Autorschaft: Ikonen - Stile - Institutionen 9783050057132, 9783050051086

Auch nach den Diskussionen über den "Tod" und die "Rückkehr des Autors" bleibt Autorschaft für die L

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German Pages 383 [384] Year 2011

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Autorschaft: Ikonen - Stile - Institutionen
 9783050057132, 9783050051086

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Autorschaft

Christel Meier, Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.)

Autorschaft Ikonen – Stile – Institutionen

Akademie Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: hauser lacour, Abbildung: writer’s desk, iStockphoto.com / MiquelMunill; Der heilige Hieronymus beim Schreiben, 1605–1606, Michelangelo Caravaggio (Montage) Satz und Lithographie: Rhema - Tim Doherty, Münster Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-005108-6

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ulrich Berges Kollektive Autorschaft im Alten Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anika Söltenfuß und Meike Kimmel Autorschaft in augusteischer und spätantiker Dichtung Die Eklogen Vergils und die Natalicia des Paulinus von Nola

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Hartmut Beyer Autorrollen und Legitimationsstrategien in der lateinischen Epistolographie des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Christel Meier Autorstile im Hochmittelalter?

Eckart Conrad Lutz Zwischen Landesherrschaft und höfischem Credo Lyrik und Gespräch als Medien der Adelsreform bei Ulrich von Liechtenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Bruno Quast als Thômas von Britanje giht Narratologische Überlegungen zur Funktion des Autornamens in der höfischen Epik am Beispiel des Tristan Gottfrieds von Straßburg

. . . . . 133

Michele Calella Patronage, Ruhm und Zensur Bemerkungen zur musikalischen Autorschaft im 15. Jahrhundert . . . . . . . . . 145

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Inhaltsverzeichnis

Wolf-Dietrich Löhr Die Rede der Hand Giottos O und die Autorschaft des Künstlers bei Polizian und Vasari . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Pia Claudia Doering Literarische Inszenierungen von Macht in den politischen Schriften Niccolò Machiavellis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Andreas Pietsch Hoeret myne Kinderen Autorisierungsstrategien von prophetischen Autoren in der Radikalen Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Daniel Weidner Himmelskarten und Erdkarten Gott und der Romanerzähler bei Fielding und Jean Paul . . . . . . . . . . . . . 231 Karin Westerwelle Charles Baudelaire Masken und Figuren des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Dominik Höink und Andreas Jacob Krisen der Autorschaft bei Bruckner und Reger als Insignien der beginnenden musikalischen Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Christian Sieg Schriftsteller als ‚Gewissen der Nation‘ Religiöse und politische Aspekte eines Autorschaftskonzepts der Nachkriegszeit

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Wolfgang Emmerich Im Besitz der Wahrheit? Autorschaft im DDR-Sozialismus: Christa Wolf – Heiner Müller . . . . . . . . . 331 Martina Wagner-Egelhaaf Ikonoklasmus Autorschaft und Bilderstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Personenregister

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

Vorwort

Die vorliegende Sammlung von Beiträgen zum Thema ‚Autorschaft‘ geht zurück auf die interdisziplinäre und internationale Tagung „Autorschaft. Ikonen – Stile – Institutionen“, die von der Arbeitsgruppe ‚Autorschaft‘ des an der Universität Münster eingerichteten Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ vom 8. bis 12. April 2010 veranstaltet wurde. Im Forschungsfeld „Inszenierung“ des Clusters interessiert ‚Autorschaft‘ im weiten Sinn der Urheberschaft von Texten, bildender Kunst und Musik als eigener Instanz mit Autorität im kulturellen Kräftefeld, die gegenüber den gesellschaftlichen Institutionen der Religion und Politik Geltung beansprucht. Die Frage ist, wie sie unter differenten historischen und sozialen Bedingungen ihre Deutungskompetenzen unter Beweis stellt und welcher Art Autorisierungen ihre öffentliche Rede legitimieren. Als Leitkategorien von Autorschaftsdiskursen fungieren im Hinblick auf das Verhältnis zu Religion und Politik sowie deren Verschränkung die Aspekte ‚Ikonen‘, ‚Stile‘, ‚Institutionen‘. Allen, die durch ihre Vorträge, durch Moderationen sowie durch Hinweise und Kritik zum Erfolg des Kolloquiums beigetragen haben, gilt unser herzlicher Dank, insbesondere den Referentinnen und Referenten, die ihre Beiträge für diese Veröffentlichung zur Verfügung gestellt haben. Gedankt sei auch Katharina Stange für ihre engagierte Hilfe bei der Durchführung der Tagung und bei der Redaktion des Bandes. Die Erstellung des Registers haben Petra Korte, Laura Suttorp, Claudia Altrock, Hanna Goyer, Romeike Jeske, Philipp Pabst, Kerstin Wilhelms und Carina Wobbe übernommen. Dem Akademie Verlag sei Dank gesagt für die Aufnahme des Bandes in sein Verlagsprogramm und seine wohlwollende Förderung des Projekts. Den Satz erstellte mit gewohnter Professionalität Timothy Doherty vom Rhema-Verlag. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Exzellenzcluster danken wir für die finanzielle Unterstützung, die das Kolloquium und die Drucklegung ermöglicht hat. Münster, im Juli 2011

Christel Meier und Martina Wagner-Egelhaaf

Christel Meier und Martina Wagner-Egelhaaf

Einleitung

1. „Es gibt nach dem Text kaum eine andere Größe im Gebiet der Literatur, die uns wichtiger wäre als der Autor“ 1 , so lautet der erste Satz der Einleitung in der von Fotis Jannidis u.a. herausgegebenen, in deutschen Universitätsseminaren als Standardwerk eingesetzten Anthologie zur Autorschaftstheorie. Das ist eine starke Aussage, die vielleicht verwundert, wenn man sich vor Augen führt, dass drei Jahrzehnte zuvor noch der ‚Tod des Autors‘ 2 ausgerufen worden war und in der Folgezeit die Bezugnahme auf den Autor bzw. die ‚Autorintention‘ in der neueren Literaturwissenschaft geradezu verpönt war. Allein dem Text sollte die literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit gelten, was bald zur Universalisierung eines immer konturloser werdenden Textbegriffs führte. Dies sah freilich im Jahr 2000, als der genannte Sammelband veröffentlicht wurde, schon wieder ganz anders aus. Inzwischen hatte nämlich die ‚Rückkehr des Autors‘ stattgefunden; 3 ganz offensichtlich hatte etwas gefehlt, als der Autor verschwunden war. Kann man auf der einen Seite feststellen, dass der plakativ verkündete Tod des Autors, dem der postmoderne Tod des Subjekts, aber auch der von Friedrich Nietzsche am Ende des 19. Jahrhunderts proklamierte Tod Gottes vorausgehen, 4 zu einer bemerkenswerten Belebung der literatur1 Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matías Martínez/Simone Winko, „Einleitung. Autor und Interpretation“,

in Dies. (Hgg.), Texte zur Theorie der Autorschaft (RUB 18058), Stuttgart 2000, 7–29, hier 7.

2 Vgl. Roland Barthes, „La mort de l’auteur“, in Manteia (1968), 12–17; vgl. die deutsche Übersetzung

von Matías Martínez „Der Tod des Autors“, in Fotis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Texte zur Theorie der Autorschaft (RUB 18058), 185–197. 3 Vgl. Seán Burke, The Death and Return of the Author. Criticism and Subjectivity in Barthes, Foucault and Derrida, Edinburgh 1992; Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matías Martínez/Simone Winko (Hgg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999. 4 Vgl. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Zweites Buch, Aphorismus 125, in Ders. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 3, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980, 343–651, 480–482.

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Christel Meier und Martina Wagner-Egelhaaf

wissenschaftlichen Autorschaftsdebatte 5 und letztlich zu einer ausgesprochenen Vitalität des Autors in der aktuellen literaturwissenschaftlichen Diskussion geführt hat, so muss man doch auch vermerken, dass der ‚wiederauferstandene‘, durch seinen Tod gegangene Autor notwendig ein anderer sein muss als derjenige, den Barthes und Foucault in den 1960er-Jahren zu Grabe getragen hatten. Zu Grabe getragen wurde der seinem Text vorgängige Autor als gleichsam natürliche intentionale Einheit und gesellschaftliche Instanz. Durch den provokativ verkündeten Tod des Autors ist die Literaturwissenschaft zumindest daran erinnert worden, dass das Leben des Autors, d.h. seine kategoriale Existenz, keine Selbstverständlichkeit ist. Der wiederauferstandene Autor ist nicht lediglich derjenige, der Texte schreibt und der in unterschiedlichen Epochen und Kulturen auf je verschiedene Weise eine gesellschaftliche, mit den Mitteln der Sozialgeschichte zu beschreibende Instanz darstellt, der wiedergekehrte Autor ist, wie Foucault ihn bestimmt hatte, eine diskursive Funktion, 6 ein mediales Ereignis, Textfigur und Figur des Textes – und er ist z.B. auch eine Autorin. 7 Nicht, dass er all dies nicht immer schon gewesen wäre – allein, der Blick auf ihn wurde ein anderer, die Aufmerksamkeit darauf, wie Autorschaft konstruiert wird, veränderte sich, und damit wurde natürlich auch der Autor ein anderer. Die einschneidendste Neuorientierung aber lag darin, dass man Autorschaft dezidierter als dies zuvor der Fall gewesen war, an der Schnittstelle von Text und personaler Instanz verortete und problematisierte, denn ohne Text gibt es keinen Autor. Die unidirektionale Blickrichtung, die vom Autor aus auf den Text sah, wurde nun ergänzt und konterkariert durch eine umgekehrte, den Autor aus der Perspektive des Textes thematisierende Lesart. Aus dem Schöpfer oder Urheber des Textes wurde – zugespitzt formuliert – sein Produkt. Damit stellte sich die Frage, ob und bis zu welchem Maß der Autor als innerhalb oder 5 Vgl. etwa Gunter E. Grimm (Hg.), Metamorphosen des Dichters. Das Rollenverständnis deutscher

Schriftsteller vom Barock bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. 1992; Felix Philipp Ingold/Werner Wunderlich (Hgg.), Fragen nach dem Autor. Positionen und Perspektiven, Konstanz 1992; dies. (Hgg.), Der Autor im Dialog, St. Gallen 1995; Alessandra Corti, Die gesellschaftliche Konstruktion von Autorschaft, Wiesbaden 1999; Jürgen Fohrmann, „Über Autor, Werk und Leser aus poststrukturalistischer Sicht“, in Diskussion Deutsch 21 (1990), 577–588; Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart/Weimar 2002; Dorothea Klein, „Inspiration und Autorschaft: ein Beitrag zur mediävistischen Autordebatte“, in DVjs 80/1 (2006), 55–96; Rolf Parr, Autorschaft. Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz in Deutschland zwischen 1860 und 1930, Heidelberg 2008 (unter Mitarbeit von Jörg Schönert); Renate Giacomuzzi, „Zur Veränderung der Autorrolle im Zeichen des Internet“, LiLi 154 (2009), 7–30. 6 Vgl. Michel Foucault, „Qu’est-ce qu’un auteur?“, in Ders., Dits et écrits 1954–1988, Édition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange, Bd. 1 1954–1975, 817–849; dt. in Fotis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Texte zur Theorie der Autorschaft (RUB 18058), 198–229. 7 Vgl. Genia Schulz, „Anmerkungen zum Verschwinden des Autors und zum Erscheinen der Autorin“, in Inge Stephan [u.a.] (Hgg.), „Wen kümmert’s, wer spricht?“ Zur Literatur und Kulturgeschichte von Frauen aus Ost und West, Köln [u.a.] 1991, 57–62; Sigrid Nieberle, „Rückkehr einer Scheinleiche? Ein erneuter Versuch über die Autorin“, in Fotis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Rückkehr des Autors, 255–272; Barbara Hahn, Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen, Frankfurt a.M. 1991.

Einleitung

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außerhalb seines Textes angesiedelte Größe zu denken ist – eine Frage, die natürlich nicht in absolutem Sinne zu beantworten ist, sondern die nicht zuletzt von dem jeweils zugrunde liegenden Frage- und Erkenntnisinteresse abhängig ist. Aber dass hier sehr verschiedene Ansätze möglich sind und der Autor nie nur das eine ist, dass er gewissermaßen polykontextural 8 zu denken ist, kann wohl als Ergebnis der neueren Autorschaftsdebatte hervorgehoben werden. Die ‚Grenze‘ zwischen Text und Autor erweist sich denn auch nicht zufällig als literarisch eminent produktiv, wenn beispielsweise Autoren als Autoren in ihren eigenen Werken auftreten, wie dies etwa bereits in Uwe Johnsons Roman Jahrestage (1970–1983) der Fall ist, 9 in der Gegenwartsliteratur, etwa bei Arnold Stadler, Thomas Glavinic oder Alban Nikolai Herbst zum hochartifiziellen auto(r)fiktionalen Spiel wird, das herkömmliche erzähltheoretische Kategorien gezielt unterläuft und darauf hinweist, dass ‚der Autor‘ gleichermaßen in seinem Text wie außerhalb seines Textes ist. Die verschiedenen AutorFigurationen erweisen sich gleichsam als in einer Schleife miteinander verbunden; sie umspielt die nicht dingfest zu machende Grenze zwischen Autor und Text und macht den Autor in eben dem Maße zum Text wie er den Text zum ‚Autor‘ seines Autors werden lässt. 10 8 Vgl. Niels Werber/Ingo Stöckmann, „Das ist ein Autor! Eine polykontexturale Wiederauferstehung“,

in Henk de Berg/Matthias Prangel (Hgg.), Systemtheorie und Hermeneutik, Tübingen/Basel 1997, 233–259. 9 Hier sei einmal mehr an die viel zitierte Stelle aus dem ersten Band der Jahrestage von 1970 erinnert, wo es zu folgendem Dialog zwischen Gesine Cresspahl, der Hauptfigur des Romans, und dem ‚Autor‘ kommt: „Wer erzählt hier eigentlich, Gesine. / Wir beide. Das hörst du doch, Johnson“, Uwe Johnson, Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1970, 256. ‚Autor‘ wird hier in Anführungszeichen gesetzt, weil es natürlich nicht der Autor Uwe Johnson als historische Person ist, der hier, wie an anderen Stellen des Romans seinen Auftritt hat, auch nicht die erzähltheoretische Kategorie des ‚Erzählers‘, obwohl der ‚Autor‘ Johnson den Roman erzählt, wie die zitierte Passage zu verstehen gibt. Am ehesten ist der Autor hier als Figur zu beschreiben, als eine Figur allerdings, die aufgrund ihrer Namensidentität mit dem auf dem Buchumschlag genannten Autor, Philippe Lejeune zufolge (vgl. Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Horning, Frankfurt a.M. 1994), einen autobiographischen Pakt anbietet und die Vorstellung evoziert, der Autor meine gleichwohl sich selbst als historische Person. Vgl. auch Martina Wagner-Egelhaaf, „‚Dead Author’s Identity in Doubt; Publishers Defiant‘. Zu Uwe Johnsons Selbstnachruf“, in Rudolf Suntrup/Kordula Schulze/Jane Brückner/Kristina Rzehak/Tomas Tomasek/Halida Madjitowa/Iraida Borisova/Abduzukhur Abduazizov (Hgg.), Usbekisch-deutsche Studien III: Sprache – Literatur – Kultur – Didaktik, 2 Bde., Bd. 1: Begegnung von Orient und Okzident in der Literatur/Linguistik und Varietäten, hg. v. Rudolf Suntrup/Kristina Rzehak/Iraida Borisova, 4. usbekisch-deutsche Tagung, Münster, 23.–25. November 2009, Münster 2010, 201–213. 10 In diesem Sinne hat Erich Kleinschmidt vom „selbstschöpferischen Ort“ der Autorschaft „im Text“ gesprochen; Erich Kleinschmidt, Autorschaft. Konzepte einer Theorie, Tübingen/Basel 1998, 9. Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, „Auf der Intensivstation. Oder: Die Autormaschine. Zu John von Düffels ‚Missing Müller (Müllermaschine)‘ (1997)“, in Martin Hellmold/Sabine Kampmann/Ralph Lindner, Katharina Sykora (Hgg.), Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst, München 2003, 195–211; dies., „Autorschaft als Skandal. Matthäus – Pasolini – Stadler“, erscheint in DVjs 85/1 (2012); Matthias Schaffrick, „Literarische Liturgie. Realpräsenz und Realismus in Martin Mosebachs

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Anders als die neueren Literaturwissenschaften gingen die älteren Philologien mit der These vom Tod des Autors um, war bei ihnen doch Autorschaft immer schon eine prekäre Kategorie, der Text dagegen die sicherere Bezugsgröße. Zugespitzt formulierte daher Horst Wenzel: „Wir kennen im Mittelalter nicht den Autor, der den Text hervorgebracht hat, sondern nur den Text, der den Autor hervorbringt.“ 11 Allerdings ist dies für die 1000 Jahre Mittelalter sowohl in Epochenabschnitten wie in sprachlich differenten Literaturen oder Gattungskomplexen keineswegs gleich zutreffend, 12 vielmehr explizieren auch viele Autoren ihr Autorschaftskonzept im Werk, und Autorschaft in Gestalt der antiken auctores und ihrer Selbstdarstellung war dem gesamten Mittelalter vertraut. Doch sind viele Texte des Mittelalters zum Beispiel anonym oder unter verschiedenen Autornamen überliefert. 13 Gewollte Anonymität oder Pseudonymität waren seit der christlichen Spätantike geschätzt, da sie entgegen selbstbewusster Autorschaft in der Antike eine Demutshaltung bezeugten. Originalitätsansprüche und Individualitätsmarkierungen stellten dagegen kaum oder erst spät Qualitätsparameter in dieser Literatur dar. Viele Gattungen waren geradezu geprägt von der Wiederbearbeitung des Überlieferten, das dem Neuen Autorität gab, von der Reorganisation vorliegenden Materials (z.B. in der Bibeldichtung); entsprechend waren sie aus der Sicht neuzeitlicher Ästhetik, die in hohem Maße vom ‚starken‘, auf Originalität bedachten Autorschaftsverständnis der Geniezeit geprägt war, lange generell abgewertet worden, obwohl auch hier die Verfasser nicht selten interessante Autorkonstrukte im Werk entwickelten. Der empirische Autor blieb aufgrund eines Mangels an werkunabhängiger Information häufig vollkommen hinter dem Autorkonstrukt des Textes verborgen, so dass Fehlschlüsse vom textinternen auf den empirischen Autor eine beständige Gefahr darstellten und zu

Roman Eine lange Nacht“, in Ana R. Calero Valera/Brigitte Jirku (Hgg.), Literatur als Performance, Würzburg (im Druck); vgl. auch Christian Sieg, „Von Alfred Döblin zu Terézia Mora: Stadt, Roman und Autorschaft im Zeitalter der Globalisierung“, in Wilhelm Amann, Georg Mein und Rolf Parr (Hgg.), Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven, Heidelberg 2010, 193–208. Vgl. auch den Band Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Auto(r)fiktion. Neue Verfahren literarischer Selbstkonstruktion, Bielefeld 2012 (in Vorbereitung). 11 Horst Wenzel, „Autorenbilder. Zur Ausdifferenzierung von Autorfunktionen in mittelalterlichen Miniaturen“, in Elizabeth Andersen [u.a.] (Hgg.), Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, Tübingen 1998, 1–28, hier 5. 12 Zu Forschungsstand und Theoriedebatte mit der Forderung nach situations- und textgenauen Analysen Rüdiger Schnell, „‚Autor‘ und ‚Werk‘ im deutschen Mittelalter. Forschungskritik und Forschungsperspektiven“, in Joachim Heinzle/L. Peter Johnson/Gisela Vollmann-Profe (Hgg.), Neue Wege der Mittelalter-Philologie (Wolfram-Studien 15), Berlin 1998, 12–73; Thomas Bein, „Zum ‚Autor‘ im mittelalterlichen Literaturbetrieb und im Diskurs der germanistischen Mediävistik“, in Fotis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Rückkehr des Autors, 303–320. 13 Paul Klopsch, „Anonymität und Selbstnennung mittellateinischer Autoren“, in Mittellateinisches Jahrbuch 4 (1967), 9–25; Paul Gerhard Schmidt, „Perché tanti anonimi nel medioevo? Il problema della personalità dell’autore nella filologia mediolatina“, in Filologia Mediolatina 6/7 (1999/2000), 1–8.

Einleitung

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Forschungskontroversen führten. 14 Verschiedene Forschungsrichtungen der Mediävistik in den letzten Jahrzehnten haben die Einsicht in die Eigenbedingungen älterer Literatur und Autorschaftsmodelle vertieft: 15 die Sozialgeschichte und Mäzenatenforschung, die genaue Beachtung besonderer Medialitätsformen literarischer Kommunikation wie Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Vokalität, die sich einerseits auf die Aufführungssituationen (performative turn) 16 , andererseits auf die spezifische Materialität älterer Textüberlieferung konzentrierten. 17 Gleichwohl entfaltete die intensive Autorschaftsdebatte nach dem diagnostizierten Tod des Autors und seiner ‚Rückkehr‘ auch in den älteren Literaturwissenschaften noch einmal verstärkte Diskussionen zur Autorschaftsproblematik. 18 Genaue Erzähler-Autor-Analysen hatten bereits zuvor zu der Frage geführt, ob es sich bei der Zunahme von Erzählerprä14 So in verschiedenen Authentizitätskontroversen, z.B. im Rückblick Peter von Moos, „Abaelard,

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Heloise und ihr Paraklet: ein Kloster nach Maß. Zugleich eine Streitschrift gegen die ewige Wiederkehr hermeneutischer Naivität“, in Ders., Abaelard und Heloise. Gesammelte Studien zum Mittelalter, Bd. 1, hg. v. Gert Melville (Geschichte: Forschung und Wissenschaft 14), Münster 2005, 233– 301; zur Widerlegung der Fälschungsthese, insbesondere für den Briefwechsel: Marianna Schrader/ Adelgundis Führkötter, Die Echtheit des Schrifttums der heiligen Hildegard von Bingen (Beiheft zum Archiv für Kulturgeschichte 6), Köln/Graz 1956. Die Fälle ließen sich vervielfachen. Zu den Richtungen in kurzer kritischer Charakterisierung Ursula Peters, „Die Gesellschaft der höfischen Dichtung im Spiegel der Forschungsgeschichte“, in Zeitschrift für deutsche Philologie 128 (2009), 3–28; ferner Dies., Von der Sozialgeschichte zur Kulturwissenschaft. Aufsätze 1973–2000, hg. v. Susanne Bürkle [u.a.], Tübingen/Basel 2004. Jan-Dirk Müller, „Aufführung – Autor – Werk. Zu einigen blinden Stellen gegenwärtiger Diskussion“, in Nigel F. Palmer/Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster, Tübingen 1999, 149–166. Dazu unter dem Terminus ‚Material Philology‘, Stephen G. Nichols, „Philology and its Discontents“, in William D. Paden (Hg.), The Future of the Middle Ages. Medieval Literature in the 1990s, Gainsville [u.a.] 1994, 113–141; ders., „Why Material Philology? Some Thoughts“, in Helmut Tervooren/Horst Wenzel (Hgg.), Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte (Sonderheft Zeitschrift für deutsche Philologie 116), Berlin 1997, 10–30; Jan Ziolkowski, „Texts and Textuality, Medieval and Modern“, in Barbara Sabel/André Bucher (Hgg.), Der unfeste Text. Perspektiven auf einen literatur- und kulturhistorischen Leitbegriff , Würzburg 2001, 109–131; Thomas Bein/Rüdiger NuttKofoth/Bodo Plachta (Hgg.), Autor – Autorisation – Authentizität. Beiträge zur Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition (Beiheft zu Editio 21), Tübingen 2004; darin Günter Martens, „Autor – Autorisation – Authentizität. Terminologische Überlegungen zu drei Grundbegriffen der Editionsphilologie“, 39–50. So seit Alastair J. Minnis, Medieval Theory of Authorship. Scholastic literary attitudes in the later Middle Ages, London 1984; ders., „Discussions of ‚authorial role‘ and ‚literary form‘ in late-medieval scriptural Exegesis“, in Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 99 (1977), 37– 65; Walter Haug/Burghart Wachinger (Hgg.), Autortypen (Fortuna vitrea 6), Tübingen 1991; Elizabeth Andersen [u.a.] (Hgg.), Autor und Autorschaft im Mittelalter; Rüdiger Schnell, „‚Autor‘ und ‚Werk‘ im Mittelalter“; Jan-Dirk Müller, „Auctor – Actor – Author. Einige Anmerkungen zum Verständnis von Autor in lateinischen Schriften des frühen und hohen Mittelalters“, in Felix P. Ingold/Werner Wunderlich (Hgg.), Der Autor im Dialog, 17–31; Michael Zimmermann (Hg.), Auctor et auctoritas. Invention et conformisme dans l’écriture médiévale (Mémoires et documents de l’école des Chartes 59), Paris 2001; Dorothea Klein, „Inspiration und Autorschaft“.

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Christel Meier und Martina Wagner-Egelhaaf

senz auf der Metaebene der Werke um „eine bedeutende Station im Prozeß der Etablierung von Autorschaft als für den Text verantwortlicher Urheberschaft“ 19 handelte, wie sie auch in der lateinischen Literatur des Hochmittelalters zu neuen individualisierten Autor-Figurationen, „existentiellen Autorschaftskonzepten“, führte. 20 Die Profilierung werk- und gattungsgebundener Autorrollen wurde verfolgt, um die in den verschiedenen Überlieferungsbereichen „typenspezifische[n] Ausprägungen von Textautorität“ 21 zu ermitteln. Stärkere Autormarkierungen bedeuteten oft nicht in erster Linie ein stärkeres Urheberbewusstsein, sondern gehen zurück auf den Druck durch Zensur oder Häresieverdacht und das Bedürfnis der Verteidigung von nicht unangefochtenen Innovationen. 22 Als eigener Zweig der Autorschaftsforschung hat sich in den letzten Jahren die vor allem rezeptionsorientierte Problemstellung der Textpräsentation und -autorisierung durch Autorbilder profiliert. 23 Autordarstellungen in illuminierten Handschriften, die es zu Hun19 Ursula Peters, Das Ich im Bild. Die Figur des Autors in volkssprachigen Bilderhandschriften des 13.

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bis 16. Jahrhunderts (Pictura et Poesis 22), Köln/Weimar/Wien 2008, 1; Rainer Warning, „Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman“, in Jean Frappier/Reinhold R. Grimm (Hgg.), Le Roman jusqu’à la fin du XIIIe siècle, Bd. 1 (GRLMA IV/1), Heidelberg 1978, 25–59, besonders 48; Timo Reuvekamp-Felber, „Autorschaft als Textfunktion. Zur Interdependenz von Erzählerstilisierung, Stoff und Gattung in der Epik des 12. und 13. Jahrhunderts“, in Zeitschrift für deutsche Philologie 129 (2001) 1–23. Christel Meier, „Autorschaft im 12. Jahrhundert. Persönliche Identität und Rollenkonstrukt“, in Peter von Moos (Hg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln/Weimar/Wien 2004, 207–266; Hartmut Beyer, „Autorschaft bei Petrus Damiani. Eremitische Inspiration und ihre Vermittlung im Brief“, in Frühmittelalterliche Studien 44 (2010) (im Druck); unter diesem Aspekt sind die Dichter unter Karl d.Gr. neu zu bewerten, vgl. Fidel Rädle, „Bete und dichte! Zum Autorbewusstsein im frühen Mittelalter“, in Romanische Zeitschrift für Literaturgeschichte 29 (2005), 147–161. Ursula Peters, Das Ich im Bild, 4. Christel Meier, „Ruperts von Deutz literarische Sendung. Der Durchbruch eines neuen Autorbewußtseins im 12. Jahrhundert“, in Wolfgang Haubrichs/Eckard C. Lutz/Gisela Vollmann-Profe (Hgg.), Aspekte des 12. Jahrhunderts (Wolfram-Studien 16), Berlin 2000, 29–52 zu Ruperts Autorisierungserzählung in seiner Verteidigung gegen Häresieverdacht; Sita Steckel, Kulturen des Lehrens im Frühund Hochmittelalter. Autorität, Wissenskonzepte und Netzwerke von Gelehrten (Norm und Struktur 39) Köln/Weimar/Wien 2011, besonders 569ff., 602 ff., 961ff., 1039ff., 1057ff. Horst Wenzel, „Autorenbilder. Zur Ausdifferenzierung von Autorfunktionen in mittelalterlichen Miniaturen“, in Elizabeth Andersen [u.a.] (Hgg.), Autor und Autorschaft, 1–28; Ursula Peters, „Autorbilder in volkssprachlichen Handschriften des Mittelalters. Eine Problemskizze“, in Zeitschrift für Deutsche Philologie 119 (2000) 321–368; dies., „Ordnungsfunktion – Textillustration – Autorkonstruktion. Zu den Bildern der romanischen und deutschen Liederhandschriften“, in Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 130 (2001), 392–430; dies., „Digitus argumentalis. Autorbilder als Signatur von Lehr-auctoritas in der mittelalterlichen Liedüberlieferung“, in Matthias Bickenbach [u.a.] (Hgg.), Manus loquens. Medien der Geste – Gesten der Medien (Mediologie 7), Köln 2003, 31–65; dies., Das Ich im Bild; Christel Meier, „Ecce auctor. Beiträge zur Ikonographie literarischer Urheberschaft im Mittelalter“, in Frühmittelalterliche Studien 34 (2000), 338–392; dies., „Das Autorbild als Kommunikationsmittel zwischen Text und Leser“, in Comunicare e significare nell’alto medioevo (Settimane di Studio della Fondazione Centro Italiano di Studi sull’alto medioevo 52), Spoleto 2005, 499–534; Sabine Fastert, „Der Autor im Bild. Das graphische Autorenporträt in

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derten gibt, wurden als wertvolle Zeugnisse „der Konkretisierung, Kommentierung, ja Initiierung, Weiterführung und Institutionalisierung literarisch-textueller Autorschaftsdiskurse“ 24 erkannt. Es interessiert nicht nur eine dem einzelnen Textcorpus durch sie punktuell eingeschriebene Autorsignatur, sondern darüber hinaus die Ausprägung genereller Autorisierungsfunktionen in der Vielfalt der piktographischen Autorschaftsinszenierungen. Die Autor-Figurationen im Bild reichen vom Schreiber bis zum Herrscher-Autor, umfassen z.B. – in deutlicher piktorialer Markierung der Typen – den Übersetzer, Kompilator, Bearbeiter einer Quelle, aber auch den Sänger und Jongleur, den Prediger, Lehrer, Gelehrten in einer der Wissenschaften, den Inspirierten, gar Propheten oder Mystiker, den Nachdenkenden, der den Kopf in die Hand stützt, den Heiligen oder Gott selbst und schließlich den durch mächtige weltliche oder geistliche Herren Beauftragten, der den Auftrag erhält oder sein fertiges Werk vor hohem Publikum überreicht. Einer ästhetischen Verengung des literarischen Produktionsprozesses laufen solche Autorschaftscodierungen der Vormoderne ebenso entgegen wie einem emphatischen Autorbegriff der Geniezeit, zugunsten einer weiten pragmatischen Literaturauffassung. Solche bildlichen Autorinszenierungen sind erst zu einem geringen Teil aufgearbeitet, eine kohärente Geschichte des Autorbildes wird kaum schnell zu erstellen sein. Die Problematik der Autorisierungen von öffentlich anerkannter Autorschaft und ihrer Inszenierung liegt also darin, dass diese historisch enorm variabel sind. Sie stellt sich zudem für Literatur, Musik und bildende Kunst durch den Anspruch der Autoren, ihre Autorität im gesellschaftlichen Spannungsfeld von Religion und Politik sowie den entsprechenden Öffentlichkeiten durch die jeweils ‚richtige‘ Inszenierung zur Geltung zu bringen, als besonders komplexe Frage heraus, zumal in der langen Geschichte der europäischen Literatur seit der Antike und im interkulturellen Vergleich. Es wurden im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext durch die verschiedenen Artikulationsbedingtheiten je andere Antworten provoziert, die auch den Wiedergebrauch mancher älteren Rollenkonzepte unter neuen Bedingungen und eventuell mit veränderter Bewertung implizierten. Für die verschiedenen Künste war zudem mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu rechnen, so dass etwa klare Autorschaftskonzeptionen in der bildenden Kunst früher ausgeprägt waren als in der Musik. Durch welche Merkmale ihrer Schriften, ihrer Person oder begleitende Instanzen und soziale Umstände waren Autoren zu autoritativen öffentlichen Aussagen berechtigt? Trotz des Booms an Autorschaftsforschung in den letzten Jahrzehnten steht die befriedigende Auswertung der Texte im Hinblick auf die große Vielfalt der Autorisierungsstrategien für die einzelnen Epochen noch am Anfang. gedruckten Enzyklopädien des 16. Jahrhunderts“, in Frank Büttner/Markus Friedrich/Helmut Zedelmaier (Hgg.), Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit (Pluralisierung & Autorität 2), Münster 2003, 301–323; Gerald Kampfhammer/Wolf-Dietrich Löhr/ Barbara Nitsche (Hgg.), Autorbilder. Zur Medialität literarischer Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit (Tholos – Kunstgeschichtliche Studien 2), Münster 2007; weitere Literatur bei Ursula Peters, Das Ich im Bild, 8ff. Entsprechendes gilt für den Künstler im Bild: Mila Horky, Der Künstler im Bild. Selbstdarstellungen in der italienischen Malerei des 14. und 15. Jahrhunderts, Berlin 2003. 24 Ursula Peters, Das Ich im Bild, 9; vgl. auch ebd. 4ff.

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Das trifft insbesondere für den Zeitraum der Vormoderne zu, aber nicht nur für ihn. 25 Als Faktoren von Autorisierungskonstrukten sind das soziale Umfeld, die Anbindung an Institutionen oder deren Fehlen, die Relation zu Förderern oder Auftraggebern (göttlichen oder menschlichen), die ökonomische Grundlage der Autoren, dann die Gattungsbindungen, die Traditionsdeterminanten und schließlich die ‚Aufführungssituationen‘ oder Lektürepraktiken der Rezipienten in Betracht zu ziehen. Sie können mehr oder weniger stark in Autorkonstrukten von Texten – nicht selten auch mit hoher Komplexität 26 – ihren Ausdruck finden und Abwandlungen vom jeweils Üblichen erfahren, gerade bei starken Autoren. Die vorliegende Sammlung von Aufsätzen möchte dafür über die Epochen hin Beispiele geben, wenn sie den Autor als öffentliche Instanz, die zur Ausformulierung und Stabilisierung oder zur Veränderung politischer und religiöser Ordnungen beiträgt, begreift, um grundsätzliche Einsichten in diese Funktionen der Literatur- und Kunstproduktion als eigenen gesellschaftlich-kulturellen Feldes zu gewinnen und sie komparativ auszuwerten. Zum Beispiel werden in der Antike Transformationen der Konzepte von Autorschaft manifest in der spätrepublikanischen und augusteischen Literatur während der politischen und kultischen Neuordnung Roms, in der die Dichter Anspruch auf eine eigenständige Deutungskompetenz als Seher (vates) erhoben, die Vergangenheit und den Mythos in Konkurrenz zur Machtinszenierung des Prinzipats für die Gegenwart zu interpretieren. 27 In der christlichen Spätantike wie im gesamten Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit werden die paganen Autorschaftskonzepte rezipiert, in Kontrastimitationen verwandelt, aber auch durch neue Autorschaftskonfigurationen abgelöst. 28

25 Fotis Jannidis, „Einführung: Der Autor in Gesellschaft und Geschichte“, in Ders. [u.a.] (Hgg.), Rück-

kehr des Autors, 297–301, hier 300f.; ders., „Der nützliche Autor“, in ebd. 353–389, hier 378–389, wo „historische Interpretationen“ besondere Berücksichtigung erhalten. 26 Vgl. etwa Beate Kellner, „Wort Gottes – Stimme des Menschen. Textstatus und Profile von Autorschaft in Otfrids von Weißenburg ‚Evangelienbuch‘“, in Dies./Peter Strohschneider/Franziska Wenzel (Hgg.), Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter (Philologische Studien und Quellen 190), Berlin 2005, 139–162. 27 Dazu Alexander Arweiler, „Souveränität und Einschließung. Catull, Cicero und Vergil über Macht, die Expansion von Herrschaft und die Autorität der Literatur“, in Ders./Bardo M. Gauly (Hgg.), Machtfragen. Zur kulturellen Repräsentation und Konstruktion von Macht in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Stuttgart 2008, 19–77; jetzt auch Meike Kimmel (Wortmann), Literarische Distinktion und öffentlicher Raum. Vergil, Horaz und Properz über Autorschaft, Diss. Münster 2011; vgl. auch die neueren Arbeiten von Claude Calame/Roger Chartier (Hgg.), Identités d’auteur dans l’Antiquité et la tradition européenne (Collection Horos), Grenoble 2004; Christopher Leidl, „Autor und Werk. Metaphern in der Konstitution literarischer Kategorien“, in Dictynna 2 (2005), 1–16; Frank Wittchow, „Der Dichter auf der Suche nach seiner Rolle. Zur persona in den Jamben des Horaz“, in Antike und Abendland 51 (2005), 69–82; Michèle Lowrie, Writing, Performance, and Authority in Augustan Rome, Oxford 2009. 28 Dennis Trout, „Amicitia, Auctoritas, and Self-Fashioning Texts: Paulinus von Nola and Sulpicius Severus“, in Studia Patristica 28 (1993), 123–129; jetzt auch Anika Söltenfuß, Ich-Entwürfe in spätantiker Dichtung. Ausonius, Paulinus von Nola und Paulinus von Pella, Diss. Münster 2011.

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Im Mittelalter, einer Kultur der Manuskripte und der Amtsgebundenheit öffentlicher Rede und Schrift, sind explizite Autorisierungsdiskurse unerlässlich, 29 während sich seit Beginn der Druckzeit das Gewicht verschiebt hin zum Aufweis der Nützlichkeit des Buchprodukts für den Leser in einem anonymisierten, auf Verkauf angelegten Buchmarkt. Hatte sich schon im späteren Mittelalter eine Differenzierung der Autorentypen im ausgedehnteren literarischen Feld vollzogen, z.T. aufgrund neuer Professionalisierungen in der sich wandelnden Gesellschaft, die ein Erstarken von Expertentum und auktorialen Autorschaftskonzepten bedingten, 30 so werden in der Frühen Neuzeit solche Autormodelle mit spezifischen humanistischen Akzentuierungen fortgeschrieben 31 und transformiert. Dies geschieht in einer weiteren sich prozesshaft vollziehenden „Pluralisierung“, in der sich neue Geltungsansprüche entwickeln und Konkurrenzen ausbilden. 32 Nachdem die sich im 18. Jahrhundert ausprägende Romanpoetik bereits differenzierte Spielformen zwischen Autor, Erzähler und Herausgeber hervorgebracht hatte – zu denken ist etwa an das Sterne’sche Modell – und im Zuge der Entwicklung des Urheberrechts ein Bewusstsein vom Autor als juristischer und ökonomischer Person entstanden war, 33 kommt in der Geschichte der Autor-Autorisierungen dem 19. Jahrhundert ein besonderer Stellenwert zu. Perpetuiert gerade der Historismus mit seiner topischen Engführung von ‚Leben und Werk‘ aus der Geniezeit überkommende Originalitäts- und 29 Vgl. dazu demnächst für die Fallbeispiele Rupert von Deutz, Hildegard von Bingen, Wilhelm von

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Saint-Thierry Christel Meier, „Prophetische Inauguration und kirchliches Amt. Zur Funktion informeller Autorisierungen in der mittelalterlichen Kirche“, in Gerd Althoff/Helene Basu (Hgg.), Rituale der Amtseinsetzung. Kulturen politisch-religiöser Inszenierungen von Otto dem Großen bis zu Barack Obama (im Druck). Ursula Peters, „Hofkleriker – Stadtschreiber – Mystikerin. Zum literarhistorischen Status dreier Autorentypen“, in Walter Haug/Burghart Wachinger (Hgg.), Autorentypen (Fortuna vitrea 6), Tübingen 1991, 29–49; Benedikt Konrad Vollmann, „Autorrollen in der lateinischen Literatur des 13. Jahrhunderts“, in Matthias Meyer/Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters, Tübingen 2002, 813–827; Sita Steckel, Kulturen des Lehrens im Früh- und Hochmittelalter, bes. 221 ff., 516ff., 663 ff., 1039 ff., 1191 ff. Christoph J. Steppich, „Numine afflatur.“ Die Inspiration des Dichters im Denken der Renaissance, ˇ Wiesbaden 2002; Benedikt Konrad Vollmann/Vlatka Cizmi´ c, „Boni auctores. Formale Qualität als Autoritätskriterium im Frühhumanismus“, in Wulf Oesterreicher/Gerd Regn/Winfried Schulze (Hgg.), Autorität der Form – Autorisierung – Institutionelle Autorität (Pluralisierung & Autorität 1), Münster 2003, 105–116; Karl A. E. Enenkel, Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius, Berlin/New York 2008. Dazu vgl. besonders Gerhard Regn, „Autorisierung“, in Wulf Oesterreicher/Gerd Regn/Winfried Schulze (Hgg.), Autorität der Form – Autorisierung – Institutionelle Autorität, 119–122 und die ebd. folgenden Beiträge von Sabrina Ebbersmeyer, Jörg Robert, Florian Neumann, Florian Mühlegger, Helmut Zedelmaier, Michael Stolberg, Martin Mulsow. Vgl. Heinrich Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft, Paderborn/München/Wien/Zürich 1981; Gerhard Plumpe, „Der Autor als Rechtssubjekt“, in Helmut Brackert/Jörn Stuckrath (Hgg.), Literaturwissenschaft. Grundkurs 2, Reinbek 1981, 179–193; Peter Jaszi, „Toward a Theory of Copyright. The Metamorphoses of ‚Authorship‘ “, in Duke Law Journal 455 (1991), 455–502; Mark Rose, Authors and Owners. The Invention of Copyright, Cambridge/London 1993.

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Individualitätsvorstellungen, etwa in der ‚Erfindung‘ Goethes als Nationalautor, bestehen verschiedene Autormodelle neben- und gegeneinander: alte Autorfigurationen wie der Prophet, der inspirierte Seher, der Autor-Gott werden wieder aufgenommen und transformiert oder ironisiert, neue Autorkonstrukte, die die Moderne antizipieren und die z.B. auch die neuen Massenmedien bedienen, werden als Gegenentwürfe ausgebildet; deren Modellierung bleibt vielfach mehrdeutig, ambivalent, dabei jedoch anspielungsreich. Die Autorfigurationen geben sich also teils überlieferungskonform, teils kontratraditionellprovokativ. Der neue Schriftsteller trägt unterschiedliche Masken und distanziert sich vom verehrten poète oftmals in antibürgerlichem Habitus, kann sich dafür gleichwohl der alten religiösen Bilder mit neuer ästhetischer Bedeutung bedienen. 34 Noch der ‚gesellschaftskritische‘ moderne Autor des 20. Jahrhunderts bezieht seine Autorität aus dem Fortwirken religiöser Rollenmuster, die seine ‚höhere‘ Einsicht begründen. Und dass auf dem literarischen Markt und in der Vorstellung außerakademischer Leserinnen und Leser entgegen aller literaturwissenschaftlichen Gegenrede der Autor eine Authentizität und Originalität verbürgende Größe geblieben ist, verleiht der historisch und systematisch differenzierenden Frage nach der ‚Autorschaft‘ anhaltende Aktualität.

2. Der auctor, im Lateinischen nicht nur ein ‚Schriftsteller‘, sondern auch ein ‚Urheber‘, ‚Förderer‘, ‚Gewährsmann‘, ‚Bürge‘, ‚Veranlasser‘, ‚Ratgeber‘ und ‚Vorbild‘, ist seit dem Altertum ungeachtet vielfacher historischer und bereichsspezifischer Unterschiede eine gesellschaftliche Instanz, die sowohl in religiösen Bedeutungszusammenhängen steht, etwa als vates (‚Seher‘) in der Antike, als Prophetengestalt im christlichen Mittelalter, aber auch politische Funktionen erfüllt, beispielsweise als kritischer Intellektueller oder auch als ‚Gewissen der Nation‘ im Deutschland der Nachkriegszeit. Das Zusammenspiel dieser beiden Dimensionen, der religiösen und der politischen, bildet, gerade in seiner historischen Vielfalt und Veränderlichkeit, den analytischen Fokus dieses Bandes, der damit einen gegenüber anderen vorliegenden Publikationen spezifischen Zugang zur literatur- und kulturwissenschaftlichen Autorschaftsdebatte eröffnen möchte.

34 Daniel Weidner, Bibel und Literatur um 1800, München 2011; Oswald Bayer, Gott als Autor. Zu

einer poietologischen Theologie, Tübingen 1999; Karin Westerwelle, „Der Dandy als Held“, in Heldengedanken. Über das heroische Phantasma, in Merkur 724–725 (Sept.–Okt. 2009), 888–896; zur Distanz von Baudelaires Ästhetik zur romantischen Dichterfigur dies., „Zum Antagonismus von Sinnlichkeit und Transzendenz in Charles Baudelaires Fleurs du mal“, in Therese Fischer-Seidel/ Susanne Peters/Alex Potts (Hgg.), Perception and the Senses. Sinneswahrnehmung, Tübingen/Basel 2003, 189–212; dies. (Hg.), Charles Baudelaire. Dichter und Kunstkritiker, Würzburg 2007; dies., „‚Verlust des Heiligenscheins‘. Der Artist in der bürgerlichen Gesellschaft“, in Sag die Wahrheit: Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber nur wenige es sind, Doppelheft Merkur 748/749 (2011 [im Druck]).

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Dass Autorschaft etwas mit Inszenierung zu tun hat, ist in der Forschung verschiedentlich gesehen worden. 35 Die politischen und religiösen Formen und Funktionalisierungen dieser Inszenierungen in ihrer historischen und systematischen Tiefenschärfe herauszuarbeiten, ist das Anliegen des Bandes. Indessen impliziert die Rede von ‚Inszenierung‘ nicht, dass es jenseits der Inszenierung etwas Nichtinszeniertes, Authentisches, Eigentliches gibt. Inszenierung ist nicht gleichzusetzen mit Scheinhaftigkeit, Falschheit, gar Betrug; es sind die Inszenierungsakte, -logiken und -wahrnehmungen, die konstitutiv sind für die Bühnen der Kultur und der Geschichte, auf denen das Schauspiel der Autorschaft stattfindet. Die religiöse und die politische Dimension der Autorschaft und insbesondere deren Verschränkung legen drei Leitkategorien nahe, mithilfe derer sich die Beiträge dieses Bandes in ein kritisches Wechselverhältnis zueinander setzen lassen. Die Kategorie ‚Ikonen‘ wurde vor dem Hintergrund der Tatsache gewählt, dass der populäre Wortgebrauch unter einer ‚Ikone‘ metaphorisch eine hervorgehobene Persönlichkeit versteht, die gleichsam unantastbar ist und den Gegenstand besonderer Verehrung bildet. Es stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen Autorinnen und Autoren den öffentlichen Status einer ‚Ikone‘, d.h. einer öffentlichen Leitfigur, erlangen, ob sie ihn bereits zu Lebzeiten innehaben oder ob er ihnen retrospektiv, durch Kanonisierung zugesprochen wird. Damit verbindet sich die Frage nach der medialen Präsenz einer Autorpersönlichkeit, konkret die Frage nach den Bildern, die von ihr zirkulieren, und in welcher Weise diese Bilder mit ganz spezifischen Autorfunktionen in Verbindung gebracht werden. Ikonen sind aber auch, und dies nicht zuletzt, heilige Bilder, die ein Repräsentationsverhältnis zur Diskussion stellen, d.h. eine Relation von Abbild und Urbild zu bedenken geben. Der religiöse Bilderstreit galt dem Problem, ob und inwiefern das heilige Urbild, Gott selbst oder eine Heiligenfigur, im Bild dargestellt werden kann oder darf und ob über das Bild ein Zugang zum Heiligen möglich ist oder das Heilige durch das Bild profaniert und beleidigt wird. Bezogen auf das Problem der Autorschaft ist mit dem Paradigma der Ikone die Frage nach den religiösen Quellen und dem Wahrheitsanspruch auktorialer Autorität aufgerufen. Ausgehend von der wörtlichen Bedeutung des lat. stilus (‚Stengel‘, ‚Griffel‘, ‚Schreibgerät‘) ist mit der Kategorie ‚Stil‘ zunächst einmal das Spezifikum dessen, der schreibt, des Autors, seine ‚Schreibart‘ oder ‚Ausdrucksform‘ angesprochen. Dabei ist der Stilbegriff, wie Hans-Werner Eroms vermerkt, von einer grundsätzlichen Polarität geprägt, weist er doch eine normbezogene und eine individuelle Komponente auf, die in gewisser Weise ein Spannungsfeld bilden, in ihrem Zusammenwirken aber erst so etwas wie sti-

35 Vgl. etwa Erich Kleinschmidt, Autorschaft, der als Autorschaftsdispositive „Masken“ (79–98) und

„Rollen“ (99–117) hervorhebt, Christine Künzel/Jörg Schönert (Hgg.), Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg 2007 und Gunter E. Grimm/Christian Schärf (Hgg.), Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld 2008. Vgl. auch Martin Seel, „Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs“, in Josef Früchtl/Jörg Zimmermann (Hgg.), Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt a.M. 2001, 48–62.

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listisches Gelingen – eine nicht unproblematische Kategorie – verantworten. 36 Bestimmt sich der Autor so, wie oben angedeutet, über seine Texte, kann ‚Stil‘, so bedeutungsvariabel und schillernd der Begriff ist, 37 aber auch, bezogen auf die Inszenierung von Autor-Persönlichkeiten, als Habitus verstanden werden und als Analysekategorie für das Auftreten, die Erscheinungsweise, die actio gewissermaßen von Autorinnen und Autoren fungieren. Die Frage, ob und inwiefern sich die Stile politischer und religiöser Autorschaft, sowohl text- und gattungs- als auch personenbezogen, zum einen unterscheiden und sich zum anderen im Wechsel von der Vormoderne zur Moderne verändern, zieht sich als eine kritische Analyseperspektive durch den Band. Mit der Kategorie ‚Institutionen‘ steht die gesellschaftliche Funktion des ‚Autors‘ zur Diskussion, die Frage, inwieweit er so etwas wie eine soziale Instanz darstellt und als solche eingebunden ist in institutionell geregelte gesellschaftliche Interaktions- und Kommunikationsprozesse. Das Verhältnis zu politischen und religiösen Machthierarchien und -apparaten spielt dabei ebenso eine Rolle wie die mediale Absicherung und Regulierung auktorialer Wirkmächtigkeit. Es geht dabei also nicht nur – aber auch – darum, dass Autorinnen und Autoren im übertragenen Sinn selbst eine ‚Institution‘ sein können, wie dies beispielsweise bei Heinrich Böll oder auch bei Christa Wolf in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ganz unterschiedlicher Weise der Fall und durch politische bzw. staatliche Anerkennung sanktioniert war, sondern auch um die Bedeutung und den Spielraum, den Institutionen wie die Kirche, der Staat oder auch die Institutionen des Wissenschafts- und Kulturbetriebs auktorialer Autorität zuerkennen und inwiefern sie die Arbeitsbedingungen von Autorinnen und Autoren steuern. Die Beiträge dieses Bandes sind historisch und disziplinär breit gestreut. Der Untersuchungszeitraum reicht von der Zeit der jüdischen Propheten des Alten Testaments über die römische Literatur, die lateinische und die volkssprachliche Literatur des Mittelalters, die frühneuzeitliche Musikgeschichte, das 16. Jahrhundert in Italien und in den Niederlanden, den englischen und deutschen Roman im 18. Jahrhundert, Rolle und Selbstverständnis des Dichters im Frankreich des 19. Jahrhunderts bis zu Autorschaftsfragen in der musikalischen Moderne, der deutschen Literatur der Nachkriegszeit und der sog. Postmoderne. Theologische, musik- und geschichtswissenschaftliche sowie philologische, d.h. latinistische, mittellateinische, mediävistische, romanistische und neugermanistische Perspektiven treten in einen Austausch über das historisch und systematisch komplexe Thema der Autorschaft im Kräftefeld von Religion und Politik. Der Theologe Ulrich Berges zeigt, dass die Frage nach der Autorschaft auch bereits im Hinblick auf das Erste Testament produktiv ist, gerade weil für die alttestamentlichen Schriften nicht der Autor, sondern die Autorität, in deren Namen man sammelte und schrieb, entscheidend war. Allerdings wurde die Frage nach den Verfassern der alttestamentlichen Bücher schon sehr früh von jüdischer Seite in kritischer Hinsicht gestellt; und im Zuge der Literaturwerdung des Alten Testaments lässt sich beobachten, dass die 36 Vgl. etwa Hans-Werner Eroms, Stil und Stilistik. Eine Einführung, Berlin 2008, 5; vgl. ebd. 11. 37 Vgl. Bernhard Sowinski, Stilistik, Stuttgart/Weimar 2 1999, 1.

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Vermittlung der Offenbarung durchaus an prophetisch-charismatische Personen wie an die des Jesaja im letzten Drittel des 8. Jahrhunderts v.Chr. gebunden wurde. Die Entwicklung der Schriftkultur, die um 600 die Durchsetzung der Buchrolle mit sich brachte, beförderte die Inszenierung schreibender bzw. diktierender Propheten. Die Schrift wird, so macht der Beitrag einsichtig, gleichsam zur Ikone Gottes. Es entstanden Schreibergruppen, die, indem sie sich auf die Autorität prophetischer Gottesmänner beriefen, deren Schriften fortschrieben. Die Stilisierung ihrer Autoritäten als Autoren ermöglichte es ihnen, als Ausleger der tradierten Schriften am Ruhm von deren Verfassern teilzuhaben. Vor diesem mediengeschichtlichen Hintergrund kann Ulrich Berges in geradezu postmoderner Zuspitzung formulieren: „Nicht der Autor gebiert das Buch, sondern das Buch die Autoren!“ Anika Söltenfuß und Meike Kimmel befragen zwei antike bzw. spätantike Gedichtsammlungen, Vergils Eclogen und die Natalicia des Paulinus von Nola, im Hinblick darauf, wie in ihnen Autorschaft dargestellt und verhandelt wird. Dabei rücken drei Motive in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit: Autorisierung, das Verhältnis zwischen Autor und sozialem Umfeld, und die Funktionen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die Verfasserinnen können zeigen, dass ‚Autorschaft‘ in den Eclogen und den Natalicia nicht vorausgesetzt, sondern als Thema diskutiert wird. Dem Beitrag liegt die These zugrunde, dass Autorschaft in den untersuchten Texten auf den Leser bezogen ist, den sie als textimmanenten Modell-Leser entwerfen. Obwohl 400 Jahre zwischen den beiden Gedichtsammlungen liegen, ergeben sich, bei allen historischen Unterschieden, bemerkenswerte Konvergenzpunkte: Wo bei Vergil die Autorisierung zum Dichter über die Berufung durch Apollon erfolgt, wird bei Paulinus von Nola Christus zur Autorisierungsinstanz. Ergänzen die Eclogen das soziale Miteinander der verschiedenen Sprecher durch die Mitwirkung der Landschaft, konstituiert sich Autorschaft in den Natilicia über die Interaktion des Sprechers mit der von ihm adressierten christlichen Zuhörerschaft in Nola. Beiden Texten eignet eine inszenierte Mündlichkeit im Medium der Schrift; sie unterstreicht die Nähe zum Göttlichen und macht sich doch die Dauerhaftigkeit des Schriftmediums zunutze. Christel Meiers Beitrag zeigt, dass sich Autorschaft im Hochmittelalter desto deutlicher manifestiert, je mehr sie geleugnet wird. Vor dem Hintergrund der aktuellen literaturwissenschaftlichen Diskussion des Stilbegriffs wird die Frage nach der Möglichkeit von Autorstilen im Mittelalter neu gestellt. Bestimmend wird eine paradoxe Umkehrung antiker Stillehren wie die Verwendung des sermo humilis für eine materia grandis, die Aufwertung der obscuritas als stilistischer virtus gegenüber der perspicuitas und die Betonung der Unangemessenheit in Aussagen über das Transzendente. Verschiedene markante Stilmerkmale werden an drei Fallbeispielen aus dem 12. Jahrhundert konkretisiert: Alan von Lille wechselt von einem Autordiskurs in den anderen, indem er sich nicht mehr als Dichter, sondern als Schreibrohr stilisiert und auf diese Weise die Konstruktivität der Autorfunktion hervorkehrt. Rupert von Deutz geht von antiker Hymnik zu bibelhermeneutischer Prosa über, während sich Hildegard von Bingen bewusst von den Regeln der Schulrhetorik absetzt und ihre Texte zunehmend experimenteller und origineller gestaltet.

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So wird offensichtlich, dass gerade dort, wo die auctoritas der Autorschaft auf eine höhere Instanz übertragen wird, Individualität der Autorschaft und Stilreflexion zunehmen. Die Ausführungen von Hartmut Beyer fragen nach den Formen auktorialer Selbststilisierung in lateinischen Briefen des Mittelalters. Es wird dargestellt, wie das grundlegende Merkmal des Briefes, die Abwesenheit des Autors, das rhetorisch inszenierte Auftreten einer Person bedingt. Damit werden die von ihm besprochenen Autoren gewissermaßen zu ‚Ikonen‘. Alkuin von York (gest. 804), der Lehrer Einhards, stellt sich in seinen Briefen in die Nachfolge des Hieronymus und sieht im Brief ein Medium, um über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg christliche Nächstenliebe zu praktizieren. Bei dem Kirchenreformer Petrus Damiani (1007–1072) verbindet sich die von ihm gewählte Lebensform als Eremit mit seiner Schreibpraxis und begründet seine Autorität als Schreibenden. Schreiben erscheint, im Kontrast zur bestehenden Schriftkultur, als eine Form der Buße. Das dritte Beispiel ist Peter von Blois (ca. 1135–1211/12), dessen Briefwerk sich im Mittelalter großer Beliebtheit erfreute. Er weist die Autorrolle aus Demut zurück, um sie sich implizit wieder zuzuschreiben. Sein Autorschaftsmodell bleibt, trotz aller Bezugnahmen auf die Antike, am Bischofsamt orientiert. In allen drei Fällen lässt sich die Selbstdarstellung der Schreibenden als Produkt des jeweiligen historischen Ortes im 9., 11. und 12. Jahrhundert und seiner spezifischen Bedingungen interpretieren. Die Überlegungen von Eckart Conrad Lutz gelten den Liedern Ulrichs von Liechtenstein, insbesondere seinem um 1255 entstandenen Frauendienst, einer stark fiktionalisierten ‚Autobiographie‘. Analysiert wird das Werk im Kontext von Ulrichs Reformprogramm für die höfische Adelsgesellschaft, in der das gesellschaftliche Gespräch eine hervorgehobene Rolle spielt. Der literarische Minnedienst erscheint in diesem Zusammenhang als eine Lebensform, die als Thema der philosophischen Reflexion auf eine Veränderung der höfischen Gesellschaft abzielt. Im Hinblick auf die Frage der ‚Autorschaft‘ ist es bemerkenswert, dass Ulrich sein Œuvre nicht nur sammelt und ordnet, sondern zugleich zum Gegenstand der Theoriebildung macht. Adelige Identität, so argumentiert der Verfasser des Beitrags, zeigt sich also in einer spezifisch adligen Form von Autorschaft, in der Teilnahme an freier Rede und ihrer lyrisch gebundenen Form, am musikalischen Vortrag und als Beteiligung am kritischen Gespräch, das auf die Fortsetzung des Dichtens abzielt. Als solche ist die Institution Autorschaft auch von politischer Relevanz in einer Zeit, die während des Interregnums nach dem Tod Herzog Friedrichs II. in Österreich und der Steiermark, Ulrichs Wirkungskreis, Verfallserscheinungen des Adelsethos wahrnahm. Der Artikel stellt aber auch die kritische Frage, ob die modernen Kategorien von ‚Autorschaft‘ und ‚Text‘ für die Beschreibung der soziokulturellen Phänomene des Mittelalters angemessen sind, die sich weniger durch Vorstellungen von Urheberschaft und literarischer Form als feste Größe als durch die Offenheit der Sinnbildungsprozesse auszeichnen. Nachdem die jüngere Erzähltheorie mit der Instanz des impliziten Autors kritisch verfahren ist und sogar dafür plädiert hat, gänzlich auf sie zu verzichten, bricht der Beitrag von Bruno Quast wieder eine Lanze für die von Wayne C. Booth zu Beginn der 1960er-Jahre vorgeschlagene Kategorie. Die literaturtheoretische Debatte um den impli-

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ziten Autor wird zunächst kritisch nachgezeichnet, die Argumente werden geprüft und auf den Gegenstandsbereich der höfischen Epik perspektiviert, die, so lautet die These, sehr wohl mit der Funktion des implied author umgeht. Es wird deutlich, dass die Nennung von Autornamen in der mittelalterlichen Erzählliteratur weit über die Funktion eines Eigennamens hinausgeht und als raffinierte Textstrategie zu werten ist. Am Beispiel Hartmanns von Aue argumentiert Bruno Quast, dass dessen impliziter Autor einen career author darstellt. Die Berufung auf die Meisterschaft des Thômas von Britanje im Prolog von Gottfrieds von Straßburg Tristan-Roman exponiert hingegen ein poetisches Programm mit der Funktion, das im Tristan gestaltete Konzept der passionierten Liebe zu ästhetisieren und dadurch zu legitimieren, dass es als traditionell verbürgt markiert wird. Michele Calellas Artikel beschreibt differenziert die Ausbildung eines musikalischen Autorschaftsbewusstseins im 15. Jahrhundert. Ist für das Mittelalter die Frage nach dem Komponisten meist irrelevant, weil sich kaum beantworten lässt, wer im Lied eines Troubadours spricht oder singt (der Autor des Textes oder derjenige der Musik?), tauchen um 1400 immer mehr Namen in den musikalischen Quellen auf. Die Gründe für eine spezifisch musikalische Autorfunktion in der Kultur des 15. Jahrhunderts liegen in verschiedenen, doch miteinander zusammenhängenden soziokulturellen Faktoren. Eine wichtige Rolle spielte die Kunstpatronage. Komponisten suchten nach sozialer Förderung, und gleichzeitig entwickelte sich ein humanistisch motiviertes Interesse an Handschriften und deren Urhebern. Auch die beginnende Musikkritik sowie Zensurbestrebungen, die eine Autorität des Komponisten voraussetzten, sind zunehmend zu berücksichtigen. Insofern beschreibt der Beitrag die beginnende Institutionalisierung musikalischer Autorschaft. Von einer Emanzipation des auktorialen Subjekts zu sprechen ist angesichts dieser komplexen soziokulturellen Bedingungsfaktoren jedoch unangebracht. Mit der Frage bildkünstlerischer Autorschaft setzt sich der Beitrag von Wolf-Dietrich Löhr auseinander, indem er am Beispiel von Giotto zeigt, wie sich die Autorschaft des Künstlers einerseits als Urheberschaft und andererseits aus dem Bewusstsein von den Relationen zwischen Autor, Werk und Publikum konstituiert. Auf das Sprechen der Literatur, so lautet die These des Beitrags, antwortet der Bildkünstler mit der wortlosen Rede der Hand. Die von Vasari berichtete Anekdote, derzufolge Giotto freihändig einen formvollendeten Kreis in Analogie zum orbis terrarum gezeichnet habe, wird zum Ausgangspunkt einer Giotto-Rezeption, die ein auktoriales Künstlertum zwischen Sprechen, Schreiben und Zeichnen entwirft. Nicht zufällig ist das O Bild- und Schriftzeichen zugleich. Der Beitrag geht auch der Frage nach, wie Vorläufer Vasaris, Boccaccio, Sacchetti und Polizian, das Verhältnis von Zeichnen und Schreiben reflektieren. Bildliche und dichterische Zeugnisse exponieren in der Zusammenschau von Künstler und Werk die Hand Giottos im konkreten wie im übertragenen Sinn als Bild für die Leistung des Künstlers, für Geschicklichkeit und Intellekt gleichermaßen. Das O erweist sich als Zeichen und Figur, die in transmedialen Substitutionen zwischen Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Bildlichkeit Name, Werk und Genie des Künstlers Giottos ineinanderblenden. Über das bereits bei Vasari zitierte Sprichtwort Tu sei più tondo che l’O di Giotto. (‚Du bist ründer/dümmer als das O des Giotto.‘) entsteht eine spannungsvolle Ambivalenz des bis ins Volkstümliche

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reichenden Künstlerbilds, steht das kreisförmige O doch einerseits für Leere und Bedeutungslosigkeit wie es andererseits ein Sinnbild für die in sich selbst vollendete Form der Vollkommenheit darstellt. Am Beispiel der Widmungen in Machiavellis Schriften Il Principe und Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio untersucht Pia Claudia Doering Erscheinungsweisen und Thematisierung von Autorschaft. In der Widmung des Principe geht es dem 1512 bei der Rückkehr der Medici seiner Ämter enthobenen Machiavelli darum, sich selbst als einen Autor sichtbar werden zu lassen, der in hohem Maße die Regierungskunst versteht. Als Quellen seiner Kompetenz und Einsicht hebt er die in antiken Texten dargestellten Taten der großen Männer sowie die eigene Erfahrung hervor. Dabei ist Machiavellis Selbstdarstellung als Autor immer auf sein Ziel, ins politische Leben zurückzukehren, ausgerichtet. Die Widmung der Discorsi hingegen, die zu einem Zeitpunkt verfasst wurde, als sich nach 1516 Machiavellis politische Hoffnungen zerschlagen haben, reflektiert die Macht des außerhalb der politischen Sphäre stehenden Schriftstellers. Es ist die Differenz von potestà und virtù, von potere und sapere, an der die analytische Kraft der Schriftsteller, die Machiavelli auch als Seher konzipert, ansetzt. Beide Widmungsschriften machen deutlich, wie eng auf den Bereich der Politik bezogen Autorschaft bei Machiavelli ist und welche Rolle der Sprache, insbesondere den Verfahren der simulatio und der dissimulatio, auch und gerade in der Sphäre des politischen Handelns zukommt. Der geschichtswissenschaftliche Beitrag von Andreas Pietsch befasst sich mit Autorschaftskonzeptionen im Kontext der Radikalen Reformation und untersucht die Autorisierungsstrategien und Autorstile zweier Familisten, nämlich von Hendrik Niclaes, dem Begründer des ‚Hauses der Liebe‘, und seinem Epigonen Daniel Nazarenus. Beide stilisieren sich zu charismatischen Propheten, indem sie etwa biblisches und eigenes auktoriales Sprechen brikolageartig ineinanderblenden oder ihre Namensgleichheit mit biblischen Gestalten gezielt einsetzen. Dabei inszeniert sich Daniel Nazarenus als Prophet des Propheten Hendrik Niclaes. Am Beispiel seiner hagiographischen Chronica lässt sich aufweisen, dass die Nähe des Verfassers zu Niclaes einerseits seine, d.h. Daniels, Autorität stützt und diese ihrerseits wiederum die prophetische auctoritas des Hendrik Niclaes bestätigt. Andreas Pietsch macht darauf aufmerksam, dass handschriftliche, nur für den internen Gebrauch der Anhänger vorgesehene Texte stärker ausgeprägte Autorisierungsstrategien aufweisen als gedruckte, für eine größere Öffentlichkeit bestimmte Schriften. Auch wird deutlich, dass prophetische Autorschaft sich als Zeuge und Künder einer höheren Wahrheit begreift und infolgedessen den eigenen Anteil an der Textproduktion herunterspielt. Es ist davon auszugehen, dass die herausgestellten Autorisierungsstrategien auch außerliterarische Funktionen innerhalb der sozialen Gruppierung der Familisten hatten. Dass der Autor nicht tot, sondern als eine Art Wiedergänger zurückgekehrt ist und wir alle also „im Schatten des Autors leben“, bildet den Ausgangspunkt des Artikels von Daniel Weidner. Im Blick auf den von Nietzsche konstatierten Tod Gottes erkundet der Beitrag, ob und in welcher Weise der von Barthes und Foucault proklamierte Tod des Autors eine narratologisch fruchtbar zu machende Strukturanalogie zwischen Gott und

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Autor eröffnet. Er zeigt, dass noch die modernen erzähltheoretischen Diskussionen über das Verhältnis von Erzähler und Autor theologische Implikationen aufweisen. Am Beispiel der Romane von Henry Fielding und Jean Paul wird herausgearbeitet, dass das in der Romanpoetik des späten 18. Jahrhunderts virulente Thema der erzählerischen Allmacht und Allwissenheit vor dem Hintergrund der Providenz-Debatte gelesen werden kann und Autorschaft mit Foucault als Bruch, Trennung und Distanz metaleptisch zwischen den Instanzen Autor, Erzähler und Herausgeber figuriert wird. Exponiert Fieldings 1749 erstmals erschienener Roman Tom Jones den Roman als eine Schöpfung, die mit einer Selbstbeschränkung des Autors einhergeht, ist es in Jean Pauls Romanen ein humoristischer Autor, dessen Stileigentümlichkeit darin besteht, dass er sich in die Romanhandlung einmischt und sich in der inszenierten Spaltung des Ichs selbst gegenübertritt. Charles Baudelaires Werk gestaltet ein facettenreiches Bild des Autors als künstlerischen Subjekts, das sich entschieden von klassischen und romantischen Bildmustern verabschiedet und ein radikal antibürgerliches Rollenmodell des Dichters entwirft. Karin Westerwelle zeigt, in welcher Weise religiöse Referenz und malerische Bildlichkeit dabei konstitutiv werden. Kennzeichnend für die Inszenierung von Autorschaft ist die im Medium der Sprache gezielt induzierte Kommunikationsstörung zwischen dem Sprecher der Baudelaire’schen Texte und dem Leser. Die Tatsache, dass viele seiner Texte zunächst in Zeitschriften und unter Pseudonymen erschienen, das Anstößige seiner Gedichte sowie die Tatsache, dass Baudelaire auch die ökonomischen Rahmenbedingungen dichterischer Produktion aufgreift, erzeugen ein mit der Tradition des grand homme gezielt brechendes Autorbild. Vor dem Hintergrund der im 19. Jahrhundert Beliebtheit erlangenden biographischen Mode und der sich ausprägenden Porträtkunst erscheint es als symptomatisch, dass sich Baudelaire, ganz im Gegensatz etwa zu Flaubert, seiner Darstellung im Bild nicht widersetzte, ja sie sogar strategisch beförderte und sich mithin selbst ikonisierte. Während bildliche Darstellungen Baudelaires die Diskrepanz von Außenwelt und Innenwelt gestalten, entwirft der Dichter selbst in seiner Lyrik eine Vielzahl von Autorschaftsbildern und Figurationen, von denen die Hamlets besonders hervortritt. So zeigt eine ausführliche Gedichtanalyse von Baudelaires Gedicht La Béatrice, wie im Bild Hamlets der Autor seine Dignität verliert, ohne dass eine neue Sprecherfigur entworfen wird. Vor dem Hintergrund der als krisenhaft erfahrenen Moderne, in der überlieferte Schaffensformen ihre Verbindlichkeit verloren haben, erörtern die Musikwissenschaftler Dominik Höink und Andreas Jacob das Verhältnis von Autorschaft und Werk im Bereich des musikalischen Künstlertums. Ein historischer Rückblick verfolgt die allmähliche Ausbildung des Geniegedankens, wie er auch in der Musik Gültigkeit erlangte. Mit Nipperdey wird argumentiert, dass die Verbürgerlichung der ästhetischen Kultur zur Voraussetzung für die Autonomisierung der Musik wurde, indem der Bereich des geniehaften Künstlertums einerseits in den künstlerischen Lebensbereich eingegliedert, andererseits als dessen Anderes abgegrenzt wird. Anton Bruckner und Max Reger werden als zwei mit der modernen Krisenerfahrung auf sehr unterschiedliche Weise umgehende musikalische Autoren vorgestellt. Während Bruckner sich in seinem geniehaft konzipierten Autoren-Selbstbild leicht irritieren ließ und in immer neuen Fassungen seine Werke einem

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ständigen Revisionsprozess unterwarf, verstand sich der Sozialdemokrat Reger, der bei weitem weniger krisenanfällig als Bruckner war, als ein autonomer, durch unermüdliche Arbeit sein Werk hervorbringender Autor. In formaler Hinsicht waren beide Neuerer, Bruckner, indem er mit der tradierten Form der Symphonie brach und sie auf diese Weise weiterentwickelte, Reger durch ein gezieltes Aushöhlen überkommener Formen, das eine Tendenz zur Informalität erkennen lässt. Auf diese Weise werden zwei sehr unterschiedliche Autor-Stile im Bereich der Musik deutlich. Christian Siegs Artikel rekonstruiert das Autorschaftskonzept des ‚Gewissens der Nation‘ im Kontext der deutschen Nachkriegsliteratur und führt vor, dass es sich bei dem Attribut nicht nur um eine außerliterarische Zuschreibung handelt, sondern dass es in den literarischen Texten selbst inszeniert wird. Er belegt die These am Beispiel von Heinrich Böll, der als kritischer Katholik in besonderer Weise im Spannungsfeld von Religion und Politik in der Nachkriegszeit stand. Bölls Auseinandersetzung mit der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft bezieht sich auf die Verdrängung der nationalsozialistischen Verbrechen, insofern markiert die von ihm eingenommene Position des kritischen Intellektuellen ein ‚schlechtes‘ Gewissen der Nation. Bölls 1959 veröffentlichter Roman Billard um halb zehn, der insbesondere auch Kritik an der Rolle der Kirche im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands übt, reflektiert über einen markanten intertextuellen Bezug auf Hölderlin die kritische Rolle des Dichters/Autors als gesellschaftlichen Außenseiters, dessen Leiden an der Wahrheit die Literatur in den Dienst der Gewissenserforschung und der Schuldanerkenntnis stellt. Das Apolitische der Nachkriegszeit erscheint in der Perspektive des Romans als in hohem Maße politisch. Ausgeführt wird, wie Böll am Mythos der ‚Stunde Null‘ mitarbeitet, indem er die Chance eines Neuanfangs im Modus der gegen das Gesellschaftliche gerichteten, religiös grundierten Gemeinschaft beschwört. Im Gegenzug untersucht Wolfgang Emmerich, wie auch im säkularen und agnostischen Staat der DDR das Selbstverständnis von Autorinnen und Autoren quasireligiöse und sakrale Züge annehmen konnte. Viele Schriftsteller/innen sahen sich nach der Gründung der DDR im Dienste ihres sich von der faschistischen Vergangenheit Deutschlands radikal abwendenden jungen Staats als Priester der neuen säkularen Religion des Kommunismus. Der Beitrag zeigt, dass Christa Wolfs Selbstverständnis als in einem hohen Maße von protestantisch-religiösen Momenten geprägt erscheint, für das Begriffe wie ‚Gewissen‘, ‚Schuld‘, ‚Wahrhaftigkeit‘ eine hohe Verbindlichkeit beanspruchen, und das, obwohl sie als Agnostikerin in der DDR lebte und arbeitete. Der Verfasser weist darauf hin, dass Christa Wolfs Autorschaft in der DDR gemeindebildend wirkte und spricht von der „Verehrung“ einer „Quasi-Ikone“. Der Fall Heiner Müllers ist indessen komplizierter: Begründet der marxistische Schriftsteller im Orpheus-Mythos eine neue Funktionsbestimmung sozialistischer Autorschaft, muss er erfahren, wie sein quasitheologisches Projekt eines wahren Kommunismus, das die Rücknahme personalisierter Autorschaft impliziert, an der Realität zerbricht. Obwohl auch Müller ein agnostischer Autor par excellence ist, sind heilsgeschichtliche Züge seines Denkens unübersehbar.

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Ausgehend von der Zerreißung der Fotografie des Autors in Heiner Müllers Dramolett Die Hamletmaschine von 1977 reflektiert der Beitrag von Martina WagnerEgelhaaf die Rolle, die das Autorenporträt bzw. insbesondere die Autorenfotografie in der literarisch-medialen Gegenwartskultur spielt, in der Autorenbilder helfen, Bücher zu verkaufen und Bildbände mit Fotoporträts von Autorinnen und Autoren sich einer ambivalenten, zwischen Faszination und Irritation changierenden Beliebtheit erfreuen. Die ‚Ikone‘ des Autors scheint immer noch in einem quasi-religiösen Bedeutungskontext zu stehen, wie die religiöse Metaphorisierung des Autors in der Autorschaftsdebatte der letzten fünfzig Jahre, besonders auch in den programmatischen Beiträgen von Roland Barthes und Michel Foucault, zu denken gibt. Bezug genommen wird auf die in der Theoriediskussion um den Autor frequent bemühte, aber grundsätzlich unbestimmt bleibende ‚Bild‘-Kategorie. Das ‚Bild des Autors‘ wird als eine Oszillationsfigur zwischen pictura, imago und figura interpretiert, die eine geisterhafte Autorgestalt installiert und immer wieder entzieht. Der Beitrag liest auf der Folie des byzantinischen Bilderstreits die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung um die Position des Autors als modernen Ikonoklasmus, der die Bilder, die er bekämpft, nicht los wird.

Ulrich Berges

Kollektive Autorschaft im Alten Testament

Das Themengeflecht der Tagung „Autorschaft. Ikonen, Stile, Institutionen“ spielt auch für das Alte Testament, das ich in diesem Beitrag auf die Hebräische Bibel (TaNaK) begrenzen möchte, eine große Rolle. Dennoch ist festzuhalten, dass sich die heutigen professionellen Ausleger dieser Texte nur zögerlich mit den Fragen der Autorschaft eingehender beschäftigen. So ist es einer der größten Vorteile eines interdisziplinären Forschungsverbundes wie des Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“, dass Fragen von benachbarten Disziplinen an die eigene Wissenschaft herangetragen werden, die Forschungsdesiderate sichtbar machen und zu eingehenden Untersuchungen auffordern. Drei Aspekte der Tagungsplanung begleiten meinen Beitrag, nämlich die Fragen nach Tod und Wiederkehr des Autors, den politischen und sakralen Funktionen von Autorschaft und den historischen Funktionalisierungen. Dieses breite Spektrum würde eine ausgiebige Monographie erfordern, doch auch ein kleinerer Beitrag kann einiges ans Licht bringen, was der ersten Spurensuche dient.

1. Wer schrieb die Schrift? Eine alte Frage mit erstaunlichen Antworten Anders als gemeinhin angenommen, kennt das Erste Testament keine Autoren im Sinne biographisch fassbarer Schriftsteller, sondern es ist das Produkt einer hoch entwickelten Schriftgelehrsamkeit. 1 So handelt es sich bei den Schriften des Alten Testaments um eine vielschichtige Traditionsliteratur von priesterlichen, levitischen, prophetischen und 1 Dazu Karel van der Toorn, Scribal Culture and the Making of the Hebrew Bible, Cambridge/Mass.

2007 (Paperback 2009).

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weisheitlichen Schreibergilden, also nicht um Autorenliteratur. Nicht der Autor war entscheidend, sondern die Autorität (u.a. Mose, David, Salomo, Jesaja), in deren Namen man dachte, sammelte, komponierte und fortschrieb. Dem Fehlen des Autors und der Autoren entspricht die Abwesenheit von Büchern bzw. Schriftrollen für den öffentlichen Gebrauch. Für die Zeit der Entstehung der Hebräischen Bibel (von ca. 750–300 v. Chr.) muss davon ausgegangen werden, dass Erstproduzenten und Erstrezipienten identisch waren, die für sich und zur eigenen Identitätsstiftung in geschulten Gruppen lasen und schrieben. Für die Prophetie bedeutet das: Die großen Gestalten der gleichnamigen Bücher (Jesaja, Jeremia, Ezechiel) waren keine Autoren, sondern Autoritäten und Begründer theologischer Diskurse und Diskursgemeinschaften, die miteinander, aber auch in Konkurrenz zueinander dachten und schrieben. Die Biographisierung setzt sich erst in hellenistisch-römischer Zeit durch: Erst dann werden aus den Autoritäten Autoren! So macht bereits das Buch der Chronik (um 300 v. Chr.) aus Propheten wie Jesaja verlässliche Geschichtsschreiber (vgl. 2 Chr 32,32), und Josephus Flavius (37/38–100 n. Chr.) betont die Überlegenheit der biblischen Autoren gegenüber Homer, dem Urvater der griechischen Literatur, denn jene hätten ihr Wissen schriftlich fixiert, während dieser seine Dichtung nicht schriftlich hinterlassen habe. Daher habe man sie aus dem Gedächtnis reproduzieren müssen, weshalb so viele Ungereimtheiten festzustellen seien (vgl. Contra Apionem I,12). In Anknüpfung an die literaturwissenschaftliche Debatte über den Tod und die Wiederkehr des Autors ist für das Alte Testament festzustellen: Seine Verfasser starben nicht, auf dass sie in der Tradition wiedergeboren würden, sondern sie wurden erst von der Tradition ins Leben gerufen. Diese Erkenntnis, die auf den ersten Blick überraschend klingen mag, ist tief in der jüdischen Tradition verwurzelt. So ist die Frage nach den Autoren der alttestamentlichen Bücher keine Frage, die erst im Zuge der neuzeitlichen Aufklärung entstanden wäre, sondern sie beschäftigt bereits den Babylonischen Talmud, der im Traktat Baba Bathra (‚Letzte Pforte‘) 14b–15a festhält: Wer schrieb sie? – Moshe schrieb sein Buch, den Abschnitt von Bileam und Ijob. Jehoshua schrieb sein Buch und die [letzten] acht Verse der Tora. Shemuel schrieb sein Buch, Richter und Ruth. David schrieb die Psalmen nach zehn Altvorderen: Adam dem Urmenschen, Malki Zedek, Abraham, Moshe, Heman, Jeduthun, Asaph, und den drei Söhnen Qorachs. Jirmeja [Jeremia] schrieb sein Buch, Könige und Klagelieder. Hiskija und sein Kollegium schrieben Jesaja, Sprüche, das Lied der Lieder und Qoheleth. Die Männer der Großsynode schrieben Jechezqel [Ezechiel], die zwölf [kleinen Propheten], Daniel und die Esterrolle. Esra schrieb sein Buch und die Genealogie der Chronik bis auf seine eigene […] Wer führte es zu Ende? Nechemja [Nehemia] der Sohn Chakhaljas. 2

Es ist erstaunlich, wie differenziert diese Kanonliste des Babylonischen Talmuds, der wohl um die Mitte des 6. Jh.s vollendet wurde 3 , aber auf die viel ältere Mischna (2. Jh.s) als Quelle zurückgeht, die Frage nach den Autoren beantwortet. Implizit wird bereits zwischen den Büchern unterschieden, die auf die vermeintlichen Verfasser selbst zurückgehen 2 Lazarus Goldschmidt, Der Babylonische Talmud, Bd. 8, Frankfurt 1996, 56. Die Schreibweise einiger

biblischer Eigennamen wird hier vereinfacht wiedergegeben.

3 Vgl. Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 8 1992, 194.

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(Moshe schrieb sein Buch [= die fünf Bücher Mose]) und solchen, deren Verfasserschaft letztlich nur theologisch postuliert werden kann. In diese Kategorie fällt zum Beispiel die Autorschaft des Mose für das Buch Ijob, denn ohne eine solche hätte es dieses kritische Buch nicht in den Kanon der heiligen Schriften geschafft. Für unsere Thematik noch interessanter ist die Ansicht, dass David sich bei der Abfassung der Psalmen auf vorliegende ältere und älteste Quellen gestützt habe, die bis auf Adam, Melchisedek, Abraham und Mose zurückgehen, aber auch auf die Tempelsängergilden eines Heman (Ps 88), Jeduthun (Ps 39; 62; 77), Asaph (50.73–83) und der Korachiten (Ps 42–49.84– 89), die uns aus den Überschriften im Psalter bekannt sind (vgl. auch 1 Chr 16,41–42; 25,1–6). Die moderne Differenzierung zwischen Autorschaft und Autorität ist in dieser Quellenanalyse der Psalmen bereits angelegt, auch wenn die Begrifflichkeit damals noch nicht vorliegen konnte. Geradezu revolutionär für moderne Ohren ist die frühjüdische Lehrmeinung, anders als Jeremia, der sein Buch selbst geschrieben habe, hätten weder Jesaja noch Ezechiel ihre prophetischen Schriften selbst verfasst, sondern die Jesajarolle ginge auf Hiskija und sein Kollegium zurück (vgl. Jes 36–39 aus 2 Kön 18–20 übernommen), und die Männer der Großsynode (= Jamnia/Jabne 90 n. Chr.) hätten neben Ezechiel auch die zwölf kleinen Propheten, Daniel und die Esterrolle verfasst. Neben Autorschaft und Autorität bricht sich damit auch schon das Wissen um eine editorische Tätigkeit Bahn, für die keine Einzelpersonen, sondern Kollektive verantwortlich waren. Die Notwendigkeit dazu liegt beim Dodekapropheton ja auf der Hand, denn wie sonst hätten die zwölf prophetischen Einzelschriften Platz auf einer gemeinsamen Rolle finden können? Für Ezechiel gab es von frühjüdischer Seite ebenfalls die Diskussion, dass der im Jahre 597 v. Chr. deportierte Prophet sein Buch nicht selbst geschrieben habe, da er auf unreiner Erde, in Babylon, habe leben müssen. Zudem wurden die problematischen Unterschiede in der kultischen Gesetzgebung von Ez 40–48 im Vergleich zu den mosaischen Texten in Ex 25–Num 10 geltend gemacht. Im Falle des Jesajabuches lag einer der Gründe für die Annahme einer kollektiven Verfasserschaft (‚Hiskija und sein Kollegium‘) sicherlich in der Disparität des Textmaterials, das nach heutigem Erkenntnisstand von ca. 700–300 v. Chr. gesammelt, redigiert und fortgeschrieben worden ist. Davon wusste die frühjüdische Tradition in concreto zwar noch nichts, wohl aber war ihr die breite Zeitspanne bekannt, die eine einzige Verfasserschaft Jesajas ben Amoz am Ende des 8. Jh.s v. Chr. ausschloss. Für eine Anbindung an Hiskija, den letzten judäischen König, mit dem der historische Jesaja zu tun bekommen hatte (vgl. Jes 1,1; 36–39), sprach nicht zuletzt die Verbindung dieses Monarchen mit den Leviten, Priestern und führenden Männern des Volkes zur Durchsetzung einer Kultreform, wie sie in 2 Chr 29–31 aus der Retrospektive inszeniert wird. Nach jüdischer Auslegung klingen die Worte des Propheten auch dann im Buch Jesaja nach, wenn dieser nach Kapitel 39 gar nicht mehr auftritt und auftreten kann, weil zwischen ihm und der Exilszeit 150 Jahre verstrichen sind. Dies wird im rabbinischen Homilien-Midrasch Pesiqta de Rav Kahana 16,10 aus dem 5. Jh. n. Chr. deutlich, wo die Frage gestellt wird, warum es in Jes 40,1 nicht wie sonst heiße, ‚Gott hat gesagt‘ (amar Jhwh), sondern ‚Gott sagt bzw. wird sagen‘

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(yomar Jhwh). Wie habe Jesaja aus dem letzten Drittel des 8. Jh.s v. Chr. schon über das babylonische Exil im 6. Jh. v. Chr. sprechen können? Habe er sich das alles nicht nur ausgedacht? Die Antwort lautete: Nein, denn Gott hat nicht nur gesprochen, sondern er spricht auch weiterhin! Es war der jüdische Gelehrte Abraham Ibn Ezra, der in seinem Kommentar aus dem Jahre 1145 zu diesem Zeitsprung von 150 Jahren im Buch Jesaja Stellung nahm und meinte, dass man sich an Samuel orientieren solle, denn dieser habe sein Buch ja auch nur bis 1 Sam 25,1 geschrieben, wo von seinem Tod berichtet wird. Mit Rücksicht auf die Orthodoxie konnte Ibn Ezra nicht deutlicher sagen, dass auch Jesaja nur für die Teile des Buches als Verfasser in Frage kommen könne, die mit seiner Lebensspanne, d.h. der assyrischen Zeit, zu tun hätten. Erst im Zeitalter der Aufklärung regte sich von christlicher Seite her Widerstand gegen die alleinige Verfasserschaft Jesajas, die vor dem Forum der Vernunft als nicht mehr annehmbar angesehen wurde. So postulierte Johann Christoph Döderlein im Jahre 1781 einen Autor für Jes 40ff., der in babylonischer Zeit gelebt habe, und mehr als hundert Jahre später gab Bernhard Duhm in seinem Jesajakommentar von 1892 diesem Verfasser den Kunstnamen Deutero-Jesaja. 4 Als erstes Fazit kann gelten: Die Frage nach den Verfassern der alttestamentlichen Bücher ist schon in frühester Zeit von jüdischer Seite in kritischer Weise gestellt worden. Von den Kirchenvätern ist mir eine solche Rückfrage nicht bekannt. Die Antworten im Babylonischen Talmud sind keineswegs naiv, sondern berühren bereits Aspekte von Autorität, kollektiver Autorschaft, ja von editorischer Tätigkeit.

2. Das Alte Testament als Traditionsliteratur Warum sind Verfasser, Autoren im Sinne von individuellen, biographischen Personen, für die Literatur des Alten Testaments so schwer bzw. gar nicht auszumachen? Dies hängt ganz wesentlich vom kulturgeschichtlichen Kontext ab, denn für die gesamte altorientalische Antike gilt, dass sie keine Autoren-, sondern Traditionsliteratur kennt. Aus diesem Befund leitet Ernst Axel Knauf mit einem speziellen Blick auf die prophetischen Schriften Folgendes ab: Sie bilden Sammlungen dessen, was im Namen von Autoritäten, nicht Autoren, gelehrt und überliefert wird. Weil es nicht auf den Autor ankommt, sondern auf die Autorität, in deren Namen man denkt und weiterdenkt, können die großen Prophetenbücher recht wenige der Worte des historischen Jesaja, Jeremia oder Ezechiel enthalten, ohne dadurch falsch betitelt zu sein. 5

4 Zu den Einzelheiten vgl. Ulrich Berges, Jesaja 40–48 (Herders Theologischer Kommentar zum

Alten Testament), Freiburg i.Br. 2008, 28–34; ders., „Das Jesajabuch als Jesajas Buch. Zu neuesten Entwicklungen in der Prophetenforschung“, in Theologische Revue 104 (2008), 3–14. 5 Ernst Axel Knauf, „Audiatur et altera pars. Zur Logik der Pentateuch-Redaktion“, in Bibel und Kirche 53 (1998), 118–126, hier 121.

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Nicht nur Autoren fehlten, sondern auch Bücher als schriftstellerische Produkte für eine breitere Öffentlichkeit: Literatur blieb das geistige Eigentum jener Gruppe, die sie besaß und die darüber verfügen konnte. Eine ‚Veröffentlichung‘ gab es nur in Form der Inschrift (Dtn 27,2–4.8) oder der öffentlichen Verlesung (Dtn 30,10–13; Neh 8,3–8). Veröffentlichung war ein Staatsakt. 6

Dass Literatur auf Tempel- und Palastarchive begrenzt war, lag nicht zuletzt an der geringen Alphabetisierung der Bevölkerung, die Schätzungen zufolge in Israel 5 %, in Mesopotamien 7 % und in Griechenland etwa 10 % erreichte. 7 Für Israel können und müssen wir davon ausgehen, dass die ältesten literarischen Spuren nicht weiter als in das 9.–8. Jh. führen. 8 Religiöse Spezialisten, die in enger Verbindung zur kulturell akzeptierten Welt des Heiligen standen, schrieben nur in Ausnahmefällen, so bei singulären prophetischen Zeichenhandlungen, wie der eines Jesaja im letzten Drittel des 8. Jhs. So heißt es in Jes 8,1: Und Jhwh sprach zu mir: Nimm dir eine große Tafel und schreibe darauf mit menschlichem Griffel: Eilebeute-schneller Raub. 9 In dieser Frühzeit der Literaturwerdung des Alten Testaments hing die Offenbarungsvermittlung an prophetisch-charismatischen Personen 10 und an deren Schülerkreisen, in denen die Worte und Taten dieser Gottesmänner, der Autoritäten, gepflegt wurden. So soll Jesaja die an ihn ergangene göttliche Weisung (= Tora) in seinen Schülern versiegeln und darauf hoffen, dass Jhwh das Wort in der nahen Zukunft einlösen, d.h. Wirklichkeit lassen werde (vgl. Jes 8,16–18). 11 In einer Zeichenhandlung soll der Prophet Jesaja Ägypten Rahab, in kreativer Neudeutung ‚Untätigkeit‘, nennen und das auf einer ‚Schreibtafel‘ (luach) bzw. einer ‚Rolle‘ (seper) festhalten (Jes 30,7–8). 12 Aus diesen Schreiberzirkeln erwuchsen die literarischen Werkstätten, in denen die prophetischen Überlieferungen – neben den priesterlichen, weisheitlichen, psalmistischen – gepflegt wurden. Es waren professionelle Schreiber, welche die langsam entstehenden Traditionen sammelten, ordneten, die

6 Ebd. 121. 7 So Karel van der Toorn, Scribal Culture, 10. 8 Zum Beispiel die Gesetzessammlung im Bundesbuch Ex 20–23, die Erzähllinie des Jahwisten ab

Gen 2,4b oder auch die älteste Sprichwörtersammlung in Spr 10–22.

9 Vgl. Hab 2,2 (um 600 v. Chr.): Und Jhwh hat mir geantwortet und gesagt: Schreibe auf, was du

geschaut hast, und schreibe es deutlich auf die Tafeln, damit, wer es liest, keine Zeit verliert. Wenn hier im hebräischen Text von einem ‚Renner‘ (jaruz) gesprochen wird, könnte das einen Läufer meinen, der das vom Propheten Aufgeschriebene eiligst proklamieren soll. 10 Vgl. die Auseinandersetzung zwischen Amos und Amazja, dem Priester von Bet-El, in Am 7,10–17. 11 Vgl. Alan Millard, „‚Take a Large Writing Tablet and Write on it.‘ Isaiah – a Writing Prophet?“, in Katharine J. Dell [u.a.] (Hgg.), Genesis, Isaiah and Psalms, Festschrift John Emerton (Supplements to Vetus Testamentum 135), Leiden 2010, 105–117, der die im Untertitel gestellte Frage ausdrücklich positiv beantwortet. 12 Wim Beuken, Jesaja 28–39 (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament), Freiburg i.Br. 2010, 173. „Im Kontext seines JHWH-Glaubens setzt der Prophet hier so etwas wie Israels Historiographie, eine Beschreibung der Konflikte über die politische Werteskala in Gang. Somit wird die Erinnerung des Volkes zum Fundament seiner kulturellen und religiösen Identität erhoben.“

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Schriftrollen nach Jahren der Abnutzung neu abschrieben, ergänzten und fortschrieben. 13 Dieser Vorgang einer im wahrsten Sinne des Wortes ‚Verdichtung‘, d.h. Schriftwerdung, wird in Jes 29,11–12 ansichtig: Und die Schau von alledem war für euch wie die Worte des versiegelten Buchs. Gibt man es einem, der lesen kann, und sagt man ihm: „Lies dies doch!“, so wird der sagen: „Ich kann nicht, denn es ist versiegelt.“ Und gibt man das Buch einem, der nicht lesen kann, und sagt: „Lies dies doch!“, so wird er sagen: „Ich kann nicht lesen.“

Die Intensivierung der Schriftkultur in der nachfolgenden Zeit lässt sich auch an der Auffindung eines Textes ablesen, der nach deuteronomistischer Darstellung in 2 Kön 22 den Auslöser für die Kultreform des judäischen Königs Joschija im Jahre 622 v. Chr. lieferte. Dabei wird es sich um den Kern des Buches Deuteronomium (Dtn 12–26) gehandelt haben, der in Schreiberkreisen redigiert und zur politisch opportunen Zeit – am Ende der assyrischen Oberherrschaft – zur Veröffentlichung gelangte. Die Geschichtlichkeit und Hintergründe dieser Reform müssen hier nicht interessieren, wichtig ist die Information, dass es die Prophetin Hulda war, welche die Legitimität dieses ‚Buches des Bundes‘ (seper ha-berit) (2 Kön 23,2.21) bestätigte, bevor es zur öffentlichen Verlesung frei gegeben wurde. Entscheidendes hatte sich geändert: Die Offenbarung, der Wille der Gottheit, war nicht mehr (nur) aus dem Mund von Propheten zu vernehmen, sondern lag gleichsam als depositum fidei auf einer Schriftrolle vor, bedurfte aber noch der prophetischen Legitimation. Der zunehmende Einfluss der literarischen Spezialisten, der Schreiberklasse, auf die Formierung der religiösen, kulturellen und rechtlichen Traditionen wird u.a. in der harschen Polemik eines Jeremia (um 600 v. Chr.) deutlich: Wie könnt ihr sagen: Wir sind weise, und bei uns ist die Weisung Jhwhs! Wahrlich, seht, das hat der Griffel zur Lüge gemacht, zur Lüge der Schreiber (Jer 8,8). Möglicherweise richtete sich dieser Angriff direkt gegen die von priesterlichen Schreibern inszenierte Entdeckung des Gesetzbuches des Moses. 14 Andererseits entdeckt auch Jeremia, der selbst aus einer priesterlichen Familie nahe Jerusalem stammt, das Medium der Schriftlichkeit für sich. Es ist auffällig, wie häufig bei ihm die prophetische Verkündigung in Buchform eine Rolle spielt: Und über jenes Land lasse ich all meine Worte kommen, die ich darüber gesprochen habe, all das, was geschrieben steht in diesem Buch, was Jeremia geweissagt hat über alle Nationen (Jer 25,13).

Noch deutlicher unterstreicht Jer 30,2 die Verfasserschaft des Propheten: So spricht Jhwh, der Gott Israels: Schreibe dir alle Worte, die ich zu dir gesprochen habe, in ein Buch. Die Schreibergruppe um und nach Jeremia inszeniert ihren prophetischen Meister als den, der in Gottes Auftrag seine Verkündigung in Buchform bringt und sie damit zukunftsfest macht: In einem Buch schrieb Jeremia all das Unheil auf, das über Babel kommen sollte, alle diese Worte, die über Babel aufgeschrieben sind (Jer 51,60). 13 Zur Verbindung der Trägerkreise des Jesajabuches mit Kreisen von Tempelsängern vgl. jetzt auch

Beat Weber, „‚Asaf‘ und ‚Jesaja‘. Eine komparatistische Studie zur These von Tempelsängern als für Jesaja 40–66 verantwortlichen Trägerkreis“, in Old Testament Essays 22 (2009), 456–487. 14 So der Vorschlag von Karel van der Toorn, Scribal Culture, 143.

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Das Medium der Buchrolle setzt sich also um 600 v. Chr. durch und beflügelt die Inszenierung vom schreibenden bzw. diktierenden Propheten. Das wird in besonderer Weise in Jer 36 deutlich, wo Jeremia von Gott aufgefordert wird, alle seine Worte in einer Buchrolle (megillat seper) aufzuschreiben, was er mithilfe des Schreibers Baruch (vgl. 45,1) auch tut. Da es dem Propheten untersagt war, den Tempel zu betreten und dort zu predigen, nimmt Baruch die Rolle nach dorthin mit und liest die von Gott autorisierten Worte Jeremias öffentlich vor. Beim ersten Mal bleibt noch alles ruhig, aber im Jahr darauf wird Baruch bei der erneuten Verlesung unterbrochen, die Rolle wird dem König Jojakim vorgelesen und nach je drei oder vier Spalten schneidet der König diese mit dem Schreibermesser ab und wirft sie ins Kohlenfeuer, das den winterlichen Palast erwärmt (Jer 36,23). Nach ihrer Vernichtung schreibt Baruch, dem Diktat Jeremias folgend, eine neue Rolle (vgl. Mose und die neuen Tafeln des Gesetzes in Ex 34,1–4), wobei der letzte Satz heißt: und viele ähnliche Worte wurden ihnen hinzugefügt (Jer 36,32). Dies muss als Hinweis darauf gewertet werden, dass bei einer Neuschreibung von Rollen ergänzende Texte mit aufgenommen wurden. Das wird ca. alle 25–40 Jahre von Nöten gewesen sein, denn je öfter die Schriftrollen zur Lesung aufgerollt wurden desto fragiler wurden sie. Der stetig größer werdende Einfluss von Schriftlichkeit und Schreibergilden ist bei der Inszenierung der Berufung Ezechiels (593 v. Chr.) ebenfalls mit Händen zu greifen. Hier verkündigt der Prophet nicht zuerst und wird danach zur Niederschrift aufgefordert, sondern Ezechiel, ebenfalls aus priesterlichem Hause, bekommt von Gott die Buchrolle, die von innen und von außen beschrieben ist, zu essen: Du Mensch, iss, was du vorfindest, iss diese Schriftrolle, und geh, sprich zum Haus Israel! Und ich öffnete meinen Mund, und er ließ mich jene Rolle essen. Und er sprach zu mir: Mensch, gib deinem Bauch zu essen und fülle dein Inneres mit dieser Schriftrolle, die ich dir gebe! Da aß ich sie, und in meinem Mund wurde sie wie Honig, süß. Und er sprach zu mir: Auf, du Mensch, geh zum Haus Israel, und sprich zu ihnen mit meinen Worten (Ez 3,1–4).

Durch diese Inszenierung der Berufung mithilfe einer göttlichen Buchrolle werten sich die schriftkundigen und schriftgelehrten Schülerkreise nicht zuletzt selbst auf, denn so bekommen auch sie eine prophetische Aura, rücken ein in die Tradition der Offenbarungsmittler und werden zusehends zu Auslegern und Fortschreibern des Gotteswortes. 15 Eine Win-win-Situation entstand: Die Schreiber erhielten Anteil an der prophetischen Autorität – zumal Schreibkunst per se schon autoritätsträchtig war – und die prophetische Überlieferung wurde durch ihre Verschriftung zukunftsfest gemacht. Das Buch Jesaja z.B. wurde vom Ende des 8. Jh. bis ca. 300 v. Chr. fortgeschrieben, und zwar nicht von Einzelper-

15 Dazu David G. Meade, Pseudonymity and Canon. An Investigation into the Relationship of Authorship

and Authority in Jewish and Earliest Christian Tradition (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 39), Tübingen 1986, 22: „In short, the growth of the prophetic tradition is not due to a rigid transmission and accumulation of a traditum, but the living process of a traditio.“

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sonen, sondern von literarisch geschulten Schreibergruppen. 16 Diese charakterisiert Odil Hannes Steck folgendermaßen: Fachleute, geschulte und sich schulende Insider, die ihre Schriften im Dienste fließender Relecture aufs genaueste in Abfolge und Aussage kennen – professioneller Autoren- und Leserkreis in einem. Erst nach der Kanonisierung, als der Fluß produktiver Relecture zum Stehen gekommen war, wird dies anders und kann exegetisch vereinzelndem Gebrauch bis hin zu atomistischer Auslegung weichen. Zuvor jedoch sind es Fachleute, die ganze Bücher und Bücherfolgen betreuen. 17

Die prophetischen Bücher sind also nicht von genialen prophetischen Schriftstellern verfasst worden, sondern von Tradentengruppen, die sich auf die Gottesmänner als Autoritäten zurückführten. Diese schriftgelehrten Kreise begründeten theologische Schulen und etablierten Diskursgemeinschaften, die mitunter auch in Konkurrenz zueinander treten konnten: Nebeneinander, aber nicht unabhängig voneinander existierten schulmäßig funktionierende Diskurse der Fortschreibung als Auslegung autoritativer Worte, die dem jeweiligen Diskursgründer zugeschrieben wurden. Während für die priesterliche Schriftgelehrsamkeit Mose als Diskursgründer galt, dem auch die nachexilischen fortschreibenden Auslegungen seiner Worte aus vorexilischer und exilischer Zeit in Deuteronomium und Priesterschrift in den Mund gelegt und damit autorisiert wurden, wurden in Kreisen der Tradentenprophetie Worte der prophetischen Diskursgründer eines Jesaja, Jeremia oder Ezechiel fortschreibend ausgelegt und diesen Diskursgründern in den Mund gelegt und erhielten so ihre Legitimation durch die prophetische Autorität in Konkurrenz zu Moses Funktion, Offenbarungsmittler göttlicher Worte zu sein. 18

Die zahlenmäßig kleinen Eliten der kleinen Provinz Jehud in persischer Zeit, die der Rezeption und Produktion literarischer Texte fähig waren, müssen sich untereinander gekannt haben, zumal als zentraler Ort des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens allein der neu errichtete Jerusalemer Tempel in Frage kommt. Bei allen Differenzen in Einzelfragen lag diesen Literaten die nachexilische Zukunft Jerusalems und Judas gemeinsam am Herzen. 19 16 Vgl. die redaktionelle Nachjustierung in Jes 29,18: Und die taub sind, werden an jenem Tag die Worte

des Buchs hören, und befreit von Dunkel und Finsternis werden die Augen der Blinden sehen.

17 Odil Hannes Steck, Die Prophetenbücher und ihr theologisches Zeugnis. Wege der Nachfrage

und Fährten zur Antwort, Tübingen 1996, 168 (vgl. 15); dazu auch instruktiv Reinhard G. Kratz, „Zwischen Elephantine und Qumran. Das Alte Testament im Rahmen des Antiken Judentums“, in André Lemaire (Hg.), Congress Volume. Ljubljana 2007 (Supplements to Vetus Testamentum 133), Leiden 2010, 129–146, hier 132: „Man kann nur soviel sagen, daß es sich um schriftgelehrte Kreise gehandelt haben muß, die zu historiographischen, rechtlichen, weisheitlichen, prophetischen und priesterlichen Überlieferungen Zugang gehabt haben müssen oder selbst aus einem dieser Milieus stammten.“ 18 Eckart Otto, „Welcher Bund ist ewig? Die Bundestheologie priesterlicher Schriftgelehrter im Pentateuch und in der Tradentenprophetie im Jeremiabuch“, in Christoph Dohmen/Christian Frevel (Hgg.), Für immer verbündet. Studien zur Bundestheologie der Bibel, Festschrift Frank-Lothar Hossfeld (Stuttgarter Bibelstudien 211), Stuttgart 2007, 161. 19 Vgl. Ehud Ben Zvi, „Observations on Prophetic Characters, Prophetic Texts, Priests of Old, Persian Period Priests and Literati“, in Lester L. Grabbe/Alice Ogden Bellis (Hgg.), The Priests in the Prophets. The Portrayal of Priests, Prophets and Other Religious Specialists in the Latter Prophets

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Ab der frühnachexilischen Zeit (ab 500 v. Chr.) ist die Verschriftung des Gotteswortes nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Um 400 v. Chr. kommt es zur Proklamierung des ‚Buches der Tora des Mose‘ (seper torat moshe) durch Esra, den ‚Schreiber‘ (soper) und ‚Priester‘ (kohen) in Jerusalem (Neh 8,1). Sobald das Gotteswort in schriftlicher Form als traditum vorliegt, bedarf es der kontinuierlichen Weitergabe und Pflege, der traditio. So werden die Schreiber zu Auslegern: Diese Aufgabe übernehmen schon bei der Proklamation der Tora des Mose die Leviten (Neh 8,7–8). Die Schriftwerdung der Schrift spielte eine unterstützende Funktion bei der Durchsetzung der anikonischen Verehrung des Gottes Israels. Die heilige Schrift wurde somit zur Ikone Gottes. 20

3. Die Stilisierung der Autoritäten als Autoren Die Herausbildung der verschrifteten Offenbarung durch schriftgelehrte Kreise in der nachexilischen Zeit war nur durch die Anbindung an akzeptierte Autoritäten möglich. So proklamiert der Schreiber und Priester Esra die Tora nicht als seine, sondern als die des Mose (Neh 8,1.14). Diese wiederum ist narrativ an die Gottheit selbst zurückgebunden. Mose aber ‚schreibt‘ (katav) die Worte der Tora nicht nur auf, sondern ‚erklärt‘ (beøer) sie zugleich (Dtn 1,5; 27,8; vgl. Hab 2,2). Dies wird am Ende der mosaischen Tora mit aller Klarheit weitergeführt: Dann schrieb Mose diese Weisung auf und gab sie den Priestern, den Söhnen Levis, die die Lade des Bundes Jhwhs trugen, und allen Ältesten Israels (Dtn 31,9; vgl. 31,24–26). 21 Mose ist also nicht nur der ‚Urheber‘ der Tora, weil er sie aufschrieb (vergleiche auch die Verschriftungsnotizen in Ex 17,14; Num 33,2), 22 sondern zugleich ihr erster Schriftgelehrte. Er soll das Volk in der von Jhwh gegebenen Weisung unterrichten (Ex 24,12). So steht Mose als Mittler zwischen Gott und dem Volk, denn nur mit ihm hat Jhwh von Angesicht zu Angesicht gesprochen (vgl. Ex 33,11; Dtn 34,10–12): Das Volk aber hat die Tora nicht anders als in ausgelegter Gestalt. Damit setzen sich die Schriftgelehrten als Autoren des Pentateuch ein Denkmal und begründen ihren eigenen Berufsstand. Nur in

(Journal for the Study of the Old Testament. Supplement Series 408), London 2004, 19–30, hier 25–27. 20 Karel van der Toorn (Hg.), The Image and the Book. Iconic Cults, Aniconism, and the Rise of Book Religion in Israel and the Ancient Near East (Contributions to Biblical Exegesis and Theology 21), Leuven 1997. 21 Zur Kennzeichnung von Leviten u.a. als Schreiber vgl. 1 Chr. 24,6; 2 Chr, 34,13; dazu ausführlich Karel van der Toorn, Scribal Culture, 89–96. 22 Vgl. Christoph Dohmen, „‚Mose schrieb diese Tora auf‘ (Dtn 31,9). Auf der Suche nach dem biblischen Ursprung der Vorstellung von der mosaischen Verfasserschaft des Pentateuch“, in Reinhard Achenbach/Martin Arneth (Hgg.), „Gerechtigkeit und Recht zu üben“ (Gen 18,19). Studien zur altorientalischen und biblischen Rechtsgeschichte, zur Religionsgeschichte Israels und zur Religionssoziologie, Festschrift Eckart Otto (Beihefte zur Zeitschrift für biblische und altorientalische Rechtsgeschichte 13), Wiesbaden 2009, 256–265.

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Ulrich Berges Gestalt der mosaischen Auslegung und der an sie anknüpfenden schriftgelehrten Auslegung ist die Tora in Israel. Die auslegende Tora ist die Tora Gottes als ausgelegte Tora. 23

Der Übergang von der Berufung auf die Autorität zur Inszenierung von Autorschaft, die erst ab der hellenistischen Zeit voll greift, ist an der Figur Davids im Psalter gut abzulesen. In den beiden ältesten Büchern des Psalters (I. Ps 3–41 und II. Ps 52–68), die vom Ende des 8. Jh.s bis an die Exilszeit datieren, präsentieren die Überschriften mit der Kennzeichnung le-david (‚von, für, in Bezug auf David‘) diesen noch nicht als Verfasser, sondern als Identifikationsfigur: Die Psalmen sind auf David hin zu lesen und zu beten. 24 Durch die vermehrten Hinzufügungen biographischer Art im II. Buch (z.B. Ps 57: Ein Lied Davids, als er vor Saul in die Höhle floh) wird David immer stärker zur Identifikation der Beter in den je eigenen Nöten gemacht. Mit dem Kolophon am Ende des zweiten Buchs in Ps 72,20, Zu Ende sind die Gebete Davids, des Sohnes Isais, ist David zum Autor dieser Psalmengebete geworden. Die späten, meist weisheitlich geprägten Psalmen (vgl. Ps 34), die um 300 v. Chr. in den Psalter gestellt worden sind, präsentieren David immer mehr als den weisheitlichen Psalmendichter, eine Entwicklung, die in Ps 1 mit der Forderung nach einem gemäß der Tora (des Mose) praktizierten Leben ihren Höhepunkt und Abschluss erreicht. Dieser David ist nicht mehr nur weise, sondern auch schriftgelehrt. 25 Im Buch Sirach (195–175 v. Chr.) wurde David erwartungsgemäß in das Lob der Väter (Kap. 44–50) aufgenommen (Sir 47,1–11). Nicht nur begleitete er seine Heldentaten mit Lobliedern auf Gott (V 7–8), sondern baute auch Musikinstrumente und komponierte Lieder für den Psalmengesang (V 9). 26 Die Verfasserschaft Davids für die Psalmen weitet sich aus, und so wird er zum Begründer der Kultmusik Israels. Im Ps 151A aus der Psalmenrolle in Qumran 11QPsa (Kol XXVIII, 3–12) setzt sich dieses Bild fort. Dort singt David im Gewand des Orpheus, der die Natur betört – eine Szene, die in der Synagoge von Dura Europos aus dem 3. Jh. n. Chr. ausführlich dargestellt ist. 27 Doch nicht nur retrospektiv wird David in Qumran zum Autor gemacht, sondern auch prospektiv, d.h. auf die eschatologische Zukunft hin. So heißt es in der Psalmenrolle (11QPsa ), in den so genannten ‚Kompositionen Davids‘ (11Q05, Kol XXVII, 2–11), dass David ‚weise‘ (chakam) gewesen sei; er habe wie die Sonne geleuchtet. Außerdem sei er ein ‚Schriftgelehrter‘ (soper) gewesen, ‚verständig‘ (nabon) und ‚redlich‘ (tamim) auf all seinen Wegen vor Gott und den Menschen. Er habe 3600 ‚Psalmen‘ (tehillim) und

23 Eckart Otto, „Mose der Schreiber“, in Ders., Die Tora. Studien zum Pentateuch. Gesammelte Aufsätze

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(Beihefte zur Zeitschrift für biblische und altorientalische Rechtsgeschichte 9), Wiesbaden 2009, 470– 489, hier 488–489. Vgl. Martin Kleer, „Der liebliche Sänger der Psalmen Israels“. Untersuchungen zu David als Dichter und Beter der Psalmen (Bonner Biblische Beiträge 108), Bodenheim 1996, 126. Vgl. ebd. 126–127. David als Musikinstrumentenbauer: 1 Chr 23,5; 2 Chr 7,6; 29,25–27; Neh 12,36. Vgl. Martin Kleer, Sänger, 247–248; im Weinstock, vor dem der Leierspieler spielt, befinden sich Löwe, Ente, Taube, Adler und Affe.

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450 ‚Lieder‘ (schirim) geschrieben. 28 Insgesamt ergibt das 4050 Werke, womit David die 4005 Dichtungen Salomos übertrifft (vgl. 1 Kön 5,12). Geht man von den 24 Abteilungen von Tempelsängern in 1 Chr 25 aus, die David einsetzte, entfallen auf jede dieser Abteilungen 150 Psalmen, genau der Umfang des kanonischen Psalters. Die übrigen 450 Psalmen lassen sich ebenfalls durch 150 teilen. Worauf diese drei extra Sammlungen hindeuten, bleibt umstritten, möglicherweise zielen diese auf die Gleichung 27 = 33 (27 × 150 = 4050) ab, d.h. auf das Gotteslob für den dreimal heiligen Gott (vgl. Jes 6). 29 Prophetie und Musik werden in diesem Text aus Qumran (11Q05) gleichermaßen auf David zurückgeführt (Z. 11: Und alle diese [Lieder] sprach er durch Prophetie, die ihm vor dem Höchsten gegeben worden war). Dies stimmt mit 1 Chr 25,1 überein, wo die levitischen Sängergruppen Asafs, Hemans und Jeduthuns auf ihren Musikinstrumenten singend weissagen, d.h. prophetisch auftreten. Die Verbindung von Prophetie und Musik ist für den altorientalischen Raum breit belegt (Mari, Sumer, Assur). 30 In 2 Chr 20 zieht das Heer des judäischen Königs Joschafat nach Fasten und Gebet unter Führung levitischer Tempelsänger in den Krieg. Diese treten nur mit ihrer Musik bewaffnet vor die Truppen und bleiben singend siegreich (in V 21 wird Ps 106,1 zitiert: Preist Jhwh, denn seine Huld währt ewig). 31 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Alte Testament keine individuellen Autoren kennt, sondern als Traditionsliteratur zu bezeichnen ist. Aus der vereinzelten Verschriftung prophetischer Orakel und Zeichenhandlungen im 9.–8. Jh. entwickelte sich mit der Zeit eine Überlieferungskultur prophetischer Tradenten. Am Ende des 7. Jh.s wird das Medium der Schriftrolle immer aktueller, und um 400 ist auch die Tora des Mose in ‚Buchform‘ gegossen. Diese professionellen Schreibergilden beginnen damit, ihre Autoritäten als Autoren zu inszenieren, wodurch sie selbst an deren Fama teilhaben. Mit der anhaltenden Proklamation und Lesung des Gotteswillens werden die Schreiber immer mehr zu Auslegern der heiligen Schriften. Zugespitzt gilt für das Alte Testament daher: Nicht der Autor gebiert das Buch, sondern das Buch die Autoren!

28 Zur Übersetzung vgl. Johann Maier, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer, Bd. 1 (Uni-

Taschenbücher 1862), München 1995, 340–341.

29 Vgl. Martin Kleer, Sänger, 300. 30 Vgl. Martti Nissinen, Biblical Prophecy from a Near Eastern Perspective. The Cases of Kingship and

Divine Possession (Supplements to Vetus Testamentum 133), Leiden 2010, 455–458.

31 Vgl. Ulrich Berges, „Heiligung des Krieges und Heiligung der Krieger. Zur Sakralisierung des Krieges

in der Prophetie Israels“, in Ulrich Dahmen/Johannes Schnocks (Hgg.), Juda und Jerusalem in der Seleukidenzeit. Herrschaft – Widerstand – Identität, Festschrift Heinz-Josef Fabry (Bonner Biblische Beiträge 159), Göttingen 2010, 43–57, hier 53–54.

Anika Söltenfuß und Meike Kimmel 1

Autorschaft in augusteischer und spätantiker Dichtung Die Eklogen Vergils und die Natalicia des Paulinus von Nola

Fragen der ‚Autorschaft‘ stehen seit einigen Jahrzehnten im Fokus moderner Literaturproduktion und -wissenschaft, doch wie wird das Thema ‚Autorschaft‘ in antiken und spätantiken Texten verhandelt? Mit den folgenden Ausführungen wollen wir dies exemplarisch an den Eklogen von Vergil und den Natalicia von Paulinus von Nola untersuchen. In den zehn Eklogen des Vergil treten mehrere Sprecher auf, die abwechselnd Produzenten und Rezipienten von Sprechbeiträgen sind und über sich oder andere als Dichter urteilen. Die Natalicia des Paulinus von Nola sind dagegen von einem einzigen Sprecher bestimmt, der sich als ihr Autor präsentiert. Seine Autorschaft nimmt er in zahlreichen Reflexionen auf das Hervorbringen von Poesie und mit autobiographischem Material in den Blick. Gleichwohl wird im Folgenden unter einem ‚Autor‘ nicht der empirische Autor, der empirische Vergil oder Paulinus von Nola, verstanden, sondern der Autor als Thema des jeweiligen Textes. Synonym zu ‚Autor‘ wird der Begriff des ‚Dichters‘ verwendet, da es sich bei den Eklogen und Natalicia um poetische Texte handelt. Drei Aspekte werden im Folgenden im Mittelpunkt stehen, von denen wir annehmen, dass sie in den Eklogen und den Natalicia in einem Verhältnis zu ‚Autorschaft‘ stehen. Der erste Aspekt betrifft die Arten der Darstellung von Autorisierung, also die Frage, welche Berechtigung zu dichten behauptet wird. Diese Berechtigungen werden von göttlicher Seite gegeben und befähigen die Sprecher, mit neuartiger Dichtung im öffentlichen Raum zu wirken. Zweitens wird nach dem Verhältnis zwischen dem Autor und dem sozialen Umfeld gefragt, in das er sich einordnet und das einen möglichen Rezipientenkreis bildet. Während die Eklogen schon in ihrer dialogischen Form jeden Sprecher in ein soziales Umfeld stellen, grenzt sich der Sprecher in den Natalicia als Dichter von der christlichen Gemeinschaft ab und versucht gleichzeitig, sich in sie zu integrieren. Drittens stehen verschiedene Funktionen von mündlicher und schriftlicher Dichtung im Fokus 1 Für Anregungen in den zahlreichen Diskussionen danken wir den Mitgliedern der Arbeitsgruppe

‚Autorschaft‘ des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ in Münster.

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Anika Söltenfuß und Meike Kimmel

der Ausführungen. Die Sprecher in beiden Gedichtsammlungen nehmen Bezug auf ihre Dichtung als ein mündliches Ereignis und zugleich auf die schriftliche Form, in der sie veröffentlicht worden ist. Anhand dieser drei Aspekte, die wir mit ‚Autorschaft‘ in Verbindung bringen, wollen wir unsere Vermutung plausibel machen, dass ein ‚Autor‘ aus Sicht der Eklogen und Natalicia bestimmte Funktionen für Leser erfüllt. Die Funktion ‚Autor‘ wird durch Fragen der ‚Autorisierung‘ in den Blickpunkt des Lesers gerückt. Die Betrachtung des ‚sozialen Umfeldes‘ zeigt, dass die Funktion ‚Autor‘ nicht ohne die Mitarbeit des Lesers zu denken ist, sondern beide Instanzen in eine literarische Kommunikation eingebunden sind. Diese literarische Kommunikation wird anhand von ‚Medialität‘ differenziert in beiden Gedichtsammlungen betrachtet und dabei mit einem Anspruch auf Dauerhaftigkeit versehen.

1. Autorschaft in den Eklogen des Vergil Die Eklogen Vergils (entstanden ca. 42–39 v. Chr.) sind neuartig in der lateinischen Dichtung, insofern sie eine Sammlung von zehn hexametrischen, etwa jeweils hundert Verse umfassenden carmina bieten, in denen Hirten als Sprecher auftreten. Die Idyllensammlung des griechischen Dichters Theokrit (3. Jh. v. Chr.) wird als Begründerin dieser Art von Dichtung und Vorgängerin der Eklogen gehandelt, auch wenn Hirten bereits früher Protagonisten in literarischen Texten gewesen sind. 2 Die Eklogen stellen sich in die Tradition Theokrits und übernehmen poetisches Land von ihnen. Diese poetische Landnahme 3 zeigt sich am Beispiel von bestimmten Bäumen, die als Embleme für die Dichtung verwendet werden. Eine besondere Rolle in den Eklogen spielt eine Buche (fagus), die in der ersten Ekloge als schattenspendender Mittelpunkt des Geschehens konzipiert ist und deren Zerstörung in der neunten Ekloge mit der Vertreibung von dem Land der Sprecher ein2 Charles Martindale, „Green Politics. The Eclogues“, in Ders. (Hg.), The Cambridge Companion

to Virgil, Cambridge 1997, 107–124, hier 107, verweist auf die Stellen in der Ilias und Odyssee, wo Hirten eine Rolle spielen, wie die Episode um Calypso oder die Gärten des Alkinoos, sowie auf den Beginn von Platons Phaidros, wo ausführlich eine ländliche Umgebung geschildert wird. Vgl. zu Hirten als Protagonisten hellenistischer Dichtung auch Hans Bernsdorff, Hirten in der nichtbukolischen Dichtung des Hellenismus, Stuttgart 2001. Bruno Snell, „Arkadien. Die Entdeckung einer geistigen Landschaft“, in Ders., Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen 9 2009, 257–274, hier 259f., führt Stesichorus als Urheber der bukolischen Dichtung um 600 v. Chr. an. Thomas Hubbard, The pipes of Pan. Intertextuality and literary filiation in the pastoral tradition from Theocritus to Milton, Ann Arbor 1998, 19, weist zu Recht darauf hin, dass Theokrit nicht als „inventor“ gesehen werden solle, sondern als jemand, der einen bukolischen Stil entwickelt habe. 3 Zum Begriff der ‚poetischen Landnahme‘ in Bezug auf die Eklogen: Alexander Arweiler, „Souveränität und Einschließung. Catull, Cicero und Vergil über Macht, die Expansion der Herrschaft und die Autorität der Literatur“, in Ders. [u.a.] (Hgg.), Machtfragen. Zur kulturellen Repräsentation und Konstruktion von Macht in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Stuttgart 2008, 19–77, hier 33.

Autorschaft in augusteischer und spätantiker Dichtung

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hergeht. Die Buche ist bis auf eine Erwähnung bei Catull 4 ein in der lateinischen Poesie neuartiger Baum, zudem bloß heimisch im italischen Raum und in griechischen Texten daher unerwähnt. 5 Ihre prominente Stellung in den Eklogen markiert eine poetische Landnahme, denn die Dichtung Theokrits wird durch eine Eiche (fagÏc) gekennzeichnet. 6 Während die Buche Schutz und Schatten gewährt, wird die Eiche in den Eklogen mit Unglückszeichen in Verbindung gebracht und dabei mit Gefahr und Bedrohung konnotiert. Ein Blitzeinschlag in eine Eiche (quercus) sagt in der ersten Ekloge voraus, dass Hirten und Landbesitzer vertrieben werden. 7 Auf einer hohlen Eiche sitzend warnt in der neunten Ekloge eine Krähe die Dichter davor, sich mit ihren Liedern gegen Landvertreibung einzusetzen. 8 In beiden Eklogen sind die Eichen zerstört und ihrer natürlichen Form beraubt. Um die Buche als Emblem der Vergilischen Eklogen herum wird dagegen die Landschaft der Eklogen konstruiert, die als spezifisch römisch gekennzeichnet wird. 9 Nur die Sprecher, die sich ohne Sorge um Enteignung auf ihrem eigenen Land bewegen und in einer affektiven Beziehung zu ihrem Land stehen (wie Tityrus in der ersten Ekloge 10 ), 4 Catull. 64,288–291: Die Nennung der Buche erfolgt im Zusammenhang mit den Geschenken, die

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Chiron zur Hochzeit von Peleus und Thetis aus dem Pelion-Gebirge herbeiträgt. Zu der Stelle vgl. Robert Coleman, Publius Vergilius Maro, Eclogues, Cambridge 1977, 35. Robert Coleman, Eclogues, 35. Vgl. dazu auch Gordon Williams, Tradition and Originality in Roman Poetry, Oxford 1968, 319. Das griechische fagÏc/fhgÏc bezeichnet die Valonische Eiche, die bei Theokrit Id. 12,8 ebenfalls Schatten und Schutz spendet, vgl. dazu Bernhard Herzhoff: „FhgÏc. Zur Identifikation eines umstrittenen Baumnamens“, in Hermes 118 (1990), 257–272, 385–404. Zum mangelnden Schutz der Eichen in den Eklogen vgl. Timothy Saunders, Bucolic Ecology. Virgil’s Eclogues and the environmental literary tradition, London 2008, 85–86. Zum Gebrauch von fhgÏc bei Kallimachos, der sicherlich auf die Beschreibung der Szenerie in der zweiten Ekloge eingewirkt hat, vgl. Francis Cairns, „Propertius i. 18 and Callimachus, Acontius and Cydippe“, in The Classical Review 83 (1969) 131–134, hier 133; David Ross, Backgrounds to Augustan poetry: Gallus, elegy and Rome, Cambridge [u.a.] 1975, 72; E. J. Kenney, „Virgil and the Elegiac Sensibility“, in Illinois Classical Studies 8/1 (1987), 44–59, hier 50, und Wendell Clausen, A commentary on Virgil, Eclogues, Oxford 1994, 65. Verg. ecl. 1,16–17. Verg. ecl. 9,14–16. Auch die Integration von Römischem in die Dichtung ist eine Technik der poetischen Landnahme: Dazu gehörten in der ersten Ekloge beispielsweise die Orientierung an den Grenzen des römischen Reichs, die imperiale Geographie und die Darstellung der Anweisung, die der Gott aus Rom Tityrus gibt, so dass er weiterhin dichten darf. Die Rolle des Tityrus in den Eklogen markiert ebenfalls die poetische Landnahme: Tityrus, der bei Vergil eine Hauptrolle einnimmt, wie bereits aus der prominenten Stellung seines Namens Tityre (ecl. 1,1) deutlich wird, spielt bei Theokrit eine untergeordnete Rolle. Im Gegensatz zu Id. 3,2–4, wo er die Ziegen des Sprechers hüten soll, während dieser Amaryllis nachstellt, gehört er in der ersten Ekloge zu Amaryllis, wie er in Vers 30 erklärt (nos Amaryllis habet); im Gegensatz zu Id. 7,72–82, wo er singen wird (Â d‡ T–turoc ‚gg‘jen Üseÿ, Id. 7,72), singt er tatsächlich in der ersten Ekloge. Meliboeus dagegen ist keine Figur der Idyllen. Die literarische Vergangenheit der Figuren wird als ein Mittel verwendet, um sich davon abzusetzen, um kontrastierend die vergilischen Figuren zu charakterisieren. Als Tityrus in Rom weilte, vermissten ihn nicht nur Amaryllis, wie Meliboeus berichtet, sondern auch die Pinien, Quellen und Reben (ipsae te, Tityre, pinus, / ipsi te fontes, ipsa haec arbusta vocabant,

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sind imstande zu dichten; die anderen bringen nur Fragmente hervor oder verstummen vollständig.

1.1 Autorisierung zum Dichten Die Eklogen als neuartige Dichtung in Rom werfen die Frage danach auf, mit welcher Berechtigung ihr Autor spricht. Diese Frage wird in den Eklogen thematisiert, wie die sechste Ekloge exemplarisch zeigt: Der Sprecher der ersten zwölf Verse bietet als Dichter dem Leser eine mögliche Positionierung seiner Dichtung innerhalb der Literaturgeschichte an, indem er eine Aussage des Apollon wiedergibt: Prima Syracosio dignata est ludere uersu nostra neque erubuit siluas habitare Thalea. Cum canerem reges et proelia, Cynthius aurem uellit et admonuit: „Pastorem, Tityre, pinguis pascere oportet ouis, deductum dicere carmen.“ Nunc ego (namque super tibi erunt, qui dicere laudes, Vare, tuas cupiant, et tristia condere bella) agrestem tenui meditabor harundine musam. Non iniussa cano. Si quis tamen haec quoque, si quis captus amore leget, te nostrae, Vare, myricae, te nemus omne canet; nec Phoebo gratior ulla est quam sibi quae Vari praescripsit pagina nomen. 11

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‚Meine Thalia hat es als erste für würdig gehalten, im Syrakusischen Versmaß zu spielen, und sie schämte sich nicht in Wäldern zu wohnen. Als ich Könige und Schlachten besingen wollte, zog der kynthische Apollon an meinem Ohr und mahnte mich: „Tityrus, es ziemt sich für einen Hirten, Schafe fett zu weiden und ein feingesponnenes Lied zu singen.“ Nun werde ich auf einem zarten Schilfrohr ein ländliches Lied ersinnen (denn du wirst viele haben, die Lob auf dich, Varus, singen und ernste Kriege bewahren wollen). Ich singe nicht ohne Auftrag. Wenn trotzdem irgendwer auch dies, wenn irgendwer, erfasst von Liebe, dies liest, mögen dich, Varus, unsere Tamarisken und der ganze Wald besingen; und keine Seite ist Apollon lieber als diese, die mit dem Namen Varus überschrieben ist.‘

Apollon erscheint dem Sprecher, während dieser über Schlachten und Kriege dichten will, und gibt ihm eine Anweisung zu Inhalt und Form der Dichtung, die sich für ihn als Hirten zieme. Die zitierte Ermahnung des Apollon ist ein Beispiel für die gleichzeitige Nachahmung und Abgrenzung von fremdem Material: Sie wird von dem Sprecher der sechsten Ekloge als Zitat wiedergegeben, das heißt als wörtliche Wiedergabe der Aussage des Apollon in dem Text des Vergil. Das Zitat ist die Stelle, an der ein fremder Text in den Text der Ekloge integriert wird. In anderen Worten ist es die Stelle, an der sich der Text ecl. 1,38 f.). In seiner Dichtung bezieht er die Landschaft mit ein, denn er lehrt die Wälder, Amaryllis zu singen (1,5). Die Landschaft auf seinem Land ist nicht der Hintergrund, vor dem gesungen wird, sondern Teil der Produktions- und Rezeptionskette, der auch Tityrus als Produzent angehört. 11 Verg. ecl. 6,1–12. Der Text stammt hier und im Folgenden aus: P. Vergili Maronis, Opera, recognovit brevique adnotatione critica instruxit R.A.B. Mynors, Oxford 1969. Die Übersetzungen sind, wenn nicht anders angegeben, von mir (M. K.).

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der Eklogen für einen fremden Text öffnet. Wenn der Leser dieser Öffnung des Textes folgt, gelangt er zu dem Aitienprolog des Kallimachos (3. Jh. v. Chr.), in dem auch ein Zitat des Apollon eine Rolle spielt: 12 ka» gÄr Ìt}e pr|∏}tiston ‚moÿc ‚p» dËlton Íjhka go‘nasi}n, >A[pÏ]llwn e⁄pen Ì moi L‘kioc ‚.......]… ÇoidË, t‰ m‡n j‘oc Ìtti pàqiston jrËyai, tò]¹n Mo‹san d+≤gaj‡ leptalËhn pr‰c dË se] ka» tÏd+änwga, tÄ mò patËousin âmaxai tÄ ste–be}in, ·tËrwn “qnia mò kaj+Âmà d–fron ‚l]¹ên mhd+oŸmon ÇnÄ plat‘n, ÇllÄ kele‘jouc Çtr–pto]¹uc, e  ka» ste|i}notËrhn ‚làseic.‘ tƒ pijÏmh]n 13 ; ‚Als ich nämlich erstmals eine Schreibtafel auf meine Knie legte, da sagte zu mir Apollon Lykios: „[…] Sänger, das Opfer möglichst fett […] aber die Muse, mein Bester, dünn. [Außerdem] trage ich dir auch auf, was Wagen nicht befahren, das zu betreten, in den Spuren anderer nicht [den Wagen zu steuern] noch auf breiter Straße, sondern unberührte Wege, magst du auch einen engeren fahren!“ [Dem bin ich gefolgt.]‘ 14

Das Zitat des Apollon in der sechsten Ekloge eröffnet mit dem Verweis auf den Aitienprolog einen neuen Kontext, durch den die Ekloge kommentiert wird. Dieser Kommentar wird in den Punkten besonders deutlich, in denen sich die Texte unterscheiden: erstens in der Frage nach Originalität und der Darstellung der Autorisierung und zweitens in der Konzeption des Mediums der Dichtung. Auf den zweiten Punkt werde ich im letzten Teil 1.3. meiner Ausführungen zurückkommen. Beide Sprecher behaupten einen literaturgeschichtlichen Urheberstatus für sich und ihre Dichtung; sie sprechen sich und ihrer Dichtung einen Status der Originalität zu. 15 Die Apollon-Szene wird dabei chronologisch 12 Zu einem Vergleich des Eklogentextes mit der Passage aus dem Aitienprolog vgl. Michèle Lowrie,

Horace’s Narrative Odes, Oxford 1997, 59–65, deren Ausführungen grundlegend für die folgenden Überlegungen sind. 13 Kall. Aet. fr. 1,21–29 Pf. 14 Übersetzung von Markus Asper, Kallimachos Werke Griechisch und Deutsch, Darmstadt 2004, 67 f. 15 prima, Verg. ecl. 6,1; kele‘jouc Çtr–pto]uc, Kall. Aet. fr. 1,27f. Zum Begriff der ‚Originalität‘ bei Vergil vgl. schon Wilhelm Kroll, „Die Originalität Vergils“, in Johannes Ilberg (Hg.), Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur 11 (1908), 513–531, hier 518, der seine Erklärungen als eine communis opinio darstellt. Kroll weist aber auch ebd. 519f. darauf hin, dass nicht zeitgenössische Maßstäbe von ‚Originalität‘ herangezogen werden können. ‚Originalität‘ als Kategorie in der Antike zielt auf die Darstellung, die Form der Dichtung, und nicht auf das Dargestellte, wie im Folgenden gezeigt werden soll (dazu: Wilhelm Kroll, „Originalität“, 527). Die Aussage, der erste zu sein, ist ein beliebtes literarisches Motiv der augusteischen Dichtung, mit dem Originalitätsansprüche problematisiert werden, vgl. Robin Nisbet/Margaret Hubbard, A commentary on Horace. Odes/1, Oxford 1970, 307 f. zu den Stellen. Vgl. dazu auch Alexander Arweiler, „Römische Literaturen und die Grenzen der Philologie“, in Simone Winko [u.a.] (Hgg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen (Revisionen 2), Berlin/New York 2009, 545–583, hier 566: „Wenn die Warnung vor geistloser Nachahmung selbst schon eine Tradition der Warnungen aufnimmt, stellt sich die Frage, wie denn überhaupt noch geistvoll vor geistloser Nachahmung gewarnt

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und funktional unterschiedlich eingeordnet. Bei Kallimachos erhält der Sprecher von Apollon die Anweisung, etwas Neues zu dichten. Transportiert wird diese Anweisung über die Metapher des unbetretenen Weges. Die Behauptung der Originalität bei Vergil, dass seine Muse es als erste für würdig gehalten habe, zu dichten, steht dagegen vor der Beschreibung der Epiphanie Apollons. 16 Die Anweisung Apollons ist bei Vergil nicht die Ursache für die als originell dargestellte Dichtung; sie ist die Erklärung. Wenn die Idee der Öffnung des vergilischen Textes an der Stelle des Apollonzitats für das Textstück des Kallimachos berücksichtigt wird, ergibt sich daraus ein bestimmbares Verhältnis zwischen den beiden Texten: Die Szene aus dem Aitienprolog ist die Erklärung dafür, dass der Beginn der sechsten Ekloge originell ist, ein scheinbares Paradoxon, da der Beginn der sechsten Ekloge den Aitienprolog imitiert. Tatsächlich aber gibt dies dem Begriff der Originalität eine poetologische Bedeutung: Originalität bedeutet in diesem Kontext nicht, etwas Neues zu dichten. Originalität bedeutet, etwas neu zu dichten. Nachahmung und Abgrenzung von den griechischen Vorgängern spielten in der römischen Dichtung von Beginn an eine wichtige Rolle bei den Aussagen, die die Sprecher über ihr Werk machen. Der Sprecher der ersten Verse der sechsten Ekloge stellt eine spezifische Form davon vor. 17 Das Zitat des Apollon zu Beginn der sechsten Ekloge ist ein Moment, in dem der poetische Text im Hinblick auf seine Originalität problematisiert und kommentiert wird. Präsentiert wird nicht ein Bericht, wie Apollon dem Sprecher begegnet ist, sondern eine werden könne.“ Gleichwohl wird in der Aussage, der erste zu sein, ein Urheberstatus beansprucht, der auf das Autorschaftskonzept hinweist. Timothy Saunders, Bucolic Ecology, 132–133 beobachtet die Anfänge der Dichtung im Zusammenhang mit Ursprüngen in der Natur und stellt fest, dass durch die vielfältigen Hinweise innerhalb der sechsten Ekloge auf ihre Vorgänger das Beginnen als „beginning again“ (132) aufgefasst werden könne, und folgert daraus: „It entails, in other words, that the practice of beginning both initiates and repeats.“ 16 Verg. ecl. 6,1: prima; vgl. Michèle Lowrie, Narrative Odes, 62f. 17 Nicht nur am Beispiel von dem Aitienprolog des Kallimachos lässt sich die gleichzeitige Nachahmung und Abgrenzung der griechischen Vorgänger beobachten, die der Sprecher der sechsten Ekloge vollzieht: Die Dichtung wird durch Syracosio […] ludere versu (ecl. 6,1) expliziert, das den Leser auf die Nähe des folgenden Textes zur Tradition Theokrits, des Dichters aus Sizilien, aufmerksam macht. Theokrits Nachfolger Moschos stammt ebenfalls aus Syrakus. Michael Lipka, Language in Vergil’s Eclogues (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 60), Berlin [u.a.] 2001, 46, konstatiert allerdings aufgrund der Untersuchung wörtlicher Analogien (ebenso wie Robert Coleman, Eclogues, 203) einen relativ schwachen Einfluss Theokrits auf die sechste Ekloge. Die Einordnung in die bukolische Tradition wird gleichwohl durch das Bild des Musenwohnsitzes im Wald (neque erubuit silvas habitare, 2) bestätigt, vgl. Michael Lipka, Language, 31, Anm. 14. Die Erwähnung der silvae markiert allerdings bereits einen wichtigen Unterschied, mit dem der vergilische Text sich von der Vorlage Theokrits abhebt. Das griechische Äquivalent ’la zu silva wird bloß zwei Mal in den Idyllen verwendet, während silva häufig und an metapoetisch wichtigen Stellen Vergils zu finden ist: Die Wälder (silvae) markieren den Ort der Eklogen, an dem die Sprecher frei von Gefahren dichten können; vgl. dazu etwa ecl. 1,5 (formosam resonare doces Amaryllida silvas); ecl. 2,62 (nobis placeant ante omnia silvae); ecl. 4,3 (si canimus silvas, silvae sint consule dignae); ecl. 6,2 (nostra, neque erubuit silvas habitare, Thalia); ecl. 10,8 (non canimus surdis: respondent omnia silvae).

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Reflexion auf konventionelle Berichte von Epiphanien, in denen ein Dichter autorisiert und beauftragt wird. 18 Der Leser entdeckt durch seine Interpretationsleistung den möglichen Kommentar durch den Aitienprolog und die Thematisierung der literarischen Konvention ‚Autorisierung‘ durch Apollon. Der Sprecher thematisiert damit die Frage nach der Stellung des Dichters im literarischen Raum, insbesondere nach seiner Berechtigung zu dichten.

1.2 Der Dichter und sein soziales Umfeld Die Sprecher der Eklogen treten in den Gedichten nicht alleine auf, wie etwa der Sprecher in den Oden des Horaz, sondern sie werden in Gesellschaft dargestellt; sie haben einen sozialen Status und bewegen sich in einem deutlich markierten sozialen Gefüge, von dem sie abhängig sind. Die Sprechsituation lässt Monologe und Dialoge zu, in denen die Sprecher übereinander als Dichter urteilen und miteinander kommunizieren. Zwei Arten der sozialen Einbindung der Sprecher als Dichter werden in den Eklogen häufig thematisiert: Erstens wird Dichtung in einem Kontext des Lehrens und Lernens gedacht, was eine Kette von Rezeptionen und erneuten Produktionen in Gang setzt; zweitens wird Dichtung insofern als ein Handeln im sozialen Raum aufgefasst, als sie veranlasst ist durch Aufträge und Aufforderungen und ihr Ergebnis in diesem Raum zirkuliert. Sowohl beim Lernen und Lehren als auch bei einem Auftrag und dessen Befolgung sind die beteiligten Sprecher nicht gleichberechtigt. Nicht nur die Protagonisten, sondern auch die Landschaftselemente der Eklogen sind dabei auf der Ebene des Dargestellten beteiligt an der hierarchischen Verflechtung von Inspiration, Produktion und Rezeption. Dabei übernehmen die Elemente der Landschaft der Eklogen ebensolche Funktionen bei der Überlieferungskette wie die Sprecher, wie am Beispiel der letzten Verse der sechsten Ekloge deutlich wird, in denen sowohl der Kontext der Auftragsdichtung (iubere) als auch des Lernens und Lehrens (ediscere) deutlich wird: Omnia, quae Phoebo quondam meditante beatus audiit Eurotas iussitque ediscere lauros, ille canit, pulsae referunt ad sidera ualles, cogere donec ouis stabulis numerumque referre iussit et inuito processit Vesper Olympo. 19 18 Imitiert wird mit dieser Stelle auch das Ende des kallimacheischen Apollonhymnos (105–113),

in dem auf die Möglichkeiten der literarischen Darstellung von Epiphanie reflektiert wird. Der vergilische Passus nimmt diese Reflexion auf und schafft damit eine weitere Reflexionsebene. In dem Hymnos wird, ebenfalls wie in der sechsten Ekloge, der Leserkreis eingeschränkt: ±pÏllwn oŒ pant» fae–netai, Çll+Ìtic ‚sjlÏc / Ìc min “d˘, mËgac o›toc, Ác oŒk “de, lit‰c ‚keÿnoc (9f.): ‚Apollo erscheint nicht jedem, sondern nur dem Edlen; wer immer ihn sieht, der ist groß – wer ihn nicht sieht, der ist gewöhnlich.‘ Übersetzung von Markus Asper, Kallimachus, 395; dazu: Ivana Petrovic, „Callimachus and Cult“, in Benjamin Acosta-Hughes [u.a.] (Hgg.), Brill’s Companion to Callimachus, Leiden 2011, vorauss. 20–54, hier 28 f. 19 Verg. ecl. 6,82–86.

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‚Er [sc. Silenus] singt alles, was der beglückte Eurotas hörte, weil Apollon es einst einübte, und was er den Lorbeerbüschen auftrug, zu lernen, (die Täler tragen es bewegt zu den Sternen), solange bis der Abendstern über dem Olymp aufgeht, der ihn nur unwillig entlässt, und anweist, die Schafe in die Ställe zu treiben und sie zu zählen.‘

Gekennzeichnet ist diese Passage von dem Verb iubere, das bereits in der Ekloge 6,9 in dem Ausdruck non iniussa cano verwendet worden ist. Der Flussgott Eurotas befiehlt dem Lorbeer, die Lieder des Apollon zu lernen, und der Abendstern ordnet schließlich das Ende der sechsten Ekloge an. Dabei stellt die Passage die lange Überlieferungskette der Dichtung dar. Der Weg der Lieder zu den Sternen ist lang, das Lied geht über Apollon als Inspirationsinstanz zum Flussgott Eurotas, der dies dem Lorbeer zu lernen und somit zu bewahren befiehlt; der ab Vers 13 als Sprecher eingeführte Silenus (ille, 84) lernt es und trägt es durch den Erzähler vor, und so gelangt das Lied an seinen Bestimmungsort, zum Leser. 20 In dieser literarischen Transformationskette verschmilzt der Prozess des Schreibens mit dem des Lesens und Vortragens, was die Figur Apollons in dieser Ekloge prägnant vor Augen führt; Apollon wird gleichzeitig als der das Lied bestimmende Gott (3), erfreuter Leser (11–12) und vortragender Dichter und nun Objekt des Liedes (82–83) dargestellt. 21 Die Sprecher der sechsten Ekloge denken nicht nur über die Auftragsdichtung innerhalb der Welt der musischen Götter, musizierenden Silenen oder lauschenden Flussgötter nach, sondern auch über den speziellen Auftrag, zu panegyrischen Zwecken zu dichten. Zu Beginn der Ekloge wird der Adressat Varus als potentielles Objekt panegyrischer Dichtung eingeführt. 22 Der Sprecher übergibt diesen Auftrag anderen Dichtern mit der Begründung, dass es genug Dichter dafür gebe und Apollon ihm das Verfassen von Hirtendichtung aufgetragen habe (non iniussa cano, ecl. 6,6–8). Die Aussage ‚Ich singe nicht ohne Befehl‘ diskutiert die soziale Einbettung von Dichtung; Apollons Befehl hat mehr Einfluss auf den Sprecher als der des Varus. Der Sprecher thematisiert und problematisiert damit die Zuteilung von Dichtung an verschiedene Dichter, die loben und erinnern sollen. 23 Die Beobachtung, dass die Sprecher der Ekloge durch Aufträge veranlasst dichten, lässt sich auf die literarische Kommunikation mit dem Leser ausweiten: Varus als eine zeitgenössische Persönlichkeit wird als Adressat in die Ekloge integriert. Damit wird die literarische Kommunikation auf potentielle Leser, wie Varus einer ist, ausgeweitet.

20 Thomas Hubbard, The Pipes of Pan, 105, nennt diese Dynamik eine „complex lineage of influence

and repetition.“ Verstärkt wird die Verflechtung noch durch die mythische Qualität, die die Erzählung bekommt, insofern Mythen mehrere Versionen haben, die wiederum vermischt werden können. 21 Timothy Saunders, Bucolic Ecology, 131, verweist auf diese Polyfunktionalität des Apollon. Die Vermischung der Rolle des Produzierenden mit der des Rezipienten von Dichtung zeigt sich in der Wiederholung von meditari: Sagt das dichtende ‚Ich‘ in Vers 8 agrestem tenui meditabor harundine Musam, verweist es mit Phoebo quondam meditante in Vers 82 auf die Ursprünge seiner Dichtung und den parallelen Prozess des Hervorbringens von Dichtung durch ihn und durch Apollon. 22 Verg. ecl. 6,7 und 6,10. 23 Vgl. Alexander Arweiler, „Souveränität und Einschließung“, 62.

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Ein weiteres Beispiel für die Diskussion der sozialen Einbettung von Dichtung, sowohl im Kontext des iubere als auch des docere, zeigt die fünfte Ekloge. Dort singen Mopsus und Menalcas zu Ehren des verstorbenen Daphnis, eines meisterhaften Sängers in der Hirtenwelt, um die Wette. Aus ihren Sprechbeiträgen wird ersichtlich, dass Mopsus der Jüngere der beiden ist, er lernt noch von der Dichtkunst des Menalcas. 24 Die Beziehung der beiden Sprecher ist durch eine Lehrer-Schüler-Hierarchie bestimmt. Sie wetteifern dennoch mit ihren Vorschlägen zur Ehrung des Daphnis. Nachdem Mopsus als erster seinen Beitrag über eine Gedenk-Inschrift gesungen hat, die als Monument an Daphnis erinnern soll, setzt Menalcas an, Daphnis zu vergöttlichen. Men.: Nos tamen haec quocumque modo tibi nostra vicissim dicemus, Daphninque tuum tollemus ad astra; Daphnin ad astra feremus: amavit nos quoque Daphnis. Mop.: An quicquam nobis tali sit munere maius? 25 ‚Men.: Ich werde dennoch, auf irgendeine Weise, im Wechsel mit dir singen, und deinen Daphnis zu den Sternen erheben. Ich werde Daphnis zu den Sternen bringen: auch mich hat er geliebt. Mop.: Soll irgendetwas großartiger sein für mich als dieses Geschenk?‘

Vicissim bezeichnet den Wechselgesang, der ein Gattungsmerkmal für die bukolische Dichtung ist. 26 Auf den Vorschlag des Menalcas, den Tod des Daphnis nicht nur zu konstatieren, sondern zu überwinden, reagiert Mopsus erfreut. Das Angebot des Menalcas benennt er als munus, als ein Geschenk, durch das die Vergöttlichung des Daphnis bewirkt werden kann, wie er behauptet. Damit rückt der Sprechbeitrag des Menalcas in seiner möglichen Effektivität innerhalb der literarischen Eklogenwelt in den Blick. Menalcas bietet durch seinen Beitrag den Vollzug der Apotheose des Daphnis an und thematisiert damit die Möglichkeiten, die poetisches Sprechen hat: Es kann als Handlung im öffentlichen Raum verstanden werden. Wichtig für die Frage nach der Funktion der munera ist hier also die Performativität des Gedichts, das heißt der Grad, in dem die Sprecher durch ihre poetischen Aussagen eine Handlung vollziehen. Hinzu kommt, wie ein Blick auf den wichtigen literarischen Vorgänger Vergils, Catull, zeigt, eine weitere Bedeutung des Begriffs munus: Munus kann auch den Trauerritus bezeichnen, der durch die Dichtung selbst vollzogen wird.

24 Verg. ecl. 5,4. 25 Verg. ecl. 5,50–53. 26 Man kann die Entwicklung des Menalcas durch das Eklogenbuch hindurch von einem unerfahrenen

Lehrling in ecl. 3 zu einer erfahrenen Dichterautorität in ecl. 9 verfolgen. In der fünften Ekloge ist er in der sozialen Hierarchie der Eklogen bereits soweit angelangt, dass er Mopsus zum Nachfolger des Daphnis küren kann (ecl. 5,48f.). Er zeigt sich mit dem Gebrauch dieses terminus technicus vicissim als Literaturkritiker. Voraussetzung für diese Entwicklung des Menalcas ist seine Sichtbarkeit im öffentlichen Raum der Eklogen: Seine Dichtung muss rezipiert werden, damit er als Dichter die Anerkennung erhalten kann, die ihm tatsächlich zugesprochen wird.

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Anika Söltenfuß und Meike Kimmel Multas per gentes et multa per aequora uectus aduenio has miseras, frater, ad inferias, ut te postremo donarem munere mortis et mutam nequiquam alloquerer cinerem. 27

‚Nachdem ich durch viele Völker und über viele Meere gefahren bin, komme ich, mein Bruder, zu dieser traurigen Totenfeier, um dich mit einem letzten Totenopfer zu beschenken und vergeblich die stumme Asche anzureden.‘

Wie Marilyn Skinner und Michèle Lowrie gezeigt haben, ist das Gedicht Catull. 101 als ein munus, als ein Trauerritus zu verstehen. Der Sprecher beschreibt seine eigene Handlung, die Ansprache an die Asche des Bruders, als vergeblich (nequiquam, 4). Das, was er sagt, hat in seinen Augen keine Wirkung. Gleichwohl verfasst er die Aussage, dass er vergeblich spricht, in einem Gedicht, das performativ einen Trauerritus vollzieht. Indem er seinen Bruder anredet, agiert der Sprecher vergeblich mit seiner Sprache; indem er poetisch darüber spricht, vollzieht er dennoch mit seinem Gedicht eine Handlung. 28 Catull. 101 diskutiert die Effektivität poetischen Sprechens am Beispiel des Begriffes munus. Mopsus und Menalcas nehmen diese Diskussion auf und ergänzen sie um die Frage zu ihrer eigenen Beziehung zueinander. Ihre Dichtung als munus etabliert und festigt ihre Beziehung durch die soziale Verpflichtung zur Gegengabe. Die fünfte Ekloge zeigt exemplarisch, dass ein Dichter in den Eklogen eines sozialen Umfelds bedarf, zu dem er nicht zwangsläufig in einem gleichberechtigten Verhältnis steht und das durch die Dichtung selbst errichtet und aufrecht gehalten wird.

1.3 Mündliches und schriftliches Dichten Der Dichter in den Eklogen ist integriert in einen öffentlichen Raum, in dem Dichtung über die Instrumente und die Natur, die von der Dichtung widerhallt, vermittelt wird. Er ist eingebunden in eine literarische Kommunikation. Diese literarische Kommunikation zwischen dem Dichter und seinen Rezipienten wird charakterisiert durch die Wahl des Mediums der Dichtung. Die Eklogen erscheinen im Medium der Schriftlichkeit als ein Gedichtbuch und evozieren gleichzeitig als Dialoge, Wettgesänge und Überlieferungsketten, wie beispielsweise in der sechsten Ekloge (audire, canere, ecl. 6,83f.), den Eindruck von mündlicher Dichtung. Diese konzeptionelle Mündlichkeit ist durch Einmaligkeit und Ereignishaftigkeit gekennzeichnet. Die schriftliche Aufzeichnung im Buch der Eklogen macht die Zirkulation auf der Ebene der Darstellung wiederholbar und garantiert, dass das Ereignis im Prozess des Lesens wiederholt werden kann. Dies hat Michèle Lowrie ausführlich gezeigt, deren Ergebnisse ich im Folgenden vorstelle und weiterführe. 27 Catull. 101,1–4. 28 Vgl. Marilyn Skinner, Catullus in Verona. A reading of the Elegiac libellus, poems 65–116, Columbus

2003, 128; Michèle Lowrie, Writing, 44–46. Vgl. auch Michael Putnam, „Propertius 1.22. A Poet’s Self-Definition“, in Quaderni Urbinati di Cultura Classica 23 (1976), 93–123, hier 110 zu Catull. 101: „The poem is a munus, at once a gift and an act of love, a funeral offering and a valedictory epigram.“

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Das Zusammenspiel von Mündlichkeit und Schriftlichkeit wird deutlich in einem Vergleich der ersten Verse der sechsten Ekloge mit dem oben angeführten Abschnitt aus dem Aitienprolog des Kallimachos. 29 Im Vergleich der beiden Texte im Hinblick auf das Vokabular, das Dichtung bezeichnet, wird deutlich, welches Verständnis die Eklogen von ihrem Medium haben: Die Schreibtafel des Kallimachos (dËlton) wird im Vergilischen Text zu Gesang (canere). Gleichwohl bezieht sich der Sprecher bei Vergil auf seine eigene Dichtung als pagina, die die Rezipienten lesen (legere) können. Die Diskussion des Mediums von Dichtung rückt den Blick von der schriftlichen Produktion bei Kallimachos zu einer mündlichen Produktion bei Vergil, die aber schriftlich aufbewahrt wird. 30 Ereignisorientierte Praxis und räumlich organisierte Strukturen werden zusammengeführt; die Dichtung wird damit zur Zirkulation fähig gemacht. Der Begriff der ‚Zirkulation‘ zeigt an, dass die Sprache in Gedichtform, die in den Eklogen als Geschenk verstanden wird, als Gabe und Gegengabe soziale Abhängigkeiten etabliert. 31 Diese Abhängigkeiten entstehen in den Eklogen nicht nur zwischen den Sprechern, sondern auch mit und zwischen den Elementen ihrer Landschaft, die sich an der literarischen Kommunikation beteiligen. Auf der Ebene des Dargestellten führen die Eklogen vor, wie Dichtung in einem sozialen Raum eingespannt sein kann; auf der Ebene der Darstellung wird die literarische Kommunikation mit dem Leser fortgeführt. Der Leser kann an der Zirkulation teilnehmen, wenn er die Dichtung rezipiert und in seinem öffentlichen Raum zirkulieren lässt. Die Eklogen sind sich ihres Mediums bewusst und nutzen die Vorteile von sowohl Mündlichkeit (Ereignis) als auch Schriftlichkeit (Inschrift/Monument) aus, um das Verhältnis zwischen dem Dichter und dem Leser zu charakterisieren. Deutlich wird die Dynamik von mündlichem Ereignis- und schriftlichem Monumentcharakter auch in der fünften Ekloge, in der Mopsus und Menalcas zu Ehren des Daphnis singen. Die Sprecher beschenken sich gegenseitig mit Sprechbeiträgen und etablieren damit ihre soziale Beziehung als Lehrer und Schüler. Ihre Sprechbeiträge zielen auf unterschiedliche Medien: Mopsus schlägt eine Inschrift vor, die monumentalen Charakter hat, während sich Menalcas eine Feier vorstellt. Diese Vorschläge werden im Verlauf der 29 Vgl. dazu Michèle Lowrie, Narrative Odes, 59–65 und Dies., Writing, 148 f. 30 Michèle Lowrie, Writing, 144 betont die Einzigartigkeit dieser Aussage in dem Werk Vergils – nur

an dieser Stelle werde die Dichtung explizit als schriftlich bezeichnet.

31 Zum Begriff der ‚Zirkulation‘ vgl. Hartmut Winkler, Diskursökonomie. Versuch über die innere

Ökonomie der Medien, Frankfurt am Main 2004, 65–93, der den Begriff mit Bezug auf ökonomische Zirkulation definiert und Zeichen in eine Analogie mit Waren setzt (ebd. 65). Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 5 2005, 140–142 beschreibt Zirkulation ausgehend von biologischem Vokabular (‚kulturelles Immunsystem‘), um dann auf ökonomische Implikationen zu kommen. Neben Sprache, die Assmann als wichtigste Form sozialer Sinn-Zirkulation ansieht, nennt er Warentausch, der soziale Abhängigkeiten schafft. In den Eklogen werden diese Formen der Zirkulation verbunden: Gebundene Sprache, ein Gedicht, ist gleichzeitig ein Geschenk (munus), das soziale Abhängigkeiten schafft. Zur Zirkulation speziell in den Eklogen vgl. Paul Alpers, „Theocritean Bucolic and Virgilian Pastoral“, in Arethusa 23 (1990), 19–47, hier 44: „The mutual responsiveness of Theocritean bucolic – exemplified in the opening of Idyll 1 and formalized in singing contests – become mutual representation.“

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Ekloge in ihrer Effektivität beurteilt. Mopsus berichtet, wie die gesamte Natur trauert, die Tiere die Nahrung verweigern und die Landschaft wie verlassen daliegt. Nach dieser Schilderung weist er die Adressaten der Verse in Imperativen an, einen Grabhügel zu errichten und das Grab mit einer Inschrift zu Ehren des Daphnis zu versehen. Spargite humum foliis, inducite fontibus umbras, pastores (mandat fieri sibi talia Daphnis) et tumulum facite, et tumulo superaddite carmen: „Daphnis ego in siluis hinc usque ad sidera notus formosi pecoris custos formosior ipse.“ 32 ‚Bestreut den Boden mit Blättern, spendet den Quellen Schatten, ihr Hirten (Daphnis befiehlt, dass dies für ihn geschehe), bildet einen Grabhügel und setzt auf den Grabhügel dieses Lied: „Ich bin Daphnis, in den Wäldern bekannt von hier bis zu den Sternen, Hüter von schönem Tier, selbst noch schöner.“‘

Die Anrede an die Hirten in Imperativen (spargite, inducite, facite, superaddite) schafft den Eindruck einer Kommunikationssituation, in der der Sprecher seine anwesenden Zuhörer direkt beauftragen kann. 33 Mopsus ist bereits inmitten der Dynamik aus Produktion und Rezeption verortet, indem er seinen Zuhörern, aber auch dem Leser, die Anweisungen des Daphnis weiter trägt. Diese Anweisung führt zu einer Inschrift, einer genuin schriftlichen Art von Dichtung. Eine Inschrift ist abhängig von dem Material, auf dem sie steht, gleichzeitig ist sie räumlich orientiert und ihre Aussage ist wiederholbar; allerdings nur, wenn ein Leser sie aktualisiert. Als erfolgversprechender im Hinblick auf das Ziel, das Andenken an Daphnis zu bewahren, beurteilt daher der zweite Sprecher Menalcas die Einführung einer rituellen Feier. Menalcas beschreibt, wie Daphnis die wieder belebte Landschaft zu seinen Füßen sieht, in der selbst der Wolf Frieden mit dem Schaf geschlossen hat. Diese Landschaft hallt wider von jubelndem Gesang über Daphnis. Die Apotheose des Daphnis soll in einem alljährlichen Ritual gefeiert werden. An seinem Altar werden Krüge mit Milch und Olivenöl aufgestellt und zu seinem Andenken wird eine Feier mit Sang und Tanz veranstaltet: Cantabunt mihi Damoetas et Lyctius Aegon; saltantis Satyros imitabitur Alphesiboeus. 34 ‚Für mich werden Damoetas und Aegon aus Kreta singen, Alphesiboeus wird die tanzenden Satyrn nachahmen.‘

Menalcas konstruiert das Ereignis zu Ehren des Daphnis als Ritual, in dem Fall als ein mündliches Ereignis, das durch einen formalen Ablauf und durch Wiederholbarkeit charakterisiert ist. Cantare ist das Verb, das die Handlung bezeichnet und das einen Gegensatz zu dicere oder canere aus der sechsten Ekloge liefert. Während die letztgenannten Verben den Vorgang meinen, mit Sprache ein Gedicht, ein carmen zu schaffen, bedeutet cantare, 32 Verg. ecl. 5,42–44. 33 Der Sprecher Mopsus ist aber nur der Vermittler der Anweisungen des Daphnis (mandat), den Boden

mit Blättern zu bestreuen und den Quellen Schatten zu spenden.

34 Verg. ecl. 5,72 f.

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etwas bereits Geschaffenes aufzuführen. 35 Die rituelle Handlung für Daphnis ist in ihrer Wiederholbarkeit durch das Verb cantare gekennzeichnet. Ihre Wirksamkeit ist durch die Landschaft angezeigt, die bei dem Beitrag von Mopsus noch still und trauernd dalag, während sie in der Passage des Menalcas singt (voces iactant, ecl. 5,62, carmina sonant, ecl. 5,63f.). Damit erfüllt sich die Voraussetzung zum Dichten: Die Landschaft beteiligt sich und steht in einem affektiven Verhältnis zu dem Dichter, in diesem Fall Daphnis. Die Landschaft und ihre Bewohner feiern Daphnis in einer Aufführung (imitari), die gegenüber der Inschrift in Übereinstimmung mit Mündlichkeit als dem Produktionsmedium der Eklogen als wirkungsvoller beurteilt wird. Gleichwohl wird diese Dichtung als schriftliche rezipiert, und hier kommt wieder dem Leser eine wichtige Rolle zu: Durch ihn wird die Ankündigung der rituellen Feier und die ursprüngliche erste Aufführung konserviert und wiederholt. Er belebt die Landschaft der Eklogen jedes Mal wieder neu im Prozess des Lesens 36 und vereinigt die zeitlich orientierte rituelle Praxis mit dem dauerhaften Raum, den das schriftliche Monument bietet. Diese Vereinigung ist am Ende der fünften Ekloge angelegt. Beide Sänger einigen sich darauf, dass keiner besser war, und beschenken sich gegenseitig. Hac te nos fragili donabimus ante cicuta: haec nos „Formosum Corydon ardebat Alexin“, haec eadem docuit „Cuium pecus? An Meliboei?“ 37 Formosum pastor Corydon ardebat Alexin. 38 Dic mihi, Damoeta, cuium pecus? An Meliboei? 39 ‚Vorher werde ich dir noch diese zerbrechliche Flöte aus Schierlingsstengeln schenken: Sie hat mich „Corydon entbrannte für den schönen Alexis“ und „Wem gehört das Vieh? Etwa Meliboeus?“ gelehrt.‘

Mopsus greift seine eigene Beschreibung der Dichtung als munus wieder auf. Er empfindet die Beiträge des Menalcas als Geschenke (dona), und bekommt von ihm die Flöte als Gegengeschenk. Die Verse, die die Flöte vermittelt hat, sind die Anfangsverse der zweiten und dritten Ekloge. Innerhalb der Landschaft der Ekloge zirkuliert diese Dichtung offenbar, vermittelt durch eine Flöte. Die Flöte ist der eigentliche Lehrer der Dichtung, sie bewahrt die Lieder auf, die der nachfolgende Dichter um- und weiterdichten kann. Sie repräsentiert somit symbolisch die Tradition, in der die einzelnen Sprecher stehen und die bis zur Erfindung der Flöte durch Pan zurückreicht. 40 Das Motiv der Flöte, speziell der Panflöte, bietet eine Reflexion auf die Imitationspraxis von Literatur und auf die Möglichkeiten des Dichters, sich von früherer Dichtung abzugrenzen und sie gleichzeitig nachzuahmen. Da 35 Vgl. Michèle Lowrie, Writing, 19 und Thomas Habinek, The World of Roman Song. From Ritualized

Speech to Social Order, Baltimore 2005, 66.

36 „Since a landscape cannot literally sing, reading is what makes it perform“: Michèle Lowrie, Writing, 37 38 39 40

149. Verg. ecl. 5,85–87. Verg. ecl. 2,1. Verg. ecl. 3,1. Verg. ecl. 2,31–39.

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die Eklogen als Gedichtbuch im Medium der Schriftlichkeit veröffentlicht worden sind, ist es dem Leser möglich, die Verbindungen zwischen der zweiten, dritten und fünften Ekloge zu knüpfen und die Flöte des Menalcas zum Klingen zu bringen.

2. Autorschaft in den Natalicia des Paulinus von Nola Die so genannten Carmina Natalicia 41 des Paulinus von Nola sind mehr als 400 Jahre nach den Eklogen Vergils in einer Zeit entstanden, die wir heute als ‚Spätantike‘ bezeichnen. 42 Die Besonderheiten spätantiker Literatur lassen sich schwerlich in wenigen Sätzen skizzieren, doch möchte ich auf zwei Faktoren hinweisen, die mir für ihr Verständnis unerlässlich scheinen: Erstens auf die Bedeutung des sich immer weiter ausbreitenden Christentums, durch das die spätantike Literaturproduktion neue Gegenstände (Heilige, Wundertaten), Anlässe (Predigt) oder Gattungen (Bibeldichtung) findet. Zweitens sei darauf hingewiesen, dass die spätantike christliche Literaturproduktion zugleich nicht ohne die so genannte ‚klassisch-pagane‘ Literatur gedacht werden kann. Spätantike Autoren sind an Texten von Vergil, Horaz oder Cicero ausgebildet. Die detaillierte Kenntnis dieser Texte, die auch im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. Schullektüre sind, nimmt Einfluss auf beispielsweise ihre Sprachwahl oder ihr Verständnis von Gattungen. Imitationen von und Allusionen auf diese Texte gelten als ein Qualitätsmerkmal, auch wenn man ihre heidnischen Inhalte entschieden zurückweist. Das uns heute paradox erscheinende Phänomen gleichzeitiger Aneignung von und Abgrenzung gegen pagane Literatur kann als ein Merkmal spätantiker literarischer Produktion gewertet werden. Auf Grundlage dieser Überlegungen lässt ein Vergleich von Gedichten des Vergil und des Paulinus von Nola aufschlussreiche Erkenntnisse über verschiedene und/oder ähnliche Verfahren des Umgangs mit ‚Autorschaft‘ in poetischen lateinischen Texten erwarten. Gegenstand der dreizehn tradierten Carmina Natalicia sind das Leben und die Wundertaten des Heiligen Felix. 43 ‚Geburtstagsgedichte‘ heißen sie, weil sie jährlich zum 41 Der Titel Carmina Natalicia ist aus einer Bezeichnung abgeleitet, die Paulinus selbst in einem Brief

benutzt. Vgl. Paul. Nol. epist. 28,6: uersibus natalicium. Im Folgenden sei die Kurzform Natalicia verwendet. Das erste Natalicium (carm. 12) wird auf das Jahr 395, das letzte vollständig tradierte (carm. 21) auf das Jahr 407 datiert. Dazwischen sind mit je einem Jahr Abstand die übrigen elf Gedichte einzuordnen. Weiterhin ist ein Natalicium (carm. 29) fragmentarisch überliefert, das auf 409 datiert wird. 42 Zur Problematik einer Epochenbezeichnung ‚Spätantike‘ vgl. Reinhart Herzog, „Epochenerlebnis ‚Revolution‘ und Epochenbewusstsein ‚Spätantike‘. Zur Genese einer historischen Epoche bei Chateaubriand“, in Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hgg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München 1987, 195–219 mit weiterführender Literatur. 43 Über den Heiligen Felix als der zentralen erzählten Figur der Gedichte wissen wir nur das, was in den Natalicia, besonders carm. 15 und 16, von ihm berichtet wird. Zur Praxis des Heiligenkults vgl. Peter Brown, The Cult of the Saints. Its Rise and Function in Latin Christianity, Chicago 1981, zu Felix besonders 53–57, 59–60, 63–64, 67.

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Todestag des Felix verfasst werden, der als seine Geburt im Himmelreich verstanden wird. 44 Auch wenn ihr Titel sie in die Nähe des antiken Geburtstagsgedichtes rückt, sind sie unter dem Begriff des Genethliakon nicht angemessen zu erfassen. Sie greifen zwar in Teilen Topoi auf, die Menander Rhetor 45 für die Rede zum Geburtstag empfiehlt (z.B. den Preis des Tages) und verwenden einzelne Motive aus römischen Geburtstagsgedichten, können aber besser beschrieben werden mit der Beobachtung, dass in ihnen Elemente verschiedener Gattungen (u.a. Hagiographie, Predigt, Bukolik, Epos) produktiv vermischt werden. 46 Während die ersten zwei Natalicia als persönliches Gebet eines ‚Ich‘ zu seinem Heiligen gestaltet sind, zeichnen sich die folgenden Gedichte durch Ereignishaftigkeit und Öffentlichkeit aus. Sie arbeiten mit der Vorstellung eines jährlich stattfindenden Festes zu Ehren des Heiligen, bei dem der Dichter sein Werk vor einem Publikum von Pilgern in Nola (Kampanien) am Grab des Felix selbst vorträgt. 47 Der Sprecher der Ersten Person Singular gibt sich anhand zahlreicher Reflexionen auf die Tätigkeit des Dichtens, autobiographischen Materials und einer Nennung seines Namens ‚Paulinus‘ als ihr Autor zu erkennen. 48 Dieses dichtende ‚Ich‘ ist in den Natalicia allgegenwärtig; es tritt in den narrativen Passagen der Gedichte zwar bisweilen in den Hintergrund, kann aber jederzeit lobend, tadelnd, anklagend, frohlockend, deutend oder kommentierend wieder hervortreten. 49 Seine Omnipräsenz erzeugt eine stilistische, formale und inhaltliche Kohärenz zwischen den einzelnen Felixgedichten.

44 Zum Verständnis des Todestages als Geburtstag vgl. z.B. Paul. Nol. carm. 14,1–4: uenit festa dies

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caelo, celeberrima terris, / natalem Felicis agens, qua corpore terris / occidit, et Christo superis est natus in astris / caelestem nanctus sine sanguine martyr honorem. Diese Vorstellung vom Tod als dies natalis im Himmel ist im spätantiken Märtyrerkult durchaus verbreitet. Vgl. Alfred Stuiber, RAC 9 (1976), 217–243, s.v. Geburtstag, besonders 230–233. Vgl. Men. Rhet. 412,3–413,3. Zur Gattungsdiskussion vgl. zuletzt Margit Kamptner, Paulinus von Nola carmen 18. Text, Einleitung und Kommentar, Wien 2005, 11–17 und Beate Surmann, Licht-Blick. Paulinus Nolanus, carmen 23. Edition, Übersetzung, Kommentar, Trier 2005, 18–33. Einen Überblick über den Felixkult und die Bedeutung Nolas als Ort für die Verehrung des Heiligen liefert Dennis Trout, Paulinus of Nola. Life, Letters, and Poems, Berkeley/Los Angeles/London 1999, 160–197. Material, das nach Aussage des Sprechers seinem eigenen Leben entnommen ist, lässt sich an zahlreichen Stellen der Natalicia finden. Konzentriert und in einen kausalen wie zeitlichen Zusammenhang gestellt tritt es in carm. 21,365–487 auf. Hier nennt der Sprecher zum einzigen Mal in den Natalicia seinen Namen. Vgl. carm. 21,288: cum patre Paulino. So bereits treffend beobachtet von Wolfgang Kirsch, Laudes Sanctorum. Geschichte der hagiographischen Versepik vom IV. bis X. Jahrhundert, Stuttgart 2004, 117.

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2.1 Autorisierung zum Dichten Der Dichter-Sprecher der Natalicia hat sich mit dem Leben und den Taten des Heiligen Felix ein religiöses, wenn man so möchte: göttliches Thema gewählt, was die Frage aufwirft, wodurch er als Mensch zum Dichten über Göttliches befähigt und berechtigt ist. Antwort auf diese Autorisierungsfrage bietet eine Passage aus dem 4. Natalicium: non ego Castalidas, uatum phantasmata, Musas nec surdum Aonia Phoebum de rupe ciebo; carminis incentor Christus mihi, munere Christi audeo peccator sanctum et caelestia fari. nec tibi difficile, omnipotens, mea soluere doctis ora modis […]; da uerbum de fonte tuo, tua non queo fari te sine; namque tui laus martyris et tua laus est. 50 ‚Ich werde nicht die Castalischen Musen, die Hirngespinste der Dichter, [anrufen] noch den tauben Phoebus von seinem Aonischen Felsen locken. Christus ist mir der Vorsänger meines Liedes, durch die Gabe Christi wage ich es als Sünder von seinem Heiligen und von himmlischen Dingen zu sprechen. Für dich, Allmächtiger, ist es nicht schwierig, meine Lippen zu lösen in gelehrten Weisen […]. Gib mir das Wort aus deinem Quell, ohne dich kann ich nicht über das sprechen, was deines ist; denn Lob auf deinen Märtyrer ist dein Lob.‘

Die Verse bieten eine Diskussion von konventionellen Autorisierungsvorstellungen. Die Musen und Apollon werden als traditionelle Inspirations- und damit Autorisierungsinstanzen von Dichtung rigoros zurückgewiesen und durch Christus als incentor carminis ersetzt. Bei der Untersuchung der Eklogen haben wir beobachtet, wie sich die Autorisierungsszene des Vergil für diejenige des Kallimachos öffnet und wie in ihrer Verarbeitung von Konvention ein Anspruch auf Originalität erhoben wird. Der Verweis auf die Musen und Phoebus Apollon in den Natalicia bedeutet ebenfalls eine Öffnung für die poetische Tradition, doch wird diese in den Text eingelassen, um sie polemisch ablehnen und gegen etwas anderes eintauschen zu können. Für eine Beschreibung der Musen und Apollons wählt Paulinus gezielt das ihnen üblicherweise in der römischen Dichtung zugeordnete Vokabular, kombiniert es dann aber mit negativen Attributen. 51 Mit der Bezeichnung des Apollon als surdus wird ihm genau die Fähigkeit abgesprochen, die ihn – wie in den

50 Paul. Nol. carm. 15,30–46. Alle lateinischen Zitate stammen aus der Ausgabe von Hartel 1894, neu

erschienen mit Erweiterungen von Kamptner, Sancti Pontii Meropii Paulini Nolani carmina, edidit Guilelmus de Hartel, editio altera supplementis aucta curante Margit Kamptner (CSEL 30), Wien 1999. Alle Übersetzungen aus dem Lateinischen stammen von mir (A. S.). 51 Vgl. beispielsweise Catull. 61,27–28: perge linquere Thespiae / rupis Aonios specus. Verg. ecl. 6,29: nec tantum Phoebo gaudet Parnasia rupes. Verg. georg. 3,11: Aonio rediens deducam uertice Musas. Verg. georg. 3,292–293: iuuat ire iugis, qua nulla priorum / ............. Castaliam molli deuertitur orbita cliuo. Castalio antro. Zur Verwendung von castalidus statt castalius vgl. Klaus Kohlwes, Ov. met. 3,14: ........... Christliche Dichtung und Stilistische Form bei Paulinus von Nola, Bonn 1979, 155. Die Musen und Apollon werden auch im berühmten carm. 10 an Ausonius als Instanzen der Inspiration und Autorisierung abgelehnt. Vgl. Paul. Nol. carm. 10,21–28.

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Eklogen des Vergil – eigentlich zum Gott der Musik und Dichtung machen soll. 52 Die Bezeichnung der Musen als uatum phantasmata stellt sie als Hirngespinste, die von den Dichtern zu ihren eigenen Zwecken produziert werden, dem Wahrheitsanspruch des Christentums gegenüber. 53 Während Paulinus also für sich selbst ‚echte‘ göttliche Inspiration beansprucht, unterstellt er den uates, dass sie ihre eigenen Inspirationsinstanzen erschaffen und dadurch die Richtung der Inspiration umkehren, was das Konzept unwirksam macht. Besonders deutlich tritt das Verfahren, eine Absage an pagane Vorstellungen von Inspiration durch sprachliche Bezugnahmen zu erteilen, in Vers 33 an die Textoberfläche, wo es die Gestalt eines Zitats annimmt. Ein kundiger Leser/Hörer wird auf den Beginn der Arat-Übersetzung des Avienus verwiesen, die Ende des 4. Jahrhunderts entstanden ist und einen hohen Bekanntheitsgrad bei zeitgenössischen Lesern besaß. 54 In ihr wird Jupiter als ‚Vorsänger‘ für die Dichtung angerufen: carminis incentor mihi Iuppiter. 55 Paulinus inkorporiert die fremde Rede in seine eigene, setzt jedoch Christus an die syntaktischgrammatische Stelle des höchsten paganen Gottes. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Jupiter von einem Christen wie Paulinus nicht als Gott anerkannt wird. 56 Für ihn muss Jupiter eine semantische Leerstelle im System der Inspiration bilden, die erst durch Christus sinnvoll ausgefüllt wird. Durch die Verarbeitung des Arat-Verses liefert Paulinus einen Kommentar zu dem fremden und seinem eigenen Text, der in den Punkten aussagekräftig wird, in denen diese sich unterscheiden. Das Konzept der göttlichen Zustimmung und Hilfe für Dichtung wird von ihm nicht grundsätzlich in Frage gestellt; nur in der Auseinandersetzung mit ihm wird ein Anspruch auf Originalität und Andersartigkeit formuliert, der sich hier im Unterschied zu den Eklogen Vergils ausdrücklich auf das Dargestellte bezieht. Dabei ist die Kenntnis der paganen Texte auf Seiten eines Lesers/Hörers die Voraussetzung, um diesen Anspruch zu verstehen und literaturgeschichtlich wirksam machen zu können.

52 Surdus mag ebenso eine Anspielung auf das Verstummen des Delphischen Orakels sein. Theodosius I.

hebt 391 alle Orakelstätten per Edikt auf.

53 Paulinus betont die Wahrhaftigkeit seiner Gedichte und begründet sie mit seinem Dienst für Christus,

der es ihm nicht erlaube, zu lügen. Vgl. carm. 20,28–30: non adficta canam, licet arte poematis utar. / historica narrabo fide sine fraude poetae; / absit enim famulo Christi mentita profari. 54 Vgl. Jacques Fontaine, „Les symbolismes de la cithare dans la poésie de Paulin de Nole“, in Willem den Boer [u.a.] (Hgg.), Romanitas et Christianitas […], studia J. H. Waszink […], Amsterdam 1973, 123–143, hier 138, Anm. 29. Avienus’ Übersetzung der Phaenomena ins Lateinische kann als ein Versuch gewertet werden, pagane Dichtung als Kulturgut zu bewahren und lebendig zu halten. 55 Avien. Arat. 1. Vgl. auch Avien. orb. terr. 896: incentore canam Phoebo. Incentor ist ein sehr seltenes Wort, das das erste Mal von Avienus an diesen beiden in einem engen thematischen Zusammenhang stehenden Stellen verwendet wird. Der erste Halbvers von Paul. Nol. carm. 15,32 muss daher als Imitation bewertet werden. Vgl. auch ThLL VII, 1, 874,8–66, s.v. incentor: 1. qui incinit; 2. i. q. incitator, stimulator. Die Übersetzung als ‚Vorsänger‘ soll beide Aspekte ausdrücken. 56 Jupiter stellt für Paulinus gleichsam ein Hirngespinst (phantasma) des uates Arat dar.

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Christus – später auch der Heilige Felix selbst 57 – ist als neue Inspirationsinstanz für eine neue Art der Dichtung konzipiert. Er soll die gelehrte Qualität der Gedichte (doctis modis) 58 und Paulinus’ Status als Dichter garantieren. Verdankt ein Werk seine Existenz göttlicher Eingebung, so ist es vom Verdacht der Bedeutungslosigkeit, Unvollkommenheit oder Unwahrheit befreit. Für den Dichter bedeutet Inspiration ein Kennzeichen seiner besonderen Position, gleichsam seiner Erwähltheit und produktiven Zusammenarbeit mit dem Göttlichen. Sie autorisiert ihn, trotz seiner eigenen Sündhaftigkeit als Mensch (peccator) über Göttliches zu sprechen. Als Künder göttlichen Wortes wird er zum Mittler zwischen Gott und den anderen Menschen. Damit beansprucht Paulinus für sich eine Stellung, die der des Heiligen selbst als Mittler zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre nachgebildet ist. 59 Im Unterschied zu den Eklogen ist die Autorisierung des Dichters hier nicht als Berufungsszene gestaltet. Paulinus bittet Christus von sich aus um Hilfe für einen Gegenstand, den er selbst gewählt hat. Dass er überhaupt zum Autor von Dichtung über einen Heiligen wird, ist durch sein besonderes Verhältnis zu diesem Heiligen begründet und religiös legitimiert. An verschiedenen Stellen der Natalicia gibt Paulinus an, Felix mehr verpflichtet zu sein als alle anderen Menschen. 60 Er bezeichnet ihn als pater, dominus und patronus, was nicht nur ein persönliches, sondern auch rechtliches Verhältnis zu ihm als Vormund und Schutzherr herstellt. 61 Dieses ist deutlich erkennbar nach dem Vorbild eines römischen Patronagesystems modelliert und ins Spirituelle umgedeutet. 62 In der autobiographischen Partie des 13. Natalicium konstruiert Paulinus seinen Lebenslauf von der Geburt bis zur Sprechgegenwart der Dichtung, den er ganz unter die Leitung 57 Vgl. z.B. carm. 21,672–673: da nunc mihi, Felix / a domino exorans uerbo mihi currere uerbum.

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29,2–4: ades, o diues mihi causa loquendi / Felix, et tacito mea corda inlabere flatu / spiritus ore meo curret tuus. Die Bitte um gelehrte Dichtung durch göttliche Inspiration scheint ungewöhnlich, da sie Vorstellungen vom inspirierten uates mit der des poeta doctus zusammenführt. Vgl. Helena Junod-Ammerbauer, „Le poète chrétien selon Paulin de Nole. L’adaptation des thèmes classiques dans les Natalicia“, in Revue des Études Augustiniennes 21 (1975), 13–54, hier 54. Zur Vermischung dieser Vorstellungen vgl. aber auch Hor. carm. 1,1,29–30: Me doctarum hederae praemia frontium / dis miscent superis […]. Zur Mittlerfunktion des Heiligen vgl. beispielsweise carm. 14,120–135. Felix soll bei Gott Fürsprache für seine Anhänger einlegen. Vgl. z.B. Paul. Nol. carm. 27,145: nemo obstrictior est me. Vgl. u.a. Paul. Nol. carm. 12,10 und 13,5: o pater, o domine. 18,5: magnum cari meritum cantare patroni. 20,11: sub Felice patrono. 20,17: patronus abundans. 20,278–279: ibo domum gaudens medico tutusque patrono / aeternum Felice mihi. 21,414–415: tu Felix semper felix mihi, ne miser essem, / perpetua pater et custos pietate fuisti. 27,147: iste dies tantum peperit sine fine patronum. Entsprechend bezeichnet Paulinus sich selbst als debitor, manicipium, famulus oder alumnus des Heiligen. Zum römischen Patronagesystem vgl. Richard Saller, Personal Patronage under the Early Empire, Cambridge 1982, besonders 1. Zur Darstellung des Felix als persönlicher Patron des Paulinus vgl. auch Peter Brown, Cult of the Saints, 53–56, Dennis Trout, Life, Letters, and Poems, 165–173 und Catherine Conybeare, Paulinus Noster. Self and Symbols in the Letters of Paulinus of Nola, Oxford 2000, 88–90.

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und den Schutz des von ihm verehrten Heiligen als seinem persönlichen patronus stellt. Das eigene Leben wird aus rückschauender Perspektive als Verkettung von Wohltaten des Felix gedeutet, die Paulinus zum christlichen Glauben und damit zur für ihn rechten, nämlich der asketischen Lebensweise führen. Durch diese Wohltaten seines Patrons sieht er sich diesem eng verbunden und zu besonderem Dank verpflichtet, den er mit seiner Dichtung leisten möchte: nunc ad te, uenerande parens, aeterne patrone, susceptor meus et Christo carissime Felix, gratificas uerso referam sermone loquellas. multa mihi uariis tribuisti munera donis; omnia, praesentis uitae rem spemque futurae quae pariunt, tibi me memini debere, cui me mancipium primis donauit Christus ab annis. 63 ‚Nun will ich dir, verehrter Vater, ewiger Patron, meinem Schützer und Christus überaus teuerem Felix, Worte des Dankes sagen in veränderter Rede 64 . Du hast mir zahlreiche Wohltaten in verschiedenen Gaben erwiesen; alles, den Besitz des gegenwärtigen Lebens und die Hoffnung auf ein künftiges, das sie verschaffen, weiß ich dir zu verdanken, dem Christus mich von ersten Jahren an als Sklaven gegeben hat.‘

Die persönliche Erfahrung von Wohltaten des Heiligen in seinem Leben und die Ausrichtung an ihm statten Paulinus mit Autorität in Bezug auf religiöse und ethische Fragen aus. Er wird mit Hilfe des Heiligen zum Exempel gelingender christlicher Lebensführung, die wiederum das zentrale Thema der Natalicia ist und für die er als Autor daher besonders geeignet, gleichsam prädestiniert erscheint. Seine Dichtung versteht Paulinus als munus, als ein Geschenk seiner Zunge an den Heiligen, zu dem er sich aufgrund der von seinem patronus an ihm erbrachten Leistungen verpflichtet sieht: […] famulae rata debeo munera linguae Felici libare meo, cui mente dicata in domino Christo sum deditus; hunc etiam oris obsequio celebrare per annua carmina sanctum fas mihi. 65 ‚Ich muss die verbürgten Gaben meiner dienenden Zunge meinem Felix weihen, dem mein Geist gewidmet ist und dem ich ergeben bin in Christus dem Herrn, diesen Heiligen auch im Gehorsam meines Mundes durch jährliche Lieder zu feiern, ist mir Pflicht.‘

Mit munus wählt Paulinus einen Begriff, mit dem er sowohl die Wohltaten des Felix in seinem Leben (multa mihi uariis tribuisti munera donis, carm. 21,347) als auch die von Christus verliehene Redegabe (munere Christi / audeo peccator sanctum et caelestia fari, carm. 15,32–33) bezeichnet. Im munus-Begriff, dessen performative Qualität wir in der Untersuchung der Eklogen bereits festgestellt haben, fallen das Handeln von Felix und 63 Paul. Nol. carm. 21,344–350. 64 uerso sermone bezieht sich auf den in Vers 344 stattfindenden Wechsel des Versmaßes von elegischen

Distichen zu daktylischen Hexametern.

65 Paul. Nol. carm. 16,10–14.

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Christus für Paulinus und das Dichten des Paulinus für Christus und Felix zusammen. Das Verhältnis von Dichter und göttlichen Instanzen ist folglich als ein Austausch von munera gestaltet, das dem Austausch von Wohltaten füreinander in einer Patronagebeziehung entspricht. Die Gedichte des Paulinus werden auf diese Weise als Gegenhandlungen, als Erfüllungen einer Pflicht gegenüber dem Göttlichen unverzichtbar gemacht und legitimiert. 66 Dichtung stellt daher eine Möglichkeit bereit, eine Verbindung zwischen Menschlichem und Göttlichem zu schaffen.

2.2 Der Dichter und sein soziales Umfeld Göttliche Inspiration und das exzeptionelle Verhältnis zum Heiligen heben Paulinus als Dichter aus der Gemeinschaft der Christen, vor denen er zu sprechen angibt, deutlich hervor. Als Autor besitzt er ein Mehr-Wissen, ist zur Deutung göttlicher Geschehnisse und ethischen Belehrung fähig. Er nimmt für sich in Anspruch, im Festakt des Felixtages als einziger für die Gemeinschaft der anwesenden Gläubigen zu Christus und dem Heiligen sprechen zu können. Er wird zum Anführer (princeps) der Gemeinschaft von Christen in Nola, eine Position, die er durch einen militärischen Vergleich konturiert: huius laetitiae princeps psallentibus ibo fratribus et socium ducam quasi signifer agmen. nam licet e uaria populi regione frequentes conparibus uotis hodie pia gaudia fundant, me tamen uberius decet atque insignius isto exultare die, quia nemo obstrictior est me debitor huic, cui priuato specialius astro ista dies tantum peperit sine fine patronum. 67 ‚Inmitten dieser Fröhlichkeit will ich als Anführer meinen singenden Brüdern vorangehen und wie ein Feldzeichenträger den gemeinsamen Zug anführen. Denn wenn auch große Mengen von Menschen aus verschiedenen Gegenden heute ihre fromme Freude mit gleichen Gelübden ausdrücken, ziemt es sich dennoch, dass ich an diesem Tag reichlicher und auffallender frohlocke, denn niemand ist als Schuldner ihm [huic = Felix] mehr verpflichtet als ich, dem dieser Tag auf ewig einen so bedeutenden Schützer bereitet hat – besonderer als jeder persönliche Stern.‘

Obwohl Paulinus seine Sonderstellung als Autor, als princeps psallentibus und signifer, ganz gezielt hervorhebt, versteht er sich – christlichen Vorstellungen entsprechend – nicht als völlig von der communio der Gläubigen losgelöst. Um seine Gedichte wirksam zu machen, behauptet er, die Mitarbeit seines Publikums zu benötigen. Er fordert die von ihm direkt angesprochenen Hörer seiner Dichtung an verschiedenen Stellen seiner Natalicia zum mitsingen, mitbeten oder klatschen, also zur aktiven Mitwirkung an seiner Dichtung auf: 66 Bemerkenswert ist, dass diese munera von Paulinus jährlich zum Todestag des Heiligen vollzogen

werden, was eine Assoziation zum römischen Trauerritus abruft, diese dann aber in die Vorstellung einer christlichen ‚Geburtstagsfeier‘ umwandelt. 67 Paul. Nol. carm. 27,140–147.

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concordate meis, precor, et conplaudite, fratres, carminibus castoque animos effundite luxu. 68 ‚Brüder, ich bitte euch, schließt euch meinen Liedern an und klatscht euren Beifall, ergießt eure Herzen mit frommer Ausgelassenheit.‘ magnificate deum mecum et sapienter honestis, unanimes pueri, psallite carminibus. 69 ‚Preist den Herrn mit mir, und singt ehrbare Lieder auf verständige Weise, ihr gleich gesinnten Knaben.‘ 70

Paulinus’ Selbst-Positionierung als Dichter ist als ein ständiges Wechselverhältnis von Separation von und Integration in die Gemeinschaft seiner Zuhörer gestaltet. Als göttlich autorisierter Autor, der in einem besonderen Verhältnis zum Heiligen steht, ist er der Gemeinschaft enthoben, doch bedarf er ihrer zugleich, um seine Dichtung wirksam zu machen und sich in einer Öffentlichkeit positionieren zu können. Die Aufforderung an ein Publikum zur Mitwirkung an den Gedichten bedeutet keinesfalls eine Infragestellung seiner exklusiven Position als Dichter, der für andere sprechen kann. Vielmehr stützt die Mitarbeit des Publikums an seiner Dichtung seinen Anspruch 68 Paul. Nol. carm. 18,8–9. 69 Paul. Nol. carm. 21,272–273. Diese Aufforderung zum gemeinsamen Singen verarbeitet typische

Formulierungen, wie sie in den Psalmen zum gemeinsamen Gotteslob zu finden sind. Damit belegt Paulinus, dass seine Aufforderung mit anerkannten christlichen Vorstellungen konform geht. Vgl. Ps 9,12: Psallite Domino qui habitat in Sion. Ps 29,4: Magnificate ............ dominum mecum et exaltemus nomen eius in id ipsum. Ps 46,7: Psallite Deo nostro, psallite; psallite Regi nostro, psallite. Vgl. auch Andrea Ruggero, „Carme 21: Nola crocevia dello spirito“, in Atti del Convengo XXXI cinquantenario della morte de S. Paolino di Nola (431–1981), Roma 1983, 183–212, hier 195. 70 Es ist nicht eindeutig geklärt, wer hier als pueri bezeichnet wird. Burnier nimmt an, dass Turcius und Pinianus, zwei nach Nola gereiste Christen, angesprochen werden. Vgl. Alexandre Burnier, „Mises en scène et mises en voix dans le 13e Natalicium de Paulin de Nole“, in Danielle van MalMaeder (Hg.), Jeux de voix. Énonciation, intertextualité et intentionnalité dans la littérature antique, Lausanne 2009, 369–384, hier 376. Auch in den Psalmen werden pueri zum gemeinsamen Singen aufgefordert. Vgl. Ps 113,1: laudate pueri Dominum / laudate nomen Domini und weiter Ps 134,1: ecce nunc benedicite Dominum, omnes serui Domini. Im biblischen Sprachgebrauch wird das lateinische Wort puer verwendet, um das Griechische paÿc zu übersetzen, das den ‚Knecht‘ Gottes bezeichnen kann. Da Paulinus in seinen Aufrufen zum gemeinsamen Singen die Psalmen verarbeitet, ist es sehr wahrscheinlich, dass er mit seiner Verwendung von puer genau diese Vorstellung vom ‚Knecht Gottes‘ aufgreift. Es ist daher anzunehmen, dass Paulinus in carm. 21,272–273 die vorher angesprochenen Gäste Turcius und Pinianus, an anderen Stellen alle Anhänger des Felix als Knechte des Herrn versteht. Auch wenn die Verarbeitung der Psalmen sehr nahe liegend ist, ist dennoch darauf hinzuweisen, dass möglicherweise auch Vorstellungen aus der römischen Tradition verarbeitet werden. Im carmen saeculare des Horaz werden Knaben und Mädchen als Akteure des Festgeschehens angeredet; sie sind Prozessionsteilnehmer im Festakt und bilden einen Chor. Es kann sein, dass den pueri in den Natalicia als Teilnehmern des Festgeschehens von Paulinus eine äquivalente Funktion zu der von Knaben und Mädchen im carmen saeculare zugesprochen wird. Vgl. Hor. carm. saec. 6–8: uirgines lectas puerosque castos dis […] dicere carmen. Vgl. dazu besonders Paul. Nol. carm. 14,108–110: ferte deo, pueri, laudem, pia soluite uota / et pariter castis date carmina festa choreis, / spargite flore solum, praetexite limina sertis.

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auf Autorität innerhalb der Gemeinschaft von Gläubigen. Dies wird besonders deutlich, wenn Paulinus im 13. Natalicium prominente Mitglieder der wohlhabenden und politisch einflussreichen römischen Aristokratie, die zum Christentum konvertiert sind, zum gemeinsamen Singen auffordert. 71 Sie werden, wie Burnier treffend formuliert, zu „co-énonciateurs“ 72 des Gedichts. Paulinus’ Bedeutung als Dichter und Sprecher des Natalicium wird durch die hohe politische, soziale und religiöse Stellung seiner Gäste als Mitwirkende an der Dichtung bestätigt und verbürgt. Durch ihre Teilhabe an seiner Dichtung kann er eine Teilhabe an ihrem Ansehen und Einfluss beanspruchen. Paulinus’ Autorschaft findet also in der gezielten Interaktion mit einer religiösen Öffentlichkeit statt. Diese öffentliche Dimension ist für die Natalicia unerlässlich, da erst sie eine zentrale Funktion der Gedichte umsetzen kann, nämlich die Aufforderung an eine Zuhörerschaft zum Leben als Christ, für die der Heilige Felix und der Dichter-Sprecher Paulinus mit ihren Biographien exemplarisch stehen.

2.3 Mündliches und schriftliches Dichten Diese Überlegungen zur Position des Dichters in einer Öffentlichkeit führen uns zu dem in den Natalicia verhandelten Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Wie bereits oben erwähnt, arbeiten die Gedichte mit der Vorstellung eines jährlich stattfindenden Festaktes zu Ehren des Heiligen Felix, bei dem der Dichter vor einem Publikum versammelter Pilger selbst spricht. 73 Durch Verben wie dicere, canere, psallere, (pro-)fari, loqui oder eloqui, mit denen er sein Tun bezeichnet, wird Mündlichkeit zum Produktionsmedium der Natalicia erklärt. 74 Diese ist gewählt, um Nähe zum Göttlichen und damit einen besonderen Zugang zu Erkenntnis im Augenblick der Artikulation von Dichtung zu 71 Vgl. Paul. Nol. carm. 21,272–343. Paulinus verwendet hier das Bild einer zehnsaitigen cithara, die

im harmonischen Zusammenspiel ein carmen hervorbringt. Vgl. Jacques Fontaine, Les symbolismes, passim. Die Aufforderung zum gemeinsamen Singen in carm. 21,272–273 mag sich ebenfalls an die Gäste richten. Bei diesen handelt es sich um Melania die Jüngere, die mit ihrem Mann Pinianus und ihrer Familie zum Felixfest nach Nola gereist ist. Zu prosopographischen Angaben und den Umständen des Besuchs in Nola vgl. Dennis Trout, Life, Letters, and Poems, 207–209 und Sigrid Mratschek, Der Briefwechsel des Paulinus von Nola. Kommunikation und soziale Kontakte zwischen christlichen Intellektuellen, Göttingen 2002, 567–570. Mratschek weist darauf hin, dass das Jahreseinkommen von Melania und Pinianus sie zu den reichsten Senatoren des Imperium zählen lässt. 72 Alexandre Burnier, Mises en scène, 377. 73 Ob die Gedichte tatsächlich vorgetragen wurden und wenn ja, vor welchem Publikum, wird in der Forschung mit verschiedenen Argumenten diskutiert. Weitgehend akzeptiert wird der Vorschlag von Kohlwes, die Natalicia als paraliturgische Vorträge vor einem exklusiven, gebildeten Publikum und nicht vor den von ihnen selbst benannten Pilgermassen bäuerlicher Herkunft zu verstehen. Vgl. Klaus Kohlwes, Christliche Dichtung, 183, 232, 250. Vgl. auch Christian Gnilka, „Züge der Mündlichkeit in spätlateinischer Dichtung“, in Gregor Vogt-Spira (Hg.), Strukturen der Mündlichkeit in der römischen Literatur, Tübingen 1990, 237–255, besonders 251–253 und Alexandre Burnier, Mises en scène, 369– 372. 74 Auch die Bezeichnung der Gedichte als munera linguae (carm. 18,44) trägt dazu bei.

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suggerieren. Der Rezeptionsvorgang der Gedichte ist dementsprechend als auditiv dargestellt: das angesprochene Publikum wird mehrfach zum Zuhören (z.B. aduertite aures; exaudite, carm. 18,62–64) 75 aufgefordert, und der oben erwähnte Appell zur Mitwirkung an der Dichtung zu Ehren des Heiligen zielt ebenfalls auf Mündlichkeit (z.B. magnificate; psallite). Fast jedes der 13 Natalicia beginnt mit seiner Situierung in einen konkreten Aufführungskontext durch Verweise auf den einmal im Jahr wiederkehrenden Geburtstag des Felix, Nennungen des anwesenden Hörerpublikums und die Herstellung einer freudigen Festtagsstimmung 76 : tandem igitur, reuoluta dies, mihi nascere, toto exoptata dies anno, quae dulcia festa et mea uota nouas, quae me sollemnia poscis munera natalem referens, quo milia gaudent innumeri populi, quo me specialia tangunt gaudia, quo famulae rata debeo munera linguae Felici libare meo, cui mente dicata in domino Christo sum deditus; hunc etiam oris obsequio celebrare per annua carmina sanctum fas mihi. 77 ‚Endlich also, wiedergekehrter Tag, wirst du mir geboren, ersehnter Tag im ganzen Jahr, der du die süßen Feste und meine Gelübde erneuerst, der du von mir die feierlichen Gaben forderst, den Geburtstag bringend, an dem sich Tausende eines unzählbaren Volkes freuen, an dem mich besondere Freuden berühren, an dem ich die verbürgten Gaben meiner dienenden Zunge meinem Felix weihen muss, dem mein Geist gewidmet ist und dem ich ergeben bin in Christus dem Herrn; diesen Heiligen auch im Gehorsam meines Mundes durch jährliche Lieder zu feiern, ist mir Pflicht.‘

Obwohl sich die Situation des Geburtstagsfestes als ein Ritual jedes Jahr wiederholt, ist die Dichtung in jedem Jahr neu und anders. Ereignishaftigkeit, Einmaligkeit, Öffentlichkeit, unmittelbare Kommunikation zwischen Sprecher und Hörern und der Vorgang des Sich-Zeigens vor einem Publikum konstruieren eine theatrale Grundsituation. 78 Diese 75 Vgl. auch Paul. Nol. carm. 18,211–216; 23,99–100: noua facta patroni / auscultate, precor. Die

Ohren als Organe der akustischen Wahrnehmung werden thematisiert in carm. 20,63–64: adponere uobis / prandia sollicitas caste sumenda per aures und carm. 27,241–242. Vom Rezipienten als Zuhörer (hier Nicetas) wird gesprochen in carm. 27,192–193: atque iterum sub eo canerem mea debita, Felix, / auditore tibi. 76 Kohlwes hat hierfür den viel zitierten Begriff der „Festtagseinstimmung“ geprägt. Vgl. Klaus Kohlwes, Christliche Dichtung, 133, 137, 182. 77 Paul. Nol. carm. 16,5–14. 78 Köpping argumentiert dafür, dass Feste (wie das zum Geburtstag des Heiligen) sich immer als kulturelle Aufführungen mit theatraler Dimension definieren lassen. Vgl. Klaus-Peter Köpping, „Fest“, in Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel 1997, 1048–1065. Zum Begriff des Theatralen vgl. Matthias Warstat, „Theatralität“, in Erika FischerLichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hgg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar 2005, 357–364, hier 358: „Wo immer etwas oder jemand bewusst exponiert oder angeschaut wird, erhält Kultur eine theatrale Dimension.“ Vgl. weiter 362: „Aufführungen sind Darbietungen von

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bedarf allerdings nicht nur einer zeitlichen, sondern auch einer räumlichen Dimension, um stattfinden zu können. Die Konstruktion eines Raums für die Dichtung als Aufführung geschieht über Verweise des Sprechers auf den Ort Nola und seine Bauten. Paulinus fordert sein Publikum auf, ihm zuzuhören und zugleich die verschiedenen Bauwerke, die zu Ehren des Heiligen errichtet worden sind, anzusehen. Im 9. Natalicium arbeitet er mit der Vorstellung, einen auswärtigen Gast, den Bischof Nicetas, während seines Vortrags durch Nola zu führen und ihm die verschiedenen Bauten zu zeigen: ergo ueni, pater, et socio mihi iungere passu, dum te circumagens operum per singula duco. ecce uides istam, qua ianua prima receptat, porticus obscuro fuerat prius obruta tecto; nunc eadem noua pigmentis et culmine creuit. 79 ‚Also komm, Vater [gemeint ist Nicetas], begleite mich im verbundenen Schritt, während ich dich durch die einzelnen Bauten herumführe. Hier siehst du die Tür, die uns als erste begrüßt, die Porticus war früher bedeckt mit einer dunklen Decke, jetzt ist sie gewachsen mit neuen Farben und einem neuen Dach.‘

Obwohl Ekphraseis zu den üblichen Verfahren schriftlicher Dichtung gehören, wird Visualisierung in Kombination mit Deixis (ecce, nunc) hier eingesetzt, um den Anschein der Ereignishaftigkeit und damit der Mündlichkeit zu stützen. Die Dichtung findet demzufolge scheinbar nur an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit, nämlich im Moment ihres Vortrags, ihrer mündlichen Artikulation, statt und wird dadurch unmittelbar und untrennbar an ihren Autor als ihren Sprecher gebunden. Aufgrund der in den Natalicia entwickelten theatralen Grundsituation verstehe ich diese exklusive Bindung der Dichtung an ihren Autor als eine Inszenierung eigener Autorschaft. Die Natalicia behaupten zwar, im Medium der Mündlichkeit produziert zu sein, liegen uns aber heute in schriftlicher Form vor, und das ist kein Zufall der Überlieferungsgeschichte. Der Dichter-Sprecher der Felixgedichte bezeichnet sie selbst an verschiedenen Stellen als libellus, als ein Büchlein von materieller Qualität, das in die Hand genommen und gelesen werden kann. 80 So verweist er auf die schriftliche Aufzeichnung seiner Gedichte, die ihnen Dauerhaftigkeit garantiert. Wie bei den Eklogen Vergils ist Schriftlichkeit das Medium, um eine mündliche Produktion von Dichtung aufzubewahren und haltbar zu machen. Aus den Briefen des Paulinus von Nola können wir ersehen, dass er selbst mindestens ein Natalicium an seinen Freund Sulpicius Severus nach Gallien zur Lektüre verschickt hat, was den üblichen Verfahren (spät-)antiker Textpublikation entspricht: 81 Körper und Stimme vor körperlich und stimmlich anwesenden Zuschauern.“ Beides trifft auf die Natalicia zu. 79 Paul. Nol. carm. 27,360–364. 80 Daneben nennt er sie liber oder charta. Vgl. Paul. Nol. carm. 16,17–18 und carm. 29,17–18. 81 Zur Frage nach der Publikation der Natalicia vgl. Sigrid Mratschek, „Einblicke in einen Postsack. Zur Struktur und Edition der ‚Natalicia‘ des Paulinus von Nola“, in ZPE 114 (1996), 165–172. Sie plädiert dafür, die Stelle als Beleg für die Übersendung eines einzigen Natalicium zu werten, doch

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Habes 82 ergo libellos a me duos, unum uersibus natalicium de mea sollemni ad dominaedium meum cantilena, cui corpore ac spiritu cotidie, lingua autem quotannis pensito dulcissimum uoluntariae seruitutis tributum […]. 83 ‚Hier hast du also zwei Büchlein von mir, eines mit den Versen der Geburtstagsgedichte von meinem feierlichen Gesang an meinen Herrn, dem ich täglich durch meinen Körper und Geist, jährlich aber durch meine Zunge den äußerst süßen Tribut meiner freiwilligen Knechtschaft zahle.‘

Dies lässt schließen, dass die Natalicia – unabhängig von der Frage, ob ihr Vortrag tatsächlich stattgefunden hat oder fingiert ist – immer auch für eine Leserschaft bestimmt waren. Dadurch geht die mündliche Aufführung, das Ereignis des Dichtens und der göttlichen Inspiration, als Textstrategie in die Schriftlichkeit als Medium der Aufbewahrung über und wird dort wiederholbar gemacht. Die im Mündlichen stattfindende Inszenierung eigener Autorschaft vor einem Publikum funktioniert als Textstrategie auch im Schriftlichen: Ein Leser wird gezielt in die Situation des Festtages, des Vortrages in Nola durch den DichterSprecher und damit den Moment der göttlich autorisierten Produktion von Dichtung versetzt. Autorschaft wird so zu einem Ereignis des Textes, das in jeder Lektüre aktualisiert werden und dadurch eine größere Öffentlichkeit erreichen kann. Paulinus zeigt als Dichter und Sprecher der Natalicia ein deutliches Bewusstsein für diese Fähigkeit seiner Dichtung, als Text dauerhaft wirksam zu sein. Dies wird besonders erkennbar, wenn er im 13. Natalicium der Nachbarstadt Albella für ihre Hilfe bei der Wasserversorgung mit der Aussicht dankt, sie in seinem Gedicht zu erwähnen: […] saltem carmine nostro obsequium nomenque tuum dum praedico signans, hoc pensabo tibi pretium mercedis honore, Felicis sancti scribaris ut addita semper laudibus et tanti memoreris alumna patroni. 84 ‚Wenigstens werde ich, während ich deinen Gehorsam und deinen Namen verkünde und benenne in meinem Gedicht, dir für die Ehre deines Verdienstes diesen Preis zahlen, dass du immer gemeinsam mit dem Lob des heiligen Felix geschrieben und als Zögling eines so bedeutenden Schutzherrn erinnert werden wirst.‘

So weist er selbst seiner Dichtung im Schriftlichen (scribaris) die Macht zu, Unsterblichkeit in der Wahrnehmung und Erinnerung eines Lesers zu erzeugen (semper; memoreris). 85 Überträgt man dies auf Paulinus’ Selbst-Darstellung als Dichter, kann man die

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ist der Versand weiterer Natalicia an Freunde deshalb nicht auszuschließen und gemessen an den gängigen Publikationspraktiken sogar sehr wahrscheinlich. Seit spätrepublikanischer Zeit bezeichnet habes die übliche Formel für den Versand bzw. den intendierten Empfang eines versendeten Buches oder Briefes. Vgl. OLD 780 s.v. habeo: there you have. Vgl. Cic. fam. 7, 3, 6; off . 3,121; Hier. epist. 58,6,2. Paul. Nol. epist. 28,6. Sancti Pontii Meropii Paulini Nolani epistulae, edidit Guilelmus de Hartel, editio altera supplementis aucta curante Margit Kamptner (CSEL 29), Wien 1999. Paul. Nol. carm. 21,789–793. Vgl. auch Alexandre Burnier, Mise en scène, 379.

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Natalicia als einen Versuch werten, die eigene Autorschaft durch Dichtung unsterblich zu machen und sie der Erinnerung nachfolgender Leser dauerhaft einzuschreiben.

3. Synkrisis Wir haben mit den Eklogen Vergils und den Natalicia des Paulinus von Nola zwei lateinische Gedichtsammlungen untersucht, die auf den ersten Blick sehr unterschiedlich scheinen. Mit unserer Frage nach der in ihnen anzutreffenden Verhandlung von ‚Autorschaft‘ konnten wir jedoch in den drei untersuchten Motiven – Autorisierung, soziales Umfeld, Medialität – einige Konvergenzpunkte 86 finden, die wir kurz zusammenfassen möchten. 1) Ansprüche auf literarische Urheberschaft und Originalität werden in den Eklogen und den Natalicia jeweils in unterschiedlicher Weise auf göttliche Instanzen zurückgeführt, die die Position eines Sprechers als Autor begründen und legitimieren. Während der Sprecher in der sechsten Ekloge Vergils sich durch die Darstellung einer Berufung durch Apollon zum Dichter autorisiert, verändert der Sprecher der Natalicia die konventionelle Autorisierung eines Dichters auf Ebene des Dargestellten und erklärt Christus zu seiner Inspirations- und damit Autorisierungsinstanz. Die Verarbeitung von Vorgängerliteratur spielt in den Autorisierungsszenen beider Gedichtsammlungen eine zentrale Rolle: Die Sprecher berufen sich jeweils auf die poetische Tradition und lassen sie durch Imitationen und Allusionen in ihre Texte ein, um einen Anspruch auf Urheberschaft und Originalität zu formulieren. In beiden Texten ist die genaue Kenntnis der verarbeiteten Vorgängerliteratur auf Seiten eines Rezipienten die Voraussetzung, um Dichtung als etwas Neues und damit Eigenes eines Autors erkennen zu können. 2) Die Einbindung von Dichtung in ein soziales Umfeld ist als ein Verfahren zu bewerten, mit dem die Sprecher der Gedichte ‚Autorschaft‘ öffentlich wahrnehmbar und somit potentiell wirkkräftig machen. Bei Vergil sind die Protagonisten bereits durch die dialogischen Sprechsituationen in ein soziales Umfeld integriert. Dieses soziale Miteinander der verschiedenen Sprecher wird ergänzt durch die Landschaft, die sich ebenfalls rezipierend und produzierend an Dichtung beteiligt. In den Natalicia konstituiert sich ‚Autorschaft‘ in der Interaktion des Sprechers mit einer angeredeten Zuhörerschaft von Christen in Nola. Als Dichter hebt sich Paulinus selbst aus der christlichen communio hervor, benötigt sie 86 Differenzen und Veränderungen in der Auseinandersetzung mit ‚Autorschaft‘, die keinesfalls margi-

nalisiert werden dürfen, sind vor allem durch den unterschiedlichen religiösen und damit kulturellen Kontext bedingt, in dem sich die beiden Gedichtsammlungen situieren. Vorstellungen des Christentums nehmen Einfluss auf Vorstellungen über ‚Autorschaft‘, wie die Bezeichnung Christi als Inspirationsinstanz oder die Einbettung von Dichtung in eine christliche Gemeinschaft von Anhängern eines Heiligen zeigt. Die poetischen Verfahren einer Auseinandersetzung mit ‚Autorschaft‘ können jedoch als ähnlich beschrieben werden.

Autorschaft in augusteischer und spätantiker Dichtung

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jedoch zugleich, um seine Autorität in einer Öffentlichkeit wirksam machen zu können. In beiden Fällen belegt dies die soziale Funktion von Dichtung; ‚Autorschaft‘ wird in den Eklogen und den Natalicia nicht ohne Rezipienten gedacht. Den Rezipienten – Lesern wie Hörern gleichermaßen – kommt eine wichtige Rolle zu, denn sie bilden den Kontext, in dem die selbstreflexiven Aussagen der Sprecher zu ihrer Autorschaft Gültigkeit erlangen können. 3) In Hinsicht auf mögliche Rezipienten hat das Medium der poetischen Kommunikation große Bedeutung für ‚Autorschaft‘ und wird in den von uns untersuchten Gedichtsammlungen zur Diskussion gestellt. Die Behauptung einer mündlichen Produktion von Dichtung wird in den Eklogen und den Natalicia genutzt, um Nähe zum Göttlichen sowie einen exklusiven Erkenntniszugang zu behaupten und so die eigene Berechtigung zum Dichten zu stützen. Das Medium der Schriftlichkeit, in dem die Gedichte aufbewahrt werden, verleiht dieser Berechtigung Dauerhaftigkeit: Im schriftlichen Text kann ‚Autorschaft‘ als ein Ereignis mit jeder Lektüre aktualisiert werden und somit neu stattfinden. Dadurch kann die in der Dichtung erzeugte und verhandelte ‚Autorschaft‘ eine besonders große Öffentlichkeit erreichen. Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass ‚Autorschaft‘ in den Eklogen und Natalicia nicht vorausgesetzt, sondern als ein Thema diskutiert wird. ‚Autorschaft‘ in den Eklogen und Natalicia ist als Interaktion von Dichtern und Rezipienten gedacht, die im Text unter anderem durch die selbstreflexive Diskussion der Medialität von Dichtung angelegt ist. Wir können festhalten, dass das Thema ‚Autorschaft‘ in den untersuchten Gedichten in ständigem Bezug zu und unter Vorwegnahme möglicher Interpretationsleistungen von Rezipienten verhandelt ist, denen dieses Thema durchdacht und herausgehoben präsentiert wird und die in die Diskussion des Themas aktiv miteinbezogen werden. Die Bedeutung des Textes ist vom Rezipienten aus gedacht und von der Möglichkeit, auf ihn zu wirken. Sie wird durch die kunstvolle Verarbeitung der literarischen Konvention hergestellt, wobei das Dargestellte ebenso bedeutungstragend ist wie die poetische Darstellung. Diese besondere Ausrichtung auf einen Rezipienten wollen wir mit dem Begriff der ‚Inszenierung‘ fassen, der einen Rezipientenbezug immer schon berücksichtigt. Der Umgang mit dem Thema ‚Autorschaft‘ in den Eklogen und Natalicia kann als eine Form der ‚Inszenierung‘ von ‚Autorschaft‘ in der Wahrnehmung eines Rezipienten beschrieben werden, insofern der Begriff der ‚Inszenierung‘ als Handlungsmodus das Konzept einer Aufführung beschreibt, in der etwas planvoll durch Akteure vor Zuschauern dargestellt wird. ‚Autorschaft‘ in den Eklogen und Natalicia können wir daher als eine sorgfältige Inszenierung beschreiben, die den Dichtern die Autorität verleiht, im öffentlichen Raum wirken zu können.

Christel Meier

Autorstile im Hochmittelalter?

1. Gewollte Anonymität und Autorstil – ein Gegensatz? (69) – 2. Aspekte der aktuellen Diskussion des Stilbegriffs – Stilformen und Autorfunktion. (72) – 3. Die Rezeption antiker Stillehren und die paradoxe Umkehrung ihrer Kategorien in der christlichen Stilästhetik (74): 3.1 sermo humilis für eine materia grandis (75); 3.2 obscuritas als stilistische Virtus gegenüber der perspicuitas (77); 3.3 Unangemessenheit in Aussagen über das Transzendente – adäquater als das aptum. (78) – 4. Drei Beispiele aus dem 12. Jahrhundert (79): 4.1 Änderung der Autorfunktion und des Stils innerhalb eines Epos (Alan von Lille) (79); 4.2 Konzeptueller Wechsel vom ‚falschen‘ zum ‚richtigen‘ Stil innerhalb des Gesamtwerkes (Rupert von Deutz) (81); 4.3 Experimenteller Wechsel des Autorstils nach verschiedenen Diskurstypen (Hildegard von Bingen). (83) – 5. Fazit: Autoren als Lehrer im öffentlichen Raum von Kirche und Reich (90): 5.1 Der Aufstieg des Menschen und die Umkehrung der Dekadenzgeschichte in der Utopie (90); 5.2 Schrifterklärung als Darstellung der Heilsgeschichte und vorgreifende Gottesschau (91); 5.3 Belehrung in Lebenssituationen – Heilsgeschichte und Kosmos – Restitution des Menschen in hymnischer Erhebung (91).

1. Gewollte Anonymität und Autorstil – ein Gegensatz? Der im Bild dargestellte Autor mit der Maske (Abb. 1) 1 ist ein Autor, der – wie die Bildunterschrift sagt – seine Anonymität wahren will. Das Bild ist keine Montage, sondern stammt aus einem Lexikon der Bücherkunde von Octave Uzanne, Paris 1896 – der Stil des Bildes bezeugt es. Was hier kurios erscheint und von spielerischer Qualität ist, kann andernorts ernst gemeint sein; denn eine Art Maske legt auch Hildegard von Bingen im 12. Jahrhundert an, wenn sie dem Erzbischof Arnold von Köln (zwischen 1150 und

1 Octave Uzanne, Dictionnaire Bibliophilosophique, Typologique, Iconophilesque, Bibliopégique et

Bibliotechnique, à L’Usage des Bibliognostes, des Bibliomanes, et des Bibliophilistins, Paris 1896; der Seite 20 gegenüber: der maskierte Autor mit Bildunterschrift: Un Auteur qui désire garder l’anonyme; vgl. Lexicon des Gesamten Buchwesens, Bd. 3, Leipzig 1937, 480.

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Abbildung 1: Octave Uzanne, Der maskierte Autor, in Dictionnaire, 1896

1156), der in den Jahren nach ihrer päpstlichen Anerkennung als visionäre Autorin um ein Exemplar ihrer Erstschrift Scivias bittet, antwortet: Nun aber, o Hirte deines Volkes, habe ich Armselige [ego paupercula] dir, wie du gebeten hast, die Schrift jener wahren Vision geschickt, die nichts von menschlicher Begabung und von meinem eigenen Willen enthält, sondern die das unerschöpf liche Licht in seiner Komposition und in denselben Worten sichtbar machen wollte, wie es ihm gefiel; denn auch selbst das, was ich dir jetzt schreibe, ist ja nicht aus meiner Begabung und auch nicht nach irgendeinem menschlichen Gutdünken (oder Urteil), sondern durch göttliche Offenbarung [Weisung, ostensio] verfasst. 2 2 Hildegardis Bingensis, Epistolarium. Pars Prima, hg. v. Lieven van Acker (Corpus Christianorum.

Continuatio Mediaevalis 91), Turnhout 1991, 32, Ep. 14: Nunc autem, o pastor populi tui, ego paupercula, sicut petisti, scripta ueracium uisionum istarum tibi misi, nihil humani ingenii et proprie uoluntatis mee continentia, sed que indeficiens lumen compositione sua et eisdem uerbis manifestare uoluit, quomodo sibi placuit, cum nec hoc ipsum quod tibi nunc scribo ingenio meo nec ullo humano arbitrio, sed superna ostensione compositum sit.

Autorstile im Hochmittelalter?

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Hildegard verbirgt sich hier gleichsam hinter einer Maske, oder umgekehrt: Sie ist die Maske des eigentlichen Sprechers, und sie erlangt gerade dadurch ihre Autorität. Sie bezieht sich auf Konzepte von Anonymität und Unfähigkeit des Autors, die die christliche Spätantike gegen den paganen Autor-Ruhm und schriftstellerisches Selbstbewusstsein entwickelt hatte 3 und die ihr Schutz bieten konnten in ihrem Wagnis der unerhörten neuen Autorschaftsprofilierung einer Kirchenlehrerin im 12. Jahrhundert. 4 Die Maske, die den Autor verbirgt, sei sie nun der Spätantike, dem Mittelalter, dem 19. Jahrhundert oder den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit dem totgesagten Autor zuzuordnen, 5 scheint im Kontrast zu stehen zu der Vorstellung von einem Autorstil, der doch wie das Porträt, die personale Physiognomie des Autors, wirken sollte. 6 Die These, die hier in Kürze an wenigen Beispielen entwickelt und erläutert werden soll, ist dagegen: Je mehr die besondere Profilierung von Autorschaft im Hochmittelalter geleugnet wird, desto deutlicher manifestiert sie sich. Soweit dabei Markierungen von Autorstil erkennbar werden, ist zu fragen, welche Funktionen solche paradoxen Markierungen haben. Welche Relevanz haben diese im Spannungsfeld von Literatur und Gesellschaft, Religion und Politik?

3 Sulpicius Severus, „Vita S. Martini“, in Ders., Libri qui supersunt, hg. v. Carolus Halm (Corpus

Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 1), Wien 1866, 106–137; Salvianus von Marseille, „Epistola IX ad Salonium episcopum. Timothei ad ecclesiam libri IV“, in Ders., Opera omnia, hg. v. F. Pauly (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 8), Wien 1883, 217–223, 224–316; Salvian erklärt die Gründe für sein ‚Pseudonym Timotheus‘. Vgl. Paul Klopsch, „Anonymität und Selbstnennung mittellateinischer Autoren“, in Mittellateinisches Jahrbuch 4 (1967) 9–25; Paul Gerhard Schmidt, „Perché tanti anonimi nel medioevo? Il problema della personalità dell’autore nella filologia mediolatina“, in Filologia Mediolatina 6/7 (1999/2000) 1–8; Christel Meier, „Autorschaft im 12. Jahrhundert. Persönliche Identität und Rollenkonstrukt“, in Peter von Moos (Hg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität in der vormodernen Gesellschaft, Köln/Weimar/Wien 2004, 207–266, hier 241–243. 4 Christel Meier, „Eriugena im Nonnenkloster? Überlegungen zum Verhältnis von Prophetentum und Werkgestalt in den figmenta prophetica Hildegards von Bingen“, in Frühmittelalterliche Studien 19 (1985) 466–497, Abb. 74–83; dies., „Von der ‚Privatoffenbarung‘ zur öffentlichen Lehrbefugnis. Legitimationsstufen des Prophetentums bei Rupert von Deutz, Hildegard von Bingen und Elisabeth von Schönau“, in Gert Melville/Peter von Moos (Hgg.), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, Köln/Weimar/Wien 1998, 97–123, hier 109–118; dies., „Prophetische Inauguration und kirchliches Amt. Zur Funktion informeller Autorisierungen in der mittelalterlichen Kirche“, in Gerd Althoff/Helene Basu (Hgg.), Rituale der Amtseinsetzung (im Druck). 5 So mit Roland Barthes, „La mort de l’auteur“, in Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, Paris 1994 [1 1968], 491–495; auch Fotis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Texte zur Theorie der Autorschaft (RUB 18058), Stuttgart 2000, 181–193. 6 Hans Ulrich Gumbrecht, „Stil“, in Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin/ New York 2003, 509–513; ders., „Ausdruck“, in Karlheinz Barck [u.a.] (Hgg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 2000, 416–431; Gottfried Kolde, „Stilebene“, in ebd. 513–515; Ralf Georg Czapla, „Stilistik“, in ebd. 515–518; Georg Michel (†), „Stilprinzip“, in ebd. 518–521. Vgl. auch Johannes Anderegg, Literaturwissenschaftliche Stiltheorie, Göttingen 1977.

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2. Aspekte der aktuellen Diskussion des Stilbegriffs – Stilformen und Autorfunktion In der aktuellen literaturwissenschaftlichen Diskussion ist die Verbindung von Autorschaft und Stil kein Thema mehr, sind doch Personalstile im Sinn der Originalität des 18. Jahrhunderts spätestens mit den Autorschaftstheorien von Roland Barthes und Michel Foucault nachhaltig diskreditiert. 7 Die Autorfunktion von Texten hat den zwingenden Konnex zum empirischen Autor eingebüßt. Stilforschung ist in den letzten Jahrzehnten eine Domäne der Linguistik geworden. Sie hat verschiedene Modelle entwickelt, Stile zu beschreiben mit Heraushebung etwa der deviatorischen und kontrastiven oder umgekehrt der konnotativen und kommunikativen sowie schließlich der sprachpragmatischen Merkmale. Die Modelle beruhen jeweils auf einer Selektion von Merkmalen, die gegenüber der normalsprachlichen Konvention auffallen. Der Artikel Stil im Handbuch der Rhetorik von Sowinski 2007 gibt dazu einen Überblick. 8 Für die Vormoderne ist mit diesen Ansätzen noch kaum gearbeitet worden; ihre Anwendung würde weitläufige Detailuntersuchungen erfordern. Die Kategorie ‚Stil‘ hat im übrigen in der Systemtheorie (bei Luhmann 1986) insofern einen hohen Stellenwert, als sie in der Kunst als autopoietischem sozialen System das Stimulans der Selbstreproduktion ist. 9 Gumbrecht hat diese Konzeption 2003 emphatisch als das „Programm für die historische Stilforschung der Zukunft“ bezeichnet, allerdings ohne weitere Präzisierung. 10 Dieser Ansatz scheint mir jedoch ganz dem modernen Kunstbetrieb angemessen, für vormoderne Epochen kaum anschlussfähig. Das lateinische Mittelalter hat in der Stilforschung wenig Beachtung gefunden außer als Vermittler antiker normativer ‚Stilistik‘ an die Frühe Neuzeit unter dem Aspekt der drei Genera dicendi, der Stilebenen von hohem, mittlerem und niederem Stil, die entweder nach dem verwendeten Schmuck als elokutionelle Variante der Stillehre oder im Hinblick auf die behandelten Gegenstände als materiale Variante begriffen wurden. 11 Wo die hierarchische Ordnung der Themen – wie seit den Vergil-Kommentaren des Donat und Servius – mit den drei vergilischen Werken, der Aeneis, den Georgica und den Bucolica, in Verbindung gebracht wurde, erhielt das materiale Verständnis in den hochmittelalterlichen Poetiken noch schärfere Konturen in der sog. Rota Vergilii als einer Ständeordnung der

7 Roland Barthes, „La mort“; Michel Foucault, „Qu’est-ce qu’un auteur?“, in Bulletin de la Société

Française de Philosophie 63/3 (1969) 73–95; Fortis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Texte, 194–229.

8 Bernhard Sowinski, „Stil“, in Handbuch der Rhetorik, Bd. 8, Tübingen 2007, 1393–1419, mit Lit. 9 Niklas Luhmann, „Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst“, in Hans Ulrich Gum-

brecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hgg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 633), Frankfurt a.M. 1986, 620–672. 10 Hans Ulrich Gumbrecht, „Stil“, 512. 11 Franz Quadlbauer, Die antike Theorie der genera dicendi im lateinischen Mittelalter (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte 241/2), Wien 1962. Der Artikel „Stil“ im Lexikon des Mittelalters ist kurz und nur auf die bildende Kunst ausgerichtet.

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Abbildung 2: Johannes von Garlandia, Parisiana Poetria: Die materiellen Stile in der sogenannten Rota Vergilii.

Stile von den handelnden Figuren bis herab in die verschiedenen Gegenstandsbereiche (Tiere, Bäume, Geräte usf.) (Abb. 2). 12 Neben dieser für die literarische Praxis wenig ergiebigen, eher sterilen normativen Stilistik in Lehrschriften stellte die Forschung nach praktischen Bedürfnissen geschaffene Spezialstilistiken für begrenzte Anwendungsbereiche fest, wie den Kurial- und Kanz-

12 Dazu Paul Klopsch, Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters, Darmstadt 1980,

110 f., 150–152, Abb. ebd. 151; Franz Quadlbauer, Die antike Theorie der genera dicendi, 113–125; Servius, Servii Grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii, hg. v. Georg Thilo/Hermann Hagen, 3 Bde., Leipzig 1881–1902, Bd. III 1: Servii … in Vergilii Bucolica et Georgica commentarii, hg. v. Georg Thilo, Leipzig 1887, 1 f.: Tres enim sunt characteres: humilis, medius, grandiloquus; quos omnes in hoc invenimus poeta. nam in Aeneide grandiloquum habet, in Georgicis medium, in Bucolicis humilem pro qualitate negotiorum et personarum; Johannes von Garlandia: Traugott Lawler (Hg.), The Parisiana Poetria of John of Garland, New Haven/London 1974. Wenn Johannes von Garlandia Stile als stilus Gregorianus, Tullianus, Hilarianus, Ysidorianus unterscheidet, so geht es um Klausel- und Rhythmusformen als Stilmerkmale, also nicht generell um Schreibstile; Franz Quadlbauer, Die antike Theorie der genera dicendi, 123. Quintilians Rhetorik ist im Mittelalter nur begrenzt bekannt; dazu A. Mollard, „L’imitation de Quintilian dans Guibert de Nogent“, in Le moyen âge 44 (1934) 81–87; Paul Lehmann, „Die Institutio oratoria des Quintilianus im Mittelalter“, in Ders., Erforschung des Mittelalters. Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze, Bd. 2, Stuttgart 1959, 1–28; James J. Murphy, Rhetorik in the Middle Ages. A History of Rhetorical Theory from Saint Augustin to the Renaissance, Berkeley/Los Angeles/London 1974, 123ff.

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leistil, Stilformen für Urkunden, Briefe nach der Ars dictandi, Juristensprache. 13 Ein Bild von interessanten Stilentwicklungen, von autorbezogenen Stilen, war so nicht zu gewinnen. Ist die Frage nach Autorstilen also obsolet? Oder lassen sich Ansätze einer historischen Stilforschung ausmachen, die für die gegenwärtige literaturwissenschaftliche Autordiskussion wie für historische Autorschafts- und Stilfragen neu und interessant sind?

3. Die Rezeption antiker Stillehren und die paradoxe Umkehrung ihrer Kategorien in der christlichen Stilästhetik Während die direkte Überlieferung antiker Stillehren, die zum Teil rudimentär ist, eher unspektakulär die Schulausbildung prägt und Grundzüge des Schreibens in den Grammatik-, Rhetorik- und Poetikschriften vermittelt, gibt es seit der Spätantike und durch das ganze Mittelalter auch die Auseinandersetzung mit dieser Tradition, die neue Lösungen provoziert. Diese sind besonders interessant. Auf sie hin ist die historische Stilforschung konsequent zu erweitern. Begründet sind sie in der Konkurrenzsituation mit der pagan-antiken Literatur und in einer aporetischen Haltung bei der Annäherung an die Transzendenz mittels Sprache. Eine gemäßigte Richtung der christlichen Spätantike entscheidet sich dafür, vor allem beim Epos sich der Konkurrenzsituation zu stellen, das heißt die antike stilistische Form des Genus sublime wird beibehalten, aber mit neuen Inhalten, der Christus- und Heiligengeschichte statt des Mythos, gefüllt, so dass mit dem Gestus der Überlegenheit Wahrheit gegen Lüge, göttliches Handeln gegen Menschentaten gestellt werden. 14 Radikalere Verfahren christlicher Autoren nehmen jedoch 13 Dazu Bernhard Sowinski, „Stil“, 1404f.; ferner Franz Josef Worstbrock [u.a.], Repertorium der Artes

dictandi des Mittelalters. Teil I: Von den Anfängen bis um 1200 (Münstersche Mittelalter-Schriften 66), München 1992, Reg. IV s.v. Stilarten, Stilhöhe, Stilistik, Stilkritik, Stilvorbilder, stilus Gallicus, stilus curiae Romanae; ferner Peter Michael Spangenberg, „Pragmatische Kontexte als Horizonte von Stilreflexionen im Mittelalter“, in Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hgg.), Stil, 68–92. 14 So zuerst ausführlich um 330 im Prolog des Evangelien-Epos begründet von Iuvencus, Evangeliorum libri IV (3211 Hexameter), hg. v. Johannes Huemer (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 24), Wien 1891; dazu Reinhard Herzog, Die Bibelepik der lateinischen Spätantike, München 1975, XLVff.; zur Praefatio mit der Legitimierung des christlichen Epos Peter Gysbert van der Nat, „Die Praefatio der Evangelienparaphrase des Juvencus“, in Ders./Walter den Boer (Hgg.), Romanitas et Christianitas. Festschrift H. Waszink, Amsterdam 1973, 249–257. Zu dieser Problematik vgl. auch Fidel Rädle, „Bete und dichte! Zum Autorbewusstsein im frühen Mittelalter“, in Romanische Zeitschrift für Literaturgeschichte 29 (2005) 147–161; zu Profilen von Autorschaft frühmittelalterlicher christlicher Dichter Beate Kellner, „Wort Gottes – Stimme des Menschen. Textstatus und Profile von Autorschaft in Otfrids von Weißenburg ‚Evangelienbuch‘ “, in Dies./Peter Strohschneider/Franziska Wenzel (Hgg.), Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter (Philologische Studien und Quellen 190), Berlin 2005, 139–162; Jörg Villwock, Die Sprache – ein

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grundsätzliche Umwertungen vor. Dabei werden drei Grundkategorien der antiken rhetorischen Stillehre in Frage gestellt und neu verhandelt: die Korrelation von Dignität des Stoffs und Stilhöhe, die Bewertung und Funktion von Dunkelheit (obscuritas) und Klarheit (perspicuitas) des Stils und die Adäquatheit (das aptum) in ganz umfassendem Sinn. Die Diskussion dieser Kategorien wird nicht in theoretischen Schulschriften, sondern vor allem in den Paratexten bestimmter Gattungen geführt, z.B. der Hagiographie, der Schriftexegese, der Visionsliteratur. In allen Fällen wird eine Inadäquatheit von Stoff und Autor oder Stoff und Rezipienten vorausgesetzt, und sie betrifft grundsätzlich auch die Autorfunktion des Textes.

3.1 sermo humilis für eine materia grandis Die antike Rhetorik und Poetik erwartete vom Autor, dass er seinen Stoff nach seinen Fähigkeiten wählte: ‚Nehmt, die ihr schreibt, einen Stoff, für den eure Kräfte genügen, und wägt lange ab, was eure Schultern verweigern, was sie zu tragen vermögen. Wer der gewählten Materie gewachsen ist, dem wird es weder an sprachlicher Kraft noch an klarer Ordnung fehlen‘, sagt Horaz: sumite materiam vestris, qui scribitis, aequam / viribus et versate diu, quid ferre recusent, / quid valeant umeri. cui lecta potenter erit res, / nec facundia deseret hunc nec lucidus ordo. 15

Darauf repliziert einer der Hagiographen um 1100, Wilhelm: „Ich allein weiß, was meine Schultern tragen können, was sie zu tragen verweigern“, das heißt, er kenne die schwachen und trägen Kräfte seiner Begabung [ingenioli mei], das Fehlen von Beredsamkeit und Wahrheit. 16

In dem Bewusstsein der Unfähigkeit und Überforderung des Autors durch eine wunderbare Materie, die menschliches Verstehen übersteigt, wird ein neuer Stil der Demut entwickelt, ein sermo humilis, wie ihn die Apostel, zuerst einfache Fischer, geschrieben hätten. 17 In diesem Bekenntnis zum sermo rusticus, plebeius, incultus, zum stilus impo‚Gespräch der Seele mit Gott‘. Zur Geschichte der abendländischen Gebets- und Offenbarungsrhetorik (Das Abendland. NF 24), Frankfurt a.M. 1996. 15 Horaz, Epistula ad Pisones (Ars poetica), V. 38f.; dazu Manfred Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, 103f.; vgl. auch Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960, §§ 1078–1082 zu elocutionis genera und aptum. 16 Willelmus, Vita S. Benedicti Abb. Clusenensis, hg. v. Johannes Mabillon (Acta Sanctorum Ordinis Sancti Benedicti 9), Venedig 2 1738, 697: Ego solus novi mei quid valeant humeri, quid ferre recusant. Novi certe vires ingenioli mei, tenues satis et pigras, cui utique parum sit eloquentiae atque minus sapientiae […]. Dazu Gerhard Strunk, Kunst und Glaube in der lateinischen Heiligenlegende (Medium Aevum 12), München 1970, 123; in der Regel ist es der Befehl eines geistlichen Oberen zum Schreiben, der die Demut überwinden hilft durch Gehorsam, ebd. 122 ff. 17 Diese Stilart wurde zuerst beschrieben von Erich Auerbach, „Sermo humilis“, in Ders., Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern 1958, 25–63.

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litus, zum Stammeln (balbutire), in dieser excusatio mit der paradoxen Wertigkeit von Stil und Materie wird eine asymmetrische Autorschaft modelliert, deren Autorität nicht aus Begabung und Beredsamkeit kommt, sondern aus der Demut, die zunächst die Redeweise, dann aber auch die gesamte persona des Redenden erfasst. 18 Der Hagiograph Adso (11. Jh.) sieht entsprechend den Grad der Selbstverleugnung und Demut als Maßstab für die göttliche Inspiration: ‚Wir werden wohl desto beredter sein, je weniger wir auf die eigene Fähigkeit vertrauen; denn je mehr jemand demütig sich in seiner Unwissenheit erniedrigt, desto mehr wird er innen durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes erhöht werden […].‘ 19

Mit solchen vielfach wiederholten und variierten Überlegungen zur Diskrepanz zwischen der Größe des Themas und der eigenen Schwäche wird ein neuer Begriff des angemessenen Stils entwickelt, dessen letzte Begründung eine Umkehrung der Maßstäbe ist, die in der humilitas Christi ihren Bezugspunkt hat. 20 Das Konzept dieses sermo humilis, das besonders in der Hagiographie als einer christlichen Heldenerzählung verwandt wurde, hat in der europäischen Literatur lange gewirkt, wenn auch daneben – viel seltener – die begründete Wahl des genus grande und seine Verteidigung vorkommt. 21 Im Mittelalter war es für folgende Situationen, Autoren und Stoffbereiche vor allem anwendbar: für Erneuerer der kirchlichen Traditionen, für schul18 Gerhard Strunk, Kunst und Glaube, 80ff.; 150ff.; z.B. sagt der Autor der Vita S. Austrebertae (Acta

Sanctorum Ordinis Sancti Benedicti 3), 24 (8. Jh.): Verum quia sapientia hujus mundi stultitia est apud Deum [1. Cor. 3,19], omissa omni excusationis nota, ad multorum profectum et ejus memoriale perpetuum conemur fideli et veraci stilo depromere […] Operae pretium est enim tam pretiosae Virginis gesta, inculto licet calamo, nec urbanitatis lepore conspicuo summatim perstringenda exsequi ac divina magnalia saltem balbutiendo effari; vgl. Strunk, Kunst und Glaube, 159. 19 Adso, Vita S. Basoli (Migne, Patrologia Latina 137), 643: Et fortasse eo facundiores erimus, quo propria virtute nil fidimus; quia quanto quis humiliter intra suam se deprimit ignorantiam, tanto sublevatur interius per Spiritum illuminantem […]; vgl. Gerhard Strunk, Kunst und Glaube, 126. 20 Zum Beispiel Otloh von St. Emmeram, „Vita S. Bonifatii“, in Vitae S. Bonifatii, hg. v. Wilhelm Levison (Scriptores rerum Germanicarum, in usum scholarum separatim editi), Hannover 1905, 112: Quid enim nobis infimis, qui ‚Spectaculum facti sumus mundo‘ [1. Cor. 4,9], nodosa et perplexa oratio? Habeant amatores sapientiae secularis Tullium; nos imperiti et ignobiles, despecti et contemptibiles sequamur Christum, qui non philosophos, sed piscatores elegit discipulos; dazu Gerhard Strunk, Kunst und Glaube, 160ff.; ferner Friedrich Ohly, „Wolframs Gebet an den heiligen Geist im Eingang des Willehalm“, in Heinz Rupp (Hg.), Wolfram von Eschenbach (Wege der Forschung 57), Darmstadt 1966, 455–518; Eckart Conrad Lutz, Rhetorica divina. Mittelhochdeutsche Prologgebete und die rhetorische Kultur des Mittelalters (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 82 [206]), Berlin/New York 1984. 21 Zum Beispiel Vita S. Udalrici monachi Cluniacensis (Acta Sanctorum Ordinis Sancti Benedicti 9), 777 (12. Jh.): Qui sanctorum gesta nudo et imperito sermone scribere praesumpserit, non solum diserti lectoris mentem impolluta locutione offendit, sed et gloriam Electorum Dei apud humanam opinionem quodam modo imminuit. Quanto enim excellentiori verborum ornatu sanctorum merita per scriptorum facundiam pronuntiantur, tanto siquidem avidius audientium audita creduntur, credita venerantur, venerata ad piae imitationis usum ab auditoribus suis assumuntur; ähnlich im Urteil schon Isidor von Sevilla, Etymologiae, II 17; vgl. Gerhard Strunk, Kunst und Glaube, 148.

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fern ausgebildete Autoren, besonders Autorinnen, und für heilige und wunderbare Stoffe, die, rhetorisch gesprochen, dem genus admirabile zuzuordnen waren und besonderer Rechtfertigungen und vorsichtiger Einführungen (insinuationes) bedurften.

3.2 obscuritas als stilistische Virtus gegenüber der perspicuitas Eine andere rhetorische Grundregel der Antike, die Ablehnung von Dunkelheit des Stils, obscuritas, als Katachrese der eigentlich geforderten sprachlichen Klarheit (perspicuitas) erfährt ebenfalls eine Umwertung. 22 Sie kann als Tugend (virtus) statt als Fehler (vitium) verstanden werden, wo Sinntiefe und Dunkelheit, wie in der Bibel, besonders etwa in den prophetischen Büchern, in den Psalmen und der Apokalypse, gegeben sind und vom Leser als besonderer Anspruch an das Interpretationsvermögen und die Bereitschaft zur eigenen geistigen Mitarbeit akzeptiert werden. Diese Qualität der dunklen Redeweise, die Quintilian eher ironisch lobt, 23 ist für die Bibelerklärung das Faktum, mit dem der Exeget fertig werden muss. Augustin setzt sich im zweiten Buch von De doctrina Christiana mit dem dunklen Stil der Bibel dadurch auseinander, dass er nicht nur Regeln und Anweisungen zum besseren Verständnis, sondern auch positive Begründungen gibt für die obscuritas: Die Schwierigkeit des inspirierten Bibeltexts soll den menschlichen Hochmut dämpfen, vor der Langeweile des leicht Verständlichen und seiner Geringschätzung bewahren, 24 Ansporn und Freude für die Erkenntnis sein. 25 Da die Bibel nach dem Willen des Heiligen Geistes sowohl Passagen des klaren als auch des dunklen Stils enthalte, die sich gegenseitig erklären, könne aus der Kohärenz des Textes eine hermeneutische Regel der Interpretation abgeleitet werden. 26 Dieser Regel folgt die Bibelexegese für viele Jahrhunderte.

22 Heinrich Lausberg, Handbuch, §§ 528–537, 1067–1070. 23 Quintilian, Institutio oratoria, VIII 2, zur perspicuitas und dem entsprechenden vitium der obscu-

ritas, bes. VIII 2,21 zu Ausdrücken mit verborgenem Sinn: ingeniosa haec et fortia et ex ancipiti diserta creduntur, pervasitque iam multos ista persuasio, ut id iam demum eleganter atque exquisite dictum putent, quod interpretandum sit. sed auditoribus etiam nonnullis grata sunt haec, quae cum intellexerunt, acumine suo delectantur et gaudent, non quasi audierint, sed quasi invenerint. 24 Augustin, De doctrina Christiana, hg. v. Joseph Martin (Corpus Christianorum. Series Latina 32), Turnhout 1962, 35, II 6,7: Sed multis et multiplicibus obscuritatibus et ambiguitatibus accipiuntur, qui temere legunt, aliud pro alio sentientes, quibusdam autem locis, quid uel falso suspicentur, non inueniunt: ita obscure dicta quaedam densissimam caliginem obdocunt. Quod totum prouisum esse diuinitas non dubito ad edomandam labore superbiam et intellectum a fastidio reuocandum. 25 Ebd. 36, II 6,8: Nunc tamen nemo ambigit et per similitudines libentius quaeque cognosci et cum aliqua difficultate quaesita multo gratius inueniri. 26 Ebd.: Magnifice igitur et salubriter spiritus sanctus ita scripturas sanctas modificauit, ut locis apertioribus fami occurreret, obscurioribus autem fastidia detergeret. Nihil enim fere de illis obscuritatibus eruitur, quod non planissime dictum alibi reperiatur. Vgl. auch ebd. 41, II 9,14.

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3.3 Unangemessenheit in Aussagen über das Transzendente – adäquater als das aptum Eine weitere Grundregel für den Stil in der antiken Rhetorik und Poetik, die darstellerische Angemessenheit (das aptum) im weiteren Sinn, nach der Stil und Gegenstand einerseits, Stil und Autor andererseits korrelieren müssen, wird in der christlichen Ästhetik dann unsicher, wenn die Beschaffenheit der Materie das aptum, den angemessenen Stil, von vornherein ausschließt und das Darstellungsvermögen des Autors dem Wunderbaren des Stoffs nicht gewachsen ist. In der Konsequenz kommt es hier auf der Ebene der Komposition und zum Beispiel der Beschreibungs- und Vergleichstechnik zu gewollten Inkongruenzen, zur Kombination von Disparatem, zu inhomogenen Mischungen. Mit dem Bild eines Monstrum hatte Horaz seine Poetik begonnen, die in besonderem Maß die Stilqualität der Angemessenheit vertritt und die auf die Prinzipien des Natürlichen, Wahrscheinlichen, Harmonisch-Einheitlichen, eben auf das aptum setzt. Das Monstrum ist von alledem das Gegenteil und darum, wie Horaz sagt, lächerlich, stümperhaft. 27 Ganz anders bewertet die neuplatonisch-christliche negative Theologie das Monströse, Unpassende. Es ist hier die adäquate Darstellungsweise des Göttlichen, da dieses durch Ähnlichkeit (similitudo) nicht oder nur missverständlich dargestellt werden könne. Nicht die positive Approximation der Darstellungsweise, nicht die Affirmation also, sondern das Gegenteil, die möglichst weit getriebene Unähnlichkeit vermittelt die wahrere Erkenntnis des Wunderbaren, Himmlischen, Göttlichen. Das Unnatürlich-Hässliche, das Unpassende wird so ganz entgegen einer klassischen Poetik und Stillehre des Schönen bei Ps.-Dionys und Eriugena zum vorzüglichen Signum des Numinosen. 28 Dieser theoretisch-poetologische Ansatz wirkt sich bei diesen Autoren auch praktisch unmittelbar auf den Stil aus, aber nicht nur bei ihnen. Die Umwertungen in den Grundkategorien der antiken Stillehre bewirkten insgesamt eine Flexibilisierung und Vervielfältigung der stilistischen Möglichkeiten in der Literaturproduktion und damit einen Zuwachs an Autorfunktionen und Autorschaftskonzepten.

27 Horaz, Epistula ad Pisones (Ars poetica), V. 1 ff.; dazu Manfred Fuhrmann, Antike Dichtungstheorie,

103f.; das Mischwesen aus Mensch, Pferd, Vogel, Fisch reizt zum Lachen, entspricht nicht den geforderten ästhetischen Qualitäten, ist absurd. 28 Dazu Christel Meier, „Ut rebus apta sint verba. Überlegungen zu einer Poetik des Wunderbaren im Mittelalter“, in Dietrich Schmidtke (Hg.), Das Wunderbare in der mittelalterlichen Literatur (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 606), Göppingen 1994, 37–83, hier bes. 45 ff. mit Erläuterung der einschlägigen Textstellen aus Johannes Scottus Eriugena, Expositiones in Ierarchiam coelestem, hg. v. Jeanne Barbet (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 31), Turnhout 1975.

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4. Drei Beispiele aus dem 12. Jahrhundert 4.1 Änderung der Autorfunktion und des Stils innerhalb eines Epos (Alan von Lille) Die Interdependenz von Autorkonzept und Stil soll nun an drei besonderen Beispielen erörtert werden: an Texten aus Alan von Lille, Rupert von Deutz und Hildegard von Bingen. Alan von Lille schreibt ein allegorisches Epos, den Anticlaudianus, in dem er die Schaffung eines neuen Menschen nach dem kühnen Plan der Natur darstellt; durch diesen wird schließlich in einer utopischen Vision die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters auf der Erde erreicht. 29 Da der neue Mensch nicht nur körperliche Vollkommenheit von Natura, sondern auch eine Seele von Gott braucht, wird diese von Prudentia (oder Phronesis, dem höchsten Erkenntnisvermögen des Menschen) auf einer Himmelsreise zum Palast Gottes vom Schöpfer erbeten. 30 Die Dichtung markiert sehr genau den Punkt des Übertritts der Reisenden von der natürlichen zur rein geistigen Welt: Es findet an diesem Punkt mitten in der Dichtung ein ‚Autorwechsel‘ statt, was angesichts der hermetischen Wunder und Paradoxien (mirabilia, novitas rerum) des überhimmlischen Orts, wie Alan platonisierend sagt, 31 notwendig ist. Der poeta, in der Autorfunktion des antiken Ependichters, resigniert, um dem propheta sein Amt zu überlassen; damit verändert Alan die Autorfunktion innerhalb der Dichtung entscheidend. Er erklärt dies in der Ich-Rede des Erzähler-Autors, um den Wechsel wirkungsvoll zu inszenieren: Hactenus insonuit tenui mea Musa susurro, Hactenus in fragili lusit mea pagina uersu, Phebea resonante cheli; sed parua resignans, Maiorem nunc tendo liram totumque poetam Deponens, usurpo michi noua uerba prophete. Celesti Muse terrenus cedet Apollo, Musa Ioui uerbisque poli parencia cedent Verba soli, tellusque locum concedet Olympo. Carminis huius ero calamus, non scriba vel actor. 32 ‚Bis hierher spielte meine Saite in feinem Vers / beim Klang der phöbischen Laute, aber, das Kleine hinter mir lassend, / greife ich jetzt zur größeren Leier, lege den Dichter ganz ab / und bemächtige mich der neuen Worte des Propheten. / Der himmlischen Muse wird der irdische Apoll weichen, / Die [irdische] Muse dem [himmlischen] Zeus, den Worten des Himmels werden die Worte der Erde

29 Alan von Lille, Anticlaudianus, hg. v. Robert Bossuat (Textes Philosophiques du Moyen Age 1),

Paris 1955; dazu Peter Ochsenbein, Studien zum Anticlaudianus des Alanus ab Insulis (Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Literatur und Germanistik 114), Bern/Frankfurt a.M. 1975. 30 Dazu Christel Meier, „Phronesis (prudentia) als Erkenntnisvermögen in Dichtung und Philosophie des Hochmittelalters“, in Gyburg Radke-Uhlmann (Hg.), Phronesis. Die Tugend der Geisteswissenschaften (im Druck). 31 Alan, Anticlaudianus, 124ff., 132 ff., 141ff. 32 Ebd. 131, V 265 ff.

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Christel Meier gehorsam weichen und die Erde wird dem Olymp Raum geben. / Dieses Liedes Schreibrohr werde ich sein, nicht mehr Schreiber oder Autor‘.

Mit variierender Wiederholung in mythischer Einkleidung akzentuiert Alan in diesem Paratext mitten im Werk den Wechsel der Autorinstanz eindrucksvoll. Der Autor als propheta schreibt nicht mehr mit eigener Autorkompetenz und Autorität, wie sie der irdisch-antiken Muse zugeschrieben wird, sondern er wird zum Werkzeug einer höheren Instanz (auctoritas). Er ist Griffel statt Schreiber oder Autor, das tönende Erz, die Flöte, das Blatt, das beschrieben wird, der Meißel des Bildhauers, das irdene Gefäß, aus dem Honig fließt, oder ganz bibelexegetisch repräsentiert er die Dornen, auf denen die Rose erblüht. 33 Alan wechselt so von einem Autordiskurs in den anderen, markiert damit selbst die Konstruktivität der Autorfunktionen. Um auch den neuen Stil des Propheten zu demonstrieren, lässt er ein Dichtergebet folgen, das ganz der neuplatonisch-pseudo-dionysischen Tradition verpflichtet ist und so die größere Leier, den neuen gehobenen Ton exemplarisch erklingen lässt. Das hymnische Gebet beginnt – entsprechend dem Traktat des Pseudo-Dionys zu den göttlichen Namen 34 – mit einer Fülle von feierlichen Namensnennungen Gottes, 23 Epiklesen verschiedener Art, das heißt, Gott entzieht sich jeder konkreten eindeutigen sprachlichen Benennung: Summe parens, eterne Deus uiuensque potestas, Unica forma boni, recti uia, limes honesti, Fons ueri, sol iustitiae, pietatis asylum, Principium finisque, modus, mensura, sigillum, Rerum causa, manens racio, noys alma, sophya Vera, dies uerus, lux nescia noctis, origo Summa, decor mundi perfectus, uita perhennis. 35

Dann folgen Prädikationen im Partizipialstil und mit Relativsätzen; alle Aussagen sind in neuplatonischer Symbolik gehalten. Schließlich folgen die Bitten um Erleuchtung, Inspiration, Befeuchtung, Reinigung und um Hilfe für die Vollendung des Werks. 36 Danach werden aus der Perspektive der Prudentia die Wunder des Himmels geschildert, immer wieder in paradoxer Ausdrucksweise und mit der Versicherung, dass dies nur behelfsmäßig auszudrücken und kaum zu begreifen sei. 37 Es ist die Sprache des Erhabenen, die zugleich ihre Aporien ständig eingesteht und reflektiert. 33 Ebd. V 274ff.: […] Es resonans, reticens scriptoris carta, canentis / Fistula, sculptoris scalprum

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uel musa loquentis, / Spina rosam gestans, calamus noua mella propinans, / Nox aliunde nitens, lu[c]teum uas, nectare manans. Pseudo-Dionysius Areopagites, De divinis nominibus, latein. Übers. v. Johannes Scottus Eriugena (Migne, Patrologia Latina 122), Paris 1853, 1111–1172. Alan, Anticlaudianus, 131f., V 278ff. Ebd. 132, V 297ff.: Tu mihi preradia diuina luce meamque / Plenius irrorans diuino nectare mentem […] / Tu repara calamum, purga rubidine linguam, / Da bleso tua uerba loqui mutoque loquelam / Prebe […]. Ebd. 132 ff.

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4.2 Konzeptueller Wechsel vom ‚falschen‘ zum ‚richtigen‘ Stil innerhalb des Gesamtwerks (Rupert von Deutz) Wenige Jahre vor seinem Tod beschreibt Rupert von Deutz ca. 1125 in einer exegetischen Schrift, dem Matthäus-Kommentar, seine Berufung und Autorisierung zum Bibelexegeten, der sich seiner Innovationskraft durchaus bewusst ist und der – das ist der Anlass dieser Selbstdarstellung – sich wegen Ketzereiverdachts und Bestrebungen eines Lehrverbots gegen ihn verteidigt. 38 Auf dem ersten Höhepunkt dieser Autorisierungsgeschichte, nach einer Vision, die seine außerordentliche Inspiration, eine Geisteingießung, zeigt, schildert Rupert dem Freund, seinem Förderer Kuno von Raitenbuch, Bischof in Regensburg, welche Folgen diese befruchtende Inspiration für sein Werk hatte, welchen Anfang er beim Schreiben suchte und wie sich seine Autorschaft danach wandelte. Er sagt: ‚Welchen Anfang ich gemacht habe, welche Redeweise ich zunächst nach jener Eingießung des Stroms, die ich gerade beschrieben habe, herausbrachte, indem ich ein Buch mit Hymnen zum Lob des Heiligen Geistes schrieb, will ich nicht übergehen.‘ 39

Es folgt eine Probe daraus, ein sapphisches Lied in fünf Strophen; die erste und vierte Strophe lauten: Flumini magno sitientibus quod Petra deserti crucifixa fudit Gratias Christi quia ciuitatem Laetificauit. Tu modo mentem rege pneuma sanctum, De tuo reple cor et os apertum, Qui iubes festum dare tympanum, uel Sumere psalmum. 40

‚Dem großen Strom, den für die Dürstenden der gekreuzigte Wüstenfels ausgegossen hat, sei Dank gesagt, weil er der Stadt Christi Freude gebracht hat.‘ Ganz knapp ist die Anspielung auf drei Fakten der Heilsgeschichte, die typologisch verbunden sind: Moses 38 Rupert von Deutz, De gloria et honore filii hominis super Mattheum, hg. v. Hrabanus Haacke (Corpus

Christianorum, Continuatio Mediaevalis 29), Turnhout 1979, 363–396; dazu Christel Meier, „Ruperts von Deutz literarische Sendung. Der Durchbruch eines neuen Autorbewusstseins im 12. Jahrhundert“, in Wolfgang Haubrichs/Eckart C. Lutz/Gisela Vollmann-Profe (Hgg.), Aspekte des 12. Jahrhunderts (Wolfram-Studien 16), Berlin 2000, 29–52 (mit Lit.); dies., „Ruperts von Deutz Befreiung von den Vätern. Schrifthermeneutik zwischen Autoritäten und intellektueller Kreativität“, in Recherches de Théologie et Philosophie médiévales 73 (2006) 257–289; allgemein zu Rupert und seinem Werk John H. van Engen, Rupert of Deutz, Berkeley/Los Angeles/London 1983. 39 Rupert von Deutz, Super Mattheum, 380: Iam quale initium fecerim, qualem uocem primam ediderim post illam, quam praescripsi, inundationem fluminis, scribendo libellum hymnorum in laudibus Spiritus sancti, non praeteribo. Übersetzt ist das zwölfte Buch des Matthäus-Kommentars von Walter Berschin, Os meum aperui. Die Autobiographie Ruperts von Deutz, Köln/Heidelberg 1985, hier 35f. – Im Folgenden jedoch übers. v. C. M. 40 Rupert von Deutz, Super Mattheum, 380f.

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schlägt in der Wüste Wasser aus dem Fels, aus Christi Seitenwunde strömt Blut und Wasser, ein Strom durchquert das himmlische Jerusalem, der in der Exegese auf den Heiligen Geist gedeutet wird. 41 Auch ein Hymnenbuch in verschiedenen Metren über sein Exil in Frankreich hat Rupert in jungen Jahren verfasst. 42 Trotz der Kunst, die Rupert aufgrund seiner guten Artes-Ausbildung in Lüttich beherrschte, 43 ist für ihn diese Redeform in antikem lyrischen Versmaß nicht mehr befriedigend, um seine Einsichten, die ihm durch die Geist-Autorisierung zuteil wurden, adäquat zur Geltung zu bringen. Er braucht einen anderen Stil. Er fährt daher, wie rückblickend, fort: ‚So begann ich; ich wälzte in mir einen großen Stoff [magna materia], der durch die enge Öffnung des Mundes nicht in Fülle herausströmen konnte, solange ich die Worte in Versfüßen band, wie ich es in den schulischen Übungen gewohnt war und lange Mühen auf wenige Formulierungen verwandte. Denn noch war mir das nicht geschehen, was, wie ich oben erwähnte, von der Weisheit gesagt ist: Deine Ader sei gesegnet, das heißt, noch hatte ich das Priestertum nicht empfangen, obwohl ich es schon hätte empfangen haben können.‘ 44

Rupert erklärt, auch mit Verweis auf die Autorität der Bibel (Mal. 2,7), über die Lehre von Wissen und Gesetz verfüge erst der Priester als besonderer Bote Gottes. 45 Sobald er dann aber in diesen Stand aufgestiegen war – wegen der romabtrünnigen Reichsbischöfe, die die Weihe hätten vornehmen müssen, hatte er sie hinausgeschoben – 46 änderte sich Ruperts Befähigung zur Lehre und Schriftexegese: Tunc demum ad tractandas ecclesiastico more sacras Scripturas legitimam acciperem oris apertionem. 47 Da erhielt ich endlich, sagt Rupert, die rechtmäßige Öffnung des Mundes (legitima apertio oris), so dass ich über die Heilige Schrift handeln konnte, wie es in der Kirche, das heißt im Stil der Kirche, üblich war. 48 Von den frühen Hymnen, der Dichtung in antiker Form, geht er also über 41 Exod. 17 und 1. Cor. 10,4; Ioh. 19,34f.; Apoc. 22; dazu Rupert von Deutz, Commentaria in Apocalyp-

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sim (Migne, Patrologia Latina 169), Paris 1894, 825–1214, hier 1206f.: Ergo flumen istud Dominus est, et vere, quia Spiritus sanctus est. Spiritus sanctus est hoc flumen pacis […]. Vgl. Rupert von Deutz, Carmina exulis de calamitatibus ecclesiae Leodiensis, hg. v. Heinrich Boehmer (Monumenta Germaniae Historica. Libelli de lite 3), Hannover 1897, 622–641; John H. van Engen, Rupert of Deutz, 30ff. Dazu Rupert von Deutz, In Mattheum, 386: Ego, quamuis et ipse nonnullos in disciplinis scholaribus patres habuerim et in libris artium liberalium non segniter studiosus exstiterim, hoc profiteor, quia uisitatio ab altissimo mihi melior est quam decem patres eiusmodi […]. Die göttliche Inspiration und Belehrung stellt Rupert weit über die (wenngleich gründliche) schulische Artes-Ausbildung. Ebd. 381: Sic incipiens magnam intus uersabam materiam, per angustum foramen ubertim prodire non ualentem, dum metricis pedibus uerba ligando, ut in scholaribus assuetus eram, longum in paucis sermonibus laborem assumerem. Nondum enim plene mihi acciderat id, quod supra memoraui […], nondum, cum accipere potuissem, ordinem presbyterii susceperam. Ebd.: Scriptum est autem: „Labia sacerdotis custodiunt scientiam et legem requirunt ex ore eius, quia angelus Domini exercituum est.“ Ebd.; dazu John H. van Engen, Rupert of Deutz, 14ff., bes. 35 ff. Rupert von Deutz, In Mattheum, 381. Hinter der Vorstellung der geringen Öffnung des menschlichen Mundes steht auch Gregors d. Gr. Erläuterung zur Schwierigkeit der prophetischen Rede, aus der großen Masse ihrer göttlichen Inspirationsinhalte diskursiv mitzuteilen; Gregorius Magnus, Homiliae in Hiezechielem prophetam, hg. v.

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zur weit ausgreifenden Prosa bibelhermeneutischer Schriften. Er verfasst trotz der relativ kurzen Zeit solcher genuin kirchenschriftstellerischer Tätigkeit das umfangreichste Werk des 12. Jahrhunderts. 49 Am Ende seines Berufungswegs, auf dem ihm Augen und Mund durch die Bestimmung der Trinität (besonders des Inspirators Heiliger Geist und des Priesters Christus) geöffnet waren, schreibt Rupert in ganz anderem Stil als zuvor: die antiken Maße sind durch kirchliche Lehrprosa abgelöst. 50

4.3 Experimenteller Wechsel des Autorstils nach verschiedenen Diskurstypen (Hildegard von Bingen) Auf den ersten Blick erscheint der Fall Hildegard von Bingen für die Stil- und Autorschaftsfrage einfach und daher wenig interessant. Sie ist die ungelehrte Visionärin, die, weil sie keine höhere Artes-Ausbildung erhalten hat, im sermo humilis, der einfachen Redeweise, ihre Werke verfasst. 51 So profiliert sie sich als Autorin in den Paratexten ihrer großen Visionswerke und in den Briefen denn auch als indocta ad scribendum, die in ungefeilter Rede schreibe, latinis verbis non limatis heißt es mit rhetorischer Terminologie. 52 An Bernhard von Clairvaux, dem sie ihre Autorschaftskonzeption zur Prüfung vorlegt mit der Frage, ob sie öffentlich reden oder besser schweigen solle, schreibt sie (1146/47): homo sum indocta de ulla magistratione cum exteriori materia. 53 Wenig später lässt sie im einführenden Paratext ihres Erstwerks Scivias sich selbst durch die visionäre göttliche Stimme jede Fähigkeit zur literarischen Gestaltung nach den Regeln der Schulrhetorik absprechen und nimmt Abstand von deren Teilen der Inventio, Dispositio und Elocutio (scribe illa non secundum os hominis nec secundum intellectum humanae adinuentionis nec secundum uoluntatem humanae compositionis). 54

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Marcus Adriaen (Corpus Christianorum. Series Latina 142), Turnhout 1971, 104 (zu Ez. 1,24). Hinzu kommt bei Rupert die einengende Wirkung der metrischen Poesie. So John H. van Engen, Rupert of Deutz, 3 („the most prolific of all twelfth-century authors“). Rupert von Deutz, In Mattheum, 384 formuliert den Beginn, im weit hinströmenden Stil der Bibelkommentare zu schreiben, so: Ego autem extunc ‚os meum aperui‘, et cessare quin scriberem nequaquam potui, et usque nunc, etiam si uellm, tacere non possum. Zusammenfassend zu Hildegards Autorschaftskonzept in den großen Visionswerken Christel Meier, „Eriugena im Nonnenkloster? Überlegungen zum Verhältnis von Prophetentum und Werkgestalt in den figmenta prophetica Hildegards von Bingen“; dies., „Autorschaft im 12. Jahrhundert. Persönliche Identität und Rollenkonstrukt“, in Peter von Moos (Hg.), Unverwechselbarkeit, Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln/Weimar/Wien 2004, 207–266, hier 228ff. u.ö.; vgl. ferner oben Anm. 4 und Udo Kühne, „Die Konstruktion prophetischen Sprechens. Hildegards Sicht der eigenen Rolle als Autorin“, in Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 46 (1999) 67–78; Claudia Spanily, Autorschaft und Geschlechterrolle, Möglichkeiten weiblichen Literatentums im Mittelalter (Tradition – Reform – Innovation 5), Frankfurt a.M. 2002, 76–88. Hildegardis, Epistolarium. Pars Prima, 262. Ebd. 4; dazu Christel Meier, „Eriugena“, 473 f., bes. Anm. 33. Hildegardis, Scivias, 3 (Inventio – adinventio, Dispositio – compositio, Elocutio – os hominis); Hildegard verfremdet die rhetorische Terminologie leicht, denn hier spricht das zweite Autor-Ich, die

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So paradox aber das Schreiben der Unfähigen, das Sprechen der Nichtsprechenden (so heißt es an anderer Stelle) ist, 55 so komplex wird nun die Ausführung eines solchen göttlichen Schreibbefehls umgesetzt. In dieser Absetzung von den Regeln der Schulrhetorik dokumentiert Hildegard ihre Vertrautheit mit ihnen; ihre Entscheidung für Gattungen und Stile ist daher als bewusst und aufschlussreich zu werten. In den großen Visionswerken erreicht Hildegard Plausibilität der Darstellung mit dem Wechsel von quasinaiver Beschreibung der z.T. merkwürdigen, jedenfalls hermetischen Visionsbilder und ihrer theologischen Deutung nach Art der Schriftexegese (sowie daran anschließenden paränetisch-lehrhaften Textpassagen). 56 Hildegard inszeniert eine doppelte Autorfunktion, beide Sprecher reden in der Ich-Form, der eine in dem quasi-biographischen Ich der ungelehrten Visionärin, der andere als göttliche Stimme, die in oder aus der Seherin spricht und ihr erstes Ich wiederum mit dem ‚Du‘ anspricht: ‚Die du elende Erde bist und als Frau ungelehrt in der Wissenschaft fleischlicher Lehrer, Texte zu lesen nach dem Verständnis der Gelehrten [philosophi], sondern nur berührt von meinem Licht, das dich innen mit dem Brand wie die brennende Sonne berührt, rufe und berichte und schreibe diese meine Geheimnisse, die du siehst und hörst, in mystischer Vision. Sei also nicht furchtsam, sondern sprich aus, was du im Geist begreifst, so wie ich es durch dich ausspreche […], die du gelehrt bist aus mystischer Inspiration‘ [docta de mystico spiramine]. 57

Dieses Schreiben soll einer Art himmlischer Poetik folgen, wie der Prolog anfangs sagt, einer Poetik des Wunderbaren (der mirabilia divina). 58 Der jeweils erste Teil der Vision folgt also dem dunklen Stil, indem Bilder beschrieben werden ohne Verstehen der Bedeutung, zum Beispiel werden Personifikationen von Tugenden oder der Kirche und Syn-

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göttliche Stimme, die nicht einfach menschliche Schulterminologie benutzt. Dazu auch Christel Meier „Eriugena“, 483 f.; dies., „Scientia Divinorum Operum. Zu Hildegards von Bingen visionär-künstlerischer Rezeption Eriugenas“, in Werner Beierwaltes (Hg.), Eriugena redivivus. Zur Wirkungsgeschichte seines Denkens im Mittelalter und im Übergang zur Neuzeit (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philos.-hist. Klasse 1987/1), Heidelberg 1987, 89–141, hier 98. Hildegardis, Scivias, 586. An der Teufelsdrachen-Vision Scivias II 7 sind diese Teile einer jeden Vision exemplarisch analysiert bei Christel Meier, „Calcare caput draconis. Prophetische Bildkonfigurationen in Visionstext und Illustrationen: zur Vision ‚Scivias‘ II,7“, in Edeltraud Forster [u.a.] (Hgg.), Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten. Zum 900. Geburtstag, Freiburg/Basel/Wien 1997, 359–405; zur zunehmenden hermetischen Qualität dieser Visionsbeschreibungen vgl. Dies., „Zwei Modelle von Allegorie im 12. Jahrhundert: Das allegorische Verfahren Hildegards von Bingen und Alans von Lille“, in Walter Haug (Hg.), Formen und Funktionen der Allegorie (Germanistische Symposien. Berichtsbände 3), Stuttgart 1979, 70–89, bes. 74ff. Hildegardis, Scivias, 111 f. (aus der Einleitung des zweiten Buchs): O quae es misera terra et in nomine femineo indocta de ulla doctrina carnalium magistrorum, scilicet legere litteras per intelligentiam philosophorum, sed tantum tacta lumine meo, quod tangit te interius cum incendio ut ardens sol, clama et enarra ac scribe haec mysteria mea quae uides et audis in mystica uisione. Noli ergo esse timida, sed dic ea quae intelligis in spiritu, quemadmodum ea loquor per te […] quae interius es docta de mystico spiramine. Ebd. 3; dazu Christel Meier, „Ut rebus apta sint verba. Überlegungen zu einer Poetik des Wunderbaren im Mittelalter“, 44 f.

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agoge nicht benannt, sondern als Frauen beschrieben, ausgestattet mit bestimmter Kleidung und Attributen, Gesten und Standorten. Dasselbe gilt für alle anderen Gegenstände der Visionsbilder (Gebäude, Landschaft und vieles andere mehr). Der Beschreibungsstil der Visionsbeschreibungen ist dabei geprägt von Markierungen der Unfähigkeit des Erkennens, sei es, dass Gegenstände zu groß, zu hell oder sonst in ihrer Merkwürdigkeit unbeschreibbar und unverfügbar sind, da die Seherin mit ihrer Wahrnehmung deren Anspruch nicht gewachsen ist. Erst die Deutung, das heißt, das zweite gelehrte Ich der Visionen, die ‚göttliche Stimme‘, vermittelt durch die ungelehrte Autorin den Sinn der Bilder. 59 Der Anspruch dieser Konstruktion ist hoch; denn sie entspricht dem Bibeltext (besonders seinen schwierigen Visionsbüchern) und seiner inspirierten Auslegung durch die Exegeten. 60 Je mehr Hildegard geschrieben und Anerkennung gefunden hat, desto radikaler und origineller wird die Gestaltung des Werks. Ein Beispiel aus der letzten großen Visionsschrift, dem Liber diuinorum operum, der den Kosmos und die Heilsgeschichte zum Thema hat, soll zeigen, wie sie in den Visionen auch die Stilmittel der negativen Theologie pseudodionysischer Konzeption nutzt, nämlich zur Visibilisierung des Transzendenten das ganz Unähnliche, Monströse einzusetzen. In einer Trinitätskonfiguration von Allmacht, Weisheit und Liebe Gottes (omnipotentia, sapientia, charitas) am Ende des Werks (Abb. 3) 61 wird die Omnipotentia dei in einer solchen Form des Unähnlichen, Monströsen, Widernatürlichen vorgestellt, wie Horaz in seiner ‚klassischen‘ Poetik sie als abschreckend und lächerlich gebrandmarkt, 62 Pseudo-Dionys sie aber als die angemessenere symbolische Form gegenüber dem positiv-ähnlichen Vergleich für das Himmlische oder Göttliche bezeichnet hatte. 63 59 Entsprechende Personifikationen beschreibt insbesondere das dritte Buch von Scivias und der Liber

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vite meritorum, Gebäude und Landschaftselemente sind im ganzen Werk anzutreffen; dazu Christel Meier, „Zwei Modelle von Allegorie“, 74 ff.; dies., „Die Bedeutung der Farben im Werk Hildegards von Bingen“, in Frühmittelalterliche Studien 6 (1972), 245–355, hier 292 ff.: Die Farben der göttlichen Kräfte. Dass Hildegard ihr Werk wie eine erweiterte Bibeloffenbarung mit göttlicher Auslegung versteht, sagt sie in der Endzeiten-Vision Scivias III 11; Hildegardis, Scivias, 586: Sed nunc catholica fides in populis uacillat et euangelium in eisdem hominibus claudicat, fortissima etiam uolumina quae probatissimi doctores multo studio enucleauerant in turpi taedio diffluunt et cibus uitae diuinarum Scripturarum iam tepefactus est: unde nunc loquor per non loquentem hominem de Scripturis, nec edoctum de terreno magistro, sed ego qui sum dico per eum noua secreta et multa mystica quae hactenus in uoluminibus latuerunt, uelut homo facit qui limum sibi primum componit et deinde ex eo quasdam formas secundum uoluntatem suam discernit. Hildegardis Bingensis, Liber diuinorum operum, hg. v. Albert Derolez/Peter Dronke (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 92), Turnhout 1996, 386ff.; Lucca, Biblioteca Statale, Ms. 1942, fol. 135r, Abb. nach Anna Rosa Calderoni Masetti/Gigetta Dalli Regoli (Hgg.) Sanctae Hildegardis Revelationes. Manoscritto 1942, Lucca 1973, 45. Dazu oben bei Anm. 27. Am Beispiel der Erörterung der Engelgestalten mit ihren naturwidrigen Formen oder als schöne Menschengestalten entwickeln Pseudo-Dionys und sein Ausleger Eriugena die Grundzüge der positiven und negativen Theologie in ähnlichen und unähnlichen symbola, deren letzte sie für angemessener

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Abbildung 3: Hildegard von Bingen, Allmacht und Weisheit Gottes als ähnliches und unähnliches Symbol, Liber divinorum operum, III 4

Diese forma mirabilis, wie Hildegard sie nennt, ist zusammengesetzt: den Körper bedecken Fischschuppen, mit drei Flügelpaaren ist er ausgestattet, die Füße sind Löwenklauen; wo der Kopf säße, ist nur blendend-heller Glanz wahrzunehmen, sagt der Text, während auf dem Bauch ein Menschenhaupt mit grauem Haar und Bart sitzt. Eine gliederweise vorgenommene Dechiffrierung dieser monströsen Figur durch die göttliche Stimme, das halten; vgl. Iohannes Scottus Eriugena, Expositiones in Ierarchiam coelestem, hg. v. Jeanne Barbet (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 31), Turnhout 1975, 20–55, 187–215, bes. 53: Sicut ipsum [Deum] magis honorat qui negat eum esse quid, quam qui eum affirmat quid esse, ita plus eum significat atque honorat qui figuram bestialem ipsi circumdat quam qui in humana effigie auro gemmisque decora preciosaque induta uestimenta, celestibusque splendissimis corporibus circumscripta ipsum imaginat. Fallitur namque animus insipiens dum pulchra de Deo cogitat […]; dazu Christel Meier, „Poetik des Wunderbaren“, 45 ff.

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zweite Ich des Textes, erschließt ihren Sinn. 64 Die Dignität der Bedeutung ist also umgekehrt proportional zur Monstrosität der Form. Die daneben plazierte Sapientia dei, die dem Menschen einsichtiger ist als die Allmacht, ist als ähnliches Symbol gestaltet; der Lucca-Kodex hat beide adäquat wiederzugeben gesucht. 65 Während Hildegard in den Briefen – es sind etwa 390 Schreiben von ihr überliefert (deren größter Teil Antworten auf Anfragen an sie sind) – trotz ihrer Berufung auf die Inspiration, durch die sie spricht, in einem mittleren bis niedrigen Stil schreibt (sie kommentiert das nicht eigens), 66 während die naturwissenschaftlichen Schriften als Lehrschriften von einiger Innovativität in nicht auffälligem, einfachen fachsprachlichen Stil verfasst sind, 67 hat ihre Lyrik, 73 Carmina, einen sprachlich-stilistischen Sonderstatus. Sie zeichnet sich durch eine sehr kühne, fast hermetische Bildersprache von großer Eigenwilligkeit aus, wagt auch ein Experiment, das ein Licht auf die Intention der Autorin wirft. Ein extremes Beispiel ist das Ecclesia-Lied Nr. 68: 68 O orzchis Ecclesia armis diuinis precincta et iacincto ornata, tu es caldemia stigmatum loifolum et urbs scientiarum. O, o, tu es etiam crizanta in alto sono et es chorzta gemma.

immensa aroma populorum ornata, uncta choruscans

‚O unendlich weite Kirche, gegürtet mit göttlichen Waffen und mit dem Hyazinth geschmückt,

64 Hildegardis Bingensis, Liber diuinorum operum, III 4, 388 ff. 65 Ebd. 386 ff. 66 Hildegardis, Epistolarium. Pars Prima; dies., Epistolarium. Pars Secunda, hg. v. Lieven Van Acker

(Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 91 A), Turnhout 1993; dies., Epistolarium. Pars Tertia, hg. v. Lieven Van Acker (†)/Monika Klaes-Hachmöller (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 91 B), Turnhout 2001. 67 Der Stil der medizinischen Schriften ist noch nicht endgültig zu bewerten, da ihre handschriftliche Überlieferung spät einsetzt und die überlieferten Texte durch Bearbeitungen (z.B. ‚Zusatzpassagen‘) verändert wurden, obgleich Sicherheit besteht für das Faktum, dass Hildegard entsprechende Werke geschrieben hat (sie nennt sie selbst im Katalog ihrer Werke am Eingang des Liber uite meritorum). Die neuen Editionen haben erheblich zur Klärung beigetragen und erläutern die Probleme: Hildegard von Bingen, Physica. Edition der Florentiner Handschrift (Cod. Laur. Ashb. 1323, ca. 1300) im Vergleich mit der Textkonstitution der Patrologia Latina (Migne), hg. v. Irmgard Müller/Christian Schulze, unter Mitarbeit v. Sven Neumann, Hildesheim/Zürich/New York 2008, IXff.; dies., Physica. Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum, 2 Bde., hg. v. Reiner Hildebrandt/Thomas Gloning, Berlin/New York 2010, 3 ff.; Hildegardis, Cause et cure, hg. v. Laurence Moulinier (Rarissima mediaevalia Opera latina 1), Berlin 2003. 68 Hildegardis Bingensis, Symphonia armonie celestium reuelationum, hg. v. Barbara Newman (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 226), Turnhout 2007, 335–477, hier 471; zu Editionen, Übersetzungen und Literatur ebd. 365 ff.

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Christel Meier du bist der Duft, der aus den Wunden der Völker ausströmt und die Stadt der Wissenschaften. O, du bist auch geschmückt (gesalbt) in hohem Ton und du bist eine leuchtende Gemme.‘

Das Lied enthält fünf Wörter einer unbekannten Sprache, die in den handschriftlichen Textzeugen auch durch lateinische Wörter glossiert worden sind. 69 Woher stammen sie und woher kennt man die Bedeutungen? Hildegard weist in einem Werkverzeichnis im Prolog ihrer zweiten Visionsschrift Liber vite meritorum auch die Lingua ignota und die Litterae ignote (‚unbekannte Buchstaben‘) als eigene Werke aus. 70 Das Experiment der Unbekannten Sprache, 900 neue Wörter, für die lateinische und mittelhochdeutsche Entsprechungen aufgeführt werden, 71 ist bis heute nicht befriedigend erklärt. Mein Erklärungsvorschlag für diese exzeptionelle Diskurs- und Stilvariante ist folgender: Die Lieder sind für Hildegard – wie die liturgische Musik – eine Sprache, die über den sonstigen Diskursen angeordnet ist. Sie bilden ein Medium, das sich der Ursprache Adams annähert und daher in besonderem Maß Erinnerungskraft für die Umkehr und die Restitution des Menschen zu seinem Ursprung besitzt. Da Hildegard diese Geheimsprache in keinem anderen Kontext angewandt hat als in den Liedern, ist zu vermuten, dass sie hier symbolisch die Rückverwandlung der Sprache in die Ursprache des heilen Menschen andeuten wollte, in eine Sprache, die über den drei heiligen Sprachen steht. Das Lied zeigt also eine Sprachmischung von irdischer und inspirierter himmlischer Diktion. Als liturgischer Gesang des Gotteslobs wurde die Dichtung von den Propheten erfunden, da sie ihre Wirksamkeit für die Rückkehr des Menschen zu Gott und in den Kreis der Engelchöre erkannt hatten; Hildegard erläutert diese Zusammenhänge ausführlich in einem Brief an die Mainzer Kirchenbehörde, um ein über ihr Kloster verhängtes Interdikt aufheben zu lassen. 72 Im Gotteslob des Menschen als seiner Ursprache hat auch Dante in De vulgari 69 Der kritische Apparat ebd. verzeichnet die Glossen vor allem aus dem sog. Riesenkodex (Wiesbaden,

Hessische Landesbibliothek, Hs. 2), der ‚Ausgabe letzter Hand‘ Hildegards und ihrer Helfer, sowie aus der noch früheren Stuttgarter Handschrift (Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Ms. Theol. Phil. 253). 70 Hildegardis, Liber uite meritorum, hg. v. Angela Carlevaris (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 90), Turnhout 1995, 8. 71 Hildegardis, Ignota lingua per simplicem hominem Hildegardem prolata, hg. v. Friedrich Wilhelm Emil Roth (Die Geschichtsquellen des Niederrheingaus. Theil III. Sonstige Geschichtsquellen des Niederrheingaus), Wiesbaden 1880, 457–465; Elias Steinmeyer/Eduard Sievers, Die althochdeutschen Glossen, gesammelt und bearbeitet, Bd. 3, Berlin 1895, 390–403. 72 Hildegardis Bingensis, Epistolarium. Pars Prima, 61–66, hier 63 zur Rückkehrbewegung im inneren Menschen durch (äußere) Musik: quomodo […] interioris hominis nostri officia ad Creatoris maxime laudes conuertere et informare debeamus. Quibus cum diligenter intendimus, recolimus qualiter homo uocem uiuentis Spiritus requisiuit, quam Adam per inobedientiam perdidit […]. Similitudinem ergo uocis angelice, quam in paradiso habebat, Adam perdidit et in scientia qua ante peccatum preditus erat, […] obdormiuit […]; tenebris interioris ignorantie ex merito iniquitatis sue inuolutus est. Deus uero, qui animas electorum luce ueritatis perfundens ad pristinam beatitudinem reseruat, ex

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eloquentia den ersten Anlass menschlichen Sprechens überhaupt gesehen. 73 Es ist die Universalsprache, die Adam mit der Schöpfung gegeben war und die der Mensch erst beim Turmbau zu Babel verloren hat. 74 Nach Hildegard verstummt sie bereits durch den Sündenfall im Paradies und wird teilweise wiedergewonnen in prophetischer Dichtung. 75 Die adamitische Ursprache bleibt bis in die Philosophie der Frühen Neuzeit Thema einer suo hoc adinuenit consilio, ut quandoque corda quamplurium infusione prophetici Spiritus innouaret, cuius interiore illuminatione aliqua de scientia illa recuperarent, quam Adam ante preuaricationis sue uindictam habuerat. So würden die Propheten nicht nur zu Erfindern der Vokal-, sondern auch der Instrumentalmusik (ebd.); Ebd. 65: Et quoniam interdum in auditu alicuius cantionis homo sepe suspirat et gemit, naturam celestis harmonie recolens, propheta, subtiliter profundam spiritus naturam considerans et sciens quia symphonialis est anima, hortatur in psalmo […]; dazu Christel Meier, „Der zehnte Chor. Zur Musik bei Hildegard von Bingen“, in Rheinisches Musikfest 1987, Köln 1987, 28–37, hier 35; weitere Literatur zur Musik bei Hildegard jetzt in Hildegardis, Symphonia, 365ff.; ferner Marc-Aeilko Aris [u.a.], Hildegard von Bingen. Internationale wissenschaftliche Bibliographie (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 84), Mainz 1998, 166ff. 73 Irène Rosier-Catach/Ruedi Imbach, „La Tour de Babel dans la philosophie du langage de Dante“, in Peter von Moos (Hg.), Zwischen Babel und Pfingsten. Sprachdifferenzen und Gesprächsverständigung in der Vormoderne (8.–16. Jh.) (Gesellschaft und individuelle Kommunikation in der Vormoderne 1), Berlin/Zürich 2008, 183–204. 74 Jürgen Trabant, „Excellentissimi dignissima, in cantionibus. Über Dantes Welt-Sprache der Poesie“, in Peter von Moos (Hg.), Zwischen Babel und Pfingsten, 205–221, hier 212ff. 75 Hildegardis, Epistolarium. Pars Prima, 63 u.ö. (zit. Anm. 72). Die Konzeption einer Meta-Sprache über den lebensweltlichen Sprachen, der Glossolalie oder einer sprachentranszendierenden Musik, die die Urform der menschlichen Sprache erreicht, haben seit Augustin und Gregor d.Gr. etliche Autoren des Mittelalters ausgeführt; Augustin, Enarrationes in psalmos 32, II, 8, hg. v. Eligius Dekkers/Johannes Fraipont (Corpus Christianorum. Series Latina 38), Turnhout 1956, 253: Ecce veluti modum cantandi dat tibi: noli quaerere verba, quasi explicare possis unde Deus delectatur. In iubilatione cane. Hoc est enim bene canere Deo, in iubilatione cantare. Quid est in iubilatione canere? Intellegere, verbis explicare non posse quod canitur corde. Etenim illi qui cantant, sive in messe, sive in vinea, sive in aliquo opere ferventi, cum coeperint in verbis canticorum exsultare laetitia, veluti impleti tanta laetitia, ut eam verbis explicare non possint, avertunt se a syllabis verborum, et eunt in sonum iubilationis. Iubilum sonus quidam est significans cor parturire quod dicere non potest. Et quem decet ista iubilatio, nisi ineffabilem Deum? Ineffabilis enim est, quem fari non potes: et si eum fari non potes, et tacere non debes, quid restat nisi ut iubiles; ut gaudeat cor sine verbis, et immensa latitudo gaudiorum metas non habeat syllabarum? Bene cantate ei in iubilatione; dazu Gerhard Dautzenberg, „Glossolalie“, in Reallexikon für Antike und Christentum 11 (1981), 225–246; Herbert Grundmann, „Jubel“, in Benno von Wiese/Karl Heinz Borck (Hgg.), Festschrift für Jost Trier zu seinem 60. Geburtstag am 15. Dezember 1954, Meisenheim (Glan) 1954, 477–511. In dieser Reihe hat auch Hildegard ihre besondere Position. Zur Problematik vgl. ferner Michel de Certeau, „Utopies vocales: Glossolalies“, in Bruno Gentili (Hg.), Oralità – cultura letteratura, discorso. Atti del convegno internazionale Urbino 21–25 luglio 1980, Rom 1985, 611–633; Peter von Moos, „Die Pest des Schweigens“, in Agostino Paravicini Bagliani (Hg.), Il silenzio. The Silence (Micrologus 18), Florenz 2010, 183–223, hier 209ff. – Cecilia Panti, „Verbum cordis e ministerium vocis: Il canto emozionale di Agostino e le visioni sonore di Ildegarda di Bingen“, in Dies./M. Cristiani/G. Perillo (Hgg.), Harmonia mundi. Musica mondana e musica celeste fra Antichità e Medioevo (Micrologus 19), Florenz 2007, 167–200, stellt den wortlosen Jubilus Augustins Hildegards inspirierter Wortkunst gegenüber, nimmt aber auf die hier beschriebene lingua ignota gar keinen Bezug.

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spekulativen Philologie über die Ursprungssprache Adams, d.h. einer Reflexion über eine Primordialwelt und ihre auch sprachliche Verfasstheit. 76 Für Hildegard ist festzuhalten, dass sie in verschiedenen Diskurstypen ihres ausgedehnten Œuvres mit verschiedenen Stilen bei der Modellierung unterschiedlicher Autorfunktionen experimentiert. Auf das Experiment der Unbekannten Sprache kommt sie übrigens in ihrem Spätwerk nicht zurück, allerdings enthält ihre ‚Ausgabe letzter Hand‘, der sog. Riesencodex, auch dieses Werk. 77

5. Fazit: Autoren als Lehrer im öffentlichen Raum von Kirche und Reich Alle drei Autoren sind Neuerer im 12. Jahrhundert, und alle stimmen darin überein, dass sie Stile- und Autorschaftsfunktionen ganz bewusst einsetzen, wie der jeweilige Wechsel des Stils und seine Kommentierung beweisen. Da sie jedoch mit ihren je eigenen Entwürfen eines Stilwechsels nicht dasselbe kommunizieren wollen, sind in Kürze ihre Intentionen noch einmal grundsätzlicher nach der Funktion im Kontext ihrer Epoche zu kennzeichnen (um auch die charakteristischen Unterschiede festzuhalten).

5.1 Der Aufstieg des Menschen und die Umkehrung der Dekadenzgeschichte in der Utopie Der Weltkleriker Alan, wegen seiner herausragenden Gelehrsamkeit bald als doctor universalis berühmt und bis in die Renaissance viel gelesen, gehört jener Richtung von Gelehrten und Dichtern des 12. Jahrhunderts an, die in humanistisch-platonischer Konzeption der natürlichen Erkenntniskraft des Menschen viel zutraut, die antike Überlieferung hoch einschätzt und neu nutzt. Er unterstellt daher die natürlich-kosmische Welt und ihre Erschließung dem ‚antiken Epenautor‘; erst für den übernatürlich-theologischen Bereich lässt er ihn ablösen durch den pseudo-dionysischen propheta theologus. Ihm gelingt daher eine harmonisch-utopische präterspirituelle Konzeption, die von der Göttin Natura beherrscht wird und in der Wiederherstellung der antiken Idee der Goldenen Zeit kulminiert, ohne die christliche Erlösungsgeschichte im Epos zu bemühen. Der antike Mythos ist als Referenzsystem ständig präsent. Die Aussage zielt auf eine gesamtgesellschaftliche ethische Erneuerung.

76 Dazu z.B. Wilhelm Schmidt-Biggemann, „Guillaume Postels christologische Enzyklopädie“, in

Christel Meier (Hg.), Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zur Frühen Neuzeit (Münstersche Mittelalter-Schriften 78), München 2002, 409–419; Umberto Eco, La ricerca della lingua perfetta nella cultura europea, Rom/Bari 3 2002. 77 Dazu Anm. 69.

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5.2 Schrifterklärung als Darstellung der Heilsgeschichte und vorgreifende Gottesschau Rupert, der in Lüttich sehr gut ausgebildete, der Reformbewegung angehörige Benediktiner und spätere Abt in Deutz, prägt eine an der Spätantike geschulte Autorschaftskonzeption aus, die erhabene theologische Gegenstände in antike Metren, z.B. Hymnenformen, bringt, d.h. die alten nobilitierten Kunstformen neu füllt, etwa mit Chiffren der heilsgeschichtlichen Ereignisse der trinitarischen Weltlenkung. Er markiert energisch eine Umkehr zur neuen Autorschafts- und Stilform des kirchlichen Lehramts zur Schriftexegese im mittleren Stil; die ziselierte Kunstform des Hymnus wird abgelöst durch die weit ausströmende Prosa heilsgeschichtlicher Didaxe, die einen Vorgeschmack auf die himmlische Schau Gottes geben soll. Sie ist zunächst für den engeren Bereich des Klosters und des Klerus bestimmt, dient jedoch auch einer darüber hinausgehenden Belehrung.

5.3 Belehrung in Lebenssituationen – Heilsgeschichte und Kosmos – Restitution des Menschen in hymnischer Erhebung Hildegard, eine Frau aus dem Hochadel und Benediktinerin, muss eine neue Autorschaft begründen und dafür angemessene Stilformen finden. Sie vollzieht gleich zu Beginn ihres Werks die völlige Abkehr von der schulmäßigen rhetorischen Lehre. Für ihre Autorisierung sucht sie Autorschaftsprofilierungen und Stilformen, die das Paradox der Ungelehrt-Gelehrten, die in der Kirchenöffentlichkeit wirken will, der Prophetin also, einlösen und plausibel machen, zumal die anvisierte Kirchenöffentlichkeit auch die weltlich Herrschenden umfasst. In der Konstruktion dieser ambitionierten Autorschaft legt sie ein Grundmodell fest, in dem zwei Ich-Sprecher agieren, zwei Stile verbunden werden: die ungelehrte Frau und der göttliche Interpret. Dieses Modell differenziert sie in weiteren Experimenten verschiedener Redeweisen und Gattungen aus. Im Prozess der Etablierung dieser exzeptionellen Autorschaft ist neben den Diskurstypen der Lehre (in Visionswerken, Evangelienexegese, Briefcorpus, naturwissenschaftlichen Schriften) vor allem das lyrische Corpus herausgehoben. In den nicht antiken, sondern kirchlich-liturgischen Formen kommen prophetische Gesangs- und Redeweisen zur Geltung, die wenigstens versuchsweise sich der Sprache des Engellobs annähern, quasi einen irdisch-himmlischen Mischstil produzieren in einem extremen Experiment. Die Prophetin wird zur Vorsängerin in einer solchen Liturgie. Für alle drei Autoren trifft zu, dass gerade dort, wo die auctoritas der Autorschaft auf eine höhere Instanz übertragen und die Inspiration zur eigenen Entlastung in Anspruch genommen wird, Individualität der Autorschaft und Stilqualität eher zu- als abnehmen. Spezifische Autorstile bilden sich in Situationen der Gefährdung deutlicher aus. Inspiration ist eine Zuwendung ad personam, also individuell. Sie erweitert den Spielraum des Autors, schränkt nur scheinbar seine Autorität ein.

Hartmut Beyer

Autorrollen und Legitimationsstrategien in der lateinischen Epistolographie des Mittelalters*

1. Autorschaft im Brief: Gattungspoetische und literaturgeschichtliche Voraussetzungen Für die Frage nach Autorschaft und ihrer Darstellung und Legitimation bietet die Epistolographie des Mittelalters eine reiche, kaum beachtete Quelle. Man kann mit gutem Recht behaupten, dass der Autor in keiner Gattung derart präsent ist wie im Brief: Der Brief ist nach einer in der Antike und auch im Mittelalter weit verbreiteten Ansicht ein sermo absentium, mithin ein Ersatz für die persönliche Begegnung. Die Abwesenheit des Sprechenden ist konstitutiv für die Gattung; das bringt es mit sich, dass nach sprachlichen Verfahren gesucht wird, diese Abwesenheit zu kompensieren, und, wie es in dem berühmten, bei Hieronymus überlieferten Turpilius-Zitat heißt, die Abwesenden gegenwärtig zu machen. 1 Es ist also ein grundlegendes Merkmal des Briefes, die Abwesenheit des Autors sowie die Art seiner Präsenz im Werk zu diskutieren. Dies führt zu der für den Brief charakteristischen Autoreferenzialität sowie zu verschiedensten Versuchen, die primäre, nicht

* Es handelt sich um eine leicht überarbeitete und mit den nötigsten Anmerkungen versehene Fassung des Vortrags vom 8. April 2010. Eine ausführliche Behandlung des Themas ist im Rahmen einer Monographie vorgesehen. 1 Hier. epist. 8: Turpilius comicus tractans de uicissitudine litterarum: „sola“, inquit, „res est, quae homines absentes praesentes faciat“ nec falsam dedit, quamquam in re non uera, sententiam. quid enim est, ut ita dicam, tam praesens inter absentes, quam per epistulas et adloqui et audire quos diligas? Edition: Sancti Eusebii Hieronymi Epistulae, hg. v. Isidor Hilberg, Bd. 1: Epistulae I–LXX (Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum 54,1), Wien/Leipzig 1910; vgl. zur Funktion der Passage Andrew Cain, „Vox clamantis in deserto. Rhetoric, reproach, and the forging of ascetic authority in Jerome’s letters from the Syrian desert“, in Journal of Theological Studies NS 57 (2006), 500–525, hier 507.

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schriftlich vermittelte Kommunikationssituation zwischen Schreibendem und Lesendem imaginär zu rekonstruieren. Eine weitere Eigenschaft, die den Brief für die Autorschaftsthematik interessant macht, ist der – zumindest in der Vorstellung – subliterarische Charakter der Gattung. Literarische Briefsammlungen wie die des jüngeren Plinius (61/62–vor 117) funktionieren gerade deshalb, weil der Autor den Eindruck erzeugt, im Alltag tatsächlich so zu handeln und zu kommunizieren, wie er es in seinen nachträglich zusammengestellten Briefen tut. 2 Das führt dazu, dass sich der Brief meistens über Vorstellungen von Einfachheit und Spontaneität selbst definiert, und zwar auch dann, wenn er hochartifiziell gemacht ist. Viele Autoren inszenieren in ihren Briefen förmlich Spontaneität, etwa wenn sie behaupten, sie hätten sich aus Freundschaft oder einer anderen Leidenschaft hinreißen lassen, viel länger zu schreiben, als eigentlich beabsichtigt war. Das Verständnis des Briefes als simulierte Oralität bedeutet nicht, dass hier Autoren so sprechen, wie sie tatsächlich reden, oder ihr Innenleben aufrichtig darlegen. Der Brief pflegt stattdessen eine inszenierte Mündlichkeit, die kulturell vermittelten Normvorstellungen vom Gespräch folgt. In der ältesten überlieferten Brieftheorie, einem Abschnitt in der griechischen Stillehre des Demetrius, vermutlich aus hellenistischer Zeit, heißt es: ‚Wenn man den Charakter des Schreibenden auch in jedem anderen Text erkennen kann, so ist er in keinem so deutlich wie im Brief.‘ 3 Wie gezeigt worden ist, bezieht sich der von Demetrios verwendete Begriff ethos nicht auf den Charakter im psychologischen Sinne, sondern auf eine Kategorie aus der Rhetorik: Gemeint ist die Selbstdarstellung des Redners, die ihm für sein Anliegen moralische Glaubwürdigkeit verleihen soll. In der aristotelischen Rhetorik erscheint diese Kategorie parallel zu logos, der Überzeugung des Publikums durch rationale Argumente, und pathos, dem Appell an die Emotionen der Zuhörer. 4 Dass die Selbstdarstellung des Briefautors angewandte Rhetorik ist, gilt erst recht für das Mittelalter. Da das Lateinische seit der Karolingerzeit nicht mehr Muttersprache war, sondern in der Schule erlernt werden musste, wurde das Briefeschreiben zum Gegenstand des sprachlichen Elementarunterrichts. Viele Hinweise sprechen dafür, dass das Hauptziel des mittelalterlichen Rhetorikunterrichts das Abfassen von Briefen war. Das gilt nicht erst ab dem Einsetzen der ars dictaminis im 12. Jahrhundert. Schon für das Frühmittelalter ist vielmehr eine Kontinuität der antiken rhetorischen Ausbildung anzunehmen. Einer einschlägigen Studie zufolge konnte die Brieflehre bei den progymnasmata genannten 2 Vgl. dazu, mit weiterführender Literatur, Jan Radicke, „Die Selbstdarstellung des Plinius in seinen

Briefen“, in Hermes 125 (1997), 447–469.

Ka» Ísti m‡n ka» ‚x ällou lÏgou pant‰c  deÿn t‰ ™joc to‹ gràfontoc, ‚x oŒden‰c d‡ o’twc ±c ‚pistol®c. Demetrio, Lo stile, hg. v. Nicoletta Marini (Pleiadi

3 Demetrios, Peri hermeneias 227:

4), Rom 2007, 126.

4 Vgl. Judith Rice Henderson, „Humanist letter writing. Private conversation or public form?“, in Toon

van Houdt [u.a.] (Hgg.), Self-presentation and social identification. The rhetoric and pragmatics of letter writing in early modern times (Supplementa humanistica Lovaniensia 18), Leuven 2002, 17–38, hier 22f.

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rhetorischen Übungen ansetzen, die auch das Abfassen fiktiver Reden aus der Perspektive einer realen oder literarisch konstruierten Person beinhalteten, die sogenannte ethopoieia. 5 Ist der Brief das rhetorisch inszenierte Auftreten einer Person – wobei der Autor mit dem Sprecher nicht identisch sein muss –, so können Briefsammlungen umso mehr als die literarische Darstellung einer Autorpersönlichkeit funktionieren. Sie bieten einen Einblick, wie sich ein Autor vielen Adressaten gegenüber präsentiert und gestalten dessen Selbstpräsentation durch Auswahl und Anordnung. Aus dem Hochmittelalter sind zahlreiche vom Autor bewusst angelegte Briefsammlungen überliefert. Im früheren Mittelalter scheint diese Art der Selbstdarstellung unüblich gewesen zu sein; die erhaltenen Epistolare sind zumeist verstreut überliefert; auch dies bezeugt aber die Zirkulation der einzelnen Briefe und das Interesse an ihnen. Für die Frage nach der Konstruktion und Legitimation von Autorschaft im Brief ist es nur begrenzt sinnvoll, Briefkonventionen und -topoi in ihrer historischen Entwicklung zu beobachten. Zum einen verstellt die Konzentration auf bestimmte immer wieder auftretende Motive oder Argumente – zum Beispiel christliche Nächstenliebe oder Krankheit als göttliche Prüfung – den Blick auf den spezifischen Kontext der Äußerungen. Zum anderen ist das Profil eines Epistolars im hohen Maße von den Überlieferungsbedingungen abhängig. So vermitteln die im Kloster St. Bavo in Gent überlieferten Briefe des großen karolingischen Gelehrten Einhard (um 770–840) das Bild eines pragmatisch denkenden Verwalters seiner Klöster, wohingegen die wenigen im Epistolar des Lupus von Ferrières (um 805–nach 862) erhaltenen Einhardbriefe zeigen, dass er auch literarisch anspruchsvolle Freundschaftsbriefe austauschte. 6 Ich konzentriere mich daher im Folgenden auf Autoren, die in ihrer Epoche ein herausragendes Renommee genossen haben, deren Epistolar einen wesentlichen Teil ihres schriftlichen Schaffens ausmacht und deren Briefe in einer großen Anzahl von Handschriften überliefert sind. Die Frage ist, welche Formen der Selbststilisierung in derartigen Epistolarien vom Autor aktiv betrieben werden, welche Qualitäten sie sich selbst speziell als Briefautor zuschreiben und auf welche gesellschaftlich akzeptierten Rollenmuster sie dabei zurückgreifen.

5 Vgl. Carol Dana Lanham, „Freshman Composition in the Early Middle Ages. Epistolography and

Rhetoric before the ars dictaminis“, in Viator 23 (1992), 115–134. Vgl. aber auch Manfred Kraus, „Progymnasmata, Gymnasmata“, in Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 7, Tübingen 2005, 159–190. 6 Dazu ausführlich Martina Stratmann, „Einhards letzte Lebensjahre (830–840) im Spiegel seiner Briefe“, in Hermann Schefers (Hg.), Einhard. Studien zu Leben und Werk. Dem Gedenken an Helmut Beumann gewidmet (Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission. Neue Folge 12), Darmstadt 1997, 323–339, resümierend 338. Zum exzeptionellen Charakter der Einhardbriefe als erhaltene karolingische Alltagskorrespondenz vgl. Mary Garrison, „‚Send More Socks‘. On Mentality and Preservation Context of Medieval Letters“, in Marco Mostert (Hg.), New Approaches to Medieval Communication, Turnhout 1999, 69–99, 94 f.

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2. Selbstverständnis und Legitimation in ausgewählten Briefcorpora 2.1 Alkuin von York (gest. 804) Beginnen möchte ich mit Alkuin, dem Lehrer Einhards und wichtigsten der Intellektuellen im Umkreis Karls des Großen. Alkuins historischem Einfluss als Hoflehrer und Organisator der karolingischen Reformen entspricht ein für seine Zeit außergewöhnliches Epistolar von knapp 300 ihm mit Sicherheit zuzuschreibenden Briefen, mit einer einzigartigen Vielfalt hochgestellter Adressaten inner- und außerhalb des Reiches. 7 Die Überlieferung beginnt dabei um 790, als der Magister aus York seinen Wirkungsbereich von Northumbria an den Hof Karls des Großen verlagerte. Es erscheint plausibel, dass er um diese Zeit seine Briefe selbst zu sammeln begann und dass die Abtei St. Martin in Tours, deren Abt er ab 796 war, den Ausgangspunkt für den Großteil der Überlieferung bildet. 8 Alkuin stellte keine Briefsammlung im eigentlichen Sinne zusammen, jedoch versandte er offenbar Kopien seiner Briefe an interessierte Personen im Frankenreich und in England. Dass aufgrund von Alkuins Renommee auch Sammlungen auf Seiten der Empfänger angelegt wurden, zeigen die im Umkreis seines ehemaligen Schülers Arn von Salzburg entstandenen beiden Handschriften Wien, ÖNB, Cvp 795 und 808, in denen die an Arn gerichteten Briefe offenbar bald nach ihrem Eintreffen zusammen mit anderen Werken Alkuins und der Kirchenväter gesammelt wurden. Die Konzeption der Sammelhandschriften und die zahlreichen Zeugnisse für die Rezeption der Alkuinbriefe in Arns Umgebung deuten darauf hin, dass man ihm in Salzburg eine quasi patristische Autorität zuschrieb. 9 Zu diesem Befund passt es, dass Alkuin selbst sich in seinen Briefen bewusst in die Nachfolge des Hieronymus stellte, des profiliertesten und für das Mittelalter einflussreichsten Briefautors der christlichen Antike. Mit diesem Anspruch fand Alkuin offenbar auch Anerkennung in Hofkreisen, wie es eine an ihn gerichtete Ermahnung Giselas, der Schwester Karls des Großen, und seiner Tochter Rotrud aus dem Jahre 800 zeigt. Alkuin, der als Abt von St. Martin in Tours residierte, solle ihnen bald seinen Kommentar zum Johannesevangelium zusenden. Bei dieser Aufforderung variieren die Autorinnen nicht nur ein bereits von Hieronymus immer wieder aufgegriffenes Standardthema der Briefliteratur, nämlich das von der großen Entfernung zwischen Absender und Empfänger 7 Mary Garrison, „Les correspondants d’Alcuin“, in Annales de Bretagne et des Pays de l’Ouest 111

(2004), 319–331.

8 Zur Überlieferung der Alkuin-Briefe ausführlich Donald A. Bullough, Alcuin. Achievement and

Reputation. Being Part of the Ford Lectures Delivered in Oxford in Hilary Term 1980, Leiden/ Boston 1980, 35–102. 9 Vgl. Maximilian Diesenberger/Herwig Wolfram, „Arn und Alkuin 790 bis 804. Zwei Freunde und ihre Schriften“, in Meta Niederkorn-Bruck/Anton Scharer (Hgg.), Erzbischof Arn von Salzburg (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 40), Wien/München 2004, 81–106.

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und den Hindernissen, die es zu überwinden gilt, sondern sie vergleichen ihren Lehrer auch direkt mit dem Kirchenvater: ‚Erinnere dich, dass der in der heiligen Kirche berühmte Lehrer der heiligen Schrift Hieronymus die Bitten vornehmer Frauen keineswegs verachtet, sondern dass er ihnen mehrere Werke über die Geheimnisse der Propheten gewidmet hat, und dass recht häufig auf ihre Bitten hin Briefe aus Bethlehem, der durch die Geburt unseres Herrn Christus geweihten Stadt, zu den Mauern Roms geflogen sind und dass er sich nicht durch die Entfernung oder durch die stürmischen Fluten des Adriatischen Meeres davon abschrecken ließ, den heiligen Jungfrauen ihre Bitten zu gewähren. Mit geringerer Gefahr fährt man auf dem seichten Fluss Loire als auf der Weite des Tyrrhenischen Meeres, und viel leichter wird ein Überbringer deiner Briefe von Tours nach Paris als einer von seinen von Bethlehem nach Rom gelangen können.‘ 10

Inhaltlich handelt es sich bei den Briefen mehrheitlich nicht um theologische Abhandlungen, sondern um die Überreste einer realen und lebhaften Briefkommunikation, wie zahlreiche Grüße, Bitten oder Verweise auf den mündlichen Botenbericht zeigen. Der insgesamt wichtigste Inhalt sind jedoch Mahnungen zu christlichem Verhalten. Wenn Alkuin die Adressaten auffordert, seine Briefe aufzubewahren und zur Vergegenwärtigung sowohl des Inhalts wie seiner Person immer wieder zu lesen, so wird deutlich, dass er diese nicht so sehr als Informationsträger, sondern als Vergegenwärtigung seiner selbst und als Möglichkeit, die Adressaten persönlich zu beeinflussen, ansieht. 11 Wie vor allem jüngere französische Forschungen gezeigt haben, sind die in den Alkuin-Briefen anzutreffenden Beschreibungen des Autors, seiner Korrespondenten sowie der epistolaren Situation gerade bei den vertraulichen Briefen hochliterarisch, indem sie auf antike Autoren Bezug nehmen und traditionelle Brieftopoi virtuos weiterverarbeiten. 12 Das ist 10 „Alcuini sive Albini epistolae“, hg. v. Ernst Dümmler, in MGH Epistolae Karolini aevi, Bd. 2, Berlin

1895, Nachdruck München 1978, 1–493, hier Nr. 196, 324 f.: Memento clarissimum in sancta ecclesia divinae scripturae doctorem, beatissimum siquidem Hieronimum, nobilium nullatenus spernere feminarum preces, sed plurima illarum nominibus in propheticas obscuritates dedicasse opuscula; saepiusque de Bethleem castello, Christi dei nostri nativitate consecrato, ad Romanas arces epistolares iisdem petentibus volare cartulas, nec terrarum longinquitate vel procellosis Adriatici maris fluctibus territum, quin minus sanctarum virginum petitionibus adnueret. Minore vadosum Ligeri flumen quam Tyrreni maris latitudo periculo navigatur. Et multo facilius cartarum portitor tuarum de Turonis Parisiacam civitatem, quam illius de Bethleem Romam, pervenire poterit. 11 Vgl. Alkuin, Epistulae, Nr. 108 (an König Aerdulf von Northumbria, nach Mai 796), 155: Haec cartula, obsecro, vobiscum servetur et saepius legatur ob memoriam salutis vestrae et dilectionis nostrae. Ähnlich Nr. 109 (an den vertriebenen König Osbald, nach Mai 796), 156: Deprecor, ut haec cartula saepius in praesentia legatur tua; ut recorderis tui ipsius in Deo, et cognoscas, quantam curam iam longe positus habeam salutis tuae. Noch deutlicher Nr. 119 (an Karls Sohn, König Pippin von Italien, Ende 796), 174: Haec, obsecro, carta tecum in testimonium amoris mei pergat: etsi non sit digna tuae venerationis cingulo suspendi, tamen eius ammonitio digna sit in corde tuae sapientiae recondi. 12 Vgl. Christiane Veyrard-Cosme, „Saint Jérôme dans les lettres d’Alcuin. De la source matérielle au modèle spirituel“, in Revue des études augustiniennes 49 (2003), 323–350, und Dies., „Les motifs épistolaires dans la correspondance d’Alcuin“, in Annales de Bretagne et des Pays de l’Ouest 111 (2004), 193–205.

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besonders auffällig bei Vogel- und Tiernamen, die Alkuin zahlreichen Korrespondenten, besonders den Schülern, gibt. 13 Es handelt sich dabei nicht allein um Vertraulichkeit ausdrückende Spitznamen. Vielmehr wird ihre Semantik zum Ausgangspunkt literarischer Darstellungen der gesellschaftlichen Rolle der Korrespondenten. Dass dabei gerade das Vogelmotiv so dominant ist, hängt mit dem Medium Brief zusammen. Schon in der spätantiken Epistolographie und bei Hieronymus ist das Fliegen ein gängiges Bild für die Übermittlung von Briefen. 14 Als ein besonders kurioses Beispiel sei ein Schreiben an Abt Adalhard von Corbie vorgestellt, in dem sich Alkuin beklagt, dass dieser ihn nicht über das berühmte Treffen zwischen Karl dem Großen und Leo III. 799 in Paderborn unterrichtet habe. 15 Er spricht dabei von Raben, die über die Dächer hüpfen und Tauben, die am Boden der Kirche ihr Futter finden – gemeint sind damit wohl Weltliche und Kleriker. Leo III. heißt ‚der Adler‘: Der hohe Flug und der scharfe Blick dieses Vogels machten ihn zur Verkörperung des Bischofs, was der Grundbedeutung von episcopus entspricht. Dieser Adler habe an den sächsischen Quellen ‚den Löwen‘ getroffen – also König Karl in Paderborn. Ein Mittelsmann, der zwischen beiden hin- und herreist, heißt ‚unsere Amsel‘. Verständlich wird das Bild, bedenkt man, dass Isidor von Sevilla für den merula genannten Vogel die Etymologie mera volans angibt, also ‚die, die alleine fliegt‘. 16 Abt Adalhard heißt ‚der Hahn‘, genauer der ‚monastische Hahn, der die Brüder zum Gebet weckt‘ – eine Anspielung auf seine Sorge um die Einhaltung des Stundengebets in seinem Kloster. Sich selbst nennt Alkuin den ‚einsamen Spatzen‘. Der erste Teil dieser Selbstbezeichnung hängt mit dem Inhalt des vorliegenden Briefes zusammen, in dem er seine Einsamkeit und das Ausbleiben von Briefen beklagt. Die Wahl des Spatzen als eines besonders kleinen Vogels ist eine spielerische Umschreibung der konventionellen brieflichen Selbstbezeichnung nostra parvitas, die Alkuin häufig verwendet. In diesem verklausulierten Stil behandelt

13 Dazu Mary Garrison, „Praesagum nomen tibi. The Significance of Name-wordplay in Alcuin’s

Letters to Arn“, in Meta Niederkorn-Bruck/Anton Scharer (Hgg.), Erzbischof Arn von Salzburg (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 40), Wien/München 2004, 107–127. 14 Vgl. Klaus Thraede, Grundzüge griechisch-römischer Brieftopik, München 1970, 174–179. 15 Alkuin, Epistulae, Nr. 181 (September 799), 299: Corvi volitantes per cacumina tectorum clamant, et columba in pavimentis nutrita ecclesiae tacet. Cui crederem, si quid dixisset de aquila? [Leo III.] qui, nuper Romanae arcis deserens cacumina, ut biberet Saxonici ruris fontes et videret leonem [Karl der Große], cunctis dominantem animantibus et feris; vel quid merula nostra, volitans inter illos, gallo [Adalhard] demandasset monastico, qui excitare solet fratres ad vigilias matutinas; ut per eum solitarius passer [Alkuin] sciret in tecto, quae esset convenientia inter leonem et aquilam; et si iuventus aquilae secundum prophetiam psalmigraphi renovata esset in pristinam hilaritatem; et si nova surgerent tecta in palustribus perfidiae lustris; et si leo ibices sequens Alpinos meditaret transire colles. 16 Isid. orig. 12,7,69: Alii merulam aiunt uocatam quia sola uolat, quasi mera uolans. Isidorus Hispalensis, Etymologiarum siue Originum libri XX, hg. v. Wallace Martin Lindsay, Oxford 1911.

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Alkuin dann weiter die politischen Vorgänge des Jahres 799. 17 Besonders kurios ist, dass die Boten Rebhühner (perdices) heißen, weil sie bei ihren Gängen über die Felder laufen. Von sich selbst, dem Spatzen, sagt Alkuin, dass er in seinem Nest am ‚fischreichen Fluss‘ – gemeint ist die Loire, und es ist eine Anspielung auf Petrus und seine Berufung, ein Menschenfischer zu sein – seine Jungvögel mit den Körnern der pietas füttern werde und hoffe, dass der Hahn zu ihm komme und dieser ihn dann genauso geistlich ermahne, wie er das bei sich selbst tut. Der Hahn nämlich kitzele sich jeden Morgen vor dem Krähen selbst mit seinen Federn wach. Alkuin übernimmt dieses Bild aus der für das Bischofsideal grundlegenden Regula pastoralis Gregors des Großen, was wieder zeigt, dass die Vogelnamen in seinen Briefen nicht nur dem vertraulichen Spiel mit Pseudonymen, sondern auch der Umschreibung ernsthafter christlicher Reformanliegen dienen. 18 Alkuin macht immer wieder deutlich, dass die Essenz des Briefeschreibens in der Ermahnung zu christlichem Verhalten besteht. Dieser Gedanke scheint mehr zu sein als ein legitimierendes Argument, wenn er Höhere belehrt. Vielmehr ist die aus der Nächstenliebe (caritas) heraus ausgesprochene Ermahnung für ihn das wichtigste Mittel zur Stiftung christlicher Gemeinschaft. Bezeichnend für dieses Verständnis ist, dass er in einem Schreiben an Leo III. diesen auffordert, die gesamte Christenheit zu einem einheitlichen Schafstall (ovile) zusammenzufügen. Dabei benennt er zwei Mittel, mit denen der Papst das tun soll: Durch Gebete und durch ‚die höchst süßen Ermahnungen deiner heiligen Briefe‘. 19 Später erklärt er gegenüber Arn, wenn es ihm sein Gesundheitszustand erlaubte, würde er nach Rom gehen und mit der Autorität des Papstes nach dem Brauch der Väter an alle christlichen Gemeinden Mahnbriefe schreiben. 20 In einem frühen Brief 17 Alkuin, Epistulae, Nr. 181, 299 f.: Passer [Alkuin] aures habet apertas. Sed, ut video, proverbialis

in fabula lupus gallo [Adalhard] tulit vocem; ne forte cantante illo apostolica negatio renovaretur in urbe antiquae potestatis, et sit error novissimus peior priori. Quid peccavit caritas, quae „vale“ non vidit scriptum? dum perdices [die Boten] per campos currentes ad habitationem galli audio venisse. Perfecta caritas foras mittit timorem. Quae fulgentibus oculorum pupillis omnia perspicit et claro pietatis intuitu certam salubris consilii semper inveniet regulam. Ut videtur, gallus [Adalhard] versus est in cuculum, qui, aestivo cancri sidere sole ascendente, silere solet; dum nidifer passer [Alkuin] omni aequaliter sidere in tectis tinnit fuliginosis. 18 Ebd. 300: Qui [der Hahn = Adalhard] modo mense Septembrio nidum revisere volat amatum, ut pullos, avidis hiantes rostris, pietatis pascat granulis; optans, ut quandoque super ripas piscosi fluminis galli vocem „vale“ resonare audiat et, qui se pennis excitare solet propriis ad matutinales melodias, passerem in pullorum medio exhortari veniat. Vgl. Greg. M. past. 3,39: Quia et gallus iste, quem pro exprimenda boni praedicatoris specie in locutione sua dominus assumit, cum iam edere cantus parat, prius alas excutit, et semetipsum feriens uigilantiorem reddit. Grégoire le Grand, Règle pastorale, hg. v. Floribert Rommel/Bruno Judic, Bd. 1 (Sources chrétiennes 381), Paris 1992. 19 Alkuin, Epistulae, Nr. 94 (796), 138: Congrega nos filios sanctae Dei ecclesiae paternae miserationis affectu tuis sanctissimis orationibus et dulcissimis sacrarum litterarum exortationibus intra firmissimum ecclesiae soliditatis ovile; ne aliquis ex nobis errabundus lupina rapacitate foris inveniatur devorandus. 20 Ebd. Nr. 179 (August 799), 296 f.: Cuius praesentiam super omnes alios huius vitae viros desiderarem, si mei corpusculi valitudo me sineret perficere, quod maxima animi cupiditate diu desiderabam; in tantum, ut tuae vere fateor fidei: si talis meus potuisset apud huius auctoritatem profectus fieri

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an Karls Schwester Gisela vergleicht er die biblischen Schriften, die diese studieren soll, mit einem Brief. Diesen schicke ihr Gott durch seine Propheten und Apostel, um ihr mitzuteilen, was sie für ihr Heil tun solle. 21 Dass Alkuins Ermahnungen den Empfängern inhaltlich nur in den wenigsten Fällen etwas Neues bieten, ist ihm selbst bewusst. In einem Schreiben an Arn über die Awarenmission erklärt er, Arn könne dies alles selbst bei den Kirchenvätern nachlesen, wesentlich sei aber, dass Alkuin ihm auf diese Weise seine Liebe zeige und sich ihm trotz der Entfernung gegenwärtig mache. 22 Die Stelle wird dadurch interessant, dass Alkuin diesen Gedanken mit grundsätzlichen Reflexionen über den Brief und die Schrift verbindet: ‚Dazu scheint nämlich den Menschen die Sprache gegeben zu sein, dass sie die Geheimnisse ihres Herzens in die Ohren ihrer Brüder gießen können. Dazu werden Briefe geschrieben, dass dahin, wo der Klang der Sprache nicht gelangen kann, die Dienstfertigkeit der Schrift laufe, so dass Zeichen der gegenseitigen Liebe den Brüdern in den Buchstaben vor Augen gestellt werden, damit es zur Anwesenheit der Seelen in der Liebe komme, wo Abwesenheit der Köper wegen der räumlichen Entfernung herrscht.‘ 23

Auf dem Umweg über die Sprache stellt Alkuin also die Briefe in den Dienst der caritas, der zentralen Tugend, aus der er in vielen seiner Mahnschreiben die gesamte christliche Ethik ableitet. Es folgt ein Gedanke, der besonders beim späten Alkuin begegnet, nämlich der, dass die geistige Präsenz des geliebten Korrespondenten im Brief eine wenn auch unvollkommene Vorstufe zur himmlischen Seligkeit ist, in der Gott als der Zielpunkt aller christlicher Liebe den Seligen direkt offenbar wird: ‚O glückliches und gesegnetes Leben, in dem immer das Geliebte zu sehen ist und das, was zu sehen ist, niemals Überdruss verursacht, in dem Gott allen die ewige Liebe, das ewige Lob, Ruhm und Seligkeit ist. Zu diesem Leben und dieser Glücklichkeit ziehe mich als deinen Vertrauten durch

ecclesiis Christi, qualis mea optat devotio, prae omnibus saeculi deliciis et honoribus eius praesentiae adstare proponerem; si flammas animi sui mitigare mihi indultum esset; et litteris sub eius sancti nominis auctoritate per diversas mundi regiones populos parrochias civitates et provincias hortari; et catholicae fidei rationes plurioribus exponere personis; et relegiosam admonitionem iuxta consuetudinem sanctorum patrum cartulis indicere currentibus. 21 Ebd. Nr. 15 (793), 41: Quid si a rege legatio et indiculus ad te veniet, numquid non mox aliis curis postpositis prompta et cum omni devotione eius litteras accipis et legis, et implere satages? Ecce de caelo rex regum, immo et sponsus tuus, per prophetas, apostolos et doctores tibi, o virgo, dignatus est dirigere litteras suas, non ut aliquod servitium sibi necessarium demandasset, sed quae ad salutem et gloriam tibi necessaria sciebat esse innotuisset. Harum te litterarum sedula reficiat lectio, quia in illis agnoscitur Deus, in illis vitae aeternae gloria adnuntiatur, in illis quid credere, quid sperare, quid amare, vel quid fugere debeamus, ostenditur. 22 Ebd. Nr. 113 (nach 10. August 796), 166: Nisi caritatis tantum causa meam praesumptionem ante oculos auctoritatis vestrae iuste, ut puto, excusare poterit; ne dilectio, quae intus ardet in corde, muta foris videatur in verbis. 23 Ebd.: Ad hoc enim verba videntur hominibus data, ut arcana cordis fraternis auribus infundere valeant. Ad hoc epistolae scribuntur, ut, quo verborum sonus pervenire non poterit, litterarum officia currant; quatenus mutuae caritatis in apicibus signa fraternis obtutibus demonstrantur; ut fiat animorum in caritate praesentia, ubi est corporum propter longinquitatem locorum absentia.

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ständiges Gebet und ständige Ermahnungen mit dir, so dass ich nach den stürmischen Wettern dieses Lebens durch das Erbarmen Christi mit dir den Hafen ewiger Ruhe erreichen kann.‘ 24

Alkuin ist der Meinung, dass mit dem Medium Brief über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg Nächstenliebe praktiziert werden kann, dass die Briefe christliche Gemeinschaft stiften – wie gezeigt sieht er selbst die katholische Kirche im Kern als eine ‚Briefgemeinschaft‘ – und dass sie durch die Ermahnung zu frommer Lebensweise dem Seelenheil aller nützlich sind. Alkuin zeigt sich hier nicht nur Traditionen der angelsächsischen Mission verpflichtet, sondern er vertritt auch das Kernanliegen der karolingischen Reform, mit Hilfe der Schrift im Reich eine einheitliche christliche Gemeinschaft zu schaffen, deren Rechtgläubigkeit und Frömmigkeit das diesseitige und jenseitige Heil aller garantiert. Es ist fast überflüssig zu erwähnen, dass dies eine Idealvorstellung Alkuins ist, die zwar von vielen seiner Korrespondenten geteilt wurde, die aber auch an ihre Grenzen stoßen konnte, besonders dann, wenn Alkuin nicht auf das Einvernehmen der Korrespondenten oder auf die Unterstützung Karls des Großen zählen konnte. 25 Man könnte also die Alkuins Briefen zugrunde liegende Autorschaftskonzeption dahingehend zusammenfassen, dass die Schrift der Sichtbarmachung und Verbreitung christlicher Nächstenliebe gilt und dass die Darstellung der Autorinstanz als einer von der caritas bewegten ihr eine Autorität verleiht, die zumindest dem Anspruch nach von ihrer Stellung in der geistlichen Hierarchie unabhängig ist.

2.2 Petrus Damiani (1007–1072) Eine mit der Alkuins durchaus vergleichbare Stellung in der Epistolographie seiner Zeit nimmt im 11. Jahrhundert der Eremit und Kirchenreformer Petrus Damiani ein. 26 Dieser hatte in mehreren norditalienischen Städten Studien absolviert, bevor er in den Eremitenkonvent von Fonte Avellana eintrat. Als Prior und Oberhaupt einer ganzen Kongregation von Einsiedeleien und Klöstern widmete er sich dem Kampf für Klosterreformen und 24 Ebd.: O felix et beata vita, ubi semper quod amatur videtur et quod videtur numquam fastidit; ubi

Deus omnibus aeternus amor, aeterna laus et gloria et beatitudo. Ad hanc vero vitam et felicitatem me familiarem tuum adsiduis precibus et exhortationibus tecum trahe, quatenus post huius vitae procellosas tempestates ad perpetuae portum quietis, Christo miserante, tecum pervenire merear. 25 Zur Grundlage von Alkuins Autorität vgl. Mary Garrison, „Les correspondants d’Alcuin“, 325 f. Alkuin kritisiert Karl im Gegensatz zu vielen anderen hochgestellten Adressaten niemals offen. Bei Konflikten mit anderen Vertrauten des Herrschers muss er sich dem Urteil des Königs unterwerfen, so in Nr. 145 (Ende März 798), wo er mit subtiler Ironie die Ansichten der Hofastrologen über die Synchronisation von Mond- und Sonnenkalender kritisiert, oder in Nr. 249 (Ende 801 oder 802), in dem er sich bei Karl für seine Auflehnung gegen Bischof Theodulf von Orléans entschuldigt, nachdem ihn der Herrscher scharf zurechtgewiesen hat (Nr. 247). 26 Zu seiner Person vgl. Ruggero Benericetti, L’Eremo e la cattedra. Vita di San Pier Damiani (Ravenna 1007 – Faenza 1072), Mailand 2007; Stephan Freund, Studien zur literarischen Wirksamkeit des Petrus Damiani. Anhang: Johannes von Lodi, Vita Petri Damiani (MGH Studien und Texte 13), Hannover 1995.

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gegen simonistische Bischöfe. Von den Päpsten immer wieder als Legat und Berater herangezogen, war er an den großen politischen Auseinandersetzungen des Reformpapsttums seit Mitte des 11. Jahrhunderts beteiligt. 1057 erhob ihn Stephan IX., angeblich gegen seinen Willen, zum Kardinalbischof von Ostia. Er starb 1073 kurz vor Ausbruch des Investiturstreits. Was Petrus Damiani in diesem Kontext interessant macht, ist, dass seine enorm einflussreichen Schriften zur Theologie, zum Kirchenrecht und zur monastischen Spiritualität allesamt Briefe sind – mit Ausnahme der Predigten und der Gedichte und einiger, nicht aller, von ihm verfasster Viten. Der Autor Petrus Damiani ist demnach seinem Selbstverständnis nach vor allem ein Briefautor, und es lässt sich zeigen, dass er gerade die epistolare Situation nutzt, um seine Person darzustellen und seinen Schriften Autorität zu verleihen. Grundlegend für Petrus Damianis Selbstverständnis als Briefautor ist zunächst, dass er vor seiner Konversion zum Eremitentum eine zwar klerikale, jedoch nicht monastische Ausbildung in Grammatik, Rhetorik, Dialektik und im kirchlichen Recht erhalten hat. Damiani studierte an der Kathedralschule von Parma, von deren exzellenter, zugleich aber aggressiver und spitzfindiger rhetorischer Kultur die Rhetorimachia Anselms von Besate (verfasst zwischen 1049 und 1056) ein beredtes Zeugnis ablegt. 27 Mit diesem Hintergrund trat Damiani in ein ausgesprochen bildungsfeindliches eremitisches Milieu ein, in dem strengste Askese und die reine, ungestörte Kontemplation die Norm waren. Da er somit eine bewusste Abwendung von der schulischen Gelehrsamkeit vollzogen hatte, ist seine Einstellung zu den litterae eine grundsätzlich andere als die Alkuins; während diese für Alkuin von vornherein heilig sind, verbindet Damiani sie mit verderblicher profaner Gelehrsamkeit, von der es sich stets abzusetzen gilt, will man im Dienste der Frömmigkeit exzellente Literatur produzieren, wie Damiani das de facto tut. Ein Beispiel für eine derartige Distanzierung ist das Exordium eines Briefes an einen Richter in Cesena, der in den ersten Jahren nach Damianis Konversion entstanden ist: ‚Mir ist wohl bewusst, Bruder, dass, wenn mein Brief in die Hände weltlicher Menschen gerät, bald neugierig nach dem Glanz der Beredsamkeit gesucht wird, dass diskutiert wird, wie folgerichtig seine Gliederung ist, ob der Schmuck der rhetorischen Kunstfertigkeit aufscheint, und ob scharfsinnige dialektische Argumente die Sätze umschließen. Es wird auch gefragt, ob kategorische oder eher hypothetische Syllogismen das, was vorgelegt wird, durch unumgängliche Beweise stützen. Aber diese und ähnlich gezierte Spielereien verachten diejenigen, die im Geiste Gottes leben, als wahrhaft albern und nichtig, und halten sie, wie Paulus sagt, für Dreck. Paulus erklärt auch, dass er zu seinen Schülern nicht mit Worten, wie sie menschliche Weisheit lehren kann, gesprochen hat, damit nicht das Kreuz Christi zunichte werde.‘ 28 27 Zur Kathedralschule in Parma im 11. Jahrhundert vgl. Roberto Greci, „Tormentate origini“, in Annali

di Storia delle Università italiane 9 (2005), 33–46. Vgl. auch die Einleitung des Editors in Anselm von Besate, „Rhetorimachia“, in Gunzo, Epistola ad Augienses und Anselm von Besate, Rhetorimachia, hg. v. Karl Manitius (MGH Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 2), Weimar 1958, 59–183, 62–86. 28 Petrus Damiani, Briefe, hg. v. Kurt Reindel, Bd. 1: Nr. 1–40 (MGH. Die Briefe der deutschen Kaiserzeit 4), München 1983; Bd. 2: Nr. 4–90, 1988; Bd. 3: Nr. 91–150, 1989, Bd. 4: Nr. 151–180, 1993. Hier Nr. 23 (an den Richter Bonushomo in Cesena, 1047), 217 f.: Non ignoro, frater, quia, cum mea

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Durch das Einfügen dialektischer Fachbegriffe zeigt Damiani zunächst, dass er diese Kunst durchaus beherrscht; er kontrastiert diese dann aber in drastischer Weise mit seiner Verurteilung weltlicher Weisheit. Diese christliche Bildungsfeindlichkeit beruht weniger auf einer grundsätzlichen Ablehnung der Schriftkultur als Erbe der heidnischen Antike – für Damiani präsentiert sich die Antike vor allem als die Zeit der Kirchenväter –, sondern sie stellt für ihn eine Form der Askese dar. Die Behauptung, ungelehrt zu schreiben, wird dabei zu einem legitimierenden Argument. Das wird etwa im Liber gratissimus deutlich, Damianis großer Abhandlung über die Gültigkeit der von Simonisten unentgeltlich gespendeten Weihen. Das Buch ist als ein Brief an Erzbischof Heinrich von Ravenna abgefasst. Gegen Ende bittet Petrus den Empfänger, keine kultivierte und gewitzte Ausdrucksweise zu erwarten, sondern eine ‚grobe Schlichtheit und eine ärmliche Sprache, die kaum ausdrücken kann, was gemeint ist.‘ Eine solche Sprache entspreche seiner Lebensform als Eremit: ‚Jene mögen große Ausdrücke und gewogene Worte verwenden, die sich abmühen, durch den angenehmen Liebreiz einer verführerischen Sprache den begeisterten Beifall der Menge zu erhaschen. Wir aber, denen es vorgeschrieben ist, mit nackten Füßen zu gehen, müssen nicht auf Kothurnen schreiben, und wem das Schweigegebot auferlegt ist, für den gehört sich die ausgefranste Weitschweifigkeit einer üppigen Beredsamkeit nicht.‘ 29

Die asketischen Praktiken des Barfußgehens und Schweigens werden somit zum Bild für seinen Stil und rufen dem Leser ins Gedächtnis, worauf sich die Autorität des Schreibenden stützt. Die Einheit von Schreibpraxis und Askese wird noch deutlicher in einem Schreiben, in dem er zwei Bischöfe mit der Korrektur seiner gesammelten Schriften betraut (gemeint sind vor allem die Briefe). Hier erklärt Damiani die Tatsache, dass er trotz seiner angeblichen Schlichtheit und Unfähigkeit doch geschrieben hat, in folgender Weise: ‚Eure Heiligkeit möge wissen […], dass ich es mir erlaubt habe, einige kleine Werke zu schreiben, nicht so sehr, um den Lesepulten [legivis] der Kirche etwas hinzuzufügen, 30 was vermessen gewesen wäre, epistola saecularium manibus traditur, mox eloquentiae nitor curiose perquiritur, quam consequens sit dispositionis ordo tractatur, utrum rhetoricae facultatis color eluceat, an et sententias argumenta dialecticae suptilitatis involvant. Quaeritur etiam, utrum categorici an potius ypothetici, quae proposita sunt, per allegationes inevitabiles adstruant syllogismi. Sed haec et huiusmodi falerata ludibria hii, qui spiritu Dei vivunt, ut revera frivola et vana contempnunt et, sicut apostolus ait, arbitrantur ut stercora [Phil. 3,8]. Qui etiam locutum se esse discipulis perhibet non humanae sapientiae verbis [1 Cor. 2,13], ut non evacuetur crux Christi [ebd. 1,17]. 29 Petrus Damiani, Briefe, Nr. 40 (an Erzbischof Heinrich von Ravenna, 1052), Bd. 1, 507: Non hic, quaeso, elucubratae dictionis falerata discutiatur urbanitas, non accurate dicacitatis acrimonia requiratur, sed rudis simplicitas et sermo pauperculus, qui vix queat explicare, quod sentit. Illi sane grandiloquis et trutinatis verbis inserviant, qui favorabiles plausus hominum aucupari deleneficae locutionis amena quadam venustate desudant. Nos autem, qui nudis pedibus ire praecipimur, coturnati scribere non debemus. Et quibus censura taciturnitatis indicitur, luxuriantis eloquentiae laciniosa prolixitas congruere non videtur. 30 Vgl. Petrus Damiani, Vita beati Romualdi, hg. v. Giovanni Tabacco (Fonti per la storia d’Italia 94), Rom 1957, Prologus, 9 f.: Ecce enim tria iam fere lustra transacta sunt ex quo beatus Romualdus

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sondern vor allem deswegen, weil ich ohne irgendeine Übung die Langeweile [tedia] der untätigen Muße und meiner abgelegenen Zelle nicht ertragen könnte, so dass ich, der ich nicht nutzbringend einer Handarbeit nachgehen konnte, meinen umherschweifenden und lockeren Geist mit irgendeinem Zügel der Besinnung zurückhalten und so den Lärm der auf mich eindringenden Gedanken und das Drängen der sich einschleichenden Nachlässigkeit leichter vertreiben könnte.‘ 31

Petrus Damiani macht das Schreiben also zu einer Form der Buße. Dabei bekennt er seine eigene Sündhaftigkeit, denn er behauptet, dass es ihm große Schwierigkeiten bereite, den Versuchungen standzuhalten, und er erklärt, nur deswegen zu schreiben, weil er zu keiner richtigen Handarbeit fähig sei; seine literarische Befähigung, die in seiner Gemeinschaft in der Tat singulär war, macht er hierbei zu einem Defizit. Insgesamt lässt sich feststellen, dass Autorschaft bei Petrus Damiani unlösbar mit der eremitischen Lebensform verknüpft ist. Das ist umso bemerkenswerter, als er spätestens nach seiner Erhebung zum Kardinalbischof über die in der Kirche wichtigste Legitimation zur Lehre verfügte, nämlich das Bischofsamt. Dieses wies er jedoch immer wieder zurück und verwies dabei auf die Gefahren, die das geistliche Amt für das Seelenheil bedeute. Auffällig sind vor allem zwei lange Schreiben, an Papst Nikolaus II. und den Archidiakon Hildebrand, in denen er um die Entlassung aus dem Bischofsamt bittet und die Legitimität eines solchen Schrittes unter Verweis auf zahlreiche Vorbilder begründet. 32 Damianis spätere Äußerungen zeigen, dass er seinen Verzicht auf das Bischofsamt als eine vollendete Tatsache ansah, jedoch ist zweifelhaft, ob der Schritt von Seiten der Päpste Nikolaus II. und Alexander II. jemals vollkommen anerkannt wurde. Damianis ostentativer Verzicht auf das geistliche Amt macht jedoch deutlich, dass er den Status eines vorgeblich ungelehrten und weltentrückten Eremiten als die für die Wirksamkeit seiner Schriften effektivste Autorrolle ansah. Das Medium Brief eignet sich deshalb besonders für die Inszenierung einer solchen Autorrolle, weil es einen ständigen Rekurs auf die Lebensumstände des Autors und den Vorgang des Schreibens ermöglicht.

deposito carnis onere ad etheria regna migravit, et nemo adhuc ex huiusmodi sapientibus [die Philosophen und Juristen] extitit, qui de tot mirabilibus vità eius preconiis pauca saltim hystorico stilo digereret, et avidissimà devotioni fidelium satisfaciens, ad communem utilitatem recitanda legivo sanctà Ãcclesià tradidisset. Das legivum ist demnach der Ort, von dem aus Texte vorgelesen werden. Damiani meint damit, wie der Kontext zeigt, nicht nur die biblischen und patristische Schriften, sondern selbst die erbauliche und hagiographische Literatur. 31 Petrus Damiani, Briefe, Nr. 62 (an die Bischöfe von Senigallia und Gubbio, 1059), Bd. 2, 219: Noverit sanctitas vestra, dilectissimi mihi patres et domini, quia praesumpsi quaedam opuscula scribere, non tam videlicet, ut legivis aecclesiasticis, quod temerarium fuerat, aliquid adderem, quam ob hoc praecipue, quia sine quolibet exercitio inertis ocii et remotioris cellulae tedia non perferrem, ut qui operibus manuum utiliter insudare non noveram, cor vagum atque lascivum quodam meditationis loro restringerem, sicque cogitationum ingruentium strepitum atque accidiae obrepentis instantiam facilius propulsarem. 32 Vgl. ebd. Nr. 57 (an Bischof Gerhard von Florenz, dessen Wahl zum Papst Damiani noch nicht bekannt war, und Hildebrand, Juni–Dezember 1058) und Nr. 72 (an Nikolaus II., Dezember 1059–Juli 1061).

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2.3 Peter von Blois (ca. 1135–1211/12) Als drittes Beispiel soll es um einen Briefautor des späten 12. Jahrhunderts gehen, der sich bis zum Durchbruch der humanistischen Epistolographie im 15. Jahrhundert enormer Beliebtheit erfreute – seine Briefe sind in über 250 Handschriften erhalten. 33 Der aus niederem bretonischem Adel stammende Peter von Blois erhielt in Tours, Paris und Bologna eine erstklassige Ausbildung in den freien Künsten, Recht und Theologie. Als Lehrer und als Briefeschreiber stand er zunächst im Dienst des Königs von Sizilien. Nachdem er von dort wegen einer Rebellion hatte fliehen müssen, verbrachte er sein Berufsleben hauptsächlich am Hof von Erzbischöfen, zuerst in Rouen, dann bei mehreren Erzbischöfen von Canterbury, was ihn in Kontakt mit dem englischen Königshof brachte. Durch seine Dienste erlangte er das Amt eines Archidiakons von Bath und von London, jedoch spielen die sich daraus ergebenden Verpflichtungen für seine Epistolographie kaum eine Rolle. Ein Bistum erreichte er zeitlebens nicht; es ist davon auszugehen, dass Peter ähnlich wie sein älterer Zeitgenosse Johannes von Salisbury (1115/20–1180), der erst vier Jahre vor seinem Tod Bischof von Chartres wurde, 34 dieses Amt über eine Karriere am Hof des Erzbischofs anstrebte, jedoch wegen des frühen Todes einflussreicher Förderer nicht zum Zuge kam. Bezeichnend ist hierfür ein Brief an den Bischof von London, in dem Peter das Angebot der Priesterweihe entschieden von sich weist: Als Archidiakon verhalte er sich zum Bischof wie der Diakon zum Priester. 35 Papst Cölestin III. habe ihm immer wieder berichtet, dass er selbst bis zu seiner Wahl im hohen Alter Diakon gewesen sei 36 – hierdurch demonstriert Peter nicht nur geschickt seine Vertrautheit mit dem Papst, sondern er macht auch deutlich, dass er sich selbst als einen Kleriker sieht, der zu Höherem als dem Priesteramt berufen ist, gewissermaßen als einen Bischof im Wartestand. Peter hinterließ insgesamt etwa 300 Briefe, von denen er vor 1186 gut 100 zu einer Sammlung zusammenstellte und dem englischen König Heinrich II. widmete. Eine überarbeitete und erweiterte Version dieser Sammlung entstand einige Jahre später nach Hein33 Zur Überlieferung ausführlich Lena Wahlgren, The Letter Collections of Peter of Blois. Studies in the

Manuscript Tradition (Studia graeca et latina Gothoburgensia 58), Göteborg 1993. Ein Überblick zu seiner Person ebd. 9–18. Grundsätzlich zu Peters Epistolographie auch Rolf Köhn, „Autobiographie und Selbststilisierung in Briefsammlungen des lateinischen Mittelalters. Peter von Blois und Francesco Petrarca“, in Jan A. Aertsen/Andreas Speer (Hgg.), Individuum und Individualität im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 24), Berlin/New York 1996, 683–703. 34 Vgl. Udo Krolzik, „Johannes von Salisbury“, in Traugott Bautz (Hg.), Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 3, Herzberg 1992, Sp. 549–552. 35 Vgl. Peter von Blois [Petrus Blesensis], „Epistolae“, in Ders., Opera omnia (Migne PL 207), Paris 1855, Nr. 123, Sp. 364: Et quæ absurditas est, si diaconi, et maxime archidiaconi in suo ordine perseverent? Nam hunc ordinem archidiaconatus canonica censura præscribit; et sicut episcopatui presbyteratus annexus est, sic et archidiaconis diaconatus ordo quadam consequentia inseparabili counitur. 36 Vgl. ebd. Sp. 366f.: Certe dominus Cœlestinus, qui hodie sedet, sicut ex ipsius ore frequenter accepi, in officio levitæ sexaginta quinque annos expleverat, antequam ipsum Dominus in summi pontificatus apicem sublimasset.

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richs Tod, und bezeichnenderweise sind einige panegyrische Passagen über den König darin getilgt. 37 Inhaltlich handelt es sich nicht um administratives Schrifttum im engeren Sinne, sondern fast durchgehend um Mahnungen und Zurechtweisungen an hochgestellte Personen, die Fragen des öffentlichen, meist kirchlichen Lebens betreffen. Peter zeigt ein enormes Selbstbewusstsein als professioneller Schreiber. Seine Briefe sind durchweg rhetorische Glanzstücke, die sich nicht nur durch sprachliche Virtuosität bei gleichzeitiger Deutlichkeit (gemäß dem rhetorischen Ideal der perspicuitas), sondern auch durch eine im Mittelalter selten übertroffene Fülle von Zitationen meist biblischer Herkunft auszeichnen. In einer Invektive gegen einen vielleicht fiktiven Neider wehrt sich Peter dementsprechend gegen den Vorwurf, ein compilator zu sein. Vielmehr folge er nur dem Vorbild der heiligen Väter, wenn er das, was er durch Lektüre gesammelt habe, zur Bekräftigung seiner Aussagen in die eigenen Schriften einfüge. Wie gut 150 Jahre später Petrarca beruft er sich auf das bei Macrobius und Seneca überlieferte Bienengleichnis, nach dem es Aufgabe des Autors ist, Material von überall her zusammenzutragen und ein eigenes hochwertiges Produkt daraus herzustellen. 38 Im Übrigen könne er schon deshalb nicht als Kompilator gelten, weil er seine Briefe viel schneller schreibe als alle anderen: ‚Ich sage selbstbewusst und gestützt von vielen Zeugen, dass ich meine Briefe immer schneller zu diktieren pflegte, als irgendjemand mitschreiben konnte. Die Eile selbst schließt das Vergehen und den Verdacht der Kompilation aus. Ich sage nur die Wahrheit ohne mich zu rühmen: Der Erzbischof von Canterbury hat manchmal gesehen, und ihr selbst und viele andere mit ihm, dass ich drei Schreibern über verschiedene Angelegenheiten zugleich diktierte und der eilenden Feder jedes von ihnen genüge tat und dass ich dabei, was nur von Julius Caesar überliefert ist, einen vierten Brief abfasste und niederschrieb. Wenn irgendjemand daran zweifelt, so soll er, bitte ich, sich durch eigenen Anblick überzeugen.‘ 39

Das ist nur eines von mehreren Beispielen dafür, dass sich Peter durch die Virtuosität seines Schreibens in die Nachfolge großer Autoren der Antike stellt. Folgerichtig ist es, dass er den antiken Gedanken von der Unsterblichkeit, die die litterae verleihen, 37 Vgl. Wahlgren, The Letter Collections of Peter of Blois, 190. 38 Vgl. Peter von Blois, „Epistolae“, Nr. 92 (an Bischof Reginald von Bath), Sp. 289: Me compilatorem

æmulus vocat, eo quod omnia, quæ in epistolis aut sermonibus meis scribo, historiarum exemplis, aut sacræ Scripturæ auctoritatibus firmo. Hunc equidem modum a sanctis Patribus mutuavi, qui in universis operibus suis Novi ac Veteris Testamenti verba frequenter interserunt, ut eorum artifici junctura dictis suis robur adjiciant et ornatum. Et quæ invidia est, si, quod ex multiplici librorum lectione decerpsi, ferventiore studio digerente, in materiam virtutis et exercitium prudentiæ coalescit? Nam, sicut in libro Saturnalium, et in libris Senecæ ad Lucilium legimus [Macr. Sat. 1 praef. 2; Sen. ep. 84,3], apes imitari debemus, quæ colligunt flores, quibus divisis, et in favum dispositis, varios succos in unum saporem artifici mistura, in quadam sui spiritus proprietate transfundunt. 39 Ebd. Sp. 290: Confidenter et sub testimonio plurium dico, me semper dictare litteras solitum citius quam posset aliquis exarare. Ipsa certe festinatio vitium et suspicionem compilationis excludit. Ad veritatem, non ad jactantiam dico. Vidit quandoque dominus Cantuariensis, et vos ipse cum eo, multique alii me de diversis materiis tribus dictare scriptoribus, et uniuscujusque calamo festinanti satisfacere; meque quod de solo Julio Cæsare scribitur, quartam epistolam dictare et scribere. Quod si alicui res ista in dubium venerit, facti, quæso, experientia faciat dicti fidem. Vgl. Plin. nat. 7,91.

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mehrfach aufgreift – so zitiert er den Schluss von Ovids Metamorphoses und verweist auf Cicero, der der Legende zufolge auf die Fortexistenz seiner Schriften verwies, als man ihm die Zunge herausschneiden wollte 40 . Im selben Brief reproduziert Peter eine Passage aus dem Policraticus seines Lehrers Johannes von Salisbury, die eine Reihe von antiken Exempeln für diesen Mechanismus nennt, vorneweg Lucilius, den Empfänger von Senecas Epistulae morales ad Lucilium, den niemand kennen würde, wäre er nicht durch diese Briefe verewigt. 41 Schon Johannes von Salisbury stellte dabei eine Verbindung zwischen den Gattungen Brief und Satire her. 42 Wie sich bei Peter immer wieder beobachten lässt, versteht er den Brief als das Medium für die offene Benennung menschlicher Fehler. Dieser Aspekt ist deswegen von besonderer Bedeutung, weil sich Peter als Berater im höfischen Kontext versteht – in einem der ersten Briefe seiner Sammlung idealisiert er den erzbischöflichen Hof von Canterbury als einen Ort, wo gewichtige politische Fragen einmütig im Kollektiv diskutiert werden 43 – und weil er seine eigene Glaubwürdigkeit als Mitarbeiter von Herrschern und Prälaten damit bekräftigt. Omnipräsent ist in seinen Briefen der Begriff der adulatio, das negative Gegenbild zum ehrlichen Sprechen. In Anlehnung an Ps. 140 spricht er häufig vom ‚Öl des Schmeichlers‘, das an den Höfen reichlich Verwendung finde, jedoch ihn nicht beflecke. 44

40 Ebd. Nr. 77 (an den Magister Peter von Blois – die Namensgleichheit von Absender und Empfänger

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ist Anlass für die zitierten Ausführungen), Sp. 238: Nostra etiam scripta, quæ se diffundunt et publicant circumquaque, nec inundatio, nec incendium, nec ruina, nec multiplex sæculorum excursus poterit abolere. Sola scripta sunt, quæ mortales quadam famæ immortalitate perpetuant, et actibus veterum, quos traducunt ad posteros, nullam permittunt obrepere vetustatem. „Ore legar populi, perque omnia sæcula fama / Si quid habent veri vatum præsagia, vivam“, dicit Ovidius [Ov. met. 15,878 f.]. Cum Antonius linguam Ciceronis abscinderet, quæ in ipsum dictaverat invectivas, dicitur ei Cicero respondisse:“Nil agis, Antoni, scripta diserta manent.“ Ebd.: Quis hodie Lucilium cognovisset, nisi eum Seneca suis epistolis illustrasset? Plus Cæsaris laudibus addiderunt scripta Virgilii et Lucani, quam omnes divitiæ, quas de diversis mundi provinciis adunavit. Prudentia Ithaci, et Pelidæ virtus sub tenebris ignorantiæ usque hodie latuissent, nisi eas divina Homeri mens carmine publicasset. Vgl. Johannes Sarisberiensis, Policratici sive de nugis curialum et vestigiis philosophorum libri VIII, hg. v. Clemens C. I. Webb, London 1909, 8,14, Bd. 2, 329. Vgl. Johannes Sarisberiensis, Policraticus, Bd. 1, Prologus, 11 f. Vgl. Peter von Blois, „Epistolae“, Nr. 6 (an Radulf von Beauvais, um 1155), Sp. 17 f. Bereits in der Widmungsepistel an Heinrich II. versichert er (Nr. 1, Sp. 2): Nihil equidem vobis adulatorium scripsisse me recolo, nec sum olei venditor. Die Metapher tritt häufig auf, etwa in Nr. 15 an den Elekten von Chartres über die Pflichten eines Bischofs (Sp. 55): Prælatus siquidem rarissime invenitur, qui collaterales non habeat assentatores sibi, qui eum lactant et palpant, qui oleo peccatoris caput impinguant. Wieder im Bezug auf das eigene Schreiben in Nr. 38 (an den römischen Kardinal Albert, 1176), Sp. 117: Et utinam corripiat me justus in misericordia, et increpet me; oleum autem peccatoris non impinguet caput meum. Vgl. Ps. 140,5: Corripiet me iustus in misericordia et increpabit me. Oleum autem peccatoris non inpinguet caput meum. Edition: Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, hg. v. Robert Weber [u.a.], Stuttgart 4 1994 [1 1969].

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Peters Selbstverständnis ist dabei das eines Weltklerikers, der im Dienst seiner Mitchristen steht und die Gefahren, die die vita activa für das Seelenheil mit sich bringt, auf sich nimmt. Eine solche Rolle offensiv zu beanspruchen, wäre vermessen, jedoch zeigt sie sich implizit, unter anderem in der Vorliebe für bestimmte biblische Rollenvorbilder. Am häufigsten bezieht er sich auf Hiob, der ein in der Welt lebender, nicht dem jüdischen Gesetz unterworfener, aber herausragend gottesfürchtiger Mann war, wie in Gregors Moralia in Iob nachzulesen ist. 45 Zusammen mit Moses und Paulus nennt ihn Peter in einem beratenden Schreiben an den Abt von Reading, der mit dem Gedanken spielte, vom Abbatiat zurückzutreten. Während die drei biblischen Gestalten ihre weltliche Leitungsfunktion wegen ihrer herausragenden Begnadung durch Gott wahrnehmen konnten, traue er, Peter, sich als viel Geringerer nicht zu, für andere als für sich selbst verantwortlich zu sein. 46 Interessanterweise kommt er just hier auf die Frage der Inspiriertheit zu sprechen. Er selbst schreibe nur über Spirituelles, der Empfänger, der Abt, sei jedoch spirituell (in paulinischer Diktion) und wisse daher selbst am besten, was zu tun sei. 47 Peter bekundet hier seine Unfähigkeit, inspiriert zu sprechen, zugleich stellt er aber den inspirierten Inhaber weltlicher Führungsämter als das Ideal dar. Peter schreibt sich demnach die Autorrolle eines von Gott begnadeten Weltklerikers nicht zu, sondern stellt sie als Möglichkeit in den Raum. Man könnte spekulieren, ob er das tut, weil er sich als einen Bischof im Wartestand sieht, oder weil die Zurückweisung der Autorrolle aus Demut notwendig ist, um sie sich implizit wieder zuzuschreiben – bekanntlich galt es als Kennzeichen eines würdigen Bischofs, das Bischofsamt zurückzuweisen. 48 Auf 45 Vgl. Greg. M. moral. praef. 2,4: Quia enim Deus aperte quibusdam sub lege positis locutus est,

quasi alienos nos ab eisdem praeceptis aspicimus quibus haec specialiter locutus non est. Vnde ad confutandam impudentiam nostram, gentilis homo ad exemplum deducitur ut quia oboedire homo legi sub lege positus despicit, eius saltem comparatione euigilet, qui sine lege legaliter uixit. Gregorius Magnus, Moralia in Iob, hg. v. Marcus Adriaen, Bd. 1: Libri I–X (Corpus Christianorum. Series latina 143), Turnhout 1979. 46 Peter von Blois, „Epistolae“, Nr. 102 (an den Abt von Reading), Sp. 323: Nam etsi Moyses stans in confractione in conspectu Domini orat, ut dimittat populo noxam, aut deleat eum de libro quem scripsit [Exod. 32,31 f.]; si Job radicatus in charitate non dubitat esse frater draconum, et socius struthionum [Iob 30,29]; si Paulus vult anathema esse a Christo pro fratribus suis [Rom. 9,3]: isti quidem abundabant oleo et frumento: at ego pauperculus non habeo, nisi modicum olei, quo ungantur ulcera mea. 47 Ebd. Sp. 323: Illi [Moses, Hiob, Paulus] præ participibus suis uncti erant; vino enim, frumento, et oleo [Ps. 4,8], spiritualibus scilicet divitiis, præ cæteris abundabant. Ebd. Sp. 324: Ego autem vir videns paupertatem meam, habeo animam meam in manibus meis semper, ipsam illi committens, qui potens est depositum meum servare in illum diem. Etsi ego animalis sum, terrenus et carnalis, loquor tamen vobis, quantum prævaleo in doctrina spiritus spiritualibus spiritualia comparando: vos autem qui spirituales estis [Gal. 6,1], scitis quæ sit voluntas Dei bona, beneplacens et perfecta [Rom. 12,2]. Nec sermo meus præjudicium vobis facit. Spiritualis quidem homo omnia dijudicat, ipse autem a nemine judicatur [1 Cor. 2,15]. Ubi enim spiritus Dei ibi libertas [2 Cor. 3,17]. Qui vero spiritu Dei aguntur, hi sunt filii Dei [Rom. 8,14]. 48 Diese Sichtweise findet sich nicht nur in zahlreichen Bischofsviten des Mittelalters, sondern sie fand auch frühzeitig Aufnahme ins Römische Recht. Vgl. die Bestimmung Kaiser Leos I. (457–474) in Cod.

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jeden Fall zeigt diese Stelle, dass Peter von Blois, der bisweilen als verfrühter Humanist gesehen wurde, bei aller Antikenrezeption ein christliches, implizit auf das Bischofsamt bezogenes Autorschaftsmodell vertritt.

3. Resümee: Epistolare Selbstdarstellung, Schriftkultur und geistliches Amt Aus drei herausragenden Epistolarien der Karolingerzeit, des 11. Jahrhunderts und des späten 12. Jahrhunderts sind drei sehr reflektierte und erstaunlich homogene Autorrollen herauszulesen. Die erste definiert den Autor als einen von Nächstenliebe erfüllten Christen, die zweite als einen weltentrückten Asketen und die dritte als einen belesenen, mit den Gefahren des Hofes vertrauten Kleriker. Auch wenn die Autoren von ihrem Stand her schlecht miteinander zu vergleichen sind, so ist doch ihre Selbstdarstellung jeweils ein Produkt der allgemeinen historischen Umstände. Diese betreffen zum einen den Entwicklungsstand der Schrift- und Briefkultur, zum anderen die Möglichkeiten der politischen Einflussnahme. Alkuin ist Exponent eines Reformvorhabens, das die Wiederbelebung der lateinischen litterae mit einer umfassenden christlichen Erneuerung verbindet und daher das Schreiben an sich sakralisiert. Er handelt im Auftrag einer königlichen Zentralgewalt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Reich zu einer gottesfürchtigen, katholischen Gemeinschaft zu einigen, dabei aber auf die Kooperation insbesondere der Kleriker angewiesen ist. Petrus Damianis Autorschaftsmodell ist im Kontrast zu einer bestehenden Schriftkultur entwickelt. Zudem lassen sich die Anliegen des Reformpapsttums, das die Laienherrschaft in der Kirche zu eliminieren versuchte und dabei insbesondere dem ‚simonistischen‘ Episkopat den Kampf angesagt hatte, am glaubwürdigsten durch jemanden vertreten, der völlig außerhalb jedes weltlichen Interesses steht und nicht von einem kirchlichen Amt abhängt. Peter von Blois hingegen steht für ein Expertentum im Abfassen von Briefen, dessen genuiner Ort der Hof ist. Als distinguierendes Merkmal hebt er daher rhetorische Virtuosität sowie ein kritisches Bewusstsein für die Missstände seines Milieus hervor.

Iust. 1,3,30,4f.: Non pretio, sed precibus ordinetur antistes. Tantum ab ambitu debet esse sepositus, ut quaeratur cogendus, rogatus recedat, invitatus effugiat. Sola illi suffragetur necessitas excusandi. Profecto enim indignus est sacerdotio, nisi fuerit ordinatus invitus. Edition: Codex Iustinianus, hg. v. Paul Krüger (Corpus iuris civilis 2), Berlin 11 1954. Ein einschlägiges Zeugnis für die Rezeption dieser Stelle im Umfeld Peters liefert Johannes von Salisbury mit einem ausführlichen Zitat, vgl. Johannes Sarisberiensis, Policraticus 7,20, Bd. 2, 184.

Eckart Conrad Lutz

Zwischen Landesherrschaft und höfischem Credo Lyrik und Gespräch als Medien der Adelsreform bei Ulrich von Liechtenstein 1

Ulrich von Liechtenstein gehört zur großen Zahl adliger Liederdichter, die im Codex Manesse (der Großen Heidelberger Liederhandschrift C) 2 das Mittelfeld zwischen Hochadel und fahrenden Sängern bilden. Aber anders als viele andere hat er als Politiker ministerialer Herkunft in der Mitte des 13. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle gespielt. Er ist zunächst Truchseß Herzog Friedrichs II. (des Streitbaren) von Österreich († 1246) und gestaltet auch unter dessen Nachfolgern, zuerst als Marschall, dann als Landrichter, die Landesherrschaft wesentlich mit; er stirbt am 26. Januar 1275. 3 Seine 58 Lieder mit gut 1 Der vorliegende Beitrag basiert auf Auszügen aus einem längeren Kapitel zu Ulrich von Liechtenstein,

das als Teil eines Buches zur Produktion von Texten vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Gesprächskultur erscheinen soll. Nach der Einreichung des Manuskripts zu diesem Aufsatz erschien: Sandra Linden/Christopher Young (Hgg.), Ulrich von Liechtenstein. Leben – Zeit – Werk – Forschung (De Gruyter Lexikon), Berlin/New York 2010. 2 Vgl. http://digi.ub.uni-heidelberg.de/cpg848, digitalisiert nach: Codex Manesse – die große Heidelberger Liederhandschrift. Vollständiges Faksimile des Codex Palatinus Germanicus 848 der Universitätsbibliothek Heidelberg, Frankfurt a.M. 1975–1978; Codex Manesse. Die große Heidelberger Liederhandschrift. Kommentar zum Faksimile des Codex Palatinus Germanicus 848 der Universitätsbibliothek Heidelberg, hg. v. Walter Koschorrek/Wilfried Werner, Kassel 1981. Vgl. Gisela Kornrumpf, „Heidelberger Liederhandschrift C“, in Kurt Ruh [u.a.] (Hgg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 3, Berlin/New York 2 1981, 584–597. 3 Vgl. Jan-Dirk Müller, „Ulrich von Liechtenstein“, in Kurt Ruh [u.a.] (Hgg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 9, Berlin/New York 2 1995, 1274–1282 und den Sammelband von Franz Viktor Spechtler/Barbara Maier (Hgg.), Ich – Ulrich von Liechtenstein. Literatur und Politik im Mittelalter. Akten der Akademie Friesach „Stadt und Kultur im Mittelalter“ 1996 (Schriftenreihe der Akademie Friesach 5), Klagenfurt 1999, hier bes. Franz Viktor Spechtler, „Die Urkunden-Regesten zu Ulrich von Liechtenstein. Bemerkungen zu den Urkunden und zu einer Biographie Ulrichs von Liechtenstein“, 441–493. Einen konzisen Abriss der wechselnden Positionen Ulrichs unter Berücksichtigung der Darstellung in Ottokars Österreichischer Reimchronik (hg. v. Joseph Seemüller [MGH. Deutsche Chroniken 5.1], Hannover 1890) gibt Hans-Joachim Behr in der Einleitung zu seinem Aufsatz: „Frauendienst als Ordnungsprinzip. Zum Verständnis von Wirklichkeit

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300 Strophen sind vor allem im Codex Manesse überliefert. 4 Sie zeichnen sich – zumindest auf den ersten Blick – allenfalls durch die Breite des Gattungsspektrums, das sie vertreten, und ihre Neigung zum Artifiziellen (in der Form) wie zum Sensuellen (im Inhalt) aus. Bezüge zur Tradition, zu Walther von der Vogelweide, zu Gottfried von Neifen sind da, aber das ist an sich noch nicht aufregend. Was Ulrich von Liechtenstein von anderen unterscheidet und auch in unserem Zusammenhang interessiert, ist das singuläre Unterfangen, sein vollständiges Œuvre nicht nur zu sammeln und zu ordnen, 5 sondern zugleich auch – im Sinne einer großen retractatio – zum Gegenstand der Theoriebildung zu machen. 6 Lied für Lied erklärt er sein Werk als Ausdruck eines lebenslangen Denkprozesses und verortet die Texte in spezifischen Lebenssituationen und Rezeptionszusammenhängen. Er tut dies – wohl als Mann von (gut) 50 Jahren (1255) 7 – im Rahmen einer phantasievollen (oder fiktionsgesättigten) ‚Autobiographie‘ in 1850 Strophen (zu acht, also insgesamt 14 800 Versen), 8 in die er die Lieder als Zeugnisse seines persönlichen Minnedienstes

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und deren Bewältigung im ‚Frauenbuch‘ Ulrichs von Lichtenstein“, in Alfred Ebenbauer/Fritz Peter Knapp/Anton Schwob (Hgg.), Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark. Akten des internat. Symposiums Schloß Seggau bei Leibnitz 1984 (Jahrbuch für Internationale Germanistik A 23), Bern [u.a.] 1988, 1–13. Jetzt zusammenfassend auf neuestem Stand Sandra Linden, „Biographisches und Historisches. Eine Spurensuche zu Ulrich von Liechtenstein“, in Dies./Christopher Young (Hgg.), Ulrich von Liechtenstein, 45–98. Heidelberger Liederhandschrift C, UB Heidelberg, cpg 848, fol. 237r –247r . Zur Lyrik jetzt Manuel Braun, „Typus und Variation im Minnesang des 13. Jahrhunderts“, in Sandra Linden/Christopher Young (Hgg.), Ulrich von Liechtenstein, 398–441. Dazu Ulrich Müller, „Der ‚Frauendienst‘ des Ulrich von Liechtenstein. Ein deutschsprachiger Autor des 13. Jahrhunderts als Editor seiner Lieder“, in editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 21 (2007), 19–49. Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst, Th. 1–2, hg. v. Reinhold Bechstein (Deutsche Dichtungen des Mittelalters 6), Leipzig 1888. Zur Problematik der Datierung vgl. Hans-Joachim Behr, „Frauendienst als Ordnungsprinzip“, 6–9, und jetzt Sandra Linden, „Biographisches und Historisches“, 59ff. Im uneigentlichen, also nicht im gattungsterminologischen Sinn wird hier wie im Folgenden als ‚autobiographisch‘ die erst genauer zu erarbeitende, für den Frauendienst spezifische Bezugnahme des Textes auf die (teils authentisch-historische, teils fiktionale, immer aber funktionale) Lebenskonstruktion des Autors/Erzählers bezeichnet. Von einer „fiktiven Autobiographie“ spricht etwa Jan-Dirk Müller, „Ulrich von Liechtenstein“, 1274; dezidiert ablehnend Harald Haferland, Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 10), Berlin 2000, 245–280, hier 253, vermittelnd Sandra Linden, Kundschafter der Kommunikation. Modelle höfischer Kommunikation im ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Lichtenstein (Bibliotheca Germanica 49), Tübingen/ Basel 2004, 8–12; ersetzt von Bleumer durch die „historisch-narratologische Klassifikation des Textes […] als Ergebnis einer narrativen Transgression […], die einerseits in die Lyrik führt und hier ihren vorläufig jederzeitlichen Abschluss erhält, die aber andererseits den Erzähltext selbst auflöst.“ Hartmut Bleumer, „Der Frauendienst als narrative Form“, in Sandra Linden/Christopher Young (Hgg.), Ulrich von Liechtenstein, 358–397, hier 395. Dass hier die provenzalischen vidas und razos hereinspielen, hat man seit Ursula Peters, Frauendienst. Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein und zum Wirklichkeitsgehalt der Minnedichtung (GAG 46), Göppingen 1971, 161–172, die eine Anregung von Martha Schlereth aufgriff, immer wieder angenommen, freilich bleibt ihr Einfluss vage, wie auch der der altfranzösischen Lyrik auf Ulrichs Lieder. Dazu auch Mark Chinca, „Der Frauendienst

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aufnimmt. Es ist weniger wichtig (und letztlich nicht zu entscheiden), ob oder inwieweit es zutrifft, dass die Lieder genau so entstanden, wie er sie schließlich freigegeben hat (und wie die Sammler des Codex Manesse sie auch exzerpiert haben). 9 Entscheidend ist vielmehr, dass Ulrich damit das konsequent entwickelt und zur Geltung bringt, was der genuin adligen, dilettierenden Liebeslieddichtung von Anfang an eigen ist: die Tendenz zur Reflexion, und zwar nicht nur über die Liebe an sich, sondern über die spezifischen Implikationen einer höfischen Existenz, in der ein laienphilosophisches Denken 10 sich unter dem mehr oder weniger ephemeren Einfluss gelehrter Diskurse, aber eben vor allem mündlich, im Gespräch (und in der Lyrik) vollzogen haben muss. (Meinen Gesprächsbegriff möchte ich dabei zunächst ganz offen lassen, als Bezeichnung oder auch nur Metapher für den Gedankenfluss zwischen literati, semiliterati und illiterati, wie er für höfische Milieus in vielfältigen Konstellationen und Varianten vorauszusetzen ist. 11 Dass der friaulische Hofkleriker Thomasin am Hof des Patriarchen von Aquileja für Ritter, Damen und Kleriker eine höfische und zugleich philosophische Lebenslehre in deutschen Versen verfasst, 12 die auch literaturkritische Abschnitte einschließt, ist bezeichnend für das, was ich andeuten will.)

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zwischen Fiktivität und Fiktionalität. Probleme und Perspektiven der Forschung“, in Sandra Linden/ Christopher Young (Hgg.), Ulrich von Liechtenstein, 305–323, hier 309–314. Vgl. Deutsche Lyrik des späten Mittelalters, hg. v. Burghart Wachinger (Bibliothek deutscher Klassiker 191; Bibliothek des Mittelalters 22), Frankfurt a.M. 2006, 702. Dies im Sinn von Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli (Reclams UB 8342), Stuttgart 1986, 13: „Die Philosophie des Mittelalters war der Versuch Einzelner und ganzer Gruppen, sich in ihrem Leben denkend zu orientieren.“ Deutlicher noch Ruedi Imbach, Laien in der Philosophie des Mittelalters. Hinweise und Anregungen zu einem vernachlässigten Thema (Bochumer Studien zur Philosophie 14), Amsterdam 1989, hier 31 und 100 f. Vgl. u.a. Josef Fleckenstein, „Miles und clericus am Königs- und Fürstenhof. Bemerkungen zu den Voraussetzungen, zur Entstehung und zur Trägerschaft der höfisch-ritterlichen Kultur“, in Josef Fleckenstein (Hg.), Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur (Veröffentlichungen des MPI für Geschichte 100), Göttingen 1990, 302–325; Michael Curschmann, „Höfische Laienkultur zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Das Zeugnis Lamberts von Ardres“, in JanDirk Müller (Hg.), ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und früher Neuzeit. DFG-Symposion 1994 (Germanistische Symposien 17), Stuttgart/Weimar 1996, 149–169; Eckart Conrad Lutz, „Literatur der Höfe – Literatur der Führungsgruppen. Zu einer anderen Akzentuierung“, in Nigel F. Palmer/ Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung 1997, Tübingen 1999, 29–52; Christoph Huber/Henrike Lähnemann (Hgg.), Courtly literature and clerical culture. Höfische Literatur und Klerikerkultur. Littérature courtoise et culture cléricale. Selected papers from the tenth triennial congress of the International Courtly Literature Society. Universität Tübingen, 28. Juli–3. August 2001, Tübingen 2002. Thomasin von Zirclaria, Der Welsche Gast, hg. v. Heinrich Rückert, Nachdr. d. Ausg. Breslau 1852 mit e. Einl. u. e. Reg. v. Friedrich Neumann, Berlin 1965; Christoph Cormeau, „Thomasin von Zerklaere“, in Kurt Ruh [u.a.] (Hgg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 8, Berlin/New York 2 1995, 897–902.

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1. Politik und ‚Autorschaft‘ Was am Ende von Ulrichs Reflexionsprozess scharfe Konturen erhält, lässt sich – meine ich – am besten als ‚höfisches Credo‘ bezeichnen: er verschreibt sich dem Frauen-Dienst in der Erwartung, Gott werde seine triuwe zur vrouwe als Dienst an ihm selbst, als Gottesdienst, annehmen. Der Frauen-Dienst, den Ulrich propagiert, entfernt sich denn auch immer weiter von den ostentativen Formen des Dienens, vor allem im Turnier, er wird zur Haltung, die sich im intimen höfischen Gespräch und in der lyrischen Rede zeigt, nach ständigem Vollzug verlangt und eine Gelassenheit generiert, die den Adel, den einzelnen wie den ganzen Stand, wieder zu sich selbst kommen lassen soll. 13 Und dieses Vorhaben ist motiviert durch die politische und soziale Krise, in die Österreich und die Steiermark im Interregnum nach dem Tod Herzog Friedrichs II. geraten sind, durch einen Prozess des Verfalls, der – jedenfalls in den Augen Ulrichs – gerade das Adelsethos verkommen und damit den Adel seine Identität verlieren ließ. Ulrich hatte aus unmittelbarer Nähe die immer wieder gewagte, aber letztlich erfolgreiche Politik des letzten Babenbergers miterlebt, seine geschickte Behauptung im Machtkampf zwischen Kaiser Friedrich II. und Papst Innozenz IV., die zunächst die Begründung eines Landesbistums in Wien mit päpstlicher Einwilligung, dann – noch im Jahr vor seinem Tod – die Erhebung zum König von Österreich von Kaisers Gnaden in greifbare Nähe rücken ließ. Und noch in der Schlacht an der Leitha (1246) gegen die Ungarn war Friedrich der Streitbare – sterbend – siegreich. 14 Jetzt aber führte das österreichische Privileg der weiblichen (wenn auch an sich nur der direkten weiblichen) Erbfolge zu konkurrierenden Ansprüchen der Schwester und der Nichte des kinderlos Verstorbenen, ihrer sich rasch ablösenden Ehepartner und der rivalisierenden Könige von Böhmen und von Ungarn wie der Herzöge von Bayern, zu Ansprüchen, die sich mit den Interessen von Kaiser und Papst verbanden oder schnitten und im Bemühen um Unterstützung in Adel und Ministerialität alte Spannungen verstärkten und neue entstehen ließen. 15 13 Für Bernd Thum, Ulrich von Lichtenstein. Höfische Ethik und soziale Wirklichkeit, Heidelberg, Diss.

phil. 1968, 27, war der ‚Frauendienst‘ zunächst ganz pragmatisch „ein aristokratischer ‚Ideologie‘Entwurf, der in einer Epoche bröckelnder ständischer Strukturen die auseinanderstrebenden Gruppen der ‚Herren‘ und Dienstritter integrieren […] soll.“ 14 In dem aufwendigen ‚französischen‘ Grabmal, das man ihm im Zisterzienserstift Heiligenkreuz errichtet, wird der mit ihm verbundene und an seine Person gebundene, nicht mehr einlösbare Anspruch noch einmal manifest. Vgl. Friedrich Dahm, Das Grabmal Friedrichs des Streitbaren im Zisterzienserstift Heiligenkreuz. Rekonstruktion – Typus – Stil – liturgische Funktionen (Österreich. Akademie d. Wissenschaften. Veröff. der Kommission für Kunstgeschichte 3), Wien 1996. 15 Zu den hier natürlich nur angedeuteten Konstellationen und Ereignissen während der Regierung Herzog Friedrichs II. und des anschließenden ‚Österreichischen Interregnums‘ vgl. etwa Heinz Dopsch/ Karl Brunner/Maximilian Weltin, Österreichische Geschichte 1122–1278: Die Länder und das Reich. Der Ostalpenraum im Hochmittelalter, Wien 1999, 197–207 und 441–454, und immer noch – detailreich und anschaulich zugleich – Karl Lechner, Die Babenberger. Markgrafen und Herzoge von Österreich 976–1246 (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 23), Wien [u.a.] 6 1996, 275–307; jetzt auch Sandra Linden, „Biographisches und Historisches“, 63–70.

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Vor diesem Hintergrund behauptet Ulrich als Kern der adligen Identität die Verpflichtung auf die Liebe als gelebten Diskurs – ihn bezeugt die Tradition des Minnesangs und insbesondere sein buoch, das er Frauendienst (vrowen dienst; 1850,7) nennt und als lebenslang wachsendes und offen bleibendes versteht, ergänzbar durch weitere Lieder (die wir nicht haben 16 ) oder eben durch das Frauenbuch, 17 in dem Ulrich das Gespräch tatsächlich und buchstäblich wieder aufnimmt. Adlige Identität kommt also zum Ausdruck in einer spezifisch adligen Form der ‚Autorschaft‘, in der Beteiligung an freier Rede und ihrer lyrisch gebundenen Form, an musikalischem Vortrag und kritischem Gespräch, das zur Fortsetzung des Dichtens animiert; diese ‚Autorschaft‘ konstituiert adlige Identität und überhöht sie, und sie ist von politischer Relevanz. Sie wirft aber zugleich auch die Frage auf, ob bzw. inwieweit gerade die gängige Rede von der ‚Autorschaft‘ 18 geeignet ist, das Phänomen höfischen Liedermachens und -singens adäquat zu fassen: für Ulrich jedenfalls erscheint es nur als eine Seite eines spezifisch adligen, höfischen Selbstverständnisses und der Lebensform, in der es zum Ausdruck kommt. Ich werde hier zu zeigen versuchen, wie Ulrich mit seiner Konzeption, mit seiner Botschaft, den Adel zu erreichen, Wirkung zu erzielen versucht. Am offensichtlichsten (und bei ‚autobiographischem‘ Erzählen naheliegend) ist natürlich die narrative Ausbreitung (oder Füllung) eines realen geographischen und sozialen Raumes, an dem Erzähler und Publikum gemeinsam teilhaben und in den gelegentlich die krude Wirklichkeit des Zeitgeschehens einbricht. 19 Aber eben nur gelegentlich und vor allem da, wo die Erzählzeit sich der Gegenwart annähert, jener Zeit der politischen und moralischen Verunsicherung eines Adels, der zunächst unter ganz anderen Umständen vorgeführt wird. Denn die Rezipienten begegnen Ulrich, einander und sich selbst in der Erzählwelt zunächst vor allem im Zuge zweier großer (fiktiver) Fahrten, die der Protagonist im Dienst seiner Damen unternommen haben soll: Gekleidet in ein Venuskostüm soll er allein von Venedig bis nach Böhmen gezogen sein und unterwegs an namentlich genannten Orten mit namentlich genannten Rittern gestochen haben. Im Dienst an seiner zweiten Dame reitet er als Artus aus, umgeben von den Rittern der Tafelrunde, das heißt also wieder: von Rollenträgern, die das Publikum kennt. Das Treffen mit Herzog Friedrich ist ein Höhepunkt dieser Fahrt. Hier wird also eine in ihren geographischen und politischen Strukturen authentische Welt durch Personen belebt, die nicht weniger authentisch sind, aber in (weitgehend) fiktionales 16 Ihre Ankündigung in Str. 1846 f. 17 Ulrich von Liechtenstein, Das Frauenbuch, hg., übers. und komm. v. Christopher Young (Reclams

UB 18290), Stuttgart 2003.

18 Zuletzt Christiane Ackermann, „Die Kunst der Entschleierung. Autorinszenierungen im Frauen-

dienst“, in Sandra Linden/Christopher Young (Hgg.), Ulrich von Liechtenstein, 324–357.

19 Dazu die Aufsätze von Günther Hödl, „Der Donau- und Alpen-Adria-Raum im Jahr 1246. Eine

Momentaufnahme“; Heinz Dopsch, „Zwischen Dichtung und Politik. Herkunft und Umfeld Ulrichs von Liechtenstein“, und Gerald Krenn, „Historische Figuren und/oder Helden der Dichtung? Untersuchungen zu den Personen im Roman ‚Frauendienst‘ “, in Franz Viktor Spechtler/Barbara Maier (Hgg.), Ich – Ulrich von Liechtenstein, 25–48, 49–104, 105–132; Sandra Linden, „Biographisches und Historisches“, 71–92.

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Geschehen eingebunden werden. Allein schon beim Turnier von Friesach, das aus Anlass eines landesherrlichen Schiedsverfahrens am 1. Mai (1224) stattgefunden haben soll und der Ulrich-Figur erlaubt, sich erstmals in spektakulärer Weise (wie ein Romanheld, in grüner Verkleidung) im Frauen-Dienst hervorzutun, bevor er seine Venus-Fahrt antritt, treten neben den Herzögen Leopold VI. von Österreich und Steiermark und Bernhard von Kärnten Markgraf Heinrich von Istrien und der Patriarch Berthold von Aquileja, Erzbischof Eberhard II. von Salzburg, die Bischöfe von Brixen, Passau und Freising und die Grafen Meinhard von Görz, Albert von Tirol, Wilhelm von Heunburg, Hermann von Ortenburg sowie Ulrich von Pfannberg auf, um nur sie zu nennen. 20 Und für die Beschreibung dieses Auftretens und des Verhaltens der Personen gilt wahrscheinlich – beweisbar ist das nicht – dasselbe: Es dürfte Verhaltensmustern verpflichtet sein, die den Rezipienten als authentische, als ihre eigenen, auch da erkennbar sind und vertraut bleiben, wo der Erzähler sie narrativ entfaltet, fiktionalisiert und gezielt benutzt.

2. Adlige Sozialisation Unter dieser Perspektive interessieren dann an der Sozialisation eines jungen Adligen, die der Erzähler anhand der ‚eigenen‘ Vita exemplarisch vorführt, nicht die bekannten komischen (?) Überhöhungen (er trinkt als Page das Waschwasser der Dame; lässt seinen schiefen Mund operieren; opfert der Dame einen Finger usw.); es interessiert vielmehr die Erziehung zum rechten Gebrauch von Rede und Lyrik: Die exemplarische Vita des künftigen Frauendieners wird von Beginn an auf dienest an guoten wîben, an einer vrowen guot, als den einzigen Weg zu werdecheit und êre festgelegt (8f.). Diese Festlegung erfolgt durch die wîsen (‚Erfahrenen‘; 8, 9, 13), ist aber von Anfang an und in auffälliger Dichte von eigenem Nachdenken begleitet. 21 Sie beruht auf Entscheidung (11) und wird geprägt durch Vorbilder wie margrâve Heinrîch, 22 der den Knappen lehrt (suoze) sprechen wider diu wîp, auch an prieven tihten süeziu wort (sprich Lieder) 23 und süeziu wort mit werken wâr zu verbinden (33f.). Noch vor der Schwertleite lernt er, Frauen durch turniren zu dienen. Auf einen (auto)biographischen Wert dieser Aussagen kommt es auch hier nicht an, Stilisierung, ja Überzeichnung dieser Ausbildung sind evident, aber eben konsequent im Hinblick auf die Konzeption des Textes. Umgekehrt ist deutlich, dass der 20 Str. 177–312; vgl. Günther Hödl, „Der Donau- und Alpen-Adria-Raum“, 43. 21 Str. 10, 12, vgl. auch die Strophen 17–20, 21, 22 f., 24, 29. 22 Str. 29 ff.; vgl. schon 13. Zur Frage der Identität des Markgrafen vgl. Sandra Linden, Kundschafter

der Kommunikation, 41, Anm. 144.

23 Dass hier an verschriftlichte Lieder zu denken ist, nicht an Minnereden im Sinn der ‚Büchlein‘,

die Ulrich dem Frauendienst inseriert (so Reinhold Bechsteins Anm. 13), legt die spätere klare Unterscheidung zwischen büechelîn und liet in Str. 1335,2f., 1336,1 und 1337 nahe; vgl. auch Str. 165. Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. v. Friedrich Ranke, Dublin/Zürich 1968, V. 8139 (brieve und schanzune tihten; Hinweis Bechsteins, ebd.) ist hingegen nicht eindeutig.

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Erzähler sofort den gnomischen und reflexiven Charakter des Minnedienstes und seine ethische Dimension ebenso hervorhebt wie den Zusammenhang zwischen Gespräch und Lieddichtung – und dass Ulrich selbst das so (irgendwo) gelernt hat, zeigt gerade sein Werk. Schon die Entstehung des ersten Liedes wird denn auch entsprechend vorbereitet: Trauernd darüber, dass seine Dame nicht weiß, dass sein Dienst ihr gilt, will der Erzähler zu seinem niftel, einer verheirateten Verwandten gekommen sein, die seine Vertraute (und Botin) wird (52). In einem Gespräch mit ihr, das bereits den Typus jener Gespräche vorwegnimmt, der für das Verhältnis zur zweiten Dame charakteristisch sein wird (auf Einladung der Dame, zu zweit, sitzend und privat; 53,1–3), übernimmt die Verwandte den Auftrag, der Dame seine Dienstbereitschaft mitzuteilen und ihr ein Lied zu überbringen: Es ist ein Preislied von ebenso konventioneller Prägung wie die Formeln, mit denen er der Botin seine Liebe beschreibt (62f.; 65f.), und dann wie die, mit denen die Botin der Dame von seiner Liebe berichtet (71,6–73,8). Schon hier aber wird das Lied als Ausformulierung einer Auffassung erkennbar, die Ulrich vorab im Gespräch vertritt: ir güete volloben niemen mac (66,8). Sie steht dann sentenzhaft am Anfang des Liedes – wîbes güete niemen mac volloben an ein ende gar (I, 1,1f.) –, bevor das Ich von seiner Dame und zu ihr spricht und sie um die Annahme seines Dienstes bittet. 24 Dieselbe Formel steht aber auch schon in dem sechsstrophigen lob (7,1) von wîbes güete und guoten wîben, das den Frauendienst an sich eröffnet und bekenntnishaft der werlde heil (1,5) verkündet (wîbes güete niemen gar volloben an ein ende mac; 2,2f.), bevor der Erzähler mit einer eher prologtypischen siebten Strophe in gotes namen sein mære beginnt. Von der Initiation in den Frauen-Dienst bis zur Verständigung auf eine höfisch-spielerische Beziehung, in deren colloquialem Vollzug der Kunstcharakter des Minnesangs thematisiert und – respektiert wird, also das fiktionale Spiel nicht mit der Realität verwechselt werden kann, ist es freilich ein langer Weg. Aber erst dann besteht die Chance zur höfischen Selbstbesinnung in einem Austausch, der sich neuen, ethischen und philosophischen Dimensionen öffnen kann. Und gerade das ist bei einer Auffassung des Minnesangs, wie sie im Zusammenhang des ersten Minnedienstes vorgeführt wird, noch nicht möglich. Er ist vom ersten Lied an konkret zielgerichtet, 25 zunächst an der Annahme des Dienstes 24 Ironischerweise stehen dem zentralen Lob des Liedes: ir rôter munt gibt reinen gruoz (I,2,4), das in

noch ganz konventioneller, später von Ulrich konsequent differenzierter und neu gefüllter Verbindung anziehende Schönheit, Rede und Lohn der Dame in eins setzt, nicht nur die Ablehnung des dienstes und die Verweigerung weiterer rede (81) gegenüber, sondern auch ihre Meinung, schon sîn ungefüege stênter munt (80,6) genüge, ihn als Diener abzuweisen. Das Urteil veranlasst die Ulrich-Figur bekanntlich zur Mundoperation (83–108), wobei wieder offen bleiben kann und muss, ob und wie sich in dieser Episode biographisch-faktische und symbolisch-allegorische Komponenten durchdringen. Dazu Hartmut Bleumer, „Der Frauendienst als narrative Form“, 376 f. 25 In II,5 ist erstmals von ir nâhe ligen als Zielvorstellung die Rede, dann werden die Stufen der Annäherung im Sinne Ovids durchlaufen, dessen Vorstellungen und Bildlichkeit auch sonst immer wieder gegenwärtig sind, gerade auch im Wechsel XXXII und in besonders plakativer Weise im letzten Lied (LVIII). Der Begriff minnensolt wird zuerst in VIII,5,7 gebraucht.

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durch die Dame interessiert, einer Annahme, die von ihr immer wieder verweigert wird, selbst noch in Hinblick auf die große Venusfahrt (465ff.). Dieses Wechselspiel von Dienst und Verlangen und (korrekt) hinhaltender Verweigerung kulminiert in der Gewährung eines heimlichen Besuchs, dem eine förmliche Belehrung über die Bedingungen vorausgeht, unter denen allein er statthaft ist. Sie lässt zugleich die fragile Konstruktion des ‚klassischen‘ Minnedienstes durchsichtig werden, jene nicht auflösbare Spannung zwischen der Reinheit und Erhabenheit der Dame, die ihren Ruf begründet und garantiert, und dem Verlangen des ergebenen Mannes nach endlichem Lohn, jenen Widerspruch, der die lyrische Minnereflexion zu immer neuen Variationen angeregt hat. Diese Unvereinbarkeit der konkurrierenden Werte wird hier offen und alle Spielräume nutzend diskutiert. Freilich ist letztlich (auf der Handlungsebene) jede Verständigung ausgeschlossen, und nur die Anwesenheit der ihm physisch überlegenen acht Damen hindert den Mann, nâch sumelîcher manne sit (‚so, wie es manche Männer tun‘; 1216,8) mit Gewalt an sein Ziel zu gelangen. Auch das schowen der weiteren Gemächer der Dame (1229), als neuer Beweis ihrer Gunst, ändert an seiner Haltung nichts, die Situation lässt sich nur durch (eine weitere) Frauen-List beenden. 26 Wenig später zerbricht das Verhältnis. Basis für das Gelingen des Gesprächs im neuen, zweiten Minneverhältnis ist dann die Verständigung über den fiktionalen Charakter des in der Tradition des Minnesangs formulierten Verhältnisses, das Einvernehmen über die Regeln eines Sprachspiels, das erotische Empfindungen (als gedachte/als tatsächliche) voraussetzt und die Thematisierung der sexuellen Erfüllung als Gegenstand des Verlangens nicht auszusparen braucht. Denn es spricht die Liebesvereinigung eben nicht an, um sie (als Sängers Lohn) herbeizuführen, sondern umkreist sie nur metaphorisch – gleich viel, ob und wann sie stattfinden mag. 27 Diese Verschiebung des Akzents von der einseitig-absichtsvollen Formulierung des sexuellen Verlangens (im ersten Dienst) zum Vergnügen am spielerisch-colloquialen, am sprachlich-virtuosen Umgang mit erotischer Bildlichkeit (im zweiten Dienst) bereitet sich unter Bedingungen vor, wie sie ein zentrales Beispiel veranschaulichen kann: Lied XXXIII, eines der ersten Lieder, die unter dem Einfluss der zweiten Dame entstanden sein sollen. 28 So, wie der Erzähler dieses Lied präsentiert, ist es Ausdruck einer erotisch gestimmten Intimität (ich ir nâhen bî gesaz und […] was si an ze sehen vrô: von hertzen ich si 26 Er erwartet diese List aufgrund seiner schulde (seines Insistierens auf dem bîligen): 1262,3. Die

Versicherung der Dame: ich tuo, swaz iwer wille sî. ir sult mir hie geligen bî nach ewerm willen endelich (1265,5 ff.), ist eine falsche Versprechung. 27 Vgl. Gert Hübner, Frauenpreis. Studien zur Funktion der laudativen Rede in der mittelhochdeutschen Minnekanzone, Bd. 1–2 (Saecula spiritalia 34–35), Baden-Baden 1996, 292–296, und Hartmut Bleumer, „Der Frauendienst als narrative Form“, 392 f. Erst in diesem Zusammenhang stehen darum auch die beiden Tagelieder Ulrichs (XXXVI und XL). Natürlich geht es hier nicht um „eigene Erlebnisse“, sondern um „dichterische Arrangements“ im Rahmen der Gattungstradition, aber die Verbindung zur Minnedienerbiographie wird deshalb nicht „gar nicht geleistet“, sondern auf der Ebene der neuen, meditativen Metaphorik vollzogen: Sandra Linden, Kundschafter der Kommunikation, 298. 28 Lied und Kontext sind als Anhang zu diesem Beitrag wiedergegeben.

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gerne sach; 1397,2–5), eines colloquialen Umgangs (redet mit ir sus unde sô; 1397,3), der höfische Konventionen respektiert (sich fuogt aber von ir tugenden daz; 1397,1) und sich (damit) private Bereiche sichert (swaz ich ir mêr gedienet hân, und waz si güet an mir begân hât, des wil ich verdagen: wan einez daz wil ich iu sagen; 1396,1–4), eines Gesprächs, das ganz unmittelbar nach der Bestätigung durch lyrische Gestaltung verlangt (swaz ich des tages gegen ir sprach, zehant dô ich dâ von ir schiet, ich sanc von ir sâ disiu liet; 1397,6ff.), nach einer Nachgestaltung, die hier – in Gestalt des Wechsels – Inhalt und Form des Dialogs zugleich fasst und ihn zugänglich, öffentlich macht. Der hohe Anspruch, der mit dieser lyrischen Fassung verbunden ist, zeichnet sich auch in der ungewöhnlichen Reimstruktur ab. 29 Der Dialog setzt ein mit einer klassischen Liebeserklärung des ‚Minnesängers‘ (Str. 1): völlige (herze und liep) und beständige (niht abe gestân) Hingabe (an iuch verlân) in der Hoffnung (wân) auf die Gunst der Dame (ûf genâde; ze guot ergân) – der gehäufte Reim unterstreicht noch die Monotonie der Formeln. 30 Die reimlos-‚prosaisch‘ wirkende 31 Antwort der Dame fordert klare Definitionen von dienest und lôn (Str. 2). Der folgende Gedankenabtausch (Str. 3–5) deckt den Kunst- und Spielcharakter dieser Lieddichtung auf und erzielt zugleich ein Einvernehmen, das die prekären Bedingungen der Verständigung als Teil des Spiels bejaht: Der Sänger will in hôhe[m] muot und zuversichtlicher vreude der höfischen Welt sein lop der Dame vortragen, ohne noch von Lohn zu reden (Str. 3). Dann aber ist der dienest, aus der Sicht der Dame, in erster Linie ein Vergnügen des Sängers (wie sie einwendet; Str. 4): als stereotyp-hyperbolisches Lob mag dieses Preisen poetisch gelingen, ‚ihr selbst‘ wird es freilich nicht gerecht. Es mag gar den Verdacht wecken, der Sänger habe keinen Anlass zur Trauer mehr, sei also erhört worden – dann wird das Lob für die Dame zum schamelop, zum spiegel, in dem sie ihr leit erblickt, wie sie es formuliert (4,5ff.). Als erdichtetes Lob gerade in seiner Konventionalität verbindlich, kann es sich (nach Ansicht des Sängers) aber bei Hof sehen lassen (ez wol ze hove gât; 5,2), kann es als Kleid der Dame dort besser bestehen als aller künege wât. Als bloss 29 Das Lied umfasst fünf Strophen zu sieben vierhebigen Versen. Die Männerstrophen (1 und 3 und die

vom Mann gesprochenen ersten 4 Verse der 5. Strophe) haben gehäuften Reim, in den Frauenstrophen reimen die je entsprechenden Verse der 2. und 4. Strophe aufeinander, die Reime der Verse 5 bis 7 werden in den Frauenversen der 5. Strophe noch einmal aufgenommen: alle Verse sind also als Waisen bzw. als Körner behandelt. Auf dieselbe Weise sind in Gottfrieds von Neifen Lied VII die erste und die dritte bzw. die zweite und die vierte Strophe aufeinander bezogen, wobei diese Strophen im Übrigen ganz anders gebaut sind: Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, hg. v. Carl von Kraus, Bd. 1: Text, Bd. 2: Kommentar, bes.v. Hugo Kuhn, 2. Aufl., durchges.v. Gisela Kornrumpf, Tübingen 1978, Bd. 1, 89 f., Bd. 2, 101 f. (mit Hinweis auf Ulrich); vgl. auch Silvia Ranawake, Höfische Strophenkunst. Vergleichende Untersuchungen zur Formentypologie von Minnesang und Trouvèrelied an der Wende zum Spätmittelalter (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 51), München 1976, 321 ff. 30 Dass dabei „in allen Strophen a-Klänge gesetzt sind“ unterstreicht wohl noch die Qualifizierung der Rede: Burghart Wachinger, Deutsche Lyrik, 708. 31 Die Körner lassen sich beim Vortrag nicht wahrnehmen, wer sie aber anschließend entdeckt, sieht Kunst- und Schlagfertigkeit der Dame bestätigt.

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textuelles Gewebe wäre es freilich jenem pretiösen Kleid von worten vergleichbar, in das Wirnt von Gravenberc seine Florie kleiden kann, ohne dass man sie darum zu beneiden bräuchte. 32 Dann verdankt die Dame ihr lop nur dessen Erfinder, ist es unprîs (5,7), blosses Sprachspiel – wenn die Pointe nicht noch spitzer ist: dann hielten die lobenden Aussagen der Lieder am Hof besser Stand als alle königlichen Kleider, besonders diejenigen jenes dupierten Königs, deren Pracht (und deren Existenz an sich) nur alle die behaupteten, die sich ihrer eigenen Unkeuschheit schämten, und dann wäre die Dame nackt. 33 Wie dem auch sei: Der liebe herre, sælic man, der hier den Spielcharakter des Lobes aufdeckt, geht damit jedenfalls zu weit (ir sît spotes alze vrî; 5,6), zugleich aber hält er sich wohl an die Regeln fazeter Rede, die durch das Rühren an sensible Grenzen nur gewinnt. 34 Anspruch 32 Wirnt von Gravenberc, Wigalois, der Ritter mit dem Rade, hg. v. J. M. N. Kapteyn (Rheinische

Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde 9), Bonn 1926, zur Kleidung der Florie: V. 723–952, bes. 856–862: swer daz nû wolde nîden / daz si sô schône was gekleit, / daz wær ein michel tôrheit / wand ez ist âne ir aller schaden / swaz ich ûf sî mac geladen / von sîden und von borten / und von gezierde, mit worten. Und später, bezogen auf den vürspan der Larie: V. 10508–10580, bes. 10574 ff.: alsus hât gemeistert dar / nach dem wunsche ditze werc / mit worten Wirnt von Grâvenberc. 33 Es ist zumindest nicht auszuschließen, dass hier die Kenntnis des Erzählmotivs AaTh 1620 vorausgesetzt ist. In seiner ersten Redaktion (ein Betrüger, der sich als Maler ausgibt, fertigt in fürstlichem Auftrag Wandgemälde an, die nur Personen ehelicher Geburt bzw. unschuldige Frauen sehen können; ein Narr deckt den Betrug auf) ist es zuerst aus dem Pfaffen Amis des Strickers (vor 1236) bekannt. Seine zweite Redaktion (zwei Betrüger, die sich als Weber ausgeben, fertigen in fürstlichem Auftrag Gewänder an, die nur Personen ehelicher Geburt bzw. unschuldige Frauen sehen können; ein Kind deckt den Betrug auf) ist zuerst in Juan Manuels El Conde Lucanor (um 1335) belegt, dann bis zu Hans Christian Andersens Märchen. Die nächstverwandte deutsche Verserzählung ist die von den Drei listigen Frauen (älteste Fassung A, 14. Jh.). Zum Motiv vgl. Hans-Jörg Uther, „Kaisers neue Kleider“, in Kurt Ranke [u.a.] (Hgg.), Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 7, Berlin/New York 1993, 852–857; Austrian Academy of Sciences (ed.), Motif-Index of German Secular Narratives from the Beginning to 1400, vol. 1–7, Berlin/New York 2005–10, verweist auch nur auf die Drei listigen Frauen. Das Motiv war aber offenbar mündlich so weit verbreitet, dass die Kenntnis einer die vermutete Anspielung erlaubenden Variante in Ulrichs Umfeld zumindest denkbar ist. 34 Der Kunst des scomma, des durch urbanitas verhüllten Tadels im (Tisch-)Gespräch, eines Spotts, der trifft und doch nicht verletzt, beschreibt Macrobius in seinen Saturnalien und ordnet sie dem sapiens oder alius urbanus zu; und Johannes von Salisbury hat sie in seinem Policraticus ausführlich zitiert: Macrobe, Les Saturnales, t. 1–2, [texte et] trad. nouvelle avec introd. et notes par Henri Bornecque/François Richard, Paris 1938, VII, iii, 298–309; Ioannes Saresberiensis, Policratici sive de nugis curialium et vestigiis philosophorum libri VIII, t. 1–2, recogn. et proleg., app. crit., comm., indic. instr. Clemens C. I. Webb, Oxford 1909, VIII, x, Bd. 2, 289f. Zur facetia vgl. Charles Stephen Jaeger, The Origins of Courtliness. Civilizing Trends and the Formation of Courtly Ideals 939–1210 (The Middle Ages), Philadelphia 1985, bes. 161–168, und jetzt die beiden Aufsätze von Gerd Dicke: „Homo facetus. Vom Mittelalter eines humanistischen Ideals“, in Nicola McLelland/Hans-Jochen Schiewer/Stefanie Schmitt (Hgg.), Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. XVIII. Anglo-German Colloquium Hofgeismar 2003, Tübingen 2008, 299–332, und Ders., „Fazetieren. Ein Konversationstyp der italienischen Renaissance und seine deutsche Rezeption im 15. und 16. Jahrhundert“, in Eckart Conrad Lutz/Johanna Thali/René Wetzel (Hgg.), Literatur und

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und Exklusivität solcher Rede unterstreicht eindrücklich die nachfolgende Erzählstrophe: Sie hebt kommentierend nicht nur die ausgefallene und zugleich raffinierte Form des Liedes hervor (und identifiziert ausdrücklich die beiden Rollen des Wechsels mit den Figuren Ulrichs und seiner Dame in der Erzählhandlung), sondern betont auch (und vor allem) die Schwierigkeiten einer höfischen Öffentlichkeit 35 , den Liedinhalt zu verstehen: Das gelang nur wenigen, swer aber was sô rehte wîs, der sî verstuont, der gabe in prîs (‚doch wer so viel Bildung besaß, dass er sie [die Strophen] verstand, der lobte sie‘; 1398,3ff.). Nur unter der Voraussetzung solchen literaturkritischen Urteilsvermögens (oder Kunstverstandes) kann aber auch das unmittelbar folgende Lied XXXIV als erstes von vier der zweiten Dame ze dienest geschaffenen Liedern richtig verstanden werden. Denn gerade hier, wo Melodie und Text vorweg unübertreffliche, ja hinreißende Qualität zugesprochen wird (die giengen ûz der sinne hort; 1399,6), nimmt Ulrich seinen Preis der ethischen und ästhetischen Auszeichnung der Dame, ihres angeborenen Adels und ihrer gelebten Weiblichkeit (Str. 4) als subjektive – und das heißt bei Liebenden doch zumindest: befangene – Sicht zurück (swer [sie] mit mînen ougen sæhe; Str. 5,1), um diese Sicht gleich darauf als ein Urteil zu retablieren, das auf Kennerschaft beruht (Str. 5,4) und insofern (und eben nur insofern) wârheit für sich beanspruchen kann. Im prinzipiellen Offenlassen der Aussagen, im Austragen der mit dem Konstruktionscharakter dieser Lyrik verbundenen Chancen des Verstehens und der Risiken des Missverstehens aufgrund verschiedener Standpunkte liegt wohl einer der Hauptreize des Spiels. Es ist eine Konsequenz dieser Auffassung, dass Ulrich sich nicht nur in seiner ‚berühmten‘ Tagelied-Kritik gegen jede Form der Zwangsläufigkeit in Fragen der Liebe wendet. Sie wird schon im ersten Tagelied (XXXVI) und in den beiden ihm unmittelbar vorausgehenden Liedern mit Natureingang stillschweigend vorweggenommen. 36 Aber mit der expliziten Kritik am herkömmlichen Natureingang (ab 1610), in deutlicher Selbstbehauptung gegenüber den trûren-machenden, politisch begründeten Turnierverboten (also auch Verboten des Frauen-Dienstes) am Ende der Artusfahrt, wird zugleich – programmatisch – jener Teil des Frauendienst eröffnet, in dem der fortlaufende Wechsel von liedhafter und vor- und nachbereitender nicht-liedhafter, in den Erzählstrophen wiedergegebener Minnereflexion nur noch durch relativ knappe Einblendungen von Wechselfällen des Lebens unterbrochen wird: durch den Tod Herzog Friedrichs des Steitbaren (1659) und den gleich darauf einsetzenden politischen und (adels-)gesellschaftlichen Zerfall, durch die eigene Gefangenschaft des Erzählers als eine unmittelbare Folge dieser Zustände, durch materi-

Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation. Burgdorfer Colloquium 2001, Tübingen 2005, 155–188. 35 Ob einer realen oder gedachten, einstigen oder gegenwärtigen, bleibt sich gleich. 36 In XXXIV verjagt das Ich in hôhem muote, den ihm ein wîp gibt, sorge und angest wie den winder; und in XXXV schützt wîbes güete wie ein dach gegen ungemüete, wie die warmen stuben gegen den Winter schützen.

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elle Verluste bei seiner Befreiung und durch Klagen über allgemeinen Niedergang, über Raubrittertum und über die Auflösung aller höfischen Werte und Ordnungen. 37 Politisch begründete Turnierverbote des Herzogs leiteten diese Ereignisse ein. Die philosophische Gelassenheit, die der Erzähler zeigt (und die auf die abschließende direkte Belehrung seiner Hörer vorbereitet), hat ihre Basis in der je neu die erfüllte Liebe thematisierenden Gesprächskultur, die das zweite Dienstverhältnis begleitet und – laut den die Verbreitung der Lieder betreffenden Strophen (1621, 1633 usw.) – als eine jeweils potentiell immer weiter ausgreifende gedacht ist. Die politische Dimension dieser auf dem Frauen-Dienst beruhenden Gelassenheit steht in Zusammenhang mit dem Tod des Herzogs, den der Erzähler eindringlich beklagt und der in Österreich und der Steiermark vil grôziu nôt, unbildes vil zur Folge hat: Raubzüge des Adels, der damit – in für den Frauendienst bezeichnender Akzentuierung – gotes hulde und vrowen gunst (1679,5) und zugleich seine edele (1680,3), also nicht weniger als seine Identität, verliert. So eindeutig, wie dieser kurze Ritterspiegel das durch got hôchgemuot-Sein, durch êre swenden guot (1681,1f.) und geben den armen (1683,1f.) dem rouben gegenüberstellt, das in die ewige Verdammnis führe (1684), bindet er das hôchgemuot-Sein erneut an den Dienst an einer vrowe guot (1686ff.). Und eben nur dieser Dienst lässt den Erzähler selbst vrô und hôchgemüete bleiben, trotz der beklagten allgemeinen Dekadenz. Lied XLV macht die Unempfänglichkeit für das (vrô machende) süeze lôsen (2,5), das ‚bezaubernde Reden‘ einer Dame geradezu zum Merkmal der unguoten (1,1) und unterstreicht damit noch einmal die Bedeutung des (Minne-)Gesprächs für eine höfische Ethik, die nun im Schlussteil des Frauendienst immer ein-, ja aufdringlicher formuliert wird: Seine Dame kan sprechen süeziu wort (3,2; vgl. 4,6), ir vil lieplîch, güetlîch lôsen (3,3) macht ihn glücklich, nimmt ihm trûren und macht ihn vrô. Trauer ist überhaupt nur als geistliches trûren des Sünders statthaft, im Kontext des Hofes (in dirre werlt) aber nicht (1689f.). Hier rückt nun das lôsen der Dame in den Mittelpunkt, steht es für das Faszinosum eines von Zuneigung bestimmten, mit urloup und grüezen (als Bereitschaft zu nehmen und zu geben) verbundenen, als vil lieplîch, güetlîch bezeichneten Redens der geliebten Dame, das sich mehr und mehr als Inbegriff jener ethischen Disposition erweist, die von Anfang an (unzulänglich und doch nicht überbietbar) als güete bezeichnet wird und zugleich die vollendetste Form des Sich-höfisch-Gebens ist. Das gedankliche und sprachliche ‚Auskosten‘ der Wirkung, die von beidem ausgeht – von der (höfischen) Schönheit und den (höfischen) süßen Worten der Dame –, bestimmt dann die letzten vierzehn Lieder des Frauendienst und ihre Begleitstrophen. Hier dominiert nun erneut eine Bildlichkeit, die schon früher von der Metapher vom ‚Wohnen im Herzen‘ ausging und das minne spil der Tugenden in ihm als der freuden hôchgezît beschrieb (so wiederholt in 1795). 38 Freilich werden nun die geistlichen Konno37 Zur Verarbeitung im Frauendienst vgl. Sandra Linden, Kundschafter der Kommunikation, Kap. 9.1–2,

bes. 331–335.

38 Sebastian Neumeister, „Das Bild der Geliebten im Herzen“, in Ingrid Kasten/Werner Paravicini/

René Pérennec (Hgg.), Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Transferts cul-

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tationen dichter, das Herz der Frau als lebende[z] himelrîch wird dem rechte[n] himelrîch verglichen (1800), die Gegenwart beim minne spil der Tugenden in ihm, die Teilhabe an der freuden hôchgezît, ist gar dem vil schœnen paradîs vorzuziehen (1801f.). Gott möge den Meditierenden nicht dorthin, sondern hier ins Herz gelangen lassen, da wäre er den Engeln, ja den Seligen gleich (1805). Voraussetzung dieser mentalen Höhenflüge ist aber die Begegnung, der Umgang mit der Geliebten – das die guoten sehen, die freude, die ir kleinvelsüeze redenter munt im Minnegespräch auslöst (1806). 39 Zugleich erreicht der Anspruch des Textes, verbindliche Lehre zu vermitteln, eine bis dahin unerhörte Eindringlichkeit. In Anschluss an Lied L hatte der Erzähler noch im Rückblick von seinem Nachdenken darüber berichtet, wie er den vrowen wîsen rât geben könne (1753), um ihn dann in LI in lyrischer Form indirekt vorzutragen: Ich wil durch die vrouwen mîn guoten wîben râten einen rât […] (1,1f.). Jetzt wendet er sich ganz unmittelbar an sie: 40 ich wil iu vrowen râten daz; ich râte iu (1819,1,7); daz sult ir (1820,5); ir sült bedenken (1821,1); nu wizzet (1822,7); ich hân iu […] geseit (1823,1); ich wil iu tuon […] bekant (1824,1). Was so, in unmittelbarem Anschluss an Lied LVIII, mit der Warnung vor der Hingabe an ‚falsche‘ Männer beginnt, geht aber rasch in ein allgemeines, freilich von der Erfahrung des Mannes ausgehendes, philosophisches Raisonnement über, das zunächst fünf Güter (dinc) benennt, über die herren (im besten Fall) verfügen können: die vil reinen wîp sind das erste, gutes Essen, schöne Pferde, Kleider und Zimier kommen hinzu. Freilich müsse ein rîcher man auch verstehen, richtig damit umzugehen (gebiderben; 1825f.). Diesen materiellen Gütern sind daher vier weitere zu-, eher: übergeordnet, von denen der wîse man weiß, dass niemand sie alle zugleich besitzen könne (1827f.). Es sind Gottes hulde, Ansehen in der Welt (êre hie), ein sorgenfreies Leben (gemach) und Wohlstand (guot; 1829f.). Einige wählen so, andere anders, aber nur das erste Gut – gotes hulde – ist eine gute Wahl (1831–34). Ein Fünftes ist daz versûmte leben (1835,2), das wählen die Toren, die meinen, alle vier Dinge zugleich haben zu können und – alle verlieren. Zu ihnen zähle er selbst (1836). Doch bei allem bisherigen Schwanken in dieser Orientierung werde er nicht so töricht sein, nicht das Beste zu wählen, nur diene er eben zugleich der einen, einzigen Frau, und an diesem Dienst wolle er weiter turels et histoire littéraire au moyen âge. Kolloquium Paris 1995, Sigmaringen 1998, 315–330, der bedauert, dass die deutsche Rezeption des Motivs „insgesamt wenig eindrucksvoll“ sei (320), hat Ulrich übersehen. Zur (reflektierten) Mitteilung psychischen Erlebens in körpergebundener Anschaulichkeit vgl. jetzt Nigel F. Palmer, „Herzeliebe, weltlich und geistlich. Zur Metaphorik vom ‚Einwohnen im Herzen‘ bei Wolfram von Eschenbach, Juliana von Cornillon, Hugo von Langenstein und Gertrud von Helfta“, in Burkhard Hasebrink [u.a.] (Hgg.), Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters, XIX. Anglo-German Colloquium Oxford 2005, Tübingen 2008, 197–224. 39 In für Ulrichs Text bezeichnender Weise ist der rote Mund der Geliebten (in Gottfried von Neifen und andere überbietender Formulierung) nicht einfach Inbegriff der erotischen Ausstrahlung; die Faszination, die von diesem Mund ausgeht, setzt bei Ulrich sein reden voraus. Vom kleinvelhitzerôten munt (5,12), dem ‚samthäutig-heiß-roten Mund‘, ist zunächst auf dem Höhepunkt des der minne freuden spil (2,9) besingenden Reihens XXIX die Rede, er wird dann zum Signalwort im Kontext der veränderten Minneauffassung des zweiten Dienstes. 40 Freilich verstärkt durch die Textlücke nach 1818,6.

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festhalten, ja in der dienst die sêle […] wâgent sîn (1838,7f.), im Dienst an ihr sein Seelenheil aufs Spiel setzen. Wie zu erwarten, wird nun auch hier die (seit langem aufgebaute) Spannung zwischen den unvereinbaren Diensten nicht entschieden zu Gunsten Gottes. Vielmehr folgt der Versuch, sie auszutragen im Wagnis eines Credos (Mîn geloube ist […]; 1839,1), das einem höfischen Gott zur Approbation angetragen wird, der die triuwe im Frauen-Dienst als triuwe gegenüber ihm selbst verrechnen soll. 41 Nicht umsonst besitzt dieser vil reine, süeze got (1839,2) die Qualitäten der Dame (sie ist […] reine, […] süeze; LVIII, 5,5f.), die dem räsonierenden Erzähler nun als ursprinc und ende seiner Freude erscheint und liep ist für elliu dinc (1840,1ff.), die so zum a et w, zum summum bonum avanciert, freilich zu einem ‚höfischen‘, um dessentwillen er bî der werlde ist und sein Dasein sich im FrauenDienst erfüllt (1840,5–8). Auf der Grundlage dieses höfischen Credos können dann die Wünsche des Dichters für die Damen und seine Bitte um ihre Fürbitte für ihn selbst beides im Auge haben: gelingende Liebe hier und doch Gottes rîche dort oder, wie er es für sich (mit mehr Ambivalenz) formuliert: rehtez ende und sölhen sin, daz mîn sêle var mit freuden hin (1844,7f.). Hier wird nun sein singen und sagen, tihten und sprechen, 42 also sein ganzer Frauendienst, als Teil jenes ‚süßen Redens‘ verstanden, das in Liedern und Begleitstrophen des zweiten Dienstes immer wieder als Quelle und Medium einer Liebe umschrieben worden ist, in der sich – im Text wie außerhalb – menschliches Dasein als höfisches Dasein erfüllt: Ir sult ouch des vergezen niht, […] mit süezen worten mîne tage iwer lop ich singe, iwer lop ich sage […]. 43 Ditz buoch sol guoter wîbe sîn: in hât dar an die zunge mîn gesprochen vil manic süezez wort. 44

Hier kommt ein absolutes Vertrauen zum Ausdruck auf die stabilisierende Kraft, die von der Übereinstimmung in Denken, Reden und Empfinden unter Freunden, unter Liebenden ausgeht – auf eine erlesene Begabung, die aber eben als solche einem elitären Kreis vermittelbar ist.

3. Wirkungsräume Die Münchner Pergament-Handschrift M des Frauendienst, die auf 129 Blättern nur diesen Text enthält, ist zweispaltig angelegt und mit einfacher Rubrizierung versehen. Sie gehört, wie die beiden Fragmente A und L, die mit ihr die Überlieferung des Frauendienst 41 42 43 44

Inhalt dieses Glaubens ist schlicht, dass Frauen-Dienst gleich Gottes-Dienst sei. 1843,4; 1845,7; 1846,1f.; 1847,1ff.; 6 f.; 1848,3; 1849,2 f.; 1850,2 f. 1843,1; 3 f. 1850,1–3.

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bilden, dem ausgehenden 13. Jahrhundert und dem bairisch-österreichischen Sprachgebiet an. Alle drei Zeugen könnten denselben Handschriftentypus vertreten haben, 45 sind in Format und Umfang den funktionalen Einzelroman-Handschriften vergleichbar, als deren Bestimmung man sich die private oder gemeinschaftliche Lektüre im kleinen Kreis vorstellen mag, 46 aber darin auch der noch kleinformatigeren Weingartner Liederhandschrift nicht unähnlich, 47 die am ehesten für einen Gebrauch bestimmt gewesen sein dürfte, der an Minnereflexion, an nachdenklichem Lesen allein oder (eher) unter Kennern interessiert war. Dass die Lieder Ulrichs aus ihrem Begründungszusammenhang gelöst und in Form einer ‚gewöhnlichen‘ Autorsammlung anderen Interessen erschlossen werden konnten, zeigt ihre Aufnahme in den Codex Manesse, der sie in der Anordnung des Frauendienst exzerpiert. Auch Ulrichs Frauenbuch – unikal im Ambraser Heldenbuch überliefert 48 – hat vielleicht den Raum seiner Entstehung nie verlassen. Diese Befunde stehen der Vermutung zumindest nicht entgegen, dass Ulrichs Wirkungsraum begrenzt war, sich im wesentlichen auf jenen – durchaus nicht engen – Horizont beschränkte, in 45 Kleinformatige Pergamenthandschriften aus dem letzten Viertel bzw. vom Ende des 13. Jahrhunderts

mit zweispaltiger Anlage, nach Versen abgesetzt, (rote) Initialen am Strophenbeginn, ausgeführt in M und A, vorgesehen in L. Die Münchner Handschrift (M), Bayerische Staatsbibliothek, cgm 44, zählt 129 Blätter im Format 24,5 × 16,5 cm mit einem Schriftspiegel von ca. 18,4 × 12,7 cm bei 35–36 Zeilen; die Verse der Lieder sind, anders als die der Erzählstrophen, nicht abgesetzt. Beim Augsburger Einzelblatt (A), Staats- u. Stadtbibliothek, Fragm. germ. 10, misst das Blatt selbst 22 × 12,3 (urspr. ca. 15?) cm, der Schriftspiegel 17,3 × 11,8 cm, die Spalten haben 28 Zeilen. Die Fragmente eines (A verwandten) Doppelblatts aus Landshut (L), Staatsarchiv, vom Einband der Fischmeisteramtsrechnungen Landshut von 1510, o. Sign., lassen auf eine Blattgröße von urspr. ca. 20 auf 15 cm und einen Schriftspiegel von 15 × 11,2 cm bei 29–30 Zeilen schließen. Zu A vgl. Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 69 (1932), 321 f. (Franz Schmidt), zu L Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 101 (1972), 326–329, Zitat oben: 328 (Burghart Wachinger); Abbildungen aus M in Ulrich von Lichtenstein, Frauendienst (Jugendgeschichte). Abbildungen aus dem Münchner Cod. germ. 44 und der Großen Heidelberger Liederhandschrift, hg. v. Ursula Peters (Litterae 17), Göppingen 1973, hier auch knappe Beschreibungen der drei Textzeugen auf Seite 2; eine Seite aus M bei Karin Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache. I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300, Wiesbaden 1987, Tafelband, Abb. 131, dazu Textband, 230 f.: einfache Gebrauchsschrift mit modernen Formen. Eine umfassende Darstellung der Überlieferung jetzt durch Jürgen Wolf, „Ulrich von Liechtenstein im Buch“, in Sandra Linden/Christopher Young (Hgg.), Ulrich von Liechtenstein, 487–514. 46 Vgl. Jürgen Wolf, Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert (Hermaea 115), Tübingen 2008, 72–78, bes. 76ff., 124–134 und 261–266, und Ders., „Ulrich von Liechtenstein im Buch“. 47 Vgl. Gisela Kornrumpf, „‚Weingartner Liederhandschrift‘ “, in Kurt Ruh [u.a.] (Hgg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 10, Berlin/New York 2 1999, 809–817, hier 809: Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, HB XIII 1, Sigle B, wahrscheinlich Konstanz, 1. Viertel des 14. Jh.s, Perg., I + 157 Bll., ursprüngliches Blattformat mind. 17 × 12,5 cm, Schriftspiegel 12,5 × 8,5 cm, einspaltig zu 28 Zeilen, Verse nicht abgesetzt. 48 Dazu Wernfried Hofmeister, „Das ‚Frauenbuch‘ Ulrichs von Liechtenstein als eine interdisziplinäre Herausforderung. Ansätze und Forschungsperspektiven“, in Franz Viktor Spechtler/Barbara Maier (Hgg.), Ich – Ulrich von Liechtenstein, 205–220, hier 206–211.

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dem er auch politisch tätig war, auf die Steiermark und die angrenzenden Teile Österreichs und Kärntens sowie Bayern, auf das Herrschaftsgebiet Herzog Friedrichs und seiner Nachfolger, denen Ulrich diente. 49 Es ist aber eben auch der Raum, den seine Venus, den sein Artus durchreiten, der im Frauendienst in den Stationen dieser Fahrten, z.T. in farbigen Szenen, Tiefe erhält und durch zahllose Vertreter der regionalen Eliten belebt wird. 50 Dieser Raum wird also im eigentlichen Sinn erfahren und so für jeden neu erfahrbar gemacht, der die Namen kennt, sich Personen, Orte, Wege und Lebensformen vorstellen kann und das, was er nicht kennt, durch typische Bilder zu ergänzen vermag. 51 Gerade weil im Frauendienst der erzählte Raum als durchschrittene und belebte Welt sowie individuelle und gruppenspezifische Erfahrungen und Erinnerungen der Hörer oder Leser sich durchdringen, gerade weil darin über ein Substrat an höfischen Lebensformen und Verhaltensmustern ein Grundkonsens hergestellt werden kann, ist es erst möglich, in der fiktionalen, aber mit Realismen gesättigten Handlung und der Reflexion der Lieder und Kommentare eigene Vorstellungen herauszuarbeiten. Und gerade erst die Spiegelung eines – gewachsenen und bedrohten – sozialen Beziehungsgefüges, 52 das zumindest viel mit der zeitgeschichtlichen Wirklichkeit zu tun hat, 53 gibt dem sich als minnewîse 54 gebenden Erzähler eine Autorität, die auf der politischen und sozialen Rolle Ulrichs und seiner gesellschaftlichen Bedeutung als Liederdichter beruht haben muss. Vor diesem Hintergrund legt schon die Stilisierung der eigenen Jugendgeschichte zur Lehrzeit des Frauendienst-Verfassers auf eine Lesart des Textes fest, die der Beherrschung des ‚süßen Wortes‘ zentrale Bedeutung für die höfische, geselligkeits- und gesprächsbetonte Existenzform jener Adelsgesellschaft einräumt, für die Ulrich sein Reformprogramm 49 Vgl. Jürgen Wolf, „Ulrich von Liechtenstein im Buch“, bes. 488–496, 503 und 510. 50 Gerald Krenn, „Historische Figuren“, 106, zählt 176 Personen; vgl. jetzt Sandra Linden, „Historisches

und Biographisches“, 71–86.

51 Und dazu passt auch die kanzleinahe Überlieferung von M, A und L: „[…] das Werk wurde in dem

Milieu tradiert und rezipiert, in dem auch […] Ulrich selbst zu verorten ist.“ Jürgen Wolf, „Ulrich von Liechtenstein im Buch“, 503. 52 Zu den sozialen Gruppen vgl. Heinz Dopsch, „Zwischen Dichtung und Politik“, 92–97, und Sandra Linden, „Historisches und Biographisches“, 61–66. 53 Der Bericht über den Tod Herzog Friedrichs in der Schlacht an der Leitha am Veitstag, dem 15. Juni, 1246 (Str. 1659–76) könnte ebensogut in einer Reimchronik stehen. In den politisch motivierten Verboten des von Ulrich angesetzten Turniers von Neustadt und seiner Teilnahme am Turnier zu Krumau treffen sich in nicht mehr genau verifizierbarer Weise die Ebenen des historischen Zeitgeschehens und des Minnedienstes der Erzählhandlung (1591–1609); dazu Sandra Linden, Kundschafter der Kommunikation, 257. Jeder historischen Überprüfung entzieht sich selbstverständlich das Minnegeschehen, von den öffentlichen Inszenierungen des Dienstes bis zu seinen privaten und psychologischen Seiten. 54 Der Begriff gehört in den Zusammenhang der im Schlussteil entworfenen vollständigen Ausrichtung der Existenz am Frauen-Dienst, der ein alternatives himelrîche zum christlichen paradîse bietet (LVII,5 und 6). Man wird an daz lebende paradîs in Gottfrieds huote-Exkurs erinnert, das im herzen des von einem rehte tuonde[n] wip geliebten Mannes erblüht: Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, V. 18.045–114, hier 18.066 f., 18.099.

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entwirft: suoze sprechen wider diu wîp (33,3/8), an prieven tihten süeziu wort (33,5), süeziu wort mit werken wâr zu verbinden (34,1) – das waren (angeblich) die Lehrinhalte, die ihn als Knappen beim Markgrafen Heinrich beschäftigten, der sie selbst vorbildhaft verwirklicht haben soll, als Teil einer umfassenden Curialitas, in der das höfische Sprechen mit und über (30,3) Frauen neben der Angemessenheit des (Redens und) Verhaltens (mit tumpen tump, mit wîsen wîs; 30,7) und der Selbstbeherrschung im Gespräch steht (sîn munt nie bœsez wort gesprach; 31,2). Aber erst ein (von der minne und in minne) Reden, das die Fähigkeit einschließt, in diu herzen zu sehen, wie es der Erzähler bei seiner zweiten Dame kennengelernt haben will, 55 gibt dem Gespräch jene heilswirksame Qualität, 56 die insbesondere der Schlussabschnitt des Frauendienst programmatisch (und damit die zu Beginn dem Markgrafen zugeschriebenen Lehren überbietend) formuliert. Erst der hier erhobene Anspruch gibt der volkssprachigen Liebeslyrik wie dem Gespräch ihren medialen Status: mittels Lyrik und Gespräch vermögen sich Laien unter Laien in höfischem Umfeld quasi-philosophisch zu verständigen. Die Voraussetzungen dieser Verständigung sind deutlich markiert. Es sind vor allem die Bedingungen einer höfischen Geselligkeitskultur, in der das Spielen mit konventionellen Formen des Verhaltens und der Rede, des Gesprächs im Mittelpunkt stehen: Begegnungen gelingen dort, wo spæhe rede Erwartungen durchkreuzt oder maßvoll provoziert (und gemeinsames Lachen auslöst), auch da, wo Kunstverstand und Kennerschaft es erlauben, Melodie, sprachliche Form und Inhalt von Liedern, vielleicht auch ihre Situationsbezogenheit zu würdigen, neue Einfälle zu bewundern (XXXII) oder dunkle Aussagen zu enträtseln (XXXIII); aber auch und insbesondere dort, wo im privaten (Minne-)Gespräch spæhe rede Begeisterung auslöst, zu erotischem Sprachspiel animiert, zu literaturkritischen oder zu philosophisch-ethischen Betrachtungen Anlass gibt. Die Vermittlung dieses Entwurfs einer gesprächszentrierten höfischen Geselligkeitskultur, die im Gebrauch erotischer Rede in Lyrik und Konversation kulminiert, setzt offenbar auf die Autorität des Lehrers und Vorbilds, der ‚seine Welt‘ und ‚sein Leben‘ aus der Idee des Minnedienstes heraus so neu entwirft, dass sie über den Nachvollzug seines spielerisch-fazeten Umgangs mit der Wirklichkeit – der eigenen wie der des Publikums – prägend werden können. Gelingen konnte diese Vermittlung freilich nur, wo intime Kenntnis der Lebenswelt des Autors und seines Publikums das Spielen mit der Wirklichkeit durchschaubar machte. 57 Es ist nicht bekannt, ob Ulrich nach Abschluss des Frauendienst tatsächlich, wie er es erwartet (1847), weitere Lieder verfasst hat. Er hat aber zwei Jahre später die drei 55 Vgl. LIV,1,2; 7,1 ff. 56 Die Verbindung den guoten wîben / der werlde heil findet sich programmatisch schon in Str. 1. 57 Christelrose Rischer, „wie süln die vrowen danne leben? Zum Realitätsstatus literarischer Fiktion

am Beispiel des ‚Frauendienstes‘ von Ulrich von Lichtenstein“, in Gerhard Hahn/Hedda Ragotzky (Hgg.), Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert (Kröners Studienbibliothek 663), Stuttgart 1992, 133–157, hier 156, spricht vom Einsatz der „Versatzstücke historischer Realität […] als literarisches Mittel […], um den historischpolitischen Anspruch der Literatur innerhalb der höfischen Gesellschaft noch zu verstärken.“

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dem Frauendienst inserierten büechelîn um ein weiteres vermehrt, der vrouwen buoch. 58 Dessen Titel lässt offen, ob es nur seiner vrouwe oder allen Damen gewidmet ist: 59 Wie beim Frauendienst soll die eigene Dame die Veröffentlichung veranlasst haben, 60 aber das Aufgehen des individuellen Dienstes in der allgemeinen Frauenverehrung war schon für den Frauendienst charakteristisch, und es gilt auch hier. 61 Die Nähe der Texte zu einander ist freilich noch weit größer. Zwar ist die formale Eigenständigkeit des Frauenbuch evident: Prolog und Epilog, der neue Auftrag, der eigene Titel und die Datierung unterstreichen sie, und sein Umfang von 2134 Versen gegenüber den je knapp vierhundert Versen der drei früheren Büchlein eröffnet neue Möglichkeiten und erlaubt dem Text erst seine Selbständigkeit. Andererseits greift das Frauenbuch in so vielfältiger Weise auf den Frauendienst zurück, dass der Eindruck eines Kontinuums entsteht, und das ist für das Verständnis beider Texte wichtig: 62 Es werden nicht nur Gedanken, Motive und Formulierungen wieder aufgenommen, 63 vielmehr wird in beiden ein Denken ‚praktiziert‘, das keinen Abschluss sucht, sondern anhaltende Präsenz, weil es Haltung und Selbstverständnis der Beteiligten bestimmt, ein Denken, das gelebt wird und eben deshalb je neuer Formulierung, ja eines ständigen ‚Bekennens‘ 64 (im Gespräch und im Lied) bedarf. Das erklärt auch die Konzeption des Frauenbuch, in dessen Zentrum eine schoeniu vrouwe guot und ein ritter hôchgemuot (39f.) ein Streitgespräch über jenen Verlust der vreude führen, den Ulrich gegen Ende des Frauendienst beklagte. Beide weisen dem jeweils anderen Geschlecht die Schuld daran zu, bevor der herre – ähnlich dem Erzähler in der didaktischen Schlusspartie des Frauendienst – breit ausführt, woran die Damen einen ihrer Liebe würdigen ‚Diener‘ erkennen könnten (dessen Entwurf natürlich zugleich männlichen Lesern ein Leitbild vollkommenen Frauen-Dienstes vorstellt). 65 Im richtigen Augenblick erscheint Ulrich von Liechtenstein auch hier als Figur im eigenen Text, erneut als Frauen-Dienst-Experte, der gebeten wird, den Streit zu entscheiden (1821–70). Ulrich erklärt, dass die Frau in allem dem Mann unterstellt sei, und ergreift deshalb schlichtend ausdrücklich ihre Partei (1936); seien die Frauen dem unterworfen, was wir man (1938) wollen und was ‚uns‘ gut dünkt, dann müssten ‚wir‘ sie nur anweisen (heizen), vrô und 58 Ulrich, Das Frauenbuch. Die relative Chronologie ergibt sich aus Frauendienst, 1845, 2–5, und

Frauenbuch, 2127 ff.

59 Der Auftrag seiner Dame geht der Titelnennung unmittelbar voran (2122 ff.), an die vrouwen überhaupt

als Leserinnen ist gleich anschließend gedacht (2130).

60 Ez wil diu liebe vrouwe mîn, daz ich ir rihte ditz büechelîn (5f.). 61 So geht die lange Schlussrede Ulrichs von seinem lebenslangen Dienst an allen Damen aus (2013–52)

62

63 64 65

und dann zum Dienst an seiner vrouwe über, in dessen Rahmen er jetzt dieses Büchlein zu Ende gedichtet habe (2053–2124). Die Kontinuität betont etwa auch Fritz Peter Knapp, Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273 (Geschichte der Literatur in Österreich 1), Graz 1994, 490, einen engen Bezug zwischen beiden Texten arbeitete erstmals Hans-Joachim Behr, „Frauendienst als Ordnungsprinzip“, heraus. Das gilt für den gesamten Text, Belegstellen erübrigen sich. Man denke an das explizite Credo im Frauendienst, Str. 1839,1ff. V. 1365–1820.

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hôch gemuot zu sein (1942f.). Woher aber soll das kommen, wenn ‚wir‘ selbst nicht vrô sind (1947f.)? Die Verantwortung liegt also beim Mann. Der Ritter hält darauf Ulrich zwar dessen notorische (im Frauendienst offenkundige) ‚Parteilichkeit‘ vor, die von Tadel an den Frauen, so berechtigt er auch sein möge, nichts wissen wolle (1950–74), muss sich aber sagen lassen, er kenne die Frauen nicht: Sie seien so guot und rein, dass sie anders niht wan allez guot täten, wenn man es nur als solches nehmen wollte (1975–82) – als höfischer Mann sollte er seine Angriffe einstellen (1997–2000). Der Ritter gibt nach, womit der Weg frei ist zu einer didaktisch-panegyrischen Rede des schlichtenden Erzählers, der nun beinahe unmittelbar die Konturen des ‚autobiographischen‘ Ich des FrauendienstSchlusses annimmt: Er formuliert seine Auffassung des Dienstes noch einmal, wendet sie aktualisierend ins Persönliche – nû hân ich ditz büechelin voltihtet ze dienst der vrouwen mîn (2053f.) – und verbindet mit der Fürbitte für seine Dame die Hoffnung auf vil liebes von ihr, um sich abschließend explizit als Autor und Frauendiener zu nennen: ich Ulrich von Liechtensteine hân ir getihtet ditz büechelîn, dâmit sol ir gedienet sîn (2122ff.). Die Rede des Experten im Text soll in der Haltung des Autors, Ulrichs, verwirklicht sein. Die Strukturen des Frauenbuch: der höfische Dialog zwischen exemplarischen Vertretern der Geschlechter, der rasch zum (gemessenen) Streitgespräch wird und mit der Aufforderung zur Schlichtung an den hinzutretenden Dritten und der Wiederholung der Positionen der Parteien in ein Schiedsverfahren übergeht, um schließlich in einer Minnerede zu enden, 66 die das Streitgespräch zwischen Männern und Frauen grundsätzlich verwirft – schon diese Strukturen verweisen selbstverständlich auf den diskursiven Charakter des verhandelten Wissens. 67 Wichtiger ist aber in unserem Zusammenhang die Vorstellung von der Wiederaufnahme eines kontinuierlichen gesellschaftlichen Gesprächs, in das schon der Frauendienst eingriff und auf dessen Fortsetzung hin er offen blieb. Es ist das zwanglose höfische Gespräch, aus dem sich das im Frauendienst mitgeteilte Streitgespräch entwickelt haben soll: Ez saz ein schœniu vrouwe guot bî einem ritter hôchgemuot, si redten mit ein ander vil […], si redten ditz, si redten daz […] (39–43). Und dieses Gespräch steht unter dem Einfluss der Literatur; 68 der Ritter des Streitgesprächs kennt 66 Auf der Abgrenzung des Frauenbuch (als ganzem Text) gegenüber der Gattung Minnerede insistiert

jetzt zurecht Katharina Philipowski, „Erzähler und Erzählform in Ulrichs von Liechtenstein Frauenbuch oder: Ist das Frauenbuch eine Minnerede?“, in Sandra Linden/Christopher Young (Hgg.), Ulrich von Liechtenstein, 442–486. 67 Und diese Verhandlungen verlieren selbstverständlich nicht durch ironische Nebentöne und komische Elemente, ganz im Gegenteil. Etwas überakzentuiert bei Elke Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik im 13. Jahrhundert. Zum Frauenbuch Ulrichs von Liechtenstein“, in Euphorion 83 (1989), 72–97, bes. 96f. Für Jan-Dirk Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion. Zum Verhältnis von literarischem Diskurs und historischer Realität im ‚Frauendienst‘ des Ulrich von Lichtenstein“, in Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 58 (1984), 38–73, hier 73, nähert sich das Frauenbuch „schon einer [frühneuzeitlichen] Konversationslehre.“ 68 Zunächst des Frauendienst, der Lieder, Reden usw. integriert, dann aber der dem Adel geläufigen Literatur an sich, deren „Traditionslinien“ im Frauenbuch schon Ingeborg Glier, Artes amandi. Untersuchungen zur Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 34), München 1971, 41–46,

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Ulrichs Haltung: jâ waz ez ie iuwer rât, daz den vrouwen alle man mit dienste wæren undertân und tuon reht swaz si wolten (1952–55). Für diese Haltung stehen – wie die Konstruktion des Frauendienst es will – sein Leben wie seine Dichtung ein, und das Frauenbuch greift sie im Prolog, an wîp und man (37) gewendet, dezidiert auf. Ob fingiert oder nicht, der neue Auftrag der Dame verlangt nach der Fortsetzung des im Frauendienst als textkonstituierend beschriebenen Verfahrens der Verdichtung von geselliger Rede im Lied (oder Büchlein) und nach dessen Aufgehen im Kontinuum des in freundschaftlichem Einvernehmen geführten literaturkritischen und philosophischen Gesprächs. Das Frauenbuch – seine Existenz an sich wie seine Konzeption – führt vor, wie sich Ulrich das kontinuierliche diskursive Arbeiten seiner höfischen Gesellschaft an ihrem Selbstverständnis gedacht hat, und welche Bedeutung er dem nicht abreißenden, literarisch gestützten und geförderten Gespräch zumaß: Ohne die Vorstellung von einem identitätsstiftenden Sich-Finden in der lyrisch gefassten, der Vergegenwärtigung und der gemeinsamen Reflexion zugänglichen, als philosophisch relevant verstandenen Konzeption des Frauen-Dienens (als des Inbegriffs höfischer Kultur) sind beide Texte – Frauendienst und Frauenbuch – und ihr Verhältnis zu einander nicht gut denkbar. Und die Existenz des Minnesangs (und das Aufkommen der Minnereden) an sich und des breiten und anhaltenden, sich ständig verändernden Interesses an ihm sprechen dafür, dass Ulrichs Vorstellung nicht allzu wirklichkeitsfern gewesen sein dürfte. 69 Es stellt sich aber auch die Frage nach der Angemessenheit (oder Nützlichkeit) von Kategorien wie ‚Autorschaft‘ und ‚Text‘ für die Beschreibung soziokultureller Phänomene, in denen es auf Urheberschaft und literarische Form als feste Größen weit weniger ankommt als auf die Wiederholbarkeit und Offenheit der Sinnbildungsprozesse, an denen sie beteiligt sind: die ‚Autoren‘ als (nur auch) lyrisch sich äußernde Adlige unter anderen, unter Interessierten und Kennern; die ‚Texte‘ als Äußerungen unter anderen in einem

herausgearbeitet hat. Für den Frauendienst betont Fritz Peter Knapp, „Österreichische Literatur um 1250 und Ulrichs Rezeption der Blütezeit“, in Sandra Linden/Christopher Young (Hgg.), Ulrich von Liechtenstein, 99–131, den Anschluss „an nahezu alle literarischen Gattungen“ der klassischen und nachklassischen Zeit (131). 69 Sicher ließe sich im Sinne Jan-Dirk Müllers zeigen, „wie bestimmte Strukturmerkmale von Turnier und Frauendienst im höfischen Fest, der Etikette und vor allem in den Regeln der bienséance und höfischen Konversation einer späteren Adelsgesellschaft wiederkehren“; „Lachen – Spiel – Fiktion“, 73. Aber schon Ulrich scheint mir eben „den literarischen Minnedienst“ nicht „als utopische Kunstwelt“ zu entdecken (ebd.), sondern als eine Lebensform, die als Gegenstand philosophischer Reflexion die höfische Gesellschaft zu verändern vermöchte. Auf der „Verbindlichkeit“ des Textes, auf der „Minne als Lebensprogramm“ insistiert auch Klaus Grubmüller, „Minne und Geschichtserfahrung. Zum ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Liechtenstein“, in Christoph Gerhardt/Nigel F. Palmer/ Burghart Wachinger (Hgg.), Geschichtsbewusstsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübinger Colloquium 1983, Tübingen 1985, 37–51, hier 51, auf Lebensorientierung, Lebenshilfe und Lebenssteigerung Christelrose Rischer, „ Zum Realitätsstatus literarischer Fiktion“, 156.

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Diskurs, der Dichtung, den Umgang mit ihr wie mit einander und das höfische Gespräch integriert. 70

Anhang: Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst (ed. Bechstein) 1396 Swaz ich ir mêr gedienet hân, und waz si güet an mir begân hât, des wil ich vil verdagen: wan einez daz wil ich iu sagen: ich sang ir lop in aller zît: ir lop mir hôchgemüete gît, ir lop mir offte sanfte tuot, ir lop gibt mir hôhen muot. 1397 Sich fuogt aber von ir tugenden daz, daz ich ir nâhen bî gesaz und redet mit ir sus unde sô. ich was si an ze sehen vrô: von hertzen ich si gerne sach. swaz ich des tages gegen ir sprach, zehant dô ich dâ von ir schiet, ich sanc von ir sâ disiu liet: XXXIII. Ein tanzwîse, diu drî und zweinzigeste wîse. [1] Wizzet, frouwe wol getân, daz ich ûf genâde hân herze und liep an iuch verlân. daz riet mir ein lieber wân: durch des rât hân ichz getân und wil es niht abe gestân: daz lât mir ze guot ergân! [2] „Sît ir dienstes mir bereit, tuot ir daz ûf lônes reht, sô lât mich erkennen daz, wie der dienest sî gestalt, den ich mich sol nemen an, wie der lôn geheizen sî, der iu von mir sol geschehen.“ [3] Vrouwe, ich wil in mînen tagen sô nâch iuwern hulden jagen, daz ez iu muoz wol behagen, 70 Diese Frage stellt sich, meine ich, auch in Bezug auf die im Rahmen der Tagung von Konrad Hirschler,

Anika Söltenfuß und Meike Kimmel vorgestellten Komplexe.

132 den muot durch iuch hôhe tragen und an freuden niht verzagen, iuwer lop der werlde sagen und des lônes noch gedagen. [4] „Sît ir vrô, dar zuo gemeit mir ze dienest, als ir jeht, ez gefrumt iuch selben baz danne mich wol tûsentvalt. tuot daz schamelop hin dan! mirst der spiegel swære bî, dar inn ich mîn leit sol sehen.“ [5] Iuwer lop die wirde hât, daz ez wol ze hove gât, baz dann aller künege wât âne scham aldâ bestât. „lieber herre, sælic man, ir sît spotes alze vrî. dêst unprîs, tar ichs gejehen.“ 1398 Diu liet vil maniger niht verstuont, als noch die tumben ofte tuont; swer aber was sô rehte wîs, der sî verstuont, der gabe in prîs. si wâren getihtet wunderlîch, die rîme gesetzet meisterlîch: diu wîse kunde bezzer niht gesîn: ich redet drinne mit der vrowen mîn.

Eckart Conrad Lutz

Bruno Quast

als Thômas von Britanje giht Narratologische Überlegungen zur Funktion des Autornamens in der höfischen Epik am Beispiel des Tristan Gottfrieds von Straßburg

Lange bevor Roland Barthes 1968 den Tod des Autors proklamierte 1 und ein Jahr später Michel Foucault das Verschwinden des Autors beobachtete, 2 ihn auf eine Funktion reduzierte, eine Verklammerung oder Schnittstelle von Diskursen, erfand Wayne Booth 1961 die Kategorie des implied author 3 , worunter er ein im Werk entworfenes zweites Selbst des Autors fasst, das auf den empirischen Textproduzenten verweist, ohne mit ihm identisch zu sein. Dieses Konzept darf also nicht – schon aus historischen Gründen – als Versuch verstanden werden, den Autor zu retten, ihn als textinterne Instanz erneut ins Recht zu setzen, wo er doch als textexterne oder besser textunabhängige Größe im Zuge einer poststrukturalistischen Verabschiedung idealistischer Subjektphilosophie an Terrain verloren hat. Wenn inzwischen auch die Wiederkehr des Autors konstatiert worden ist, so bleibt doch eine bemerkenswerte Unsicherheit im Umgang mit der Kategorie des Autors. Was jeweils mit Autor oder Autorschaft gemeint ist, bedarf der steten Begründung. Die alten Gewissheiten jedenfalls sind einer persistenten kritischen Infragestellung gewichen. In gewisser Weise hat der implizite Autor den ‚Tod‘ des realen Autors überlebt, jedenfalls dann, wenn man den ‚impliziten Autor‘ mit Textstrategien in eins setzt, die unter Umständen gar mit einem Autornamen identifiziert werden können. Die germanistische Mediävistik hat in den letzten Jahren unter Berücksichtigung der medienhistorischen und überlieferungsgeschichtlichen Besonderheit mittelalterlicher Literatur die Funktion des Autornamens einlässlich diskutiert. So betont Ernst Hellgardt 1 Roland Barthes, „Der Tod des Autors“, in Fotis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Texte zur Theorie der Autor-

schaft (RUB 18058), Stuttgart 2000, 185–193.

2 Michel Foucault, „Was ist ein Autor?“, in Fotis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Texte zur Theorie der Autor-

schaft (RUB 18058), Stuttgart 2000, 198–229. Ich zitiere diesen Aufsatz im Folgenden aus dem Sammelband Michel Foucault, Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 1991, 7–31. 3 Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction, Chicago/London 1961, bes. 67–77: Neutrality and the Author’s ‚Second Self‘.

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in einer der frühmittelhochdeutschen Literatur des 11. und 12. Jahrhunderts gewidmeten Untersuchung, dass die Nennung des Autornamens im Kontext schriftlicher Aufzeichnung die Ablösung des Autors und seines Werks von der aktuellen Vortragssituation indiziere. Mit der schriftlichen Autornennung manifestiere sich ‚literarische‘ Kommunikation auf elementarem Niveau. 4 Autorsignaturen in Sammelhandschriften, vornehmlich in den großen Lyrikhandschriften des 13. und 14. Jahrhunderts, dienen zum einen einem „Repräsentanz-System“, zum anderen einem „Willen zur Ordnung“. 5 Sie können darüber hinaus Autorschaft als Rezeptionsphänomen im Sinne einer poetologisch-programmatischen Autorschaftsdefinition dokumentieren. 6 Um textuelle Repräsentation von Autorschaft drehen sich Arbeiten von Monika Unzeitig. In ihrer Studie Von der Schwierigkeit, zwischen Autor und Erzähler zu unterscheiden differenziert sie zwischen dem ‚Autor des Textes‘ und dem ‚Autor im Text‘, der sich mehr oder weniger deutlich vom Erzähler abhebe. Der ‚Autor im Text‘ sei nicht als biographischer Verweis auf den ‚realen‘ Autor zu interpretieren, sondern als „Repräsentation des Autors und seiner Autorschaft“ 7 . Gemeint sei damit die Vorstellung, die der ‚reale‘ Autor von sich und seiner Autorschaft im Text etabliere, ein sprachlich realisiertes Autorbild, das sich mit dem Autornamen verbinde. Unzeitig behandelt in diesem Zusammenhang u.a. Passagen aus dem Iwein Hartmanns von Aue, in denen die Namensnennung – Hartmann (V. 2974, 7027) – in einem inszenierten Dialog, in der Du-Form der Anrede erfolgt (V. 2971–2982, 7027–7031). Es handle sich um explizit gemachte Autorvorstellungen, die die mittelalterlichen Texte auszeichneten. Weil diese mit einem Autornamen verbundenen Vorstellungen von Autorschaft ‚expliziter‘ Natur seien, könne hier das Konzept des ‚impliziten Autors‘ kaum greifen. Timo Reuvekamp-Felber ordnet dagegen die ‚Selbstaussagen‘ höfischer Dichter, die vorzugsweise in Pro- und Epilog getätigt würden, der Ebene des Erzählers zu. Es handle sich 4 Ernst Hellgardt, „Anonymität und Autornamen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der

deutschen Literatur des elften und zwölften Jahrhunderts. Mit Vorbemerkungen zu einigen Autornamen der altenglischen Dichtung“, in Elizabeth Andersen [u.a.] (Hgg.), Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, Tübingen 1998, 46–72, hier 61. 5 Thomas Bein, „Zum ‚Autor‘ im mittelalterlichen Literaturbetrieb und im Diskurs der germanistischen Mediävistik“, in Fotis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71), Tübingen 1999, 303–320, hier 314f. Vgl. Michael Stolz, „Die Aura der Autorschaft. Dichterprofile in der Manessischen Liederhandschrift“, in Michael Stolz/Adrian Mettauer (Hgg.), Buchkultur im Mittelalter. Schrift – Bild – Kommunikation. Berlin/New York 2005, 67–99. 6 Vgl. Albrecht Hausmann, Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität (Bibliotheca Germanica 40), Tübingen/Basel 1999. 7 Monika Unzeitig, „Von der Schwierigkeit, zwischen Autor und Erzähler zu unterscheiden. Eine historisch vergleichende Analyse zu Chrétien und Hartmann“, in Wolfgang Haubrichs/Eckart Conrad Lutz/Klaus Ridder (Hgg.), Wolfram-Studien XVIII: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002, Berlin 2004, 59–81, hier 60; vgl. dies., „Konstruktion von Autorschaft und Werkgenese im Gespräch mit Publikum und Feder“, in Nine Miedema/Franz Hundsnurscher (Hgg.), Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, Tübingen 2007, 89–101.

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um „legitimatorische Erzählerstilisierungen“ 8 . Der vom Rezipienten zu rekonstruierende Autor, der implizite Autor, der auf den realen Autor verweise, ohne mit ihm identifiziert werden zu dürfen, sei erfahrbar über die von ihm textuell vertretenen Normen, das von ihm repräsentierte kulturelle Wissen, die von ihm produzierten Utopien. Damit schließt sich Reuvekamp-Felber einer Forschungsrichtung an, die den impliziten Autor als textuelle ‚Vorstellung vom Autor‘ konzeptualisiert. Ich möchte mich im Folgenden am Beispiel des Tristan-Prologs mit der Nennung eines Autornamens, desjenigen des Thômas von Britanje, beschäftigen, der sich nicht nur im Sinne einer Fremdnennung durch das Prolog-Ich auf einen empirischen Autor als Verfasser eines Prätextes, sondern metonymisch auf Vorstellungen von dessen ‚Stoffbehandlung‘ bezieht. In seiner die Stoffgestaltung aufrufenden Anspielungsdimension geht der Autorname also offenbar weit über die Funktion eines Eigennamens hinaus. Die Frage nach der Funktion des poetisch-textuelle Identität signalisierenden Autornamens, insofern die materia-Gestaltung und deren Legitimierung im Fokus steht, soll über das Konzept des impliziten Autors einer Beantwortung zugeführt werden. In einem ersten Schritt werden im Folgenden Stärken und Schwächen des implied author-Konzepts diskutiert, um in einem zweiten Schritt am Beispiel des Tristan-Prologs eine Übertragbarkeit auf mittelalterliche Texte zu problematisieren.

1. Den ‚impliziten Autor‘ als textuelle Instanz ‚gibt‘ es nicht: Mit dieser Behauptung muss man wohl beginnen. Er ist als textintern verortbare Größe nicht material greifbar, seine Existenz ist virtueller Natur, er muss erschlossen werden, ist als Produkt der Leseraktivität konzeptualisiert. Gemeint ist mit dem impliziten Autor eine die Erzählerebene übergreifende, vom Rezipienten zu konstruierende Textstruktur oder -bedeutung. Die Frage, die sich hier auftut, ist die nach den textuellen Phänomenen, die jener Struktur oder Bedeutung jenseits des Erzählers zuzuordnen sind. Doch zunächst zum hermeneutischen Hintergrund der Konzeptualisierung des ‚impliziten Autors‘. In Frage stand die Bedeutung der Autorintention für die Deutung eines Textes, die Bedeutung der Intention eines historischen Subjekts, das sich anschickt, eine Erzählung zu schreiben. Diese Frage spaltete die Erzähltheoretiker, und nicht nur diese, in Intentionalisten und Antiintentio8 Timo Reuvekamp-Felber, Volkssprache zwischen Stift und Hof. Hofgeistliche in Literatur und Gesell-

schaft des 12. und 13. Jahrhunderts (Kölner Germanistische Studien NF 4), Köln/Weimar/Wien 2003, bes. 121–146, hier 124; Über die Identität von Autor und Erzähler in mittelalterlichen Texten als Alteritätsausweis mittelalterlichen Erzählens vgl. Sonja Glauch, „Ich-Erzähler ohne Stimme. Zur Andersartigkeit mittelalterlichen Erzählens zwischen Narratologie und Mediengeschichte“, in Harald Haferland/Matthias Meyer (Hgg.), Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven (TMP 19), Berlin/New York 2010, 149–185, hier bes. 183 ff. Die Frage nach der Funktion textuell inserierter Autornamen bleibt auch bei einer angenommenen Identität von Autor und Erzähler relevant.

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nalisten. Letztere gehen davon aus, dass der Text auch dann noch etwas bedeutet, wenn die Autorintention nicht ermittelbar oder rekonstruierbar, der Zugriff auf das historische Autorsubjekt – aus welchen Gründen auch immer – verbaut ist. Antiintentionalisten – und zu ihnen muss man Wayne Booth zählen – sehen ab von der Intention des historischen Autorsubjekts, des realen Autors, dessen Existenz freilich nicht geleugnet wird und dessen Intention, falls eruierbar, akzidentiell zur Textdeutung hinzugezogen werden sollte. Unterdessen hat in Textlektüren die Textintention den Platz der Autorintention eingenommen. Der ‚avant-texte‘, ein Begriff der critique génétique, der auch die Autorintention umfasst, 9 ist für den Texttheoretiker antiintentionalistischer Provenienz ohne zwingendes Interesse. Mit der Loslösung des Textes vom Autor im Akt der Materialisierung firmiert allein der Text als normierende Referenzgröße der Deutung. Der Sinn eines Textes ergibt sich dann, vereinfacht gesprochen, so sieht es zumindest die zwar in die Jahre gekommene, aber deshalb keineswegs obsolete Rezeptionsästhetik, aus dem Zusammenspiel von Text und Rezipient. Wenn der Text zur bedeutungsgenerierenden Größe wird, stellt sich die Frage, wer im Text spricht oder anders formuliert, welche Instanzen das Textgeschehen steuern. Mit Blick auf den impliziten Autor muss die Frage lauten, ob der zweistelligen Konstellation ‚historischer Autor – Erzählerinstanz des Textes‘ eine dritte Position, die des impliziten Autors, hinzugedacht werden müsse und welches Verhältnis zwischen realem Autor und implizitem Autor einerseits, zwischen Erzähler, also der Stimme des Textes, 10 und implizitem Autor andererseits bestehe. Ich möchte dazu drei Positionen kritisch referieren, die als repräsentativ für die Erzählforschung gelten können. Shlomith Rimmon-Kenan stellt die Opposition Erzähler-impliziter Autor heraus. Im Unterschied zum Erzähler unterstreicht sie die Stimmlosigkeit des impliziten Autors. „The implied author is […] voiceless and silent.“ 11 Sie begreift den impliziten Autor als Leserkonstrukt, kein willkürliches, sondern ein aus allen textuellen Merkmalen resultierendes. „In this sense the implied author must be seen as a construct inferred and assembled by the reader from all the components of the text.“ 12 Anthropomorphe Vorstellungen, wie Wayne Booth sie in etlichen Arbeiten verbreitete, wenn er vom impliziten Autor als dem ‚zweiten Selbst‘ des realen Autors spricht, lehnt Kenan ab. „Indeed, speaking of the implied author as a construct based on the text seems to me far safer than imagining it as a personified ‚consciousness‘ or ‚second self‘.“ 13 Seymour Chatmans Ansatz wird von ihm selber als ‚pragmatisch‘ eingestuft. „My defense is strictly pragmatic.“ 14 Ihm geht es nicht um Textontologie, sondern um den 9 Vgl. Almuth Grésillon, Eléments de critique génétique. Lire les manuscrits modernes, Paris 1994. 10 Zu Überlegungen, die sich mit Stimmen im Text/des Textes beschäftigen, vgl. Andreas Blödorn/

11 12 13 14

Daniela Langer/Michael Scheffel (Hgg.), Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen (Narratologia 10), Berlin/New York 2006. Shlomith Rimmon-Kenan, Narrative Fiction. Contemporary Poetics, London/New York 1983, 87. Ebd. Ebd. Seymour Chatman, Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film, Ithaca/London 1990, 75.

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hermeneutischen Gewinn, den ein solches Konzept mit sich bringt. Der Nutzen des Konzepts liegt für ihn darin, von Textintention zu sprechen – „textual intent of narrative fictions“ 15 –, ohne auf einen fragwürdigen Biographismus rekurrieren zu müssen. Auch wenn der reale Autor sein Manuskript aus der Hand gegeben hat, bleiben die Prinzipien der Erfindung und Intention – „principles of invention and intent“ 16 – dem Text eingeschrieben. Sie kontrollieren als Konstrukt des Lesers/Hörers die Stimme oder Botschaft des Erzählers. „They inform and control the narrator’s message.“ 17 Der implizite Autor ist für Chatman die Quelle der Textbedeutungsstruktur. „The source of a narrative text’s whole structure of meaning – not only of its assertion and denotation but also of its implication, connotation, and ideological nexus – is the implied author.“ 18 Das Zwielicht, in das von Anfang an der Status des impliziten Autors eingetaucht war, weicht auch bei Chatman keiner begrifflichen Aufhellung. Wenn die Prinzipien der Erfindung und Intention ‚bleiben‘, soll dann der implizite Autor doch als Schatten des realen Autors angesetzt werden? Und wenn von einer „order of existence“ 19 die Rede ist, so lassen sich textontologische Assoziationen zumindest nicht ausschließen. Die Leistung Chatmans scheint mir aber immerhin darin zu liegen, das Zeichensystem des Textes als Motor der Sinngenerierung stark zu machen. Gérard Genette legt eine nüchterne Einstellung an den Tag. Ein Text induziere durch verschiedene Anzeichen eine Vorstellung vom Autor, und zwar über den Erzähler hinaus. Meint man [mit dem Begriff des implizierten Autors], daß der narrative Text, wie jeder andere auch, durch verschiedene punktuelle oder globale Anzeichen über den Erzähler (selbst den extradiegetischen) hinaus eine Vorstellung [idée] (ein besserer Ausdruck als ‚Bild‘) vom Autor induziert, so meint man damit etwas völlig Evidentes. 20

Man ist angehalten, genau zu lesen. Der Text induziert, nicht der Leser. Der potentielle Adressat spielt hier nur eine marginale Rolle. Die ‚Vorstellung vom Autor‘, der implizierte oder induzierte Autor, wie Genette ihn nennt, ist also eher ein Effekt als eine Instanz des Textes. Der ‚Vorstellung vom Autor‘, die der Text induziert, wird der Status einer narrativen Instanz strikt abgesprochen. In der Erzählung, oder eher hinter oder vor ihr, gibt es jemanden, der erzählt, den Erzähler. Jenseits des Erzählers gibt es jemanden, der schreibt und für alles, was diesseits von ihm liegt, verantwortlich ist. Dies ist, welch große Neuigkeit, schlicht und einfach der Autor, und mir scheint, wie schon Platon sagte, daß dies genügt. 21

Darüber, welche ‚punktuellen oder globalen Anzeichen‘ konstitutiv für die vom Text evozierte ‚Vorstellung‘ vom Autor sind, lässt Genette sich nicht aus. Und was heißt 15 16 17 18 19 20 21

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Gérard Genette, Die Erzählung, München 1994, 291. Ebd.

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Vorstellung vom Autor? Ist damit der reale Autor wieder ins Leben zurück gerufen, ist damit der Schreib- oder Sprachstil eines Autors gemeint oder etwa ein poetisches Programm, eine Textstrategie, für die metonymisch der ‚implizite Autor‘ als Begriff einstehen muss? Also finden sich auch bei Genette mehr Fragen als Antworten. Handelt es sich beim impliziten Autor gar um ein Passepartout, wie Ansgar Nünning aus einer radikalkonstruktivistischen Perspektive heraus formuliert? 22 Der unverlässliche Erzähler oder die nicht zu durchschauende Ironie eines Erzählers, ein widersprüchliches Erzählerverhalten oder gar das Nicht-Wissen des Erzählers: solche Phänomene textueller Natur lassen eine Instanz herbeisehnen, die Lücken und Leerstellen füllt, oder einen Regisseur einklagen, der die Widersprüche des Erzählers verantwortet und als inszenierte ausweist. Warum sollte man nicht mit Genette solche Inkonsistenzen dem realen Autor zuschreiben? Hier einen textimmanenten impliziten Autor zu fordern, dem es zudem an empirischer Evidenz gebricht, scheint in der Tat überflüssig und die Dinge unnötig verkomplizierend. Eine andere Frage ist jedoch die nach der von Seymour Chatman ins Spiel gebrachten Textintention und deren Verhältnis zu einer textuell evozierten Vorstellung vom Autor. Die Vorstellung vom Autor, fasst man sie als ‚poetisches Programm der Stoffgestaltung‘, das einem Text zugrundeliegt, ließe sich als Teil der umfassend gedachten Textbedeutung begreifen. Und in diesem Sinn scheint die Rede vom impliziten Autor, der eine Vorstellung vom Autor im Sinne eines poetischen Programms meint, sinnvoll. Die in den Prologen der höfischen Literatur mit Autornamen versehenen sogenannten Selbstaussagen können dem poetischen Programm problemlos zugeschrieben werden.

2. Erzähltexte rufen, dies scheint in der Tat evident, eine ‚Vorstellung vom Autor‘ hervor, die mit dem empirischen Autor nicht sonderlich viel zu tun haben muss. Wie verhält sich diese ‚Vorstellung vom Autor‘ zum Autornamen, der eine der Erzählung zunächst äußerliche Kategorie darzustellen scheint? Welche Funktion kommt dem Autornamen, der vom Eigennamen des empirischen Autors zu unterscheiden ist, mit Blick auf den ‚impliziten Autor‘ zu? Und schließlich: Wie ist die Relation der impliziten Autoren 22 Ansgar Nünning, „Renaissance eines anthropomorphisierten Passepartouts oder Nachruf auf ein

literaturkritisches Phantom? Überlegungen und Alternativen zum Konzept des ‚implied author‘ “, in Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67 (1993), 1–25; vgl. auch Tom Kindt/Hans-Harald Müller, „Der ‚implizite Autor‘. Zur Explikation und Verwendung eines umstrittenen Begriffs“, in Fotis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71), Tübingen 1999, 273–287; Gerhard Lauer, „Einführung. Autorkonzepte in der Literaturwissenschaft“, in ebd. 160–166; Fotis Jannidis, „Zwischen Autor und Erzähler“, in Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart/Weimar 2002, 540–556.

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zu denken, wenn das Werk nur mehr als Ensemble von Fassungen wie im ubiquitären Fall der höfischen Parallelversionen 23 vorliegt, und welche Funktion übernimmt hier der Autorname (wiederum nicht verkürzt als Eigenname des empirischen Autors)? Die Kategorie des implied author, wie sie von der Narratologie mal als produktionsästhetische, mal als rezeptionsästhetische und mal als Mischkategorie in ihren besonderen Funktionen konzipiert wird, beschreibt – wie immer sie im einzelnen definiert ist – einen textuellen Phänomenbereich erzählender Literatur für den Bereich des discours (Genette). Die Beobachtung, dass es auf dieser Ebene des Erzählens eine erschließbare textuelle Kategorie gibt, die, deutlich neben den Erzähler gestellt, dessen Kompetenzen und Funktionen überschreitet, ist in narratologischen Arbeiten durch die Analyse des modernen Romans ermöglicht worden. Wayne Booth spricht, wie bereits erwähnt, von der Konzeption als einem „second self“ des historischen Autors, und dieses second self wird in der Moderne natürlich anders konkretisiert, womöglich auch mit Rückgriff auf psychologische Kategorien, als in der Vormoderne. Gleichwohl lässt sich im Hinblick auf den höfischen Roman des hohen Mittelalters schnell erkennen, dass auch für dessen besondere Poetik die Kategorie des implied author eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, auch wenn den zeitgenössischen Rhetoriken eine das Phänomen erfassende und beschreibende Begrifflichkeit bekanntlich fehlt. Im Unterschied zu heldenepischen Werken, für die die Anonymität der Autorschaft lange Zeit als konstitutives Merkmal gelten kann, kommt gerade im Rahmen des höfischen Romans den Nennungen der Namen von Autoren eine zentrale Textfunktion zu. Paradebeispiel für einen souveränen und geschickten Umgang mit der Kategorie eines implied author ist sicher die Signatur des Namens in den Werken Hartmanns von Aue. Zum einen stiftet die Namensnennung hier in unterschiedlichen epischen Gattungen einen Werkzusammenhang, zum anderen indiziert sie textgenetisch eine Einheit im Hinblick auf die häufig divergierenden Fassungen einzelner Werke, und schließlich lässt sich bei Hartmann gut beobachten, dass der implizite Autor mit einigen signifikanten Eigenschaften versehen wird, die dem eines career author entsprechen. Die Erzählforschung hat für eine Teilmenge von Themen oder Programmen – features –, die bei allen impliziten Autoren von Erzähltexten vorkommen, die den Namen ein und desselben realen Autors tragen, den Begriff des career-author eingeführt, für den es keine deutsche Entsprechung gibt. We can comfortably define the career-author as the subset of features shared by all the implied authors (that is, all the individual intents) of the narrative texts bearing the same name of the same real author. The real author’s name, then, can be understood as the signifier of a certain constancy or common denominator of method among the implied authors of the various works. 24

23 Vgl. zu diesem Begriff Joachim Bumke, Die vier Fassungen der „Nibelungenklage“. Untersuchungen

zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8), Berlin/New York 1996, bes. 30–60. 24 Seymour Chatman, Coming to Terms, 88.

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Mit dem ‚Namen‘ des realen Autors verbindet sich eine spezifische programmatisch (und stilistisch) zu qualifizierende Signatur, die nicht nur Fassungen ein und desselben Werks, sondern ein ganzes Œuvre als kohärierendes Element zu profilieren vermag. „The notion of the career-author enables us to acknowledge narratively significant information implicit in the author’s name without confusing the issue with biography.“ 25 Foucault spricht in Was ist ein Autor? auf ähnliche Weise von einem Homogenitätsverhältnis zwischen Texten, für welches ein Autorname einstehen könne. Ein Autorname könne eine „Inbezugsetzung der Texte zueinander“ bewirken. 26 Diesen Gedanken eines im Namen des Autors signifizierten Homogenitätsverhältnisses kann man auf die mittelalterliche Literatur Gewinn bringend übertragen. Warum im Wortlaut und Versbestand differierende Textfassungen einer mittelalterlichen Erzählung den Namen ein und desselben Autors tragen, wie dies bei den Parallelversionen der höfischen Romane und Epen regelmäßig der Fall ist, könnte demnach mit einer Homogenität der narrativ realisierten Programmatik zusammenhängen. Die impliziten Autoren der Textfassungen, also die tiefenstrukturell zu verortenden poetischen Programmatiken, sind identisch, und diese Identität der impliziten Autoren wird durch ein und denselben Autornamen zum Ausdruck gebracht. Der reale oder empirische Autor ist in vielen Fällen nicht greifbar und tut auch nichts Entscheidendes zur Sache. Rekonstruierbar ist indes eine spezifische poetische Programmatik. Wenn für im Wortlaut und Wortbestand abweichende Fassungen eines Textes ein und derselbe Autorname als Signatur eingeführt wird, darf eine zumindest weitgehende Identität der den Fassungen eingeschriebenen impliziten Autoren angenommen werden. Die Frage nach der Textidentität in Anbetracht divergierender Fassungen, wie sie als Regelfall in der spätmittelalterlichen Romanüberlieferung auftreten, wäre also nicht auf der Ebene der Oberflächenstruktur, sondern auf der des impliziten Autors, wie er hier gefasst wird, also auf der Ebene der poetischen Programmatik anzusiedeln.

3. Wenden wir uns nun Gottfrieds Tristan zu und dem Buch, in dem das Prolog-Ich die Erzählung des Thômas von Britanje 27 findet. Im Prolog ist davon die Rede, dass es viele gegeben habe, die den Tristan erzählt hätten. Es habe jedoch nur wenige gegeben, die richtig von ihm erzählt hätten.

25 Ebd. 88 f. 26 Michel Foucault, „Was ist ein Autor?“, 17. Eine mediävistische Kritik der Foucaultschen Autor-

Funktionen bietet die Studie von Sebastian Coxon, The Presentation of Authorship in Medieval German Narrative Literature 1120–1290, Oxford 2001, bes. 217–221. 27 Vgl. die knappe Forschungsdiskussion zum Tristan des Thomas bei Tomas Tomasek, Gottfried von Straßburg, Stuttgart 2007, 250–260.

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Ich weiz wol, ir ist vil gewesen, die von Tristande hânt gelesen; und ist ir doch niht vil gewesen, die von im rehte haben gelesen. 28 ‚Ich weiß wohl, dass es viele gab, die schon von Tristan erzählt haben. Es gab jedoch nicht viele, die richtig von ihm erzählt haben mögen.‘

Weiter heißt es im Text: sîne sprâchen in der rihte niht, als Thômas von Britanje giht, der âventiure meister was und an britûnschen buochen las aller der lanthêrren leben und ez uns ze künde hât gegeben. 29 ‚Sie haben nicht in der rechten Weise berichtet, so wie es Thomas von Britanje tat, der ein Meister der Erzählkunst war und in bretonischen Büchern das Leben aller Fürsten nachgelesen und uns davon berichtet hat.‘

Was meint in dieser Passage des Tristan-Prologs der Name ‚Thômas von Britanje‘, wen oder was bezeichnet er? Einmal wird mit dem Namen ein Autorprofil verbunden, das an einen realen Autor, ein historisches Autorsubjekt gemahnen könnte, dessen Autorität über Kennerschaft (der âventiure meister was / und an britûnschen buochen las, V. 151f.) hervorgehoben wird. Zum anderen legt die Passage nahe, dass der Name darüber hinaus für ein Programm steht, eine Tristan-Auffassung, die das Prolog-Ich für normativ erachtet. rihte (normative Gestalt) und Autorname scheinen metonymisch aufeinander bezogen. Es ist – wenn ich richtig sehe – im Kontext des hier zitierten Prologausschnitts nicht die Rede davon, dass das Prolog-Ich den Tristan des Thômas Wort für Wort gelesen hat. Es kommt dieser schwierigen Passage nicht so sehr auf die Gestalt der Textoberflächenstruktur an, sondern auf die tiefenstrukturelle Tristan-‚Konzeption‘, die mit dem Namen des Thômas identifiziert wird. Vom Lesen, also der visuellen Perzeption einer bestimmten material greifbaren Wortabfolge der Textoberfläche, berichtet der Prolog erst später, nämlich nachdem das Prolog-Ich schließlich die (ihm konzeptionell bekannte) Darstellung (jehe, V. 165) des Thômas in einem buoch gefunden hat. Als der von Tristande seit, die rihte und die wârheit begunde ich sêre suochen in beider hande buochen walschen und latînen und begunde mich des pînen,

28 V. 131–134: Zitate nach der Ausgabe von Rüdiger Krohn (Hg.), Gottfried von Straßburg, Tristan,

Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Nhd. übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort, 3 Bde., Stuttgart 1980. 29 V. 149–154.

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daz ich in sîner rihte rihte dise tihte. sus treip ich manege suoche, unz ich an eime buoche alle sîne jehe gelas, wie dirre âventiure was. 30 ‚Aufgrund dessen, was er über Tristan erzählt, begann ich, intensiv nach der richtigen Fassung zu suchen, und zwar in Büchern sowohl romanischer als auch lateinischer Herkunft. Und ich bemühte mich eifrig darum, nach seinem korrekten Vorbild diese Dichtung abzufassen. So stellte ich umfangreiche Nachforschungen an, bis ich in einem bestimmten Buche seinen ganzen Bericht bestätigt fand, wie sich die Geschichte zugetragen habe.‘

‚Thômas von Britanje‘ steht für eine bestimmte Tristan-Auffassung, die sich dem PrologIch – auf welchem Wege auch immer, mündlich oder schriftlich, dies lässt der Prolog offen – vermittelt hat. Da es um die Frage der Konzeption geht, spielen die Umstände medialer Vermittlung keine Rolle. Foucault schreibt zum Autornamen: Man könnte schließlich auf die Idee kommen, daß der Autorname nicht wie der Eigenname vom Inneren eines Diskurses zum realen, äußeren Individuum geht, sondern daß er in gewisser Weise an die Grenze der Texte drängt, daß er sie zuschneidet, ihren Kanten folgt, daß er ihre Seinsweise offenbart oder wenigstens daß er sie kennzeichnet. 31

Der Autorname vermag also, folgt man Foucault, Texte in ihrem Zuschnitt, in ihrer Konturiertheit zu bezeichnen und nicht wie ein Eigenname deren Produzenten. Der Autorname ‚Thômas von Britanje‘ könnte also Kennzeichen eines Textes sein, ja mehr noch: Signatur für eine normative Tristangestaltung. Bei ‚Thômas von Britanje‘ handelt es sich in dieser Prologpassage in erster Linie um die „Seinsweise“ eines Textes, die mit einem die stofflich-poetische Konturiertheit des Prätextes kennzeichnenden Autornamen verbunden wird. Man könnte, wenn man den bisherigen Überlegungen folgen mag, diese Prologpassage als eine poetologische Aussage über die Funktion des Autornamens lesen. Er bezeichnet hier im Unterschied zum Eigennamen eines empirischen Autors als Ausdruck von Urheberschaft ein poetisches Programm der Stoffgestaltung, narratologisch gewendet: den ‚impliziten Autor‘. Auf rihte und wârheit 32 kommt es dem Prolog-Ich des Tristan Gottfrieds von Straßburg an, und die verbürgt der Autor, der implizite Autor.

30 V. 155–166. 31 Michel Foucault, „Was ist ein Autor?“, 17. 32 Über Thômas als Bürgen erzählerischer Wahrheit vgl. Lambertus Okken, Kommentar zum Tristan-

Roman Gottfrieds von Straßburg, Bd. 1 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 57), Amsterdam 1984, 25.

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4. Es wundert kaum, dass auch Gottfried von Straßburg den implied author in seinem Tristanroman als ‚Kategorie‘ verwendet hat. Als erster deutscher Autor, der die Schreibweisen der deutschen Dichter seiner Zeit in einem Autorenkatalog systematisch zu beschreiben wusste (Literaturexkurs, V. 4621–4820), kann ihm ein besonderes poetologisches Interesse kaum abgeschrieben werden. Blickt man aber auf seine Verwendung der textuellen Kategorie des implied author, so zeigt sich schnell, dass Gottfried sich diese Kategorie auf eine besonders raffinierte Art und Weise zunutze gemacht hat. Denn seinen eigenen Namen lässt er nur enigmatisch in den Text ein: als Akrostichon, das nur dem aufmerksamen Leser überhaupt ins Auge springen kann. 33 Die Anlage des Autornamens im Text in einer Spannung zwischen Zeigen und Verhüllen hat in der Forschung durchaus Aufmerksamkeit finden können. Doch Gottfried modifiziert die Verwendung der Textfunktion implied author gegenüber der bei Hartmann und anderen üblichen Handhabung auf eine entscheidende Weise. Die bekannten Einlassungen der überlieferten Prologe Hartmanns von Aue, besonders der Prologe zum Iwein und zum Armen Heinrich, denen zufolge Hartmann beides ist, Ritter und gelehrt, 34 codieren im biographisierenden Modus einen implied author, der zur textuellen Signatur wird. Die poetische Programmatik der im Anschluss an die Prologe dargebotenen Narrationen entfaltet sich gleichsam im Licht der in der Signatur des Autornamens mitgeführten Kenntlichmachung breiter Bildung und literarischer Kennerschaft (der nam im manege schouwe / an mislîchen buochen / ‚Er schaute sich nun ausgiebig in verschiedenen Büchern um‘. 35 ). Der Autorname und die poetische Programmatik sind insofern nicht zu trennen. Der Autorname im Prolog mag zwar auch für eine textuelle Repräsentation des empirischen Autors stehen, 36 in erster Linie aber scheint er die poetische Programmatik zu figurieren. Dass der Autorname für ein stilistisch-poetisches Programm steht, belegt mit einiger Evidenz der Literaturkatalog des Tristan Gottfrieds von Straßburg. 37 Es wäre zu überlegen, ob man nicht auch die Verschränkung von Prolog und Narration, wie sie sich in Hartmanns Iwein findet, in diese Richtung deuten könnte. Gottfrieds Prologstrategie geht es nun weniger um die Kenntlichmachung literarischer Kennerschaft. Während Gottfried im Tristan-Prolog den eigenen Namen auslässt, exponiert er einen anderen Autornamen, nämlich den des Thômas von Britanje. Über den Namen des Thômas von Britanje versucht er über eine bloße Quellenberufung hinaus eine bestimmte poetische Fassung der Tristangeschichte zur Norm zu erheben und diese 33 Vgl. hierzu Bernd Schirok, „Zu den Akrosticha in Gottfrieds ‚Tristan‘. Versuch einer kritischen und

weiterführenden Bestandsaufnahme“, in Zeitschrift für deutsches Altertum 113 (1984), 188–213.

34 Vgl. Hartmann von Aue, Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein, hg. und übers. v. Volker Mertens,

Frankfurt am Main 2008 (Der arme Heinrich, V. 1–28, hier V. 1; Iwein, V. 1–58, hier V. 21).

35 Hartmann von Aue, Der arme Heinrich, V. 6f. 36 Vgl. Monika Unzeitig, „Von der Schwierigkeit“. 37 Vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 4621–4637.

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zugleich im Kontext anderer bereits vorliegender Fassungen zu legitimieren. Gottfried kennzeichnet über den Namen des Thômas diesen Vorgängerautor in einer ganz bestimmten Weise, wenn man so will, als sein ‚zweites Selbst‘. Damit gelingt es ihm, seine Auslegung, seine Variation des problematischen Stoffes in der Nachfolgeschaft einer zur Norm stilisierten Fassung des Thômas zu legitimieren. Das grundständige, auch ethische Problem, dem sich alle Tristanautoren des Mittelalters im Rahmen der Bearbeitung des sich um die prekäre Ehebruchsminne zentrierenden Plots zu stellen hatten, gerinnt bei Gottfried über die Einlassungen zu Thômas schon im Prolog zu einem ‚ästhetischen‘ Problem. Thômas wird als der âventiure meister (V. 151) apostrophiert. Indem die Aufmerksamkeit der Prologdarstellung der besonderen, von Meisterschaft 38 geprägten Schreibweise des Thômas gilt, dient Gottfried die Aktivierung der implied author-Funktion dazu, seine die passionierte Liebe ästhetisierende und legitimierende Stoffauffassung als ‚bereits traditionell verbürgt‘ zu kennzeichnen. Im Rahmen des Umgangs mit dem problematischen Stoff braucht Gottfried einen im Autornamen des Thômas aufscheinenden ‚poetischen Legitimationsgrund‘ für die Verherrlichung einer illegitimen passionierten Liebe.

38 Zum Meisterschaftsdiskurs im Tristan zuletzt Mark Chinca, „Metaphorische Interartifizialität. Zu

Gottfried von Straßburg“, in Susanne Bürkle/Ursula Peters (Hgg.), Interartifizialität. Die Diskussion der Künste in der mittelalterlichen Literatur, Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie 128 (2009), 17–36.

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Patronage, Ruhm und Zensur Bemerkungen zur musikalischen Autorschaft im 15. Jahrhundert

Die spezifische Problematik der musikalischen Autorschaft im Mittelalter und in der frühen Neuzeit korreliert eng mit den medialen Konfigurationen und den Überlieferungsbedingungen des Phänomens ‚Musik‘. Bereits die Tatsache, dass Musik primär ein klangliches Ereignis ist, das eventuell auch verschriftlicht werden kann – aber nicht muss –, sorgt für ihren prekären textuellen Status. Davon hängt u.a. die potenziell geringe Zeitresistenz musikalischer Kompositionen im kollektiven Gedächtnis ab. Noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts konnten die meisten Musiktheoretiker für ihre Liste der komponierenden auctores frühestens auf die Mitte des 15. Jahrhunderts zurückgreifen – daher gibt es umfangreiche, biographische Kataloge von berühmten Künstlern in der Musikgeschichte verhältnismäßig sehr spät 1 – und noch im späten 18. Jahrhundert behauptete man, dass Musiktheoretiker eher als Komponisten der Nachwelt in Erinnerung blieben: Theorists may be well compared to legislators, whose dominion ends not with their existence, but continues sometimes with increasing reverence, long after their decease – With Practical Musicians and Composers it is very different: the memory of these is of short duration; for however extensive their power, and splendid their reign, their empire, like that of Alexander and other rapid conquerors, acquires no permanence. 2

Dieser Sachverhalt hängt freilich auch damit zusammen, dass im wissenschaftlichen Diskurs des Mittelalters – der von klerikalen-akademischen Kreisen dominiert wurde – die Bezeichnung musicus ein anderes Bedeutungsspektrum als das heutige Wort ‚Musiker‘ hatte. 3 Auch mit der Bezeichnung auctor, die sich wie das etymologisch verwandte Wort 1 Das früheste bekannte biographische ‚Komponistenlexikon‘ ist Ottavio Pitonis Notitia de’ contrapun-

tisti e compositori di musica, das um 1725 redigiert wurde. Eine moderne Ausgabe, hg. v. Cesarino Ruisi, ist 1988 in Florenz erschienen. 2 Charles Burney, A General History of Music from the earliest Ages to 1789 (Musicological Reprints 2), Baden-Baden 1958 [1 1789], 706. 3 Vgl. Erich Reimer „Musicus-cantor“, in Hans Heinrich Eggebrecht (Hg.), Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, Stuttgart 1978.

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auctoritas nicht nur auf den Urheber eines Textes, sondern auch auf den Träger einer autoritativen Aussage bezieht, wurde in der musikalischen Kultur noch im 15. Jahrhundert sehr selektiv umgegangen. Dabei ist der auctor im Sinne vom auctor musicus oder musicus jemand, der sich in der musica als Ars liberalis auskennt und seine Meinung schriftlich liefert, oder eine historische Persönlichkeit, deren ‚Erfindung‘ oder vermeintlicher Text autoritativ für die musikalische Tradition ist. Im Bereich der Musik verdienen das Appellativum auctor antike Figuren wie Jubal und Pythagoras als Erfinder der Musik, David als Autor der Psalmen, Gregor als Autor des Chorals, und, wie gesagt, alle Autoren einer musikalischen Schrift, also diejenigen, die wir heute Musiktheoretiker nennen. Die musikalische Praxis oder die kompositorische Tätigkeit konnte zwar eine Rolle spielen, war jedoch für den spezifischen Status des Fachs irrelevant. Insofern verwundert es nicht, dass bis zum 16. Jahrhundert unter opus musicum oder überhaupt musica auch eine Schrift über Musik verstanden werden konnte. 4 Jubal, David und Pythagoras gehören zu den am meisten erwähnten auctores musici des Mittelalters und werden in der Regel mit Instrumenten dargestellt, die eine arithmetische Teilung der Klangkörper voraussetzen, dazu gehören zum Beispiel Lyra, Psalterium, Orgel oder auch Glocken verschiedener Größe. Jeder dieser drei auctores kann mit einer Harfe oder Lyra erscheinen, nicht nur David, der auch mit Orgel oder Glocken assoziiert werden kann. Wichtig ist hier nicht, welche Instrumente sie gespielt haben, denn es geht nicht um das Instrumentenspiel, sondern um das Wissen, das diese Instrumente voraussetzt. Einige Ausnahmefälle finden sich bei David, bei dem die Bilder die einzelnen Psalmen verdeutlichen. Ein besonderer Fall ist aber Gregor der Große. Sein Prestige als Autor des Chorals steht außer Frage. Sein Autorstatus ist jedoch insofern interessant, als er nicht als musicus – also mit einem mensurierten Instrument –, sondern in der Tradition der Evangelisten und der Kirchenväter fast immer in seinem Skriptorium beim Schreiben mit der Inspirationstaube gezeigt wird. In diesem Sinne verkörpert Gregor den Typus des „inspirierten Autors“. 5 Zentral für die Konzeption von Gregor als musicus ist jedenfalls das Abfassen liturgischer Gesänge, wobei in der ikonographischen Tradition nie Neumen auf dem Rotulus oder dem Codex gezeigt werden – denn die frühe schriftliche Überlieferung der Melodien des Chorals erfolgte nicht schriftlich, sondern mündlich. Gelegentlich findet man Abbildungen von Musiktheoretikern, die in der Regel mit einem Monochord, mit Glocken und etwas seltener mit einer Orgel dargestellt werden. Dabei handelt es sich meist um die wenigen Musiktheoretiker, die Träger einer sehr starken Tradition sind, wie z.B. Boethius und Guido von Arezzo.

4 Dieser Aspekt steht im Zentrum der Revision des musikalischen Werkbegriffs in Heinz von Loesch,

Der Werkbegriff in der protestantischen Musiktheorie des 16. und 17. Jahrhunderts. Ein Missverständnis (Studien zur Geschichte der Musiktheorie 1), Hildesheim 2001. 5 Dazu vgl. Christel Meier, „Ecce auctor. Beiträge zur Ikonographie literarischer Urheberschaft im Mittelalter“, in Frühmittelalterliche Studien 34 (2000), 338–392.

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Was ist aber mit den Autoren von Musik im Sinne musikalischer Kompositionen? Warum kennt man hier so wenige Namen? Ein spezifisches Problem der musikalischen Überlieferung ist die Tatsache, dass der Hinweis auf einen Autor durch eine andere Ebene als die rein musikalische erfolgt, und zwar meist durch eine paratextuelle Zuschreibung, also eine Überschrift, oder eine Verbalisierung innerhalb des vertonten Textes. Der erste Fall kann in der Textüberlieferung sehr schnell zum Verschwinden des Autornamens führen, wenn dieser nicht für relevant gehalten wird, der zweite Fall ereignet sich selten und ist jedenfalls nur dort möglich, wo der Text neu ist oder ad hoc bearbeitet wird. Auf jeden Fall scheint die Quellenlage weiterhin die These zu bestätigen, dass im Mittelalter die Frage nach dem Komponisten der Musik meist irrelevant war, denn bis zum späten 14. Jahrhundert sind musikalische Quellen, in denen Musik einem bestimmten Autor zugeschrieben wird, Ausnahmen, wie z.B. der Codex 381 aus der Stiftsbibliothek Sankt Gallen (10. Jh.) oder der Codex Calixtinus aus dem Archiv der Kathedrale von Santiago de Compostela (12. Jh.). 6 Die indirekten Hinweise in anderen Textsorten sind auch nicht sehr zahlreich, wie jene des so genannten Anonymus IV in Bezug auf Perotin und Leonin (13. Jh.) oder von Salimbene de Adam in seiner Chronik (13. Jh.); häufig erfüllen sie eine starke memoriale Funktion in der Geschichte einer spezifischen Gruppe. 7 Und auch im Fall einer Selbstnennung ist es noch heute bei bestimmten Gattungen der mittelalterlichen Musik nicht immer klar, welcher Autor damit gemeint ist. Denn wer ‚spricht‘ bzw. ‚singt‘ im Lied eines Troubadours: der Autor der Musik oder jener des Textes? Oder sind beide dieselbe Person? Jedenfalls sucht man im Mittelalter vergebens die Darstellung eines musikalischen Autors, der mit dem Calamus in der Hand Noten schreibt. Mittelalterliche Musik wird also mit einzelnen Ausnahmen anonym überliefert, wobei Anonymität genauso wie die Nennung des Namens unterschiedliche Funktionen erfüllen kann. Denn der liturgische Choral stand trotz der Erweiterung des Gesangsrepertoires unter der auctoritas Gregors des Großen – noch im 15. Jahrhundert schrieb Gullielmo Monaco, Gregor sei auctor omnis cantus firmi. 8 Die Pflicht zur Bescheidenheit im geistlichen Bereich spielte beim Verschweigen des Namens eine nicht zu unterschätzende Rolle (Luther erklärt noch 1533, er habe in seinem ersten Druck der geistlichen Lieder seinen Namen um des Ruhmes willen nicht erwähnt) 9 . Dass Sigebert von Gembloux in seinem Catalogus de viris illustribus (um 1100) die von ihm komponierten Antiphonen für die 6 Dazu vgl. den Kommentarband in Stiftsbibliothek Sankt Gallen: Codices 484 & 381, Bd. 1, hg. v.

Wulf Arlt/Susan Rankin, Winthertur 1996. Bei den Namen im Codex Calixtinus handelt es sich mit aller Wahrscheinlichkeit nicht um Komponisten, sondern vermutlich um wichtige Persönlichkeiten, denen die Kompositionen gewidmet wurden. 7 Dazu vgl. Fritz Reckow, Der Musiktraktat des Anonymus 4, Bd. 1 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 4), Wiesbaden 1967 inbes. 46, 50, 82; Salimbene de Adam, Cronica, Bd. 1, hg. v. Giuseppe Scalia (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis 125), Turnhout 1998, 276–278. 8 Guilielmus Monachus, De preceptis artis musicae, hg. v. Albert Seay (Corpus Scriptorum de Musica 2), o.O. 1965, 55. 9 Dazu vgl. Michele Calella, „Praestantissimi artifices. Musikalische Autorschaft in der Druckkultur deutschsprachiger Länder (ca. 1507–1550)“, in Birgit Lodes (Hg.), NiveauNischeNimbus. Die

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Heiligen Maclovus und Guibertus erwähnt, 10 gehört zu den wenigen Ausnahmen von Autorschaftsanspruch im Bereich des Chorals. Auch hier beantwortet diese Information jedoch nicht die Frage, wer die Antiphonen für Maclovius und Guibertus geschrieben, sondern – in der Tradition des biographischen Katalogs –, was Sigebert geleistet hat. Nicht unproblematisch ist auch der Fall der weltlichen Einstimmigkeit, also des Repertoires von Troubadours, Trouvères und Minnesängern. Hier kennt man zwar zahlreiche Namen, die in der Literatur- und Musikgeschichte seit langem bekannt sind, aber es bleibt unwahrscheinlich, dass wir dabei eine Identität von musikalischer und textlicher Autorschaft voraussetzen können. Die vergleichsweise sehr späte schriftliche Überlieferung der Musik gegenüber dem Text, die Verwendung derselben Melodien bei unterschiedlichen Gedichten und Autoren sprechen eher dagegen. Die Aussage Hugos von Monfort, sein Knecht Burkhard Mangold habe die Melodien des zwischen 1415 und 1420 abgefassten Codex Heidelberg 329 geschrieben, stellt sicherlich keine Ausnahme dar. 11 Das heute in einem sehr schlechten Zustand überlieferte Autorbild aus der Handschrift A (Codex 2777 der Österreichischen Nationalbibliothek Wien), auf dem Oswald von Wolkenstein laut einer Rekonstruktion aus dem frühen 20. Jahrhundert demonstrativ ein Notenblatt in der Hand gehalten haben soll, hat verschiedene Spekulationen veranlasst, obwohl Werner Braun darauf hingewiesen hat, dass es sich dabei eher um das Symbol seines Status handelt. 12 Ludwig Finscher dagegen betrachtet es als erstes selbstständiges Komponistenporträt 13 , und Laurenz Lütteken hat in jüngerer Zeit in diesem Bildnis das Zeichen einer autoritativen Selbstdarstellung als Musiker gesehen: „Denn einerseits dürfte es dem Edelmann wichtig gewesen sein, seine musikalische Kompetenz in seiner Handschrift verewigt zu sehen. Andererseits hat er, im Gegensatz zu den Kapellklerikern, aber auch über den dafür notwendigen sozialen Freiraum verfügt.“ 14 Lütteken verbindet die Überlieferung der Handschrift A mit den oberitalienischen Handschriften polyphoner Musik, setzt jedoch den Akzent auf die ungewöhnliche Darstellung mit Notenblatt und betont die hier implizite Idee eines ‚musikalischen Textes‘ im emphatischen Sinne. Neuere Untersuchungen haben diese Idee bestätigt, denn im Gegensatz zur bildlichen

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Anfänge des Musikdrucks nördlich der Alpen (Wiener Forum für ältere Musikgeschichte 3), Tutzing 2010, 113–133. Sigebertus Gemblacensis, Catalogus Sigeberti Gemblacensis monachi de viris illustribus. Kritische Ausgabe, hg. v. Robert Witte (Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters 1), Bern 1974, 104. Dazu vgl. Lorenz Welker, „Die Melodien des Burkhard Mangolt“, in Hugo von Monfort, Einführung zum Faksimile des Codex Palatinus Germanicus 329 der Universitätsbibliothek Heidelberg (Facsimilia Heidelbergensia 5), Wiesbaden 1988, 47–60. Werner Braun, „Arten des Komponistenporträts“, in Ludwig Finscher/Christoph Hellmuth Mahling (Hgg.), Festschrift für Walter Wiora, Kassel 1967, 86–94. Ludwig Finscher/Rolf Ketteler/Jörg Jewanski, „Musik und bildende Kunst“, in Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil, Bd. 6, Kassel/Stuttgart 2 1997, Sp. 775. Laurenz Lütteken, „Musikalischer Text – Musikalische Wirklichkeit. Probleme spätmittelalterlicher Schriftlichkeit im Licht der Wolkenstein-Handschrift A“, in Birgit Lodes (Hg.), Wiener Quellen der älteren Musikgeschichte zum Sprechen gebracht. Eine Ringvorlesung (Wiener Forum für ältere Musikgeschichte 1), Tutzing 2007, 287–309.

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Rekonstruktion aus dem 19. Jahrhundert soll Oswald im Originalbild nicht nur auf Noten gezeigt, sondern sogar eine Feder in der Hand gehalten haben. 15 Es ist jedoch offensichtlich, dass musikalische Autorschaft sich hier auf die Abfassung der Handschrift beziehen könnte. Denn ein großer Teil des in dieser Quelle überlieferten Repertoires besteht aus bearbeiteten französischen Chansons. 16 Vergleicht man Abbildungen von Adam de la Halle und Guillaume de Machaut, ist die ikonographische Tradition des schreibenden Autors mehr als offensichtlich, selbst wenn diese Inszenierung nicht immer als spezifisch musikalisch zu betrachten ist. Es werden dort zwar Autoren mit ihren eigenen Handschriften dargestellt, aber sie werden meist als Dichter verstanden. In der Tat, wenn wir von einer doppelten Autorfunktion ein und derselben Person sprechen können – also Dichter und Komponist zugleich –, können wir davon ausgehen, dass dabei primär die literarische Autorschaft relevant war. Die heutige Kenntnis des umfangreichen musikalischen Schaffens von Guillaume de Machaut verdanken wir primär seiner individuellen Handschriftenüberlieferung, deren Movens jedoch hauptsächlich literarischer Natur war. Wenn wir zwei scheinbar ähnliche Bilder vergleichen, die von Francesco Landini und Guillaume Dufay – beide mit einer Orgel dargestellt 17 –, ist eine Differenzierung ihrer unterschiedlichen Profile und musikkulturellen Traditionen – der so genannten Trecentound frankoflämischen Musik – notwendig. Man hat den Eindruck, dass in der TrecentoKultur der in den artes liberales gebildete Komponist eher eine Ausnahme darstellte. Hinweise darauf, dass der praktische Musiker nicht als Gelehrter, sondern als ‚Bekleider‘ dichterischer Werke gesehen wurde, sind zahlreich. Dies bedeutet nicht, dass komponierende Musiker keine anderen Kenntnisse als die musikalischen hatten, sondern, dass die Beherrschung der artes nicht ihr wesentliches Merkmal war. Der berühmte Passus aus Dantes Purgatorio, in dem der Musiker Casella eine Canzone des Dichters musikalisch aufführt, ist für eine solche Kompetenzverteilung symptomatisch. Die Komponisten in der Trecento-Tradition scheinen jedenfalls einen ausgeprägten Status als ‚Praktiker‘ gehabt zu

15 Vgl. Björn R. Tammen, „‚Es seusst dort her von orient …‘ (Kl. 20). Versuch über das Phrygische

bei Oswald von Wolkenstein“, in Christian Berger (Hg.), Passagen ins spätmittelalterliche Reich. Die Rezeption eines internationalen Liedrepertoires im deutschen Sprachbereich um 1400 (Voces. Freiburger Beiträge zur Musikwissenschaft), Freiburg i.Br.: [i.Dr.]. 16 Dazu vgl. „Die Überlieferung französischer Chansons in der Handschrift 2777 der Österreichischen Nationalbibliothek (Wolkenstein-Handschrift A)“, in Birgit Lodes (Hg.), Wiener Quellen der älteren Musikgeschichte zum Sprechen gebracht. Eine Ringvorlesung (Wiener Forum für ältere Musikgeschichte 1), Tutzing 2007, 311–330. 17 Das erste Bild stammt aus dem Codex Squarcialupi, Med. Pal. 87, Biblioteca Medicea Laurenziana Florenz, vgl. William Gibbons, „Illuminating Florence. Revisiting the Composer Portraits of the Squarcialupi Codex“, in Imago musicae 13 (2006–2010), 25–45, hier 26. Das zweite Bild stammt aus der Handschrift von Martin le Franc, Le champion des Dames, MS fr. 12476, Bibliotheque Nationale Paris, vgl. Ignace Bossuyt, Die Kunst der Polyphonie. Die flämische Musik von Guillaume Dufay bis Orlando di Lasso, Zürich [u.a.] 1997, 76.

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Abb. 1: Bild von Francesco Landini, Biblioteca Medicea Laurenziana, Ms. Med. Pal. 87 (SquarcialupiCodex), fol. 121v

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Abb. 2: Bild von Guillaume Dufay und Gilles Binchois aus Martin le Francs Le Champion des Dames, Paris, Bibliothèque Nationale, ms. fr. 12376 fol 98

haben, wobei sie als Spieler bzw. Sänger ohne eine feste Anstellung vermutlich mit einem ähnlichen Legitimationszwang wie die bildenden Künstler lebten. Außerdem könnte ihr Status als berühmte ‚reproduzierende Musiker‘ bei der Tradierung ihres Namens in der musikalischen Überlieferung ihrer Werke eine wichtige Rolle gespielt haben. Es verwundert deswegen nicht, dass einige der im Codex Squarcialupi dargestellten Autoren mit einem Instrument abgebildet werden, was in diesem Kontext auf die musikalische Praxis

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hinweist. 18 Das starke Legitimationsbedürfnis der Komponisten in der Überlieferung ist daher in Italien nicht nur früher, sondern auch auf anderem Wege aufgekommen als in Nordeuropa, da dort die intonazione von Gedichten eine spezialisierte Tätigkeit war, die außerhalb der universitären Strukturen gelernt und ausgeübt wurde. Der komponierende französische musicus aus dem 14. Jahrhundert definierte sich als auctor primär als Vertreter der artes oder Dichter. Seine Musiktraktate, eventuell auch seine Gedichte, versah er mit dem Siegel seiner Autorschaft, aber nicht unbedingt seine Musik. Die Musiker der Trecento-Musik waren lediglich Praktiker, die nur durch ihre spielerische Virtuosität oder ihre kompositorischen Fähigkeiten von den intellektuellen élites bewundert wurden und zu den viri illustres gezählt werden konnten. Es ist nicht so sehr der Unterschied zwischen dem nordeuropäischen feudalen System und den italienischen Signorie, der die ‚Entstehung des Komponisten‘ in der Trecento-Musik erklärt, und noch weniger die Theorie des Komponisten als selbständigem, für das florentinische bürgerliche Leben typischen ‚Individuum‘. Viele italienische Komponisten gehörten vielmehr religiösen Orden an oder waren Kleriker, was auch in der Überlieferung durch die Titel ser, abbas oder frater deutlich wird. Der Unterschied liegt vielleicht zwischen der französischen Musikkultur, in der die innerhalb universitärer oder akademisch geprägter Einrichtungen erlernten musikalischen Kompetenzen für einen in den artes kundigen Menschen eine, doch nicht die wichtigste seiner Aktivitäten war, und einer mittel- bzw. norditalienischen Kultur, in der praktische Musik – nicht unbedingt eng mit den artes verbunden – eine spezialisierte Berufspraxis war, die mit jener eines Malers vergleichbar war. Die Bezeichnung magister, mit der alle Komponisten des Codex Squarcialupi versehen werden, ist nicht als akademischer Titel gemeint, sondern weist – nicht anders als das Wort mastro – auf einen ‚spezialisierten Handwerker‘ unabhängig von seinem Sozialstatus hin. Dieser Prachtcodex stellt jedenfalls das bedeutendste Beispiel eines historischen Bewusstseins von der musikalischen Vergangenheit in einer musikalischen Quelle dar, und ist ein unvergleichliches Denkmal für die viri illustres einer musikalischen Kultur, die bereits im frühen 15. Jahrhundert auszuklingen begann. Demgemäß ist die Darstellung von Landini mit der Orgel anders zu interpretieren als jene Dufays. Landini wird als Organist dargestellt, während Dufay, und mit ihm der mit der Harfe assoziierte Binchois, als Musikgelehrter, der ikonographisch in der Tradition mittelalterlicher musici steht. Unabhängig vom Phänomen des Squarcialupi-Codex und der Überlieferung der italienischen Musik tauchen um 1400 jedoch auch im französischen Repertoire immer mehr Namen in den musikalischen Quellen auf, und dieses Phänomen nimmt im Laufe des 18 Damit grenzt sich meine Interpretation von William Gibbons’ in jüngerer Zeit vertretener These ab,

diese Darstellungen des Squarcialupi-Codex seien in der ikonographischen Tradition des ‚musicus‘ zu verorten. Denn die Darstellung mit musikalischen Instrumenten betrifft in diesem Codex nur einen Teil der dort porträtierten Komponisten, von denen einige – wie z.B. Francesco Landini – tatsächlich für ihr Instrumentenspiel bekannt waren. Vgl. William Gibbons, „Illuminating Florence. Revisiting the Composer Portraits of the Squarcialupi Codex“.

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15. Jahrhunderts deutlich zu – selbst wenn die anonyme Überlieferung nach wie vor üblich ist –, so dass sich der Musiktheoretiker Johannes Tinctoris in den 70er-Jahren des 15. Jahrhunderts bereits auf einen Kanon von Komponisten beziehen konnte – bemerkenswerterweise von ihm auctores genannt –, die als Vorbilder für die Abfassung des Traktates gedient hätten. 19 In diesem Sinne scheint dann der musikalische Druck im 16. Jahrhundert ein Phänomen zu beschleunigen und zu verstärken, das bereits in der Handschriftenkultur auffällig geworden war. Um diese Emergenz der Autorfunktion zu erklären, die ohnehin kein homogenes Phänomen darstellt, hat man sich monokausaler Erklärungsmodelle bedient, die meist der traditionellen, an Italien orientierten Renaissance-Forschung entlehnt wurden: so hat man u.a. die freie wirtschaftliche Konkurrenz der bürgerlichen Schichten in den italienischen Städten wie Florenz, oder die Entdeckung des Individuums im Humanismus als mögliche Ursachen für die so genannte ‚Entstehung des Komponisten‘ vermutet. 20 Die Ursachen für eine spezifisch musikalische Autorfunktion in der Kultur des 15. Jahrhunderts sind jedoch vielmehr in verschiedenen, miteinander vernetzten, soziokulturellen Faktoren zu suchen. Prägend für die frühe Neuzeit ist die Kultur der so genannten ‚franko-flämischen oder franko-burgundischen Mehrstimmigkeit‘, die seit dem 15. Jahrhundert eine gewisse Hegemonie auf dem europäischen Kontinent auszuüben scheint. Zu berücksichtigen ist dabei die kommunikative Funktion, welche die Angabe eines Autornamens in einer Handschrift erfüllt. Durch einen solchen Hinweis kann der Komponist tatsächlich den Abschluss seiner Leistung markieren und dadurch das musikalische Artefakt als vollendet deklarieren: Es ist deswegen kein Zufall, dass in der Motette Argi vices Poliphemus/Tum Philemon rebus paucis aus dem frühen 14. Jahrhundert Komponist und Dichter wie folgt im Text ‚signieren‘: Hec Guillermus dictans favit / Nicolao qui cantavit / ut sit opus consummatum. 21 Das Werk sei also erst durch seine Autoren ‚vollbracht‘. In diesem Sinne kann es zwar auch manipuliert, ‚missbraucht‘ werden, aber die Eigennamen – obwohl sie auch vernichtet werden können – markieren eine ‚Grenze‘, die je nach der dem Komponisten und dem Dichter zugeschriebenen Autorität mehr oder weniger scharf sein kann. In der musikalischen Druckkultur des 16. Jahrhunderts wird dann offensichtlich, dass die Idee der inhaltlichen Integrität des Werkes sowie dessen Nutzung das Ergebnis eines wachsenden Einflusses der musikalischen Autorschaft ist. In diesem Sinne versteht man, dass Listenius in einer berühmten, noch heute viel diskutierten Stelle seiner Musica (1537) das opus der musica poetica in Verbindung mit der Figur des

19 Vgl. Anm. 36. 20 Vgl. bes. Ludwig Finscher „Die ‚Entstehung des Komponisten‘. Zum Problem Komponisten-Indivi-

dualität und Individualstil in der Musik des 14. Jahrhunderts“, in International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 25 (1995), 149–164; Klaus Hortschansky, „Musikleben“, in Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts (Neues Handbuch der Musikwissenschaft 3), Laaber 1989–1990, 23–128, hier 104–125. 21 Italian sacred and ceremonial music (Polyphonic music of the fourteenth century 13), Monaco 1987, 220–227.

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Komponisten bringt: Consistit enim in faciendo sive fabricando, hoc est, in labore tali, qui post se etiam artifice mortuo opus perfectum & absolutum relinquat. 22 Eine solche Auffassung setzt voraus, dass die Autorfunktion stärker als der empirische Autor ist. Denn die abgeschlossene Arbeit musste zu Listenius’ Zeiten im Idealfall durch eine Autornennung markiert werden. Diese vom Autor bestimmte Grenze war jedoch stärker als seine biologische, weil das Werk und dessen Autorschaftsanspruch den empirischen Autor überlebt. Nur in einer Kultur, in der der Komponistenname einen Einfluss auf den Status der Werke ausübte, machte eine solche Thematisierung des mortuus artifex einen Sinn. Wenn sich aber der Status des ‚musikalischen Werkes‘ parallel zu einer emphatisch werdenden ‚Autorsignatur‘ gestaltet, stellt sich erneut die Frage, welches die entscheidenden Momente einer solchen Autorfunktion sind. Das Phänomen der Zuschreibungen in der Überlieferung des 15. Jahrhunderts lässt sich als Ergebnis eines zweifachen Aktes verstehen: Der Komponist signiert die Komposition außerhalb des Notats, die Rezipienten schreiben dem Namen einen gewissen Informationswert zu und behalten ihn in der handschriftlichen Überlieferung bei. Die Einführung und Konservierung des Namens können dabei unterschiedlich motiviert sein: Der Komponist vertritt dabei andere Interessen als der Rezipient, aber beide tragen zum Diskurs über den musikalischen Autor bei. Mehrstimmige Musik spielt im Repertoire der fürstlichen Kapellen des 15. Jahrhunderts eine soziokulturell immer wichtigere Rolle 23 und die Nachfrage nach musikalischen Artefakten muss so intensiv gewesen sein, dass der Komponist in der zunehmenden gesellschaftlichen Bedeutung seiner Produktion eine Möglichkeit sah, sich selbst im Hinblick auf seinen sozialen Status Vorteile zu verschaffen. Die fürstliche Patronage bot zweifellos das ideale Umfeld für eine solche Förderung. Bei dem immer deutlicher werdenden Bestreben, Musik als Symbol der Macht zu verwenden, rückten kompositorische Artefakte immer mehr ins Zentrum von sozial-politischen Interessen. Da aber diejenigen, die wir heute als Komponisten der Musikgeschichte kennen, meist nicht als solche angestellt waren, und die Tätigkeit der Komposition weder mit einer speziellen Stelle verbunden noch vertraglich geregelt werden musste, 24 stellt sich die Frage, inwiefern die Herstellung musikalischer Artefakte zu einem entscheidenden Faktor in der Planung und Steuerung musikalischer Karrieren geworden ist. Die traditionelle Auffassung, dass Patrone musikalische Kompetenzen und infolgedessen persönliche Interessen an der Musik hatten, ist vom italienischen Musikhistoriker Claudio Annibaldi in Frage gestellt worden. Annibaldi hat massive Angriffe gegen die neopositivistischen Tendenzen der angloamerikanischen 22 Nicolaus Listenius, Musica, Wittenberg 1537, Bl. a 3v. 23 Dazu vgl. Laurenz Lütteken, „Come nasce una ‚cappella‘? L’istituzionalizzazione della musica nel

Quattrocento“, in Barbara Marx/Tina Matarrese/Paolo Trovato (Hgg.), Corti rinascimentali a confronto. Letteratura, Musica, Istituzioni (Quaderni della rassegna 27), Florenz 2003, 13–25. 24 In den meisten Fällen erfolgte die Tätigkeit der Komposition im Rahmen einer Anstellung als ausführender Musiker oder gleichsam als Nebenbeschäftigung des Trägers eines nicht musikalischen Amtes.

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Musikwissenschaft gerichtet und den Akzent der Patronage-Forschung auf das performative Element verlagert. Nicht musikalische Werke stünden im Zentrum des persönlichen Interesses der Patrone des 15. Jahrhunderts, sondern „klangliche Ereignisse“ die den hohen Rang des Mäzens symbolisieren. 25 Die Beziehung zwischen Herr und Musiker basiere nicht auf spezifisch künstlerischem Interesse, sondern auf einem Patron-Klient-Verhältnis: Annibaldi weist auf die Analogie zwischen dem hohem Talent des Künstlers und dem hohen Rang des Patrons hin, die im 16. und 17. Jahrhundert in vielen Widmungen von Musikdrucken thematisiert wird. In der Tat stellte der vom Patron garantierte Schutz nur einen der Vorteile dar, den eine musikalische Karriere bringen konnte. Die Musiker des 15. Jahrhunderts waren meistens aus Frankreich oder aus Burgund kommende Kleriker oder – in geringerer Zahl – Laien, die in kirchlichen Institutionen wirkten. Ihre Laufbahn kann nicht als genuin musikalisch bezeichnet werden, denn sie hatten oft ganz andere Hauptfunktionen inne. Lebensziel der meisten musizierenden Kleriker war die Kumulierung von Pfründen, mit denen sie sich nicht nur Prestige und Macht, sondern auch eine gesicherte wirtschaftliche Grundlage verschaffen konnten. Durch ihre kompositorischen Leistungen und den damit verbundenen Ruhm – der aufgrund der Tätigkeit in prestigeträchtigen fürstlichen Kapellen entstand – konnten Musiker beispielsweise hohe, begehrte Ämter wie Kanonikate erlangen. Insofern war die päpstliche Kapelle seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert nicht nur ein Modell für die sich im 15. Jahrhundert immer mehr verbreitende Institutionalisierung der Musikausübung, sondern bildete auch eine wichtige Drehscheibe für die Karrieresteuerung musikalisch begabter Kleriker aus dem Norden. Diese Dynamik lässt sich anhand von vielen Biographien von Musikern aus dem 15. Jahrhundert nachweisen: Aus dem Norden kamen sie nach Italien – dessen begehrtestes Zentrum Rom war – meist mit dem Ziel, durch politische Kontakte wichtige Pfründe in ihrer Heimat zu erlangen, um dann dorthin zurückzukehren und sich für den Rest ihres Lebens niederzulassen. 26 Die lang anhaltende Hegemonie franko-burgundischer Komponisten im Bereich artifizieller Mehrstimmigkeit ergab sich mit aller Wahrscheinlichkeit aus der wirksamen Funktion der Maîtrisen der Kathedralen als musikalischen Bildungsstätten. Selbst wenn im Zuge der zunehmenden ‚Professionalisierung‘ bereits im 15. Jahrhundert Defizite in der Bildung von Musikern registriert wurden, muss die Maîtrise eine ausreichende Schulung in den Fächern des Triviums und des Quadriviums angeboten haben, die vielen ihrer Absolventen den Zugang zu einem Universitätsstudium eröffnete. 27 25 Claudio Annibaldi, „Introduzione“, in La musica e il mondo. Mecenatismo e committenza musicale

in Italia tra Quattro e Settecento, hg. v. dems., Bologna 1993, 9–43, 12. Allerdings sollte man hier differenzierend hinzufügen, dass viele musikalische Quellen nicht für eine musikalische Aufführung gedacht waren, womit das musikalische Notat zum „ikonische[n] Symbol“ der fürstlichen Macht werden konnte. 26 Vgl. Christopher Reynolds, „Musical Careers, Ecclesiastical Benefices, and the Example of Johannes Brunet“, in Journal of the American Musicological Society 37 (1984), 49–97. 27 Laurenz Lütteken, „Maîtrise“, in Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. erw. Aufl., Sachteil, Bd. 5, Kassel/Stuttgart 1996, Sp. 1597–1602.

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Kleriker, die seit dem späten 14. Jahrhundert im Bereich einer musikalischen Institution wirkten oder in engem Kontakt zu potenziellen Gönnern standen, müssen irgendwann das Potenzial ihrer musikalischen Autorfunktion in einer Welt festgestellt haben, in der eine zunehmend konkurrierende Suche nach komponierenden Kräften herrschte. Der erste, einfache Schritt zur Erlangung der Gunst eines Mächtigen war die Zusendung von Kompositionen oder die musikalische Zueignung als Form der Werbung. Es verwundert nicht, dass bereits der Codex Chantilly (Chantilly, Musée Condé MS 564) viele Kompositionen enthält, die einflussreichen Herren gewidmet sind: dem Gegenpapst Clemens VII. werden zwei Balladen zugeeignet, Matheus de Sancto Johannes Inclite flos und Phylipoctus de Casertas Par le bons Gedeons; Cuveliers Ballade Se Galaas, Trebors’ Se July cesar und weitere Kompositionen huldigen dem Grafen Gaston Fébus von Foix und Béarn; Trebor widmete König Johann I. von Aragon die Balladen En seumeillant und Quant joyne cuer und seiner Gemahlin Passerose de beauté. 28 Diese und andere Kompositionen aus diesem Repertoire, u.a. mit Widmungen an Karl V., König von Frankreich und an seinen Bruder, dem Herzog de Berry, zeigen deutlich, dass die Huldigung einen wichtigen Impuls in der Steuerung von Karrieren gab. Ein solcher Akt der Zueignung war nur insofern sinnvoll, wenn das gewidmete Objekt signiert war oder in irgendeiner anderen Form den Namen des Komponisten trug. Damit wird jene Dynamik der Kunstpatronage ausgelöst, die für die musikalische Autorschaft in der frühen Neuzeit große Bedeutung erlangte. Denn wenn einerseits die Assoziation eines Komponisten mit einem Patron ersterem Ruhm und Prestige verleiht, dann kann sich letzterer andererseits durch die Anstellung eines als renommierter Komponist bekannten Musikers einer symbolischen Bestätigung seiner Macht erfreuen. Eine Kunstpatronage, die sich für komponierte Musik als symbolisches Mittel ihrer Machtausübung interessiert, sucht Ruhm und verleiht Ruhm zur gleichen Zeit. Autorennamen können ihr folglich nicht gleichgültig sein. Einige wenige Briefe aus dem 15. Jahrhundert zeigen die unterschiedlichen Funktionen, welche die Zusendung von Kompositionen an einflussreiche Patrone hatte. Guillaume Dufay ist ein früher Fall für diese Praxis. Mit einem Brief vom 22. Februar 1456 schickte er an Piero de’ Medici und seinen Bruder Giovanni einige Chansons und kündigte dabei die Sendung weiterer Kompositionen an. 29 Es sei hier darauf hingewiesen, dass ein solcher Akt ganz andere Implikationen hatte als der des Schenkens eines Gedichtes oder eines Gemäldes. Zwar konnte sich die Funktion einer musikalischen Handschrift auch in einer rein visuellen Symbolik erschöpfen – zumal Autorschaft sich primär als Erfahrung des Namenlesens konkretisierte –, aber eine Beurteilung des Werkes konnte – aufgrund der nicht vertikal angeordneten Stimmendisposition – nur auf der Basis einer Aufführung erfolgen. Es musste daher eine Gruppe von Sängern bzw. Spielern aufgeboten werden, die eine klangliche Realisierung des Notats lieferten. Dafür standen einem Fürsten die Sänger 28 Ursula Günther/Maricarmen Gómez, „Ars subtilior“, in Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in

Geschichte und Gegenwart, Sachteil, Bd. 1, Kassel/Stuttgart 1994, Sp. 892–911, hier Sp. 899.

29 Bianca Becherini, „Le Relazioni di musicisti fiamminghi con la corte dei Medici. Nuovi documenti“,

in La rinascita 4 (1941), 84–112, hier 87.

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seiner Kapelle zur Verfügung, die mit aller Wahrscheinlichkeit die Komposition auch beurteilten und sie eventuell in ihr Repertoire aufnahmen. Es ist naheliegend, dass die Komponisten selbst bei der Zusendung einer Messe, einer Motette oder eines Chansons an eine einflussreiche Persönlichkeit voraussetzten, dass deren Kapelle in die Beurteilung ihrer eigenen Werke involviert war. Entscheidungen eines Herrschers in musikalischen Fragen wurden vermutlich selten selbständig getroffen, sondern waren meistens vom Urteil seiner Fachleute abhängig. Auf diese Weise erwies sich dieser Akt der Zueignung in einer gewissen Hinsicht auch bei nicht erfolgter Aufnahme in den Dienst des Herrn als vorteilhaft, da die Komposition zumindest in das Repertoire seiner musikalischen Institution aufgenommen oder eventuell weiter abgeschrieben werden konnte. Wenn man an die internationale Mobilität denkt, welche die Biographien der in den Kapellen wirkenden Musiker prägt, kann man sich vorstellen, wie rasch sich so der Ruf sowie die Werke eines Komponisten zu dieser Zeit verbreiten konnten. Voraussetzung dieses Rufs war selbstverständlich, dass der Komponist seinen Autorschaftsanspruch kenntlich machte und dieser in irgendeiner Form von seinem Umfeld zur Kenntnis genommen wurde. Zu einer Zeit, in der er noch keine Kontrolle über die Vervielfältigung sowie die Nutzung seiner Werke hatte, konnte eine solche Autorfunktion nur indirekt sozial-wirtschaftliche Vorteile haben und war deswegen lediglich als persönlicher Akt der Hommage wirksam. Die Widmung der von den Komponisten selbst veranlassten Individualdrucke an die Patrone ersetzt im 16. Jahrhundert zwar nicht völlig das private Geschenk, wie z.B. einige von Klaus Pietschmann neu aufgefundene Briefe von Cristobal de Morales an Cosimo de’ Medici dokumentieren, 30 sie zeigt aber trotz des durch das Medium des Druckes ausgeweiteten Öffentlichkeitscharakters einen ähnlichen Gestus. Andrew Kirkman und Philip Weller haben im Hinblick auf den Text von Gilles Binchois’ Motette Nove cantum melodie, in dem die Namen der Sänger der burgundischen Hofkapelle erwähnt werden, davor gewarnt, in der Figur des Komponisten einen ambitionierten ‚Autor‘ zu sehen, sondern dafür plädiert, ihn historisch als Kleriker zu betrachten, der liturgische Aufgaben erledigt. 31 Es ist fraglich, ob die hohe Artifizialität einiger Gattungen der Kirchenmusik (z.B. der Messe) im 15. Jahrhundert lediglich funktionell als Dienst in einer Kapelle betrachtet werden kann. Für eine angemessene Erfüllung liturgischer Zwecke war in der Tat der Choral ausreichend, und Jeffrey Dean sowie Rob Wegman haben darauf hingewiesen, dass sich höfisch-kirchliche Autoritäten gegenüber mehrstimmiger Musik oft gleichgültig, wenn nicht abgeneigt zeigten. 32 Der nicht zuletzt mit der Namensüberlieferung steigende Ruhm der einzelnen Komponisten zeigt dagegen, 30 Vgl. Klaus Pietschmann, „A Renaissance Composer Writes to His Patrons. Newly Discovered Letters

from Cristóbal de Morales to Cosimo I de’ Medici and Cardinal Alessandro Farnese“, in Early Music 28 (2000), 383–400, hier 385–387. 31 Andrew Kirkman/Philipp Weller, „Binchois’ Texts“, in Music and Letters 77 (1996), 566–596, hier 589. 32 Vgl. insbes. Jeffrey Dean, „Listening to Sacred Polyphony c. 1500“, in Early Music 25 (1997), 611–636; Rob Wegman, The Crisis of music in Early Modern Europe 1470–1530, New York 2008, 17–48.

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dass produktive Tätigkeit jenseits der zu erfüllenden institutionellen Pflichten auf die Steuerung einer Karriere und auf die Verbreitung von Ruhm ausgerichtet war, die nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb einer lokalen Musikergemeinde Wirkung zeigte. Wenn Binchois auch primus inter pares in der burgundischen Kapelle war, dokumentiert jedoch die Rezeption seines Namens in der heutigen Überlieferung in zwei Musiktraktaten von Tinctoris und nicht zuletzt in der aus Anlass seines Todes entstandenen Motette Mort tu as navré Ockeghems, dass er unabhängig von seinem konkreten Status zu den großen Autoren seiner Zeit zählte. 33 Der positive Akt der ‚Unterschrift‘ als Mittel der sozialen Förderung erklärt jedoch nur zum Teil die wachsende Rolle der musikalischen Autor-Funktion im 15. Jahrhundert. Der Name eines Komponisten als Paratext konnte in der Überlieferung ‚durch viele Hände‘ verloren gehen. Dies bedeutet, dass die Rezipienten – und besonders Sammler und Kopisten – auch irgendwann ein Interesse für denjenigen zeigten, der die Musik komponiert hatte. Diese Tatsache setzt auch eine veränderte Einstellung zum Autor als ‚Ursprung‘ eines musikalischen Artefaktes voraus, jenem Ursprung, von dem in Ermangelung eines Originals zumindest durch die Namensnennung eine Spur in der Handschrift bleiben konnte. Die humanistische Kultur der ‚Ursprünglichkeit‘, der Suche nach der persönlichen Nähe zu den Autoren sowie nach ihrem originalen Ausdruck, könnte eine entscheidende Rolle auch in der musikalischen Überlieferung gespielt haben. Dies impliziert keine humanistische Musikauffassung, sondern eher eine humanistisch geprägte Einstellung zur Werküberlieferung. Dabei wurde zwar nicht nach einer korrekten Textphilologie gestrebt, da es in der Musik nicht darum ging, eine Sprache zu ‚reinigen‘ wie im Fall der klassischen Autoren; aber es ist sehr wahrscheinlich, dass die Kultur der Klassiker und die dabei angestrebte Restituierung einer für verlorenen gehaltenen Beziehung zwischen Autor und Werk das Interesse gegenüber den Komponisten gestärkt hat. 34 Deswegen verwundert es nicht, dass viele der Musikhandschriften aus dem frühen 15. Jahrhundert, die eine sehr hohe Zahl an zugeschriebenen Stücken aufweisen, in humanistischen Kreisen entstanden sind und nicht für den praktischen Aufführungsgebrauch bestimmt waren. 35 Die Einführung des Druckes trug dann später dazu bei, die Verbindung zwischen Autor und Werk noch weiter zu stärken.

33 Zum besonderen Status der Komponisten als ‚Väter‘ in den Trauerkompositionen um 1500 vgl. Paula

Higgins, „Lamenting ‚Our Master and Good Father‘. Intertextuality and Creative Patrilineage in Musical Tributes by and for Johannes Ockeghem“, in Stefan Gasch/Birgit Lodes (Hgg.), Tod in Musik und Kultur. Zum 500. Todestag Philipps des Schönen (Wiener Forum für ältere Musikgeschichte 2), Tutzing 2007, 277–314. 34 Dies lässt sich schon an der Tatsache sehen, dass oft Zuschreibungen in den Handschriften eliminiert oder korrigiert wurden, was zumindest ansatzweise eine philologische Auseinandersetzung mit dem Komponistennamen impliziert. 35 Vgl. Margaret Bent, „Humanists and Music, Music and Humanities“, in Raffaele Pozzi (Hg.) Tendenze e metodi nella ricerca musicologica. Atti del convegno internazionale (Latina 27–29 Settembre 1990), Florenz 1995, 29–38, hier 31–36.

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Die steigende Anzahl an bekannten Komponistennamen in der musikalischen Überlieferung des 15. Jahrhunderts scheint somit das Ergebnis einer komplexen Interaktion zwischen dem Drang nach sozialer Förderung seitens der Komponisten und einem Interesse an den ‚Autoren‘ seitens der Rezipienten von Handschriften zu sein. Weniger wahrscheinlich ist, wie bereits erwähnt, dass das Phänomen der Zuschreibung aus einer ‚ästhetischen‘ Neubewertung des Komponisten durch die Musiklehre herrührt. Das fast vollkommene Schweigen über die Autoren von Musik in den meisten Musiktraktaten des 15. Jahrhunderts spricht eher gegen ein solches Geschichtsbild. Im Gegenteil könnte man sogar behaupten, dass die vermeintliche Kanonisierung der Komponisten in den Musiktraktaten zuerst aus einem Zensurimpuls kam. Der bereits erwähnte Johannes Tinctoris zum Beispiel, der sich in den 1470er-Jahren als erster emphatisch über Komponisten äußert, scheint in der Tat auf einen musikalischen Ruhm zu reagieren, der sich bis dahin auf dem Wege der musikalischen Überlieferung entwickelt und verbreitet hatte. 36 Dieser Autor wird in der Regel als der erste Theoretiker der Musikgeschichte betrachtet, der eine nova ars im Bezug auf die Tätigkeit frankoflämischer Komponisten verherrlicht. Im Prolog zu seinem Proportionale musice lobt er tatsächlich das incrementum der musikalischen Produktion zu seiner Zeit und führt die Vertreter dieser nova ars auf, die ihren Ursprung im englischen Komponisten John Dunstable hatte: Dufay und Binchois, dann Johannes Ockeghem, Antoine Busnois, Johannes Regis und Firminus Caron. Bei der Interpretation dieser Stelle hat man aber häufig vergessen, dass Prologe eine strategische Funktion hatten. In den mittelalterlichen Prologen entfaltet sich eine aus der klassischen Tradition herrührende Exordialtopik, 37 deren Funktion darin besteht, den Leser bzw. den Zuhörer auf eine wohlgesonnene Aufnahme des Textes einzustimmen. Dabei werden Motiv (causa scribendi), Stoff (materia) sowie Intention des Werkes (intentio) in einem Netz von Topoi präsentiert, die auf eine captatio benevolentiae zielen. Verwandt sind die Prologe von Tinctoris’ Proportionale und Liber de arte contrapuncti, beide aus den 1470er-Jahren stammend, nicht nur durch das Lob der Komponisten und die Feststellung einer neuen Epoche der Musik, sondern auch durch die gemeinsame Widmung an Ferdinand von Aragon. Wozu war denn diese besondere captatio notwendig? Im Haupttext des Proportionale bemängelt Tinctoris eigentlich die widersprüchliche Verwendung von Proportionszeichen in der rhythmischen Notationspraxis seiner Gegenwart, was er auf eine mangelnde Kenntnis der Arithmetik bei Musikern zurückführt. Die Kritik betrifft also nicht den musikalischen Satz, sondern die Notierung von Mensur- und Proportionszeichen als Voraussetzung einer adäquaten Realisierung des notierten Textes. Tinctoris argumentiert arithmetisch in einem Bereich, in dem der Pragmatismus der Notation der Logik der Zahlen zu widersprechen scheint. Bereits am Anfang 36 Zusammenfassend vgl. Michele Calella, „Tinctoris, Johannes“, in Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik

in Geschichte und Gegenwart, Personenteil, Bd. 16, Kassel/Stuttgart 2006, Sp. 837–842.

37 Dazu vgl. Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des

13. Jahrhunderts, Darmstadt 1992, 12–15; James A. Schultz „Classical Rhetoric, Medieval Poetics, and the Medieval Vernacular Prologue“, in Speculum 59 (1984), 1–15.

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des Traktates kritisiert er Ockeghem, weil dieser in seiner Chanson L’autre dantan ein Mensurzeichen verwendet, das von einigen Komponisten als proportio tripla, von anderen als sesquialtera benutzt wird, und fügt hinzu, dass Dufay in seiner Missa de Sancto Anthonio dasselbe Zeichen für eine dupla sesquiquarta verwendet. Tinctoris’ Devise ist dabei von einer unmissverständlichen ratio geprägt: diversae enim proportiones diversa signa requirunt. 38 Da er aber ein solches Prinzip in der Notationspraxis seiner Zeit nicht verwirklicht sieht, greift er – besonders im dritten Buch des Proportionale, in dem es um die Notierung der Proportionen geht – die einzelnen Komponisten wegen ihrer Fehler direkt an. Nur der längst verstorbene Binchois, sowie der Gelehrte und Dichter Eloy d’Auberval werden von Tinctoris ausgespart und ausschließlich als positive Beispiele erwähnt. Selbst Dufay ist trotz der ihm zugesprochenen Autorität nicht frei von Fehlern. Alle anderen ergeben ein Bild des Komponisten, das zumindest in Tinctoris’ Augen nicht besonders positiv ist. Selbst wenn er Busnois und Ockeghem eine Kompetenz in latinitas zugesteht, ist dies für ihn eigentlich eher verwunderlich, da diese denselben Fehler begehen, den er bei den ‚minime literati‘ Regis, Caron, Faugues, Courbet und anderen findet. Domarto ist mit seiner Messe Spiritus almus der in Tinctoris’ Œuvre am meisten kritisierte Komponist. Diese und weitere Fälle zeigen, dass – abgesehen von den oben erwähnten Ausnahmen – Tinctoris die Komponisten meist direkt nennt, um sie zu kritisieren. Autoritative Notenbeispiele erfüllen bei ihm meist eine negative Funktion. Die Behauptung, dass er der erste Theoretiker sei, der den Komponisten als klassischen Autor und als ‚Autorität‘ anerkennt, muss in dieser Hinsicht differenziert werden. Umgekehrt hat man den Eindruck, dass seine Kritik eine bereits fest etablierte Autorität des Komponisten voraussetzt, die zwar noch nicht den theoretischen Diskurs bestimmte, aber in der Praxis eine wichtige Rolle spielte. Einige seiner Bemerkungen scheinen darauf hinzudeuten: Lerouge und Pulloys werden zusammen mit Dufay als famosissimi compositori bezeichnet, Domartos Fehler scheint sich durch imitatio in einer ganzen Generation von Komponisten weiterverbreitet zu haben, und diesem sowie Cousin wird eine ‚nicht geringe Autorität‘ zugeschrieben, die eine Diskussion von deren fehlerhafter Praxis notwendig macht. 39 In diesem Sinne kann man die so genannte ‚Entstehung des Komponisten‘ im 15. Jahrhundert kaum als Ergebnis einer Emanzipation des musikalischen Subjekts betrachten. Sie konkretisiert sich vielmehr als Funktion in einer Reihe unterschiedlicher Diskurse, welche die Aspekte der fürstlichen Repräsentation, der Karrieresteuerung, der ‚Ursprünglichkeit‘ und nicht zuletzt der Zensur seitens der Musiktheorie betreffen. Besonders das Musikschrifttum, das immer wieder als Ort der Legitimation des Komponierens betrachtet wird, zeigt deutlich, dass sich die Emergenz der musikalischen Autorfunktion auch durch die negative Beurteilung seitens der Autoren von musiktheoretischen Schriften ergibt. Und dies ändert sich nicht wesentlich im Laufe des 16. Jahrhunderts. 38 Johannes Tinctoris, „Proportionale musices“, in Opera omnia, Bd. 2a, hg. v. Albert Seay (Corpus

Scriptorum de Musica 22), o.O. 1975, 14.

39 Ebd. 56: Itaque consideremus differentiam istorum non parvae auctoritatis compositorum.

Patronage, Ruhm und Zensur

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Der Komponist nimmt jetzt durch den Musikdruck eine so starke Autorität an, dass der Theoretiker ihn nicht mehr ignorieren kann, und in diesem Sinne versteht man, dass er als auctor nicht nur Ursprung eines musikalischen Artefaktes, sondern Träger einer ‚Autorität‘ auch für die Musiklehre werden konnte. Sozial wird der Komponist noch später im 15. Jahrhundert trotzdem primär als Kleriker mit einem bestimmten Amt betrachtet, denn eine Anstellung als Komponist kennen wir erst seit 1484, als der Komponist Heinrich Isaac als Componist am Innsbrucker Hof angestellt wird. 40 Und auch später sind solche Amtsbezeichnungen die Ausnahme. Damit sind auch einige der möglichen Gründe genannt, warum eine Darstellung des Komponisten als notenschreibender Autor noch im 15. Jahrhundert ausbleibt, und warum so wenige Porträts von Komponisten aus dieser Zeit überliefert worden sind, die meistens noch schwach konnotiert sind. 41 Dabei sollte man sich aber auch die Frage stellen, wann und wo Bilder von schreibenden Autoren im Mittelalter in Erscheinung treten. In der Regel handelt es sich um Bilder, die Initialen des Werksprologs verzieren. Zu bedenken ist dabei, dass die Handschrift häufig einen einzigen Text enthält. Dies schafft eine starke Identität zwischen opus und liber, wobei der Prolog, in dem der Autor direkt ‚spricht‘, eine starke autoritative Funktion für die Inhalte des Buchs übernimmt. In der musikalischen Überlieferung haben wir – zumindest in dem aktuellen Quellenstand – keine Individualhandschriften und keine Prologe. Daher ist es kein Wunder, dass wir dann erst im 16. Jahrhundert, und auch nur sehr zaghaft, Bilder von Komponisten bei Individualdrucken haben: Zum Beispiel das Porträt von Adrian Willaerts aus Musica nova, veröffentlicht 1559 bei Antonio Gardano als Gedenkdruck. Aber auch in den Drucken, nicht zuletzt weil Komponisten nicht immer ihre Veröffentlichungen autorisierten, bleiben Komponistenbilder selten und sind jedenfalls nicht Zeichen von ‚Urheberschaft‘. Einen interessanten Fall bieten die Bilder von Cristobal de Morales und Giovanni Pierluigi da Palestrina in ihren Messedrucken von jeweils 1544 und 1554, in denen sie dem Papst, vor ihm kniend, ihr Buch schenken. 42 Solche Darstellungen sind in der literarischen Tradition des Mittelalters aber alles andere als ungewöhnlich, wobei klar sein muss, dass auch hier der Begriff der musikalischen Autorschaft aufzulockern wäre. Denn im Mittelalter konnte nicht nur der Autor des Textes, sondern auch ein Bearbeiter bzw. ein Übersetzer als derjenige dargestellt werden, der das Buch schenkte. 43 Und die Tatsache, dass der römische Verleger Antico bereits in seinem Liber quindecim missarum von 1516 in derselben Stellung vor dem Papst dargestellt wird, zeigt die unterschiedlichen Autorkonkretionen im Umgang mit dem opus als Buch. Es wäre jedenfalls noch zu

40 Reinhard Strohm, „Isaac, Heinrich“, in Ludwig Finscher (Hg.) Die Musik in Geschichte und Gegen-

wart, Personenteil, Bd. 9, Kassel/Stuttgart 2003, Sp. 672.

41 Für eine freilich noch nicht vollständige Auflistung der ‚Komponistenbilder‘ aus dem 15. und 16. Jahr-

hundert vgl. Finscher/Ketteler/Jewanski „Musik und bildende Kunst“, Sp. 775.

42 Vgl. dazu Iain Fenlon, Musica e stampa nell’Italia del Rinascimento, Mailand 2001, 75–76. 43 Christel Meier, „Ecce auctor“, 372–378, Abb. 34–94.

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Michele Calella

klären, ob der Messedruck von Antico wirklich als direkte Vorlage für die Illustration von Morales’ und Palestrinas Messesammlungen gedient hat. Man befindet sich hier jedoch bereits in einer Phase der Musikgeschichte, in welcher der Komponist als Autor in jeder Hinsicht eine sehr starke Autorität im musikalischen Diskurs der Zeit angenommen hat und unterschiedliche Formen der Selbstinszenierung aufzugreifen beginnt. Die häufige Thematisierung des Ingeniums, der Herkunft des Komponisten und nicht zuletzt die Bemühung um eine Kontrolle der Überlieferung und Verwertung der eigenen Produktion, zeigen dies in aller Deutlichkeit.

Wolf-Dietrich Löhr

Die Rede der Hand Giottos O und die Autorschaft des Künstlers bei Polizian und Vasari*

1. Einleitung Die Bestimmung der Parameter von Autorschaft im Bereich der bildenden Kunst steht zumeist im Schatten des Literarischen – insofern nämlich, als das reflektierte Schreiben über Kunst in den Texten der Kunsttheorie auch jene gattungsgemäßen Strukturen und Topoi mit einbringt, die in der Literatur längst voll entwickelt sind, nun aber aus der Rhetorik und Poetik auf die Kunst übertragen werden. Daneben besteht jedoch eine stärker im mündlichen Diskurs entwickelte und überlieferte Tradition des Sprechens über Kunst, die der Werkstatt der Künstler bedeutend näher steht. Ihr Überlieferungsträger ist die Künstleranekdote, die wir freilich selbst wiederum meist der Literatur entnehmen müssen, die sie früh verschriftlicht hat. 1 Bezeichnenderweise kann die Geschichte eines Buchstabens zeigen, dass literarisch versierte Künstler es verstehen, die Konturen einer bildkünstlerischen Autorschaft gerade mit der Feder, also mit der Armbinde der Literatur, besonders präzise heraus zu präparieren. Giorgio Vasari, Maler und Architekt im Dienste der de’ Medici und ein begeisterter Historiograph der Kunst mit zahlreichen Freunden und Helfern unter den Florentiner Literaten, führt dies mit der berühmten Anekdote vom ‚O‘ Giottos vor, die im Folgenden * Für zahlreiche Hinweise und Kritik danke ich Alexander Arweiler, Alessandro della Latta, MarieLuise Hugler, Christel Meier-Staubach, Jörn Steigerwald, Martina Wagner-Egelhaaf und Ittai Weinryb. 1 Hanns Floerke, Die fünfundsiebzig italienischen Künstler-Novellen der Renaissance, München/Leipzig 1913; Ernst Kris/Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Frankfurt am Main 1995 [zuerst Wien 1934]; Eva Krems, Der Fleck auf der Venus. 500 Künstleranekdoten von Apelles bis Picasso, München 2003. Die folgenden Überlegungen knüpfen an ein größeres Vorhaben zur Konfiguration der Kunsttheorie in frühen Künstleranekdoten an, vgl. dazu vorläufig: Wolf-Dietrich Löhr, „Korrekturen. Schöpfung und Schminke bei Franco Sacchetti“, in Gerhard Wolf (Hg.), Kunstgeschichten – Parlare dell’arte nel Trecento, München/Berlin (im Druck).

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Wolf-Dietrich Löhr

mit einigen früheren Beispielen aus dem Bereich der volkssprachigen Novellistik und der neulateinischen Epigrammatik verglichen werden soll. Gerade an der Figur Giottos als exemplarischer Künstlertypus lässt sich zeigen, dass die Autorschaft des Künstlers aus einer historisch fundierten Urheberschaft – nämlich als Begründung der eigenen Kunst – und aus einem spezifischen, inkorporierten Wissen hervorgeht, das vor allem im Verhältnis von Autor, Werk und Publikum seine Bedingungen hat. In diesem Rahmen verschafft sich, so die These, der Künstler als Autor dadurch Gehör, dass er auf das Sprechen der Literatur mit der wortlosen Rede der Hand antwortet. Die bekannte Anekdote vom ‚O‘ findet sich bereits in der ersten Edition der Künstlerviten Giorgio Vasaris von 1550 und erhält ihre endgültige Form in der erweiterten Ausgabe von 1568. Im historiographischen Rahmen der Viten fällt der Biographie Giottos eine besondere Rolle zu, denn dieser tritt als die entscheidende Figur eines Erweckers der Malerei auf, er setzt – in den Augen Vasaris – die Wendung zum Naturvorbild ebenso durch, wie er zum Referenzmodell für den neuen sozialen und intellektuellen Status des Künstlers wird. 2 Mit seiner Funktion als Figur des Beginns einer Florentinischen Kunstgeschichte verbindet sich die ausführliche Evokation seiner Erfindungs- und Gestaltungskraft sowie seiner Unerschrockenheit gegenüber den Auftraggebern, beides Eigenschaften, die ihn zum idealen Vorläufer und Spiegelbild Michelangelos erheben, der als Figur der Vollendung den chronologischen und theoretischen Rahmen der Viten Vasaris abschließt. Die Anekdote vom ‚O‘ ist damit Bestandteil einer Ursprungserzählung, die zugleich in nuce die Zeichen der Vollendung setzen muss. Sie ist der umfangreichen Biographie Giottos so eingefügt, dass sie den akkumulierenden Textverlauf dialogisch dynamisiert. Vasari schildert Giottos Auftreten als größtes Wunder der Gelehrsamkeit in einem noch groben und unfertigen Zeitalter. 3 Er listet dann die zahlreichen Hauptwerke des Künstlers in Florenz, Assisi und Pisa auf, um durch diesen Katalog vor Augen zu führen, dass um 1300 der Ruhm des Künstlers bereits einen ersten Höhepunkt erreicht hatte. In diesen Jahren habe Papst Benedikt XI. 4 für die Ausstattung der Peterskirche nach dem besten unter den zeitgenössischen Malern gesucht und einen Kunstagenten losgeschickt. Dieser habe zuerst die sienesischen Konkurrenten aufgesucht und sich von diesen Präsentationszeichnungen verschafft. Schließlich sei der Abgesandte auch nach Florenz in die 2 Vgl. zu Vasaris Giotto-Vita Hayden B. J. Maginnis, „Giotto’s World through Vasari’s Eyes“, in

Zeitschrift für Kunstgeschichte 56 (1993), 385–408; Michael Viktor Schwarz/Pia Theis, Giottus Pictor, Bd. 1: Giottos Leben, Wien [u.a.] 2004, 309, mit Literatur. 3 Giorgio Vasari, Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori. Nelle redazioni del 1550 e 1568, hg. v. Paola Barocchi, komm. v. Rosanna Bettarini, Bd. 2: Testo, Florenz 1967, 95: E veramente fu miracolo grandissimo che quella età e grossa et inetta avesse forza d’operare in Giotto sì dottamente, che il disegno, del quale poca o niuna cognizione avevano gl’uomini di que’ tempi, mediante lui ritornasse del tutto in vita. 4 Vasari nennt eigentlich Benedikt IX., vielleicht ein Schreib- oder Druckfehler; vgl. zur historischen Situation die älteren Kommentare, versammelt bei Giorgio Vasari, Le vite, Bd. 2: Commento, Florenz 1969, 369f.

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Werkstatt Giottos gekommen und habe sich von diesem eine Zeichnung für den Papst erbeten. Vasari schildert dann die unerwartete Entstehung des ‚O‘: ‚Giotto, der ganz ein Mann von Welt war, griff nach einem Blatt Papier, und indem er den Arm fest an den Körper anlegte, um damit einen Zirkel zu bilden und die Hand im Kreise drehte, zog er mit einem in Rot getauchten Pinsel einen Kreis, so tadellos im Umriss und Durchmesser, dass es ein Wunder zu sehen war. Hierauf sagte er lächelnd zu dem Hofmann: „Hier ist die Zeichnung.“ – „Etwas anderes als das soll ich nicht bekommen?“ erwiderte [der Bote], im Ton eines, der sich geneckt fühlt. Aber Giotto antwortete: „Es ist genug, und mehr als genug – Schickt sie [ihm] zusammen mit den andern, ihr werdet schon sehen, ob man sie [an]erkennen wird.“ Der Abgesandte des Papstes, der nun merkte, dass er nichts anderes bekommen würde, ging weg, recht wenig befriedigt und in der Meinung, jener habe ihn zum Narren gehalten. Immerhin, als er dem Papst die anderen sandte und die Namen derer anführte, die sie verfertigt hatten, legte er auch die Zeichnung Giottos bei und berichtete dazu, auf welche Weise dieser seinen Kreis gezogen habe, ohne den Arm zu bewegen und ohne Zirkel. Der Papst aber und viele kunstverständige Hofleute erkannten daraus, wie sehr Giotto an Vortrefflichkeit allen übrigen Malern seiner Zeit überlegen sei. Diese Geschichte wurde mit der Zeit allgemein bekannt, und es entstand daraus die Redensart, die noch jetzt gegenüber Menschen von schwerfälligerem Verstand gebräuchlich ist: „Du bist runder als das O des Giotto [Tu sei più tondo che l’O di Giotto].“ – Eine sehr hübsche Redensart, kann man wohl sagen, nicht nur wegen der Geschichte ihrer Entstehung, sondern auch wegen der doppelten Bedeutung des Wortes ‚tondo‘, das im toskanischen Sprachgebrauch einerseits die Figur des vollkommenen Kreises, andererseits Schwerfälligkeit und Stumpfheit des Geistes bezeichnet.‘ 5

Im Rahmen der Kunsttheorie Vasaris illustriert diese Geschichte vom vollendet ausgezirkelten ‚O‘ nicht zuletzt die Kraft des disegno als Grundlage des Entwerfens und Erneuerns. Die Anekdote lässt sich damit als eines von zwei Sinnbildern für ‚die schönste Praktik des disegno‘ lesen, welche für Vasari durch Giotto ‚gänzlich zum Leben zurückgekehrt‘ sei. 6 Zu Beginn der Vita berichtet Vasari, Lorenzo Ghiberti folgend, jene von der Anmutung einer bukolischen Kunst-Aitiologie durchdrungene Episode, nach welcher Giotto als Hirtenknabe beim meisterhaften Abzeichnen seiner Schafe von Cimabue beobachtet und von diesem zum Meisterschüler gemacht worden sei. 7 Auf diese Frühvollendung der Nachahmung antwortet die Erzählung vom ‚O‘ des reifen Künstlers, indem sie den Handstreich 5 Giorgio Vasari, Le Vite, Bd. 2: Testo, 103f.; die zentrale Stelle (ebd. 104) lautet im Original: Giotto, che

garbatissimo era, prese un foglio et in quello con un pennello tinto di rosso, fermato il braccio al fianco per farne compasso e girato la mano, fece un tondo sì pari di sesto e di proffilo che fu a vederlo una maraviglia. Ciò fatto, ghignando disse al cortigiano: „Eccovi il disegno“. Deutsche Übersetzung mit wenigen Änderungen nach Giorgio Vasari: Die Lebensbeschreibungen der berühmtesten Architekten, Bildhauer und Maler, deutsch hg. v. Adolf Gottschewski/Georg Gronau, Bd. 1: Trecento. Erste Hälfte, übers.u. eingel. v. Martin Wackernagel, Straßburg 1916, 171–173. 6 Giorgio Vasari, Le Vite, Bd. 2: Testo, 95; der Text zitiert oben, Anm. 3. In der Edition von 1550 sprach Vasari außerdem von Giottos bellissima pratica des disegno, ebd. 7 Ebd. 96f. Dazu Ernst Kris/Otto Kurz, Die Legende vom Künstler; Hayden B. J. Maginnis, „Giotto’s World“; Paul Barolsky, Giotto’s Father and the Family of Vasari’s Lives, University Park 1992; Ulrich Pfisterer, „Erste Werke und Autopoiesis. Der Topos künstlerischer Frühbegabung im 16. Jahrhundert“, in Ders./Max Seidel (Hgg.), Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance (Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, MaxPlanck-Institut, 4. Folge, 3), München 2003, 263–302.

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Wolf-Dietrich Löhr

des Zeichners nun von den sichtbaren Formen der Natur löst und die Zeichnung einstellt in die Kontexte von künstlerischer Imagination, von Geometrie und von Schrift. 8 Die historischen und genetischen Zusammenhänge der Anekdote sind längst ausführlich untersucht wurden – zumal von Paul Barolsky, Andrew Ladis, Hartmut Biermann und Irving Lavin. 9 Die theologische Grundierung, mit der Vasari seiner Episode zu besonderer Wirkung verhilft – nämlich die Verwandschaft des frei gezogenen Kreises zum orbis terrarum, zum geschlossenen, maßvollen Kreis der Schöpfung Gottes, der wie das ‚O‘ aus dem Nichts hervorgebracht und von seinem Schöpfer für gut befunden wurde, ist an anderer Stelle behandelt worden und soll hier ebenfalls nicht im Vordergrund stehen. 10 Gefragt werden soll im Folgenden allein nach solchen Schilderungen, die vor Vasaris trickreicher Zusammenführung das Verhältnis von Sprechen, Schreiben und Zeichnen betreffen – und damit auch die Beziehungen und Abgrenzungen von literarischer und bildkünstlerischer Autorschaft.

8 Zu Vasaris Konzept des disegno vgl. Wolfgang Kemp, „Disegno. Beiträge zu einer Geschichte des

Begriffs zwischen 1547 und 1607“, in Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 19 (1974), 219– 240; sowie Einleitung, Kommentar und Glossar in Giorgio Vasari, Kunsttheorie und Kunstgeschichte. Eine Einführung in die Lebensbeschreibungen berühmter Künstler anhand der Proemien, neu übers.v. Victoria Lorini, hg., eingel. u. komm. v. Sabine Feser/Matteo Burioni, Berlin 3 2010. 9 Vgl. vor allem Ernst Kris/Otto Kurz, Die Legende vom Künstler, 128; Andrew Ladis, „The Legend of Giotto’s Wit and the Arena Chapel“, in The Art Bulletin 68 (1986), 581–596; Paul Barolsky, Why Mona Lisa smiles and other Tales by Vasari, University Park 1991, 10–12; David Rosand, Drawing Acts. Studies in Graphic Expression and Representation, Cambridge 2001, 18, 136; Andrew Ladis, „The sorcerer’s ‚O‘ and the painter who wasn’t there“, in Ders./Anne Barriault (Hgg.), Reading Vasari, London 2005, 39–61. Hartmut Biermann, „Das ‚O‘ Giottos. Anmerkungen zur Fama Giottos“, in Karl Möseneder (Hg.), Aufsätze zur Kunstgeschichte. Festschrift für Hermann Bauer zum 60. Geburtstag, Hildesheim 1991, 109–127, liefert, neben den knappen, aber vielfältigen Hinweisen von Barolsky, die ausführlichste Analyse. Zwei ambitionierte Giotto-Monographien jüngerer Zeit tragen die Anekdote im Titel, allerdings ohne sie näher zu behandeln: Serena Romano, La O di Giotto, Mailand 2008, 137; Andrew Ladis, Giotto’s O. Narrative, Figuration and Pictorial Ingenuity in the Arena Chapel, University Park 2008, 2. Vgl. zur Rezeption der Anekdote Ben P. J. Broos, „The ‚O‘ of Rembrandt, in Simiolus 4 (1971), 150–184; John F. Moffitt, „Giotto, Vasari, and Rembrandt’s Kenwood House Self-Portrait“, in Paragone. Arte 35 (1984), 63–70; Irving Lavin, „The story of O from Giotto to Einstein (Excerpt)“, in Horst Bredekamp (Hg.), Oberflächen der Theorie (Bildwelten des Wissens 1/2 [2003]), Berlin 2003, 37–43. 10 Wolf-Dietrich Löhr, „Von Gottes ‚I‘ zu Giottos ‚O‘. Schöpferhand und Künstlerkörper zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit“, in Johannes Bilstein/Guido Reuter (Hgg.), Auge und Hand, Oberhausen 2011, 51–76.

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2. Giotto-Legenden: Reibungen mit der Literatur Für die Konzeption seiner Giotto-Vita konnte Vasari, wie er selbst sagt, an die in Florenz ‚lebendige Erinnerung‘ anschließen, die den Künstler als ‚geistreich, sehr unterhaltsam und in seinen Aussprüchen immer schlagfertig‘ verzeichnete. 11 Er war bekanntermaßen früh in das rühmende Reich der Literatur aufgenommen worden: Noch zu Lebzeiten des Malers wurde jene von Dante im Purgatorium konstatierte, den literarischen Wettstreit aufnehmende Überbietung Cimabues durch Giotto 12 zum „Samenkorn, aus dem […] sich der ganze weitschattende Baum der florentinischen Kunsthistoriographie entwickelt hat“, wie Julius von Schlosser bemerkte. 13 Fortan schärfte die literarische Überlieferung Giottos Profil als Archetyp des Künstlers gerade durch Berichte von seinen Berührungen mit Sprachkünstlern: In der auch von Vasari genannten Novelle VI, 5, aus Giovanni Boccaccios Decameron (um 1350) kommt es zu einem Wortgefecht mit dem Juristen Forese da Rabatta, das uns bereits ins Reich der Buchstaben bringt: Giotto gerät mit dem Rechtsgelehrten in ein verheerendes Gewitter, das die beiden, obwohl sie als distinguierte Persönlichkeiten eben von ihren Besitztümern im Mugello zrückkehren, zwingt, sich mit den alten Mänteln und Schlapphüten eines Landarbeiters (lavoratore) zu schützen und sich so ihres sozialen Status zu entkleiden. Beim Weiterreiten betrachtet Messer Forese den Maler, beginnt zu lachen und sagt: ‚ „Giotto, wenn uns jetzt ein Fremder begegnete, der dich noch nie gesehen hätte, denkst du, dass er glauben würde, du seist der beste Maler der Welt – der du ja doch bist?“ Augenblicklich antwortete ihm Giotto: „Ich glaube, Messer, das würde er glauben, wenn er, nachdem er Euch besehen hätte, glaubte, dass Ihr das Abc könntet.“‘

Giotto, der als ein begabter Geschichtenerzähler – bellissimo favellatore – vorgestellt wird, ist dem Rhetoriker hier überlegen, weil sein Blick auf die Dinge ein reflexiver ist: Forese muss schließlich einsehen, dass erst Giotto ihm den Spiegel vorhalten musste, weil er selbst seinen eigenen Anblick nicht bedachte: ‚Als das Messer Forese hörte, erkannte er sein Unrecht und sah sich mit einer Münze bezahlt, die der verkauften Ware entsprach.‘ 14 11 Giorgio Vasari, Le Vite, Bd. 2: Testo, 120: Fu, come si è detto, Giotto ingegnoso e piacevole molto e

ne’ motti argutissimo, de’ quali n’è anco viva memoria in questa città, perché oltre a quello che ne scrisse messer Giovanni Boccaccio, Franco Sacchetti nelle sue Trecento Novelle ne racconta molti e bellissimi. 12 Purgatorio, XI, 94–96: Credette Cimabue nella pittura / Tener lo campo, ed ora ha Giotto il grido, / Sì che la fama di colui è oscura. Vgl. dazu die spätantiken, pseudo-Ovidischen Verse: Vergilius magno quantum concessit Homero, / tantum ego Vergilio, Naso poeta meo […]. Hier nach Jan M. Ziolkowski/Michael Putnam (Hgg.), The Virgilian Traditon. The First Fifteen Hundred Years, New Haven/London 2008, 22. 13 Julius von Schlosser, „Lorenzo Ghibertis Denkwürdigkeiten“, in Kunstgeschichtliches Jahrbuch der K.K. Zentral-Kommission für Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale 4 (1910), 105–211, hier 118. Vgl. zur Entwicklung der Giotto-Legende Enid T. Falaschi, „Giotto. The literary legend“, in Italian studies 27 (1972), 1–27. 14 Deutsche Übersetzung nach: Giovanni Boccaccio, Das Dekameron, übers.v. Albert Wesselski, mit 110 Holzschnitten der italienischen Ausgabe von 1492, Frankfurt a.M. 1980, 567. Italienischer

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Giottos knappe Replik schlägt den Juristen mit seinen eigenen Waffen, indem sie ihn scherzhaft der Grundelemente seiner Sprache und damit seines Metiers beraubt. Um 1375/80 lässt dann der Dante-Kommentator Benvenuto Rambaldi da Imola den Maler in einen gewitzten lateinischen Dialog mit dem großen Dichter treten 15 , während Filippo Villani gegen 1382 in seiner Stadtchronik überliefert, Giotto sei ein poesis emulator gewesen, der nicht allein sich selbst, sondern auch Dante lebensgetreu porträtiert habe. 16 Schließlich entwirft der Beamte und Literat Franco Sacchetti um 1390/95 in seinem Trecentonovelle ein veritables stummes Sprachspiel Giottos: Als ein dahergelaufener Handwerker, der sich für etwas besseres hält, vom berühmten Maler auf ein Paradeschild sein Wappen gemalt haben will – le arme mia im Italienischen – füllt Giotto die Fläche des Schildes mit einer vollständigen, gerade in ihrem Überfluss bedeutungslosen Garnitur von Waffen an – auch diese heißen le arme –, die er aus dem Stehgreif direkt auf das Schild zeichnet. 17 Diese aus der beffa der Novellentradition entnommene visuelle Ohrfeige des Malers Giotto, der auf Dummheit und sprachliche Prätention mit der schlagfertigen Replik seiner Hand antwortet, hat Vasari gekannt (er zitiert sie ausführlich) und in seiner Anekdote mit der bedeutendsten antiken Vorlage, nämlich der vielgelesenen Erzählung vom Linien-Wettstreit zwischen Apelles und Protogenes, verschmolzen. Nach dem Bericht des Plinius hatte sich Apelles durch eine feine Linie dem Protogenes zu erkennen gegeben. Als dieser seinerseits einen noch subtileren Pinselzug darauf gesetzt hatte, antwortete Apelles dem Konkurrenten durch eine dritte Linie von so un-

Text Tutte le opere di Giovanni Boccaccio, hg. v. Vittore Branca, Bd. 4: Decameron, hg. v. dems., Verona 1976, 552; darauf verweist Giorgio Vasari, Le Vite, Bd. 2: Testo, 97. Vgl. zu Boccaccios Kunstanschauung und der Inszenierung der Künstler Pamela D. Stewart, „Giotto e la rinascità della pittura. Decameron VI, 5“, in Yearbook of Italian Studies 5 (1983), 22–34; Paul F. Watson, „The Cement of Fiction: Giovanni Boccaccio and the Painters of Florence“, in MLN 99 (1984), 43–64, hier 58; Dieter Blume, „Ingegno und Inganno – Bild und Poesie bei Giovanni Boccaccio und Franceso Petrarca“, in Klaus Krüger/Friederike Wille (Hgg.), Kunst der Dantezeit, Diskurse und Figurationen, (im Druck). 15 Vgl. Ulrich Pfisterer (Hg.), Die Kunstliteratur der italienischen Renaissance. Eine Geschichte in Quellen, Stuttgart 2002, 74f., Text 10. 16 Philippi Villani de origine civitatis Florentie et de eiusdem famosis civibus, hg. v. Giuliano Tanturli, Padua 1997, 154 f.: ita poesis extit emulator, ut pingere quie illi fingere subtiliter considerantibus prependatur. […] Pinsit insuper speculorum suffragio semetipsum sibique contemporaneum Dantem in tabula altaris capelle Palatii Potestatis. Vgl. dazu Michael Baxandall, Giotto and the Orators, Humanist Observers of Painting and the Discovery of Pictorial Composition 1350–1450, Oxford 1971, 75f. 17 Franco Sacchetti, Novella LXIII: E così pensando fra sé medesimo, [Giotto] si recò innanzi il detto palvese e, disegnato quello gli parea, disse a un suo discepolo desse fine alla dipintura. La qual dipintura fu una cervelliera, una gorgiera, un paio di bracciali, un paio di guanti di ferro, un paio di corazze, un paio di cosciali e gamberuoli, una spada, un coltello e una lancia. Franco Sacchetti, Il Trecentonovelle, hg. v. Valerio Marcucci, Rom 1996, 182. Dazu Norman Land, „Giotto’s eloquence“, in Source 23 (2004), 15–19. Vasari hat die Anekdote vollständig übernommen, Giorgio Vasari, Le Vite, Bd. 2: Testo, 120f.

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nachahmlicher Feinheit, dass Protogenes selbst seine Niederlage zugeben musste. 18 Schon der anspruchsvolle Florentiner Goldschmied und Bildhauer Lorenzo Ghiberti hielt diesen Wettstreit schlichter, gerader Linien um 1455 für eine ‚schwache Vorführung‘ 19 , und es war schließlich Antonio Averlino, genannt Filarete, der gegen 1465 in seinem Libro dell’Architettura den einfachen Strich des Apelles zu einem ‚perfekt gezogenem Kreis ohne Zirkel‘ bog. Eine solche Leistung schien dem Praktiker allerdings nur ein Geschenk der Gnade oder des Zufalls sein zu können, denn Filarete stand der difficoltà einer durch reine körperliche Geschicklichkeit erreichten geometrischen Vollendung mit großer Skepsis gegenüber. 20 Giorgio Vasari, ein aufmerksamer Leser Filaretes, verband dessen Ansatzpunkt verkörperter Geometrie mit den raschen Linien der antiken Vorlage, zugleich aber folgt seine Anekdote in vielerlei Hinsicht den vorbildlichen Novellen Boccaccios und Sacchettis. Allerdings zitiert Vasari noch eine weitere mögliche Quelle für seine Neuerfindung, nämlich die ‚Verse des göttlichen Polizian‘ 21 , die dieser für das Giotto-Kenotaph (Abb. 1) im Florentiner Dom komponiert hatte. Diese Grabschrift wird als evozierte Stimme des Künstlers zum Schlusspunkt der Giotto-Biographie Vasaris und verleiht auch dem Sprechen der Hand (Abb. 6) einen spezifischen Klangraum.

3. Giottos Kenotaph: Hand, Werk und Namensklang Das Giotto-Kenotaph, wohl von Lorenzo de’ Medici 1489 bei dem Bildhauer Benedetto da Maiano in Auftrag gegeben, steht in einem den zitierten Novellen ähnlichen Spannungsverhältnis von kunstvoller Ruhmrede und Sprachverzicht (Abb. 1, 6). Nach einer offenbar raschen Vollendung 1490 ehemals in einem der ersten nördlichen Seitenschiffjoche auf18 Plinius d.Ä., Naturalis historia, 35, 81–83. Dazu Hans van de Waal, „The Linea summae tenuitatis

of Apelles. Pliny’s Phrase and its Interpreters“, in Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 12 (1967), 5–32; Sabine Mainberger, „‚Der Künstler selbst war abwesend‘. Zu Plinius’ Erzählung vom Paragone der Linien“, in Hannah Baader [u.a.] (Hgg.), Im Agon der Künste. Paragonales Denken, ästhetische Praxis und die Diversität der Sinne, München 2007, 19–31. Zu Vasaris Bezug auf Plinius vgl. Norman E. Land, „Apelles and the origin of Giotto’s O“, Source 25 (2005), 6–9; Paul Barolsky, Why Mona Lisa smiles, 11. 19 Lorenzo Ghiberti, I commentarii, hg. v. Lorenzo Bartoli (Biblioteca della scienza italiana, 17), Florenz 1998, 73: mi pare certamente una debile dimostratione; vgl. für die deutsche Übersetzung Denkwürdigkeiten des florentinischen Bildhauers Lorenzo Ghiberti, zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt von Julius Schlosser, Berlin 1920, 48. 20 Antonio Averlino detto il Filarete, Trattato di Architettura, hg. v. Anna Maria Finoli/Liliana Grassi, 2 Bde., Mailand 1972, Bd. 2, 643: O vero, come che dice quegli ancora, l’uno girò uno tondo perfetto sanza sesto, e l’altro al primo posto punto nel mezzo misse, el sesto l’avesse proprio fatto. Se così fu, grazie date dalla natura, e non per pratica, anzi per accidente fare si potrebbe, se già a ventura o caso non venisse fatto. Auf Filarete als Quelle für Vasari hat bereits kurz Paul Barolsky, Why Mona Lisa smiles, 11 f., verwiesen; vgl. Wolf-Dietrich Löhr, „Von Gottes ‚I‘ zu Giottos ‚O‘ “ zu Praxis und Körpertechnik in Vasaris Anekdote. 21 Giorgio Vasari, Le Vite, Bd. 2: Testo, 122.

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Wolf-Dietrich Löhr

Abb. 1: Benedetto da Maiano, Giotto-Kenotaph, 1489/90, Florenz, Dom

gestellt und mit der Inschrift des im Dienst der Medici stehenden Philologen und Dichters Angelo Poliziano versehen, reiht es sich in die älteren Pläne ein, die Hauptkirche der Stadt zu einer Art Pantheon ihrer berühmtesten Söhne umzugestalten. 22 Explizit folgt es dem Typus, den das 1447 beschlossene, von Andrea Cavalcanti, gen. Buggiano, ausgeführte 22 Zum Giotto-Kenotaph im Kontext dieser Pläne vgl. Gesa Schütz-Rautenberg, Künstlergrabmäler des

15. und 16. Jahrhunderts in Italien. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Künstler, Köln 1978, 54–58; 343 f.; Elisabeth Oy-Marra, Florentiner Ehrengrabmäler der Frührenaissance, Berlin 1994, 111–116; Marco Collareta, „Le ‚luci della fiorentina gloria‘ “, in Artista 1991, 136–143; Doris Carl, „Il ritratto commemorativo di Giotto di Benedetto da Maiano nel Duomo di Firenze“, in Margaret Haines (Hg.), Santa Maria del Fiore. The Cathedral and ist Sculture. Acts of the international Symposium for the VII. Centenary of the Cathedral of Florence, Villa I Tatti, 5.–6. Juni 1997, Fiesole 2001, 129–147, mit den Dokumenten, sowie Doris Carl, Benedetto da Maiano. Ein Florentiner Bildhauer an der Schwelle zur Hochrenaissance, 2 Bde., Regensburg 2006, Textband, 168–173; Patricia A. Emison, Creating the „Divine“ Artist. From Dante to Michelangelo, Leiden 2004, 288–295; Alexander Nagel, „Authorship and image-making in the monument to Giotto in Florence Cathedral“, in res 53–54 (2008), 143–151. Abbildungsnachweise: Doris Carl, „Il ritratto commemorativo“, Abb. 2, Abb. 13.

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Abb. 2: Andrea Cavalcanti, gen. Buggiano, Grabmal des Filippo Brunelleschi, 1447, Florenz, Dom.

Bildepitaph für Filippo Brunelleschi vorgab, das mit den versus et litteras des Staatskanzlers Carlo Marsuppini die „dädalische Kunst“ und den Verstand des Architekten feiert (Abb. 2). 23 Zugleich war es dem allegorischen Programmbild Dantes benachbart, das 1465 zu dessen 400. Geburtstag als eine Art ‚Ersatz-Grabmal‘ für den im Exil verstorbenen und beerdigten Dichter von Domenico di Michelino vielleicht nach Entwürfen von Alesso Baldovinetti erneuert worden war (Abb. 3). Die dortige Inschrift betont, den Topoi der Dichtung folgend und diese auf das Bildnis übertragend, dass den geistigen Jenseitswanderer ‚die Tugend, sein Gedicht und das Bildnis lebendig macht.‘ 24 Das Grab eines 23 Gesa Schütz-Rautenberg, Künstlergrabmäler, 12–30 und 38–42; die Inschrift transkribiert und über-

setzt ebd. 12, die Dokumente, 341–343. Vgl. zu den Begriffen Elisabeth Oy-Marra, Florentiner Ehrengrabmäler, 107–109, sowie zum Daedalus-Topos, Albert Dietl, Die Sprache der Signatur. Die mittelalterlichen Künstlerinschriften Italiens, 4 Bde., Berlin/München 2009, Bd. 1, 190f., mit weiterer Literatur. Abbildungsnachweis: Doris Carl, „Il ritratto commemorativo“, Abb. 1. 24 Dazu grundlegend und mit den wichtigsten Quellen: Rudolph Altrocchi, „Michelino’s Dante“, in Speculum 6 (1931), 15–59, zur Inschrift ebd. 51–59; vgl. Elisabeth Oy-Marra, Florentiner Ehrengrabmäler, 14f.; neue Dokumente und Deutungsansätze bei Elisa Brilli, „Image et autorité au bas Moyen âge. L’Allegoria della Commedia par Domenico di Michelino (1465)“, in Alain Dierkens/

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Abb. 3: Domenico di Michelino, Dante-Allegorie, 1465, Florenz, Dom.

Ingenieur-Künstlers und das Monument eines Dichter-Philosophen sind also die Bezugsund Abgrenzungspunkte für das Kenotaph Giottos. Benedetto da Maianos Tondo verbindet die formale Vorgabe des Rundbildes mit einer ungleich eindrucksvolleren Darstellung des Künstlers, der an einer Mosaikikone mit dem Gesicht Christi arbeitet. Bereits für Brunelleschis Epitaph war geplant gewesen – aber nicht ausgeführt worden –, dass das Bildnis al naturale von ‚einigen der von ihm gemachten und dann in Vollendung ausgeführten Modelle der besagten Kuppel‘ begleitet werde. 25 Für Giotto wird die Zusammenschau von Künstler und Werk nun gleichermaßen prägnant wie überraschend umgesetzt. Sie könnte formal angeregt sein von dem damals noch Giotto zugeschriebenen Relief der Malerei am Florentiner Campanile (Abb. 4) oder von Benozzo Gil Bartholeyns/Thomas Golsenne (Hgg.), La performance des images, Brüssel 2009, 111–122. Abbildungsnachweis: Rudolph Altrocchi, „Michelino’s Dante“, Tafel 1. 25 Et in pariete […] una lapis seu pluries marmoree, in quo sit schulta eius figura al naturale, cum aliquis de designis per eum factis et seu missis in perfectionem Cupole predicte. Et ultra hoc, ponantur aliqua carmina denotantia industriam et virtutem eius circha architecturam, ad eius perpetuam famam et honorem […]“; hier nach Gesa Schütz-Rautenberg, Künstlergrabmäler, 342.

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Abb. 4: Andrea Pisano, Die Malerei, Relief des DomCampanile, um 1340, Florenz, Museo dell’Opera del Duomo.

Gozzolis Fresko in San Francesco, Montefalco (Abb. 5), auf dem um 1450 Giotto als eine fachübergreifende dritte Krone der Florentiner Kulturgeschichte den Dichtern Dante und Petrarca zur Seite gestellt wird. 26 Von keinem dieser Vorbilder lässt sich allerdings die 26 Elisabeth Oy-Marra, Florentiner Ehrengrabmäler, 114, spricht sogar von einem „Zitat des Cam-

panilereliefs“ in der Bedeutung einer Darstellung des „Erfinders der Malerei“ im Sinne des Wiederbelebungstopos der Inschrift – m.E., sind die Unterschiede allerdings ebenfalls auffällig. Das Campanilerelief erwähnen auch Gesa Schütz-Rautenberg, Künstlergrabmäler, 57, sowie Doris Carl, „Il ritratto commemorativo“, 143, als mögliches Vorbild. Zu Montefalco vgl. Diane Cole Ahl, Benozzo Gozzoli, New Haven [u.a.] 1993, 230f., Kat. 37; Mila Horky, Der Künstler ist im Bild. Selbstdarstellungen in der italienischen Malerei des 14. und 15. Jahrhunderts, Berlin 2003, 125; für die Annahme einer „einheitlichen Bildnisüberlieferung“ für Giotto im 15. Jahrhundert (ebd. 19) sind m.E. die Übereinstimmungen zu gering. Marco Collareta, „Le ‚luci della fiorentina gloria‘ “, 139–141, hat auf den

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Abb. 5: Benozzo Gozzoli, Petrarca, Dante und Giotto, um 1452, Chor, Montefalco, San Francesco

Physiognomie des Porträts ableiten: Benedetto da Maiano wählt mit den kurzen, lockigen Haaren und den weichen Gesichtszügen einem antiken Typus, den er – offenbar durch genaueres Studium – mit einem hohen Grad an Lebensnähe auflädt. 27 Dazu kommt, dass das feierliche Rundbild mit seinem dunklen Hintergrund kaum die im Profil eingesetzte Halbfigur des Künstlers zu fassen scheint, die ungewohnt bewegt nach vorne drängt, ja die gerahmte Fläche des Tondos eigentlich gänzlich missachtet und sich so den Raum Typus des Hl. Lukas und insbesondere auf Neri di Biccis Verkündigungstafel in Pesica als mögliche Vorlage hingewiesen. Abbildungsnachweise: Abb. 4: Wolf-Dietrich Löhr, „Handwerk und Denkwerk des Malers. Kontexte für Cenninis Theorie der Praxis“, in Ders./Stefan Weppelmann (Hgg.), Fantasie und Handwerk. Cennino Cennini und die Tradition der toskanischen Malerei von Giotto bis Lorenzo Monaco. Ausstellungskatalog Gemäldegalerie Berlin, 10.1.–13.4. 2008, München 2008, 152–176, Abb. 2; Abb. 5: Patricia A. Emison, Creating the „Divine“ Artist, Abb. 14. 27 Die antike Anmutung des Bildniskopfes hat Doris Carl, „Il ritratto commemorativo“, 143, betont. Dagegen schlug Elisabeth Oy-Marra, Florentiner Ehrengrabmäler, 112, vor, Benedetto habe die Bildniszüge von der berühmten Tafel mit den fünf Begründern der Florentiner Kunst im Louvre übernommen, die Vasari zum Vorbild für sein Giotto-Bildnis diente. Marco Collareta, „Le ‚luci della fiorentina gloria‘ “, 139–41, hat auf die in Benedettos Werkstatt nach seinem Tod belegten due teste di Giotto hingewiesen, die für eine ausführliche Vorbereitung der Gesichtszüge sprechen.

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und die Lebendigkeit einer vollplastischen Figur verschafft (Abb. 1). 28 Komposition und Ikonographie betonen so den momenthaften Akt der Arbeit (Abb. 6), der für das decorum von Grabstätte und Denkmal durchaus eine Herausforderung darstellt. Der Vertrag für Brunelleschis Monument hatte, nach der Erwähnung der Modelle, auch die Versinschrift (carmina) erwähnt, die ‚seinen Fleiß und seine Tugend in Bezug auf die Architektur zu seinem ewigen Ruhm und Ehre bezeichnen‘. 29 Im Falle Giottos liegen uns keine solchen Dokumente vor, aber es scheint, dass die Inschrift in enger Auseinandersetzung mit Benedettos Bildnis entstanden ist. Sie birgt einige Überraschungen (Abb. 1): ille ego sum per quem pictura extincta revixit cui quam recta manus tam fuit et facilis naturae deerat nostrae quod defuit arti plus licuit nulli pingere nec melius miraris turrem egregiam sacro aere sonantem [?] haec quoque de modulo crevit ad astra meo denique sum iottus[,] quid opus fuit illa referre [?] hoc nomen longi carminis instar erat. 30 Eine deutsche Übersetzung könnte lauten: ‚Ich bin jener durch den die ausgelöschte Malerei wieder lebendig wurde, dessen Hand sowohl trefflich/maßvoll als auch geschickt ist. Die Natur [selbst] hatte nicht, was unserer Kunst fehlte, mehr zu malen, war niemandem gestattet, noch besser. Du bewunderst den erhabenen Turm, der von heiligem Erz erklingt, auch dieser wuchs von meinem Modul/meinem Entwurf zu den Sternen, schließlich bin ich Giotto. Was brauche ich all dies zu berichten? Dieser Name steht für ein langes Gedicht ein.‘ 31

28 Auf die Spannung zwischen Rahmen und plastischer Figur hat vor allem Doris Carl, Benedetto da

Maiano, 170, hingewiesen.

29 Vgl. Anm. 25. 30 Dazu die Stiftungszeile: ob an mcccvi cives pos[uerunt] b[ene] m[erito] mcccclxxx, hier nach

Doris Carl, „Il ritratto commemorativo“, 144, Anm. 150; vgl. Angelo Poliziano, Prose volgari inedite e poesie latine e greche edite e inedite, hg. v. Isidoro del Lungo, Florenz 1867, 156 f., Nr. LXXXVI. 31 Vgl. die Übersetzung Henry Thodes, Giotto, Bielefeld/Leipzig 1899, 149: ‚Sieh! ich bin’s, der die Malerei vom Tode erweckte, / Dem so sicher wie leicht stets gehorchte die Hand. / Nichts gibt’s in der Natur, was nicht meine Kunst dir zeigte, / Mehr zu malen war nie, besser nicht andren vergönnt. / Schaust du den ragenden Turm, von heiligem Erze erklingend? / Meinem Modell entwuchs auf zu den Sternen auch er. / Kurz: Giotto bin ich, was braucht’ ich all dies zu melden: Mehr als ein langes Gedicht sagt dieser Name dir ja.‘ Eine freie englische Übersetzung lieferte Julia Cartwright, The Painters of Florence, London 1901, 45f.; eine sorgfältige Übertragung gibt Alexander Nagel, „Authorship and image-making“, 143: ‚I am he through whom painting, dead, returned to life / and whose hand was as sure as it was adept. / What my art lacked was lacking in nature herself / to no one was it given to paint better or more. / Do you admire the great belltower resounding with sacred bronze? / This too on the basis of my model has grown to the stars. / After all, I am Giotto. What need was there to relate all these things? / This name has stood as equal to any long poem.‘

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Wie ähnlich in anderen Fällen belegt, hat Polizian auch für Giotto eine kleine Serie von Epigrammen entworfen, von denen schon im 18. Jahrhundert Giovanni Bottari in seinen Anmerkungen zu Vasari die wichtigsten versammelt hat. 32 Die Anzahl der vorgeschlagenen Varianten ist mit einem halben Dutzend allerdings außergewöhnlich hoch und im Werk Polizians ohne Vergleich. Während die übrigen Vorschläge in eher gewöhnlicher Topik, wenn auch in eleganter Form, die bereits üblichen Listenplätze der Identifikationsfiguren bedienen und Giotto zwischen Daedalus, Lysipp, Phidias und Apelles seinen Rang einnehmen lassen, erzeugt das ausgewählte Epigramm eine unerwartete Verdichtung. Es zeigt darin das „raffiniert gelehrte Spiel“, das Tobias Leuker an Polizians Erfindungen herausgearbeitet hat, und das hier Autorschaftskonzepte unterschiedlicher Herkunft effektvoll verknüpft. 33 Mit seinem selbstbewussten Tonfall, den provokanten Formulierungen und der Knappheit des abschließenden Diktums schließt die Inschrift an das anekdotische Bild des schlagfertigen Lakonikers an, das Boccaccio und Sacchetti verbreitet hatten. Zugleich aber werden auf der Ebene der konkreten Referenzen literarische Selbstentwürfe höchster Autorität anzitiert: Der nachdrücklich formulierte Beginn des Ille ego sum könnte, wie vorgeschlagen wurde, auf das iste ego sum bezogen sein, mit dem Narziss sein Gegenüber in verzweifelter Erkenntnis als Spiegelbild begrüßt. 34 Deutlicher noch sind Anklänge an die sphragis der Tristia Ovids spürbar, jener Autobiographie, die ähnlich, aber stärker retrospektiv, mit den Versen Ille ego qui fuerim – ‚Wer ich gewesen bin […]‘ anhebt. 35 Die direkte Referenz des Tonfalls, mit dem Giotto uns anspricht, dürfte aber jenen berühmten Versen auktorialer Präsentation gelten, auf die Alexander Nagel bereits

32 Die Varianten sind ediert in Angelo Poliziano, Prose volgari inedite e poesie latine, 156–159. Dazu

Alessandro Perosa, „Studi sulla tradizione delle poesie latine del Poliziano“, in Studi in onore di Ugo Enrico Paoli, Florenz 1956, 539–62, hier 541 f., Anm. 3. Er erwähnt als vergleichbares Beispiel die drei Redaktionen für den Epitaph des Orsino Lanfredini. Vgl. auch Giorgio Vasari, Le Vite, Bd. 2: Commento, 410 und besonders die knappe, aber erhellende Analyse der sechs Gedichte bei Marco Collareta, „Le ‚luci della fiorentina gloria‘ “, 141. 33 Tobias Leuker, Angelo Poliziano. Dichter, Redner, Stratege, Stuttgart/Leipzig 1997, 294; eindrucksvolle Beispiele für seine „Kabinettstückchen“ ebd. 186f. Vgl. zu den dichten Verflechtungen von Referenzen, besonders auf Vergil, in Polizians Dichtung auch Attilio Bettinzoli, Daedaleum iter. Studi sulla poesia e poetica di Angelo Poliziano, Florenz 1995, besonders die Kap. 1 und 4. 34 So Gerhard Wolf, Schleier und Spiegel. Traditionen des Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance, München 2002, IX, 304, der die Inschrift als Anspielung auf Leon Battista Albertis Begründung der Malerei durch die Narziss-Mythe liest, die hier mit der „christlichen Ursprungsmythe“ verbunden sei. 35 Ovid, Tristia, 4, 10, 1. Polizian dürfte mit einer anderen Version, die Quis fuerit Joctus picturae gloria cunctis / ostendit beginnt, deutlicher auf Ovid anspielen: Angelo Poliziano, Prose volgari inedite e poesie latine, 158 (Nr. XC, V 1f). Vgl. zur sphragis-Tradition Walther Kranz, „Sphragis. Ichform und Namensiegel als Eingangs- und Schlußmotiv antiker Dichtung“, in Ders., Studien zur antiken Literatur und ihrem Fortwirken. Kleine Schriften, hg. v. Ernst Vogt, Heidelberg 1967, 27–78. Alexander Nagel, „Authorship and image-making“, 143f., verweist neben der Tristia auf weitere Beispiele, besonders Bildepigramme, etwa bei Martial.

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hingewiesen hat: Die apokryphe, bei Aelius Donatus überlieferte und noch lange der Aeneis vorangesetzte, biographische Selbstvorstellung Vergils: ‚Jener bin ich, der einst auf zartem Rohr das Lied anstimmte, und als er den Wald verlassen, die nahen Felder bezwang, dass sie dem schon begierigen Bauern dienten – doch nun von den Schrecknissen des Mars.‘ 36

Ähnlich hatte ein weiterer Entwurf Polizians durch die an den Beginn gesetzte Rede vom ‚gefeiertsten Maler, den Florenz geboren hat,‘ auf die in der Sepulkralkultur vielfach variierte Grabschrift Vergils Mantua quem genuit […] verwiesen. 37 In der ausgeführten Version aber ist es nicht die gattungsmäßig näherliegende Tradition der Grabschrift, sondern die poetische Form der sphragis, mit Ich-Rede und Namensnennung, wie sie nicht nur die apokryphen Prolog-Verse der Aeneis, sondern auch die berühmte Selbstnennung der Georgica Vergils geprägt hatten. 38 Dieses Verfahren der Literatur wird durch die Literatur selbst aus dem Buchkontext ins Monumentale und aus der Dichtkunst auf die Malerei übertragen. Giotto tritt also der Nachwelt mit den Worten eines (oder mehrerer) Poeten entgegen, und dies noch gesteigert durch die Füllung der Ellipse mit dem Verb als Ille ego sum: Vor allem im Zusammenspiel mit seiner im Tondo sichtbar werdenden Gestalt ist der Künstler mit diesem ‚Ich bin‘ ganz einer anschaulichen und sprechenden Gegenwart hingegeben. 39 Die so forcierte Lebendigkeit seiner Rede kennzeichnet die Tragweite und das Fortleben seiner Werke, durch die er selbst ja zum Neuentzünder und Verlebendiger einer ganzen erloschenen Kunst werden konnte. 40 Denn es ist ja nichts Geringeres als die als ‚Wiederaufleben‘ 36 Ille ego, qui quondam gracili modulatus avena / carmen, et egressus silvis vicina coegi / ut quamvis

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avido parerent arva colono, / gratum opus agricolis, at nunc horrentia Martis. Vgl. Jan M. Ziolkowski/ Michael Putnam (Hgg.), The Virgilian Traditon, 22 f., mit Literatur; zur Rezeption dieser Verse im Mittelalter vgl. außerdem Pierre Courcelle, Lecteurs païens et lecteurs chrétiens de l’Énéide, Bd. 1: Les témoignages littéraires, Paris 1984, 13 f. Dass Polizian auf diese Verse auch in seiner auf 1482 datierten Vergil-Hommage Manto (V. 158 f.) referiert, hat Attilio Bettinzoli, Daedaleum iter, 240, vorgeschlagen. Eine ausführliche Argumentation für diese Referenz im Epitaph und die Kombination von Bildepigramm und sphragis als „quasi literary notion of authorship“ liefert Alexander Nagel, „Authorship and image-making“, 144f. Angelo Poliziano, Prose volgari inedite e poesie latine, 157, Nr. LXXXVII, V. 1: Pictorem genuit celebrem Florentia Joctum, quo melior toto nullus in orbe fuit. Zu Vergils Grabschrift vgl. Jan M. Ziolkowski/Michael Putnam (Hgg.), The Virgilian Tradition, 404 mit Literatur; vgl. Giorgio Vasari, Le Vite, Bd. 2: Commento, 410. Vergil, Georgica, 4, 559, 563f: Haec super arvorum cultu pecorumque canebam […] illo me tempore dulcis alebat / Parthenope studiis florentem ignobilis oti. Vergil schließt den Text mit einem Werkzitat, nämlich dem ersten Vers der Eklogen. Vgl. Jan M. Ziolkowski/Michael Putnam (Hgg.), The Virgilian Traditon, 2–5; P. Vergilius Maro, Georgica, hg., komm. u. übers. von Manfred Erren, Bd. 2: Kommentar, Heidelberg 2003, 1002 f. Dass es überhaupt das Bildnis sei, das spricht, legen Marco Collareta, „Le ‚luci della fiorentina gloria‘ “, 139f., und Alexander Nagel, „Authorship and image-making“, 143 f., nahe. Bereits Gerhard Wolf, Schleier und Spiegel, 304, hat darauf hingewiesen, dass die von der Tradition der Grabschriften abweichende Präsensform auf die Lebendigkeit des Künstlers in seinem Werk anspiele.

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bezeichnete Restitution der Malkunst überhaupt, die Giotto sich hier gleich in der ersten Zeile seines Epitaphs selbst zuschreibt. Polizian konnte diese Auffassung bereits bei Giovanni Boccaccio vorformuliert finden, der in seinem Giotto-Lob, das die zitierte Novelle Decameron VI, 5, einleitet, von dessen ‚Wieder ans Licht Führen‘ der Kunst gesprochen hatte. 41 Nun wechselt allerdings das Begriffsfeld von Licht und Dunkel zu Leben und Tod, womit nicht allein die personifizierte Rolle der Malerei, sondern auch der epochale Akt Giottos an Konkretheit gewinnt und sich die Belebung durch den Maler der göttlichen Lebensgabe und Auferstehungsgnade annähert. 42 Während die ersten Worte der Inschrift auf Dichtung, und vielleicht sogar auf den Dichterfürsten Vergil und sein episches Werk referieren, wird gleich im folgenden Vers die Differenz zu dieser Vorlage unterstrichen: Im Werk Vergils steht der Rohrhalm, avena, metonymisch für die Flöte des Hirten und dieses Instrument verweist im metaphorischen Sinn auf die Rohrfeder des Poeten. Die Kunst des Malers aber wird explizit durch sein natürliches, körperliches Instrument charakterisiert: die Hand nämlich, die ja auch das Bildnis besonders heraushebt. Ihre zwei Attribute sind bemerkenswert: Das Prädikat facilis hatte schon bei Properz die geschwinde Griffhand der Cynthia beim Leierspiel als Ausdruck ihrer Virtuosität bezeichnet. 43 Damit klingt die technische Fertigkeit als eine Aktivierung und Bezähmung der Physis an, die zur bestaunenswerten Leichtigkeit der Perfektion führt. Die recta manus allerdings zielt auf ein etwas anderes Begriffsfeld, das über üblichere Topoi wie docta manus oder dexteritas hinauszugehen scheint: Die rectitudo steht in enger Verbindung zum richtigen Maß und zum gerechten Urteil und nimmt so moralische Konnotationen auf: mit der recta manus ist eine fehlerfrei treffende Hand gemeint, der ihre rechtmäßige Urteilskraft unfehlbar eingeschrieben ist. 44 Diese 41 Bei Boccaccio, Decamerone, IV, 5, 5, heißt es: avendo egli quella arte ritornata in luce, che molti

secoli sotto gli error d’alcuni […] è stata sepulta; hier nach Tutte le opere di Giovanni Boccaccio, 550f., auf diese Passage hat bereits Elisabeth Oy-Marra, Florentiner Ehrengrabmäler, 107–109, hingewiesen. Noch näher steht der Formulierung Polizians Filippo Villani, für den Giotto zu den Malern gehörte, qui artem exanguem et pene extinctam suscitaverunt. Philippi Villani de origine civitatis Florentie et de eiusdem famosis civibus, 153; vgl. Michael Baxandall, Giotto and the Orators, 51ff., 73 f.; Dieter Blume, „Ingegno und inganno“. 42 Wie Ulrich Pfisterer, „Cennino Cennini und die Idee des Kunstliebhabers“, in Hubert Locher/Peter J. Schneemann (Hgg.), Grammatik der Kunstgeschichte: Sprachproblem und Regelwerk im „BildDiskurs“, Zürich [u.a.] 2008, 95–117, hier 102 f., nachweist, sind Personifikationen der Malerei, abgesehen von der Ausnahme des Libro dell’arte Cennino Cenninis (um 1400), erst ab dem 16. Jahrhundert häufiger anzutreffen. 43 Properz, 2, 1, 9: facilis ut premat arte manus über Cynthias Leierspiel. Vgl. Luigi Grassi, „Facilità“, in Ders./Mario Pepe (Hgg.), Dizionario della critica d’arte, 2 Bde., Turin 1978, Bd. 1, 185, zur Begriffsgeschichte ab dem 16. Jahrhundert. 44 Als eine Varation auf docta manus/dexteritas hat Doris Carl, Benedetto da Maiano, 171, die Wortwahl bezeichnet, vgl. Doris Carl, „Il ritratto commemorativo“, 143 f. Paul Barolsky, „The Artist’s Hand“, in Andrew Ladis (Hg.), The Craft of Art. Originality and Industry in the Italian Renaissance and Baroque Workshop, Athens, Ga. 1995, 5–24, hier 12, deutet ebenfalls eine Verbindung zu Giottos ‚O‘ an und spricht von der „deft hand“ bzw. der „rectitude/dexterity“. Mir scheint aber in der rectitudo der moralische Teil stärker betont zu sein als in dexteritas; für die Verbindungen zum iudicium vgl. Karl

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Hand berührt nun in der historischen Fiktion des Rundbildes die Bildnisikone. Ihre vom giudizio des Künstlers gesteuerte Auswahl der tesserae hat bereits das Gottesgesicht Christi zu blickender Lebendigkeit erweckt und scheint nun dabei zu sein, dem Kreuz des Nimbus, das Christi Legitimation als letztgültiger Richter unterstreicht, den Schlussstein einzusetzen (Abb. 6). An das Schöpfungswerk dieses Gottes scheint die Inschrift mit dem nächsten Vers nicht ohne provokante Untertöne anzuknüpfen. Giotto gibt sich nämlich als Rivale einer Natur zu erkennen, die er als potentiell defizitär beschreibt – was etwa an seinem Werk als Mangel empfunden würde, könne nur der Natur selbst, die er also unmittelbar nachahmt, ermangelt haben. 45 Hier geht Polizian mit wenigen Wortfügungen weit über die Tradition hinaus, indem er nämlich dem Künstler nicht allein die vollendete Mimesis des Sichtbaren zuschreibt, wie es Giovanni Boccaccio und Filippo Villani getan hatten, sondern auch ein Bewusstsein über die Nachordnung der Natur gegenüber der ursprünglichen Schöpfungsidee, eine Erkenntnis der sichtbaren Welt als nachgeordnete natura naturata. 46 Ausgehend von diesem Wissen spricht sich Giotto sodann eine persönliche Lizenz (licuit) zu, die wohl an die klassische Freiheit des Dichters gemahnt, wie sie Horaz formuliert und Florentiner Künstler des 15. Jahrhundert bereits als potestas audendi für sich entdeckt hatten. 47 Hier allerdings betrifft das Zugeständnis an den Maler gleich einen doppelten, sowohl quantitativen als auch qualitativen Superlativ der Autorschaft auf seinem Gebiet: Mehr und besser als er, Giotto, könne keiner malen. 48 Dabei dürfte mit dem ‚mehr‘ kaum die Stückmenge gemeint sein, sondern die besondere Vielfalt

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Ernst Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Bd. 2, Nachdruck Darmstadt 1998, 2238 f. Catherine King, „The Trecento. New Ideas, New Evidence“, in Diana Norman (Hg.), Siena, Florence and Padua. Art, Society and Religion 1280–1400, Bd. 1, New Haven [u.a.] 1995, 217–233; hier 222, spricht (ausgehend von einer freien englischen Übersetzung) knapp von einem Konzept des Künstlers „as a little god“, was mir zu weit zu gehen scheint. Auf einen „gottgleichen Rang“ des Künstlers, den auch Gerhard Wolf, Schleier und Spiegel, 304 vor allem durch das Verhältnis Giottos zum Christusbild angedeutet sah, wird zwar gerade hier und an anderen Stellen angespielt, allerdings ist dieser stets, etwa auch durch die Inszenierung religiöser Ergriffenheit im Angesicht des menschlichen Bildes Christi (s.u.) gemildert und so dem christlichen Kunstverständnis eingeordnet. Bei Giovanni Boccaccio (Decameron, VI, 5, 5) heißt es, Giotto ebbe un ingegno di tanta eccellenzia, che niuna cosa dà la natura, madre di tutte le cose e operatrice, col continuo girar de’ cieli che egli con lo stile e con la penna o col pennello non dipignesse sì simile a quella, che non simile, anzi più tosto dessa parese, in tanto che molte volte nelle cose da lui fatte si truova che il visivo senso degli uomini vi prese errore, quello credendo esser vero che era dipinto. Nach: Tutte le opere di Giovanni Boccaccio, 550. Vgl. Michael Baxandall, Giotto and the Orators, 51ff., 75f. (zu Villani); Dieter Blume, „Ingegno und inganno“. Zu Horaz und seiner Rezeption, besonders bei Benozzo Gozzoli, vgl. Ulrich Pfisterer, „Künstlerische potestas audendi und licentia im Quattrocento. Benozzo Gozzoli, Andrea Mantegna, Bertoldo di Giovanni“, in Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 31 (1996), 107–148. In anderen Entwürfen Polizians heißt es dagegen weniger kunstvoll: nulli qua fuit arte minor; bzw.: quo melior toto nullus in orbe fuit; Angelo Poliziano, Prose volgari inedite e poesie latine, 158, Nr. XC, V. 2; 157, Nr. LXXXVII, V. 2.

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der Gegenstände, die ihm allein zu malen gestattet sei: Dies erinnert an die umfassenden Darstellungsleistungen, die man in der Dichtung besonders Homer und Vergil zugestanden hatte – bei letzteren verbunden mit der bereits erwähnten umfassenden Dreiheit der Gattungen. Das ultimative Überbieten lässt aber auch an Apelles denken, der, in der bekannten Formulierung aus der Naturgeschichte des Plinius, sogar das darzustellen verstand, was eigentlich ‚nicht gemalt werden konnte‘. 49 Vor diesem Hintergrund etwa dürfte Cristoforo Landinos Aussage im Dantekommentar von 1481 zu verstehen sein, Giotto sei als Künstler perfetto e assoluto gewesen. 50 Polizian selbst hat in einer seiner Variationen auf das Epigramm hervorgehoben, das Giottos Akt der Wiederweckung jene ‚erloschene Ehre der Malerei‘ wiederhergestellt habe, wie sie dem Apelles gebührt habe, oder sogar, dass er die ‚apelleischen Künste‘ besiegt habe. 51 In einem solchen Verständnis wäre zwischen den allen anderen Malern verweigerten Möglichkeiten des plus und des melius, die aneinander anklingend Anfang und Ende der vierten Zeile markieren, eine überzeitliche Universalität der inventio und der Ausführung eingeschlossen. Dieser Absolutheitsanspruch ließe sich, in einer letzten, durch Text und Bild vollzogenen Bedeutungssteigerung, auch auf das Bild des Künstlers im Tondo beziehen (Abb. 1, 6). Es zeigt Giotto beim Akt der Bildgestaltung und zugleich in einer Haltung der angespannten Betrachtung. Die Gravität seiner Erscheinung wird nicht allein durch den von leichter Korpulenz charakterisierten, römischen Gesichtstyp markiert, sondern besonders durch seine in Details wie dem Kragen historisierende, im Faltenwurf des Mantels zugleich aber antikisch-idealisierende Gewandung, die seiner körperlichen Erscheinung Gewicht und Format verleiht. Dabei hält die linke Hand das Gewand so an den Körper gepresst, dass die kleine Büchse, aus der Giotto die Mosaik-tessera entnommen hat, nahe an ein anderes Behältnis, an das Herz des Künstlers, geführt wird (Abb. 6). Von der mit dieser Geste sich andeutenden, gemessenen, gleichwohl emotionalen Spannung, ist auch der Rest des Körpers ergriffen: Giotto hat den Kopf leicht gesenkt – ein Ausdruck der Zuneigung zum Objekt seiner Arbeit, der auch die auffällige und unvorteilhafte Faltung des Halses in Kauf nimmt. Dazu sind die Augenbrauen so angehoben, dass, unterstützt durch deren Nachklang in der schönlinigen Führung des Augenlides, dem Blick erregte Fokussierung und Konzentration verliehen wird, während zugleich die Mundwinkel zu einer Andeutung von Lächeln zurückgenommen sind. Zusammen mit der monumentalen Plastizität der Gewandung, die wie in einem S-Schwung über die weit herausragende Schulter hinweg bis zur Hand und zum Täfelchen das Tondo durchläuft, erfahren Künstler und Werk so eine momenthafte emotionale Bindung. Mehr noch als im Relief am Campanile, das die paradigmatische 49 Plinius, Naturalis historia, 35, 96: pinxit et quae pingi non possunt, tonitrua, fulgetra, fulguraque. 50 Cristoforo Landino, Scritti critici e teorici, Bd. 1, hg. v. Roberto Cardini, Rom 1974, 124: Costui fu

tanto perfetto e assoluto che molto dipoi si sono affaticati gl’altri che hanno voluto superarlo.

51 Angelo Poliziano, Prose volgari inedite e poesie latine, 158 (Nr. LXXXIX, V. 3 f.): Primus et extinc-

tum picturae Joctus honorem / Restituit tabulis, qualis Apellis erat. Ebd. 157 (nr. LXXXVIII, V. 3f.): Vicit apelleas artes et signa Lysippi / Mors illum […].

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Abb. 6: Benedetto da Maiano, Giotto-Kenotaph, 1489/90, Detail, Kopf und Hand Giottos Florenz, Dom.

Figur des Malers in körperlicher Bewegung weit nach vorne gebeugt zeigt (Abb. 4), sind hier Künstler und Werk in ein reflektiertes Affektverhältnis gesetzt, das nicht allein den Vorgang der künstlerischen Arbeit, sondern auch die Persönlichkeit Giottos mit den Konnotationen betrachtender Sensibilität auflädt. Mit einer dem Begriff der facilità näherstehenden Eleganz als in Andrea Pisanos drastisch zugespitztem Campanile-Relief (Abb. 4) oder in Benozzo Gozzolis realistischer Darstellung eines Zeichnungsvorgangs (Abb. 5) ist auch die Rolle der rechten Hand in Szene gesetzt (Abb. 6). In diesem Moment maßvoll-akkurater Arbeit ist der rechte Ärmel des Mantels durch das Heben des Armes herabgerutscht und lässt den Unterarm mit der einem Segensgestus ähnlich gestreckten Hand wie aus einer eigenen Rahmung hervortreten. Deutlich ist der Präzisionsgriff der Finger gezeigt, die den Mosaikstein vor dem Täfelchen in Schwebe halten. Dabei scheint es zugleich, als habe der Künstler in einer beinahe zärtlichen Geste seinem Werk die Hand aufgelegt. Das Bild aber, dessen Vollendung Giotto mit solch affektiver Sorgfalt vornimmt, ist nicht Gegenstand seiner Invention, sondern göttlicher Intervention geschuldet. Sein Blick gilt also einem durch seine Kunst

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entstehenden Nachbild eines doppelten Urbilds: Bewegt von seinem Objekt wiederholt er im Mosaik das Mandylion, das als ein kunstloses Bild die historischen Züge Christi dokumentiert. Sein manueller Akt der Erneuerung macht das Acheiropoeiton, das handlos entstandene Wunderbild, präsent und sichtbar für den christlichen Kult. 52 Es repräsentiert das unhintergehbare Vorbild des Menschen selbst, der ja nach Gottes Ebenbild geschaffen ist, aber auch das unüberbietbare Urbild und die höchste Aufgabe der christlichen Kunst überhaupt – nichts wäre ‚mehr‘ oder ‚besser‘. Durch diese theologische Rahmung wird die in der Inschrift verhandelte Neubegründung der Malerei durch Giottos Universalität und seine vollendete, herausfordernde Nachahmung der Natur zum Bild eines christlichen Apelles verdichtet. Wie auch im Weiteren zu sehen, ergeben sich zwischen den Sprachbildern der Inschrift und der Büste beständige Ergänzungen und Reibungen: Denn in der Tat ist mit dem Mosaik eine Gattung gewählt, die gerade keine von rascher Geschicklichkeit und Unmittelbarkeit geprägte Verfertigung ermöglicht, wie sie etwa Gozzolis Giotto-Bild vor Augen stellt (Abb. 5). Die Wahl dieser Technik – die begrifflich der Malerei zugehörte – mag hier von einer Vielzahl von Gründen motiviert sein, wobei neben Lorenzo il Magnificos Bemühungen um die Wiederbelebung dieser besonders dauerhaften Gattung und deren imperialen Konnotationen wohl gerade ihr ehrwürdiges Alter und damit verbunden die besondere Authentizität zu nennen wäre, die einigen Mosaikikonen seit dem Mittelalter zukam. 53 Die durch sich selbst dargestellte Technik des Mosaiks unterstützt so in erster Linie den Charakter des christlichen Urbildes. 54 Zudem hatte Giotto mit der Navicella in Alt-St. Peter ein weithin sichtbares und vielkopiertes Mosaik geschaffen, das Leon Battista Alberti wiederum zum Urbild der nachantiken historia erhob. 55 52 Elisabeth Oy-Marra, Florentiner Ehrengrabmäler, 112, spricht den Bildtypus, Gesa Schütz-Rauten-

berg, Künstlergrabmäler, 57, folgend, als „Prozessionstäfelchen“ an; wenig überzeugend ist allerdings Schütz-Rautenbergs Annahme, es handle sich damit um einen „schlichten, volkstümlichen Gebrauchsgegenstand“, ebd. Wie Gerhard Wolf, Schleier und Spiegel, 304, betont, sollte eher von einem „Exemplar von höchstem Authentizitätsanspruch“ gesprochen werden; vgl. zur Bedeutung der Mosaikikonen auch ausführlich Alexander Nagel, „Authorship and image-making“. 53 Bereits Gesa Schütz-Rautenberg, Künstlergrabmäler, 57 und Elisabeth Oy-Marra, Florentiner Ehrengrabmäler, 113, verweisen auf die Bemühungen Lorenzo de’ Medicis um die Wiederbelebung der Mosaikkunst und deren Dauerhaftigkeit; Oy-Marra sieht in der Darstellung eine „Rechtfertigung der Technik“ und deren „Vereinnahmung“ für Florenz. Doris Carl, Benedetto da Maiano, 172f., sieht das Mosaik als „imperiale Kunstgattung“. Ausführlich hat diese Bezüge zuletzt Alexander Nagel, „Authorship and image-making“, 147f., diskutiert. 54 Vgl. Gerhard Wolf, Schleier und Spiegel, 304: „Der gottgleiche Rang des Künstlers wird in dieser invenzione ebenso vor Augen geführt wie die Tatsache, daß er der ‚Ursprung‘ oder die Wiedergeburt der Malerei ist.“ Auf die Tradition der Mosaikikonen und deren Wertschätzung, gerade auch im Umfeld Lorenzo il Magnificos, verweist ausführlich Alexander Nagel, „Authorship and imagemaking“, 147–150. 55 Vgl. dazu Elisabeth Oy-Marra, Florentiner Ehrengrabmäler, 113; Doris Carl, Benedetto da Maiano, 172 f. Auch Landino erwähnt 1481 in seinem Dante-Kommentar die Navicella als einziges konkretes Werk Giottos, Cristoforo Landnio, Scritti critici, 124. Ein Ähnlichkeit des Christusgesichts der Navicella mit dem Mosaiktäfelchen des Monuments sah Werner Haftmann, „Ein Mosaik der Ghirlandaio

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Vor allem aber ermöglicht der Akt des Mosaizierens die Darstellung der Hand als unmittelbares Instrument einer technischen Realität, die gleichermaßen in Interaktion mit dem Material und im Zusammenspiel mit Blick und Affekt steht. Ähnlich konkret wird ja die Hand auch im Text der Inschrift mit Epitheta genannt, die ihren natürlichen, physiologischen Eigenschaften entsprechen. Gleichwohl entheben Bild und Text gleichermaßen durch ihre Kontexte und Konnotationen jene Arbeit der Hand dem rein litteralen oder körperlichen Verständnis und setzen es in mehrfacher Hinsicht in eine allegorische Rahmung ein. 56 Polizians Epigramm spricht die Hand als grundlegende Voraussetzung für Giottos historische Leistung eines Erneuerers und Wiedererweckers ganz konkret an – andere Fakultäten der künstlerischen oder intellektuellen Arbeit nennt der Text ja nicht, das Brunelleschi zugeschriebene ‚göttliche ingenium‘, oder eine spezifische intelligentia, wie sie die Dokumente zusätzlich am Architekten hervorheben, 57 kommen nicht vor, obwohl Polizian in anderen Varianten des Giotto-Epigramms auch von den monumenta ingenii als Zeugen seiner Leistungen sprach. 58 So aber steht die Hand in Text und Bild im konkreten wie im übertragenen Sinn für die gesamte Leistung des Künstlers, für Geschicklichkeit und Intellekt gleichermaßen, ihr wird ein moralischer, anagogischer Sinn abgewonnen. Gerade das Zusammenfallen beider Bedeutungsebenen und damit die Referenz auf das Handwerkliche als Grundlage für (und nicht Gegensatz zu) Nobilität und Souveränität umschreibt hier die Figur des bildenden Künstlers als Autor. Auf dem Feld der Kunst ist der Hand damit eine eigene, doppelte Sprache eingeräumt. 59

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Werkstatt aus dem Besitz des Lorenzo Magnifico“, in Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 6 (1940/1941), 98–108, hier 107; vgl. Marco Collareta, „Le ‚luci della fiorentina gloria‘ “, 139–141. Vgl. dagegen Gesa Schütz-Rautenberg, Künstlergrabmäler, 57, die in dem von ihr angenommenen Widerspruch der Hand-Tätigkeit zur „vornehmen Gelassenheit“ der Gestalt Giottos eine für Lorenzos „Kunstinteresse und Kunstpolitik“ bezeichnende „ästhetisierte Auffassung der handwerklich-künstlerischen Tätigkeit als angenehmer Zeitvertreib“ sieht (57) – dies aber lässt sich mit dem dargestellten Bildthema oder mit dem Wortlaut der Inschrift m.E. nicht übereinbringen. Auch die von Elisabeth Oy-Marra, Florentiner Ehrengrabmäler, 113, betonte „Diskrepanz“ zwischen Inschrift und Darstellung oder gar die „vermeintliche Rückschrittlichkeit“ dürften zurücktreten, wenn man das Setzen des Steines als einen Akt der Vollendung des Urbildes aller Bilder liest. Das Begräbnisdekret vom 30. Dezember 1446 spricht von den niedrigen Bauausgaben für die Domkuppel, da diese eius ingenio et intelligentia sublatis gewesen seien, zudem wird auf der schlichten Bodenplatte des Grabes noch einmal vom corpus magni ingenii viri Philippi […] gesprochen; vgl. Gesa Schütz-Rautenberg, Künstlergrabmäler, 14–16, 341. Angelo Poliziano, Prose volgari inedite e poesie latine, 158 (Nr. XC, V. 4): Plura quoque ingenii sunt monumenta sui. Vgl. auch Giorgio Vasari, Le Vite, Bd. 2: Commento, 410. Doris Carl, Benedetto da Maiano, 171, hat die Hand als „pars pro toto seiner geistigen Gestaltungskraft“ hervorgehoben; vgl. zu entsprechenden Topoi in Inschriften Albert Dietl, „In arte peritus. Zur Topik mittelalterlicher Künstlerinschriften in Italien bis zur Zeit Giovanni Pisanos“, in Römische historische Mitteilungen 29 (1987), 75–125, hier 94; zur Verbindung von Hand und Intelligenz im Mittelalter Wolf-Dietrich Löhr, „Handwerk und Denkwerk des Malers“. Vgl. zum Sprechen der Hand M. Bickenbach/A. Klappert (Hgg.), Manus Loquens. Medium der Geste – Gesten der Medien, Köln 2003.

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Im weiteren Textverlauf wird nun ein einzelnes Monument der Kunst Giottos als konkretes Werk seiner planenden Hand, hervorgehoben und beschrieben. Auf die eingangs erwähnten Malerei und das im Tondo dargestellten Mosaik folgt damit die Evokation der Architektur. 60 Der Campanile steht dabei exemplarisch für Giottos Tätigkeit als Stadtbaumeister und tritt zugleich in der Reihe der Denkmäler des Doms neben Brunelleschis ‚Kuppel‘ (testudo), die nicht nur in dessen Inschrift (Abb. 2), sondern auch im Bild der Stadt auf Dantes Ehrenbildnis (Abb. 3) hervorgehoben wird. 61 In diesem wundersamen (miraris) Aufragen des Turmes liegt wohl eine weitere Referenz: Denn der in der direkten Rede des Baumeisters gegebene Hinweis auf den himmelan strebenden Bau, an den Giotto die Heraushebung seines Namens anschließt, dürfte an die ebenfalls als Mitschrift einer Ansprache fingierte, zentrale Passage zum Turmbau von Babel erinnert haben, die sich in Genesis 11, 4 findet: ‚Kommt, wir bauen uns eine Stadt und einen Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reicht und feiern unseren Namen, bevor wir in alle Lande verstreut werden.‘ 62 Statt aber wie der Turm zu Babel eine Kommunikationsstörung auszulösen, welche die einheitliche menschliche Sprache in sinnloses Stimmengewirr und das einige Volk in zielloses Umherirren auflöste, dient Giottos Turm den Glocken der Kirche. Er ist damit Träger der Stimme, die alle zum Gottesdienst zusammenruft, das Zentrum des Gemeinwesens markiert und seine zeitliche Ordnung bestimmt. 63 Mit dieser sprechenden Bestimmung ist der Campanile nicht Zeichen der superbia, sondern wird zum Gegenbild des babylonischen Bauwerks und zum Symbol der religiösen Einheit der Florentiner civitas als eine Art ‚Anti-Babel‘. Dies gründet auf Giottos kunstvoller Urheberschaft: Denn der Turm ging, gleich einem organisch wachsenden, personalisierten Geschöpf Giottos, aus seiner Planung hervor und erreichte die Sterne – de modulo meo ad astra crevit. In einer subtil verschobenen Rezeption gattungsgemäßer poetischer Sprache ist es nicht die Seele des Begrabenen, seine Tugend oder sein unsterblicher Ruhm, die den Weg ‚zu 60 Die Auswahl ist dennoch ungewöhnlich; das Dokument zum Marmorankauf von 1489 nennt Giotto

hingegen maestro dipintore e scultore et ordinatore del degno Campanile di Santa Maria del fiore. Hier nach C. J. Cavallucci, Santa Maria del Fiore. Storia documentata dall’origine fino ai nostri giorni, Bd. 2, Florenz 1881, 155, vgl. Gesa Schütz-Rautenberg, Künstlergrabmäler, 343. 61 Mit dieser bewussten Nähe zum Lob Brunelleschis spielt Polizian in einer anderen Version durch die explizite Aufnahme der „daedalischen Kunst“ und durch das Wortspiel testis/testudo; Angelo Poliziano, Prose volgari inedite e poesie latine, 158 (Nr. LXXXIX, V. 1f.): Daedalea quam sit Joctus celeberrimus arte / Marmorea haec testis fabrica turris erit. 62 Gen. 11, 4: et dixerunt venite faciamus nobis civitatem et turrem cuius culmen pertingat ad caelum et celebremus nomen nostrum antequam dividamur in universas terras. 63 Zur göttlichen Strafe der Stimmenverwirrung vgl. Gen. 11, 7: Venite, igitur, descendamus et confundamus ibi linguam eorum ut non audiat unusquisque vocem proximi sui. Vgl. zum Babylonischen Turm Arno Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, 4 Bde., Stuttgart 1958–1963; A. Mann, „Babylonischer Turm“, in Engelbert Kirschbaum (Hg.), Lexikon für christliche Ikonographie, Bd. 1, Rom [u.a.] 1968, 236–238; Alexander Wied, „Der Turmbau zu Babel“, in Wilfried Seipel (Hg.), Der Turmbau zu Babel. Ursprung und Vielfalt von Sprache und Schrift. Ausstellungskatalog Graz; Schloß Eggenberg, 5. April bis 5. Oktober 2003, 3 Bde., Wien 2003, Bd. 1, 59–85.

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den Sternen‘ antreten, wie im vielfach variierten locus classicus Vergils oder in ähnlichen Passagen bei Horaz und Ovid 64 , sondern es ist sein ganz konkretes, materielles und diesseitiges Werk, das die Grenzen der Physik zu sprengen scheint. Der Turm wächst anstelle und als Zeichen des Ruhmes seines Erbauers zum Himmel empor. Der zuerst genannten Hand tritt dabei für die Architektur ein Instrument zur Seite, das nicht leicht zu übersetzen ist. Modulus dürfte hier aber weniger als konkretes ‚Modell‘ zu verstehen sein (wie es Alexander Nagel vorgeschlagen hat), obwohl diese Bedeutung dem zeitgenössischen Gebrauch durchaus entspricht. Das Wort steht grundlegend dem Begriffsfeld des Maßes nahe und kann dabei sowohl die Proportionierung der Architektur, als auch den wiederkehrenden proportionalen Rhythmus der Musik beschreiben. 65 Gemeint ist hier wohl so etwas wie das Modul, Zeichen- oder Rechenbrett, wie es später als ‚Donatellos Abacus‘ in einer Andekdote des Pomponius Gauricus auftaucht – oder aber die planende Zeichnung selbst. 66 Diese ist zugleich durch das Possessivpronomen als ein persönliches Mess- und Entwurfssystem ausgewiesen. Mit solchem ‚eigenen Maß‘ klingt eine inkorporierte Proportionskenntnis an, die an die recta manus anknüpft und bereits auf den abstrakt-geometrischen Kreis des ‚O‘ vorausweist. Liest man auch diese Zeile wieder mit dem Blick auf das Bildnis, dann könnte dem ‚Modul‘ noch eine weitere, grundlegendere Bedeutung zukommen. Denn Giotto vollendet ein Bild Gottes, das er nicht nur bearbeitet, sondern wie einen Spiegel intensiv betrachtet (Abb. 6). Im Gesicht Christi als inkarniertem Wort zeichnet sich ja die Bildhaftigkeit des Menschen selbst, sein Status als imago et similitudo Gottes und die damit verbundene Gnade und Verantwortung ab. 67 In diesem Sinne stellte Augustinus, dem Kolosserbrief folgend, die reformatio des Menschen durch die Erkenntnis im Bild Gottes, der ihn 64 Vergil, Aeneis, 9, 641; Eklogen, 5, 50–52. Paul Barolsky, „Dante and the Modern Cult of the Artist“,

in Arion 12 (2004), 1–15, hier 10, hat auf Horaz und Ovid verwiesen, sieht aber in diesen Zeilen zudem eine Anspielung auf Dantes „repeated assertion of his own journey to the stars“. 65 Karl Ernst Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Bd. 2, 969f. Alberti verwendet in seinem 1485 in Florenz im Druck erschienenen Architekturtraktat den Begriff modulus einerseits synonym mit exemplaria, spricht aber auch von den exemplaria ad modulos diducta im Sinne von maßgerechten Modellen; vgl. Leon Battista Alberti, L’Architettura [De re aedificatoria], lat.-ital. hg. u. übers.v. Giovanni Orlandi, 2 Bde., Mailand 1966, Bd. 2, 847 (Buch IX, 8). Bei Alberti kann der modulus nicht nur als Plan des Baues, sondern auch als Probestück des entwerfenden Verstandes gelten (ebd. Bd. 1, 99; Buch II, 1): Quare modulos velim dari non exacto artificio perfinitos tersos illustratos, sed nudos et simplices, in quibus inventoris ingenium, non fabri manum probes. Vgl. Hans-Karl Lücke, Alberti Index, 3 Bde., München 1976, Bd. 2, 819, mit weiteren Belegen. 66 Pomponio Gaurico, De Sculptura, hg. v. Paolo Cutolo, Neapel 1999, 142; zu Donatellos abacus vgl. David Summers, Michelangelo and the Language of Art, Princeton 1981, 364–367; Marco Collareta, „Testimonianze letterarie su Donatello. 1450–1600“, in Paola Barocchi [u.a.] (Hgg.), Omaggio a Donatello 1386–1986. Donatello e la storia del Museo, Florenz 1986, 7–47. 67 Dazu Rudolf Preimesberger, „Der Verfasser der Priesterschrift: ‚nach unserem Bild, uns ähnlich‘ (6. Jhdt. v. Chr.)“, in Ders./Hannah Baader/Nicola Suthor (Hgg.), Porträt (Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren 2), Berlin 1999, 70–75; Thomas Lentes, „Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späten Mittelalters“, in Klaus Schreiner/Marc Müntz (Hgg.), Frömmigkeit im

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geschaffen hat, in Aussicht und für Bonaventura ist jede Kreatur ‚Abbild [Gottes], wenn sie Gott erkennt‘. 68 Ähnlich wie die selbstbewusste Rede von den Defekten der sichtbaren Welt dürfte die Verwendung dieses Bildformulars weniger auf eine einfache Naturwahrheit der Malerei verweisen, als auf eine der Natur zugrundeliegende, göttlich eingerichtete Harmonie der Schöpfung, die durch die – christliche und von der maßvollen Hand des Künstlers gesteuerte – Kunstübung Giottos übermittelt wird. 69 Der doppelte Akt der Betrachtung und Verfertigung des ursprünglichen Gottesbildes, das Maßnehmen an seinem exemplum und modulus lässt sich als eine durch die Kunst vollzogene, grundlegende Selbstreflexion des Künstlers verstehen, in der sich technische Fertigkeit, Frömmigkeit und Erkenntnis verbinden. Die kolloquial anmutende, dem Durchschautwerden kunstvoll geöffnete Fiktion des selbst deklamierenden, gleichwohl toten Künstlers, wird schließlich durch eine besondere Volte intensiviert: Giotto spricht das von ihm gesprochene Gedicht als überflüssig an. Ein ähnliches, typisch epigrammatisches Konzept im Sinne eines selbstbewussten Quid multa? hatte ein anderer Entwurf Polizians noch deutlicher formuliert: ‚Begehrst du das übrige zu wissen, so soll das Werk sprechen.‘ 70 Damit war an den handwerklichen Sprichwortschatz vom ‚Werk, das den Meister lobt‘ 71 angeknüpft und das vom Gedicht Verschwiegene dem sprechenden Werk des Künstlers anheimgestellt, das so als beredtes, materielles Komplement des Textes erscheint. Das gemeißelte Epitaph aber stellt nun Sinn und Funktion des Gedichts insgesamt in Abrede: Die ironisch resignative Wendung quid opus fuit illa referre nimmt jenen Begriff auf, mit dem das Werk des Künstlers zu bezeichnen wäre, allerdings erscheint hier opus in der ganz anderen Bedeutung der Mühe und spielt

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Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002, 179–220. Augustinus, Confessiones, 13, 22, 32: ita homo renovatur in agnitione dei secundum imaginem eius, qui creavit eum […]. Mit Bezug auf Kol. 3, 9 f.: qui exuistis vos veterem hominem cum actibus eius et induistis novum, eum qui renovatur in agnitione secundum imaginem eius qui creavit eum. Vgl. dazu Herman Somers, „Image de Dieu. Les sources de l’exégèse augustinienne“, in Revue des études augustiniennes 7 (1961), 105–125. Bonaventura, Quaestiones disputatae de scientia Christi. Vom Wissen Christi, übers., komm. u. eingel. v. Andreas Speer, Hamburg 1992, 134 f., hier nach Christian Kiening, „Mediologie – Christologie. Konturen einer Grundfigur mittelalterlicher Medialität“, in Ders./Martina Stercken (Hgg.), Modelle des Medialen im Mittelalter (Das Mittelalter 15), Berlin 2010, 15–32, hier 23. Dagegen betont Doris Carl, Benedetto da Maiano, 172, dass der Epitaph die „Naturwahrheit“ Giottos unterstreiche, ähnlich wird für Alexander Nagel, „Authorship and image-making“, 151, Giotto in der Inschrift als „consummate innovator and promoter of naturalism“ gefeiert; die von ihm gesehene „open contradiction“ zur Darstellung eines „image that was invented by no one and that exists through replication“ lässt sich m.E. eher als eine Spannung zwischen Nachahmung und Gotteserkenntnis beschreiben, die beide im Mandylion zusammenkommen. Angelo Poliziano, Prose volgari inedite e poesie latine, 159 (Nr. XCI, V. 8): Cetera qui cupias nosse loquetur opus; vgl. auch ebd. 158 (Nr. XC, V. 1f.): Quis fuerit Joctus picturae gloria cunctis / ostendit. Vgl. dazu Albert Dietl, „In arte peritus“, 104; zum weiteren Kontext Ulrich Pfisterer, „Künstlerliebe. Der ‚Narcissus‘-Mythos bei Leon Battista Alberti und die Aristoteles-Lektüre der Frührenaissance“, in Zeitschrift für Kunstgeschichte 64 (2001), 305–330.

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dem Gedicht den Charakter der Arbeit, aber nicht den eines Werks oder Kunstwerks zu. Das vom Wortgewebe der Poesie hier Referierte wird so am Ende des Epigramms als substituierbar durch ein Wort herausgestellt: Durch den Namen des Künstlers nämlich, der dessen Existenz umfassend bestimmt – ‚schließlich bin ich Giotto‘ – zugleich aber – longi carminis instar – als gehaltvolles Klangkunstwerk an die Stelle des liedhaften Gedichts selbst tritt, das uns den Namen nennt. 72 Der auditive Charakter des Textes tritt hier in den Vordergrund, so wie sich beim Lesen der Text als Stimme vom gemeißelten Buchstaben löst und dem Bild als belebende Rede zufällt. Dass gerade die Gattung Epitaph auf diese klangliche Dimension hin komponiert war, zeigen etwa die Dokumente zu Carlo Marsuppinis Inschrift für Brunelleschi, zu der es heißt, sie sei nach der Anhörung des Textes – auditis licteris – und nicht etwa nach der bloßen Lektüre, zur Ausführung beschlossen worden. 73 In Giottos Epitaph ist durch dieses laute und lautliche Klingen der Worte die Lebendigkeit des Künstlers doppelt betont: Zuerst durch seine präsentische, im Namen ausgerufene Identität – sum Iottus –, sodann durch die diesem Namen nun eingeschriebene bezeichnende Referenz auf die Berühmtheit seines Trägers, die mit dem Klang des heiligen Glockenerzes, den sein Werk ermöglicht hat, spannungsvoll rivalisiert. Damit verwirft jenes melodiöse und lange Gedicht, das mit seiner Vergil-Riprese von Beginn an literarische und epische Referenzen aufgerufen hat, seine eigene Relevanz und legt dem Leser nahe, es durch den puren Namen des Künstlers zu ersetzen. 74 Nichts anderes allerdings erklingt in diesem Iottus 75 als einzig das aus dem anlautenden Diphtong eines ‚Io‘, abrupt sich öffnende ‚O‘ Giottos. Dieser gewitzte und stolze Akt der Ablehnung und Substitution lässt sich als eine kunstvolle Einlösung dessen verstehen, was Boccaccio und Sacchetti mit ihrem anekdotischen image Giottos vorgegeben haben: Giotto als ein Meister geistreich-lakonischer Selbstinszenierung, der es versteht, der Buchgelehrsamkeit eine ganz eigene Replik entgegenzusetzen. Die Wendung vom rhythmisierten Gedicht zum volkstümlichen Namensklang erhält aber ihren besonderen, von bewusster Ironie gewürzten Reiz durch das breite, eher volkstümliche Spektrum an Bedeutungen, die der Name ‚Giotto‘ als Wort auslösen konnte. Denn Polizians gewitztem lateinischen Epitaph steht eine genau zeitgleiche 72 Diese Akzentuierung hat bereits Doris Carl, Benedetto da Maiano, 171, betont. 73 So im Dokument vom 19. Mai 1447; hier nach Gesa Schütz-Rautenberg, Künstlergrabmäler, 342. 74 Es geht an der medienkritischen Volte des Gedichts vorbei, wenn man hier eine „fiction of Giotto

portraying himself in words“ liest mit dem Ansinnen „that his deeds are worthy of a long poem“; so Paul Barolsky, „Dante and the Modern Cult“, 10. Vgl. hingegen Marco Collareta, „Le ‚luci della fiorentina gloria‘ “, 142. 75 Unter allen von Polizian entworfenen Epigrammen auf Giotto unterscheidet sich das ausgewählte gerade auch durch diese Schreibart, alle anderen geben das üblichere „Ioctus“, vgl. Angelo Poliziano, Prose volgari inedite e poesie latine, 156–159. Als pictorum eximium Iottus fundamentum et lux erscheint Giotto allerdings bereits in der Inschrift zu Gozzolis Fresken in Montefalco (Abb. 5); vgl. Diane Cole Ahl, Benozzo Gozzoli, 230f. Soweit ich sehe, hat Giotto selbst nie als Iottus, wie Alexander Nagel, „Authorship and image-making“, 146, nahelegt, sondern (in den drei erhaltenen und anerkannten Beispielen) stets als Ioctus signiert; diese Einheitlichkeit betonen Michael Viktor Schwarz/Pia Theis, Giottus Pictor, 273f.

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volkssprachliche Aneignung von Giottos Namen gegenüber: Die um 1480 im Umfeld Polizians gesammelten Detti piacevoli verzeichnen jene Redewendung zum ersten Mal, die Vasari am Ende seiner Anekdote zitiert hatte: Zwischen Aussprüchen Lorenzo de’ Medicis, die sich durch scherzhafte Sinnlichkeit auszeichnen, und eher zotigen Schwänken nach Art des Poggio Bracciolini liest man dort auch, völlig unkommentiert: Tu sei più tondo che l’O di Giotto. 76 – ‚Du bist ründer/dümmer als das O des Giotto.‘ Die mögliche Quelle könnte hier ein wenig früher, vielleicht um 1475, entstandenes Schmähsonett von Luigi Pulci sein, dass dieser an Bartolomeo Scala, Kanzler der Signoria unter Lorenzo il Magnifico und wahrscheinlichster Auftraggeber des Dante-Ehrenbildes im Dom (Abb. 3), gerichtet hatte. Dort wird mit der annähernden Homophonie zwischen Giotto und einem in der karnevalesken Literatur verbreiteten Begriff für den Vielfraß – ghiottone – und ebenso dem Adjektiv geistiger Trägheit – goffo – eine Spannung erzeugt, die dem offenen, runden ‚O‘ die Konnotationen von Korpulenz und Stumpfsinn mitgibt: Al tuo goffo ghiotton darò del macco / che più dell’ O di Giotto mi par tondo – ‚deinem plumpen Vielfraß werd’ ich Brei geben, der mir noch ründer scheint als Giottos O.‘ Im satirischen Kontext meint diese derbe Essmetaphorik ein Sprechen in unmissverständlicher Evidenz mit Leuten von simplem Verstand, ein Abfüttern mit Deutlichkeit. 77 Es gehört zu Vasaris geschickten Schachzügen, dass er das Sprichwort, das ihm, wenn es nicht ohnehin allgemein im Umlauf war, sein Freund, der Literat und Historiker Vincenzo Borghini, nahegelegt haben könnte, nicht nur zitiert. Vielmehr erhebt er es mit dem ganzen Gewicht ihrer volkstümlichen Rezeptionsbreite zum historischen Beleg seiner kunstvoll zusammengeflochtenen Anekdote, indem er letztere kausal auf die Redensart bezieht und zum ‚Geschehnis, woraus sie entstand‘ erklärt. 78 Eine ähnliche autorisierende Verbindung von Sprichwort und Anekdote findet sich ebenfalls bereits bei Plinius, der im Anschluss an die Geschichte von der Linie des Apelles schreibt, der Künstler habe

76 Angelo Poliziano, Detti piacevoli, hg. v. Tiziano Zanato, Rom 1983, 111, Nr. 395, 191; ders., Angelo

Polizianos Tagebuch, hg. v. Albert Wesselski, Jena 1929, 208, Nr. 386.

77 Vgl. dazu den Kommentar in Luigi Pulci, Morgante e opere minori, Bd. 2, hg. v. Aulo Greco, Turin

1997, 1386; ebd. Bd. 1, 37. Vgl. Paul Barolsky, Why Mona Lisa Smiles, 11f.; zum Verhältnis Polizians zu Pulci vgl. Tobias Leuker, Angelo Poliziano, 30f. 78 Giorgio Vasari, Le Vite, Bd. 2: Testo, 104, spricht vom caso donde nacque. Zur Konstruktion der Anekdote Hartmut Biermann, „Das ‚O‘ Giottos. Anmerkungen zur Fama Giottos“; Paul Barolsky, Michelangelo’s Nose, 137: „Vasari’s story of course reflects his own subtilitas – the subtle way in which he appropriates a legend from antiquity, retells it as a Tuscan ‚novella‘, grafts it to a line of Florentine poetry, invests it with a castiglionesque ideal of grace, and, finally, makes it reflect Michelangelo’s concept of artistic judgement.“ Michael Viktor Schwarz/Pia Theis, Giottus Pictor, 393, bezweifeln hingegen, m.E. zu unrecht, den Zusammenhang des von Vasari zitierten Spruches mit dem Künstler Giotto und nehmen stattdessen für diesen einen anderen Protagonisten gleichen Namens an.

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‚es sich zur beständigen Aufgabe gemacht, niemals, auch wenn er noch so beschäftigt war, einen Tag vergehen zu lassen, ohne durch das Ziehen einer Linie sein Können zu üben, was durch ihn zum Sprichwort wurde.‘ 79

Vasari aber hat hier seine Kunsttheorie des disegno mit diesem derben Sprichwort, das sich aus gänzlich anderen Beobachtungen schöpft, so eng verbunden, dass sich gerade aus der Spannung von Schrift, Klang und Bild eine Dynamik ergibt, die jenen significato ambiguo, jene Zweideutigkeit also, die Vasari selbst dem Wort tondo zumisst, zu einer weitreichender Mehrdeutigkeit auffaltet. 80

4. ‚O!‘: Buchstabe und Bild Die Anekdote von Giottos O flicht die verschiedenen Vorläufer und Traditionen zu einer verdichteten Erzählung vom Künstler als Autor sui generis zusammen, die gerade im Bedeutungsraum zwischen Sprachlosigkeit und produktiver Erkenntnis ihre Pointe erhält. Dazu hat Vasari zuerst den Vorgang des Zeichnens deutlicher ins Licht gerückt, indem er – im Unterschied zur grundlegenden Plinius-Anekdote oder den Erzählungen Sacchettis – mit dem Abgesandten des Papstes einen Augenzeugen hinzufügt, der als Träger eines Narrativs der Werkgenese fungiert. Denn nachdem uns Vasari selbst die ungewöhnliche Entstehungsgeschichte der Zeichnung berichtet hat, wird sie vom Boten noch einmal erzählt, während der Papst das Blatt betrachtet – raccontando il modo che aveva tenuto nel fare il suo tondo senza muovere il braccio e senza seste. 81 Gerade diese Passage wurde für die zweite Edition seiner Viten von 1568 zugespitzt und ausgeweitet, so dass sich deutlicher eine Zweiteilung des Publikums abzeichnet: Der Papst, ein Kenner und Kunstverständiger, begreift und bewundert, was der karge Kreis Giottos umfasst und ermisst an dieser vollendeten Geste unmittelbar dessen Vorrang vor allen anderen Künstlern. Der Gesandte hingegen bleibt ohne Verständnis für das, was ihm vorgeführt wird, denn er vermisst an der Zeichnung alles Erkennbare und liest nur ein sinnloses ‚O‘. Vasaris Trick besteht dabei darin, dass er Giotto nicht nur eine Linie oder einen Kreis zeichnen lässt – wie Apelles bei Plinius und Filarete – sondern zugleich auch einen Buchstaben. Damit wird der Akt des Zeichnens mit dem Verfertigen der Schrift und die Zeichnung mit dem sprachlichen Zeichen in Konkurrenz gesetzt. Bekanntlich geht das Schreiben wie das Zeichnen aus einem einfachen Strich hervor. Daraus ergibt sich als grundsätzliche Form, der Linie des Apelles nicht unähnlich, das ‚I‘. Ihm tritt als 79 Plinius d.Ä., Naturalis historiae, 35, 84; deutsche Übersetzung nach C. Plinius Secundus d.Ä.,

Naturalis historiae libri XXXVII / Naturkunde. Buch XXXV. Farben – Malerei – Plastik, hg. u. übers.v. Roderich König/Gerhard Winkler, München/Zürich 1989, 67. 80 Vgl. zur Diskussionen des Doppelsinns in der frühen Neuzeit Bernhard Teuber, Sprache – Körper – Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit, Tübingen 1989, 87–102. 81 Giorgio Vasari, Le Vite, Bd. 2: Testo, 104.

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Abb. 7: John Carstair, Schnell-Schreib-Lehr-System, Weimar 1833, Tafel 16: Zur Uebung der Hand.

zweite Grundform das ‚O‘ zur Seite, das die gerade Linie zum Kreis schließt. I und O sind damit die fundamentalen elementa oder species, die etwa Geoffroy Tory in seinem elaborierten Schrifttraktat Champ Fleury von 1529 bedeutungsschwer zu den wesentlichen Konstruktionselementen des gesamten Alphabets erklärt. 82 Auch der Unterricht im ABC beginnt mit den zuversichtlich stimmenden Aufstrichen des ‚I‘, während das Schließen der Linien zum ‚O‘ schon deutlich weniger leicht gelingt. Das Einkreisen der Form des O, wie es Giotto vorführt, wäre im System der Schrift noch keine Aussage, sondern nichts weiter als eine Etüde, wie sie als spiraliges Kreisen noch die Schreibbücher des 19. Jahrhunderts insbesondere zum Eintrainieren der Geschwindigkeit einer dann linear fortlaufenden Schrift vorschlagen (Abb. 7). 83 Für den versierten Schreiber sind das ‚I‘ und das ‚O‘ tatsächlich die raschesten Schreibgesten, die sogar zur Metapher für Schnelligkeit schlechthin werden können. So heißt es in einem Simile Dantes vom Verbrennen eines 82 Geoffroy Tory, Champ Fleury, Paris 1529 [weitere Auflagen 1536 und 1549], Buch 2, I–XXIX.

Vgl. dazu Barbara C. Bowen, „Geoffroy Tory’s ‚Champ Fleury‘ and Its Major Sources, in Studies in Philology 76 (1979), 13–27, hier 16 f., sowie Christian Kiening, „Die erhabene Schrift. Vom Mittelalter zur Moderne“, in Ders./Martine Stecken (Hgg.), SchriftRäume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne, Zürich 2008, 9–126, hier 62–70. 83 Vgl. etwa John Carstair, Carstair’s Neues Schnell-Schreib-Lehr-System, genannt Amerikanische Unterrichts-Methode die schnellste Erlernung der Schreibkunst Eine vortreff liche Entdeckung um Zöglingen von jedem Alter durch neue Grundregeln eine vorzüglich schöne und freie Handschrift beizubringen. Für den öffentlichen und den Privat-Unterricht. Aus englischen und französischen Werken bearbeitet von Carl Ferdinand Leischner. Neu hg. v. Georg Wilhelm Günther, Weimar 4 1833. Abbildungsnachweis: Ebd. Tafel 16. Zuerst in den 1820er-Jahren auf Englisch erschienen; vgl. KarlMichael Sprenger, Zug um Zug. Die Schreibmeister und ihre Kunst vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Bestandskatalog Gutenberg Museum Mainz, Mainz-Weisenau 1998, 27f., Nr. 60.

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Diebes im siebten Höllenkreis: ‚So flink war noch kein O, kein I geschrieben / wie der in Flammen aufging und verbrannte.‘ 84 Dazu bemerkt etwa Francesco da Buti, einer der wichtigsten Kommentatoren des ausgehenden 14. Jahrhunderts, ‚O‘ und ‚I‘ seien ‚zwei Buchstaben, die sich schneller als alle anderen mit einem Strich schreiben‘. 85 Allerdings ist die Geschwindigkeit für den Schreiber zugleich ein Problem. Denn das Schreiben ist, wie die Kolophone der mittelalterlichen Mönche und späteren Lohnschreiber beharrlich vorführen, eigentlich eine mühsame körperliche Arbeit. Sogar Gott selbst, der doch den ‚Kreis‘ der Erde leichthin erschaffen hat, habe sich, so gibt im 14. Jahrhundert Richard de Bury in seinem Philobiblon zu bedenken, für das Verfertigen der Schrift ‚niedergebeugt‘, als er vor den Anklägern der Ehebrecherin mit dem Finger auf die Erde schrieb. 86 Hugo von St. Viktor benutzt die Arbeit des mönchischen Schreibers als Exempel um darzulegen, dass nur Gott gleichzeitig Vieles und Großes schaffen kann, während etwa der scriptor zwar kleine Buchstaben schnell schreiben kann, für größere aber schon mehr ‚schwitzen‘ muss, ‚und je schneller die Feder gezogen wird, desto unförmiger sind die Buchstaben, die ausgedrückt werden sollen.‘ 87 Giotto hingegen schüttelt seinen Buchstaben rasch und formvollendet aus dem Handgelenk. Diesem ‚O‘ aber, das der bezähmte Körper des Künstlers entwirft, kommt im System der Sprache keine Valenz zu, es ist ein Buchstabe ohne Sinn, syntaktisch gelesen allenfalls eine allgemeine Exklamation ohne nähere Aussage. Dafür gewinnt es als Zeichen an Bedeutung. Schließlich ist das ‚O‘ der einzige Buchstabe, dessen Figur zugleich Bild geblieben ist: ein Abbild nämlich seines Ausgesprochen-Werdens, formt doch der Mund, wie der Buchstaben-Theoretiker Geoffroy Tory nahelegt, selbst für das O einen Kreis, sperrt sich weit auf für den dumpfen Ton, dem der Leib als beinahe ungesteu84 Dante, Inferno 24, 100f.: Nè o sì tosto mai nè i si scrisse, com’el s’accese ed arse. Hier nach

Dante Alighieri, La commedia secondo l’antica vulgata, hg. v. Giorgio Petrocchi (Le opere di Dante Alighieri. Edizione Nazionale 8), 4 Bde., Florenz 2 1994, Bd. 1, 410. Deutsche Übersetzung nach Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, übers. v. Karl Vossler, Gütersloh o. J., 140. Auf diese Passage verweist auch Paul Barolsky, Why Mona Lisa smiles, 12. 85 Commento di Francesco Da Buti sopra la divina comedia di Dante Allighieri, hg. v. Crescentino Giannini, Pisa 1858 [Nachdruck Pisa 1989], Bd. 1, 628: due lettere che si scrivono più tosto, che tutte l’altre in una tratta. Bei Benvenuto da Imola heißt es: Et describit dubitam dissolutionem istius per unam comparationem de se claram […]; hoc dicit quia istae duae vocales velociter et cito scibuntur […]. Nach Benvenuti de Rambaldis de Imola comentum super Dantis Alighierij comoediam, hg. v. Jacopo Filippo Lacaita, 4 Bde., Florenz 1887, Bd. 2, 211. Vgl. dazu Luigi Venturi, Le similitudine Dantesche ordinate illustrate e confrontate, neu hg. v. Luca Azzetta, Rom 2008 [Florenz 1911], 306 (Nr. 491). 86 Richard de Bury, Philobiblon, hg. v. Antonio Altamura, Neapel 1954, 123 (Kap. 16, Z. 30 f.): O scripture serenitas singularis, ad cuius fabricam inclinatur artifex orbis terre. Dazu Christian Kiening, „Die erhabene Schrift“, 27, 111 f. 87 Videmus quia scriba eas figuras quae exiles sunt promptius format, in magnis figurandis propensius desudat, et calamus, quanto velocius trahitur, tanto deformiores sunt litterae quae exprimuntur. Hier nach Hugo de Sancto Victore, De tribus diebus, hg. v. Dominique Poirel (Corpus Christianorum, Continuatio Medievalis 157), Turnhout 2002, 32.

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erter Klangkörper dient. 88 Oder wie der lateinische Grammatiker Terentianus Maurus in seinem Buchstaben-Traktat aus dem 2. Jahrhundert (1497 und 1531 gedruckt) sagt: ‚Das lange O, geformt in der tiefen Höhle des Mundes, schärft seinen tragischen Klang durch gerundete Lippen.‘ 89 Und Marius Victorinus, ein Zeitgenosse des Aelius Donatus, verdeutlicht sowohl die Kreisform des Mundes, als auch die passive Rolle der Zunge, wenn er daran anknüpfend schreibt: ‚Das lange [O] gibt, mit vorgezogenen Lippen und gerundeter Öffnung, die Zunge lose in der Höhle des Mundes hängend, einen tragischen Klang.‘ 90 Ernst Jandl hat diese triste Komik des im Körper anschaulichen Buchstabens O mit seinem Lautgedicht Ottos Mops und dessen Vorführungen einprägsam inszeniert. 91 Gemäß den antiken Theorien lässt sich das O demnach weniger als gestalteter und sinnhaltiger Klang, denn als vox inarticulata oder vox confusa definieren. Es steht als ein nicht verfeinerter Ausruf den tierischen Lauten, wie dem Muhen der Kühe und dem Wiehern der Pferde nahe, die stets als Beispiel für bloßes Geräusch (sonus) im Gegensatz zur systematisierten und verständlichen Sprache (eloquium) stehen. 92 Das O ist demnach ein unförmiger, ungeformter Laut, der die Absenz von Intention, von Kultur, von Sprache markiert. Gerade hier setzt ja auch der von zitierte Spruch tu sei più tondo del O di Giotto an: Er verbindet die Kreisform des Buchstabens und die Dumpfheit seines Klanges mit Korpulenz und Trägheit. Erst aus diesem lautsprachlichen Zusammenhang ergibt sich die bereits angedeutete Bedeutung des Wortes tondo, die im italienischen seit Giovanni Boccaccio und in Giorgio Vasaris Zeit etwa bei Benedetto Varchi bezeugt ist, nämlich,

88 Geoffroy Tory, Champ Fleury, 3. Buch (LII): O, dit Martianus Capella, rotundi oris spiritu comparat.

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Cest a dire. Le O veult estre pronunce dung esperit & son, sortant rondement de la bouche, comme la figure & deseing [ein in ein Quadrat eingeschriebenes rundes O] le monstre. Vgl. ebd. 2. Buch, XXIX. Terentianus Maurus, De litteris, de syllabis, de metris in Grammatici latini, Bd. 6, hg. v. Heinrich Keil, Leipzig 1874, 329, V. 121–134: O Graiugenum longior […] alto tragicum sub oris antro molita rotundis acuit sonum labellis. Vgl. Edgar H. Sturtevant, The pronunciation of Greek and Latin. The Sounds and Accents, Chicago 1920, 33. Nach ebd. 34: Longum autem productis labris, rictu tereti, lingua antro oris pendula, sonum tragicum dabit. Vgl. dazu Anne Uhrmacher, Spielarten des Komischen. Ernst Jandl und die Sprache (Germanistische Linguistik 276), Tübingen 2007. Ich danke Martina Wagner-Egelhaaf für den Hinweis. Vgl. etwa den Abschnitt aus der ars grammatica des Diomedes: omnis vox aut articulata est aut confusa. articulata est rationalis hominum loquellis explanata […] confusa est inrationalis vel inscriptilis simplici vocis sono animalum effecta, quae scribi non potest, ut est equi hinnitus, tauri mugitus. […] eloquium est humanae pronuntiationis expressa significatio facilem mentibus efficiens intellectum […], sonus est corporalis conlisio repentinum auribus inferens frangorem. Hier nach Wolfram Ax, Laut, Stimme, Sprache. Studien zu drei Grundbegriffen der antiken Sprachtheorie (Hypomnetamata 84), Göttingen 1986, 18. Ax bietet eine breite Diskussion der Begriffe vox/sonus/ littera in der Tradition der lateinischen Grammatiker (15–58) und der griechischen, philosophischen Grundlagen. Vgl. zu den Diskussionen der Renaissance um Stimme, Klang und Zeichen Bernhard Teuber, Sprache – Körper – Traum, besonders 20–36.

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ganz wie das prononciertere tonto, im Sinne von ‚dumm‘ und ‚dumpf‘, ein uomo tondo ist ein ‚unverständiger, stumpfsinniger Mensch‘. 93 Bei näherem Hinsehen und -hören zeigt sich hier der dialogische Aspekt der zeichnerischen Tat Giottos: Denn er hat mit dem ‚O‘ zugleich den Gesichtsausdruck des tumb erstaunten Abgesandten vorweggenommen, der mit offenem Mund vor dem Wunder des Werkes steht, das er nicht begreift. Das gezeichnete ‚Oh!‘ ist so auch der Ausdruck eines Mangels an Ausdruck, meint eine Mimik – und einen Ausruf – des Kontrollverlusts, bei der die kommunikative Funktion des Gesichts und der Sprache einem Bild des Unverständnisses, der Dummheit, weicht. Der kreisförmige Buchstabe steht geschrieben als Statthalter des staunenden Gaffens mit offenem Mund, er zeichnet ein karikaturhaftes Bild des uneingeweihten Betrachters als Tölpel, als Trottel, als Tropf. Während das ‚O‘ also im System der Sprache, das an die Verkettung von Zeichen und Wörtern und deren lineare Sukzession gebunden ist, ein einsamer Klagelaut bleibt, der nichts Konkretes bedeutet, generiert die Ründe in der Simultaneität ihrer Anschauung einen umfassenden Sinn. Denn als Bild wird der Kreis zur universalen Form, in seiner endlosen Linie ist, wie Isidor von Sevilla ausführt, ‚der Umfang aller Figuren eingeschlossen‘. 94 Erst in diesem Verständnis, als geometrische Figur gelesen, kann der Buchstabe – wie in mittelalterlichen Lexika – verstanden werden als Attribut des allmächtigen Gottes, als Abkürzung von omnipotens, weil er, wie 1517 für Galeotto Marzio, die ‚umfassendste Form‘ ist, und daher, wie für Geoffroy Tory, ein Sinnbild der Perfektion. 95 Giotto kreist mit dem ‚O‘ seine künstlerische Autorschaft als Akt der Fertigkeit und Bild der Möglichkeit ein. Während es als sprachliches Zeichen die träge Physis des unverständigen Gaffers darstellt, präsentiert es als Bild und vollendete Form den virtuosen Körper des Künstlers. Sein schlagfertiges Argumentieren, das wir aus der älteren Tradition der Künstleranekdote kennen, kondensiert bei Vasari in einer maßvollen und treffenden Rede der Hand. Als klangvoller Buchstabe und gehaltvoller Kreis ist das in freihändiger Perfektion geschriebene ‚O‘ – longi carminis instar – Giottos sprechende Signatur. 96

93 Salvatore Battaglia (Hg.), Grande dizionario della lingua italiana, Bd. 21, Turin 2002, 17–19, hier

18.

94 Isidor, Etymologiae, 3, 12, 7: intra hunc circulum omnium figurarum concluditur ambitus. 95 So in einem Lexikon des 13. Jahrhundert, Paris, Bibliothèque Nationale, Ms. lat. 1689, fol. 125v;

zitiert bei Danièle Alexandre-Bidon, „La lettre volée. Apprendre à lire à l’enfant au Moyen Âge“, in Annales. Histoire, Scieneces Sociales 44 (1989), 953–992, hier 983 f. Vgl. zu allegorischen Buchstabendeutungen Christel Meier, „Das Problem der Qualitätenallegorese“, in Frühmittelalterliche Studien 8 (1974), 385–435, hier 433 f. Exkurs 1 zum O Parasceuasticum. Zu Tory vgl. Christian Kiening, „Die erhabene Schrift“, 70. Auch Galeottus Martius, De homine libri duo, Basel 1517, 60, schreibt über das O: Forma enim per se patet, nec declaratione indiget. circulus enim hoc est forma capacissima est. 96 Zum Signaturcharakter des ‚O‘ vgl. Pellegrino d’Acierno, „Giotto’s O. Economimesis in the Arena Chapel“, in Lynn Catterson/Mark Zucker (Hgg.), Watching Art. Writings in Honor of James Beck, Todi 2006, 21–31, hier 22.

Pia Claudia Doering

Literarische Inszenierungen von Macht in den politischen Schriften Niccolò Machiavellis

1. Einleitung In der an Lorenzo de’ Medici gerichteten Widmung des Principe rechtfertigt Machiavelli die Tatsache, dass er als Mann niederen Standes über die Fürstenherrschaft schreibe, durch den Vergleich mit einem Landschaftszeichner, der sich in die Ebene begibt, um Anhöhen zu erfassen, und auf Berge steigt, um die Niederungen zu überblicken. Ebenso müsse man Fürst sein, um die Natur der Völker zu verstehen, und dem Volk angehören, um das Wesen der Fürsten zu erkennen. In seiner Bildlichkeit geht der Vergleich deutlich über eine der Vorwortrhetorik geschuldete Legitimation hinaus: Er vereint eine kritische Analyse von Machtverhältnissen – das Einnehmen einer einseitigen Perspektive birgt das Risiko des Fehlurteils – mit ihrer dramatischen Inszenierung. Die Erkenntnis des Potenzials literarischer Sprache sowohl in Texten über die Regierungskunst als auch im politischen Handeln selbst soll im Folgenden als grundlegendes Merkmal von Machiavellis Schriften herausgestellt werden. Schon früh verfasst Machiavelli Gelegenheitsdichtungen und als Sekretär der zweiten Staatskanzlei im Dienst des republikanischen Florenz vermehrt politische Beobachtungen, insbesondere Berichte über seine zahlreichen Gesandtschaften zu den bedeutenden Herrschern seiner Zeit, darunter König Ludwig XII. von Frankreich, Kaiser Maximilian I., Papst Julius II. sowie Cesare Borgia. Machiavellis Hauptwerke entstehen jedoch, als er bei der Rückkehr der Medici und der Auflösung der Republik 1512 seiner Ämter enthoben wird und gegen seinen Willen die aktive Politik verlassen muss. Wie die Korrespondenz mit dem Freund Francesco Vettori, der sich als florentinischer Gesandte in Rom aufhält, bezeugt, findet Machiavelli keinerlei Freude an seinem neuen Alltag als Gutsherr auf seinem bescheidenen Landsitz Sant’ Andrea in Percussina bei San Casciano. Sein Bestreben liegt vielmehr darin, die Aufmerksamkeit der Medici zu gewinnen und seine politische Tätigkeit wiederaufnehmen zu dürfen. Mehrfach bittet er Vettori, ihn beim Papst für ein

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Amt in Rom oder Florenz zu empfehlen. 1 Uno opuscolo De principatibus, wie es im Brief vom 10. Dezember 1513 heißt, soll schließlich bewirken, che questi signori Medici mi cominciassino adoperare, se dovessino cominciare a farmi voltolare un sasso (‚dass mich die Herren Medici zu verwenden begönnen, sollten sie mich auch anfangs einen Fels wälzen lassen‘). 2 Machiavellis Hoffnungen werden jedoch enttäuscht: Vettori kommt, nachdem er zu Beginn des Jahres 1514 den gesamten Principe zur Lektüre erhalten hat, nie wieder auf die Schrift zu sprechen, und tatsächlich wird sie erst 1532, fünf Jahre nach dem Tod ihres Autors, gedruckt. Als die Rückkehr in die Politik ausgeschlossen ist, wendet sich Machiavelli seinem zweiten, weitaus umfangreicheren schriftstellerischen Werk, den Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, zu, an dem er wahrscheinlich schon im Juli 1513 zu arbeiten begonnen hatte und das er zwischen 1517 und 1519 abschließt. Die Discorsi entstehen unter dem Einfluss des Rucellai-Kreises, einer republikanisch gesinnten Gesprächsrunde, die in den Gärten des Pallazzo Rucellai, den Orti Oricellari, zusammenkommt, um Literarisches und Politisches, insbesondere Errichtung, Erhalt und Niedergang von Republiken, zu diskutieren. 3 Betrachtet man die Vita Machiavellis, so scheint das Verfassen von theoretischen Texten dem aktiven politischen Handeln stets untergeordnet zu sein: Im Falle des Principe ist sie im Dienst der Wiederaufnahme eines politischen Amtes instrumentalisiert; die Arbeit an den Discorsi kann als bloßer Ersatz für die fehlgeschlagene Rückkehr in den Staatsdienst gesehen werden. Dass Machiavelli die Kompetenzen des Politikers und des Schriftstellers aber immer schon vereint, dass sich Politik und Literatur in seinem Werk wechselseitig durchdringen und nicht nur die Politik die politisch-literarische Autorschaft beeinflusst, sondern auch Muster und Modelle aus Literatur und Kunst auf das politische Feld übertragen werden, soll die Analyse zweier Widmungstexte, des Principe und der Discorsi, belegen. Widmungen sind für die zu untersuchende Frage insofern von Bedeutung, als sie, auf der Schwelle zwischen theoretischer Analyse und politischer Praxis angesiedelt, performative Akte darstellen: Das Sagen bzw. Schreiben ist zugleich immer schon öffentliches Handeln. 4 Die Widmungen des Principe und der Discorsi sind im 1 So heißt es beispielsweise in einem Brief vom 13. März 1513: Tenetemi, se è possibile, in memoria

di N. S., che, se possibile fosse, mi cominciasse a adoperare, o lui o suoi, a qualche cosa, perché io crederrei fare honore a voi et utile a me. Vgl. Niccolò Machiavelli, Tutte le opere, hg. v. Mario Martelli, Florenz 1971, 1128. 2 Brief an Francesco Vettori vom 10. Dezember 1513 in ebd. 1160; Übersetzung P. C. D. 3 Die republikanische Ausrichtung der Gruppe und ihre Medici-Feindlichkeit gipfeln 1522 in einer Verschwörung gegen Kardinal Giulio de’ Medici, der ermordet werden soll. Jacopo da Diacetto wird nach Aufdeckung des Plans hingerichtet, andere prominente Mitglieder des Orti Oricellari-Kreises, darunter Zanobi Buondelmonti, einer der Widmungsadressaten der Discorsi, werden verbannt. 4 Gérard Genette stellt in seiner Studie Seuils, Paris 1987, heraus, dass in der Performanz der entscheidende Unterschied zwischen der Widmung und anderen Paratexten liegt. Auch wenn man davon ausgeht, dass Texte immer schon Handlungen sind (vgl. Karlheinz Stierle, Text als Handlung, München 1975), kommt der Widmung eine besondere Qualität zu, da sie eine öffentliche Kommunikationssituation einleitet. Das Widmungsschreiben ist daher, wie Stammen unterstreicht, für die „Erkenntnis der Textpragmatik und -strategie besonders aufschlussreich“, vgl. Theo Stammen, „Fürstenspiegel als

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Besonderen relevant, da Machiavelli in ihnen die spezifischen Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten des Politikers und des Schriftstellers reflektiert.

2. Machiavellis Korrektur der Herrscherperspektive: die Widmung des Principe Die Widmung des Principe entsteht in der heute vorliegenden Form später als die Schrift selbst, wahrscheinlich erst um 1516, 5 als Machiavelli bereits an den Discorsi arbeitet. Im Brief an Vettori vom 10. Dezember 1513 spricht er noch von Giuliano de’ Medici (1479– 1516) als dem Widmungsadressaten des Principe. Möglicherweise bereits als Giuliano 1513 zum Oberbefehlshaber der päpstlichen Truppen in Rom ernannt wird, spätestens jedoch bei dessen Tod 1516 beschließt Machiavelli, sich an den politischen Nachfolger in Florenz, Lorenzo de’ Medici (1492–1519), 6 zu wenden. Der Adressatenwechsel ist für den Widmungstext jedoch nahezu bedeutungslos: Das von Machiavelli entworfene Bild des Fürsten ist kein individuelles Portrait, sondern bleibt abstrakt, stellt allenfalls den ‚Typus Fürst‘ dar und dient entgegen dem Gattungsgesetz, das die Herabsetzung des Autors und die Erhöhung des Herrschers verlangt, vor allem der Profilierung des Verfassers. 7 Die übliche enkomiastische Rhetorik entfällt fast völlig; sie scheint nur dort auf, wo ihr Glanz in Wechselwirkung mit dem Buchgeschenk tritt. So heißt es gegen Ende der Widmung: Pigli, adunque, Vostra Magnificenzia questo piccolo dono con quello animo che io lo mando; il quale se da quella fia diligentemente considerato e letto, vi conoscerà dentro uno estremo mio desiderio, che Lei pervenga a quella grandezza che la fortuna e le altre sue qualità gli promettano. 8

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literarische Gattung politischer Theorie im zeitgenössischen Kontext – ein Versuch“, in Ders./HansOtto Mühleisen (Hgg.), Politische Tugendlehre und Regierungskunst. Studien zum Fürstenspiegel der Frühen Neuzeit, Tübingen 1990, 255–285, hier 270. Zur Diskussion über den Entstehungszeitpunkt der Principe-Widmung in der Machiavelli-Forschung vgl. August Buck, Machiavelli, Darmstadt 1985, 58–59. Lorenzo trägt den Vornamen seines berühmten Großvaters Lorenzo il Magnifico, ist Neffe des Papstes Leo X. und Vater Caterina de’ Medicis, der späteren Königin von Frankreich. Der 21-jährige Lorenzo, der als literatur- und kunstsinnig gilt, ist mit den Anforderungen der Regierungsgeschäfte überfordert. Sein Hochmut, durch den Titel des Herzogs von Urbino noch gestärkt, sein unkluger Umgang mit der florentiner Oberschicht und seine kostspielige Lebensweise bringen die Bürger von Florenz gegen ihn auf. Sein früher Tod 1519 im Alter von nur 27 Jahren löst daher wenig Bedauern aus. Zu seiner Rolle in der florentinischen Politik vgl. Volker Reinhardt, Florenz zur Zeit der Renaissance. Die Kunst der Macht und die Botschaft der Bilder, Freiburg i.Br./Würzburg 1990, 220–222. So auch Dirk Hoeges in seiner Studie Niccolò Machiavelli. Die Macht und der Schein, München 2000, 26: „Dieser Widmungsfürst scheint gar nicht zu existieren, und wenn, bildet er nur das Subjekt für Machiavellis eigene Profilierung.“ Die Widmung wird hier und im Folgenden nach der Ausgabe Niccolò Machiavelli, Il Principe, eingeleitet von Vittore Branca, komm. v. Tommaso Albarani, Mailand 1994, 3–5, zitiert. Die deutsche Übersetzung folgt weitgehend der Übertragung von Philipp Rippel in Niccolò Machiavelli, Il Principe. Der Fürst, italienisch/deutsch, Stuttgart 1986.

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‚So möge denn Eure Durchlaucht diese kleine Gabe in eben dem Geiste entgegennehmen, in dem ich sie sende; wenn Ihr sie mit Sorgfalt zu beachten und zu lesen geruht, so werdet Ihr darin meinen sehnlichsten Wunsch erkennen, dass Ihr jene Größe erlangen möget, die Euch Fortuna und Eure Talente versprechen.‘

In der Lektüre des Principe soll der Fürst die Ergebenheit des Autors erkennen, die sich in dessen Wunsch manifestiert, Lorenzo möge als großer Herrscher in die Geschichte eingehen. Mit seinem Buch liefert Machiavelli dem Fürsten jedoch zugleich das Instrument, mit dem dieses Ziel erreicht werden kann; die Schrift tritt neben den Einfluss Fortunas und die Qualitäten des Herrschers, dessen Macht auf nur einen Faktor von dreien reduziert wird. Wichtiger Bestandteil der Selbstdarstellung Machiavellis – nicht nur in der Widmung des Principe, sondern auch in derjenigen der Discorsi – ist die Abgrenzung von einer negativ bewerteten allgemeinen Praxis, belegt über das Verb solere, ‚zu tun pflegen, gewöhnlich tun‘ (Sogliono, el più delle volte; molti sogliono), vor deren Hintergrund sich der eigene Weg positiv abhebt. 9 Bei den von Machiavelli in der Dedica des Principe inszenierten Gegenbildern zeigt sich der enge Zusammenhang politischer und literarischer Kategorien: Die erste Kontrastfolie bildet die Gruppe jener Höflinge, die dem Fürsten Wertvolles aus ihrem Besitz – Pferde, Waffen, Brokatstoffe, Edelsteine – überbringen, mit dem Ziel, seine Gunst zu gewinnen. Von ihnen unterscheidet sich Machiavelli dadurch, dass er als Autor in Erscheinung tritt und dem Fürsten die Ergebnisse seiner Reflexion über Herrschaft zum Geschenk macht. In einer zweiten Gruppe wiederum, jener der Schriftsteller, grenzt er sich von all denjenigen ab, die ihre Werke mit rhetorischen Floskeln (clausule ample), geschwollenen und großartigen Wörtern (parole ampullose e magnifiche) und anderem Blendwerk (qualunque altro lenocinio) ausschmücken. Verbunden sind beide Gegenbilder durch die Eigenschaft des Ornamenthaften, das Machiavelli in vierfacher Wiederholung des Substantivs ornamento bzw. des Verbs ornare herausstellt (simili ornamenti, io non ho ornata, ornamento estrinseco, ornare). Wertvolle Gaben mögen den Fürsten zwar erfreuen, fallen jedoch in den Bereich des Vergänglichen, der vanitas, und tragen nicht zur Aufrechterhaltung von Herrschaft bei; ebenso ist reicher, überladener Stil eine Verlockung (lenocinio), die nur der Form angehört, äußerlich bleibt und der Bedeutung und Komplexität des Gegenstandes (la varietà della materia e la gravità del subietto) nicht gerecht wird. Zwischen den beiden Negativfolien platziert Machiavelli, eingeleitet mit einem starken, das Sprecher-Ich hervorhebenden Desiderando io adunque die Beschreibung seines Buchgeschenks und dessen Intention. Während die Geschenkepraxis der Höflinge auf 9 Jean-Jacques Marchand, „Machiavelli in limine. La figura dell’autore, dell’opera e del destinatario

nei testi proemiali machiavelliani“, in Cultura e scrittura di Machiavelli. Atti del Convegno FirenzePisa, 27–30 ottobre 1997, Salerno 1998, 311–325, hier 317, stellt diese Abgrenzung von anderen als typisches Merkmal der Nebentexte Machiavellis heraus: „La netta prevalenza dell’ ‚io-autore‘ in questi testi liminari viene rafforzata dall’immagine di uno o vari ‚altri-autore‘ o ‚altri-cortigiani‘, di natura per lo più antitetica. Questo ‚altro‘, diverso ovviamente dal dedicatario o dal lettore, funge da autore in negativo: è ciò che l’autore non vuole essere o magari ciò che non può essere.“

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dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruht – die Gaben stehen im Zeichen des Gunsterwerbs (coloro che desiderano acquistare grazia appresso uno Principe) –, stellt Machiavelli sich scheinbar uneigennützig in den Dienst des Fürsten: Desiderando io adunque, offerirmi alla Vostra Magnificenzia con qualche testimone della servitù mia verso di quella. Hinter der vermeintlichen Unterwürfigkeit steht jedoch das Ansinnen, an der Macht zu partizipieren. Das Buch, das der Autor dem Fürsten zueignet, wird zum materialisierten pars pro toto für all jene Dienste, die er ihm in Zukunft in der politischen Praxis erweisen könnte. Die Bescheidenheitsformel, er habe in seinem Hausstand nichts Wertvolleres finden können, es handele sich bei der kleinen Schrift um das größte Geschenk, das er, Machiavelli, dem Fürsten darbringen könne, verbirgt, im Zusammenspiel mit der Abwertung üblicher Fürstengeschenke als eitel und nichtig, nur oberflächlich die selbstbewusste Überzeugung des Autors, dass dem Herrscher grundsätzlich nichts nützlicher sein könne als sein Werk. Im Folgenden benennt Machiavelli die beiden Erkenntnisquellen, aus denen sich seine Autorschaft speist: Die Taten großer Männer, d.h. politische Handlungen, sollen durch das Studium antiker Texte und die eigene Erfahrung in der Gegenwart erschlossen werden. Die Vorgehensweise, das humanistische Ideal mit der menschlichen Erfahrung des Transitorischen zu verbinden, 10 liegt in der Tat nicht nur dem Principe, sondern auch den Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio zugrunde 11 und hat darüber hinaus Tradition in der florentinischen Politik. Die Methoden des Autors entsprechen den Methoden des potentiellen Politikers. Noch deutlicher als in der Widmung des Principe inszeniert sich Machiavelli in dem bereits zitierten Brief an Vettori als Humanist. In einer berühmten Stelle, der die Beschreibung seines neuen, als gesellschaftlicher und geistiger Abstieg empfundenen Lebens auf dem Land vorausgeht, heißt es: Venuta la sera, mi ritorno in casa, et entro nel mio scrittoio; et in su l’uscio mi spoglio quella veste cotidiana, piena di fango et di loto, et mi metto panni reali et curiali; et rivestito condecentemente entro nelle antique corti degli antiqui huomini, dove, da loro ricevuto amorevolmente, mi pasco di quel cibo, che solum è mio, et che io nacqui per lui; dove io non mi vergogno parlare con loro, 10 Karin Wieland, „Die Kunst der Gunst. Machiavelli zwischen dem Wunschraum der Humanisten und

dem Handlungsraum der Günstlige“, in Herfried Münkler/Rüdiger Voigt/Ralf Walkenhaus (Hgg.), Demaskierung der Macht. Niccolò Machiavellis Staats- und Politikverständnis, Baden-Baden 2004, 157–183, zufolge bedient sich Machiavelli grundsätzlich dreier Erfahrungsbereiche: der Sammlung von Entscheidungen, die er in der florentinischen Staatskanzlei katalogisiert hat, seiner Beobachtungen und Einschätzungen, die er als Gesandter machen konnte, sowie Beispielen aus der antiken Literatur und Geschichtsschreibung. In der Verbindung humanistischer Studien mit den eigenen Erfahrungen der Gegenwart sieht Wieland die Modernität Machiavellis begründet. 11 In der Widmung des Principe bietet Machiavelli dem Fürsten la cognizione delle azioni delli uomini grandi, imparata con una lunga esperienzia delle cose moderne et una continua lezione delle antique. In der Widmung der Discorsi benennt Machiavelli dieselben Erkenntnisquellen der praktischen Erfahrung und der Lektüre in der verkürzten, auf die ausdrückliche Differenzierung zwischen Gegenwart und Antike verzichtenden Formulierung io ho espresso quanto io so e quanto io ho imparato per una lunga pratica e continua lezione delle cose del mondo. Vgl. Niccolò Machiavelli, Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, hg. v. Corrado Vivanti, Turin 1983, 3.

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et domandarli della ragione delle loro actioni; et quelli per loro humanità mi rispondono; […]. E perché Dante dice che non fa scienza sanza lo ritenere lo havere inteso, io ho notato quello di che per la loro conversatione ho fatto capitale, et composto uno opusculo De principatibus. 12 ‚Ist der Abend gekommen, kehre ich nach Hause zurück und trete in mein Schreibzimmer ein. Auf der Schwelle ziehe ich meine Alltagskleidung, die voller Schlamm und Schmutz ist, aus und lege königliche und höfische Gewänder an. Angemessen gekleidet begebe ich mich an die antiken Höfe der Großen des Altertums, wo ich von ihnen liebenswürdig empfangen werde und mich von jener Speise nähre, die allein die meinige ist und für die ich geboren bin; wo ich ohne Scham mit ihnen spreche und sie zu den Beweggründen ihres Handelns befrage und sie mir aus ihrer Menschlichkeit heraus Antwort geben; […]. Und weil Dante sagt, es gebe keine Wissenschaft, außer wenn man das Verstandene auch behält, habe ich, was ich aus der Unterhaltung mit ihnen gelernt habe, notiert und ein kleines Werk De principatibus erstellt.‘

Machiavellis Selbstdarstellung als Autor ist nicht von seinem Ziel, ins politische Leben zurückzukehren, zu trennen. Spätestens seit Mitte des 14. Jahrhunderts hat sich in Florenz die Überzeugung durchgesetzt, humanistische Gelehrsamkeit bilde die Grundvoraussetzung für die Übernahme politischer Verantwortung, vita activa und vita contemplativa seien zu vereinen. 13 Machiavelli beabsichtigt jedoch nicht, die antiken Texte nachzuahmen, er spricht nicht von Imitatio, sondern betritt gleich einem Gesandten die Höfe der antiken Denker, um im Dialog mit ihnen Kenntnisse über das Staatswesen zu erlangen. In diese Konversation, deren lehrreichste Teile die Grundlage seiner Schrift De principatibus bilden sollen, fließen auch Machiavellis Erfahrungen als Diplomat ein. Sie sind ebenso wichtig wie seine humanistische Bildung, gewinnt doch die Diplomatie seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert zunehmend an Gewicht: Die Kontakte zwischen den Mächten des sich herausbildenden europäischen Staatensystems werden enger, Verhandlungen und Planungen taktisch raffinierter, und ständige Gesandtschaften lösen die im Mittelalter von Fall zu Fall eingesetzten ab. 14 Italien und insbesondere Florenz spielen in der Ausbildung der Diplomatie und der Idee eines europäischen Kräftegleichgewichts eine Vorreiterrolle. 15 Daher versäumt Machiavelli in seinem Brief an Vettori nicht, auf die in sein Werk eingeflossene politische Erfahrung, die er unter der republikanischen Regierung erlangt hat, hinzuweisen:

12 Brief an Francesco Vettori vom 10. Dezember 1513 in Niccolò Machiavelli, Tutte le opere, hg. v.

Mario Martelli, Florenz 1971, 1160; Übersetzung P. C. D.

13 Die Praxis, entscheidende Stellen der Stadtregierung mit Humanisten zu besetzen, lässt sich u.a. mit

den Namen Coluccio Salutati, Leonardo Bruni und zu Lebzeiten Machiavellis Bartolomeo Scala und Marcello Adriani belegen. Quentin Skinner, Niccolò Machiavelli zur Einführung, aus dem Englischen von Martin Suhr, Hamburg 5 2008, 13–17, führt die Tatsache, dass Machiavelli bereits verhältnismäßig früh eine verantwortungsvolle Position in der florentinischen Verwaltung übertragen wird, auf seine humanistische Erziehung zurück. 14 Vgl. Fritz Ernst, „Über Gesandtschaftswesen und Diplomatie an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit“, in Archiv für Kulturgeschichte 33 (1951), 64–95, hier 65. 15 Vgl. Federico Chabod, Idea di Europa e politica dell’equilibro, hg. v. Luisa Azzolini, Neapel 1995, insbes. 152–153.

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[…] et per questa cosa, quando la [l’opera] fussi letta, si vedrebbe che quindici anni che io sono stato a studio all’arte dello stato, non gl’ho né dormiti né giuocati; et doverrebbe ciascheduno haver caro servirsi d’uno che alle spese d’altri fussi pieno di experienzia. 16 ‚[…] ich meine deshalb, wenn mein Werk gelesen würde, so würde man sehen, dass ich die 15 Jahre, die ich mit dem Studium der Staatskunst zugebracht, weder verschlafen noch vertändelt habe; und ein jeder sollte sich gerne eines solchen bedienen, der auf fremde Kosten reich an Erfahrung ist.‘

Die Niederschrift des im Dialog mit den Alten Erkannten wird über den Hinweis auf Dante, also auf einen italienischen – und nicht antiken – Autor, legitimiert. Im fünften Gesang des Paradiso rät Beatrice dem Dante der Divina Commedia: Apri la mente a quel ch’io ti paleso / e fermalvi entro; ché non fa scïenza, / sanza lo ritenere, avere inteso (‚Öffne den Geist dem, was ich dir verkünde, / Und schließ es ein, denn außer dem Verstehen / Gehört zur Wissenschaft auch das Behalten‘. 17 Die Textstelle geht auf Ciceros Tusculanae (I, 58) zurück, wo es im Kontext der platonischen anamnesis-Lehre heißt: nihil est aliud discere nisi recordari. Unter Ausschluss eines metaphysischen Hintergrunds, aber ohne die Differenz zu markieren, überführt Machiavelli das Konzept des Erinnerns in das des auf die Praxis ausgerichteten Niederschreibens. In der Widmung des Principe wird der Schaffensprozess in seinen einzelnen Arbeitsschritten gezeigt: Die Ergebnisse langjähriger Beobachtung zeitgenössischer Ereignisse (con una lunga esperienza delle cose moderne) und der Lektüre antiker Texte (una continua lezione delle [cose] antique) werden sorgsam durchdacht und geprüft (con gran diligenzia lungamente escogitate et esaminate) und sodann zu einem kleinen Band, der das Wesentliche enthält, verdichtet (et ora in uno piccolo volume ridotte). Noch einmal ist damit betont, wie sehr sich Machiavellis Buch – hinsichtlich Produktion und Rezeption – von den üblichen Fürstengeschenken unterscheidet: Für den Erwerb, das Strukturieren und Abstrahieren von Erkenntnissen hat der Autor Mühen und Gefahren auf sich genommen und Zeit und Sorgfalt investiert. Seine Schrift dient nicht oberflächlicher Zerstreuung, sondern gibt dem Fürsten die Möglichkeit, in kürzester Zeit all das zu verstehen, was sich der Verfasser in langen Jahren mühsam angeeignet hat. Der geringe Umfang des Werkes, der in den Formulierungen uno piccolo volume und questo piccolo dono als der Textgattung geschuldete Bescheidenheitsrhetorik erscheint, wird von Machiavelli zum Vorteil gewendet: Die Reduktion, die dem Autor gelungen ist, erlaubt es dem Fürsten, ohne großen Zeitaufwand, in brevissimo tempo, umfangreiche Kenntnisse in der Staatskunst zu erwerben. In der Umkehr der hierarchischen Verhältnisse fordert Machiavelli den Fürsten, der sich an vergänglichem Besitz und oberflächlichen Vergnügungen zu erfreuen pflegt, zum sorgfältigen Studium seiner Schrift auf, die ihn in kürzester Zeit in die Geheimnisse der 16 Brief an Francesco Vettori vom 10. Dezember 1513 in Niccolò Machiavelli, Tutte le opere, hg. v.

Mario Martelli, Florenz 1971, 1160; Übersetzung P. C. D.

17 Dante Aligheri, La Divina Commedia. Paradiso, komm. v. Anna Maria Chiavacci Leonardi, Mailand

1994, V, 40–42. Die deutsche Übersetzung folgt Hermann Gmelin in Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Stuttgart 2001.

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Staatskunst einzuweihen vermag. Einen Herrscher in die Position eines Schülers zu versetzen, liegt in der Gattung des Fürstenspiegels begründet und ist somit nichts Neues. 18 Bemerkenswert ist jedoch, dass Machiavelli die Frage, wie es möglich sei, dass der Untertan den Fürsten über dessen ureigenste Materie, die Staatsführung, belehrt, thematisiert und, wie einleitend bereits skizziert, mit dem eindringlichen Bild des Landschaftszeichners und der künstlerischen Perspektive ein allgemeines Prinzip formuliert: Né voglio sia reputata presunzione se uno uomo di basso ed infimo stato ardisce discorrere e regolare e’ governi de’ principi; perché, così come coloro che disegnano e’ paesi si pongono bassi nel piano a considerare la natura de’ monti e de’ luoghi alti, e per considerare quella de’ bassi si pongono alti sopra e’ monti, similmente, a conoscere bene la natura de’ populi, bisogna essere principe, e a conoscere bene quella de’ principi, bisogna essere populare. ‚Auch will ich nicht, dass man es für Anmaßung hält, wenn es ein Mann von niederem Stand und bescheidener Herkunft wagt, die Regierung der Fürsten zu erörtern und sie in Regeln zu fassen; denn so wie die Landschaftszeichner sich unten in die Ebene stellen, um die Beschaffenheit der Berge und der hochgelegenen Orte zu erfassen, und sich nach oben auf die Berge begeben, um die Niederungen zu betrachten, ebenso muss man, um die Natur der Völker zu begreifen, Fürst sein, und um das Wesen der Fürsten zu erkennen, dem Volk angehören.‘

Machiavelli hält zunächst den Schein der Enkomiastik aufrecht, indem er sich selbst in den Niederungen, den Fürsten in erhabener Position situiert, den Vorwurf der Vermessenheit seines Unterfangens antizipiert und ihn durch die folgende Darlegung seiner Motive zu entkräften vorgibt. Die anschließende Erklärung basiert innerhalb des Malereivergleichs auf der Frage der Perspektive, deren Entdeckung sich das Florenz des 15. Jahrhunderts zuweilen mit patriotischem Stolz rühmt. 19 Um das Jahr 1413 malt Filippo Brunelleschi die erste korrekt zentralperspektivisch konstruierte Ansicht des Florentiner Baptisteriums, 1435 liefert Leon Battista Alberti die entsprechende Theorie in seinem Malereitraktat De pictura nach. Im 16. Jahrhundert gewinnt die Perspektive auch in der künstlerischen Repräsentation von Macht zunehmend an Bedeutung: Giorgio Vasari wird das Portrait Cosimos I. so in der Mitte der Decke des großen Saales im Palazzo Vecchio platzieren, dass der Betrachter den Kopf zurücklegen muss – noch besser wäre die Sicht aus der Rückenlage 18 Herfried und Marina Münkler weisen in dem Artikel Fürstenspiegel ihres Lexikons der Renaissance,

München 2000, 129–131, auf die der Gattung eigene pädagogische Politikvorstellung hin, „der zufolge der Amtsinhaber erzogen werden musste, um den mit seinem Amt verbundenen Aufgaben und Pflichten genügen zu können. Die Fürstenspiegel handeln also von der Erziehung des angehenden Herrschers, der durch sie zur Wahrnehmung seiner Aufgaben befähigt werden soll.“ Ebd. 129. 19 Zur Entdeckung der Perspektive im Florenz des 15. Jahrhundert vgl. das mit zahlreichen Abbildungen versehene Kapitel Die Welt durch ein Fenster betrachtet in A. Richard Turner, Renaissance in Florenz. Das Jahrhundert der Medici, Köln 1996. Eine Übersicht über die theoretische Behandlung der Perspektive in frühneuzeitlichen Kunsttraktaten mit entsprechenden Quellentexten gibt Ulrich Pfisterer (Hg.), Die Kunstliteratur der italienischen Renaissance. Eine Geschichte in Quellen, Stuttgart 2002, hier 168–173. Dass auch außerhalb von Florenz an Fragen der Raumdarstellung gearbeitet wurde, belegt der zwischen 1440 und 1454 verfasste Tractatus des venezianischen Arztes und Naturforschers Giovanni Fontana, der von den farbperspektivischen Arbeiten des venezianischen Malers Jacopo Bellini berichtet (vgl. ebd. 170).

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am Boden – um den Fürsten betrachten zu können, während dieser in perspektivischer Totale auf ihn herabblickt. 20 Entgegen diesem Modell hat für Machiavellis Fürsten die Perspektive von oben – und hier liegt die Brisanz der Argumentation – keineswegs nur Vorteile: Zwar vermag der Fürst aus seiner Sicht das Wesen der Völker zu erfassen, die Möglichkeit, Herrschaftsmechanismen zu erkennen, spricht Machiavelli ihm jedoch ab. Der Herrscher hat keinen Einblick in die Gesetzmäßigkeiten der Macht, sein einseitiger Standpunkt birgt die Gefahr der optischen Täuschung, des politischen Trugschlusses. Aus diesem Grund ist er auf die Hilfe des Untertanen angewiesen, die Machiavelli ihm anbietet. Machiavellis an den Medici gerichteter Appell ist eindeutig. Der Autor fordert den Fürsten auf, einen Pakt zu schließen; er bietet ihm die geeignete Perspektive auf die Funktionsmechanismen der Macht an, wenn der Fürst im Gegenzug bereit ist anzuerkennen, dass die Situation der politischen Untätigkeit und des Exils Machiavellis unwürdig ist, und er ihm die Rückkehr in die vita activa ermöglicht. Dass ein Herrscher mit Schriftstellern, Malern oder Bildhauern eine Vereinbarung trifft, ist keine Seltenheit und im System der Kunstpatronage durch die Medici gang und gäbe; dabei erbringt der Künstler auf seinem Gebiet eine Leistung, die der Glorifikation des Herrschers dient, und erhält im Gegenzug Gunst und Protektion. Der Pakt, den Machiavelli vorschlägt, ist jedoch anderer Art: Er beabsichtigt nicht Herrscherlob, sondern den Ausgleich eines Mangels, die Korrektur einer falschen Perspektive. Während der Künstler nur auf seinem Terrain aktiv wird und sodann passiv Gunstbeweise entgegennimmt, berührt die von Machiavelli erbrachte Leistung, das Verfassen seiner Schrift De principatibus, bereits das Gebiet der Herrschaft. Die erwartete Gegenleistung lässt ihn keine passive Rolle annehmen, er verlangt vielmehr den Eintritt in die Sphäre der Macht und die aktive Partizipation an ihr. Seine Qualifikation hierfür liegt nicht nur im richtigen Standpunkt begründet, sondern beweist sich in der Schrift, der jene Methoden zugrunde liegen, die auch den Politiker auszeichnen. Machiavelli thematisiert an vier Stellen seiner Widmung Werterelationen, die durch die wiederholte Aufnahme der Adjektive degno, indegno miteinander verbunden sind: Welches Geschenk ist wessen würdig? Welcher Stil ist dem politischen Gegenstand angemessen? Wer hat welche Stellung im Staat verdient? Sein kleines Werk bezeichnet Machiavelli als des Fürsten unwürdig, die materiell wertvollen Geschenke hingegen als seiner Größe würdig. So wird eine Korrelation zwischen Beschenktem und Geschenk eröffnet, die unter der enkomiastischen Oberfläche auch eine kritische Dimension birgt: Das eitle, vergängliche Geschenk wird zum Symbol einer kurzlebigen Herrschaft, die deshalb keine Zukunft hat, weil der Herrscher sich lieber Vergnügungen statt den Lehren der Staatsführung widmet. Machiavelli seinerseits muss, wie es im Schlusssatz der Widmung heißt, unverdient, indegnamente, eine große und dauerhafte Ungunst des Schicksals ertragen – unverdient deshalb, weil er über allumfassende Kenntnisse der Regierungskunst verfügt. Die Frage, wer der politischen Verantwortung würdig sei, gewinnt durch die Diskussion der geeigneten Perspektive und die Feststellung der begrenzten Erkennt20 Vgl. Dirk Hoeges, Niccolò Machiavelli. Die Macht und der Schein, 30–31.

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nisfähigkeit des Fürsten eine allgemeine Dimension, die über die Personen Lorenzo de’ Medicis und Machiavellis hinausweist. Die Allgemeingültigkeit der Aussage wird durch die abstrakte Darstellung des Widmungsadressaten, der durch jeden anderen Fürsten ausgetauscht werden könnte – und tatsächlich ja nur deshalb angesprochen ist, weil sein Vorgänger im Amt nicht mehr zu Verfügung steht – noch unterstützt. Die Selbstdarstellung des Autors als dem Fürsten in politischer Kompetenz überlegen führt unweigerlich zu der Frage, ob die Regierungsmacht in den richtigen Händen liegt.

3. Die Analyse- und Sprachkompetenz des Schriftstellers in der Widmung der Discorsi Die Frage, wer zu herrschen verdiene, wird in der Widmung der Discorsi erneut aufgeworfen. Zeugte die Antwort in der Zueignung des Principe bereits von großer Skepsis gegenüber den Medici und war die Herrschaftskritik allenfalls oberflächlich durch enkomiastische Formeln zurückgenommen, führen die veränderte Situation Machiavellis nach 1516 – seine Hoffnungen, in die Politik zurückkehren zu können, haben sich zerschlagen – sowie der Einfluss des Orti Oricellari-Kreises, den Machiavelli zu diesem Zeitpunkt regelmäßig besucht und in dem er große Teile der Discorsi vorliest und zur Diskussion stellt, zu einer noch schärferen Analyse der gegenwärtigen politischen Lage in Florenz. Diente Autorschaft in der Widmung des Principe vor allem als Mittel, die Fähigkeit zum politischen Handeln unter Beweis zu stellen, um an der Herrschaft zu partizipieren, reflektiert die Dedica der Discorsi deutlicher die genuine Macht des Schriftstellers, der als Beobachter außerhalb der politischen Sphäre steht. 21 Die Discorsi sind Cosimo Rucellai, dem Eigentümer der Orti Oricellari, und Zanobi Buondelmonti, einem prominenten Mitglied, 22 zugeeignet. Der Widmungstext erfüllt jene Gattungsgesetze, die gegenüber Lorenzo de’ Medici zugunsten einer überzeugten Selbstdarstellung des Autors vernachlässigt wurden: Der Tonfall ist von Bescheidenheit und Respekt gegenüber den Freunden gekennzeichnet, die Ausgangs- und Zielpunkt des Werkes bilden, da sie Machiavelli zur Niederschrift der Discorsi angeregt hätten und nun die entscheidende Beurteilungsinstanz des Werkes bilden sollen. Urteilsfähigkeit, Irrtum und Täuschung sind die Schlüsselbegriffe des Widmungstextes, die in den Substantiven (fallacia del) giudicio und errore sowie den Verben giudicare und ingannarsi wiederholt aufgegriffen werden.

21 Nach Quentin Skinner, Niccolò Machiavelli zur Einführung, 75–78, bildet das Jahr 1516 den ent-

scheidenden Wendepunkt in der Vita Machiavellis, in dem er die Rolle des Politikers und Diplomaten endgültig aufgibt und beginnt, sich zunehmend als Schriftsteller zu sehen. 22 Buondelmonti ist 1522 in die fehlgeschlagene Verschwörung des Zirkels gegen die Medici verwickelt und gezwungen, nach Frankreich zu emigrieren, wo er in den Dienst Franz I. tritt. Nach der Vertreibung der Medici 1527 und der Wiedererrichtung der Republik kehrt er nach Florenz zurück.

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Bene vi può increscere della povertà dello ingegno mio, quando siano queste mie narrazioni povere; e della fallacia del giudicio, quando io in molte parte, discorrendo, m’inganni. […] Pigliate, adunque, questo in quello modo che si pigliano tutte le cose degli amici; dove si considera più sempre la intenzione di chi manda, che le qualità della cosa che è mandata. E crediate che in questo io ho una sola satisfazione, quando io penso che, sebbene io mi fussi ingannato in molte sue circunstanzie, in questa sola so ch’io non ho preso errore, di avere eletto voi, ai quali, sopra ogni altri, questi mia [sic] Discorsi indirizzi: sì perché, faccendo questo, mi pare avere mostro qualche gratitudine de’ beneficii ricevuti: sì perché e’ mi pare essere uscito fuora dell’uso comune di coloro che scrivono, i quali sogliono sempre le loro opere a qualche principe indirizzare; e, accecati dall’ambizione e dall’avarizia, laudano quello di tutte le virtuose qualitadi, quando da ogni vituperevole parte doverrebbono biasimarlo. 23 ‚Wohl kann sich Euch die Armut meines Geistes aufdecken, wenn meine Ausführungen dürftig sind, und das Fehlgehen meiner Urteilskraft, wenn ich mich bei meinen Erörterungen in vielerlei Hinsicht täusche. […] Nehmt daher dieses so, wie alles von Freunden genommen wird, wo stets stärker die Absicht des Gebers als die Qualität der Gabe erwogen wird. Und seid versichert, dass ich hierbei eine einzige Genugtuung empfinde, wenn ich bedenke, dass ich mich, mag ich mich auch bei vielen Gelegenheiten getäuscht haben, in diesem einen Punkt nicht geirrt habe, nämlich darin, Euch vor allen anderen als Adressaten meiner Discorsi erwählt zu haben: Denn es scheint mir, auf diese Weise einige Dankbarkeit für empfangene Wohltaten gezeigt und mit dem üblichen Brauch der Schriftsteller gebrochen zu haben, die ihre Werke immer einem Fürsten zu widmen pflegen und die, von Ehrgeiz und Habgier geblendet, jenen für alle tugendhaften Eigenschaften loben, während sie ihn wegen jeder schändlichen Seite tadeln sollten.‘

Ist der Autor auch vor Fehlschlüssen in der politischen Analyse, die er in der besonderen, weniger geordneten, sich zwischen unterschiedlichen Themen hin und her bewegenden Form der Discorsi zur Darstellung bringt, 24 nicht gefeit, so kann er doch einen Irrtum meiden und sich darin von einer weiteren allgemeinen Praxis abgrenzen. Er kann wählen, wem er seine Schrift zueignet, kann die Freunde den Fürsten vorziehen und damit ein zweifaches Unrecht, das einerseits den Autor, andererseits den Adressaten betrifft, beseitigen. Die Mehrheit der Schriftsteller widmet ihre Werke einem Fürsten – dass Machiavelli sich dem uso comune im noch unveröffentlichten Principe angepasst hatte, lässt er unerwähnt – und handelt aus Ehrgeiz und Habgier, jenen Lastern, die grundlegend für das pessimistische Menschenbild Machiavellis sind. Das Herrscherlob, das der falschen Motivation des Eigennutzes entspringt, ist hypokrit und schadet dem Gemeinwohl insofern, als es in der Produktion von ästhetischem Schein das Verhältnis von Tugenden und Lastern umkehrt: 23 Der Widmungstext wird hier und im Folgenden nach der von Corrado Vivanti hg. Ausgabe Niccolò

Machiavelli, Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, Turin 1983, 3–5, zitiert; die Übersetzungen stammen von P. C. D. 24 Im Unterschied zum Traktat bezeichnet der discorso in der italienischen Renaissance grundsätzlich das Sprechen im volgare. Wie Karlheinz Stierle in „Gespräch und Diskurs. Ein Versuch im Blick auf Montaigne, Descartes und Pascal“, in Ders./Rainer Warning (Hgg.), Das Gespräch (Poetik und Hermeneutik 11), München 1984, 297–334, an Textbelegen von Machiavelli, Savonarola und Ariost nachweist, meint der Begriff zunächst die methodisch ungeordnete Rede, die der Gesprächskultur entspringt. Erst später, u.a. durch Zusätze wie discorso della ragione, entwickelt sich das Verständnis einer streng linearen Gedankenführung, das jedoch noch nicht im Widerspruch zur Situierung des Begriffs im Kontext des Gesprächs steht.

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Nicht nur bleiben die schändlichen Eigenschaften des Fürsten, entgegen der moralischen Verpflichtung, die in dem Verb dovere zum Ausdruck kommt, dissimulatorisch ungerügt, darüber hinaus werden moralische Qualitäten simuliert, über die der Fürst tatsächlich nicht verfügt. Wenn Machiavelli sich seinerseits nicht an einen Herrscher, sondern an die Freunde aus den Orti Oricellari wendet, so fügt er die Tugend aufrichtiger Dankbarkeit dem in der Widmung entworfenen Selbstbild ein. Von der eigenen Motivation lenkt Machiavelli sodann den Fokus auf den gesellschaftspolitischen Standort der Widmungsadressaten und schließt eine Reflexion über die Relation von Macht und Tugend sowie Macht und Wissen an: Onde io, per non incorrere in questo errore, ho eletti non quelli che sono principi, ma quelli che per le infinite buone parti loro, meriterebbono di essere; non quelli che potrebbero di gradi, di onori e di ricchezze riempiermi, ma quelli che, non potendo, vorrebbono farlo. Perché gli uomini, volendo giudicare dirittamente, hanno a stimare quelli che sono, non quelli che possono essere liberali; e così quelli che sanno, non quelli che, sanza sapere, possono governare uno regno. E gli scrittori laudano più Ierone Siracusano quando egli era privato, che Perse Macedone quando egli era re: perché a Ierone ad essere principe non mancava altro che il principato; quell’altro non aveva parte alcuna di re, altro che il regno. ‚Um nicht denselben Fehler zu begehen, habe ich nicht jene erwählt, die Fürsten sind, sondern diejenigen, die es wegen ihrer zahllosen guten Eigenschaften zu sein verdienten; nicht jene, die mich mit Ämtern, Ehrungen und Reichtümern überhäufen könnten, sondern diejenigen, die es zwar nicht tun können, es aber wollten. Denn die Menschen, die richtig urteilen wollen, sollten die wertschätzen, die freigebig sind, und nicht jene, die es sein könnten, und ebenso diejenigen, die einen Staat zu regieren verstehen, und nicht jene, die regieren können, ohne es zu verstehen. Und die Schriftsteller loben Hieron von Syrakus mehr, während er Privatmann war, als Perseus von Makedonien, während er König war, denn dem Hieron fehlte, um Fürst zu sein, nichts weiter als das Fürstentum; jener andere hatte nichts von einem König außer dem Königreich.‘

In der Gegenüberstellung der regierenden Fürsten und der ebenso tugendhaften wie kompetenten, aber machtlosen Mitglieder der Orti Oricellari zeigt Machiavelli, dass die Ausübung von Herrschaft unabhängig von Tugend, Verdienst und Wissen ist. Die politische Realität in Florenz widerlegt den Gedanken der aristotelischen Politik, demzufolge Macht durch Tugend legitimiert wird. 25 In abstrakter Analyse ist die Trennung von Tugend und Macht bereits aus dem Principe bekannt, in dem der Erwerb der Fürstenherrschaft nicht nur auf virtù, sondern auch auf fortuna zurückgeführt werden kann. 26 25 Im dritten Buch, Kap. 17, der Politik des Aristoteles, übers. und hg. v. Franz F. Schwarz, Stuttgart

1989, 199 heißt es in Bezug auf die Königsherrschaft: Wenn es sich also ereignen möchte, dass es entweder ein ganzes Geschlecht oder einen Einzelnen geben sollte, der sich von den anderen seiner Tugend nach dermaßen unterscheidet, dann ist es doch gerecht, dass dieses Geschlecht königlich und entscheidend sei über alles und dass dieser Eine König wäre. 26 Fortuna und virtù, letztere verstanden als politische Energie und Kompetenz, bilden das grundlegende Oppositionspaar in Machiavellis politischer Theorie. Bereits im einleitenden ersten Kapitel des Principe unterscheidet er zwischen Fürstentümern, die einerseits durch Glück, andererseits durch Tüchtigkeit erworben werden. Im siebten Kapitel führt er zwei Beispiele an: Francesco Sforza, der aufgrund seiner Fähigkeiten an die Macht gekommen ist, und Cesare Borgia, der durch Glück – sein Vater ist Papst Alexander VI. – aufgestiegen ist. Zu den Begriffen virtù und fortuna in der Tradition

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An der Differenz von potestà und virtù, von potere und sapere setzt die analytische Kraft der Schriftsteller an, die, indem sie die Differenz offen legen, auf das Urteil der Menschen über die Fürsten Einfluss nehmen können. Durch die Techniken der Simulation und Dissimulation ist es ihnen einerseits möglich, in enkomiastischer Rede die Fehler der Mächtigen zu verdecken und durch Tugenden zu ersetzen; andererseits können sie Missverhältnisse aufzeigen und kritisieren, wie die Beispiele des Hieron von Syrakus (306–215 v. Chr.) und des Perseus von Makedonien (212–165 v. Chr.) belegen. Die Tüchtigkeit des Hieron stellt Machiavelli bereits im sechsten Kapitel des Principe heraus, das von neuen Fürstenherrschaften, die durch eigene Waffen und virtù erworben wurden, handelt: Costui [Ierone Siracusano], di privato diventò principe di Siracusa: né ancora lui conobbe altro dalla fortuna che la occasione; perché, sendo Siracusani oppressi, lo elessono per loro capitano; donde meritò d’essere fatto loro principe. E fu di tanta virtù, etiam in privata fortuna, che chi ne scrive, dice: „quod nihil illi deerat ad regnandum praeter regnum“. (Principe 31) 27 ‚Er [Hieron von Syrakus] stieg vom Privatmann zum Fürsten von Syrakus auf; auch ihm wurde von Fortuna nichts anderes gewährt als die Gelegenheit; als nämlich die Syrakuser in Bedrängnis waren, wählten sie ihn zu ihrem Feldherrn; als dieser machte er sich so verdient, dass er ihr Fürst wurde. Er war schon als Privatmann von solcher Tüchtigkeit, dass ein Schriftsteller von ihm sagte: „Es fehlte ihm, um König zu sein, nichts als das Königreich.“‘

Machiavelli zitiert in veränderter Form den römischen Geschichtsschreiber Justin (3. Jh. n. Chr.), in dessen Epitome der Historiae Philippicae des Pompeius Trogus es vollständig und wörtlich über Hieron von Syrakus heißt: In adloquio blandus, in negotio iustus, in imperio moderatus, prorsus ut nihil ei regium deesse praeter regnum videretur. 28 Indem Machiavelli seine Quelle ungenannt lässt, den Verfasser im Principe gänzlich offen als chi ne scrive paraphrasiert, in der Widmung der Discorsi gar den Plural gli scrittori verwendet, erlangt seine Reflexion einen größeren Allgemeinheitsgrad und geht weit über die von Justin im historischen Rückblick vorgenommene Charakterisierung des Hieron hinaus. Schriftsteller verfügen Machiavelli zufolge über eine seherische Gabe, 29 die jedoch nicht metaphysisch begründet ist, sondern auf ihrer Fähigkeit beruht, Tugenden, die im Privaten und als Gegenspieler in der politischen Theorie Machiavellis vgl. Herfried Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt am Main 2004, insbes. 313–328. 27 Die Angaben in Klammern beziehen sich hier und im Folgenden auf die bereits zitierte Ausgabe Niccolò Machiavelli, Il Principe, eingeleitet von Vittore Branca, komm. v. Tommaso Albarani, Mailand 1994. Die Übersetzung folgt, mit wenigen Änderung von der Verfasserin, derjenigen von Philipp Rippel. 28 Marcus Iunianus Iustinus, Epitoma historiarum philippicarum Pompei Trogi, hg. v. Otto Seel, Leipzig 1935, XXIII, 4, 15. 29 Dass Machiavelli den Gedanken einer göttlichen Sehergabe der Dichter im Sinne seiner politischen Argumentation instrumentalisiert, zeigt sich deutlich im Schlusskapitel des Principe, das den Medici zur Einigung Italiens aufruft. Es endet mit einem Zitat aus Petrarcas Canzone Italia mia (CXXVIII, V. 93–96): Virtù contro a furore / Prenderà l’arme; e fia el combatter corto; / Ché l’antico valore / Nelli italici cor non è ancor morto.

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wirksam und der Öffentlichkeit noch verborgen sind, zu erkennen und in Sprache zur Darstellung zu bringen; ebenso können sie, wie im Falle des Perseus von Makedonien, den Mangel an virtù und das Laster sichtbar machen.

4. Simulatio und Dissimulatio als sprachliche Verfahren in der Politik Die Analyse der Widmungstexte hat gezeigt, dass Machiavelli künstlerische Modelle wie die Perspektive zur Beschreibung politischer Verhältnisse in Anspruch nimmt, und dass er die Einflussmöglichkeiten des Autors im Kontext der Politik reflektiert. Die Macht des Schriftstellers liegt darin, dass er über die geeignete, Erkenntnis fördernde Perspektive und über Sprache verfügt; in der Sprache vermag er ein Bild des Fürsten zu kreieren, das – sei es lobend oder tadelnd – vor dessen eigentliche Handlungen tritt. In der öffentlichen Wahrnehmung steht der vom Autor produzierte Schein vor dem tatsächlichen politischen Sein. Die wechselseitige Durchdringung von Politik und literarischer Autorschaft prägt nicht nur die Paratexte, sondern auch Machiavellis politische Analysen selbst. Sie weisen eine hohe Literarizität auf, die sich beispielsweise in der Allegorisierung der die politische Situation beeinflussenden Kräfte fortuna, ambizione und occasione, 30 in der Inanspruchnahme mythologischer, biblischer und historischer Ausnahmefiguren wie Cyrus, Moses, Theseus und Romulus, 31 des Weiteren in der mit dramatischen Mitteln arbeitenden Dar30 Mit den Capitoli verfasst Machiavelli allegorische Lehrgedichte über Fortuna (Di Fortuna), Ehrgeiz

(Dell’ambizione) und Gelegenheit (Dell’occasione), die jedoch auch in den politischen Schriften als das Weltgeschehen entscheidend beeinflussende Mächte auftreten. Berühmt ist die allegorische Darstellung Fortunas im 25. Kapitel des Principe, das mit folgendem Rat an den Fürsten schließt: Io iudico bene questo, che sia meglio essere impetuoso che respettivo; perché la fortuna è donna, et è necessario, volendola tenere sotto, batterla et urtarla. E si vede che la si lascia più vincere da questi, che da quelli che freddamente procedano. E però sempre, come donna, è amica de’ giovani, perché sono meno respettivi, più feroci e con più audacia la comandano. Zur Metaphorik des Staates als weiblichem Körper vgl. John Freccero, „Medusa and the Madonna of Forlì. Political sexuality in Machiavelli“, in Albert Russel Ascoli/Victoria Kahn (Hgg.), Machiavelli and the discourse of literature, Ithaca/London 1993, 161–178. 31 Im sechsten Kapitel des Principe führt Machiavelli die mythischen, biblischen und historischen Figuren als Beispiele für Staatsgründer an, die im Zusammenspiel von großer virtù und occasione handeln. Im 26. Kapitel, dem Aufruf an den regierenden Medici, sich Italiens zu bemächtigen und es von der Fremdherrschaft zu befreien, nimmt er erneut auf sie Bezug und vergleicht ihre Ausgangslage, die Unterdrückung und Führungslosigkeit ihrer Völker, mit der des florentinischen Fürsten. Dass die über die Literarizität hinausgehende argumentative Funktion dieser Gründerfiguren in einer Analogie zwischen der Staatsgründung und der göttlichen Schöpfung liegt, zeigt Andreas Kablitz, „Der Fürst als Figur der Selbstinszenierung. Machiavellis Principe und der Verfall mittelalterlicher Legitimationen der Macht“, in Jan-Dirk Müller (Hg.), Aufführung und Schrift in Mittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart/Weimar 1996, 530–561.

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stellung von Verschwörungsszenarien 32 sowie in der Verwendung von Exempeln, Maximen und einer komplexen Zitattechnik, mit der auf Aussagen antiker wie zeitgenössischer Dichter verwiesen wird, zeigt. 33 Dass sich der Autor Machiavelli jedoch nicht nur rhetorisch-literarischer Mittel bedient, um seinen politischen Lehren Ausdruck zu verleihen, sondern dass auch seine politischen Analysen die Ergebnisse seiner Reflexion über Sprache und Literatur integrieren, soll im Folgenden an einem Beispiel aus dem Principe nachgewiesen werden. Die Kapitel XV bis XIX des Principe widmen sich den Eigenschaften, die der Fürst nach außen hin zeigen soll, ob er freigebig oder sparsam, grausam oder milde erscheinen, sein Wort halten oder brechen, besser geliebt oder gefürchtet werden soll. Entscheidend ist, dass Machiavelli diese traditionellen Topoi der Fürstenspiegelliteratur auf der Ebene des Scheins und in der Perspektive der öffentlichen Wahrnehmung verhandelt. 34 Bereits zu Beginn, in Kapitel XV, weist er auf die prinzipielle Unterscheidung zwischen Eigenschaften, die ein Fürst tatsächlich besitzt, und solchen, die ihm zugeschrieben werden, hin: Lasciando, adunque, indrieto le cose circa uno principe immaginate, e discorrendo quelle che sono vere, dico che tutti li uomini, quando se ne parla, e massime e’ principi, per essere posti più alti, sono notati di alcune di queste qualità che arrecano loro o biasimo o laude. (Principe 77) ‚Indem ich also die bloßen Vorstellungen über den Fürsten beiseite lasse und nur von seiner Wirklichkeit spreche, stelle ich zunächst fest, dass allen Menschen, wenn auf sie die Rede kommt, und 32 Delle congiure, das längste Kapitel der Discorsi (III, 2), bedient sich einer Reihe literarischer, insbe-

sondere dramatischer Verfahren, um die Mechanismen von Verschwörungen darzustellen, darunter Inszenierungen wie auf der Seite der Verschwörer Schwüre, die den Zusammenhalt der Gruppe stärken sollen, auf der Seite des Herrschers dessen auratische Majestät, die zur Einschüchterung und Aufgabe des Komplotts führen kann. Zum Thema der Verschwörung in den Discorsi und den Istorie fiorentine vgl. Helmut Pfeiffer, „Die Macht der Verschwörung. Diskurs und Inszenierung zwischen Machiavelli und Shakespeare“, in Roland Galle/Rudolf Behrens (Hgg.), Konfigurationen der Macht in der Frühen Neuzeit, Heidelberg 2000, 17–58. 33 Insbesondere Il Principe wird spätestens seit Beginn der 1990er-Jahre verstärkt als ein literarischer Text wahrgenommen; verwiesen sei insbesondere auf den von Albert Russel Ascoli und Victoria Kahn hg. Sammelband Machiavelli and the discourse of literature, Ithaca/London 1993; ferner auf Charles D. Tarlton, „Machiavellis burden. The Prince as a literary text“, in Patricia Vilches/Gerald Seaman (Hgg.), Seeking real truths. Multidisciplinary perspectives on Machiavelli, Leiden/Boston 2007, 43– 67, sowie auf Dirk Hoeges, „Niccolò Machiavelli, Il Principe. Ein Kunstwerk“, in Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 33/3–4 (2009), 435–461. 34 Dirk Hoeges stellt die Bedeutung des Scheins für den zweiten Teil des Principe, in dem Machiavelli eine „Ästhetik der Macht“ entwickele, im Kapitel Die Macht und der Schein seiner gleichnamigen Studie detailliert dar. Hoeges erkennt im principe nuovo eine reine Kunstfigur und behauptet in seinem Aufsatz „Niccolò Machiavelli, Il Principe. Ein Kunstwerk“, 455: „Mit dem Principe in der Hand aber Politik machen zu wollen, gliche einem Chirurgen, der mittels Rembrandts Gemälde Die Anatomie des Dr. Tulp eine Obduktion vornimmt.“ Im Unterschied zu dieser Position will die Verfasserin zeigen, wie die Grundlage literarischer Autorschaft, die Produktion von Schein mittels Sprache, von Machiavelli auf das politische Feld übertragen wird, um so zu Aussagen über Macht und Herrschaft zu gelangen.

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besonders den Fürsten, da sie höher gestellt sind, einige solcher Eigenschaften zugeschrieben werden, die ihnen Tadel oder Lob eintragen.‘

In Abgrenzung von idealistischen Staatskonzepten entwirft Machiavelli nicht das Bild eines idealen Fürsten oder eines utopischen Staates, sondern richtet seine Überlegungen an der historischen Wirklichkeit, der verità effettuale della cosa (Principe 76), aus. Bei den Eigenschaften, die den Menschen, und insbesondere den Fürsten, zugesprochen werden, handelt es sich nicht etwa um eine zu überwindende Ebene defizitären Scheins, vielmehr bildet die Konstruktion von Eigenschaften in Sprache (quando se ne parla) eine Wirklichkeit, die als Grundlage der politischen Theorie fungiert. In den folgenden Kapiteln geht es stets um den Ruf des Fürsten, seine Wirkung nach außen, wie die wiederholte Aufnahme der Verben parere, essere tenuto, essere notato, mantenere il nome belegt. Im 18. Kapitel des Principe erteilt Machiavelli dem Fürsten den auf der Umkehr eines Cicero-Zitats beruhenden Rat – in dessen Bildlichkeit die Literarizität des Textes deutlich wird – ‚sich der Natur des Löwen und des Fuchses zu bemächtigen‘: 35 Sendo adunque uno principe necessitato sapere bene usare la bestia, debbe di quelle pigliare la golpe e il lione; perché il lione non si defende da’ lacci, la golpe non si difende da’ lupi. Bisogna, adunque, essere golpe a conoscere e lacci, e lione a sbigottire e lupi. Coloro che stanno semplicemente in sul lione, non se ne intendano. […] e quello che ha saputo meglio usare la golpe, è meglio capitato. Ma è necessario questa natura saperla bene colorire, et essere gran simulatore e dissimulatore […]. (Principe 88) ‚Da es für einen Fürsten also notwendig ist, von der Natur der Tiere rechten Gebrauch machen zu können, muss er sich unter ihnen den Fuchs und den Löwen auswählen; denn der Löwe ist wehrlos gegen Schlingen und der Fuchs gegen Wölfe. Man muss also ein Fuchs sein, um die Schlingen zu erkennen, und ein Löwe, um die Wölfe zu schrecken. Diejenigen, welche sich einfach auf die Natur 35 In De Officiis kritisiert Cicero unrechtes Handeln durch Gewalt und List als des Menschen grund-

sätzlich unwürdig, wobei die List die Gewalt noch an Schändlichkeit übertreffe: Cum autem duobus modis, id est aut vi aut fraude, fiat iniuria, fraus quasi vulpeculae, vis leonis videtur; utrumque homine alienissimum, sed fraus odio digna maiore. Totius autem iniustitiae nulla capitalior quam eorum, qui tum, cum maxime fallunt, id agunt, ut viri boni esse videantur, Marcus Tullius Cicero, De officiis, hg. v. Karl Atzert, Leipzig 1958, I, 13,41. Im 27. Gesang von Dantes Inferno greift Guido von Montefeltro den Vergleich auf, als er berichtet, wie er zunächst reumütig Franziskaner geworden sei, dann aber, von Papst Bonifaz VIII. zur Sünde zurückgeführt, wie ein Fuchs gehandelt habe und der Ruf seiner Arglist bis ans Ende der Welt gedrungen sei: Mentre ch’io forma fui d’ossa e di polpe / che la madre mi diè, l’opere mie / non furon leonine, ma di volpe. / Li accorgimenti e le coperte vie / io seppi tutte, e sì menai lor arte, / ch’al fine de la terra il suone uscie, in Dante Alighieri, La Divina Commedia. Inferno, komm. v. Anna Maria Chiavacci Leopardi, Mailand 1991, XXVII, V. 73–78. Die Bedeutung des sich verbreitenden Rufes von der Fuchsnatur findet Machiavelli also bereits bei Dante, der suono wird hier jedoch als Zeichen außergewöhnlicher Sündhaftigkeit verurteilt. Ezio Raimondi weist in „The politician and the centaur“, in Albert Russel Ascoli/Victoria Kahn (Hgg.), Machiavelli and the discourse of literature, 145–160, zudem auf zwei das Verhältnis von Löwe und Fuchs thematisierende äsopische Fabeln hin, die 1495 Eingang in Lorenzo Astemios Anthologie Fabulae ex graeco in latinum finden. Die Form der Fabel, in der zwei Antagonisten widerstreitende Prinzipien vertreten, eignet sich in besonderer Weise zur Veranschaulichung von Machiavellis mit Oppositionspaaren arbeitender politischer Theorie.

Literarische Inszenierungen von Macht

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des Löwen festlegen, verstehen hiervon nichts. […] und wer es am besten verstanden hat, von der Fuchsnatur Gebrauch zu machen, hat es am besten getroffen. Aber man muss eine solche Fuchsnatur zu verschleiern und sich der Simulatio und der Dissimulatio zu bedienen wissen.‘

Die Hinterlist, die Cicero in De officiis in ihrer Abscheulichkeit noch stärker tadelt als die Gewalt, muss Machiavelli zufolge im Verborgenen Anwendung finden. Die Technik der Verschleierung bezeichnet er mit dem Verb colorire, ‚einfärben‘, ‚übermalen‘; die Fähigkeiten, über die der Herrscher verfügen sollte, sind die der Simulation und der Dissimulation. 36 Simulare hat dem lateinischen Wortursprung nach zunächst – bevor der Aspekt der Täuschung hinzutritt – die Bedeutung von ‚ähnlich machen, nachbilden, darstellen‘, dissimulare heißt ‚unähnlich, unkenntlich machen, verstecken, verbergen‘, beide Verben bezeichnen in der Grundbedeutung jene mimetischen Verfahren, deren sich die Dichter bedienen. 37 Wie die Dichter soll sich auch Machiavellis Herrscher zur Schaffung seines von der Öffentlichkeit wahrnehmbaren Bildes der Sprache bedienen: Debbe, adunque, avere uno principe gran cura che non li esca mai di bocca una cosa che non sia piena delle soprascritte cinque qualità [essere pietoso, fedele, umano, intero, religioso], e paia, a vederlo e udirlo, tutto pietà, tutto fede, tutto integrità, tutto religione. […] E li uomini, in universali, iudicano più alli occhi che alle mani; perché tocca a vedere a ognuno, a sentire a pochi. (Principe 89–90) ‚Ein Fürst muss also sehr darauf achten, dass nie ein Wort über seine Lippen kommt, das nicht von den vorgenannten fünf Eigenschaften geprägt ist, und dass er, wenn man ihn sieht und hört, ganz von Milde, Treue, Aufrichtigkeit, Menschlichkeit und Frömmigkeit erfüllt scheint. […] Die Menschen urteilen im Allgemeinen mehr nach dem, was sie mit den Augen, als nach dem, was sie mit den Händen wahrnehmen.‘

Machiavellis Rat geht deutlich über eine rhetorische Unterweisung des Fürsten hinaus. Simulatio und Dissimulatio werden zur Erschaffung einer Oberfläche eingesetzt, die in der Substanz – auf die nur eine sehr geringe und daher zu vernachlässigende Menge an Menschen Zugriff hat – keinerlei Entsprechung findet. Sprache und Inszenierung erzeugen jenen Schein, der durch Hören und Sehen wahrgenommen wird und der die entscheidende Wirklichkeits- und Bewertungsebene politischer Handlungen bildet. Die Scheinproduktion wird, erkennbar an dem aufgeführten Tugendkatalog, an jener überkommenen antiken wie christlichen Ethik ausgerichtet, in der Macht durch Tugend legitimiert werden konnte. Im sprachlichen Zeichen gelangen Tugenden zur Darstellung, die weder in der Vernunft als Grundlage antiker Ethiken, noch in der Transzendenz verankert sind. In der Sprache

36 Die Formulierung simulatore e dissimulatore findet sich ebenfalls bei Cicero, der – anders als Machia-

velli – dazu rät, Vortäuschung und Verstellung aus allen Lebensbereichen zu verbannen: […] ex omni vita simulatio dissimulatioque tollenda est, Marcus Tullius Cicero, De officiis, III, 15, 61. 37 Hinweise auf Momente der Wortgeschichte, in denen simulare noch nicht die Konnotation von ‚täuschen‘ hat, sondern die Verdoppelung eines Bildes durch sein Abbild meint, und ein Verfahren der Rhetorik wie der Literatur bezeichnet, verdankt die Verfasserin einem Vortrag zur „Dissimulatio in rhetorischer Tradition“ von Prof. Dr. Alexander Arweiler, gehalten im Kolloquium „Romanistik und Klassische Philologie“, am 5. November 2010 in Münster.

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entfalten die tradierten moralischen Kategorien eine Geltungsmacht, die ihnen substantiell nicht mehr zukommt. 38 Dass ein Verständnis von Politik, in der sprachlich-künstlerische Verfahren zur Kreation von Handlungsebenen eingesetzt werden, nicht auf den Principe und monarchisch organisierte Staaten beschränkt ist, ließe sich – dies sei abschließend zumindest angedeutet – an vielen Textstellen der auf die Republik fokussierten Discorsi nachweisen. In den Blick zu nehmen wären insbesondere jene Kapitel des ersten Buches, die die Religion als eine zum Erhalt des Staates notwendige Erfindung der Politik darstellen und gegen die römische Kirche den Vorwurf erheben, in der dekadenten Entfernung von den Ursprüngen des Christentums die Fiktion durchbrochen zu haben und auf diese Weise zum Niedergang nicht nur der Religion, sondern auch der staatlichen Ordnung beizutragen. 39

38 Andreas Kablitz, „Der Fürst als Figur der Selbstinszenierung. Machiavellis Principe und der Verfall

mittelalterlicher Legitimationen der Macht“, 532, schenkt zwar der Sprache bei der Selbstdarstellung des Fürsten wenig Beachtung, kommt aber hinsichtlich der Bedeutung der tradierten Tugenden ebenfalls zu dem Ergebnis, dass sie in einer Schwundstufe konserviert werden: „Wenn das Tun des Fürsten nach einer Äußerlichkeit verlangt, die auch des Publikums nicht entbehren kann, so ist ein solches Zur-Schau-Stellen paradoxerweise gerade eine Strategie, die darauf abzielt, den Kategorien der überkommenen Ethik der Macht eine Substanz zu garantieren, die sie an sich selbst nicht mehr besitzen.“ 39 Zur Bedeutung der Religion im politischen System Machiavellis siehe die Kapitel 11 bis 15 des ersten Buches der Discorsi.

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Hoeret myne Kinderen Autorisierungsstrategien von prophetischen Autoren in der Radikalen Reformation

1. Einleitung: Prophetie in der radikalen Reformation In den Kirchenakten der Classis von Dordrecht aus dem Jahr 1603 findet sich der folgende Fall von reformierter Kirchenzucht: Ein Kirchenglied sei zum wiederholten Male vom rechten Weg abgekommen und habe sogar schon seine Frau mit demselben Übel infiziert. Man komme bald nicht mehr umhin, beide öffentlich unter Nennung ihrer Namen vom Abendmahl auszuschließen. Die Classis habe deshalb beschlossen, nochmals auf beide zuzugehen und sie zu ermahnen. 1 Auch der Verlauf des Gesprächs wird einige Seiten später in den Akten wiedergegeben. Dieses schien jedoch die schlimmsten Befürchtungen der kirchlichen Vertreter eher zu bestätigen als zu zerstreuen. Man habe die beiden ganz von der reinen Lehre der wahren Kirche Christi entfremdet vorgefunden und äußerst hartnäckig in ihren Meinungen. Sie hätten sogar ‚offen bekundet, die Schriften des Hendrik Niclaes auf eine Stufe zu stellen mit den biblischen Schriften der Propheten und Apostel‘. Man komme daher nicht umhin, sie öffentlich zu exkommunizieren. 2 1 Vgl. Sitzung der Classis von Dordrecht in Barendrecht, 22.–24. Juli 1603, in Classicale Acta 1573–

1620, Bd. 2, hg. v. Johanna Roelevink (Rijks Geschiedkundige Publikatiën 68), ’s-Gravenhage 1991, 88: Dort wird berichtet van een lidtmaet der kercke tot Dordrecht die van niews is afgefallen tot de gruwelen van H. Niclaes ende daertoe oock mede sijne huysvrouw verleyt heeft; man solle naer alle de behoorlicke vermaninghen […] voortvaren, eerst tot openbaer voorstellen van hare personen met opene namen ten naesten avontmale, ende het nachtmale daeraen tot d’excommunicatie selve indien sij de kercke nyte en hooren. 2 Vgl. Sitzung der Classis von Dordrecht, 3. September 1603, in ebd. 95: Man habe mit den beiden van eenige dingen gesprochen. Doch hebben deselve bevonden gansch vervremt van de suyvere leere ende de ware kercke Christi ende dat deselve geheel hartneckich waren. Bevonden oock aen haer dat se de schriften van Henrick N. soo weert hielden als de schriften der propheten ende apostelen, gelijck se opentlick sulcks bekenden. Sal derhalven de kercke van Dordrecht aengaende deselve persoonen mogen volgen de resolutie des classis.

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Besagter Hendrik Niclaes (1500?–1580?) war auch sonst der calvinistischen Hochorthodoxie zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein Dorn im Auge. Der reformierte Prediger Caspar Grevinchoven (1550–1606) ließ es fast zeitgleich in seiner Abhandlung über die monströsen Irrlehren des libertinischen vergotteten Freigeistes Hendrik Niclaes nicht an Deutlichkeit mangeln. 3 Niclaes sei ein Sektierer, der um das Jahr 1540 damit begonnen habe, sich selbst ‚den Vergotteten‘ und seine Sekte ‚das Haus der Liebe‘ zu nennen. Hervorgegangen sei diese Sekte aus dem Umfeld der Münsterschen Unruhen von 1534 und aus den danach folgenden Zersplitterungen der Täufer. 4 Grevinchoven nahm sich somit eine der vielen kleineren Gruppierungen vor, von denen wir heute kaum mehr wissen, als uns die oft harschen Erwiderungen wie diese nahelegen. Entstanden war dieses ‚Haus der Liebe‘ um einen wohlhabenden Tuchhändler namens Niclaes, der als Prophet Gottes auftrat und die geistliche Vervollkommnung des christlichen Glaubens mittels der Liebe predigte. 5 Was hier aufeinanderprallte, waren nicht nur unterschiedliche religiöse Sozialformen, die bereits die Zeitgenossen unterschieden und die man im Anschluss an die darauf aufbauende klassische Religionssoziologie von Max Weber oder etwa von Ernst Troeltsch als den Unterschied zwischen Kirche und Sekte beschreiben könnte. Troeltsch behandelte Niclaes in seinem entsprechenden Kapitel, in dem er Teile dieses Sektenbegriffs auf den Spiritualismus konkretisierte, tatsächlich sogar knapp. 6 Es soll im Folgenden entsprechend weniger um die Fremdbilder und Fremdzuschreibungen der Gruppe gehen, wie wir sie etwa bei Grevinchoven finden. Vielmehr sollen die speziellen Autorisierungsstrategien im Vordergrund stehen, die Niclaes in seinen Texten selbst bietet und mit denen er sein prophetisches Reden zu legitimieren suchte. Stein des Anstoßes in dem erwähnten Streit war ja konkret das prophetische Reden des Hendrik Niclaes, das in einer Konkurrenz zur Verkündigung der etablierten Kirche gesehen wurde. Es ging also nicht nur um unterschiedliche Frömmigkeitsstile, sondern um konkurrierende Formen der Vermittlung transzendenter Inhalte – und somit auch um 3 Caspar Grevinchoven, Ontdeckinghe vande monstreuse dwalingen des libertijnschen vrygheestes

Hendric Nicolaessoon, eerste vader van het Huys der liefden […] tot waerschouwinghe allen eenvoudighen christenen, Rotterdam 1604. 4 Ebd. Aiiij; er schreibe über eenen Sectenaer / met namen Hendric Niclaesz. omtrent den Jare ons Heeren 1540 / die hem selven Den vergodeden, ende sijne Secte / Het Huys der liefden genaehmt ende genaemt te woorden veroorsaect heeft / een Secte na de Munstersche beroerten / ende na de scheuringe ende verdeeltheyt der Wederdooperen / doen maels Obbyten gheheeten / en de na den Sectenaer David Jorisz. eerst opghestaen. 5 Vgl. Alastair Hamilton, The Family of Love, Cambridge 1981; weiterhin grundlegend Heinrich Nippold, „Heinrich Niclaes und das Haus der Liebe. Ein monographischer Versuch aus der SectenGeschichte der Reformationszeit“, in Zeitschrift für historische Theologie 32 (1862), 323–402, 473– 563; Jean Dietz Moss, „Godded with God“. Hendrik Niclaes and his Family of Love (Transactions of the American Philosophical Society 71), Philadelphia 1981. 6 Vgl. Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912, 863– 865, 901–902; Robert E. McLaughlin, „Spiritualismus“, in Theologische Realenzyklopädie 31 (2000), 701–708.

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unterschiedliche Stile der Autorschaft. Schon aus diesem Grunde bieten sich die Schriften von Hendrik Niclaes als Fallbeispiel für diesen Band an. Vereinfacht gesprochen kann man im Umfeld der Reformation ein Spannungsfeld unterschiedlicher Autorschaftskonzepte postulieren, in dem sowohl ein theologisches Räsonieren als auch auf persönliche Erfahrung gestützte Prophetie einen Platz fanden. Der Clou der von Niclaes gepflegten Autorisierungsstrategie eines prophetischen Sprechens bestand dabei offenbar gerade darin, nicht selbst Urheber, sondern als Sprachrohr Gottes eher Garant der exzeptionellen, eben göttlichen Qualität seiner Texte zu sein. Ein solcher Umgang mit der Bibel unterscheidet sich freilich vom Gebrauch der anderen Reformatoren eklatant. Die Reformation hatte bekanntlich die spätmittelalterliche Aufwertung der biblischen Argumentation gegenüber anderen theologischen Erkenntnisorten auf die Spitze getrieben. 7 Fortan sollte nur noch mit der Heiligen Schrift argumentiert werden, kurz sola scriptura. Andere Autoritäten wie rationale Argumentation oder theologische Traditionen hatten sich diesem Diktat zu beugen. 8 Jegliche christlich motivierte Legitimierung hatte sich entsprechend als direkte Auslegung des Gotteswortes zu präsentieren. Auch die Rolle möglicher charismatischer Ausleger der Bibel hatte zurückzutreten – wenn auch im Fall der großen Reformatoren sowohl die Wahrnehmung der Zeitgenossen wie die heutige Rezeptionsgeschichte als Gegenbeweis genommen werden könnte; 2009 wurde etwa das Calvinjahr begangen und wir befinden uns mitten in der großangelegten Lutherdekade. Der Anspruch auf einen strikten Bezug auf die Heilige Schrift konnte im großen Umbruchprozess im Europa des 16. Jahrhunderts aber dennoch zu sehr unterschiedlichen Formen des Bibelgebrauchs führen. Neben der Wittenberger Reformation eines Luther und Melanchthon oder der oberdeutschen Reformation um Zwingli und Calvin fanden sich schnell auch Gruppierungen, die das Konzept der biblischen Legitimierung zu sprengen schienen. Die Täufer überboten etwa die reformatorischen Forderungen: Sie sahen sich nicht nur als legitime Ausleger der Bibel, sondern fühlten sich derart vom Heiligen Geist inspiriert, dass sie über die biblische Erzählung hinaus als Quasi-Propheten das Wort 7 Gegenüber der älteren Forschungsmeinung, mit Luther einen großen Bruch anzusetzen, setzen sich

auch in Deutschland immer mehr die Ansätze durch, die eine gewisse Kontinuität zur spätmittelalterlichen Frömmigkeit und Theologie postulieren; vgl. allgemein dazu Hans J. Hillerbrand, „Was there a Reformation in the Sixteenth Century?“, in Church History 72 (2003), 525–552; zu dieser Umdeutung neben seinen Arbeiten stellvertretend die Festschrift für Heiko A. Oberman: Robert J. Bast/Andrew C. Gow (Hgg.), Continuity and Change. The Harvest of Late-Medieval and Reformation History, Leiden [u.a.] 2000; spezieller für den hier dargestellten Zusammenhang Berndt Hamm/ Volker Leppin (Hgg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther (Spätmittelalter und Reformation 36), Tübingen 2007. 8 Als ein Beispiel für die steigende Relevanz des Schriftbeweises auch schon im Spätmittelalter vgl. Thomas Prügl, „Das Schriftargument zwischen Papstmonarchie und konziliarer Idee. Biblische Argumentationsmodelle im Basler Konziliarismus“, in Andreas Pecar/Kai Trampedach (Hgg.), Die Bibel als politisches Argument. Voraussetzungen und Folgen biblizistischer Herrschaftslegitimation in der Vormoderne (Beihefte zur Historischen Zeitschrift 43), München 2007, 219–241.

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Gottes fortschrieben. 9 Somit ging es bei ihnen im buchstäblichen Sinne des paulinischen Korintherbriefs (1 Kor 12) um eine ‚charismatische‘ Autorschaft. 10 Es ist diese Überbietung des reformatorischen sola scriptura, wegen der man die Täufer und verwandte Gruppen mit George H. Williams zur sogenannten ‚Radikalen Reformation‘ zählt. 11 Die oben genannte Unterscheidung zwischen Sekte und Kirche aufgreifend umreißt Williams mit diesem Terminus alle reformatorischen Sekten, die sich nicht als ‚magistrale Reformation‘ haben etablieren können, also als durch eine Obrigkeit gestützte Kirchen. Er unterstreicht damit, dass die Reformation keineswegs nur eine Auseinandersetzung mit den ‚papistischen‘ Altkirchlichen war, sondern vor allem auch der reformatorischen Gruppierungen untereinander. Das Spannungsfeld, das sich im Umfeld solcher Debatten unter reformatorischen Gruppierungen ergab, soll im Folgenden an zwei Beispielen des ‚Hauses der Liebe‘ weiter entfaltet werden. Dabei soll gefragt werden, wie es hier um Bibelgebrauch und Charisma bestellt ist, anders gesagt, welche konkreten Strategien von den Akteuren verwendet wurden, um sich in ihren Texten Autorität zuzuschreiben. Dabei kommt in erster Linie der Umgang mit der Bibel als Ansatzpunkt in Frage. Um die Besonderheiten radikaler Splittergruppen wie der beschriebenen zu erfassen, interessieren jedoch gerade auch Aspekte der Präsentation von Autorität und Autor-Identität, die sich nicht auf der Ebene intellektueller Argumentation erfassen lassen: Wichtiger Teil der Darstellung von Text und Autor war im Umfeld von Hendrik Niclaes wie bei anderen Gruppen etwa auch das Druckbild sowie die – großenteils kryptonyme – Bezeichnung des Autors in Text und Bild. Neben einer Beschreibung verschiedener Strategien der Autorisierung, die insgesamt unter dem Oberbegriff ‚prophetischen Schreibens‘ gefasst werden können, soll dann knapp nach Traditionen gefragt werden, in die sich solche Konzepte einordnen lassen. Wie die ältere niederländische Forschung mit dem Titel der sogenannten ‚Stiefkinder des Christentums‘ (Lindeboom) andeutete, gehören Gruppen wie die Familisten strukturell

9 Ich gebrauche den Begriff des Täufertums in seiner recht weiten Bedeutung. Zu dem forschungsge-

schichtlichen Ringen um einen konzisen Täuferbegriff, etwa in der älteren amerikanischen Schule um Harold S. Bender, und der diesem Ansinnen widerstreitenden disparaten Quellenlage vgl. jüngst Anselm Schubert/Astrid von Schlachta/Michael Driedger (Hgg.), Grenzen des Täufertums/Boundaries of Anabaptism. Neue Forschungen (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 209), Gütersloh 2009. 10 Vgl. einführend Carl Heinz Ratschow [u.a.], „Charisma“, in Theologische Realenzyklopädie 7 (1981), 681–698. 11 Vgl. das erstmals 1962 erschienene Kompendium von George Huntston Williams, The radical Reformation, Ann Arbor 3 2000, darin speziell zu Niclaes, 723–731. Der Terminus ist von Anfang an nicht unumstritten gewesen, hat sich aber im Gegensatz zu dem Ausdruck ‚linker Flügel der Reformation‘ wie ihn Heinold Fast (Der linke Flügel der Reformation. Glaubenszeugnisse der Täufer, Spiritualisten, Schwärmer und Antitrinitarier, Bremen 1962) zeitgleich zu Williams in Anlehnung an Roland H. Bainton („The Left Wing of the Reformation“, in The Journal of Religion 21 [1941], 124–134) gebrauchte, trotz aller Kritik durchsetzen können.

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betrachtet in eine lange Reihe von Minoritäten und haben ältere Vorbilder. 12 Es stellen sich deshalb zwei Anschlussfragen: Spielt die Minoritätsstellung eine Rolle für die Wahl der Autorschaftskonzepte und Autorisierungsstrategien? Und inwiefern steht ein Autor wie Niclaes damit in älteren literarischen wie theologischen Traditionen?

2. Der Prophet Hendrik Niclaes Vorweg soll zumindest ein knapper Überblick über dieses ‚Haus der Liebe‘ geboten werden, das wie so viele Gruppierungen im 16. Jahrhundert entstand, es jedoch nicht vermochte, lange Zeit über das Leben seines Gründers hinaus zu existieren – sieht man einmal von der beeindruckenden Anzahl an Drucken und Manuskripten ab, die Niclaes und seine Anhänger hervorgebracht haben. Hamilton kann in seinem Werkkatalog von Niclaes’ Schriften allein zweiunddreißig separate Drucke zu dessen Lebzeiten ausmachen, die in der Regel mindestens zwei Auflagen erlebten und sogar in andere Sprachen übersetzt wurden. Hinzu kommen noch einzelne Handschriften, die ebenfalls zu diesem reichen Werk gezählt werden müssen. 13 In diesem weiteren Sinne seiner einflussreichen Schriften wird man Niclaes sogar eine Nachwirkung bei englischen Gruppierungen wie den Quäkern im 17. sowie bei Teilen des kontinentalen Pietismus noch im 18. Jahrhundert attestieren können. 14 Wer also war dieser Niclaes und was das ‚Haus der Liebe‘? Die Begrifflichkeit wechselt je nach Sprache zwischen Familia Charitatis, H˚us(gesinne) der Lieften, Huis der Liefde oder Family of Love. Kurzum ‚Familisten‘ werden entsprechend die Anhänger genannt, die in Verbindung zu Hendrik Niclaes stehen. Über diese Familisten wissen wir wenig – und noch weniger über ihren Gründer. Die meisten Anhaltspunkte müssen der früh einsetzenden Hagiographie der Anhänger entnommen werden, die offensichtlich den allmählich entwickelten Selbstanspruch von Niclaes auf dessen Biographie zurückprojizierten. 15

12 Vgl. Johannes Lindeboom, De stiefkinderen van het Christendom, The Hague 1929, dort zu den

„Mannen van het inwendig woord“, bes. 191–217.

13 Zum Werkkatalog vgl. allgemein Alastair Hamilton, The Family of Love I: Hendrik Niclaes (Biblio-

theca dissidentium 22), Baden-Baden/Bouxwiller 2003.

14 Vgl. Lesley Monfils, „Family and Friends. Hendrik Niclaes’s ‚Low German‘ Writings Printed in

England during the Rise of the Quakers“, in Quaerendo 32 (2002), 257–283; Alastair Hamilton, „From Familism to Pietism. The Fortune of Pieter van der Borcht’s Biblical Illustrations and Hiël’s Commentaries from 1584 to 1717“, in Quaerendo 11 (1981), 271–301; ders., „Hiël in England 1657– 1819“, in Quaerendo 15 (1986), 282–304; Christopher W. Marsh, The Family of Love in English Society. 1550–1630, Cambridge 1994. 15 Diese Handschriften liegen ediert vor in Chronika. Ordo Sacerdotis. Acta HN. Three Texts on the Family of Love, hg. v. Alastair Hamilton (Documenta anabaptistica Neerlandica 6), Leiden [u.a.] 1988.

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Die heutigen Biographen können dem nicht viel hinzufügen: Niclaes wurde wohl um 1500 geboren, wobei teils Münster als vermutlicher Geburtsort genannt wird. 16 Doch wird es bei dieser Nennung meist mehr darum gehen, eine inhaltliche Nähe zu den Münsteraner Täufern zu insinuieren, wie es auch der eingangs zitierte Grevinchoven tat. Dieser geht sogar so weit, diese Abhängigkeit auf den – aus seiner Sicht – Erzhäresiarchen David Joris (1501?–1556) zu präzisieren, einem Zeitgenossen von Niclaes, der großen Einfluss im niederländischen Raum hatte. 17 Ein Vergleich bestätigt diese Nähe und Vorbildfunktion: Joris wie Niclaes waren Geschäftsleute, beide fühlten sich zum Prophetenamt berufen und wussten anscheinend eine Anhängerschaft um sich zu scharen. Inhaltlich teilten beide etwa das Postulat der absoluten Friedensliebe. Sie stammten zudem aus derselben geographischen Gegend – dem Nordwesten des Reichs – und bedienten sich in ihren Schriften einer ähnlichen Literatursprache, die im heutigen deutsch-niederländischen Grenzgebiet verstanden wurde. Tatsächlich imitierte Niclaes sein Vorbild Joris bis in die Gestaltung seines Hauptwerkes: Niclaes’ Spiegel der Gerechtigkeit orientierte sich in Diktion und der reichen Ausstattung an dem Wunderbuch von Joris. 18 Will man Niclaes’ Lebenslauf näher vorstellen, so ist man vorerst auf die Sicht seiner Anhänger verwiesen: Wie es in der späteren Chronika heißt (vgl. unten), will Hendrik Niclaes schon als Kind von Visionen heimgesucht worden sein. Den verängstigten Eltern wagt er aber nichts davon zu berichten. Angesichts des verstörenden Verhaltens des Kindes wusste sich sein Vater nicht anders zu behelfen, als einen Geistlichen einzuschalten. Dieser zeigt sich erstaunt über die enormen Fähigkeiten des Kindes, riet jedoch dazu, dem jungen Hendrik über Jahre nichts anderes als die Bibel und Heiligenviten zu lesen zu geben. So sehr sich diese Darstellung der Chronika in klassische hagiographische Erzähltraditionen stellt und diesen erzähltechnisch gehorcht, mag man an dieses Detail der prägenden Lektüre nur allzu gern glauben. 19 Denn nicht nur die Chronika, auch seine eigenen umfangreichen Schriften lassen diesen Einfluss deutlich erkennen. Sein weiterer Lebensweg wird wie folgt geschildert: Nach einem kurzen Aufenthalt an einer Lateinschule verlegte Niclaes sich auf den Tuchhandel, ging um 1530 nach Amsterdam, heiratete – und führte ein einigermaßen unbescholtenes Leben. Zwar erfuhr er früh vom Auftreten Luthers und kam in Amsterdam in Berührung mit reformatorischen 16 Vgl. etwa Irmgard Simon, „Hendrik Niclaes. Biographische und bibliographische Notizen“, in Nie-

derdeutsches Wort 13 (1973), 63–77.

17 Vgl. dazu oben bei Anm. 4; Vgl. Gary K. Waite, David Joris and Dutch Anabaptism 1524–1543,

Waterloo 1990.

18 Vgl. Paul Valkema Blouw, „Printers to Hendrk Niclaes. Plantin and Augustijn van Hasselt“, in

Quaerendo 14 (1984), 247–272.

19 Vgl. allgemein zur Bedeutung hagiographischer Texte Dieter R. Bauer/Klaus Herbers (Hgg.), Hagio-

graphie im Kontext. Wirkungsweisen und Möglichkeiten historischer Auswertung (Beiträge zur Hagiographie 1), Stuttgart 2000; sowie die nicht nur fürs Mittelalter gültigen Ausführungen bei Peter Strohschneider, „Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel Konrads von Würzburg ‚Alexius‘ “, in Gert Melville/Hans Vorländer (Hgg.), Geltungsgeschichten. Über Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln [u.a.] 2002, 109–147.

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Gruppen. Es wird aber betont, dass er deren Lehre abgelehnt habe. Dennoch musste er anscheinend mit Verfolgung rechnen. Die Erzählung will es, dass er dieser durch eine nächtliche Vision entging, in der er von Gott den Auftrag erhielt, nach Osten in das Land Pietas zu ziehen, um dort das ‚Haus der Liebe‘ zu gründen. Gegen 1540 gelangte Niclaes jedenfalls nach Emden und baute dort (neben seinem prophetischen Wirken) sein Tuchgeschäft aus. In diese Zeit fallen die ersten Schriften, die er zum Teil drucken ließ. Fast zwanzig Jahre lang wohnte Niclaes in Emden, bevor die Anfeindungen auch dort immer größer wurden. Die recht spektakuläre Flucht, bei der er seine Familie zurückließ und in deren Folge seine Frau starb, werden in der Chronika in den schönsten Farben von Heiligenviten gestaltet: Die Häscher treffen ihn zwar noch an, sind aber durch Gottes Hilfe mit Blindheit geschlagen und finden ihn deshalb nicht. Ebenso ist es mit seinen Schriften: Als ein zweites Mal nach ihm gesucht wird, liegen seine Bücher offen auf dem Tisch, doch auch diese finden sie nicht. Sich weiter im Auftrag Gottes wähnend, flieht Niclaes nach Kampen, später nach Rotterdam. Er lebte wohl in seinen letzten Lebensjahren ab 1568 bis etwa 1580 relativ unbeschadet in Köln. Auf die in dieser Lebensbeschreibung enthaltenen Autorstilisierungen wird noch im Detail zurückzukommen sein. Die bislang gebotene grobe Skizze soll zunächst aber ausreichen, um nach den Formen prophetischen Sprechens zu fragen. Welche konkreten Autorisierungsstrategien in den Werken der Familisten auffallen, soll an zwei Hauptbeispielen verdeutlicht werden. Zum einen im unmittelbar folgenden Abschnitt in dem gedruckten Werk HNs Ermahnungen an seine Kinder, zum anderen ab dem vierten Unterkapitel an der erwähnten sogenannten Chronika des H˚usgesinne der Lieften, die nur als Handschrift überliefert ist und aus dem Umfeld seiner Anhänger stammt.

3. Höret, meine Kinder: Sprachduktus und Sprechermarkierung Schaut man nur oberflächlich auf die Anderde Vormaninge HN. to syne Kinderen unde H˚usgesinne der Lieften, also Niclaes’ zweitem 20 Sendschreiben, das 1565 in Kampen gedruckt erschien, so fällt kaum ein Unterschied zu anderen reformatorischen Schriften des 16. Jahrhunderts auf. Der Text mit einem Umfang um 300 Seiten ist gesäumt von zahlreichen Bibelverweisen, die der Druckerkonvention der Zeit folgend als solche in der Marge ausgezeichnet werden. Schon dem bloßen Betrachter stehen sie somit deutlich vor Augen. 21 Auch Sendschreiben dürfen als nicht untypische reformatorische Textgattung

20 Vgl. Alastair Hamilton, The Family of Love I: Hendrik Niclaes, 27f., 155–159, zu weiteren Send-

schreiben und vor allem zu der 1561 wohl in Kampen erschienenen Exhortatio. De Eerste Vormaninge HN. 21 Vgl. ebd. 170–177; Abbildungen des Titelblattes ebd. 173.

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gelten. 22 Das Titelblatt bietet zudem – auch hier in deutlicher Entsprechung der erwartbaren Form – neben dem Titel eine kurze Inhaltsangabe des Textes und zwei Bibelverse, die quasi als Motto über dem Text stehen. Bereits die knappe Inhaltangabe auf dem Titelblatt und erst recht eine eingehende Analyse des Gesamttextes würden freilich schnell offenlegen, dass Niclaes in dem Text seine Sicht auf die Sakramentenlehre der Altkirchlichen vorstellt und sich scharf von den Meinungen der Reformation abhebt. Was im Folgenden jedoch näher interessieren soll, ist der genaue Gebrauch und die Funktion der benutzen Bibelstellen, die eine betonte Differenz zur magistralen Reformation aufbaut. Aufschlussreich im Bezug auf die Autorschaftkonstruktion sind schon allein die zwei Bibelzitate auf dem Titelblatt: ‚Höret, meine Kinder, die Unterweisung eures Vaters und achtet darauf, auf dass ihr lernt und klug werdet: denn ich gebe Euch eine gute Lehre. Verlasst nicht mein Gesetz oder Ordnung.‘ (Sprüche Salomos 4,1–2) sowie ‚Ich will dich unterweisen und dir den Weg lehren, den du gehen sollst. Ich will dich mit meinen Augen leiten.‘ (Ps 32,8). Auffällig ist die Parallele zwischen dem Titel Niclaes’ Ermahnung an seine Kinder und dem biblischen Vers ‚Hört, meine Kinder‘, in dem der biblische König Salomo spricht. Nur die genaue Formulierung – einmal in der dritten, das zweite Mal in der ersten Person – trennt die beiden Ebenen. Hier deutet sich bereits eine Nähe zwischen Niclaes und dem biblischen Sprecher an. Sie verstärkt sich in den ersten Sätzen des Traktats noch. Dort spricht der Autor wieder ‚die Kinder‘ direkt an: ‚O all ihr meine lieben Kinder und Anhänger des Hauses der Liebe: Hört wohl auf meine Rede der gottseligen Weisheit. [Spr 1.4.5] Und achtet sehr ernsthaft auf meine Lehre des heiligen Verständnisses. Bewahrt meine Ermahnungen und Unterweisungen und stellt sie zum ewigen Gedenken in eure Herzen. [Spr 3.4.7] Liebet sie mehr als alles Gold und Silber und mehr als alle Schätze und Schönheiten dieser Welt. [Spr 8.16] Denn wer sie beherzigt [Spr 2.4], wird ein ruhiges, friedsames Herz erlangen, auch viel Ehre und Reichtümer [Spr 8.9] und dazu ein langes Leben, das zu seinem vollkommenen Alter, bis zum ewigen Leben [Sir 37] führt. Das ist wahr.‘ 23

Niclaes lässt schon in diesem kurzen Abschnitt druckgraphisch erkennen, dass es sich hier größtenteils um biblische Anspielungen handele, indem er in der Marge seine Referenzen ausweist. Bei genauerer Betrachtung lassen sich diese jedoch nicht genau zuordnen. Wie sich zeigt, zitiert Niclaes hier nicht etwa wörtlich, so dass sich die Bibelstellen eindeu22 Es sei hier nur etwa an Luther und sein Sendschreiben an die Christen in Antwerpen aus dem Jahr

1525 erinnert, vgl. WA 18 (1908), 541–550.

23 D’anderde Vormaninge HN. to syne Kinderen unde H˚usgesinne der Lieften, 2: O gy alle myne lieve

Kinderen unde H˚usgesinne der Lieften, Hoeret wal tho [Prou.1.4.5] na myne Reden der godt-saligher Wysheit: unde mercket wal ernstichlick up myne Leringe der hilliger Vorstandenissen. 2. Bewaret wal myne Vormaninge unde Underwisingen [Prou.3.4.7]: unde stellet desulve tor ewiger gedechtenisse in iuwe herten. 3. Lievet oick desulue bouen alle goldt unde sueluer [Prou.8.16] / unde bouen alle Schatten unde Schoenheiten desser Werlt. 4. Went desulue, so gy se tor herten nemen [Prou.2.4], soelen juw thobringen ein gerustich vredsam Herte, oick vele eeren unde ryckedommen [Prou.8.9] / unde dartho ein langk leuen, dat to syne vollenkomene Oldtheit beth tho in dem ewigen Leuen [Eccl.37] vorreicket. Idt is waraftich.

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tig bestimmten Worten seines Textes zuweisen ließen. Er belässt es vielmehr bei recht vagen Verweisen. Da sich die Verszählung der Bibel erst im Verlauf des 16. Jahrhunderts durchsetzte, handelt Niclaes durchaus im Rahmen des Erwartbaren, wenn er nur Kapitelangaben macht. 24 Diese sind in der Regel aber sogar geradezu Bezugs-Cluster, da Niclaes gleichzeitig auf mehrere Bibelkapitel verweist. Es handelt sich hier also eher um biblische Assoziationsfelder, die eröffnet werden. Es mag ausreichen, das an einem Beispiel vorzuführen. Im zweiten Verweis werden die Kapitel 3, 4 und 7 aus dem biblischen Buch der Sprichwörter angegeben. Es soll sich dabei wohl konkret um folgende Bibelverse handeln: Spr 3,1: ‚Mein Sohn, vergiss meine Lehre nicht, bewahre meine Gebote in deinem Herzen!‘ Spr 4,4: ‚da lehrte er mich und sagte zu mir: Nimm dir meine Worte zu Herzen, folge meinen Geboten und du wirst leben.‘ Spr 7,1–3: ‚Mein Sohn, achte auf meine Worte, meine Gebote verwahre bei dir! Achte auf meine Gebote, damit du am Leben bleibst, hüte meine Lehre wie deinen Augapfel! Binde sie dir an die Finger, schreib sie auf die Tafel deines Herzens!‘

Im Gegensatz zu solchen eher gleichgerichteten Parallelnennungen enthalten andere Verweis-Cluster aber auch ganze Assoziationsketten. So etwa bei den beiden letzten Angaben von Prou.8.9 und Eccl.37. In Spr 8,18 (‚Reichtum und Ehre sind bei mir‘) wird bereits das Wort ‚Ehre‘ angesprochen, das durch Jesus Sirach 37 wiederaufgenommen und weitergeführt wird als: ‚Wer weise ist […], erlangt Ehre, sein Ruhm wird dauernd weiterleben.‘ (Sir 37,26). Das angesprochene Thema des langen Lebens ist wiederum verzahnt mit dem, was bereits in Spr 9,11 (‚Denn durch mich werden deine Tage zahlreich, nehmen die Jahre deines Lebens zu.‘) angeklungen ist. Man wird allerdings nur darüber spekulieren können, was hier auf direkter Bibellektüre und was auf älteren Zitationstraditionen beruht. 25 Festzuhalten bleibt jedoch, dass in diesen wenigen Sätzen an fünf Stellen und somit überwiegend auf das Buch der Sprichwörter (Proverbia) und einmal auf Jesus Sirach (Ecclesiasticus) verwiesen wird. Es ist wohl kein Zufall, dass stark auf diese sogenannten weisheitlichen Bücher der Bibel rekurriert wird, die sich aufgrund ihres starken appellativen Charakters und ihrer dialogischen Erzählstruktur besonders anbieten. 26 Die hier so häufig zitierten Eingangskapitel der Sprichwörter 24 Auf dem Titelblatt, wo es sich um direkte Zitate handelt, gibt er hingegen mit Prou.4.a und Psal.32.a

zumindest die Abschnittszählung wieder, die eine Vorform der Verszählung war und sowohl in lateinischen wie in volksprachlichen Bibeln seiner Zeit zu finden ist. 25 Bislang liegen diesbezüglich noch nicht genügend Forschungen vor; zur Rezeption etwa von Esra vgl. Alastair Hamilton, „The Apocryphal Apocalypse. 2 Ezra and the Anabaptist Movement“, in Nederlands archief voor kerkgeschiedenis 68 (1988), 1–16; ders., The Apocryphal Apocalypse. The Reception of the Second Book of Esdra (4 Ezra) from the Renaissance to the Enlightenment, Oxford 1999; sowie als Fallbeispiel für unterschiedliche Ezechiellektüren Piet Visser, „In the Sign of Thau. The Bible and the Dutch Radical Reformation“, in Mathijs Lamberigts/Aurelius A. den Hollander (Hgg.), Lay Bibles in Europe 1400–1800 (Biblioteca Ephemeridarum Theologarum Lovaniensium 198), Leuven [u.a.] 2006, 97–118. 26 Vgl. einführend auch zur literarischen Gestalt der Weisheitsliteratur Erich Zenger, Einleitung in das Alte Testament (Studienbücher Theologie 1/1), Stuttgart 7 2008, 329–334.

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umspielen zudem auch schon im biblischen Original ähnlich meandernd und redundant dasselbe didaktische Ziel, dass nämlich auf das Gesagte gehört würde. Im Vergleich mit anderen reformatorischen Texten des 16. Jahrhunderts wird man allerdings festhalten müssen, dass es sich hier kaum um Bibelzitate oder Bibelverweise handelt, die dann ausgelegt würden. Im Fall von Niclaes’ Anderde Vormaninge wird letztlich nicht biblisch argumentiert – und genaugenommen noch nicht einmal biblizistisch legitimiert. Vielmehr wird man hier von einer Brikolage aus Bibelversen sprechen müssen, in der biblisches und sonstiges, eben auktoriales Sprechen des Verfassers Niclaes verschwimmen. Hätte Niclaes auf die ausgewiesenen Bibelstellen in der Marge verzichtet, hätte man die Anklänge an biblische Passagen womöglich übersehen und diese Passage als einfache direkte Anrede des Verfassers an seine Leser deuten können – weder haben die zitierten Stellen im engeren Sinne beweisende Funktion für Gesagtes, noch werden sie ausgelegt. Die explizite Ausweisung der biblischen Bezüge unterstreicht aber eine dennoch grundsätzlich legitimierende Funktion dieser Sätze, die dem Leser nochmals die hohe Relevanz der folgenden Ausführungen von Niclaes bzw. HN augenscheinlich anzeigen. Hier findet eine Autorisierung allein auf der Ebene der Form statt und weist den Verfasser als religiösen Experten aus. 27 Zwei Aspekte unterstreichen dabei die Rolle eines Sprechers bzw. Autors, der die biblische Tradition mehr oder weniger direkt fortzusetzen beansprucht. Zum einen umspielt der Autor in mehreren Sätzen die Aussage, die am Ende fast aller Schriften von Niclaes steht: Nemet idt tor Herten, die Aufforderung also, alles Gesagte zu beherzigen, die wir auch am Ende der Anderde Vormaninge nochmals finden. In diesem Imperativ steckt sozusagen in Kurzform die indirekte Eigenthematisierung des Verfassers und seiner Funktion als Übermittler wichtiger Weisheiten. Zum anderen nimmt er in diesen wenigen Anfangssätzen aber auch den ersten Bibelvers des Titelblattes (Spr 4,1–2) wieder auf. Diese Rahmung des Textes zu Anfang und Ende konkretisiert das biblische Sprecher-Ich noch eindeutiger auf den Autor selbst. Man mag deshalb bereits auf dieser Ebene ein kurzes Zwischenfazit wagen. Allein der Titel als Ermahnungsschreiben suggeriert eine quasi paulinische Tradition, wie wir sie freilich auch bei anderen Reformatoren finden. 28 Die biblisch anmutende Sprache sowie die explizite Ausweisung der Bibelstellen in der Marge generieren zudem eine besondere Autorität. Sie bewegt sich aber nur oberflächlich betrachtet in den Bahnen des eingangs genannten sola scriptura – genau besehen, überbietet sie dieses vielmehr. Durch diese Strategie entsteht eine geradezu paradoxe Distanzierung von Verfasser und Text: Nicht der 27 Vgl. dazu die theoretischen Erwägungen und Fallbeispiele in Wulf Oesterreicher/Gerhard Regn/Win-

fried Schulze (Hgg.), Autorität der Form – Autorisierung – Institutionelle Autorität (Pluralisierung & Autorität 1), Münster 2003. 28 Ich verweise nochmals auf Luther und sein Sendschreiben an die Christen in Antwerpen aus dem Jahr 1525. Interessanterweise schreibt hier Luther – trotz der formalen Nähe – gerade gegen die Radikalen an.

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einfache Mensch Niclaes schreibt hier etwas, sondern das Geschriebene hat eine höhere Dignität, die dem einfachen Kaufmann Niclaes normalerweise nicht zustehen würde. Im Bezug auf die Autorisierungsstrategien bewegen wir uns also nicht nur auf der Ebene einer reinen ‚Autorität der Form‘. Immer deutlicher präsentiert sich Niclaes vielmehr in den Bahnen einer ‚existentiellen Autorschaft‘, wie sie Christel Meier für Autoren des 12. Jahrhunderts beschrieben hat. Nach diesem Autorschaftmodell konstruierten Autoren ihre Autorität nicht von einer gelehrten Expertise her, sondern aus einer exzeptionellen persönlichen religiösen Erfahrung heraus, die sie zur Prophetie befähige, ja geradezu nötige. 29 Von besonderer Bedeutung sind für eine solche existentielle Autorisierung die autobiographische Schilderung des Lebensweges und die Beschreibung von Visionen. Auffälligerweise fehlt dies in D’anderde Vormaninge. Ein prophetisches Amt wird an keiner Stelle von Niclaes eigens erwähnt. Man könnte vermuten, dass dies schon am Veröffentlichungszeitpunkt liegen könnte, weil es sich bereits um die ‚andere‘, zweite Ermahnung von HN an seine Kinder handelt, während die ersten Drucke seiner Publikationen bereits mehr als ein Jahrzehnt zurücklagen. 30 Doch vermutlich spielt auch die Veröffentlichungsart eine Rolle: Grundsätzlich finden wir in den gedruckten Werken weniger explizite Ausführungen als in den Texten, die wir nur als Handschriften überliefert haben und die entsprechend wohl nur einem engeren Kreis der Eingeweihten zugänglich waren. Diese Handschriften lassen vermuten, dass Niclaes auch bei den Lesern seiner Druckschriften die Kenntnis von seiner Berufung zum Propheten und seinen Visionen voraussetzen konnte. Vor allem zwei hagiographische Texte sind zu nennen, die bereits erwähnte Chronika und die sogenannten Acta HN, in denen der exzeptionelle Lebensweg von Niclaes und seiner Gruppierung nachzeichnet werden. 31 Auch in diesem Fall fungierten diese Gründerviten anscheinend als ‚stabilisierende Gedächtnisspeicher‘, wie es jüngst für Heiligenviten des 12. Jahrhunderts beschrieben wurde. 32 Diese Texte müssen deshalb wohl als Paratexte zu den Druckwerken von HN mitgedacht werden, ähnlich wie drei Holzschnitte, die einer seiner weiteren Druckschriften beigefügt sind. In den Holzschnitten wird jeweils eine männliche Figur ins Bild gesetzt, die in Bildaufbau und Gestik hervorgehoben ist. Das Bild zeigt damit wohl Niclaes im Kreise seiner

29 Vgl. dazu die grundsätzlichen Ausführungen anhand von Hildegard von Bingen und Rupert von

Deutz bei Christel Meier, „Autorschaft im 12. Jahrhundert. Persönliche Identität und Rollenkonstrukt“, in Peter von Moos (Hg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft (Norm und Struktur 23), Köln 2004, 207–266. 30 Vgl. Alastair Hamilton, The Family of Love I: Hendrik Niclaes, 26–29. 31 Beide Texte sind von Alastair Hamilton ediert, vgl. oben Anm. 15; im Folgenden aus dieser Ausgabe zitiert als Chronika und Acta HN. 32 Vgl. Cristina Andenna, „Heiligenviten als stabilisierende Gedächtnisspeicher in Zeiten religiösen Wandels“, in Peter Strohschneider (Hg.), Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin/New York 2009, 526–573, bes. 534–536.

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Anhänger und weist ihn gleichzeitig als den Patriarchen dieser Gruppierung aus. 33 Die anderen Dargestellten (zumeist Kinder) hören auf seine Worte, er lehrt sie Liebe und Wahrheit – oder wie es in Ps 32 heißt, der als zweites Bibelzitat über D’anderde Vormaninge steht: ‚Ich unterweise dich und zeige dir den Weg, den du gehen sollst. Ich will dir raten; über dir wacht mein Auge.‘ Niclaes schrieb sich also sowohl im Text wie im Bild durch den häufigen Bezug auf die Sprüche Salomos in die Tradition des von Gott geliebten Königs Salomo ein. Auch die Grenze zu dem ‚ich‘ des Psalmverses (der hier nicht dem Psalmisten sondern Gott selbst gilt) wird verunklärt bis überschritten. Es spricht der vergottete Mensch HN.

4. HN: Kryptonym und Verfasserstilisierung Um das Kryptonym HN, mit dem sich der Verfasser bereits auf dem Titelblatt zu erkennen gibt, verbindet sich ein ganzes Konglomerat von Autorisierungsstrategien. Die Veröffentlichung unter einem derartigen Kürzel ist nicht per se untypisch für einen Druck des 16. Jahrhunderts, und man mag diese Geste vor dem geschilderten Hintergrund schnell als schlichte Vorsichtsmaßnahme werten, die den realen Autor Hendrik Niclaes vor Verfolgung schützen sollte. Niclaes gebrauchte diese Initialen HN jedoch nicht nur hier, sondern in allen seinen Drucken. Selbst in den ausschließlich als Manuskript erhaltenen hagiographischen Schriften der Familisten wird diese Bezeichnung gewählt. In diesen Schriften, die auch Berufungsszene und Visionen ausführlich schildern, erweist sich das Kryptonym tatsächlich als zentraler Bezugspunkt der Niclaes nunmehr von außen zugeschriebenen Autorisierung. Denn die Stilisierung einer Autor-Identität durch göttliche Erwählung und Annahme der Berufung wird gerade in Bezug auf diesen Namen geschildert. Weitere Deutungen des Kürzels HN spielen sämtlich auf Niclaes’ göttlichen Auftrag und seine Mittlerstelle an. Bereits in der Geburtsszene, die auffällige Parallelen zur lukanischen Weihnachtsgeschichte aufweist, wird das Kürzel eingeführt und eine erste Deutung geboten: ‚Und also war zu der Zeit, am 16. Tag nach Weihnachten (da Maximilian I. aus der Macht der Kurfürsten des römischen Reichs und der deutschen Nation Kaiser von Rom war) dem genannten Nicolaus [gemeint ist sein Vater] von seiner Ehefrau ein Sohn geboren, und ward bei seiner Taufe Henricus genannt. Da der Vater Nicolaus sich aber über das Kind sehr freute, dankte er Gott im Himmel wegen seiner Gnade und sprach: Der Herr hat Barmherzigkeit an mir geübt und mir eine Heilige Natur auf Erden gegeben – und nannte ihn HN.‘ 34 33 Diese Abbildungen befinden sich in einem Werk von Niclaes, das gern als sein Katechismus bezeichnet

wird, De Wet, offte de vornömpste Geboden Godes [Kampen, Augustijn van Hasselt, c. 1561]; das verändert später 1573 und 1575 als Institutio Puerorum erschienen ist; die Abbildungen auch bei Alastair Hamilton, The Family of Love I: Hendrik Niclaes, 125. 34 Chronika, 9: Unde also tom ordentlicken tyde, am sestienden Dage nae den Feestdach der Geboerte Iesu Christi (in tyde dho Maximilianus de eerste, uth de macht der K˚ur-forsten des Romschen Ryckes unde der dudischer Nation, Keiser van Romen was) is dem gemelten Nicolai, van synem Eewyf einen

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Dem Kürzel HN werden hier also nicht nur die Initialen des Henricus, Sohn von Nicolaus zugeordnet. Mit Hillige Nature wird auf seine besondere, übermenschliche Natur abgehoben, die durch seine Geburt um Weihnachten fast schon Züge einer Wiederkunft Christi annimmt. Etwas unklar bleibt im Text, wer die Benennung als HN ausspricht – Niclaes’ Vater oder aber Gott selbst. Doch das stützt die Aufwertung durch mirakulöse Geburt nur weiter. Eine weitere Deutung verknüpft sich mit einem einschneidenden Erlebnis. Erst mit dreißig Jahren, so erzählt es die Chronika, hatte Niclaes nach langem Ringen seine Berufung angenommen. Erst nach diesem entscheidenden Moment empfing er dann eine Reihe von Visionen. In der dritten dieser als ‚Offenbarung‘ bezeichneten Visionen wird sein Status als christusgleiche Wesenseinheit mit Gott in Szene gesetzt. Es schließt sich eine weitere Deutung der zwei Buchstaben HN an: ‚Von der Zeit der dritten Offenbarung an sprach der Herr fortan mit HN wie von Angesicht zu Angesicht: Denn Gott der Herr war ganz und gar in ihm. […] 3. Und das Wort des Herrn erging an HN und sprach: dieses machtvolle Wesen, mit dem du ganz und gar eines Wesens bist, ist meine große Prophetie, Helie Nazarenus, die ich versprochen habe, auf die Erde zu senden: Denn durch diese meine Prophetie, die ich in deinem Herzen, Geist und Sinn festsetze, sollst du den Dienst meines gnadenreichen Wortes und heiligen Geistes der Liebe auf der Erde verbreiten.‘

HN, so heißt es dort weiter, und seine Prophetie solle den Menschen als göttliche Mahnung vor dem Jüngsten Gericht dienen, auf dass sie nicht alle verloren gehen. 35 Mit dieser Stelle der Chronika wird das Sprechen ihres Protagonisten HN entscheidend qualifiziert. Seine Worte werden ganz direkt und unmissverständlich als prophetisch ausgewiesen, und gleichzeitig die Notwendigkeit zu dessen Verbreitung unterstrichen. Das hat zudem legitimierende Funktion über die Chronika hinaus für das Verständnis des Autors Niclaes in dessen eigenen Werken. HN ist der neue Prophet, der bereits in seinem Namen Alten (Elija) und Neuen (Nazarenus) Bund miteinander verbindet. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch der besondere Umgang mit der Bibel bei Niclaes: Soene getelet, unde wart, in syner Doepe, genoemet, Henricus. 3. Overst de Vader, Nicolaus, sick mit dem Kinde seer vorfrouwende, unde dem Godt vam Hemmel, syner Genade danckende, sede He: De Here heft Barmherticheit an my geovet, unde My eine Hillige Nature, up de Erden gegeben, unde noemende em, HN. 35 Chronika, 41: Van dessem tyde der drudder Openbaringe des Heren, begonste de Here mit HN. seer wunderlick tho wercken: unde de Here redede vorth-an mit HN. nicht anders denn van Angesichte to Angesichte: Went Godt de Here was gantzelijck mit Em. […] 3. Unde des Heren Wordt geschach to HN. unde sede: dit groitmachtige Wesen daerstu HN. gantz unde gar, mede einwesich zyst, is mijne grote Prophetie, Helie Nazarenus, die ick up der Erden thoe-tho-komen belovet hebbe: went dorch desulve myne grote Prophetie die ick in dynem Herte, Geiste unde Gemoete vast sette, salstu de Bedeninge mynes genadigen Wordes unde hilligen Geistes der Lieften, allenthalven up der Erden verbreyden, unde desulve Bedeninge sal oick van nu-ann voer mynem groten unde erschickelicken Dage des Gerichtes hergaen, um der Minschne Kinderen myn rechtfertick Gerichte kundich-thomaken, up der Erden, up dath ick de Erde unde die daer up woenen, nicht gantz unde gar en slae mit dem Banne.

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Es sind Worte HN, der Hillige Nature und des Helie Nazarenus, letztlich die Worte Gottes, vermittelt durch die Schriften des Alten und Neuen Testaments. Man mag deshalb verstehen, weshalb ein Leser wie das eingangs erwähnte Kirchenglied aus Dordrecht, Schriften von Niclaes auf eine Ebene mit den Propheten des Alten Bundes und den Briefen der Apostel stellen konnte.

5. Der Epigone Daniel Nazarenus Wo wir allzu oft nicht mehr nachvollziehen können, wie sich das Vorbild eines derartigen selbsternannten Propheten auf seine unmittelbare Umgebung auswirkte, ist im Falle der Familisten aber noch ein interessanter nächster Schritt möglich: Wir können den Autorisierungsstrategien des Verfassers der hagiographischen Chronika nachgehen, der sich zumindest knapp zu erkennen gibt und dabei selbst weitere Aspekte prophetischen Schreibens liefert. Wie man schon auf dem Titelblatt deutlich sichtbar hervorgehoben sehen kann, 36 nennt dieser sich selbst Daniel. Er stellt sich als Ältester im Haus der Liebe und Anhänger von HN vor. Seine Autorität – und somit mittelbar auch die seines Textes – speist sich somit einerseits aus einer Zeugenschaft, stellt andererseits aber gewissermaßen auch das Ereignis mit her: Die Chronika gibt uns über die Autorität HNs Aufschluss – doch gleichzeitig garantiert die von deren Verfasser postulierte Nähe zu HN erst die Qualität der dort gemacht Aussagen. Es bleibt also zu beachten, dass die Autorität des Autors Daniel und diejenige HNs sich stützen und als eng verzahnt gesehen werden müssen. 37 Wer dieser Daniel war, ist in der Forschung recht umstritten. Obwohl eine eindeutige Identifizierung nicht möglich ist, wurde beispielsweise der leibliche Bruder des Hendrik Niclaes hinter dem Pseudonym vermutet. Wie wir wissen, ging dieser mit nach Emden und war dort als Bierbrauer erfolgreich. 38 Der Text selbst führt seinen Verfasser Daniel nur als einen Getreuen ein, der seit der Emder Zeit, also seit den Anfängen der Gruppierung, zum engsten Kreis um Niclaes gehörte. Die parallele Erzählung in den Acta HN weist ihn als einen der drei von Gott bestellten Helfer – Daniel, Elidad und Tobias – aus, die bereits Niclaes von Amsterdam nach Emden begleitet haben sollen. 39 Darüber hinaus wird er später unter die 24 Ältesten der Gruppierung gezählt, die zudem alle neben ihrem alttestamentlichen Namen den Zusatz Nazarenus tragen sollen. 40 Nicht nur Niclaes, auch seine direkten Anhänger schreiben sich also bereits mit ihren vielsagenden Namen in eine biblische, um nicht zu sagen prophetische Tradition ein.

36 Abbildungen dieses Titelblatts bei Alastair Hamilton, Chronika – Ordo Sacerdotis – Acta HN, xxiv. 37 In ähnlicher Weise finden wir das auch in den Acta HN, 300. Dort ist es ein Zacharias Nazarenus, der

sich in ganz ähnlicher Weise einführt.

38 Vgl. Paul Valkema Blouw, „Printers to Hendrik Niclaes“, 248. 39 Vgl. Acta HN, 316. 40 Vgl. Chronika, 81, parallel in den Acta HN ausführlich zu Daniel Nazarenus, ebd. 350.

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Die Autorisierungsstrategien, die Daniel Nazarenus als Autor verfolgt, gehen über bloße Benennungen jedoch weit hinaus. In der Chronika des Daniel findet man exakt die Erzählmuster, die wir schon in Hendrik Niclaes’ eigener D’anderde Vormaninge gesehen haben. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der Druckschrift gegenüber die biblischen Verweise weitgehend fehlen: ‚Also will ich, Daniel, jetzt im Licht der Wahrheit die aufrechte Gerechtigkeit Gottes beweisen und offenlegen, und dass HN […] ein wirkliches Instrument Gottes […] ist. […] Deshalb hört und wacht auf, o ihr Menschenkinder.‘ 41

Während hier also stützende Bibelbezüge fehlen, geht Daniel direkt zu Beginn der Chronika auf seine Identität näher ein. Dabei gibt er sich nicht nur als Jünger des HN zu erkennen. Unter Bezugnahme auf das Alte Testament gibt er auch weitere Hinweise auf seinen Namen, die nun eine recht markante Strategie der Selbstautorisierung verfolgen – Daniel gibt sich nun auch selbst als prophetische Gestalt zu erkennen: ‚Dies ist die Chronik der Familie der Liebe, die Daniel, ein Ältester in der Familie der Liebe, herausgebracht und worin er die Wahrheit über die Geschehnisse an HN und der Familie der Liebe bezeugt hat. 2. Ich, Daniel, bin in diesen Tagen des ewigwährenden Reiches des Friedens und der Liebe, in meinem Teil oder Amt aufgestanden und als Ältester und Zeuge der Wahrheit mit HN auf der Erde erschienen, um nun zur letzten Zeit (d.h. der letzten Zeit des Reichs von Babel, das teils von Eisen teils von Lehm ist) das Gericht der Wahrheit zu bezeugen und den Liebhabern der Wahrheit ans Licht zu bringen und offenbar zu machen, so wie ich es in früherer Zeit (nämlich in den Tagen Nebukadnezzars und also zu Beginn des Reichs von Babel) getan habe und die Wahrheit und all das, was verborgen und unbekannt war, als Licht gebracht habe.‘ 42

Der als Verfasser explizit seine Autorität erläuternde Daniel greift also wiederum zur Bibel – allerdings in einer Form, die weit von der oben angesprochenen Brikolage abweicht. Er beruft sich auf das Buch Daniel und dessen Traumdeutungsszene (Dan 2), in welcher der biblische Daniel dem Herrscher Nebukadnezzar anhand des Traumbildes die Vergänglichkeit der Weltreiche erklärt. In diesem Traum erläutert Daniel die Abfolge der Weltreiche bekanntlich durch das Bild der Statue, deren Füße teils aus Eisen und teils 41 Vgl. Chronika, 4: 4. Also oeverst, wil ick Daniel, itzundes in dem Lichte der Waerheit, bewysen

unde openbaer bringen, de uprechte Gerechtigkeit unde Wercken Godes, unde wo dath HN. […] ein wercklick Instrument Godes […] is […]. 5. Derhalven so horet, unde waket-up, O gy Kinderen der Minschen. 42 Chronika, 3: Dit is de Chronika des H˚us-gesinnes der Lieften, die Daniël, ein medeolder in dem H˚us-gesinne der Lieften, am-dach gegeven unde daer-inne he de Waerheit, van de Wedderfaringe HN. unde des H˚us-gesinnes der Lieften, betuget heft. 2. Nadem ick Daniel, itzundes in dessem Dage des ewich-blivende Ryck des Fredes unde der Lieften, in mynem Dele edder Ampte upgestaen, unde to ein Mede-older unde Mede-getuge der Waerheit, mit HN, up der Erden erschenen bin, um nu tor Lester-tydt (noemplick, am lester tyde des Rycks Babel, dat eindeels Yseren unde einsdeels Lehmen is) idt Gerichte der Waerheit to betuegen, unde voer den Liefhebberen der Waerheit, int-licht tho-bringen edder am-dach-tho-geven, gelyck alse ick oick in dem Vohringer-tyde (noemplick, im Tyde Nabugodonoser unde stedes anfanges synes Ryckes Babel) gedaen, unde de Waerheit van idt iene dat vorborgen edder unbekendt was, int Licht gebracht hebbe.

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aus Lehm sind. Es wird also nunmehr in deutlicher Weise eine Geschichtstheologie als Rahmen eingeführt. Sie legt zudem eine Naherwartung des Weltendes nahe. Wir haben diesen starken eschatologischen Zug, der sich durch die ganze Chronika zieht, bereits kurz in Daniels Schilderung der dritten Offenbarung an HN gesehen. Doch nicht nur Niclaes’ prophetisches Amt besteht, folgt man diesem Werk, gerade in der Warnung der Menschenkinder vor dem drohenden Strafgericht Gottes. Auch Daniel sieht sich in dieser Pflicht: Er spricht sich selbst eine eigene, weitreichende Dignität zu. Derjenige Daniel, der die Geschichte von HN bezeugt, nennt sich nicht nur Daniel, weil er dem biblischen Daniel in gewisser Weise ähnlich wäre. Tatsächlich kommt es zu einer Identifikation mit dem biblischen Daniel: Er will es gewesen sein, der einst dem Herrscher Nebukadnezzar den Traum ausgelegt hat und der nun Künder des HN ist, des Sprachrohres Gottes. In Bezug auf die Autorisierungsstrategie lässt sich entsprechend ein weiterer Befund festhalten. Daniel, der Erzähler der Chronika, schöpft seine Autorität nicht ausschließlich aus seiner Nähe zu HN, der sich im besonderen Maße der Nähe Gottes sicher sein kann. Er ist im Gegenteil nun der Prophet des Propheten – beziehungsweise Prophet des vergotteten HN. Seine Autorisierungsstrategie erscheint somit als eigenes Konzept, das sich auch in ganz anderer inhaltlicher und formeller Weise auf die Bibel bezieht.

6. Schluss Insgesamt bleiben HN und sein Epigone Daniel Nazarenus nur zwei Fallbeispiele für prophetisches Schreiben in der Radikalen Reformation. Einige Aspekte der aufzufindenden Autorisierungsstrategien legen aber grundsätzliche Schlüsse nahe, die über den Einzelfall hinaus weisen. Nicht zuletzt zeigt erstens der Vergleich von D’anderde Vormaninge und Chronika einen signifikanten mediengeschichtlichen Unterschied auf: Anders als gedruckte Schriften erlaubten offenbar handschriftliche Texte, die nur für den internen Gebrauch der Anhänger benutzt wurden, eine deutlichere Sprache – oder zumindest zeigen sie abweichende Autorisierungsstrategien. Vereinfacht könnte man formulieren: Je clandestiner die Texte, desto deutlicher ist in ihnen ihre Intention ausgedrückt. 43 Nur unter der Vorsichtsmaßnahme der begrenzten Leserschaft konnte ja der Autor die ‚Maske‘ ablegen, die ihn sonst vor Verfolgung schützte – eine Verfolgung zumal, die selbst noch seinen Lesern um 1600 entgegenschlagen konnte, wie das eingangs erwähnte Beispiel aus Dordrecht zeigt. Doch wird man das nicht als einzige Funktion der beschriebenen Verhüllungsstrategien auffassen dürfen. Im Bezug auf die Autorschaft kommt es zweitens – egal ob Druckschrift 43 Dies gehört zu den Grundüberzeugungen der auch in Deutschland erstarkenden Clandestinitätsfor-

schung. Sie hat jedoch ihr Forschungsglück bislang vor allem in der Untersuchung vermeintlich religionskritischer Schriften gesucht. Eine Parallelanalyse mit radikalreligiösen Texten, die möglicherweise entscheidende Kontexte und Repertoires typischer Strategien erarbeiten könnte, fehlt weiterhin.

Hoeret myne Kinderen

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oder Handschrift – zu einer fast paradoxen Überkreuzung von Autorität und persönlicher Präsenz der Autoren: Je höher der religiöse Status des Verfassers, so suggerieren die Texte, desto geringer sein eigentlicher Anteil an der Produktion seines Textes. Ein prophetischer Autor ist eben nur Zeuge und Künder einer höheren Wahrheit, die nicht von ihm stammt und nicht aus ihm heraus Bestand hat. So muss und kann der prophetische Sprecher etwa auch schon aus diesem Grund die Grenzen zwischen biblischem und eigenem Reden verwischen. Dennoch bedarf es darüber hinaus schon einiger literarischer Kniffe und Klimmzüge, um dem zeitgenössischen Leser diese evidente, ans Blasphemische grenzende Hybris halbwegs plausibel erscheinen zu lassen. Wie Meier für das 12. Jahrhundert ausgeführt hat und wie hier für die Frühe Neuzeit gezeigt werden konnte, ist in dieser Textgattung die Eigenthematisierung des Verfassers notwendiger Bestandteil der Genese von AutorIdentität. 44 Wo in mittelalterlichen Texten hauptsächlich autobiographische Stilisierungen auftreten, wurde die autorisierende Erzählung eines grundlegenden Identitätswandels im Fall des HN freilich großenteils in den Gedächtnisspeicher der Hagiographie ausgelagert. Dass es sich bei den Selbststilisierungen des Niclaes als polyvalentes Kürzel HN und seines unbekannten Anhängers als Daniel Nazarenus nicht nur um spielerische Maskeraden handelt, dürfte außer Zweifel stehen. Die besprochenen Autorisierungsstrategien müssen einerseits außerliterarische soziale Bedeutung in der Interaktion der Gruppenmitglieder besessen und deren religiösen und sozialen Zusammenhalt zumindest grob bestimmt haben. Sie besaßen zudem eminent innerliterarische Funktion in der Gestaltung der Texte und sind für die Leserlenkung zentrale Elemente. Leider wissen wir allerdings noch zu wenig über den Wissenshintergrund und die literarische Bildung der diskutierten Autoren, um konkrete Überlegungen über ihre möglicherweise bewusste Verwendung von älteren literarischen Autorschaftsmodellen anstellen zu können. Doch sollte der in der Chronika präsentierte Lebensweg des Niclaes in dem Punkt stimmen, dass man dem jungen Hendrik Niclaes nur die Bibel und Heiligenviten zur Lektüre ließ, so lässt das den Schluss zu, dass er allein darüber genügend Anschauungsmaterial besaß, um sich in diesen Erzähltraditionen sicher bewegen zu können. Was die stilistischen Eigenheiten und das literarische Niveau der Werke der Familisten angeht, könnte man möglicherweise Ähnliches annehmen. Besonders sei an die christliche Umdeutung der antiken Stillehre seit dem Hochmittelalter erinnert: Glücklicherweise – so möchte man fast sagen – hatte diese Umdeutung für eine derart delikate Materie wie die Prophetie den sermo humilis nahegelegt, und nicht etwa ein ciceronisches Latein. 45 Selbst die recht stümperhafte Erzähltechnik in den Schriften der Familisten mag man also als sermo humilis und somit als Beherrschung der geforderten Stilebene interpretieren. Dies sollte davor bewahren, angesichts der schlechten übrigen Quellenlage von den eklatanten erzählerischen Makeln der familistischen Texte vorschnell auf fehlende Bildung und von dieser auf die soziale Zusammensetzung der Sektenmitglieder zurückzu44 Vgl. wie oben Christel Meier, Autorschaft im 12. Jahrhundert, 210–214. 45 Vgl. dazu Christel Meiers Beitrag in diesem Band.

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schließen. Vielmehr weist auch die literarhistorische Analyse in diesem Punkt auf eine wohl gewollte Autorisierungsstrategie. Nicht zuletzt darin zeigt das hier vorgeführte Beispiel der Familisten, wie sehr die historische Annäherung an die Phänomene der radikalen Reformation, die in weiten Teilen so deutlich noch in den Kinderschuhen stecken, methodisch vom Instrumentarium der Autorschaftsforschung profitieren kann.

Daniel Weidner

Himmelskarten und Erdkarten Gott und der Romanerzähler bei Fielding und Jean Paul

Heute kehrt der Autor zweifellos zurück – nach seiner Verabschiedung als Ideologem und seiner Kritik als analytische Kategorie ist er keineswegs verschwunden, sondern wichtig geblieben und vielleicht sogar wichtiger geworden. Das schuldet sich nicht nur der einfachen Tatsache, dass er trotz aller Kritik entscheidend für den Literaturbetrieb geblieben ist, es verdankt sich auch den neuen, postmodernen Formen der Autofiktionalität, die literarisch letztlich viel fruchtbarer geworden sind als das ‚reine Schreiben‘ der Avantgarden, in dessen Zeichen der Autor verabschiedet worden ist. Trotzdem hat diese Wiederkehr theoriegeschichtlich etwas Unheimliches, insofern nämlich die Kritik des Autors weiterhin in Geltung zu sein scheint, insofern die neuere Philologie immer noch im Schatten des ‚Wen kümmerts, wer spricht‘ arbeitet und sich sogar immer noch auf dieselben Texte bezieht, namentlich auf Roland Barthes’ Le mort de l’auteur und Michel Foucaults Quest-ce qu’un auteur? Aber die Logik dieser gespenstischen Wiederkehr gehört vielleicht schon intrinsisch zu dieser Theoriebildung. Das ist besonders bei Roland Barthes deutlich: Dessen Diagnose vom ‚Tod des Autors‘ war Nietzsches Formel vom ‚Tod Gottes‘ nachgebildet, und diese ist explizit nicht eine Formel des Verschwindens, sondern des gespenstischen Nachlebens. Für Barthes ist der Autor bekanntlich eine grammatische Illusion, die heute zurückzuweisen sei, eine Fiktion der Souveränität, die letztlich auf der zu verwerfenden Idee eines letzten Grundes beruhe, „denn eine Fixierung des Sinns zu verweigern, heißt letztlich Gott und seine Hypostasen (die Vernunft, die Wissenschaft, das Gesetz) abzuweisen“. 1 Die Verabschiedung des hegemonialen Sinnes, die es erlauben soll, jenseits des Autors in ein postmetaphysisches Zeitalter des Textes und des Lesers einzutreten, ist also letztlich eine Verabschiedung Gottes – des Subjekts aller antitextuellen Hypostasen. Für Nietzsche war freilich immer klar, dass ein solches Übersubjekt nicht einfach verabschiedet werden 1 Roland Barthes, „Der Tod des Autors“, in Fotis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Texte zur Theorie der Autor-

schaft (RUB 18058), Stuttgart 2000, 185–1193, hier 191.

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kann, dass man sich nicht einfach durch einen Willensentschluss von ihm losreißen kann, sondern dass es ein unheimliches Nachleben führt, eigentlich dieses Nachleben ist: Denn einerseits ist Gott schon tot, und Nietzsche ist nur der erste, der das merkt, zum anderen verschwindet Gott mit seinem Tod nicht einfach, sondern sein Schatten bleibt zurück. Ebenso scheint auch der Autor noch seinen Schatten auf uns zu werfen, der so einfach nicht los zu werden ist. Das hatte bereits Michel Foucault betont, dessen Entwurf einer Genealogie der Autorschaft in der Diskussion meist nur als historische Ausfaltung von Barthes Tod des Autors betrachtet wurde, tatsächlich aber explizit die Konstruktionen eines befreiten ‚Schreibens‘ nach dem Autor kritisiert: Wenn man nämlich dem Schreiben ein ursprüngliches Statut zuweist, so ist das wohl nur eine Art, einerseits die theologische Behauptung vom geheiligten Charakter des Geschriebenen und andererseits die kritische Behauptung seines schöpferischen Charakters ins Transzendentale rückzuübersetzen. 2

Wenn wir daher im Schatten des Autors leben und dieser selber entsprechend dem Schatten Gottes gedacht wird, so mag es vielversprechend sein, über die Beziehung des Autors zu Gott nachzudenken. Das ist um so mehr der Fall, als die Figur vom Autor-Gott nicht einfach nur eine austauschbare Redensart ist, ein bloßer ideologischer Überhang, sondern zum einen eine zentrale Rolle im literaturwissenschaftlichen Diskurs spielt, zum anderen eine Schlüsselstellung in der Entstehung des modernen Konzepts der Autorschaft, insbesondere der Autorschaft des Romans inne hat. Das soll zunächst an der quasi-theologischen Rede von der Allwissenheit in der Narratologie dargestellt werden, bevor anhand von Fielding und Jean Paul gezeigt wird, wie innerhalb der Romane beständig Diskurse über Allwissenheit und Allmacht geführt werden, welche die Figur des Autors in ein Verhältnis zu jener Gottes setzen, welches nicht nur konstitutiv für die Rede von Autorschaft ist, sondern sich auch als erheblich komplexer darstellt als eine Emanzipationsgeschichte der Autorschaft im Rückblick zu behaupten tendiert.

1. Sucht man nach Bildern und Figuren der Autorschaft, wird man bald auf ‚Gott‘ stoßen. In der Figur des Gott-Autors verbindet sich die göttliche Hervorbringung und Beherrschung der Schöpfung, die göttliche oder jedenfalls inspirierte Autorschaft des göttlichen Buches mit der traditionellen Figur des Poeten als alter deus, der das poetische Gebilde als geordnete Totalität so hervorbringt wie Gott die Welt hervorgebracht hat, der die Welt nachschöpft, indem er sie noch einmal in eine Ordnung bringt, oder der die göttliche Schöpfungskraft selbst nachahmt, indem er seine Idee in eine lineare Ordnung sprachlicher Zeichen umsetzt. Offensichtlich handelt es sich dabei um eine der traditionsreichsten und auch komplexesten Figurationen der Autorschaft, die auch theologisch äußerst furchtbar 2 Michel Foucault, „Was ist ein Autor?“, in Fotis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Theorie der Autorschaft,

198–229, hier 206 f.

Himmelskarten und Erdkarten

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sein kann. 3 Die Figur des Autor-Gottes ist aber auch die literaturwissenschaftlich zentrale, und zwar keineswegs nur für die polemische Destruktion eines überzogenen Autorbildes wie bei Barthes. Sie wird vielmehr auch dort aufgerufen, wo es um die narratologische Analyse von Texten geht, und gerade durch diese methodische Fundierung ist der AutorGott auch mehr als eine bloße ‚Idee‘: So wie Gott bei Nietzsche eine Folge der Grammatik ist und wir noch so lange an Gott glauben, wie wir sprechen, so ist der Autor für die Literaturwissenschaft Teil ihres analytischen Instrumentariums. Das sei kurz an zwei Beispielen angedeutet, die zwar zunächst eine Analogie zwischen Gott und dem Erzähler ziehen, damit aber immer schon ein bestimmtes Bild von Autorschaft implizieren, die tatsächlich an der Grenze zwischen dem fiktionalen Erzähler und der wirklichen Person, welche den Text geschrieben hat, entsteht. Im klassischen Aufsatz Wer erzählt den Roman? konstatiert Wolfgang Kayser, das Wesen literarischen Erzählens lasse sich nicht aus dem alltäglichen Erzählen ableiten, weil der Erzähler des Romans nicht nur ein gutes Gedächtnis habe, sondern „mit einer mehr als menschlichen Fähigkeit das Vergangene als gegenwärtig“ machen könne, 4 bzw. weil Sätze wie ‚Morgen ging der Zug‘ nicht aus der Alltagssprache erklärbar seien: „Es führt kein Weg, sondern nur ein Sprung von da [dem täglichen Leben] in die Kunst, – die ihre eigenen Ordnung hat. […] Der Erzähler vermag, was Gott und den Göttern vorbehalten ist. Hier muss alle Analogie der irdischen Situation zerschellen.“ 5 Der Leser muss eine grundsätzlich andere Einstellung einnehmen, er muss einen Wechsel in die ästhetische Einstellung einnehmen, der durchaus an den Kierkegaard’schen Sprung in den Glauben erinnert. Erst dann erhält er Zugang zur Welt des Romans und versteht den literarischen Erzähler: Der Erzähler des Romans – das ist nicht der Autor, das ist aber auch nicht die gedichtete Gestalt, die uns so oft vertraut entgegentritt. Hinter dieser Maske steht der Roman, der sich selbst erzählt, steht der Geist dieses Romans, der allwissende, überall gegenwärtige und schaffende Geist dieser Welt. Die neue, einmalige Welt entsteht, indem er Gestalt annimmt und zu sprechen beginnt, indem er sie mit seinem schöpferischen Wort selber hervorruft. Er selber schafft sie, und in ihr kann er allwissend und überall gegenwärtig sein. Der Erzähler des Romans, in einer Analogie verdeutlicht, ist der mythische Weltschöpfer. 6

Kayser benutzt nicht nur explizit die Analogie zwischen dem literarischen Erzähler und dem Schöpfer, sondern ruft auch eine Reihe spezifisch theologischer Kategorien und Probleme auf: etwa das der Allwissenheit und Allgegenwart, aber auch der Schöpfung durch das Wort, in welcher der Geist sich worthaft selbst hervorruft. Allerdings ist diese Idee der Schöpfung nicht unumstritten. Eine Generation nach Kayser stellt Jonathan Cullers Aufsatz Omniscience die Kategorie narrativer Allwissenheit in Frage, weil deren selbstverständliche Verwendung über ihre fundamentale Problematik 3 Vgl. Oswald Bayer, Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie, Tübingen 1999. 4 Wolfgang Kayser, „Wer erzählt den Roman?“, in Fotis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Theorie der Autorschaft,

124–137, hier 130.

5 Ebd. 134. 6 Ebd. 135.

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hinwegtäusche, dass Erzähler eben keine Personen seien, sondern nur das gedachte Korrelat einer an sich unendlich flexiblen und wandelbaren Informationsvergabe, durch die der Leser in einem Moment sehr viel erfahren kann, während ihm im nächsten Moment alles vorenthalten wird: The basis of ‚omniscience‘ appears to be the frequent articulated analogy between God and the author: the author creates the world of the novel as God created our world, and just as the world holds no secrets for God, so the novelist knows everything is to be known about the world of the novel. This is all very well, but if, for instance, we do not believe in an omniscient and omnipotent god, then we cannot draw on what we know of God to illuminate properties of the narrative. 7

Auch für Culler ist diese Analogie nicht äußerlich, sondern trägt entscheidend zur scheinbaren Evidenz des an sich wenig plausiblen Gedanken der Allwissenheit bei. Und tatsächlich trägt noch Gérard Genettes offenbar beabsichtigt ‚neutraler‘ und metaphysikfreier formulierte Kategorie der ‚Nullfokalisierung‘ eigenartig theologische Züge. Bei Kayser und Culler wird also in positiver und in kritischer Absicht der Entwurf und die wissensmäßige Durchdringung einer fiktionalen Welt durch einen Erzähler mit dem Verhältnis Gottes zur Schöpfung verglichen. Auffällig ist dabei zum einen ein eigenartiges Schwanken zwischen ‚Gott‘ und ‚Göttern‘, also einer monotheistischen und einer polytheistischen Semantik, die sich auch sonst häufig in Betrachtungen über den literarischen Erzähler findet: Denn ihm wird einerseits eine ‚olympische‘ Ruhe und ein Überblick über die Geschehnisse zugeschrieben, wie er traditionell besonders mit dem homerischen Erzählen verbunden wird, andererseits aber ein Verhältnis zu seiner Schöpfung, welches den klassischen griechischen Göttern kaum zuzuschreiben ist, denn sie haben ihren Kosmos nicht gemacht, jedenfalls nicht durch das Wort hervorgerufen. 8 Die Unschärfe zwischen diesen beiden Konzeptionen deutet bereits an, dass hier eine problematische und tatsächlich symptomatische Problematik der Rede vom göttlichen Erzähler vorliegt. Bei Culler zeigt sich dieselbe Unschärfe darin, dass neben der eigentlich thematischen Kategorie der Allwissenheit im letzten Satz des Zitats auch die Kategorie der Allmacht auftaucht. Wie er selber einräumt, steht für die theologische Diskussion gerade das Verhältnis von Allwissenheit und Allmacht im Zentrum: „The main problem for theological discussions of omniscience then becomes whether the perfection of divine Omniscience is compatible with free will, both of which are taken for granted as necessary and desirable.“ 9 Wie wir noch sehen werden, spielt dieses Problem als Debatte über die göttliche ‚Vorsehung‘ tatsächlich eine zentrale Rolle für die Herausbildung der Idee des Romanautors. Nun wird man einwenden, dass hier ja nicht vom Autor, sondern vom Erzähler die Rede sei, und dass es ja tatsächlich eines der wichtigsten Anliegen von Kaysers Text ist, 7 Jonathan D. Culler, „Omniscience“, in NARRATIVE 12/1 (2004), 22–34, hier 23. 8 Vgl. „It is curious that literary scholars should refer to a superhuman viewpoint as an ‚Olympian

narrator‘, for the model of omniscient narration they have in mind is actually patterned on the Hebraic rather than the Homeric model of divinity.“ Meir Sternberg, The Poetics of Biblical Narrative. Ideological Literature and the Drama of Reading, Bloomington 1985, 88. 9 Jonathan D. Culler, „Omniscience“, 23 ff. Der Hauptkontrahent ist hier bezeichnenderweise Sternberg.

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den empirischen Autor vom gewissermaßen ‚transzendentalen‘ Erzähler zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist in der Tat basal für die Narratologie, denn diese scheint sich nur durch den Ausschluss des empirischen Autors als theorieexterne und daher zu vernachlässigende Faktor als in sich geschlossenes und stabiles Feld des Wissens konstituieren zu können. Aber dieser Ausschluss erweist sich faktisch immer schon als problematisch: Nicht nur zeigt die Geschichte der Erzähltheorie, dass diese Unterscheidung, kaum etabliert, immer wieder unterlaufen wird, indem man Instanzen wie den ‚impliziten Autor‘ eingeführt hat. 10 Bereits bei Kayser ist deutlich, dass der ‚Geist‘ der Erzählung, auf den seine Überlegungen abzielen, einen Zwischenstatus hat, insofern er weder mit dem realen Autor noch mit einer etwaigen fiktionsinternen Erzählerfigur zusammenfallen soll. Dieser ‚Geist‘ folgt also erneut der Logik des Gespenstischen: er hat einen unstabilen, schwer zuzuordnenden Status, und auch hier scheint der Autor wiederzukehren in dem Maß, in dem man ihn auszuschließen versucht. Wenn aber die Vorstellung eines ‚reinen‘ Erzählers problematisch ist, so ist es auch die eines ‚reinen‘ Autors: Auch der Autor steht nicht einfach außerhalb des Textes, sondern hat ein bestimmtes Verhältnis zu ihm, und dieses Verhältnis hat wiederum seine eigene Geschichte, ohne deren Nachzeichnung die Figur des Autors nicht zu verstehen ist. Diese Genealogie der Autorschaft war wie erwähnt das Projekt Michel Foucaults, und es implizierte bereits eine Kritik an der allzu leichten Verabschiedung der Kategorie der Autorschaft, die weder möglich noch wünschenswert sei, insofern der Autor eben schwer zu situieren sei: „Es wäre ebenso falsch, wollte man den Autor beim wirklichen Schriftsteller oder auch beim fiktionalen Sprecher suchen; die Funktion Autor vollzieht sich gerade in diesem Bruch – in dieser Trennung und dieser Distanz“. 11 Foucault denkt diesen Bruch dabei vor allem von außen, von der diskursiven Funktion der Texte her, insofern Texte, die einen Autor haben, eine andere Funktion und einen anderen Status haben als ‚private‘ oder anonyme Texte: Die Autorfunktion autorisiert in der modernen Gesellschaft Texte, die zur Sphäre des Offiziellen, des Diskurses gehören. Aber man kann die Rede vom Bruch auch narratologisch auffassen, die Instanzen des Textes betreffend: Auch hier würde sich Autorschaft dort manifestieren, wo eben mit dem ‚reinen‘ Erzählen gebrochen wird: in den metanarrativen und paratextuellen Elementen, die gerade für den frühen Roman so wichtig sind. Wie Uwe Wirth überzeugend gezeigt hat, wird etwa in der für diese Zeit typischen Herausgeberfiktion der Text angeeignet und damit Autorschaft als Selbstherausgeberschaft installiert. 12 So werden gerade die Ränder des Textes zum Ort, wo Autorschaft nicht rein negativ bestimmt wird, als ausgeschlossener Akt des empirischen Geschrieben-Habens eines Textes, sondern als das Performieren gerade jener Trennung. Dabei wird sich zeigen, dass auch gerade an jenen Rändern die theologischen Analogien besonders ausgeprägt aber auch besonders komplex sind. 10 Vgl. dazu den Beitrag von Martina Wagner-Egelhaaf in diesem Band. 11 Michel Foucault, „Was ist ein Autor?“, 216 f. 12 Vgl. Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung

im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, München 2008.

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Die Frage nach der Genealogie der Autorschaft macht aber die Figur des Autor-Gottes noch in einer anderen Hinsicht komplex. Denn nicht nur der Tod des Autors, sondern auch seine Geburt ist mit dem Tod Gottes assoziiert. Schon bei Barthes hatte der Autor eine Geschichte, die freilich anders als die Gottes, recht kurz ausfiel: „Der Autor ist eine moderne Figur, die unsere Gesellschaft hervorbrachte, als sie am Ende des Mittelalters im englischen Empirismus, im französischen Rationalismus und im persönlichen Glauben der Reformation den Wert des Individuums entdeckte“. 13 Der Autor ist also demnach mit der Moderne entstanden, die außer dem bürgerlichen Individualismus insbesondere jenen Prozess der Zurückdrängung oder Verwandlung der Religion impliziert, der gemeinhin als ‚Säkularisierung‘ beschrieben wird. Dabei ist der Begriff der ‚Säkularisierung‘ notorisch zweideutig, und ebenso zweideutig – oder zweiseitig – ist dann auch die Art, wie die Geschichte moderner Autorschaft erzählt werden kann. 14 Zum einen setzte der moderne Begriff des Autors die Emanzipation des Schreibenden von göttlicher Autorität voraus, denn der moderne Autor ist ein autonomes Subjekt und kann nur in radikaler Autonomie seine zentrale Rolle einnehmen. Zum anderen wird diese radikal profane Position aber auch selbst wieder sakralisiert: Der Autor nimmt nun selbst eine gottgleiche Stellung ein und erhält die ‚Schöpfungsmacht‘ und Wissensprivilegien zugesprochen, die vorher allein Gott vorbehalten waren. 15 Den Autor so als Resultat von Säkularisierung zu beschreiben, hat aber auch Konsequenzen für die Diagnose vom ‚Tod des Autors‘: Der Autor wäre gewissermaßen mit dem Tod Gottes aufgetreten und als ein zweiter Tod Gottes wieder verschwunden. Handelt es sich hier um zwei verschiedene Tode Gottes, eine gewissermaßen unvollständige Säkularisierung, die erst heute, in der postmodernen Verabschiedung des Autors, zu Ende geführt wird? Oder ist die Wiederholung des Todes ihr immer schon eingeschrieben, so dass auf den Tod des Autors nun ein weiterer Tod (des Lesers? der Schrift?) folgen würde, woraus sogar das Element einer möglichen Wiederkehr der Religion gefolgert werden könnte? Solche Verschlingungen von Verschwinden und Wiederkehr sind typisch für Diskurse über Säkularisierung, und es lohnt sich, sie genauer zu untersuchen, weil sie deutlich machen, dass die Theologie der Autorschaft nicht lediglich eine (austauschbare) Stilisierung der Position des Autors ist, sondern eine ebenso zentrale wie schwer zu umgehende Denkfigur. Gerade weil der Roman oft als paradigmatische Gattung der Moderne gilt, verspricht die Untersuchung der in ihn einfließenden religiösen Diskurse ein tieferes Verständnis der Moderne, in welchem diese nicht mehr einfach negativ gegen die religiöse Tradition abgesetzt wird, wie das bei Barthes und letztlich auch bei Foucault geschieht. 13 Roland Barthes, „Der Tod des Autors“, 186. 14 Vgl. dazu vom Verfasser: „Zur Rhetorik der Säkularisierung“, in Deutsche Vierteljahrsschrift für

Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78/1 (2004), 95–132.

15 Paradigmatisch formuliert ist dieses Konzept in der älteren Forschung zu Bibel und Literatur: „einer

Säkularisierung der Bibel entspricht dann die Sakralisierung der Poesie.“ Dieter Gutzen, Poesie der Bibel. Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation im 18. Jahrhundert, Bonn 1972, 111. Allerdings liegen gerade im Fall der Autorschaftszuschreibungen der Bibel um 1800 die Verhältnisse erheblich komplexer, vgl. dazu vom Verf. Bibel und Literatur um 1800, München 2011.

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2. In Henry Fieldings erstmals 1749 erschienenem Tom Jones werden dem jungen Tom von seinem wohlmeinenden Adoptivvater Allworthy zwei Erzieher zur Seite gesetzt: der Geistliche Thwackhum und der Philosoph Square. Während jener die anglikanische Orthodoxie vertritt und stets die Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit der Menschen betont, so hebt jener hervor, dass der wahrhaft seine Begierden beschränkende Mensch von sich aus glücklich werden könne. Thwackum und Square debattieren alle Themen der Zeit, besonders aber die Frage der Providenz, die, im Zeichen der deistischen und antideistischen Auseinandersetzungen, eine der wichtigsten intellektuellen Streitpunkte in England um die Mitte des 18. Jahrhunderts ist: Gibt es individuelle Providenz – und damit auch Wunder – oder nur eine allgemeine Weltregierung, sorgt Gott für die Belohnung der Tugenden in dieser oder in jener Welt? 16 Diskutiert wird also die Gesetzmäßigkeit und damit auch die Verständlichkeit der Welt, und zwar sowohl der natürlichen als auch der moralischen, sowie der ästhetischen Welt – gerade in Bezug auf letztere debattierte das 18. Jahrhundert immer wieder die Fragen der ‚poetischen Gerechtigkeit‘ und der ‚Wahrscheinlichkeit‘. 17 Dabei sind die beiden Erzieher nicht nur notorische Streithähne, es erweist sich im Fortgang auch, dass ihre ewige Predigt von Buße und Tugend sie keinesfalls daran hindert, egoistisch und sogar ungerecht zu sein, während der äußerliche Taugenichts Tom mit seinem losen Lebenswandel sich als wahrhaft tugendhaft erweist. Philosoph und Theologe werden somit zum Gegenstand scharfer Kritik der Eitelkeit: I will say boldly, that both religion and virtue have received more real discredit from hypocrites than the wittiest profligates of infidels could ever cast upon them. 18 Nichtsdestotrotz ist das Thema der providence damit keineswegs erledigt, auch nicht für Fielding, der noch 1752 in einem Traktat Examples of the interposition of Providence in the Detection and punishment of Murder versucht, anhand der Kriminalstatistiken zu beweisen, dass sich in der Welt durchaus eine göttliche Lenkung zeige. Wichtiger ist, dass die Frage der Vorsehung auch poetologisch für die Gattung des Romans eine wichtige Rolle spielt und damit auch für die Autorschaft relevant ist, die sich nämlich gerade als Verhandlung über das providential design des Textes an dessen Rand etablieren kann. Denn hier wird die dem Tom Jones

16 Vgl. dazu J. Paul Hunter, Occasional Form. Henry Fielding and the Chains of Circumstance, Bal-

timore 1975, der in Square den Deisten Thomas Chubb und in Thwackum den Apologeten Joseph Horder porträtiert sieht, vgl. ebd. 129. 17 Zum Diskurs über die Wahrscheinlichkeit des Romans bei Fielding vgl. auch Rüdiger Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 2002, 324ff. 18 Henry Fielding, The History of Tom Jones, a Foundling, 2 Bde., hg. v. Fredson Bowers/Martin C. Battestin, Oxford 1974, Buch III/Kapitel 4, 129. Im Folgenden wird Tom Jones im Text zitiert nach römischer Bandzahl/arabischer Kapitelzahl, sowie der Seitenzahl dieser Ausgabe.

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offensichtlich eigene ‚auktoriale‘ Erzählhaltung vielfältig gebrochen und daher auch die starke Position des Romanautors zugleich in Szene gesetzt und ironisiert. 19 Der Rand, an dem diese Inszenierung sich vollzieht, besteht zunächst ganz wörtlich in den zahlreichen Paratexten, Prologen und auktorialen Kommentaren, die den Text beständig unterbrechen und, wie bereits erwähnt, für die Instituierung von Autorschaft eine zentrale Rolle spielen. Solche Rahmung ist notwendig, denn der Roman als Gattung ohne Tradition und Konvention und mit unbekannter und unbestimmter Leserschaft, muss seine eigene Gattungshaftigkeit erst etablieren und sich daher in ein permanentes Benehmen mit dem Leser setzen, ohne dass dabei eben jene Grenze von Autor und Erzähler eingehalten werden könnte, die spätere Theoriebildung so vehement forderte. Der Autor kann in der Erzählung auftauchen – so der Titel des siebten Kapitel von Buch 3, in which the author himself makes his appearance on the stage (III/7,40). Gern und oft stellt er allgemeine moralische Reflexionen an, manchmal teilt er dem Leser mit, dass er für manche Informationen große Nachforschungen angestellt hätte – Thus, reader, we have given thee the fruits of a very painful enquiry which for thy satisfaction we have made into this matter. (IX/7,522) – oder dass er manche Dinge nicht habe herausfinden können. In bestimmten intimen oder besonders pathetischen Situationen, etwa wenn er das Erwachen der Liebe zu Tom in Sophia schildert, zieht er sich aus der Schilderung zurück: As to the present situation of her mind, I shall adhere to a rule of Horace, by not attempting to describe it, from despair of success. Most of my readers will suggest it easily to themselves; and the few who cannot, would not understand the picture, or at least would deny it to be natural, if ever so well drawn. 20

Denn gerade diese Diskretion, heißt es an anderer Stelle, gebe dem Leser an opportunity of employing that wonderful sagacity, of which he is master, by filling up these vacant spaces of time with his own conjectures (III/1,116). Dieser bewusste und kalkulierte Einsatz von Leerstellen – der Wolfgang Iser als wichtiges Paradigma der Rezeptionsästhetik gedient hat 21 – konstituiert den Pakt mit dem Leser und ist daher essentiell für die Gattung und die in ihr implizierte Autorschaftsfiguration; möglich ist er eben nur durch das Wechselspiel zwischen Unvollständigkeit der Erzählung und direkter Adresse des Autors an den Leser. Der Romanpakt überschreitet damit von vornherein die sauber getrennten Ebenen der Narratologie. Explizit wird dieser Pakt in den Vorreden entwickelt, die bei Fielding jedem der einzelnen achtzehn Bücher vorgeschaltet werden. Schon durch diese Platzierung unterscheiden sie sich in Form und Funktion von dem einem stabilisierenden, feststellenden Paratext, den man in der Regel mit dem auktorialen Vorwort verbindet. Die paratextuelle Funktion 19 Zum theologischen Erbe in der Entstehung des Romans vgl. allgemeiner Leopold Damrosch, God’s

Plot and Man’s Stories. Studies in the Fictional Imagination from Milton to Fielding, Chicago University Press 1985. 20 IV/14,208. 21 Vgl. Wolfgang Iser, „Die Leserrolle in Fieldings Joseph Andrews und Tom Jones“, in Ders., Der implizite Leser, München 1972, 57–93.

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dieser Vorreden wird darüber hinaus durch ihre Titel ironisiert, die sie annoncieren als containing little or nothing (III/1,116) oder containing five pages of paper (IV/1,150). Das sechzehnte Buch wird mit einem Kapitel Of Prologues (XVI/1,832) eingeleitet, in dem noch einmal betont wird, man müsse die Vorreden ja nicht lesen und könne stattdessen auch eine Viertelstunde länger beim Dinner sitzen. Trotz und wegen dieser Ironisierung haben diese Vorreden wichtige und vielfältige Funktionen. Sie sollen Fieldings Roman – bereits in Joseph Andrews definiert als comic epic poem in prose 22 – im Gattungssystem etablieren und von schlechten Romanen unterscheiden: Sie betonen daher, dass truth distinguishes our writings from those idle romances which are filled with monsters, the productions, not of nature, but of distempered brains (IV/1,150), sie polemisieren gegen die scribbler, die Phantasieromane verfassen (IX/1,488), aber auch gegen die Kritiker, die immer nur nach antiken Vorbildern suchen. Auch der erwähnte Pakt wird weniger dogmatisch dekretiert als narrativ entwickelt, insofern die verschiedenen Vorworte die verschiedenen Modelle und Codes der Autorschaft und ihrer Beziehung zum Leser durchspielen: Fielding beginnt dabei mit einem Bild, das gewissermaßen so harmlos wie möglich ist, indem er den Roman mit einem Gasthaus vergleicht, in dem anders als bei einem privaten Dinner jeder speisen dürfe – aber eben auch mit Recht eine Speisekarte verlangen könne, und das wolle sein Vorwort sein. Ganz anders erklärt sich der Autor im zweiten Kapitel als souverän, und daher auch befähigt, alle Regeln zu überschreiten: […] for as I am, in reality, the founder of a new province of writing, so I am at liberty to make what laws I please therein. And these laws, my readers, whom I consider as my subjects, are bound to believe in and to obey; with which that they may readily and cheerfully comply, I do hereby assure them that I shall principally regard their ease and advantage in all such institutions: for I do not, like a jure divino tyrant, imagine that they are my slaves, or my commodity. I am, indeed, set over them for their own good only, and was created for their use, and not they for mine. 23

Dieses Bild eines konstitutionellen Monarchen als ersten Dieners des Staates, der den Gesetzen, die er gibt, auch gehorchen muss, entspricht nicht nur den zeitgenössischen konstitutionellen Debatten, sondern wird sich als präziser Ausdruck der besonderen narrativen Problematik des Romans erweisen. Es bleibt aber nicht allein, sondern wird in der Folge durch eine Reihe weiterer Figuren ergänzt: etwa durch das Bild von der Weltbühne, in welcher der Autor Spielleiter ist (VII/1), durch die Metapher vom Buch der Natur, in welchem der Autor liest (IX/1), durch die Vaterschaft gegenüber seinem Werk (XI/1) oder später den Vergleich des Romans mit einer Postkutsche: We are now, reader, arrived at the last stage of our long journey. As we have, therefore, travelled together through so many pages, let us behave to one another like fellow-travellers in a stage coach, who have passed several days in the company of each other; and who, notwithstanding any bickerings or little animosities which may have occurred on the road, generally make all up at last, and mount, 22 Vgl. zur Herausbildung des Autorschaftskonzeptes Ian A. Bell, Henry Fielding. Authorship and

Authority, London/New York 1994, bes. 78 ff.

23 II/1,77f.

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for the last time, into their vehicle with chearfulness and good humour; since after this one stage, it may possibly happen to us, as it commonly happens to them, never to meet more. 24

Nicht nur der Roman hat seine eigene Geschichte, sondern auch das Verhältnis des Lesers zum Buch und zum Autor: Es hat seine Aufs und Abs, und sollte doch jetzt gut und höflich enden. Jedenfalls ist es nicht statisch und nicht durch klare Strukturen bestimmt, sondern folgt einem eigenen Plot, der zu jenem des Romans parallel verläuft. 25 Und auch inhaltlich scheint es eine Parallele zu geben zwischen dem Bastard Tom, der seine legitime Abkunft erst entdecken muss, und dem Bastard-Text des Romans, der seine Legitimität und seine Leserschaft allererst ereichen muss. Auch die Geschichte des Lesers und des Paktes hat ihre Peripetien und entscheidenden Momente, so etwa im ersten Kapitel des sechsten Buches, wo der Autor über die Wonnen und Wohltaten der Liebe spricht. Examine your heart, my good reader, and resolve whether you do believe these matters with me. If you do, you may now proceed to their exemplification in the following pages: if you do not, you have, I assure you, already read more than you have understood; and it would be wiser to pursue your business, or your pleasures (such as they are), than to throw away any more of your time in reading what you can neither taste nor comprehend. 26

Weiterlesen möge nur der, der die Erfahrung schon kennt oder wenigstens weiß, was ihm fehlt. Der Autor konstituiert sich also als Gegenüber eines Lesers, mit dessen ‚wirklicher‘ Erfahrung er sich ins Benehmen setzt, und zwar gewissermaßen oberhalb der Ebene der Romanfiktion. Innerhalb dieses auktorialen Diskurses, der für die Konstitution von Autorschaft von zentraler Bedeutung ist, werden nun auch ‚Allmacht‘ und ‚Allwissenheit‘ des Autors – also jene Prädikate, welche die Autorfigur für Barthes und Culler so verdächtig machten – permanent verhandelt, aber gerade dadurch auch ausgestellt. Wie erwähnt, geschieht das im Diskurs über Providenz, wie es für die Zeitgenossen und auch für Thackeray noch selbstverständlich war, wenn dieser über Tom Jones schreibt, such a literary providence, if we may use such a word, is not to be seen in any other work of fiction. 27 Damit ist zunächst vor allem das raffinierte emplotment und die geschickt geschürzte Intrige gemeint: also die immer wieder betonte und bewunderte Tatsache, dass alle Einzelheiten der Handlungsführung zusammenspielen und sich noch die zufälligsten Ereignisse im Rückblick als höchst folgenreich erweisen. Wie Fielding mehrfach betont, ist das aber nicht nur eine Eigenschaft des Romans, sondern beansprucht seinerseits, eine ‚realistische‘ 24 XVIII/1,913. 25 Vgl. dazu das Kapitel „The plot of the author“, in Joy Alison Parker, The Author’s Inheritance. Henry

Fielding, Jane Austen, and the Establishment of the Novel, Illinois 1998, 63ff. Andeutungen dazu finden sich bereits bei Wayne C. Booth, der auch eine Analogie mit der Vorsehung herstellt: „unsere wachsende Vertrautheit mit Fieldings dramatischer Version seiner selbst erzeugt eine Art komischer Analogie zu dem Vertrauen des wahrhaft Gläubigen auf eine gütige Vorsehung im realen Leben.“ Wayne C. Booth, Rhetorik der Erzählkunst, Bd. 1, Heidelberg 1974, 220. 26 VI/1,271. 27 William Makepeace Thackeray, Catherine – A Shabby Genteel Story et al (The Oxford Thackeray 3), London 1908, 389.

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Abbildung der Welt zu sein: The world may indeed be considered as a vast machine, in which the great wheels are originally set in motion by those which are very minute, and almost imperceptible to any but the strongest eyes. (V/4,225) 28 Allerdings ist diese Verknüpfung nicht immer leicht zu sehen, weder in der Welt noch im Roman, dessen Zusammenhang erst am Schluss erkennbar sein werde, wie Fielding den Leser immer wieder ermahnt: we warn thee not too hastily to condemn any of the incidents in this our history as impertinent and foreign to our main design, because thou dost not immediately conceive in what manner such incident may conduce to that Design. (X/1,524) So wie die kleinen Rädchen, die die Welt bewegen, schwer zu erkennen sind, so ist es auch fast unmöglich zu wissen, was die einzelnen erzählten Episoden zur gesamten Erzählung beitragen, bevor man nicht deren Ausgang kennt. Diese Warnung an Leser und Kritiker wird dabei auf so interessante wie typische Weise fortgesetzt: This work may, indeed, be considered as a great creation of our own; and for a little reptile of a critic to presume to find fault with any of its parts, without knowing the manner in which the whole is connected, and before he comes to the final catastrophe, is a most presumptuous absurdity. The allusion and metaphor we have here made use of, we must acknowledge to be infinitely too great for our occasion; but there is, indeed, no other, which is at all adequate to express the difference between an author of the first rate and a critic of the lowest. 29

Der Roman ist also eine Schöpfung, insofern er ebenso eine – wenn auch schwer erkennbare – Ganzheit bildet wie die Welt selbst, in der alle Teile ihren Beitrag zum Ganzen leisten. Allerdings wird der Vergleich sogleich wieder zurückgenommen als eigentlich zu groß, und das ist nicht nur eine Geste der Bescheidenheit oder auch der Ironisierung des eigenen Anspruchs, sondern reflektiert auch ein systematisches Problem: in dem Maß, in dem der Roman als eigene ‚Schöpfung‘ figuriert wird, droht er, zu einer bloßen Erfindung zu werden. Die spezifische Rezeptionshaltung des Romans verlangt aber nach beidem: nach der Fiktionalität der dargestellten Welt (die eben keine verschlüsselte Darstellung bekannter Personen ist) und nach der Eingrenzung der Fiktionalität, welche die dargestellte Welt zugleich mit der wirklichen identifiziert, wenigstens in ihren wesentlichen Zügen. Auch was fiktional geschieht, soll ‚nach der Natur‘ sein und sich ‚wahrscheinlich‘ ereignen können. Der Autor ist also zugleich Schöpfer der fiktionalen Welt und beschreibt diese als existierende Welt, er ist zugleich frei und unfrei. Das betont Fielding schon dort, wo er sich von den Dichtern der alten heidnischen Epen unterscheidet: Their deities were always ready at the writer’s elbow, to execute any of his purposes; and the more extraordinary the invention was, the greater was the surprize and delight of the credulous reader. (XVII/1,876) Gerade der nachheidnische, also christliche Charakter des neueren Epos habe zur Folge, dass der moderne Autor keine wunderbaren Eingriffe mehr kenne. 28 Beziehungen zum ‚argument of design‘ von Alexander Pope, vgl. Ian Bell, Henry Fiedling, 170 f.

Besonders elaboriert in Martin C. Battestin, The Providence of Wit. Aspects of Form in Augustan Literature, Oxford 1974, 141–163. 29 X/1,524 f.

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But we have none of these helps. To natural means alone we are confined; let us try therefore what, by these means, may be done for poor Jones; though to confess the truth, something whispers me in the ear that he doth not yet know the worst of his fortune. 30 Die moderne Romanfiktion konstituiert sich also gerade durch die Selbstbegrenzung der ‚schöpferischen Freiheit‘ des Autors. Diese Selbstbegrenzung des Autors wird naturgemäß besonders am Ende des Textes deutlich, wo es um die Vollendung des Plots und damit auch um die Enthüllung des designs geht. Es steht inzwischen, am Anfang des vorletzten Buches, nicht gut um Tom, der im Gefängnis sitzt und ein schlimmes Ende zu nehmen droht, wie uns der Erzähler erklärt: This I faithfully promise, that, notwithstanding any affection which we may be supposed to have for this rogue, whom we have unfortunately made our heroe, we will lend him none of that supernatural assistance with which we are entrusted, upon condition that we use it only on very important occasions. If he doth not therefore find some natural means of fairly extricating himself from all his distresses, we will do no violence to the truth and dignity of history for his sake; for we had rather relate that he was hanged at Tyburn (which may very probably be the case) than forfeit our integrity, or shock the faith of our reader. 31

Explizit verspricht der Erzähler also, auf seine auktoriale Allmacht zu verzichten, um die Natürlichkeit der dargestellten Welt nicht in Frage zu stellen. Die Welt des Romans ist keine vollkommen freie Schöpfung, die in jedem Moment umgeschaffen werden kann, sondern gleicht eher dem deistischen Universum, in welchem zwar dem Schöpfer eine anfängliche Rolle bei der Insitution von Ordnung zugeschrieben wird und das vielleicht eine göttliche Regierung mit den Mitteln der Natur für möglich enthält, aber ein besonderes Eingreifen im Einzelfall, die sogenannte special providence, ausdrücklich ausschließt. Somit scheint der Autor hier selbst der deistischen Position Squares zuzuneigen und der Roman von sich aus einer eher mechanistische, jedenfalls immanente Deutung der Natur des Menschen zu implizieren. Aber diese Ankündigung des Erzählers erweist sich selber als unzuverlässig: Natürlich wird Tom nicht gehenkt, er heiratet seine Sophia, natürlich geschieht das nicht durch ein Wunder und nicht durch einen deus ex machina, sondern es geht alles mit natürlichen Dingen zu – oder jedenfalls fast. Manche Ereignisse sind jedenfalls so unwahrscheinlich, dass an ihrer Natürlichkeit gezweifelt wird, und zwar gerade an dem noch ausstehenden Ende. Wenn etwa im letzten Buch Allworthy durch ein zufälliges Zusammentreffen von Toms Tugend erfährt, kommentiert der Erzähler: Here an accident happened of a very extraordinary kind; one indeed of those strange chances whence very good and grave men have concluded that Providence often interposes in the discovery of the most secret villany, in order to caution men from quitting the paths of honesty, however warily they tread in those of vice. 32

30 XVII/1,876. 31 XVII/1,875 f. 32 XVIII/3,920.

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Nicht zuletzt durch diese Begegnung beginnt nämlich Allworthy seine Meinung von Tom zu ändern, ihn aus dem Gefängnis zu befreien und schließlich als seinen Erben zu erkennen. Wie Fielding selbst wenig später erklärt, erscheine diese Lösung so unwahrscheinlich, wie der deus ex machina in schlechten Romanen: Revolutions of this kind, it is true, do frequently occur in histories and dramatic writers, for no other reason than because the history or play draws to a conclusion, and are justified by authority of authors; yet, though we insist upon as much authority as any author whatever, we shall use this power very sparingly, and never but when we are driven to it by necessity, which we do not at present foresee will happen in this work. 33

So wunderbar dieses Ereignis auch erscheine – und das wird hier nun schon zum zweiten Mal betont –, so besteht Fielding doch darauf, auch von solchen revolutions Gebrauch zu machen – wenn auch nur selten. Das ironisiert nicht nur die dargestellte Welt, die sich einmal mehr als Schöpfung eines Autors ausweist, der es mit seinen Gesetzen eben nicht so genau nimmt, sondern auch den auktorialen Diskurs, weil die behauptete Selbstbeschränkung auf natural means eben nicht eingehalten wird. Theologisch betrachtet würde das wohl heißen, dass es sehr wohl individuelle Providenz gibt – wenn auch nur selten, und wenn auch nur innerhalb eines Universums, das an und für sich nach Gesetzen geordnet ist, weil sie ja auch in einem solchen Universum allererst erkennbar ist. Vor allem aber ist diese Providenz in der Welt und aus der immer begrenzten Perspektive des Menschen nur schwer erkennbar und zeigt sich allenfalls im Rückblick. Gerade deshalb würde es den Menschen wenig helfen, die Existenz der Providenz einfach zu behaupten: Insofern es Fielding gerade darauf ankommt, die providentielle Ordnung der menschlichen Welt zu zeigen, muss er beständig zwischen rückblickender Übersicht und Mit-Sicht aus der Figurenperspektive changieren. 34 Bei Fielding ist der Autor nicht eine allgemeine Instanz, die hinter den Text zurücktritt und dessen Sinn und Wahrheit garantiert, sondern er mischt sich immer wieder in den Text ein, insbesondere deshalb, weil die Grenze zwischen Erzähler und Autor bewusst durchlässig gestaltet ist. Das ist nicht nur essentiell für die Institutierung der Gattung des Romans und für die Heranführung des Lesers an seine Konventionen, sondern hat auch eine wichtige epistemologische Funktion, weil sie das spezifische Wissen des Romans konstituiert. Dieses Wissen ist ambivalent: Um glaubhaft erzählen zu können, muss die Erzählung sowohl höchst motiviert als auch lückenhaft sein, ebenso muss ihr Autor sowohl präsent sein, um mittels Herausgeber- und Quellenfiktion die Wahrhaftigkeit der Darstellung zu fingieren, als auch absent, um dem Leser die Aufgabe der Durchdringung und des Verstehens dieser Welt nicht abzunehmen. Autorschaft vollzieht sich somit als 33 XVIII/3,924. 34 Das betont besonders Richard A. Rosengarten: „Tom Jones actually presents the sagacious reader

with two perspectives on providence: that of the actors in the moment, and that of the narrator in retrospect. They are not perfectly symmetrical. Those whose circumstances are immediate can do no other than attribute their happy conclusion to the designs of providence. The one who considers events retrospectively wavers.“ Richard A. Rosengarten, Henry Fielding and the Narration of Providence, New York 2000, 85.

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permanente Metalepse, als auktorialer Eingriff in die Erzählung, die zugleich immer auch eine Selbstfiktionalisierung des Autors nahelegt. Und dieser Sprung und die Verwicklung des Autors in sein Werk wird gerade durch die religiösen Analogien nahegelegt, insofern sie wie von selbst die Paradoxien der Allmacht evozieren und den Schöpfer an seine Schöpfung bindet.

3. Jean Paul ist vielgelesener Romanautor und erster freier Schriftsteller in der deutschen Kunstperiode, aber gerade das hat ihn auch immer wieder zur Ausnahme gemacht, kritisch beäugt von der älteren, am Kunstideal ausgerichteten Germanistik, mit um so größerer Emphase aufgenommen von der neueren Forschung, die gerade die Verhandlung von Autorschaft bei Jean Paul immer wieder als Gegenposition gegen eine idealistische Kunstauffassung gelesen hat. So hat etwa Rolf Lindner in politischer Hinsicht gezeigt, das Jean Pauls permanente Verhandlung von Autorschaft immer auf die Krise des aufklärerischen Kommunikationsmodells der Öffentlichkeit reflektiert 35 ; nach Andreas Kilcher spiegeln die mannigfaltigen Schreib- und Autorschaftsszenen den wissenspoetologischen Umbruch um 1800 wider 36 ; Monika Schmitz-Emanns und Andreas Erb haben in mediengeschichtlicher Hinsicht gezeigt, wie sich Jean Paul als Autor und durch die Inszenierung von Autorschaft permanent mit der Materialität der Schrift auseinandersetzt. 37 In allen Fällen geht es dabei darum, dass Jean Paul die eigene auktoriale Arbeit hinter dem Werk nicht verschwinden lässt, sondern das Schreiben selbst zur Darstellung bringt, gerade auch in seinem Scheitern und in seinen Umwegen. Wie bei Fielding gibt es dabei eine Doppelbewegung, die man als Spannung zwischen erzählerischer Selbstbehauptung und Allgegenwart fremder Rede beschreiben kann: Jean Paul betont die Kontingenz seiner Texte, aber er tritt niemals als der freie Schöpfer seiner Bücher auf, sondern ist immer wieder in Materialen und Schreibszenen verwickelt, welche die eigene Autorschaft zugleich in Szene setzen und kritisch begrenzen. Wie bei Fielding vollzieht sich das durch die intensive Kommunikation mit dem Leser im Text und seinen Paratexten, dass und wie sich die Paradoxien dabei noch steigern, müsste vor allem ein Vergleich mit Lawrence Sterne zeigen, der gewissermaßen die Brücke zwischen Fielding und Jean Paul bilden würde. Auch für diesen Zusammenhang spielt nun der religiöse Diskurs eine wichtige und gerade in der jüngeren Forschung noch wenig berücksichtigte Rolle. Bereits auf den 35 Rolf Lindner, Jean Paul. Scheiternde Aufklärung und Autorrolle, Darmstadt 1976. 36 Andreas B. Kilcher, mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600–2000, München

2003, bes. 112 ff, 380ff.

37 Monika Schmitz-Emans, „Der verlorene Urtext. Fibels Leben und die schriftmetaphorische Tradi-

tion“, in Jahrbuch der Jean Paul Gesellschaft 26/27 (1991/1992) 197–222; dies., „Vom Leben und Scheinleben der Bücher“, in Jahrbuch der Jean Paul Gesellschaft 28 (1993), 17–46; Andreas Erb, Schreib-Arbeit. Jean Pauls Erzählen als Inszenierung ‚freier‘ Autorschaft, Wiesbaden 1996.

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ersten Blick ist dieser Zusammenhang dabei ambivalent und war daher für die bisherige Diskussion auch oft nicht leicht einzuordnen. Denn auf der einen Seite stellt Jean Paul seine Texte ganz explizit in die religiöse Tradition und greift immer wieder auf eine Fülle von christlichen Figuren und Sprachformen zurück, zum anderen thematisiert er auch immer wieder die Abwesenheit Gottes und entwirft einen radikalen Nihilismus. Tatsächlich lässt sich aber diese Ambivalenz insgesamt als Reaktion fassen und erhält dadurch ihre eigene Kohärenz. Sie reagieren auf die um 1800 entstehende Kunstreligion, also jene Vermischung ästhetischer und religiöser Diskurse, die für die historische Darstellung des Verhältnisses von Kunst und Religion oft zentral sind, weil hier vermeintlich Religion ein für allemal in Kunst ‚aufgehoben‘ worden ist. 38 Jean Pauls religiöse Referenzen lassen sich nun zwar scheinbar in diesen Zusammenhang mehr oder weniger nahtlos einordnen, bei näherem Hinsehen erweisen sie sich aber als kritische Reaktion auf die Kunstreligion und insbesondere auf deren Autorbild und die diesem selbstermächtigend zugesprochene ‚Souveränität‘. 39 Das kann im Folgenden nur kurz und nur an zwei Beispielen umrissen werden: an der paratextuellen Situierung des Autors und an der Poetik, in der explizit auf die schon bei Fielding erörterte Frage der Allmacht rekurriert wird. Jean Paul ist ein wahrer Virtuose des Paratextes. Was ältere Forschung eher verstört hat – „Es bleibt etwas zu sagen, außer dem Werk, über das Werk“, so Kommerell nicht ohne Vorwurf 40 –, ist für neuere Analysen als Textstrategie besonders aufschlussreich. Uwe Wirth liest die Inszenierung von Autorschaft als Selbstherausgeberschaft und damit gewissermaßen als Spaltung der Autorschaft in zwei Instanzen. 41 Das Spiel dieser Instanzen kann man etwa im Hesperus sehen, in dem Erzählung und Erzählen von einer Rahmenfiktion umschlossen und immer wieder unterbrochen werden, deren Funktion weit über die Herausgeber- und Quellenfiktion hinausgeht: Der sich ‚Jean Paul‘ nennende Erzähler sitzt auf einer einsamen Insel und erhält das Material zu seinem Roman schrittweise durch den Posthund Spitzius Hofmann. Das führt zu Konfusionen, denn wenn der Bote ausbleibt, muss auch die Erzählung warten; wenn sie zu langsam wird, hält sie umgekehrt den Posthund zurück, wie am Ende des 20. Hundposttags, wo die Schwester schon zum Essen ruft, das der Poet aber lieber kalt werden lässt, um dem Leser noch sieben goldene Sprüche mit auf den Weg zu geben, faktisch: danach noch einen Schalttag mit Aphoris38 Vgl. zu dieser Konstruktion kritisch Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen

2006, besonders wird hier die Rückprojektion kunstreligiöser Kategorien in vorromantische Projekte kritisiert und generell die Fragilität der Konstruktion von ‚Kunstreligion‘ betont. 39 Dieses Argument ist in theologischer Absicht schon von Dorothee Sölle vorgebracht worden, die betont, dass Jean Pauls Rekurs auf Religion nicht zu einer Versöhnung oder Verklärung des Ästhetischen führe, sondern dieses vielmehr kritisiere: Jean Pauls religiöse Sprache „durchlöchert den ästhetisch geschlossenen Umkreis zugunsten einer Wunschbewegung, die mehr von Poesie erwartet, als diese leisten kann.“ Dorothee Sölle, Realisation. Studien zum Verhältnis von Religion und Dichtung nach der Aufklärung, Darmstadt 1973, 188. 40 Max Kommerell, Jean Paul, Frankfurt a.M. 5 1977, 159. 41 Vgl. Uwe Wirth, Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, München 2008 zu Jean Paul vgl. ebd. 331ff.

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men anzuhängen. Hier handelt es sich tatsächlich um ‚Autofiktion‘, welche mit Absicht die Konventionen autonomen und auktorialen Erzählens durchbricht, um so mehr als der Erzähler sich schließlich als der im Roman lange gesuchte Grafensohn erweist und damit in die erzählte Welt eintritt. Gleichzeitig agiert Jean Paul aber auch als Selbstherausgeber, indem er seinem Roman eine bzw. in der zweiten und dritten Auflage zwei und drei Vorreden voranschickt. Auch sie wenden sich unmittelbar an den Leser: Komm, liebe müde Seele, die du etwas zu vergessen hast, entweder einen trüben Tag oder ein überwölktes Jahr, oder einen Menschen, der dich kränkt, oder einen, der dich liebt, oder eine entlaubte Jugend, oder ein ganzes schweres Leben; und du, gedrückter Geist, für den die Gegenwart eine Wunde und die Vergangenheit eine Narbe ist, komm in meinen Abendstern und erquicke dich mit seinem kleinen Schimmer. 42

‚Erquickung‘ und vor allem ‚Trost‘ ist die Funktion des Romans, dessen Autor alle auffordert, zu ihm zu kommen, bekennt, er habe die ganze Zeit an sie, seine Leser gedacht, und dann sieben Bitten und einen Beschluss anhängt, die dem Leser nicht unbekannt sind: Und endlich die Fünfte Bitte, die man aus dem Vaterunser schon kennt, 43 also Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Überdeutlich folgt die Vorrede einem Predigtformular, und das ist auch kein Wunder, ist die Predigt doch ein Genre, dass nicht nur immer wieder auf einen gegebenen Text rekurriert, sondern stets auch die eigene Peformanz mitdenkt – sie war daher auch bei Sterne schon ein wichtiges Genre zur paratextuellen Reflexion. 44 Ganz konsequent setzt diese Predigt dann mit dem Beschluss fort, der einer Segensformel entspricht: Und so werde denn sichtbar, kleiner stiller Hesperus! – Du brauchst eine kleine Wolke, um verdeckt zu sein, und ein kleines Jahr, um deinen Umlauf vollführt zu haben! – Mögest du der Tugend und Wahrheit, wie dein Ebenbild am Himmel der Sonne, näher stehen, als die Erde allen dreien ist, in die du schimmerst […] – Du würdest mich zum zweitenmal glücklich machen, wenn du für irgendeinen abgeblühten Menschen ein Abendstern, für irgendeinen aufblühenden ein Morgenstern würdest! 45

Mögest du, das ist der Wunsch, der bei Jean Paul allgegenwärtig ist, denn immer wieder wendet er sich an seine Leser oder seine Figuren, um ihnen etwas mit auf den Weg zu geben, Trost oder auch Hoffnung, wie am Schluss der Vorrede: Ja, es wird zwar ein anderes Zeitalter kommen, wo es licht wird, und wo der Mensch aus erhabnen Träumen erwacht und die Träume – wiederfindet, weil er nichts verlor als den Schlaf. 46 So wird das Vorwort Evokation und Prophetie einer Zukunft und diese Zukunft wiederum als Morgendämmerung figuriert, welche bei Jean Paul – einem Bewunderer von Herders Ältester Urkunde – immer eine wichtige Figur der Schöpfung ist. Seine Texte rufen so 42 Jean Paul, Hesperus, in Sämtliche Werke, Abteilung I, Bd. 1, hg. v. Norbert Miller, Darmstadt 2000,

487 f.

43 Ebd. 489. 44 Vgl. dazu Ursula Naumann, Predigende Poesie. Zur Bedeutung von Predigt, geistlicher Rede und

Predigertum für das Werk Jean Pauls, Nürnberg 1976.

45 Jean Paul, Hesperus, 489. 46 Ebd. 490.

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beständig einen religiösen Kontext auf – sei es die Form der Predigt, sei es die Figur des Schöpfung –, sie tun das aber gerade nicht, um das vollendete Werk als eine stattgehabte ‚Schöpfung‘ zu figurieren, sondern vielmehr um seine Grenzen zu markieren: Einerseits, indem sie das ‚Geschöpf‘ immer wieder auf den Akt des ‚Schöpfens‘ zurückbeziehen, der es dem Text nie erlaubt, sich vom Akt des Schreibens abzulösen und ‚autonom‘ zu werden, andererseits indem sie die eigentliche ‚Entstehung‘ des Werkes in die Hand des Lesers und einer Zukunft legen, die dann sogleich eschatologisch figuriert wird. 47 Religiöse Referenzen prägen auch Jean Pauls Poetik, in der sich die oben erwähnte Querstellung zur Kunstreligion wohl am deutlichsten ausdrückt. Denn auf der einen Seite spricht er sich ganz selbstverständlich dafür aus, die Poesie unter das „Göttliche im Menschen“ zu subsumieren, 48 auf der anderen Seite haftet diesen Ausdrücken eine eigenartige Sperrigkeit an, die es verhindert, sie bloß als religiöse Legitimationsformeln oder als Rhetorik der Selbstauratisierung zu lesen. Zwar stellt sich religiöse Bildlichkeit fast immer ein, wenn Jean Paul über die Dichtung reflektiert, aber es fragt sich eben, ob es sich um bloße Bildlichkeit handelt bzw. wie solche Bilder zu verstehen sind. 49 Eine explizit religiöse Anspielung finden wir etwa in der Vorschule der Ästhetik, wo im Rahmen der Erörterung der Handlungsführung über das uns bekannte Problem der narrativen ‚Vorsehung‘ gehandelt wird: Im ersten oder Allmacht-Kapitel muß eigentlich das Schwert geschliffen werden, das den Knoten im letzten durchschneidet. Hingegen im letzten Bande mit einem regierenden Maschinisten nachzukommen, ohne daß ihn Maschinen in den vorhergehenden angemeldet, ist widrige Willkür. Je früher der Berg dasteht, der einmal die Wetterscheide einer Verwicklung werden soll, desto besser. Am schönsten, d.h. am unwillkürlichsten geschieht die Entwicklung durch einen bekannten Charakterzug eines alten Mitspielers; denn hier besiegt die schönste Geister-Notwendigkeit, worüber der Dichter nichts gebieten kann und soll; so wird z.B. in Fieldings Tom Jones der Knoten durch das Entlarven einer frühen eigennützigen Lüge des heuchelnden Blifils überraschend aufgebunden. 50

Offensichtlich handelt es sich hier um eine Beschreibung, ja eine Anweisung zur Konstruktion der Handlung. 51 Typisch für Jean Paul ist dabei die starke Metaphorisierung: 47 Vgl. dazu Thomas Wirtz, „‚Ich komme bald, sagt die Apokalypse und ich‘. Vorläufiges über den

48 49

50 51

Zusammenhang von Weltende und Autorschaft bei Jean Paul“, in Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 31 (1997/98), 47–84. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, in Sämtliche Werke, Abteilung I, Bd. 5, hg. v. Norbert Miller, Darmstadt 2000, 92. Vgl. dazu erneut die Analysen von Sölle, nach der die religiöse Sprache kein „beliebiges metaphorisches Material [sei], das umfunktionalisiert und auf bloße Bewußtseinsvorgänge reduziert werden könnte.“ Dorothee Sölle, Realisation, 182; vgl. auch die immer noch relevante Kritik der Säkularisierungskategorie ebd. bes. 70–88. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, 262. Allerdings ist diese Empfehlung kein starres Rezept, später benutzt Jean Paul dieselbe Metapher, um zu argumentieren, dass man nicht immer alles motivieren müsse: Nein, wie der Dichter, gleich einem Gotte, vorn am ersten Tage der Schöpfung seine Welt setzt, ohne weitern Grund als den der Allmacht der Schönheit: so darf er auch mitten im Werke da, wo nichts Altes beantwortet oder aufgehoben wird, den freien Schöpfung-Anfang wiederholen. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, 246.

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Die narrative Schöpfung wird nicht etwa mit der göttlichen Schöpfung verglichen, um den Vergleich sofort zu relativieren, wie es bei Fielding der Fall war. Vielmehr wird das Schreiben des Romans metaphorisch unmittelbar zur göttliche Schöpfung aus Allmacht, wobei die Metapher im folgenden fortgesponnen und von anderen Metaphern ergänzt wird – vom Schwert, vom Maschinisten und vom Berg –, welche keinesfalls eine Synthese bilden, sondern zueinander disparat bleiben. Bereits das erzeugt eine gewisse ironische Distanz, welche die Rede von der Allmacht fast parodistisch erscheinen lässt. Die Metapher ist also kein wohldosierter Vergleich, sondern schwankt zwischen großer Wörtlichkeit – es handelt sich ja auch ganz platt um einen Ratschlag, wie das erste Kapitel zu schreiben ist – und parodistischer Verfremdung, welche die Metapher gleich wieder aufhebt. Solche Doppelheit ist in vielen anderen Fällen den Figuren eigen, mit denen Jean Paul Religion und Poesie in ein Verhältnis setzt: Ihre Komplexität und Konkretion untergräbt immer wieder ihre Aussage und damit auch ihr kunstreligiöses Legitimationspotential. Das zeigt sich etwa in der Behandlung des Humors, die fraglos zu den originellsten Teilen der Vorschule gehören: Wenn der Mensch, wie die alte Theologie tat, aus der überirdischen Welt auf die irdische herunterschauet: so zieht diese klein und eitel dahin; wenn er mit der kleinen, wie der Humor tut, die unendliche ausmisset und verknüpft: so entsteht jenes Lachen, worin noch ein Schmerz und eine Größe ist. 52

Der Humor ist nicht nur für Stilistik und Erzählung Jean Pauls von entscheidender Bedeutung, sondern auch für seine Autorfiguration. Insofern der Humor auf einer Spaltung des Ich beruht, in der sich beständig dessen Teile gegenüberstehen, ist er auch der Modus, in dem der Autor sich selbst gegenübersteht und sich selbst in seinem Text zeigt, indem er alle seine Elemente permanent am Ganzen oder am Ideal misst. Der Humor als das umgekehrte Erhabene beruht auf der Differenz von Endlichem und Unendlichem und kann sich daher immer wieder der theologischen Bildlichkeit jener zwei Welten bedienen. Dabei werden diese Analogien oft mehr als bloße Analogien, nämlich zu Bildern von eigentümlicher Prägnanz und Witz, welche den Humor, von dem sie sprechen, gewissermaßen selbst verkörpern: Wie Luther im schlimmen Sinn unsern Willen eine lex inversa nennt: so ist es der Humor im guten; und seine Höllenfahrt bahnet ihm die Himmelfahrt. Er gleicht dem Vogel Merops, welcher zwar dem Himmel den Schwanz zukehrt, aber doch in dieser Richtung in den Himmel auffliegt. Dieser Gaukler trinkt, auf dem Kopfe tanzend, den Nektar hinaufwärts. 53

Hier wird die Analogie zu einem Gleichnis, das die typischen Züge Jean Paul’scher Bildlichkeit trägt: Sein Ausgangspunkt ist unklar, denn wer weiß schon was Luther mit der lex inversa nennt – wohl grob die verinnerlichte Weltlichkeit –, es ist nicht anschaulich, weil man sich die Beziehung von Höllen- und Himmelfahrt kaum vorstellen kann, es ist überkomplex, weil es gleich durch das zweite Bild des Vogel Merops ergänzt wird, sein 52 Ebd. 129. 53 Ebd.

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Schluss ist überraschend, weil die Bildebene des Vogels noch einmal weiter ausgedeutet wird auf das Nektartrinken. So entzieht sich das Gleichnis einer klaren Aussage, bringt aber die Trennung von oberer und unterer Welt und die umgekehrt theologische Figuration des Humors nichtsdestotrotz prägnant zur Geltung. Die Gegenüberstellung von Himmlischen und Irdischem betrifft aber nicht nur den Humor, sondern auch die Beschreibung des Genies und damit den Bereich, wo Jean Paul der Kunstreligion wohl am nächsten heißt. Denn auch vom Genius heißt es, dieser würde Göttliches und Menschliches, also reale und ideale Welt miteinander verknüpfen: Und das ist der Genius; und die Aussöhnung beider Welten ist das sogenannte Ideal. Nur durch Himmelskarten können Erdkarten gemacht werden; nur durch den Standpunkt von oben herab (denn der von unten hinauf schneidet ewig den Himmel mit einer breiten Erde entzwei) entsteht uns eine ganze Himmelskugel, und die Erdkugel selber wird zwar klein, aber rund und glänzend darin schwimmen. 54

Die Rede vom ‚göttlichen‘ Genius ebenso wie die Vorstellung einer ‚Aussöhnung‘ von Realem und Idealem bewegt sich ganz im Gedankenbereich einer Kunstästhetik, für die das Kunstwerk begrenzte Totalität ist, welche die unbegrenzte Totalität der Welt nachahmt. Aber das herangezogene Bild der verschiedenen Karten ist nicht nur eigenartig indirekt, weil es die Gemachtheit dieser Aussöhnung betont, welche bestimmter Hilfsmittel und Techniken bedarf, deren Materialität im Prozess keineswegs verschwinden; sie impliziert darüber hinaus eigentlich die bleibende Differenz der beiden hier vermeintlich versöhnten Sphären, insofern auf einer Himmelskarte die Erde so unsichtbar wie der Himmel auf einer Erdkarte. Nun ist man versucht, gerade in Hinsicht auf die Frage der ‚Allwissenheit‘, das Bild metaphorisch zu verstehen: Himmelskarten und Erdkarten, das würde demnach bedeuten, dass der Autor des Romans zugleich die Übersicht über sein Werk haben müsse und auf diese verzichten bzw. sie verleugnen müsse, wie wir das bereits bei Fielding gesehen haben. Tatsächlich ist es typisch für Jean Pauls Romane, dass diese Frage – also die Frage von Allwissenheit und Allmacht – breit erörtert wird, und zwar mit dem paradoxen Ergebnis, dass die ‚Souveränität‘ des Autors zugleich betont und begrenzt wird. Besonders explizit geschieht das in den Flegeljahren, wo der Erzähler gegen Ende des Romans das Tagebuch zugeschickt bekommt, dass Vult über seinen Zwillingsbruder Walt geschrieben hat und das seinerseits Teil des ‚Doppelromans‘ ist, an dem beide schreiben – ein Setting des Schriftverkehrs, das sehr typisch für Jean Paul ist. Das Tagebuch spielt die verschiedenen diaristischen Authentizitätfiktionen als Schreibszenen durch: Vult schwört Aufrichtigkeit, indem er so mit den Fingern, die man sonst dazu aufhebt, es herschreib[t]: Ich schwöre. 55 Dabei wird dieser Anspruch schon durch die bloße Tatsache unterlaufen, dass das Tagebuch ja Tagebuch über einen anderen sein wird, den er – wieder die Metaphorik der Schrift – auseiannderwinde[n] und dann [kopieren[n] wolle:

54 Ebd. 66. 55 Jean Paul, Flegeljahre, in Sämtliche Werke, Abteilung I, Bd. 2, hg. v. Norbert Miller, Darmstadt 2000,

998.

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Daniel Weidner

Ich seh’ auch nicht ein, warum ich nicht überhaupt so gut einen göttlichen Roman schreiben sollte wie Billionen andere Leute. Mir selber ist Schriftstellerei so gleichgültig, Vult! Wie ich lebe, nicht um zu leben, sondern weil ich lebe, so schreib’ ich bloß, Freund, weil ich schreibe. Worin soll denn das Ebenbild Gottes sonst bestehen, als daß man, so gut man kann, ein kleines Aseitätchen ist und – da schon Welten mehr als genug da sind – wenigstens sich Schöpfer täglich erschafft und genießt, wie ein Meßpriester den Hostiengott? 56

Das literarische ‚Schöpfertum‘ ist inzwischen nichts Besonderes mehr: Jedermann ist ein Schöpfer, und das ist bereits ein Klischee. Das Schöpfen ist daher auch nicht das Schöpfen einer Welt, sondern Selbstschöpfung und Erschaffung des Schöpfers. Allerdings ist diese Figur der Selbstermächtigung nicht nur durch die Zwillingskonstellation in Frage gestellt, in der Vult ja nicht sich selbst, sondern einen anderen schöpfen will: ein Projekt das schließlich misslingt, so dass beide Brüder füreinander undurchsichtig werden. Die Abgründe der Selbstschöpfung, ihre dämonische und nihilistische Natur, werden in der Figur Vults auch immer wieder reflektiert. Zu dieser Reflexion gehört auch die zitierte Rede vom Aseitätchen. Sie ist zugleich blasphemisch und kritisch, denn sie ironisiert den allzu leicht erhobenen Anspruch des ‚Schöpferischen‘ und führt ihn zugleich auf eine Form der Subjektivität zurück: eben jene des Humoristen und Satirikers, die dann wieder ausgestellt werden muss. Die narrative Konstellation bzw. die Herausgeberfiktion überformt an dieser Stelle die Erzählung mit fremder Rede, sei es, dass die Rede des Tagebuchs durch jene des Herausgebers kontaminiert, der im Anschluss einen brieflichen Streit mit seinen Auftraggebern führt, ob er mit dem Abdruck des Tagebuchs seinen Pflichten nachkomme, sei es umgekehrt, dass die auktoriale Rede Jean Pauls durch die in sie eingebetteten Dokumente, sowohl dieses Tagebuch als auch jener Briefwechsel, immer wieder als sekundär aufgezeigt wird. Wie bei Fielding ist die Einmischung des Autors in seinen Text zentral und stört immer wieder die mimetische Illusion; das Verfahren dieser Einmischung wird dabei in der Theorie des Humors beschrieben. Als humoristischer Autor beansprucht Jean Paul also gerade nicht die Übersicht und Handlungsmacht eines gottgleichen Autors, sondern nutzt gerade die Differenz des Irdischen und des Göttlichen zur Reflexion und zur kritischen Selbstbegrenzung der eigenen Autorschaft. Man hat diesen Jean-Paul’schen Humor auch als „säkularisiertes christliches Weltverständnis“ bezeichnet, 57 und tatsächlich hat Jean Paul deutlicher als andere Autoren das Romantische mit dem Christlichen identifiziert und sich selbst auf christliche Diskurse bezogen. Aber dieser Bezug ist weder schlicht affirmativ, noch besteht er darin, die eigene Position mittels der stillschweigenden Aneignung religiöser Semantik zu legitimieren. Sein Bezug auf christliche Denkfiguren ist weder schlicht affirmativ, noch erschöpft er sich darin, die eigene Position mittels stillschweigender Aneignung religiöser Semantik zu legitimieren. Vielmehr wird die Übertragung religiöser Semantik gerade als solche markiert, sei es in den schrillen Gleichnissen wie 56 Ebd. 999. 57 Wolfdietrich Rasch, „Die Poetik Jean Pauls“, in Hans Steffen (Hg.), Die deutsche Romantik. Poetik,

Formen und Motive, Göttingen 2 1970, 98–111, hier 106.

Himmelskarten und Erdkarten

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dem rückwärts fliegenden Vogel oder den zwei Karten, sei es in der metafiktionalen Konstruktion der Selbstschöpfung des Romans durch seinen Figuren. Daher geht es in Jean Pauls religiösen Referenzen auch nicht um religiöse Selbststilisierung der Dichtung und des Dichters, sondern um eine fundamentale Reflexion über das epistemologische Potential der neuen Gattung Roman in kritischer Abgrenzung von der Kunstreligion, eine Reflexion die sich wiederum als Ausstellung des Autors vollzieht, der, anders als in der bereits in Durchsetzung begriffenen Konvention autonomen Erzählens, nicht als Schöpfer hinter seinem Text verschwindet, sondern in permanenter Interaktion mit dem Leser verbleibt.

4. Natürlich gibt es viele verschiedene Formen von Autorschaft um 1800, von denen die Romanautorschaft nur eine ist. Sie scheint mir aber von besonderer Bedeutung für eine Geschichte der Autorschaft zu sein, jedenfalls wenn man diese mit Foucault als Bruch, Trennung und Distanz innerhalb des Diskurses versteht. Denn gerade im Roman, und man muss wohl weiter einschränken: gerade im auktorialen Roman, werden wie gezeigt die textuellen und paratextuellen Instanzen beständig vermischt und aufeinander bezogen. Diese Vermischung bezieht sich seinerseits auf eine Reihe anderer Diskurse, an denen der Roman partizipiert oder auf die er sich bezieht, von denen er sich aber zugleich abgrenzt. Zu diesen Diskursen gehört – neben sehr vielen anderen, etwa dem anthropologischen, dem moralischen, dem ökonomischen – auch der religiös-theologische. Er hat insofern besondere Bedeutung, als ihm jene Prädikate entstammen, gegen die sich die jüngere Polemik gegen den Autor richtet: seine vermeintliche metaphysische Natur als kontrollierende, allwissende und allmächtige Instanz eines Schöpfers, seine Souveränität. Die genauere Lektüre zeigt aber, dass das nicht einfach allgemeine Prädikate sind, die irgendwann aus der Theologie in die Poetik ‚übertragen‘ worden sind, wie es eine allzu einfache Säkularisierungserzählung suggeriert. Diese ‚Übertragung‘ vollzieht sich vielmehr performativ im auktorialen Text selber, der mit der Figur der Schöpfung spielt, um zu beschreiben, was er tut und wie er sich zur Welt verhält. Das wirft nicht nur eine Reihe von hochinteressanten Fragen über die Leistung und epistemologische Natur der Romanfiktion und ihre Beziehung zur Religion auf, also etwa inwiefern der ‚Glaube‘ der dem Romanleser abgefordert wird, jene willing suspension of disbelief , historische und systematische Beziehung zum religiösen Glauben hat oder ob die Funktion des Todes im Roman nicht ebenfalls auf die religiöse Semantik zurückgreift. Es betrifft jedenfalls die Funktion des Autors, der, gerade indem er die Figur der Schöpfung evoziert, sich sogleich vom Schöpfer unterscheiden muss, sogleich beginnen muss, Allmacht und Allwissenheit, Erzählung und Erzählen in eine neue Balance zu bringen. Die Rede von der Allwissenheit und auch von der Schöpfung muss also nicht nur starke Autorfiguren konstruieren, sie dekonstruiert sie auch und eröffnet gerade damit jenes Doppelspiel, aus welchem der moderne Autorbegriff entsteht.

Karin Westerwelle

Charles Baudelaire Masken und Figuren des Autors

Einleitung Blickt man auf das 19. Jahrhundert zurück, vermitteln Gemälde von Émile Deroy, Gustave Courbet, Édouard Manet und Henri Fantin-Latour, Stiche von Manet und Félix Bracquemond und Photographien von Félix Nadar oder Étienne Carjat ein Bild des Autors Charles Baudelaire. Nicht alle Porträts waren in gleichem Maße der zeitgenössischen Öffentlichkeit zugänglich, sie vermitteln aber der Nachwelt eine Anschauung davon, in welchen Medien sich ein Autor des 19. Jahrhunderts darstellte und auf welche Art und Weise er an dem Selbstbild feilte, das in die Überlieferung eingehen sollte. 1 Dass Baudelaire klassische oder romantische Autorenkonzepte fortführen oder dem bürgerlichen Publikum ein konventionelles Bild des Autors hätte geben können, war mit der neuen Situation von Literatur und Kunst im Second Empire sowie der Ästhetik Baudelaires nicht vereinbar. Die romantischen Schriftsteller hatten versucht, durch eine neue spirituelle Erhöhung und gesellschaftliche Nobilitierung der Dichterfigur den symbolischen und repräsentativen Geltungsverlust gegenüber der Funktion des Hofdichters im klassischen Zeitalter und gegenüber der gesellschaftspolitischen Bedeutung des homme de lettres in der Aufklärung zu kompensieren. 2 Victor Hugo stilisierte in seinen 1 Einen Überblick über Gemälde, Stiche und Photographien geben Le Musée retrouvé de Charles

Baudelaire, hg. v. Yann le Pichon/Claude Pichois, Paris 1992, und Karin Westerwelle (Hg.), Charles Baudelaire. Dichter und Kunstkritiker, Würzburg 2007. Vgl. zur Porträtierung von Dichtern und Künstlern in der Photographie Françoise Heilbrun, „Baudelaire et Nadar. L’un des premiers portraits de Charles Baudelaire (1821–1867) par Félix Nadar (1820–1910)“, in Revue du Louvre et des Musées de France 42/5–6 (1992), 63–75, zur bildenden Kunst vgl. Heather McPherson, The modern Portrait in Nineteenth-Century France, Cambridge 2001. 2 Vgl. dazu die einschlägigen Arbeiten von Paul Bénichou, Le Sacre de l’écrivain. 1750–1830, Paris 1973; ders., Les Mages romantiques, Paris 1988; ders., L’École du désenchantement. Sainte-Beuve, Nodier, Musset, Nerval, Gautier, Paris 1992. Zur neuen gesellschaftlichen Situation des Künstlers

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Gedichten den Autor zum Propheten und gab damit ein Bild vor, das weite Verbreitung fand. Honoré de Balzac erfand den aristokratischen Dichtertypus, dem der theoretische Entwurf eine gesellschaftspolitische Rolle zuweist, die in den Romanen zumeist zum Scheitern verurteilt ist. Die gesellschaftliche Lage des Künstlers und Schriftstellers in den nachrevolutionären Epochen unterschied sich grundsätzlich von derjenigen, die sie in früheren Jahrhunderten innehatten. Für die Legitimation bürgerlicher Herrschaft spielte die Literatur nicht mehr die Rolle, die ihr im Rahmen höfischer Repräsentation zukam. Mehrheitsurteil und finanzielle Kaufkraft entschieden über den Marktwert von Literatur. Das Kunstwerk als Ware wurde als journalistischer Artikel oder als Feuilletonbeitrag gehandelt. Autoren wie Balzac, Nerval und Baudelaire haben diesen journalistischen Markt bedient und darin ihre wirtschaftliche Existenz begründet. 3 Die Reflexion über den Status des Autors als kunstschaffenden Individuums, über seine gesellschaftliche Rolle und Funktion, über die imaginären Figuren und Bilder, die ihn repräsentieren, über den symbolischen Wert seines Seins steht im Zentrum der Ästhetik Baudelaires. In seinem künstlerischen Interesse brüskierte Baudelaire bürgerliche Werte und Normen: Sein Anspruch auf Subjektivität, der sich in der geistigen Durchdringung der Welt und ihrer literarischen Darstellung ohne moralischen oder utilitaristischen Zweck zeigt, und seine Kritik am Fortschrittskonzept widersetzten sich Ansprüchen, die allein auf das Materielle und Sichtbare ausgerichtet waren und das Gegebene als das naturhaft Seiende verklärten. Sein Konzept der Autonomie der Kunst, das nicht mit dem Art pour l’Art identisch ist, erforderte gegenüber der romantischen Kunst und ihrer Emphase der Autorfigur als Prophet und gesellschaftlichem Außenseiter neue Bilder und Konzepte. Baudelaires Lyrik bietet viele Benennungen, eine Fülle von Metaphern, Umformungen und neuen Figuren, die Autor- resp. Dichterbilder neu konturieren. Theoretische Reflexionen über das Porträt als Medium, gesellschaftlichen Ruhm zu begründen, Betrachtungen über den Autor als grand homme oder als homme de lettres, als ‚Dandy‘, Poète, saltimbanque (‚Gaukler‘), als chiffonnier (‚Lumpensammler‘) oder Weintrinker ordnen sich einem weiten literatur- und kunstgeschichtlichen Panorama ein. Die kunstkritischen Schriften beschreiben den Dandy, Flaneur, homme des foules, chiffonnier, homme du monde im geschichtlichen Horizont der Großstadt. Den Gedichten fehlt solche Detailliertheit. Anders als in den ästhetischen Betrachtungen über den Peintre de la vie moderne (1863) taucht z.B. in den Gedichten der Tableaux parisiens die Figur des flâneur oder des homme des foules nicht auf. Der chiffonnier wird in dem Prosatext Du Vin et du Haschisch

vgl. auch Stefan Germer, „Alte Medien – neue Aufgaben. Die gesellschaftliche Position des Künstlers im 19. Jahrhundert“, in Monika Wagner (Hg.), Moderne Kunst. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, Bd. 1, Hamburg 1992, 92–114. 3 In soziologischer Perspektive hat sich Nathalie Heinich, L’Élite artistique. Excellence et singularité en régime démocratique, Paris 2005, dem Thema der Auszeichnung der Literaten im demokratischen Zeitalter gewidmet. In die „Strategien und Karrieren“ des Kunstmarktes im 19. Jahrhundert gibt Oskar Bätschmann, Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997, v.a. 124–164, einen sehr guten Einblick.

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(I, 381) 4 von 1851 in einem großen Panorama allegorisch als Dichter- oder Autorfigur in seinem Tun geschildert, das Gedicht CV Le Vin des chiffonniers (I, 106–107) bewegt sich in einer abstrakteren Dimension. Das Neue der Fleurs du mal liegt nicht nur in ihrer poetologischen Reflexion. Es besteht vor allem darin, dass beinahe jedes Gedicht ein Bild des Dichters als künstlerisches Subjekt entwirft. Wenn Lyrik traditionell eine Form der laudatio oder ein Gesang ist, der auf die Dinge der Welt und das zu Bewahrende angestimmt wird, verschiebt sich bei Baudelaire die Darstellung auf das in Formen, Figuren und Masken anschaulich gemachte schöpferische Subjekt. Mit ihm ist auch das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft erfasst. Dichter- und Autorbilder in der Lyrik Baudelaires sind der pragmatischen Erfahrung von Welt nicht unmittelbar einsehbar. Entwürfe der Figuren des Dichters sind zumeist mittels religiöser Referenz und malerischer Bildlichkeit veranschaulicht. Religiöse Sprache und Bildlichkeit haben dabei die Funktion, eine Sprecherposition zu vergegenwärtigen, die Differenz zur alltäglichen Welt setzt. Sie verschafft sich metaphorisch Raum, indem sie in Referenz auf die christliche Spiritualität, die ihre transzendente Bedeutung verloren hat, die besondere Wahrnehmung, das kritische Denken und das poetisch Schöpferische markiert und von der bürgerlichen Lebenswelt absetzt. Ein gutes Beispiel für die Inszenierung der abseitigen, eremitischen Sprecherposition findet sich zu Beginn des Kapitels Le Portrait aus dem Salon de 1859: Je ne crois pas que les oiseaux du ciel se chargent jamais de pouvoir aux frais de ma table, ni qu’un lion me fasse l’honneur de me servir de fossoyeur et de croque-mort; cependant, dans la Thébaïde que mon cerveau s’est faite, semblable aux solitaires agenouillés qui ergotaient contre cette incorrigible tête de mort encore farcie de toutes les mauvaises raisons de la chair périssable et mortelle, je dispute parfois avec des monstres grotesques, des hantises du plein jour, des spectres de la rue, du salon, de l’omnibus. 5 ‚Ich glaube nicht, dass die Vögel des Himmels jemals für die Kosten meiner Tafel aufkommen werden, und ebenso wenig, dass ein Löwe mir die Ehre geben wird, mir als Totengräber und Sargträger zu dienen; aber dennoch führe ich, in der Thebais, die sich mein Gehirn geschaffen hat, ähnlich jenen knienden Einsamkeitsfiguren, die gegen diesen unverbesserlichen Totenschädel redeten, der noch mit all den schlechten Gründen des vergänglichen und sterblichen Fleisches bestückt war, zeitweise Dispute mit grotesken Monstern, Ängsten des hellen Tages, Gespenstern der Straße, des Salons, des Omnibusses.‘

Der Sprecher stellt sich mirakelhafte Elemente des Einwirkens göttlicher Kräfte in die irdische Welt vor und nimmt in der geborgten Metaphorik der Heiligenlegende in einer großstädtischen Szenerie die geistige und unsichtbare Haltung des Eremiten ein, der über Vergänglichkeit und Seele meditiert. Die religiösen Bilder des Heiligen Hieronymus mit 4 Alle Zitatbelege der Texte Baudelaires folgen hier und im Weiteren der Ausgabe Œuvres complètes,

2 Bde., hg. v. Claude Pichois, Paris 1975 und 1976, unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl. Für den Briefwechsel zitiere ich nach Charles Baudelaire, Correspondance, 2 Bde., hg. v. Claude Pichois unter Mitarbeit von Jean Ziegler, Paris 1973, mit Angabe des Kürzels Corr. sowie der Bandund Seitenzahl. Die Übersetzungen stammen, wenn nicht anders vermerkt, von K.W. 5 II, 654.

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dem gezähmten Löwen und der Meditation über den Totenschädel überlagern sich mit den Vorstellungen, die den modernen Autor Baudelaire im dichterischen Schaffensprozess vergegenwärtigen. Er stellt sich in einem Tun vor, für das die religiöse Sprache einen spirituellen Rahmen vorgibt, der gegenüber der bürgerlichen Weltlichkeit abgrenzt und zugleich einen Raum für die nunmehr ästhetische Betrachtung schafft. 6 In den folgenden Ausführungen ist zunächst die Position des Dichters Baudelaire in seinen Verhandlungen mit dem Publikum zu ermitteln. Die Selbstpräsentation des Autors wird in einem zweiten Teil anhand des Porträtstichs Baudelaires von Félix Bracquemond erläutert. Abschließend werden in der Analyse des Gedichtes CXV La Béatrice die BildFiguren und Masken, die der Dichter von sich schafft, vorgestellt.

1. Verhandlungen mit dem Publikum Die Beziehung zwischen Autor und Publikum bildet sich im ästhetischen Gefallen (im plaire) des Werkes heraus. Das literarische Werk kann diesem Verhältnis förderlich oder verderblich sein, es kann sich dem Publikumsgeschmack – auch als Massenkunst – anpassen, sich ihm entziehen oder ihm entgegentreten. Rückzug aus der Gesellschaft, lange Arbeit und Einsamkeit profilieren sich auch in der Literatur des 19. Jahrhunderts als Bedingungen für die Genese eines Werks, das den Kriterien des Neuen oder des Authentischen gehorcht und sich den Normen und Erwartungen der offiziellen, akademischen Kunst oder dem breiten Publikumsgeschmack nicht fügt. Dieser Dynamik entspringen auch die Autorbilder. Der Status des Autors, wie er sich durch Institutionen und symbolische Auszeichnung (Akademien, Preise, Aufnahme ins Pantheon, finanzielle Zuwendungen, Gemälde und Statuen im öffentlichen Raum, Porträts), durch kommerzielle Erfolge (Verkaufszahlen, Rezensionen in Journalen) und darüber hinaus durch mediale Figurationen oder ikonographische Zeichen (Feder, Lyra, Dichterkrone, Adler, Schwan etc.) und imaginäre Bildvorstellungen (Parnass, Limbus, Dandy etc.) konstitutiert, ist in den Verhandlungen mit dem Publikum, wie sie traditionell das Vorwort leistet, ablesbar. Baudelaire konzipierte die Entfremdung vom bürgerlichen Publikum in erster Linie als sprachliche Entzweiung. Im Gegensatz zu Nerval, Rimbaud und Mallarmé wählte er für seine Dichtung nicht die hermetische, sondern die ironische Form. Das Einleitungsgedicht der Fleurs du mal und die Vorreden der Salons wenden sich direkt an das Publikum, doch provoziert bereits in Au Lecteur die erste genannte Eigenschaft des Geistes, die sottise (Dummheit). Der Leser willigt nicht unbedingt ein, sich in ihr und in der suggerierten Gemeinschaft zwischen Sprecher und allen Lesern, dem nous, zu spiegeln: Als Teil eines gesellschaftlichen Ganzen vollzieht der Leser des Gedichts eine confessio, seine eigenen Unzulänglichkeiten kann er im Schutz der Gemeinschaft eingestehen und seine Affekte 6 Zum christlichen und profanen Bildtypus des Gelehrten im Gehäus vgl. Roland Kanz, Dichter und

Denker im Porträt. Spurengänge zur deutschen Porträtkultur des 18. Jahrhunderts, München 1993, 25–32.

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(den ‚Ennui‘) erkennen. Willigt er ein, sich mit dem kollektiven nous zu identifizieren, so bleibt er doch in einem illusionären Zirkel der Gemeinsamkeit gefangen, denn am Ende des Gedichts wird er unvermittelt – in der distanzierenden Aufhebung der Spiegelstriche – als ‚scheinheiliger Leser‘ angesprochen: – Hypocrite lecteur, – mon semblable, – mon frère.40 ‚– Scheinheiliger Leser – Abbild meiner selbst, – mein Bruder.‘ 7

Die rhetorisch-gewaltsame Form zwingt den Leser, sich im Spiegelbild des lyrischen Ich zu betrachten und sich als unaufrichtig, lügnerisch, dissimulatorisch zu vergegenwärtigen. Damit zerbricht die Sprache, die Aufrichtigkeit, Transparenz und Einheit (nous) herstellt. Anders als Alphonse de Lamartine, der sich über die Sprecherrolle in den Méditations poétiques (1820), in dem Gedicht La Foi, sympathetisch an den Homme, semblable à moi, mon compagnon, mon frère!25 (‚Mensch, der du mir gleichst, mein Gefährte, mein Bruder!‘) wendet, anders als Victor Hugo, der im Vorwort der Contemplations von 1856 Ähnlichkeit und Sympathie zwischen Leser und Sprecher dramatisch betont: Ah! insensé, qui crois que je ne suis pas toi! 8 (‚Ah! Verrückter, der du glaubst, dass ich nicht Du bin!‘), destruiert Baudelaire die Identität schaffende oder voraussetzende Kommunikationssituation. Auch der Auftakt Aux bourgeois (II, 415–417) des Salonberichts von 1846 richtet sich direkt an das Publikum. Der Sprecher hofiert die Bürger und stellt sie zugleich als an der bildenden Kunst nicht eigentlich interessierte Mehrheit ironisch dar. 9 Die doppelbödige Sprache Baudelaires bringt ein eingespieltes Gleichgewicht literarischer Kommunikation zwischen Sprecherposition und Publikum ins Wanken. Sie bildet eine für die Geschichte der Literatur und Ästhetik einschneidende Zäsur. 10 Die vehemente, in ihren Stillagen diskrepante Sprache Baudelaires konfrontiert den apostrophierten Leser mit Dingen und Eigenschaften, die seinen Anschauungen entgegenstehen und gesellschaftlich oder indi7 I, 6. 8 Alphonse de Lamartine, „La Foi“, in Ders., Méditations poétiques, in Ders., Œuvres poétiques

complètes, hg. v. Marius-François Guyard, Paris 1963, 49. Victor Hugo, Les Contemplations, in Ders., Œuvres poétiques II, hg. v. Pierre Albouy, Paris 1967, 481. Beide Verweise finden sich bereits im Anmerkungsapparat der Ausgabe: Charles Baudelaire, Les Fleurs du mal, hg. v. Jacques Crépet/ Georges Blin, Paris 1950 [1 1942], 282. Vgl. auch George Sand im Vorwort der Lettres d’un Voyageur, IV–V: ils [die Menschen] se sont écriés que j’étais un malade, un fou, une âme d’exception, un prodige d’orgueil et de scepticisme. Non, non! je suis votre semblable, hommes de mauvaise foi! Je ne diffère de vous que parce que je ne nie pas mon mal (‚sie [die Menschen] haben geschrien, dass ich krank sei, ein Verrückter, eine ungewöhnliche Seele, ein Ausbund an Hochmut und Skeptizismus. Nein, nein! ich bin euch gleich, ihr Menschen schlechten Glaubens! Ich unterscheide mich nur von euch, weil ich meine Schwächen nicht verleugne‘). 9 Zur ironischen Widmung, in der Baudelaire die Kunst dem Geschmack und dem Kapital des Bürgers unterstellt, vgl. Bettina Full, Karikatur und Poiesis. Die Ästhetik Charles Baudelaires, Heidelberg 2005, 28–30. Vgl. aus ideologiekritischer Perspektive auch Dolf Oehler, Pariser Bilder I (1830–1848). Antibourgeoise Ästhetik bei Baudelaire, Daumier und Heine, Frankfurt am Main 1979, 56–99. 10 Vgl. zur Diagnose des historischen Bruches der ‚Literatursprache‘, der écriture, und der Ambiguität, der der Schriftsteller in der Mitte des 19. Jahrhunderts ausgesetzt ist: Roland Barthes, Le Degré zéro de l’écriture, in Ders., Œuvres complètes, 1942–1961, Bd. 1, hg. v. Éric Marty, Paris 2002, 207–208.

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viduell vorgegebene Identität aufheben. Derjenige, der spricht, entgleitet in dem Maße als definierbare Autorposition, wie der Leser ironische Verfahren, Aufhebungen und Widersprüche im Text erkennt. 11 Während in der romantischen Epoche das prophetische Selbstverständnis des Autors eine Identität stiftet, welche das Kunstwerk als eine Vermittlungsinstanz gegenüber der Leserschaft bestimmt, Werk und Autor als religiöse und politische Mittler auch das Publikum in einem gemeinsamen Weltbezug integrieren, bricht Baudelaire mit diesem Autorkonzept. 12 Wenn traditionell der Autor über den Werkbegriff – die zusammenhängende Einheit von Texten oder die Herausgabe der Œuvres complètes – definiert ist, fällt Baudelaire bis zur Erstpublikation der Fleurs du mal von 1857 aus diesem Rahmen heraus. Der junge Schriftsteller und Lyriker pflegte unterschiedliche Textsorten wie den Salon, den kurzen kritischen Aufsatz oder die Besprechung, die lyrische Form und die Übersetzung. Wie viele Schriftsteller seiner Generation, z.B. Balzac, Nerval oder Flaubert, veröffentlichte Baudelaire zunächst in Zeitschriften und Journalen. Er hat sich kritisch über den journalistischen Stil – wie noch in der Widmung der Prosagedichte an Arsène Houssaye (I, 275–276) – geäußert. Über einen langen Zeitraum erschienen die späteren Gedichte der Fleurs du mal in unterschiedlichen, z.T. nur kurzfristig bestehenden Zeitschriften und Journalen; kunstkritische Aufsätze wurden ebenfalls in Zeitungsorganen oder als kleine Broschüren veröffentlicht. Die Varianten der Gedichte, wie eine weniger drastische Wortwahl (wenn z.B. fœtus dérisoire als Bezeichnung für das Jesuskind in XVI Châtiment de l’orgueil im Vorabdruck im Magasin des Familles im Juni 1850 durch object dérisoire [I, 870] entschärft wird), und Kürzungen, wie die Auslassung von Zeilen oder Strophen, sind auch den zensierenden Vorgaben der Herausgeber geschuldet; in einigen Fällen gelang es Baudelaire nicht, geplante Fortsetzungsartikel in ein und derselben Zeitung unterzubringen (nur zwei der drei Kapitel über die Exposition universelle [1855] erschienen in Le Pays: die Zeitschrift weigerte sich, das Kapitel über Ingres zu drucken), der 1860 bereits vollendete Peintre de la vie moderne wurde erst 1863 von Le Figaro angenommen. Die weite Zerstreuung von einzelnen Texten zersplitterte in der frühen Schaffenszeit noch weiter durch die gewählten Pseudonyme. Der junge Baudelaire publizierte bis Ende 1847 als Dufayis, Dufaÿis oder Charles Dufayis, dem Mädchennamen seiner Mutter. Über lange Zeit kündigten Reklameanzeigen den geplanten Band unter dem Titel Les Limbes an, bis die Fleurs du mal schließlich 1857 bei Poulet-Malassis und De Broise erschienen. Neben der sozialutopischen Überformung des Begriffes Limbus bei Charles Fourrier spielt Baudelaire mit dem vorläufigen Titel auf den Limbus im vierten Gesang 11 Für die Bestimmung des Verhältnisses von Leser und Autor in der Vorwortrhetorik Baudelaires vgl.

vor allem die Analyse von Pierre Pachet, Le Premier Venu. Baudelaire. Solitude et complot, Paris 2009 [1 1976], 53–77. 12 In radikaler Weise verschieben Widmung und Widmungsrede der Paradis artificiels (I, 399) den Publikumsbezug ins Imaginäre. Baudelaire wendet sich nunmehr an die Toten als die eigentlichen Empfänger seines Textes (volontiers je n’écrirais que pour les morts I, 400) und verwandelt Literatur damit auch in Anspielung an Lukian und Fontenelle in einen dialogue des morts.

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der Divina Commedia Dantes an. Der besondere Ort der Hölle ist den ungetauften, der Gnade Gottes nicht teilhaftig gewordenen Kindern bestimmt, in seinem schönen, paradiesähnlichen locus amoenus halten sich die großen Dichter und Philosophen der Antike auf. Eugène Delacroix hat Dantes Limbus als Bildsujet vorbildhafter Berühmtheit in der Kuppel des Senats des Palais du Luxembourg ausgemalt. In dem Deckenfresko Dante et les esprits des grands hommes (1846) sind keine bildenden Künstler, sondern Dichter, Staatsmänner und Philosophen wie Homer, Sokrates, Demosthenes, Vergil, Statius, Dante zu sehen. In ihre Reihe hat Delacroix – anders als Dante – auch Frauen wie Sappho und Aspasia aufgenommen. 13 Neben mythologischem Musenhain und Parnass, den philosophischen Wandelhallen und Schulgebäuden (letztere verbildlicht Raffaels Schule von Athen), den gesellschaftspolitischen Erinnerungsorten wie dem Pantheon findet sich hier der Limbus als projizierter Raum für die Dichter. Im Rekurs auf Dante und Fourier, zwischen theologischer und politisch-utopischer Bedeutung, reflektiert Baudelaire im zunächst vorgesehenen Titel der Gedichtsammlung, den er aufgrund der Publikation der Limbes. Poésies intimes (1852) von Georges Durand aufgegeben hat, über den Raum auch den Status des Dichters und kreativen Menschen. 1855 druckte die renommierte Revue des Deux Mondes eine kleine Auswahl von 18 Gedichten der zukünftigen Fleurs du mal ab. Eine moralisch ermahnende Notiz der Redaktion begleitete den Abdruck. Sie gab der Erwartungshaltung Ausdruck, der Dichter werde – auch durch die anerkennende Vorabpublikation ermuntert – zukünftig sein wahres Talent unter Beweis stellen. 14 Das Bild des Autors Baudelaire ist vor allem durch den Skandal geprägt, den die Erstpublikation der Fleurs du mal im Jahr 1857 auslöste. Die gerichtliche Verfolgung von Autor und Verleger der Fleurs du mal wegen Verstoßes gegen die öffentlichen Sitten und gegen die Religion setzte mit Gustave Bourdins Artikel im Figaro vom 5. Juli 1857 ein, für den Baudelaire einen politischen Hintergrund vermutete. 15 Das Pariser Gericht verurteilte Verleger und Autor wegen des Verstoßes 13 Vgl. zu den Vorstudien sowie Skizzen der Dichter- und Künstlerdarstellungen Delacroix’: Sébastien

Allard, Dante et Virgile aux Enfers d’Eugène Delacroix, Paris 2004, v.a. La gloire des poètes, 73–80.

14 Die fünfte Strophe von Au Lecteur hatte die Revue des Deux Mondes vom 1. Juni 1855, 1079–1093,

ausgespart und durch Auslassungspunkte ersetzt. Der die Publikation rechtfertigende Kommentar auf Seite 1079, lautet: En publiant les vers qu’on va lire, nous croyons montrer une fois de plus combien l’esprit qui nous anime est favorable aux essais, aux tentatives dans les sens les plus divers. Ce qui nous paraît ici mériter l’intérêt, c’est l’expression vive et curieuse même dans sa violence de quelques défaillances, de quelques douleurs morales que, sans les partager, ni les discuter, on doit tenir à connaître comme un des signes de notre temps. Il nous semble d’ailleurs qu’il est des cas où la publicité n’est pas seulement un encouragement, où elle peut avoir l’influence d’un conseil utile, et appeler le vrai talent à se dégager, à se fortifier, en élargissant ses voies, en étendant son horizon. Vgl. Baudelaires Reaktion auf diese Ermahnung im Brief an François Buloz vom 13. Juni 1855 (Corr. I, 314), in dem er – sicherlich mit kalter Ironie – von la petite note, bizarre et paternelle […] et que je n’ai pas trouvée disgracieuse, spricht. Vgl. auch den provozierenden Brief Baudelaires an Victor de Mars, den Sekretär der Zeitung vom 7. April 1855 (Corr. I, 312). 15 Vgl. den Bericht von Charles Asselineau im Anhang von Eugène Crépet, Charles Baudelaire. Étude biographique, revue et mise à jour par Jacques Crépet, suivie de Baudelairiana d’Asselineau, recueil

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gegen die öffentliche Moral zu einer Geldstrafe, sechs zensierte Gedichte mussten aus der Sammlung entfernt werden. 16 Damit festigte sich zugleich das Bild von einem Autor, der moralisch verwerfliche und sexuell obszöne Themen abhandelte und diese in seiner Person verkörperte. Baudelaires Texte gehören zu jenem Paradigma von künstlerischer Innovation und gesellschaftlich-öffentlicher Zensur von Kunst, die das 19. Jahrhundert charakterisiert und Literaten wie Balzac oder Flaubert und Maler wie Manet oder Courbet beeinträchtigte. In einem bekannten Brief an Manet vom 11. Mai 1866 (Corr. II, 496–497) aus Brüssel erläutert Baudelaire am Beispiel von Chateaubriand und Richard Wagner die Diskreditierung von Künstler und Werk in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und fordert den entmutigten Freund und Maler auf, von den Attacken gegen ihn keine Notiz zu nehmen. Baudelaires geplante, dann zurückgezogene Kandidatur für die Académie française im Jahr 1861 belegt, dass er, wie der maßgebliche Literaturkritiker und académicien Charles-Augustin Sainte-Beuve in einem Artikel im regierungstreuen Constitutionnel vom 20. Januar 1862 über die anstehenden Wahlen informiert, den meisten académiciens politiques et hommes d’État unbekannt war: On a eu à apprendre, à épeler le nom de M. Baudelaire à plus d’un membre de l’Académie, qui ignorait totalement son existence. 17 (‚Man musste mehr als ein Mitglied der Akademie, das nichts von Baudelaires Existenz ahnte, mit den Namen von M. Baudelaire erst bekannt machen und ihn buchstabieren.‘) Dass Baudelaire dennoch für einen Sitz kandidierte, belegt auf der einen Seite seinen Anspruch auf offizielle Anerkennung in der französischen Tradition, auf der anderen Seite bedeutet sein Vorstoß einen Akt der Provokation, der intendierte, die politische d’anecdotes publié pour la première fois in-extenso et de nombreuses lettres adressées à Charles Baudelaire, Genève 1980 [reprint der Ausg. Paris 1906], 300: „Baudelaire a toujours été convaincu que cet entrefilet accusateur, signé par G. Bourdin, était parti du ministère de l’intérieur. […] le Figaro passait généralement pour être protégé par le ministre et était d’ailleurs fort capable de rendre de tels services.“ 16 Die sechs verurteilten Gedichte Baudelaires wurden erstmals 1864, initiiert von dem Verleger und Freund Baudelaires Poulet-Malassis, in dem Buch Le Parnasse satyrique au dix-neuvième siècle, Rome, à l’enseigne des sept péchés capitaux, 2 Bde., Brüssel 1864, neu verlegt. Der Avertissement de l’éditeur (der, so eine Notiz Poulet-Malassis’ auf den Druckfahnen, auf ausdrücklichen Wunsch Baudelaires von ihm verfasst wurde) informiert, dass Baudelaire die Gedichte einem Freund geschenkt habe, der sie nunmehr publizieren wolle: il est à un âge ou l’on aime encore à faire partager ses sentiments à des amis auxquels on prête ses vertus. Anders als Baudelaire in der Ausgabe der Fleurs du mal von 1857 argumentiert Poulet-Malassis hier im Sinne einer transparenten Kommunikationssituation – allerdings im Bezug auf die verbotenen Gedichte. Der Autor selbst wird als verantwortliche Instanz der Publikation, die den Leser zu erreichen sucht, gänzlich zurückgenommen: L’Auteur sera avisé de cette publication en même temps que les deux cent soixante lecteurs probables qui figurent – à peu près –, pour son éditeur bénévole, le public littéraire en France, depuis que les bêtes y ont décidément usurpé la parole sur les hommes (I, 812). Der Herausgeber Gray wurde zu einer viermonatigen Gefängnisstrafe und einer Geldbuße verurteilt. 17 Charles-Augustin Sainte-Beuve, „Des prochaines élections de l’Académie“, in Le Constitutionnel, 20. Januar 1860, 3, zit. nach: André Guyaux (Hg.), Baudelaire. Un demi-siècle de lectures des ‚Fleurs du mal‘ (1855–1905), Paris 2007, 348.

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Institution bloßzustellen. Außerhalb der künstlerischen Kreise war Baudelaire auch in späterer Zeit kaum bekannt, ein Staatsbegräbnis wie Victor Hugo und die Monumentalisierung als nationaler Dichter sind ihm nicht zuteil geworden. 18 Erst sein Nachruhm hat ihn zu einem Dichter europäischen Rangs gemacht, wie Paul Valéry und nach ihm in der Forschungsliteratur Hugo Friedrich hervorgehoben haben. 19 In Victor Hugo und Charles Baudelaire zeigen sich zwei gänzlich differente Formen von Autorschaft im 19. Jahrhundert. Mit Hugo konstitutiert sich ein massenwirksamer Kult um eine patriarchale Figur, die Literatur und Nation repräsentiert. Baudelaire erscheint dagegen als Außenseiter. Dem breiten Publikum entzogen, wurde seine literarische und ästhetische Bedeutung bereits von zeitgenössischen Künstlern als avantgardistisch geschätzt, sein europäischer Einfluss hat sich vor allem postum immer mehr verstärkt. 20 Es ist auffällig, dass sich Baudelaire bereits in seinen frühesten kritischen Aufsätzen mit den Bildern und Repräsentationsformen des Autors und seiner gesellschaftlichen Stellung auseinandersetzt. So stellt der kurze, 1845 zunächst anonym veröffentlichte Essay Comment on paie ses dettes quand on a du génie den Romancier Honoré de Balzac vor. Wohl wird die Comédie humaine genannt, der Name Balzac fällt aber nicht und ist offensichtlich, gerade wegen seiner Berühmtheit, an Stellen ausgespart, wo man ihn erwarten würde. Die anekdotische Erzählung demonstriert an seinem Beispiel die ökonomischen Fähigkeiten des Autors – Balzac hatte legendär hohe Schulden, die er durch seine immense Produktivität und den Verkauf seiner Texte zu tilgen hoffte –, dem es gelingt, durch die Strategie der Verwendung seines Namens, den er auch unter fremde Schriften setzt (I, 8: recopié de ma main, et signé de mon nom), seine Schulden zu begleichen. Die Anekdote ist zugleich ein erkenntnistheoretisches Lehrstück. In der profanen Bebilderung des 18 Vgl. die eindrücklichen Dokumente der Aufbahrung des Sarges unter dem Arc de Triomphe und die

nationale Anteilnahme am Tod des Dichters in Tombeau de Victor Hugo, hg. v. Jean-Pierre Lacroux, Paris 1985. 19 Vgl. Paul Valéry, „Situation de Baudelaire“, in Ders., Œuvres I, hg. v. Jean Hytier, Paris 1957, 598–619, hier 610: Nous voyons aujourd’hui que la résonance, après plus de soixante ans, de l’œuvre unique et très peu volumineuse de Baudelaire emplit encore toute la sphère poétique, qu’elle est présente aux esprits, impossible à négliger, renforcée par un nombre remarquable d’œuvres qui en dérivent, qui n’en sont point des imitations mais des conséquences. Über die postume Rezeption und Bedeutung Baudelaires informiert Baudelaire. Un demi-siècle de lectures des ‚Fleurs du mal‘ [Anm. 17]. 20 Ausstellungskataloge, die sich dem Thema der ‚Modernität‘ der Malerei oder der Großstadt widmen, verzichten selten auf einen Hinweis auf den Dichter und Kunsttheoretiker Baudelaire. Oft geschieht das auf problematische Weise, wie jüngst in dem Ausstellungskatalog Bilder einer Metropole. Die Impressionisten in Paris. Museum Folkwang, Göttingen 2010. Im Eröffnungswort von Hartwig Fischer ist die Gedichtübersetzung von Le Cygne verfälscht (13), James H. Rubin verkürzt in seinem Beitrag (70) die Definition der Modernität auf „das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige“ (unter Aussparung des Elements des „Ewigen und Unveränderlichen“). Vgl. die berühmte und zugleich paradoxe Bestimmung in Le Peintre de la vie moderne (II, 695), die Generationen von Philologen und Kritikern wie Hugo Friedrich, Hans Robert Jauß, Jean Starobinski und Karl Heinz Bohrer Herausforderung war und ist.

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dichterischen Gehirns mit mathematischen Rechnungen, le cerveau poétique tapissé de chiffres comme le cabinet d’un financier (I, 6: ‚das poetische Hirn, mit Zahlen tapeziert wie das Zimmer eines Finanzmannes‘), verabschiedet Baudelaire das romantische Dichterbild des sentimentalen Sängers und führt Ökonomie und Literatur zusammen. Literatursoziologisch integriert der Text die neue, von den Marktgesetzen bestimmte Situation des Künstlers, für die die 1838 gegründete Société des gens de lettres in ihrer Vertretung der Autorenrechte ein Beispiel gibt. Erkenntnistheoretisch wertet Baudelaire die Bedeutung des Romanciers und Künstlers in seiner Fähigkeit auf, alle Bereiche von gesellschaftlicher Welt analytisch zu durchdringen. In der Bezeichnung Balzacs als grand homme (II, 6, 7 und 8), illustre auteur (II, 7), grand romancier (II, 7), grand poète (II, 8) bedient sich Baudelaire einer traditionellen Rhetorik der laudatio des großen Menschen. Sie wurde 1830 durch den Bildhauer David d’Angers aktualisiert, der vom Innenminister François Guizot den Auftrag bekommen hatte, den Giebel des Pantheons, in das 1791 die Kirche Sainte-Geneviève umgewidmet worden war, zu gestalten und die Widmung aux grands hommes la patrie reconnaissante emblematisch umzusetzen. 21 Neben der erhabenen steinernen Skulptur, die den culte des grands hommes feierte, haben bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Presse und Karikatur, später auch die Photographie, neue Formen der Verbreitung des ‚Namens‘ und des öffentlichen Ansehens gestaltet, wie an der Erfindung des Panthéon charivarique (1838–1842) von Benjamin Roubaud und des Panthéon Nadar (1854) abzulesen ist. 22 Die Karikatur ist folglich eine Bildform, die zur Berühmtheit und zum Kult des grand homme maßgeblich beigetragen hat. Von der traditionellen Rhetorik, die die bewunderungswürdige Größe einer Person aus der allgemeinen gesellschaftlichen Anerkennung ableitet, weicht Baudelaires Fiktionalisierung des Autors ab. In imaginärer Bebilderung erscheint Balzac – ganz ähnlich wie auch im Salon de 1846 23 – als Summa aller fiktiven Personen des Romanwerks: lui, le personnage le plus curieux, le plus cocasse, le plus intéressant et le plus vaniteux des personnages de La Comédie humaine (II, 6). Der eigentliche Grund, weswegen der Name Balzac aus der Menge hervortritt, ist sein Werk. Das Romanwerk ist Dispositiv, 21 Vgl. Jean-Claude Bonnet, Naissance du Panthéon. Essai sur le culte des grands hommes, Paris 1998,

und Mona Ozouf, „Le Panthéon“, in Pierre Nora (Hg.), Les Lieux de mémoire I. La République, Paris 1984, 139–166. 22 Vgl. dazu die These von Ségolène Le Men, „Les grands hommes du jour illustrés par la caricature. L’exemple du Panthéon charivarique“, in Thomas W. Gaehtgens/Gregor Wedekind (Hgg.), Le Culte des grands hommes 1750–1850, Paris 2009, 469–503, hier 470: „la caricature lithographique a bel et bien accompagné le culte des grands hommes, et mis en place, en parallèle avec le phénomène des statuettes-charge, une mémoire de papier dédiée aux hommes du jour, dans le journal, ouvrant ainsi la voie aux biographies illustrées de la ‚petite presse‘ de la seconde moitié du siècle.“ Vgl. dagegen zu Ruhm und den grands hommes die beißenden Notate Baudelaires in den Journaux intimes (vgl. I, 692: la gloire est le résultat de l’adaptation d’un esprit avec la sottise nationale). 23 Vgl. Salon de 1846 (II, 496): et vous, ô Honoré de Balzac, vous le plus héroïque, le plus singulier, le plus romantique et le plus poétique parmi tous les personnages que vous avez tirés de votre sein!

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Fläche und Spiegel für das Porträt Balzacs. 24 Der Blick auf Balzac wandelt sich von der Außenansicht in eine Innensicht seiner Psyche, die in den unterschiedlichsten Figuren in der Comédie Humaine Form annimmt. Der Romancier wird zur Verkörperung der von ihm erfundenen Gestalten; als ihr Schöpfer wird er selbst – dem christlichen Gott nicht unähnlich – durch die von ihm geschaffenen Charaktere definiert. Er verwandelt sich in eine Figur an der Grenze der Fiktion. Die ihm innewohnende Vielfältigkeit macht ihn unfassbar. In der frühen Erzählung La Fanfarlo, die 1847 unter dem Namen Charles Dufayis im Bulletin de la Société des gens de lettres erschien, 25 setzt sich Baudelaire detailliert mit romantischen Inszenierungsformen des Autors auseinander. Samuel Cramer, der Autor als Held der Geschichte, verkörpert den romantischen Typus. Er, der früher mit weiblichem Pseudonym ‚Manuela de Monteverde‘ unterzeichnete, ist Verfasser des Gedichtbandes Les Orfraies. Der in Ruinen hausende Seeadler (orfraie) steht für den einsamen Dichter und sein melancholisches Werk, die der Erzähler spöttelnd als vergangene Mode distanziert: son volume des Orfraies, recueil de sonnets, comme nous en avons tous fait et tous lu, dans le temps où nous avions le jugement si court et les cheveux si longs (I, 558: ‚sein Band der Seeadler, eine Sammlung von Sonetten, wie wir sie alle gemacht und alle gelesen haben, in Zeiten, als unser Urteilsvermögen kurz und das Haar lang waren.‘). Ein ästhetisch unzulängliches Urteil wird in komischer Weise mit dem stereotypen Erscheinungsbild des romantischen Dichters mit langem Haar parallelisiert und dabei in witziger Weise angedeutet, dass der stilisierte, äußere Habitus leere Repräsentation ist, da ihr keine innere geistige Differenz entspricht. Vom Typus des begabten, aber verarmten Dichters der Bohème 26 (et les Chatterton et les Savage de la rue Saint-Jacques crispaient leurs doigts gelés sur leurs écritoires [I, 574]: ‚und die Chatterton und die Savage der Rue Saint-Jacques verkrampften ihre gefrorenen Finger auf ihren Schreibpulten‘) unterscheidet sich Samuel Cramer bereits, da er als arrivierter Zeitungsschreiber sein Leben auch hedonistisch genießen kann: – quand l’homme le plus faux, le plus égoïste, le plus sensuel, le plus gourmand, le plus spirituel de nos amis arriva devant un beau souper et une bonne table, en compagnie d’une des plus belles femmes que la nature ait formées pour le plaisir des yeux (I, 574: ‚als der falscheste, egoistischste, sinnlichste Mensch, der größte Gourmand, der spirituellste unserer Freunde vor ein gutes Souper und einen fein angerichteten 24 Vgl. zum Werk als Chiffre des Autorporträts auch Baudelaires Ausführungen in Études sur Poe (II,

267): C’est un plaisir très grand et très utile que de comparer les traits d’un grand homme avec ses œuvres. […] Qui ne s’est ingénié à déchiffrer La Comédie humaine dans le front et le visage puissants et compliqués de Balzac? 25 ‚Charles Baudelaire‘ als Unterschrift gebrauchte der Dichter erst seit Ende 1847, vgl. Charles Baudelaire, Les Fleurs du mal, kritische Ausg. von Jaques Crépet/Georges Blin [Anm. 8], 486. 26 Mit dem romantischen Erfolgsstück Chatterton (1835) von Alfred de Vigny evoziert Baudelaire das Schicksal des verarmten Dichters, der Selbstmord begeht. Vgl. zur Kritik an der Bohème die Besprechung Les Martyrs ridicules par Léon Cladel, die 1861 als Zeitungsartikel, 1862 als Vorwort der Buchpublikation erscheint (II, 182–187 und 1165). Vgl. zur Bohème: Nathalie Heinich, L’Élite artiste [Anm. 3], 27–45.

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Tisch trat, in Begleitung einer der schönsten Frauen, die die Natur für das Vergnügen der Augen geformt hat‘). In einer Charakterisierung, die an Neveu de Rameau Diderots erinnert, stellt Baudelaire Cramer zugleich als Schauspieler dar, der unterschiedliche Rollen einnimmt und in rhetorischer Rede Emotionen zu erzeugen sucht. Als brutal et hypocrite comédien (I, 572) gefällt sich Cramer darin, Affekte zu erzeugen, teilweise weiß er aber nicht mehr zu unterscheiden, was seiner Rede oder der besonderen Befindlichkeit des Anderen geschuldet ist. Deswegen wird Cramer in seiner vermeintlichen Allmacht Opfer seiner selbst, wie der Hergang der Erzählung und der am Ende zweifach von den Frauen Düpierte vor Augen führen. Eine differenzierte Analyse von Autorkonzepten, die in der bürgerlichen Gesellschaft als stereotype Bilder von geistig-schriftstellerischer Begabung und Außenseiterrolle zirkulieren, stellen Baudelaires Einleitungen in das Werk von Edgar Allan Poe dar. Sie problematisieren Rang und Bedeutung, die Autor und Kunst in den modernen bürgerlichen Demokratien einnehmen. Baudelaire verweist auf den Roman Stello (1832) von Alfred de Vigny, um das Verhältnis von Kunst und Politik zu beleuchten: Alfred de Vigny a écrit un livre pour démontrer que la place du poète n’est ni dans une république, ni dans une monarchie absolue, ni dans une monarchie constitutionnelle, et personne ne lui a répondu. 27 ‚Alfred de Vigny hat ein Buch geschrieben, um zu beweisen, dass der Dichter weder einen Platz in der Republik noch in der absoluten Monarchie oder der konstitutionellen Monarchie hat, und niemand hat ihm eine Antwort gegeben.‘

Gegenüber einer politischen Instrumentalisierung der Kunst, wie sie vornehmlich die Herrschaft von Louis XIV intendierte und wie sie auch im republikanischen Zeitalter stattfand, 28 und der Einbindung des Dichters über seine politische Funktion behauptet Baudelaire dessen grundsätzliche Außenseiterrolle. Er weist damit der Ästhetik eine autonome, vom Politischen abgegrenzte Aufgabe zu. Welchen Platz der Dichter in der Gesellschaft einnimmt, welche Attribute und Selbstinszenierungen auch in der Rezeption des literarischen Werks und seiner Bildfiguren entstehen und als Repräsentationsmodi von Autoren in der Öffentlichkeit zirkulieren, analysiert Baudelaire in den von der Forschung wenig beachteten Texten Sur mes contemporains. In ihnen stellt er u.a. die Dichter Théophile Gautier, Victor Hugo und Théodore de Banville vor; auf diese Porträts bezieht sich wiederum Mallarmé in der Symphonie littéraire, um ein Autorbild von Baudelaire zu entwerfen. 29

27 Charles Baudelaire, Edgar Allan Poe. Sa vie et ses ouvrages, II, 250. 28 Vgl. zur Epoche der französischen Klassik: Pia Claudia Doering, Jean Racine zwischen Kunst und

Politik. Lesarten der Alexandertragödie, Heidelberg 2010; zur politischen Rolle von Victor Hugo vgl. die Dokumente im materialreichen Ausstellungskatalog La gloire de Victor Hugo, Galeries nationales du Grand Palais, Paris 1er octobre 1985 – 6 janvier 1986, Paris 1985. 29 Für erste Ansätze vgl. Karin Westerwelle, „‚Une caricature à l’inverse‘. Charles Baudelaire, critique de Théophile Gautier“, in Wolfgang Drost/Marie-Hélène Girard (Hgg.), Théophile Gautier et l’Allemagne, Siegen 2005, 279–311.

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2. Das Porträt des Autors Baudelaires Verhandlungen mit dem Publikum zeigen Bruchlinien, Verweigerungen und Doppelbödigkeiten an, die das Scheinhaft-Scheinheilige einer vorgeblich transparenten Kommunikationssituation zerstören. Sie geben nicht das Versprechen, Innen- und Außenansicht von Autorenbildern unmittelbar in Einklang zu bringen, und stehen damit in Widerspruch zu einer Abbildlichkeit, die durch eine Vielzahl von Autor-Porträts suggeriert wird, die als Gravur, Stich, Lithographie und Photographie sowie in schriftlicher Form als portrait littéraire in unterschiedlichen Medien große Verbreitung finden. Ein ausgeprägtes Interesse an der individuellen Lebensgeschichte förderte die kulturelle Ausbreitung des Genres der Biographie, der biographischen Notiz und der kritischen Besprechung von Leben und Werk von Autoren im literarischen Porträt. 30 Nach JeanClaude Bonnet zeigt sich seit 1750 eine neue und sich verstärkende Tendenz in der biographisierenden Beschreibung von Werk und Autor. 31 Porträtstiche oder Zeichnungen von Autoren gehörten in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts zur charakteristischen Ausstattung von Büchern und ihren Titelblättern. Sie illustrierten biographische oder literaturgeschichtliche Abhandlungen oder ganz allgemein Bild- und Textmedien, wie z.B. Zeitungen, Journale oder Karikaturensammlungen. In den Pariser Kunstausstellungen gewann das Porträt allgemein an Bedeutung, ein großer Teil der 1846 im Salon ausgestellten Gemälde waren Portraits. Baudelaire widmete dem Genre im Salon de 1846 (II, 464–467) und im Salon de 1859 ein eigenes Kapitel (II, 654–659). 32 Die Bedeutung, die das Porträt als Erinnerungsträger und sentimentales Andachtsbild erlangte, zeigt eine Karikatur (Abb. 1) von Honoré Daumier aus dem Jahr 1842, in der das Porträt der kessen, ihren kreisrunden Busen präsentierenden Angebeteten an die Stelle des christlichen Andachtsbild getreten ist. Neben der Lithographie förderten die neue Technik der Photographie, die Erfindung der offiziellen Porträtphotographie durch den Freund Baudelaires Félix Nadar (1820–1910) 33 sowie die Gestaltung von Gemälden und Stichen nach Photographien die Verbreitung von Autorbildern. Photographien von Gemälden und Porträt-Aufnahmen von Künstlern ‚nach

30 Einen Überblick über das ‚portrait littéraire‘ gibt Hélène Dufour, Portraits, en phrases. Les recueils

de portraits littéraires au XIXe siècle, Paris 1997.

31 Jean-Claude Bonnet, Naissance du Panthéon. [Anm. 21]; ders., „Les Morts illustres. Oraison funèbre,

éloge académique, nécrologie“, in Pierre Nora (Hg.), Les Lieux de mémoire II, La Nation, Paris 1986, 217–241. Vgl. zum 18. Jahrhundert in kunsthistorischer Perspektive Claudia Denk, Artiste, Citoyen und Philosophe. Der Künstler und sein Bildnis im Zeitalter der französischen Aufklärung, München 1998. 32 Vgl. zu den Schriftstellerporträts im 19. Jahrhundert auch: Katharina Schmidt (Hg.), Manet. Zola. Cézanne. Das Porträt des modernen Literaten, Ostfildern-Ruit 1999. 33 Vgl. Françoise Heilbrun, „Baudelaire et Nadar“ [Anm. 1], 64. Vgl. den Ausstellungskatalog: Félix Nadar, Paris 1994.

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Abb. 1: Honoré Daumier, Souvenir, in Le Charivari vom 15.1.1842

der Natur‘ bebilderten literaturgeschichtliche Werke. 34 Die kunst- und literarhistorische Erforschung des Themas begann mit ikonographischen Studien, die das Porträtbild von Autoren in Büchern des 15. Jahrhunderts oder die Porträts berühmter Autoren, wie z.B. von Molière, rekonstruierten. 35 Das Material, das diese Arbeiten systematisieren, vermittelt einen Eindruck davon, in welchen gesellschaftlichen Räumen Autorbilder, Literatur

34 Die Histoire des artistes vivants français et étrangers von Théophile Silvestre, Paris 1853, präsentiert

dem Betrachter Photographien von Künstlern wie Corot, Courbet, Delacroix, Daumier und ihrer Werke. 35 Vgl. Jules Renouvier, Portraits d’auteurs dans les livres du XVe siècle, Paris 1863. Für Molière vgl. die Iconographie moliéresque (1876) von Paul Lacroix.

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und Kunst präsent waren. Hier stellt sich das Wissen über Epochen, Autoren und Modelle dar, über das das bürgerliche Zeitalter verfügte. Das Dispositiv des l’homme et l’œuvre hat sich maßgeblich mit Charles-Augustin Sainte-Beuve durchgesetzt. Sainte-Beuve gilt als Begründer der biographischen Methode und der Literaturgeschichte. Die Entwicklung des Pressewesens bot sowohl für das Genre der feuilletonistischen Literaturkritik als auch für die Verbreitung von Autorbildern günstige Voraussetzungen. Neue Romane und Werke wurden von Journalisten oder Literaten in unterschiedlichen Zeitschriften kritisch besprochen. Sainte-Beuve war mit seinen regelmäßig im Feuilleton erscheinenden Kritiken der einflussreichste Vertreter des literarischen Porträts. Seit 1849 bis zu seinem Tod 1869 erschienen im Constitutionnel, dann im Moniteur und in Le Temps, seine Literaturbesprechungen, die methodisch den biographischen Horizont des literarischen Werks betonen. 36 Seine Kritiken und portraits littéraires im Feuilleton verzichten jedoch auf bildliche Illustration; reproduzierte Gemälde oder Stiche finden sich ebenso wenig in den zahlreichen Buchausgaben seiner Literaturkritik. Auch Sainte-Beuve selbst ist nicht abgebildet. Mit großem Erstaunen registriert Baudelaire in einem Brief vom 2. Januar 1866 die Veröffentlichung einer Photographie Sainte-Beuves in der Illustration vom 30. Dezember 1865: Je viens de voir que, pour la première fois de votre vie, vous avez livré votre personne physique au public. Je fais allusion à un portrait de vous, publié par L’Illustration. C’est bien vous, ma foi!, l’air familier, railleur, et un peu concentré et la petite calotte elle-même ne s’est pas cachée (Corr. II, 562: ‚Ich habe gerade gesehen, dass Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben Ihre physische Person dem Publikum ausgeliefert haben. Ich spiele auf ein Porträt von Ihnen an, das in der Illustration veröffentlicht ist. Ja, wirklich, Sie sind es! Ganz umgänglich, spöttisch, und auch konzentriert, selbst die kleine Kappe hat sich nicht versteckt.‘). Als präziser Beobachter bemerkt Baudelaire die erstmalige Veröffentlichung einer Photographie Sainte-Beuves, die nunmehr der Öffentlichkeit einen Teil des PrivatPersönlichen preisgibt. Das Charakteristische des Porträtierten und das besondere Detail, die petite calotte, sind getroffen. Die Kappe als ehemals funktionales Kennzeichen des Klerikers, gelehrten Theologen oder Wissenschaftlers hat etwas Antiquiertes (la petite calotte elle-même ne s’est pas cachée), aber auf sie als ein persönliches Kennzeichen seiner Arbeitskleidung wollte Sainte-Beuve nicht verzichten. Balzac hat 1842, als er seine Romane zum Projekt der Comédie Humaine vereinte, die Ausgabe Furne mit einem Stich von sich selbst als Mönch und Asket illustrieren lassen und damit – ähnlich wie Flaubert, der sich in seinem Briefwechsel als der Heilige Polykarp bezeichnet 37 – seine Arbeitsweise abseits mondäner Öffentlichkeit betont. Der Verzicht auf Welt und mondanité, den auch Marcel Proust an Balzac und für den literarischen Autor als konstitutiv hervorhebt, verwandelt Autorschaft und schriftstellerische Bestimmung (vocation) in eine Art Opfer. Dagegen betont eine Vielzahl von Autorbildern 36 Vgl. Wolf Lepenies, Sainte-Beuve. Auf der Schwelle der Moderne, München/Wien 2002. 37 Vgl. zu den erfinderischen Selbstbeschreibungen Flauberts: Jörg Dünne, Asketisches Schreiben. Rous-

seau und Flaubert als Paradigmen literarischer Selbstpraxis in der Moderne, Tübingen 2003.

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politische Bedeutung, wie z.B. diejenigen von Victor Hugo und Théophile Gautier. Bei den Karikaturen Hugos, die Honoré Daumier gezeichnet hat, handelt sich um karikierende Porträts mit den unverkennbar individuellen Zügen, die z.B. den Typus des politisch agierenden, inspirierten Dichters ironisieren. 38 Einer späten Ausgabe der Lyrik Gautiers von 1873 sind eine Autobiographie und ein Karikaturportrait aus der Serie des Panthéon charivarique von Benjamin Roubaud beigegeben. Der Avertissement sur le portrait verweist auf die unterschiedlichen Porträtbilder und trennt den Gautier der frühen romantischen Epoche, den Wortführer der Gruppierung der Jeunes-France und Autor von Mademoiselle de Maupin, vom politischen Gautier des Second Empire („Gautier impérial“). 39 Während sich der Romancier Gustave Flaubert 40 gegen jede Art von Bebilderung seines Werks und ebenso gegen die Bekanntgabe seiner Person im Porträt verwahrte, 41 bedient sich Baudelaire bewusst dieser Strategie. In einem Brief an seinen Verleger Poulet-Malassis vom 1. Mai 1859 kommentiert Baudelaire den Einsatz des Porträts als verkaufsförderndes Mittel: Le portrait est une garantie de vente (Corr. I, 569). Zu den Porträts, die Baudelaire selbst für das große Publikum bestimmt hat, zählt jenes der Ausgabe der Fleurs du mal von 1861. Der Porträtstich stammt von dem Maler und Zeichner Félix Bracquemond (Abb. 2). 42 Baudelaire berichtet in seiner Korrespondenz davon, dass

38 Vgl. den reichhaltigen Ausstellungskatalog La gloire de Victor Hugo, [Anm. 28]. 39 Janine Bailly-Herzberg, L’Eau-forte de peintre au dix-neuvième siècle, 2 Bde., Paris 1972, Bd. 2,

20–28 (zum Porträt Gautiers von Bracquemond).

40 Zum Teil prägen auf äußerst wirksame Weise normative oder bildtechnisch eindrucksvoll inszenierte

Urteile Autorbilder über Jahrhunderte. Das ist der Fall bei Gustave Flaubert, den eine Karikatur von Achille Lemot neben einem Operationstisch, auf dem sein Opfer Emma Bovary liegt, zeigt. Der Romancier hält aufgespießt auf einem Skalpell das Herz der Patientin, aus dem Blut in ein Tintenfass tropft. Die karikierende Zeichnung illustriert den kalten Darstellungsstil Flauberts, der sich in seiner psychologischen Analyse scheinbar ohne Mitgefühl gegenüber den Protagonisten und den Menschen allgemein zeigt. Die Karikatur Flaubert seziert Madame Bovary von Achille Lemot erschien am 5. Dezember 1869 in La Parodie. Sie verbildlicht Urteile über den Stil Flauberts, die Sainte-Beuve und Barbey d’Aurevilly vertreten hatten. Vgl. auch die Abbildung und informative Zusammenstellung in Dorothea Tetzer/Christoph Wetzel/Gerhard Wiese (Hgg.), Gustave Flaubert, Salzburg 1980, 55. Die Karikatur findet sich jüngst auf dem Umschlag des Buches Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans von Martin von Koppenfels, München 2007. 41 Vgl. Gustave Flaubert an Jules Duplan am 12. Juni 1862: Jamais, moi vivant, on ne m’illustrera, car la plus belle description littéraire est dévorée par le plus piètre dessin; Gustave Flaubert, Correspondance III (janvier 1859–décembre 1868), hg. v. Jean Bruneau, Paris 1991, 221. 42 Die allegorische Darstellung eines Skelettes, die Félix Bracquemond zunächst – auf Anregung Baudelaires – nach einem Stich in Eustache Hyacinthe Langlois’ Essai historique, philosophique et pittoresque sur les danses des morts (1852) als Frontispiz für die Ausgabe der Fleurs du mal gestochen hatte, missfiel Baudelaire ganz und gar, vgl. seine Kritik in den Briefen an seinen Verleger Poulet-Malassis am 20. August 1860 und Ende August 1860, Corr. II, 83, 85–88. Sie wurde durch das Porträt (vgl. den Brief an F. Bracquemond vom 16. Jan. 1861, Corr. II, 123–124) ersetzt. Einen Überblick auch über Bracquemonds Vorarbeiten gibt: Ellen Holtzman, „Félicien Rops and Baudelaire. Evolution of a Frontispiece“, in Art Journal 38/2 (Winter 1978–79), 102–106.

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Abb. 2: Félix Bracquemond, Charles Baudelaire, in L’Artiste 1861

er dem Maler Modell gesessen hat. Der Maler habe ihn direkt auf die Kupferplatte gezeichnet, ohne eine Photographie, nämlich die von Nadar aus dem Jahr 1860, zu berücksichtigen (Corr. I, 127). 43 Die erste Ausgabe der Lyrik von 1857 enthielt kein Porträt des Autors, die 43 Zum Verhältnis von Photographie und Zeichnung vgl. Jean-Paul Bouillon, „Les portraits à l’eau-forte

de Félix Bracquemond et leurs sources photographiques“, in Nouvelles de l’estampe 38 (1978), 4– 10. Bouillon zitiert einen Brief von Januar 1861 des Verlegers Poulet-Malassis, für dessen Bücher Bracquemond seit 1859 eine Reihe von Frontispizen anfertigt. Poulet-Malassis zeigt sich überzeugt, dass das Porträt Baudelaires ‚mit einigen Retouchen‘ gut herauskommen werde: Tel qu’il est je ne lui reproche que l’insuffisance de la ressemblance (‚So wie es derzeit ist, werfe ich ihm lediglich die mangelnde Ähnlichkeit vor‘), ebd. 7.

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postume Ausgabe von 1868 zeigt einen Porträtstich nach einer Photographie von Étienne Carjat. 44 Als Reklame für die Fleurs du mal erschien der Stich von Bracquemond zudem am 1. November 1862 in der Zeitschrift L’Artiste (Abb. 2). Der Seite mit dem Porträt folgte auf der nächsten Seite unter der Rubrik Gravures du Numéro ein kurzer Werbetext, der sich aus einer Collage zweier Zitate Victor Hugos und Théophile Gautiers sowie aus zwei Strophen des Gedichtes XCI Les petites Vieilles zusammensetzt: PORTRAIT DE CHARLES BAUDELAIRE, par Bracquemond. Selon M. Victor Hugo, Charles Baudelaire a doté le ciel de l’art d’un rayon macabre, et il a créé un frisson nouveau. Selon M. Théophile Gautier, ses poésies ont les couleurs sombres et métalliques, les frondaisons vert-de-grises et les odeurs qui portent à la tête. Sa Muse ressemble à la fille du docteur qu’aucun poison ne saurait atteindre, mais dont le teint, par sa matité exsangue, trahit l’influence du milieu qu’elle habite. Dans les plis sinueux des vieilles capitales, Où tout, même l’horreur, tourne aux enchantements, Je guette, obéissant à mes humeurs fatales, Des êtres singuliers, décrépits et charmants. Ruines! ma famille! ô cerveaux congénères! Je vous fais chaque soir un éternel adieu! Où serez-vous demain, Èves octogénaires, Sur qui pèse la griffe effroyable de Dieu! 45 Porträt von Charles Baudelaire, von Bracquemond. ‚M. Victor Hugo zufolge hat Charles Baudelaire dem Himmel der Kunst einen makabren Strahl verliehen, und er hat einen neuen Schauder geschaffen. M. Théophile Gautier zufolge haben seine Gedichte dunkle und metallische Farben, mit Grünspan bedeckte Belaubungen und Gerüche, die zu Kopf steigen. Seine Muse ähnelt der Tochter des Doktors, die kein Gift je töten könnte, aber deren Teint, durch seine blutlose Mattigkeit, das Milieu verrät, in dem sie lebt. In den sich schlängelnden Falten der alten Metropolen, wo sich alles, selbst der Schrecken, in Verzauberung wandelt, belaure ich, meinen fatalen Neigungen gehorchend, seltsame, verfallene und anziehende Wesen. Ruinen! Meine Familie! Oh verwandte Hirne! Jeden Abend entbiete ich euch ein ewiges Lebewohl! Wo werdet ihr morgen sein, ihr achtzigjährigen Even, auf denen Gottes schreckliche Kralle lastet?‘ 44 Das Porträt ist abgebildet in Claude Pichois und Jacques Dupont, L’Atelier de Baudelaire: ‚Les Fleurs

du mal‘. Edition diplomatique, 4 Bde., Paris 2005, Bd. 1, 90–91.

45 L’Artiste 1862, 208. Aus dem Baudelaire-Gedicht XCI Les petites Vieilles sind die erste und die letzte

Strophe zitiert (hier: un éternel adieu, in der endgültigen Version heißt es: un solennel adieu).

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Nur durch den beigefügten Text ist der Stich Bracquemonds als Autorporträt zu verstehen. Auf dem Stich selbst fehlt jegliches ikonographisches Zeichen, das Baudelaire als Dichter auswiese. Wie auch auf den photographischen Porträts Baudelaires und auf solchen anderer Dichter und Künstler des 19. Jahrhunderts finden sich hier keine Attribute des Autors wie Schreibpult, Buch oder Feder. Auch auf Gemälden, die Baudelaire zeigen, sind solche selten zu sehen. Nur Gustave Courbet hat Baudelaire auf dem Porträt von 1848 mit den spezifischen Attributen des Buches als Lesenden gemalt, auf dem rustikalen Tisch sind Federkiel und Tintenfass zu erkennen. Dem großformatigen Gemälde L’Atelier du peintre von 1855 fügt er den Ausschnitt des lesenden Dichters ein. 46 Zur Strategie Baudelaires gehörte es, wie auch in der Reklameanzeige, für die eigenen Publikationen einflussreiche Autoren zu gewinnen. Neben Hugo und Sainte-Beuve wandte sich Baudelaire in einem Brief am Ende des Jahres 1851 auch an den Feuilletonisten Théophile Gautier, er möge in der Revue de Paris die Veröffentlichung seiner Gedichte protegieren. 47 Nur zwei Gedichte erschienen 1852 in der Revue de Paris, die Gautier zusammen mit Maxime du Camp und Arsène Houssaye leitete; Gautier sind die Fleurs du mal gewidmet. 48 Für seinen biographischen und werkanalytischen Aufsatz von 1859 46 Vgl. zu den Autorenporträts von Manet: Théodore Reff, „Manets Porträt Emile Zola“, in Manet.

Zola. Cézanne. Das Porträt des modernen Literaten [Anm. 32], 49–82.

47 Vgl. den Brief von Ende 1851, Corr. I, 180, an Théophile Gautier, der zu dieser Zeit einer der

Direktoren der Revue de Paris ist. Gautier veröffentlichte die Baudelaire-Gedichte L’Homme et la mer und Le Reniement de Saint Pierre. 48 1859 veröffentlichte Baudelaire seinen werkbiographischen und rezeptionsanalytischen Artikel Théophile Gautier, zunächst in der Ausgabe vom 1. März 1859 in L’Artiste, dann als kleine Broschüre (ein zweiter Teil Théophile Gautier gehört zur literaturkritischen Schrift: Sur mes contemporains). Den Zeitschriftenartikel begleitet ein Porträt-Stich Gautiers von Bracquemond; für die Broschüre hat Baudelaire das durch Medaillon, Büste und Ornament antikisierende Porträt von Émile Thérond, das die dritte Ausgabe der Emaux et camées zierte, gewählt. Im Text nimmt er auf die Veranschaulichungsleistung von gemaltem und geschriebenem Porträt Bezug, die Rhetorik des Textes spielt mit der pompösen Bild-Inszenierung. Für die 1862 erscheinende Anthologie von Eugène Crépet Poètes français [vgl. Anm. 50] verfasste Baudelaire die einführende Notiz über Gautier; Baudelaire mokiert sich über ihn in Comment on paie ses dettes quand on a du génie von 1845 und kritisiert ihn im Nachruf auf Eugène Delacroix von 1863. Gautier seinerseits verfasste die einführende Notiz über Baudelaire in der genannten Anthologie von Crépet; der Nachruf auf Baudelaire erschien in Le Moniteur universel vom 9. Sept. 1867; eine weitere lange Studie über Baudelaire in L’Univers illustré von März und April 1868 bildet zugleich das Vorwort der postumen Ausgabe der Fleurs du mal von 1869. 1874 erschien eine erweiterte Fassung der Baudelaire-Notiz aus der Crépet-Anthologie in Gautiers Portraits contemporains. Littérateurs, peintres, sculpteurs, artistes dramatiques avec un portrait de Théophile Gautier d’après une gravure à l’eau-forte par lui-même vers 1833, Paris 1874. In dem für die Regierung Napoleons erstellten Bericht Recueil de Rapports sur les progrès des lettres et des sciences en France. Rapport sur le Progrès des lettres par MM. Sylvestre de Sacy, Paul Féval, Théophile Gautier et Éd. Thierry, Paris 1868, betreffen die Seiten 104–108 Baudelaire, der mit der Erwähnung des Skandals von 1857 eingeführt wird: Sur les confins extrêmes du romantisme […] s’est produit, quelque peu après 1848, un poëte singulier, Charles Baudelaire, l’auteur des Fleurs du mal, un recueil qui fit à son apparition un bruit dont n’est pas ordinairement accompagné la naissance des volumes des vers.

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über Théophile Gautier hatte Baudelaire Victor Hugo um ein wohlwollendes Vorwort gebeten. Hugo kam der Bitte Baudelaires nicht direkt nach, sondern antwortete ihm in einem persönlichen Brief, den Baudelaire in dem berühmt gewordenen Satz Vous dotez le ciel de l’art d’on ne sait quel rayon macabre. Vous créez un frisson nouveau sowohl in dem Reklametext von L’Artiste als auch in der kleinen Broschüre des Gautier-Essays im November 1859 strategisch als eine lettre préface einsetzte. 49 Die Charakterisierung der Fleurs du mal in den dunklen Farben, der betörenden Stimmung und der pathologischen Physiognomie stammt aus Gautiers Einführung in die Lyrik Charles Baudelaires, die in der Anthologie der französischen Dichtung von Eugène Crépet in Auswahl gesammelt und herausgegeben wurde. Der vierte Band widmet sich der modernen zeitgenössischen Lyrik: Auch Gautier führt am Ende seines Textes das Hugo-Zitat über Baudelaire an. 50 Über die direkte Namensnennung der beiden einflussreichen zeitgenössischen Autoren und ihr Lob gewinnt der noch unbekannte Autor Baudelaire an Prestige. In Eigenregie situiert er sich selbst im Feld der zeitgenössischen Literatur, indem er über bekannte Namen den eigenen unbekannteren Namen fördert. Die Aufmerksamkeit des Lesers, der Gedichte rezeptionsästhetisch und literaturgeschichtlich einordnen soll, wird auch durch Widmungen gelenkt. Berühmte Gedichte der Fleurs du mal wie LXXXIX Le Cygne, XC Les sept Vieillards und XCI Les petites Vieilles sind an Victor Hugo, das Abschlussgedicht der Fleurs du mal CCXVI Le Voyage an Maxime Du Camp adressiert, der als Vertreter des Fortschritts in seinen Chants modernes von 1855 den Dichtern empfiehlt, die antike Mythologie zu vergessen und sich den neuen Themen, vapeur, cloroforme, gaz, locomotive und photographie, zuzuwenden. 51 Durch Namensnennungen ordnet Baudelaire die eigene Lyrik und sich selbst als Autor einem Netz von Referenzpunkten ein und bestimmt dadurch seine Position. Die Widmungen haben allerdings nicht nur eine laudative Funktion. Namensverweise affirmieren nicht schon Vorbilder, sondern sie werden über das Gedicht Träger von Ironie oder karikieren-

49 Victor Hugo bedankte sich für die Zusendung des Artikels über Théophile Gautier, der in der Zeit-

schrift L’Artiste am 13. März 1859 erschienen war, in einem Brief an Baudelaire vom 6. Okt. 1859. In Lettres à Baudelaire, hg. v. Claude Pichois, Neuchâtel 1973, 188. 50 Vgl. Théophile Gautier, „Baudelaire. Né en 1821“, in Eugène Crépet (Hg.), Les Poètes français: recueil des chefs-d’œuvre de la poésie française depuis les origines jusqu’à nos jours, avec une notice sur chaque poète […], 4 Bde., Paris 1863, Bd. 4: Quatrième période. les contemporains (die Bibliographie de la France verzeichnet das Werk bereits für den 20. August 1862). Der Text ist abgedruckt in André Guyaux (Hg.) Baudelaire. Un demi-siècle de lectures des ‚Fleurs du mal‘ [Anm. 17], 351–358, die übernommene Stelle findet sich auf den Seiten 354–355 (mit Abweichungen in den Pronomina und den Satzzeichen). 51 Eine vorläufige, in einer Zeitschrift vorgenommene Widmung À Théophile Gautier, dem das Gedicht Le Gouffre in der Zeitschrift L’Artiste vom 1. März 1862 zugedacht ist, wird später zurückgenommen. Unter den Prosagdichten des Spleen de Paris trägt Le Thyrse die Widmung A Franz Liszt (I, 335), La Corde ist dem Maler Manet, À Édouard Manet (I, 328), Les bons Chiens dem Maler Stevens, À M. Joseph Stevens (I, 360), zugeeignet. Die programmatische Einleitung der Prosastücke des Spleen de Paris (I, 275–276) richtet sich an den Journalisten und Literaten Arsène Houssaye.

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der Differenz. Das Vortäuschen von Bewunderung und das plötzliche Hervorbrechen von Differenz gehören wie im Vorwort Au Lecteur zur Rhetorik Baudelaires. Die Profilierung und Überlieferung des Bildes vom Autor Charles Baudelaire wurde durch die erste Biographie befördert, die der Freund und Zeitgenosse Charles Asselineau verfasst hat. Im Vorspann seines Buches Charles Baudelaire. Sa vie et son œuvre, Paris (Lemerre) 1869, sieht man Stiche des Baudelaire-Porträts von Emile Deroy (1844), des Gemäldes von Gustave Courbet (ca. 1848), zwei von Edouard Manet gefertigte Stiche Baudelaires (1867–1869) sowie ein als Stich reproduziertes Selbstporträt des jungen Baudelaire, das auf 1846 datiert ist. 52 Anders als in den ersten, mit porträtähnlichen Stichen versehenen Ausgaben von Dichtung im 16. Jahrhundert, jener großen Referenzepoche für die Lyrik des 19. Jahrhunderts, findet sich bei den meisten Porträts Baudelaires kein expliziter Hinweis auf die Differenz zwischen dem äußeren gesellschaftlichen Erscheinungsbild des Dichters und jenem inneren geistigen oder imaginären Raum, der in den Gedichten selbst erscheint. Im 16. Jahrhundert war für die Darstellung von Werk und Autor ein besonderer Typus der Repräsentation verbreitet: Ein Porträt zeigte den Autor eines Werks in seinen individuellen Zügen, eine Subscriptio machte dem Leser zugleich klar, dass er in der Ansicht des Porträts nur der äußeren Erscheinung, in der Schrift, dem vorliegenden Buch, aber dem Geist des Autors begegnen werde. Ein Beispiel ist das Frontispiz einer Ausgabe der Liebeslyrik Pierre de Ronsards. Der mit Lorbeerkranz gekrönte Ronsard ist im Stil einer antik drapierten Büste zu sehen. In den Begleitversen heißt es: Tel fut Ronsard, autheur de cest ouvrage, Tel fut son œil, sa bouche et son visage, Portrait au vif de deux crayons divers: Icy le Corps, et l’esprit en ses vers. 53

Das Ronsard-Porträt schließt an bekannte Konzepte von Autorbildern, hier im speziellen die gekrönte Figur des im Gewand antik stilisierten Dichters, an. Es vermittelt zwischen dem noch unbekannten Werk und einem Vorwissen des Lesers. Während die äußere figurenhafte Darstellung ein erstes Vorstellungsbild vom Autor im Modus des Gewesenseins (Tel fut) erzeugt, verweist die Schrift auf eine Dimension des Unsichtbaren und

52 Bracquemond hat – Bouillon zufolge – die Stiche nach den Werken Deroys und Courbets angefertigt;

das gezeichnete Selbstporträt Baudelaires, ebenfalls von Bracquemond gestochen, gehörte zu dieser Zeit seinem Freund Daumier. Jean-Paul Bouillon, „Artiste et éditeur. Correspondance de Bracquemond et de Poulet-Malassis. II. L’exil en Belgique et la maladie de Baudelaire (1863–1867)“, in Bulletin du Bibliophile 1976, 371–404, hier 404. 53 Pierre de Ronsard, Œuvres complètes, Bd. 1, hg. v. Jean Céard/Daniel Ménager/Michel Simonin, Paris 1993, 21 (‚Dies hier war Ronsard, Autor dieses Werks, / So waren sein Auge, sein Mund und sein Gesicht, / Ein lebendiges Porträt von zwei unterschiedlichen Stiften, / Hier der Körper und der Geist in diesen Versen.‘)

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des Vielfältigen, die im Stich nicht zur Darstellung kommt. 54 Auf die Differenz von Bild und Schrift, von Körper und Geist, von Sichtbarem und Unsichtbarem wird ausdrücklich hingewiesen. In dem Abbild Ronsards handelt es sich um eine symbolische und repräsentative Stilisierung, die dem Autor qua Wertschätzung seiner Dichtung auch einen Platz in der gesellschaftlichen Ordnung zuweist. Die Gegenüberstellung von Bild und Text nimmt eine alte Topik der Malerei und des Porträts auf: Dürers Porträt des Erasmus (1526) oder das Porträt der Giovanna Tornabuoni (1488) von Domenico Ghirlandaio 55 weisen in gemalten Schriftzügen darauf hin, dass die hohe Seele oder das innere Unsichtbare, die Tugenden z.B., sich nicht schon in der kunstvoll-materiellen Darstellung zeigen. 56 In der lebenstreuen Porträtierung, in der Individualisierung und der lebensgeschichtlichen Beschreibung von Autoren begegnet ein Phänomen, das sich seit dem 16. Jahrhundert verstärkt. Während die mittelalterlichen Miniaturen zur Troubadourlyrik typisierte Figuren des Autors in speziellen Lehr- oder Gesprächssituationen zeigen, 57 scheint der erste individuell porträtierte Dichter Francesco Petrarca zu sein, dem die Ehre des Porträts als Humanist und Gelehrter, nicht als dem in Amt und Würden stehenden Politiker oder Staatsmann zukam. Antikisierende Darstellung und augenfällige Dichterattribute sind im Autorporträt Baudelaires nicht mehr zu finden. Die romantischen Elemente der Dichterinszenierung – die stilisierte Ausstaffierung des Dichters mit der Leier (wie bei Alphonse de Lamartine), die durch die Landschaft repräsentierte melancholisch-sentimentale oder pathetische Stimmung (wie bei Madame de Staël) oder die exaltierte, sich bereits in der Kleidung äußernde Außenseiterposition (wie in den frühen Darstellungen Gautiers) – machen einer nüchtern distanzierten Haltung Platz. 58 Die Lyrik allein weist Baudelaire als Autor- und Dichterfigur aus; die neue Funktion des Porträts besteht darin, den Dichter ohne besondere

54 Vgl. in ähnlicher Bild- und Textgestaltung auch das postum von Thomas Leleu gefertigte Porträt von

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Michel de Montaigne. Vgl. insgesamt zu den (postumen) Porträtdarstellungen Montaignes Philippe Desan/Arnaud Coulombel (Hgg.), Montaigne in print. The Presentation of a Renaissance Text, Chicago 1995. Den bildgeschichtlichen Kontext zu Ronsard führt aus: Wolf-Dietrich Löhr, „Petrarcas neue Kleider. Epos und Eros im Frontispiz zu Pierre de Ronsards Amours von 1552“, in Valeska Rosen/Klaus Krüger/Rudolf Preimesberger (Hgg.), Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit, München/Berlin 2003, 85–118. Vgl. Édouard Pommier, Théories du portrait. De la Renaissance aux Lumières, Paris 1998, 54–65. Vgl. Wolfgang Speyer, „Das wahrere Porträt. Zur Rivalität von bildender Kunst und Literatur“, in Ders., Frühes Christentum im antiken Spannungsfeld. Ausgewählte Aufsätze, Bd. 1, Tübingen 1989, 395–401. Vgl. Ursula Peters, Das Ich im Bild. Die Figur des Autors in volkssprachigen Bilderhandschriften des 13. bis 16. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 2008. Über das romantische Dichterbild, wie es durch Stich, Emblem und Illustration geformt wurde, gibt Jules Champfleury, Les Vignettes romantiques. Histoire de la littérature et de l’art, 1825–1840 suivi d’un catalogue complet des romans, drames, poésies ornés de vignettes, de 1825 à 1840, Paris 1883, Auskunft. Vgl. auch Maurice Shroder, Icarus. The Image of the Artist in French Romanticism, Cambridge Mass. 1961.

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äußere Kennzeichen der bürgerlich-städtischen Gesellschaft zu integrieren, wenngleich sein melancholischer Blick und seine konzentrierte Aufmerksamkeit hervortreten. Die Autorenporträts Baudelaires erlangen ihre spezifische Bedeutung vor dem vielschichtigen Horizont der Darstellung der Dichter, Maler, Philosophen und Staatsmänner in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts. An dieser Stelle sei kurz an die Dichter-Darstellungen Eugène Delacroix’ erinnert, die für Baudelaires Schriften besonders relevant sind. 1822 stellte Delacroix im Salon das Gemälde Dante und Vergil in der Hölle aus: Es zeigt – nach der Vorlage von Dantes Divina Commedia, des achten Gesangs des Inferno – Dante und Vergil, die im Nachen stehen und den grünlich-bleiernen Fluss der Unterwelt überqueren. Dante ist in den mittelalterlichen Kleidern in seiner typisierten Darstellung der roten Kapuze mit dem roten Kragen sowie der gebogenen Nase chiffrenartig zu erkennen; Vergil trägt einen Lorbeerzweig, der sein Haupt kränzt. 59 Vom Fährmann Phlegias sieht der Betrachter nur den Rücken; im Hintergrund taucht die Höllenstadt des Dis auf. Die Farben und das Licht der Unterweltlandschaft spiegeln sich auf den Gesichtern von Dante und Vergil und verwandeln diese: Le Dante, supposé vivant, a l’horrible teint des lieux; Virgile, couronné d’un sombre laurier, a des couleurs de la mort (Salon de 1846, II, 427: ‚Dante, als Lebender dargestellt, hat die schrecklichen Gesichtsfarben des Ortes; Vergil, von dunklem Lorbeer bekränzt, die Farben des Todes‘) 60 . Der frühe Delacroix malte also nicht den Aufenthalt der antiken Dichter im Limbus und ebenso wenig den Aufstieg Dantes ins Paradies und damit die Erlösung in der Gottesschau, sondern einen Raum der melancholischen Klage. Das Gemälde stellt den Dichter im jenseitigen Bereich der Unterwelt dar und macht damit in der Übertragung auch eine Aussage über die aktuelle Situation des zeitgenössischen Künstlers – diesem hatte Baudelaire im projektierten Titel seines Gedichtbandes Les Limbes ebenfalls einen Platz in der Unterwelt zugewiesen. Die geistige und gesellschaftliche Situation des Dichters nimmt Delacroix auch in seinen Tasso-Gemälden auf. Baudelaire hat sich in dem Sonett Sur ‚Le Tasse en prison d’Eugène Delacroix‘, das er nicht der Sammlung der Fleurs du mal integrierte, mit dem Gemälde auseinandergesetzt. 61 In der Tasso-Figur spiegelt sich der nachrevolutionäre, romantische Künstler in seiner gesellschaftlichen Außenseiterstellung, die dieser durch seine prekäre wirtschaftliche Lage und durch seine von bürgerlichen Normen abweichende geistige Produktivität einnimmt. Delacroix hat das Sujet in zwei Versionen ausgeführt. Sie zeigen den von 1579 bis 1586 in der Krankenanstalt Sant’Anna in Ferrara eingekerkerten Dichter Torquato Tasso: In der frühen Fassung von 1824 sieht man den nach einem Porträtstich aus dem 16. Jahrhundert gemalten Tasso in aristokratischen Kleidern, in der Fassung von 1839 hat sich die Szenerie weitreichend geändert, augenfällig ist der 59 Vgl. Sébastien Allard, Dante et Virgile aux Enfers d’Eugène Delacroix [Anm. 13]. 60 Baudelaire zitiert hier zustimmend aus einem Salonbericht von 1822 des Politikers Adolphe Thiers. 61 Vgl. Karin Westerwelle, „Verbildlichte Innenräume. ‚Sur Le Tasse en prison d’Eugène Delacroix‘

von Charles Baudelaire“, in Anne Geisler-Szmulewicz [u.a.] (Hgg.), Die Kunst des Dialogs. L’Art du dialogue. Sprache, Literatur, Kunst im 19. Jahrhundert. Festschrift für Wolfgang Drost zum 80. Geburtstag, Heidelberg 2010, 249–270.

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neue Kleidercode: Tasso hat die aristokratische Kleidung abgelegt und sich dem Horizont des 19. Jahrhunderts anverwandelt. Wie an seiner Kleidung ablesbar, gehört er nicht mehr zum aristokratisch-höfischen Raum. In Baudelaires Gedicht Sur ‚Le Tasse en prison d’Eugène Delacroix‘, das den eingekerkerten, in seinen Kleidern vernachlässigten Torquato Tasso evoziert, dient das Delacroix-Gemälde in seiner figürlichen Anschaulichkeit als Ausgangspunkt: Der Außenraum des Gemäldes wird im Gedicht Anschauungsfläche für den seelischen Innenraum. In ihm spielen sich in weiterer Verschachtelung der Räume innere Seelenkämpfe ab. 62 Differenz und Distinktion der Tassofigur, die sich im aristokratischen Kleidercode auf dem frühen Bild anzeigen, spielen für das Gedicht keine Rolle. Dagegen gehört aristokratische Distinktion als Charakteristikum des Autors und Dichters gleichwohl zu den grundlegenden Reflexionsfiguren der Baudelaireschen Ästhetik. Damit affirmiert Baudelaire keinesfalls vorrevolutionäre politische Verhältnisse, vielmehr wird ein politisch obsoletes Kriterium gesellschaftlicher Unterscheidung als Metapher im literarischen Feld – wie in der Figur des Dandy ersichtlich – angewandt. 63 Das Porträt Bracquemonds zeigt den Dichter Baudelaire in schlichter Kleidung. Ebenso wie die Darstellung Manets, der Baudelaire auf dem Gemälde Musik in den Tuileries (1862) im öffentlich-städtischen Raum, vertieft in ein Gespräch mit dem Kunstkritiker Théophile Gautier und dem Baron Taylor zeigt, handelt es sich um Gegenbilder zum romantischen Außenseiter. Der Autor, in einen schwarzen Anzug gekleidet, erscheint als moderner Mann, der sich einer städtischen Öffentlichkeit unauffällig integriert. Die Selbstinszenierungen auf Stichen und Porträtphotos sind zugleich Gegenentwürfe zu Legenden und Stereotypen, die Baudelaire als exaltierten, extravaganten oder heruntergekommenen Literaten vorstellen. Bereits Gautier deutet das gepflegte Erscheinungsbild des jungen Baudelaire als bewusste Intention, sich von der Generation der romantischen Dichter abzusetzen. In seinem Vorwort der postumen Ausgabe der Fleurs du mal schreibt er: Son vêtement consistait en un paletot d’une étoffe noire lustrée et brillante, un pantalon noisette, des bas blancs et des escarpins vernis, le tout méticulueusement propre et correct, avec un cachet voulu de simplicité anglaise et comme l’intention de se séparer du genre artiste à chapeaux de feutre mou, à vestes de velours, à vareuses rouges, à barbe prolixe et à crinière échevelée. 64 62 Vgl. auch die Bezugnahme Baudelaires auf das Gemälde Ovid chez les Scythes, das als eine Ver-

bildlichung der besonderen Kunst Ovids erscheint: Tout ce qu’il y a dans Ovide de délicatesse et de fertilité a passé dans la peinture de Delacroix (II, 636). 63 Vgl. Baudelaires Kenntnis (L’Œuvre et la vie de Delacroix, II, 763) des Briefes von Machiavelli an Vettori (vom 10. Dez. 1513), in dem Machiavelli von seinen Tagesbeschäftigungen, seinem Würfelspiel mit den Bauern, und dem abendlichen Anlegen seiner höfischen Kleidung für die Beschäftigung mit den antiken Autoren spricht. Vom alltäglichen Leben grenzt Machiavelli in besonderer Feierlichkeit die Lektüre ab, vgl. den Beitrag von Pia Claudia Doering in diesem Band. Die Bedeutung der Aristokratie als Modus, Differenz zu denken, zeigen Baudelaires Ausführungen zu Edgar Allan Poe (II, 299). Vgl. Karin Westerwelle, „Der Dandy als Held“, in Heldengedanken. Über das heroische Phantasma, in Merkur 724–725 (Sept.–Okt. 2009), 888–896. 64 Théophile Gautier, Baudelaire, hg. v. Jean-Luc Steinmetz, Paris 1991, 27 (‚Seine Kleidung bestand aus einem Paletot aus einem schwarzen, schimmernden und prächtigen Stoff, einer nussbrauen Hose,

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Ähnliche Beschreibungen des gepflegten oder dandyhaften frühen Baudelaire, der zu Beginn der 50er-Jahre vor den großen städtebaulichen Umwälzungen durch den Baron Haussmann auf der Ile Saint-Louis wohnte, liefert auch Charles Asselineau, der erste Biograph Baudelaires. Die Photographien Nadars zeigen darüber hinaus einen Baudelaire, der sich in seiner Kleidung gepflegt und verschlossen zeigt. Gesichtszüge und Körperhaltung rücken den Betrachter auf Distanz. Der sich der Öffentlichkeit präsentierende Baudelaire steht dem prince de charogne, 65 also dem Erfinder des Gedichtes XXIX Une Charogne (Ein Aas), mit den Bildern von Zersetzung und Ekel oder auch jenem moralisch verwerflichen Autor der Fleurs du mal entgegen, der wie sein Verleger Poulet-Malassis 1857 gerichtlich verurteilt wurde. Der Dichter stilisiert sich in gepflegten öffentlichen Umgangsfomren und scheint darin für viele Leser eine mit der Ästhetik der lyrischen Bildgegenstände unvereinbare Figur zu sein. Baudelaire reagiert auf diese Vorurteile in einem Brief vom 24. Januar 1862 (Corr. II, 219) an den Literaturkritiker Sainte-Beuve: J’étais très blessé […] de m’entendre depuis plusieurs années traiter de loup-garou, d’homme impossible et rébarbatif. Une fois, dans un journal méchant, j’avais lu quelques lignes sur ma répulsive laideur, bien faite pour éloigner toute sympathie. […] Un jour une femme me dit: „C’est singulier, vous êtes fort convenable; je croyais que vous étiez toujours ivre et que sentiez mauvais.“ Elle parlait d’après la légende. 66

Eine späte Variante des legendenhaften Bildes des Autors 67 findet sich in Literaturgeschichten und Vulgarisierungen der Biographie Baudelaires. In seiner Präsentation des Autors Edgar Allan Poe, der dem Alkohol verfallen war, setzt sich Baudelaire intensiv mit der Erkenntnis verhindernden Stereotypenbildung auseinander. 68

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weißen Handschuhen und glänzenden Stiefeln, alles akribisch sauber und korrekt, mit einer gewollten Note englischer Schlichtheit und mit der Intention, sich von dem Genre Künstler mit weichem Schlapphut aus Filz, der Weste aus Samt, dem weiten roten Matrosenhemd, mit dichtem Bart und wilder Mähne abzusetzen.‘) Vgl. die Karikatur von Nadar, die den vornehm gekleideten Baudelaire mit abwehrender Gestik in einer schwach skizzierten Vegetation mit einem Tierkadaver im unteren Bildfeld zeigt. Abgebildet in Le Musée retrouvé de Charles Baudelaire, hg. v. Yann le Pichon/Claude Pichois [Anm. 1], 214. ‚Ich war sehr verletzt […], mich seit Jahren als Werwolf, als unmöglicher und verstockter Mensch behandelt zu sehen. Einmal, in einer hämischen Zeitung, hatte ich einige Zeilen über meine abstoßende Hässlichkeit gelesen, dafür geschaffen, jede Sympathie fernzuhalten. […] Eines Tages sagte mir eine Frau: „Es ist seltsam, Sie sind ziemlich schicklich; ich glaubte, dass sie immer betrunken wären und schlecht riechen würden.“ Sie sprach ganz nach der Legende.‘ Sainte-Beuve hat Baudelaire keine öffentliche Besprechung gewidmet und ist der Legendenbildung nicht offiziell entgegengetreten. Eine ausführliche Dokumentation des Verhältnisses Sainte-Beuves zu Baudelaire findet sich in André Guyaux (Hg.), Baudelaire. Un demi-siècle de lectures des ‚Fleurs du mal‘ [Anm. 17], 1052–1058. Zu Prousts Kritik an Sainte-Beuve und dem Vorwurf, den wichtigsten Lyriker des 19. Jahrhunderts verkannt zu haben, vgl. Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve précédé de Pastiches et mélanges et suivide Essais et articles, hg. v. Pierre Clarac unter Mitarbeit v. Yves Sandre, Paris 1971. Diesem Thema widmet sich die Promotion Der unzuverlässige Übersetzer. Zum literarischen Anspruch von Charles Baudelaires Poe-Übersetzungen von Karl Philipp Ellerbrock.

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3. Die Hamletmaske Dem städtisch-vornehmen Autorbild, das Bracquemond für die Ausgabe der Fleurs du mal im Jahr 1861 zeichnete, steht in den Gedichten eine Vielzahl von Autorfigurationen gegenüber. Beinahe jedes Gedicht entwirft eine besondere Figur des Autors als geistigproduktivem Menschen. Rezeptionsgeschichtlich einzuordnende Bilder und Metaphern aus Literatur und bildender Kunst profilieren die geistige Aktivität des Dichtung erzeugenden Subjekts. Unterschiedlichste Formen geben demjenigen, der spricht und imaginiert, eine anschauliche oder paradox-unfassbare Kontur. Masken und Figuren des Autors vergegenwärtigen einen imaginären Raum, sie sind nicht unmittelbar auf die äußere Ansicht des Dichters im gesellschaftlichen Porträtbild abbildbar oder mit dieser kongruent. Das Verhältnis von äußerer Porträtansicht und den kreativen Innenansichten zeigt eine Spannung an, die dazu herausfordert, nach dem Ort des Geistigen im gesellschaftlichen Gefüge zu fragen. Im Prozess der Lektüre konfrontiert der ästhetische Effekt, den Baudelaire zu erreichen sucht, mit Abweichungen, die gängige Definitionen von Welt und Subjekt in Frage stellen. Viele seiner zivilisationsdiagnostischen Bemerkungen weisen darauf hin, dass in der bürgerlichen Gesellschaft der Raum des Spirituellen – gegenüber dem bloß leiblichen Genuss oder dem Marktwert des Geldes – an Bedeutung verloren hat. Auch aufgrund der Diagnose eines Verlustes an geistiger Lebenswelt valorisiert Baudelaire die Religion im Salon de 1859 als la plus haute fiction de l’esprit humain (II, 628). Wenn es die Überlieferungssituation dem heutigen Leser ermöglicht, sich eine Vorstellung von Charles Baudelaire in seinem gesellschaftlichem Erscheinungsbild als städtischem Typus zu machen, so bilden ihn die Gedichte und literarischen Texte nicht mimetisch als homme de lettres oder als honnête homme im Sinne des 17. Jahrhunderts ab, sondern sie entwerfen differente Innenansichten des Künstlers. Auch in den künstlerischen Porträts Baudelaires ist die Differenz von Innen- und Außenraum bereits präsent. Ebenso wie Francisco Goya in dem berühmten Capricho 43 El sueño de la razon produce monstruos, das einen in Gestalt und Kleidung historisch und typologisch charakterisierbaren Träumenden, dessen Gesicht jedoch verdeckt ist, der Vision von nächtlich unheimlichen Tieren aussetzt, hat Édouard Manet auf seinem Stich Portrait de Baudelaire (1867–1869) (Abb. 3) auf der oberen Blatthälfte den städtisch gekleideten Baudelaire gezeigt und auf der unteren Blatthälfte mit der Skizze des Nachtgetiers und dem Spruchband, das den Namenszug CHBaudelaire trägt, kombiniert. 69 Dargestellte Außen- und suggerierte Innenansicht des Autors bilden ein Spannungsverhältnis aus. Der individuelle Name des Porträtierten rückt bei Manet unabdingbar ins Verhältnis zum unsichtbardunklen Innenleben. Betrachtet man die künstlerischen Porträts Baudelaires genauer, sieht man, dass bereits viele Photographien Félix Nadars diesem doppelten Darstellungsprinzip gehorchen. Während eine Seite des verschlossenen Gesichtes zumeist im Licht klar zu

69 Édouard Manet, Portrait von Charles Baudelaire, 1867–1869, in L’Œuvre gravé de Manet, hg. v.

Marcel Guérin, Paris 1944, Nr. 38.

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Abb. 3: Édouard Manet, Portrait von Charles Baudelaire, 1867–1869, in L’Œuvre gravé de Manet

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erkennen ist, liegt die andere Seite verschattet und deutet auf das Unbekannte. Auch die Porträtansichten verweisen somit auf das dem äußeren Blick nicht Zugängliche. Auf welche Art und Weise eröffnen die Fleurs du mal den Raum des Geistig-Fiktionalen? Wie verleihen sie der geistigen Potenz und ihrem Urheber eine Gestalt? Nur in wenigen Gedichten der Fleurs du mal sind Namen von Dichtern und Künstlern direkt genannt. Besonders auffällig ist die Aufrufung von Künstlernamen in dem Gedicht VI. Les Phares. Den Namen Rubens, Leonardo da Vinci, Watteau etc. verbinden sich unmittelbar Bilder und Vorstellungsräume des geformten Werkes. Jeder Name verwandelt sich über das demonstrative Pronomen où (‚wo‘) in einen besonderen bebilderten Ort oder Raum (Fluss, Spiegel, trauriges Hospital etc.), der Schauplatz des christlichen Heilsgeschehens ist und ein besonderes Verhältnis zum göttlich Unsichtbaren und dem im Irdischen verbleibenden Imaginären stiftet. 70 Der Name definiert sich folglich über den Bezug zum Unsichtbaren. So erscheint der Maler und Bildhauer Michelangelo als ein ‚vager Ort‘, an dem sich antike Mythologie und Christentum kreuzen und sich Szenen der Auferstehung abspielen: 13

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Michel-Ange, lieu vague où l’on voit des Hercules Se mêler à des Christs, et se lever tout droits Des fantômes puissants qui dans les crépuscules Déchirent leur suaire en étirant leurs doigts; […]. 71 ‚Michelangelo, vager Ort, wo man Herkules-Gestalten sich Christusfiguren vermischen und mächtige Gespenster sich gerade aufrichten sieht, die in Dämmerungen ihr Leichentuch, ihre Finger streckend, zerreißen.‘

In den einzelnen Strophen des Gedichts werden die unterschiedlichen Namens-Plätze ekphrasisartig mit besonderen Bildvorstellungen beschichtet. Dem mnemotechnischen Verfahren, der Bebilderung von besonderen Orten ähnlich, schafft Baudelaire Monumente der Erinnerung, die zugleich mit dem Namen das Werk präsent halten. Der Name ist ein in ein Bild verwandeltes Zeichen. Baudelaires Erfindung von Autorbildern ist rezeptionsgeschichtlich angelegt. Für viele Figuren wie Schwan (LXXXIX Le Cygne) 72 oder Ikarus (Les Plaintes d’un Icare) als Embleme des Dichters lässt sich eine lange Traditionsreihe aufweisen, dagegen versinnlicht das neue Vogelbild des Albatros (I, 9–10: II L’Albatros) im Verhältnis zum Schiff und seiner Besatzung das alte Dichterbild des sich in den Azur aufschwingenden Poeten. Die Spiegelfechterei des Dichters, der mit Worten kämpft, gewinnt in LXXXVII Le Soleil vor dem Hintergrund der traditionellen Erhöhung des Dichters als lichtstrahlenden Apollons an Kontur. Im Auftaktgedicht I Bénédiction kristallisiert sich im Bezug auf 70 Vgl. die Analyse des Gedichtes von Bettina Full, „Goya und die Darstellung des ‚comique absolu‘ “,

in Charles Baudelaire. Dichter und Kunstkritiker [Anm. 1], 77–105.

71 I, 13. 72 Vgl. Michael Jakob, „Charles Baudelaire. ‚Le Cygne‘ “, in Ders., „Schwanengefahr“. Das lyrische

Ich im Zeichen des Schwans, München 2000, 269–298.

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die romantische Dichterfigur, den mit Majuskel versehenen, inspirierten Poète und seine christologische Erhöhung, eine ironische Differenz heraus, die sich noch nicht in einer neuen Figur konkretisiert. 73 In XVI Châtiment de l’orgueil überlagern sich unterschiedliche Epochen und Figuren: der scholastische Theologe, der politische Denker sowie die nicht explizit genannte Dichterfigur. Baudelaire verwendet die mittelalterliche, erbauliche Erzählung über den Domherrn Simon de Tournai. Dieser hatte sich gerühmt, dass die christliche Wahrheit von seinem dialektischen Beweisverfahren abhängig sei, und wurde daraufhin mit Wahnsinn bestraft. Die bereits von Saint-René Taillandier in der Revue des Deux Mondes aufgenommene, auf den politischen Denker Pierre-Joseph Proudhon gemünzte Anekdote überträgt Baudelaire implizit auf Dichter und Dichtung. Das Gedicht fragt nach dem Bezug von Sprache und Rhetorik zum sprechenden Subjekt. Das ‚Bezwingen der indifferenten Herzen‘ (I, 20: forcé les cœurs indifférents), das der mittelalterliche Theologe und Rhetoriker anstrebt, ist zugleich eine Definition der poetischen Sprache und ihres Effektes, den der Dichter zu erreichen sucht. Damit verbunden ist potenziell die Versuchung des Hochmuts (orgueil) und der Fall in den Wahnsinn. 74 In vielen Gedichten werden Werk und Autor als ‚unbekannte Orte‘ vorgestellt, die ohne signifikativ-repräsentative Zeichen gesellschaftlich unbedeutend bleiben. Das zunächst unter dem Titel A l’Artiste inconnu veröffentlichte, später in XI Le Guignon (I, 17: Die Pechsträhne) umgetaufte Gedicht bestimmt für Literatur und Künstler einen Ort jenseits der Öffentlichkeit und jenseits des Erinnerungskultes. Der Dichter und seine Lyrik bleiben ohne repräsentativen Bestattungs- und Erinnerungsort (loin des sépultures célèbres) an einem abgelegenen Friedhof (un cimetière isolé). Kein monumentum sichert postumen Ruhm. Die Literatur, in preziöser Manier als Schmuckstück (maint joyaux) verbildlicht, bleibt an einem Ort der Dunkelheit und des Vergessens (dans les solitudes profondes) unerkannt und versteckt. Ihre sinnliche Qualität, son parfum doux, strömt die Literatur (mainte fleur) im Verborgenen aus, da sie nicht oder nur von wenigen rezipiert wird. In der Erstpublikation der Fleurs du mal heißt das letzte, den Zyklus abschließende Gedicht CXXIII La Mort des artistes. In ihm wendet sich die Dichterfigur gleich einem Narren mit Schellenkappe in unendlicher Anstrengung und wiederholte Male dem künstlerischen Ideal, der morne caricature (I, 127), zu. Zur Anonymität des Autors und seiner Kunst gehört auch der Verlust von traditionellen Erkennungszeichen: In dem Prosagedicht Perte d’Auréole (I, 352: Verlust des Heiligenscheins) verliert ein Dichter-Ich im Straßenverkehr sein Attribut, nicht den Lor-

73 Die Distanz der Baudelaireschen Ästhetik zur romantischen Dichterfigur, dem ‚Poète‘, beleuchtet

mein Aufsatz: Karin Westerwelle, „Zum Antagonismus von Sinnlichkeit und Transzendenz in Charles Baudelaires Fleurs du mal“, in Therese Fischer-Seidel/Susanne Peters/Alex Potts (Hgg.), Perception and the Senses. Sinneswahrnehmung, Tübingen/Basel 2003, 189–212. 74 Vgl. die Analyse des Gedichtes von Jérôme Thélot, Baudelaire. Violence et poésie, Paris 1993, 337–363.

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beerkranz, sondern den Heiligenschein, und sinnt amüsiert darüber nach, dass schlechte oder ideologische Dichter ihn finden und sich mit ihm fortan schmücken könnten. 75 Im Vergleich mit der klassischen Repräsentation im 17. Jahrhundert tritt eine alte Randfigur zusehends in die Mitte des Bildes: In der Lyrik und in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts – etwa bei Honoré Daumier – gewinnt die Jahrmarktsgestalt, der Clown oder Gaukler (saltimbanque), an Bedeutung, ohne strukturell an die verlorene Stelle des Heros zu treten. 76 Zu solchen und ähnlichen Figuren der Heterotopie, mit denen der Dichter verglichen wird, gehören bei Baudelaire der Lumpensammler (chiffonnier), die bohémiens (das fahrende Volk), der jongleur insensible (LVII À une Madone) und ebenfalls der Weintrinker. In dem Prosagedicht Le vieux Saltimbanque ist die im 19. Jahrhundert vielfach inszenierte Figur des Dichters als Gaukler allerdings verabschiedet. Der Gaukler ist eine Gestalt der Vergangenheit, l’image du vieil homme de lettres; […] du vieux poète sans amis, sans famille, sans enfants, dégradé par sa misère et par l’ingratitude publique (II, 297: ‚das Bild des alten homme de lettres; […] des alten Dichters ohne Freunde, ohne Familie, ohne Kinder, entwürdigt durch seine Misere und die öffentliche Undankbarkeit‘), an der die Menge interesselos vorbeizieht. 77 Der Beobachter der Szene, der vrai parisien (I, 295), bleibt anonym. Er beschreibt die Szenerie und ist vom alten Bild schmerzvoll ergriffen, ohne sich seinerseits in ihm zu spiegeln oder von sich eine neue Repräsentation zu entwerfen. Das Gedicht La Béatrice (I, 116–117) ist mit der Hamlet-Figur für die Repräsentation des Autors als schöpferischen Subjekts von besonderem Interesse. Es gehört zur Sektion Fleurs du mal und bezieht sich im Titel auf die Lyrik Dantes, auf die Vita nuova und die Divina Commedia. Beatrice ist die geliebte Dame und, wie ihr Name sagt, die Glückseligmachende. 78 Sie erscheint in der Vita nuova epiphanisch im städtischen Ambiente oder im Traum und erschüttert den Liebenden zutiefst. In der Divina Commedia greift sie vom christlichen Jenseits aus rettend ein und schickt den Dichter Vergil zum Jenseitswanderer Dante, damit dieser trostlos im Wald Verirrte den richtigen Weg finde. Nachdem der Jenseitswanderer Dante Hölle und Purgatorium durchwandert hat, löst Beatrice Vergil ab und geleitet als Führerin durch das Paradies. Die Weiblichkeitsfigur bleibt in all ihren Attributen körperlos unfassbar. In hagiographischer Gestaltung und Analogie zur Chris75 Die perte d’auréole wäre mit dem Lichtkranz, der die Dichterfigur in I Bénédiction in der göttli-

chen Ewigkeit auszeichnet, zu vergleichen. Zur malerischen Ausschmückung des Dichters mit dem Lorbeerkranz bei Delacroix und Ingres cf. die Ausführungen bei Sébastien Allard, Dante et Virgile aux enfers d’Eugène Delacroix [Anm. 13]. Zur Tradition des Motivs vgl. Werner Suerbaum, „Poeta laureatus et triumphans. Die Dichterkrönung Petrarcas und sein Ennius-Bild“, in Poetica 5 (1972), 293–328. 76 Vgl. für eine erste Annäherung: Jean Starobinski, Portrait de l’artiste en saltimbanque, Paris 1970. 77 Vgl. Rainer Warning, „Baudelaires Prosagedichte. ‚Le vieux Saltimbanque‘ “, in Charles Baudelaire. Dichter und Kunstkritiker [Anm. 1], 175–188. 78 In Rückfrage an Poulet-Malassis, seinen Verleger, weist Baudelaire bei der Erörterung der unterschiedlichen Schreibweise von Béatrice (Beatrix, Beatrice) auf der Druckfahne darauf hin, dass ici Beatrice est forcément italien, voulant dire. la déité, la maîtresse du poète (I, 1067).

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tusfigur verbindet sie in der Vita nuova den Sprecher mit dem Unsichtbar-Göttlichen, als irdisch Geliebte trennt sie den Sprecher von der Transzendenz. CXV LA BÉATRICE 1

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Dans des terrains cendreux, calcinés, sans verdure, Comme je me plaignais un jour à la nature, Et que de ma pensée, en vaguant au hasard, J’aiguisais lentement sur mon cœur le poignard, Je vis en plein midi descendre sur ma tête Un nuage funèbre et gros d’une tempête, Qui portait un troupeau de démons vicieux, Semblables à des nains cruels et curieux. À me considérer froidement ils se mirent, Et, comme des passants sur un fou qu’ils admirent, Je les entendis rire et chuchoter entre eux, En échangeant maint signe et maint clignement d’yeux: – » Contemplons à loisir cette caricature Et cette ombre d’Hamlet imitant sa posture, Le regard indécis et les cheveux au vent. N’est-ce pas grand-pitié de voir ce bon vivant, Ce gueux, cet histrion en vacances, ce drôle, Parce qu’il sait jouer artistement son rôle, Vouloir intéresser au chant de ses douleurs Les aigles, les grillons, les ruisseaux et les fleurs, Et même à nous, auteurs de ces vieilles rubriques, Réciter en hurlant ses tirades publiques?« J’aurais pu (mon orgueil aussi haut que les monts Domine la nuée et le cri des démons) Détourner simplement ma tête souveraine, Si je n’eusse pas vu parmi leur troupe obscène, Crime qui n’a pas fait chanceler le soleil! La reine de mon cœur au regard nonpareil, Qui riait avec eux de ma sombre détresse Et leur versait parfois quelque sale caresse. 79 CXV Die Beatrice

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‚Im aschigen, verkohlten Gelände, ganz ohne Grün, als ich mich eines Tages gegenüber der Natur beklagte und meiner Gedanken Dolch, während ich, dem Zufall überlassen, umherschweifte, langsam an meinem Herzen schärfte, sah ich im vollen Mittag, wie auf meinen Kopf eine trauerschwarze Wolke herabsank, die Sturm in sich barg und eine Schar von lasterhaften Daimonen trug, grausamen und neugierigen Zwergen gleich. Sie begannen kalt mich zu betrachten,

79 I, 116–117.

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Karin Westerwelle und, wie Passanten gegenüber einem Wahnsinnigen, den sie bewundern, hörte ich sie lachen und flüstern unter sich, indem sie Zeichen um Zeichen und manch’ Augenzwinkern austauschten. – „Betrachten wir mit Muße diese Karikatur und diesen Schatten eines Hamlet, der seine Pose nachahmt, mit unentschiedenem Blick und das Haar im Wind. Ist es nicht eine Schande diesen Lebemenschen zu sehen, diesen Landstreicher, diesen Possenreißer in Ferien, diesen Möchtegern, nur weil er kunstvoll seine Rolle zu spielen weiß, will er für den Gesang seines Schmerzes Adler, Grillen, Bäche und Blumen interessieren, und selbst uns, den Autoren dieser alten Rubriken, seine öffentlichen Reden schreiend rezitieren?“ Ich hätte (mein Stolz so hoch wie die Berge überragt Wolke und Schrei der Dämonen) einfach mein souveränes Haupt abwenden können, hätte ich nicht unter der obszönen Truppe, Verbrechen, welches die Sonne nicht wanken ließ! die Königin meines Herzens mit ihrem unvergleichlichen Blick gesehen, die mit ihnen über meine dunkle Verlassenheit lachte und ihnen von Zeit zu Zeit eine schmutzige Liebkosung austeilte.‘

In dem dreistrophigen Gedicht sind jeweils zwei Alexandriner im Paarreim gebunden. Anders als in der Kanzonentradition bilden die Strophen durch den Reim keine Einheit aus, überdies ist ihre Form durch die abnehmende Anzahl der Verse (12, 10, 8) unregelmäßig. Thema des Gedichts ist die Selbstrepräsentation der Sprecherfigur im dichterischen Prozess. Das lyrische Ich vergegenwärtigt sich selbst, wie es einst in trostloser Landschaft meditierte. 80 Drei große Figurationen bestimmen die Szene: die mönchische Meditationssituation mit dem Angriff von Dämonen in karger, wüstenähnlicher Landschaft, die in den Grau- und Schwarztönen sowie den dämonenartigen Scharen an die Schauplätze der Caprichos Goyas erinnert; die Hamlet-Figur als wichtige romantische Bezugsfigur, die Eugène Delacroix mehrmals gemalt und gezeichnet hat und die sich auch in der französischen Rezeption als tatenloser Melancholiker aus einem Zuviel der Reflexion profiliert; und die Begegnung mit der Geliebten, die mit Bezug auf Dantes Beatrice als epiphan Erscheinende und aus christlicher Transzendenz Wirkende evoziert ist. Die innovative Kraft des Gedichtes besteht darin, die religiöse Kontemplationsszene mit der dramatischen Hamlet-Figur zu überblenden. Die Szene verwandelt sich in eine theatralische Bühne. An diesem Schauplatz der Rollen und Tableaus situiert sich die lyrische 80 Den Titel Béatrice verwandte Baudelaire vorläufig für zwei andere Gedichte: Das Sonett XXX De

profundis clamavi hieß in der Vorabveröffentlichung von 1851 La Béatrix, das Gedicht XXXI Le Vampire trug 1855 den Titel La Béatrice. Zwischen den drei Gedichten bestehen starke thematische Bezüge. Von Balzac stammt eine Erzählung mit dem Titel Béatrix, die zwischen 1838 bis 1844 entstanden ist. Vgl. dazu Mona Ozouf, Les aveux du roman. Le XIXe siècle entre Ancien Régime et Révolution, Paris 2001, 81–102.

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Situation par excellence, die Begegnung mit der Geliebten, die von einer dramatischen Handlung ins Grotesk-Obszöne umkippt. Ebenso gut ist es allerdings möglich, das Gedicht inhaltlich und strukturell mit dem Beginn der Divina Commedia ins Verhältnis zu setzen und damit bereits enger an eine dichterische Figuration der existentiellen Situation des Menschen zwischen Gut und Böse, zwischen christlicher Bestimmung und unerlöstem Leben heranzurücken: die drei entscheidenden Stationen wären die Verirrung des Jenseitswanderers Dante im Wald, seine zunehmende Verzweiflung bei der visionären Begegnung mit den drei wilden Tieren und schließlich die hilfreiche Erscheinung des von Beatrice gesandten Vergil. Eine stilistisch-sprachliche Beobachtung ist den inhaltlichen, gattungs- und medienspezifischen Ausführungen hinzuzufügen. Die Hamlet-Figur steht keinesfalls nur für romantische Tatenlosigkeit und Zögerlichkeit. Das Zögern Hamlets, das vornehmlich aus dem berühmten Monolog to be or not to be als ein Akt des reflexiven Bewusstseins benannt wird, hat die Kehrseite in seiner Gewaltbereitschaft. Hamlet ist „Gewalttäter, Gewaltplaner und Gewaltredner.“ 81 Nicht nur sein mörderischen Tun – in der Schlussszene allein sterben der König durch einen Schwertstreich Hamlets, die Königin durch den Giftbecher, Hamlet und Laertes im Duell –, sondern auch seine grausam ironische Rede bringt Verderben. Hamlets zynische Zurückweisung Opheliens treibt diese in Wahnsinn und Tod. Die Königin nennt Hamlets Art zu reden, eine ‚lose Zunge‘, sie fürchtet seine Rede und meint, er sei gekommen, sie zu töten. Hamlets Reden sind rätselhaft, sie sind witzige Wortspiele, verstellte oder kasuistische Kommentare. Emblematisch dafür ist die Duellszene im letzten Akt. Vor dem tödlichen Fechten kämpft Hamlet mit Worten, sein mörderischer Degen in Fechthaltung ist eine Metapher für das treffende, Seele und Geist verletzende Wort. Der Degen materialisiert die schneidende und tötende Rede. In Baudelaires Gedicht La Béatrice steht nicht die Gewalttat, wohl aber – wie zu zeigen ist – die auf die Bühne gebrachte Gewalt der Sprache im Vordergrund. Betrachten wir nun Baudelaires Gedicht genauer. Die dem Leser zunächst banal anmutende Mittagsstunde (en plein midi5 ) gehört zum Topos der Einsamkeit und des Rückzugs der Mönche oder Kirchenväter an einen unwirtlichen Wüstenort. Der Heilige, der sich in die Wüste begibt, ist der Versuchung durch Dämone ausgesetzt. 82 Die Stunde des Mittags, 83 der größten Gefährdung und Versuchung durch die acedia, birgt auch hier die Potenz des naturhaften Umschwungs und der visionär-erotischen Gewalt. Ebenso banal wie die Mittagszeit erscheint die gewollt pathosfreie Anrede an die Natur. Das je nimmt

81 Karl Heinz Bohrer, „Warum ist Gewalt ein ästhetisches Ausdrucksmittel?“, unveröffentlichter

Vortrag.

82 Vgl. zum Thema der mönchischen Einsamkeit und dämonischen Versuchung: Moshe Barasch, „The

Hermit in the Desert. An Image of Solitude“, in Aleida/Jan Assmann (Hgg.), Einsamkeit. Archäologie der literarischen Kommunikation, München 2000, 153–172. 83 Vgl. zur Gestaltung der Mittagsstunde der Melancholie bei Baudelaire das Kapitel La Mélancolie, à midi von Jean Starobinski, La Mélancolie au miroir. Trois lectures de Baudelaire, Paris 1989, 15–25.

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auf dem Schauplatz zunächst keine greifbare Bildgestalt an, es erscheint nicht als ein asketisch-religiöser Typus. Im Moment der gedanklichen Zuspitzung, als sich die (erhabene) Schärfe des Denkens gegen das eigene Herz richtet – der Sprecher wetzt langsam des Gedankens Schärfe am Herzen –, hat das Sprecher-Ich eine Vision: Je vis5 . Die kritischen Ausgaben verweisen für die metaphorische Bildlichkeit der Gedanken als Dolch auf Shakespeares Henry IV. Der König wendet sich an den Prinzen Heinrich mit den Worten. Thou hid’st a thousand daggers in thy thoughts, / Which thou hast whetted on thy stony heart (I, 1067). Schon die frühen Kommentaren Georges Blin und Jacques Crépet haben im Dolch des Gedankens eine offensichtliche Form der Ironie (c’est évidemment l’ironie) erkannt, die sich gegen den Sprecher selbst richtet. 84 Die Shakespeare entlehnte Form, die rhetorische Rede, ist bereits im Text als Nachahmung versteckt präsent, bevor sie in der zweiten Strophe in der rhetorisch begabten Figur Hamlets, dem Wirkungseffekte produzierenden Redner, direkt erscheint und dem Sprecher als imitatio, als Hamletpose, vorgehalten wird. Die Prosopopöie, die personalisierte Hamlet-Figur, bringt folglich sprachliche Form der Gewalt zur Anschauung, die von den Gnomen aber als Pose verhöhnt wird. Auch das Gegenspiel von Herz und Gedanke, die ironische Aufhebung des Gefühlt-Gedachten durch den neuen, das Gefühlte austreibenden Gedanken, ist bereits als Vorgehensweise abstrakt benannt, bevor das bühnenartige Spiel von Instanzen und Textfiguren, mit Gnomen und Hamlet-Figur, aufgeführt wird. Anders als in der Lyrik Dantes oder auch Petrarcas offenbart die Wolke – hier von schwarzer, nicht weißer Farbe – nicht die vergeistigte Gestalt der Dame. 85 In ihrer naturhaften Potenz (gros d’une tempête6 ) kündigt sie vielmehr einen Sturm der Affekte an. Die Wolke gebiert eine Anzahl von Kobolden, die in ihrer Lasterhaftigkeit besonders hervorstechen (de démons vicieux7 , leur troupe obscène26 ). Lasterhaft sind die zwergenhaften Gesellen auch, weil sie den leeren und öden Landschaftsraum (terrains cendreux, calcinés1 ) hin auf den Willen zum Wissen und zur Grausamkeit (des nains cruels et curieux8 ) überschreiten. Sind die Gnome grausamer noch als die Hamlet-Figur? Zugleich öffnet sich mit den Kobolden die Einöde hin auf das Gesellschaftliche: Ebenso wie in einem städtischen Raum ein Wahnsinniger von Passanten beobachtet wird, betrachten die Kobolde zunächst kalt und teilnahmslos das Sprecher-Ich, bevor sie sich untereinander in verächtlicher Manier verständigen: Sie kommunizieren in auffällig trivialen und groben 84 Charles Baudelaire, Les Fleurs du mal [Anm. 8]; Ähnlich der biographistische Kommentar Pichois’

(I, 1067): „Le poignard de Baudelaire – sans doute l’ironie – n’est destiné qu’à le tuer lui-même.“

85 In der Vita nuova erscheint Beatrice, als sich der Sprecher träumend in seine Kammer zurückgezogen

hat, in einer marvigliosa visione in einer nebula di colore di fuoco als nackte, in blutfarbenes Tuch gehüllte donna della salute in den Armen Amors. Dante, Vita nova, hg. v. Domenico de Robertis, in Ders., Opere minori 1, hg. v. Domenico de Robertis/Gianfranco Contini, Mailand/Neapel 1984, 37–38. Im Canzoniere Petrarcas, 2 Bde., hg. v. Rosanna Bettarini, Turin 2005, vergegenwärtigt das lyrische Ich in der Kanzone CXXIX Di pensier in pensier, di monte in monte die Geliebte u.a. in der Wolke; in den Epistulae metricae. Briefe in Versen, hg. v. Otto/Eva Schönberger, Würzburg 2004, 76–77, erscheint die Geliebte in den Wolken: I, 6, V. 146–151.

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Blicken und geben damit bereits einvernehmlich und ungeniert Belustigung und Verachtung zu verstehen. Sie amüsieren sich über die Dichterfigur in der einsamen Landschaft und werden darin teilweise den städtischen Passanten ähnlich, die staunend vor dem Wahnsinnigen stehen. Der Vergleich macht deutlich, dass die dämonische Versuchung nicht gänzlich dem naturhaften Einsamkeitsraum zugehörig ist, sondern in ihr gesellschaftliche Instanzen und Normen wirksam sind. 86 Das öde, farblos aschgraue und konturlos in der Fläche verlaufende Gelände – das man kaum als Landschaft bezeichnen kann – ist kein Ort der visio dei. Ebensowenig findet dort eine communicatio mit Amor im mönchischem Selbstgespräch statt. In der Lyrik Petrarcas spricht das lyrische Ich mit Amor (io con lui), steht ihm aber nicht adversativ gegenüber. 87 Über den Vergleich der ‚lasterhaften Kobolde‘ mit städtischen Beobachterfiguren der Menge dringt der gesellschaftliche Zivilisationsraum in die Sphäre des scheinbar isolierten Naturraumes ein. Die Sprache in ihrer Funktion der Mitteilung, das Verhältnis von Dichterfigur und Publikum, von subjektiver Einsamkeit und Repräsentation dieses Zustandes rücken ins Zentrum des Gedichts. Ist es das Urteil der städtischen Menge, das auch die Kobolde vertreten? Die zweite Strophe ist direkte Rede der lasterhaften Gnome. Diese haben im Gedicht die Funktion von verbildlichten Ich-Instanzen und sind in der lyrischen Tradition an die spiriti anschließbar. Die spiriti oder ‚feinen Geister‘ sind Partialkräfte im Haushalt des Ich, mittels derer z.B. Dante in der Vita nova die Erscheinung der Beatrice diskutiert. Der Sprecher wird von ihnen als eine Karikatur verunglimpft: Er ist lächerlich, weil alle Rollen und Masken, die er annimmt, überzeichnet, unauthentisch, unaufrichtig und obsolet sind. Anders gesagt: Hier wird die lyrische Sprache, deren Formen und stilistische Figuren allegorisch in den Rollen und Masken vergegenwärtigt sind, kritisiert. Der Sprecher erscheint als schlechter Mime: Seine schauspielerische Mimesis, sein remake einer romantischen Figur, der Pose des Hamlet, gelingt nur schattenhaft (cette ombre14 ), sie ist lediglich abbildliche Wiederholung eines ersten, historisch bereits zurückliegenden Modells, das man auf die romantische Shakespeare-Rezeption beziehen kann. Die Reflexion über den Bildbegriff und über Wahrnehmungsprozesse ist mit der direkten Nennung des Genres ‚Karikatur‘ und der in platonischer Bildästhetik verwandten Kategorie ‚Schatten‘ explizit hervorgehoben. Die gesamte poetologische Terminologie benennt einen künstlerischen, aktuell stattfindenden Schaffensprozess, der im Ungreifbaren und Substanzlosen schwebt und sich noch nicht in einer festen Form darstellt. Schatten und Karikatur verweisen auf ein anderes, eigentliches, zugrundeliegendes Bild oder Subjekt, das als solches nicht dargestellt wird oder werden kann.

86 Vgl. zu den Angriffen der Dämonen, die in der Vita des Heiligen Antonius nie im städtischen oder

klösterlichen Raum verortet sind: Moshe Barasch, „The Hermit in the Desert“ [Anm. 82], 162.

87 Vgl. Petrarca, Canzoniere, „Solo et pensoso“ [Anm. 85], 35.

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Shakespeares Hamlet wird im 19. Jahrhundert sowohl in der Bühnenkunst als auch in der Malerei neu gedeutet. 88 Mit diesen beiden Medien spielt das Gedicht, denn – wie noch genauer darzulegen ist – bezieht es sich nicht nur auf die dramatische Bühnenrolle Hamlets, sondern auch auf die Malerei, die den Schauspieler in seiner Hamlet-Rolle oder ein Porträt des Schauspielers in der Hamlet-Rolle zeigt. Viele Romanciers und Lyriker, darunter Chateaubriand, Stendhal, George Sand, Mallarmé und Laforgue rezipieren Shakespeare in neuen Übersetzungen und Theateraufführungen. An der Hamlet-Figur kristallisieren sich in der Gegenüberstellung von Klassik und Romantik, Antike und Moderne, Gesellschaft und Individuum die aktuellen ästhetischen Betrachtungen heraus. Eugène Delacroix 89 , Édouard Manet und der heute wenig bekannte Maler Henri Lehmann haben die Figur gemalt. Literatur- und Kunstkritiker besprechen Theateraufführungen, charakterisieren Hamlet-Darsteller, beschreiben und analysieren die gemalten oder gezeichneten Hamlet-Figuren. Baudelaire widmet zwei kürzere Besprechungen, das Porträt Philibert Rouvière von 1859 (II, 60–65) für die Nouvelle Galerie des artistes dramatiques vivants und den Nachruf von 1865 Le Comédien Rouvière (241–243), dem Schauspieler Philibert Rouvière (1809–1865), der ein bekannter Shakespeare-Darsteller war und als Hamlet im Jahr 1846 in Paris am Theater Saint-Germain und am Odéon Erfolge feierte (II, 62–64). Manet hat ihm in dem Gemälde L’Acteur tragique. Portrait de Rouvière dans le rôle d’Hamlet (1865, Abb. 4) ein Denkmal gesetzt, von dem er Baudelaire eine Photographie hat schicken wollen. 90 Manet hat Rouvière mit Bezug auf Velasquez vor diffusem Hintergrund (Le fond disparaît) 91 im reichen Schwarz des Kostüms gemalt; die schwarze Farbgebung ist wohl von Delacroix’ Hamletdarstellungen beeinflusst. Der spitze, schwarzgraue Degen liegt am Boden; er wirft wie die Beine Rouvières einen Schatten, der in Linie und schwarzen Tupfern das ornamentale Spiel des Griffbügels steigert. Rouvière im Schauspielerkostüm des Hamlet führt den Degen nicht. Seine prominent in der Bildmitte sich kreuzenden, farblich hell hervorstechenden Hände halten den Saum des Umhangs und die Krempe des Hutes, dessen ebenfalls schwarzgrauer Federbusch markant voluminös neben dem 88 Vgl. zur Hamlet-Rezeption: Helen Phelps Bailey, Hamlet in France. From Voltaire to Laforgue,

Genève 1964.

89 Vgl. zu den unterschiedlichen Hamlet-Darstellungen Delacroix’ die Ausstellungskataloge: Marianto-

nia Reinhard-Felice (Hg.), Eugène Delacroix. Spiegelungen, München 2008, 48–51, 70–71: Hamlet und Horatio auf dem Friedhof (Öl auf Leinwand 1839, Musée du Louvre; und Öl auf Leinwand 1859, Musée du Louvre) sowie die Lithographie von 1828 Hamlet, über den Schädel des Yorik sinnierend (49); ferner die Ausführungen von Dorit Schäfer und die Hamlet-Lithographien in „Delacroix und Shakespeares Hamlet“, in Eugène Delacroix. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Heidelberg 2003, 236–247. 90 Édouard Manet, L’Acteur tragique. Portrait de Rouvière dans le rôle d’Hamlet (Öl auf Leinwand, 187,2 × 108,1 cm, Washington, D.C., National Gallery of Art), in Manet 1832–1883 (Ausstellungskatalog), Paris 1983, 233. 91 Manet in einem Brief an Fantin-Latour aus Spanien im Jahr 1865, zit. nach: Édouard Manet, in Manet 1832–1883 (Ausstellungskatalog) [Anm. 90], 231.

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Abb. 4: Édouard Manet, L’Acteur tragique. Portrait de Rouvière dans le rôle d’Hamlet (Öl auf Leinwand, 187,2 × 108,1 cm), Washington, D.C., National Gallery of Art

Oberschenkel aufbauschend herabfällt. Durch die mittig auf dem Körper und leicht mittig der Bildachse liegenden Hände wirkt die Figur sehr konzentriert. Anders als bei Velasquez, dessen Schauspielerporträt Paplillos de Valladolid Manet Vorbild war, verweisen Arm und Hand nicht deiktisch auf einen Gegenstand außerhalb des Bildgeschehens. Beide Zeigefinger deuten diskret nach unten. Aber was sollte der Boden des Gemäldes, was die Füße Hamlets zu entdecken geben? Den Schattenfall der Beine im spitzen Dreieck hat Manet gegenüber Velasquez gesteigert und den Degen als drittes Linienelement dem Boden einkombiniert. Die Lenkung des Schattenspiels ist derart auffällig, dass der Bild-

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betrachter angestoßen wird, die Linien als Buchstaben M und damit als Abbreviatur des Malernamens Manet zu lesen. Das Spiel mit den Buchstabenlinien ist umso eindrücklicher, als hier der Degen als Metapher für den Pinsel des Malers in den Buchstaben eingeht. Der Körper des Porträtierten bricht sich als bloßer Schatten auf der schwindenden Fläche des Hintergrundes in diesem Buchstaben. Zugleich richtet sich der Buchstabe M im dargestellten Körper auf, der Maler inkarniert sich in der Figur. In seinem Artikel zählt Baudelaire die großen Rollen Rouvières auf, das höchste Talent Rouvières sieht er aber trotz des Erfolges (II, 63–64: tour de force qui fera date dans l’histoire du théâtre) nicht im unbestimmten und widersprüchlichen Hamlet (l’indécis et contradictoire Hamlet), sondern in den ‚absolut tragischen Rollen‘ (ebd.), die der Mime ausgefüllt habe. Im Nachruf von 1865 wiederholt er diesen Gedanken im geistreichen Bezug auf Goethe: Grand succès de Rouvière. – Mais joué en Hamlet méridional; Hamlet furibond, nerveux et pétulant. Goethe, qui prétend que Hamlet était blond et lourd, n’aurait pas été content. (II, 241: ‚Großer Erfolg Rouvières. – Aber ein meridional gespielter Hamlet; ein wütender Hamlet, nervös und überschäumend. Goethe, der meint, Hamlet sei blond und schwer, wäre nicht zufrieden gewesen.‘) Baudelaire bezieht sich in seiner physiologischen Charakterisierung pointiert auf Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wilhelms Erläuterung, warum Hamlet Nordländer und blond von Hause aus sei: ‚Bestimmt find’ ich es nicht ausgedruckt, aber in Verbindung mit andern Stellen scheint es mir unwidersprechlich. Ihm wird das Fechten sauer, der Schweiß läuft ihm vom Gesichte, und die Königin spricht: er ist fett, laßt ihn zu Atem kommen. Kann man sich ihn da anders als blond und wohlbehäglich vorstellen, denn braune Leute sind in ihrer Jugend selten in diesem Falle. Paßt nicht auch seine schwankende Melancholie, seine weiche Trauer, seine tätige Unentschlossenheit, besser zu einer solchen Gestalt, als wenn Sie sich einen schlanken, braunlockigen Jüngling denken, von dem man mehr Entschlossenheit und Behendigkeit erwartet?‘ 92

Baudelaire übernimmt die von Goethe erfundene Typologie und unterstreicht darin die Modernität einer Rolle, für die reflexive Gebrochenheit wesentlich ist. Ästhetisch weitergeführt, wird die Hamlet-Figur in La Béatrice eine Produktionsfigur gewalttätiger Rede. Anders als Baudelaire betont Théophile Gautier in seinem Nachruf, dass es niemandem so wie Rouvière in der Hamletrolle gelungen sei, die Mischung aus vorgetäuschtem und tatsächlichem Wahnsinn darzustellen, cet œil visionnaire où se réfléchissent des fantômes invisibles pour les autres (‚dieses visionäre Auge, in dem sich die Phantome, die anderen unsichtbar sind, reflektieren‘). Zudem sieht Gautier Rouvières Spiel als ein die Figur verbildlichendes Tableau. Er habe große Sorgfalt auf die composition extérieure des personnages qu’il représente (‚auf die äußere Komposition der Gestalten, die er darstellt‘) verwendet. Il dessine Hamlet avec son corps comme Delacroix avec son crayon lithographique. […]. Il ne joue pas seulement son poëte, il l’illustre, et fait de chaque scène un tableau (‚Er zeichnet Hamlet mit seinem Körper wie Delacroix mit seinem lithographi92 Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Bd. 5, hg. v. Hans-Jürgen Schings (Sämtliche

Werke nach Epochen seines Schaffens Münchener Ausgabe), München/Wien 1988, 305.

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schen Stift. […] Er spielt nicht nur den Dichter, er illustriert ihn, er macht aus jeder Szene ein Tableau‘). 93 Das Faszinosum, das in allen kritischen Reflexionen der Literaten und Kritiker über die Hamlet-Figur hervortritt, liegt im unbestimmten, zwiespältigen Charakter Hamlets. Er ist derjenige, der zugleich wahnsinnig ist und den Wahnsinn spielt; von Natur aus träumerisch und unruhig, zögernd und sinnierend vor dem eigentlichen Handeln, tötet er dennoch Polonius im Handstreich, seinen Stiefvater Claudius und den Bruder Ophelias; er ist zugleich urteilskräftig und vernünftig und doch dem Wahnsinn ausgeliefert. In seiner Besprechung des Salons von 1846 und des Hamlet-Gemäldes von Lehmann stellt Théophile Thorédie Schwierigkeit fest, diesen Charakter darzustellen: Hamlet est le plus indéfinissable de tous les types créés par les poëtes. Es scheint unmöglich, seinen Typus eindeutig zu erfassen: Comment qualifier Hamlet en un seul mot, ou, ce qui est presque même chose, en une seule image? 94 In La Béatrice erscheint Hamlet als sichtbares Bild, nicht nur als Rolle. Die ironisierte, von den Gnomen als ‚Karikatur‘ verhöhnte Hamlet-Haltung liegt in der besonderen zeichen- und tableauhaften Stilisierung des Körpers: Die posture14 meint traditionell eine besondere Körperfigur, auch die Tanzfiguren des Balletts. Der besondere Blick, der sich im Zögerlich-Vagen (indécis15 ) verliert, und das vom Wind zerzauste Haar verweisen auf die bildlich-porträthafte Inszenierung des romantischen Dichtertypus, für die die HamletFigur, wie sie Delacroix gemalt hat (Abb. 5), ein Beispiel gibt. 95 Die Zeichen der Selbstdarstellung der Dichterfigur sind wenig subtil, sie springen förmlich ins Auge, so dass sich auch die Kobolde in ihrer Beobachterrolle viel mehr als neugierige Gaffer denn als feinfühlige Betrachterfiguren zu verstehen geben. Das, was es zu beobachten gilt, verlangt keine Spitzfindigkeit oder besondere Beobachtungsgabe: Contemplons à loisir cette caricature13 . Die Bezeichnung ‚Karikatur‘ 96 evoziert – ähnlich wie der Modus des Betrachtens – weniger die schlecht gespielte Bühnenrolle als das verzerrte, in den Formen überzeichnete Bild, das Hamlet abgibt. Intendierte Uneindeutigkeit (le regard indécis15 ) verwandelt sich in der Sicht der Gnome zum karikaturalen, prägnanten Merkmal. Die Hamlet-Rolle wird nicht reinkarniert, sondern als schattenhaftes Gebilde (cette ombre14 ) verspottet. Der Schatten stellt – vielleicht auch in Anspielung auf die geisterhafte Erscheinung des getöteten Königs als poor ghost – nunmehr dem lyrischen Ich ein Bildnis seiner selbst vor Augen. Hamlet im Gedicht kämpft als Subjekt mit den inneren Phantasmen seiner selbst. Die Gnome – so ein Part der Rolle, die ihnen zufällt – nehmen den Standort der voyeuristischen Zuschauer ein, die über eine Viel93 Théophile Gautier, „Rouvière“, in Ders., Portraits contemporains [Anm. 48], 431–432. 94 Théophile Thoré, Le Salon de 1846, précédé d’une lettre à George Sand, Paris 1846, 123. 95 Eugène Delacroix, Hamlet und Horatio auf dem Friedhof , 1839 (Öl auf Leinwand, 81,5 × 65,4 cm,

Paris, Louvre), in Mariantonia Reinhard-Felice (Hg.), Eugène Delacroix. Spiegelungen, München 2008, 50. 96 Die erkenntnistheoretische und ästhetische Bedeutung der Karikatur im Werk Baudelaires erläutert Bettina Full, Karikatur und Poiesis [Anm. 9].

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Abb. 5 Eugène Delacroix, Hamlet und Horatio auf dem Friedhof , 1839 (Öl auf Leinwand, 81,5 × 65,4 cm), Paris, Louvre

zahl von vulgären Zeichen eine verschworene Einheit ausbilden. Erst die Verspottung durch die Gnome – so ihr zweiter Part – bewirkt eine weitere monologische Vertiefung des Selbstgesprächs, das das lyrische Ich des Gedichts führt. Hamlets Rede mit dem Totenschädel Yoriks, wie sie Delacroix darstellt, wiederholt sich und differenziert sich auf der sprachlichen Ebene des Gedichts als eine Rede des sich erinnernden Ich (comme je me plaignais un jour2 ) mit seinem Schatten aus. Durch die dämonischen Geister verwandelt sich eine gestaltlose Innenansicht des bildlosen Subjektraumes, das Seelengelände, in ein phantastisches Erscheinungsbild, in Hamlets karikaturalen Schatten. Dieser Schatten steht dem Sprecher vor Augen. Er ist sein karikaturales Abbild und verweist auf ihn selbst, ohne ihn spiegelhaft abzubilden. Analog zu Delacroix’ Hamletdarstellung, in der Hamlet den Totenschädel als Maske in der Hand hält, führt bei Baudelaire das lyrische Ich ein Gespräch mit seinem eigenen Schatten, seiner Karikatur, seiner Maske.

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In Wirklichkeit, so behaupten die lasterhaften Kobolde, verberge sich hinter der Hamlet-Maske ein Anderer: In einer Suada von Beschimpfungen wird der Sprecher bloßgestellt: ce bon vivant, / Ce gueux, cet histrion en vacances, ce drôle16Ì17 . Anders als die Hamlet-Rolle vorgibt, ist er in Wahrheit einer, der zu leben versteht. Weil hedonistischer Lebensstil und Schmerzemphase unvereinbar sind, die Hamlet-Maske nur dissimulatorisch aufgesetzt wird, bezeichnen ihn die Gnome als Halunken oder Mann von armseligen, schlechten Sitten (gueux), der selbst als komödiantischer Possenreißer (histrion) nur in den Ferien tätig und deswegen insgesamt eine zu verachtende Witzfigur (un drôle) ist. Die Lage Hamlets unterscheidet sich, so meinen die Kobolde, grundlegend von der vorgestellten, in Anspruch genommenen Figur und Sprache: Die Zerrissenheit Hamlets gelte für den Sprecher nicht. Seine sprachlichen Äußerungen der Klage gegenüber der Natur (je me plaignais un jour à la nature2 ) nähmen lediglich die Figuren des Alten an und erschienen im Verhältnis unangemessen. In schmähender Wiederholung weist das deiktische Pronomen ce dem Sprecher-Ich die verunglimpfenden Bezeichnungen zu und verwandelt Sprache in plastische, fingerweisende Gesten. Diese sind dem zeigenden Gestus der Poussin-Figur, die in Jean-Dominique Ingres’ Gemälde L’Apothéose d’Homère (von 1827) auf den thronenden Homer als Vorbild verweist, als Spottgesten entgegengesetzt. Offensichtlich ist die Hamlet-Rolle, in der der Sprecher erscheint, mit rhetorischem Kunstverstand als Dissimulation ausgeführt, sie erzielt öffentlich Effekte und zieht das Publikum an: jene bereits genannten Gaffer, die den Wahnsinnigen mit Erstaunen betrachten, und jene, die sich von der pathetischen Zurschaustellung der Verse im Schrei (réciter en hurlant22 ) und der rhetorischen Ausstaffierung (tirades publiques22 ) beeindrucken lassen. Ebenso wie der Sprecher gerät das Publikum, der Leser von Gedichten, in eine theatralische Rolle. Ohne Wahrheit und Dissimulation voneinander unterscheiden zu können, stehen sich Dichter und Publikum gegenüber. Gerade weil der Sprecher kunstgewandt seine Rolle ausfüllt, meint er, mit den alten Instanzen des Naturraums in Verbindung treten zu können und dadurch seinen Schmerz zu besänftigen oder doch zumindest Interesse hervorzurufen: Adler, Grillen, Flüsse und Blumen 97 stehen für eine analogisch-korrespondierende Natur, von der sich der Sprecher anscheinend nicht distanziert, sondern in die er sich – nach Ansicht der Gnome – mittels rhetorischer Rede hineinversetzen will. Der lyrische Sänger (intéresser au chant de ses douleurs19 ) beruft sich noch auf die Natur als Bild- und Erinnerungsinstanz und sehnt sie in der alten Form des chant, der Kanzone, zur Bebilderung der trostlosen, weil kontur- und farblosen Landschaft herbei. Dieses Naturrepertoire des emphatischen Aufschwungs im erhabenen Bild des Adlers als Vogel, der sich der göttlichen Sonne nähern kann, und des locus amoenus als Idylle (les grillons, les ruisseux et les fleurs20 ) ist ein Rückfall in den schönen Schein einer den Menschen umschließenden Natur. Im Verlauf des Gedichtes vollzieht sich im idyllischen Bild eine karikaturale Bespiegelung der kontemplativen Ich-Rede zu Beginn des Gedichtes: Comme je me plaignais un jour à la nature2 . Die 97 Vgl. spiegelbildlich und im wortwörtlichen Anklang zur Aufzählung die Schilderung einer trostlosen

Seelenlandschaft – Ni bêtes, ni ruisseaux, ni verdure, ni bois! in XXX De profundis clamavi (I, 32).

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Klage wird hier in der Form der Erfüllung zurückgewiesen. Kann die Verbindung zur Natur wieder hergestellt werden, ist die melancholische Rede über den Verlust an Naturgeborgenheit nicht unzeitgemäß? Wäre sie mit der Ästhetik Baudelaires vereinbar? Die Gnome verhöhnen folglich in ihrer karikierenden Rede, so eine Lesart, den möglichen Rückfall in die sentimentale Naturrede, die mit der Selbstklage des lyrischen Ich anhebt oder anheben könnte, würde man die Klage an die Natur pathetisch als Selbstklage und unironisch deuten. Von der Selbstklage, die in einer obsoleten Anrede an die idyllische Natur münden könnte, lassen sich die Gnome nicht beeindrucken. Sie unterstellen in ihrer grausamen curiositas (des nains cruels et curieux8 ), dass die dichterische Rollensprache und die Anrufung der Natur rhetorisch auf Publikumswirksamkeit (en hurlant ses tirades publiques) ausgerichtet sind. Sie fordern als Instanzen des Ich zu einer Radikalität der ästhetischen Rede heraus, indem sie mutwillig einen Rückfall in alte ästhetische Positionen unterstellen. Die Gnome sind Messer (oder Hamlet-Rapier), sie verkörpern die ironische Gewalt der ästhetischen Selbstreflexion. In einer weiteren Vertiefung des Phänomens der curiositas bezeichnen sich die voyeuristischen Kobolde selbst als die eigentlichen Urheber, als Autoren der überkommenen Naturanrufung: Sie sind die auteurs de ces vieilles rubriques. Sie betrachten es als eine Art Skandal (et même à nous, auteurs21 ), dass auch in der Einsamkeit die Rede derart ausgerichtet ist, als würde sie sich an die große Öffentlichkeit richten, während eigentlich in besonderer Form mit ihnen zu kommunizieren wäre. Die Gnome, die die Differenz zwischen alten und neuen Kunstformen setzen, behaupten von sich, dass sie die eigentlichen Produktionsinstanzen aller metaphorischen Rede seien. Sie wären damit die kritischen – neugierigen und grausamen – Ich-Instanzen, die die lyrische Rede in immer neue Bereiche treiben. Die Bedeutung der Wendung auteurs de ces vieilles rubriques ist allerdings schwer aufzulösen. ‚Rubriken‘ ist einmal im Sinne von Trick, Kunstgriff, Geschicklichkeit zu verstehen und meint mithin die rhetorische Kunstfertigkeit. 98 ‚Rubriken‘ heißen aber auch die Titel in den kanonischen Rechtsbüchern oder Regeln am Beginn des Breviariums; in diesem Sinne findet sich das Wort auch am Beginn der Vita nuova: Das Gedächtnis des Sprechers wird als Buch vorgestellt, in dem wie in mittelalterlichen Handschriften ausgemalte Buchstaben oder farbige Überschriften einzelne Rubriken eröffnen: Im libro de la mia memoria […] si trova una rubrica la quale dice: Incipit vita nova. 99 In der Schmähung der Kobolde klingt der Selbstvorwurf des Dichters an, der sich auch im Rückzug in die Einsamkeit mit dem Publikum gemein macht. Vouloir intéresser au chant de ses douleurs19 meint, ein öffentliches Interesse für den eigenen Schmerz an 98 Im Sinne des rhetorisch Scheinhaften und Trügerischen verwendet Baudelaire das Wort rubrique im

Projet de préface (I, 185), in dem er begründet, dass das Publikum nicht hinter die Kulissen des Kunstwerks zu schauen habe: Mène-t-on la foule dans les ateliers de l’habilleuse et du décorateur, dans la loge de la comédienne? […] Lui explique-t-on les retouches et les variantes improvisées aux répétitions, et jusqu’à quelle dose l’instinct et la sincérité sont mêlés aux rubriques et au charlatanisme indispensable dans l’amalgame de l’œuvre? 99 Dante Alighieri, Vita nuova [Anm. 85], 27–28 (‚im Buch meines Gedächtnisses […] findet sich eine Rubrik, welche sagt: Incipit vita nova.‘).

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einem Einsamkeitsort zu erlangen, der eigens aufgrund seiner Abgeschiedenheit von jeder Öffentlichkeit gewählt wurde. Über die Gefahr eines lyrischen Sprechens, das an einem plaire – wie es die klassische Ästhetik formuliert – ausgerichtet ist und sich damit negiert, handelt Baudelaire an vielen Stellen seines Werkes. 100 Die Entweihung der Landschaft mit Wolke erreicht ihren Höhepunkt in der Entzauberung der Frauenfigur Béatrice. Sie erscheint zusammen mit den Kobolden und gehört wie diese als personifizierte spiriti zum inneren geistigen Bereich. Sie ist eine Figur der inneren Kräfte des Ich. Anders als in der traditionellen Liebeslyrik ist sie aber keine Mittlerin eines hohen ethischen oder religiösen Bereichs. Inmitten der Kobolde teilt sie deren non-verbale Formen der obszönen Kommunikation. Sie macht sich mit ihnen gemein, indem sie mit ihnen über die sombre détresse des Sprechers lacht und, anstelle der unter sich Blicke austauschenden Kobolde, dreckige Liebkosungen (quelque sale caresse30 ) austeilt, die Gnome also obszön streichelt und gefügig macht. Die Handlung der Hand ist zugleich als sprachliche Widerwärtigkeit zu verstehen: Der unvergleichliche Blick (au regard nonpareil28 ), der im Herzen des Sprechers aufbewahrt ist und gegen das koboldhafte Augenzwickern steht, findet keine Erwiderung. Das Unvergleichliche findet keine adäquate Sprache, sondern bleibt dem Gemeinen und Vulgären, einer prostituierten Sprache, die auf Gefallen aus ist, ausgeliefert. Die Ironie des Gedankens (J’aiguisais lentement sur mon cœur le poignard4 ) gewinnt ihre größte Schlagkraft an der Zerstörung des im Herzen Bewahrten. Anstatt dem Sprecher hilfreich von einer transzendenten Sphäre aus beizustehen, ist Baudelaires Béatrice dem Sinnlich-obszönen verfallen und bietet keine Rettung an. Wenn der Sprecher zu Beginn der dritten Strophe noch seine Souveränität behauptet, indem er seinen Stolz mit den Bergen der Landschaftsszene gleichsetzt und sich in der gottgleichen Überschau vom Geschehen auf der unteren Ebene unabhängig macht, und noch meint, seinen ‚souveränen Kopf‘ von den körperlichen Erscheinungen abwenden zu können, so wird diese Erhabenheits- und Herrscherpose durch die Gesten der Béatrice erschüttert. Die hybrishafte Erhebung des lyrischen Ich, die in der Bergeshöhe (mon orgueil aussi haut que les monts / Domine la nuée et le cri des démons23Ì24 ) sich anzeigt und dem Zögerlichen (en vaguant au hasard3 ; le regard indécis15 ) entgegentritt, hält dem Geschehen nicht stand. 101 In zyklischer Struktur wiederholt sich am Ende des Gedichts die am Anfang stehende Klage gegenüber der Natur, nunmehr allerdings auf der Ebene 100 In den unvollendeten Projets de préfaces der Fleurs du mal (I, 184) heißt es zu den rhetorischen

Verfahren, die Gunst des Publikums zu gewinnen: Car moi-même, malgré les plus louables efforts, je n’ai su résister au désir de plaire à mes contemporains, comme l’attestent en quelques endroits, apposées comme un fard, certaines basses flatteries adressées à la démocratie, et même quelques ordures destinées à me faire pardonner la tristesse de mon sujet. 101 Vgl. zu dieser Grundstruktur des Kampfes, in dem es Baudelaire nicht um Demut, sondern um Hochmut gehe („in der Entwürdigung selbst sucht er seinen Hochmut aufrechtzuerhalten“), die Ausführungen von Erich Auerbach, in „Baudelaires Fleurs du mal und das Erhabene“, in Ders. (Hg.), Vier Untersuchungen zur Geschichte der Französischen Bildung, Bern 1951, 107–127, hier 122.

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der göttlichen Instanz, die traditionell durch die Sonne dargestellt wird. 102 In einem pathetischen Ausruf klagt das lyrische Ich die Sonne an, teilnahmslos dem ungeheuerlichen Verbrechen zuzusehen: Crime qui n’a pas fait chanceler le soleil!27 Hierin besiegelt sich wiederum, dass ebenso wenig wie die Natur das Göttliche in einer sympathetischen Relation zu menschlich-irdischen Geschehnissen, der sombre détresse des Sprechers, steht. Auf eine solche Form der sympatheia verweist in Petrarcas Canzoniere das dritte Sonett, wenn die Sonne aus Mitleid für die Passio Christi ihre Strahlen entfärbt. 103 Der Rekurs auf jene traditionell hohen Instanzen oder Figuren – wie die Beatrice Dantes – und ihre Sprache ist nicht mehr möglich. Beatrice hat in ihrem Lachen und ihren Gesten Anteil am Irdischen, dem sexuell Obszönen. 104 Die Entweihung der Beatrice liegt gerade darin, dass sie durch ihr Verhalten die schmähende Rede der ‚grausamen und neugierigen Zwerge‘ gutheißt. Indem sie deren Vorwürfe und Kritik steigert und sogar animiert, stellt sie sich gegen das lyrische Ich und seine ästhetische Anschauung, die an der Substanzialität von Natur, Gott und Subjekt festzuhalten sucht. Ebenso wie die sentimentale Naturidylle der Grillen und Flüsse erscheint sie, la reine de mon coeur au regard non-pareil28 , nunmehr als ein falsches, immer schon rhetorisch erzeugtes Bild. Die Einzigartigkeit ihres Blicks gehorcht strukturell immer noch jenen inhaltlichen und formalen Kategorien, die zu Beginn die Natur-Klage des lyrischen Ich anklingen. In Rhetorik und Bildlichkeit sind Naturklage und Lob der Augen auf communicatio mit dem Transzendenten und Rezeption des Publikums ausgerichtet. Wie an der formalen Wiederholungsstruktur von rhetorischlakonischer Naturklage und rhetorisch-pathetischer Anklage der Sonne erkennbar, kann der Sprecher diesem Zirkel ebenso wenig entrinnen wie der Reinzenierung der HamletPosen. In der Semantik der obszönen Geste, die Lust erzeugt und für die schmeichlerischerworbene Gunst steht, liegt eine mise en abyme der Kritik an der Rhetorik, die die Kobolde ausüben. Mehr als das lyrische Ich, dem sie ein scheinheiliges Maskenspiel vorwerfen, lassen sie sich durch die Manipulation der Beatrice korrumpieren, so dass die Lauterkeit ihrer kritischen Rede gegenüber dem lyrischen Ich in Zweifel gerät. Sie selbst erscheinen als die Instanzen, denen durch Rede und Gesten hofiert wird. Stärker noch als das lyrische Ich als Hamlet-Figur mit wirrem Blick und im Wind zerzaustem Haar sind die Kobolde, die Kritiker der Rhetorik, der Rhetorik erlegen. Die Reflexion über Sprache und Erzeugung von Bildern sowie die Repräsentation der Autorfigur verbildlicht Baudelaire im Medium der Schauspielerfigur Hamlet. Die Gewalt

102 Auch die pathetische Anrede an die Sonne ist scheinhafte Rede, wie die Einordnung der Sonnen-

metaphorik in den Kontext der anderen Gedichte, z.B. XXIX Une Charogne oder XXX De profundis clamavi zeigt. Die Sonne gehört in ihrem Licht und ihrer Wärme zu einer transzendenzlosen Natur, sie befördert den Zerstörungsprozess und hat lediglich am Werden und Vergehen Anteil. 103 Vgl. Petrarca, Canzoniere [Anm. 85], 13: Sonett III Era il giorno ch’al sol si scoloraro / per la pietà del suo Factore i rai1Ì2 . 104 Die Zerstörung der Weiblichkeitsfigur, der donna und Geliebten, ist Bestandteil auch der anderen Gedichte Baudelaires, speziell in der Sektion Fleurs du mal, zu der La Béatrice gehört.

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der Sprache, die sich als Ironie vollzieht, ist nicht unmittelbar wahrnehmbar und wirksam. Sie rückt durch die Bühnen- und Tableaukonstellation auf ästhetische Distanz. Ist Hamlet in seinen karikaturalen Posen ein Bildnis des Dichters? Das sich erinnernde Ich konkretisiert sich in seiner Kontemplation in karger Landschaft nicht in einer anschaulichen Figur. Der das subjektiv Imaginäre verbildlichende und identifizierende Blick erfolgt in kritischer Perspektive von Außen. Die Gnome, ebenfalls verbildlichte Urteilsinstanzen des Ich, werfen eine tradierte Kunstform, die Hamlet-Figur als Maske, auf das Ich. In der Verbildlichung identifizieren sie den Sprecher und heben die Identifikation zugleich wieder auf. In der Hamletmaske erscheint das Ich nicht als dramatische Figur der Zögerlichkeit und Unentschiedenheit, sondern als eine Lachen und Spott provozierende Karikatur. Der Sprecher versucht, sich über das tragische, weil die Hamlet-Maske verspottende Geschehen durch stoische Apatheia, das souveräne Abwenden des Kopfes, zu erheben. Das Vorhaben der Heroisierung scheitert, da sich der tragische Absturz auf höherer Ebene – der obszönen Provokation durch die Beatrice – wiederholt. Es misslingt, Distanz und Souveränität gegenüber der Szene mit ihren Figuren in einer übergeordneten Ich-Perspektive zu wahren. Die sinnliche Wahrnehmung der schmutzigen Geste kann nicht auf ähnliche Weise stolz und unbeteiligt zurückgewiesen werden, wie es Don Juan in dem Gedicht XV Don Juan aux Enfers gelingt: Dieser verweigert sich, den grand homme de pierre, mithin die Verkörperung des göttlichen Gesetzes, zur Kenntnis zu nehmen, und verharrt in zynisch-souveräner Pose: et ne daignait rien voir (I, 20: Er ‚lässt sich nicht dazu herab, etwas zu sehen‘). Während Don Juan sich gegenüber dem Hohen abgrenzt, ist der Sprecher in La Béatrice der niedrigen Sinnlichkeit ausgeliefert. Ihr kann er nicht entfliehen. Damit wandelt sich der Schauplatz Hamlets: Der Sprecher ist nicht mehr dem Raum der kargen Landschaft, sondern der obszönen Geste, die affiziert, und dem verspottenden Lachen ausgesetzt. Als Objekt des Lachens verliert er den Rest an tragischer Dignität und die Möglichkeit, im Unentschiedensein – wie es die Figur bei Shakespeare charakterisiert – zu verbleiben. Die Szene und die handelnde Figur werden – auch vor der Folie des Hamlet-Gemäldes von Delacroix, an die sie sich anlehnen, ohne es mimetisch zu wiederholen – andere. Dabei tritt die Sprecherfigur nicht in einer neuen Form in Erscheinung. Die Inszenierung einer möglichen neuen Figur oder Maske des Dichters bleibt an dieser Stelle leer. In der Hamlet-Maske und dem Entreißen der Maske tritt ein verweisend deiktisches Moment der Baudelaireschen Autorschaft hervor. Eine neue Figur gibt sich diese nicht.

Dominik Höink und Andreas Jacob

Krisen der Autorschaft bei Bruckner und Reger als Insignien der beginnenden musikalischen Moderne

Als Vertreter zweier unterschiedlicher Generationen, deren Hauptschaffenszeit zusammengenommen auf die Jahre zwischen der Reichgründung 1871 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges fokussiert werden kann, weisen Anton Bruckner (1824–1896) und Max Reger (1873–1916) trotz aller offensichtlichen – und später noch darzustellenden – Differenzen im Hinblick auf ihr Autorschaftskonzept eine Reihe von geteilten Charakteristika auf. 1 Die Entstehung weiter Teile des Œuvres der beiden Komponisten fällt in eine musikgeschichtliche Umbruchszeit, die in der gängigen Epochengliederung als Übergang von der Romantik zur beginnenden Moderne beschrieben wird. Dieser Wandel hatte mancherlei, hier nur anzudeutende Konsequenzen, zu deren folgenreichsten jedoch die sich anbahnende Erosion gehört, von der die Begriffe des musikalischen Werks und – damit auf vielfältige Weise zusammenhängend – des musikalischen Autors betroffen waren. Nicht nur in kulturpessimistischen Schriften des frühen 20. Jahrhunderts wurde diese Entwicklung, die weitere Neuerungen wie die Auflösung normativer Gattungen oder die Aufgabe der funktionalen, in der Regel terzengeschichteten Harmonik beinhaltete, als ‚Krise‘ der Musik empfunden.

1 Gemeinsam ist beiden zunächst die katholische Konfession, deren sich Ersterer Zeit seines Lebens ver-

bunden fühlt, und aus diesem Grund – freilich rezeptionsgeschichtlich folgenschwer – als ‚Musikant Gottes‘ bezeichnet wurde, zu der sich aber Letzterer vielfach in Distanz bewegt, gipfelnd gar in seiner 1902 erfolgten Exkommunizierung wegen der Eheschließung mit einer geschiedenen Protestantin. Zur Auswirkung von religiösen (bisweilen auch höchst politisch kontextualisierten) Autorbildern auf die Wahrnehmung der kirchenmusikalischen Kompositionen Anton Bruckners vgl. Dominik Höink, Die Rezeption der Kirchenmusik Anton Bruckners. Genese, Tradition und Instrumentalisierung des Vergleichs mit Giovanni Pierluigi da Palestrina (Abhandlungen zur Musikgeschichte 22), Göttingen 2010. Gemeinsam ist beiden ferner, dass ihre Rezeption nicht allein eher im deutschsprachigen Raum als international erfolgte, sondern auch besonders seitens der Nationalsozialisten stark forciert wurde.

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Seinerseits war das moderne Künstlersubjekt selbst in eine Situation geraten, in welcher der Weltbezug vielfach als brüchig empfunden wurde – ob nun mit romantischer Entrückungsmetaphorik positiv-utopistisch kompensiert oder als Verlustanzeige innerhalb mehr oder weniger selbst gewählter gesellschaftlicher Isolation (beispielsweise in der Bewegung der Bohème) aufgegeben. Nicht umsonst erlangten Persönlichkeits- und/ oder Schaffenskrisen den Status einer plausibilisierbaren biographischen Episode bzw. Station. Das weitverbreitete Gefühl von allgemeiner oder persönlicher Krisenhaftigkeit konnte so wiederum zu Ende des 19. Jahrhunderts einerseits beklagt, andererseits affirmativ gewendet werden (etwa im Konzept des Fin de Siècle), ließ sich aber auch mit einem reformerischen Impuls von ungebrochenem Lebensweltbezug, Vitalität oder betontem Handwerksethos der künstlerischen Produktion beantworten (so in Bestrebungen, die von der Reformpädagogik bis hin zu Jugendstil bzw. Secession reichten). Ein bemerkenswerter Umstand besteht nun auf dem Gebiet der Musik darin, dass jene im Folgenden nachzuzeichnende Krise, in die das Konzept vom musikalischen Autor bzw. der Begriff vom musikalischen Kunstwerk geraten waren und auf die verschiedene Künstlerpersönlichkeiten ganz unterschiedlich reagierten, nur kurze Zeit nach der relativ langwierigen, vermeintlich erfolgreichen Etablierung ebendieser Leitgrößen anhob.

1. Zur Einführung: Der musikalische Autor und seine Werke Eine Skizze der Entwicklung des Konzepts musikalischer Autorschaft (des ‚Komponisten‘) beginnt auch gleichzeitig mit der Begründung des von ihm geschaffenen Werks (der ‚Komposition‘ 2 ) – und beides setzt die Entwicklung einer differenzierten musikalischen Notation voraus, durch welche die paradigmatische Dignität der Fähigkeit zur schriftlichen Überlieferung erzielbar wird. Eine solche Notation wiederum ist vor allem dann vonnöten, wenn die zu Gehör zu bringende Musik einigermaßen komplex ist. Dementsprechend entwickelten sich die musikalischen Aufschreibesysteme im Abendland rasant, als die Mehrstimmigkeit ‚erfunden‘ worden war. Dabei ist auch ein schrittweiser Übergang zu beobachten von strukturelldeskriptiven Notationen der auditiv wahrgenommenen Ereignisse im Sinne einer Wiederaufführbarkeit hin zu präskriptiven (normativen) Systemen als Aufführungsanweisung für neuartige, ‚komponierte‘ Musik. Musikalische Autoren (also nicht die nach wie vor im Sozialstatus zweifelhaften bloßen ‚Musiker‘) benötigen ein Aufzeichnungssystem, um das, was sie erfunden haben, zu

2 Auch dieser Titel ist in seinen Konnotationen nicht als selbstverständlich Gegebenes hinzunehmen:

Eckermann erinnert sich an ein Gespräch mit Goethe vom 20. Juni 1831, in dem dieser den Terminus Komposition für Kunsterzeugnisse als inadäquates niederträchtiges Wort bezeichnete, da hier Assoziationen an das Zusammenrühren eines Kuchenteigs geweckt würden. Vgl. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Berlin/Weimar 1984, 654 f.

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tradieren, wie in Max Webers musiksoziologischem Entwurf (postum herausgegeben 1921) erkannt wird: Erst die Erhebung der mehrstimmigen Musik zur Schriftkunst schuf so den eigentlichen ‚Komponisten‘ und sicherte den polyphonen Schöpfungen des Abendlandes im Gegensatz zu denen aller anderen Völker Dauer, Nachwirkung und kontinuierliche Entwicklung. 3

Ziel der Entwicklung der Notation ist also die Identifizierung und Ermöglichung der Aufführung eines derart individuellen und gegebenenfalls den Aufführenden auch unbekannten Werks. ‚Nebeneffekt‘ ist die erreichte Persistenz des Notierten und gleichzeitig die Etablierung eines dynamischen Diskurses über die Werke. Der ‚Individualität‘ von musikalischen Werken und ihrer Autoren kam als Kategorie im Mittelalter evidentermaßen kein prominenter Stellenwert zu. Gleichwohl lässt sich im 14., spätestens 15. Jahrhundert verstärkt beobachten, dass die Schöpfer von musikalischen Werken überhaupt als erwähnenswert anerkannt wurden bzw. eine gewisse, potenziell immer größer werdende Reputation genossen. 4 Als Beispiele seien angeführt: a) die verstärkte Nennung der Namen von Komponisten des Trecento, wie sie im SquarcialupiCodex aus dem frühen 15. Jahrhundert anzutreffen ist (Ludwig Finscher sprach in diesem Zusammenhang von der „Entstehung des Komponisten“); 5 b) der enorme Ruhm, den der Renaissance-Komponist Josquin Desprez (ca. 1450–1521) bereits zu Lebzeiten, insbesondere aber danach in der Musikgeschichtsschreibung genoss. 6 Spätestens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hielt der Geniebegriff Einzug in die ästhetische Debatte, 7 und mit der terminologischen Prägung des ‚Originalgenies‘ im Sturm und Drang war klar, dass Originalität (Eigenständigkeit und Innovation) als künstlerische Qualität für einen Autor und seine Werke erstrebenswert sei. Für zeitgenössische Komponisten durfte es nun als Auszeichnung gelten, das Attribut ‚original‘ zu erhalten. 3 Max Weber, Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik, München 1921, 68. 4 In diesem, nicht primär historisch fundierten Sinne konnte der (damals – um 1950 – marxistischen

Denktraditionen verhaftete) Musiksoziologe Kurt Blaukopf von der Rolle eines „individuellen, gegen die übrige Gesellschaft isolierten Schöpfers des musikalischen Kunstwerks“ sprechen. Kurt Blaukopf, Musiksoziologie. Eine Einführung in die Grundbegriffe mit besonderer Berücksichtigung der Soziologie der Tonsysteme, Köln 1951, 70f. 5 Vgl. Ludwig Finscher, „Die ‚Entstehung des Komponisten‘. Zum Problem Komponisten-Individualität und Individualstil in der Musik des 14. Jahrhunderts“, in International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 6 (1975), 29–45. Zum Trecento und der angesprochenen Entwicklung eines frühen Konzepts von musikalischer Autorschaft vgl. auch Kurt von Fischer, Studien zur italienischen Musik des Trecento und frühen Quattrocento, Bern 1956; Oliver Huck, Die Musik des frühen Trecento, Hildesheim 2005. 6 Als einige Höhepunkte der Josquin-Verehrung seien nur einige, relativ heterogene Namen genannt: Martin Luther (1483–1546), Heinrich Glarean (1488–1563), Charles Burney (1726–1814) oder August Wilhelm Ambros (1816–1876). Auf Glarean geht die berühmte Beschreibung von Josquins ingenium zurück, das ‚unbeschreiblich‘ (inenarrabile) sei. Vgl. Heinrich Glarean, Dodekachordon, Basel 1547, Buch 3, Kapitel 24. 7 Vgl. Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur. Philosophie und Politik 1750–1945, 2 Bde., Darmstadt 1985.

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Aber auch bei der Kennzeichnung bereits verstorbener Autoren spielte dieses Kriterium eine Rolle. 8 Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung, die sich an Künstlerpersönlichkeiten wie Carl Philipp Emanuel Bach oder Josef Haydn beobachten lässt (und deren Rezeption bis zum heutigen Tag mitprägt), bezeichnet zweifellos die Wahrnehmung von Ludwig van Beethoven als emanzipiertem Autorsubjekt, das künstlerisch wie gesellschaftlich auf Autonomie ausgerichtet sei. 9 Die zunehmend ausgeprägte Tendenz zur Individualisierung betraf nicht allein den schaffenden Künstler, sondern auch die von ihm vorgelegten Werke: Stand noch im 17. Jahrhundert die mehr oder minder allgemein verbindliche Schreibart (stylus) als normative Kategorie im Zentrum der musiktheoretischen Diskussion (bestimmt in erster Linie durch den sozialen Ort der Kompositionen – für Kirche, ‚Kammer‘ oder Theater, in hoher, mittlerer oder niederer Stilsphäre –, später auch zunehmend durch regionale bzw. nationale Idiosynkrasien), so wurden im 18. Jahrhundert derartige Normzuschreibungen vor allem durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten musikalischen Gattung (genus) vorgenommen. 10 Ästhetische Diskurse über innovative Künstlergenies zogen die Forderung nach dem jeweils einzigartigen, individuellen und originellen Werk (opus) nach sich, durch welches eine Gattung neu installiert oder auch neu definiert werden konnte – die zeitbedingten sozialen Konventionen der Gattungen wurden auf diese Weise mit ihrer Setzung gleich wieder in Frage gestellt. Beethovens 9. Symphonie mit ihrem gattungstranszendierenden Einsatz vokaler Formen ließ sich als ein solcherart inkommensurables Werk deuten. Damit scheint die klassische Formulierung des reformatorischen Musikpädagogen und -theoretikers Nicolaus Listenius, der das idealtypische (mehrstimmige, komponierte) 8 So etwa, wenn Johann Sebastian Bach (1685–1750), der eher konservative Barockkomponist, vom

revolutionären (zum Zeitpunkt der Formulierung 1784/85 auf dem Hohenasperg inhaftierten), dem Sturm und Drang verhafteten Schriftsteller Christian Friedrich Daniel Schubart (1739–1791) als Originalgenie bezeichnet wird; vgl. Bach-Dokumente, hg. vom Bach-Archiv Leipzig, Bd. 3: Dokumente zum Nachwirken Johann Sebastian Bachs, vorgelegt und erläutert von Hans-Joachim Schulze, Kassel/ Leipzig 1972, 409. 9 So findet sich noch in einer relativ aktuellen Publikation von Dieter Rexroth (veröffentlicht innerhalb der Beck’schen Reihe, die gleichermaßen auf Popularität wie auf wissenschaftliche Fundierung Anspruch erhebt) folgende Passage: „Goethe schrieb 1812 aus Teplitz: ‚[…] Zusammengefasster, energischer, inniger habe ich noch keinen Künstler gesehen. Ich begreife recht gut, wie er gegen die Welt wunderlich stehen muss.‘ Was Goethe an der Persönlichkeit Beethovens wahrnahm, das trifft exakt auf seine Musik zu.“ Dieter Rexroth, Beethovens Symphonien. Ein musikalischer Werkführer, München 2005, 51. Rexroth fährt mit dem Hinweis darauf fort, dass diese künstlerische wie soziale Autonomie sich auch in einer kompromisslosen, hermetischen Haltung gegenüber den Hörerwartungen des Publikums äußern konnte: „Rücksichtnahme auf den Zeitgeschmack und die Auffassungsbereitschaft seiner Zuhörer war nicht Beethovens Sache“. 10 Vgl. hierzu Friedhelm Krummacher, „Stylus versus Opus. Anmerkungen zum Stilbegriff in der Musikhistorie“, in Om Stilforskning. Föredrag och diskussioninlägg vid Vitterhetsakademiens symposium 16–18 november 1982, Stockholm 1983, 29–45; ders., „Stylus versus Genus. Zum systematischen Denken Johann Matthesons“, in Gerhard Allroggen/Detlev Altenburg (Hgg.), Festschrift Arno Forchert zum 60. Geburtstag, Kassel 1986, 86–95.

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Werk als ‚vollkommen‘ und ‚abgeschlossen‘ (perfectum et absolutum; consumatum et effectum) sowie als zeitübergreifend, weil den Tod des Autors überdauernd, beschrieb, erstmals ihren konsequenten Niederschlag erhalten zu haben. 11 Der geniale musikalische Autor und seine einzigartigen, zeitenthobenen Werke traten auf diese Weise scheinbar aus dem Bezugsrahmen fundierender sozialer Handlungszusammenhänge. Damit vollzieht sich auf dem Gebiet der Musik (und zwar in verstärktem Maße) eine dialektische Entwicklung, die auch für die anderen Künste im 19. Jahrhundert zu beobachten ist: Die Verbürgerlichung der ästhetischen Kultur, die Einverleibung von Kultur innerhalb der bürgerlichen Lebenswelt war die Voraussetzung für die Autonomisierung von Musik, die somit eine legitimisierte Gegenwelt zum Bürgertum darstellen konnte; die aufkommende Moderne mit ihren gezielten Irritationen bürgerlicher Erlebenshorizonte war das Ergebnis eines Prozesses, der vom Kulturbürgertum initiiert wurde, so dass in der Andersartigkeit von Kunst gleichermaßen Kompensation wie Rebellion erfahren werden konnte. 12 Zur Zeit der musikalischen Romantik (und in Ansätzen bereits seit dem 18. Jahrhundert) hatte diese ambivalente Funktion der Musik beispielsweise auch zur Folge, dass sich einerseits im Sinne des Geniegedankens der Topos von der Nichtlehrbarkeit von Kunstschaffen zu Lasten der Betonung von handwerklichen Anteilen im Diskurs verstetigte, andererseits eine Fülle von Kompositionslehrbüchern und die Etablierung höherer musikalischer Lehrinstitutionen (der Konservatorien) deutlich Zeugnis für das genaue Gegenteil – und das gesellschaftliche Interesse daran – ablegen. 13 Mit dem Aufbruch in die musikalische Moderne wurde somit einerseits ein Fanal für die Durchsetzung eines Konzepts von ästhetischem Fortschritt gesetzt, welcher sich demzufolge in Richtung zunehmender Individualisierung und Innovation bewegte, andererseits jenes Moment von entschwundenen lebensweltlichen Bezügen und sozialer Funktion (bzw. Funktionalisierung) der Musik als Problem und Symptom einer Krise deuten konnte.

2. ‚Musikalische Moderne‘ – Eine Begriffsbestimmung Entgegen der scheinbaren Selbstverständlichkeit, mit der die ‚beginnende musikalische Moderne‘ im Titel des vorliegenden Beitrags erscheint, handelt es sich bei dieser Begriffskonstellation nicht um eine in der Musikhistoriographie hinreichend geklärte oder ab11 Vgl. hierzu Hans Heinrich Eggebrecht, „Opusmusik“, in Ders., Musikalisches Denken. Aufsätze

zur Theorie und Ästhetik in der Musik, Wilhelmshaven 1977, 219–242, hier 228f.; zur kritischen Einordnung dieser vielzitierten Stelle vgl. Heinz von Loesch, Der Werkbegriff in der protestantischen Musiktheorie des 16. und 17. Jahrhunderts. Ein Mißverständnis, Hildesheim 2001. 12 Vgl. Thomas Nipperdey, Wie das Bürgertum die Moderne fand, Berlin 1988. 13 Vgl. hierzu Thomas Schmidt-Beste, „Die ‚Erosion‘ der handwerklichen Tradition im 19. Jahrhundert – Problem oder Propaganda?“, in Andreas Haug/Andreas Dorschel (Hgg.), Vom Preis des Fortschritts. Gewinn und Verlust in der Musikgeschichte, Wien 2008, 313–330.

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schließend bestimmte. Wenn man wie hier die ‚musikalische Moderne‘ um 1880 beginnen lässt, so geschieht dies in Anschluss an den zeitgenössischen Diskurs um eine spezifisch moderne Geisteshaltung, die sich in den Künsten ausdrückt und die geradezu zur ideologieaffinen Endung ‚-ismus‘ hindrängt. 14 Der ‚Modernismus‘, der in verschiedenen internationalen Ausprägungen (modernism, modernismo etc.) entgegentritt, 15 ist also nicht mit jenem Sprachgebrauch gleichzusetzen, der schlichtweg die Produktionen der jeweils vorangegangenen Dekaden als ‚modern‘ vom älteren Schaffen abhebt. In der von uns vorgeschlagenen Verwendung verweist der Begriff der musikalischen Moderne auf ein selbstreflexives Moment in Bezug auf die kulturhistorische Situation der agierenden Künstler, dem gewisse tradierte Selbstverständlichkeiten des Weltbezugs abhanden gekommen sind – der moderne Musiker muss in stärkerem Maße damit rechnen, bei seiner Kunst auf Strategien von Neuerfindung einerseits, von Rechtfertigung andererseits zurückzugreifen. Damit unterscheidet sich jener Begriff beispielsweise von einem Modernitätsgedanken, wie er in den Querelles des anciens et des modernes des 17. Jahrhunderts angesprochen wurde: Hier wurde die Musik der Modernen durch ihr erweitertes Ausdrucksspektrum definiert, wobei aber die geistigen, künstlerischen oder auch nur technischen Grundlagen des musikalischen Schaffens selbst nicht in Frage gestellt, sondern lediglich in bestimmter Richtung pointiert wurden. 16 Diese Haltung selbst ist nun keinesfalls als Erfindung des späten 19. Jahrhunderts zu verstehen – paradigmatisch wurde sie beispielsweise ein halbes Jahrhundert vorher von Heinrich Heine formuliert, der die Zerrissenheit der künstlerischen Produktion und des Künstlers selbst als Entsprechung einer zerrissenen Welt ansieht. 17 In diesem Sinne ließen sich bestimmte Musiker, die der eingebürgerten Geschichtsschreibung zufolge der romantischen Epoche zuzuordnen sind, als Vorläufer eines derartigen ‚modernen‘ Künstlertums beschreiben. Namentlich betraf dies immer wieder Berlioz, Liszt und Paganini sowie Richard Wagner, d.h. Künstler, die durch Neudefinition von Standards im Hinblick auf Virtuosität und Einsatz der musikalischen Produktionsmittel, aber auch im Hinblick auf die Gattungsnormen bekannt wurden. 14 Vgl. hierzu insbesondere auch Carl Dahlhaus, „Die Moderne als musikgeschichtliche Epoche“, in

Ders. (Hg.), Die Musik des 19. Jahrhunderts (Neues Handbuch der Musikwissenschaft 6), Laaber 1980, 279–285. Dahlhaus sieht die in Frage stehende „Epochenzäsur um 1900“ angesiedelt und benennt auch ein „musikalisches Symbol“ der „Aufbruchstimmung der neunziger Jahre“, die er mit Hermann Bahr auf den Begriff der Moderne bringt: den „Anfang des Don Juan von Strauss“. Ebd. 280. 15 Zu diesem Thema vgl. auch Walter Frisch, German Modernism. Music and the Arts, Berkeley 2005. 16 Vgl. Sebastien de Brossard, Dictionnaire de Musique, Paris 1703: La Musique véritablement Moderne est celle depuis environ 50. à 60. ans qu’on a commencé à la perfectionner et à la rendre plus gaye, plus expressive, et mieux appliquée aux sillabes longues ou brèves du Texte. 17 Ach, theurer Leser, wenn du über jene Zerrissenheit klagen willst, so klage lieber, daß die Welt selbst mitten entzwey gerissen ist. Denn da das Herz des Dichters der Mittelpunkt der Welt ist, so mußte es wohl in jetziger Zeit jämmerlich zerrissen werden. Wer von seinem Herzen rühmt, es sey ganz geblieben, der gesteht nur, daß er ein prosaisches weitabgelegenes Winkelherz hat. Heinrich Heine, „Die Bäder von Lucca“, in Ders., Reisebilder, 2. Säkularausgabe, Bd. 22, Berlin 1986, 83.

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Die Modernität, von der die Rede ist, beinhaltet somit immer ein Moment der Unsicherheit bzw. Unübersichtlichkeit. Guido Adler, einer der großen Gründungsfiguren der universitär verankerten Disziplin Musikwissenschaft, musste dergestalt bereits 1885 in seiner programmatischen Schrift über Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft die „Zerfahrenheit der modernen Kunstzustände“ feststellen. 18 Und in seinem Handbuch der Musikgeschichte von 1924 lässt er folgerichtig „Die Moderne“ mit dem Jahr 1880 beginnen, 19 wobei er den Abschluss der „Romantik […] in den achtziger Jahren“ (mit dem Tod von Wagner und Liszt, später auch von Franck, Bruckner und Brahms) für diesen Epochenwechsel voraussetzt: Dass einige Künstler (wie Hugo Wolf, Gustav Mahler oder Hans Pfitzner) noch „von deren Geist beseelt sind“, wird als Nachzügler-Phänomen beschrieben, mit „dem Parsifal (1882) geht“ schließlich auch „die romantische Oper zu Grabe“. 20 Doch bereits innerhalb der Romantik – insbesondere bei der französischen (bzw. damit gleichgesetzt: neudeutschen) Richtung um Berlioz, Liszt, Wagner und in deren Gefolge Bruckner – werden Brechungstendenzen erkannt, wenn diese „realistische Romantik“ in „ihrer hemmungslosen Lust am Nervenaufpeitschenden“ beschrieben wird. 21 Das Deutungsmuster einer Kontinuität von romantischer „Nervenkunst“ und moderner Persönlichkeitsentzweiung wird spätestens nach dem katastrophalen Ereignis des Ersten Weltkriegs in den Zusammenhang einer allgemeinen Krisendiagnostik gerückt. Als exemplarisch hierfür kann das 1922 erschienene Buch Die Musik in der Weltkrise des prominenten Musikkritikers Adolf Weißmann gelten. Gleich zu Beginn seiner Abhandlung, in einem Der Weg des neuen Geistes überschriebenen Teil, heißt es: Ein neuzeitlicher Mensch sein heißt: kämpfen. Die Geschlossenheit der Menschennatur ist gestört. Gegen die Kraft stehen neue Kräfte auf. Erregungen sind auf der Lauer, die Geradlinigkeit des Menschen zu brechen. Musikalisch gesprochen: der Rhythmus als Ausdruck des Willens wird von den Nerven bedroht. Dies führt zu einer Erschütterung der Elemente der Musik. Dem wankenden Rhythmus folgt ein wankender Innenbau. Dem willensschwächeren, abgestufteren Menschen entspricht eine abgestuftere Kunst. Der Kampf zwischen Form und Inhalt verläuft fesselnd, ja tragisch. Denn er muss in einer vorläufigen Krise enden. 22

Weißmann benennt Beispiele für jene Ausbreitung von „Reizsamkeit“, „Sinnlichkeit“, „Intellektualismus“, synästhetischen Tendenzen des Verschmelzens von „Klang und Farbe“ und allgemeiner „neuer Erregbarkeit“, die in typischer Weise einen Weg von Berlioz über Liszt hin zu Wagner (hier vor allem dem Tristan) erkennen lassen. Dazu tritt als weiteres Symptom der Zeit – als eine Art Vorläufer von Adornos Kulturindustrie – die kommerzielle „Musikverwertung“ im gleichfalls modernen Phänomen des „Unternehmertums“: „Eben hat sich der moderne Mensch in der Musik mit dämonischer Gewalt erschlos18 Guido Adler, „Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft“, in Vierteljahresschrift für Musik19 20 21 22

wissenschaft 1 (1885), 5–20, hier 19. Vgl. Guido Adler, Handbuch der Musikgeschichte, Frankfurt a.M. 1924, 900 ff., bes. 901. Ebd. 901. Ebd. 880. Adolf Weißmann, Die Musik in der Weltkrise, Stuttgart 1922, 3.

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sen, da kommt der ‚Betrieb‘ und will ihn in seine Fahrstraße zwingen.“ 23 Kurz gesagt: Die neue, moderne Geisteshaltung wird als Grund für die konstatierte Aushöhlung der bis dato unangezweifelten Normen und Werte des künstlerischen Produzierens benannt, was in einer immer wieder beschworenen, als ‚krisenhaft‘ empfundenen Situation mündet.

3. Krise und Krisenhaftes als bedeutendes Charakteristikum Die Auflösung sämtlicher musikalischer Grundelemente, der Tonalität, der letzten Reste des Melodischen, des sterbenden Rhythmus ist natürlich hier erst recht Voraussetzung. Jeder Zusammenklang ist möglich und erlaubt, es erklingt die ‚Musikhölle des Grauens und Spuks‘. Dies alles ist ohne völlige Instinktzersetzung nicht zu denken, hier tönt der qualvolle Notschrei der gemarterten Physis. Hier sind, wie sogar die zeitgenössischen Musikgelehrten schon selber zu sehen beginnen, alle seelischen und musikalischen Verfallserscheinungen der Moderne bis in die Karikatur hinein verzerrt. Der offene Anarchismus ist erreicht. 24

Diese in drastische Worte gefasste Beschreibung (der Kompositionsweise Arnold Schönbergs) entstammt der 1923 erschienenen Monographie Das Schicksal der Musik von Erich Wolff und Carl Petersen. Die von Oswald Spenglers Zerstörung einer linear gedachten Fortschrittshoffnung 25 inspirierte Schrift trifft mit dem Verweis auf die „Auflösung sämtlicher musikalischer Grundelemente“ den Kern der Krise jener Zeit: Eine „als krisenhaft erlebte Pluralisierung von Stilen und Kompositionsweisen“ prägt die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. 26 Der – auch als Brucknerforscher bekannt gewordene – Ernst Kurth diagnostiziert dementsprechend 1920 die Krise der romantischen Harmonik und führt dazu als Kulminationspunkt Richard Wagners Tristan an. 27 Ebenfalls im Tristan erblickt Oswald Spengler den „riesenhaften Schlußstein der abendländischen Musik“. 28 Paul Bekker, der den Gedanken eines musikalischen Fortschritts gänzlich ablehnt und stattdessen den Begriff der ‚Metamorphose‘ einführt, verweist in seiner Musikgeschichte 23 Ebd. 29. 24 Erich Wolff/Carl Petersen, Das Schicksal der Musik von der Antike zur Gegenwart, Breslau 1923,

256.

25 Zu den mehrdimensionalen Modellen des musikalischen Fortschritts bei Rudolf Louis und Walter

Niemann vgl. Martin Böggemann, „Krisendiagnosen und Deutungsmuster kultureller Gegenwart in der Musikpublizistik des frühen 20. Jahrhunderts“, in Stefan Drees/Andreas Jacob/Stefan Orgass (Hgg.), Musik – Transfer – Kultur. Festschrift für Horst Weber, Hildesheim 2009, 213–221. 26 Ebd. 216. 27 Vgl. Ernst Kurth, Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners „Tristan“, Bern 1920, z.B. 40. „Um die ganze Ausdrucksgewalt der Harmonik zu begreifen, darf man zudem nicht übersehen, daß die übermächtige musikalische Konzeption diese Werkes auch in Wagners persönlichem Entwicklungsgang aus einer Zeit der größten Krise hervorging, die in ihm selbst alle Abgründe aufgerissen hatte; der ‚Tristan‘ bedeutet auch für Wagner die stärkste Lebensabwendung.“ Ebd. 42. 28 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1923, 374.

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als Geschichte der musikalischen Formwandlungen schließlich auf die Krise der musikalischen Form und deren Lösung: Wir sehen, daß die überlebensgroßen Formtypen, wie etwa Bruckner, Mahler, Strauß sie für ihre expansiv gerichtete Kunst noch unbedingt brauchen – wie diese mächtigen Formtypen sich sozusagen in sich zusammenziehen. Sie werden zu kleinen, schärfst konzentrierten Gebilden, nicht im Sinne der Aphorismen der deutschen Frühromantik, sondern im Sinnen äußerster Intensitätssteigerung durch verdichtende Zusammenpressung, gerade so, wie der Klang selbst aus der harmonischen Vervielfältigung in die Einheit zurückgedrängt wird. 29

Mit der Krisendiagnostik im Bezug auf musikalische Parameter setzt die Erfahrung des Krisenhaften im kreativen Kompositionsprozess an: Schaffenskrisen werden als substantiell für die Kunstproduktion unter den Bedingungen der ansetzenden Moderne erkannt. Der musikalische Autor ist auf diese Weise persönlich eingebunden, gleichsam ein Bestandteil der allgemeinen Krisendiskurse der Zeit. Es herrscht eine regelrechte Konjunktur krisenhafter Phänomene im Zusammenhang mit der schöpferischen Tätigkeit. Ebendiesem Krisenhaften soll (als einer weiteren Gemeinsamkeit) nachfolgend exemplarisch bei beiden hier betrachteten Autoren, Bruckner wie Reger, nachgespürt werden. Dabei ist das Krisenhafte jeweils durchaus in sehr unterschiedlicher Art und Weise von Bedeutung für die beiden Komponisten. Wichtig scheint in jedem Fall vorab zu betonen, dass keine Ineinssetzung der ästhetischen Positionen bzw. musikalischen Produktionsformen von Bruckner und Reger betrieben wird, was aufgrund der bisweilen massiven Differenzen gar nicht möglich wäre. Vielmehr lassen sich mit der Bedeutung des Krisenhaften für ihr jeweiliges Schaffen beispielhaft einige sehr verschiedene Symptome der Zeit aufzeigen. Diese Symptome sind als Aufriss eines Spektrums gedacht. Eine allgemeine Symptomatik für die apostrophierte Krisenzeit lässt sich aber aus den geschilderten Beispielen nicht ableiten, verhalten sich doch Komponisten wie Richard Wagner oder auch Johannes Brahms deutlich anders als ihr Zeitgenosse Bruckner.

4. Krisen im Selbstverständnis als musikalischer Autor bei Bruckner Im Unterschied zu einer Reihe von zeitgenössischen Komponistenkollegen stellt Anton Bruckner keine systematischen Reflexionen über das schöpferische Tun oder über sein Selbstverständnis als Künstler an. 30 Der Versuch, dennoch diesbezüglich Aufschluss zu gewinnen, soll daher vornehmlich mittels der uns vorliegenden persönlichen Briefzeug29 Paul Bekker, Musikgeschichte als Geschichte der musikalischen Formwandlungen, Stuttgart 1926–

1928, Nachdruck Hildesheim 1976, 233.

30 Auf diesen Umstand verweist u.a. Elisabeth Maier nach ihrer systematischen Auswertung von Bruck-

ners persönlichsten Aufzeichnungen: Vgl. Elisabeth Maier, Verborgene Persönlichkeit. Anton Bruckner in seinen privaten Aufzeichnungen (Anton Bruckner. Dokumente und Studien 11), 2 Bde., Wien 2001, Bd. 1, XXVII.

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nisse unternommen werden – freilich in dem Wissen um mögliche Selbstinszenierung oder um strategische Verzerrungen. 31 Vorab ist dabei herauszustellen, dass Bruckner keineswegs eine rege Briefkorrespondenz gepflegt hat und überdies sicherlich keines seiner verfassten Schreiben dem Typus eines literarisch-hochstehenden Briefes zugeordnet werden kann. Vielmehr sind die privaten Freundesbriefe (denen ein geringerer taktischer Zug eigen ist) für den Nachweis des Krisenhaften in Bruckners Selbstverständnis von Bedeutung. Bruckner ist zweifelsohne durch seine herkunftsbedingten Unsicherheit im Auftreten innerhalb der Wiener Musikwelt, durch den Parteienstreit zwischen Neudeutschen und Konservativen (bzw. zwischen ‚Wagnerianern‘ und ‚Brahminen‘) sowie durch seine Persönlichkeitsstruktur als grundsätzlich krisenaffin einzustufen: Ein ausgeprägter Selbstzweifel einhergehend mit Existenzängsten und einem gewissen Verfolgungswahn sowie eine devote Persönlichkeitsstruktur, die ständig nach anerkennender Bestätigung durch selbst gewählte Autoritäten verlangt, werden Bruckner vielfach zugeschrieben. Eine spürbare Krisenphase ist 1867 erreicht: Nach einer intensiven Studien- und Schaffenszeit zeigt Bruckner die Symptome der sogenannten Neurasthenie, einer psychischen Störung mit Ermüdungs- und Ängstlichkeitszuständen sowie Melancholie und tritt daraufhin im Mai eine Kur in Bad Kreuzen an. 32 In einem Brief an seinen Freund Rudolf Weinwurm schildert er einen Monat nach Beginn der Kur seine Empfindungen: Es war nicht Faulheit! – es war noch viel mehr!!! –; es war gänzliche Verkommenheit u Verlassenheit – gänzliche Entnervung u Überreiztheit!!! Ich befand mich in dem schrecklichsten Zustande; Dir nur Dir gestehe ichs – schweige doch hierüber. Noch eine kleine Spanne Zeit, und ich bin ein Opfer – bin verloren. Dr. Födinger in Linz kündigte mir den Irrsinn als mögliche Folge schon an. 33

In dieser Zeit quälen ihn zudem erste Zweifel an der Qualität seiner kompositorischen Arbeiten: Bruckner zeigt sich zutiefst verunsichert über die unkommentierte Rücksendung von Partituren, die er dem Wiener Hofkapellmeister Johann Herbeck überlassen

31 Zum Komponistenbrief im 19. Jahrhundert allgemein und zum Aspekt der ‚Taktik‘ in brieflichen

Korrespondenzen vgl. Rudolf Stephan, „Musikerbriefe als Lebensdokumente. Einführende Überlegungen“, in Hanspeter Bennwitz [u.a.] (Hgg.), Komponistenbriefe des 19. Jahrhunderts. Bericht des Kolloquiums Mainz 1994 (Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse 4), Stuttgart 1997, 9–21. 32 Vgl. Eva Marx, „Bad Kreuzen – Spekulationen und kein Ende“, in Othmar Wessely (Hg.), BrucknerSymposion 1992: Anton Bruckner – Persönlichkeit und Werk, Linz 1995, 31–39. 33 Anton Bruckner an Rudolf Weinwurm, Brief vom 19. Juni 1867, in Anton Bruckner, Briefe, Bd. 1 (1852–1886), hg. v. Andrea Harrandt/Otto Schneider (Anton Bruckner. Sämtliche Werke 24/1), Wien 1998, 66. Bruckner kam am 8. Mai nach Bad Kreuzen und blieb dort bis zum 8. August 1867. Bezüglich Bruckners Verhältnis zu Weinwurm sei auf einen einige Monate zuvor geschriebenen Brief verwiesen, in dem Bruckner – verbunden mit der Bitte, Weinwurm möge Erkundigungen über eine von ihm verehrte Dame einholen – bemerkt: Jedoch ich habe keinen so intimen Freund in Wien als Dich. Anton Bruckner an Rudolf Weinwurm, Brief vom 30. August 1866, in Anton Bruckner, Briefe, Bd. 1, 59.

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hatte. 34 Jene Unsicherheit in der Beurteilung der eigenen musikalischen Werke kehrt in Bruckners Leben stetig wieder und bedingt die Suche nach Bestätigung durch Autoritäten, als deren extremste Ausprägung Bruckners Verhältnis zu Richard Wagner angeführt werden kann. Umso dramatischer sind die Folgen, die die Kritik eben solcher Autoritäten, wie des Münchener Hofkapellmeisters Hermann Levi, den Bruckner häufig in seinen Briefen als seinen „künstlerischen Vater“ 35 bezeichnet, auslöst: Nach der erfolgreichen Aufführung seiner 7. Symphonie unter Levi 1885, sandte Bruckner dem Kapellmeister schließlich 1887 seine 8. Symphonie. Levi, der auch nach intensivem Studium keinen Zugang zu diesem Werk fand, wusste um die Erschütterung, die seine Kritik in Bruckners Selbstbewusstsein bewirken würde. Nach vorheriger Korrespondenz mit dem Freund und engen Vertrauten Bruckners, Josef Schalk 36 , fasst Levi schließlich seine Kritik in einem Brief zusammen. 37 Bruckner selbst reagiert zunächst nicht brieflich, aber Josef Schalk berichtet über die Folgen: Ihre Nachricht hat Professor Bruckner begreif licherweise sehr hart getroffen. Er fühlt sich noch immer unglücklich und ist keinem Trostwort zugänglich. Es war vorauszusehen und dennoch ist es die mildeste Form gewesen ihn vor herberen Enttäuschungen zu bewahren. […] Wie ich ihn so beobachte komme ich mir grausam vor; es ist aber auf eine andere Weise nicht zu helfen und man muß ihn mit sich selbst austoben lassen. 38

Folgt man den Schilderungen Schalks, so waren die Befürchtungen Levis berechtigt: seine Vorbehalte lösten eine Krise aus. Neben dieser Schilderung kann als weiteres Indiz 34 Ich bin ein armer Kerl! Herbeck sandte mir die Partituren meiner Vocal Messe u Symphonie ohne

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ein Wort zu schreiben. Ist denn Alles gar so schlecht. Anton Bruckner an Rudolf Weinwurm, Brief vom 19. Juni 1867, in Anton Bruckner, Briefe, Bd. 1, 66. Vgl. exemplarisch Anton Bruckner an Hermann Levi, Brief vom 27. Februar 1888, in Anton Bruckner, Briefe, Bd. 2 (1887–1896), hg. v. Andrea Harrandt/Otto Schneider (Anton Bruckner. Sämtliche Werke 24/2), Wien 2003, 35. Ich weiß mir nicht anders zu helfen, ich muß Ihren Rath, Ihre Hülfe anrufen: Kurz gesagt: Ich kann mich in die 8te Sinfonie nicht finden, und habe nicht den Muth, sie aufzuführen. […] Was nun thun! Mir graust es, wenn ich daran denke, wie diese Nachricht auf unseren Freund wirken wird! Ich kann es nicht schreiben. […] Wenn es damit abgethan wäre, daß er mich für einen Esel, oder was noch schlimmer für einen Treulosen hielte, so wollte ich mir dies ruhig gefallen lassen. Aber ich fürchte Schlimmeres, fürchte, daß ihn diese Enttäuschung ganz niederbeugen wird! Hermann Levi an Josef Schalk, Brief vom 30. September 1887, in Anton Bruckner, Briefe, Bd. 2, 21f. Also: es ist mir unmöglich, die 8te in dieser Form zur Aufführung zu bringen. Ich kann sie mir nicht zu eigen machen! So herrlich und grandios die Themen sind, so bedenklich erscheint mir die Ausführung, ja die Instrumentation halte ich geradezu für unmöglich. […] Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß mir plötzlich alles Verständniß für Sie abhanden gekommen s[ein] sollte, bin vielmehr geneigt anzunehmen, daß in den letzten Jahren der Isolirung und des fortwährenden Kampfes mit der Welt Ihr Sinn für Schönheit und Ebenmaß und Wohlklang sich einigermassen getrübt habe. […] Bleiben Sie mir gut! Halten Sie mich für einen Esel, das macht mir Nichts, aber glauben Sie nur nicht, daß mein Gefühl für Sie sich geändert habe, oder sich jemals ändern könne. Hermann Levi an Anton Bruckner, Brief vom 7. Oktober 1887, in Anton Bruckner, Briefe, Bd. 1, 23. Josef Schalk an Hermann Levi, Brief vom 18. Oktober 1887, in Anton Bruckner, Briefe, Bd. 2, 25.

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des Krisenhaften bemerkt werden, dass Bruckner in den Tagen nach dem Eintreffen des Schreibens seine ansonsten äußerst zuverlässig geführten Gebetsaufzeichnungen in seinen Taschenkalendern unterbricht. Damit zeugen auch die persönlichsten uns vorliegenden Dokumente Bruckners von der Erschütterung. 39 Einige Tage nach Erhalt des Briefes antwortet Bruckner schließlich in einem wenig krisenhaft anmutenden, in äußerst nüchterner Diktion gehaltenen Brief und setzt Levi über den Beginn der Revisionsarbeiten in Kenntnis. 40 Als Reaktion auf die Kritik schuf Bruckner somit in den Jahren von 1887 bis 1890 eine zweite Fassung der Symphonie. 41 An diesem Beispiel soll ein Phänomen beschrieben sein, das für Bruckner typisch ist: die Schaffung mehrerer Fassungen desselben Werkes. 42 Die Fassungsproblematik ist, wie das Beispiel der 8. Symphonie eindrücklich beweist, auf das Engste mit Erschütterungen im Selbstverständnis als Autor verwoben. Dass dabei allerdings eindimensionale Erklärungsmodelle, die allein die Kritik der Zeitgenossen für die Umarbeitung verantwortliche machen, zu kurz greifen, ist offensichtlich: 43 Die Fassungsproblematik insgesamt erwächst sowohl aus der Kritik von außen 44 als aber auch aus eigener Unzufriedenheit. 45

39 Vgl. Elisabeth Maier, Verborgene Persönlichkeit, 310. 40 Erst jetzt wird es mir gegönnt, Studien zu machen [d.h. die 8. Symphonie zu überarbeiten]. Es wird das

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Möglichste geschehen – nach bestem Wissen und Gewissen. Anton Bruckner an Hermann Levi, Brief vom 20. Oktober 1887, in Anton Bruckner, Briefe, Bd. 2, 26. Vier Monate später erfolgt eine zweite Antwort auf die Anmerkungen bezüglich der 8. Symphonie, die einer Zustimmung zur vorgebrachten Kritik gleichkommt: Freilich habe ich Ursache mich zu schämen – wenigstens für dießmal – wegen der 8ten. Ich Esel!!! Jetzt sieht sie schon anders aus. Anton Bruckner an Hermann Levi, Brief vom 27. Februar 1888, in Anton Bruckner, Briefe, Bd. 2, 34. Zu den kompositorischen Eingriffen vgl. u.a. den jüngst erschienenen Beitrag: Alexander Herrmann, „8. Symphonie – Entdeckte Quellen und eine rekonstruierte Fassung ergeben neue Einsichten zur Kompositionsweise Anton Bruckners“, in Studien & Berichte. Mitteilungsblatt der Internationalen Bruckner-Gesellschaft 73 (2009), 20–23. Erich Wolfgang Partsch bezeichnet diesen Umstand als einen „ständig in Fluss befindlichen, offenen Schaffensprozess“. Erich Wolfgang Partsch, „Anton Bruckners Fassungen – Einführung in die Thematik des Workshops“, in Studien & Berichte. Mitteilungsblatt der Internationalen BrucknerGesellschaft 73 (2009), 5–7. Jüngst hat ebenfalls Partsch auf diesen Umstand hingewiesen. Vgl. Erich Wolfgang Partsch, „Anton Bruckners Fassungen“, 6. Bereits im Rahmen des Bruckner-Symposions 1980 hat Franz Grasberger treffend deutlich gemacht, dass man nicht allein die Beeinflussung von außen verantwortlich machen können und somit jede Form der „Opfer-Theorie“ ablehnen müsse. Franz Grasberger, „Selbstkritik, Überzeugung und Beeinflussung“, in Ders. (Hg.), Bruckner-Symposion 1980. Die Fassungen. Bericht, Linz 1981, 33–38. Bruckner hat auf Grund deiner Beurteilung eine Menge Stellen noch geändert, ja ganz neue hinein componirt, wie du ja sehen wirst. Josef Schalk an Franz Schalk, Brief vom 9. Dezember 1889, in Anton Bruckner, Briefe, Bd. 2, 60 f. Ich bin so frei, hiermit die Partitur von der romant. Sinfonie zu senden. Selbe ist neu instrumentirt u[nd] zusammengezogen. Der Erfolg in Wien ist mir unvergeßlich. Seitdem habe ich aus eigenem Antriebe noch Veränderungen gemacht, die nur in der Partitur stehen; bitte daher um Nachsicht. Anton Bruckner an Hermann Levi, Brief vom 27. Februar 1888, in Anton Bruckner, Briefe, Bd. 2, 34.

Krisen der Autorschaft bei Bruckner und Reger

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In jedem Fall lässt sich dieser Befund schwerlich mit den eingangs skizzierten Vorstellungen von einem genialen musikalischen Autor, der ein unveränderbares ‚opus perfectum et absolutum‘ schafft, überein bringen. Vehement muss Zuschreibungen, wie derjenigen Max Auers, die einem religiös fundierten Inspirationsmodell folgen („Bruckner war sich stets bewußt, ein Instrument Gottes und Mittler überirdischer Kräfte zu sein“ 46 ), mit Blick auf das durch die Fassungsproblematik irritierte Autorschaftskonzept, widersprochen werden. Vielmehr scheint es geboten, die Bedeutung des Krisenhaften gerade für die Symphonieschöpfungen hervorzuheben: Bruckner verstand sich selbst – zumindest in den Wiener Jahren – explizit als Symphoniker und stellte sich damit dem Anspruch, Großes schaffen zu wollen. Umso stärker nagten die bisweilen beißende publizistische Kritik und das Gefühl der Verlassenheit am Selbstbild des Komponisten.

5. Regers künstlerisches und politisches Selbstverständnis Demgegenüber arbeitete Reger sein vergleichsweise kurzes Leben lang an seinem Nimbus als selbstbewusst und unermüdlich Schaffender, dem derartige Krisensituationen unbekannt seien. Dies betrifft zum einen die Selbststilisierung seiner Künstlerpersönlichkeit als eines Musikers, dem aufgrund seines perfekten Handwerks und Arbeitsethos das Komponieren leicht falle: Er glaube an keinen Genius, sondern nur an feste, stramme Arbeit, 47 schreibt er 1893 an seinen Freund Adalbert Lindner; 146 mit Opuszahl versehene Werke legen Zeugnis davon ab, dass es ihm damit Ernst war. Zum anderen war er daran interessiert, auch seine persönliche Konstitution als unverwüstlich, als derbe bayrische Bauernnatur 48 wahrgenommen zu sehen. Zumindest Letzteres dürfte als die Aufrechterhaltung einer äußeren Fassade zu gelten haben, handelte es sich doch bei Reger um einen Menschen von großer seelischer Labilität, 49 dessen 1898 erfolgte, mehrjährige Rückkehr in sein Elternhaus nach Weiden einer psychischen und gesundheitlichen Krise geschuldet war. Genau während der Jahre dieses Aufenthalts schuf er jedoch seine ästhetisch radikalsten Werke und vollzog auch einen Wandel in seiner künstlerisch-gesellschaftlichen Selbsteinordnung: 1897 noch hatte er auf eine Zeitungskritik, die ihn als „Sozialdemokrat unter den jetzigen Komponisten“ bezeichnete, mit der Rechtfertigungsstrategie reagiert, er führe – weit entfernt davon, den Umsturz aller musikalischen Verhältnisse zu predigen – die Traditionslinie von Bach, Beethoven und Brahms fort; 50 dagegen betont er drei 46 Max Auer, „Anton Bruckners erstes Meisterwerk für Ischl geplant (d-Moll-Messe)“, in Festschrift

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zum 400jährigen Jubiläum der römisch-katholischen Pfarre Bad Ischl, Mai 1954. Bad Ischl 1954, 36–39, hier 36. Max Reger, Briefe eines deutschen Meisters, hg. v. Else von Hase-Koehler, Leipzig 1928, 31. Ebd. 204. Vgl. Hermann Wilske, Max Reger. Zur Rezeption in seiner Zeit, Wiesbaden 1995, 33 f. Max Reger, Briefe eines deutschen Meisters, 56.

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Jahre später, er sei sehr modern (durch und durch) und frei von allen rückschrittlichen Tendenzen – im Gegenteil: ich marschiere auf ‚linkster Seite‘. 51 Wenn er der in Arnold Schönbergs Klavierstücken von 1909 vollzogenen Abwendung von der Tonalität nicht folgen mag, veranlasst ihn dies zum Ausruf: O, es ist zum Konservativwerden! 52 In Meiningen zum Leiter der Hofkapelle und gar zum Hofrat avanciert, bekundet er mehrfach seine mittlerweile manifeste Konversion zum Sozialdemokraten und seine Distanz zum Hof 53 – was im merkwürdigen Kontrast zu seiner verschiedentlich dokumentierten Ehrpusseligkeit im Hinblick auf Titel und Orden steht. 54 Die mittlerweile ostendierte ästhetisch-politische Progressivität geht einher mit einer gewissen Indifferenz gegenüber Autoritäten. Eine solche war ihm gewiss eine Zeit lang sein Theorielehrer Hugo Riemann, doch distanziert sich Reger, wenn dieser seine kompositorischen Innovationen tadelt. 55 Ebenso wendet sich der katholische Komponist ganz nonchalant dem Schaffen von evangelischer Kirchenmusik zu, wenn seine Werke ihrer Modernität wegen innerhalb der katholischen Kirche als unangemessen kritisiert werden und kaum Aufführungen erfahren. 56 Auch seine (bereits kurz erwähnte) Exkommunizierung schien ihn nicht bleibend beeindruckt zu haben. 57 Seien derartige Begebenheiten nun Ausdruck einer wirklichen künstlerisch-ethischen Autonomie oder lediglich von deren angestrengter Behauptung: Von einer Krise des Konzepts der Autorschaft kann bei Reger jedenfalls nicht die Rede sein, komponiert er doch ohne Unterlass, führt die Werke in emsiger Konzerttätigkeit auf und befördert sie umtriebig zum Druck. Dabei trägt sogar der Schreibstil selbst Züge des Durchrationalisierten – bei verschiedenen Reinschriften (z.B. bei der Choralfantasie Alle Menschen müssen sterben, op. 52/1) wurden nicht allein sekundäre Anweisungen (in diesem Fall Registrierangaben), sondern auch grundlegendere Vorschriften, die im Arbeitsprozess kaum nachträglich anzulegen sind (hier: Manualzuweisungen und sogar dynamische Angaben) in einem separaten Arbeitsgang mit hellerer Tinte eingefügt.

51 Ebd. 84 f. Vgl. auch die Äußerung Regers in einer Replik auf seinen ehemaligen Lehrer Riemann,

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er reite unentwegt nach links. Max Reger, „‚Degeneration und Regeneration‘ (1907)“, in Susanne Shigihara (Hg.), Die Konfusion in der Musik. Felix Draesekes Kampfschrift und ihre Folgen, Bonn 1990, 250–258, hier 257. Max Reger, Briefe eines deutschen Meisters, 238. Deutlich etwa Regers briefliche Äußerung an einem Hofe kann man nur entweder dumm u. charakterlos oder Socialdemokrat werden. ich habe vorgezogen, Socialdemokrat zu werden. Max Reger, Briefe an Fritz Stein, hg. v. Susanne Popp, Bonn 1982, 168. Vgl. Hermann Wilske, Max Reger, 31ff. Vgl. zwei briefliche Äußerungen von 1900 und 1909: Nach meiner Ansicht haben wir seit Rameau nur einen Theoretiker, und das ist Riemann!; Ist es nicht himmlisch, daß Riemann in der neuesten Auflage seines Lexikons so hahnebüchen auf mich schimpft? Max Reger, Briefe eines deutschen Meisters, 79 bzw. 216. Vgl. hierzu Rudolf Walter, „Regers evangelisches Kirchenmusikschaffen und seine Ursachen“, in Mitteilungen des Max-Reger-Instituts 16 (1966), 19–34. Vgl. Anm. 1.

Krisen der Autorschaft bei Bruckner und Reger

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Dem entspricht auch die Beobachtung, dass die resultierenden Werke hinsichtlich ihrer Individualität oft negativ affiziert scheinen: Reger scheut sich nicht davor, von ihm erprobte künstlerische Modelle – etwa die romantische Steigerungsfuge – in geradezu stereotyper Weise immer wieder auszuprägen. Ein einmal geschriebenes Stück wegen vermeintlicher oder tatsächlicher Mängel immer wieder verbessernd zu überarbeiten, wäre Reger wohl kaum in den Sinn gekommen – eher hätte er es neu komponiert und unter einer eigenen Opusnummer veröffentlicht. Ähnlich der von Günter Figal beschriebenen Poetik von Ernst Jünger 58 sah Reger das Schreiben und Handeln selbst als bestimmendes Merkmal der Künstlerschaft an, die einzelnen Produktionen werden teilweise geradezu indifferent behandelt. Deshalb hat Reger auch keine Probleme damit, bei der Ausgabe seiner Werke teilweise drastische Kürzungen vorzuschlagen oder zu realisieren, wie etwa im Fall der Fuge der Orgelkomposition op. 135b vollzogen oder im Fall des Symphonischen Prologs zu einer Tragödie op. 108 angeregt. Dort heißt es am unteren Rand der ersten Seite der Partitur: Es bleibt dem Dirigenten überlassen, eine Kürzung von S. 59 Takt 1 bis zum Andante sostenuto (S. 86) vorzunehmen. Mit dieser Änderung fiele die gesamte Reprise des in Sonatenhauptsatzform geschriebenen Werks weg; dass hiermit die Form des Stücks stark beeinträchtigt ist, ja: der Formbegriff selbst in die Krise geraten ist, liegt auf der Hand.

6. Krisen der musikalischen Form bei Bruckner und Reger Die Form der Bruckner’schen Symphonieschöpfungen ist seit ihrer Entstehung sowohl Stein des Anstoßes, der den Vorwurf der ‚Formlosigkeit‘ provoziert, als auch Beweggrund für die Apologeten, ein den Werken inhärentes strukturelles Gefüge heraus zu präparieren, sie gleichsam zum „pinnacle in the evolution of musical form“ 59 zu erheben. Erscheint die Struktur der Werke in einem Moment als traditionell, bisweilen gar einem klassischen Sonatenschema verhaftet, so erscheint sie später als völlig frei jedweder Konvention. In diesem Beitrag soll keine Stellungnahme zur Kontroverse formuliert werden, vielmehr soll zunächst festgehalten sein, dass durch die Bruckner’schen Symphonien die Vorstellung von der ‚eigentlichen Form‘, die einem solchen Werk zugrunde liegen soll – wie sie beispielsweise durch die Symphonien Beethovens vorgebildet ist –, erschüttert ist. Wider die konventionelle Formenlehre schafft Bruckner „von der kleinsten motivi-

58 Vgl. Günter Figal, „Flugträume und höhere Geometrie. Ernst Jüngers Schreiben als Autorschaft“, in

Musik & Ästhetik 3 (1999), 70–79.

59 Benjamin M. Korstvedt, „Between formlessness and formality: aspects of Bruckner’s approach to

symphonic form“, in John Williamson (Hg.), The Cambridge Companion to Bruckner, Cambridge 2004, 170.

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Dominik Höink und Andreas Jacob

schen Zelle bis hin zur Gesamtanlage eines viersätzigen symphonischen Ganzen“ 60 sich selbst seine Form. Grundlegend für die selbstgeschaffene Form ist eine genaue, bis ins Detail reichende metrische Strukturierung des Satzes. Die autographen Partituren sind entsprechend mit Taktzählungen übersät. Eine genaue metrische Organisation des musikalischen Materials, d.h. eine exakte Planung der Ausdehnung der Themen ist kennzeichnend und weist sogleich jede Form einer freien thematischen Entwicklung in ihre Schranken. 61 Dass nach dem Ersten Weltkrieg in Adolf Weißmanns – bereits erwähnter – Musik in der Weltkrise gerade die Form der Bruckner’schen Symphonien den zentral verhandelten Gegenstand bildet, verwundert daher nicht: Mit der Bemerkung, dass „Bruckners Form […] gewiß keine Formlosigkeit“ 62 sei, positioniert sich Weißmann gegenüber der landläufigen Kritik und verkennt keinesfalls das als problematisch Wahrgenommene der Symphoniekonzeption, betont vielmehr, dass – sofern man bereit sei, das „Formideal [Bruckner] selbst zu entleihen“ und die Vorgaben der durch Beethoven erfüllten symphonischen Idee zu dispensieren – „nach Bach nicht ähnlich Großes gelebt habe“ 63 . Daneben betont auch Kurt Singer in eben dieser als krisenhaft empfundenen Zeit, dass Bruckner bei seinen symphonischen Werken jeder „Sinn für [die] Fortführung einer Tradition“ fehle. 64 Die musikalische Form der Symphonie ist durch die Konzeption der Brucknerschen Werke irritiert, in eine Krise geraten, oder, um es positiv zu wenden: weiterentwickelt. 65 Im Gegensatz zu vielen für damalige Zeiten avantgardistischen Neuerungen Regers – einer bis an die Grenzen gespannten Tonalität, bei deren permanenten Modulationen ein Grundtonbezug kaum auszumachen ist, einer dissonanzreichen Harmonik und einer metrisch unregelmäßig gestalteten „musikalischen Prosa“ 66 –, scheint der Formbegriff Regers auf den ersten Blick sehr konventionell, ja teilweise geradezu klischeehaft. 60 Wolfram Steinbeck, „Form“, in Uwe Harten (Hg.), Anton Bruckner. Ein Handbuch, Salzburg/Wien

1996, 157.

61 Vgl. hierzu Wolfgang Grandjean, Metrik und Form. Zahlen in den Symphonien Anton Bruckners

(Publikationen des Instituts für Österreichische Musikdokumentation 25), Tutzing 2001.

62 Adolf Weißmann, Musik in der Weltkrise, 82. 63 Ebd. 64 Kurt Singer, Bruckner Chormusik, Stuttgart [u.a.] 1924, 35. Die zitierte Bemerkung bezieht sich,

trotz des anders lautenden Titels der Monographie, auf die Symphonik Bruckners.

65 Zum Gedanken des Fortschrittlichen auch im Bezug auf die Fassungsproblematik bemerkt Grasber-

ger: „Und zuletzt noch einen Blick auf die Weiterentwicklung der Musik in unserem Jahrhundert: die Klangvision mit der nicht mehr fixierten, sondern nur in der Bewegung angedeuteten Niederschrift nimmt breiten Raum in der Kompositionstechnik der Gegenwart ein. Auch so besehen hat Bruckner einen gewaltigen Schritt aus der Tradition in Richtung der Moderne getan.“ Franz Grasberger, „Selbstkritik, Überzeugung und Beeinflussung“, 38. Auf das Progressive in Bruckner Symphonien im Hinblick auf die Tonalität verweist Constantin Floros. Vgl. Costantin Floros, Anton Bruckner. Persönlichkeit und Werk, Hamburg 2004, 229. 66 Vgl. hierzu u.a. Rudolph Stephan, „Max Reger und die Anfänge der Neuen Musik“, in Neue Zeitschrift für Musik 134 (1973), 339–346; Reinhold Brinkmann, „Max Reger und die neue Musik“, in Klaus Röhring (Hg.), Max Reger 1873–1973. Ein Symposion, Wiesbaden 1974, 83–111; Susanne Popp, „Musikalische Prosa bei Reger und Schönberg“, in Dies./Günter Massenkeil (Hgg.), Reger-Studien

Krisen der Autorschaft bei Bruckner und Reger

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Dies betrifft insbesondere die Sonatenhauptsatzform, deren konstituierende Formteile bei Reger in lehrbuchhafter Regelkonformität aufeinanderfolgen konnten, wobei die Reprise – wie in kritischer Absicht angemerkt wurde – als „mechanische Wiederholung von etwas bereits Komponiertem“ 67 erscheint. Die Umstandslosigkeit, mit der Reger beim erwähnten Beispiel des Symphonischen Prologs ebendiese Reprise zur Disposition stellte, die Art und Weise, mit der andererseits einzelne Passagen aus früheren Formteilen in andere Kontexte hineingeschnitten wurden, spricht vor allem dafür, dass ihm jene romantische Formidee, nach der das Ganze und seine Teile organisch, aber auch notwendig auseinander hervorgehen bzw. aufeinander verweisen, 68 nicht vordringlich interessierte. Der musikalische Verlauf wird oftmals vielmehr durch das variative (und damit durchaus vom Konzept der musikalisch-motivischen Logik getragene) Weiterspinnen von traditionellerweise sekundären Formteilen bestimmt, wie sich am Beispiel des ersten Streichquartetts, op. 54/1, zeigen ließe: Das erste Thema erscheint ohne Vorbereitung direkt zu Anfang und den dafür vorgesehenen Stellen – gearbeitet wird aber vor allem mit Material, das im Begleitsatz oder den Überleitungspassagen vorgestellt wird. 69 Weiterhin wird eine im Grunde genommen einfache Formanlage auch vielfach durch ausfransend gestaltete Einheiten überwuchert, so dass hier ein bewusstes Moment der Verunklarung durch divergierende musikalische Parameter zu konstatieren ist. Eine derartige musikalische Textur ist etwa bereits zu Anfang von Regers Symphonischer Fantasie op. 57 für Orgel anzutreffen: Harmonik und rhythmisch-metrische Gestaltung sind soweit verkompliziert, dass sich ein eindeutiges Gefühl für die formale Funktion (in diesem Fall: eben eines Anfangs) nicht einstellen mag. Formale Funktionalität wie auch Funktion der Form werden auf diese Weise ausgehöhlt, die konventionell eingebauten Formteile wirken für das Ganze kaum mehr tragend und stehen zum metastasierenden musikalischen Prozess (mit seiner Tendenz zur Informalität) wie exogen.

7. Fazit Die Krise, die in der beginnenden musikalischen Moderne den Werkbegriff und den tradierten Umgang mit verschiedenen musikalischen Parametern erfasst hatte – gesprochen wurde hier nur von der Form, Ähnliches oder noch Grundsätzlicheres ließe sich von Gattungsnormen sowie Tonalität und Harmonik sagen –, betraf das Moment der musikalischen Autorschaft selbst: Am Beispiel von Bruckner und Reger ließ sich zeigen, dass das Schaffen von musikalischen Werken (und solche wollten ja beide vorlegen) auf zunehmend 1. Festschrift für Otmar Schreiber zum 70. Geburtstag am 16. Februar 1976 (Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts Bonn-Bad Godesberg 1), Wiesbaden 1978, 59–78. 67 Rainer Cadenbach, Max Reger und seine Zeit, Laaber 1991, 277. 68 Vgl. hierzu Lothar Schmidt, Organische Form in der Musik. Stationen eines Begriffs 1795–1850 (Marburger Beiträge zur Musikwissenschaft 6), Kassel 1990. 69 Vgl. hierzu Friedhelm Krummacher, Geschichte des Streichquartetts, Bd. 3, Laaber 2005, 1–20.

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Dominik Höink und Andreas Jacob

problematischen geistesgeschichtlichen Fundamenten beruhte. Den Wert des erlernbaren kompositorischen Handwerks sahen dabei beide als unstrittig hoch an, was vor dem Hintergrund romantischer Stilisierungen von Komponisten als inspirationsgeleiteten Genies einerseits, zu Zeiten von Futurismus oder bald nachfolgendem Dadaismus andererseits keinesfalls selbstverständlich ist. Welcher Anspruch allerdings mit einem solchen Werk angesichts der Vorgaben von Tradition, direkten Vorbildern und zeitgenössischen Diskursen erhoben bzw. – wichtiger noch – jeweils eingelöst werden sollte, bleibt ambivalent: Auf der einen Seite Bruckner, der in der Symphonik große, überzeitliche Werke schaffen wollte, dabei aber immer wieder von Zweifeln an seiner Autorität als Autor geplagt wurde und deshalb ebendiese Werke häufig revidierte; auf der anderen Seite Reger, der sich im rastlosen Produzieren von Werken als autonomer Autor empfand, dabei den seit Beethoven etablierten individuellen Opusgedanken aber von anderer Seite unterminierte. Die von beiden eigentlich akzeptierten Konzepte von Autorschaft und musikalischem Kunstwerk werden zunehmend als brüchige historische Konstruktion erkennbar, wenn die Selbstverständlichkeit künstlerischer Schaffensnormen in der Moderne in Zweifel gezogen wird. Der weitere Weg, der die Suspendierung von Gattungskonventionen, der jahrhundertlang verbindlichen Tonalität, den Konzepten von musikalischer Autorschaft, Werk sowie schließlich von Musik als (eigenständiger) Kunstdisziplin überhaupt einschloss, ist damit zwar nicht vorgezeichnet; einige, nicht unwesentliche Elemente dieser späteren Diskurse lassen sich jedoch bereits erkennen oder erahnen.

Christian Sieg

Schriftsteller als ‚Gewissen der Nation‘ Religiöse und politische Aspekte eines Autorschaftskonzepts der Nachkriegszeit

Als ‚Gewissen der Nation‘ wurden bekanntlich nicht nur Schriftstellerinnen und Schriftsteller der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit bezeichnet. Der Titel weckt u.a. die Erinnerung an Thomas Mann, der aufgrund seiner essayistischen Interventionen und Radioansprachen vor und während des Nationalsozialismus oftmals so benannt worden ist. 1 Als Ahnherr dieser Tradition kann Émile Zola gelten. Seine öffentliche Anklage in der Dreyfus-Affäre begründete eine Tradition intellektuellen Engagements, die in der Nachkriegszeit eine große Anziehungskraft besaß. Im Klappentext des von Martin Walser 1961 herausgegebenen Bandes Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung? findet sich beispielsweise die folgende Selbstbeschreibung: Die Schriftsteller, die hier ihre Stimme erheben – warnend, mahnend und sehr skeptisch – sehen sich in der Tradition Frankreichs, das von Voltaire über Zola bis Jean-Paul Sartre immer seine Männer der Feder auch als Gewissen der Nation wertete. 2 In dieser Passage wird gewissenhaftes Handeln mit der politischen Aktion identifiziert und somit die Rolle des öffentlichen Intellektuellen legitimiert. Das politische Engagement vieler Autorinnen und Autoren der Gruppe 47 blieb jedoch nicht unwidersprochen. Auch innerhalb der Gruppe 47 wollten sich nicht alle vor den Karren der SPD spannen lassen. Neben diesem Dissens in der Sache zeigt der heftige Widerspruch, auf den die engagierte Literatur außerhalb der Gruppe 47 traf, aber auch, dass nicht allein die Unterstützung dieser oder jener politischen Partei abgelehnt wurde, sondern grundsätzliche Fragen literarischer Autorschaft berührt wurden. 3 Im Folgenden wird die These entwickelt, dass der Titel ‚Gewissen der Nation‘ nicht 1 Vgl. Frank Dietrich Wagner, „Appell an die Vernunft. Thomas Manns ‚Deutsche Ansprache‘ und

Arnolt Bronnens nationale Attacke im Krisenjahr 1930“, in Thomas-Mann-Jahrbuch 13 (2000), 43–56, hier 46. 2 Martin Walser (Hg.), Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung, Reinbek bei Hamburg 1961. 3 Erinnert sei hier an die sogenannte ‚konservative Literaturkritik‘, gegen die sich Autoren wie Walser, Grass und Böll durchsetzen mussten. Insbesondere Friedrich Sieburg, Günter Blöcker und Hans

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Christian Sieg

nur durch das außerliterarische Engagement von Schriftstellerinnen und Schriftstellern erworben wurde, sondern ein Autorschaftsmodell bezeichnet, das nicht zuletzt in literarischen Texten inszeniert wurde. Belegen werde ich diese These allerdings nur in Hinsicht auf einen Schriftsteller: Heinrich Böll. Ausgangspunkt meiner Analyse ist die Veröffentlichung von Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen des damals in Münster lehrenden Soziologen Helmuth Schelsky im Jahr 1975. Es handelt sich, wie dem Titel nur unschwer zu entnehmen ist, um eine Streitschrift, die sich durch ihren polemischen Ton auszeichnet. Neben Alexander Mitscherlich und Rudolf Augstein wird Heinrich Böll in Schelskys Buch in einem Exkurs abgehandelt. Charakterisiert wird er als „Kardinal und Märtyrer zugleich in der Gemeindebildung der neuen sozialen Heilsbewegung.“ 4 Mir geht es allerdings nicht darum, Schelskys Positionen im Detail zu referieren. Was mich interessiert ist, dass Böll auf die Provokation reagierte und insbesondere auf seine vermeintliche Rolle als ‚Gewissen der Nation‘ zu sprechen kam. Die Passage aus Schelskys Buch, auf die Böll in seiner Erwiderung Bezug nahm, berührt das Selbstverständnis des Schriftstellers. Schelsky moniert dort, dass Bölls Engagement allein auf seinem subjektiven Empfinden basiere, und bezog sich kritisch auf eine Charakterisierung Bölls durch den Vizepräsidenten des Internationalen PEN-Zentrums, Robert Neumann. Dieser hatte konstatiert, dass Bölls Engagement auf dem innersten Selbstverständnis als Mahner und Gewissen in Opposition zu dem sogenannten herrschenden Establishment 5 beruhe. Schelskys Polemik wird von Böll rhetorisch geschickt pariert. Er sei Herrn Schelsky regelrecht dankbar, 6 dass dieser sein Image als ‚Gewissen der Nation‘ in Frage stelle. Er stimme mit Herrn Schelsky überraschenderweise 7 überein. Es beunruhige auch ihn, daß die Autorität sich selbst zerstört hat, und daß relativ unzuverlässige Kräfte wie Schriftsteller, wie Intellektuelle überhaupt an die Stelle moralischer Autoritäten gelangt sind. 8 Böll bestreitet also gar nicht, dass seine Rolle als moralische Instanz problematische Aspekte aufweist, sondern integriert den Vorwurf Schelskys in

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Egon Holthusen gehörten zu den Kontrahenten einer politisch engagierten Literatur und pochten mit teilweise konservativen Obertönen auf die politische Abstinenz der Kunst. Vgl. Franz Schonauer, „Sieburg & Co. Rückblick auf eine sogenannte konservative Literaturkritik“, in Nicolas Born/Jürgen Manthey (Hgg.), Nachkriegsliteratur (Literaturmagazin 7), Reinbek bei Hamburg 1977, 237–251. Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975, 342. Zit. n. Helmut Schelsky, Die Arbeit, 345. Heinrich Böll, „Drei Tage im März. Gespräch mit Christian Linder“, in Werke. Interviews. 1953– 1975, hg. v. James Henderson Reid/RalfSchnell (Kölner Ausgabe 24), Köln 2009, 461–547, hier 538. Die mediale Präsenz dieses Interviews wird schon daran deutlich, dass Auszüge aus diesem im Spiegel publiziert wurden. Aber auch andere Zeitungen berichteten. Vgl. Spiegel-Redaktion, „Literatur. Versuch ein Image zu zerstören“, in Der Spiegel, 21.07.1975, 76–81; Dieter E. Zimmer, „Bundesanstalt für Gewissen. Heinrich Böll rebelliert gegen sein Image“, in Die Zeit, 08.08.1975, 29. Heinrich Böll, „Drei Tage im März“, 542. Ebd. 539.

Schriftsteller als ‚Gewissen der Nation‘

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seine Gesellschafts- und Kirchenkritik. Ein reines Konstatieren des Tatbestands, dass Schriftsteller zu moralischen Institutionen geworden seien, reicht Böll zufolge nicht aus: [Schelsky] sollte sich gleichzeitig überlegen, wie solche Bilder entstehen; wie ein Mensch, der eigentlich nur ein Schriftsteller ist, in eine solche Rolle gedrängt werden kann und warum er immer wieder von allen Seiten aufgefordert worden ist, diese Rolle zu übernehmen. 9

Böll wirft Schelsky vor, die sozialen Bedingungen, die ein moralisches Vakuum produzieren, nicht analysiert zu haben, und kommt dann auch auf die Instanzen zu sprechen, die seiner Meinung nach moralisch intervenieren müssten: das Parlament, die Justiz und vor allem die Kirche. 10 Weil die Kirche ihrem christlichen Auftrag nicht nachkomme, müsse er entgegen seinen Wünschen stellvertretend intervenieren. 11

1. Autorschaftsmodell und intellektuelles Selbstverständnis Dem Böll-Leser werden diese Argumente bekannt vorkommen, konstatieren sie doch in thesenhafter Art und Weise einen Gesellschaftszustand, den Bölls Romane narrativ entfalten. Bölls Prosa zeichnet eine Gesellschaft, die nach genau der politischen Intervention verlangt, für die Böll als öffentlicher Intellektueller bekannt geworden ist. Literatur und Politik sind bei Böll zu eng verzahnt, um das intellektuelle Engagement als nachträgliche Investition des in der reinen Sphäre der Kunst erworbenen symbolischen Kapitals verstehen zu können. 12 Es scheint mir daher geboten, zu fragen, inwieweit es eben Bölls literarische Texte selbst sind, die ihn als ‚Gewissen der Nation‘ inszenieren. Mit diesem Vorhaben hoffe ich auch, der Debatte um den Intellektuellen Böll neue Gesichtspunkte zu erschließen, betrachten doch viele Forschungsbeiträge, die darum bemüht sind, zum Verständnis der Rolle der Intellektuellen in der Nachkriegszeit beizutragen, die literarischen Werke der Schriftstellerinnen und Schriftsteller nur ungenügend. Das Gewissen zu 9 Ebd. 538. 10 Es funktioniert noch nicht einmal die andauernd proklamierte Autorität der Kirchen, ebd. 541. 11 Diese Position findet sich auch in der späteren Einschätzung Enzensbergers zur Position Bölls wie-

der. Vgl. Hans Magnus Enzensberger, „Das empfindliche Ungeheuer. Eine Wahlkampf-Unterhaltung aus dem Jahr 1987 mit Hellmuth Karasek“, in Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen, Frankfurt a.M. 1989, 227–244, hier 238. Auch in der zeitgenössischen Rezeption wurde Verständnis geäußert und so das Autorschaftsmodell Bölls weiter gefestigt. So schrieb Zimmer in Die Zeit: Daß Böll sich gegen die ihm und einigen anderen abverlangte Rolle als Wächter, Weiser, Protestierer sträubt, ist nur zu verständlich. Eine gestörte, zum Quietismus neigende öffentliche Meinung herauszufordern, muß einen einzelnen überanstrengen, zumal dann, wenn ihm, wie Heinrich Böll und im Unterschied etwa zu Thomas Mann, dem die staatsmännische Geste und Rede geradezu ein Bedürfnis war, das diplomatisch belehrende Dreinreden gar nicht liegt. Dieter E. Zimmer, „Bundesanstalt für Gewissen“, 29. 12 Daher kann auch Bourdieus Analyse des Engagements Zolas nicht einfach auf Böll übertragen werden. Vgl. Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 2001, 209–214.

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Christian Sieg

wecken, wurde aber eben auch als Aufgabe literarischer Texte verstanden. Rolf Schroers’ Vorwort zu einer 1959 publizierten Anthologie, in der auch ein Auszug aus der Blechtrommel zu finden ist, kann hier stellvertretend zitiert werden: Die ungeheure Leistung dieser jungen Autoren besteht […] in der Schonungslosigkeit, mit der sie sich selbst […] in alles Verhängnis hineinstellen, das Gewissen wach halten vor der kleinen Lüge, die die Reinheit ihrer Absichten mit allen Versprechungen dieser Welt umlockt. 13

Diese von Schroers postulierte Aufgabe der Prosa deckt sich auch mit Leseerfahrungen, wie sie schon in den ersten Rezensionen der Texte Bölls konstatiert worden sind. So beschrieb Kay Hoff in der christlichen Zeitschrift Michael seinen Leseeindruck wie folgt: Wenn man Heinrich Bölls Erzählungen liest, wird das Gewissen wach. 14 Im Folgenden soll daher die Prosa Bölls im Vordergrund stehen und gefragt werden, welches Autorschaftsmodell sie vermittelt. Die Metapher ‚Gewissen der Nation‘ als Autorschaftsmodell zu interpretieren, bedeutet nicht, die poststrukturalistische Kritik des universellen Intellektuellen, wie sie von Michel Foucault und François Lyotard geäußert worden ist, zu ignorieren. Der kritische Impuls des Poststrukturalismus kann durchaus aufgenommen werden. Foucaults Diktum, Intellektueller zu sein, das war, ein wenig das Gewissen aller zu sein, 15 das die universalistische Anmaßung der intellektuellen Intervention kritisiert, evoziert den Problemhorizont, in dem auch das von mir zu analysierende Autorschaftsmodell diskutiert werden soll. Maßen sich Autorinnen und Autoren wie Heinrich Böll, Günter Grass oder Christa Wolf an, im Namen der Nation zu sprechen? Setzt das Autorschaftsmodell sogar die Existenz eines „universellen Subjekts“ 16 (Lyotard) voraus, dessen geschichtliche Verwirklichung die Verantwortung des engagierten Intellektuellen ist? Ich werde diese Fragen nur mit Einschränkungen beantworten können, da ich mich im Folgenden nur den Texten eines Autors widmen kann, denen von Heinrich Böll, dem ‚guten Menschen aus Köln‘, der wohl als paradigmatisches Exempel für das hier untersuchte Autorschaftsmodell gelten kann.

2. Autorschaft und Marginalisierung Bevor ich mich der Prosa Bölls zuwende, möchte ich noch auf einen Umstand zu sprechen kommen, der für die Analyse von Autorschaftsmodellen von Bedeutung ist. Als These formuliert: Literatur, die politische Implikationen hat, bzw. politische Wirkung anstrebt, inszeniert nicht zwangsläufig Autorschaft. Zahlreiche Beispiele lassen sich nennen: Émile 13 Rolf Schroers, Auf den Spuren der Zeit. Junge deutsche Prosa, München 1959, 9. 14 Kay Hoff, „Bücher ohne Goldschnitt. Heinrich Böll – eine Stimme der jungen Generation“, in Michael

10/19 (1952).

15 Michel Foucault, „Die politische Funktion des Intellektuellen“, in Dits et Ecrits. Schriften in vier

Bänden. 1976–1979, Bd. 3, hg. v. Daniel Defert, Frankfurt a.M. 2003, 145–52, hier 145.

16 Jean-François Lyotard, Grabmal des Intellektuellen, Wien 2 2007, 12.

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Zolas Germinal, Heinrich Manns Der Untertan, Anna Seghers Das siebte Kreuz, Ingeborg Bachmanns Alle Tage, Gerhard Hauptmanns Die Weber oder Bert Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe. Auch Heinrich Bölls frühe Romane aus den Jahren 1951 bis 1954 reflektieren Autorschaft in einem deutlich geringeren Maße als seine späteren Werke. Was kann als Grund dafür gelten? Die zunehmende Inszenierung von Autorschaft, die in den 1950er-Jahren in Bölls Werk zu verzeichnen ist, kann paradoxerweise als eine Reaktion auf die geringe politische Wirkung der politisch engagierten Literatur verstanden werden. Bölls schon zitierte Replik auf Schelsky beispielsweise bezeugt, dass die politisch engagierten Autorinnen und Autoren sich in einer marginalisierten Position verorteten, ja diese mit Vehemenz inszenierten. Vermutet werden kann eine ähnliche Dynamik im Osten Deutschlands. Oder ist es Zufall, dass die zunehmend skeptische Haltung dem gesellschaftlichen Fortschritt gegenüber, die sich im Werk Christa Wolfs von Der geteilte Himmel (1963) bis Kassandra (1983) erkennen lässt, von einer zunehmenden Thematisierung der eigenen Autorschaft begleitet wird? Drängt die Autorschaft politisch engagierter Literatur verstärkt in den Vordergrund, wenn diese sich gesellschaftlich isoliert sieht? Doch zurück zu Böll: Die Skepsis, ob die eigene Literatur gesellschaftlich wirksam sei, hat einen Namen, der noch immer durch die Literaturgeschichtsschreibung spukt: ‚Restauration‘. 17 Fraglich ist das Verständnis der 1950er-Jahre als Zeit der Restauration nicht nur, weil es die Problematisierung der Restaurationsthese in der geschichtswissenschaftlichen Forschung ignoriert, sondern vor allem, weil hier die Wahrnehmung der 1950er-Jahre durch die damaligen Autorinnen und Autoren einfach übernommen und somit die Chance vertan wird, diese Wahrnehmung selbst als Interpretation zu begreifen, die ein Bestandteil der verfolgten Autorschaftskonzeption ist. 18 ‚Restauration‘ war zuerst einmal ein politischer Kampfbegriff. Gebräuchlich war er in dem publizistisch-literarischen Umfeld, aus dem die Gruppe 47 hervorging und das in der Zeitung Der Ruf für etwa ein Jahr ein Presseorgan fand. Schließlich war es Walter Dirks, der Mitherausgeber der Frankfurter Hefte, eines linkskatholischen Blattes, in dem Böll und Andersch veröffentlichten, der den Begriff 1950 prägte:

17 Helmuth Kiesel hat sich mit dieser Problematik auseinandergesetzt und etliche Beispiele für die

Verwendung des Restaurationsbegriffs in literaturgeschichtlichen Darstellungen zusammengestellt. Vgl. Helmuth Kiesel, „Die Restaurationsthese als Problem für die Literaturgeschichtsschreibung“, in Walter Erhart/Dirk Niefanger (Hgg.), Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989, Tübingen 1997, 13–45. 18 Für eine Reflexion des Restaurationsbegriffs in der Geschichtswissenschaft vgl. Claudia Fröhlich, „Restauration. Zur (Un-)Tauglichkeit eines Erklärungsansatzes westdeutscher Demokratiegeschichte im Kontext der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit“, in Stephan Alexander Glienke/Volker Paulmann/Joachim Perels (Hgg.), Erfolgsgeschichte Bundesrepublik. Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, 17–52; Jürgen Kocka, „1945. Neubeginn oder Restauration“, in Carola Stern/Jürgen Kocka (Hgg.), Wendepunkte deutscher Geschichte. 1848–1990, Frankfurt a.M. 3 2005, 159–192.

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Wir sind dabei, den Frieden zu verlieren. Die Völker Europas haben weder den militärischen Zusammenbruch noch den militärischen Sieg zu nutzen verstanden. Sie haben die Aufgabe nicht gelöst, die ihnen gestellt war: nach dem Zusammenbruch der alten Welt eine menschlichere aufzubauen. […] [S]o leben wir denn in einem Zeitalter der Restauration. 19

Dirks’ Zeitdiagnose verdeutlicht, wie sehr die Enttäuschung über die Politik der Nachkriegszeit die Begriffswahl ‚Restauration‘ bestimmte. Der Zusammenbruch des Nationalsozialismus wurde als eine moralische Aufgabe zur gesellschaftlichen Neugestaltung verstanden, die nicht erfüllt werden konnte. Diese skeptische Interpretation der zeitgenössischen Geschichte und der eigenen Rolle als Intellektueller beeinflusste Böll und andere Autorinnen und Autoren, die ihre Literatur politisch verorteten. Das ‚Gewissen der Nation‘ ist ein schlechtes Gewissen. Es mahnt an, dass die gesellschaftliche Entwicklung falsch verläuft, und drängt zur Umkehr. Dies möchte ich nun durch die Analyse eines Romans von Böll genauer ausführen.

3. Billard um halb zehn: Kultur-, Kirchenkritik und Autorschaft Heinrich Bölls 1959 publizierter Roman Billard um halb zehn kommt für die Entwicklung des literarischen Feldes besondere Bedeutung zu, weil er neben Günter Grass’ Die Blechtrommel und Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob zur Ausrufung des Literaturwunderjahres Anlass gab. „Die junge deutsche Literatur hat einen großen Schritt nach vorne getan“, 20 konstatierte beispielswiese Rolf Becker. Das Wirtschaftswunder fand so sein literarisches Pendant. Aber auch für die Analyse von Autorschaftsmodellen ist der Roman eine Fundgrube. So thematisiert er die für sich politisch positionierende Autorinnen und Autoren zentrale Frage der Autonomie der Kunst. Max Frisch hat diesen Zusammenhang in seinen Tagebüchern wie folgt beschrieben: Zu den entscheidenden Erfahrungen, die unsere Generation, geboren in diesem Jahrhundert, aber erzogen noch im Geiste des vorigen, besonders während des zweiten Weltkrieges hat machen können, gehört wohl die, daß Menschen, die voll sind von jener Kultur, Kenner, die sich mit Geist und 19 Walter Dirks, „Der restaurative Charakter der Epoche“, in Frankfurter Hefte 5 (1950), 942–954, hier

942.

20 Rolf Becker, „Ein Schritt nach vorn. Grass, Johnson, Böll – drei Ereignisse der jungen deutschen

Literatur“, in Magnum 26 (1959). Vom „bundesdeutschen Literaturwunder“ spricht beispielsweise eine Ausstellung der Akademie der Künste: Vgl. Jürgen Schutte (Hg.), Dichter und Richter. Die Gruppe 47 und die deutsche Nachkriegsliteratur. Ausstellung der Akademie der Künste 18. Oktober bis 7. Dezember 1988, Berlin 1988, 251. Auch die meisten literaturgeschichtlichen Darstellungen heben das Jahr hervor und sprechen vom „Durchbruch“ zur internationalen Resonanz oder zitieren Enzensbergers Bonmot, dass das „Klassenziel der Weltkultur“ in diesem Jahr endlich erreicht worden sei. Vgl. Wilfried Barner, Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 12), München 2 2006, 172; Ralf Schnell, Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, Stuttgart 2 2003, 185.

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Inbrunst unterhalten können über Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Bruckner, ohne weiteres auch als Schlächter auftreten können; beides in gleicher Person. Nennen wir es, was diese Menschart auszeichnet, eine ästhetische Kultur. Ihr besonderes, immer sichtbares Kennzeichnen ist die Unverbindlichkeit, die säuberliche Scheidung zwischen Kultur und Politik […]. Wie oft, wenn wir einmal mehr von Deutschland sprechen, kommt einer mit Goethe, Stifter, Hölderlin und allen anderen, die Deutschland hervorgebracht hat, und zwar in diesem Sinn: Genie als Alibi –. 21

Deutlich wird in diesen Zeilen, dass Frisch (wie auch andere politisch orientierte Autorinnen und Autoren) auf die Durchsetzung eines neuen Verständnisses von Autorschaft abzielte. Der Begriff der ‚Generation‘ ist dafür von Bedeutung, denn dieAutorinnen und Autoren der Gruppe 47 wurden in den 1950er-Jahren als Schreibende der ‚jungen Generation‘ begriffen und begriffen sich auch selbst so. Der Generationsbegriff diente dazu zu signalisieren, dass Autorschaft hier weiter als üblich gefasst wird. Nicht ästhetische Normen, sondern die im Weltkrieg erlittene Lebenswirklichkeit sei ihr Fundament. Ich zitiere Hans Werner Richter: Eine neue, aus dem Krieg, aus den Lagern und Gefängnissen heimkehrende Generation begann zu schreiben, unbeholfen, ohne jede Tradition, karg und sparsam aus Furcht vor dem entseelten Wort von gestern. 22 Der Bezug auf die Generationserfahrung diente der Abgrenzung gegen gelehrte Literatur und das ästhetische Raffinement – gegen das Genie als Alibi, um mit Frisch zu sprechen. Diese Skepsis gegenüber der etablierten Kultur bestimmt auch Bölls Billard um halb zehn, einen Roman, der die Pflege der kulturgeschichtlichen Tradition als Alibi einer Nation darstellt, die den Rückfall in die Barbarei vergessen will. Der Roman stellt die kalkulierte Anteilnahme an dem Schicksal der vor langer Zeit gestorbenen Kinder in römischen Kindergräbern der ansonsten herrschenden restaurativen Kälte gegenüber. Siebzehn Jahrhunderte alte Trauer, 23 so der Erzähler, erreicht die deutschen und ausländischen Besucher eines abendländischen Erinnerungsortes, nicht aber die Schrecken der unmittelbaren Vergangenheit. Dieser Gegensatz zwischen der Identifikation mit der Kulturtradition und der schweigenden Hinnahme des noch nicht lange zurückliegenden Kulturbruchs durch den Nationalsozialismus wird an vielen Stellen des Romans aufgegriffen. Auch der zentrale Handlungsstrang des Romans berührt dieses Thema. Denn in Bölls Roman sprengt der Protagonist Robert Fähmel in den letzten Tagen des Krieges eine kulturgeschichtlich bedeutsame Abtei, um sich für die opportunistische Haltung der Kirche im Nationalsozialismus zu rächen. Auf die inständige Bitte eines amerikanischen Offiziers, ihm zu sagen, warum er die Abtei in die Luft gesprengt habe, sei sie doch ein Kulturgut ersten Ranges gewesen, protokolliert der Erzähler dessen Antwort: ein Denkmal aus Staub und Trümmern wollte er denen setzen, die keine kulturgeschichtlichen Denkmäler gewesen waren und die man nicht hatte schonen müssen […]. 24 Angesprochen sind hier die Opfer des Nationalsozialismus und des Krieges. Passagen wie diese erzeugen im 21 Max Frisch, Tagebuch 1946–1949, Frankfurt a.M. 1950, 326f. 22 Hans Werner Richter, „Courage?“, in Die Literatur 1 (1952), 1. 23 Heinrich Böll, „Billard um halb zehn“, in Werke, hg. v. Frank Finlay/Markus Schäfer (Kölner Ausgabe

11), Köln 2002, 256.

24 Ebd. 157 f.

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Kontext des Romans eine Sympathie für Menschen wie Robert Fähmel, die die Opfer des Nationalsozialismus nicht vergessen wollen und anmahnen, dass die Kultur die nationalsozialistische Regression verarbeiten müsse, anstatt sie zu kaschieren. Gleichzeitig übt der Roman hier Kirchenkritik. Nicht nur wird das Paktieren der Mönche mit den Nazis dargestellt, durch die Leitmotive des Romans wird darüber hinaus das Versagen der Kirche vor der geschichtlichen Situation hervorgehoben. Anhand der Leitmotive ‚Sakrament des Büffels‘ und ‚Sakrament des Lammes‘ teilen sich die Figuren des Romans in zwei Gruppen, die moralisch klar voneinander in Gut und Böse geschieden sind. Der Sakramentsbegriff erlaubt es zudem, einen Zusammenhang zwischen einer transzendenten und einer weltlichen Ordnung zu imaginieren. Weil die Wirkung der Sakramente in der „Vermittlung der Gemeinschaft mit dem in Jesus Christus offenbaren Gott“ 25 besteht, wird die Kirche auch als „Grundsakrament“ 26 bezeichnet – und genau das ist Bölls Thema. Das eine Leitmotiv des Romans, die Bezeichnung ‚Sakrament des Lammes‘, bezieht sich auf den pastoralen Auftrag der Kirche, der in Joh. 21,15 von Jesus an Petrus mit den Worten Weide meine Lämmer erfolgt. Dieser Auftrag, so legt es der Roman nahe, ist verraten worden. Die Lämmer, um in der biblischen Sprache des Romans zu bleiben, brauchen neue Hirten. Hier kommt nun der schon von Frisch angesprochene Hölderlin ins Spiel, bzw. ein als Hölderlin-Zitat ausgewiesener Satz, der den Roman leitmotivisch begleitet.

4. Bölls Hölderlin Der im Roman kursiv gesetzte Vers Mitleidend bleibt das ewige Herz doch fest 27 aus Hölderlins Hymne Wie wenn am Feiertage (um 1800) bezieht sich nicht nur intertextuell auf Hölderlins Auseinandersetzung mit Autorschaftskonzeptionen, sondern steht im Kontext des Romans zugleich in Bezug zum Motiv des Hirten. Betont wird hier, dass Mitleid zwar eine Voraussetzung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus ist, dieses jedoch nicht unmittelbar das Handeln bestimmen dürfe. Autorschaft wird durch diesen Bezug auf die handlungsrelevanten Folgen eines Gefühls als gesellschaftliches Phänomen mit politischen Konsequenzen betrachtet. In diesem Sinne bezeichnet der Name Hölderlin in Bölls Roman auch nicht nur den romantischen Dichter, sondern bezieht sich ebenfalls auf das Bild, das die nationalsozialistische Rezeption von ihm zeichnete. 28 Die Hölder25 Gunther Wenz/Henning Schröer, „Sakramente“, in Gerhard Müller (Hg.), Theologische Realenzy-

klopädie, Berlin 1998, 691.

26 Manfred Nielen, Frömmigkeit bei Heinrich Böll, Annweiler 1987, 61. 27 Das erste Mal wird das Leitmotiv im dritten Kapitel verwendet. Vgl. Heinrich Böll, „Billard um halb

zehn“, 42.

28 So spielt Böll an zwei Stellen auf die Tatsache an, dass die Nazis Hölderlin für ihre Zwecke instru-

mentalisiert haben. Ebd. 42, 161. Christine Hummel verweist auf Wolfgang Borcherts Das ist unser Manifest, in dem Hölderlin als „pars pro toto für die von den Nazis in Beschlag genommenen Klassiker“ einsteht. Christine Hummel, Intertextualität im Werk Heinrich Bölls (Schriftenreihe Literaturwissenschaft), Trier 2002, 150.

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lin-Referenz thematisiert also erneut das Verhalten zur kulturellen Tradition, diesmal auf dem Terrain der Autorschaft. Der Roman schlägt eine Revision des Hölderlinbildes vor, die ich im hermeneutischen Horizont des Romans nun analysieren möchte. Ich zitiere die siebte Strophe der Hymne Wie wenn am Feiertage in der Fassung von Frank Zinkernagel, aus der der Vers entnommen ist: Und daher trinken himmlisches Feuer jetzt Die Erdensöhne ohne Gefahr. Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen, Des Vaters Stral, ihn selbst, mit eigener Hand Zu fassen und dem Volk, ins Lied Gehüllt, die himmlische Gabe zu reichen. Denn sind nur reinen Herzens, Wie Kinder, wir, sind schuldlos unsere Hände, Des Vaters Stral, der reine, versengt nicht, Und tieferschüttert die Leiden des Stärkeren, die hochherstür[zen]den in unaufhaltsamen Stürmen, Mitleidend, bleibt das ewige Herz doch fest. 29

Hölderlins Gedicht thematisiert die Rolle der Dichter. Versammelt sind hier Motive und Metaphern, die der vates-Tradition zugeordnet werden können. Dabei nimmt das Gedicht in der dem Zitat vorangehenden Strophe auf ein mythisches Narrativ Bezug. Erinnert wird an die Liebesgeschichte zwischen Semele und Zeus, die aufgrund des Begehrens der Semele, ihren Liebhaber in seiner wirklichen Gestalt zu sehen, tödlich endet. Semele kann den Anblick des Zeus, der sich als Blitz zeigt, nicht ertragen. Wie Peter Szondi jedoch bemerkt, änderte Hölderlin die mythische Vorlage ab. Er verschweigt den Tod der Irdischen und feiert stattdessen ihre Tat, denn erst der Blitz des Zeus zeugt den heiligen Bacchus. 30 In diesem Kontext werden dann auch die ersten zwei oben zitierte Zeilen verständlich: Und daher trinken himmlisches Feuer jetzt / Die Erdensöhne ohne Gefahr. Bacchus bzw. Dionysos figuriert hier als Autorschaftsmodell. Der Gott des Weines und der Ekstase, selbst halb Mensch halb Gott, symbolisiert die dichterische Inspiration. Diese, so die anschließenden Zeilen, erfordert es, den Anblick der Wahrheit (anders als Semele) zu ertragen und als Mittler zwischen Göttern und Menschen, als Priester oder Prophet zu fungieren. Die fragmentarisch gebliebene Hymne stellt die emotionalen und nicht die epistemologischen Bedingungen der Wahrheitserkenntnis heraus. Das Herz

29 Friedrich Hölderlin, „Das himmlische Feuer“, in Sämtliche Werke und Briefe. Kritisch-historische

Ausgabe, Bd. 1, hg. v. Franz Zinkernagel, Leipzig 1922, 319–321, hier 321.

30 Peter Szondi, „Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichte des hymnischen Spätstils“, in Hölderlin

Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1967, 33–54, hier 36. Szondi bemerkt zudem, dass Hölderlin sich hinsichtlich des Semele-Stoffs auf Euripides’ Tragödie Die Bacchantinnen bezieht, in der es heißt, dass Semele vom Gewitterfeuer geschwängert worden sei. Vgl. ebd. 36.

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muss trotz der Leiden, die im Angesicht der Wahrheit entstehen, fest bleiben. 31 Von hier aus zeichnet sich ein Bezug zu Bölls Protagonist Robert Fähmel ab, dessen distanzierter Charakter einen Schutz gegen ein sich selbst verzehrendes Mitleiden bildet, das durch andere Romanfiguren verkörpert wird. Wichtiger noch als der Bezug zu den Figuren des Romans erscheint mir die Thematisierung von Autorschaft durch das Hölderlin-Zitat. In Bölls Roman ist allerdings nicht eine ewige Wahrheit zu erkennen, sondern eine gesellschaftliche Situation zu ertragen. Auf der Grundlage der im Roman geäußerten Kritik an der nationalistischen Fehlinterpretation Hölderlins generiert der Roman so ein vorbildliches Autorschaftsmodell, das in einen praktisch-politischen Kontext gestellt wird. Dass das Leiden an der Wahrheit, das Leiden an Deutschland, im Mittelpunkt steht, ist auch in der zeitgenössischen Rezeption bemerkt worden. So hat Marcel Reich-Ranicki in seiner Rezension von Billard um halb zehn dieses Moment herausgestellt: Dieses düstere und grausame Buch scheint öfter von alttestamentarischer Strenge als von neutestamentarischer Milde durchdrungen zu sein. Nicht zufällig wird immer wieder der Name Hölderlin genannt. Man muß bisweilen an den vorletzten Brief Hyperions an Bellarmin denken. Hier wie da wird dem Deutschen Bitteres aus liebenden Herzen gesagt. 32

Reich-Ranicki spielt hier auf die Leiden Hyperions an den Zuständen in Deutschland an, wie sie Hölderlin im berühmten Scheltbrief des Romansbeschreibt. Es ist ein hartes Wort und dennoch sag’ ichs, weil es Wahrheit ist, so leitet Hyperion seine Klage über die menschliche Entfremdung von den Göttern und den Zustand der Kunst in Deutschland ein und fährt fort: [I]ch kann kein Volk mir denken, daß zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen […]. 33 Gegen die nationalchauvinistische Deutung Hölderlins setzt Bölls Roman also den kritischen Dichter, der an den Zuständen in seiner Heimat leidet und seiner Nation ins Gewissen redet. Dies spiegelt sich in der Begrifflichkeit des Romans in der kategorialen Differenz von Lämmern und Hirten wider. 34 Hölderlin steht hier als Garant für das Hirtenamt ein und fungiert als Bestärkung, die eigene gesellschaftliche Marginalisierung, die damit einhergeht, zu ertragen. 35 31 Peter Szondi hat in einem Vergleich mit der Prosafassung des Gedichts zudem hervorgehoben, dass

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die Schuldlosigkeit des kindlichen Herzens die wahren Dichter auszeichnet. Hölderlin kontrastiere diese mit solchen, denen „von selbstgeschlagener Wunde“ das Herz blutet. Auch in der von Böll genutzten Fassung werden letztere als falsche Priester bezeichnet. Peter Szondi, „Der andere Pfeil“, 43. Marcel Reich-Ranicki, „Bitteres aus liebendem Herzen den Deutschen gesagt. Der neue Roman Heinrich Bölls ‚Billard um halb zehn‘, eine große Leistung unserer Jungen Literatur“, in Die Welt, 8.10.1959. Friedrich Hölderlin, „Hyperion“, in Sämtliche Werke, hg. v. Michael Knaupp/Dietrich E. Sattler (Frankfurter Ausgabe 11), Frankfurt a.M. 1982, 774. Wie an der folgenden Charakterisierung Robert Fähmels deutlich wird: Liest Hölderlin, hat nie vom Sakrament des Büffels gekostet, er ist von Adel, kein Lamm, sondern ein Hirte. Heinrich Böll, „Billard um halb zehn“, 151. Vgl. ebd. 216. Mit Kleist wird ein weiterer literarischer Außenseiter im Roman genannt. Vgl. ebd. 214.

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Hölderlins Autorschaft wird also in Billard um halb zehn in zweifacher Hinsicht hervorgehoben. Einerseits wird nahegelegt, dass der Nationaldichter der Nationalsozialisten in Wahrheit ein Außenseiter gewesen sei, der an den deutschen Zuständen litt, andererseits wird das epistemologische Pathos der vates-Tradition, die exklusive Rolle des Dichters im Angesicht der Wahrheit, deakzentuiert und stattdessen die emotionale Befähigung desselben betont. Bezogen ist das Pathos nicht mehr auf eine schwer zu erkennende Wahrheit, die einer prophetischen Gabe zu ihrer Sichtbarwerdung bedarf, sondern auf eine schwer zu ertragene Wahrheit, die Standfestigkeit und Leidensfähigkeit erfordert. Autorschaft wird so in einem praktisch-politischen Bezug zur Gesellschaft inszeniert. Als literaturhistorische Chiffren finden sich hierfür die Namen Hölderlin und Karl May im Roman. Ersterer als Beispiel für einen Wahrheitswillen, der die eigene Isolation erkennt und akzeptiert, letzterer für eine romantisierende Sicht auf die Gegenwart, die Abenteuer imaginiert, wo nur Schrecken zu finden sind. 36 Bölls Hölderlin wird somit zum Vorbild, der die Rolle als ‚Gewissen der Nation‘ antizipiert. Von einem Bezug des Autorschaftsmodells ‚Gewissen der Nation‘ zum vates-Konzept kann trotz der Anknüpfung an Hölderlin somit nur bedingt gesprochen werden. 37 Weder wird Autorschaft von Böll als epistemologische Herausforderung noch als Träger geschichtsphilosophischen Wissens inszeniert. Übernommen wird von Hölderlin allerdings eine Rhetorik des Leidens an der Wahrheit, die jedoch nicht allein der vates-Tradition entstammt.

5. Böll und die deutsche Geschichte Die intertextuellen Verweise auf Hölderlin in Billard um halb zehn sind im erinnerungstheoretischen Kontext in zweifacher Hinsicht signifikant. Einerseits erinnert der Roman an die historische Ausgrenzung eines Dichters, andererseits hebt er hervor, dass Erinnerungspraktiken ein Bild der Vergangenheit konstruieren, das, wie die nationalsozialistische Rezeption Hölderlins belegt, politischen Interessen geschuldet sein mag. Bölls Roman variiert dieses Thema jedoch nicht in postmoderner Manier, sondern korrigiert das nationalsozialistische Hölderlinbild, ohne die epistemologischen Bedingungen des eigenen Bezugs zur Vergangenheit zu reflektieren. Erinnerung wird in Bölls Roman zu einer ethischen Verpflichtung, die nicht nur durch die Hölderlin-Anspielungen auf die Autorschaftsfrage bezogen wird. Bewegt sich Böll damit in geschichtsphilosophischen Fahrwassern? Maßt er sich an, im Namen der Nation zu sprechen? Ich glaube, dass diese Fragen negativ beantwortet werden müssen. Auch wenn Böll insofern als universeller Intellektueller im Sinne Foucaults bezeichnet werden kann, als er im Namen der Gerechtigkeit zu sprechen beabsichtigt, so kann aus meinen Ausführun36 Vgl. ebd. 57. 37 Zu einer anderen Einschätzung kommen Hoffmann und Langer. Vgl. Torsten Hoffmann/Daniela

Langer, „Autor“, in Thomas Anz (Hg.), Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Bd. 1, Stuttgart 2007, 131–170.

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gen dennoch geschlussfolgert werden, dass er kein universelles Subjekt konstruiert, das, wie es die postmoderne Kritik vermutet, einer geschichtlichen Verwirklichung zustrebt, sondern die Pluralität der zeitgenössischen Bezüge auf die nationale Vergangenheit zur Darstellung bringt. Dass Böll hierbei klare Wertzuschreibungen vornimmt, steht dazu nicht im Widerspruch. Die Positionierung im politischen und religiösen Feld wird vielmehr zum integralen Bestandteil des eigenen Autorschaftskonzepts. Böll erhebt gerade keinen repräsentativen Anspruch, sondern zeichnet nicht nur in Billard um halb zehn eine bundesdeutsche Gegenwart, die die Vergangenheit verdrängt. Böll spricht daher auch nicht im Namen der Nation, wie es beispielsweise Thomas Mann tat, dessen Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte im Doktor Faustus deswegen zu Recht als „radikale Autobiografie“ bezeichnet worden ist. 38 Die deutsche Kulturtradition, aus der es für Autoren wie Thomas Mann kein Entrinnen gab, ist für Böll nur noch bedingt ein Anknüpfungspunkt für das eigene Autorschaftsverständnis. Das Hinterfragen der ästhetischen Kultur, die Frisch in der anfangs zitierten Passage kritisiert, war für die politisch engagierten Autorinnen und Autoren der Nachkriegszeit charakteristisch und erklärt sich aus einer doppelten Abgrenzung: einerseits gegen die Literatur des Exils und andererseits gegen die Innere Emigration, die in der Ästhetik ihre Nische fand. Böll konzentrierte sich hingegen auf die unmittelbar vergangene nationale Geschichte. Will man dieses Verhältnis konzeptualisieren, dann bietet sich nicht der vates-Begriff an, sondern eine Institution aus dem religiösen Leben der Gegenwart. Böll, so meine These, begriff das Verhältnis seiner Gegenwart zur nationalsozialistischen Vergangenheit analog zum Verhältnis von Sünde und Beichte. Was Böll im Hinblick auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft vermisste und als ‚Gewissen der Nation‘ anprangerte, war die fehlende Schuldanerkenntnis. Für eine Absolution ist diese jedoch unerlässlich. So sind Gegenwart und Vergangenheit in der Prosa Bölls, die von erfolgreichen und verweigerten Gewissenserforschungen berichtet, aufeinander bezogen. Stein des Anstoßes ist nicht allein die historische Schuld der Deutschen, sondern die zeitgenössische Ignoranz gegenüber dieser. Böll vollzieht hiermit eine oftmals nicht genügend beachtete Wende im Schulddiskurs. So heißt es in seinem Essay Hierzulande: Wenn es Ansätze von Kollektivschuld in diesem Land gäbe, dann von dem Augenblick an, wo mit der ‚Währungsreform‘ der Ausverkauf an Schmerz, Trauer und Erinnerung anfing. 39 Böll begreift in dieser Passage die Arbeitswut und Konsumorientierung seiner Zeitgenossen, die Mentalität des Wirtschaftswunders, scheinbar als eigentliche Schuld und es kann daher gefragt werden, ob eine solche Position den Genozid nicht verharmlose. 40 Ein solcher Vorwurf würde den Zusammenhang zwischen beiden 38 Eckhard Heftrich, „Doktor Faustus. Die radikale Autobiographie“, in Beatrix Bludau/Eckard Heftrich/

Helmut Koopmann (Hgg.), Thomas Mann 1875–1975, Frankfurt a.M. 1977, 13–31.

39 Heinrich Böll, „Hierzulande“, in Werke. 1959–1963, hg. v. Robert C. Conard (Kölner Ausgabe 12),

Köln 2008, 78–87, hier 87.

40 Böll vertritt diese These auch in einem anderen Essay: Unsere Kollektivschuld nahmen wir nicht am

30. Januar 1933 auf, nicht an einem der Daten bis zum 8. Mai 1945, eine Kollektivschuld gibt es erst seit den Tagen der Währungsreform, seit diesen Tagen stehen die Signale auf Grün für die Starken, immer auf Rot für die Schwachen, die den Dschungel nie durchqueren können. Heinrich Böll, „Wo

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Ereignissen jedoch negieren. Denn der Ausverkauf von Schmerz, Trauer und Erinnerung 41 verhindert Böll zufolge ja gerade eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Böll drängt zur Gewissenserforschung als Vorbereitung auf die Beichte, die durch eine ursprüngliche Schuld notwendig wurde. Die Hervorhebung einer zweiten Schuld erlaubt es Böll seiner Autorschaft eine funktionale Rolle im Diskurs der Nation zu sichern. Als Gewissenserforschungen sollen literarische Texte dabei helfen, Schuldanerkenntnis zu ermöglichen. Religiöse und politische Aspekte charakterisieren also sowohl Bölls Erinnerungspoetik als auch sein Autorschaftskonzept. Doch wie kann der Politikbegriff, der in der Metapher des ‚Gewissens der Nation‘ evoziert wird, näher bestimmt werden? Eine Passage aus Bölls Vorlesungen, die er 1964 im Rahmen der Frankfurter Poetikdozentur hielt, liefert Anhaltspunkte. Das folgende Zitat resümiert das Verhältnis von Literatur und Politik in der bundesdeutschen Nachkriegszeit: Es laufen zu viele Mörder frei und frech in diesem Land umher, viele, denen man nie einen Mord wird nachweisen können. Schuld, Reue, Buße, Einsicht sind nicht zu gesellschaftlichen Kategorien geworden, erst recht nicht zu politischen. 42

Hier sind die theologischen Implikationen des Böll’schen Politikverständnisses formuliert, die auch den Ort des Politischen in seiner Autorschaftskonzeption bestimmen. Böll bemängelt einen gesellschaftlichen Zustand, in dem religiöse Kategorien nicht zu politischen geworden sind, in dem das Politische nur die Oberfläche ist, die oberste, dünnste und auch verletzlichste von vielen Schichten. 43 Es ist diese Spannung zwischen einem theologisch grundierten Politikverständnis Bölls und der pragmatisch orientierten Bonner Politik, die Bölls Autorschaft generiert und die Bezeichnung ‚Gewissen der Nation‘ plausibilisiert. Böll inszeniert sich als gescheiteter Vollstrecker des unbedingten moralischen Imperativs der unmittelbaren Nachkriegszeit und trauert um die vergebenen Möglichkeiten einer wirklichen ‚Stunde Null‘. Wenn auch kontrafaktisch, so strickt Böll doch am Mythos von der ‚Stunde Null‘ mit. Gegen seine als restaurativ gebrandmarkte bundesrepublikanische Zeit setzt er die Zeitspanne zwischen 1945 und 1950, in der es ihm zufolge diese einmalige Situation der Gleichheit gab, daß, a posteriori betrachtet, alle Bewohner dieses Landes besitzlos waren. 44 Aus diesem Verständnis der ‚Stunde Null‘ entwickelt Böll ein theologisch inspiriertes Gesellschaftsverständnis, in dem das Apolitische zum höchst Politischen wird. Rückblickend auf 1945 konstatiert er: Wenn jemand um Brot bat, fragte man ihn nicht, ob er ein ehemaliger Nazi war oder Überlebender eines Lagers;

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ist dein Bruder?“ in Werke. 1956–1959, hg. v. Viktor Böll (Kölner Ausgabe 10), Köln 2005, 16–28, hier 27. Heinrich Böll, „Hierzulande“, 78–87, hier 87. Heinrich Böll, „Frankfurter Vorlesungen“, in Werke. 1963–1965, hg. v. Jochen Schubert (Kölner Ausgabe 14), Köln 2002, 139–201, hier 139 f. Ebd. 167. Heinrich Böll, „Frankfurter Vorlesungen“, 184.

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es sah so aus, als wäre Deutschland ausersehen, unpolitisch zu bleiben […]. 45 Böll spielt hier Gemeinschaft gegen Gesellschaft aus. Der Geist der Nächstenliebe, den Böll in seinen literarischen Texten mit Bibelstellen beschwört, wird in dieser Passage einer historischen Situation zugesprochen und so ein Neuanfang vorstellbar. Das Pathos des Unpolitischen zerrt von der Imagination einer Gemeinschaft, die es wohl nie gegeben hat und die auch notwendigerweise jeder gesellschaftlichen Neuordnung zum Opfer gefallen wäre. Die Absolutheit der gemeinschaftlichen Identifizierung widerspricht den Differenzen des Politischen. Sie evoziert jedoch das Pathos, das in der Metapher ‚Gewissen der Nation‘ offenbar wird. Mit Gemeindebildung, so muss man Schelsky vielleicht zugeben, hat Bölls Autorschaftsbegriff insofern schon zu tun.

45 Ebd.

Wolfgang Emmerich

Im Besitz der Wahrheit? Autorschaft im DDR-Sozialismus: Christa Wolf – Heiner Müller

1. Zu Ende der 50er-Jahre räsoniert der Komponist Hanns Eisler darüber, welcher Status den Künsten im Lande DDR, das er 1949 als überzeugter Marxist frei gewählt hatte, zukäme. Erkennbar mit schmerzlichem Bedauern zieht er Bilanz: […] die Säkularisierung, die Emanzipation der Kunst vom Religiösen, vom Mythos, ist ihre Verbürgerlichung oder ihre Modernisierung! – Das heißt, in dem Moment, wo die Kunst sich von ihrem praktischen Gebrauch abtrennt – der Ritus ist ja praktischer Gebrauch –, wird sie erst das, was wir modern als Kunst bezeichnen […]. Nun ging anscheinend ein Teil auch der Kunst der revolutionären Arbeiterklasse wieder auf die Urfunktion der Kunst zurück […]. So müssen wir sagen, daß wir doch in diesen Zeiten – auch der Bitterfelder Konferenz – zurückgehen, ich sage es ganz grausam, auf die Höhlenzeichnungen. – Wir brauchen Kartoffeln, also – eine Kartoffelkantate! – Wir brauchen bestimmte Produktionssteigerungen, also – Komponisten und Dichter, schreibt Lieder, Gesänge und Kantaten, um unsere Produktion zu steigern! […]. – Aber ist es nicht philosophisch gesprochen – eine ungeheure Zurücknahme der Säkularisierung? 1

Damit widerspricht Eisler schon früh der auch in der späteren Forschung lange verbreiteten Annahme, dass die DDR als durchgreifend säkularisierter Staat zu verstehen sei. Und er trifft den Nagel auf den Kopf. Denn indem die Parteiherrschaft der SED auf der totalen Planbarkeit wirtschaftlicher, sozialer und auch kultureller Prozesse aus dem Geist ihrer Ideologie beharrte, behinderte sie die Ausdifferenzierung autonomer Wertsphären, wie sie Max Weber als Merkmal moderner Gesellschaften beschrieben hat, in elementarer Weise. Zwar hatten einzelne Bereiche auch in der DDR – mitten in Europa und mitten im 20. Jahrhundert – ein gewisses Eigenleben. Es gab Modernisierungsinitiativen in einzelnen gesellschaftlichen Segmenten, gelegentlich auch auf dem Feld der Literatur. Aber gerade ihr wurde von Beginn an eine begründende und zentrale Funktion beim Aufbau 1 Hans Bunge, „Fragen Sie mehr über Brecht!“. Hanns Eisler im Gespräch, München 1970, 316 f.

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und bei der Ausgestaltung des Sozialismus zugewiesen. Als funktionalem Teilsystem im Gesamtsystem ‚sozialistische Gesellschaft‘ wurde ihr die Aufgabe gestellt, die Massen für den Sozialismus zu mobilisieren und mittels ihrer Vorbildhaltung ‚sozialistische Persönlichkeiten‘ heranbilden zu helfen. Wo der Status der Künste dergestalt ‚rituell‘ beschaffen ist und damit der ganze Prozess der Säkularisierung in Frage gestellt wird, ist auch Autorschaft elementar betroffen. ‚Autorschaft in der DDR‘ ist vorrangig geprägt durch ein autoritäres, wo nicht diktatorisches politisch-gesellschaftliches System von Institutionen, die einer gruppenspezifischen oder individuellen Ausgestaltung der Autorenrolle zunächst einmal wenig Raum lassen. DDR-Autoren sollten Erzieher des noch unmündigen Volkes, ‚Rädchen und Schräubchen‘ im Gesamtgetriebe des sozialistischen Staates (so Lenin), ja, sogar ‚Ingenieure der menschlichen Seele‘ (dies Stalins bekanntes Wort) sein. In literarhistorischer Perspektive lässt sich konstatieren – frappierend und heutzutage häufig nicht wahrgenommen –, dass sich die große Mehrheit der DDR-Schriftsteller lange freiwillig und emphatisch zu dieser Rollenvorgabe bekannte – auch und gerade die damals jüngeren Autoren ohne kommunistische Vergangenheit. Einer von ihnen, der 1922 geborene Günther Deicke, schrieb 1988 rückblickend auf die 50er- und 60er-Jahre: Ein westdeutscher Publizist nannte uns „Dichter im Dienst“, und wir wollten das tatsächlich auch sein. 2 Damit sprach Deicke, zumindest retrospektiv, für alle DDR-Schriftsteller aus der sog. Aufbaugeneration, die sich emphatisch und ohne Weisung von oben in diesem Sinne selbst stilisierten. Dabei konnte ihr Selbstverständnis literarischer Autorschaft sogar quasireligiöse oder sakrale Züge annehmen – und das in einem erklärtermaßen säkularen und agnostischen Staatswesen. Ein Teil des Lesepublikums griff dieses Rollenverständnis der Autoren späterhin dankbar bestätigend auf, bis hin zur Verehrung zumal einer einzelnen Autorin als Quasi-Ikone in den späten 70er- und 80er-Jahren; doch dazu später. Erst einmal stellt sich die interessante Frage, innerhalb welcher historischen Konstellation und aus welchen individuellen Beweggründen heraus dieses Selbstverständnis von Autorschaft entstehen konnte, ja, warum es sogar den dominanten Typus des DDR-Schriftstellers bis weit in die 60er-Jahre hinein ausmachte. Die entscheidenden Stichworte heißen ‚antifaschistisches Syndrom‘ und ‚konstitutionelle Systemnähe‘. Was ist damit gemeint? Nun, die meisten der in den 20er-Jahren geborenen Autoren hatten das NS-Regime und den Krieg als junge Männer und Frauen, manche noch als Kinder und Jugendliche, als Soldaten, SA-Leute, Hitlerjungen und BdM-Mädel erlebt, in der Regel als naiv Begeisterte oder als Mitläufer. Ihre Bekehrung erfuhren sie, sofern sie Soldaten gewesen waren, häufig in der Kriegsgefangenschaft oder dann zu Hause. Die Regel ist, dass ein Glaube, ein ‚totales‘ Weltbild durch einen neuen Glauben/ ein neues totalisierendes, geschlossenes Weltbild ersetzt wird, eben das des ideologischen Konglomerats Antifaschismus-Sowjetmarxismus. Bemerkenswert und folgenreich 2 Günther Deicke, „Die jungen Autoren der vierziger Jahre“, in Sinn und Form 39/3 (1987), 640–646,

hier 644. Deicke spielte damit auf das Buch Dichter im Dienst. Der sozialistische Realismus in der deutschen Literatur von Lothar Balluseck an, das zuerst in Wiesbaden 1956, erweitert 1963 erschien.

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ist der psychologische Mechanismus, der diesem Vorgang zugrunde liegt. Am Anfang stehen Verstörung, Scham, Erschütterung, Schuldbewusstsein und schlechtes Gewissen auf Seiten der ehemaligen Mitläufer des Nationalsozialismus – und ihnen gegenüber eine Sozialistische Einheitspartei (an ihrer Spitze antifaschistische Widerstandskämpfer und Exilierte, legitimiert durch entbehrungsreiche KZ- und Zuchthausaufenthalte oder den Verlust der Heimat), die die versöhnende Hand ausstreckt, Absolution erteilt und die ‚Überläufer‘ gleich noch handstreichartig zu „Siegern der Geschichte“ 3 erklärt. Am (vorläufigen) Ende dieses Prozesses steht die freiwillig-unfreiwillige Selbstbindung des reuigen Sünders an den Anti-Faschismus als das Gegenteil dessen, dem er einst verfallen war: des Faschismus, der auch Auschwitz hervorgebracht hat. Dergestalt waren viele Menschen gerade dieser Generation nur zu leicht für die DDR als emphatische Gegengründung zum verbrecherischen Dritten Reich zu gewinnen. Die SED musste erstaunlich wenig tun und in der Regel gar nicht repressiv werden, um die jungen Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der frühen DDR an ihren doppelten Gründungsmythos Antifaschismus/ Sozialismus zu binden und sie auf ihre Rolle als Volkserzieher und Verkünder des neuen Glaubensbekenntnisses, als Priester und Propheten der neuen säkularen Religion zu verpflichten. Auf der Basis der Bekennerschaft der Bekehrten, jetzt rechtmäßig Gläubigen erwuchs eine auctoritas, die es erlaubte, nicht nur für sich, sondern für alle Wohlmeinenden sprechen zu dürfen; damit auch der Auftrag, nach der erkannten Sinnleere und Amoral der NS-Zeit und nachfolgender emphatischer ‚Wandlung‘, stellvertretend für ein mitgläubiges Leserpublikum IM BESITZ DER WAHRHEIT zu sprechen 4 , den Blick in eine heilsgeschichtlich geladene Zukunft zu richten und noch nicht Bekehrte zu ‚missionieren‘. Man sieht, ich verwende bereits hier, zunächst hypothetisch, religiös konnotiertes Vokabular, um zum einen den unterstellten Veränderungsprozess psychologisch zu erfassen (Schuldbewusstsein, schlechtes Gewissen, reuige Sünder, Bekehrung, Glaube) und zum andern das neue Autorenselbstverständnis zu charakterisieren (Bekennerschaft, Verkündigung, Mission, Priester- und Prophetenrolle). Vor allem meine erste Fallskizze zu Christa Wolf wird versuchen, diese Konstellation sinnfällig zu machen. Komplexer ist der Fall Heiner Müller, in dessen Rollenverständnis als Schriftsteller einige der angedeuteten Momente hineinspielen, der aber vor allem von seinem explizit heilsgeschichtlichen, quasireligiösen Verständnis der marxistischen Geschichtsphilosophie her zu begreifen ist. Am Ende soll es unter der Signatur ‚Loyalitätsfalle‘ um die Krisen gehen, denen beide

3 „Wo sind wir zuhause?“ Gespräch [von Klaus Wagenbach] mit Stephan Hermlin, in Freibeuter.

Vierteljahreszeitschrift für Politik und Kultur 1/1 (1979), 47–55, hier 49 f.

4 Dies ist eine sprechende selbstironische Formulierung, die sich sowohl (zuerst und an prominenter

Stelle) in einem Gedicht Heiner Müllers vom Herbst 1989 findet, als auch in Christa Wolfs jüngstem Buch Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Vgl. Heiner Müller, „Fernsehen“, in Ders., Die Gedichte (Werke 1), Frankfurt a.M. 1998, 232 f., hier 232, und Christa Wolf, Stadt der Engel, Frankfurt a.M. 2010, 228 (hier nicht in Großschrift).

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Modelle von Autorschaft nicht nur im Verlauf von 40 Jahren DDR-Geschichte, sondern vor allem dann in der Wendezeit 1989/90 und danach ausgesetzt waren.

2. Der biographische Werdegang von Christa Wolf ist bekannt; so seien hier nur zwei, drei wichtige Momente hervorgehoben. Die Erzählung Blickwechsel – Keimzelle des Romans Kindheitsmuster – beschreibt eindrücklich den Moment des Erschreckens, des Erwachens, des Umkehrenwollens bei der Icherzählerin, einer bis dahin naiven Mitläuferin des Nationalsozialismus, nachdem ein KZ-Häftling ihr im Frühsommer 1945 mit Kopfschütteln die konsternierte Frage gestellt hat: Wo habt ihr bloß all die Jahre gelebt? 5 Christa Wolf will jetzt – 1945, 1946, 1947 – wissen, wo sie lebt, sie will nicht mehr nur blind glauben und handeln, sondern bewusst leben, mit Gründen – nach Maßgabe der antifaschistischen Vernunft und Moral. Mit zwanzig Jahren, 1949, tritt Christa Wolf in die SED ein, deren Mitglied sie für genau vierzig Jahre geblieben ist. Ihr späteres Bekenntnis, SED-Mitglied geworden zu sein, noch bevor sie auch nur eine Schrift von Marx oder Engels gelesen hatte, bestätigt, dass es vor allem emotionale Motive waren, die sie in die Partei haben eintreten lassen. In ihrem Kopf entsteht ein Bild manichäischer Entgegensetzung von gutem Sozialismus hier und bösem Imperialismus dort, wie an ihrem Verhalten in signifikanten Momenten der frühen DDR-Geschichte abzulesen ist. Sie selbst hat neuerdings in Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud sehr offenherzig darüber Rechenschaft abgelegt, so über ihr Erschrecken bei dem Ausbruch von Hass und Gewalt am 17. Juni 1953 in Leipzig und ihr trotziges (durchaus gefährliches) Bekenntnis zur Mitgliedschaft in der SED, deren Abzeichen sie für alle sichtbar am Revers trägt, schließlich ihre Erleichterung darüber (gemischt mit Entsetzen), als die Panzer fuhren; 6 so über ihren Wahlkampf für die kommunistische SEW in West-Berlin Mitte der 50er-Jahre, wofür die West-Berliner Polizei sie für eine Woche ins Gefängnis steckt. 7 Aus Wolfs literaturkritischen und -propagandistischen Texten der 50er-Jahre (da war sie zuerst beim Schriftstellerverband angestellt, dann Cheflektorin des FDJ-Verlags Neues Leben und Mitarbeiterin der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur) spricht der gleiche manichäische Geist. Ihr Denken und Handeln hat in diesem Jahrzehnt massiv dogmatische, von tiefer sozialistischer Gläubigkeit beseelte Züge – so weitgehend zuweilen, dass selbst in der Wolle gefärbte Altkommunisten vor Christa Wolfs ‚parteilicher Kritik‘ nicht sicher waren. 8 Zwischen 1951 und 1961 sind etwa 30 größere Kritiken zur 5 Vgl. Christa Wolf, „Blickwechsel“, in Dies., Gesammelte Erzählungen, Darmstadt/Neuwied 1980,

5–23, hier 23.

6 Christa Wolf, Stadt der Engel, 199. 7 Vgl. ebd. 220ff. 8 Vgl. zu Wolf als Literaturkritikerin in den 50er-Jahren vor allem zwei Aufsätze von Manfred Jäger:

„Die Literaturkritikerin Christa Wolf“, in Text + Kritik 46 (1975), 42–49, sowie Ders., „Rauschgift-

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DDR-Gegenwartsliteratur und Aufsätze zu ‚Prinzipienfragen‘ erschienen (fast alle diese Aufsätze hat sie nie wieder zum Nachdruck freigegeben). Für ein Jahrzehnt bleibt sie eine brave, gläubige Sozialistin. Dazu passt, dass sie sich noch 1959 vom Staatssicherheitsdienst anwerben lässt und bis 1962 ‚IM Margarete‘ ist. Diese Dienstleistung für die Stasi ist nichts als ein Ausdruck ihrer nahezu noch unbedingten Gläubigkeit. Sie habe, so hat sie rückblickend festgestellt, die jungen Männer vom MfS damals nicht weggeschickt, vielmehr mit ihnen geredet, weil ich sie noch nicht als ‚die‘ gesehen habe – als ihre Gegner oder gar Feinde. 9 So folgt sie voll und ganz der parteiamtlichen Auffassung, dass die Literatur volkserzieherisch und sozialpädagogisch zu wirken habe. Die Vorstellung der ästhetischen Moderne von der Autonomie der Kunst, ihrer wohl notwendigen Nicht-Volkstümlichkeit, ihrem Angesiedeltsein in einer eigenen gesellschaftlichen Wertsphäre, ist ihr damals völlig fremd. Die Verschränkung von Kunst und Politik hält sie für selbstverständlich und notwendig. Der für Christa Wolf von Anfang an charakteristische – und charakteristisch gebliebene – Glaube an den moralischen Auftrag jeglicher Literatur und Kunst führte nun freilich auch zu ersten Widersprüchen und Dissonanzen. Was man den tief moralischen Grundzug, den kaum je irritierbaren Ernst ihres Denkens, Lebens und Schreibens nennen kann – von Beginn an –, das erfüllt paradoxerweise eine Doppelfunktion. Wo die Autorin anfangs aus ihrem moralischen Selbstverständnis heraus das System emphatisch unterstützte, gerät sie aus demselben Antrieb heraus mehr und mehr in Gegensatz zu ihm. Aus ihren eigenen Moralbegriffen heraus beginnt sie, das zunächst Geglaubte zu negieren, zu falsifizieren. Eine für Christa Wolf biographisch besonders wichtige Station auf diesem schwierigen Weg ist das 11. Plenum des Zentralkomitees der SED im Dezember 1965. Christa Wolf, damals selbst Kandidatin des Zentralkomitees der SED und damit zweifellos eine Spitzenfunktionärin, war die einzige, die den Reden der versammelten Parteispitze, darunter Ulbricht und Honecker, vehement widersprach. Eine Passage aus ihrer teilweise improvisierten Rede belegt nicht nur ihren Mut, sondern auch die protestantisch-religiösen Momente ihres Selbstverständnisses von Autorschaft, die sich seither – und bis heute – immer klarer abzeichnen. Ihr Bezugspunkt ist das Fragment eines Romans des 1934 geborenen Werner Bräunig, betitelt Rummelplatz (erst 2008 vollständig veröffentlicht und vielfach besprochen) – eines Kollegen, der SED-Mitglied war und sich mit der DDR genauso vorbehaltlos identifizierte wie seine Unterstützerin Christa Wolf. Damals sagte sie: Ich bin an und für sich gar nicht für große Worte, aber ich möchte sagen, daß es mir heute angebracht erscheint [zu sagen], daß ich sehr froh bin, daß ich hier lebe und schreibe und daß ich in dem Schriftstellerverband bin, in dem Becher und Brecht gewesen sind und in dem heute Anna Seghers Präsidentin ist. […] Ich bin an einem Punkt in einem wirklichen Konflikt, den ich nicht lösen kann. Ich bin nicht einverstanden mit der kritischen Einschätzung des Auszugs aus dem Roman von Werner

Lektüre. Zu Christa Wolfs Literatur-Vorstellungen, nach dem Wiederlesen eines sehr alten Aufsatzes“, in Text + Kritik 46 (1994 [4. Aufl. Neufassung]), 35–47. 9 Christa Wolf, Stadt der Engel, 257.

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Bräunig in der NDL, weil ich glaube und weiß, daß Werner Bräunig dieses Buch nicht geschrieben hat, weil er im Westen verkauft werden will – das halte ich für eine haltlose Verdächtigung, die einem Schriftsteller gegenüber, der dafür keinerlei Handhabe geliefert hat, nicht angebracht ist – und weil es kein Wismutroman ist, obwohl er als das gilt. Er ist es wirklich nicht. Ich kenne eine frühe Fassung des ersten Teils. Darauf kann ich mich jetzt berufen. Aber ich kenne die Konzeption und weiß, daß es kein Wismutroman, sondern der Roman der Entwicklung eines jungen Menschen ist, der die tiefsten Tiefen durch die Hilfe der Partei überwindet und zu einem klaren Menschen wird, der heute ganz klar bei uns ist. Das hat Bräunig in seinem Brief selber geschrieben. Meiner Ansicht nach zeugen diese Auszüge in der NDL nicht von antisozialistischer Haltung, wie ihm vorgeworfen wird. In diesem Punkt kann ich mich nicht einverstanden erklären. Das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Ich glaube es nicht. Ich weiß, daß es nicht so ist, darum unter anderem spreche ich, weil es unehrlich wäre, wenn ich das verschweigen würde. Natürlich, es ist richtig, was gesagt wurde, daß die Kompliziertheit des Schreibens heute immer stärker wird. Es ist wirklich kompliziert, zu schreiben. Man darf nicht zulassen, daß dieses freie Verhältnis zum Stoff, das wir uns in den letzten Jahren durch einige Bücher, durch Diskussionen und durch bestimme Fortschritte unserer Ästhetik erworben haben, wieder verlorengeht. 10

Die mit anrührendem persönlichen Mut und moralischen Pathos vorgetragenen Sätze mit den leitmotivisch wiederkehrenden Wörtern aus dem Bedeutungsfeld von Gewissen, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, innerer Konflikt usw. indizieren, was man lange nicht ernst genug genommen hat: Die DDR war von ihrem konfessionellen Hintergrund her ein weitgehend homogen protestantisches Land, und das Verhalten vieler Sinnsuchender und gleichzeitig immer kritischer werdender Künstler und anderer Angehöriger der Intelligenzberufe speiste sich – wie immer unbewusst und ohne wirklichen Glauben – aus dem im Protestantismus aufbewahrten Kodex des Verhaltens und Handelns. Bekanntlich generierten nach Max Weber die neuen protestantischen Konfessionen, vor allem der Calvinismus, einen individuellen und hernach auch sozialen Verhaltenstyp, der durch innerweltliche Askese, selbstverantwortliche, sittliche Lebensführung, planmäßige Selbstkontrolle und generalisierte Reglementierung und Ordnung geprägt ist. Der einzelne Mensch hat sich im Hier und Jetzt, durch Arbeit, Pflichterfüllung und Askese zu bewähren – tut er das, dann lebt er auch gottgefällig und wird es im Jenseits guthaben. Der preußisch-deutsche Sozialismus à la DDR knüpfte unausgesprochen an solche protestantischen Traditionen an. Zwar offerierte er ein vollends säkularisiertes heilsgeschichtliches Telos (das Glück im Sozialismus, die Sinnerfüllung ganz ohne Gott), aber ansonsten konnte er sich die Ordnungsmomente sittlicher Lebensführung aus ursprünglich religiösen Antrieben bestens zunutze machen. Zwiespältig und am Ende gefährlich für einen reibungslos funktionierenden Sozialismus war in dieser Tradition der ‚Freiheit eines Christenmenschen‘ nur das Moment der unhintergehbaren Verantwortlichkeit des Einzelnen, die bei der (ja durchaus agnostischen) Christa Wolf in geradezu klassischer Weise wiederersteht: als ihr ‚Gewissen‘, dem sie nicht zuwiderhandeln kann. 11 Der moralische 10 Christa Wolf, „Diskussionsbeitrag“, in Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien

und Dokumente, hg. v. Günter Agde, Berlin 1991, 334, 341.

11 In einem Beitrag für die Wochenzeitung Die Zeit zu der Serie Mein Deutschland erinnert sich

die Autorin ihrer Rede von 1965 und kommentiert den ominösen ‚Gewissens-Satz‘ als einen, „der in

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Rigorismus, das radikale Ernstnehmen der subjektiven Verantwortlichkeit – beides hatte Christa Wolf bislang der Partei vorbehaltlos zur Verfügung gestellt und damit die SED eine Zeitlang stark gemacht – wendet sich jetzt, 1965, erstmals gegen die Partei. Die Autorin tut einen wichtigen Schritt der Emanzipation. Freilich, der wiederkehrende Satz Genossen, wir sind nicht parteifeindlich! belegt auch: Sie will diese wärmende, sinnstiftende, Vereinzelung verhindernde Gemeinschaft der Kirche namens Partei nicht aufgeben, noch lange nicht. Gleichwohl, die Verteidigung der künstlerischen Ausdrucksfreiheit und mit ihr die Eroberung eines „literarischen Kommunikationsraum[s] über zentrale politische Fragen, die in der offiziellen Sphäre verdrängt, tabuisiert oder unterdrückt werden“ 12 : Dies ist von da an für 25 Jahre Schreiben in der DDR tatsächlich Wolfs Maxime. Und das bedeutet, konsequent weitergedacht, natürlich die Forderung nach uneingeschränkter Autonomie im literarischen Feld, für die Wolf in den nachfolgenden Jahren wohl mit den größten Einsatz geleistet hat, wenn auch nie bis an den point of no return – einer Überschreitung der Staatsgrenze gen Westen – heran. Als untrügliches Kennzeichen ihrer personalen Inszenierung von Autorschaft darf (schon 1965) die Berufung auf ihr Gewissen und das unhintergehbare Prinzip der persönlichen Wahrhaftigkeit gelten (im Schreiben heißt die Maxime dann „subjektive Authentizität“ 13 ), das kein anderer deutschsprachiger Autor jemals so hartnäckig behauptet – und offenbar auch geglaubt – hat wie sie. Mit ihrem quasi lutherischen ‚Hier stehe ich, ich kann nicht anders‘ hat die Autorin einen personalen Habitus geprägt, der im literarischen Feld der DDR unter dem unumschränktem Geltungsanspruch der SED-Doxa enorm wirkungsvoll war. Aus einer Vielzahl von Berichten von Lesungen der Autorin (manche auch aus eigener Erfahrung in einer westdeutschen Großstadt) weiß man, dass und wie Christa Wolf mit dieser – ihr wohl nur teilbewussten – Strategie ihr Publikum im Osten wie im Westen in ihren Bann gezogen und zum Bundesgenossen gemacht hat. 14 Auch für das westdeutsche literarische Feld war dies in diesem Saal wohl noch nie geäußert worden war.“ Christa Wolf, „Jetzt musst du sprechen!“ in Die Zeit vom 2. April 2009, 19. Vgl. hierzu erhellend auch Ricarda Schmidt, „Religiöse Metaphorik im Werk Christa Wolfs“, in Ian Wallace (Hg.), Christa Wolf in Perspective, Amsterdam/Atlanta (Georgia) 1994, 73–106; Zum Thema ‚Gewissen‘ seit der Reformation umfassend Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a.M./Leipzig 1991. 12 Angela Borgwardt, Im Umgang mit der Macht. Herrschaft und Selbstbehauptung in einem autoritären System, Wiesbaden 2002, 389. 13 Vgl. Christa Wolf, „Subjektive Authentizität. Gespräch mit Hans Kaufmann [1974]“, in Dies., Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959–1985, Darmstadt/Neuwied 1987, 773–805, hier 781. 14 Vgl. z.B. sehr treffend Christoph Dieckmann: „Man spürte in ihrem Schreiben ein gleichsam lutherisches Grübeln über Existenz und moralisches Handeln – des Individuums, nicht einer Klasse, einer Partei. […] Ja, mitunter waltete ein semi-christliches Leidenspathos, das zum Leben und Bleiben in der DDR ermutigen konnte. […] Christa Wolf wurde als moralische Instanz in Anspruch genommen, auch als Klagemauer.“ Christoph Diekmann, „Lust am Leiden? Das hat gefehlt.“, in Therese Hörnigk (Hg.), sich aussetzen das Wort ergreifen. Texte und Bilder zum 80. Geburtstag von Christa Wolf , Göttingen 2009, 25 f.

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den 70er- und 80er-Jahren, als sie dort immer wieder lesen durfte, mehr als ein Farbtupfer – aber für die DDR waren Wolfs Lesungen Ereignisse mit Folgen. Sie wirkten regelrecht gemeindebildend. Das belegt schlagend ihr eigener Bericht von einer dieser Lesungen um das Jahr 1978, der sich in Was bleibt findet. Es handelt sich um die Wiedergabe einer an die Lesung anschließenden zutiefst ernsthaften, intensiven und friedlichen Diskussion unter den Zuhörern, in der es um aller Zukunft geht und an der die Autorin, zu ihrem eigenen Erstaunen, nicht einmal mehr Anteil hat: ein leuchtender Moment gelingender gemeinschaftlicher Verständigung, die eines autoritativen Anstoßes bedurfte, mehr aber auch nicht – ‚herrschaftsfreier Diskurs‘ als verwirklichte Utopie: Es fiel die entsetzliche Angewohnheit, für andere zu sprechen, jeder sprach sich selbst aus und wurde dadurch angreifbar […] Aber das Wunder geschah, keiner griff an. Ein Fieber erfaßte die meisten, als könnten sie es nie wieder gutmachen, wenn sie nicht sofort, bei dieser vielleicht letzten Gelegenheit, ihr Scherf lein beisteuerten für dieses merkwürdig nahe, immer wieder sich entziehende Zukunftswesen. Jemand sagte leise „Brüderlichkeit“. Wahnsinn, dachte ich. 15

Welcher westliche Autor möchte da nicht neidisch werden (wenn man einmal den Realitätsgehalt der geschilderten Episode unterstellt)! Die DDR, und wohl nur die DDR, ermöglichte und erzwang zugleich eine solche Stilisierung des Autors als Weisheitslehrer, der sich hier freilich, ganz anders als die Priester und Propheten früherer Zeitalter (das ist die quasi utopisch-kommunistische Pointe bei Wolf), zurücknehmen kann in die Rolle eines primus inter pares, wie sie der Protestantismus in der Vorstellung vom ‚Priestertum aller Gläubigen‘ vorgebildet hat. Man wird hier auch an Bourdieus für das literarische Feld leitenden Begriff der illusio denken können, „das kollektive Verhaftetsein mit dem Spiel, das zugleich Ursache und Wirkung der Existenz des Spiels ist.“ Dieser „stillschweigende Glauben“ an die „charismatische Ideologie des ‚schöpferischen Tuns‘“ 16 erhielt in der DDR eine ganz eigene Färbung. Es war die tief verinnerlichte Vorstellung seitens der Autoren zumal der Aufbaugeneration (die doch in ihren Anfängen ganz den Wünschen der Partei entsprach), durch das eigene Schreiben die Menschen aufklären und erziehen zu können; gegenüber der breiten Bevölkerung eine Mission zu haben, die von niemandem anders übernommen werden konnte. Und bezog sich dieser Erziehungsauftrag zunächst affirmativ auf den naiv und gläubig aufgenommenen Marxismus in seiner orthodoxen sowjetmarxistischen Form, so lernte man mehr und mehr, nicht nur einzelne Missstände, sondern die Grundübel im eigenen Lande wahrzunehmen, wodurch sich die ursprüngliche Affirmation gleitend – und nur im je einzelnen Fall analytisch abzuklären – zur Subversion hin verschob. Nahezu alle literarischen Texte, die Christa Wolf je verfasst hat, sind stark autobiographisch grundiert; manche von ihnen wie Juninachmittag, Nachdenken über Christa T., Kindheitsmuster, Störfall, Sommerstück, Was bleibt, Auf dem Weg nach Taboo und Leibhaftig ganz unverhüllt. Das am stärksten und explizit autobiographische Buch ist Ein 15 Christa Wolf, Was bleibt. Erzählung, Frankfurt a.M. 1990, 96. 16 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes Frankfurt a.M.

1999 [1 1992], 271.

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Tag im Jahr. 1960–2000 von 2003 17 , gleichsam ein Jahres-Tage-Buch mit jeweils einem Eintrag am 27. September eines Jahres. Die Autorin hat diese Texte in ihrem Vorwort als eine Übung gegen Realitätsblindheit 18 charakterisiert und mit dieser Selbsterklärung das Bekenntnis verbunden, sie habe das Bedürfnis, gekannt zu werden. 19 Wolfs viele Stationen umfassendes „Evolving Autobiographical Project“, wie Dennis Tate 20 es treffend nennt, mit ebendiesen programmatischen Intentionen hat nun im Jahre 2010 in Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud noch einmal eine Fortsetzung und Fokussierung erfahren, die alle hier skizzierten Aspekte zum Selbstverständnis der Autorin in frappierender Weise bündelt und damit den hier vorgetragenen Argumentationsgang bestätigt. Auch wenn die Erzählerin in einer Vorbemerkung den Abstand ihres Textes zu tatsächlichen Vorgängen (6) 21 markiert, ist doch der elementare lebensgeschichtliche Gehalt des Buches nicht zu übersehen. Es geht um die Auseinandersetzung der Autorin mit der sie zutiefst kränkenden Veröffentlichung ihrer sog. Täterakte ‚IM Margarete‘ beim Ministerium für Staatssicherheit durch die (west-)deutschen Medien zu Jahresbeginn 1993, als sie sich gerade als Stipendiatin des Getty Center in Los Angeles aufhält. Der Text gibt – wie ein Tagebuch in der Ich-Perspektive – Einblicke in die Bewusstseinsinhalte und die Gemütsverfassung der Verfasserin während dieser Monate, wobei die Erzählerin in der Wiederbelebung ihres autobiographischen Gedächtnisses tendenziell von der unmittelbaren Gegenwart zurückgeht (manchmal auch -springt) in die Jahre seit dem Ende der Nazizeit, um sich sodann Schritt für Schritt dieser Gegenwart wieder anzunähern – ein erkennbar schmerzhafter Prozess durch den eigenen Irrgang (108), der zeitweise bis an die Grenze dessen führt, was das erzählende Ich auszuhalten imstande ist. Der hier geübte Duktus der bohrenden lebensgeschichtlichen Selbstbefragung ist übrigens weder in puncto Erzählstrategie noch stilistisch neu (auch, wenn die Erzählerin das gelegentlich behauptet). Vielmehr ist er schon seit Kindheitsmuster (1976) vollständig eingeübt. Doch erstmals wird das neue Buch explizit und titelgebend auf den Vater der Psychoanalyse Sigmund Freud, seine Lehre und sein therapeutisches Verfahren hin perspektiviert. Dr. Freuds Overcoat steht, knapp gefasst, für zweierlei: zum einen für den zivilisatorischen oder auch ideologischen Mantel, der uns vermeintlich schützt und wärmt, aber auch verbirgt – und gleicherweise diszipliniert, wo nicht gar vergewaltigt; ein Mantel, den man von innen nach außen wenden muß. Damit das Innere sichtbar wird. (261) Darauf im Einzelnen einzugehen, ist hier nicht der Ort, und auch nicht dafür, das literarische Gelingen oder Misslingen dieses neuerlichen autobiographischen Schreibversuchs zu bewerten. Vielmehr sollen nur einige wenige Aspekte hervorgehoben werden, welche

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Christa Wolf, Ein Tag im Jahr. 1960–2000, München 2003. Ebd. 6. Ebd. 8. Dennis Tate, Shifting Perspectives. East German Autobiographical Narratives Before and After the End of the GDR, Rochester/NY 2007, 194. 21 Im Folgenden werden alle Belege aus Stadt der Engel nur als Seitenangabe in Klammern angegeben.

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die dichte Kontinuität mit der vorab herausgestellten Musterbildung von Autorschaft mit quasireligiösen Anteilen markieren. Da ist die mittlerweile gereifte Erkenntnis, dass der DDR-typische zweifache Gründungsmythos von Antifaschismus und Sozialismus eine Falle war – und zwar eine „Loyalitätsfalle“, wie es niemand besser als Wolfs eigene Tochter, die Psychoanalytikerin Annette Simon, herausgearbeitet hat. 22 War man einmal in diese Falle geraten, fiel es schwer, ihr wieder zu entkommen – denn wer wollte sich schon, bei aller Kritik an den Machthabern (die schwer fiel, weil diese tapfere Antifaschisten gewesen waren und gelitten hatten), aus dem Bunde der Antifaschisten (also der Guten) entfernen und die Fronten wechseln? So entstanden tief verankerte, lang anhaltende Bindungen, häufig bis zur Wende und noch über sie hinaus, wie z.B. der Ost-Berliner Aufruf ‚Für unser Land‘ ausweist, der noch am 28. November 1989, also Wochen nach der Maueröffnung, dazu aufrief, die DDR zu erhalten und eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln, denn, so heißt es weiter: Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen [!] und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind. 23 Stadt der Engel bestätigt den fatalen Zusammenhang zwischen dem Jahrzehnte alten Glauben an die Gründungsmythen und dem Klebenbleiben an ihrem ‚Ländchen‘ DDR im Prozess der Wende und über diesen hinaus. Da heißt es: Aber das war es doch, warum ich an dem kleineren Deutschland hing, ich hielt es für die legitime Nachfolge jenes Anderen Deutschland, das in den Zuchthäusern und Konzentrationslagern, in Spanien, in den verschiedenen Emigrationsländern, verfolgt und gequält, schrecklich dezimiert, doch widerstand. (347)

Damit verknüpft sich die Einsicht, als DDR-Autorin im Banne der heroischen Propaganda vom kommunistischen Widerstandskampf gegen die Nazis den Massenmord an den Juden zwar nicht ignoriert, aber doch von sich ferngehalten zu haben: Und wie lange haben wir gebraucht, „unser“ zu sagen, unser Verbrechen. Und wie lange haben wir, habe ich mich an Angebote geklammert, die versprachen, das ganz Andere zu sein, der reine Gegensatz zu diesen Verbrechen, eine menschengemäße Gesellschaft, Kommunismus. (81f.)

Dergestalt lebte man in naiven Zeiten, als man noch an Märchen glaubte (139). Und was über die Jahrzehnte blieb, wenn schon alles andere zerbrach, war DIE HOFFNUNG […], DIE ICH IMMER NOCH IN EINEM VOR MIR SELBST VERBORGENEN VERSTECK GEHEGT HATTE (289). Diese Hoffnung lieferte auch weiter, und zuverlässig, die Kraft dafür, die eigene Autorenrolle als die einer wegweisenden Aufklärerin zu definieren. Auch die religiös aufgeladenen Schlüsselwörter, die vorab als Wolfs Autorschaft prägende fokussiert wurden, spielen in dem neuen Buch eine auffällige, ja, leitmotivische Rolle: allen voran die Wörter Schuld (219), Schuldgefühle (94) und ohne Schuld leben 22 Annette Simon, „Antifaschismus als Loyalitätsfalle“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.

Februar 1993.

23 Für unser Land, zit. n. Christa Wolf, Im Dialog. Aktuelle Texte, Frankfurt a.M. 1990, 170 f., hier 171.

Wolfs Anteil an diesem Text dürfte groß sein, immerhin hat sie ihn in diese Sammlung eigener Texte aufgenommen.

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wollen (71, 243); sodann Glaube (99 und passim), neuer Glaube (215), Scham (110) und Reue (218) sowie zentral: Gewissen und seine Kompositabildungen (217f. und 380); Gewissen, das für die Autorin zu den kostbaren, unübersetzbaren Wörtern gehört, von denen es heißt: Das geht nur auf deutsch. (218) Zu dem quasireligiösen Duktus des Buches gehört auch, dass es den Charakter eines Bekenntnisses, wo nicht einer Beichte hat, die freilich immer wieder in (Selbst-)Rechtfertigung umschlägt. Der fiktive Freund der Ich-Erzählerin Peter Goodman nennt sie einmal beiläufig eine verkappte Calvinistin (286), was man in diesem Zusammenhang durchaus im Sinne Max Webers als Prägung eines bestimmten Habitus verstehen darf. Dabei spricht und schreibt hier fraglos keine konfessionelle Protestantin, vielmehr eine Ungläubige, die das auch anlässlich ihrer Teilnahme am Abendmahl – seit fünfzig Jahren das erste Mal, […] nämlich seit meiner Konfirmation (325) – explizit kundtut, nachdem sie schon an anderer Stelle von Gottesdienstbesuchen bald nach Kriegsende 1945 berichtet hatte, die nicht vorhielten (214). Doch das Beispiel Christa Wolf und ihrer Autorschaft über mehr als fünfzig Jahre hin bezeugt, dass auch eine Agnostikerin aus einem Fundus religiöser Muster schreiben kann – wenn denn der politische und ideologische Kontext, innerhalb dessen sie lebt, selbst quasireligiösen Charakter hat.

3. Heiner Müller (ebenfalls vom signifikanten Jahrgang 1929 wie Christa Wolf) ist wohl am stärksten von allen DDR-Autoren gleichzeitig Künstler und Intellektueller – und das auch in dem Sinne, der schon die großen, problematischen Intellektuellen der 20erund 30er-Jahre auszeichnete, zumal in Deutschland: als im Zustand „transzendentale[r] Obdachlosigkeit“ Befindliche (Georg Lukács’ treffender Ausdruck 24 ), als Nicht-Glauben-Könnende, dem Kältestrom der Moderne Ausgelieferte – und zugleich GlaubensSehnsüchtige. Der Intellektuelle, selbst eine Ausgeburt des Modernisierungsprozesses par excellence, erfährt als erster und am bewusstesten die Pathologie der Moderne als Sinn- und Heilsentzug. Folglich ist er auch der konstitutionelle Sinnsucher, der erste, der diese Entzugserfahrung zu kompensieren trachtet. Der moderne Intellektuelle (und mit ihm mancher literarische Autor in Personalunion) wird zum Sinnstifter und Heilslehrer auf der kalten, wüsten, von Gott verlassenen Stätte. Das große Beispiel, bereits mitten im 19. Jahrhundert, ist Karl Marx mit seinem materialistisch gewendeten heilsgeschichtlichen Entwurf eines Paradieses auf Erden, das die internationale Arbeiterklasse mittels der Weltrevolution herbeizuführen habe. Heiner Müller ist ein so faszinierter wie faszinierender Nachfahre dieses Modells, freilich nach NS-Regime und 2. Weltkrieg zu DDR-Zeiten nun nicht mehr im Sinne eines ungebrochenen Optimismus, sondern in einem Erfahrungs24 Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen

der großen Epik [1916/1920/1963], Darmstadt 1965, 35.

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raum, in dem der internationale Kommunismus eher schon einem Kadaver glich, mit Durs Grünbein zu sprechen, ein[em] Skelett, abgenagt bis auf den vorletzten Fleischfetzen. 25 Nachdem Heiner Müller schon als 17-, 18jähriger Nietzsche und Kafka und Ernst Jünger gelesen hatte (als Zeugnisse einer heillosen Moderne, wie er sie gerade in Nazidiktatur, Krieg und Nachkrieg am eigenen Leibe erfuhr), wählte er als seinen eigentlichen Lehrer Bertolt Brecht (und hinter diesem Marx) – und mit diesen beiden eine teleologischeschatologische Geschichtsauffassung, die die schmerzhaft empfundene transzendentale Obdachlosigkeit überwindbar erscheinen ließ. Müller glaubte nicht naiv und vorbehaltlos an den antifaschistisch-sozialistischen Gründungsmythos der SBZ/DDR wie Christa Wolf und viele andere junge Autoren, aber er suchte und fand in den 50er-Jahren aller stets wiederkehrenden Skepsis zum Trotz seine Mission, sein Selbstverständnis von Autorschaft im Bündnis mit der Arbeiterklasse – und darin war er radikaler als die meisten seiner Kollegen. Ein frühes Zeugnis ist dafür der vor 1959 geschriebene Text Orpheus gepflügt: Orpheus der Sänger war ein Mann der nicht warten konnte. Nachdem er seine Frau verloren hatte, durch zu frühen Beischlaf nach dem Kindbett oder durch verbotnen Blick beim Aufstieg aus der Unterwelt nach ihrer Befreiung aus dem Tod durch seinen Gesang, so daß sie in den Staub zurückfiel bevor sie neu im Fleisch war, erfand er die Knabenliebe, die das Kindbett spart und dem Tod näher ist als die Liebe zu Weibern. Die Verschmähten jagten ihn: mit Waffen ihrer Leiber Ästen Steinen. Aber das Lied schont den Sänger: was er besungen hatte, konnte seine Haut nicht ritzen. Bauern, durch den Jagdlärm aufgeschreckt, rannten von ihren Pflügen weg, für die kein Platz gewesen war in seinem Lied. So war sein Platz unter den Pflügen. 26

Der Text reflektiert zum Schluss hin die Rolle des Dichter-Sängers in den Klassenkämpfen (Müller angemessen marxistisch gesprochen). In einer kühnen Zuspitzung deutet Müller Orpheus’ Tod, von dem uns Ovid in den Metamorphosen zu Anfang des XI. Buches ausführlich berichtet, neu, indem er genauer fragt, was denn Orpheus verletzen und schließlich töten konnte und was nicht. Die Mänaden können ihm mit den Steinen, Erdschollen und Ästen (Thyrsoslanzen), die sie als Waffen einsetzen, nichts anhaben. Denn all dem hatte Orpheus’ Lied gegolten, und was er besungen hatte, konnte seine Haut nicht ritzen. 27 Es blieb gleichsam mit ihm solidarisch. Erst mit den von den fliehenden Bauern zurückgelassenen Ackergeräten – Pflugscharen, Hacken und Spaten – gelingt es den rasenden Mänaden, die Stiere und dann Orpheus selbst umzubringen – mit dem also, so denkt Müller Ovid auf seine Weise zu Ende, für das kein Platz gewesen war in seinem Lied. Der Umkehrschluss würde lauten: Hätte der Dichter die Pflüger und ihr Arbeitsgerät besungen, wäre ihm auch deren Solidarität und Schutz zuteil gewor25 Durs Grünbein, „Bogen und Leier“, in Heiner Müller, Ende der Handschrift. Gedichte. Ausgewählt

und mit einem Nachwort versehen von D. G., Frankfurt a.M. 2000, 100.

26 Heiner Müller, „Orpheus gepflügt“, in Ders., „Der Schrecken die erste Erscheinung des Neuen. Zu

einer Diskussion über Postmodernismus in New York“, in Ders., Rotwelsch, Berlin (West) 1982, 94–98, hier 94. Unveränderter Nachdruck in Ders., Die Gedichte (Werke 1), 49. 27 Vgl. Ovid, Metamorphosen, Buch XI, Vers 1–57. Meines Erachtens stilisiert Müller einen Kontrast zwischen untauglichen (weil besungenen) Waffen und tauglichen (weil nicht besungenen), der so in Ovids Text nicht gegeben ist; vgl. vor allem Vers 18 f.

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den; er wäre ganz und gar unverwundbar, ja: unsterblich geworden. Der marxistische Schriftsteller Heiner Müller begründet so im uralten Orpheus-Mythos eine forciert neue Funktionsbestimmung sozialistischer Autorschaft. Die poetische Produktion rechtfertigt sich aktuell durchs Bündnis mit der Arbeiterklasse, konkret: durch ihre Auseinandersetzung mit der materiellen Produktion und deren Träger, dem Proletariat. Diese Art der individuellen Zurücknahme der Autorenrolle wird man – im Gegensatz zu Christa Wolfs Selbstverständnis – als eine sehr besondere Version von „schwacher Autorschaft“ bezeichnen können. 28 Der merkwürdigen Legitimation der eigenen Autorschaft aus dem Mythos entsprechen Müllers dramatische Texte zumindest in dem Jahrzehnt zwischen 1955 und 1965 nun auch tatsächlich. Der Autor verfasst sogenannte Brigade- oder Produktionsstücke – Der Lohndrücker, Die Korrektur, Traktor, Die Umsiedlerin und Der Bau –; er nimmt also explizit ‚die Pflüger‘ in sein Lied hinein. Er tut das radikal kritisch gegenüber dem Status quo dessen, was Sozialismus in der DDR ist (die SED-Funktionäre meinen: defätistisch und staatsfeindlich), so dass er ab 1961 für vier volle Jahre einem strikten Berufsverbot unterworfen wird. Paradoxerweise stehen alle diese Stücke gleichzeitig in der Perspektive marxistischer Eschatologie. Die 60er- und 70er-Jahre sind für Müller Jahre extremer Ernüchterung bis hart an die Grenze des Zerfalls seiner sozialistischen Heilserwartung. Er schreibt deutsche Greuelmärchen und Dekonstruktionen antiker Mythen und Vorlagen, die obsessiv das Gewaltförmige und Heillose der bisherigen Menschheitsgeschichte ausstellen. Dementsprechend korrigiert er sein Autorselbstverständnis radikal. Demonstrativ stellt er sich im Stück Hamletmaschine von 1977 als ein Autorsubjekt dar, das aus der Geschichte ausgetreten und gescheitert ist und sich deshalb selbst durchstreicht, besiegelt durch die Zerreißung der Fotografie des Autors auf offener Bühne. 29 Am Ende derselben vierten Szene PEST IN BUDA SCHLACHT UM GRÖNLAND heißt es von der Hamlet-Autor-Figur: Tritt in die Rüstung, spaltet mit dem Beil die Köpfe von Marx Lenin Mao. Schnee Eiszeit. 30 Damit sind die Autoritäten gewaltsam zu Tode gebracht, die diesem Stückeschreiber seine auctoritas verliehen hatten. Dieser Autor will nicht mehr nur ein ‚schwacher‘, dem Proletariat dienender Autor sein – seine Autorschaft soll radikal aufhören. In der Collage Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei von 1976 heißt es dann, gesprochen mit der Stimme des genau 200 Jahre älteren Lessing: 30 Jahre lang habe ich versucht, mit Worten mich aus dem Abgrund zu halten, brustkrank vom Staub der Archive und von der Asche, die aus den Büchern weht, gewürgt von meinem wachsenden Ekel an der Literatur, verbrannt von meiner immer heftigeren Sehnsucht nach Schweigen. Ich habe die Taubstummen um ihre Stille beneidet im Geschwätz der Akademien. Und in den Betten der vielen 28 Vgl. die allerdings in eine andere Richtung gehenden Vorschläge zur Begriffsbestimmung bei Britta

Hermann, „‚So könnte dies ja am Ende ohne mein Wissen und Glauben Poesie sein?‘ Über ‚schwache‘ und ‚starke‘ Autorschaften“, in Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen. DFG-Symposion 2001, Stuttgart/Weimar 2002, 479–500. 29 Heiner Müller, Hamletmaschine, in Ders., Die Stücke (Werke 4), Frankfurt a.M. 2001, 552. Vgl. dazu auch den Beitrag von Martina Wagner-Egelhaaf in diesem Band, 347–363. 30 Heiner Müller, Hamletmaschine, 553.

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Frauen, die ich nicht geliebt habe, um ihren lautlosen Beischlaf. Ich fange an, meinen Text zu vergessen. Ich bin ein Sieb. Immer mehr Worte fallen hindurch […]. 31

Umso frappierender ist, wie sich, sehr bald nachdem Gorbatschow an die Macht gekommen ist, Heiner Müller wieder auf sein politisch-operatives Autorselbstverständnis rückbesinnt, indem er behauptet (in einem Interview von 1985), dass der Moment gekommen sei, wo wieder gelernt werden kann, wieder gelernt werden muß. 32 Dieses Lernen meint er durchaus noch und wieder im Sinne von Brechts Lehrstücktheorie um 1930, partiell auch im Sinne seiner Autoritäten der marxistischen Geschichtsphilosophie aus den 50er- und 60er-Jahren, auch wenn ihn seine eigenen Gesammelten Irrtümer gerade aus der Frühzeit der DDR, geschrieben IM BESITZ DER WAHRHEIT, zutiefst erschreckten. 33 In der Wendezeit und bis zu seinem Tod Ende des Jahres 1995 engagiert Müller sich dann in beispielloser Weise für den Erhalt zweier kultureller Institutionen der untergegangenen DDR: der Akademie der Künste (deren erster Präsident er nach der Vereinigung mit der West-Berliner Akademie wird) und des Berliner Ensembles. Doch er erlebt den Vereinigungsprozess auf allen Ebenen als Übernahme der DDR durch die kapitalistische Bundesrepublik, was ihn mit Widerwillen, ja Ekel erfüllt und einen regelrechten writer’s bloc erzeugt, wovon das Langgedicht Mommsens Block zeugt. Als er einige Lemuren des Kapitals, Wechsler und Händler am Nebentisch speisen sieht und ihrem Gespräch zuhört, gierig / Nach Futter für meinen Ekel am Heute und Hier 34 , notiert er: […] Tierlaute Wer wollte das aufschreiben Mit Leidenschaft Haß lohnt nicht Verachtung läuft leer Verstand ich zum erstenmal Ihre Schreibhemmung Genosse Professor vor der römischen Kaiserzeit Der bekanntlich glücklichen unter Nero Wissend der ungeschriebne Text ist eine Wunde Aus der das Blut geht das kein Nachruhm stillt Und die klaffende Lücke in Ihrem Geschichtswerk War ein Schmerz in meinem wie lange noch atmenden Körper […] 35 31 Heiner Müller, Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei, in Ders., Die

32 33 34 35

Stücke 2 (Werke 4), Frankfurt a.M. 2001, 534. Freilich darf man nicht verkennen, wie stark Müllers Positionsbestimmungen von Autorschaft situationsabhängig sind. Sie folgen nicht einer schlichten Chronologie. So zitiert er z.B. seinen eigenen alten Text Orpheus gepflügt, und zwar tendenziell affirmativ, in einer Rede, die er für eine Symposium über Postmodernismus in New York im Jahre 1978 geschrieben (aber nicht dort gehalten) hat – also zeitlich nach Hamletmaschine und Leben Gundlings. Heiner Müller, „Gespräch mit Gregor Edelmann“, in Ders., Gesammelte Irrtümer, Frankfurt a.M. 1986, 189. Vgl. das bereits zitierte Gedicht von Heiner Müller „Fernsehen“, in Ders., Die Gedichte (Werke 1), Frankfurt a.M. 1998, 232. Heiner Müller, „Mommsens Block“, in Ders., Die Gedichte (Werke 1), Frankfurt a.M. 1998, 257–263, hier 262. Ebd. 263.

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Damit ist Müllers neuerliches Glaubenwollen der Jahre zwischen 1985 und 1990, sein zweiter Versuch, gleichsam im Gefolge Walter Benjamins die Puppe, die man historischen Materialismus nennt, mit theologischem Sinn aufzuladen (wie Benjamin das bereits getan hatte 36 ), ein weiteres Mal zusammengebrochen; und dieser Zusammenbruch ist noch desaströser als derjenige, der sich in Hamletmaschine oder Leben Gundlings manifestiert. Von Beginn an waren Müllers Texte, ob Theaterstücke, Prosa oder Gedichte (und später die zahllosen Gespräche) gleichsam Container, die auch immer schon autobiographische Mitteilungen enthielten. Jede noch so fragmentarische Äußerung wurde zum Paragraphen einer gleichzeitig privaten wie geschichtsphilosophischen Konfession, wie Durs Grünbein treffend bemerkt hat. 37 In den letzten fünf, sechs Lebensjahren, nach dem Untergang der DDR als schreckliche[m] Damaskus-Erlebnis 38 , als die großen Gegenentwürfe in Trümmern lagen […], war ihm nurmehr die Einzelzelle geblieben, das Gedicht mit seiner gefährlich hohlen Akustik, dieser narzißtische Echoraum 39 , in dem Müllers quasitheologisches Projekt eines wahren Kommunismus nur noch gelegentlich schwach aufscheint. Ansonsten: Schweigen / Das der Protagonist meiner Zukunft ist, wie eines der letzten Gedichte, sprechend Ende der Handschrift betitelt, festhält. 40

4. Die Geschichte von Autorschaft in der DDR ist, zumindest zu Teilen, die Geschichte von modernen Individuen, die aus allen traditionellen Glaubensformen und -inhalten komplett herausgefallen sind, aber gleichwohl als Sinnbedürftige, Glaubenwollende und Bekehrte in der Kontinuität sowohl religiöser Deutungsmuster, als auch sakraler Habitusformen in ihrer Präsentation als Autoren stehen. Einige der wichtigsten Schriftsteller gerade der sog. Aufbaugeneration entdecken im Lauf der 60er-, spätestens der frühen 70er-Jahre, dass sie, noch einmal mit Annette Simon zu sprechen, in einer „Loyalitätsfalle“ gefangen sind und ihre von früh an leitende Annahme, im Besitz der Wahrheit zu sein, nicht haltbar ist. Sie wollen sich immer noch zum Antifaschismus als der Gründungsurkunde der DDR bekennen und Sozialisten bleiben – und müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Funktionärsschicht durch repressiv-diktatorische Maßnahmen von Staats wegen ihre eigenen biographischen Anfänge (im antifaschistischen Widerstand, in den Konzentrationslagern der Nazis oder im Exil) Lügen straft. Es braucht Zeit, bei den meisten Jahrzehnte, bis sie sich aus dieser Bindungsfalle 36 Vgl. Walter Benjamin, „Geschichtsphilosophische Thesen“ [= „Über den Begriff der Geschichte“,

37 38 39 40

1940], in Ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften, hg. v. Siegfried Unseld, Frankfurt a.M. 1955, 268–279, hier 268. Durs Grünbein, „Bogen und Leier“, 108. Ebd. Ebd. 109. Heiner Müller, „Ende der Handschrift“, in Ders., Die Gedichte (Werke 1), Frankfurt a.M. 1998, 322.

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befreien und damit auch ihre emphatische, gläubig-missionarische Autorenrolle aufgeben. Reste davon bleiben oder hallen zumindest nach, wie das Beispiel von Christa Wolf zeigt. Heiner Müller hat diese von den meisten seiner Kollegen gewollte Autorrolle zwar nie so ungebrochen angenommen, vielmehr, dem Brecht der Lehrstück-Zeit nahe, von der Möglichkeit der Rücknahme personalisierter bürgerlicher Autorschaft geträumt. Aber dafür war bei ihm die eschatologische Sehnsucht, der ‚Kadaver‘ Kommunismus möge doch noch zum Leben zu erwecken sein, umso ausgeprägter. Während für die aus protestantischem Milieu stammende Christa Wolf die Kategorien ‚Schuld‘, ‚Gewissen‘ und ‚Bekenntnis‘ zentral sind, erscheint Heiner Müller zunächst als agnostischer Autor par excellence – und entpuppt sich bei näherem Hinsehen als besonders stark von heilsgeschichtlichem Denken geprägter Dichter. Dabei changiert die Autorschaft beider Autoren, gewollt oder nicht, zwischen den Extremen ‚Repräsentant‘ und ‚Märtyrer‘.

Martina Wagner-Egelhaaf

Ikonoklasmus Autorschaft und Bilderstreit

In Heiner Müllers Dramolett Die Hamletmaschine aus dem Jahr 1977 tritt Hamlet als „Hamletdarsteller“ 1 auf. Er stellt sich gleichsam neben seine Rolle und zertrümmert ihr ganzes dramatisch-ästhetisches Bezugssystem: Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr. Meine Worte haben mir nichts mehr zu sagen. Meine Gedanken saugen den Bildern das Blut aus. Mein Drama findet nicht mehr statt. 2 Die Hamletfigur, häufig als Urbild des reflektierenden Intellektuellen interpretiert, repräsentiert bei Müller den desillusionierten Künstler in der sozialistischen Gesellschaft, der keine Möglichkeiten mehr für sich und seine Arbeit sieht. 3 Im 4. Bild des nur neun Seiten und fünf Bilder umfassenden, episodischen Stücks stößt man unvermittelt auf zwei irritierende Regieanweisungen. Der Hamletdarsteller sagt: […] In der Einsamkeit der Flughäfen Atme ich auf Ich bin Ein Privilegierter Mein Ekel Ist ein Privileg Beschirmt mit Mauer Stacheldraht Gefängnis Fotografie des Autors. Ich will nicht mehr essen trinken atmen eine Frau lieben einen Mann ein Kind ein Tier. Ich will nicht mehr sterben. Ich will nicht mehr töten. Zerreißung der Fotografie des Autors 4

1 2 3 4

Heiner Müller, „Die Hamletmaschine“, in Ders., Mauser, Berlin 1978, 89–97, hier 93. Ebd. Vgl. ebd. 97. Ebd. 96.

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Welchem Autor dieser ikonoklastische Akt gilt, verrät der Text nicht. Geht es um die Instanz des Autors generell oder um einen bestimmten Autor? 5 Da es von William Shakespeare keine Fotografien gibt, ist dann vielleicht die Fotografie des Autors Heiner Müller gemeint? Dieser Gedanke legt sich zumindest deshalb nahe, weil die in der zitierten Passage dargestellte Situation sehr genau derjenigen Müllers zum Zeitpunkt der Entstehung des Stücks entspricht. Aber doch steht in diesem Fall der individuelle Autor auch für die Instanz des Autors. Die politisch-kritische Lektüre, die in der Zerstörung des Autorbildes die Unmöglichkeit von Autorschaft in der Diktatur liest, verbindet sich in Müllers Hamletmaschine mit einer postdramatischen Verabschiedung der überkommenen ästhetischen Kategorien von Schauspiel, Rolle, Handlung und eben auch von Autorschaft. 6 Die im Stück geübte politische Kritik weist einen generellen, nicht nur die Situation in der DDR betreffenden zeitdiagnostischen Index auf, insofern als die Position des Subjekts und mithin auch das Konzept von Autorschaft in der Postmoderne eine grundsätzliche Infragestellung erfahren haben. Der 1943 geborene Schriftsteller Wilhelm Genazino kommt in seinem Essay Das Bild des Autors ist der Roman des Lesers aus dem Jahr 1994 auf die Zerreißung des Autorbildes in Müllers Hamletmaschine zurück. Und zwar bezieht er sich auf eine nicht näher bezeichnete Inszenierung des Stücks, in der sich der Hamletdarsteller – in einem auf der Bühne aufgestellten Fernsehapparat – ein Foto des Autors Heiner Müller vor das Gesicht hält und […] dieses Foto anschließend selber zerstört. 7 Für Genazino zeigt sich in dieser Szene ein grundsätzliches Problem: Die Zerreißung der Fotografie des Autors ist, so argumentiert er, ein hochtheatralischer Akt, der noch in der Negation des Bildes die Selbstdarstellung des Autors ermögliche. Genazino zieht hier eine Verbindungslinie zu Michel Foucaults für die neuere Autorschaftsdebatte zentralem Essay Was ist ein Autor?, in dem Foucault den Gedanken formuliert, dass das Werk, das einmal die Aufgabe hatte, unsterblich zu machen – hier wird auf das Modell vom Autor als Genie und quasi göttlichem Schöpfer angespielt – heute, also im Jahr 1969, das Recht erhalten habe, seinen Autor umzubringen. Das Schreiben, so lautet das etwas pathetische Argument des französischen Philosophen und Diskurstheoretikers, ist an das Opfer des Lebens gebunden, das in den Büchern nicht dargestellt werden soll, da es im Leben des Schriftstellers selbst sich vollzieht. Gemeint ist der Rückzug von Autoren wie Gustave Flaubert, Marcel Proust und Franz Kafka aus dem Leben um ihres Werks willen, der dazu führt, so Foucault, dass der Schriftsteller als Abwesender im Schreib-Spiel die Rolle des Toten zu übernehmen habe. 8

5 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, „Auf der Intensivstation. Oder: Die Autormaschine. Zu John von

Düffels Missing Müller (Müllermaschine) (1977)“, in Martin Hellmold [u.a.] (Hgg.), Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst, München 2003, 195–211, hier 207f. 6 In diesem Sinn hat Norbert Eke das Stück als „Absage an eine zunehmend vom Verlust ihres Sinnzentrums bedrohte ästhetische Praxis sowie die Rolle des ‚wissenden‘ und vorplanenden Autors“ interpretiert. Vgl. Norbert Eke, Heiner Müller. Apokalypse und Utopie, Paderborn 1989, 100. 7 Wilhelm Genazino, Das Bild des Autors ist der Roman des Lesers, Münster 1994, 35.

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Der tote Autor stellt nach Foucault, anders als Roland Barthes den ‚Tod des Autors‘ verstanden wissen wollte, die implizite Figur des zeichenhaft verfassten Texts dar. Will sagen: Der vorliegende manifeste Text ist gleichsam die Signatur des Autors, der sich um seines Textes willen aus dem Leben zurückgezogen hat und also ‚gestorben‘ ist, um seinem Text zum Leben zu verhelfen bzw. selbst in seinem Text als (gesellschaftlich) Toter weiterzuleben. Roland Barthes hatte in seinem Der Tod des Autors betitelten Essay aus dem Jahr 1968 mit der wirkungsvollen Metapher vom Tod des Autors, die rasch zum viel zitierten Schlagwort wurde, die Ablösung der Kategorie des ‚Autors‘ durch die des ‚Textes‘ als Bezugsgröße für die Auseinandersetzung mit literarischen Texten beschrieben. Im Text kreuzen sich nach Barthes die Linien des kulturellen Archivs, dessen Agent der zum Schreiber degradierte Autor wird. In der Debatte über den ‚Tod des Autors‘ werden Barthes und Foucault meist in einem Atemzug genannt, die konzeptionellen Unterschiede zwischen ihren je verschiedenen Begründungen für das ‚Sterben‘ des Autors finden in der Regel keine Berücksichtigung. Im Anschluss an Foucault entwickelt Genazino in sieben Schritten eine Dialektik des Autoren-Fotos. Sie lauten folgendermaßen: 1. Der Autor opfert, indem er schreibt, langsam sein Leben hin. 2. Die Selbstopferung fließt als Thema nicht (oder nur marginal) in das Werk ein. 3. Das Werk wird damit zu einer Entschuldigung für die Entfernung des Autors von den anderen Menschen, für seine Abwesenheit. 4. Die Abwesenheit und der Drang, sich für sie entschuldigen zu wollen, nötigt den Autor zur Selbstdarstellung, zur Selbstabbildung. 5. Das immerzu sich entschuldigende Abbild übernimmt die Funktion der Stellvertretung. 6. Durch seine fortdauernde Wiederkehr wird das Bild mehr und mehr zum Beleg für das Verschwinden des Autors, obwohl 7. gerade durch das Bild der Schein der Anwesenheit simuliert wird. 9

Dem Bildnis des Autors kommt also eine doppelte Funktion zu: Zum einen substituiert es den abwesenden, sich um seines Werkes willen aus dem Leben zurückziehenden Autor, zum anderen bezeichnet es gerade seine Abwesenheit. Oder nochmals anders gesagt: Die mediale Reproduktion des Autor-Bildes wird zum Beleg für die Abwesenheit des Autors, obwohl das Bild bzw. die vielen Bilder, die von einem Autor zirkulieren, den Schein der Anwesenheit simulieren. 10 Die Begriffe und Kategorien, die in dieser Debatte zum Einsatz kommen – ‚Opfer‘, ‚Anwesenheit‘, ‚Abwesenheit‘ – konnotieren auf bemerkenswerte Weise den Bedeutungsbereich des Religiösen. Bereits die autorschaftskritischen Positionen von Roland Barthes und Michel Foucault operieren in hohem Maße mit religiösen Metaphern, deren diskursive Funktion in der

8 Michel Foucault, „Was ist ein Autor?“, in Fotis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Texte zur Theorie der Autor-

schaft (RUB 18058), Stuttgart 2000, 198–229, hier 204; vgl. Wilhelm Genazino, Das Bild des Autors, 36 f. 9 Wilhelm Genazino, Das Bild des Autors, 37. 10 Vgl. ebd.

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Forschung nicht hinreichend diskutiert wurde: Barthes’ Anliegen, das Bild des Autors zu entsakralisieren 11 , versteht sich dezidiert als gegentheologisches Projekt: Heute wissen wir, dass ein Text nicht aus einer Reihe von Wörtern besteht, die einen einzigen, irgendwie 12 theologischen Sinn enthüllt (welcher die ‚Botschaft‘ des Autor-Gottes wäre), sondern aus einem vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen [écritures], von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. […] Genau dadurch setzt die Literatur (man sollte von nun an besser sagen: die Schrift), die dem Text (und der Welt als Text) ein ‚Geheimnis‘, das heißt einen endgültigen Sinn, verweigert, eine Tätigkeit frei, die man gegentheologisch und wahrhaft revolutionär nennen könnte. Denn eine Fixierung des Sinns zu verweigern, heißt letztlich, Gott und seine Hypostasen (die Vernunft, die Wissenschaft, das Gesetz) abzuweisen. 13

Der ikonoklastische Akt, den Barthes am Bild des Autors verübt, hat, indem er gegentheologisch und wahrhaft revolutionär sein will, religiöse und politische Dimensionen. 14 Natürlich ist das ‚Bild‘ des Autors auch eine Metapher und da die Metapher auch ein Bild ist, erweist sich die Rede vom ‚Bild des Autors‘ als rhetorische Kippfigur zwischen pictura und figura. Dies inszeniert paradigmatisch die eingangs zitierte Zerreißung der Fotografie des Autors 15 : Ein materiales Bild, eine Fotografie (pictura), wird zerrissen, gemeint ist aber auch die abstrakte Vorstellung oder Instanz des Autors, wie sie sich in den Text eingeschrieben hat (figura). In diesem Sinn spricht auch Goethe im Vorwort seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit vom Bild des Autors: Er zitiert einen fiktiven Brief von Freunden, die ihn angeblich gebeten haben, sein Leben aufzuschreiben: Man kann sich nicht enthalten, diese zwölf Bände, welche in Einem Format vor uns stehen 16 , als ein Ganzes zu betrachten, und man möchte sich daraus gern ein Bild des Autors und seines Talents entwerfen. Nun ist nicht zu leugnen, daß für die Lebhaftigkeit, womit derselbe seine schriftstelleri11 Roland Barthes, „Der Tod des Autors“, in Fotis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Texte zur Theorie der Autor-

schaft (RUB 18058), Stuttgart 2000, 185–193, hier 188.

12 Das ‚Irgendwie‘ des Vergleichs mit dem religiösen Bereich nutzt religiöse Vorstellungen und Bilder

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ohne eine Identifizierung vorzunehmen, stellt aber das europäische Autorschaftsdenken historisch und systematisch in einen religiös-theologischen Diskurszusammenhang. Roland Barthes, „Der Tod des Autors“, 190f. Dass die poststrukturalistische Verabschiedung des Autor-Subjekts politische und religiöse Dimensionen verbindet, zeigt etwa auch Martin Mosebachs Bezeichnung des Jahres 1968 als „Achsenjahr“: „Studentenrevolten in Deutschland, Frankreich, in den Vereinigten Staaten; der Beginn der chinesischen Kulturrevolution mit Millionen Toten, mit ihrer Bilderstürmerei, der Verwüstung von Tempeln und Kunstschätzen – und das Jahr der Liturgiereform“, Martin Mosebach, „‚Die Bilder aus den Herzen reißen‘. Bildersturm und Liturgie“, in Ders., Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind, München 2007, 70–88, hier 76. Vgl. auch Ulrich Horstmann, Ausgewiesene Experten. Kunstfeindschaft in der Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2003, 25f.: „Barthes’ Liquidationsanzeige erschien 1968, im Jahr der Revolte und des Aufbegehrens, und wie die Studenten gegen die politischen Institutionen Sturm liefen, so unternahm es dieser antiautoritäre Theoretiker, das Ancien régime der Literatur vom Sockel zu stoßen und den ‚Tod des Autors‘ als fait accompli erscheinen zu lassen.“ Heiner Müller, „Hamletmaschine“, 96. Gemeint ist die bei Cotta in Tübingen 1806–1808 erschienene zwölfbändige Ausgabe von Goethes Werken.

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sche Laufbahn begonnen, für die lange Zeit die seit dem verflossen, ein Dutzend Bändchen zu wenig scheinen müssen. Eben so kann man sich bei den einzelnen Arbeiten nicht verhehlen, daß meistens besondere Veranlassungen dieselben hervorgebracht, und sowohl äußere bestimmte Gegenstände als innere entschiedene Bildungsstufen daraus hervorscheinen, nicht minder auch gewisse temporäre moralische und ästhetische Maximen und Überzeugungen darin obwalten. Im Ganzen aber bleiben diese Produktionen immer unzusammenhängend; ja oft sollte man kaum glauben, daß sie von demselben Schriftsteller entsprungen seien. 17

Die Freunde möchten also aus dem Werk ein Bild des Autors gewinnen. Das Werk aber ist unzusammenhängend, deshalb bedarf es eines autobiographischen Texts, der ein ‚Bild‘ des Autors im übertragenen, im figurativen Sinne zeichnet. Und über dieses Bild wird nun wiederum das Werk als Einheit verständlich. Das ist gute hermeneutische Tradition. Foucault hätte sich dadurch bestätigt gesehen, weist er doch darauf hin, dass eine wesentliche Rolle der Autorfunktion darin besteht, die Einheit eines Werks zu begründen. 18 Foucault hat Barthes bekanntlich kritisiert, indem er die von letzterem vorgenommene Ersetzung der Kategorie ‚Autor‘ durch diejenige des ‚Schreibers‘ als transzendentale[] Blockierung 19 bezeichnete. Er führt aus: Wenn man nämlich dem Schreiben ein ursprüngliches Statut zuweist, so ist das wohl nur eine Art, einerseits die theologische Behauptung vom geheiligten Charakter des Geschriebenen und andererseits die kritische Behauptung seines schöpferischen Charakters ins Transzendentale rückzuübersetzen. […] wenn man das Schreiben als Abwesenheit begreift, heißt das dann nicht einfach, in transzendentalen Worten das religiöse Prinzip der zugleich unwandelbaren und nie erfüllten Tradition und das ästhetische Prinzip vom Überleben des Werks, von seinem Fortbestand über den Tod hinaus, von seinem rätselhaften Überschuß im Verhältnis zum Autor wiederholen? 20

An einer späteren Stelle seiner programmatischen Schrift kommt Foucault – und der Zusammenhang liegt nahe – auf das Urheberrecht zu sprechen. Er behauptet, dass die Rede am Ursprung unserer Kultur […] kein Produkt, keine Sache, kein Gut war; sondern wesentlich […] ein Akt, der seinen Platz hatte in der Bipolarität des Heiligen und Profanen, des Erlaubten und Verbotenen, des Religiösen und Blasphemischen. 21 Seitdem der Autor Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts im Zuge der Ausformulierung des Urheberrechts zum Eigentümer seiner Texte wurde, scheint er, so stellt Foucault fest, den erreichten Status durch die Rückkehr zur alten Bipolarität der Rede, durch systemati17 Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, hg. v. Klaus-Detlef

Müller, Sämtliche Werke in 40 Bdn., Bd. 1/14, Frankfurt a.M. 1986, 11.

18 Michel Foucault, „Was ist ein Autor?“, 217 f.: Der Autor ist […] das Prinzip einer gewissen Einheit

des Schreibens, da alle Unterschiede mindestens durch Entwicklung, Reifung oder Einfluß reduziert werden. Mit Hilfe des Autors kann man auch Widersprüche lösen, die sich in einer Reihe von Texten finden mögen: es muß da – in einer gewissen Schicht seines Denkens oder seines Wünschens, seines Bewußtseins oder seines Unterbewußtseins – einen Punkt geben, von dem her sich die Widersprüche lösen, an dem sich die unvereinbaren Elemente endlich verketten lassen oder sich um einen tiefen und ursprünglichen Widerspruch gruppieren. 19 Ebd. 207. 20 Ebd. 206 f. 21 Ebd. 211.

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sche Übertretung, durch die Wiederherstellung der Gefahr beim Schreiben kompensieren zu wollen. 22 Autorschaft ist also nicht einfach ungebrochene Fortsetzung eines in der Polarität von Heiligkeit und Profanität verorteten Redeakts, sondern Versuch der Rückgewinnung einer durch die Sicherung im Profanen, also im marktwirtschaftlich und juristisch gedachten Recht des Eigentümers, verloren gegangenen anderen Dimension, des Heiligen. Unter Bezugnahme auf die Authentizitätskriterien des heiligen Hieronymus verweist Foucault darauf, dass die moderne Literaturkritik in ihrem Umgang mit dem Autor recht geradlinig abgeleitet [sei] von der Art, wie die christliche Tradition Texte beglaubigte. 23 Es handelt sich um die folgenden Kriterien, die Foucault der Schrift De viris illustribus des heiligen Hieronymus entnimmt, der mithin als ein erster Autorschaftstheoretiker in Anspruch genommen wird. Der Autor muss erstens ein bestimmtes konstantes Wertniveau darstellen, zweitens als Feld eines begriff lichen und theoretischen Zusammenhangs verstanden werden können, drittens als stilistische Einheit erscheinen und viertens als ein bestimmter geschichtlicher Augenblick und Schnittpunkt einer Reihe von Ereignissen wahrnehmbar werden. 24 22 Ebd. 212. Auch Giorgio Agamben verbindet in seinem Essay „Der Autor als Geste“ (durchaus im

Anschluss an Foucault) Autorschaft mit der Kategorie des Risikos, wenn er schreibt: Der Autor markiert den Punkt, wo sich ein Leben im Werk aufs Spiel gesetzt hat. Aufs Spiel gesetzt, nicht ausgedrückt; aufs Spiel gesetzt, nicht erfüllt. Deshalb kann der Autor im Werk nur unbefriedigt und unerwähnt bleiben. Er ist der Unlesbare, der das Lesen ermöglicht, die legendäre Leere, von der das Schreiben und der Diskurs ausgehen. Die Geste des Autors wird im Werk, das er trotz allem ins Leben ruft, als eine unangemessene, fremde Anwesenheit bestätigt, genauso wie nach der Ansicht der Theoretiker der commedia dell’arte Harlekins Scherze unaufhörlich die Geschichte unterbrechen, die auf der Bühne vor sich geht, und hartnäckig deren Handlung zersetzen. Doch genau wie nach der Ansicht derselben Theoretiker der Scherz, auf italienisch lazzo (die Schlinge), seinen Namen der Tatsache verdankt, daß er, wie eine Schlinge, den Faden, den er aufgebunden und gelockert hat, immer wieder anknüpft, garantiert die Geste des Autors das Leben des Werks allein durch die irreduzible Anwesenheit eines ausdruckslosen Randes. Wie der Mime in seinem stummen Spiel, wie Harlekin mit seinem lazzo schließt er sich unermüdlich immer wieder in das Offene ein, das er selbst geschaffen hat. Und wie in manchen alten Büchern neben dem Frontispiz ein Porträt oder eine Fotografie des Autors gezeigt wird und wir in seinen rätselhaften Zügen vergeblich die Gründe und den Sinn des Werks zu entziffern versuchen, so zögert die Geste des Autors auf der Schwelle zum Werk als ein unzugängliches ex ergon, das ironisch darauf pocht, dessen uneingestehbares Geheimnis zu besitzen. Giorgio Agamben, „Der Autor als Geste“, in Ders., Profanierungen, Frankfurt a.M. 2005, 57–69, hier 66. 23 Vgl. Michel Foucault, „Was ist ein Autor?“, 215; vgl. Michelangelo Caravaggio (1571–1610), Der heilige Hieronymus beim Schreiben, http://de.wikipedia.org/wiki/Michelangelo_Merisi_da_Caravaggio, (letzter Aufruf am 30.05.2011). 24 Vgl. Hieronymus und Gennadius, De Viris inlustribus, hg. v. Lic. Carl Albrecht Bernoulli, Freiburg i.B./Leipzig 1895. Foucault extrahiert die genannten Kriterien aus Ausführungen wie der folgenden aus dem 15. Kapitel von Hieronymus’ Werk, wo es über den Bischof Clemens heißt: Scripsit ex persona Romanae ecclesiae ad ecclesiam Corinthiorum ualde utilem epistulam et quae in nonnullis locis etiam publice legitur, quae mihi uidetur characteri epistulae, quae sub Pauli nomine ad Hebreos fertur, conuenire; sed et multis de eadem epistula non solum sensibus, sed iuxta uerborum quoque ordinem abutitur; et omnino grandis in utraque similitudo est. Fertur et secunda ex eius nomine epi-

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Abb. 1: Michelangelo Caravaggio (1571–1610), Der heilige Hieronymus beim Schreiben, 1605/06, Galleria Borghese, Rom

Schließlich verweist Foucault, dessen Essay üblicherweise viel zu thesenartig und verkürzt rezipiert wird, auf die Paradoxie, dass einerseits im Autor als dem Schöpfer eines Werks, der so anders ist als alle anderen Menschen und so transzendent bezüglich aller Sprachen 25 eine Quelle unendlicher Bedeutungsvermehrung gesehen und er doch nach den Maßgaben der Authentizitätskontrolle als bedeutungslimitierendes Prinzip eingesetzt wird. Die Funktion des Diskurses steht hier im eklatanten Widerspruch zu seiner offiziell vorgetragenen Ideologie. Als Funktion hat der Autor nichts mit dem wirklichen Schriftsteller oder dem fiktionalen Sprecher eines Textes zu tun, ist vielmehr gerade in diesem Bruch – in dieser Trennung und Distanz 26 zu suchen. Als Funktion ist er die Figur einer Verknappung, die gegen das nach Barthes zu entsakralisierende ideologische Bild des Autors als transzendenter ‚Bedeutungsvermehrer‘ steht. Die formalistische Literaturtheorie hat bekanntlich wesentliche Einsichten der poststrukturalistischen Autorschaftskritik vorweggenommen. Boris Tomaševskij etwa hat darauf hingewiesen, dass sich in der Romantik Name und Person des Autors nach vorn schieben und sich das Interesse des Lesers […] vom Werk auf den Schöpfer 27 ausdehnt. Als Folge wird das vom Autor geführte Leben literarisiert, Dichter werden zu Figuren vor stula, quae a ueteribus reprobatur, et disputatio Petri et Appionis longo sermone conscripta, quam Eusebius in tertio ecclesiasticae historiae uolumine coarguit. Ebd. 17. 25 Michel Foucault, „Was ist ein Autor?“, 228. 26 Ebd. 217. 27 Boris Tomaševskij, „Literatur und Biographie“, in Fotis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Texte zur Theorie der Autorschaft (RUB 18058), Stuttgart 2000, 49–61.

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dem Publikum 28 , und literarische Figuren, so Tomaševskij, werden für lebende Personen gehalten. Mit ihrem Leben, schreibt er, verwirklichten die Dichter eine literarische Aufgabe. 29 Der kategoriale Unterschied zwischen dem Autor als dem historisch-personalen Urheber eines Werks und dem Autor als Figur wird damit aufgehoben: Der Autor wird im beschriebenen romantischen Paradigma selbst zum Werk und das literarische Werk erscheint als Spiegel des Autors. Dagegen hat bereits Jan Mukaˇrovsk´y geltend gemacht, dass ein literarischer Text zwar einen Urheber hat, zwischen Künstler und Werk aber kein direkter Zusammenhang besteht. 30 Dennoch war es die metaphorische Rede vom ‚Tod des Autors‘, die der Autorkritik disziplinübergreifende Aufmerksamkeit und dazu ein Label verschafft hat, unter dem die Debatte im Archiv der Literaturtheoriegeschichte abgespeichert werden konnte. Das ist insofern bemerkenswert als die biographische Metapher vom ‚Tod des Autors‘ das Bild vom realiter getöteten Autor vor die theoretische Position schiebt, 31 die mit diversen und sehr differenzierten Argumenten die Autorschaftsinstanz relativiert hat. Und die Metapher ist so wirkmächtig, dass das erneute literaturtheoretische Interesse am Autor in den 1990er-Jahren unter dem Bild seiner ‚Wiederkehr‘, ja sogar seiner ‚Wiederauferstehung‘ diskutiert wurde. 32 Die Rede vom ‚Bild des Autors‘ ruft u.a. die umstrittene Figur des ‚impliziten Autors‘ auf. Wayne C. Booth hat argumentiert (und Seymour Chatman ihm sekundiert), dass jeder Autor eine Art zweites Ich in seinen Text hineinlegt, das weder mit dem historischen Autor noch mit dem Erzähler identisch ist. Booth spricht von einem Bild, das das Werk vom Künstler vermittelt 33 :

28 Ebd. 54. 29 Ebd. 55. 30 Jan Mukaˇrovsk´y, „Die Persönlichkeit in der Kunst“, in Fotis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Texte zur Theorie

der Autorschaft (RUB 18058), Stuttgart 2000, 65–79, hier 76.

31 Vgl. auch Martina Wagner-Egelhaaf, „‚Dead Author’s Identity in Doubt; Publishers Defiant‘. Zu Uwe

Johnsons Selbstnachruf“, in Rudolf Suntrup [u.a.] (Hgg.), Usbekisch-deutsche Studien III: Sprache – Literatur – Kultur – Didaktik, 4. usbekisch-deutsche Tagung Münster 23.–25. November 2009, Teilband 1: Begegnung von Orient und Okzident in der Literatur, Linguistik und Varietäten, Münster 2010, 201–213. 32 Vgl. Fotis Jannidis [u.a.], „Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Historische Modelle und systematische Perspektiven“, in Dies. (Hgg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999, 3–35; Niels Werber, Ingo Stöckmann, „Das ist ein Autor! Eine polykontexturale Wiederauferstehung“, in Henk de Berg, Matthias Prangel (Hgg.), Systemtheorie und Hermeneutik, Tübingen/Basel 1997, 233–259. 33 Wayne C. Booth, „Der implizite Autor“, in Fotis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Texte zur Theorie der Autorschaft (RUB 18058), Stuttgart 2000, 142–152, hier 146. Vgl. Seymour Chatman, Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film, Ithaca/London 1990. Zu einer Kritik des ‚impliziten Autors‘ vgl. Ansgar Nünning, „Renaissance eines anthropomorphisierten Passepartouts oder Nachruf auf ein literaturkritisches Phantom? Überlegungen und Alternativen zum Konzept des ‚implied author‘ “, DVjs 67/1 (1993), 1–25. Zum ‚implied author‘ vgl. auch den Beitrag von Bruno Quast in diesem Band, 133–144.

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[…] klar ist, daß das Bild, das sich der Leser von dieser Gegenwart macht, eine der wichtigsten Wirkungen des Autors ist. Wie unpersönlich er auch zu sein versucht, sein Leser wird sich unweigerlich ein Bild von dem offiziellen Schreiber konstruieren, der auf diese Art und Weise schreibt […]. 34

Es geht also um ein ‚Bild‘, das sich der Leser vom Autor macht und dessen Gegenwart er beim Lesen spürt. Dieses Bild ist nun kaum ein sehr konkretes (pictura), vielmehr wird es nach Booth über die in das Werk eingehenden moralischen Werte und Normen konstituiert, die sich dem Leser/der Leserin vermitteln, eine Art schattenhafter Figur (figura), die auch eine imaginäre Dimension hat und daher einen dritten Bildbegriff, denjenigen der imago, aufruft. Wenn der Leser im Akt des Lesens in einen imaginären Dialog mit dem impliziten Autor tritt, begibt er sich gleichsam in eine Spiegelbeziehung, in der sich der gelesene Text imaginär realisiert. 35 Gérard Genette nimmt in seiner Kritik des Booth’schen Ansatzes die Rede vom ‚Bild‘ auf, wenn er den implizierten Autor als das Bild d[ies]es Autors, wie es sich […] auf der Basis des Textes konstruieren ließ 36 , rekapituliert. Seine Frage lautet bekanntlich, ob der implizierte Autor eine notwendige Instanz zwischen dem Erzähler und dem realen Autor darstellt. Nach aller Logik, schreibt er, hat ein Bild nur dann andere Merkmale als sein Vorbild, verdient also nur dann eigens erwähnt zu werden, wenn es untreu, d.h. unrichtig ist. 37 Was für Bilderstürmer aller Zeiten ein Argument gegen das Bild gewesen ist, nimmt Genette hier als Kriterium seiner Legitimität. Allerdings negiert er die Möglichkeit, dass ein Autor in seinem Text ein untreues Bild seiner selbst produzieren 38 kann und argumentiert, das vom (kompetenten) Leser konstruierte Bild sei treuer […] als die Vorstellung, die der Autor sich von sich selbst machte. 39 Daraus zieht Genette den folgenden Schluss: So gesehen also ist der implizierte Autor der authentische reale Autor. Schreiben wir, damit es wissenschaftlicher aussieht: IA = RA. Damit aber wird IA, das treue und folglich transparente Bild, zu einer überflüssigen Instanz. Exit IA. 40 Ob Genette mit seiner witzig-lakonischen Formulierung Exit IA Shakespeares Hamlet und das Abtreten von Hamlets Vater-Geist Exit Ghost zitiert, 41 kann nicht nachgewiesen werden, 34 Wayne C. Booth, „Der implizite Autor“, 143. 35 An dieser Stelle soll nicht weitergehend mit Lacans Spiegelstadium-Modell argumentiert werden. 36 Gérard Genette, „Implizierter Autor, implizierter Leser?“, in Fotis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Texte zur

Theorie der Autorschaft (RUB 18058), Stuttgart 2000, 233–246, hier 235; vgl. 236. Ebd. 237. Ebd. 238. Ebd. 239. Ebd. Auch im Falle des ironischen Erzählens ist das Bild des Autors, das der Leser durch Erkennen der Ironie aus dem Text gewinnt, der reale Autor; nochmals also die Formel: ‚IA = RA, und exit IA‘, ebd. 241. 41 Den Hinweis verdanke ich Christian Sieg. Vgl. Shakespeare, Hamlet. Prinz von Dänemark, Englisch und Deutsch, in der Übersetzung von Schlegel und Tieck, hg. v. Levin L. Schücking, mit einem Essay ‚Zum Verständnis des Werkes‘ und einer Bibliographie von Wolfgang Clemen, Hamburg 1977, I/1, 51; I/1, 141; I/V, 92. Freilich treten bei Hamlet alle Figuren mit exit oder exeunt ab; gewiss ist aber das Auf- und Abtreten des Geistes besonders wirkungsvoll, insofern als der Geist aus einer anderen Realität kommt und wieder in sie abtritt. Das heißt das Erscheinen und Verschwinden des Geistes ist jedes Mal ein Akt, der die sog. ‚Wirklichkeit‘ perforiert und in Frage stellt. 37 38 39 40

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in jedem Fall aber konzeptualisiert er den impliziten Autor als eine Bühnenfigur, die offensichtlich Auftritte und Abgänge im Text hat. Mit Shakespeare gelesen eignet der Figur des impliziten Autors unzweifelhaft etwas Gespensterhaftes, das nicht die Figuren im Text wie bei Hamlet, sondern eher die Leser/innen und Interpreten bzw. Interpretinnen des Texts heimsucht. Noch in Genettes weiterführender Argumentation findet das Gespenst des impliziten Autors seinen Widerhall: Untreue Bilder des Autors konstruiert der Leser nach Genette nämlich nur in drei Ausnahmefällen: dem Apokryph, der Ghostwriterschaft und der Doppelautorschaft – alles zweifelhafte, sich dem Prinzip fassbarer Eindeutigkeiten entziehende ‚Erscheinungen‘. Genette begründet seine generelle Ablehnung des impliziten Autors mit einem pragmatischen Argument. Er ist nämlich der Meinung, dass man die narrativen Instanzen nicht unnötigerweise vermehren solle. Der reale Autor und der Erzähler genügen – eine dritte Hypostase ist also nicht erforderlich. Anders denkt hier Umberto Eco, wenn es ihm darum geht, die Autonomie des Textes gegenüber seinem Urheber, dem empirischen Autor, zu begründen. Hinter dem, was er ‚Textintention‘ nennt, steht aber auch ein Schatten-Autor, nämlich das Phantasma des exemplarischen Autors, der mit der Textintention identisch ist. Zwischen dem empirischen und dem exemplarischen Autor lässt er sogar den Gedanken an eine dritte, fast gespenstische Figur zu, einen Grenz- oder Schwellenautor, d.h. die Schwelle zwischen der Absicht eines leibhaftigen Menschen und der Sprachintention, die sich in einer Textstrategie niederschlägt. 42 Ecos exemplarischer Autor ist eine Hilfskonstruktion, die es ermöglicht, den empirischen Autor aus dem Text hinauszukatapultieren und doch die Rationalität und Interpretierbarkeit des Textes zu sichern. Der exemplarische Autor ist reiner Geist: Intention und Strategie, der sich aber in der und als Sprache verkörpert hat. Diese literaturtheoretischen Hypostasen des Autors im Text sind von einer hybriden, zwischen pictura, imago und figura schwankenden Bildlichkeit. Als Vorstellungsbilder 43 zehren sie, wie Vampire, vom Bild des empirischen Autors als dem Schöpfer des Textes, den sie, um im Bild zu bleiben, zum Zwecke seiner theoretischen Delegitimierung ‚aussaugen‘. Meine Gedanken saugen den Bildern das Blut aus, konstatiert Heiner Müllers Hamletdarsteller entsprechend. 44 Versucht man nun, die Metaphorik des ‚Bilderstreits‘ für die Theoriedebatte um die Autorschaft produktiv zu machen, muss freilich historisch und systematisch differenziert werden. 45 Hans Belting hat das Kultbild im antagonistischen Feld zwischen Glaubenspraxis und theologischer Doktrin beschrieben. Die Theologen haben immer wieder versucht, materiellen Bildern ihre Macht zu entreißen, wenn diese im Begriff waren, zuviel Macht in der Kirche zu gewinnen. Bilder waren unerwünscht, sobald sie größeren Zulauf erhielten als die Institutionen selbst und ihrerseits im Namen Gottes zu agieren 42 Umberto Eco, „Zwischen Autor und Text“, in Fotis Jannidis [u.a.] (Hgg.), Texte zur Theorie der

Autorschaft (RUB 18058), Stuttgart 2000, 279–294, hier 281.

43 Genette spricht davon, dass Vorstellung [idée] […] ein besserer Ausdruck als ‚Bild‘ […] sei, Gérard

Genette, „Implizierter Autor, implizierter Leser?“, 244.

44 Heiner Müller, „Hamletmaschine“, 93. 45 Vgl. grundlegend Wolfgang Brückner, „Bild, Bilderverehrung, Bilderverbot, Bilderstreit“, in Walter

Kasper (Hg,), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 2, Freiburg 3 2006, 440–449.

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begannen. Ihre Kontrolle war mit verbalen Mitteln ungewiß, weil sie wie die Heiligen tiefere Schichten berührten und andere Wünsche erfüllten, als es die lebenden Kirchenmänner konnten. Deshalb lieferten die Theologen in Bilderfragen immer nur die Theorie einer schon bestehenden Praxis nach. Niemals führten sie die Bilder aus freien Stücken ein, aber sie verboten sie umso lieber. Nur wenn andere sie verboten hatten und damit gescheitert waren, führten sie die Bilder wieder ein, weil sie in den Wünschen der Gläubigen präsent geblieben waren. Ihre Zulassung konnte man dann an Bedingungen knüpfen, die garantierten, daß man den Überblick behielt. Wenn sie die Bilder ‚erklärt‘ und den Zugang zu ihnen reguliert hatten, waren die Theologen zuversichtlich, die Dinge wieder in der Hand zu haben. 46

Ersetzt man in dieser Darstellung ‚Theologen‘ durch ‚Literaturwissenschaftler‘, ‚Bilder‘ durch ‚Autoren‘, ‚Gott‘ durch ‚Literatur‘ und ‚Gläubige‘ durch ‚Leser/innen‘, erhält man eine Beschreibung der literaturwissenschaftlichen Autorschaftsdebatte in den letzten fünfzig Jahren, die zumindest nicht falsch ist. Im kultischen Bild der Ära des Bildes, die Belting vor der Ära der Kunst ansetzt, tritt, so formuliert er, „jemand in Erscheinung“ 47 ; und: man muss es, das Bild, nicht nur ansehen, sondern auch glauben. 48 Wichtig ist der Anspruch des authentischen Aussehens, den die Ikone immer erhoben hat: Man wollte im Bildnis den Eindruck der Person gewinnen und suchte das Erlebnis der persönlichen Begegnung. Ikonen werden daher grundsätzlich nach ‚authentischen‘, historischen Vorbildern und nicht nach der Phantasie gemalt. 49 Im byzantinischen Bilderstreit wurde die Zulässigkeit von Ikonen u.a. von Johannes von Damaskus mit der Inkarnation begründet. Gottes Menschwerdung in Christus ermöglichte das zuvor nicht erlaubte Gottesbild; insofern verletzt die Ikone nicht das in Ex 20,4f. formulierte Bilderverbot, 50 sondern bestätigt es. Die orthodoxe Kirche hat lange Zeit konsequenterweise nur die bildliche Darstellung der Zweiten Hypostase (Gott als Sohn) zugelassen. 51 Die Gegner des Bildes argumentierten also mit der Nichtdarstellbarkeit Gottes, während seine Befürworter in der Abbildung der menschlichen Natur Gottes die vermittelnde Leistung des Bildes stark machen konnten. Ikonoklastische Akte sind häufig politisch motiviert, etwa wenn das machtpolitische 46 Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 2 1993,

11.

47 Ebd. 19. 48 Ebd. 23. 49 Vgl. ebd.; vgl. Karl Christian Felmy, „Ikone/Ikonenmalerei“, in Hans Dieter Betz [u.a.] (Hgg.),

Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 4: I–K, Tübingen 4 2001, 36–41, hier 36, 38. 50 Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist, Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1970, 83 (2. Mose 20,4). 51 Vgl. Felmy „Ikone/Ikonenmalerei“, 37. Der Autor Martin Mosebach behauptet, Gott selbst habe das Zweite Gebot des Dekalogs „Du sollst dir kein Bild machen“ in Jesus Christus aufgehoben: Du sollst dir von Gott ein Bild machen, und diese [sic] Bild ist Jesus Christus, Martin Mosebach, „‚Die Bilder aus den Herzen reißen‘ “, 82. Zum Bildbegriff des Johannes von Damaskus vgl. Christian Hecht, „Das Christusbild am Bronzetor. Zum byzantinischen Bilderstreit und zum theologischen Bildbegriff“, in Karl Möseneder (Hg.), Streit um Bilder. Von Byzanz bis Duchamp, Berlin 1997, 1–25, hier 11 f.

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Gleichgewicht zwischen Christusbild und Kaiserbild zu kippen drohte. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die Entfernung des Christusbildes vom Bronzetor des Kaiserpalastes in Konstantinopel durch Leo III. im Jahr 726, die den Beginn der ersten, kaiserlich verordneten ikonoklastischen Phase markiert. 52 Doch ist das Bild auch in vormoderner Zeit textbezogen: „Die Bilder enthalten ein Moment der Erzählung, auch wenn sie keine Erzählung sind“, schreibt Belting. „Das Bild ist […] nur verständlich, wenn man es von der Schrift her wiedererkennt. Es erinnert daran, was die Schrift erzählt, und erlaubt zusätzlich den Kult der Person […].“ 53 In der Reformationszeit gewinnen, so führt Belting aus, die Theologen, die Prediger des Worts, die Oberherrschaft über das Bild. „Das Bild kam gegen den authentischen Wortlaut nicht an, sondern enthielt, wenn man es anstelle der Schrift benutzte, die Gefahr des falschen oder des undeutlichen Verständnisses.“ 54 Das Wort bildet nicht ab, sondern ist Zeichen der Verständigung. Die Reformation, die sich im Zeichen Zwinglis und Calvins (Luther nahm da eher eine vermittelnde Position ein) ikonoklastisch gegen Bilder wandte, leitet bereits über in die Ära der Kunst, die im Kultbild bestenfalls noch eine Metapher wahrnimmt, keinesfalls aber mehr die Unmittelbarkeit der Evidenz. 55 Auch die Autorschaftsdebatte wird im Zeitalter der Kunst geführt. Die Bilder von Autorinnen und Autoren, die in der literarischen Öffentlichkeit der Gegenwart begegnen, und diesmal sind die materialen picturae gemeint, sind ihrerseits zu einem großen Teil durchaus als Kunstwerke zu betrachten, wiewohl ihr Einsatz auf dem literarischen Markt, in Verlagsprospekten und auf Buchcovern den Kunstcharakter der Autorenporträts funktionalisiert. Hier sollen die Autorenbilder helfen, Bücher zu autorisieren und zu verkaufen. Dabei präsentieren sie Personen, die nicht als Heilige verehrt, sondern als Künstlerinnen und Künstler geschätzt und bewundert werden. Der Kunstanspruch des modernen Bildes verkörpert sich gleichsam in der Figur des/r Abgebildeten. Sehen die Gläubigen im vormodernen Kultbild die dargestellte Figur, ist die moderne Wahrnehmung des Autorenporträts, das heute in der Regel ein fotografisches ist 56 , geprägt von einer doppelten 52 Vgl. Ulrike Brunotte, „Ikonoklasmus“, in Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 4, 52 f.; Chris-

53

54 55 56

tian Hecht, „Das Christusbild am Bronzetor“, 2. Berthold Hinz beschäftigt sich mit der durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 durchgesetzten Säkularisation der Kirchengüter und dem Übergang der religiösen Kunstwerke in den Besitz der bürgerlichen Gesellschaft. Bilderstürme, so argumentiert er, sind dort nicht notwendig, wo ein Gesellschaftsystem das andere ablöst. Die Rede vom ‚Bildersturm‘ bleibt in diesen Fällen metaphorisch. Vgl. Berthold Hinz, „Säkularisation als verwerteter ‚Bildersturm‘. Zum Prozeß der Aneignung der Kunst durch die Bürgerliche Gesellschaft“, in Martin Warnke (Hg.), Bildersturm. Die Zerstörung des Kunstwerks, München 1973, 108–120, hier 119. Hans Belting, Bild und Kult, 20. Im jüdischen Bilderverbot, das auf der Unsichtbarkeit Gottes insistiert, ist es die Heilige Schrift, die zur Ikone Gottes wird und zur kultbildgleichen Verehrung der Thorarolle führt (vgl. ebd. 17 f.). Ebd. 25. Ebd. 26. Vgl. dazu den sehr erhellenden Aufsatz von Matthias Bickenbach, „Fotografierte Autorschaft. Die entzogene Hand“, in Matthias Bickenbach/Annina Klappert/Hedwig Pompe (Hgg.), Manus loquens. Medium der Geste – Gesten der Medien, Köln 2003, 188–209. Vgl. auch die Habilitationsschrift von

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Perspektive, einem Oszillieren zwischen Darstellung (figura) und dargestellter Person (pictura). Die imago eines Autors/einer Autorin ‚spukt‘ vermutlich noch dazwischen, ohne sich manifestieren zu können. Diese ambivalente Wahrnehmung der Fotografie hat Roland Barthes bekanntlich mit den Begriffen studium und punctum beschrieben. In der Perspektive des studium wird das Foto als Bildkomposition wahrgenommen, während das punctum jenes Moment ist, in dem ein Foto besticht und gleichsam die Oberfläche des Bildes durchbohrt. Nach Barthes ist das jener Augenblick, in dem der Betrachter oder die Betrachterin spürt, dass die abgebildete Person tatsächlich „da“ gewesen ist, 57 auch wenn und gerade weil sie im Moment der Bildbetrachtung abwesend ist. Die Evidenz des Fotos indiziert die Abwesenheit der abgebildeten Person, während umgekehrt das Foto als Bild-Zeichen die vergangene Präsenz des/r Fotografierten zu sehen gibt. Dass die vormoderne Bildwahrnehmung heute nicht gänzlich durch den kunstwissenschaftlichen Blick und die Autorität des Wortes ersetzt ist, macht freilich auch Belting geltend, wenn er davon spricht, dass der Mensch sich nie von der Macht der Bilder befreit habe. 58 Was bedeutet das nun für den modernen Umgang mit dem Bild des Autors? Wie Belting festhält, dass das vormoderne Kultbild im Zeichen der Schrift gelesen wurde, argumentiert Genazino, um wieder auf ihn zu sprechen zu kommen, dass wer als Leser/in das fotografierte Gesicht eines Autors/einer Autorin betrachtet, glaubt, in diesen Gesichtern lesen zu können, was die Abgelichteten geschrieben haben. Genazino zufolge betrachten Leser/innen, die von bestimmten Texten berührt wurden, Bilder von Autorinnen und Autoren mit dem Verstehensziel: Wie ist der Autor zur besonderen Tiefe seiner Einsicht und damit meinem eigenen Selbstverstehen so nahe gekommen? 59 Zweifellos tritt hier die imago-Funktion des Autorbilds in Wirksamkeit. Genazino konstatiert aber auch, dass sich die laufende Veröffentlichung von Autorenporträts (picturae) als Werbestrategie vor die Texte schiebe und das Abbild als Kürzel für das Werk in der Medienwelt mit größerer Gewissheit überleben werde als das Werk selbst. 60 Eine ähnliche Diagnose stellt Christian Schärf, für den „die universale Überlagerung der Texte durch die Bilder“ längst eingetreten ist und der „diese neue literarische Epoche das Zeitalter der Ikonostasen“ nennt,

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Matthias Bickenbach, Das Autorenfoto in der Medienevolution. Anachronie einer Norm, München 2010. Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, übers.v. Dietrich Leube, Frankfurt a.M. 1985, 35, 87. Vgl. Hans Belting, Bild und Kult, 27; vgl. auch Wolfgang Brückner, „Bild, Bilderverehrung, Bilderverbot“, 446. Wilhelm Genazino, Das Bild des Autors, 11. Elke Heidenreich formuliert im Vorwort zu Isolde Ohlbaums Band Autoren Autoren. Ein Bilderbuch, Cadolzburg 2000, o.S.: „Ich kann in jedem dieser Gesichter, in jedem dieser Bilder endlos herumwandern und mir eine Geschichte dazu erfinden oder versuchen, das Rätsel zu lösen, das mir die Photos aufgeben.“ Vgl. Wilhelm Genazino, Das Bild des Autors, 27. Gertrud Fussenegger schreibt in Isolde Ohlbaums Band Fototermin. Gesichter der deutschen Literatur, Frankfurt a.M. 1984, 163: „Ich warne vor der Photographie. Sie überlagert die Bilder unseres eigenen Gedächtnisses, sie saugt sie auf. Am Ende erinnern wir uns nicht mehr an geliebte Menschen, sondern nur mehr an deren Bilder. Am Ende lagert unsere ganze Existenz in Albums, Kästen, Filmen.“

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womit er „eine Literatur im vollendeten Zustand artifizieller Präsenz“ bezeichnet. 61 Das lässt sich an den Bildbänden der Fotografin Isolde Ohlbaum veranschaulichen, die sich auf das Autorenporträt spezialisiert, 62 aber auch Bildbände über Friedhofsskulpturen und Katzen veröffentlicht hat. Auf die Frage, worin das Spezifikum des Autorenporträts liegt, gibt die Autoren-Fotografin im Vorwort ihres Bandes Fototermin eine auf den ersten Blick überraschende Antwort: Gibt es eine typische Physiognomie des Schriftstellers? Diese Frage wurde mir immer wieder gestellt. Sie hat mich beschäftigt, und ihre Beantwortung hatte – neben optischen, ästhetischen und formalen Kriterien – nicht geringen Einfluß auf die Auswahl der Fotos. […] Die Vielfalt der Gesichter wollte ich zeigen […]. 63

Das heißt es gibt eigentlich kein Spezifikum des Autorenporträts. Autorinnen und Autoren sind Individuen, deren Vielfalt die Fotografin offensichtlich reizt. Lakonisch stellt daher die Autorin Elfriede Czurda in dem genannten Band fest: Auch Schriftsteller schauen auf Fotos nur aus wie Menschen oder Unmenschen. Unverkennbar sehen sie jedoch aus wie Angehörige der herrschenden Kultur: mehr oder weniger gelungene Prototypen von Angestellten. 64 Tatsächlich stellt sich beim Betrachten der Porträts die Frage, ob die Abgelichteten nicht ganz normale Menschen sein könnten, Nicht-Autoren, Politiker, Wissenschaftlerinnen, Medienstars? Die folgenden, nahezu beliebig ausgewählten Beispiele aus Ohlbaums Fotoband Bilder des literarischen Lebens (2008) zeigen die Autorinnen und Autoren gerade nicht in Autorpose, mit einem Buch oder am PC. Bestenfalls signalisieren Grass’ Pfeife oder die Zigarette in Herta Müllers Hand kritische Intellektualität. Als Leserinnen und Leser betrachten wir diese Fotos mit einem gewissen voyeuristischen Interesse, insofern als sie uns mit sehr konkreten Menschen konfrontieren, die unser vages textgespeistes Autorbild auf irgendwie unpassende Weise supplementieren, wenn nicht überrumpeln. Die künstlich-künstlerische Präsenz berührt auf etwas peinliche Art und Weise, weil uns das Foto etwas vor Augen stellt, was wir eigentlich gar nicht sehen wollen und können. Die Person, die wir sehen, ist nämlich nicht ‚der Autor‘/‚die Autorin‘ – bestenfalls sehen wir eine mit den Mitteln der fotografischen Kunst produzierte 61 Christian Schärf, „Belichtungszeit. Zum Verhältnis von dichterischer Imagologie und Fotografie“, in

Gunter E. Grimm/Christian Schärf (Hgg.), Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld 2008, 45–58, hier 57. 62 Vgl. Isolde Ohlbaum, Deutscher Literaturbetrieb heute. Bilder einer Branche, Berlin 1979; dies., Fototermin. Gesichter der deutschen Literatur, Frankfurt a.M. 1984; dies., Augen, Blicke. Augenblicke. Ein Photoalbum in Kupfertiefdruck, Nördlingen 1987; dies., Portraits. München 1993; dies., Im Garten der Dichter. Der Petrarca-Preis, München 1997; dies., Autoren Autoren. Ein Bilderbuch, Vorwort v. Elke Heidenreich, Cadolzburg 2000; dies., Bilder des literarischen Lebens. 352 Portraitphotographien aus vier Jahrzehnten von A–Z, mit einem Essay von Cees Nooteboom, München 2008; dies., Auswärtsspiele. Autoren unterwegs, Göttingen 2009. 63 Isolde Ohlbaum, Fototermin, o. S. 64 Ebd. 100. Zur Autorisierung mittelalterlicher Texte durch Autorenporträts vgl. Ursula Peters, „Digitus argumentalis. Autorbilder als Signatur von Lehr-Auctoritas in der mittelalterlichen Liedüberlieferung“, in Matthias Bickenbach/Annina Klappert/Hedwig Pompe (Hgg.), Manus loquens. Medium der Geste – Gesten der Medien, Köln 2003, 31–65.

Ikonoklasmus

361

Abb. 2: Isolde Ohlbaum, Günter Grass (Berlin, 1980), in Bilder des literarischen Lebens, 96

Abb. 3: Isolde Ohlbaum, Elfriede Jelinek (Wien, 1987), in Bilder des literarischen Lebens, 145

Abb. 4: Isolde Ohlbaum, Herta Müller (Berlin, 2003), in Bilder des literarischen Lebens, 235

Abb. 5: Isolde Ohlbaum, Wilhelm Genazino (Darmstadt, 2004), in Bilder des literarischen Lebens, 87

362

Martina Wagner-Egelhaaf

Version des/derselben. Zu Ohlbaums Foto-Band Bilder des literarischen Lebens hat Cees Nooteboom ein Vorwort geschrieben, in dem er hervorhebt, dass Ohlbaum die Autorinnen und Autoren gerade nicht zu gestellten Posen zwinge, sondern dass sie einen unfehlbaren Instinkt für die Gunst des Augenblicks habe, für die eine Sekunde, in der der Photographierende weiß, dass die Seele – es gibt kein besseres Wort für dieses ungreifbare Element – dessen, der abgelichtet werden soll, optimal sichtbar wird. 65 Dies lässt zweifellos an das metaphysisch-unverfügbare punctum-Moment bei Roland Barthes denken. Evoziert bereits der Bezug auf den fotografischen Moment der Seele den Bedeutungsbereich der Religion, rückt Ohlbaums Galerie der Abgelichtet-Verewigten einmal mehr in eine die Betrachter/innen des Bildbands einschließende Aura des Religiösen, wenn Nooteboom abschließend schreibt: Die katholische Kirche kennt einen Ausdruck, der mich immer sehr angesprochen hat: die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten. In diesem Buch hat Isolde Ohlbaum die Lebenden und die Toten versammelt, die sie im Laufe von vierzig Jahren photographiert hat. Eine Gemeinschaft bilden sie deshalb, weil ihnen allen, was auch immer sie voneinander halten mögen und wie unterschiedlich sie auch sein mögen, auf jeden Fall gemeinsam ist, daß sie sich von Zeit zu Zeit von der Welt abwenden, um in Gedichten, Romanen, Essays, Briefen und Tagebüchern von ebendieser Welt und von der Zeit ihres Lebens zu berichten. Daß sie letzteres mit jener gemeinsam haben, die sie – mit Licht schreibend – abgebildet hat, darin besteht das Wunder dieses Buches. 66

Mit diesem Bild des von Zeit zu Zeit abwesenden Autors schließt Nooteboom wiederum an Genazinos Argument von der Substitution der auktorialen Anwesenheit an. Zweifellos eignen dem modernen Autorenbild Züge der alten Ikone, wenngleich im Zeitalter der Kunst die ins Zentrum der Seele treffende Identifikation immer kontrapunktiert wird durch die Wahrnehmung einer künstlerischen Leistung, des Bildes als Artefakt. Die Hypostasen des Autors, die die moderne Literaturtheorie geschaffen hat – der implizite Autor, der exemplarische Autor, der abstrakte Autor 67 , das vom Leser imaginierte ‚Bild des Autors‘ – konstituieren ein geisterhaftes Zwischenwesen zwischen studium und punctum, pictura, imago und figura. Vielleicht ist ‚der Autor‘ eben die Schwelle, wo die eine Perspektive in die andere umbricht. Streng genommen gibt es hier keinen Übergang, kein Dazwischen. 65 Cees Nooteboom, „Isolde Ohlbaum“, in Isolde Ohlbaum, Bilder des literarischen Lebens. 352 Por-

traitphotographien aus vier Jahrzehnten von A–Z, mit einem Essay von Cees Nooteboom, München 2008, 7–10, hier 9. 66 Ebd. 10. Auch Martin Mosebach bemüht in Bezug auf die von der Liturgiereform zerstörten Kirchenbilder „die gestaltenreiche Communio sanctorum“, Mosebach, „‚Die Bilder aus den Herzen reißen‘ “, 73. Zum „sog. Bilderzauber“ schreibt Wolfgang Brückner, er beruhe „nicht auf substituierender Wirkmächtigkeit, sondern dien[e] zeichenhafter Kommunikationsverstärkung“, Brückner, „Bilder, Bilderverehrung, Bilderverbot, Bilderstreit“, 448. Isolde Ohlbaum, die freundlicherweise den Abdruck ihrer Fotos in diesem Beitrag gestattet, korrigiert Nooteboom in einer mail vom 8.12.2010 dahingehend, dass es sich um Photos handelt, die innerhalb von dreißig Jahren, nämlich zwischen 1978 und 2008, entstanden sind. 67 Vgl. Cordula Kahrmann/Gunter Reiß/Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse. Eine Einführung in Grundlagen und Verfahren, 2 Bde., Kronberg 1977, Bd. 1, 42. Jaap Lintvelt, Essai de typologie narrative. Le ‚point de vue‘, Paris 1981, 17.

Ikonoklasmus

363

Abb. 6: Isolde Ohlbaum, Heiner Müller (Frankfurt, 1990), in Bilder des literarischen Lebens, 234

Es bedarf der pausenlosen metaphorischen Substitution, die aus der Person ein Bild, dem Bild einen Autor, dem Autor ein Werk, dem Werk einen Mörder und aus dem Getöteten einen Wiedergänger macht. Und um nochmals auf die eingangs erwähnte Zerreißung des Bilds des Autors in Heiner Müllers Hamletmaschine zurückzukommen, mag man es immerhin als tröstlich empfinden, dass die politischen Ikonoklasten, die Autorinnen und Autoren den Lebens- oder Schreibraum verweigern, deren ‚wahres‘ Bild nicht erwischen können.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Ulrich Berges, Universität Bonn, Katholisch-Theologische Fakultät, Alttestamentliches Seminar, Regina-Pacis-Weg 1a, 53113 Bonn Dr. Hartmut Beyer, Arndtstraße 15, 48147 Münster Prof. Dr. Michele Calella, Universität Wien, Institut für Musikwissenschaft, Spitalgasse 2– 4, Hof 9, 1090 Wien, Österreich Dr. Pia Claudia Doering, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Romanisches Seminar, Bispinghof 3a, 48143 Münster Prof. Dr. Wolfgang Emmerich, Wachmannstraße 163, 28209 Bremen Dr. Dominik Höink, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“, Johannisstraße 1–4, 48143 Münster Prof. Dr. Andreas Jacob, Folkwang Universität der Künste, Klemensborn 39, 45239 Essen Meike Kimmel, Lychener Straße 16, 10437 Berlin Prof. Dr. Wolf-Dietrich Löhr, Freie Universität Berlin, Kunsthistorisches Institut, Koserstraße 20, 14195 Berlin Prof. Dr. Eckart Conrad Lutz, Université de Fribourg, Germanistische Mediävistik, Avenue de l’Europe 20, 1700 Freiburg, Schweiz Prof. Dr. Christel Meier-Staubach, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Seminar für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit, Salzstraße 53, 48143 Münster

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Dr. Andreas Pietsch, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“, Johannisstraße 1–4, 48143 Münster Prof. Dr. Bruno Quast, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Germanistisches Institut, Abteilung Literatur des Mittelalters, Vom-Stein-Haus, Hindenburgplatz 34, 48143 Münster Christian Sieg, Ph.D., Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“, Johannisstraße 1–4, 48143 Münster Anika Söltenfuß, Universität Osnabrück, Institut für Romanistik/Latinistik, Neuer Graben 40, 49074 Osnabrück Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Germanistisches Institut, Abteilung Neuere deutsche Literatur, Vom-Stein-Haus, Hindenburgplatz 34, 48143 Münster PD Dr. Daniel Weidner, Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Schützenstraße 18, 10117 Berlin Prof. Dr. Karin Westerwelle, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Romanisches Seminar, Bispinghof 3a, 48143 Münster

Personenregister

Abduazizov, Abduzukhur 11 Abraham 30 f. Abraham Ibn Ezra 32 Achenbach, Reinhard 37 Acierno, Pellegrino d’ s. Pellegrino d’Acierno Ackermann, Christiane 115 Acontius 43 Acosta-Hughes, Benjamin 47 Adalhard von Corbie 98f. Adam 30f., 88–90 Adam de la Halle 149 Adler, Guido 305 Adorno, Theodor W. 305 Adriaen, Marcus 83, 108 Adriani, Marcello 200 Aegon 52 Aelius Donatus 177, 192 Aerdulf von Northumbria 97 Aertsen, Jan A. 105 Agamben, Giorgio 352 Agde, Günter 336 Ahl, Diane C. 173, 187 Alan von Lille 21, 69, 79f., 84, 90 Albarani, Tommaso 197, 207 Albert (Kardinal) 107 Albert von Tirol 116 Alberti, Leon Battista 176, 182, 185f., 202 Albouy, Pierre 257 Alexander (der Große) 145, 264 Alexander II. 104 Alexander VI. 206

Alexandre-Bidon, Danièle 95 Alexis 53 Alighieri, Dante s. Dante Alighieri Alkinoos 42 Alkuin/Alcuin von York 22, 96–102, 109 Allard, Sébastien 259, 275, 282 Allroggen, Gerhard 302 Alpers, Paul 51 Alphesiboeus 52 Altamura, Antonio 191 Altenburg, Detlev 302 Althoff, Gerd 17, 71 Altrocchi, Rudolph 171f. Amann, Wilhelm 12 Amaryllis 43f. Amazja 33 Ambros, August Wilhelm 301 Amos 33 Andenna, Cristina 223 Andersch, Alfred 321 Andersen, Elisabeth 12–14, 134 Andersen, Hans Christian 120 Angers, David d’ s. d’Angers, David Annibaldi, Claudio 154, 155 Anselm von Besate 102 Antico (Verleger) 161 f. Antonius s. Marcus Antonius Antonius, Hl. 287 Anz, Thomas 327 Apelles 163, 168f., 176, 180, 182, 188f. Apollon (Phoebos) 21, 44–48, 56, 66, 280

368 Arat [Aratos von Soloi] 57 Aristoteles 186, 206 Arlt, Wulf 147 Arn von Salzburg 96, 98 Arneth, Martin 37 Artus 115, 121, 126 Arweiler, Alexander 16, 42, 45, 48, 163, 211 Asaph/Asaf 30 f., 34, 39 Ascoli, Albert R. 208–210 Aspasia 259 Asper, Markus 45, 47 Asselineau, Charles 259, 273, 277 Assmann, Aleida 285 Assmann, Jan 51, 285 Astemio, Lorenzo 210 Atzert, Karl 210 Auberval, Eloy d’ s. d’Auberval, Eloy Auer, Max 311 Auerbach, Erich 75, 295 Auerochs, Bernd 245 Augstein, Rudolf 318 Augustinus 73, 77, 89, 113, 185f. Aurevilly, Barbey d’ s. d’Aurevilly, Barbey Ausonius (Decimius Magnus Ausonius) 16, 56 Averlino, Antonio (gen. Filarete) 169, 189 Avienus (Postumius Rufus Festus Avienus) 57 Ax, Wolfram 192 Azzolini, Luisa 200 Baader, Hannah 169, 185 Bach, Carl P. E. 302 Bach, Johann Sebastian 302 Bachmann, Ingeborg 321 Bätschmann, Oskar 254 Bagliani, Agostino P. 89 Bahr, Hermann 304 Bailly-Herzberg, Janine 268 Bailey, Helen P. 288 Bainton, Roland H. 216 Baldovinetti, Alesso 171 Balluseck, Lothar 332 Balzac, Honoré de s. de Balzac, Honoré Banville, Théodore de s. de Banville, Théodore Barasch, Moshe 285, 287 Barbey d’Aurevilly, Jules Amédée 268 Barner, Wilfried 322 Barocchi, Paola 164, 185 Barolsky, Paul 165f., 169, 178, 185, 187f., 191 Barriault, Anne 166

Personenregister Barthes, Roland 9f., 24, 27, 71f., 133, 231–233, 236, 240, 257, 349–351, 353, 359, 362 Bartholeyns, Gil 172 Bartoli, Lorenzo 169 Baruch 35 Bast, Robert J. 215 Basu, Helene 17, 71 Battaglia, Salvatore 193 Battestin, Martin C. 237, 241 Baudelaire, Charles 18, 25, 253–265, 267–282, 284–286, 288, 290f., 292, 294–297 Bauer, Dieter R. 218 Bauer, Hermann 166 Baxandall, Michael 168, 178f. Bayer, Oswald 18, 233 Bayer, Wolfram 11 Becherini, Bianca 156 Bechstein, Reinhold 112, 116, 131 Becker, Rolf 322 Beethoven, Ludwig van s. van Beethoven, Ludwig Behr, Hans-Joachim 111f., 128 Behrens, Rudolf 209 Bein, Thomas 12f., 134 Bekker, Paul 306, 307 Bell, Ian A. 239, 241 Bellini, Jacopo 202 Bellis, Alice O. 36 Belting, Hans 356–359 Ben Zvi, Ehud 36 Bender, Harold S. 216 Benedikt IX. 164 (s. a. Benedikt XI.) Benedikt XI. 164 Benericetti, Ruggero 101 Bénichou, Paul 253 Benjamin, Walter 345 Bennwitz, Hanspeter 308 Bent, Margaret 158 Benvenuto Rambaldi da Imola 168, 191 Berg, Henk de s. de Berg, Henk Berger, Christian 149 Berges, Ulrich 20 f., 29, 32, 39 Berlioz, Hector 304f. Bernhard von Kärnten 116 Bernoulli, Albrecht 352 Bernsdorff, Hans 42 Berthold von Aquileja 116 Bertoldo di Giovanni 179 Bettarini, Rosanna 164, 286

Personenregister Bettinzoli, Attilio 176f. Betz, Hans D. 357 Beuken, Wim 33 Beumann, Helmut 95 Beyer, Hartmut 14, 22, 93 Bickenbach, Matthias 14, 183, 358–360 Biermann, Hartmut 166, 188 Bileam 30 Bilstein, Johannes 166 Binchois, Gilles 152, 157, 159f. Blaukopf, Kurt 301 Bleumer, Hartmut 112, 117f. Blin, Georges 257, 263, 286 Blöcker, Günter 317 Blödorn, Andreas 136 Blouw, Paul V. 218, 226 Bludau, Beatrix 328 Blume, Dieter 168, 178f. Boccaccio, Giovanni 23, 167–169, 176, 178 f., 187, 192 Boer, Willem den s. den Boer, Willem Boethius (Anicius Manlius Severinus Boethius) 146 Böggemann, Martin 306 Bohrer, Karl H. 261, 285 Böll, Heinrich 20, 26, 317–324, 326–330 Böll, Viktor 329 Bonaparte, Napoleon s. Napoleon Bonaparte Bonaventura 186 Bonifaz VIII. 210 Bonnet, Jean-Claude 262, 265 Bonushomo (Richter in Cesena) 102 Booth, Wayne C. 22, 133, 136, 139, 240, 354f. Borchert, Wolfgang 324 Borck, Karl H. 89 Borghini, Vicenzo 188 Borgia, Cesare 195, 206 Borgwardt, Angela 337 Borisova, Iraida 11 Born, Nicolas 318 Bornecque, Henri 120 Borst, Arno 184 Bosse, Heinrich 17 Bottari, Giovanni 176 Bouillon, Jean-Paul 269, 273 Bourdieu, Pierre 319, 338 Bourdin, Gustave 259 f. Bowen, Barbara C. 190 Bowers, Fredson 237

369 Bracciolini, Poggio 188 Brackert, Helmut 17 Brahms, Johannes 305, 307, 311 Branca, Vittorio 168, 197, 207 Bracquemond, Félix 253, 256, 268–271, 273, 276, 278 Braun, Manuel 112 Braun, Werner 148 Bräunig, Werner 335f. Brecht, Bertolt 321, 331, 335, 342, 344, 346 Bredekamp, Horst 166 Brentano, Clemens 235 Brilli, Elisa 171 Brinkmann, Reinhold 314 Broise, Eugène de s. de Broise, Eugène Bronnen, Arnolt 317 Broos, Ben P. J. 166 Brossard, Sebastian de s. de Brossard, Sebastian Brown, Peter 54, 58 Bruckner, Anton 25 f., 299, 305–311, 313–316, 323 Brückner, Jane 11 Brückner, Wolfgang 356, 359, 362 Brüggen, Elke 129 Bruneau, Jean 268 Brunelleschi, Filippo 171f., 175, 183f., 187, 202 Brunet, Johannes 155 Bruni, Leonardo 200 Brunner, Karl 114 Brunotte, Ulrike 358 Bucher, André 13 Buck, August 197 Bürkle, Susanne 13, 144 Büttner, Frank 15 Bullough, Donald A. 96 Buloz, François 259 Bumke, Joachim 139 Bunge, Hans 331 Buonarroti, Michelangelo s. Michelangelo Buonarroti Buondelmonti, Zanobi 196, 204 Burioni, Matteo 166 Burke, Seán 9 Burney, Charles 145, 301 Burnier, Alexandre 61f., 65 Busnois, Antoine 159 f. Cadenbach, Rainer 315 Caesar, Caius Iulius 106, 107

370 Cain, Andrew 93 Cairns, Francis 43 Calame, Claude 16 Calella, Michele 23, 145, 147, 159 Calero Valera, Ana R. 12 Calvin, Johannes 215, 358 Calypso 42 Camp, Maxime du s. du Camp, Maxime Campe, Rüdiger 237 Caravaggio (Michelangelo Merisi da Caravaggio) 352f. Cardini, Roberto 180 Carjat, Étienne 253, 270 Carl, Doris 170f., 173–175, 178, 182f., 186f. Caron, Firminus 159f. Carstair, John 190 Cartwright, Julia 175 Casella, Alfredo 149 Caterina de’ Medici 197 Catterson, Lynn 193 Catull (Gaius Valerius Catullus) 16, 42f., 49f., 56 Cavalcanti, Andrea 170f. Cavallucci, Camillo J. 184 Céard, Jean 273 Cenni de Peppo, gen. Cimabue s. Cimabue Cennini, Cennino 174, 178 Chabod, Federico 200 Chakhalja 30 Champfleury, Jules 274 Chartier, Roger 16 Chateaubriand, François R. de s. de Chateaubriand, François R. Chatman, Seymour 136–139, 354 Chiavacci Leonardi, Anna M. 201 Chinca, Mark 112 Chiron 43 Chrétien de Troyes 134 Cicero (Marcus Tullius Cicero) 16, 42, 54, 107, 201, 210 f. Cimabue (Cenni de Peppo) 165, 167 ˇ Cizmi´ c, Vlatka 17 Cladel, Léon 263 Clarac, Pierre 277 Clausen, Wendell 43 Clemen, Wolfgang 355 Clemens VII. 156 Clemens, römischer Bischof 352 Coleman, Robert 43, 46 Cölestin III. 105

Personenregister Collareta, Marco 170, 173f., 176f., 183, 185, 187 Colli, Giorgio 9 Coluccio Salutati s. Salutati, Coluccio Conard, Robert C. 328 Contini, Gianfranco 286 Conybeare, Catherine 58 Cormeau, Christoph 113 Corot, Jean-Baptiste C. 266 Corti, Alessandra 10 Corydon 53 Cosimo I. de’ Medici 157, 202 Coulombel, Arnaud 274 Courbet, Gustave 253, 260, 266, 271, 273 Courbet (Komponist) 160 Courcelle, Pierre 177 Coxon, Sebastian 140 Cramer, Samuel 263, 264 Crépet, Eugène 259, 271f. Crépet, Jacques 257, 259, 263, 286 Culler, Jonathan D. 233f., 240 Curschmann, Michael 113 Cutolo, Paolo 185 Cuvelier, Johannes 156 Cydippe 43 Cyrus 208 Czurda, Elfriede 360 d’Acierno, Pellegrino 193 d’Angers, David 262 d’Auberval, Eloy 160 Dahlhaus, Carl 304 Dahm, Friedrich 114 Dahmen, Ulrich 39 da Maiano, Benedetto 169 f., 172, 174f., 181– 183, 186f. Damoetas 52 Damrosch, Leopold 238 Daniel, Prophet 30 f., 227 f. Daniel Nazarenus 24, 226–229 Dante Alighieri 88 f., 149, 167f., 170–174, 180, 182, 184f., 187f., 190f., 200f., 210, 259, 275, 282, 284–287, 294, 296 da Palestrina, Giovanni Pierluigi 161 f., 299 Daphnis 49, 51–53 Daumier, Honoré 257, 265f., 268, 282 David 30f., 38 f., 146 Dean, Jeffrey 157 de Balzac, Honoré 254, 261–263 de Banville, Théodore 264

Personenregister de Berg, Henk 11, 354 de Broise, Eugène 258 de Brossard, Sebastian 304 de Chateaubriand, François R. 54, 260, 288 Defert, Daniel 10, 320 de Hartel, Guilelmus 56, 65 Deicke, Günther 332 Delacroix, Eugène 259, 266, 271, 275 f., 282, 284, 288, 290–292, 297 de Lamartine, Alphonse 257, 274 Dell, Katharine J. 33 della Latta, Allessandro 163 del Lungo, Isidoro 175 de Machaut, Guillaume 149 de Mars, Victor 259 Demetrius 94 de Montaigne, Michel 205, 274 de Morales, Cristobal 157, 161 Demosthenes 259 den Boer, Willem 57, 74 den Hollander, Aurelius A. 221 Denk, Claudia 265 de Robertis, Domenico 286 de Ronsard, Pierre 273 f. Deroy, Émile 253, 273 Derrida, Jacques 9 de Sacy, Sylvestre 271 Desan, Philippe 274 Desprez, Josquin 301 de Staël, Germaine 274 Detering, Heinrich 10, 138, 343 Deutero-Jesaja 32 de Vigny, Alfred 263f. Dicke, Gerd 120 Diderot, Denis 264 Diekmann, Christoph 337 Dierkens, Alain 171 Diesenberger, Maximilian 96 Dietl, Albert 171, 183, 186 Diomedes 192 Dionysos 325 Dirks, Walter 321 f. Döblin, Alfred 12 Döderlein, Johann C. 32 Doering, Pia C. 24, 195, 264, 276 Dohmen, Christoph 36f. Domenico di Michelino 171f. Donatello 185 Dopsch, Heinz 114f., 126

371 Dorschel, Andreas 303 Drees, Stefan 306 Driedger, Michael 216 Drost, Wolfgang 264, 275 du Camp, Maxime 271f. Düffel, John von s. von Düffel, John Dümmler, Ernst 97 Dünne, Jörg 267 Dufay, Guillaume 149, 151f., 156, 159f. Dufayis, Charles 258, 263 Dufour, Hélène 265 Duhm, Bernhard 32 Dunstable, John 159 Duplan, Jules 268 Dupont, Jacques 270 Durand, Georges 259 Ebbersmeyer, Sabrina 17 Ebenbauer, Alfred 112 Eberhard II. von Salzburg 116 Eckermann, Johann P. 300 Eco, Umberto 90, 356 Edelmann, Gregor 344 Eggebrecht, Hans H. 145, 303 Einhard 22, 95f. Eisler, Hanns 331 Eke, Norbert 348 Elidad 226 Ellerbrock, Karl P. 277 Emerton, John 33 Emison, Patricia A. 170, 174 Emmerich, Wolfgang 26, 331 Enenkel, Karl A. E. 17 Enzensberger, Hans M. 319, 322 Erasmus von Rotterdam 274 Erb, Andreas 244 Erhart, Walter 321 Ernst, Fritz 200 Eroms, Hans-Werner 19f. Erren, Manfred 177 Esra 30, 37, 221 Eurotas 47f. Ewald, François 10 Ezechiel/Hiezechiel/Jechezqel 30, 31f., 35 f., 82, 221 Fabry, Heinz-Josef 39 Fähmel, Robert 323 f., 326 Falaschi, Enid T. 167

372 Fantin-Latour, Henri 253, 288 Farnese, Alessandro 157 Fast, Heinold 216 Fastert, Sabine 14 Faugues, Guillaume 160 Felix, Hl. 54–56, 58–65 Felmy, Karl C. 357 Fenlon, Iain 161 Ferdinand von Aragon 159 Feser, Sabine 166 Féval, Paul 271 Fielding, Henry 25, 231 f., 237–241, 243–245, 247–250 Figal, Günter 313 Filarete s. Antonio Averlino (gen. Filarete) Finlay, Frank 323 Finoli, Anna M. 169 Finscher, Ludwig 148, 153, 156, 159, 161, 301 Fischer, Hartwig 261 Fischer, Kurt von s. von Fischer, Kurt Fischer-Lichte, Erika 63 Fischer-Seidel, Therese 18, 281 Flasch, Kurt 113 Flaubert, Gustave 25, 258, 260, 267 f., 348 Flavius Josephus s. Josephus Flavius Fleckenstein, Josef 113 Floerke, Hanns 163 Floros, Constantin 314 Fohrmann, Jürgen 10 Fontaine, Jacques 57, 62 Fontana, Giovanni 202 Fontenelle (Bernard le Bovier de Fontenelle) 258 Foucault, Michel 9, 10, 24 f., 27, 72, 133, 140, 142, 231f., 235f., 251, 320, 327, 348f., 351– 353 Fourrier, Charles 258 Francesco da Buti 191 Franck, César 305 Franz I. 204 Frappier, Jean 14 Freccero, John 208 Freud, Sigmund 339 Freund, Stephan 101 Frevel, Christian 36 Friedrich II. 114 Friedrich II. (der Streitbare), Herzog von Österreich 111 Friedrich, Hugo 261 Friedrich, Markus 15

Personenregister Frisch, Max 322, 323 Frisch, Walter 304 Fröhlich, Claudia 321 Früchtl, Josef 19 Führkötter, Adelgundis 13 Fuhrmann, Manfred 75, 78 Full, Bettina 257, 280, 291 Fussenegger, Gertrud 359 Gaehtgens, Thomas W. 262 Galle, Roland 209 Gallus 43 Gardano, Antonio 161 Garrison, Mary 95f., 98, 101 Gasch, Stefan 158 Gaston Fébus von Foix und Béarn 156 Gauly, Bardo M. 16 Gaurico, Pomponio/Gauricus, Pomponius 185 Gautier, Théophile 253, 264, 268, 270–272, 274, 276, 290 f. Geisler-Szmulewicz, Anne 275 Genazino, Wilhelm 348 f., 359, 361f. Genette, Gérard 137–139, 196, 234, 355f. Gennadius 352 Georges, Karl E. 179, 185 Gerhard von Florenz 104 Gerhardt, Christoph 130 Germer, Stefan 254 Gertrud von Helfta 123 Ghiberti, Lorenzo 165, 167, 169 Ghirlandaio, Domenico 182, 274 Giacomuzzi, Renate 10 Giannini, Crescentino 191 Gibbons, William 149, 152 Giotto (di Bondone) 23, 163–170, 172–193 Giovanni de’ Medici 156 Giovanni, Bertoldo di s. di Giovanni, Bertoldo Girard, Marie-Hélène 264 Gisela 96, 100 Giulio de’ Medici 196 Glarean, Heinrich 301 Glauch, Sonja 135 Glavinic, Thomas 11 Glienke, Stephan A. 321 Glier, Ingeborg 129 Gloning, Thomas 87 Gnilka, Christian 62 Goethe, Johann Wolfgang 18, 235, 290, 300, 302, 323, 350 f.

Personenregister Goldschmidt, Lazarus 30 Golsenne, Thomas 172 Gómez, Maricarmen 156 Gottfried von Neifen 112, 119, 123 Gottfried von Straßburg 23, 116, 126, 133, 140– 144 Gottschewski, Adolf 165 Gow, Andrew C. 215 Goya, Francisco 278, 280, 284 Gozzoli, Benozzo 173 f., 179, 181 f., 187 Grabbe, Lester L. 36 Grandjean, Wolfgang 314 Grasberger, Franz 310, 314 Grass, Günter 317, 320, 322, 360f. Grassi, Liliana 169 Grassi, Luigi 178 Greci, Roberto 102 Greco, Aulo 188 Gregor der Große (Gregorius Magnus) 82, 89, 99, 108, 146 f. Grésillon, Almuth 136 Grevinchoven, Caspar 214, 218 Grimm, Gunter E. 10, 19, 360 Grimm, Reinhold R. 14 Gronau, Georg 165 Grubmüller, Klaus 130 Grünbein, Durs 342, 345 Grundmann, Herbert 89 Günther, Georg W. 190 Günther, Ursula 156 Guibertus, Hl. 148 Guido von Arezzo 146 Guido von Montefeltro 210 Guilielmus Monachus/Gullielmo Monaco 147 Guizot, François 262 Gutzen, Dieter 236 Guyard, Marius-François 257 Guyaux, André 260, 272, 277 Habinek, Thomas 53 Haferland, Harald 112, 135 Haftmann, Werner 182 Hahn, Barbara 10 Hahn, Gerhard 127 Hamilton, Alastair 214, 217, 219, 221, 223f., 226 Hamlet 25, 278, 282–294, 296 f., 343, 347f., 355 f. Hamm, Berndt 215 Händel, Georg Friedrich 323

373 Harrandt, Andrea 308f. Hartel, Guilelmus de s. de Hartel, Guilelmus Hartmann von Aue 23, 134, 139, 143 Hasebrink, Burkhard 123 Hase-Koehler, Else von s. von Hase-Koehler, Else Haubrichs, Wolfgang 14, 81, 134 Haug, Andreas 303 Haug, Walter 13, 17, 84, 159 Hauptmann, Gerhart 321 Hausmann, Albrecht 134 Haussmann, George-Eugène (Baron) 277 Haydn, Josef 302 Hecht, Christian 357f. Heftrich, Eckhard 328 Heidenreich, Elke 359f. Heilbrun, Françoise 253, 265 Heine, Heinrich 257, 304 Heinich, Nathalie 254, 263 Heinrich II. 105, 107 Heinrich von Istrien 116 Heinrich von Ravenna 103 Heinzle, Joachim 12 Hellgardt, Ernst 133f. Hellmold, Martin 11, 348 Heman 30f., 39 Henderson, James 318 Henderson, Judith R. 94 Herbeck, Johann 308f. Herbers, Klaus 218 Herbst, Alban N. 11 Herder, Johann Gottfried 32f., 246 Hermann von Ortenburg 116 Hermlin, Stephan 333 Herrmann, Alexander 310 Herzhoff, Bernhard 43 Herzog, Reinhart 54 Hieron von Syrakus 206f. Hieronymus, Hl. (Jerome, Jérôme) 22, 93, 96–98, 352f., 255 Higgins, Paula 158 Hilberg, Isidor 93 Hildebrand, Archidiakon 104 Hildebrandt, Reiner 87 Hildegard von Bingen 13, 17, 21, 69–71, 79, 83– 91, 223 Hillerbrand, Hans J. 215 Hinz, Berthold 358 Hiob/Ijob/Iob 30f., 108

374 Hirschler, Konrad 131 Hiskija 30 f. Hödl, Günther 115f. Hoeges, Dirk 197, 203, 209 Höink, Dominik 25, 299 Hölderlin, Johann C. F. 26, 323–327 Hörnigk, Therese 337 Hoff, Kay 320 Hoffmann, Ernst T. A. 235 Hoffmann, Torsten 327 Hofmeister, Wernfried 125 Hollander, Aurelius A. den s. den Hollander, Aurelius A. Holthusen, Hans E. 318 Holtzman, Ellen 268 Homer 30, 107, 167, 180, 234, 259, 293 Honecker, Erich 335 Horaz (Quintus Horatius Flaccus)/Horace 16, 45, 47, 54, 61, 75, 78, 85, 179, 185, 238 Horky, Mila 15, 173 Horning, Dieter 11 Horstmann, Ulrich 350 Hortschansky, Klaus 153 Hossfeld, Frank-Lothar 36 Houdt, Toon van s. van Houdt, Toon Houssaye, Arsène 258, 271f. Hubbard, Margaret 45 Hubbard, Thomas 42, 48 Huber, Christoph 113 Huck, Oliver 301 Hübner, Gert 118 Hugler, Marie-Luise 163 Hugo von Langenstein 123 Hugo von Monfort 148 Hugo von St. Viktor/Hugo de Sancto Victore 191 Hugo, Victor 253, 257, 261, 264, 268, 270, 272 Hulda, Prophetin 34 Hummel, Christine 324 Hundsnurscher, Franz 134 Hunter, Paul 237 Hytier, Jean 261 Ikarus 280 Ilberg, Johannes 45 Imbach, Ruedi 89, 113 Ingold, Felix Philipp 10, 13 Ingres, Jean(-Auguste)-Dominique 258, 282, 293 Innozenz IV. 114

Personenregister Isaac, Heinrich 161 Iser, Wolfgang 238 Isidor von Sevilla/Isidorus Hispalensis 76, 98, 193 Jabne 31 Jacob, Andreas 25, 299, 306 Jacopo da Diacetto 196 Jaeger, Charles S. 120 Jäger, Manfred 334 Jakob, Michael 280 Jamnia 31 Jannidis, Fotis 9, 10, 12, 16, 71f., 133f., 138, 231–233, 349f., 353–356 Jaszi, Peter 17 Jauß, Hans R. 261 Jean Paul 25, 231f., 235, 244–251, 317 Jeduthun 30f., 39 Jehoshua 30 Jelinek, Elfriede 361 Jeremia/Jirmeja 30–36 Jesaja/Isaiah 21, 30–36 Jesaja Ben Amoz 31 Jesus Christus 21, 55–60, 63, 66, 74, 76, 81–83, 97, 100–103, 108, 172, 176, 179, 182, 185f., 213, 224f., 258, 280, 296, 324, 357 f. Jewanski, Jörg 148, 161 Jhwh 31,–34, 37, 39 Jirku, Brigitte 12 Johann I. von Aragon 156 Johannes von Damaskus 357 Johannes von Lodi 101 Johannes von Salisbury/Johannes (Ioannes) Sarisberiensis 105, 107, 109, 120 Johnson, L. Peter 12 Johnson, Uwe 11, 322, 354 Jojakim 35 Joris(z), David 214, 218 Joschafat 39 Joschija 34 Josephus Flavius 30 Juan Manuel 120 Jubal 146 Judic, Bruno 99 Jünger, Ernst 313, 342 Juliana von Cornillon 123 Julius II. 195 Julius Caesar 106, 107 Junod-Ammerbauer, Helena 58

Personenregister Jupiter 57 Justin/Iustinus (Marcus Iunianus Iustinus) 207 Kablitz, Andreas 208, 212 Kafka, Franz 342, 348 Kahn, Victoria 208–210 Kahrmann, Cordula 362 Kallimachos/Callimachus 43, 45–47, 51, 56 Kampfhammer, Gerald 15 Kampmann, Sabine 11 Kamptner, Margit 55f., 65 Kanz, Roland 256 Kapteyn, Johannes M. N. 120 Karasek, Hellmuth 319 Karl der Große 14, 98 Karl V. 156 Kasten, Ingrid 122 Kaufmann, Hans 337 Kayser, Wolfgang 233–235 Kellner, Beate 16, 74 Kemp, Wolfgang 166 Kenney, Edward J. 43 Ketteler, Rolf 148, 161 Kiening, Christian 186, 190, 191, 193 Kierkegaard, Søren 233 Kiesel, Helmuth 321 Kilcher, Andreas B. 244 Kimmel, Meike 16, 21, 41, 131 Kindt, Tom 138 King, Catherine 179 Kirkman, Andrew 157 Kirsch, Wolfgang 55 Kirschbaum, Engelbert 184 Kittsteiner, Heinz D. 337 Klappert, Annina 358, 360, 183 Kleer, Martin 38f. Klein, Dorothea 10, 13 Kleinschmidt, Erich 11, 19 Kleist, Heinrich von s. von Kleist, Heinrich Klopsch, Paul 12, 71, 73 Knapp, Fritz P. 112, 128, 130 Knauf, Ernst A. 32 Knaupp, Michael 326 Kocka, Jürgen 321 Kohlwes, Klaus 56, 62f. Köhn, Rolf 105 Kolesch, Doris 63 Kommerell, Max 245 König, Roderich 189

375 Koopmann, Helmut 328 Koppenfels, Martin von s. von Koppenfels, Martin Köpping, Klaus-Peter 63 Kornrumpf, Gisela 111, 119, 125 Korstvedt, Benjamin 313 Koschorrek, Walter 111 Koselleck, Reinhart 54 Kranz, Walther 176 Kratz, Reinhard G. 36 Kraus, Carl von s. von Kraus, Carl Kraus, Manfred 95 Krems, Eva 163 Krenn, Gerald 115, 126 Kris, Ernst 163, 165f. Krohn, Rüdiger 141 Kroll, Wilhelm 45 Krolzik, Udo 105 Krüger, Klaus 168 Krüger, Paul 109 Krummacher, Friedhelm 302, 315 Künzel, Christine 19 Kuhn, Hugo 119 Kurth, Ernst 306 Kurz, Otto 163, 165f. Lacaita, Jacopo Filippo 191 Lacan, Jacques 355 Lacroix, Paul 266 Ladis, Andrew 166, 178 Laertes 285 Laforgue, Jules 288 Lagrange, Jacques 10 Lähnemann, Henrike 113 Lamartine, Alphonse de s. de Lamartine, Alphonse Lamberigts, Mathijs 221 Lambert von Ardres 113 Land, Norman E. 168f. Landini, Francesco 149 f., 152 Landino, Cristoforo 180, 182 Lanfredini, Orsino 176 Langer, Daniela 136, 327 Langlois, Eustache Hyacinthe 268 Lanham, Carol D. 95 Latta, Alessandro della s. della Latta, Allessandro Lauer, Gerhard 9, 138 Lavin, Irving 166 Lechner, Karl 114

376 Lehmann, Henri 288, 291 Lehmann, Paul 73 Leidl, Christopher 16 Leischner, Carl F. 190 Lejeune, Philippe 11 Leleu, Thomas 274 Lemaire, André 36 Le Men, Ségolène 262 Le Pichon, Yann 253, 277 Lemot, Achille 268 Lenin, Wladimir I. U. 332, 343 Lentes, Thomas 185 Leo I. (Kaiser) 108 Leo III. 98f., 358 Leo X. 197 Leonardo da Vinci 280 Leonin 147 Leopold VI. 116 Lepenies, Wolf 267 Leppin, Volker 215 Lerouge, Guillaume 160 Leube, Dietrich 359 Leuker, Tobias 176, 188 Levi, Leviten 31, 37 Levi, Hermann 309 f. Lindeboom, Johannes 216f. Linden, Sandra 111 Lindner, Adalbert 311 Lindner, Ralph 11 Lindner, Rolf 244 Lindsay, Wallace M. 98 Lintvelt, Jaap 362 Lipka, Michael 46 Lipsius, Justus 17 Listenius, Nicolaus 153f., 302 Liszt, Franz 272, 304 f. Locher, Hubert 178 Lodes, Birgit 147–149, 158 Loesch, Heinz von s. von Loesch, Heinz Löhr, Wolf-Dietrich 15, 23, 163, 166, 169, 174, 183, 274 Lorenzo I. de’ Medici (il Magnifico) 169, 182f., 188, 197 Lorenzo de’ Medici, Herzog von Urbino 195, 197 f., 204 Lorenzo Monaco 174 Lorini, Victoria 166 Louis XIV. 264 Louis, Rudolf 306

Personenregister Lowrie, Michèle 16, 45f., 50f., 53 Lucan (Marcus Annaeus Lucanus) 107 Lucilius 107 Ludwig XII. 195 Lücke, Hans-Karl 195 Lütteken, Laurenz 148, 154f. Luhmann, Niklas 72 Lukács, Georg 341 Lukian (von Samosata) 258 Lungo, Isidoro del s. del Lungo, Isidoro Lupus von Ferrières 95 Luther, Martin 147, 215, 218, 220, 222, 248, 301, 357f. Lutz, Eckart Conrad 14, 22, 76, 81, 111, 113, 120, 134 Lyotard, François 176, 180 Lysipp 176 Machaut, Guillaume de s. de Machaut, Guillaume Machiavelli, Niccolò 24, 113, 195–212, 276 Maclovus, Hl. 148 Macrobius/Macrobe (Macrobius Ambrosius Theodosius) 106, 120 Madjitowa, Halida 11 Mahler, Gustav 305, 307 Mahling, Christoph H. 148 Maiano, Benedetto da s. da Maiano, Benedetto Maier, Barbara 111, 115, 125 Maier, Elisabeth 307, 310 Maier, Johann 39 Mainberger, Sabine 169 Malki Zedek s. Melchisedek Mallarmé, Stéphane 256, 264, 288 Mal-Maeder, Danielle van van Mal-Maeder, Danielle Manet, Édouard 253, 260, 265, 271–273, 276, 278f., 288–290 Maginnis, Hayden B. J. 164f. Mangolt, Burkhard 148 Manitius, Karl 27 Mann, Albrecht 184 Mann, Heinrich 321 Mann, Thomas 317, 319, 328 Mantegna, Andrea 179 Manthey, Jürgen 318 Marchand, Jean-Jaques 198 Marcucci, Valerio 168 Marcus Antonius 107 Marini, Nicoletta 94

Personenregister Mars, Victor de s. de Mars, Victor Marsh, Christopher W. 217 Marsuppini, Carlo 171, 187 Martens, Günter 13 Martelli, Mario 196, 200f. Martial (Marcus Valerius Martialis) 176 Martindale, Charles 42 Martínez, Matías 9 Martin le Franc 149, 151 Marzio, Galeotto/Martius, Galeottus 193 Marty, Éric 257 Marx, Barbara 154 Marx, Eva 308 Marx, Karl 334, 341–343 Massenkeil, Günter 314 Matarrese, Tina 154 Matheus de Sancto Johanne 156 Maximilian I. 195, 224 May, Karl 327 McLaughlin, Robert E. 214 McLelland, Nicola 120 McPherson, Heather 253 Meade, David G. 35 Meier, Christel 9, 14, 17, 21, 69, 71, 78f., 81, 83– 86, 89f., 146, 161, 163, 193, 223, 229 Meier-Staubach, Christel s. Meier, Christel Mein, Georg 12 Meinhard von Görz 116 Melanchthon, Philipp 215 Melania (die Jüngere) 62 Melchisedek (Malki Zedek) 30f. Meliboeus 43, 53 Melville, Gert 13, 71, 218 Ménager, Daniel 273 Menalcas 49–54 Menander (Rhetor) 55 Merisi, Michelangelo s. Caravaggio, Michelangelo Merisi da Mertens, Volker 143 Mettauer, Adrian 134 Meyer, Matthias 17, 135 Michelangelo Buonaroti 164, 170, 185, 188, 280 Miedema, Nina 134 Millard, Alan 33 Miller, Norbert 246f., 249 Milton, John 42, 238 Minnis, Alastair J.13 Mitscherlich, Alexander 318 Möseneder, Karl 166, 357

377 Moffit, John F. 166 Molière (Jean-Baptiste Poquelin) 266 Monfils, Lesley 217 Montaigne, Michel de s. de Montaigne, Michel Montinari, Mazzino 9 Moos, Peter von s. von Moos, Peter Mopsus 49–53 Mora, Terézia 12 Morales, Cristobal de s. de Morales, Cristobal Moschos 46 Moses/Moshe 30 f., 34–39, 81, 108, 208, 357 Mosebach, Martin 11, 350, 357, 362 Moss, Jean D. 214 Mostert, Marco 95 Mozart, Wolfgang Amadeus 323 Mratschek, Sigrid 62, 64 Mühlegger, Florian 17 Mühleisen, Hans-Otto 197 Müller, Gerhard 324 Müller, Hans-Harald 138 Müller, Heiner 26 f., 331, 333, 341–348, 350, 356, 360, 363 Müller, Herta 361 Müller, Irmgard 87 Müller, Jan-Dirk 13, 111–113, 129f., 208 Müller, Klaus-Detlef 351 Müller, Ulrich 112 Münkler, Herfried 199, 202, 207 Münkler, Marina 202 Müntz, Marc 185 Mukaˇrovsk´y, Jan 354 Mulsow, Martin 17 Mynors, Roger A. B. 44 Nadar, Félix 253, 262, 265, 269, 277f. Nagel, Alexander 170, 175–177, 182, 185–187 Napoleon (Bonaparte) 271 Naumann, Ursula 246 Nebukadnezzar 227f. Nechemja/Nehemia 30 Neri di Bicci 174 Nerval, Gérard de 253f., 256, 258 Neumann, Florian 17 Neumann, Friedrich 113 Neumann, Robert 318 Neumann, Sven 87 Neumeister, Sebastian 122 Nicetas, Bischof 63f. Nichols, Stephen G. 13

378 Niclaes, Hendrik 24, 213–229 Nieberle, Sigrid 10 Niederkorn-Bruck, Meta 96, 98 Niefanger, Dirk 321 Nielen, Manfred 324 Niemann, Walter 306 Nietzsche, Friedrich 9, 24, 231–233, 342 Nikolaus II. 104 Nipperdey, Thomas 25, 303 Nippold, Heinrich 214 Nisbet, Robin 45 Nissinen, Martti 39 Nitsche, Barbara 15 Nooteboom, Cees 360, 362 Nora, Pierre 262, 265 Norman, Diana 179 Nünning, Ansgar 138, 354 Nutt-Kofoth, Rüdiger 13 Obama, Barack 17 Oberman, Heiko A. 215 Ockeghem, Johannes 158–160 Oehler, Dolf 257 Oesterreicher, Wulf 17, 222 Ohlbaum, Isolde 359–363 Okken, Lambertus 142 Orgass, Stefan 306 Orlandi, Giovanni 185 Orpheus 26, 38, 342–344 Osbald (König) 97 Oswald von Wolkenstein 148 f. Otfrid von Weißenburg 16, 74 Otto I. (der Große) 17 Otto, Eckart 36–38 Ottokar 111 Ovid (Publius Ovidius Naso) 107, 117, 167, 176, 185, 276, 342 Oy-Marra, Elisabeth 170f., 173f., 178, 182f. Ozouf, Mona 262, 284 Pachet, Pierre 258 Paden, William D. 13 Paganini, Niccolò 304 Palestrina, Giovanni Pierluigi da s. da Palestrina, Giovanni Pierluigi Palmer, Nigel F. 13, 113, 123, 130 Panti, Cecilia 89 Paravicini, Werner 122 Parker, Joy A. 240

Personenregister Parr, Rolf 10, 12 Partsch, Erich W. 310 Pascal, Blaise 205, 237 Pasolini, Pier P. 11 Paul, Jean s. Jean Paul Paulinus von Nola 16, 21, 41, 54–62, 64–66 Paulmann, Volker 321 Paulus 102, 108 Pecar, Andreas 215 Peleus 43 Pepe, Mario 178 Perels, Joachim 321 Pérennec, René 122 Perosa, Alessandro 176 Perotin 147 Perseus von Makedonien 206–208 Peter von Blois/Petrus Blesensis 105–109 Peters, Susanne 18, 281 Peters, Ursula 13–15, 17, 112, 125, 144, 274, 360 Petersen, Carl 306 Petrarca, Francesco 17, 105f., 168, 173f., 207, 274, 282, 286f., 296, 360 Petrovic, Ivana 47 Petrus, Apostel 99, 324 Petrus Damiani/Pier Damiani 14, 22, 101–104, 109 Petrus de Domarto 160 Pfisterer, Ulrich 165, 168, 178f., 186, 202 Pfitzner, Hans 305 Phaidros 42 Philipowski, Katharina 129 Philipp der Schöne 158 Phlegias 275 Phoebus (Apollon) s. Apollon (Phoebus) Phylipoctus de Caserta 156 Pichois, Claude 253, 255, 270, 272, 277, 286 Piero de’ Medici 156 Pietsch, Andreas 24, 213 Pietschmann, Klaus 157 Pinianus 61, 62 Pippin von Italien 97 Pisano, Andrea 173, 181, 183 Pitoni, Ottavio 145 Plachta, Bodo 13 Platon 42, 137 Plinius der Ältere (Gaius Plinius Secundus Maior) 168f., 180, 188f. Plinius der Jüngere (Gaius Plinius Caecilius Secundus) 94

Personenregister Plumpe, Gerhard 17 Poe, Edgar A. 263f., 276f. Poirel, Dominique 191 Poliziano, Angelo 170, 175–177, 179f., 183f., 186– 188 Pommier, Éduard 274 Pompe, Hedwig 358, 360 Pompeius Trogus (Gnaeus Pompeius Trogus) 207 Pope, Alexander 241 Popp, Susanne 312, 314 Potts, Alex 18, 281 Poulet-Malassis, Auguste 258, 260, 268 f., 273, 277, 282 Pozzi, Raffaele 158 Prangel, Matthias 11, 354 Preimesberger, Rudolf 185, 274 Properz (Sextus Aurelius Propertius) 16, 178 Protogenes 168 f. Proudhon, Pierre-Joseph 281 Proust, Marcel 267, 277, 348 Prügl, Thomas 215 Pulci, Luigi 188 Pulloys, Jean 160 Putnam, Michael 50, 167, 177 Pythagoras 146 Qoheleth 30 Qorach 30 Quast, Bruno 22 f., 133, 354 Radicke, Jan 94 Radulf von Beauvais 107 Rädle, Fidel 14, 74 Raffael(lo) Santi/Raffael da Urbino 259 Ragotzky, Hedda 127 Raimondi, Ezio 210 Rameau, Jean-Philippe 264, 312 Ranawake, Silvia 119 Ranke, Friedrich 116, 141 Ranke, Kurt 120 Rankin, Susan 147 Rasch, Wolfdietrich 250 Ratschow, Carl H. 216 Reckow, Fritz 147 Reff, Théodore 271 Reger, Max 25 f., 299, 307, 311–316 Reginald von Bath 106 Regis, Johannes 159 Regn, Gerhard 17, 222

379 Reich-Ranicki, Marcel 326 Reid, James H. 318 Reimer, Erich 145 Reindel, Kurt 102 Reinhard-Felice, Mariantonia 288, 291 Reinhardt, Volker 197 Reiß, Gunter 362 Rembrandt van Rijn 166, 209 Renouvier, Jules 266 Reuter, Guido 166 Reuvekamp-Felber, Timo 14, 134f. Rexroth, Dieter 302 Reynolds, Christopher 155 Richard de Bury 191 Richard, François 120 Richter, Hans W. 323 Ridder, Klaus 134 Riemann, Hugo 312 Rimbaud, Arthur 256 Rimmon-Kenan, Shlomith 136 Rippel, Philipp 197, 207 Rischer, Christelrose 127, 130 Robert, Jörg 17 Robertis, Domenico de de Robertis, Domenico Roelevink, Johanna 213 Röhring, Klaus 314 Romano, Serena 166 Rommel, Floribert 99 Romualdus 103 Romulus 208 Ronsard, Pierre de de Ronsard, Pierre Rops, Félicien 268 Rosand, David 166 Rose, Mark 17 Rosen, Valeska 274 Rosengarten, Richard A. 243 Ross, David 43 Rotrud 96 Roubaud, Benjamin 262, 268 Rouvière, Philibert 288–291 Rubens, Peter Paul 280 Rubin, James H. 261 Rucellai, Cosimo 196, 204 Rückert, Heinrich 113 Ruggero, Andrea 61, 101 Ruh, Kurt 111, 113, 125 Ruisi, Cesarino 145 Rupert von Deutz 14, 17, 21, 69, 71, 79, 81–83, 91, 223

380 Ruth 30 Rzehak, Kristina 11 Sabel, Barbara 13 Sacchetti, Franco 23, 163, 167–169, 176, 187, 189 Sacy, Sylvestre de s. de Sacy, Sylvestre Sainte-Beuve, Charles-Augustin 253, 260, 267f., 271, 277 Salimbene de Adam 147 Saller, Richard 58 Salomo 30, 39, 220, 224 Salutati, Coluccio 200 Samuel/Shemuel 30, 32, 263 Sand, George 257, 288, 291 Sandre, Yves 277 Sappho 259 Sartre, Jean-Paul 317 Sattler, Dietrich 326 Saul 38 Saunders, Timothy 43, 46, 48 Scala, Bartolomeo 188, 200 Scalia, Giuseppe 147 Schäfer, Dorit 288 Schäfer, Markus 323 Schärf, Christian 19, 359, 360 Schaffrick, Matthias 11 Schalk, Franz 310 Schalk, Josef 309f. Scharer, Anton 96, 98 Schefers, Hermann 95 Scheffel, Michael 136 Schneider, Karin 125 Schelsky, Helmut 318f., 321, 330 Schiewer, Hans-Jochen 13, 17, 113, 120 Schings, Hans-Jürgen 290 Schirok, Bernd 143 Schlachta, Astrid von s. von Schlachta, Astrid Schlegel, August Wilhelm 355 Schlereth, Martha 112 Schlosser, Julius (von) s. von Schlosser, Julius Schluchter, Manfred 362 Schmidt, Franz 125 Schmidt, Jochen 301 Schmidt, Katharina 265 Schmidt, Lothar 315 Schmidt, Paul Gerhard 12, 71 Schmidt, Ricarda 337 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 90

Personenregister Schmidt-Beste, Thomas 303 Schmidke, Dietrich 78 Schmitt, Stefanie 120 Schmitz-Emans, Monika 244 Schneemann, Peter J. 178 Schneider, Karin 125 Schneider, Otto 308f. Schnell, Ralf 318, 322 Schnell, Rüdiger 12f. Schnocks, Johannes 39 Schonauer, Franz 318 Schönberg, Arnold 306, 312, 314 Schöneberger, Eva 286 Schönberger, Otto 286 Schönert, Jörg 10, 19 Schrader, Marianna 13 Schröer, Henning 324 Schroer, Rolf 320 Schubart, Christian F. D. 302 Schubert, Anselm 216 Schubert, Jochen 329 Schücking, Levin L. 355 Schütte, Jürgen 322 Schütz-Rautenberg, Gesa 170–173, 182–184, 187 Schultz, James A. 159 Schulz, Genia 10 Schulze, Christian 87 Schulze, Hans-Joachim 302 Schulze, Kordula 11 Schulze, Winfried 17, 222 Schwarz, Franz F. 206 Schwarz, Michael V. 164, 187f. Schwob, Anton 112 Seaman, Gerald 209 Seay, Albert 147, 160 Seel, Martin 19 Seel, Otto 207 Seemüller, Joseph 111 Seghers, Anna 321, 335 Seidel, Max 165 Seipel, Wilfried 184 Seneca (Lucius Annaeus Seneca) 106f. Sulpicius Severus 16, 64, 71 Sforza, Francesco 206 Shakespeare, William 209, 286–288, 297, 348, 355 f. Shigihara, Susanne 312 Shroder, Maurice 274 Sieburg, Friedrich 317f.

Personenregister Sieg, Christian 12, 26, 317, 355 Sigebert von Gembloux/Sigebertus Gemblacensis 147 f. Silenus 48 Silvestre, Théophile 266 Simon de Tournai 281 Simon, Annette 340, 345 Simon, Irmgard 218 Simonin, Michel 273 Singer, Kurt 314 Sirach, Jesus 38, 221 Skinner, Marilyn 50 Skinner, Quentin 200, 204 Snell, Bruno 42 Sokrates 259 Sölle, Dorothee 245, 247 Söltenfuß, Anika 16, 21, 41 Somers, Herman 186 Sowinski, Bernhard 20, 72, 74 Spechtler, Franz V. 111, 115, 125 Speer, Andreas 105, 186 Spengler, Oswald 306 Speyer, Wolfgang 274 Sprenger, Karl-Michael 190 Staël, Germaine de s. de Staël, Germaine Stadler, Arnold 11 Stalin, Josef 332 Stammen, Theo 196 Starobinski, Jean 261, 282, 285 Statius (Publius Papinius Statius) 259 Steck, Odil H. 36 Steckel, Sita 14, 17 Stecken, Martine 190 Steffen, Hans 250 Steigerwald, Jörn 163 Steinbeck, Wolfram 314 Stemberger, Günter 30 Stendhal (Marie-Henri Beyle) 288 Stephan IX. 102 Stephan, Inge 10 Stephan, Rudolph 308, 314 Steppich, Christoph J. 17 Stercken, Martina 186 Stern, Carola 321 Sternberg, Meir 234 Stesichorus 42 Stevens, Joseph 272 Stewart, Pamela D. 168 Stierle, Karlheinz 196, 205

381 Stifter, Adalbert 323 Stöckmann, Ingo 11, 354 Stolberg, Michael 17 Stolz, Michael 134 Stratmann, Martina 95 Strauss (Strauß), Richard 304, 307 Strohm, Reinhard 161 Strohschneider, Peter 16, 74, 218, 223 Stuckrath, Jörn 17 Stuiber, Alfred 55 Sturtevant, Edgar H. 192 Suerbaum, Werner 282 Suhr, Martin 200 Summers, David 185 Suntrup, Rudolf 11, 254 Surmann, Beate 55 Suthor, Nicola 185 Sykora, Katharina 11 Szondi, Peter 325f. Tabacco, Giovanni 103 Taillandier, Saint-Réne 281 Tammen, Björn R. 149 Tanturli, Giuliano 168 Tarlton, Charles D. 209 Tasso, Torquato 275 f. Tate, Dennis 339 Terentianus Maurus 192 Tervooren, Helmut 13 Tetzer, Dorothea 268 Teuber, Bernhard 189, 192 Thackeray, William M. 240 Thali, Johanna 120 Thalia 44, 46 Theis, Pia 164, 187f. Thélot, Jérôme 281 Theodosius I. 57 Theodulf von Orléans 101 Theokrit 42 f., 46 Thérond, Émile 271 Thetis 43 Thodes, Henry 175 Thômas von Britanje 23, 133, 135, 140–143 Thomasin von Zerklaere 113 Thoré, Théophile 291 Thraede, Klaus 98 Thum, Bernd 114 Tieck, Johann L. 355 Tinctoris, Johannes 153, 158–160

382 Tityrus 43f. Tobias 226 Tomasek, Tomas 11, 140 Tomaševskij, Boris 353 f. Toorn, Karel van der s. van der Toorn, Karel Tornabuoni, Giovanna 274 Tory, Geoffroy 190–193 Trampedach, Kai 215 Trebor 156 Tristan 23, 116, 126, 133, 135, 140–144, 305f. Troeltsch, Ernst 214 Trout, Dennis 16, 55, 58, 62 Trovato, Paolo 154 Turcius 61 Turner, A. Richard 202 Turpilius, Sextus 93 Ulbricht, Walter 335 Ulrich von Lichtenstein 114, 125, 127, 129 Ulrich von Pfannberg 116 Unzeitig, Monika 134, 143 Uther, Hans-Jörg 120 Valéry, Paul 261 van Beethoven, Ludwig 302, 311, 313 f., 316, 323 van der Toorn, Karel 29, 33f., 37 van de Waal, Hans 169 van Houdt, Toon 94 van Mal-Maeder, Danielle 61 Varchi, Benedetto 192 Varus, Publius Quinctilius 44, 48 Vasari, Giorgio 23, 163–169, 174, 176 f., 183, 188 f., 192 f., 202 Velásquez, Diego (Rodríguez de Silva y) 288 f. Venturi, Luigi 191 Venus 115f., 118, 126, 163 Vergil (Publius Vergilius Maro) 16, 21, 41–46, 49, 51, 54, 56f., 64, 66, 72f., 167, 176–178, 180, 185, 187, 259, 275, 282, 285 Vettori, Francesco 195–197, 199–201, 276 Veyrard-Cosme, Christiane 97 Victorinus, Marius 192 Vigny, Alfred de s. de Vigny, Alfred Vilches, Patricia 209 Villani, Filippo 168, 178f. Visser, Piet 221 Vivanti, Corrado 199, 205 Vogt, Ernst 176 Vogt-Spira, Gregor 62

Personenregister Voigt, Rüdiger 199 Vollmann-Profe, Gisela 12, 14, 81 Vollmann, Benedikt K. 17 von Düffel, John 11, 348 von Fischer, Kurt 301 von Hase-Koehler, Else 311 von Koppenfels, Martin 268 von Kraus, Carl 119 von Loesch, Heinz 146, 303 von Moos, Peter 13f., 71, 83f., 223 von Schlachta, Astrid 216 von Schlosser, Julius 167, 169 von Wiese, Benno 89 Voltaire (François Marie Arouet) 288, 317 Vorländer, Hans 218 Waal, Hans van de s. van de Waal, Hans 169 Wachinger, Burghart 13, 17, 113, 119, 125, 130 Wackernagel, Martin 165 Wagenbach, Klaus 333 Wagner, Frank D. 317 Wagner, Monika 254 Wagner, Richard 260, 304–307, 309 Wagner-Egelhaaf, Martina 9, 11f., 27, 163, 192, 235, 343, 347f., 354 Wahlgren, Lena 105f. Waite, Gary K. 218 Walkenhaus, Ralf 199 Wallace, Ian 337 Walser, Martin 317 Walter, Rudolf 312 Walther von der Vogelweide 112 Warning, Rainer 14, 205, 282 Warnke, Martin 358 Warstat, Matthias 63 Watson, Paul F. 168 Watteau, Jean-Antoine 280 Webb, Clemens C. I. 107, 120 Weber, Beat 34 Weber, Horst 306 Weber, Max 214, 301, 331, 336, 341 Weber, Robert 107 Wedekind, Gregor 262 Wegman, Rob 157 Weidner, Daniel 18, 24, 231 Weinryb, Ittai 163 Weinwurm, Rudolf 308f. Weißmann, Adolf 305, 314 Welker, Lorenz 148

Personenregister Weller, Philip 157 Weltin, Maximilian 114 Wenz, Gunther 324 Wenzel, Franziska 16, 74 Wenzel, Horst 12–14 Weppelmann, Stefan 174 Werber, Nils 11, 354 Werner, Wilfried 111 Wesselski, Albert 167, 188 Wessely, Othmar 308 Westerwelle, Karin 18, 25, 253, 264, 275f., 281 Wetzel, Christoph 268 Wetzel, René 120 Wied, Alexander 184 Wieland, Christoph M. 235 Wieland, Karin 199 Wiese, Gerhard 268 Wilhelm von Heunburg 116 Wilhelm von Saint-Thierry 17 Willaerts, Adrian 161 Wille, Friederike 168 Williams, George H. 216 Williams, Gordon 43 Williamson, John 313 Wilske, Hermann 311f. Winkler, Gerhard 189 Winkler, Hartmut 51 Winko, Simone 9, 45 Wiora, Walter 148

383 Wirnt von Gravenberc 120 Wirth, Uwe 235, 245 Wirtz, Thomas 247 Wittchow, Frank 16 Witte, Robert 148 Wolf, Christa 20, 26, 320f., 331, 333–343, 346 Wolf, Gerhard 163, 176f., 179, 182 Wolf, Hugo 305 Wolf, Jürgen 125, 126 Wolff, Erich 306 Wolfram, Herwig 96 Wolfram von Eschenbach 76, 123 Wulf, Christoph 63 Wunderlich, Werner 10, 13 Young, Christopher 111–113, 115, 125, 129f. Zedelmaier, Helmut 15, 17 Zenger, Erich 221 Ziegler, Jean 225 Zimmer, Dieter E. 318f. Zimmermann, Jörg 19 Zimmermann, Michael 13 Zinkernagel, Franz 325 Ziolkowski, Jan M. 13, 167, 177 Zola, Émile 265, 271, 317, 319, 321 Zucker, Mark 193 Zwingli, Ulrich 215, 358