvorstellungen während des Drehens vollständig umkehren und ändern, weil einfach die Wirklichkeit, die man abbildet, gegenhält. In der Literatur bin ich angewiesen auf die Bedeutungen, die den Worten beigelegt werden, das ist doch stark traditionell bestimmt, während ich bei den Bildern eigentlich lediglich eingeengt bin durch das, was sich die Zuschauer vorstellen können. Und das kann ich nun weiter mit Reizbildern intensivieren. Da habe ich einen ziemlich großen Spielraum. Sprache ist auch von Haus aus sehr viel phrasenhafter. Wenn ich sage »am Fuß des Berges«, dann ist das weder anschaulich noch abstrakt, weder präzise noch handfest. Das ist beim Film eben grundsätzlich anders. Ich habe doch, wenn ich Atmosphäre und ein Team bewege, eine Substanz, die weitaus stärker ist als alles, was ich erfinden kann. Ich glaube nicht an einen Realismus, der irgendetwas abbildet. Das wird dann immer ein Schema sein und zum Naturalismus hinneigen. Und der Spielfilm, wie wir ihn in Deutschland nach 1945 hatten, hatte gerade in seinen besten Stücken immer diese Tendenz zum Naturalismus: eine Bauchverwundung bei Wicki, mit Schmerzensschrei und Grimasse undsoweiter, war auf äußere Echtheit aus. Diesen Realismus müssen wir versuchen zu überwinden, daß die Illusion, hier sei ein Abbild der Gesellschaft, garnicht aufkommt. Diese Illusion ist weder im Dokumentarfilm noch im Spielfilm richtig. E. P.: Andererseits bemühst du dich doch, mehr als das in konventionell realistischen Spielfilmen der Fall ist, primäre Realität einzubringen, zu zitieren … … weil das die Substanz ist. Wie ich in der Literatur nicht mit vorgekauten Worten arbeiten möchte, so würde ich im Film zu erreichen suchen, daß die Substanz, die ich erzähle, originär ist. Es ist nicht so, daß man, indem man in einer filmischen Erzählung ein Stück Realität verwendet, größeren Realismus erhält. Man könnte aus lauter realen Bestandteilen auch eine imaginäre Welt machen. Es muß einerseits wirkliche Welt hineinkommen ins Kunstwerk, andererseits aber keine Identität zwischen Wirklichkeit und Kunstwerk vorgetäuscht werden. Wenn auch das Kunstwerk niemals das, was dargestellt wird, wirklich enthält und auch den Anschein nicht erwecken soll, so soll es trotzdem etwas von der Substanz zeigen. Film ist eine allgemeine Intelligenzform, die mit konkreten Abbildungsmitteln arbeitet, sonst sich eigentlich nicht von anderen Intelligenzformen wie Wissenschaft und Literatur unterscheidet. Wenn man den Film als eine einfache

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Anwendung der Intelligenz betrachtet, dann kommt man – als Modell – auf die Brüder Lumière zurück, die sich einfach vor einen Eisenbahnzug hinstellten und filmten, wie er in den Bahnhof fährt. Aus solchen Mosaiksteinen kann man alles, was es auf der Welt gibt, zusammensetzen. Wenn man mit diesen kleinen Bausteinen arbeitet, Miniaturen, kleinsten dramaturgischen Einheiten, kleinsten Aussagen, wenn man sie zusammensetzt, montiert, kann man damit jede Aussage treffen. Dabei geht man nicht davon aus, daß man einen Stil hätte, der unabhängig von der Substanz und vom Werk wäre, daß also Objekt – Stil – Werk der schöpferische Weg wäre, sondern man schlägt einen direkten Weg ein, der den sogenannten Stil umgeht.

Karl Clemens Kübler

Von Lenkung und Ablenkung der Lektüre. Aufmerksamkeit als Risikofaktor der ästhetischen Wahrnehmung in einer Kurzgeschichte Alexander Kluges

Welche Rolle spielt die Aufmerksamkeit bei der ästhetischen Wahrnehmung? Wie viel Vertiefung erfordert es, einen literarischen Text in der Fülle seiner Wirkung zu verstehen? Sollte künstlerische Produktion abgelenkte Rezeption und Zerstreuung mitbedenken? Diese Fragen, die angesichts des rasanten Medienwandels und damit einhergehender Veränderung von Rezeptionsweisen in den vergangenen hundert Jahren an Brisanz gewonnen haben, ziehen vermehrtes Interesse auf sich. Die Literaturwissenschaftlerin N. Katherine Hayles beobachtet am Beispiel des Umgangs von Jugendlichen mit literarischen Texten sogar einen grundlegenden Wandel von Denkmodi, von Deep Attention zu Hyper Attention – von vertieftem, an einem klösterlichen Ideal ausgerichteten, zu einem flächigen, nomadischen Lesen.1 In Alexander Kluges literarischem Werk lässt sich seit den 1970er Jahren eine unsystematische Auseinandersetzung mit Fragen über Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsvermögen von Rezipient*innen in Bezug auf Film und Literatur nachweisen. Die in Kluges theoretischen Schriften zur Filmproduktion sowie in dessen literarischen Texten artikulierten Überlegungen und erzählten Problemkomplexe teilen häufig die Annahme einer ökonomisierten Lebens- und auch Lesezeit. Sowohl den vom Regisseur Kluge antizipierten Zuschauer*innen wie auch zahlreichen Figuren in Kluges Textuniversum wird eine gewisse Prekarität ihrer Zeitressourcen zugeschrieben, welche das zu produzierende literarische, filmische oder politische Werk vor die Herausforderung einer gelingenden Wahrnehmung stellt. Wenngleich von Kluge selbst als Begriff nicht immer in konsistenter Weise verwendet, muss Aufmerksamkeit dabei als eine zentrale Funktion zwischen Produzent*in, Werk und Publikum verstanden werden, die sich in Kluges Œuvre als eine Problematisierung ästhetischer Wahrnehmungspraktiken in der Gesellschaft der Massenmedien äußert. Im Folgenden soll in diese Problematik anhand einer unbetitelten Kurzgeschichte

1 Vgl. N. Katherine Hayles, »Hyper and Deep Attention: The Generational Divide in Cognitive Modes«, in: Profession 1/2007, S. 187–199.

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aus dem gemeinsam mit Gerhard Richter verfassten Band Nachricht von ruhigen Momenten eingeführt werden.

Nachricht von unruhigen Momenten Kurz vor Schluss des zweiten kooperativ entstandenen Bandes Nachricht von ruhigen Momenten von Kluge und Richter sticht eine kurze Episode durch ihre Komposition und Thematik aus der Menge der Geschichten deutlich heraus und artikuliert in nuce die Mannigfaltigkeit der Aufmerksamkeitsproblematik.2 Unbetitelt, in der Hälfte der Textmenge von einer Fotografie geteilt und von intertextuellen Verweisen durchzogen, erzählt die Geschichte von einer bestimmten Erfahrung im Umgang mit literarischen Texten und eröffnet damit ein Krisennarrativ der aufmerksamen Lektüre. Gleichzeitig zeigt der Text ein bestimmtes Medienwissen über literarische Texte und ihre Funktionsweisen auf, aus dem sich Gegenstrategien zu tradierten Praktiken aufmerksamer Literaturrezeption ableiten lassen. Darauf deutet bereits der Titel des Bandes hin: Nachricht von ruhigen Momenten fängt als Bild-Text-Projekt ebenjene Momente nicht nur fotografisch und narrativ ein, sondern stellt diese im Zusammenspiel von Wort und Bild konstellativ her. Die Kooperation dieses Bandes ist von medialer Zweiteilung geprägt: Der Maler Richter steuerte 64 Bilder und der Schriftsteller Kluge 89 Kurzgeschichten bei. Die Anordnung von Text und Bild zur vorliegenden Form wurde gemeinsam bewerkstelligt. Zudem lässt sich diese Kooperation auch in Bezug zur Freundschaft von Alexander Kluge und Theodor W. Adorno setzen: Richter und Kluge sollen sich bei einem Aufenthalt im Hotel Waldhaus in Sils-Maria kennengelernt und von dort aus ihre Zusammenarbeit geplant haben.3 Aus der Korrespondenz Adornos mit Kluge aus den 1960er Jahren geht hervor, dass es Adorno war, der in den 1960er Jahren – zunächst wohl noch vergeblich – dazu anregte, dass Kluge mit ihm in das genannte Engadiner Hotel reisen solle.4 Das kooperative Element des Bandes, die Montage von Bild und Text, findet sich auch in dieser kurzen Erzählung. In der Hälfte der Textmenge und nach dem Seitenumbruch platziert, zeigt die Fotografie von Gerhard Richter das Unterholz eines Waldstücks. Vom unteren Bildrand bis zur Bildmitte lässt sich feuchtes, verfärbtes Laub erkennen, oberhalb dieser ein Dickicht von Ästen und Zweigen. 2 Vgl. Alexander Kluge/Gerhard Richter, Nachricht von ruhigen Momenten, Berlin 2013, S. 134– 135. 3 Vgl. Alexander Kluge/Gerhard Richter, Nachricht von ruhigen Momenten, Berlin 2013, S. 138. 4 Vgl. Theodor W. Adorno, »Brief an Alexander Kluge vom 24. Juli 1964«, in: Archiv der Akademie der Künste, Theodor W. Adorno Archiv, Briefwechsel Theodor W. Adorno und Alexander Kluge, TWAA Br 0766.

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Ein dunkler umgestürzter Baumstamm markiert zwischen diesen Hälften eine horizontale Trennlinie des Bildinhalts. Im Bildvordergrund markieren ein schräg abgebrochener Ast sowie ein gerade wachsender Baum zwei annähernd vertikale Trennlinien, wodurch der Eindruck eines organischen Linienrasters in der Fotografie entsteht. Zwar findet sich das Motiv des Waldes in der vorherigen Kurzgeschichte und lässt sich so als versetzte Illustration deuten, doch weist die kompositorische Entscheidung der Platzierung inmitten des folgenden Texts über eine rein illustrative Funktion hinaus. Vielmehr stellt die Fotografie hier eine Konstellation mit dem Text her, auf deren Wirkung später eingegangen wird. In der unbetitelten Kurzgeschichte zeichnet ein allwissender Erzähler ein Scheitern nach, wie es täglich wohl häufig vorkommt, aber selten Eingang in die Literatur findet. Ein Mann ist nicht dazu in der Lage, den Roman, den er abends vor dem Zubettgehen lesen will, ausreichend zu verstehen. Seine Lektüre scheitert, da er sich in keinen Modus der Aufmerksamkeit, den die Lektüre des Texts erfordert, versetzen kann. Der Erzähler charakterisiert diesen Mann als Manager in leitender Position und Vertreter einer gehobenen Schicht, der durch seine Tätigkeit unter einem rigiden Zeitregime lebt: »Nach einem Tag voller Telefonate und Aufregung konnte er abends, auf seiner Kloschüssel, dem Kriminalroman von Grisham nicht mehr folgen.«5 Dieses Nicht-folgen-Können, mündet in der Verwechslung von Figuren der Romanhandlung, was wiederum das Scheitern der gesamten Lektüre einleitet. Ein direktes Zitat aus dem zu lesenden Buch wird im vierten Abschnitt der Geschichte vom Protagonisten reflektiert und dieser versucht vergeblich, es in die Gesamthandlung einzuordnen: »Er hatte den Tag über viele Unterscheidungen […] treffen müssen, so daß er auf keinen Fall neue Leute im fiktionalen Bereich kennenlernen wollte.«6 Die Kurzgeschichte endet damit, dass er sich dafür entscheidet, das Buch beiseite zu legen und sich stattdessen auf die Verdauung zu konzentrieren. Ein Tag voller ökonomischer Steuerung und Entscheidungen findet seinen Kumulationspunkt in der Ausrichtung der verbliebenen kognitiven Kräfte weg vom Buch und einer vertieften Lesepraxis. In Kluges Diegese wird die Lektüre eines Romans somit als eine dem Individuum aufgebürdete Kommunikationsaufgabe unter vielen dargestellt, was die zeitökonomische Dimension des Lesevorgangs und die Frage nach den Rahmenbedingungen für erfolgreiche Lektüre herausstellt. Dieser Konflikt wird bereits im ersten Satz in der Nebeneinanderstellung von »einem Tag voller Telefonate und Aufregung«7 und der Unfähigkeit, den Roman zu lesen, angelegt. Der Erzähler bindet Leben und Erleben in eine Ökonomie der Zeit ein, welcher durch Beiordnung einer abstrakten Unkalkulierbarkeit eine gewisse Gefahr zu5 Kluge/Richter, Nachricht von ruhigen Momenten, S. 134. 6 Ebd., S. 135. 7 Ebd., S. 134.

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geschrieben wird.8 Das hat bei Kluge ein stetiges Kalkulieren, ein Abmessen von Gewinn und Verlust zur Folge, das auch die Aufmerksamkeit betrifft.9 Aufmerksamkeit wird als Ressource innerhalb einer prekären Zeitökonomie erzählt, die aber doch die gelingende Rezeption eines literarischen Texts bedingt.10

Gelingendes und scheiterndes Lesen in Ablenkung: Blooms Toilettenlektüre In der Logik der Kurzgeschichte gilt es folglich, eine produktive Balance zwischen den physiologisch-kognitiven Anforderungen des Leseakts und dessen Einbindung in (zeit-)ökonomische Gegebenheiten herzustellen, damit Lektüre gelingen kann. Ist dies nicht adäquat möglich, scheitert sie. Angesichts der hier beschriebenen Lektüresituation und Kluges expliziter Hervorhebung James Joyces als seinem literarischen Vorbild, erscheint der Protagonist der unbetitelten Geschichte als Nachfahr der Figur Leopold Bloom aus Joyces Roman Ulysses.11 Ein Vergleich mit Joyces Szene macht deutlich, wie Kluges Kurzgeschichte mithilfe von Aktualisierung und Brechung bestimmter Analogien von Lektüre und Nahrungsaufnahme die Darstellung literarischer Lektüre als ein Haushalten mit Zeitressourcen um eine eminent physiologische Dimension erweitert. Im vierten Kapitel des Ulysses, am erzählerischen Angelpunkt zwischen seinem privaten Leben und seiner öffentlichen Funktion, beginnt der Werbemakler Leopold Bloom seinen Tag mit Toilettenlektüre, die im Unterschied zu derjenigen des unbenannten Managers als positiv beschrieben wird. Blooms Lesen scheitert nicht, wenngleich er abgelenkt und teilweise oberflächlich liest. Während der Manager Kluges die Lektüre des vorgeblichen Romans abbricht,12 hat Bloom ein befriedigendes Leseerlebnis mit einer Zeitung und findet sogar seine eigene kreative Energie durch die Lektüre angeregt. Das liegt nicht zuletzt an den 8 »Die Lebens- und Wachzeit der Tage ist endlich. Unendlich dagegen sind die wachsenden Anforderungen an Kommunikation.« (Ebd.) 9 »In dieser Spitzenstellung […] gab es eine Art von sauerstoff- und lebensarmer Stratosphäre des gesellschaftlichen Lebens: […] gestohlene Zeit, weil stets irgendeiner die Pausen, […] die Reste an Aufmerksamkeit, wie ein Raubvogel wegpickte.« (Ebd.) 10 Vgl. die Darstellung der Entwicklung der Aufmerksamkeit zum Problem in der entstehenden Industriegesellschaft bei Jonathan Crary, Suspensions of Perception. Attention, Spectacle, and Modern Culture, Cambridge, MA 1999, S. 13. 11 Vgl. Alexander Kluge, »Das Durcheinander einer Wahlverwandtschaft«, in: ders., Kongs große Stunde. Chronik des Zusammenhangs, Berlin 2015, S. 357–58, hier: S. 357. 12 Kluge stilisiert hier einen Band von Kurzgeschichten zu einem Roman. Bei dem zitierten Grisham-Text handelt es sich um einen Auszug aus der deutschen Übersetzung der Kurzgeschichtensammlung Das Gesetz. Auch lautet der zitierte Satz dort anders: »Für diesen Tag hat sie gebetet, sagte Leon«, in: John Grisham, Das Gesetz. Stories, München 2010, S. 69–121, hier: S. 91.

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spezifischen medialen Unterschieden von Zeitungs- und Romanlektüre, da Kürze, Informationsgehalt und Unterhaltungswert die Rezeption entscheidend beeinflussen. Bloom kann unmittelbar in das Medium einsteigen und benötigt keine Übersicht über ein Figurenuniversum, er sucht darin »Something new and easy«13 und wird in der als Wettbewerbsbeitrag eingesandten Geschichte eines fiktiven Lesers fündig, die er parallel zu seiner Defäkation zu Ende liest. Anders der Manager Kluges, der sich aus mangelnden Einstiegsmöglichkeiten in die Romanhandlung ein referentielles Ordnungssystem in Form eines Namensverzeichnisses für den Roman wünscht.14 Das materielle Herausreißen der Preisgeschichte aus der Zeitung, um sich damit nach beendetem Toilettengang intim zu säubern, macht am Schluss der Szene deutlich, worum es bei Blooms Toilettenlektüre geht: Um die narrative Integration verschiedener Kreisläufe menschlicher Aufnahme und Abgabe, die Attribuierung einer physiologischen Dimension zum Akt der Wissensaufnahme. In der minutiösen Verschränkung von Lesevorgang und Defäkation ruft Joyce ex negativo das Bild vom Lesen als einer Nahrungsaufnahme auf, um es mit der abschließenden Vernichtung des Texts zu seiner äußersten Überspitzung zu bringen.15 In dieser Analogie wird der Akt der lesenden Wissensaufnahme mit den Gesetzen der physiologischen Nahrungsaufnahme erklärt, die Verstoffwechselung von Wissen und Nahrung zur äquivalenten menschlichen Praxis. Teil der Logik dieses Bildes ist die Angemessenheit der zu verarbeitenden Textmenge, damit aus dem Gelesenen überhaupt Erfahrung gewonnen werden kann.16 Genau das ist dem Manager in Kluges Geschichte nicht zugänglich. In seinem Fall besteht eine Inadäquanz seiner Aufmerksamkeit zur Lesesituation und der zu lesenden Textgattung. Diese Unangemessenheit zwischen der Portionsgröße des wahrzunehmenden Texts und der verfügbaren kognitiven Fähigkeiten machen produktive Rezeption für ihn unmöglich, was schließlich dazu führt, dass sich das Bild vom Lesen als einem organischen Aufnahmeprozess, dem Essen gleich, nicht aktualisieren kann. In dieser Verschränkung von Verarbeitungsprozessen und Adäquanz der Form hebt die Gegenüberstellung der Kurzgeschichte Kluges und der Ulysses-Episode eine dem Lesen zugeschriebene Ökonomie hervor. So liest

13 James Joyce, Ulysses, London 2000 [1922], S. 83. 14 Vgl. Kluge/Richter, Nachricht von ruhigen Momenten, S. 134. 15 Vgl. zwei biblische Ursprünge dieser Analogie: Der Baum der Erkenntnis und dessen essbare Frucht, 1. Mose 2, 9–17; Die Buchverschlingung des Johannes, Offenbarung 10, 1–11. 16 Vgl. Søren Kierkegaards Analogie von der Nahrungs- und Wissensaufnahme. Sowohl das Essen wie auch der Erkenntnisprozess würden unmöglich, führte sich ein Organismus zu viel auf einmal zu. Entscheidend sei der Leerraum, der Kauen und Schlucken bzw. Nachdenken ermögliche. (Vgl. Søren Kierkegaard, »Tillæg«, in: ders., Afsluttende uvidenskabelig Efterskrift til de philosophiske Smuler. Søren Kierkegaards Skrifter, Bd. 7, Kopenhagen 2002 [1846], S. 249.)

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Bloom »Matcham’s Masterstroke«17 mit stetigem Blick auf das pro Spalte gewonnene Preisgeld des Autors. Noch während der Lektüre versetzt er sich in seine eigene Tätigkeit als Anzeigenmakler, ordnet die leichte Lesekost in die Vorgaben der Publikation ein und rechnet als Fachmann für die Wirkweisen von Text im Medium der Zeitung Aufwand gegen Ertrag auf: »He glanced back through what he had read and […] he envied kindly Mr Beaufoy who had written it and received payment of three pounds thirteen and six.«18 Bloom wird hier als im doppelten Sinn kalkulierender Leser dargestellt, der einerseits die für die Lesesituation angemessene Textmenge und -komplexität abschätzt, sie überfliegend liest und andererseits dabei das Zeilenhonorar des Schreibenden stets mitdenkt. Doch während sein überforderter Nachfolger, der aufmerksamkeitsökonomisch prekär wirtschaftende Manager Kluges aus der Lektüre des Romans keine Erfahrung zieht, wird Blooms Imagination angeregt und er beginnt als Antwort auf die gelesene Geschichte eine eigene Skizze, die sich zu einem kurzen Bewusstseinsstrom entwickelt.19 Das Fehlen der für die bestimmte Textform des Romans angemessenen Aufmerksamkeit im Falle des Managers verunmöglicht neben vertiefter Lektüre so auch die Anregung dessen eigener Wahrnehmungskraft – einem erklärten Ziel Kluges in dessen produktionstheoretischen Texten zum Realismusbegriff.20 Indem bei Kluge aufgrund inadäquater kognitiver und zeitökonomischer Voraussetzungen im Verarbeitungsprozess des Lesens nicht produktiv gehaushaltet werden kann, wird die Frage nach der Aufmerksamkeit für das literarische Lesen weiter zugespitzt. Insgesamt kommt damit eine angenommene Regression der ästhetischen Wahrnehmung in der ökonomisch verwalteten Welt zum Ausdruck, die narrativ aus dem Verfall der individuellen Fähigkeit zur Aufmerksamkeit, dem Unvermögen, versunkene Rezeption herzustellen, hergeleitet wird. Diese erzählte Regression der ästhetischen Wahrnehmung offenbart einige Nähe zu den Positionen Theodor W. Adornos zu Aufmerksamkeit und Dekonzentration, wie dieser sie zunächst in Bezug auf die Musik und später für ästhetische Wahrnehmung allgemein formuliert hat. Adorno, den Kluge stets als wichtigen Bezugspunkt in seinem Arbeiten herausgestellt hat, beschrieb in seinen Aufsätzen »Zur gesellschaftlichen Lage der Musik« (1932), »Über Jazz« (1936), den dazugehörigen Oxforder Nachträgen von 1937 und »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens« (1938) zunächst Verfallserscheinungen der Musik 17 Joyce, Ulysses, S. 83. 18 Ebd., S. 84. 19 »Evening hours, girls in grey gauze. Night hours then black with daggers and eyemasks. Poetical idea pink, then golden, then grey, then black. Still true to life also. Day, then the night.« (Joyce, Ulysses, S. 85.) 20 Vgl. Alexander Kluge, Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt/ Main 1975, S. 208f.

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und insbesondere der Hörpraktiken in der Massen- und Industriegesellschaft. Besonders deutlich wird dies in letztgenanntem Aufsatz, in welchem Adorno eine Gegenüberstellung der Wahrnehmungspraktiken von ernster Musik und solcher auf Unterhaltung abzielender, warenförmiger Massenmusik vornimmt. Die perzeptive Verhaltensweise, die der Massenmusik eignet, sei von »Dekonzentration«,21 d. h. Zerstreuung, geprägt. Während für ein konzentriertes Hören eine »Anspannung geschärfter Aufmerksamkeit«22 vonnöten sei, gründe die Wahrnehmung in Zerstreuung auf stetigem Vergessen und beiläufigem, plötzlichem Wiedererkennen. Letztere führe angesichts komplexerer, Aufmerksamkeit einfordernder Formen der Musik zur Resignation vor dem schwieriger zu erschließenden Kunstwerk. Die Musik verändere so angesichts der Bedingungen ihrer warenförmigen Produktion und der dekonzentrierten Rezeptionsweisen aufseiten des Publikums ihre Struktur. Die Musikproduktion antizipiere die Regression der Wahrnehmungsmodi und es entstünden Formen wie der leichte Jazz, die gerade nur während des Gesprächs, im Hintergrund spielend, vernommen würden. In seiner Ästhetischen Theorie wird dies noch einmal weiter zugespitzt, indem ästhetische Erfahrung als von einem Moment der »Erschütterung«23 abhängig beschrieben wird, welche in Abgrenzung zum reinen Erlebnis nicht auf das alleinige Mitfühlen des rezipierenden Ichs mit den dargebotenen Effekten des Werks abzielt, sondern vielmehr als ein »Memento der Liquidation des Ichs«24 fungiert, durch das jenem Ich dessen »Beschränktheit und Endlichkeit«25 bewusst werde. Damit diese Erschütterung als eine Art aus-der-Bahnwerfende Erfahrung tatsächlich stattfinden könne, bedürfe das rezipierende Ich zuvor allerdings der »äußersten Anspannung«.26 Wenngleich Adorno dies in Bezug auf komplexe Kunstwerke, wie Beethovens neunter Sinfonie, formuliert und sich der Kriminalroman von Grisham in Kluges Kurzgeschichte damit nur schwer vergleichen lässt, kann doch von einer literarischen Aktualisierung der Kritik Adornos an unaufmerksamen Wahrnehmungspraktiken ausgegangen werden. Denn der Ton des Erzählers impliziert, dass unter der in der Diegese herrschenden rezeptiven Mangelwirtschaft selbst der Roman eines Publikumsautors wie John Grisham, der von Leser*innen mutmaßlich weniger Konzentration als der Ulysses einfordert, nicht mehr angemessen gelesen werden kann. 21 Theodor W. Adorno, »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 14: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main 1997 [1938], S. 14–50, hier: S. 37. (Auch hier bitte wieder nachtragen, über welche Seiten sich der Text erstreckt: S. … – …, hier …) 22 Adorno, »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens«, S. 37. 23 Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 7: Ästhetische Theorie, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main 1997 [1969], S. 364f. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 364. 26 Ebd., S. 364f.

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In dieses Bild fügt sich eine jüngst im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung erschienene Apologie Kluges, in welcher dieser für ein aufmerksames Lesen als einer Art »Gegenalgorithmus«27 wider die Vereinfachungstendenzen der digitalisierten Welt Partei ergreift. Lernens- und schützenswert sei laut Kluge ein von anderen Reizen möglichst abgewandtes, auf die geschriebenen Zeilen eines zusammenhängenden Texts ausgerichtetes, mentale Anstrengung erforderndes Lesen, welches zu einem komplexen Textverständnis führt.

Stützende Dramaturgie und Prothetik der Lektüre Und doch gelingt es Kluges Kurzgeschichte, ihren kulturkritischen Gestus über sich hinaus zu wenden. Denn in ihrer formalen Gestalt vollführt die Kurzgeschichte das Gegenteil dessen, wovon sie erzählt. Gerade durch ihre Kürze, die Verdichtung des erzählten Konflikts sowie die Montage der Fotografie in den Text, ermöglicht die Geschichte eine schnelle Lektüre, für die es nicht unbedingt langanhaltender Lesekonzentration bedarf, die aber gleichzeitig literarisch lesbar bleibt. Sowohl wiederholte Lektüre als auch die Vergegenwärtigung des Texts in toto bleibt auch unter erschwerten Lesebedingungen möglich. Die in der Erzählung vorgebrachte Kritik an den Bedingungen von Lektüre in der ökonomisierten Zeit und der damit einhergehenden Verunsicherung als selbstverständlich geltender Wahrnehmungsprozesse wird von Kluge formal in ein Programm der Verdichtung überführt, das mit früheren Überlegungen Kluges zur Filmproduktion, insbesondere aus den Ulmer Dramaturgien, korrespondiert. Die Kurzgeschichte zeigt damit Gegenstrategien auf, die sich gegen ein Scheitern der Lektüre in einer angenommenen, realen Lesesituation richten, in welcher Aufmerksamkeit zur Lektüre nicht vorausgesetzt werden kann und die die Rezeption des literarischen Texts jenseits versunkener, linearer Lektürepraktiken sicherstellen sollen, ohne dabei komplexe literarische Ansprüche aufzugeben. Diese Strategien der Textkomposition basieren auf der Annahme der prekären Möglichkeiten zur tiefen Lektüre als einer medialen Realität, der Antizipation eines lesenden Blicks und einer heterogenen Textstruktur, die jenen lesenden Blick textimmanent stimuliert und Ablenkung als Teil des Lesevorgangs mitdenkt. In dem in den Ulmer Dramaturgien erschienenen Text »Ein Hauptansatz des Ulmer Instituts« formulierte Alexander Kluge 1980 eine kondensierte Darstellung der an der HfG Ulm von ihm unterrichteten Prinzipien und Ziele in der Filmproduktion, die eine Auseinandersetzung mit dem Problemkomplex der Aufmerksamkeit für ästhetische Wahrnehmungspraktiken erkennen lassen und ebensolche Gegenstrategien gegen prekäre Wahrnehmung aufzeigen. Diese 27 Alexander Kluge, »Ich bin eine Leseratte«, in: Neue Zürcher Zeitung, 28. 10. 2019, S. 8.

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Darstellung Kluges lässt eine gewisse Prothetik der optischen Wahrnehmung erkennen, indem die Leitlinie der zu produzierenden Filme zwar die Heterogenisierung filmischer Erzählweisen zum Ziel hat, dieser Anspruch sich andererseits aber an den »objektiven Grenzen«28 der Wahrnehmungskapazitäten der zukünftigen Zuschauer*innen orientieren soll. Angesichts an den Rand der Tage gedrängter Zeitfenster ästhetischer Wahrnehmung und physiologischer Probleme kommt den Produzent*innen die Aufgabe zu, solche Schwierigkeiten bei der Übertragung ästhetischer Inhalte im Voraus zu erörtern und die Wahrnehmung der filmischen Bilder und Narrative dementsprechend zu stützen.29 Die für Kluges Ansatz zentralen Postulate einer »Dramaturgie der Kürze«30 und einer »Dramaturgie des Zusammenhangs«,31 welche darauf abzielen, dass statt geschlossener Filmnarrative kurze, als eigenständige Einheiten funktionierende Sequenzen von höherer Intensität entstehen sollen, bilden die Grundlage dieser Unterstützung der Wahrnehmung. Aus der Montage von Bildern und Filmsequenzen resultiert zunächst eine Erhöhung von Informationsdichte und Assoziationspotentialen, welche in der Folge die Imagination der Rezipient*innen aktivieren, da sich in diesen erst der Effekt der Montage vollziehen kann. Auch ein abgelenkt wahrnehmender Blick kann auf diese Weise herausgefordert und stimuliert werden. Dabei orientiert sich Kluge auch an Formen der von Adorno als warenförmig kritisierten Musikproduktion, wenn er die Länge einer Filmsequenz u. a. an der Länge eines Schlagers ausrichtet.32 Anhand der unbetitelten Kurzgeschichte lässt sich zeigen, wie dieses prothetische Verfahren, das die Wahrnehmung eines antizipierten Publikums stützen soll, auch in Literatur übersetzt werden kann. Anhand der drei Aspekte der kontrastierenden Montage, des Hiatus und der Möglichkeit graphischer Hilfsmittel soll diese vorausschauende Stützung veranschaulicht werden. Die in der Kurzgeschichte angewandte Form der Montage bezieht ihre Wirkung aus der konfrontativen Nebeneinanderstellung von Fotografie und Text, sowie von einander widerstrebenden Sprachbildern.33 Während die 89 Kurzgeschichten und 64 28 Alexander Kluge, »Ein Hauptansatz des Ulmer Instituts«, in: Klaus Eder/Alexander Kluge, Ulmer Dramaturgien. Reibungsverluste, München 1980, S. 5–7, hier S. 6. 29 »Dazu muß man seinem Interesse dramaturgische Stützen im letzten Drittel des Films zuführen.« (Kluge, »Ein Hauptansatz des Ulmer Instituts«, S. 6.) 30 Ebd., S. 5. 31 Ebd., S. 6. 32 Vgl. ebd., S. 5. 33 Philipp Ekardt beschreibt die komplexe, von Inspiration und Widerstand geprägte Wechselbeziehung zwischen Alexander Kluge und dem filmischen und filmtheoretischen Werk Sergei Eisensteins. Mit Bezug auf Miriam Hansens Forschung zum Hiatus bei Kluge hält Ekardt fest, dass dieser keinesfalls Montage im Sinne Eisensteins als Konfrontation von Bildern anwendet. Dagegen sehe ich in der vorliegenden Montagesituation im literarischen Text mit Blick auf die Ulmer Dramaturgien sehr wohl einen konfrontativen Charakter. (Vgl.

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Fotografien auf der Makroebene von Nachricht von ruhigen Momenten als jeweils in sich geschlossene Teilglieder einer fortlaufenden Montagekonstellation gelesen werden müssen, findet auf der Mikroebene der unbetitelten Kurzgeschichte die Verdichtung als eine Art Übertragung der »intellektuelle[n] Montage« Sergei Eisensteins ins Literarische statt.34 Dabei teilen zwei bildliche Phänomene trotz verschiedenartiger Gestalt einen strukturellen Kern, der für den Rezipienten erst durch die Nebeneinanderstellung als Kontrast erkenntlich wird. Im ersten Satz werden so »Telefonate und Aufregung« der Lesesituation auf der »Kloschüssel«35 gegenübergestellt, das evozierte Dritte zeigt sich als die Frage nach den Kommunikationsbedingungen im Spätkapitalismus. Die unvermittelt zitierte Passage aus dem angeblichen Roman, »Für den Tag hat sie gebetet, sagte Leon«,36 setzt diese Reihe der intellektuellen Montage fort, indem eine Andachtssituation aufgerufen wird, die oppositiv zum zuvor geschilderten Überfluss an alltäglicher Kommunikation steht. Als strukturelle Folge dieser kontrastiven Gegenüberstellung ergibt sich jeweils ein Hiatus – im Sinne Wolfgang Isers als »Hemmung im Fluß der Sätze«37 – zwischen den beiden konfrontativ montierten Elementen. Diese stimulieren in der Brechung der Leseerwartung den lesenden Blick und regen weitere imaginative Tätigkeit an. Am deutlichsten tritt dieses Moment der Hemmung in der Montage der Fotografie in den Text zu Tage. Die Einfügung von Gerhard Richters Fotografie in die Mitte der Textmenge hält den linearen Lesefluss auf und kontrastiert das lesende Sehen mit einem Bildersehen, welches keine alphabetischen Zeichen zu entziffern hat. Dieser Hiatus fordert eine Neukonfiguration des lesenden Blicks angesichts der Hetereogenität der Zeichen. Wenn man der Annahme folgen will, dass literarischer Text und die Fotografie der Waldszene wiederum eine intellektuelle Montage im Sinne Eisensteins bilden, liegt der gemeinsame semantische Kern, der in der Konfrontation freigelegt wird, in der Reflexion über die Umweltfaktoren der ästhetischen Wahrnehmung – zwischen Reizüberflutung und Stille – und das Wesen des im Titel des Bandes angegebenen ruhigen Moments. Zuletzt soll auf den letzten Satz des zweiten Abschnitts vor dem Schwenk zur Erzählerreflexion aufmerksam gemacht werden: »Ein Namensverzeichnis hatte der Roman nicht.«38 Im Gegensatz zur vorangestellten Figurenübersicht in sze-

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Philipp Ekardt, Toward Fewer Images. The Work of Alexander Kluge, Cambridge, MA/London 2018, S. 55.) »…i. e., conflict-juxtaposition of accompanying intellectual affects. […] Though, judged as ›phenomena‹ (appearances), they seem in fact different, yet from the point of view of ›essence‹ (process), they are undoubtedly identical.« (Sergei Eisenstein, »Methods of Montage«, in: ders., The Film Form, New York 1977, S. 72–83, hier: S. 82.) Kluge/Richter, Nachricht von ruhigen Momenten, S. 134. Ebd., S. 135. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, München 1990 [1976], S. 183f. Kluge/Richter, Nachricht von ruhigen Momenten, S. 134.

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nischen Texten, muss ein Namensverzeichnis im Roman als Ausnahme gelten.39 Die Artikulation einer Offensichtlichkeit dient hier dazu, den Wunsch der Managerfigur zu implizieren, dass die Lektüre des Romans mithilfe eines graphischen Übersichtsystems besser verständlich gemacht werden könne. Einer etwaigen Verlorenheit des Lesers im Fluss des Texts würde so ein vereindeutigendes System der Orientierung entgegengesetzt, das die Lektüre des Ökonomen effizienter und kalkulierbarer machen würde. Dieser Wunsch nach Ökonomie der Lektüre kann dabei zwar im Rahmen eines Narrativs der verwalteten Welt und im Sinne Adornos Kulturkritik gelesen werden. Seine Äußerung richtet den Blick allerdings auch auf diejenigen graphisch-diagrammatischen Strukturen, die Lektüre stützend sicherstellen sollen. Im Sinne Gérard Genettes als »dokumentarischer Paratext«40 verstanden, gewährleistet ein Namensverzeichnis im fiktionalen Text in erster Linie die bessere Handhabbarkeit des Texts, doch ermöglicht es auch die Fiktionalisierung des Paratexts zur Fortführung des literarischen Spiels über den linearen Text hinaus. In beiden Fällen trägt die graphische Prothese des Namensverzeichnisses zum Blickspiel des Lesens bei, indem durch dessen Verweise das Vor- und Zurückblättern den linear lesenden Blick durch den Text aufbricht und mögliche Aufmerksamkeitsschwächen durch eine Auffächerung der Lesepraxis aufgefangen werden. Auch diese Stelle eröffnet eine Verbindung Kluges zu Joyces Ulysses und dessen Überlegungen zu einer Prothetik der Lektüre. Während in Joyces ursprünglicher Konzeption des Romans den einzelnen Kapiteln noch Überschriften voranstanden, die deren Beziehungen zur homerischen Odyssee veranschaulichen sollten, wurden diese vor Veröffentlichung herausgestrichen und stattdessen von Joyce in die beiden als Gilbert- bzw. Linati-Schema bekannt gewordenen angehängten Tabellen überführt, die Verständnis, Einordnung und Auslegung des Romans sicherstellen sollten.41 Anlass dazu waren Befürchtungen Joyces, der Ulysses könnte für eine gelingende Lektüre zu komplex sein, die er 1920 in einen Brief an Carlo Linati äußerte, dem er das Schema erstmals beifügte.42 Die Abwägung, was den zukünftigen Rezipient*innen an Lektüre zuzu39 Im Referenzwerk zum literarischen Paratext von Gérard Genette wird die Betrachtung von Namensverzeichnissen weitgehend ausgelassen, allein in der Zusammenfassung wird ein Überblick gegeben. (Vgl. Gérard Genette, Paratexts. Thresholds of Interpretation, Cambridge/ New York 1997 [1987], S. 404.) 40 Ebd. 41 Vgl. Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/Main 1993 [1982], S. 12. 42 »In view of the enormous bulk and the more than enormous complexity of my damned monster-novel it would be better to send […] a sort of summary-key-skeleton-schema (for home use only) […]. I have given only ›Schlagworte‹ in my schema but I think you will understand it all the same. It is the epic of two races (Israel – Ireland) and at the same time the cycle of the human body as well as a little story of a day (life). […] It is also a kind of

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muten sei und die Inanspruchnahme graphisch-diagrammatischer Ordnungssysteme als Strategie auf Produzent*innenseite verbindet sowohl die Ulmer Dramaturgien Kluges und die Form der unbetitelten Kurzgeschichte aus Nachricht von ruhigen Momenten mit Joyces paratextuellen Operationen in und um den Ulysses. Insgesamt führt die Kurzgeschichte Kluges vor Augen, dass die Verdichtungs- und Ordnungsstrategien des Texts eine Verschiebung der Konzentrationsleistung im literarischen Spiel von den Rezipient*innen zu den Produzent*innen bedeutet. Durch die Antizipation prekärer Wahrnehmungspraktiken und die Herstellung solcher »Konzentrate«,43 wie Kluge sie nennt, verlagert sich ein Teil der Verantwortung für die Konzentrationsleistung des Lesens zum Sinnvollzug des Texts von Rezipient*innen- auf Produzent*innenseite.

Aufmerksamkeit als ökonomisches und ästhetisches Problem Die unbetitelte Kurzgeschichte aus dem gemeinsamen Band Nachricht von ruhigen Momenten von Alexander Kluge und Gerhard Richter veranschaulicht verschiedene Dimensionen von Aufmerksamkeit und ihrer Bedeutung für die Lektüre von Literatur. Einerseits erzählt Kluge von einer Krise der aufmerksamen Lektüre als kultureller Praxis angesichts prekärer Zeitressourcen und ökonomisierter Kommunikation, lässt diesen Faktor der Wahrnehmungspraxis als ein Risiko erscheinen; andererseits aber zeigt er im Text konkrete Gegenstrategien auf, wie auf Produzent*innenseite auf solche Grenzen der vertieften Wahrnehmung reagiert und der Leseakt stimulierend unterstützt werden kann. Im vorliegenden Fall zeigt sich Alexander Kluge als ein antizipierender und die Leseaufmerksamkeit lenkender Autor, der über ein spezifisches Medienwissen verfügt und dieses situativ anwendet. Kluges literarische Verarbeitung eines an mangelnder Aufmerksamkeit scheiternden Lektürevorgangs zu einem Krisennarrativ schließt an frühere Überlegungen darüber, in welchem Maß abgelenkte Wahrnehmung dem Wahrzunehmenden gerecht werden kann, an. Während sich in Kluges Werk an verschiedenen Stellen Spuren anderer Theoretiker*innen – u. a. Theodor W. Adorno – und deren Reflexion über Aufmerksamkeit und ihre Bedeutung finden, illustriert insbesondere Kluges Aufnahme bestimmter Motive und Verfahren aus James Joyces Roman Ulysses einen Zusammenhang von literarischer Produktion, Bedingungen der Lektüre und ökonomischer Strukturen in und um den Text. Im Anschluss an Joyce bettet Kluge die Problematik der Aufmerksamkeit sowohl in einen kognitiv-physiologischen Diskurs um die Frage encyclopedia.« (James Joyce, Selected Letters, hg. von Richard Ellmann, New York 1957, S. 271.) 43 Kluge, »Ein Hauptansatz des Ulmer Instituts«, S. 5.

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nach den Verarbeitungsweisen der sinnlich wahrgenommenen Information als auch in einen zeitökonomischen Diskurs um die Frage nach der persönlichen Zeit in der industriell-verwalteten Welt ein. Da Kluge in seiner Rolle als öffentlicher Intellektueller auch in anderen Formaten Position zu dieser Problematik bezieht, wird es für die weitere Untersuchung des Konzepts Aufmerksamkeit in Kluges Werk nötig sein, nicht nur die literarische Verarbeitung, sondern auch dessen theoretische Reflexionen, filmische Arbeiten und feuilletonistische Äußerungen näher zu betrachten und eventuelle Widersprüche sowie Entwicklungen in Kluges Œuvre nachzuzeichnen.

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Since the late 17th century, advances in the science of friction had been associated with machines. In the 18th century, war machines began to drive research into friction. In 1781, the military engineer Charles Augustin de Coulomb published his Théorie des machines simples, a ground-breaking study of friction that was prompted by the Paris Academy’s call for proposals to improve machines used by the French navy.1 Coulomb sought to move from pure rationality and theory to concrete analysis and practicality by isolating and quantifying friction so that it could be minimized. Coulomb, however, failed to theoretically account for heat generation and, crucial for this essay, reductions in motion due to friction. Considerations of these factors began in earnest with Bavarian War Minister Count Rumford’s 1798 “An Experimental Enquiry Concerning the Source of the Heat which is Excited by Friction,” which was born from his observations of cannon manufacture. This was the start of a major shift in the conception of friction. After Rumford, it had to be taken into account that friction is “a necessary element of any machine, as both a surplus and a lack of friction would prevent the correct working of machines.”2 At the same time, friction was acknowledged as a chaotic element that resisted quantification and played a part in destroying Newtonian determinism. Carl von Clausewitz, the 19th-century Prussian theorist of war, understood the import of friction, and extended it to the battlefield.3 His theory of friction was entirely in line with the nascent field of thermodynamics and the resultant 1 Coulomb has been called the founder of the science of friction. His work continued to be important through the early 20th century. See, for example: C. Stewart Gillmor, Coulomb and the Evolution of Physics and Engineering in Eighteenth-Century France, Princeton 2017, pp. 118–138. Lazare Carnot, the father of Sadi Carnot (one of the founders of thermodynamics), competed for the same prize by looking at friction in mechanical systems. 2 Gerhard Wiesenfeldt, “Newton’s laws, Laplace’s dream and Clausewitz’ nightmare: on friction”, in: Ghassan Hage, et al. (eds.), Force, Movement, Intensity: The Newtonian Imagination in the Humanities and Social Sciences, Carlton 2011, pp. 11–15. 3 Although he sometimes writes “Reibung,” Clausewitz generally uses the term “Friktion” when discussing friction, which may point to the scientific sources of his knowledge.

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concept of entropy, which can be understood both as a “measure of disorder in the universe,” and “a form of increasing degradation toward randomness.”4 For Clausewitz, friction was key for the war machines that were instruments of, and metaphors for, the armies that would ravage Europe in the 19th and 20th centuries. This is perhaps nowhere more evident than in the Battle of Stalingrad – the most massive battle ever conducted, and the turning point for Nazi Germany’s eventual defeat. It is thus no surprise that Clausewitz and the Clausewitzian war machine and friction appear in Schlachtbeschreibung, Alexander Kluge’s book about the Battle of Stalingrad.5 I argue that these ideas about friction provide the governing structure for understanding the book’s form and, in turn, the mode of reading envisioned by Kluge for comprehending what he called the “Unglück” of Stalingrad. Clausewitz sought to minimize friction in the war machine. Kluge, I argue, strategically cultivates friction in the “text machine” Schlachtbeschreibung, ultimately causing it to break down due to the internal frictive antagonisms in its own construction. Clausewitz is present in Schlachtbeschreibung from its very beginning; he is directly referenced in its first word (the section heading “Nachricht”). Clausewitz’s book also begins with a section entitled “Nachricht.”6 These messages lay 4 For the first definition of entropy, see: John Gribbin/Mary Gribben, Q Is for Quantum: An Encyclopedia of Particle Physics, New York 1998, p. 126. For the second, see: Alan Beyerchen, “Clausewitz, Nonlinearity and the Unpredictability of War”, in: International Security 17/3, 1992, pp. 59–90, here p. 76. 5 Something is lost in translating the title merely as “The Battle.” A better title might be “Battle Description,” as Leslie Adelson suggests. See: Leslie Adelson, Cosmic Miniatures and the Future Sense, Berlin 2017, p. 248. It is important to note the lexical richness of “Beschreibung/ beschreiben” (description/to describe), since it relates directly to the complexity of Kluge’s project. “Beschreiben” denotes, in addition to simply describing, at least the following: to conscribe (in military terms), to convoke, to draw geometric figures, and also, the “Schilderung, i. e., the ‘reproduction’ (ausmalend, literally ‘what paints’) of a state of affairs, an object (landscape, house, room), or a person by means of language.” See: Jean-Pierre Dubost, “Erzählen/Beschreiben (German)”, in: Barbara Cassin (ed.), Dictionary of Untranslatables, Princeton 2013, pp. 287–292, here p. 290. In addition, “beschreiben” still retains the meaning of inscription, rather than mere description. To fill an empty page with writing (perhaps in an attempt to describe something) is also denoted by “beschreiben,” e. g. “ein Blatt beschreiben” (to cover an empty page with writing), synonymous, according to the Grimms, with the verb “vollschreiben” (to fill with writing). Schlachtbeschreibung is, I suggest, part of Kluge’s attempt (and this is especially visible in the sources from which he culls his material) to describe the Battle of Stalingrad as something that extends far beyond its temporal and geographical boundaries. For the English translation of the 1964 edition of Schlachtbeschreibung, see: Alexander Kluge, The Battle, trans. Leila Vennewitz, New York 1967. Due to this edition’s substantial difference from the 1983 and 2000 editions used here, all translations of Kluge are mine. 6 Curiously, Michael Howard and Peter Paret change the title of this section to “Two Notes by the Author on His Plans for Revising On War.” See: Carl von Clausewitz, On War, ed. by Michael Howard, et al., Princeton 1976, p. 69. Leslie Adelson has suggested that “Nachricht” can be

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out authorial intentions that appear to provide the reader with direction as they begin the book. Both authors, however, undermine their messages directly after delivering them. Clausewitz does so some pages later, when he writes: “Die meisten Nachrichten sind falsch” (Most news is fake).7 Kluge, on the other hand, immediately interrupts the reader with a footnote appended to the word “Nachricht,” marking the beginning of a contradictory back-and-forth play with Clausewitz and Clausewitzian metaphors for war that continues throughout Schlachtbeschreibung. In the note, Kluge directly references Clausewitz’s “Nachricht,” a “Fragment” which, writes Kluge, “lays the foundation for Clausewitz’s theory of war” (“legt die Grundlage für Clausewitz’ Theorie vom Kriege”).8 Kluge’s “Nachricht,” on the other hand, relates to the battle of encirclement at Stalingrad as, he writes, a “Nicht-Nachricht” (non-news), something that seems to fall outside the scope of Clausewitz’s attempt at theorizing war.9 The seeming contradiction in Kluge’s use of the terms “Nachricht” and “Nicht-Nachricht” extends to the concept of the military machine. In Kluge’s “Nachricht,” a guiding principle of the book is expressed: “The 6th Army was never a machine, an instrument that the leaders of the army claimed to direct” (Die 6. Armee war nie eine Maschine, ein Instrument, das die Stäbe zu führen meinten). However, the final page of Schlachtbeschreibung refers to the disaster of Stalingrad as impacting “a machinery made up of 300,000 humans” (eine Maschinerie von 300 000 Menschen).10 I argue that Schlachtbeschreibung, in between these two poles of “Nachricht” and “Nicht-Nachricht,” seeks to make sense of this contradiction by focusing on both the machinic nature of the army (along with that of the war machine) and its human elements (it remains, at the

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understood as “news” or “military-political intelligence”. See: Adelson, Cosmic Miniatures, p. 250. Carl von Clausewitz, Vom Kriege, ed. Curt Grützmacher, et al., Hamburg 1963, p. 48. Translation mine. Unless otherwise noted, all translations of Clausewitz are from Michael Howard and Peter Paret’s translation. Alexander Kluge, Schlachtbeschreibung, Baden-Baden 1983, p. 7 (henceforth referred to with the siglum SB). This is one instance in a sustained dialog between Kluge and Clausewitz. Alan Beyerchen addresses this dialogue, remarking that “it is difficult to think of any other major writer in whose work the military thinker [Clausewitz] appears as often.” See: Alan Beyerchen, “Kluge and Clausewitz. Chance and Imagination in the Real World”, in: Richard Langston, et al. (eds.), The Poetic Power of Theory. Alexander Kluge-Jahrbuch 6, Göttingen 2019, pp. 45–60, here p. 45. Kluge, Schlachtbeschreibung, p. 7. Ibid., p. 368. It is unclear precisely to whom this number refers. The initial number of German troops present at the beginning of the operation was around 300,000. The estimated number of German casualties is also around 300,000. Stefanie Carp takes this figure as the number of troops who remained at the time of the German surrender. See: Stefanie Carp, Kriegsgeschichten: Zum Werk Alexander Kluges, Mu¨ nchen 1987, p. 120. There were approximately 265,000 total troops surrounded at the beginning of the operation; around 210,000 were German. 91,000 German soldiers were taken prisoner after the official surrender.

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end, “machinery made up of 300,000 humans”), which remain a source of friction for the war machine, the metaphor of the war machine, and for Schlachtbeschreibung itself.11

Battle Changes Schlachtbeschreibung, first published in 1964, and subsequently published six more times (with revisions both minor and major) employs montage techniques, blending images with documentary, speculative, and fictional written material in an attempt to describe the Battle of Stalingrad.12 The book’s primary focus, even after Kluge’s numerous revisions, is a chronicling of the course of events from the 6th Army’s encirclement by the Soviet Army in November 1942 to the German surrender in February 1943. Beginning with a German manual on winter warfare, Schlachtbeschreibung makes use of sermons, troop reports, interviews, Wehrmacht press releases, drama, science fiction, photographs, drawings, organizational charts, and more, as it reaches back and forward in an attempt to outline “the organizational structure of a disaster” (der organisatorische Aufbau eines Unglücks).13 This essay relies primarily on the 1983 edition (slightly revised from the 1978 version), which contains important reflections on the text, how it functions, and the manner in which it might be best read and understood, while referring occasionally to the most recent version. In its earliest versions, the book consisted primarily of documentary material.14 Beginning with the 1978 edition, this changed: the book took on “an increasingly extraliterary character” and “significantly expanded [its] temporal

11 Italics mine. Andrew Bowie sees this same sort of movement within the chapter “Die Wünsche … sind um 1200 etwas sehr Einfaches” (Desires around 1200 are Very Simple), in which “the sensuous and the abstract [are set] against each other,” with “the dialectical nature of Kluge’s prose [moving the text] towards a kind of mediation.” See: Andrew Bowie, “New Histories: Aspects of the Prose of Alexander Kluge”, in: Journal of European Studies 12/47, 1982, pp. 180–208, here p. 202. 12 Patrizia C. McBride’s account of Weimar Republic montage aesthetics seems here to be relevant. She writes, for example, that montage artifacts “present a world splintered in a cacophony of ill-fitting fragments that are barely held together by makeshift connections.” See: Patrizia C. McBride, The Chatter of the Visible: Montage and Narrative in Weimar Germany, Ann Arbor 2016, p. 6. 13 Kluge, SB, p. 8. 14 For a painstaking structural analysis of Schlachtbeschreibung’s revisions, see: Kai Lars Fischer, Geschichtsmontagen: zum Zusammenhang von Geschichtskonzeption und TextModell bei Walter Benjamin und Alexander Kluge, Hildesheim 2013, pp. 131–248. See also: Richard Langston, Visions of Violence: German Avant-Gardes after Fascism, Evanston 2008, pp. 212–228, p. 291.

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scope.”15 These changes ranged from large to small: photographs and illustrations were added, sections were added, and chapter order was rearranged.16 Richard Langston writes that the 1978 revision of Schlachtbeschreibung differs from earlier versions in that it mediates “between mind and body by communing with dead soldiers … [practicing] necromancy through the art of telling stories.”17 It is precisely this shift in Kluge’s attempts to engage with the Battle of Stalingrad through literature (“telling stories”) that makes this and following revisions of Schlachtbeschreibung of particular interest. This is because it is a formal shift that reconceptualizes the way the literary/montage-novel works, and, I argue, one that has much to do with the increasing introduction of friction via fiction into a work overwhelmingly composed of documentary materials. As Thomas von Steinaecker shows, the first three editions of Schlachtbeschreibung focus on Kluge’s portrayal of the language of the “Kriegsmaschine” as a “Textmaschine”, albeit one devoid of content (as are the empty phrases, predetermined press reports, etc. that overwhelmingly make up these three editions).18 In each subsequent revision, Kluge increases friction through the inclusion of additional fictions, stretching the concept of the closed war machine and the book to their breaking points.

Clausewitz and Friction Friction is “a concept that helps define the parameters of existence,” and which provides, in the midst of modernity’s quest to eliminate sources of friction, a source for a representation of a “richer world.”19 It is necessary in all spheres of life, despite utopian “demands that friction be planned out of the future,” and visions of the past that “[require] that you automatically think it away, as if claiming to know exactly how things should have been.”20 Although friction can lead to slowing down or to stoppage, it is also necessary for movement, providing a point from which one can gain impetus and which “provides a perpetual contact with the world.”21 Friction as a theoretical force was first formulated 15 Langston, Visions of Violence, p. 199. 16 For a discussion of the expansion of visual material in SB, see: Thomas von Steinaecker, Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds, Bielefeld 2007. 17 Langston, Visions of Violence, p. 201. 18 Steinaecker, Literarische Fototexte, p. 220. On Schlachtbeschreibung as a “text machine,” see: Carp, Kriegsgeschichten. 19 For more on the metaphor of friction in fields ranging from physics to philosophy, see: Nordal Åkerman (ed.), The Necessity of Friction, New York 2018, here p. 6. 20 Ibid. 21 Ibid.

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from, and came to the fore in, the realm in which movement and immobility (due to the force of friction) are matters of life and death: war. Here, friction is always present, but its importance “does not manifest itself in shattering moments on the battlefield, but, rather, both before and after facing the reality of war.”22 We can see this in Clausewitz’s attempt to theorize the frictions of war after facing it himself and to provide guidance for minimizing it (or at least understanding the role it will play) in future wars. Clausewitz was no stranger to “shattering moments on the battlefield.” In 1793, at the age of twelve, he first experienced war as a lance corporal in the Prussian campaigns against the French, and later served in both the Prussian army and the Russian Imperial army against Napoleon. As Alan Beyerchen notes, Clausewitz took part in at least six major battles, was wounded in one, witnessed many more, and was taken prisoner after the Battle of Jena-Auerstedt.23 These experiences of human suffering and well-laid plans gone awry led directly to his formulation of a theory of friction. For Clausewitz, friction was a constitutive component of war, and his concept thereof is one of his most important contributions to theories of war. He is at pains to articulate precisely what friction is, writing that it “is a force that theory can never quite define.”24 It is clear, however, that friction is inseparable from his conception of the military machine, and he borrows this term from the realm of real machines.25 Even before he devoted a chapter of On War to the problem of friction, he was keenly aware of it and thinking of it in terms of machines. In an 1812 letter to Crown Prince Friedrich Wilhelm, whom he served as a military tutor, Clausewitz articulated this with a simile, weaker than his later metaphor, writing that “[t]he conduct of war resembles the workings of an intricate machine with tremendous friction.”26 The sources of friction for Clausewitz were manifold. Among them he counts: the “difficulty of accurate recognition,” danger, physical exertion, weather, and a general “accumulation of difficulties.”27 The greatest source of all, however, was the human individuals who make up the military machine: “The military machine is basically very simple and easy to manage. … but each part is composed of individuals … who may chance to be the cause of interruptions and instability” 22 Kaisu Mälkki/Juha Mälkki, “The Dynamics of Clausewitzian Friction”, in: Kungliga Krigsvetenskapsakademiens handlingar och tidskrift 23/2, 2011, pp. 41–60, here p. 55. 23 Beyerchen, “Kluge and Clausewitz”, p. 46. 24 Clausewitz, On War, p. 120. 25 Most of Clausewitz’s references to friction are paired with metaphors dealing with machines. This is a sophisticated and rather “high-tech” move on Clausewitz’s side, and is indicative of his familiarity with scientific concepts. As Alan Beyerchen writes, he was a “man of considerable scientific literacy.” (Beyerchen, “Clausewitz, Nonlinearity and the Unpredictability of War”, p. 71.) 26 Cited in: Clausewitz, On War, p. 17. 27 Ibid., pp. 114–122.

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(Die militärische Maschine … ist im Grunde sehr einfach und scheint deswegen leicht zu handhaben. … Aber alles [ist] aus Individuen zusammengesetzt … von denen, wenn der Zufall es will, der unbedeutendste imstande ist, einen Aufenthalt oder sonst eine Unregelmäßigkeit zu bewirken).28 These individuals cause friction due to their experience of war as a “realm of suffering, confusion, exhaustion, and fear.”29 Furthermore, friction is what makes war real, distinguishing it from war plans and “fanciful accounts” (unwahre Schlachtbeschreibungen) of war.30 Clausewitz says as much when he writes: “Friction is the only concept that more or less corresponds to the factors that distinguish real war from war on paper” (Friktion ist der einzige Begriff, welcher dem ziemlich allgemein entspricht, was den wirklichen Krieg von dem auf dem Papier unterscheidet).31 Friction is never accounted for in plans, and its messiness and profusion is eliminated in “unwahre Schlachtbeschreibungen” in order to present smooth heroic narratives that prize definitive and decisive turning points in a battle.32 The effect of friction for Clausewitz is the restriction of judgement: it “impedes our ability to reason, and it weakens our judgment.”33 As noted above, the concept of friction, however, cannot be uncoupled from Clausewitz’s notion of the military machine. As Clausewitz well knew, friction is inherent in machines and cannot be eliminated. With this in mind, he never calls for an elimination of friction, but rather ponders what might serve as a “lubricant” (milderndes Öl) in the military machine, and also correlates an abundance of friction with inertia.34 The friction of war, however, is in key ways different than the friction of machines; as Clausewitz notes, it “cannot, as in mechanics, be reduced to a few points, [it] is everywhere in contact with chance, and brings about effects that cannot be measured …” (Diese entsetzliche Friktion, die sich nicht wie in der Mechanik auf wenig Punkte konzentrieren läßt, ist deswegen überall im Kontakt mit dem Zufall und bringt dann Erscheinungen hervor, die sich gar nicht be-

28 Clausewitz, Vom Kriege, p. 138. Translation modified. 29 Chris Donnely, “Friction and Warfare”, in: Åkerman (ed.), The Necessity of Friction, pp. 31– 62. here p. 32. 30 Clausewitz, On War, p. 249. In light of Kluge’s familiarity with Clausewitz, this must be considered as a possible source of the title of Schlachtbeschreibung. 31 Ibid., p. 119. 32 Ibid., p. 249. Here Clausewitz writes: “Battles in which one unexpected factor has a major effect on the course of the whole usually exist only in the stories told by people who want to explain away their defeats.” 33 Mälkki/Mälkki, “The Dynamics of Clausewitzian Friction”, p. 46. For a concise definition of Clausewitz’s theory of friction, examined in terms of physics and information theory, see: Beyerchen, “Clausewitz, Nonlinearity and the Unpredictability of War.” 34 Clausewitz, On War, p. 122. Clausewitz uses “Inertie,” “Trägheit,” and “Schwere” seemingly interchangeably when referring to inertia.

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rechnen lassen).35 At play here is not just the immeasurability of the effects of friction, but also the fundamental incalculability of the main sources of friction that Clausewitz identifies: “exhaustion, hunger, and general misery in the soldier.”36 This attentiveness to human suffering, and his taking it into account in his theory of war, is what distinguishes Clausewitz from other military theorists of his time. He “expresses the human element at the core of war,” just as Kluge does in Schlachtbeschreibung and elsewhere.37

Kluge and Friction Friction, for Clausewitz, was something to be minimized at all costs; if friction got out of hand, the military machine would grind to a halt. For Kluge, on the other hand, friction in Schlachtbeschreibung is something to be cultivated. He himself has stated that his principal role in his projects has much to do with introducing friction into them: “My primary activity consists of creating constellations, letting friction into things. One calls that assembling, mounting, montage” (Was ich hauptsächlich mache ist, Konstellationen herstellen, Reibung zulassen. Man nennt das Montieren. Montage).38 The friction present in Schlachtbeschreibung, I argue, is generated differently than the friction caused by the mere presence of Kluge’s “counterhistorical Gegengeschichten.” These counterhistorical Gegengeschichten generate the friction of history and counterhistory, held together, as Andrew Bowie points out, by “the notion of Zusammenhang (context, connection, that which ‘hangs together’).”39 To be sure, this sort of friction has some things in common with the friction generated in machines: it is simultaneously potentially productive and potentially destructive and is generated by the proximity of elements that have been brought into relation with one another. Furthermore, as the philosopher of technology Gilbert Simondon notes, friction is one of the marks of “two worlds [acting] upon each other.”40 In the commu35 Ibid., p. 120. 36 Bernard Brodie, “A Guide to the Reading of On War”, in: Clausewitz, On War, pp. 641–711, here p. 671. 37 Alan Beyerchen, “Kluge and Clausewitz: Chance & Imagination in the Real World”, Alexander Kluge: New Perspectives on Creative Arts and Critical Practice Conference, 12 October, Cornell University, Ithaca, NY. 38 Alexander Kluge, cited in: Alexander Kluge – Der Universalkünstler aus Halberstadt, dir: Reinhold Jaretzky, DE 2018. Translation mine. 39 Andrew Bowie, “Kluge: An Introduction”, in: Cultural Critique 2/4, 1986, pp. 111–118, here p. 113. 40 Gilbert Simondon, On the Mode of Existence of Technical Objects, trans. Cécile Malaspina, Minneapolis 2016, p. 56. Friction also allows for a deeper recognition of technical objects, since it allows them to become calculable in terms of their energy loss.

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niques, official accounts, and other documentary materials that make up the majority of the source material for Schlachtbeschreibung, only one world is present. Kluge cultivates friction by strategically introducing fiction as another “world” into Schlachtbeschreibung as part of his project to portray the Battle of Stalingrad.

Friction in Schlachtbeschreibung In line with Clausewitz’s understanding of the war machine as being comprised of friction-causing individuals, Kluge prizes the individual and the speculative moment. This accounts for several of Kluge’s strategies of introducing friction into his account of Stalingrad. The majority of the text affirms the concept of the war machine as an omnipresent factor that extends and intrudes, almost infrastructurally, into nearly every aspect of modern life.41 Due to its omnipresence, I would suggest that the war machine, like infrastructural technologies, has become nearly invisible. Like infrastructure, it only becomes visible when it breaks down, or when its smooth functioning is interrupted.42 In other words, infrastructure only becomes visible when it is overwhelmed by friction. This is part of what Schlachtbeschreibung provides: fictional moments that introduce friction into the war machine and thus make it visible. Even while affirming and revealing the omnipresence of the war machine, Kluge’s strategies serve to reintroduce something lost in the concept of the war machine and technology in general – the human element. Clausewitz views the war machine as something partially made up of human components, but also as something with an inherently and essentially human part. In both Kluge and in Clausewitz, it is clear that the war machine is not a machine in a classic sense. It is a metaphor, of course, and perhaps a poor one,

41 We might think of this intrusion of the war machine into everyday life (and human consciousness) as—to use Kluge’s term—a manifestation of the “Druck der Dinge.” This, writes Andrew Bowie, is a result of “the fundamental changes which split the nineteenth century [due to the growth of the modern industrial world].” (Bowie, “New Histories”, p. 181.) Kluge writes that this “Druck der Dinge” is visible in modernist novels in which “the mass of immobile things, noises, building machines, buildings, industries, etc., forces its way into the house, so that consciousness perhaps still survives in the things, but hardly in the human beings.” (Alexander Kluge, cited in: Bowie, “New Histories”, p. 181.) 42 For an account of infrastructure’s (in)visibility and its medial importance, see: Susan Leigh Star/Geoffrey C. Bowker, “How to Infrastructure”, in: Handbook of New Media: Social Shaping and Consequences of ICTs, 2002, pp. 151–162. For a discussion of infrastructural functioning, breakdowns, and maintenance, see: Stephen Graham/Nigel Thrift, “Out of Order: Understanding Repair and Maintenance”, in: Theory, Culture & Society 24/3, 2007, pp. 1–25.

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one that is based on a bad understanding of the machine.43 When we take the metaphor of the war machine seriously, it becomes clear that it breaks down and exposes itself as a bad metaphor. This is precisely why the concept of the war machine proves so useful for understanding how the book itself works, and for the view of historical processes, of war, and of humanity that the novel presents.44 The metaphor of the war machine – presented at face value and often through the official language of documentary sources – that Kluge exposes and works with (and against) is one that falsely views the machine as one that runs without friction, without interruption, without the essential element of the human. It is precisely this attempt to smooth out the functioning of the war machine (and, I would add, the transmission of historical accounts of the Battle of Stalingrad) that Schlachtbeschreibung fights against. By reintroducing the individual human element to the account of the war machine, the novel tackles the out-of-control metaphor of the putatively autonomous war machine. In order to examine the power of the war machine and the power of the individual human element, I take the view here that the war machine is not just a mere metaphor, but also something akin to the notion of the “technical object” advanced by Simondon, primarily in his 1958 Du Mode d’Existence des Objets Techniques (On the Mode of Existence of Technical Objects). Simondon sees technology and technical objects as neither mere tools completely subservient to human will, nor as mythical projections that are radically divorced from human culture, rather, they are inseparable from the essence of what it means to be human.45 To conceive of the novel as a “text machine”, and to consider its relation to the idea of the war machine, is to regard it, along with the war machine, in some way, as technical objects. Simondon sees technical objects as having a limited degree of autonomy and as concretely impacting societies and cultures. What’s more, they are able to create their own milieus and “[refashion] … natural environments and societies to the logic of [their] own material efficiency.”46 Simondon thus asserts that the power of technology and technological objects changes “mentalities, perceptions, [and] ways of life.”47 Writing, as a technology, gives rise to the possibility of the war machine, which then generates physical, per43 As noted above, Clausewitz understood that the metaphor was problematic, but nevertheless made repeated recourse to it throughout Vom Kriege. 44 Bowie sees Schlachtbeschreibung and its narrative form as a “response to modern history.” See: Bowie, “New Histories”, p. 180. 45 For an earlier exploration of the intertwinement of the human and the technological, see: Ernst Kapp, Elements of a Philosophy of Technology: On the Evolutionary History of Culture, ed. by Jeffrey West Kirkwood, et al., Minneapolis 2018. 46 Andrea Bardin/Giovanni Menegalle, “Introduction to Simondon”, in: Radical Philosophy 189, 2015, pp. 15–16. 47 Pascal Chabot, The Philosophy of Simondon: Between Technology and Individuation, New York 2013, p. 47.

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ceptual, and written milieus. Eric Kluitenberg, echoing Lewis Mumford, intones its importance for the creation of the war machine, which is then able to be managed via “remote mechanical control.”48 However commonsensical this statement might be, the written records that provide direction for nearly every aspect of the war machine and that arise as a result of the machine’s functioning make up a major part of Schlachtbeschreibung. The work certainly can be viewed as a “text machine,” but it also demonstrates, via the variety of documents (sermons, news reports, manuals, etc.) cited in it, the imbrication of the war machine with everyday life. In the chapter “Sprache der höheren Führung” (The Language of the High Command), not far past the book’s midpoint, Kluge shows us that the war machine extends into the language used to chronicle wars as they unfold, and into the language used to build post-facto narratives, both private and public, of war. Language in this section at times takes on the character of industrial processes and products: the garrulous General von Stumme’s (the irony is not lost here) words are “shoveled out like coal” (kohlenartig herausgeschaufelt) and the volume of his voice is like a motorized vehicle.49 It is here too, that Clausewitz reappears for the first time since the book’s opening pages. Under the heading “Fließende Rede” (Flowing Speech), a lieutenant-colonel speaks of the army as “a machine, that is to say a war machine, in line with Clausewitz’s conception of things” ([eine] Maschine, bzw. [eine] Kriegsmaschine, gemäß Clausewitz).50 The lieutenant-colonel’s conception of the army as a war machine is considered by his 48 Eric Kluitenberg, Delusive Spaces: Essays on Culture, Media, and Technology, Rotterdam 2008, p. 150. Unlike those who might assert that war is the wellspring of human invention, Mumford does not treat war as the “father of all things.” Rather, he isolates it, at least historically, in its “repeated, indeed chronic, devastations and decimations” a source of “industrial and social retardations.” See: Lewis Mumford, The Myth of the Machine, New York 1962, p. 249. 49 Kluge, SB, p. 226. “Stumm” means “mute.” 50 Kluge, SB, p. 227. The lieutenant-colonel in the service of the general staff (who Kluge refers to as Oberst i.G [Oberstleutnant im Generalstab] Br.) here is Günther Breithaupt. In a truly Klugian intertwining of stories, which Kluge (one imagines, but cannot be entirely certain!) could scarcely have been aware of, Breithaupt has a relation to war and the Russian winter, to the Battle of Borodino (a fascination of Kluge’s and the subject of one of his recent “minute films”), to Napoleon, to Russian prisoner-of-war camps, and to Clausewitz. Johann Nicolaus Breithaupt was a musician and a soldier who served as a bugler in Napoleon’s army, musically communicating orders to the soldiers at Borodino. He was captured by the Russians, but was set free because he was German. He later fought with the Prussian army (under the command of Clausewitz) against Napoleon, before returning to his Thuringian home and family. His direct descendent (likely his great-grandson) was Günther Breithaupt. The young Breithaupt, unlike his relative, did not survive his time in Russia. He was taken prisoner on January 31, 1943, and died in Soviet captivity in Frolovo on March 22, 1943. See: Heiko Stasjulevics, “Ballstädter gab mit Signalhorn Befehle an Napoleons Truppe weiter”, in: Thüringer Allgemeine (Gotha), 13. 09. 2013, https://gotha.thueringer-allgemeine.de/web/gotha/startseite/de tail/-/specific/Ballstaedter-gab-mit-Signalhorn-Befehle-an-Napoleons-Truppe-weiter-13065 07590 [14. 05. 2020].

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fellows to be “exaggerated” (übertrieben), and when Clausewitz’s words appear on the following page, they are a response to this concept of the war machine and the absence of friction implied by the “flowing speech” of the high command.51 Here, the following Clausewitz quote stands at the top of a list of maxims: “An iron will does indeed overcome the obstacle of friction. It crushes this impediment, but destroys the machine as well” (Ein mächtiger eiserner Wille überwindet zwar die Friktionen. Er zermalmt das Hindernis, aber die Maschine freilich mit).52 The quote troubles the uninterrupted flow of speech and its relation to the smooth functioning of the war machine. All of the quotes and maxims that follow present themselves as a type of frictionless continuity, ignoring the messy realities and frictions of war. This ignorance is no doubt one of the reasons why Clausewitz detested “the compounding of maxims and axioms and … the people who engaged in it.”53 Nearly aphoristic, and axiomatic in their concision, they wash over the reader, hoping to be accepted rather than contemplated. The nature of the maxim, of the well-worn proverb, seems to be its interchangeability and, at a certain point, its anonymity – one generality can be substituted for another.54 Despite this display of substitutability, if we consider the implications of the Clausewitz quote by reading it in light of the biggest source of friction that he identifies, we see that friction – caused by individual human elements – is a necessary part of the machine; the attempt to eradicate these elements results in the destruction of the machine, itself a concatenation of the human and technical extensions of the human. Hearkening back to Simondon, the technical device and the human are intertwined and inextricable – there is no (full) existence of one, nor the other, without the existence of both. Kluge’s friction-causing interventions expose the illusion of “the ability of machines to function without human intervention” (Selbstlaufeffekt) via the 51 52 53 54

Kluge, SB, p. 227. Ibid., 228. For the source of the quote see: Clausewitz, Vom Kriege, p. 50. Brodie, “A Guide to the Reading of On War”, p. 650. Kluge’s focus on exposing the role aphorisms play in warfare and military command is not surprising, given his relationship and affinities with Adorno, who makes a practice of subverting and interrupting aphorisms in Minima Moralia. For more on the relationship(s) between Kluge, Adorno, and Minima Moralia, see: Adelson, Cosmic Miniatures, especially p. 111. The structure of the proverb, of the “familiar quotation” and, with Adorno and Horkheimer’s critique of the culture industry in mind, the advertising slogan, serves a purpose. The following quote from Dialectic of Enlightenment is particularly apt here: “Unzählige gebrauchen Worte und Redewendungen, die sie entweder überhaupt nicht mehr verstehen oder nur ihrem behavioristischen Stellenwert nach benutzen …” See: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Vol. 5: Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940–50, ed. by Alfred Schmidt/ Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt/M. 1987, p. 194. The place of careful and original expression is usurped by the habitually uttered phrase, a practice that Adorno takes aim at, especially in the titles of the aphorisms in Minima Moralia.

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jarring presence of human elements in a book that appears at times to present itself as a “text-machine.”55 Some of the key instances of friction occur when individuals are unexpectedly foregrounded. These moments are particularly effective in a text that is constructed, to borrow a term from Kluge, “in an almost factory-like fashion” (quasi fabrikmäßig).56 These intensely human elements are jarring precisely because of the documentary nature of the materials that comprise so much of Schlachtbeschreibung. Although the instances where human emotions and suffering are laid bare permeate and punctuate the book, they are shocking in their brevity and poignancy, especially when compared with the generally uninterrupted length of the historical and documentary sources that make up much of it. I suggest that these moments serve to prevent the reader from being numbed to the horrors lurking beneath this bureaucratic language. This is opposed, for example, to the prescription that a figure in a fictional part of the book gives to another while torturing a prisoner: “Stay calm. It’s important in our role to react like a machine, like nothing at all” (Ruhig bleiben. Es ist in unserer Rolle wichtig, wie eine Maschine, wie ein Nichts zu reagieren).57 At crucial junctures, the text pushes the reader to respond with compassion rather than with the machine-like coolness and dispassion prescribed by the torturer. It is important to note here the generic status of these elements: they are lent their power by their fictional quality, their concision, and their interspersion in a text to a large degree composed of putatively real, nonfictional, and traditionally non-diegetic material. Because Kluge is using fictional accounts to disrupt documentary material, he seems here to be working in a manner nearly opposite to Walter Benjamin’s assessment of Alfred Döblin’s Berlin Alexanderplatz, and Döblin’s montage technique which, he writes, “explodes the novel” (sprengt den Roman).58 With “the novel” Benjamin means not only the book Berlin Alexanderplatz, but also the novel as a genre, exemplified by its “formal closure,” and its operative quality: the “ingrained imperative to close itself off from a nonnarrative outside.”59 At the same time that Kluge calls into question the veracity of the information contained in the war report, the training manual, and the

55 Carp posits that the “Selbstlaufeffekt” is one of the primary characteristics of machines. See: Carp, Kriegsgeschichten, p. 113. 56 In the “Nachricht,” Kluge writes: “Dies ist organisatorischer Aufbau eines Unglücks. Es baut sich quasi fabrikmäßig, in den Formen der Staatsanstalt auf; die menschlichen Reaktionen darauf bleiben privat. Sie addieren sich nicht fabrikmäßig.” (This is the organizational structure of a disaster. It is systematically established in the forms of state institutions; the human reactions to the disaster, however, remain private. They cannot be systematically summed up.) Kluge, SB, p. 8. 57 Ibid., p. 270. 58 Walter Benjamin, “Krisis des Romans”, cited in: McBride, The Chatter of the Visible, p. 51. 59 Ibid., p. 50.

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axioms of the General Staff, he makes these genres porous – these are, after all, genres that tend to seal themselves off from a narrative outside. Here, I highlight one of the first of these frictive accounts of human suffering.60 It comes after a 14-page-long excerpt from a German army manual for winter warfare, and is indicative of the type of interruptions that follow. In a fictional intervention to (and interruption of) the realia that open the book, Kluge describes the situation of Private Metzger, who, on the penultimate day of the battle, is hiding in a sewer pipe and hoping to escape the Russians. The reader experiences his blindness, his hopelessness and his fear. In short and sober sentences, his situation and capture are described. Shot through the foot, he is marched towards the steppes and near-certain death. While the language here is not sentimental, Kluge appears to borrow at a key point language from a source far removed from the manual preceding these pages – the Grimms’ fairy tales. Private Metzger marches (and Kluge uses quotation marks here) “‘with a shoe into which blood flowed and filled’” (mit einem Schuh, in dem das Blut quoll).61 This instance of citation calls to mind the Grimm’s “Cinderella,” and the blood that flows forth from the shoes of her sisters: “The prince looked down at her foot and noticed the blood flowing from her shoe” (Er [der Prinz] blickte nieder auf ihren Fuß, und sah, wie das Blut aus dem Schuh quoll …). The possible activation of this association imbues the passage with emotional power. This is an instance of the quotidian suffering caused by war, and giving voice to it creates friction. Kluge says as much in an interview about his film Deutschland im Herbst: “Das Großereignis und der Alltag stoßen … mit sehr starker Reibung aufeinander. Wir bleiben doch Menschen, auch wenn Tragödien geschehen.”62 Just as Kluge foregrounds the friction-causing individual at points like this, he also highlights the opposite throughout the book. The attempt to eradicate individual frictions is most clearly articulated in the chapter “Rechenschaftbericht” (Statement of Accounts), the final substantial section of the book. This chapter is devoid of the individual voice or stories of individuals and instead presents a one-sided account of the final months of the Battle of Stalingrad. It is illustrative of Kluge’s treatment of the problematic war machine metaphor in that it both affirms and works against the idea of a seamlessly functioning machine.63 The 60 I don’t pretend to account for even a fraction of these instances. These are simply illustrative examples of the type of frictive fictions depicting human suffering that increasingly permeate the book in the course of its revisions. 61 Kluge, SB, 27. 62 Alexander Kluge/Christian Schröder, “‘Die Grausamkeit soll aufhören’”, in: Der Tagespiegel, 15. 10. 2007, https://www.tagesspiegel.de/kultur/interview-mit-alexander-kluge-die-grausam keit-soll-aufhoeren/1068906.html [14. 05. 2020]. 63 “Rechenschaftbericht” is a term like “Transkript” (transcript). Here, I think of Heimrad Bäcker, who said of his own texts, created from documentary sources: “Es genügt, die Sprache der Täter und der Opfer zu zitieren. Es genügt, bei der Sprache zu bleiben, die in den

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(on-the-surface) machinic nature of the Battle of Stalingrad, of the course of events, and their seamlessness and/or inevitability is both affirmed and troubled here. In this section, the last two months and twenty-one days of the battle are relayed in short, sometimes telegraphic segments, providing the barest account of each day’s events. The attempt of this perspective to provide an uninterrupted flow, to maintain continuity in the face of disaster, flounders, however. It runs aground the shoals of its own structures – the machine breaks down. This has much to do with the source of at least some of the language, which is culled from official Nazi party news releases authored by the Wehrmacht and ordered to be printed in all newspapers.64 The chapter’s structure and the language in it are much like the string of maxims earlier in the book, in that the section attempts to present itself as “smooth” and devoid of friction, running on its own. However, the stream of official accounts is interrupted, punctuated by instances of “nothing.” For example, under the 18 and 19 of November, along with the 13 of January, only “nothing” (nichts) is listed. This serves to show the obvious gaps in an official “Statement of Accounts,” and also, by way of absence, interrupts the smooth flow of reading. Accounting for this absence may well be part of Kluge’s recommended strategy of reading the text “against the grain” (gegen den Strich).65 Kluge’s project of probing fiction and the fundamental instability of the metaphor of the “war machine” has a historical grounding and is backed by current military theory. For military theorists, one of Clausewitz’s most enduring concepts is that of the “center of gravity,” which has had particular relevance for the strategic doctrine of the United States Army. The center of gravity is, write Amos Fox and Thomas Kopsch, “a metaphor to define warfare between relatively

Dokumenten aufbewahrt ist. Zusammenfall von Dokument und Entsetzen, Statistik und Grauen” (It is sufficient to cite the language of the perpetrator and the victim. It suffices to stick with the language preserved in documents. Coincidence and concomitance of document and disgust, statistics and horror). Cited in: Friedrich Achleitner, “Über die Beschreibbarkeit des Unbeschreibbaren oder der Versuch eines Nachworts zur Nachschrift”, in: Heimrad Bäcker, Nachschrift, Graz 1986, p. 131. 64 See, for example: Jonas Bothe, Von Stalingrad zum totalen Krieg: Wie in der Bremervo¨rder Zeitung u¨ber die Schlacht der 6. Armee berichtet wurde, Hamburg, 2014. See also: Erich Murawski, Der deutsche Wehrmachtbericht 1939–1945: ein Beitrag zur Untersuchung der geistigen Kriegfu¨hrung: mit einer Dokumention der Wehrmachtberichte vom 1. 7. 1944 bis zum 9. 5. 1945, Boppard am Rhein 1962. Excerpts from the Wehrmachtberichte were also printed in Der Spiegel in May 1962, which may have been a possible source for Kluge. See: “Dreck im Hirn”, in: Der Spiegel, 02. 05. 1962, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45139987.html [14. 05. 2020]. 65 Alexander Kluge, Chronik Der Gefu¨hle I, Frankfurt/M. 2000, p. 511. In the 1978 and 1983 versions this exhortation appears in the section “Nachricht,” rather than as an epigraph: “Den folgenden Text muss der Leser gegen den Strich lesen …”

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closed systems.”66 Defined in the Department of Defense’s Dictionary of Military and Associated Terms as “the source of power that provides moral or physical strength, freedom of action, or will to act,” it was a valid (if not, at times, troubled) concept for the 19th-century warfare that Clausewitz was familiar with.67 Within the “relatively closed system” of 19th-century European armies, it was not uncommon for there to be a confluence of “policy, strategy, and battlefield,” especially since the heads of state and others in charge of policy were often near, and sometimes actually on, battlefields.68 Fox and Kopsch argue that the centerof-gravity approach, due to its closed and mechanical nature, is no longer valid, and that a more “systems-centric” theory must be adopted to deal with new conditions of warfare. While this is a contested point, it seems that Kluge, looking back on the Battle of Stalingrad and viewing it as fundamentally open, extending beyond the battlefield’s spatial and temporal bounds, understands the shortcomings of the metaphor of a closed war machine.69 This is visible in one of the most striking changes in the 2000 revision of Schlachtbeschreibung, and can be seen in the changed “Nachweis” (evidence) formerly called the more subjective “Nachbemerkung” (closing commentary).70 In the 1983 edition, the word “book” (Buch) appears 4 times in the afterword. In the 2000 revision it is either completely elided, or it is replaced by “text” (Text) or “Scenes” (Szenen). By way of Kluge’s opening the closed “Textmaschine” of Schlachtbeschreibung to “entsetzliche Friktion” and friction, the book, in a way, disappears. In the end, it, like the war machine, breaks down.

66 Amos Fox/Thomas Kopsch, “Moving beyond Mechanical Metaphors: Debunking the Applicability of Centers of Gravity in 21st Century Warfare”, in: The Strategy Bridge, 02. 06. 2017, https://thestrategybridge.org/the-bridge/2017/6/2/moving-beyond-mechanical-metaphorsdebunking-the-applicability-of-centers-of-gravity-in-21st-century-warfare [19. 01. 2019]. 67 United States Army, Insurgencies and Countering Insurgencies. Field Manual, No. 3–24, Washington, D.C. 2014, https://fas.org/irp/doddir/army/fm3-24.pdf [30. 01. 2019], section 7– 20. 68 Fox/Kopsch, “Moving Beyond Mechanical Metaphors.” 69 For a military argument championing the relevance of Clausewitz’s center-of-gravity theory, see: Milan N. Vego, “Systems versus Classical Approach to Warfare”, in: Joint Force Quarterly 52/1, 2009, pp. 40–48. Here I would also like to suggest that the radical openness that characterizes Kluge’s literary-historical approach finds, in a way, a counterpart in Clausewitz’s conception of criticism and theory. Clausewitz writes that “the function of criticism would be missed entirely if criticisms were to generate into a mechanical application of theory.” See: Clausewitz, On War, p. 157. 70 In addition to the addition of the epigraph and the changes in the afterword, the chapter “Verhedderung” is expanded via the inclusion of fictional material.

Kentaro Kawashima

»Komik und Galgenhumor« in Tschernobyl. Über Alexander Kluges Die Wächter des Sarkophags1

1. Was gibt es denn da zu lachen? Es geht doch in Alexander Kluges Die Wächter des Sarkophags um den Super-GAU im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl! Wie der Nebentitel 10 Jahre Tschernobyl signalisiert, stellt das 1996 erschienene Buch den Versuch dar, ein Jahrzehnt nach der Atomkatastrophe vom 26. April 1986 eine Rückschau darauf zu halten: Rekonstruiert wird das Ereignis mit einer für Kluge charakteristischen Montage von Zeug_innenaussagen, Geschichten, Anekdoten, Fotos und statistischen Tabellen. So wird hier der historisch größte der Atomunfälle, die in Europa geschehen sind, multimedial, d. h. in Schrift, Bild und Zahl wiedergegeben. Selbstverständlich ist der Atomunfall an sich gar nicht zum Lachen. Was Kluges Tschernobyl-Buch kennzeichnet, ist dennoch, so meine These, das Komische.2 Im vorliegenden Beitrag geht es um diese Diskrepanz von komischer Darstellung und dargestelltem Super-GAU, um die Spannung von Darstellungsweise und dargestelltem Ereignis, die Kluges Auseinandersetzung mit Tschernobyl durchzieht. Die Beschäftigung mit diesem Thema scheint vor allem für die japanische Germanistik unvermeidlich zu sein, weil Kluge 2011 angesichts der Atomkatastrophe in Fukushima das Hörspiel Die Pranke der Natur (und wir Menschen). 1 Dieser Text ist ein ergänzter Wiederabdruck aus: Yoshiyuki Muroi (Hg.), Einheit in der Vielfalt? Germanistik zwischen Divergenz und Konvergenz. Asiatische Germanistentagung 2019 in Sapporo, To¯kyo¯/München 2020, Ebook, https://www.iudicium.de/katalog/86205-331.htm, S. 595–602. Ich danke Prof. Muroi für die Genehmigung des Wiederabdrucks. 2 In der Forschungsliteratur beschäftigt sich vor allem Rainer Stollmann intensiv mit Kluges Komik. Vgl. Rainer Stollmann, »Grotesker Realismus. Alexander Kluges Fernseharbeit in der Tradition von Komik und Lachkultur«, in: Christian Schulte/Winfried Siebers (Hg.), Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt/M. 2002, S. 233–259; ders.: Alexander Kluge zur Einführung, 2. ergänzte Auflage, Hamburg 2010, S. 19–22, 37f. Vgl. auch Markus Joch, »›Ein herzloser Schriftsteller‹? Der Luftangriff auf Halberstadt und Alexander Kluges sachliches Erzählen«, in: Deutschstudien, Nr. 53, 2019, S. 69–79. Ins Japanische übersetzt von Yoshiko Hayami.

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Das Erdbeben in Japan, das die Welt bewegte, und das Zeichen von Tschernobyl produzierte.3 Unverkennbar ist dabei, dass auch Kluges Fukushima-Hörspiel, dem zweifelsohne seine Arbeit an Tschernobyl zugrunde liegt, von der Komik geprägt ist, die der vorliegende Beitrag verhandelt. In diesem Sinne lässt sich die hier gestellte Frage nach der Komik in Kluges Tschernobyl-Buch als Vorbereitung auf eine kommende Auseinandersetzung mit seinem Fukushima-Hörspiel begreifen.

2. Ein großer Teil des Buchs Die Wächter des Sarkophags besteht aus Zeug_innenaussagen von der Havarie des Atomkraftwerks in Tschernobyl, die ursprünglich für die Kulturmagazine der von Kluge gegründeten Fernsehfirma DCTP gesammelt wurden. Das Buch basiert, so heißt es ausdrücklich in der Einleitung, auf »Interviews« für seine TV-Programme: In der vorliegenden Dokumentation sind Interviews zusammengefaßt, die mit Menschen geführt wurden, die direkt mit Tschernobyl zu tun hatten, die also unmittelbare Erfahrung wiedergeben. Die Interviews stammen aus den Sendungen der DCTP 10 vor 11, News & Stories oder Primetime/Spätausgabe. In einigen Fällen ist der Zusammenhang, von dem gesprochen wird, nur durch Bilder deutlich zu machen.4

Unmissverständlich formuliert Kluge, dass es hier um eine »Dokumentation« geht, um eine wirklichkeitsgetreue Wiedergabe der »unmittelbare[n] Erfahrung«, wenn auch in diesem Buch eine für Kluge charakteristische Vermischung von Gefundenem und Erfundenem nicht fehlen mag.5 Kluges medienkritische Sicht auf die offizielle Fernsehkultur, deren feudalistische Struktur »mehr mit Barock und Versailles als mit Öffentlichkeit und Demokratie zu tun hat«,6 veranlasste 3 Das Hörspiel wurde im BR2 am 26. November 2011 urgesendet. Die meisten der Geschichten, aus denen es besteht, wurden dann aufgenommen in Alexander Kluge, Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe. 402 Geschichten, Berlin 2012. Zum Fukushima-Hörspiel vgl. Peter Risthaus, »Gegenwartsangriff. Alexander Kluges Frühwarnsystem zwischen Wind und Welle«, in: Stefan Geyer/Johannes F. Lehmann (Hg.), Aktualität. Zur Geschichte literarischer Gegenwartsbezüge vom 17. bis zum 21. Jahrhundert, Hannover 2018, S. 349–363. 4 Alexander Kluge, Die Wächter des Sarkophags. 10 Jahre Tschernobyl, Hamburg 1996, S. 16. Hervorhebung von Kluge. Im Folgenden wird dieses Buch mit der Seitenangabe in Klammern im Fließtext zitiert. 5 Zum Beispiel tritt in diesem Buch neben real existierenden Wissenschaftler_innen auch ein fiktiver wie etwa »der Katastrophenforscher Witzlaff« (116) auf, der »schon seit den 80er Jahren zu Kluges (erfundenem) Expertenarsenal« gehört. Vgl. Risthaus, Gegenwartsangriff, S. 359. Auch im Fukushima-Hörspiel ist die Geschichte »Witzlaffs Katastrophentheorie« enthalten. 6 Vgl. hierzu Stollmann, »Grotesker Realismus«, S. 241.

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ihn, auf das Nichtfernsehhafte zu setzen: Ihm ging es darum, »unmittelbare Erfahrung festzuhalten gegenüber der nur mittelbaren, die uns die Medien geben« (15). So wurde als Augenzeugin etwa Oxana Pentak interviewt, eine junge Ingenieurin, die sich in der Nacht der Explosion in Tschernobyl aufhielt. Sie sprach von ihrer Wahrnehmung des Knalls der Explosion, von ihrem allmählichen Verständnis der Extremsituation, in der sie sich mit ihrer Familie befand, und von ihrer Flucht aus Tschernobyl. Interviewt wurde auch der Journalist Igor Kostin, einer der wenigen, die am 26. April 1986, also schon am Tag des Reaktorunfalls, den Explosionsort fotografierten. Viele Fotos von ihm sind als Bilddokumente in Die Wächter des Sarkophags einmontiert. Enthalten ist darin ferner ein Gespräch mit Swetlana Alexijewitsch, Schriftstellerin und Journalistin, der 2015 der Nobelpreis verliehen wurde. Im Gespräch mit Kluge sprach sie von ihrer Arbeit an Tschernobyl, namentlich an der sogenannten »Zone« (131), den abgesperrten, verseuchten Gebieten um Tschernobyl, in denen nun jedoch Flüchtlinge aus den Bürgerkriegen der Länder der ehemaligen Sowjetunion siedeln. Außerdem treten im Buch noch mehrere Wissenschaftler_innen und Expert_innen auf, die von ihrer Arbeit in Tschernobyl nach dem Super-GAU berichten. Was diese Zeug_innen als ihre »unmittelbare[n] Erfahrungen« mitteilen, sind Beobachtungen der Katastrophe, die Kluge nun seinerseits als Sammler authentischer Erfahrungen beobachtet. Deutlich ist dabei, dass er die Unmittelbarkeit der Erfahrung, an der er festhält, nicht unbedingt mit ihrer Wahrheit gleichsetzt. Ihm entgeht nicht, dass auch in den »unmittelbare[n] Erfahrungen« Illusionen enthalten sind. Ein exemplarisches Beispiel hierfür ist der Bericht Igor Kostins, der fürs Fotografieren in der ersten Stunde der Katastrophe sein Leben riskiert hat: Er gibt sich der Illusion hin, er sei »nicht verstrahlt«.7 Als Beobachter zweiter Ordnung macht Kluge erkennbar, dass »unmittelbare Erfahrungen« mit der gefährlichen Einbildung koexistieren, gegen die Strahlung immun zu sein.8 Ähnlich verhält es sich auch bei Oxana Pentak, wenn Kluge bezüglich ihrer Zeuginnenaussage vom »zähen Überleben der Illusion« spricht, »daß menschliche Kräfte mit einem solchen Ereignis umgehen können« (16). Die Illusionen, deren Zähigkeit bzw. deren »Eigensinn«9 Kluge mehr als einmal als »Antirea-

7 Henning Burk, »Die Wächter des Sarkophags. Interview mit Alexander Kluge«, in: Klemens Gruber/Christian Schulte (Hg.), Maske und Kothurn, Jg. 53, H. 1: Die Bauweise von Paradiesen, Wien 2007, S. 55–68, hier S. 56. 8 Ebd., S. 57. 9 Zu diesem Begriff vgl. Jürgen Fohrmann, »Arbeit an Deutschland. Alexander Kluges Chronik der Gefühle. Einführung«, in: ders. (Hg.), Chronik / Gefühle. Sieben Beiträge zu Alexander Kluge. Mit drei Geschichten von Alexander Kluge und einer Antwort von Wilhelm Voßkamp, Bielefeld 2017, S. 9–29, hier insbesondere S. 14–20.

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lismus des Gefühls«10 bezeichnet, machen auch eine Dimension der Realität aus. Insofern müssen auch sie im dokumentarischen Tschernobyl-Buch registriert werden. So ist dieses Buch, wie auch andere Werke Kluges, nicht nur multimedial, sondern auch multiperspektivisch und ironisch, bestehend aus der Beobachtung der Beobachtungen.

3. Was Kluges Arbeit an der Atomkatastrophe von Tschernobyl kennzeichnet, ist das Komische. Als Paradebeispiel hierfür lässt sich seine insistente Thematisierung des sogenannten »Elefantenfuß[es]« (12) anführen. Dabei geht es um hochradioaktiven Kernbrennstoff, der nach der Explosion in geschmolzenem Zustand aus dem Reaktor entwichen, mit anderer Materie gemischt, in den Keller des Gebäudes gelangt ist, wo er endlich erstarrte. Diese im Kellerraum fest gewordene Masse, die man wegen ihrer Form den »Elefantenfuß« nannte (siehe Abbildung 1), illustriert Kluge anhand mehrerer Fotos und Kommentare dazu. Die folgende Passage gibt wieder, wie die Wissenschaftler_innen damit umgingen:

Abb. 1: Der Elefantenfuß. Alexander Kluge, Die Wächter des Sarkophags. 10 Jahre Tschernobyl, S. 99.

10 Zu diesem Begriff vgl. Stollmann, Alexander Kluge zur Einführung, S. 29–42. Vgl. auch »Antirealismus des Gefühls, eine Geschichte mit Joseph Beuys« in der vierten (26. Juni 2012) der Frankfurter Poetikvorlesungen Kluges. In: Alexander Kluge, Theorie der Erzählung. Frankfurter Poetikvorlesungen, (2 DVDs und Booklet), Berlin 2013, DVD 2 (54.43)

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Nachdem der Elefantenfuß visuell erforscht und beschrieben ist, braucht man eine Probe dieser Materie, um ihr weiteres Verhalten vorhersagen zu können. […] Wie kann man Brocken der Materie gewinnen, die als Block im Elefantenfuß enthalten ist? Man tut das mit einem Kalaschnikow-Zielfernrohrgewehr, das man vom KGB entleiht. Lustvoll schießen die Experten auf die strahlende Materie, strafen sie und gewinnen so winzige Splitter, die mit Uhu-Klebstoff, der an der besagten Eisenstange befestigt wird, wie mit einer Insektenzunge in den etwas geschützteren Vorraum gezogen werden. Von dort werden sie mit dem Flugzeug nach Moskau in die Labors gebracht. Es ist Komik und Galgenhumor in der Szene, obwohl sie keineswegs lustig ist und jeder der Beteiligten weiß, daß er sein Leben riskiert. (Hervorhebung von Kluge, 13)

Überaus bemerkenswert ist die Formulierung von »Komik und Galgenhumor«, weil sie einen Grundzug des gesamten Tschernobyl-Buchs treffend auszudrücken scheint: Die Blickrichtung auf »Komik und Galgenhumor« in der Atomkatastrophe ist für den Autor von Die Wächter des Sarkophags bezeichnend. Im zitierten Passus liegt zunächst das Komische im widersprüchlichen Bild der fast kindisch anmutenden Expert_innen, die trotz der höchsten Gespanntheit der Situation ihre Lust darin finden, auf den Elefantenfuß zu schießen und ihn zu bestrafen. Gleichzeitig wird dabei die Hilflosigkeit der Menschen sinnfällig, die nur über zusammengetragene, amateurhafte Waffen verfügen. Sie müssen mit improvisiertem Instrumentarium gegen die riesenhafte unkontrollierbare Gewalt der Atomkraft kämpfen, die der Elefantenfuß verkörpert. Diese krasse Diskrepanz zwischen menschlicher Ohnmacht und gigantischer »Pranke der Natur« liegt der komischen Wirkung zugrunde. Ähnlich verhält es sich auch mit der wiederholten Thematisierung des »MiniRoboter[s]« (101f.), der für die Erforschung des unzugänglichen Elefantenfußes eingesetzt wurde. Es geht um einen »Raupenpanzer«, der aus einem Spielzeuggeschäft in Moskau herbeigeschafft wurde. Darauf wurde eine Amateurvideokamera befestigt. Der so improvisierte »Mini-Roboter« wurde ferngesteuert, um den Elefantenfuß beobachten zu können: »Wie Kinder sitzen die Akademiemitglieder und Ingenieure im Vorraum des Kellers, in dem die Radioaktivität tobt, lassen den Raupenpanzer vor- und rückwärts fahren und ›sehen‹ so zum ersten Mal Ereignissen zu, die für Laborversuche zu gefährlich wären.« (12) Natürlich scherzt in dieser Situation niemand. Alle operieren ganz im Ernst, wissend, dass es um Leben und Tod geht. Eben deshalb wirkt aber die verzweifelte Lage komisch, in der sich die Expert_innen befinden, haben sie doch nur solch ein lächerliches Spielzeug als Gegenmittel gegen den Super-GAU zur Verfügung. »Komik und Galgenhumor« zeigen sich hier im krassen Kontrast zwischen der Dringlichkeit des Notfalldienstes und der Nichtigkeit der verfügbaren Mittel. Außerdem treten in Die Wächter des Sarkophags die denkbar paradoxalen Figuren der »Bio-Roboter« (46) auf: »Weil die maschinellen Roboter bei der Räumung des Reaktors versagten, wurden Soldaten des Generals Tarakanow als

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sogenannte ›Bio-Roboter‹ eingesetzt.« (ebd.) Bezug genommen wird hier auf die Aussage Igor Kostins, der seine eigenen Tschernobyl-Fotos wie folgt kommentiert: Aber hier meine Lieblingsfotos, die ich Ihnen jetzt zeige. Das sind Menschenroboter, die haben direkt auf dem Dach des dritten Blocks gearbeitet. Die haben praktisch mit Händen die kontaminierten Stoffe und die Kernstäbe einfach abgerückt. Ich habe extra so belichten lassen, damit man sieht, wie stark die Radioaktivität war. (50)

Abb. 2: »Menschenroboter« auf dem Dach des dritten Blocks. Alexander Kluge, Die Wächter des Sarkophags. 10 Jahre Tschernobyl, S. 47.

Weil das Foto, um das es hier geht, auch im Buch abgebildet ist (47), können die Leser_innen selbst in Augenschein nehmen, wovon Kostin spricht (siehe Abbildung 2). Je authentischer seine Aussage aufgrund eines fotografischen Dokuments wirkt, desto grausamer ist der Tschernobyl-Jargon »Menschenroboter« (51), der ein ausgesprochenes Oxymoron darstellt. Kostin setzt fort: Als man die Liquidation des GAU beendet hatte, hat man diese Menschen aus Witz »Robot Peter« und »Robot Wassilij« genannt, diese Leute, die dort auf dem Dach gearbeitet haben, denn auf dem Dach haben ursprünglich zwei richtige, technisch gemachte Roboter gearbeitet, ein deutscher und ein japanischer Roboter. Aber die haben nicht funktioniert. Durch die starke Einstrahlung der Radioaktivität und dadurch, daß diese Dinger kontaminiert waren, haben sie aufgehört zu arbeiten. (51)

Wovon Kostin hier spricht, ist nichts anderes als die verkehrte Welt, in der statt der Menschenmaschinen Maschinenmenschen arbeiten. Dass diese auf den Kopf gestellte Welt, ohne eine satirische Fantasie zu bleiben, real existiert, darin liegen »Komik und Galgenhumor« in Tschernobyl. Bezüglich der Komik der »BioRoboter« liegt es nahe, an die klassische Theorie des Lachens von Henri Bergson anzuschließen. In seinem 1900 erschienenen Buch Das Lachen sah der Vertreter

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der sogenannten Lebensphilosophie das Komische in der Mechanisierung und Automatisierung des Lebendigen: »Komisch sind die Haltungen, Gebärden und Bewegungen des menschlichen Körpers genau in dem Maß, wie uns dieser Körper an einen gewöhnlichen Mechanismus erinnert.«11 Die »Menschenroboter« in Tschernobyl sind insofern mechanisiert, als sie angesichts des katastrophalen Atomunfalls keine Autonomie zur freiwilligen Bestimmung ihrer eigenen Handlung mehr hatten. Relevant ist jedoch, dass die Komik des mechanisierten Körpers in Tschernobyl gleichzeitig einen »Galgenhumor« darstellt: Die Menschen mussten als Roboter funktionieren und anstelle der Roboter arbeiten, und zwar unter den denkbar härtesten Umständen, bei denen sogar die eingesetzten Roboter wegen der »starken Einstrahlung der Radioaktivität« versagten.

4. Swetlana Alexijewitsch veröffentlichte 1997, ein Jahr nach dem Erscheinen von Die Wächter des Sarkophags, ihr dokumentarisches Buch Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft, das, wie Kluges Tschernobyl-Buch, hauptsächlich aus Zeug_innenaussagen besteht. Bei Alexijewitsch spielt aber die Komik gar keine Rolle. Eine Lektüre ihres Buchs würde ein ganz anderes Gefühl als das Komische erwecken. Es beginnt mit einer Klage der jungen Frau eines Feuerwehrmanns, der am Tag der Reaktorexplosion im Einsatz war: Er starb an radioaktiven Strahlen, denen er sich dabei aussetzte. Am Ende des Buchs befindet sich wieder eine Klage der Frau eines Liquidators, der aus demselben Grund ums Leben kam. Gerahmt von Zeuginnenaussagen zweier Witwen, die beim Unfall des Kernkraftwerks ihren Ehemann verloren haben, ist das Tschernobyl-Buch der Nobelpreisträgerin voll von Stimmen der Opfer der Atomkatastrophe, in die sich die Leser_innen unweigerlich einfühlen. Offensichtlich ist, dass das bekannteste Buch über Tschernobyl eine ganz andere Emotion erweckt als Kluges Wächter des Sarkophags: das Mitleid. Die Dominanz von »Komik und Galgenhumor« in der Literatur über Katastrophen fällt aber gleichfalls auf, wenn man historisch darüber reflektiert. Es lässt sich in diesem Kontext etwa an Heinrich von Kleists Das Erdbeben in Chili als klassische Erzählung über Katastrophen in der deutschen Literatur denken. Diese Erzählung steht Werner Hamacher zufolge im engen strukturellen Zusammenhang mit Immanuel Kants Analyse des Erhabenen in der Kritik der

11 Henri Bergson, Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, übers. von Roswitha Plancherel-Walter, Hamburg 2011, S. 29f. Hervorhebung von Bergson.

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Urteilskraft.12 Demnach wird das Gefühl des Erhabenen von der Größe der Natur erweckt, die sich etwa im Gewitter, im Sturm oder eben im Erdbeben offenbart. Eine derartige »Unermeßlichkeit der Natur«13 lässt sich zwar durch keine sinnliche Darstellung angemessen erfassen. Das Versagen der Darstellung veranlasst aber die Einbildungskraft dazu, in uns »eine Überlegenheit über die Natur selbst in ihrer Unermeßlichkeit«14 zu finden. Erhaben fühlt man sich also, wenn das Versagen sinnlicher Anschauung durch die sittliche Idee der »Menschlichkeit in unserer Person«15 kompensiert wird. Dieser Dialektik des Dynamisch-Erhabenen korrespondiert Hamacher zufolge Kleists Erzählung vom Erdbeben in Chili, die konstruiert ist durch antithetische Bewegungen von Fall und Erhebung, Aufrichtung und Sturz, Unglück und Glück, Lust und Unlust etc. Weil diese unablässige Peripetie, wie Hamacher ausführt, Kleists Darstellung des Erdbebens in Chili selbst erschüttert, verwandelt sich die Erzählung selbst in »das Beben der Darstellung«.16 Im genauen Gegensatz zur Katastrophe als dem Komischen bei Kluge geht es bei Kleist um die Undarstellbarkeit des Erhabenen. Jean Paul, Kants jüngerer Zeitgenosse, schreibt in seiner Vorschule der Ästhetik: »Kurz der Erbfeind des Erhabenen ist das Lächerliche«.17 Das Lächerliche bzw. das Komische und das Erhabene gegenüberstellend, definiert er das Komische als »unendliche Ungereimtheit«.18 Ein Irrtum an sich ist, so Jean Paul, nicht komisch. Er wird zum einen erst dann komisch, wenn er in Handlung umgesetzt wird. Zum anderen muss es beim Komisch-Wirken eines Irrtums auch ein Subjekt geben, das ihn als Widerspruch betrachtet, weil »das Komische, wie das Erhabene, nie im Objekt wohnt, sondern im Subjekte«.19 Als »unendliche Ungereimtheit« entsteht das Komische aus der Spannung zwischen einem in Handlung umgesetzten Irrtum und einem ihn beobachtenden Subjekt. Diese Theorie des Komischen lässt sich auf die Deutung von Die Wächter des Sarkophags anwenden. Wenn Kluge in seinem Tschernobyl-Buch »Komik und Galgenhumor« hervorhebt, dann gilt es für ihn, die Atomkatastrophe von 1986 als die »unendliche Ungereimtheit« darzustellen, die sich zwischen dem begangenen Irrtum des Atomunfalls und dem darauf nachträglich blickenden Subjekt ereignet, das »wir selbst« (22) sind: »Elefantenfuß«, »Mini-Roboter« und »Bio-Roboter«, die Motive, auf die Kluge mehrmals zurückkommt, stellen sich 12 Werner Hamacher, »Das Beben der Darstellung. Kleists Erdbeben in Chili«, in: ders.: Entferntes Verstehen, Frankfurt/M. 1998, S. 235–279, hier S. 255. 13 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, S. 185. 14 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 186. 15 Ebd. 16 Hamacher, »Das Beben der Darstellung«, S. 260. 17 Jean Paul, »Vorschule der Ästhetik«, in: ders.: Werke in zwölf Bänden, Bd. 9, hg. v. Norbert Miller, mit Nachworten von Walter Höllerer, München/Wien 1975, S. 105. 18 Ebd., S. 110. 19 Ebd.

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nun als musterhafte Beispiele für die »unendliche Ungereimtheit« heraus, die Kluge durch die Medienmischung von Text und Fotografie lesbar und sichtbar macht. Bedeutsam ist dabei, dass es eines zeitlichen und räumlichen Abstandes zu Tschernobyl bedurfte, um die Atomkatastrophe als »unendliche Ungereimtheit« empfinden zu können. Das Buch erschien zehn Jahre nach dem SuperGAU in Tschernobyl. Außerdem sind »wir selbst«, d. h. Autor und Leser von Die Wächter des Sarkophags, selbst keine unmittelbar betroffenen Personen, sind wir doch weder Ukrainer noch Weißrussen. Erst diese zeitliche und räumliche »Distanz«20 zu Tschernobyl ist aber eine Voraussetzung dafür, die historisch größte Atomkatastrophe in Europa als »unendliche Ungereimtheit« ansehen zu können. In der sozialen Wirklichkeit führte sie allerdings weniger zur Empfindung der »unendliche[n] Ungereimtheit« als vielmehr zur Vergesslichkeit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Atomunfall. In Die Wächter des Sarkophags wird explizit darauf hingewiesen, dass »das Interesse der Öffentlichkeit mit den Schüben neuer Aktualität immer weiter nachließ« (17). Kluge behauptet sogar: »Der öffentliche Schrecken, den das Zeichen Tschernobyl kurze Zeit verbreitete, hat zu keinem wesentlichen Lernprozeß geführt.« (19) Seinem Buch liegt jedoch die Einsicht zugrunde, dass die Atomkatastrophe keine uns fremde Sache ist. Als zivilisatorisches Problem geht sie uns alle auf der Erde an: »Die Wächter des Sarkophags sind« (22), so Kluges zentrale These, weder wissenschaftliche Expert_innen noch die Zuständigen der Administration, die sowieso mit ihrer Aufgabe überfordert sind, sondern es sind »wir selbst« (ebd.). Durch seine Hervorhebung der »unendliche[n] Ungereimtheit« in Tschernobyl, die komisch und galgenhumoristisch wirkt, erinnert Kluge die illusionsbehaftete, aus der Atomkatastrophe nichts lernende Zivilisation daran, nur »wir selbst« seien die »Wächter des Sarkophags«.

20 Zur Distanz als Stichwort, unter dem sowohl W.G. Sebald als auch Hans Magnus Enzensberger Kluges dokumentarische Grundhaltung verstanden, vgl. Joch, »›Ein herzloser Schriftsteller‹?«, S. 69f.

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»Was uns vernichten konnte, das beherrschen wir?!« – Alexander Kluges narratives Verfahren der Konstellationen am Beispiel seiner literarischen und filmischen Auseinandersetzungen mit der Entstehung und den Folgen des To¯hoku-Erdbebens in Japan 2011 Die Erkenntnispfade der ›Konstellationen‹ sind bei Alexander Kluge so weit verzweigt, dass – gemessen an dem mannigfaltigen Themenspektrum – ein vielfaseriges Netz entsteht. Auf diesen Pfaden bilden einige (Vor-)Väter der Kritischen Theorie, wie Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, ebenso Stationen, wie die großen Literaten Honoré de Balzac, Bertolt Brecht und Heinrich von Kleist sowie die Revolutionäre des Kinos, Sergej Eisenstein und Jean-Luc Godard. Natürlich ließe sich die Liste weiterführen, vom Dichter Ovid und seinen Metamorphosen in der Antike bis zu Helge Schneider in der Gegenwart. Für Kluge »geht es immer um eine Konstellation«, der er »ihr Eigenleben«1 lässt und mehr als »Geburtshelfer und Gärtner«2 bei der Bildung und der Entfaltung fungiert. Andererseits sind Konstellationen Kreuzungspunkte verschiedener Wissenschaften, von der Astrologie und der Astronomie über die Telekommunikation bis zum Bildungssektor. Die Etymologie des Wortes entstammt dem Lateinischen: Das Substantiv stella bedeutet Stern und das Präfix con dient als Ableitungssilbe, die mit ›zusammen‹ übersetzt werden kann. Die linguistische Einheit der Konstellation (im Plural Konstellationen) heißt übersetzt ›Zusammensein‹ bzw. ›-treffen von Sternen‹.3 In der Astrologie und Astronomie sind Konstellationen wesentlicher Bestandteil zur Identifizierung bestimmter Muster von Planeten, Sternen, Sonnen und Monden im Weltall. Beide Disziplinen gründen in der ägyptischen bzw. griechischen Antike und basieren auf theoretischen und praktischen Beobachtungen.4 Die Bildungswissenschaftlerin Sandra Maria Geschke nennt eine Konstellation einen »Zusam1 Alexander Kluge, »Der Autor als Dompteur und Gärtner. Rede zum Heinrich-Böll-Preis 1996«, in: ders. (Hg.), Personen und Reden, Berlin 2012, S. 23–40, hier S. 25. 2 Christoph Streckhardt, »Passagen-Werkstatt der Autoren. Benjamin – Adorno – Kluge«, in: Richard Langston et al., (Hg.), Glass Shards. Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 2, Göttingen 2015, S. 143–159, hier S. 148. 3 Duden, Konstellation, Berlin 2020, S. 437. 4 Emil Silbernagel, Die Astronomie von ihren Anfängen bis auf den heutigen Tag, Oldenburg 2019 [Orig.: 1925], S. 1ff.

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menhang von Elementen«,5 woraus ein subjektiv induzierter Denk- bzw. Möglichkeitsraum entsteht. Bestimmte Formen der Konstellationen haben die Eigenschaft der (Inter-)Medialität, da »Bilder, gesprochenes und geschriebenes Wort«6 eine große Diversität an symbolischer Aussagekraft transportieren. In Kluges Kurzgeschichte »Roman der Dinge« (2015) befindet der Ich-Erzähler: »Mein Sammelwerk nenne ich eine Konstellation. Als würden sich die Dinge von sich aus bewegen wie die Himmelskörper«.7 Diese Bemerkung fasst den KlugeKosmos der Konstellationen recht treffend zusammen, da sie die Erkenntnis vermittelt, dass sein Schaffen eben keinem Muster und vor allem keinem dominierenden Narrativ unterliegt. Vielmehr zirkulieren Werke zwischen Einflüssen und Themen, die nicht selten die Gattungsgrenzen von Literatur, Film, Fernsehen und Theorie überschreiten. Kluges Konstellationen bilden ein »komplexes Labyrinth, zu dem die Baupläne nicht etwa verlorengegangen sind, sondern nie da waren«.8 Im Jahr 2011 hat sich Kluge in literarischen und filmischen Auseinandersetzungen mit der Entstehung und den Folgen des To¯hoku-Erdbebens in Japan befasst. In zwei Sammelbänden mit Kurzgeschichten, zahlreichen Videobeiträgen auf seinem Video-Portal dctp.tv, die teilweise im Fernsehen erschienen sind, öffentlichen Interviews und dem inszenierten Hörspiel Die Pranke der Natur vergegenwärtigt Kluge die damaligen Ereignisse durch sein narratives Verfahren der Konstellation. Als Kluge 2011 in einer Tageszeitung konkret über eine Stahlhülle der US-amerikanischen Firma Bechtel spricht, verschmelzen das Reaktorunglück 1986 in Tschernobyl und die Terroranschläge 2001 in New York zu einer Konstellation. Diese riesige Hülle kann man über ein Unglücksgelände stülpen, und an ihr können Kräne entlangfahren, auch dort, wo keine Bagger fahren können. Bechtel hat das Produkt am Tag nach dem 11. September der Stadt New York angeboten, für Ground Zero, aber es wurde ihm nicht abgenommen. Nun wird die Stahlhülle über dem brüchigen Betonsarkophag in Tschernobyl errichtet.9

5 Sandra Maria Geschke, »Zwischen Präzision und Unbestimmtheit. Die Kraft der Konstellation«, in: dies. et al., (Hg.) Den spezialisierten Anderen verstehen. Vom Wert transdisziplinärer Begegnungen, Münster/New York 2014, S. 31–35, hier S. 31. 6 Ebd., S. 32. 7 Alexander Kluge, »Roman der Dinge«, in: ders. (Hg.), Kongs große Stunde – Chronik des Zusammenhangs, Frankfurt/M. 2015, S. 643–646, hier S. 646. 8 Alexander Kluge, »Das Interesse an Frauenfilmen. Zusammenhang der gesellschaftlichen Produktionsweisen«, in: ders. (Hg.), Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt/M. 1975, S. 223–241, hier S. 239. 9 Andreas Rosenfelder, »Alexander Kluge – ›Wir spielen mit einem Monstrum‹«, 2011, https:// www.welt.de/kultur/article12810989/Alexander-Kluge-Wir-spielen-mit-einem-Monstrum.ht ml [20. 09. 2020].

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Konkret bezieht sich Kluge in diesem Interview nur drei Tage nach dem To¯hokuErdbeben vor der Küste Japans und der daraus resultierenden Havarie des Atomkraftwerkes Fukushima Daiichi auf einen Beitrag auf dctp.tv. In dem Video »Ein Gehäuse aus Stahl für Tschernobyl« montiert er Bilder und Grafiken des Stahlgehäuses sowie beschriftete Bildtafeln hintereinander, auf denen das »erfahrenste Unternehmen für grosses [sic!] Stahldesign«10 in einer Art Porträt die Geschichte des Produktes erläutert. In dem Band Die Lücke, die der Teufel läßt (2003) ist die gleichnamige Kurzgeschichte erschienen, die diese bebilderte Geschichte textuell fixiert.11 Eine weitere Renaissance in Kluges künstlerischem Œuvre erfährt sie im selben Wortlaut in seinem Hörspiel Die Pranke der Natur, das thematisch die Ereignisse rund um das To¯hoku-Erdbeben aufgreift.12 Diese essayistische Vernetzung Kluges, im Hörspiel bestehend aus hybriden Formen von Abbildungen aus seiner eigenen Literatur, die vorgelesen werden, Bildbeschreibungen aus dem Gehäuse-Video und die Verwendung textueller Fragmente, ergänzt die vorherige Konstellation zwischen Tschernobyl und den Terroranschlägen intermedial um die Perspektive auf Fukushima Daiichi. Es ist somit eine, wenn nicht sogar die prägnanteste künstlerische Vorgehensweise Kluges, Konstellationen zwischen Einflüssen und Gedanken verschiedener Epochen, Menschen und Ereignissen unterschiedlichster Gesellschaftssphären zu initiieren. Für seine praktische Methode heißt das einerseits, dass »das ›Ich‹ des Autors […] überall hineinkriechen«13 kann und andererseits: »Ohne von anderen Gestirnen beleuchtet zu werden, leuchtet mein Mond nicht.«14 Diese künstlerische Adaption konstelliert sich über Mediengrenzen hinweg und ist der Aufklärung verpflichtet. Innerhalb dieses »Pluriversum[s]«15 bündeln sich verschiedene Stilrichtungen, wie Fiktion, Dokumentation oder Komik, die Kluge gattungsspezifisch und gattungsüberschreitend miteinander in Verbindung setzt. Das umfasst die bereits erwähnten theoretischen Konzepte kritischer Vordenker sowie praktische ästhetische Methoden wie Polyperspektivität, Essay, Kommentar, Cross-Mapping oder Montage, wie sie in Literatur und Film praktiziert werden. Zwischen seinen Texten, Filmen und Fernsehbeiträgen entstehen 10 Alexander Kluge, »Ein Gehäuse aus Stahl für Tschernobyl«, o. J., https://www.dctp.tv/filme /gehaeuse-aus-stahl-fuer-tschernobyl [20. 09. 2020], 06:02 min, hier 03:32–03:36. 11 Vgl. Alexander Kluge, »Ein Gehäuse aus Stahl für Tschernobyl«, in: ders. (Hg.), Die Lücke, die der Teufel läßt. Im Umfeld des neuen Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2003, S. 91f. 12 Vgl. Die Pranke der Natur (und wir Menschen). Das Erdbeben von Japan, das die Welt bewegte, und das Zeichen von Tschernobyl, Hörspiel nach einem Text von Alexander Kluge, R: Karl Bruckmaier, 2012 [Orig.: 2011], München, CD 2, Track 4: »Ein Gehäuse aus Stahl«, 02:40 min. 13 Alexander Kluge, »Glückliche Umstände, leihweise«, in: Thomas Combrink (Hg.), Glückliche Umstände, leihweise. Das Lesebuch, Frankfurt/M. 2008, S. 331–352, hier S. 340. 14 Ebd., S. 338f. 15 Alexander Kluge, »Pluriversum«, Katalog zur Ausstellung vom 15. September 2017–07. Januar 2018, hg. von Museum Folkwang, Leipzig 2017.

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dadurch mal sichtbare und mal unsichtbare Verbindungen, die sich zu einem umfassenden, aber nicht immer eindeutig definierbaren rhizomatischen Netzwerk zusammenfügen. Kluge verweist in Interviews und Veröffentlichungen auf diese narrative Darstellungsmethode der Konstellationen, ohne allerdings diesbezüglich konkrete Angaben über den Ursprung, die exakte Funktion und die dahintersteckende Intention zu machen. Es scheint immer so, als würde Kluge seine Methode exakt so erklären, wie sie sich selber in ihrem Wirken äußert – umkreisend und beinahe unnahbar. Die narrative Gravitation rund um die Firma Bechtel weist zum Beispiel auf eine Warnung Kluges hinsichtlich des menschlichen Umgangs mit atomaren Unwägbarkeiten hin. Dass das Unternehmen als ein führender US-amerikanischer Produzent von Atomwaffen und Lobbyist in der (Atom-)Politik mithilft, einen nuklearen Unglücksort zu versiegeln und somit ein Menetekel der Menschheit hinsichtlich nuklearer Gefahren verdeckt, erzeugt einen Kontrast, der in den Konsequenzen der Havarie von Fukushima gipfelt. Die Tradition der Einzelschicksale als erkenntnisvermittelnde Leitfiguren ersetzt Kluge als Bricoleur der Geschichte durch das Changieren der Perspektiven, um eine singuläre Repräsentativität eines Individuums zu vermeiden: »Ich übertrage dieses Bild eines Netzwerks, das sich zwischen zwei Menschen ausbreitet, auf das Verhältnis zwischen den Autoren und der Wirklichkeit. Das ist das sogenannte subjektiv-objektive Verhältnis.«16 Innerhalb dieses Prozesses initiiert Kluge eine diskontinuierliche Struktur von Zeit und Raum, eingebettet in Konstellationen: Ambivalente, disparate Ideen verknüpfen sich innerhalb einer nicht-linearen, springenden Erzählform, die divergierende Zeitflüsse verschiedener Sub- und Kontexte als Konstellationen anlegt.17 Inhaltlich präferiert Kluge Themenkomplexe, die sich rund um oder innerhalb einer Katastrophe in der Menschheitsgeschichte ergeben. Vorzugsweise spricht der Autor und Filmemacher von Menetekeln, deren Facettenreichtum er sich mittels einer bildhaften Sprache »gravitativ«18 nähert. Die Entstehung und die Folgen des To¯hoku-Erdbebens in Japan reihen sich in diese Abfolge nahtlos ein, wie Kluges Auseinandersetzung mit der scheinbar nicht ganz unwillkürlichen Macht der ›Pranke der Natur‹ und der daraus resultierenden Warnung für die Menschheit, dem Menetekel, zeigt.

16 Alexander Kluge, »Das Innere des Erzählens. Georg Büchner«, in: ders. (Hg.), Fontane – Kleist – Deutschland – Büchner. Zur Grammatik der Zeit, Berlin 2004 [Orig. 2003], S. 73–87, hier S. 74. 17 Vgl. Jens Birkmeyer, »Zeitzonen der Wirklichkeit. Maßgebliche Momente in Alexander Kluges Erzählsammlung ›Dezember‹«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur, Heft 11, 2011 [Orig. 1985/86], S. 66–75, hier S. 66f. 18 Kluge, »Glückliche Umstände, leihweise«, S. 334.

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Umkreisendes Erzählen Seit dem mächtigen To¯hoku-Erdbeben, das mit einer Magnituden-Stärke von 9 auf der Richter-Skala innerhalb von 50 Minuten drei Tsunami-Wellen von zehn bis 30 Metern Höhe verursachte, ganze Landstriche verwüstete und für Kernschmelzen in vier Reaktorblöcken in dem rund 250 Kilometer von Tokio entfernten, an der nordöstlichen Küste direkt am Pazifik gelegenen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi sorgte, spricht Kluge, wie bereits erwähnt, in seinen Veröffentlichungen über dieses Ereignis von der ›Pranke der Natur‹.19 Kluge fokussiert sich aus narrativer Sicht auf die Peripherie der (historischen) Ereignisse und forderte schon 1992 gemeinsam mit Oskar Negt: »Wir müssen Formen erfinden, die diesen Schrecken so verlangsamen, daß Menschen damit umgehen können.«20 Diese sukzessive Annäherung vollzieht sich in Konstellationen, wodurch jene komplexen Zusammenhänge, die sich vor, während und nach den Ereignissen in Japan abspielen, entmystifiziert werden. Es formieren sich aus fragmentarischen Einzelberichten differenzierte Betrachtungen, relationale Bruchstellen und Assoziationsspielräume. Der Abstraktionsgrad, mit dem Kluge die komplexen Ereignisse in Japan seit dem Jahr 2011 betrachtet, beschränkt sich dabei weder ausschließlich auf die subjektive Befangenheit noch auf eine ›Kartografierung‹ der Geschichte, sondern generiert durch Konstellationen Ereignisketten subjekt-objektiver Verhältnisse. Dies geschieht durch Expert_innen und Pseudo-Expert_innen, Komik und Tragik, Fiktives und Dokumentarisches. Die thematische Sprunghaftigkeit der zwischen verschiedenen Polen changierenden Texte Kluges erfordert eine bewährte Hartnäckigkeit der Leser_innen, um alle Facetten zu überblicken. Auf Erzählungen, in denen Kluge konkrete Informationen über das Erdbeben oder den Tsunami mitteilt, folgen rudimentäre Exkurse, wie jener an den Südrand der Alpen, wo die Splitterung unterirdischer Kalksteinhöhlen die Versorgung des Tourismus durch ein darüber liegendes Bergrestaurant und -hotel auf dem Berg Monte Generoso gefährdet. Während die Menschen der Küstengebiete Japans in den Tagen nach dem 11. März 2011 Überlebenskämpfe führen, über Evakuierungen beraten oder Verantwortlichkeiten klären, folgen parallel die Schweizer Behörden dem Rat der Geolog_innen und Statiker_innen, dass eine Aussichts19 Diesen Begriff verwendet Kluge in verschiedenen Publikationen von und über ihn. Vgl. Christine Eichel, »›Balladen der Gegenwart‹. Gespräch mit Alexander Kluge«, 2011, https:// www.focus.de/panorama/welt/tsunami-in-japan/interview-balladen-der-gegenwart-gesprae ch-mit-alexander-kluge_aid_610441.html [20. 09. 2020]; sowie Rosenfelder, »Alexander Kluge – ›Wir spielen mit einem Monstrum‹«; sowie Kluge, Die Pranke der Natur (und wir Menschen). 20 Oskar Negt/Alexander Kluge, Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen, Frankfurt/M. 1992, S. 325.

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plattform mit Restaurant wieder öffnen kann und einzig Übernachtungen auf der Hochebene untersagt bleiben – ein Teilerfolg im Überlebenskampf der dortigen Tourismusbranche.21 Wiederum etwas weiter in der Zukunft hoffen deutsche Wissenschaftler_innen darauf, ihre Erkenntnisse über die Gefahr einer Plasmablase unter der Mittelgebirgsregion der Eifel der Kanzlerin zu erzählen, was allerdings aufgrund der Hektik der Politikerin untergeht.22 Die polyvalenten Perspektiven im Umgang mit drohenden Gefahren sorgen gleichzeitig dafür, dass sich unter den Protagonist_innen keine eindeutige Identität herausbildet, sondern sie sich ausschließlich über ihren beruflichen Lebensbereich definiert. Die Haltungen dieser Beteiligten kollidieren mit den herrschenden Verhältnissen jeweils auf unterschiedliche Art und liefern ein defizitäres Bild naiver Einzelperspektiven ab. Dabei vermischen sich fiktionale Lebensläufe mit der präzisen Dokumentation der regionalen Standortbedingungen oder der Gefahrenszenarien. Kluges Sprache initiiert innerhalb eines Erzählraumes teilweise rein deskriptive Momente, fast so als wäre die Kurzgeschichte selbst ein Forschungsbericht, dessen faktische Wucht allerdings keine Spuren hinterlässt. Diese literarische Montage erzeugt ein Durchdenken der verschiedenen Perspektiven auf die zwei differenten Sachverhalte und lässt die Leser_innen der Texte den subjektiven Anspruch auf Deutungshoheit aller Beteiligten hinterfragen. Das Denken in einzelnen Kategorien – negativ gebrandmarkt durch die instrumentelle Vernunft – soll hier dem Denken in Konstellationen weichen, was, auch bedingt durch die offene Form und die Verknüpfungen fiktionaler mit dokumentarischen Elementen, eine doktrinäre Diktion verhindern soll. Die kombinatorische Vielfalt der Einzelheiten, seien es die Haltungen der Personen in der Eifel (Zeitdruck, Wissenseuphorie) oder die variierenden Umstände in der Schweiz (Übernachten und Tanzen verboten, Bewirtung erlaubt), bedingt eine Polyperspektivität auf komplexe Ereignisse. Kluge enthierarchisiert die Ereignisse durch seine Position als sachlicher Beobachter, der die konkrete Sinnzuschreibung den Rezipient_innen überlässt. Laut Torsten Pflugmacher bildet diese erzählende Sachlichkeit einen Wesenskern von Kluges Auseinandersetzung mit den atomaren Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima, was sich aber prinzipiell als Effekt von Kluges Konstellationen auf die Gesamtheit der Ereignisse in Japan 2011 ausweiten lässt.23 In den Kurzgeschichten »Der Elektriker und Die Leiterin des SchwimmerTeams« inszeniert Kluge die Geschichten eines Technikers und eines Schwimm21 Vgl. Alexander Kluge, »Restrisiko«, in: ders./Georg Baselitz (Hg.), Weltverändernder Zorn. Nachricht von den Gegenfüßlern, Frankfurt/M. 2017, S. 159. 22 Vgl. ebd., »Der Besuch der Kanzlerin«, in: ders. (Hg.), Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe. 402 Geschichten, Frankfurt/M. 2012, S. 67f. 23 Vgl. Torsten Pflugmacher, »Den GAU erzählen. Alexander Kluges Katastrophengeschichten als Anti-Bildungsroman«, in: Der Deutschunterricht 166/3, 2012, S. 58–67, hier S. 60.

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coaches, die jeweils im Angesicht der drohenden Flutwelle ihr Leben riskieren, um ihre Mitmenschen zu retten. Der namenlose Techniker der ersten Erzählung kehrt als einziger seines Teams in das bereits mit kontaminiertem Wasser gefüllte und havarierte Kernkraftwerk mit dem Ansinnen zurück, die Gefahr, die durch lädierte Starkstromkabel droht, einzudämmen.24 Ähnlich heroisch, aber genauso aussichtslos kehrt die Schwimmtrainerin Motoko Mori in ihr Dorf zurück, um ihr Schwimmteam vor dem eintreffenden Tsunami zu warnen.25 Später wird klar, dass der Elektriker wegen der Strahlung mit hoher Wahrscheinlichkeit tödlich erkrankt und die Betreiberfirma, der er blinde Gefolgschaft geschworen hatte, ihn fallen lässt.26 Mori wird zusammen mit ihrem Team vermisst, da die extra für derartige Extremereignisse als Rettungsinsel konzipierte Turnhalle eingestürzt ist.27 Demgegenüber stellt Kluge die flüchtenden Kolleg_innen des Technikers bzw. die Mitmenschen Moris, die sich auf einen Hügel retteten. Die Unverhältnismäßigkeit dieser Extremsituationen konterkariert eine rein eindimensionale Betrachtung der Handlungen der Protagonist_innen und evoziert den Gedankengang, dass es selbst im Unwahrscheinlichen gewisse gerechtfertigte Umwege gibt. Dieses Prinzip Walter Benjamins wendet Kluge im Sinne einer Bifurkation anti-hierarchisch sowie anti-realistisch an und erschafft neue epistemologische Möglichkeitsräume. Als Held wird zum Beispiel konträr zu den tragischen Helden der Gouverneur der Präfektur Tokio, Shintaro Ishihara, stilisiert, der sich durch die Tragik der Ereignisse und seiner (vermeintlichen) Führungsstärke quasi aussuchen kann, ob er bei der anstehenden Wahl zum Bürgermeister einen Sieg oder einen »Erdrutschsieg«28 davonträgt. Sicher ist jedoch nicht, ob er ein weitsichtiger Krisenmanager oder doch nur ein Machtspekulant ist.29 Andere Techniker_innen im Kontrollraum des Atomkraftwerkes können wiederum nur noch hoffen, »weil alle Handgriffe nichts bewirkt hätten«.30 Stehen stille, bescheidene Helden im Kontext der Ereignisse in Japan also für den Untergang, während repräsentative Kräfte honoriert werden? Vielleicht nur in deren eigener Welt, doch darum geht es Kluge nicht. Die Geschichten fungieren als Konstellationen, die zu einem multiperspektivischen Überblick der komplexen und zeitlich divergierenden Ereignisse aufrufen. Unweigerlich entsteht bei der folgenden Darstellung der (Krebs-)Erkrankung des namenlosen Technikers und 24 Vgl. Alexander Kluge, »Der Elektriker«, in: ders./Baselitz (Hg.), Weltverändernder Zorn, S. 172f. 25 Vgl. Alexander Kluge, »Die Leiterin des Schwimmer-Teams«, in: ders./Baselitz (Hg.), Weltverändernder Zorn, S. 176f. 26 Vgl. Kluge, »Der Elektriker«, S. 172f. 27 Vgl. Kluge, »Die Leiterin des Schwimmer-Teams«, S. 176f. 28 Ebd., »Ein Bürgermeister von Tokio«, in: ders. (Hg.), Das fünfte Buch, S. 57. 29 Vgl. ebd. 30 Kluge, »Todesbereite warten am rechten Ort«, in: ders./ Baselitz (Hg.), Weltverändernder Zorn, S. 171.

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des tödlichen Unglücks der Schwimmlehrerin sowie ihres Teams Betroffenheit, doch soll diese Tragik weniger psychologisch aufgefasst, als vielmehr über die Verhältnisse hinaus weisen und im Kontext der Herausforderungen der Protagonist_innen betrachtet werden – auch in Bezug zu den Geschichten, die in Deutschland und der Schweiz spielen.31 Der Fokus liegt dabei nicht auf einer dramaturgischen Steigerungstendenz (einem ideologischen Bestreben) oder eben jenem Attribut des Heldenschaffens, wie es sich in Katastrophenfilmen vollzieht. Vielmehr konstelliert Kluge Fragmente, die die Ereignisse in Japan formal und thematisch umkreisen.

Die (fiktive) Expert_innenrunde in Tschernobyl und Fukushima Daiichi Prägende Stimuli in Kluges Konstellationen sind die Auftritte von fiktiven Experten oder zumindest die Kunde ihrer vermeintlichen Expertise. Prof. Dr. Bert Haseloff und Dr. Sigi Maurer thematisieren in ihren Direktiven konkret das oftmals widersprüchliche Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Haseloffs Theorie suggeriert, dass er auf menschliche Handlungen stets eine (Gegen-) Reaktion aus beziehungsweise in der Natur erwartet.32 Maurer übergeht in einer anderen Kurzgeschichte diese Auffassung, indem er bereit ist, das Risiko einer nuklearen Verseuchung einer Tiefseerinne im Pazifik einzugehen: »Irgendetwas zu opfern müsse man allerdings bereit sein, […], wenn es um die Energieversorgung der Menschen zu möglichst niedrigen Preisen gehe«,33 erklärt der ›Experte‹. Als Alternative dazu taucht die Endlagerung in unterirdischen Höhlen auf, was einerseits den Bogen zu Maurers Konzept des Billigstroms spannt und andererseits ob der zu hohen Kosten diesem zuwiderläuft.34 Weitere Lösungen bilden die Nutzung von Salzbergwerken oder eine ›Endlagerung‹ in der Tiefe eines Uraltgebirges in einer australischen Wüste. Die daraus folgenden Entwicklungen – mutierte, radioaktivitätsverzehrende Archäobakterien oder die Zerstörung von einzigartigen Biotopen – treten in Konstellation zu Haseloffs These, dass die »subjektiv-objektive Haltung«35 als Basis einer stoffverändernden

31 Vgl. Kluge, »Der Elektriker«, S. 172f.; sowie Kluge, »Die Leiterin des Schwimmer-Teams«, S. 176f. 32 Vgl. Kluge, »Todesbereite warten am rechten Ort«, S. 171. 33 Kluge, »Im Marianengraben können die Atome bis in alle Ewigkeit kühlen«, in: ders./Baselitz (Hg.), Weltverändernder Zorn, S. 162f., hier S. 162. 34 Vgl. Kluge, »Futur II in Fukushima«, in: ders./Baselitz (Hg.), Weltverändernder Zorn, S. 180. 35 Kluge, »Todesbereite warten am rechten Ort«, S. 171.

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Einwirkung von Menschenhand fungiert.36 Der Antagonismus zwischen Haseloffs und Maurers Position konzentriert sich in einem konstellativen Rahmen und bildet somit ein rhizomatisches Netz an ambivalenten Ideen, die nicht nur brandaktuelle Lösungsvorschläge offerieren, sondern auch vergangene Erfahrungen oder zukünftige Prognosen miteinander kombinieren. Dennoch koexistieren auf der einen Seite die konfrontative Interviewrezeption des fernsehaffinen ›Experten‹ Maurer und auf der anderen der philosophische Diskurs des ›Experten‹ Haseloff nebenher, ohne dass die wissenschaftliche Plausibilität – gebündelt als Abwägungsdiskurs – erörtert wird. Innerhalb dieser literarischen Montage ergeben sich weitere Brüche (Archäobakterien) und Auswege (Salzbergwerk, Wüste, Tiefsee, Ausstieg), die divergierende Geschichtsverläufe darstellen, jedoch vorerst keinen Standpunkt (der Rezipient_innen) erzwingen – selbst dann nicht, wenn es um die Halbwertszeiten des atomaren Abfalls geht: Dieser würde auch »in 100 000 Jahren noch strahlen«37 und könnte somit sogar die Menschheit überleben, was sich in den Geschichten mal als Relativierung und mal als problematische Gefährdung akzentuiert.38 Die Rolle eines weiteren Experten nimmt in diesem Zusammenhang Helge Schneider als Georg Kuhlke, Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks (THW), ein, der im Rahmen eines Einsatzes im Kernkraftwerk in Fukushima ebenfalls nur hoffen, statt arbeiten kann. Ursprünglich handelt es sich bei dem Interview von Kluge mit Schneider um einen Beitrag der im Fernsehen ausgestrahlten Facts & Fakes-Reihe, doch übernimmt Kluge auch einen Teil davon in sein Hörspiel Die Pranke der Natur und inszeniert durch Kuhlkes Auftritt einen geplanten und ungeplanten Irrtum – Kluge gibt Stichwörter, die Schneider zufällig aufnimmt, oder sich thematisch in eine andere Richtung bewegend, darüber hinwegsetzt.39 Zwar scheint die Befragung des fiktiven THW-Mitarbeiters durch Kluge selbst initiiert, doch folgt der Dialog keinem Drehbuch, sondern entwickelt sich entlang der Improvisationen von Schneider, in die Kluge mit Nachfragen nur punktuell eingreift. Kuhlke berichtet von der Ankunft in Japan, den herzlichen Menschen vor Ort, die ihn um Autogramme bitten, und über die Zustände im Atomkraftwerk. Der in eine, an den japanischen Regierungssprecher Yukio Edano erinnernde, blaue Uniform gekleidete Kuhlke schildert neben den skurrilen Lagebeschreibungen auch faktenbasierte Gegebenheiten, wie zum Beispiel den Einsatz eines Akkordeons und eines deutschen Schäferhundes beim Hilfstrupp des 36 Vgl. Kluge, »Uralte Freunde der Kernkraft«, in: ders./Baselitz (Hg.), Weltverändernder Zorn, S. 181f. 37 Kluge, »Todesbereite warten am rechten Ort«, S. 180. 38 Vgl. Kluge, »Im Marianengraben können die Atome bis in alle Ewigkeit kühlen«, S. 162f. 39 Vgl. Alexander Kluge, »Helge Schneider in Fukushima«, 07:16 min, 2011, https://www.dc tp.tv/filme/helge-schneider-fukushima [20. 09. 2020]; Die Pranke der Natur, CD 2, Track 10: »Helge Schneider in Fukushima«, 03:01 min.

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THW, was Kluge mit Montagen zwischen Bildern belegt. Durch den Plauderton, das blödelnde Hochziehen der Oberlippe Kuhlkes und Kluges offenkundiges Kichern stellt sich die Frage, wie pietätvoll eine derartige, mit den Mitteln der Komik inszenierte Darstellung eines Ereignisses ist, das Existenzen vernichtet und Todesopfer gefordert hat.40 Für Kluge »gibt [es] nicht eine Welt, […] nicht eine Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit ist durchlässig wie eine dünne Eisdecke.«41 Dieses Cross-Mapping Kluges meint, dass Erfahrung selbst dann einsetzt, wenn sich ein Irrtum herstellt, dem man daraufhin beharrlich folgt.42 Kuhlke durchwandert die Ruinen der havarierten Atomreaktoren und offeriert den Rezipient_innen mit dokumentarischer Vielfalt einen verfremdeten Erfahrungsgehalt – und noch mehr: Durch die inhaltlichen Dissonanzen entwickelt sich ein anti-linearer Diskurs, zu dessen Reflexion die Rezipient_innen animiert werden. Schneiders Kunstfigur erinnert an den Gärtner in Tschernobyl, Leo Tchutkov, den er in einer kurzen Videosequenz verkörperte. Die Konzeption des Auftrittes mit Kluge ist ähnlich, nur heißt in die Videoreihe nicht Facts & Fakes, sondern News & Stories.43 Die Wirkung bleibt jedoch dieselbe, so ist Kluges Cross-Mapping einerseits geplant, wenn beide Charaktere als musizierende Katastrophentouristen mit ihren fiktiv-skurrilen Erfahrungen durch die Gegenständlichkeit der Ereignisse navigieren. Andererseits erinnert die Herangehensweise Schneiders an (diametrales) Improvisationstheater, in dessen Rahmen Worte, Taten und Musik zwischen ihrer montierten Wechselwirkung spontane Brüche erzeugen. Daran anknüpfend spielt Tchutkov das Akkordeon, doch statt eines Tons erzeugt das Musikinstrument nur ein monotones Geräusch, das an das Ein- und Ausatmen durch eine Schutzmaske erinnert, was Tchutkov auch bestätigt. Das Akkordeon verweist als Simplifizierung der komplexen Bedrohlichkeiten in Tschernobyl auf die Überlebensnotwendigkeit der Schutzmasken, die den Gärtner vor der radioaktiven Gefahr schützen sollen.44 Auch für den Techniker Kuhlke gehört das Akkordeon zum festen Inventar in Fukushima. Hier ist es allerdings in seinem ursprünglichen Sinne als Spaß- und Mutmacher aktiv, was jedoch angesichts der bedrohlichen Umstände vor Ort ebenfalls überlebenswichtig ist.45 Diese Zusammenhänge zeigen, »was die Kamera nicht auf40 Vgl. ebd. 41 Lydia Dykier/Philippe Roepstorff-Robiano, »Sonden im Randbereiche der Weltgeschichte. Ein Interview mit Alexander Kluge«, 2011, http://www.revolver-film.com/sonden-in-randbe reiche-der/ [20. 09. 2020]. 42 Vgl. Christian Schulte, Cross-Mapping. Aspekte des Komischen. »Mit der Straßenkarte von Groß-London den Harz durchwandern«, in: ders./Rainer Stollmann (Hg.), Der Maulwurf kennt kein System, Bielefeld 2005, S. 219–232. 43 Vgl. Alexander Kluge, »Ich lasse mir nicht in die Suppe spucken!«, 90:03 min, 2014, https:// www.dctp.tv/filme/helge-suppe-newsstories-05012013 [20. 09. 2020]. 44 Vgl. ebd., 01:00–01:13 min. 45 Vgl. Kluge, »Helge Schneider in Fukushima«, 06:43–06:59 min.

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nehmen kann, eine Chiffre […]. Diese Chiffre heißt: Kontrast zwischen zwei Einstellungen«.46 Für Kluge ist der Blick auf Fukushima nur durch die Bezugnahme auf Tschernobyl möglich, das bedingt sein Denken in Konstellationen und ist ein grundlegender Aspekt seines antagonistischen Realismuskonzeptes. Er codiert die dazwischen und außerhalb liegenden Dinge ebenso als reale Erfahrung, wodurch er prätentiöse Überschneidungen mit der medialen Omnipräsenz der Gefährdungslage in Japan vermeidet. Über die Grenzen der Literatur hinaus begünstigt besonders seine assoziative Montagetechnik weitere künstlerische Möglichkeitsräume, in die die Rezipient_innen über die bereits wahrgenommene Sphäre an Information hinaus vorstoßen können. Die Aufmerksamkeit für den nimmermüden japanischen Regierungssprecher Yukio Edano, der auf Twitter wegen seiner Schlaflosigkeit zum Star wird, scheint zum Beispiel die tödliche Gefährdung durch die Kernschmelzen zu kaschieren.47 Internethype statt Krisenmanagement vor Ort? Kluge vermeidet eine eindeutige Ausbalancierung der Verhältnisse, doch tatsächlich gingen Expert_innen davon aus, dass der Betreiberkonzern des Kraftwerkes, Tepco, dem das Informationsmonopol zukam, die Ereignisse in der medialen Berichterstattung in Japan gezielt verharmlost hatte.48 Dafür sprechen unabhängige Messungen der Strahlenwerte rund um das Atomkraftwerk.49 In einem Interview mit Kluge auf dctp bestätigt auch der Japanologe Peter Pörtner, dass die Atomlobby die (politischen) Entscheidungen in den Tagen nach der Havarie getroffen habe.50 Informationen drangen im März 2011 natürlich trotzdem nach außen, dafür war das Ausmaß der Bedrohung in Fukushima zu groß. Im Kontrast dazu glückte 1986 in Tschernobyl der Versuch einer Zensur, da sich eine valide Informationsbeschaffung rund um das Reaktorunglück für die Öffentlichkeit wegen der von der Sowjetunion verhängten Nachrichtensperre schwierig gestaltete.51 Kluge arbei-

46 Alexander Kluge, »Reibungsverluste«, in: ders./Klaus Eder (Hg.), Ulmer Dramaturgien, Reibungsverluste. Stichwort Bestandsaufnahme, München/Wien 1980, S. 93–117, hier S. 98. 47 Vgl. Alexander Kluge, »Sie waren froh, in der Not beieinander zu sein/Lob der Kommunikation«, in: ders. (Hg.), Das fünfte Buch, S. 54. 48 Vgl. Tobias Weiss, »Die japanischen Medien und die Atomkatastrophe von Fukushima«, in: David Chiavacci/Iris Wiczorec (Hg.), Japan 2014. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, München 2014, S. 245–269, hier S. 249. 49 Vgl. ebd., S. 261f.; sowie Kimura et al., »Hydrogen production in gamma radiolysis of the mixture of mordenite and sweater. Fukushima NPP Accident Related«, in: Journal of Nuclear Science and Technology 50/1, 2013, S. 130–138; sowie Florian Meißner, Kulturen der Katastrophenberichterstattung. Eine Interviewstudie zur Fukushima-Krise in deutschen und japanischen Medien, Wiesbaden 2019, S. 384–394. 50 Vgl. Alexander Kluge, »Tokio, Baustelle am Abgrund«, 45:05 min, 2012, https://www.dctp.t v/filme/news-stories-16122012 [20. 09. 2020], 41:47–42:11. 51 Vgl. Melanie Arndt, Tschernobyl. Auswirkungen des Reaktorunfalls auf die Bundesrepublik Deutschland und die DDR, Erfurt 2011, S. 91–97; sowie Astrid Sahm, Die weissrussische

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tete die Ereignisse rund um die Havarie des Atomkraftkraftwerkes nahe der ukrainischen Stadt Prypjat zehn Jahre später in investigativ-journalistischer Manier durch Zeitzeug_innenberichte und Expert_inneninterviews auf. Die Erfahrungen von damals kombiniert Kluge nun mit jenen in Fukushima und illustriert die Machtlosigkeit gegenüber einem solchen Ereignis. So zum Beispiel, wenn 50 Techniker_innen und Ingenieur_innen aufgrund der drohenden Kontaminierung Fukushima verlassen müssen: »Sie verbeugten sich in die Kameras. Es war ein Abschied. Das war der Moment, in dem eine ganze Wissensrichtung ihren Bankrott erklärte.«52 Demgegenüber steht dennoch der Mut engagierter Techniker_innen, die an den Unglücksort zurückkehren, oder Politiker_innen, die in ungewöhnlichen Konsensentscheidungen, durch Besprühen der Ruine mit Kunstharz oder Kühlen der Brennstäbe mit Meerwasser, die nukleare Ausbreitung aufzuhalten versuchen.53 Dass dadurch die alten Wunden der Kernkraft aus Tschernobyl wieder aufreißen, ist das notwendige ›Übel‹, das die Ereignisse in Fukushima bei Kluge begleitet. Diese Art der künstlerischen Konstellationsbildung vermittelt eine ungewöhnlich direkte Botschaft von Kluge, die er in Interviews untermauert: Für die Menschen, so Kluge, bestehen im Umgang mit der Natur durchaus Auswege, die eine Koexistenz ermöglichen, wie z. B. die Technik des Dammbaus in den Niederlanden zeigte. Ein Kompromiss, den Kluge hinsichtlich der Atomkraft allerdings in Frage stellt: »Wenn ein Gemeinwesen jedoch […] über die Kernkraft keine gesicherte Kontrolle ausüben kann, lauert dort die Katastrophe. Und wo die Kräfte des Gemeinwesens nichts mehr ausrichten können, müssen wir uns zurückziehen.«54

Die Pranke aus dem Marianengraben55 Eine wiederkehrende Figur in Kluges Auseinandersetzung mit den Ereignissen in Japan stellt das fiktive Filmwesen Godzilla dar.

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Nationalbewegung nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986–1991, hg. von Egbert Jahn, Münster/Hamburg 1994, S. 87. Eichel, »›Balladen der Gegenwart‹. Gespräch mit Alexander Kluge«. Vgl. Alexander Kluge, »›Es entlastet, wenn die Last nicht auf dem Einzelnen liegt‹«, in: ders. (Hg.), Das fünfte Buch, S. 52; sowie »Bilder aus dem Zentrum des Geschehens«, in: ders. (Hg.), Das fünfte Buch, S. 54. Eichel, »›Balladen der Gegenwart‹. Gespräch mit Alexander Kluge«. Der im Juli 2020 erschiene Gesprächsband »Senkblei der Geschichten«, in dem sich Alexander Kluge und Joseph Vogl unter anderem über Godzilla unterhalten, konnte leider nicht mehr berücksichtigt werden.

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Wenn ich die Godzilla-Filme nehme, dann sehe ich viele Bilder, an die mich dann später Pressebilder von der Flut und der Fukushima-Katastrophe erinnert haben, so eine Pranke eines Tiers, das aus dem Marianengraben kommt, hat hier zugeschlagen.56

Kluge spricht diese Worte in einer Folge seines Fernsehmagazins News&Stories aus, während eine schwarz-weiße Filmsequenz Godzilla im Meer, im Kampf mit einem Drachen oder beim Zerbeißen eines Zuges zeigt. Es folgen von Kluge eingefügte Schriftzüge, explodierende Gebäude und die Außenansicht eines Atomkraftwerks. An dieser Stelle scheint die Assoziation eines mutwillig zerstörenden Monsters, die Kluge mit seiner essayistischen Anordnung tonaler und bildhafter Fragmente inszeniert hat, eindeutig interpretierbar. Doch diese subjektive Position wird im Folgenden negiert, indem Kluges Interviewpartner Pörtner den Ursprung Godzillas als atomaren Unfall figuriert. Denn diese fiktive Bedrohung beschreibt er als künstlerischen Therapieversuch der Japaner_innen, mit dem aus dem Atombombenabwurf während des Zweiten Weltkrieges entstandene Nachkriegstrauma umzugehen.57 Diese plötzliche Umkehrung der Verhältnisse, als exemplarische Replik der rein subjektiven durch die objektive Perspektive, von einer offensichtlichen Bedrohung zur Kompensationsmöglichkeit einer ganzen Gesellschaft erweist sich als epiphane Spannungsentladung. Meinungen, Wörter, Texte, Bilder, Sequenzen erzeugen untereinander eine spannungsgeladene Reibung, woraus eine unabhängige, übergeordnete Assoziation, sozusagen ein drittes, unsichtbares Bild bei den Rezipient_innen resultiert – ein typischer künstlerischer Mechanismus im Kluge-Kosmos. Diese Konstellation aus Dokumentarischem und Fiktionalem, die durch das Wechselspiel zwischen der tatsächlichen ›Katastrophe‹ und dem Mythos von Godzilla ambivalente Erfahrungsebenen bildet, taucht in neun von insgesamt elf Filmbeiträgen über die Ereignisse 2011 auf, beispielsweise als direkte Bezugnahme im Beitrag »Godzilla in Fukushima« als vermeintlicher Schrecken der japanischen Gesellschaft.58 Prinzipiell nehmen Kluges filmische Darstellungen von Godzilla eine Personifizierung der Trias aus Erdbeben, Tsunami und atomarer Bedrohung vor. Wie das Erdbeben und der daraus resultierende Tsunami entstammt Godzilla aus dem Marianengraben und wirkt beim Aufeinandertreffen mit der menschlichen Zivilisation als scheinbar unbeherrschbare Urkraft, resultierend aus menschlicher Fahrlässigkeit (Atomexperimente) und natürlicher Beschaffenheit (Reptil).59 Jene essayistischen Fragmente und montierten Bilder reichen 56 Kluge, »Tokio, Baustelle am Abgrund«, 42:16–42:35 min. 57 Vgl. ebd., 42:38–42:53 min. 58 Vgl. Kluge, »Godzilla in Fukushima«, 02:31 min, 2011, https://www.dctp.tv/filme/godzilla-in -fukushima [20. 09. 2020]. 59 Vgl. ebd. sowie Alexander Kluge, »Tsunami. Ein Monster, das sich nicht zähmen lässt«, 45 min, 2013, verfügbar unter: https://www.dctp.tv/filme/tsunami-newsstories-15122013 [20. 09. 2020], 37:50–38:08.

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über die kausale und lineare Rekonstruktion der Ereignisse in Japan hinaus, wodurch sich innerhalb dieser Freiräume verschiedene thematische Perspektivwechsel im Verlauf der Beiträge, aber auch darüber hinaus, vernetzen lassen. Die Erdbeben in der Geschichte der Menschheit, historische Flutwellen, geografische Karten, Godzilla, japanische Mentalität – man könnte die Themengebiete dieser rund 45-minütigen Videos zwar oberflächlich eingrenzen, allerdings niemals eine eindeutige Intention identifizieren. Die kontrafaktischen und faktischen Bilder sowie Meinungen, die Kluges Essayismus orchestriert, verbinden sich durch die konstellierende Montage mit Koldaus wissenschaftlichen Ausführungen zu Disparitäten, wodurch sich nach demselben Muster wie bei Pörtner die Deutungshoheit einer subjektiven Position reflexiv erweitert – in diesen Momenten kann unwillkürlich Epiphanie entstehen. Die Aktivierung der Zuschauer_innen fördert die kritische Rezeption der realistischen Darstellungen der Ereignisse in Japan mittels eines für Kluge typischen anti-realistischen Kontextes. »Ich habe ja eine Vorstellung davon, was jetzt kommt. Gleichzeitig entsteht ein drittes Bild, das ist die Möglichkeitsform. […] Von daher ist es eigentlich ein Mehrzeiten-Kunstwerk, eine Erfahrungsmaschine.«60 Godzilla steht für das Dazwischen, die gegenständliche Situation, die aus dem Zusammentreffen von realistischen und anti-realistischen Gefühlen entsteht. Das äußert sich im vorliegenden Fall einerseits durch die Gegenüberstellung von fiktionaler (Godzilla) und dokumentierter (Tsunami und Erdbeben) Bedrohung und andererseits zwischen der Konstellation beider Elemente als gebündelte Ereignisse mit katastrophalen Auswirkungen, im Kontrast zur japanischen Alltagsroutine. Diese illustriert Kluge in (kurzen) Zeitraffer-Aufnahmen von mit Menschen gefüllten Straßenkreuzungen und Fußgängerzonen sowie dem hektischen Straßen- und Schifffahrtsverkehr in nahezu allen Beiträgen.61 Begünstigt durch den Kluge’schen Essayismus entstehen Konstellationen, die zwischen den Episoden über und rund um Godzilla ihre Wirkung entfalten. Wenn zum Beispiel Kluge in »Godzilla in Fukushima« eine Sequenz mit einem Klavierstück aus Guiseppe Verdis Oper Macbeth unterlegt und dazu die Meerechse mit verzerrtem Gesicht umgeben von Trümmern, Explosionen, einer Richterskala oder von Wasser überspülten Häusern montiert, erinnert das an Godards assoziative Kreation von Hitchcocks Die Vögel.62 Auch bei Kluge ergeben sich hier weitere Möglichkeitsräume, die sich als tröstendes Potenzial entfalten, weil diese Kon60 Gabriele Voss, »Die Kategorie des Zusammenhangs. Alexander Kluge im Gespräch«, in: Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW (Hg.), Schnitte in Raum und Zeit. Notizen und Gespräche zu Filmmontage und Dramaturgie, Berlin 2006, S. 118–135, hier S. 134. 61 Vgl. Kluge, »Tokio, Baustelle am Abgrund«, 00:16–01:58 min; sowie ebd., »Der Marianengraben«, 01:47 min, o. J., https://www.dctp.tv/filme/der-marianengraben [20. 09. 2020], 00:56–01:39. 62 Vgl. Kluge, »Godzilla in Fukushima«, 01:13–02:23 min.

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stellationen sowohl die reine Fokussierung auf den Antirealismus des Gefühls ausschließen als auch deren Gegenpart, der besagt: »In der Gestalt wird es ja von den Nachrichten nicht erzählt.«63

»Was uns vernichten konnte, das beherrschen wir?!«64 Ein Track in Kluges Hörspiel ist von Eva Jantschitsch musikalisch gestaltet, wenn sie mit tröstend-melancholischer Sopranstimme im Kanon singt: »Rätselhafte Mutationen stiegen aus der Flammenkrone, stürzten sich vom Himmelszelt.«65 Tatsächlich verhinderten einzig der schwache Wind aus nordöstlicher Richtung und die Dominanz der Windströme gen Osten, dass eine radioaktive Wolke auf die rund 37 Millionen Einwohner_innen Tokios zusteuerte, und stattdessen in Richtung pazifischer Ozean zog – die wohl größte Evakuierungsaktion der Menschheit blieb den japanischen Behörden somit erspart. In den Kurzgeschichten »Eine Metropole von 37 Millionen Menschen« und »Evakuierung einer Metropole« schildert Kluge konkrete Überlegungen der japanischen Behörden und US-amerikanischen Expert_innen, ob und wie eine Evakuierung des Ballungsraumes Tokios in diesem Szenario überhaupt möglich ist.66 Zusätzlich gibt einerseits Prof. Dr. Pörtner auch hierzu seine Einschätzung ab, andererseits aktiviert Kluge den Schauspieler Peter Berling, der im Fernsehformat 10 vor 11 die fiktive Rolle des Evakuierungsexperten Dr. Freddy Helms annimmt.67 Im vorliegenden Fall der Evakuierung mischen sich die Verhältnisse und Perspektiven um das Geschehen, da teilweise verifizierte Angaben von Pörtner auch in den Berichten der Pseudoexperten um Helms auftauchen. Über Berlings Kunstfigur und James Miller, der in der Kurzgeschichte »Evakuierung einer Metropole« als US-amerikanischer »Bevölkerungsumsetzungsspezialist«68 agiert, nähert sich Kluge der Evakuierungsfrage einmal mehr mittels der Methode des Cross-Mappings an. Helms und Miller liefern trotz ihrer gestisch absurden Auftritte teilweise sogar gehaltvolle Vorschläge, die zum Beispiel eine Evakuierung vorsehen, die in den »nördlichen Vororte[n]«69 beginnt und »wie bei 63 Dykier/Roepstorff-Robiano, »Sonden im Randbereiche der Weltgeschichte«. 64 Kluge, »Tokio, Baustelle am Abgrund«, 03:56–04:01 min. 65 Die Pranke der Natur, CD 2 Track 1: »Gustav: Rätselhafte Mutationen«, 01:12 min, hier 00:01– 00:51. 66 Vgl. Kluge, »›Eine Metropole von 37 Millionen Menschen‹«, in: ders. (Hg.), Das fünfte Buch, S. 56f.; sowie »Evakuierung einer Metropole«, in: ders. (Hg.), Das fünfte Buch, S. 58. 67 Vgl. Kluge, »Tokio, Baustelle am Abgrund«, 10:46–13:11; sowie Alexander Kluge, »Den letzten beissen die Hunde. Mengenlehre im Katastrophenfall«, 24:05 min, 2012, https://www.dctp.t v/filme/10-vor-11-03-09-2012 [20. 09. 2020]. 68 Kluge, »Evakuierung einer Metropole«, S. 58. 69 Ebd.

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einer Zwiebel schalenweise«70 erfolgen solle. Am Ende scheitern sie jedoch beide mit einer schlüssigen Lösung des Problems und spiegeln in ihrer individuellen Kompetenzverfehlung die »zwölf hochrangige[n] Unzuständigen«71 des Krisenteams der japanischen Regierung wider. Zum Gremium der Entscheidungsträger_innen dieser filigranen Problemstellung gehören bei Kluge der Verteidigungsminister, allerdings auch der Chef der Wasserwerke oder ein »phantasiebegabter Direktor aus dem Finanzministerium«.72 Eine Evakuierung durch die UBahn-Schächte und Hochtrassen? Zu stauempfindlich, meint der Finanzexperte! Die Unterbringung der Menschen in Zelten und Turnhallen? Unmöglich, meint der Chef des Wasserwerkes! 73 Die notwendigen Denkprozesse bleiben hier hinter Alibi-Diskussionen verborgen, zumal die Richtung des Windes sowieso vom »Finger Gottes oder vom geheimnisvollen Willen mächtiger Ahnen abhängig«74 ist. Der seriöse Gegenpol zu den bisherigen Expert_innen, Pörtner, schlägt bei einer Kontaminierung Tokios den Weg über das Meer vor. In seiner Begründung greift er dennoch jene Punkte auf, an deren Umsetzung zuvor schon Helms (Panik der Menschen), Miller (zögernde Behörden) oder der Politzirkel (U-Bahn, Straßen) Zweifel hatten.75 Das von Kluge induzierte Cross-Mapping bei Helms und Miller konstelliert dabei mit den polyvalenten Erfahrungen des Politzirkels und der tatsächlichen Sachkenntnis Pörtners. Diese Kluge’sche Mischung versucht »die Realität als die geschichtliche Fiktion, die sie ist, auch darzustellen«,76 ohne dabei die Rezipient_innen zu überfordern oder ein defizitäres Bild der subjekt-objektiven Verhältnisse abzuliefern. Grundsätzlich erhebt Kluge nicht den Anspruch eines Dokumentaristen, der die Geschehnisse in Japan ausschließlich gemäß der wissenschaftlichen Fakten darstellen möchte.77 Wenn also nur die Nennung des drohenden Südwindes als Simplifizierung erscheint, erfasst Kluge die umkreisende Beschreibung der komplexen Evakuierungsfrage auf Ebene der zahlreichen Auswirkungen und auch jener Komponenten, die seine unsichtbaren Bilder generieren. So wird zum Beispiel die Ratlosigkeit der japanischen Behörden, die Kluge in seinen Kurzgeschichten konstellativ herausstellt, von Pörtner faktisch mit dem zögerlichen Handeln des japanischen Ministerpräsidenten Kan Naoto, die Präfektur Tokio zu evakuieren, bestätigt.78 Auch die 70 71 72 73 74 75 76

Kluge, »Den letzten beissen die Hunde. Mengenlehre im Katastrophenfall«, 11:18f. min. Kluge, »›Eine Metropole von 37 Millionen Menschen‹«, S. 56. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Kluge, »Tokio, Baustelle am Abgrund«, 10:46–13:11 min. Alexander Kluge, »Die schärfste Ideologie: daß die Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft«, in: ders./Eder (Hg.), Ulmer Dramaturgien, Reibungsverluste, S. 119–125, hier S. 119. 77 Vgl. Dykier/Roepstorff-Robiano, »Sonden im Randbereiche der Weltgeschichte«. 78 Vgl. Kluge, »Tokio, Baustelle am Abgrund«, 11:00–11:20 min.

Alexander Kluges narratives Verfahren der Konstellationen

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Einflussnahme und der Verantwortungsmissbrauch des Betreiberunternehmens Tepco, die bei Kluge in der konträren Informationspolitik über potenziell kontaminierte Gebiete kulminieren, werden analog dazu von Pörtner verifiziert.79 Doch diese Projizierungen vielstimmiger Verhältnisse durch multiple und disparate Perspektiven weisen in ihrer indirekten Rezeptionsweise über die Fragen der Verantwortlichkeit hinaus und verhindern dadurch gleichermaßen eine reaktionäre beziehungsweise ideologische Repräsentation von Gut und Böse. Kluge beabsichtigt im Umgang mit derart komplexen Verhältnissen Bruchstellen in der Geschichte zu generieren, die über das Subjektive hinausgehen, um die Konzentration auf einen Schuldigen oder auf Kritik an einem nationalen Sicherheitssystem zu vermeiden. Wo erst Tschernobyl und nun Fukushima Daiichi »abarische Punkte, also Punkte außerhalb der wahren Schwereverhältnisse der Welt«80 darstellen und sich die Atompolitik neu ordnen sollte, walten, so Kluge, weiterhin Verdrängungs- und Vertuschungsmechanismen. Diesen ›Anti-Realismus des Gefühls‹, dem Kluge (und jeder andere auch) im Angesicht einer Katastrophe ausgesetzt ist, entmystifizieren die subjekt-objektiven Konstellationen durch Erfahrung und daran anknüpfende (Lern-)Fähigkeit der Menschen. Kluge spricht in dieser Hinsicht vom »Menetekel samt Kleingedrucktem«.81

Die Warnung für die Zukunft In Kluges Kurzgeschichte »Wir fliegen durch die Nacht« beschreibt der japanische Maler Hokusai ein solches Verdrängen als Illusionsfähigkeit der Menschen, die »unsere Sinne vor der Lähmung« schützt, wenn wir der »grausamen Natur direkt in die Augen«82 sehen. Auch hier hält Kluge dieser Leugnung der Menschen, diesem Anti-Realismus des Gefühls, das »prophetische Ahnungsvermögen und das kassandrische Vermögen« entgegen, das allerdings auch das Vorhandensein »große[r] Vorratshäuser an Erfahrungen«83 erfordert. Die Figur der Kassandra fungiert im Stil eines übergeordneten Kommentars als ein wiederkehrendes Reflexionsmuster, das er mittels der Konstellationen in seine Geschichtsdarstellung rund um das japanische Menetekel integriert. Das bittere Schicksal der Kassandra, die in der griechischen Mythologie die Gabe des Sehens hat, aber von Appollon mit dem Fluch der Unglaubwürdigkeit belegt wurde, teilt 79 Vgl. ebd., 41:47–42:10 min. 80 Rainer Stollmann, Die Entstehung des Schönheitssinns aus dem Eis. Gespräche über Geschichten mit Alexander Kluge, Berlin 2005, S. 25. 81 Dykier/Roepstorff-Robiano, »Sonden im Randbereiche der Weltgeschichte«. 82 Alexander Kluge, »›Wir fliegen durch die Nacht‹«, in: ders./Georg Baselitz (Hg.), Weltverändernder Zorn, S. 186f, hier S. 186. 83 Rosenfelder, »Alexander Kluge – ›Wir spielen mit einem Monstrum‹«.

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der Katastrophenforscher Freddy Witzlaff. Der Wissenschaftler prophezeit »aufgrund seines kassandrischen Geistes« die tatsächlich eingetretene Ereigniskette in Japan, allerdings für die Region des Südostens Europas. In seinem Szenario bildet die Reibung zweier Kontinentalplatten unter dem Marmarameer eine »eruptive Zone«,84 woraus ein Seebeben und ein Tsunami resultieren, die wiederum einen Großteil der Zivilisation am Bosporus ernsthaft in Lebensgefahr bringen würden. Die Schutzmaßnahmen des noch aus Zeiten der Sowjetunion stammenden Atomkraftwerks Kosloduj in Bulgarien würden einer derartigen Naturgewalt zudem nicht standhalten. Begünstigt durch den Boreas, eines vorherrschenden Windes von Norden nach Südosten, kontaminieren die radioaktiven Stoffe auch die türkische Millionenmetropole Istanbul. Witzlaffs Kolleg_innen halten dieses Szenario nach den Ereignissen in Japan allerdings für widerlegt, da es »ja gerade nicht in Istanbul und am Schwarzen Meer eingetreten«85 ist. Der fiktive Witzlaff prognostiziert die reale »Katastrophenkette«86 noch vor dem To¯hoku-Erdbeben. Kluge urteilt später in seinem Hörspiel:87 Wenn Sie jetzt meinetwegen die Zweigestelle von russischen Kernkraftwerken in Bulgarien sehen, das ist ein Kernkraftwerk das ist wirklich eine Schrottmühle, und dagegen ist Fukushima eine befestigte Stellung. Und wenn hier etwas passiert bei Konstantinopel, an der anatolischen Platte, wo seit Tausend Jahren etwas näherkommt und wo man sagt, also Geologen sagen das, mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 Prozent, dass in den nächsten zehn Jahren dort ein Tsunami und ein Erdbeben passiert. Und das wird dieses Kernkraftwerk mit umfassen.88

In beiden Fällen begreift Kluge die Ereignisse in Japan als Menetekel für die Menschheit, die ihrerseits Sensibilität für diese Warnung erlernen soll, bevor es anderenorts zu spät ist. Das bedrückende Schicksal Witzlaffs, der trotz letztlich fundierter wissenschaftlicher Prognosen nur hinsichtlich des Ortes und des Zeitpunktes falsch lag und deswegen als widerlegter Experte betitelt wird, versteht Kluge als kritischen Appell innerhalb seines multimedialen Kommentars. Die Hinweise der Wissenschaftler_innen, dass Japan nach dem »Gongschlag«89 im Jahr 869 n. Chr. eine weitere Pranke treffen wird, wurden laut Kluge vor 2011 auf der Welt ebenso ignoriert, wie es verpasst wurde, seinerzeit die Tschernobyl-

84 Alexander Kluge, »Witzlaffs Katastrophentheorie«, in: ders. (Hg.), Das fünfte Buch, S. 50f., hier S. 50. 85 Ebd. 86 Ebd. 87 Vgl. ebd., S. 50f. 88 Die Pranke der Natur, CD 2, Track 5: »Alexander Kluge, Gespräch«, 02:38 min, hier 00:09– 00:36. 89 Alexander Kluge, »Moby Dick und Fukushima«, 43:10 min, 2011, https://www.dctp.tv/filme /moby-dick-und-fukushima [20. 09. 2020], hier 25:53.

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Havarie als dunkle Vorahnung zu erfassen.90 In Kluges Geschichten fügen sich diese Ereignisse als ›Frontlinie‹ aus der Antike bis in die Gegenwart zu Konstellationen zusammen, d. h. zu Erfahrungswerten – dem »Haus der Erinnerung«91 –, um Gefährdungslagen zu entmystifizieren. Angesichts der Atomproblematik nimmt Kluge eine klare Position ein, die jedoch keine Bildung von Bruchstellen oder Auswegen bei den Rezipient_innen verhindert – dafür sorgen die Subjekt-Objekt-Verhältnisse.92 So zum Beispiel, wenn Kluge in seinem Hörspiel rhetorisch fragt, ob es »dumm von uns« sei, »wenn wir glauben, dass es nur eine Gefährdung gibt?«,93 und in einem anderen Interview antwortet: »Mit Sicherheit. Das Atom wird zum Feind – wenn wir damit hantieren wie die Götter.«94 Kluge schlägt daher im Sinne der Verantwortung für die Nachwelt vor, der heutigen Gemeinschaft die Möglichkeit anzubieten, Anteilsscheine an der Börse zur Beseitigung des Kraftwerkes kaufen zu können: »Man kauft […] dem Unglück das Restrisiko ab. Und das wäre etwas, wofür ich im Sinne meiner Kinder zahlen würde.«95 Es ist einmal mehr ›nur‹ eine zusätzliche, poetische Deutungsform der Wirklichkeit, die Kluge hier anbietet. Doch bilden sich weitere Auswege, wie die Flucht auf den Jupitermond Europa, der in den Tagen nach dem 11. März 2011 beinahe besser erforscht war, als die Ausmaße der Havarie des Atomkraftwerkes in Fukushima Daiichi.96 Und wiederum eine dritte, wenn auch nicht die letzte Möglichkeit, beschreibt Hokusai, der die Menschen mit Kindern vergleicht, »[…] die angesichts einer Gefahr sich die Augen zuhalten« und glauben: »›Ich bin nicht da.‹ ›Ich heiße niemand‹«.97 Kluge offeriert multiple Auswege, allesamt vereint im rhizomatischen Netz seiner Konstellationen und im Assoziationsraum der Rezipienten: »Glücklich ist, wer nie vergißt, was alles zu verändern ist.«98

90 Vgl. ebd., 25:30–26:01 min; sowie Dykier/Roepstorff-Robiano, »Sonden im Randbereiche der Weltgeschichte«. 91 Die Pranke der Natur, CD 1, Track 17: »Alexander Kluge, Gespräch«, 02:15 min, hier 01:33– 01:34. 92 Vgl. Kluge, »Witzlaffs Katastrophentheorie«, S. 51. 93 Die Pranke der Natur, CD 1, Track 19: »Alexander Kluge, Gespräch«, 01:56 min, hier 00:01– 00:05. 94 Rosenfelder, »Alexander Kluge – ›Wir spielen mit einem Monstrum‹«. 95 Die Pranke der Natur, CD 2, Track 5: »Alexander Kluge, Gespräch«, 02:38 min, hier 02:29– 02:37. 96 Vgl. Alexander Kluge, »Zufluchtsort einer künftigen Menschheit«, in: ders. (Hg.), Das fünfte Buch, S. 61f. 97 Kluge, »›Wir fliegen durch die Nacht‹«, S. 186. 98 Zitiert nach Dieter Jeuck/Guntram Vogt, »Fernsehen ohne Ermäßigung. Alexander Kluge und seine Kulturmagazine«, in: Augen-Blick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft 23/3, 1996, S. 9–17, hier S. 17, online verfügbar unter: https://mediarep.org/handle/doc/1206 [20. 09. 2020].

Winfried Siebers

Bibliographie zu Alexander Kluge 2019

Vorbemerkung Die Bibliographie zu Alexander Kluge enthält Titel aus dem Jahr 2019 mit Nachträgen für 2018. Zeitungsartikel sind mit Ausnahme von Interviews sowie Voraboder Nachdrucken von Texten Kluges nicht erfasst. Eine umfassende Dokumentation von Presseartikeln einschließlich der Rezensionen zu Kluges Werken findet sich in der Online-Ausgabe des Kritischen Lexikons zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Grundlage der Titelaufnahmen sind in der Regel die Druckausgaben. Nahezu alle neueren Buchpublikationen und zahlreiche Zeitschriften sind mittlerweile als Online-Ressource verfügbar. Eine solche wird nur dann zusätzlich angeführt, wenn es für das Auffinden des Dokuments unerlässlich ist. Alle genannten Internet-Adressen wurden zuletzt am 15. 10. 2020 aufgerufen und waren an diesem Tag verfügbar. Für Hilfen, Hinweise und Ergänzungen bei der Zusammenstellung der Bibliographie danke ich Thomas Combrink, Vincent Pauval und Martin Siemsen.

Publikationen und multimediale Arbeiten Alexander Kluges Bücher Alexander Kluge. Gärten der Kooperation, hg. vom Württembergischen Kunstverein Stuttgart, Kurator*innen: Iris Dressler und Hans D. Christ in Zusammenarbeit mit Valentin Roma, Stuttgart: Württembergischen Kunstverein, Berlin: Motto Books 2017, 199 S. – [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Württembergischen Kunstverein Stuttgart, 14. Okt. 2017 bis 14. Jan. 2018; Texte in Deutsch und Englisch. – Nachtrag zur ›Kluge-Bibliographie 2017‹, vgl. AKJ 5, 2018, 477]. Lesen und schreiben lernen. »Buchstaben des Lebens«, unter Mitarbeit von Barbara Barnak und Christoph Streckhardt, Gotha: Stiftung Schloss Friedenstein 2019, 28 unpag. S.

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Bibliographie zu Alexander Kluge 2019

Die Macht der Musik. Die Oper: Tempel der Ernsthaftigkeit. Alexander Kluge. (Katalog), Leipzig: Spector Books 2019, 87 S. Das dünne Eis der Zivilisation. Oper: Der Tempel der Ernsthaftigkeit. Alexander Kluge. (Katalog), Leipzig: Spector Books 2019, 71 S. – [Zwei Katalogbücher zu einem dreiteiligen Ausstellungsprojekt mit parallelen Installationen in der ›kunsthalle weishaupt‹ und im Museum Ulm, 20. Okt. 2019 bis 19. Apr. 2020 (Die Macht der Musik), im Württembergischen Kunstverein Stuttgart, 8. Mai bis 14. Juni 2020 (Das dünne Eis …; ursprünglich vorgesehen für den Zeitraum 14. März bis 26. Apr.) sowie im Gleimhaus und im Berend Lehmann Museum Halberstadt, 10. Nov. 2019 bis 9. Apr. 2020].

Beiträge in Büchern, Zeitschriften und Zeitungen »Der destruktive Charakter ist jung und heiter«, in: Erfahrung und Zerstörung. Zwei Texte Walter Benjamins, hg. von Christian Schulte, Berlin: Vorwerk 8, 2018, 195–197. – [Erstdruck in Das Bohren harter Bretter, 56–59]. »Die Heimat haben wir schon in Stalingrad verloren«, in: Junge deutsche und sowjetische Soldaten in Stalingrad. Briefe, Dokumente und Darstellungen, hg. von Jens Ebert, Göttingen: Wallstein 2018; Lizenzausgabe: Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2018, 287–296. – [Auszug aus Schlachtbeschreibung]. »Eine gediegene Form des Eigentums: die Zeit«, in: Wörterbuch der Gegenwart, hg. von Bernd M. Scherer, Olga von Schubert und Stefan Aue, Berlin: Matthes & Seitz 2019, 670– 683. »Foreword: Infernal Unity«, in: S[ylwia]. D. Chrostowska, Matches. A Light Book, 2nd, expanded edition, foreword by Alexander Kluge, Earth, Milky Way [= Goleta, Calif.]: punctum books 2019, xvii–xxi. – Online-Ressource. URL: https://www.doabooks.org /doab?func=fulltext&uiLanguage=en&rid=33019. – [Die Erstauflage 2015 enthielt dieses Vorwort noch nicht]. »Préface«, in: Sylwia Chrostowska, Feux croisés. Propos sur l’histoire de la survie. Préface d’Alexander Kluge. Traduit de l’anglais par Joël Gayraud, Paris: Klincksieck 2019, 7–11. – [Das Vorwort erschien erstmals in dieser frz. Übersetzung]. »Gärten der Kooperation«, in: Neue Allianzen für die Gestaltung der Zukunft, hg. von Elisabeth Hartung und Dorothea Bethke, Stuttgart: avedition 2018, 16–17. »Heiner Müller et le projet Eau de source. Traduit par Vincent Pauval«, in: Europe. Revue littéraire mensuelle 96 (2018), Nr. 1068, 53–56. – [Erstdruck in dt. u. frz. Fassung in AKJ 4, 2017, 127–131]. »Heiner Müller und ›Die Gestalt des Arbeiters‹«, in: Jahrbuch Technikphilosophie, Bd. 4: Arbeit und Spiel, hg. von Alexander Friedrich u. a., Baden-Baden: Nomos 2018, S. 295– 298. »Materialien & Texte aus den sieben Körben. ›Wir hatten eine Vorstellung von Öffentlichkeit und versuchten, diese in die Gewohnheiten des Bundestages zu importieren‹. Zum Tod von Norbert Kückelmann«, in: Volltext, Nr. 1 (2019), 34–45. »Materialien & Texte aus den sieben Körben. Geschichten zu ›Verjugendlichung‹ (Neotenie)«, in: Volltext, Nr. 2 (2019), 48–54.

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»Materialien & Texte aus den sieben Körben. ›Maulwurf und Storch‹. Gespräche und Geschichten zum 90. Geburtstag von Hans Magnus Enzensberger«, in: Volltext, Nr. 3 (2019), 36–47. »Materialien & Texte aus den sieben Körben. ›Das Schöne ist fehlerfrei‹. Geschichten zu Schwarz-Weiß-Zeichnungen von Alex Katz«, in: Volltext, Nr. 4 (2019), 18–24. »Vertrauenswürdig ist vor allem das Ohr«, in: Journal der Künste. Akademie der Künste (Berlin), Nr. 8 (2018; 2. Aufl. 2019), Sonderheft: Archiv, 24–26. – [Dass. u.d.T. »Trust Your Ears Above All« in der English Edition, 24–26]. »Zum 50. Todestag: Adornos irdisches Ende«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung. OnlineAusgabe. 06. 08. 2019. – URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/zum-50-todestag -adornos-irdisches-ende-filmessay-von-alexander-kluge-16318838.html. – [Mit Videolink zu dem Filmessay Die Vernunft ist ein Balancetier; der Text erschien zuerst in Chronik der Gefühle, Bd. 1, 863f.].

Filme, DVDs und CDs Happy Lamento, DE/PH 2018, Regie: Alexander Kluge und Khavn De La Cruz, Köln: Rapid Eye Movies 2018, 90 Min. – [Essayfilm; Uraufführung: Internationale Filmfestspiele Venedig, 30. 08. 2018]. Orphea, DE 2019, Regie: Alexander Kluge und Khavn De La Cruz, Köln: Rapid Eye Movies 2019, 99 Min. – [Essayfilm; Uraufführung: Berlinale – Internationale Filmfestspiele Berlin, 25. 02. 2020]. Der Kandidat. Ein Film von Volker Schlöndorff, Stefan Aust, Alexander von Eschwege, Alexander Kluge. Digital restauriert in 4K, 1 DVD, Berlin: Studiocanal / Arthaus 2019, 124 Min. – [Dokumentarfilm, BRD 1980]. Eigentum am Lebenslauf: das Gesamte im Werk des Alexander Kluge. (Konzept und Regie: Andreas Ammer. Redaktion: Herbert Kapfer). [Hörspielproduktion des Bayerischen Rundfunks 2007. Digitale Übertragung der CD-Edition]. Online-Ressource, 1 CD, Leipzig, Frankfurt a.M.: Deutsche Nationalbibliothek 2019. – [DNB-Projekt zur digitalen Langzeitarchivierung].

Beiträge in Filmen und im Internet Der Film verlässt das Kino: Vom Kübelkind-Experiment und anderen Utopien, DE 2018, Regie: Robert Fischer, München: Fiction Factory 2018. – [Dokumentarfilm zur Entstehungsgeschichte von Geschichten vom Kübelkind, BRD 1969/70, Regie: Edgar Reitz; darin Interviewpassagen mit A.K.]. Ich friere auch im Sommer. Die zwei Leben der Alexandra Kluge, DE 2018, Regie: Hanna Laura Klar. – [Dokumentarfilm; darin Interviewpassagen mit A.K). »Der Mann der Entschiedenheit (L’enragé). (Zum 90. Geburtstag von Jürgen Habermas)«, in: Logbuch Suhrkamp. Online-Publikation, 2019. – URL: https://www.logbuch-suhr kamp.de/alexander-kluge/der-mann-der-entschiedenheit-lenrage. – [Zum 90. Geburts-

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tag von Jürgen Habermas am 18. Juni 1929; Erstdruck in: A.K., Personen und Reden, Berlin 2012, 76–78]. »Zum Tod von Stefan Moses«, in: Logbuch Suhrkamp. Online-Publikation, 2018. – URL: https://www.logbuch-suhrkamp.de/alexander-kluge/zum-tod-von-stefan-moses/. – [Darin ein Nachruf und drei Geschichten von A.K., davon eine bisher unveröffentlicht; Stefan Moses verstarb am 3. Febr. 2018 in München].

Beiträge zu Ausstellungen und zu Ausstellungskatalogen »Axel (Alexander) Kluge (geb. 1932 in Halberstadt): Vom Zustöpseln eines Kinderhirns«, in: Hands on! Schreiben lernen, Poesie machen, hg. von Heike Gfrereis und Sandra Richter, Marbach a.N.: Deutsche Schillergesellschaft 2019 (= Marbacher Magazin 167), 42 u. 44–45. – [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne, Marbach a.N., 29. Sept. 2019 bis 1. März 2020; mit Reproduktion der autobiographischen Notiz »Einschulung in der Reyherschule«(S. 44) aus der Publikation Lesen und schreiben lernen (2019; siehe unter ›Bücher‹); vgl. Thomas Combrink, »Zustöpseln eines Kinderhirns (Faksimile der Handschrift, Transkription und Druckfassung)«, in: AKJ 4, 2017, 165–169; Erstdruck in Neue Geschichten (1977), 14–15]. »Beitrag«, in: Der montierte Mensch. The assembled human, hg. vom Museum Folkwang, Essen, Redaktion: Nadine Engel, Anna Fricke, Antonina Krezdorn, Bielefeld: Kerber 2019, 292–297. – [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Museum Folkwang, Essen, 8. Nov. 2019 bis 15. März 2020]. Das Jahr 1990 freilegen: Remontage der Zeit. Mit 32 Geschichten von Alexander Kluge. Editiert [!] von Jan Wenzel in Zusammenarbeit mit Jan-Frederik Bandel u. a., Leipzig: Spector Books 2019, 2. Aufl. 2019, 6, 9–10, 19, 65, 91–92, 96, 105, 115–116, 131, 161, 173, 245–246, 263–264, 281–282, 289, 297–298, 315, 349–351, 363–364, 386, 395, 423, 441–442, 451, 475–476, 487–488, 506, 508, 554, 563, 584, 585–587. – [Katalog zur Ausstellung 1990. Fotografische Positionen aus dem Jahr 1990 im Dieselkraftwerk Cottbus, 29. Febr. bis 17. Mai 2020; in einer Redaktionsnotiz (S. 592) wird Kluge »für die neuen und alten Geschichten« gedankt]. »Geschichten zu ›Der Elefant im Raum‹«, in: Elefant im Raum, Idee und Konzept: Kathrin Röggla in Zusammenarbeit mit Mark Lammert und Eran Schaerf, [Teil 1], Berlin: Akademie der Künste 2019, 8–12. – [8 Texte anlässlich der Ausstellung Der Elefant im Raum, Teil des Projekts Wo kommen wir hin, in der Akademie der Künste, Berlin, 21. März bis 2. Juni 2019]. »Le Frêle Bruit de la Révolution«, in: Le printemps de septembre. ›Fracas et Frêles Bruits‹ 21.09.-21. 10. 2018. Gratuit. Guide du visiteur. Français. (Coordination éditoriale: Alessandra Bellavista), Toulouse: Festival Le printemps de septembre 2018, 36–37, 82 u. 97. – [Programmheft zur gleichnamigen Ausstellung, koordiniert und kuratiert von Vincent Pauval, mit der Dokumentation von Kluges Beitrag; online verfügbar unter: URL: https://www.printempsdeseptembre.com/fr/le-festival/archives/2018]. »Lesen und Schreiben. Wie kann ich leben? Was kann ich wissen? Was bringt die Zukunft?«, in: Das neue Alphabet: Opening Days, kuratiert von Bernd Scherer und Olga von Schubert, Berlin: Haus der Kulturen der Welt 2019, S. 33–46, 187–191. – [Programmheft

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zur Eröffnung der gleichnamigen Veranstaltungs- und Ausstellungsreihe im Haus der Kulturen der Welt, Berlin, vom 10. bis 13. Jan. 2019; auch in einer engl. Ausgabe verfügbar; Kluges Beitrag ist u.d.T. »Von Zett bis Omega« dokumentiert in AKJ 6, 2019, 155–196]. »Mooon. Performances & Projections. Chloé Moglia – Ange Leccia – Alexander Kluge«, Grand Palais, 20 Juillet 2019, Paris: Rmn-Grand Palais 2019, 12 S. – [Programmheft mit Abb., frz.; vgl. URL: https://www.grandpalais.fr/fr/article/alexander-kluge-paris-ce20-juillet-2019-pour-celebrer-le-premier-pas-de-lhomme-sur-la–lune]. »Une Exposition: Alexander Kluge en conversation avec Georg Baselitz et Anselm Kiefer«, Galerie Thaddaeus Ropac, London – Paris – Salzburg, 20 Juillet – 27 Juillet 2019, Paris: Galerie Ropac 2019, 8 u. 12 S. – [Ausstellungsbroschüre, frz.-engl.; mit Programmheft, frz.-dt.; zahlr. Abb.; vgl. URL: https://ropac.net/exhibitions/37-alexander-kluge-in-con versation-with-georg-baselitz-and-anselm-kieferan]. Kluge, Alexander; Morris, Sarah, »Der wilde Atem der Freiheit (2018). Woman on a Horse, Self-Portrait (1972/2018). [Filminstallation]«, in: A City Curating Reader. Public Art Munich 2018. Performative Art in the City. Performative Kunst in der Stadt, hg. von Joanna Warsza und Patricia Reed, München: PAM2018 2018. – [Katalog zur Ausstellung Public Art Munich 2018: Game Changers, 30. Apr. bis 27. Juli 2018; dazu Online-Informationen mit Videolink unter: URL: https://pam2018.de/artists/alexander-kluge/? lang=de].

Übersetzungen Difference and Orientation. An Alexander Kluge Reader, ed. by Richard Langston, (transl. by Rory Bradley et al.), Ithaca, London: Cornell University Press, Cornell University Library 2019, 533 S. – [Enthält Reden, Vorträge, Essays, Stellungnahmen und Kommentare Kluges zu den Themen Literatur, Film, Oper, Fernsehen, Internet und zur Theorie aus dem Zeitraum 1975 bis 2016]. Baselitz, Georg; Kluge, Alexander, World-Changing Rage: News of the Antipodeans, transl. by Katy Derbyshire, London: Seagull Books 2019, 221 S. – [Engl. Übers. von Weltverändernder Zorn]. Crónica dos Sentimentos, Vol. I: Histórias de Base, tradução de Bruno C. Duarte, Lisboa: BCF Editores 2019, 528 S. – [Portug. Übers. von Chronik der Gefühle, Bd. 1: Basisgeschichten; hg. von Vincent Pauval, mit einem Vorwort: »Notícias do século negro, e mais além… Crónica sobre a ›crónica‹«, 9–48]. Haftsatsat Halbershtadt be-shmonah be-April 1945: montaz′ sifruti, übers. von Noʿah Kol, ˙ ˙ ˙ ˙ Tel Aviv: Pitom 2019, 120 S. [Hebräische Übers. von Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945]. L’incursione aerea su Halberstadt dell’8 aprile 1945, traduzione dal tedesco di Anna Ruchat con le studentesse della Civica Scuola, Milano: Meltemi 2019, 138 S. – [Ital. Übers. von Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945]. »Entretien avec Heiner Müller sur Napoléon devant Madrid«, in: Europe. Revue littéraire mensuelle 96 (2018), Nr. 1068, 65–68. – [Dt. Fassung: »Gespräch mit Heiner Müller über Napoleon vor Madrid«, in: Die Lücke, die der Teufel läßt, 521–522].

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»Neuf histoires pour Rainer Werner Fassbinder«, in: Trafic: Revue de cinéma, Nr. 110 (2019), 75–85. – [Frz. Übers. von Hilda Inderwildi und Vincent Pauval, mit einer Einleitung von dems., 74–75]. Kluge, Alexander; Schirach, Ferdinand von, La chaleur et la raison: dialogue entre deux intellectuels allemands, traduit de l’allemand par Olivier Mannoni, Paris: Gallimard 2019, 151 S. – [Frz. Übers. von Die Herzlichkeit der Vernunft]. Kluge, Alexander; Vogl, Joseph, Crédit et débit. [Online-Ressource], Chicago: Diaphanes 2018. – [Druckausgabe: Bienne 2013; siehe AKJ 1, 2014, 301].

Interviews und Gespräche mit Alexander Kluge (Alphabetisch geordnet nach dem Namen der Gesprächspartnerin bzw. des Gesprächspartners.) Benetti, Pierre, »Entretien avec Alexander Kluge par Pierre Benetti (traduits par Bertrand Brouder)«, in: En attendant Nadeau. Journal de la littérature, des idées et des arts, Nr. 64 (2018). Online-Journal. 09. 10. 2018. – URL: https://www.en-attendant-nadeau.fr/2018/ 10/09/entretien-alexander-kluge/. – [In der paginierten PDF-Version S. 26–29; URL: https://www.en-attendant-nadeau.fr/numero-64-kluge/]. Chrostowska, Sylwia D., »›Alors il s’est tourné vers moi.‹ Entretien réalisé pour Critique en juillet 2019 par Sylwia D. Chrostowska. Traduit de l’allemand par Vincent Pauval«, in: Critique 12 (2019), Nr. 871, 1056–1072. Dax, Max, »Eine Epiphanie, ein Blitz im Kopf des Zuschauers«, in: HYPER! A Journey into Art and Music. Deichtorhallen Hamburg, hg. von Max Dax und Dirk Luckow, Übersetzungen Englisch-Deutsch Max Dax und Krunoslav Vrbat, Köln: Snoeck 2019, 196– 199. – [Katalog zur Ausstellung in der Halle für aktuelle Kunst der Deichtorhallen Hamburg, 1. März bis 4. Aug. 2019; Max Dax im Gespräch mit A.K. über dessen Filminstallation zu Christoph Schlingensief; dass. in der engl. Ausgabe des Katalogs]. Di Blasi, Johanna, »Achtung vor Robotern. Über die soziale Intelligenz der Maschinen und Goethes Homunculus, der klüger ist als der Mensch. Interview von Johanna Di Blasi mit Alexander Kluge«, in: Latenz. Journal für Philosophie und Gesellschaft, Arbeit und Technik, Kunst und Kultur 4 (2019), Themenheft Der Künstliche Mensch? Menschenbilder im 21. Jahrhundert, hg. von Irene Scherer und Welf Schröter, 97–100. Eger, Christian, »›Wir müssen Mut erzeugen‹. Alexander Kluge: Der Schriftsteller und Filmemacher erhält den Klopstock-Preis des Landes. Ein Gespräch über Mitteldeutschland, das Jahr 1989 und die Lage im Osten. (Mit Alexander Kluge sprach unser Redakteur Christian Eger)«, in: Mitteldeutsche Zeitung, Nr. 194, 21. 08. 2019, 21. – Online-Version: URL: https://www.mz-web.de/kultur/alexander-kluge-wir-muessen-mu t-erzeugen-33043088. Gravina, Niccolò, »Alexander Kluge in conversation with Niccolò Gravina. ›Poetically Man Dwells‹«, in: Machines à penser, ed. by Dieter Roelstraete, Milano: Fondazione Prada 2018, 369–393. – [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Fondazione Prada, Venedig, 26. Mai bis 26. Nov. 2018; Ausstellung zu den ›Denkmaschinen‹ (Arbeitsstätten, Schreiborte) der philosophischen Autoren Heidegger, Wittgenstein und Adorno; Gesprächsäußerungen Kluges insbesondere zu Letzterem].

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Grissemann, Stefan, »›Was ist ein Liebeslied gegen ein Maschinengewehr?‹ Alexander Kluge über Trauer, die Macht der Poesie, Silicon Valley, Donald Trump und Sebastian Kurz. Interview«, in: profil (Wien), Nr. 37 (Sept. 2018), 86–89. Kuball, Mischa, »Conversation between Alexander Kluge and Mischa Kuball via Skype, January 14, 2019«, in: res.o.nant – Mischa Kuball, ed. by Gregor H. Lersch and Léontine Meijer-van Mensch, Berlin: Sternberg Press, Jewish Museum 2019, 64–67 u. 174–176 (dt. Fassung). – [Katalog zur Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin, 17. Nov. 2017 bis 1. Sept. 2019]. Pauval, Vincent, »›Au fond, un Robinson n’existe qu’à deux‹«, in: Europe. Revue littéraire mensuelle 96 (2018), Nr. 1068, 40–52. – [Gespräch mit Vincent Pauval; dt. Fassung in AKJ 4, 2017, 115–125]. Pauval, Vincent, »Éléments caractéristiques de la boîte de Pandore«, in: Europe. Revue littéraire mensuelle 97 (2019), Nr. 1082–1083–1084, 293–304. – [Gespräch geführt und übersetzt von Vincent Pauval]. Roether, Diemut: »›Im Netz gibt es keine Öffentlichkeit‹. Ein Gespräch mit Alexander Kluge über Medien und Öffentlichkeit«, in: 70 Jahre epd medien, hg. vom Gemeinschaftswerk der Evang. Publizistik, Frankfurt a.M.: Gemeinschaftswerk der Evang. Publizistik 2019 (epd medien 2019, Sonderheft), 5–12. – [Auch als Online-Ressource verfügbar: URL: https://www.epd.de/sites/default/files/uploads/epd-medien_Sonderausgabe_70 Jahre. pdf]. Wurm, Fabian, »Haben Sie Angst vor Hochhäusern? Alexander Kluge im Gespräch mit Fabian Wurm«, in: Architekturführer Frankfurt 1970–1979, hg. von Wilhelm E. Opatz, Hamburg: Junius 2018, 80–89. – [Erstdruck in Frankfurter Rundschau, 04. 10. 2018; siehe AKJ 6, 2019, 443].

Arbeiten über Alexander Kluge Bibliographien und Verzeichnisse Beth, Hanno; Precht, Kai, »Artikel ›Kluge, Alexander‹. Primärliteratur. Rundfunk. Film. Tonträger. Sekundärliteratur. Stand: 01. 08. 2019«, in: KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Online-Ressource. – URL: http://www.nachsc hlage.net/search/klg/Alexander+Kluge/309.html. Wiggen, Beata, »Verzeichnis der Kulturmagazine 2018«, in: Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 6: The Poetic Power of Theory, hg. von Richard Langston, Leslie A. Adelson, N[icholas]. D. Jones, Leonie Wilms, Göttingen: V&R unipress 2019, 449–450. Wilms, Leonie; Jones, N[icholas]. D.; Langston, Richard, »Bibliographie zu Alexander Kluge 2018«, in: Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 6: The Poetic Power of Theory, hg. von Richard Langston, Leslie A. Adelson, N[icholas]. D. Jones, Leonie Wilms, Göttingen: V&R unipress 2019, 439–448.

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Monographien Grimstein, Jens, Gesamtarbeit. Kulturtechniken des Kollektiven bei Alexander Kluge, Diss., Freie Universität Berlin, 2019. – Online-Ressource: DOI: 10.17169/refubium-25482. Wobser, Florian, Interviews und audiovisueller Essayismus Alexander Kluges: ein ästhetisch-performatives Bildungsprojekt und seine Relevanz für schulisches Philosophieren, Diss., Universität Rostock, 2018.

Sammelbände und Themenhefte Alexander Kluge-Jahrbuch. Bd. 6: The Poetic Power of Theory. Mit 83 Abbildungen, hg. von Richard Langston, Leslie A. Adelson, N[icholas]. D. Jones, Leonie Wilms, Göttingen: V&R unipress 2019. Darin enthalten: Richard Langston: Editorial, 9–18. I. »Alexander Kluge: New Perspectives on Creative Arts and Critical Practice«. Leslie A. Adelson: »Alexander Kluge: New Perspectives on Creative Arts and Critical Practice« – Eine Einleitung. Neue Perspektiven, 21–28. – Alexander Kluge: Die poetische Kraft der Theorie, 29–43. – Alan Beyerchen: Kluge and Clausewitz. Change and Imagination in the Real World, 45–60. – Erik Porath: Im Zusammenhang: Auge, Bild, Wort, Geschichte. Zu Alexander Kluges Einsatz der Bilder im Text, 61–79. – Ulrike Vedder: Alexander Kluges Museumspoetik, 81–95. – Hans Jürgen Scheuer: Apokryphe Modernität. Caesarius von Heisterbach, Alexander Kluge und die Intelligenz des Mirakels, 97–114. – Alexander Kluge Ithaka Program, October 11, 2018. »The Poetic Power of Theory« – A Protocol, 115–135. II. Zur poetischen Kraft der Theorie. Alexander Kluge; Richard Langston: »Der Theoretiker geht aufs Fremde«. Alexander Kluge im Gespräch über die poetische Kraft der Theorie, 139–153. – Alexander Kluge: Von Zett bis Omega. »Begehbares Theater – Ein Babylon dessen Turm nicht zerfällt, in Berlin«, 155–196. – Alexander Kluge: The Equivalent of an Oasis. An Essay for the Digital Generation, 197–202. – Alexander Kluge: Die letzte Ausgabe. »Jeder Zirkus hat ein Ende / ›Glücklich wer noch übrig ist!‹«, 203–230. – Alexander Kluge; Richard Langston: »Happy Is The Last Man Standing!« From Independent Cinema to Auteur Television and Back Again [Dialog u. a. zum Andenken an Jonas Mekas], 231–241. III. Kluge und die bildenden Künste. Alexander Kluge; Georg Baselitz: Die Spannung an der Nahtstelle. Ein Gespräch zwischen Georg Baselitz und Alexander Kluge, 245–262. – Sarah Morris: Finite and Infinite Games. A. Film Transcript, 263–272. – Lilian Haberer: Movement as Driving Element and Mode of Reflection in Alexander Kluge’s Collaborations with Female Artists, 273– 289. – Cyrus Shahan: Getting Lost. Motion, Sound, and Image in Michaela Melián’s Rendering of VariaVision. Unendliche Fahrt – aber begrenzt, 291–310. – Seth Howes: Artisten on the Surface of the Moon. Alexander Kluge’s GDR Reception and Obstinacy in Lutz Dammbeck’s Herakles, 311–340.

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IV. Zu Kluges Filmen und Literatur. John E. Davidson: Law and Reasonable Disorder. Spilling over the Banks in Alexander Kluge’s Der starke Ferdinand (1976), 343–367. – Irina Simova: Adjudicating the Self. Anschauung and Abjection in Abschied von gestern, 369–386. – Steffen Andrae: Gegenstand, Darstellung, Kritik. Versuch über einige Berührungspunkte zwischen den Realismus-Konzeptionen von Siegfried Kracauer und Alexander Kluge, 387–404. – Leslie A. Adelson: Literarische Imagination und die Zukunft der Literaturwissenschaft, 405–415. Rezensionen. Christopher Pavsek: Philipp Ekardt, Toward Fewer Images. The Work of Alexander Kluge, Cambridge, MA: The MIT Press, 2018. 448 pp. (hardcover). ISBN: 978-0-26203797-6, 419–424. – Christoph Schmitz: Matthew D. Miller, The German Epic in the Cold War. Peter Weiss, Uwe Johnson, and Alexander Kluge, Evanston (IL): Northwestern University Press, 2018. 272 S. (Taschenbuch). ISBN: 0-8101-3732-1, 425–430. – Muriel Pic: Alexander Kluge, Chronique des sentiments, Vol. 2: L’Inquiétance du temps, (Ed.) Vincent Pauval, (Tr.) Anne Gaudu / Kza Han / Herbert Holl / Arthur Lochmann / Vincent Pauval, Paris: P.O.L., 2018. 1184 pp. (paperback). ISBN: 978-2-8180-2070-8 [Transl. from French by Stephen Zaksewicz], 431–435. Verzeichnisse 2018. Autorinnen und Autoren Leonie Wilms; N[icholas]. D. Jones; Richard Langston: Bibliographie zu Alexander Kluge 2018, 439–448. – Beata Wiggen: Verzeichnis der Kulturmagazine 2018, 449–450. – Autorinnen und Autoren, 453–459. Das Projekt Negt/Kluge und die Geschichte der Gegenwart kritischer Theorie. [Themenschwerpunkt, zusammengestellt von Johan F. Hartle], in: Zeitschrift für kritische Theorie 24/46–47 (2018), 140–204. Darin enthalten: Johan F. Hartle: Das Projekt Negt/Kluge und die Geschichte der Gegenwart kritischer Theorie. Vorbemerkung zum Schwerpunkt, 140–144. – Kooperationszusammenhänge kritischer Theorie. Johan F. Hartle im Gespräch mit Oskar Negt, 145–165. [Auch in engl. Übers. verfügbar; siehe unter ›Publikationen zur Theorie‹]. – Stewart Martin: Alternativer Gesamtarbeiter und synthetische Apperzeption bei Negt und Kluge, 166–186. – Lioudmila Voropai: Gegen die öffentlich-rechtliche »Diktatur der Bourgeoisie«: Das Projekt einer emanzipatorischen Fernsehkritik in »Öffentlichkeit und Erfahrung«, 187–204.

Publikationen zu allgemeinen und übergreifenden Themen Birkmeyer, Jens, »Im Auge des Anderen. Impulse aus Alexander Kluges Interviewpraxis für einen dialogischen Literaturunterricht«, in: Autorschaft im Unterricht: literaturdidaktische Facetten am Beispiel von Interviews, hg. von Carolin Führer und Jochen Heins, Baltmannsweiler: Schneider 2018, 135–146. Fischer, Kai Lars, »Tschernobyl und die ›Katastrophe nach der Katastrophe‹. Katastrophales Ereignis, Zeit und Darstellung bei Alexander Kluge«. Online-Ressource. Frankfurt a.M.: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg 2019. – URN: urn: nbn:de:hebis:30:3–502242. – [Erstdruck 2012; siehe AKJ 1, 2014, 307].

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Genç, Metin, »Im Wendekreis der Repräsentation. Über Kollektivsubjekte und Subjektkollektive bei Daniel Defoe und Alexander Kluge«, in: Verkörperungen des Kollektiven: Wechselwirkungen von Literatur und Bildungsdiskursen seit dem 18. Jahrhundert, hg. von Anna Da˛browska u. a., Bielefeld: transcript 2019, 229–249. Negt, Oskar, »Über Kooperation und Vertrauen – Die Zusammenarbeit mit Alexander Kluge«, in: ders., Erfahrungsspuren. Eine autobiographische Denkreise, Göttingen: Steidl 2019, 296–326. Risthaus, Peter: »Gegenwartsangriff. Alexander Kluges Frühwarnsystem zwischen Wind und Welle«, in: Aktualität. Zur Geschichte literarischer Gegenwartsbezüge vom 17. bis zum 21. Jahrhundert, hg. von Stefan Geyer und Johannes F. Lehmann, Hannover: Wehrhahn 2018, 349–363. Roldán, Eugenia, »El proyecto estético de Alexander Kluge: intermedialidad y experiencia del espectador«, in: Filosóficas y Encarnadas. Investigaciones Estéticas en Argentina. Actas III Jornadas Nacional, VII Encuentro de Investigadores, Editores: Santiago Auat et al., Córdoba (AR): Galfione 2019, 156–159. – Online-Version: URL: http://hdl.handle.ne t/11086/15169. Schnelle, Josef, Im nächsten Leben: Komödie. Volker Schlöndorff im Gespräch, Marburg: Schüren 2019, 132–134. – [Zur Zusammenarbeit mit Kluge und Fassbinder beim Filmprojekt Deutschland im Herbst, 1977/78]. Stephan, Inge, »Kälteszenarien. Alexander Kluges Schreib- und Filmprojekt ›Stroh im Eis / Landschaften mit Eis und Schnee‹ (2010)«, in: dies., Eisige Helden: Kälte, Emotionen und Geschlecht in Literatur und Kunst vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bielefeld: transcript 2019, 251–266. Wimplinger, Christian, »Rainer Stollmann/Alexander Kluge: Ferngespräche über Eisenstein, Marx, das Kapital, die Liebe und die Macht der zärtlichen Kraft. Berlin: Vorwerk 8, 2016«, in: [rezens.tfm], Nr. 2 (2018). Online-Journal. – URL: https://rezenstfm.univie.a c.at/index.php/tfm/article/view/72.

Publikationen zur Literatur Asholt, Wolfgang, »Alexander Kluge en version française«, in: Critique, Nr. 5 (2019), Nr. 864, 467–476. – Online-Version: URL: https://www.cairn.info/article.php?ID_ARTI CLE=CRITI_864_0467. Costagli, Simone, »Alexander Kluge«, in: Simone Costagli, Alessandro Fambrini, Matteo Galli, Stefania Sbarra, Guida alla letteratura tedesca: percorsi e protagonisti 1945–2017, Bologna: Odoya 2018, 159–167. Kapalschinski, Susanne, »Kommunikationsstörungen und Rollenkonflikte in Kürzestgeschichten«, in: Deutschunterricht. Zeitschrift für den Deutschunterricht in Sek. I und Sek. II 71/3 (2018), 44–48. – [Darin zu: »So legte sich der Streit, der zur Trennung hätte führen können«, aus: Kongs große Stunde, 225]. Lee, Hosung, »Alexander Kluges kooperative Autorschaft und Re-Oralisierung der Schriftkultur«, in: Franz Kafka. (Zeitschrift der Koreanischen Kafka-Gesellschaft), Nr. 41 (2019), 107–131. – [In korean. Sprache].

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Publikationen zu den Filmen, den Fernsehmagazinen und den DVD-Editionen Almeida, Jane de, »Escalabilidade nos filmes de Alexander Kluge: estratégia para evitar a catástrofe«, in: Galáxia (São Paulo), Nr. 40 (2019), 119–131. – Online-Ressource: DOI: doi.org/10.1590/1982-25542019137660. Bosco, Lorella, »La logica del frammento. Artisti sotto la tenda del circo: perplessi«, in: Cinema tedesco: i film, a cura di Leonardo Quaresima, Milano, Udine: Mimesis 2019, 309–347. Fiuk, Ewa, »Melanz˙ historii, polityki i liryzmu – przyczynek do analizy filmu ›Patriotka‹ Alexandra Klugego«, in: Kwartalnik Filmowy (Warszawa), Nr. 104 (2018), 167–177. Galli, Matteo, »Retrodatare la catastrofe: ›Der Erste Weltkrieg‹ (2010) di Alexander Kluge«, in: ders., A morte Venezia e altri saggi sul cinema, Milano: Mimesis 2018, 187–200. – [Ital. Fassung von »Rückdatierung der Katastrophe bei Alexander Kluge«, 2014; siehe AKJ 2, 2015, 312]. Galli, Matteo, »Roma, Ulm, Mosca: Alexander Kluge in dialogo con Durs Grünbein (1995– 2018)«, in: Versi per dopodomani: percorsi di lettura nell’opera di Durs Grünbein, a cura di Daniele Vecchiato, Milano: Mimesis 2019, 137–149. Gras, Pierre, »Kluge, Alexander (1932–)«, in: Dictionnaire du Cinéma allemand. (Les Dictionnaires d’Universalis), 2. Aufl., o.O. [Boulogne-Billancourt]: Encyclopaedia Universalis 2019. Online-Ressource. – URL: https://www.universalis.fr/encyclopedie/ale xander-kluge/. – [Erste Druckausgabe 2016]. Hottman, Tara, »The Language of the Archives: Alexander Kluge’s Essay Films and Internet Archive«, in: dies., The Art of the Archive: Uses of the Past in the German Essay Film, Diss., University of California, Berkeley, Calif. 2018, 45–69. – Online-Ressource: URL: http://digitalassets.lib.berkeley.edu/etd/ucb/text/Hottman_berkeley_0028E_18188.pdf. [Jansen, Peter W.], Peter W. Jansen. Publizist und Filmkritiker. Mit Kritiken und Texten von Peter W. Jansen. Essays von Anna Bitter und Wolfgang Jacobsen, hg. von Anna Bitter und Wolfgang Jacobsen, München: edition text+kritik 2018. – [Darin: »Wildes Denken, kontrolliert. Alexander Kluge, der Regisseur, der Filmstratege, der Literat wird 60«, 226–

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228; »Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos«, 228–232; »Die Toten sind voller Protest. Alexander Kluges Film ›Die Patriotin‹. Deutschland im Winter«, 232–233]. Koch, Gertrud, »Vom langen Leben flüchtiger Funken: Happy Lamento – ein Film von Alexander Kluge & Khavn De La Cruz«, in: Cargo. Film, Medien, Kultur 11/42 (2019), 4–7. Loublier, Maguelone, »L’ombre d’une corne de taureau«, in: Germanica 61 (2018), 109–125. – [Zur Verwendung von Märchenmotiven in Kluges Filmen]. Prange, Regine, »›Das Kapital‹ – digital. Materialistische Theorie als Kunst in Alexander Kluges ›Nachrichten aus der ideologischen Antike‹«, in: Von analogen und digitalen Zugängen zur Kunst. Festschrift für Hubertus Kohle zum 60. Geburtstag, hg. von Maria Effinger u. a., Heidelberg: arthistoricum.net 2019, 337–362. – Online-Ressource: DOI: 10.11588/arthistoricum.493. Prange, Regine, »›Kapitalismus in uns‹. Eine Analyse der ersten Sequenz von Alexander Kluges ›Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital‹ (2008)«, in: AugenBlick. Konstanzer Hefte zur Medienwissenschaft, Nr. 74 (2019), Themenheft Mediale Subjektivitäten. Fotografie, Film und Videokunst, hg. von Magdalena Nieslony und Samantha Schramm, 37–51. Reimer, Robert C.; Reimer, Carol J., »Kluge, Alexander (1932–)«, in: dies., Historical dictionary of german cinema, 2nd edition, Lanham (Md.) [u. a.] 2019, 168–170. Riepe, Manfred, »Happy Lamento, Deutschland 2018, R: Alexander Kluge«, in: epd Film 36/ 6 (2019), 64. Sánchez Noriega, José Luis, »El Nuevo Cine Alemán de Alexander Kluge, Volker Schlóndorff, Jean-Marie Strauss [Straub] y Peter Fleischmann«, in: ders., Historia del cine: teorías, estéticas, géneros, tercera edición, revisada y ampliada, Madrid: Alianza Editorial 2018, 420–435. Valenti, Cecilia, »Die Mäeutik bei Alexander Kluge«, in: dies., Das Amorphe im Medialen. Zur politischen Fernsehästhetik im italienischen Sendeformat ›Blob‹, Bielefeld: transcript 2019, 123–128. Wobser, Florian, »Die Fake-Interviews von Alexander Kluge als Appelle an das medienkritische Unterscheidungsvermögen«, in: Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 18 (2018), 75–86. Zielinski, Siegfried, »Künstlerische An-Archive. Herkünfte als Ressource für Zukünfte«. Online-Ressource. Frankfurt a.M.: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg 2019. – URL: http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/doc Id/49696. – [Druckausgabe in: Ränder des Archivs, hg. von Falko Schmieder u. a., Berlin 2016, 205–235; u. a. zu Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit].

Publikationen zur Theorie Andrae, Steffen; Später, Jörg, »Kracauer trifft Kluge: Über Adorno als Schüler und Lehrer und über das Verhältnis von Erfahrung, Realismus, Poetik und Kritik«, in: Im Vorraum: Lebenswelten Kritischer Theorie um 1969, hg. von Dennis Göttel und Christina Wessely, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2019, 13–31.

Bibliographie zu Alexander Kluge 2019

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Hartle, Johan F., »Zur ursprünglichen Akkumulation am Subjekt. Überlegungen zu Negt und Kluge«, in: Der aufrechte Gang im windschiefen Kapitalismus: Modelle kritischen Denkens, hg. von Rüdiger Dannemann, Henry W. Pickford und Hans-Ernst Schiller, Wiesbaden: Springer VS 2018, 299–312. Jameson, Fredric, »Histoire et subjectivité rebelle. Au sujet de Negt et Kluge. (Traduction de Claire Debard)«, in: Variations. Revue internationale de théorie critique, Nr. 21 (2018), Themenheft L’industrie de la culture – version originale. Online-Journal. – DOI: 10.4000/variations.896. – [Engl. Originalfassung in: October 46 (1988), 151–177]. Mertes, Valentin, »Sinnlichkeit als Methode. Alexander Kluges antirealistischer Realismus«, in: Sichtbar machen: Politiken des Dokumentarfilms, hg. von Elisabeth Büttner, Vrääth Öhner und Lena Stölzl, Berlin: Vorwerk 8, 2018, 144–155. Negt, Oskar; Hartle, Johan F., »Interview: Critical Theory’s contexts of cooperation. Translated by Richard Langston«, in: Radical Philosophy 2/4 (2019). Online-Journal. – URL: https://www.radicalphilosophy.com/interview/interview-critical-theorys-context s-of-cooperation. – [Zur dt. Originalfassung siehe den Nachweis im Abschnitt ›Sammelbände und Themenhefte‹ unter Das Projekt Negt/Kluge]. Neuffer, Moritz, »Geschichte und Eigensinn«, in: Titelpaare. Ein philosophisches und literarisches Wörterbuch, hg. von Hendrikje Schauer und Marcel Lepper, Stuttgart, Weimar: Works & Nights 2018, 2. Aufl. 2018, 87–90. Radisoglou, Alexis, »Catastrophic Histories, Planetary Futures: Aesthetics for the Anthropocene in Alexander Kluge, Sebastião Salgado, and Anselm Kiefer«, in: Repräsentationsweisen des Anthropozän in Literatur und Medien. Representations of the anthropocene in literature and media, hg. von Gabriele Dürbeck und Jonas Nesselhauf, Berlin [u. a.]: Peter Lang 2019, 199–218. Rath, Norbert, »Horkheimer und Adorno im literarischen Werk Kluges«, in: ders., »Bei Kafka schweigen die Sirenen«. Paradigmen der Kritik von Montaigne bis Adorno, Würzburg: Königshausen & Neumann 2018, 202–218. – [Erstmals 2017 online erschienen in: www.kritiknetz.de; siehe AKJ 5, 2018, 485]. Villinger, Rahel, »Ästhetische Urteilskraft: Alexander Kluge«, in: Ästhetische Theorie, hg. von Dieter Mersch, Sylvia Sasse und Sandro Zanetti, Zürich: Diaphanes 2019, 221–240.

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Barbara Barnak Zuständig für dctp.tv technische Abwicklung, IVMS, Schnitt, Produktionsleitung bei Drehs und Ansprechpartnerin für alle digitalen Problemstellungen, mitverantwortlich für Internetauftritt und Blog. Abgeschlossenes Studium der Kommunikationswissenschaft (M.A.) mit den Nebenfächern Philosophie und Germanistik und langjährige studentische Mitarbeit bei WDR und dctp. Andreas Becker Assoc. Prof. Dr. phil. habil. – Film- und Medienwissenschaftler an der Germanistik der Keio¯-Universität To¯kyo¯ (seit 2016). 2018 Habilitation, 2003 Promotion zur Zeitraffung und Zeitdehnung im Film (Goethe-Universität Frankfurt am Main). Forschungsinteressen: japanischer und westlicher Film, komparative Ästhetik, Phänomenologie des Films, Zeitdarstellung in den Medien. Homepage: www.zeitrafferfilm.de. Publikationen: Christian Petzold (Hg., Edition FilmKonzepte, im Erscheinen), Yasujiro¯ Ozu, die japanische Kulturwelt und der westliche Film (transcript 2020), Erzählen in einer anderen Dimension. Zeitdehnung und Zeitraffung im Spielfilm (Büchner 2012). Peter Berling (1934–2017) Deutscher Filmproduzent, Schriftsteller und Schauspieler. Er wirkte als Darsteller in mehr als 130 Filmen mit, etwa unter der Regie von Werner Herzog und Martin Scorsese, sowie in Filmen von Helge Schneider. Außerdem wurde er als Produzent (u. a. für Rainer Werner Fassbinder), Kritiker und Chronist bekannt. Berling arbeitete oft mit Alexander Kluge zusammen und trat regelmäßig in den Kulturmagazinen als Kluges Gesprächspartner auf. Dort schlüpfte er im Rahmen fiktionaler Gespräche in verschiedene Rollen und Kostüme.

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Ross Etherton Assistant Professor of German at the University of Minnesota (Twin Cities), USA, where he teaches and researches 19th- and 20th-century literature, intersections of literature and technology, and media theory. He has written on Alexander Kluge, Ernst Jünger, and Neil Young. He is also a translator and singer-songwriter who has released and appeared on numerous recordings. His current book project examines the machine gun’s technical-literary effect on early 20th-century cultural production. André Fischer Assistant Professor für Germanistik an der Washington University in St. Louis (USA). Seine Arbeitsschwerpunkte liegen auf dem Zusammenhang zwischen ästhetischer und politischer Theorie mit Formen poetischen Widerstands. Sein Interesse richtet sich besonders auf die subversive Kraft moderner Mythen und seine Publikationen beinhalten Aufsätze zu Bertolt Brecht, Peter Weiss, Hans Henny Jahnn, und Werner Herzog. Zuletzt erschienen: »Fragments for a Dialectic of Resistance: Fatzer, Keuner, and the Revolution«, in: Brecht Yearbook 44, 2019, S. 15–36; »Deep Truth and the Mythic Veil. Werner Herzog’s New Mythology in ›Land of Silence and Darkness‹«, in: Film-Philosophy 22, 2018, S. 39–59. Anna Fricke Seit 2015 Kuratorin für Zeitgenössische Kunst am Museum Folkwang. Zuvor Kuratorin am Deutschen Filmmuseum, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Städel Museum und freie Kuratorin. Fricke studierte an der Ruhr-Universität Bochum Komparatistik und Kunstgeschichte und promovierte mit einer Untersuchung zu »Lebendigen Bildern« in literarischen Texten und auf Gemälden. Unter anderem kuratierte sie die Ausstellungen »Der montierte Mensch« (2019/2020), »Alexander Kluge – Pluriversum« (2017/2018), »Dancing with Myself« (2016/2017), »Fassbinder – jetzt. Film und Videokunst« (2013/2015) und »Tejal Shah – Some Kind of Nature« (2013). Michel Gaißmayer Geboren 1937 in Berlin; Jugend im Ruhrgebiet; 1957 Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik, Geschichte und Philosophie in München und Berlin. 1959 Beginn einer Zusammenarbeit mit Regisseuren des Jungen Deutschen Films in München – später in Berlin und Moskau mit den Regisseuren Peter Lilienthal, Wim Wenders und Elem Klimov; 1965 Kulturpolitischer Berater bei Willy Brandt; danach Organisation von Ausstellungen (u. a. »Erwin Piscator. Politik auf dem Theater«, 1967) und gesellschaftspolitische Kampagnen (u. a. »1. Mai – Gegen konzertierte Ausplünderung«, 1969, »Schreibmaschinen für Vietnam«, 1973,); seit 1970 Mitarbeiter der Tageszeitung »Die Wahrheit«; ab 1977 Konzept und

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Organisation zahlreicher kulturpolitischer Ereignisse in West und Ost, u. a. 1979 die NGBK-Ausstellung »Die gesellschaftliche Wirklichkeit der Kinder in der Bildenden Kunst« in der Westberliner Staatlichen Kunsthalle, 1983 den Auftritt von Harry Belafonte und Udo Lindenberg im Ostberliner Palast der Republik, 1987 das »Internationale Forum für den Frieden« mit Michail Gorbatschow und Künstlern in Moskau sowie die »Elem-Klimov-Retrospektive« in der Akademie der Künste in Westberlin, 1988 die Ausstellung »Uecker in Moskau« – eine Retrospektive seines Schaffens; von 1988–2019 Redakteur bei Alexander Kluges unabhängigen Kulturmagazinen im Fernsehen und Berater von Udo Lindenberg. Daniel Gönitzer Beschäftigt sich in seiner Dissertation, die er am Institut für Theater-, Filmund Medienwissenschaft der Universität Wien bei Christian Schulte schreibt, mit Walter Benjamin und den Kunstbewegungen der Avantgarde. Er ist außerdem als Kulturvermittler in der freien Kulturinitiative Container 25 in Kärnten/Korosˇka aktiv. Aktuelle Publikationen (im Erscheinen): »›Die Desintegration des Proletariats als ›Masse‹ durch die Revolution‹ – Walter Benjamin zum Begriff der Masse«, in: Kunst, Spektakel & Revolution N°8: GEGEN ÖFFENTLICHKEIT!, Hamburg: Katzenberg-Verlag; sowie »›Wie zwei Scheinwerfer‹ Ein Vergleich der Kunstphilosophien Walter Benjamins und Theodor W. Adornos«, in: Christian Schulte/Birgit Haberpeutner/Melanie Konrad (Hg.), Gesten des Ephemeren. Anschlüsse an Walter Benjamin, Berlin: Verlag Vorwerk 8 (im Erscheinen). Birgit Haberpeuntner Universitätsassistentin am tfm | Institut für Theater-, Film- & Medienwissenschaft an der Universität Wien und freiberufliche Übersetzerin. Von 2015– 2017 Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften. Studium der Anglistik, Translationswissenschaft und tfm in Wien, Montréal und New York. Dissertation zur angloamerikanischen Rezeption Walter Benjamins. Forschungsinteressen im Bereich Medienkulturwissenschaft, Medien-/ Kulturtheorie, Cultural/Postcolonial Studies und Kritische Theorie. Nicole Kandioler Ass.-Prof. der Politiken des Medialen am tfm | Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte zu osteuropäischen Film- und Medienkulturen, Gender Media Studies & STS sowie Dokumentarfilmtheorie. Im Erscheinen: Julia Bee/Nicole Kandioler (Hg.), Differenzen und Affirmationen. Queerfeministische Positionen zu Medialität, Berlin 2020.

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Kentaro Kawashima Dr. phil., Studium der Germanistik an der Keio-Universität in Tokio, Promotion 2009 am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. 2012 bis 2014 Associate Professor, seit 2015 Professor fu¨ r Germanistik an der Keio-Universität in Tokio. Forschungsschwerpunkte: Gegenwartsliteratur, Autobiographie, Literaturtheorie, Medientheorie. Publikation: Autobiographie und Photographie nach 1900 – Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes, Sebald, Bielefeld 2011. Alexander Kluge Studium der Rechtswissenschaft, Geschichte und Kirchenmusik in Marburg und Frankfurt am Main; promovierte 1956 über Die Universitäts-Selbstverwaltung zum Doktor jur. Er wurde juristischer Berater des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und Vertrauter von Theodor W. Adorno. Nach einem Volontariat bei Fritz Lang 1958 arbeitete er als Filmemacher und erhielt 1966 für Abschied von gestern als erster Deutscher nach dem Krieg den Silbernen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig. Ab 1962 gelang ihm der literarische Durchbruch mit Bänden wie Lebensläufe und Schlachtbeschreibung. Lesungen bei der Gruppe 47. Mit Oskar Negt verfasste er ein umfangreiches theoretisches Werk. Seit 1988 führte er das Konzept des Kinos der Autoren mit Kulturmagazinen im Privatfernsehen fort. Er erhielt zahlreiche Preise für sein Filmschaffen und seine Literatur, zuletzt den Georg-Büchner-Preis (2003), den Theodor-W.-Adorno-Preis (2009), den Adolf-Grimme-Preis (2010), den Heinrich-Heine-Preis (2014), den Jean-Paul-Preis (2017) und den Klopstock-Preis (2019). Melanie Konrad Universitätsassistentin in Ausbildung (Prae Doc) am tfm | Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien bei Prof. Christian Schulte. Sie hat Politikwissenschaft an der Universität Wien und am Goldsmiths College, University of London, studiert. Forschungsinteressen liegen in der Politischen Theorie, der Queer Theory und der Medienkulturwissenschaft. In ihrer Dissertation arbeitet sie zu queeren Formen von Verbundenheit in fotografischen Medien bei Walter Benjamin und Alexander Kluge. Karl Clemens Kübler Doktorand an der eikones Graduate School der Universität Basel. Seine Forschungsinteressen umfassen die Aufmerksamkeit als ästhetisches Problem in der Literatur, das Werk Alexander Kluges, das Zusammenspiel von Literatur und Ökonomie sowie die norwegische Arbeiterliteratur. Seit 2015 ist Karl Clemens Kübler als literarischer Übersetzer tätig.

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Stefan A. Marx Philosoph und Publizist in Wien. Interessen liegen in den Bereichen digitaler Kapitalismus, Soziale Medien und Kritische Theorie. Der zweite Band der von ihm herausgegebenen Reihe halbwertszeit mit dem Titel »Wir kennen Leute auf Facebook« erscheint demnächst im Luftschacht Verlag, Wien. Randolf Menzel Deutscher Zoologe und Neurobiologe. Menzel beschäftigt sich seit mehr als fünf Jahrzehnten mit Bienen und ist eine Autorität der tierischen Intelligenzforschung. Über 30 Jahre lang leitete er das Neurobiologische Institut der Freien Universität Berlin. Ihm gelang unter anderem erstmals die elektrophysiologische Ableitung von Sehneuronen im Bienengehirn und die weltweit erste Anwendung eines bildgebenden Verfahrens am lernenden Gehirn. Außerdem konnte der Leibniz-Preisträger die wohl im Tierreich einmalige Navigationsweise der Bienen aufklären. Jan-Hendrik Müller Studium der Kulturwissenschaften, Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie Critical Studies an den Universitäten Klagenfurt, Wien und an der Akademie der bildenden Künste Wien. Nach langjähriger Mitarbeit im Filmarchiv Austria und der Filmsammlung des Österreichischen Filmmuseum seit 2019 Universitätsassistent (PraeDoc) am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Forscht zu einem Begriff filmischen Handelns und Dissens in Film-Pamphleten und Flugblattfilmen des militanten Kinos der 1960er und 1970er Jahre. Enno Patalas (1929–2018) Deutscher Filmhistoriker und -kritiker. Patalas gründete 1957 die richtungsweisende Zeitschrift Filmkritik. Von 1963 bis 1994 leitete er das Münchner Filmmuseum und hat dort u. a. die Rekonstruktion von Langs Metropolis und Murnaus Nosferatu unternommen. Patalas veröffentlichte zahlreiche Bücher und viele Texte in Zeitschriften und Zeitungen, zahlreiche Fernsehfeatures vor allem zur deutschen Filmgeschichte und Übersetzungen, zumeist zusammen mit seiner Frau Frieda Grafe, aus dem Französischen. Christian Schulte Professor am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Zahlreiche Publikationen, u. a. zu Alexander Kluge.

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Winfried Siebers Wissenschaftlicher Autor und Redakteur in Berlin; seit 1990 Forschung und Lehre in den Fächern Literatur- und Medienwissenschaft an den Universitäten Osnabrück, Potsdam und Wien; Promotion 1998; von 2006 bis 2018 wiss. Mitarbeiter am Interdisziplinären Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück. – Neuere Publikationen u. a.: Alexander KlugeJahrbuch, Bd. 3, hg. mit Christian Schulte u. a. (2016); Einführung in die Reiseliteratur (mit Andreas Keller, 2017); »Bibliographie zu Alexander Kluge«, in: Alexander Kluge-Jahrbuch 1 (2014) bis 5 (2018); »Diplomatie und Politik in der frühaufklärerischen Apodemik«, in: Wissen und Strategien frühneuzeitlicher Diplomatie, hg. von Stefanie Freyer u. a. (2020). Marcus Steinweg Philosoph sowie Professor an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe. Er lebt in Berlin. Zu seinen Publikationen zählen: Duras (mit Rosemarie Trockel, Berlin: 2008), Politik des Subjekts (Zürich/Berlin: 2009), Aporien der Liebe (Berlin: 2010), Kunst und Philosophie / Art and Philosophy (Köln: 2012), Philosophie der Überstürzung (Berlin: 2013), Inkonsistenzen (Berlin: 2015), Evidenzterror (Berlin: 2015), Gramsci Theater (Berlin: 2016), Splitter (Berlin: 2017), Subjekt und Wahrheit (Berlin: 2018), Proflexionen (Berlin: 2019), Humor und Gnade (mit Frank Witzel, Berlin: 2019), Metaphysik der Leere (Berlin: 2020). Die englischsprachige Fassung einiger seiner Bücher erscheint seit 2017 bei The MIT Press; Cambr./Mass. USA. Rainer Stollmann Bis 2012, Professor fu¨ r Kulturgeschichte an der Universität Bremen, inzwischen emeritiert. Seine Forschung befasst sich insbesondere mit der Kulturgeschichte des Lachens sowie mit dem Werk Alexander Kluges. Publikationen u. a.: »Angst ist ein gutes Mittel gegen Verstopfung«. Aus der Geschichte des Lachens, Berlin 2010. Zu Alexander Kluges Werk, nebst zahlreicher Aufsätze: Alexander Kluge zur Einführung, Hamburg 2010. In Zusammenarbeit mit Kluge entstanden ferner mehrere Gesprächsbände: Verdeckte Ermittlung, Berlin 2001, Die Entstehung des Schönheitssinns aus dem Eis, Berlin 2005, oder jüngst: Ferngespräche: Über Eisenstein, Marx, das Kapital, die Liebe und die Macht der zärtlichen Kraft, Berlin 2016. Florian Telsnig Studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Philosophie und Theater-, Filmund Medienwissenschaft in Wien, Paris und Lissabon und promoviert zur Geschichte und Theorie nicht-instrumenteller Sprachphilosophie. Aktuell ist er nach Tätigkeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der LMU München wis-

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senschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Wien. Publikationen u. a. zum Verhältnis von Literatur und Politik, zur Philosophie der Zeit und besonders zur Sprachphilosophie. Alexander Weil Seit 1990 freier Redakteur bei der dctp. Zahlreiche Interviews für Kulturmagazine News & Stories, 10 vor 11 und Primetime/Spätausgabe mit Vertreter*innen des Musiktheaters und naturwissenschaftlicher Wissensgebiete. Christian Wimplinger Studierte Philosophie und Germanistik und ist derzeit als Universitätsassistent am Institut für Germanistik in Wien angestellt. Ehemaliger IFK-Junior-Fellow (2017–2019). In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit der Buchkultur und Schreibpraxis der Neuen Linken in Deutschland, insbesondere anhand der Kooperation von Oskar Negt und Alexander Kluge. Kürzliche Publikationen zum Thema: »Der merkwürdige Moment. Jetztzeit bei Alexander Kluge«, in: Birgit Erdle/Annegret Pelz (Hg.), Momentaufnahmen und Augenblicksaufzeichnungen. Kleinste Zeiteinheit – Denkfigur – mediale Praxis, Fink 2020, S. 137–153; sowie »›Die Augenbewegungen sind spontan‹ – Protestbewegungen sind es auch. Zum ambulanten Gebrauch von Oskar Negt und Alexander Kluges Geschichte und Eigensinn«, in: Alexandra Ganser/Annegret Pelz (Hg.), Mobile Kulturen und Gesellschaften – Mobile Cultures and Societies, Vienna University Press 2020, S. 223–244. Mark Simon Wolf Sein Studium der Medienwissenschaft, des Medienmanagements, der Medienkultur und des Sicherheitsmanagements schloss Mark Simon Wolf im Sommer 2020 mit dem Master of Arts an der Universität Siegen ab. In seiner Abschlussarbeit widmet er sich Alexander Kluges narrativem Verfahren der Konstellationen, das er auf dessen Veröffentlichungen zur Entstehung und den Folgen des To¯ hoku-Erdbebens in Japan 2011 bezieht. Ansonsten ist Wolf als freier Journalist und Texter tätig.