Philosophie der Natur: Grundriß der speziellen Kategorienlehre 9783110838763, 9783110047493


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German Pages 737 [740] Year 1980

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Einleitung
ERSTER TEIL Dimensionale Kategorien
I. Abschnitt. Dimensionen der realen Welt
1. Kapitel. Stellung von Raum und Zeit als Kategorien
2. Kapitel. Die Kantische Raum- und Zeitlehre
3. Kapitel. Realzeit und Anschauungszeit
4. Kapitel. Ausdehnung und extensive Größe
II. Abschnitt. Kategorialanalyse des Raumes
5. Kapitel. Der geometrische Raum
6. Kapitel. Der Realraum
7. Kapitel. Die Räumlichkeit der Dinge
8. Kapitel. Der Anschauungsraum
9. Kapitel. Die Räumlichkeit des Anschauungsfeldes
III. Abschnitt. Kategorialanalyse der Zeit
10. Kapitel. Problemansätze der Zeitanalyse
11. Kapitel. Die Realzeit
12. Kapitel. Die Zeitlichkeit der Realprozesse
13. Kapitel. Die Zeitmodi höherer Ordnung
14. Kapitel. Die Anschauungszeit
15. Kapitel. Die Zeitlichkeit des Anschauungsfeldes
IV. Abschnitt. Das Raum-Zeitsystem der Natur
16. Kapitel. Kosmologische Raumzeitlichkeit
17. Kapitel. Die Kategorie der Bewegung
18. Kapitel. Spekulative Relativismen des Raumes und der Zeit
ZWEITER TEIL Kosmologische Kategorien
I. Abschnitt. Das Werden und die Beharrung
19. Kapitel. Das Realverhältnis
20. Kapitel. Das Werden und der Naturprozeß
21. Kapitel. Modalanalyse des Prozesses
22. Kapitel. Die Substantialität
23. Kapitel. Die Beharrung und das Beharrende
24. Kapitel. Abwandlungen der Beharrung
25. Kapitel. Die Zuständlichkeit
II. Abschnitt. Die Kausalität
26. Kapitel. Die kausale Determinationsform
27. Kapitel. Zur Metaphysik der Verursachung
28. Kapitel. Komplexes Bewirken und Einmaligkeit
29. Kapitel. Psychophysische Kausalität
30. Kapitel. Die Aufweisbarkeit des Kausalzusammenhanges
31. Kapitel. Kausalität als Bewußtseinskategorie
III. Abschnitt. Naturgesetzlichkeit und Wechselwirkung
32. Kapitel. Der Prozeß und seine Gesetze
33. Kapitel. Das Naturgesetz und seine mathematische Struktur
34. Kapitel. Klassische und statistische Gesetzlichkeit
35. Kapitel. Natur gesetzlichkeit als Erkenntniskategorie
36. Kapitel. Die Wechselwirkung
37. Kapitel: Komplexes Bewirken
IV. Abschnitt. Natürliche Gefüge und Gleichgewichte
38. Kapitel. Das dynamische Gefüge
39. Kapitel. Innere Dynamik und Stabilität der Gefüge
40. Kapitel. Zentraldetermination
41. Kapitel. Der Stufenbau der Natur
42. Kapitel. Dynamische Ganzheitsdetermination
43. Kapitel. Dynamisches Gleichgewicht
44. Kapitel. Selektivität der Gleichgewichte
DRITTER TEIL Organologische Kategorien
I. Abschnitt. Das organische Gefüge
45. Kapitel. Aufgabe und Einteilung
46. Kapitel. Das Individuum
47. Kapitel. Der formbildende Prozeß
48. Kapitel. Das Widerspiel der Prozesse
49. Kapitel. Formgefüge und Prozeßgefüge
50. Kapitel. Die organische Selbstregulation
II. Abschnitt. Das überindividuelle Leben
51. Kapitel. Das Leben der Art
52. Kapitel. Die Wiederbildung des Individuums
53. Kapitel. Tod und Zeugung
54. Kapitel. Die Variabilität
55. Kapitel. Die Regulation des Artlebens
III. Abschnitt. Die Phylogenese
56. Kapitel. Die Abartung
57. Kapitel. Die Zweckmäßigkeit
58. Kapitel. Organische Selektion
59. Kapitel. Die Mutation
60. Kapitel. Ursprüngliche Formbildung
IV. Abschnitt. Organische Determination
61. Kapitel. Das organische Gleichgewicht
62. Kapitel. Der Lebensprozeß
63. Kapitel. Der nexus organicus
64. Kapitel. Die Artgesetzlichkeit
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Philosophie der Natur: Grundriß der speziellen Kategorienlehre
 9783110838763, 9783110047493

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NICOLAI HARTMANN PHILOSOPHIE DER NATUR

PHILOSOPHIE DER NATUR ABRISS DER SPEZIELLEN KATEGORIENLEHRE

VON

NICOLAI HARTMANN ZWEITE, UNVERÄNDERTE AUFLAGE

W DE

G

WALTER DE GRUYTER · BERLIN · NEW YORK 1980

Die erste Auflage erschien 1950.

CIP-Kurztitelaufnakme der Deutschen Bibliothek Hartmann, Nicolai: Philosophie der Natur : Abriß d. speziellen Kategorienlehre / von Nicolai Hartmann. — 2., unveränd. Aufl. — Berlin : de Gruyter, 1980. ISBN 3-11-004749-7

Copyright 1980 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschensche Verlagshandlung - J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J. Trübner Veit & Comp. Berlin - Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: W. Pieper, Würzburg; Buchbinder: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

Vorwort Seit dem Herbst 1943 hat das vorliegende Buch auf seine Veröffentlichung gewartet. Es gehört in die Reihe ontologischer Bände, die ich vor 15 Jahren herauszugeben begann, und mit ihm suche ich dieser Reihe eine Art Abschluß zu geben, der zugleich Ausblicke eröffnet. Über einer „Grundlegung" erhebt sich die Untersuchung der Seinsmodi und Seinsweisen, berannt nach ihrem Hauptproblem „Möglichkeit und Wirklichkeit", dieser folgte „der Aufbau der realen Welt", der Form nach eine allgemeine Kategorienlehre. Es bedarf hiernach keiner Rechtfertigung, daß nun das vierte Stück der Reihe die Gestalt einer „speziellen Kategorienlehre" annimmt. Aber die letztere kann sich nicht wie jene als „Grundriß" ankündigen, sondern nur als „Abriß". Die speziellen Kategorien bilden eine Serie, die sich über alle Schichten des Realen hinzieht und sich nicht auf Naturphilosophie beschränken läßt, sondern erst mit den Kategorien des geistigen Seins abschließen dürfte. Diese ganze Kategorienfolge zu entwerfen, ist ein Desiderat der Philosophie, das zu erfüllen nicht nur über die Kraft eines Einzelnen, sondern auch wohl über die eines Zeitalters hinausgeht. Daran werden Generationen zu arbeiten haben, und bewältigen werden sie offenbar auch stets nur das, was in ihrer Zeit spruchreif geworden ist. Aus der ungeheuren Kategorienfülle, die sich nach oben zu immer weiter verzweigt, ist zur Zeit nur einiges Wenige greifbar. Dieses Wenige liegt über alle Seinsschichten verstreut, bildet aber im Bereich der niederen Schichten noch am ehesten überschaubare und zusammenfaßbare Gruppen. Schon aus diesem Grunde muß die Kategorialanalyse am unteren Ende einsetzen und sich einstweilen begnügen, von hier aus Boden zu gewinnen. Da aber die beiden unteren Seinsschichten das Gegenstandsgebiet ausmachen, das wir als „Natur" zu bezeichnen gewohnt sind, so läuft es bei der bevorstehenden Aufgabe auf den Entwurf einer „Naturphilosophie" hinaus. Die Grenze unseres Wissens ist hier freilich nicht eindeutig an eine bestimmte Höhenlage in der Seinsschichtung gebunden. Es gibt in allen Schichten Ansatzpunkte der Erfahrung, von denen aus Vorstöße kategorialer Einsicht möglich sind. Nur zur konkreten Fülle der Gebiete selbst steht diese Einsicht in sehr verschiedenem Verhältnis. Unser Erkenntnisapparat ist der geistigen Welt um nichts weniger zugewandt als der physischen, von seinen Anfängen her dient er der praktischen Orientierung des Menschen unter Menschen ebensosehr wie der des Menschen unter Dingen. Dem entspricht

VI

Vorwort

auch der mächtige Vorstoß der Geisteswissenschaften im letztvergangenen Jahrhundert und ihre breite Entfaltung in unserer Zeit. Die jüngste Zeit zeigt sogar in der Psychologie und Anthropologie eine bedeutsame Wendung, von der eine Fülle neuen Lichtes auf die Seinsschicht des Seelischen fällt. Auch hier ließen sich heute schon gewisse Grundkategorien herausarbeiten, ebenso wie das auf dem Gebiet des geschichtlich geistigen Lebens seit Hegel immer wieder geschehen ist. Dennoch ist die Spruchreife des Kategorienproblems auf diesen Gebieten nicht annähernd dieselbe wie im Gegenstandsfelde der Naturwissenschaften, — nicht nur weil Bau und Artung des Gegenstandes so viel komplizierter sind, sondern auch weil die Wissensgebiete so viel jünger sind und nicht auf die gleiche geschichtliche Erfahrung zurückblicken können. Wollte man heute Kategorien des seelischen und geistigen Seins zusammenstellen, man käme über ein vorläufig deskriptives Verfahren mit ausgewählten Stücken nicht hinaus, und dabei müßte es fraglich bleiben, ob man das eigentlich Prinzipielle in dem gewaltigen Problemreichtum überhaupt zu fassen bekäme. Kategorien aber sollen ja eben das Prinzipielle sein. Das ist in der Naturforschung doch insofern wesentlich anders, als Vorstöße in vielerlei Richtungen vom Wissenstande verschiedener Zeitalter unternommen, durch ihre Erfolge und Mißerfolge im steten Abstoßen des Unhaltbaren und Aufsammeln des Erprobten eine Kontinuität hergestellt haben, in der gerade das Prinzipielle an einer größeren Reihe immer wiederkehrender Grundprobleme sich greifbar herauskristallisiert hat. Das gilt nicht nur von den im engeren Sinne exakten Wissenschaften, sondern in gewissen Grenzen auch von den biologischen. Im Lösen ihrer Rätsel freilich stehen sie jenen weit nach, im methodisch einwandfreien Hinführen auf das Prinzipielle können sie es dagegen sehr wohl mit ihnen aufnehmen. Darum bieten sie der philosophischen Kategorienlehre ein in seiner Art gleichfalls spruchreif gewordenes Material dar. Das Herausarbeiten von Kategorien besteht ja nicht im Lösen von Problemen, welche die Spezialwissenschaft nicht lösen kann, die Philosophie tritt auch nicht mit dem Anspruch auf, die kategorialen Gehalte, die sie aufdeckt, restlos begreifbar zu machen. Sie mißt das Gefundene nicht mit dem Maßstabe der Rationalität. Sie rechnet vielmehr überall sehr positiv mit dem Einschlag des Unerkennbaren und erkennt diesen als solchen auch in den Kategorien an, denen sie auf der Spur ist. Die Naturphilosophie ist keine Metaphysik, die unabhängig von den Naturwissenschaften deren Probleme mit eigenen Methoden anzugreifen oder gar auf „bessere" Lösungen hinauszuführen trachtet. Die Zeiten solcher Ambition sind vorbei. Sie hat zwar metaphysische Probleme wie jede philosophische Disziplin, aber es sind keine anderen als die im Hintergrunde

Vorwort

VII

der naturwissenschaftlichen Probleme selbst gelagerten. Und sie kann an deren Bearbeitung nicht anders herantreten als auf Grund der von den Naturwissenschaften geleisteten Arbeit. Sie stellt nicht eine zweite Naturwissenschaft neben diese, sondern durchaus nur eine Kategorienlehre, die es mit den undiskutiert vorausgesetzten Grundlagen der positiven Wissenschaft aufnimmt. Das bedeutet nicht, daß sie jede Hypothese oder gar jede spekulative Folgerung eines gegebenen Wissenschaftsstadiums für verbürgte Wahrheit hinzunehmen hätte, am wenigsten dann, wenn dieses Stadium von sich aus dazu neigt, die Grenzfragen mit anzugreifen und in ihnen theoretischspekulative Lösungen anzubieten. Hier steht die spezielle Kategorienlehre auf einem breiteren Boden, sie hat die Analyse der Fundamentalkategorien hinter sich, den Ausblick auf die höheren Seinsschichten vor sich und kann auf dieser Basis manches aus größerer Distanz zu den Einzelheiten beurteilen. Das ist nicht unwichtig, weil es sich heute in der theoretischen Physik — und teilweise auch in den biologischen Theorien — um sehr weitgehende Konsequenzen handelt, die um nichts weniger spekulativ sind, als einst die der großen metaphysischen Systeme es waren. So hat die Kategorienlehre z. B. der Relativitätstheorie gegenüber an bestimmte Schranken des Gedankens zu erinnern, die sich schon daraus ergeben, daß Raum und Zeit nicht Gegenstände der Physik allein sind. Desgleichen hat sie angesichts gewisser indeterministischer Folgerungen, die man aus den bahnbrechenden Überlegungen der Quantentheorie gezogen hat, ihr Wort mitzureden. Ich meine nicht, daß sie sich deswegen auch in die physikalische Theorienbildung selbst einzumischen hätte, soweit diese auf ihrem heimischen Boden bleibt, wohl aber, daß sie über die Grenzen der Tragweite gewisser allgemeiner Konsequenzen mitzureden hat, soweit diese über die Kompetenz der Naturwissenschaft hinausreichen. Denn es muß ja gesagt werden: es ist kein gesunder Zustand, daß jede Spezialwissenschaft sich ihre eigene Philosophie entwirft, mit der sie dann unbekümmert auf andere Forschungsgebiete übergreift. Den Respekt vor der Andersheit anderer Probleme sollte kein Naturwissenschaftler verlieren, auch wenn er auf seinem Gebiet die größte Kapazität ist. Die bewundernswerte Exaktheit seiner Methoden darf ihn nicht zu der Attitüde einer Allwissenheit verführen, mit der er doch tatsächlich nur sich und seine Wissenschaft ins Unrecht setzt. Und wenn er, wie immer wieder geschieht, schnell bei der Hand ist, einen jeden, der in anders geformten Begriffen denkt, als „Laien" geringzuschätzen, so sollte er darüber um so weniger vergessen, daß es Problemgebiete gibt, die zwar dicht an die seinigen grenzen, auf denen er selbst aber nichtsdestoweniger ebensosehr Laie ist. —

VIII

Vorwort

Wenn die spezielle Kategorienlehre, wie gesagt, kein vollständiges Bild, sondern nur einen Abriß bringen kann, so ist das in der Problemlage der Wissenschaften begründet, in der wir heute stehen. Aber dieser Einschränkung ist sogleich noch eine zweite hinzuzufügen: auch innerhalb des Abrisses kann es sich nicht um alle hierher gehörigen Kategorien handeln. Greifbar können einer jeden Zeit nur diejenigen sein, an welche die wissenschaftliche Forschung herangeführt hat. Was sich also in unserer Zeit an Naturkategorien fassen läßt, ist ein geschichtlich bedingter Ausschnitt mit allen notwendigen Einseitigkeiten eines solchen. Es kann nur beanspruchen, ein Annäherungsstadium zu sein — im Hinblick auf ein Endziel philosophischer Erkenntnis, das wir nicht kennen und nicht vorwegnehmen können. Das sollte dem systematischen Philosophen von heute eine Selbstverständlichkeit sein. Soweit müßte die Schule des geschichtlichen Relativismus, durch die wir alle gegangen sind, einen jeden belehrt haben. Wer heute wie einst die alten Metaphysiker etwas Endgültiges schaffen wollte, an dem wäre die ernste Lehre unserer Zeit von der geschichtlichen Bedingtheit aller Einsicht nutzlos vorübergegangen. Wer eine „Philosophie für immer" aufrichten will, wird unweigerlich die am meisten zeitbedingte schaffen. Wer wollte sich heute noch einreden, dieser Ironie alles denkerischen Schicksals entgehen zu können? Und doch, wer daraus umgekehrt den Schluß ziehen wollte, es verlohne sich nun die systematische Arbeit nicht mehr, wäre erst recht im Irrtum. Er hätte die Lehre nur zur Hälfte begriffen. Ihre negative Seite hätte er erfaßt, die wichtigere positive noch gar nicht bemerkt. Geschichtliche Relativität hebt den Charakter des Näherungswertes in einem vergänglichen Erkenntnisstadium nicht auf, auch dann nicht, wenn von dessen Lehrgehalt nichts in spätere und reifere Einsicht übergeht. Lehrreich sind eben auch Irrtümer, und aller Fortschritt geht den Weg des Ringens mit dem Irrtum. Es ist keineswegs utopisch, als Forschender mit der vollen Fragwürdigkeit der eigenen Einsichten zu rechnen und dennoch unbeirrt fortzuarbeiten. Der Fruchtbarkeit ernstlichen Ringens mit den Problemen, die seine Zeit ihm stellt, kann der Suchende trotzdem jederzeit gewiß sein. Wer bewußt aus der Problemlage seiner Zeit heraus und für seine Zeit forscht, wissend, daß seine Arbeit bestenfalls ein Glied in der Kette geschichtlicher Denkarbeit ist, bald überholt vom nächsten Schritt des Eindringens, — der gerade hat am ehesten die Aussicht, etwas zu schaffen, was vor dem Forum späterer Generationen Geltung beanspruchen kann. Was dem kritisch eingestellten Forscher der positiven Wissenschaft so nahe liegt, die eigenen Resultate im Wissen um ihre Bedingtheit in der Schwebe zu halten, ohne mit Ansprüchen auf Endgültiges dem langsameren Gange wirklicher Erkenntnis vorzugreifen, — warum sollte das dem Philo-

Vorwort

IX

sophen nicht möglich sein? Es ist ihm genau so möglich wie das im Beginn unseres Jahrhunderts erarbeitete relativistische Wissen um seine geschichtliche Bedingtheit und das Fehlen absoluter Wahrheitskriterien. Die innere Haltung aber, die er sich damit gibt, macht sein positives Vordringen im Rahmen seiner Problemlage nicht etwa unmöglich, sondern gerade erst in einem neuen, früher nicht gesehenen Sinne möglich. Das sind Dinge, die sich bei der Inangriffnahme der Kategorienlehre besonders aufdrängen. Mehr als irgendwo in der Philosophie gilt hier die Vorläufigkeit aller Bemühungen, und mehr als irgendwo wird hier die auf weite Sicht eingestellte Haltung des Philosophen zum Erfordernis. Auch vom Leser muß sie gefordert werden, denn nicht weniger leicht als den Autor kann es ihn anwandeln, das Gesagte dogmatisch-endgültig zu verstehen. Ich möchte ihn am liebsten auf jeder Seite daran erinnern, daß es sich nicht so sehr darum handelt, Lehrmeinungen zu verfechten, als darum, ganze Überlegungen und Gedankengänge mitsamt ihren Gesichtspunkten, Methoden und Resultaten erst einmal zur Diskussion zu stellen. Wer an lebendigen philosophischen Disput gewöhnt ist, wird das natürlich finden: ihm ist das einsame Denken, das so leicht im Kreise läuft, mit Recht verdächtig, er zieht es vor, seine Thesen nach bestem Ermessen vorzubringen, ohne voraussehen zu können, was an ihnen sich wird halten lassen. Alles Verfechten aber behält ihm bis zuletzt den Sinn des Eintretens in die größere Bewährungsprobe. Der Fruchtbarkeit seiner Arbeit auf weitere Sicht kann er dennoch versichert sein, weil alles Vorwärtskommen in der Gemeinsamkeit solcher Diskussion wurzelt. Das läßt sich freilich nicht überall an den Rand schreiben, wo es not täte. Ich kann den Leser nur bitten, es seinerseits nirgends ganz zu vergessen. G o t t i n g e n , im September 1949 Nicolai Hartmann

Inhalt

XI

Inhalt Einleitung l 1. Erkenntnistheoretische Vorerinnerung l 2. Gegebenheiten, Aufgaben und wissenschaftliche Problemlage 2 3. Zweckprinzip und Formsubstanz der alten Naturphilosophie 5 4. Die neuen Grundbegriffe: Gesetz, Kraft, Prozeß, Ursache . 7 5. Kants Philosophie des Organischen und die Naturphilosophie der Idealisten 9 6. Das Einsetzen der Methodologie. Die wissenschaftliche Induktion 11 7. Das Metaphysische in den Naturproblemen und die Naturkategorien 13 8. Die Bearbeitbarkeit unlösbarer Probleme 15 9. Klassische und moderne Physik. Relativismus und Spielraum der Naturphilosophie 17 10. Erweitertes Gesichtsfeld. Kosmologische Perspektiven . . 18 11. Die Grenzen des Mathematischen in den Substraten der Größe 20 12. Kategoriale Stellung des Mathematischen in den Naturphänomenen 22 13. Das Reich des Organischen. Kausalforschung und Vitalismus 25 14. Kategoriale Gründe des Vitalismusstreites. Zweierlei Gegebenheit 27 15. Kategoriale Grenzüberschreitung von zwei Seiten her . . 29 16. Verhältnis von Kosmologie und Organologie. Äußere Begrenzung 32 17. Besondere Aufgaben und innere Grenze der Analyse . . 33 18. Die erkenntnistheoretische Seite des Kategorienproblems . . 3 5 1 9 . Z u r Methodenlehre d e r Kategorialanalyse . . . . 38

ERSTER TEIL Dimensionale Kategorien /. Abschnitt. Dimensionen der realen Welt l. Kapitel. Stellung von Raum und Zeit als Kategorien a. Vom Anfang der Naturphilosophie

.

.

.

45 45

XII

Inhalt

b. Die Dimensionskategorien und die besonderen Dimensionen c. Inhaltsleere Dimensionalität d. Ausmessung, Ausmeßbares und Substrat der Messung . . 2. Kapitel. Die Kantische Raum- und Zeitlehre a. Anschauungsformen und Kategorien b . D i e Grenzen d e r transzendentalen Idealität . . . . c. Die Verdoppelung der Raum- und Zeitanalyse. Neue Aporien 3. Kapitel. Realzeit und Anschauungszeit a. Bewußtsein der Zeitlichkeit und Zeitlichkeit des Bewußtseins b. Verdoppelung und Wiederkehr c. Zugehörigkeit und Zuordnung der Anschauungszeit . . d. Stellung der Anschauungszeit in der Abwandlung der Realzeit 4. Kapitel. Ausdehnung und extensive Größe a. Extension und Dimension b. Dimensionen extensiver u n d intensiver Größe . . . . c. Wesensbestimmung d e r extensiven Größe . . . . d . D i e Kategorien M a ß u n d Größe . . . .

47 49 50 52 52 54 56 58 58 60 61 62 64 64 67 68 70

II. Abschnitt. Kategorialanalyse des Raumes 5. Kapitel. Der geometrische Raum a. Das Ineinandergreifen der Probleme b. Die Mehrzahl der geometrischen Räume c. Seinsweise und Zwischenstellung des geometrischen Raumes . d. Die ersten kategorialen Momente des idealen Raumes . . e. Weitere kategoriale Momente des idealen Raumes . . . f. Folgerungen aus den getroffenen Bestimmungen . . . g. Weitere Folgerungen und Ausblicke 6. Kapitel. Der Realraum a. Sinn der Raumrealität b. Einzigkeit, Dimensionenzahl und Substratcharakter des Realraumes c . D e r Realraum a l s reines Dimensionssystem . . . . d. Homogenität, Stetigkeit und Unbegrenztheit des Realraumes e. Das an sich Größenlose f. Das in sich Maßlose g. Das Senkrechtstehen der Dimensionen aufeinander und die empirischen Koordinatensysteme h. Richtungsänderung und Drehung. Raum und Räumlichkeit . 7. Kapitel. Die Räumlichkeit der Dinge a. Das Unerkennbare im Realraume

72 72 74 77 78 80 83 85 86 86 89 93 95 98 99 101 104 106 106

Inhalt b. Gründe gegen das receptaculum rer um c. Die Relativismen der Realräumlichkeit (Größe, Lage, Richtung) d. Die Relativismen der Bewegung e. Zur Abwandlung der Realräumlichkeit in den Schichten . f. Vermittelte Räumlichkeit in den höheren Seinsschichten . S.Kapitel. Der Anschauungsraum a. Wahrnehmungsraum, Erlebnisraum u. a. m b. Tastraum und Sehraum. Extreme Theorien c. Parallaktisches Tiefensehen. Perspektive und Reobjektivation d. Vermittelte Lokalisierung des Bewußtseins und seine räumliche Orientierung e. Freie Beweglichkeit im Anschauungsraum f. Das Phänomen der Außenwelt und das Ich . . . . 9. Kapitel. Die Räumlichkeit des Anschauungsfeldes . . . . a. Die mit dem Realraume gemeinsamen Momente . . . b. Das Fehlen strenger Homogeneität und Stetigkeit in der Anschauung c. Endlichkeit des Anschauungsfelde in verschwimmenden Grenzen d. Stufen der Raumhorizonte. Größe und Größenmaß des Anschauungsraumes e. Aufhebung der Isometrie. Das natürliche Koordinatensystem f. Beschränkte Geltung des receptaculum rerum . . . .

XIII 107 110 111 113 115 116 116 118 119 121 123 125 127 127 129 130 132 134 137

///. Abschnitt. Kategorialanalyse der Zeit 10. Kapitel. Problemansätze der Zeitanalyse a. Populärphilosophischer Zeitbegriff b. Zeitlichkeit und Realität. Vergänglichkeit als höhere Seinsweise c. Das Problem der idealen Zeit d. Mögliche Typen idealer Zeit. Kyklische und periodische Zeit e. Einheit der Realzeit. Geschichtliche „Zeiten" . . . . l I.Kapitel. Die Realzeit a. Sinn der Zeitrealität b. Die eindimensionale Mannigfaltigkeit. Das Fließen und das Jetzt c. Einheit der Richtung im Zeitflusse. Irreversibilität der Realprozesse d. Die Realzeit als gemeinsame „Abszisse" möglicher heterogener Ordinaten e. D i e Realzeit weder Substanz noch Akzidens . . . .

139 139 141 143 143 145 147 147 148 151 154 155

XIV

Inhalt

f. Homogenität, Stetigkeit und Unbegrenztheit der Realzeit . g. Realzeit als das an sich Größenlose und Maßlose . . . 12. Kapitel. Die Zeitlichkeit der Realprozesse a. Das Unerkennbare in der Realzeit b. Das Auseinandergezogensein des Dauernden in die Zeit . c. Zeitliches Beisammensein und Auseinandersein . . . d. Zeitmodi erster Ordnung. Gegenwart und Vergangenheit . e. Seinsweise des Zukünftigen. Das unaufhaltsam Anrückende 13. Kapitel. Die Zeitmodi höherer Ordnung a. Zeitmodi zweiter Ordnung. Die Simultaneität . . . b. Die Sukzession und ihre Richtung c. Die Dauer und Ablauf der Prozesse d. Zeitmodi dritter Ordnung. Der „Gleichfluß" der Realzeit . e. Parallelität der Abläufe und Unfreiheit der zeitlichen Bewegung f. Das Fehlen zeitlicher Eigenbewegung. Realzeitliche Determination g. Das Vorrücken des Jetzt und die Erhaltung im Jetzt . . 14. Kapitel. Die Anschauungszeit a. Abwandlung der Zeitkategorie b. Wahrnehmungszeit, Erlebniszeit und Vorstellungszeit . . c. Das Erleben und die Erhaltung des erlebenden Subjektes . d. Die freie Beweglichkeit des vorstellenden Subjekts in der Anschauungszeit e. Die verbreiterte Bewußtseinsgegenwart f. Die Zeitperspektive und der Vorgriff auf die Zukunft . . g. Das Festhalten des Vergangenen. Erinnerung und Erfahrung 15. Kapitel. D i e Zeitlichkeit d e s Anschauungsfeldes . . . . a. Verschwimmende Grenzen der Anschauungszeit . . . b. Größe und Größenmaß der Anschauungszeit. Die Idee der Ewigkeit c. Aufhebung der Homogeneität und des Gleichflusses in der Anschauung d. Kategoriale Struktur des beweglichen Zeitbewußtseins . . e. Gleichzeitigkeit, Sukzession und Dauer in der Anschauungszeit f. Reobjektivierte Stetigkeit und Einheit der Anschauungszeit . g. Objektive Zeitorientierung

157 161 164 164 166 167 168 170 173 173 175 177 180 183 185 188 192 192 193 196 197 199 200 203 205 205 207 209 211 213 215 217

IV. Abschnitt. Das Raum-Zeitsystem der Natur 16. Kapitel. Kosmologische Raumzeitlichkeit a. Das vierdimensionale System

219 219

Inhalt b. Das Senkrechtstehen der drei Raumdimensionen auf der Zeit c. Verfehlte Überspitzungen. Kein „fließender Raum" . . d. Unaufhebbarkeit des heterogenen Substratcharakters in Raum und Zeit e. Bezogenheit heterogener Dimensionssysteme auf die Einheit der Realzeit 17. Kapitel. Die Kategorie der Bewegung a. Bewegung als Urphänomen der Raumzeitlichkeit . . . b. Die kategorialen Momente der Bewegung c. Verhältnis der Raum- und Zeitmomente in der Bewegung . d. Die einfache Relativität der Bewegung im vierdimensionalen System e. Räumliche Relativität und zeitliche Absolutheit der Bewegung 18. Kapitel. Spekulative Relativismen des Raumes und der Zeit . a . D i e Problemsituation d e r Relativitätstheorie . . . . b. Die Relativierung der Gleichzeitigkeit c. Innerer Widerstreit in der Relativität von Zeit und Raum . d. Paradoxien des „deformierten" und des „rotierenden" Raumes e. Lichtgeschwindigkeit als postulierte Konstante aller Relativität f. Verräterische Anschauungsgebundenheit g. Recht und Grenzen der Relativitätstheorie

XV 221 223 225 227 229 229 231 233 235 236 237 237 239 242 245 248 251 252

ZWEITER TEIL Kosmologische Kategorien 1. Abschnitt. Das Werden und die Beharrung 19. Kapitel. Das Realverhältnis a. Vorläufige Einführung von elf Kategorien b. Das Realverhältnis als die innere Relationalität der Dinge . c. Das Realverhältnis zwischen Bestimmtheiten verschiedener Dimensionen d. Das Realverhältnis als Bewußtseinskategorie . . . 20. Kapitel. Das Werden und der Naturprozeß a. Das zeitliche Sein des Werdens b. Historisches. Sein und Werden, Entstehen und Vergehen . c. Veränderungen und Bewegung. Bewegliches Realverhältnis . d. Relativität der Bewegung und Absolutheit der Veränderung

257 257 259 261 263 265 265 266 268 270

XVI

Inhalt

2I.Kapitel. Modalanalyse des Prozesses a. Der Fehlschlag der Aristotelischen Fassung des Prozesses . b. Das Fortschreiten der Bestimmung und der enger werdende Kreis des Möglichen c. Der Prozeß als Bewußtseinskategorie. Die Rolle der Anschauung d. Der Realprozeß und die Determinationsformen . . . 22. Kapitel. Die Substantialität a. Populärmetaphysischer Substanzbegriff b. Das Scheitern der spekulativen Argumentationen . . . c. Die Substanz als Materie. Kants Dialektik der Veränderung d. Fehlschluß in der Veränderungsdialektik. Begrenzte Beharrung e. Dialektik des Werdens. Der Prozeß als das Beharrende . 23. Kapitel. Die Beharrung und das Beharrende a. Das Widerstehen im Prozeß als Beharren im Jetzt . . . b. Synthese von Substrat und Beharrung. Das Quantitative in der Substanz c. Kritik traditioneller Substanzprädikate. Relativität der Substanz d. Realität der sog. Akzidentien. Wirkungsverhältnis der Substanz e. Materie, Kraft, Energie. Dynamische Substanz und Entropie f. Das Zureichen relativ beharrender Substrate im Weltprozeß 24. Kapitel. Abwandlungen der Beharrung a. Beharrung ohne Substrat und Subsistenz b. Beharrung und Erhaltung. Subsistenz, Trägheit und Konsistenz c. Die Typik der Abläufe und die organische Formkonstanz . d. Erhaltung des Ich und der moralischen Person . . . . e. Die Erhaltungsformen des geistigen Seins f. Die Substanz als Bewußtseinskategorie 25. Kapitel. Die Zuständlichkeit a. Substanz und Zustand b. Prozeß und Zustand c. Dauerzustände und Gleichgewichtszustände . . . . d. Die Zuständlichkeit a l s Bewußtseinskategorie . . . .

271 271 273 276 278 280 280 281 284 286 287 290 290 293 295 298 301 303 306 306 307 309 311 312 315 318 318 320 321 323

II. Abschnitt. Die Kausalität 26. Kapitel. Die kausale Determinationsform 325 a. Zeitliche Ordnungsfolge u n d Abhängigkeit . . . . 325 b. Das Kausalgesetz und die Realnotwendigkeit der Kausalfolge 327

Inhalt c. Die Kausalreihe, der Kausalnexus und der Kausalprozeß . d. Das Verschwinden der Ursache in die Wirkung. Der schöpferische Prozeß e. Die Unerkennbarkeit des Hervorbringens 27. Kapitel. Zur Metaphysik der Verursachung a. Kausalverhältnis und Finalverhältnis b . Kategoriale Überformbarkeit d e s Kausalnexus . . . . c. Pluralität der Teilmöglichkeiten und Einheit der Realmöglichkeit d. Der Sinn der Kausalnotwendigkeit. Grenzen der Unabwendbarkeit e . D a s Verhältnis d e r Kausalität z u r Substanz . . . . f. Die fortlaufend verschobene Identität von Ursache und Wirkung 28. Kapitel. Komplexes Bewirken und Einmaligkeit . . . . a . Irrationalität d e r wirklichen causa efficiens . . . . b. Der scheinbare modus deficiens und der affirmative Charakter aller Kausalfaktoren c. Zweierlei Unendlichkeit der Kausalreihe. Stetiges und sprunghaftes Bewirken d. Zufälligkeit und Notwendigkeit im kausalen Geschehen . e. Die Individualität des Kausalnexus 29. Kapitel. Psychophysische Kausalität a. Abwandlungen des Bewirkens b. Das Oberbauungsverhältnis als Grenze und das Geulincxsche Axiom c. Aufhebung des Vorurteils. Heterogeneität aller Kausalreihen d. Spekulative Voraussetzungen, Hintergründe und Fehlschlüsse e. Zeitlichkeit und Prozeß als kategoriale Bedingungen der Kausalität f. Einheit des Weltzusammenhanges der Verursachung nach . 30. Kapitel. Die Aufweisbarkeit des Kausalzusammenhanges . . a. Das Problem der objektiven Gültigkeit b. Der modale Beweisgang und seine Fehler c. Hume und Kant. „Gewöhnung" und „Analogie der Erfahrung" d. Die sog. „Zufälligkeit" der mikromechanischen Prozesse . e. Kategoriale Diskussion der Sachlage. Das Gesetz der großen Zahl 31. Kapitel. Kausalität als Bewußtseinskategorie a. Das geschichtliche Durchdringen der Kausalitätsvorstellung . b. Die Kausalanschauung im Erleben, Vorsehen und Tun . . c. Kategoriale Abweichungen der Kausalanschauung . . . d. Besonderheiten des kausalen Begreifens

XVII 330 332 335 337 337 340 341 343 346 348 350 350 351 353 355 357 359 359 361 363 366 368 370 371 371 372 374 376 378 382 382 384 385 386

XVIII

Inhalt ///. Abschnitt. Natttrgesetzlichkeit und Wechselwirkung

32. Kapitel. Der Prozeß und seine Gesetze a. Die Formentypik der Abläufe b. Das Real-Allgemeine im Prozeß und die Gesetzesurteile der Wissenschaft c. Die Schemata der Abläufe. Apriorismus und Induktion . d. Geschichtliches. Formentypik und Gesetzestypik . . . e. Kausalität und Gesetzlichkeit 33. Kapitel. Das Naturgesetz und seine mathematische Struktur . a. Individualität und Allgemeinheit im Naturprozeß . . . b. Kategoriale Begrenzung der Rolle des Naturgesetzes . . c. Das Mathematische im Naturgesetz. Ontisches Sphärenverhältnis d. Stellung des Mathematischen im Schichtenverhältnis der realen Welt e. Das Geheimnis der exakten Wissenschaft 3 4 . Kapitel. Klassische u n d statistische Gesetzlichkeit . . . . a. Die Funktion. Mathematische Form und Realität . . . b. Das Continuum der Bewegung und das Infinitesimalprinzip c. Die Vereinfachung und der hypothetische Einschlag in der Gesetzes Wissenschaft d. Statistische Gesetze und Naturgesetze e. Regellosigkeit und Gesetzmäßigkeit. Das Konvergenzphänomen 35. Kapitel. Naturgesetzlichkeit als Erkenntniskategorie . . . a. Überspannung des Gesetzesgedankens in der Wissenschaft . b. Grenzen des Apriorismus. Extreme der Theorie . . . c. Gesetz und Tatsache. Verwürfelung der Sphären . . . d. Ablehnung relativistischer Skepsis. Anzeichen objektiver Gültigkeit 36. Kapitel. Die Wechselwirkung a. Die geschichtliche Problemlage b. Der durchgehende Realzusammenhang aller Prozesse in der Gleichzeitigkeit c. Dia Determinationsform der gegenseitigen Bedingtheit . . d. Das dynamische Verhältnis. Unbegrenztheit der Feldwirkung e. Inneres Verhältnis von Kausalität, Wechselwirkung und Gesetzlichkeit f. Selektive Funktion der Wechselwirkung a. Mechanische Wirkung und Gegenwirkung b. Das überkausale Moment im komplexen Bewirken . . c. Das Wirkungsgefüge in der Flüchtigkeit der Zustände . .

389 389 390 392 395 397 399 399 400 402 404 405 407 407 408 410 412 414 417 417 419 420 422 424 424 425 427 429 431 433 435 437 439

Inhalt d. Die Form der Dependenz in der Wechselwirkung. Vierdimensionale Abhängigkeit e. Wechselwirkung als Bewußtseinskategorie f. Die Wechselwirkung im wissenschaftlichen und philosophischen Denken

XIX

440 443 444

IV. Abschnitt. Natürliche Gefüge und Gleichgewichte 38. Kapitel. Das dynamische Gefüge a. Die diskreten Gebilde b. Das begrenzte Wirkungsgefüge als dynamisches Gefüge . . c. Natürliche, selbständige und primär-dynamische Gefüge . d . Dynamische Begrenzung d e r primären Gefüge . . . . e. Zonen relativer Indifferenzierung als dynamische Grenzen . 39. Kapitel. Innere Dynamik und Stabilität der Gefüge . . . a. Bewegende Kräfte, ihr Pendeln und ihr Ausgleich . . . b. Dynamischer Aufbau der Weltkörper. Grenzen der Stabilität c. Aufbaubedingungen und Stärkeunterschiede der Gefüge . d. Verhältnis von Größenordnung und Stärke der Gefüge . . e. Historisches. Besondere Formen, Gesetze und Gebilde . . f. Dynamische Ganzheit und Anschaulichkeit der Gefügeformen 40. Kapitel. Zentraldetermination a. Gewachsene Ganzheiten und Bruchstücke. Sekundäre Formen b . Negative u n d positive Begrenzungsphänomene . . . . c. Inneres und Äußeres der dynamischen Gefüge . . . . d. Dynamische Zentralität und Zentral determination . . . e. Bewußtseinsfremdheit des dynamischen Gefüges . . . 4I.Kapitel. Der Stufenbau der Natur a. Gefüge als Elemente von Gefügen b. Materiefunktion und Gliedfunktion der Elemente . . . c. Uberformung und Autonomie. Innenkräfte und Außenkräfte d . D a s dynamische Grundgesetz d e s Stufenbaus . . . . e. Spaltung der Ordnungsfolge im Stufenbau f. Die Lücke im Stufenbau. Stellung der höchsten Gefüge · · 4 2 . Kapitel. Dynamische Ganzheitsdetermination . . . . a . Rechtläufige u n d rückläufige Determination . . . . b. Innenkräfte von Gefügen und Aufbaubedingungen ihrer Elemente c. Zweiseitige Determination im Stufenbau der Natur . . d. Konsequenzen. Sekundäre Ganzheiten und die sog. „Dinge" e. Abwandlungen und Besonderungen 43. Kapitel. Dynamisches Gleichgewicht a. Verhältnis von Stabilität und Labilität in den Gefügen . .

447 447 449 450 452 455 457 457 459 462 463 465 467 469 469 471 472 474 476 479 479 481 483 485 487 488 491 491 492 494 496 498 500 500

XX

Inhalt

b. Der energetisch begrenzte Prozeß. Gefalle und Ausgleich . c. Bewegende Kraft und Widerstand d. Gefalle und Prozesse. Ungleichgewicht und Tendenz zum Gleichgewicht e. Relative und absolute Stabilität 44. Kapitel. Selektivität der Gleichgewichte a. Gefüge und Ablaufstypen b. Dynamische Selektivität der Gefüge und Prozesse . . . c. Scheinbar teleologische Verhältnisse d. Das Problem der Wertseite und Schönheit dynamischer Gefüge

501 503 505 507 508 508 510 512 513

DRITTER TEIL Organologische Kategorien /. Abschnitt. Das organische Gefüge 45. Kapitel. Aufgabe und Einteilung a. Problemlage und Anknüpfung b. Vorläufige Aufzählung der Kategorien c. Der Organismus als Individuum 46. Kapitel. Das Individuum a. Organsmus und Organe. Formen und Prozesse . . b. Anfang und Ende des Individuums. Leben und Tod . c. Der spontan sich ändernde Prozeß. Lebenskurve und Lebenseinheit d. Einheit und Ganzheit der geschlossenen Prozeßform . e. Die räumliche Begrenzung des organischen Gefüges . f. Lebenssphäre des Individuums. Zentralität und Selbsttranszendenz g. Organische Aktivität 47. Kapitel. Der formbildende Prozeß a. Das Verhältnis von Stoff, Form und Prozeß . . . b. Beweglicher Stoff und bewegliche Form. Der Primat des Prozesses c. Der selbsttätig aufbauende Prozeß und das sich selbst erbauende Gefüge d. Der zwischen Form und Form eingespannte Prozeß . 48. Kapitel. Das Widerspiel der Prozesse a. Die sich selbst verbrauchende und erneuernde Form .

. .

519 519 520 521 523 523 525

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533 535 537 537 538

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540 542 544 544

Inhalt

XXI

b. Assimilation und Dissimilation 546 c. D i e morphogenetische Aktivität d e s Plasmas . . . . 5 4 8 49. Kapitel. Formgefüge und Prozeßgefüge 550 a. Zweiheit der Aspekte und Einheit des Gefüges . . . . 550 b. Das System morphogenetischer Prozesse im System der Formen 552 c. Gegenseitige Bedingtheit der Teilprozesse. Das Ruhen der Gesamtform auf ihnen 553 d. Konsistenz als Erhaltungsmodus der lebendigen Form . . 555 50. Kapitel. Die organische Selbstregulation 557 a . Dynamisches u n d organisches Gleichgewicht . . . . 557 b. Innere Reaktivität der organischen Form auf die eigenen Prozeßkomponenten 559 c. Phänomene und Hintergründe. Selbstbegrenzung der Regulation 561 d. Überproduktion und Wachstum 563 e. Selbstbegrenzung des Wachstums. Regulation höherer Ordnung 564 U. Abschnitt. Das überindividuelle Leben 5I.Kapitel. Das Leben der Art 566 a. Die zweite Kategoriengruppe 566 b. Die Realität des Lebens der Art 568 c. Einheit und Erhaltung des überindividuellen Lebens . . 570 d. Das Lebensgefüge höherer Ordnung. Stellung des Individuums in ihm 573 e. Der morphogenetische Prozeß höherer Ordnung . . . 574 f. Selbsttranszendenz des Individuums und Konsistenz des Gesamtlebens 577 g. Das kategoriale Reproduktionsgesetz 579 52. Kapitel. D i e Wiederbildung d e s Individuums . . . . 581 a. Das Rätsel der Formübertragung 581 b. Entwicklung und Anlagesystem 582 c. Zellteilung, „Gene" und prospektive Bedeutung . . . 585 d. Zur Determinationsform des Entwicklungsprozesses . . 586 e. Wiederbildung der Einzelligen. Qualitätsgleiche Zellteilung 588 f. Wiederbildung der Vielzelligen. „Soma" und Keimplasma. Die Vererbung 590 53. Kapitel. Tod und Zeugung 592 a. „Potentielle Unsterblichkeit" 592 b. Die Kontinuität des Keimplasmas. Der abgespaltene Lebensprozeß 593

XXII

Inhalt

c. Geschlechtliche Fortpflanzung. Reduktionsteilung und Befruchtung d. Biologischer Sinn der geschlechtlichen Fortpflanzung . . e. Regulative Funktion der Amphimixis f. Inzucht und Parthenogenese 54. Kapitel. Die Variabilität a. Natürliches System und Beweglichkeit der Arten . . . b. Ursprüngliche Labilität des Keimplasmas und „Streuung" der Art c. Verfestigung und sekundäre Stabilität 55. Kapitel. Die Regulation des Artlebens a. Das lebende Individuum großen Stils b. Ausrichtung der Regulation auf das formbewegliche Stammesleben c. Quantitative Regulation des Artlebens d. Versagen der Artregulation und Artentod e. Weitere Regulationsformen

595 597 599 600 602 602

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///. Ahschnitl. Die Phylogenese 56. Kapitel. Die Abartung a. Das Schicksal einer Entdeckung b. Der Grundgedanke und die Theorien. Abarten als Aufstieg c . Deszendenz a l s ursprüngliche Morphogenese . . . . d. Das veränderte Gesamtbild und seine Argumente . . . e. Das „biogenetische Grundgesetz" f. Das Ineinandergreifen von Produktion und Reproduktion . 57. Kapitel. Die Zweckmäßigkeit a. Der Phänomenbereich und das Problem b. Die Tatsachen und der Apriorismus der Zweckmäßigkeit . c. Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit. Das kategoriale Problem d. Relative, zufällige und organische Zweckmäßigkeit . . e . D i e Theorien. Teleologische Erklärungsweise . . . . f. Die Kritik der ideologischen Urteilskraft g. Kants „regulatives Prinzip" und die „besonderen Gesetze" . 58. Kapitel. Organische Selektion a. Das Problem. Tastende Lösungsversuche b . Darwins Prinzip d e r natürlichen Zuchtwahl . . . . c. Der Kampf ums Dasein und das Überleben des Zweckmäßigen d. Kategorialer Charakter und Apriorität des Selektionsprinzips e . Geschichtliches. Variabilität u n d Selektivität . . . .

616 616 618 620 622 624 626 627 627 629 631 633 634 637 639 642 642 644 646 648 652

Inhalt f. Sekundäre Formen der Selektion. Der Grund der Höherbildung g. Selektion und Anlagedetermination 59. Kapitel. Die Mutation a. Grenzen der selektiven Erklärung b. Bedingungen der Mutation und Mutationsperioden . . . c. Gegenseitiges Verhältnis von Mutation und Selektion . . 60. Kapitel. Ursprüngliche Formbildung a. Abstammung und Aufstieg der Formen b. Die sog. „Urzeugung" und die fortgesetzt erstmalige Morphogenese c. Anfänge und Fortgang der Formenmannigfaltigkeit . .

XXIII

655 657 660 660 663 665 667 667 669 670

7V. Abschnitt. Organische Determination 61. Kapitel. Das organische Gleichgewicht 672 a. Labilität und Stabilität lebender Ganzheiten . . . . 672 b. Erhaltung und Umbildung. Das Durchbrechen der ursprünglichen Labilität 673 c. Indifferenz der untergeordneten Gleichgewichte gegen die Änderung des Arttypus 675 d. Die Rolle des Ungleichgewichts in der Staffelung der Gleichgewichte 676 e. Das Gesetz des organischen Gleichgewichts 678 62. Kapitel. Der Lebensprozeß 680 a. Substantialisierung der Lebendigkeit 680 b. Energetischer und organischer Prozeß 681 c. Geschichteter Aufstieg. Erhaltung nicht realisierter Möglichkeiten 683 d. Modaler Bau der Ontogenese. Multipotentialität und Regeneration 685 e. Das Problem der Intraselektion 687 f. Hypothetische Ausblicke 689 63. Kapitel. Der nexus organicus 692 a. Die falsche Alternative der Theorien 692 b. Problem-Übergewicht der Reproduktion über die Produktion 694 c. Die genauere Fragestellung. Verhältnis zu anderen Determinationsformen 695 d. Organische Zentraldetermination. Der geschlossene Ursachenkomplex 698 e. Die zweckmäßige Auslese der Ursachenmomente im Keimplasma 700

XXIV

Inhalt

f. Das Ineinandergreifen organischer Ganzheits- und Zentraldetermination 704 g. Überschichtung und Gefüge der Determinationen . . . 706 64. Kapitel. Die Artgesetzlichkeit 708 a. Stellung der „besonderen Gesetze" 708 b. Die phylogenetische Beweglichkeit der Artgesetze . .710 c. Uneigentliche Gesetze. Formwandel und Gesetzeswandel . 711

Einleitung /. Erkenntnistheoretische Vorerinnerung In einer Kategorienlehre liegt alles Entscheidende beim Inhaltlichen und Besonderen. Alle Verständigung ist auf ihrem Gebiete relativ einfach, weil man sich auf dem Boden des sachlich Gegenständlichen bewegt. Auch der Gegner wird es diskutierbar finden, wenn im Nachstehenden neben Raum und Zeit die Kategorien der Dimension und der Extension auftreten, wenn neben Kausalität und Substanz der Prozeß und die Zuständüchkeit eingerückt werden, wenn die Gesetzlichkeit neben der Ursächlichkeit eine Sonderstellung beansprucht, die Wechselwirkung aber, die so lange eine untergeordnete Stellung eingenommen hat, ins Zentrum der ganzen Gruppe rückt. Ebenso wird es trotz mancher Neuheit der Thesen keine grundsätzlichen Schwierigkeiten machen, wenn Gefüge und Ganzheiten, Zentralitäten und Gleichgewichte, ja sogar gewisse Formen der Regulation, die man in unseren Tagen meist dem Organischen vorbehalten hat, nunmehr schon tief in der unbelebten Natur einsetzen und ihren Aufbau bestimmen sollen, und wenn dementsprechend der Unterschied der organischen Gefüge von den dynamischen auf andere kategoriale Momente zurückgeführt wird. Die alten Denkgewohnheiten mögen dem in manchen Einzelheiten widerstreiten, dem Recht der neuen Problemführung und Analyse wird man sich so leicht nicht versagen. Anders ist es mit der grundsätzlichen Frage, die das Wesen und die Erfaßbarkeit von Kategorien überhaupt betrifft. Diese Frage steht an der Grenzscheide von Ontotogie und Erkenntnistheorie, gehört also in einen viel allgemeineren Problemzusammenhang, sie ist eine Grundfrage nicht der „speziellen", sondern der „allgemeinen Kategorienlehre" und ist im Rahmen der letzteren ausführlich behandelt worden1). Sie bedarf daher hier keiner neuerlichen Erörterung. Wohl aber muß zur Vermeidung von Mißverständnissen vor allem weiteren an eines der wichtigsten Resultate erinnert werden, die sich in jener Behandlung ergeben haben. Darüber muß man sich von Anbeginn klar sein: es gibt keinen Apriorismus der Kategorienerkenntnis. Alles, was wir über Kategorien wissen, ») Vgl. Der Aufbau der realen Welt (2. Aufl. 1950), Kap. 11 und Kap. 63 bis 65. — Im folgenden soll dieses Werk kurz als „Aufbau" zitiert werden; desgleichen die voraufgegangenen Werke „Zur Grundlegung der Ontologie" (3. Aufl. 1949) als „Grundlegung" und „Möglichkeit und Wirklichkeit" (2. Aufl. 1949) als „M. u. W.". l Hartmann, Philosophie der Nttui

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Einleitung

ist direkt oder indirekt den konkreten Gegenstandsgebieten abgewonnen, manches denen der natürlichen Alltagserkenntnis, das meiste und wichtigste denen der Wissenschaft. Das gilt auch gerade von den eigentlichen Erkenntniskategorien: diese sind zwar Prinzipien apriorischer Einsicht, werden aber selbst nicht erkannt, sondern bleiben gemeinhin vollkommen verborgen hinter der Gegenstandserkenntnis, deren apriorischen Einschlag sie tragen. Erst die philosophisch-erkenntnistheoretische Besinnung macht sie nachträglich bewußt. Aber auch sie erfaßt die Erkenntniskategorien nicht a priori, sondern auf dem Umweg über den Tatsachenbereich der Erfahrung, nämlich im Rückschluß von den Gegenständen jeweilig vorliegender Erfahrung. Dieser Umweg führt überdies zunächst nur zu den Gegenstands- oder Seinskategorien, und erst von diesen aus, in einer zweiten Umwandlung, können Erkenntniskategorien als solche erfaßbar werden. Die Prinzipien der Erkenntnis sind nicht erster Gegenstand der Erkenntnis, deren erste Bedingungen sie sind. Soweit überhaupt sie erkannt werden können, sind sie letzter Erkenntnisgegenstand. Man vergißt dieses nur zu leicht über der Beschäftigung mit den Einzelheiten, nicht weil diese dazu verführten, sondern weil die Transzendentalphilosophie alter und neuer Zeit uns hartnäckig eines anderen hat belehren wollen und fast alle einschlägigen Begriffe mit ihren Intentionen infiziert hat. Sobald man es aber vergißt, ist man der größten Verwirrung ausgesetzt. Die Kategorialanalyse ist also auf Phänomenanalyse angewiesen und muß diese dort suchen, wo sie vorliegt. Darum ist und bleibt sie stets an den jeweiligen Stand der Wissenschaften gebunden, auf deren Gegenstandsgebiet die gesuchten Kategorien sich erstrecken. Verfügte sie über einen apriorischen Erkenntnisapparat — nach der Art etwa, wie Descartes und Leibniz ihn sich dachten —, so hätte sie vielleicht die Möglichkeit, sich über mancherlei geschichtliche Bedingtheit hinwegzusetzen. Wenigstens ließe sich dann noch darüber streiten. Wie die Dinge liegen, hat sie durchaus keinen solchen Apparat. Und wer das einmal eingesehen hat, für den gibt es hierüber keinen Streit mehr!). 2. Gegebenheiten, Aufgaben und wissenschaftliche Problemlage Auch die Fundamentalkategorien machen hiervon keine Ausnahme, obgleich ihnen keine besondere Schicht der realen Welt als Concretum entspricht. In gewissem Sinne ist man bei ihrer Behandlung noch abhängiger von der Erfahrung: ihr Concretum liegt über alle Schichten verstreut, und die Folge davon ist, daß sie nur durch Vorwegnähme vieler Spezialkate!) Näheres hierzu im letzten Abschnitt dieser Einleitung.

Einleitung

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gorien aus der Mannigfaltigkeit der Seinsschichten aufgezeigt werden können. Es ist kein Zufall, daß ihr kategorialer Gehalt sich nur an ihrer Abwandlung durch die ganze Schichtenfolge hin demonstrieren ließ (vgl. Aufbau, Kap. 27—34). Mit dieser Vorwegnahme aber wurde in Wahrheit die spezielle Kategorienlehre zum Voraus belastet. Die Belastung muß nun erst nachträglich gerechtfertigt werden. Es muß sich erst erweisen, daß die Gebietskategorien der Seinsschichten sie auch wirklich tragen können. Insofern stehen die wichtigsten Aufschlüsse über die Gegebenheitsbasis jener allgemeinsten Seinsgrundlagen noch aus. Sie fallen letzten Endes mit auf das Erfahrungsmaterial der Wissenschaften, dem allein wir die speziellen Schichtenkategorien entnehmen können. Angesichts dieser Sachlage gewinnt auch die geschichtliche Perspektive noch einmal an Bedeutung. In ihr liegt eine unerschöpfliche Quelle philosophischer Erfahrung: die Geschichte der Systeme ist zugleich Geschichte des Durchdringens einzelner Kategorien ins Bewußtsein. Erkenntniskategorien sind keine Konstanten des erkennenden Bewußtseins, sondern Meilensteine seines Eindringens in die reale Welt, d. h. seiner Anpassung an sie auf dem Wege seiner Orientierung in ihr. Hinter jeder neu auftretenden Denkform birgt sich eine kategoriale Einsicht. Die Denkform ist mit dieser zwar nicht identisch, führt sie aber mit herauf, und meist überspannt sie die neue Errungenschaft beträchtlich, setzt sich dadurch zugleich ins Unrecht und muß nun erst durch nachfolgende Kritik auf ihr natürliches Maß zurückgebracht werden. Darum bewegen sich die philosophischen Systeme ohne Ausnahme in Übertreibungen und Einseitigkeiten und der Fehler der Grenzüberschreitung — der Übertragung von Kategorien auf Gebiete, für die sie nicht zuständig sind, — beherrscht sie alle. Aber die auf den Teilgebieten gewonnenen Errungenschaften bestehen dennoch zu Recht, und dem Epigonen ist es bei kritischer Einstellung nicht allzu schwer gemacht, sie durch Abstreifung der fehlerhaften Verallgemeinerung herauszupräparieren. Das gilt in erster Linie von den speziellen Kategorien. An den Fundamentalkategorien ist die Verallgemeinerung ja kein Fehler, weil sie tatsächlich allen Seinsschichten gemeinsam sind. Die speziellen aber sind es nicht. Bei ihnen also gilt es, sie im Gegensatz zu ihrer geschichtlich vorliegenden Expansionstendenz im spekulativen Denken erst auf ihren natürlichen Geltungsbereich zurückzubringen. Hierbei muß man sich immer wieder der weit ausschauenden Aufgabe jener neuen Kritik der reinen Vernunft erinnern, die nicht wie die Kantische eine gemeinsame Grenze der Geltung für alle Kategorien, sondern die besondere der einzelnen Kategorie aufzusuchen und eindeutig festzulegen hat. Es ist eine Aufgabe, die an jeder Kategorie gesondert zu stellen und zu lösen ist, und zwar nicht mit

Einleitung

den Mitteln der Erkenntnistheorie, sondern mit denen der Ontologie (vgl. Aufbau, Kap. 10). Denn die Einschränkung hängt nicht am Gefüge der Erkenntnis, sondern an dem der realen Welt. Aufgaben dieser Art sind es, die der Auswertung des reichen geschichtlichen Materials anhaften und sie beschweren. Die Philosophie ist darum nicht in jedem Wissenschaftsstadium imstande, es mit den Erfordernissen der Kategorienlehre aufzunehmen. Sie kann es nur dann, wenn die Richtungen der in die Mannigfaltigkeit der Phänomene und Forschungsmethoden auseinanderstrebenden Problemketten eine gewisse Konvergenz zeigen. Schaut man sich daraufhin den Gang der Naturwissenschaften in den letzten hundert Jahren an, so versteht man sehr wohl, daß in dieser Zeitspanne eine tragfähige Naturphilosophie nicht erwachsen konnte. Es ist die Zeit der allgemeinen Divergenz und Zersplitterung, getragen von den großartigsten Fortschritten der Forschung auf fast allen Spezialgebieten, eine Zeit der progressiven Arbeitsteilung der Wissenschaften, bei der die Zusammenschau immer schwieriger wurde. Es schien, als könnte die Forschung nur auflösen, nicht aber das Aufgelöste wieder zum Einheitsbilde zusammenbauen. Dieser Schein war freilich trügerisch. Aber er war stark genug, die Philosophie von einer ihrer wichtigsten Aufgaben abzuhalten. Er ist heute gefallen. Die Zeit der Zerissenheit und Zersplitterung in Spezialprobleme und Spezialmethoden liegt hinter uns. Wenn auch die Zusammenhänge noch keineswegs überall greifbar auf der Hand liegen, so sind sie doch an vielen Stellen hinter dem Besonderen spürbar geworden. Die Wissenschaftszweige zeigen selbst wieder deutlich die ihren Problemen eigentümliche Konvergenz: Chemie und Physik haben ihr gemeinsames Grenzgebiet gefunden, Atomdynamik und Astrophysik berühren sich aufs engste, Physiologie und Kolloidchemie greifen ineinander über. Das sind nur Beispiele. Der ganze bunte Kranz der Naturwissenschaften ist von diesen Zusammenhängen durchzogen, und die einzelnen Forschungszweige werden in ihrer Arbeitsweise von ihnen mitbestimmt. Die Folge dieses Durchdringens der Zusammenhänge ist, daß die kategorialen Probleme in der wissenschaftlichen Forschung selbst mehr an die Oberfläche gekommen sind. Sie kündigen sich denn auch in einem gewissen spekulativen Einschlag der Wissenschaft an, so z. B. deutlich in der theoretischen Physik. Aber auch andere Wissenszweige zeigen dasselbe Phänomen. Sogar auf biologischem Gebiet dringen die allgemeinsten Grundprobleme wieder durch, und es ist kein Zufall, daß der Gedanke einer „theoretischen Biologie" seinen Vertreter gefunden hat. Aus dieser neuen Wissenschaftssituation heraus gilt es, die alte Aufgabe der Naturphilosophie neu aufzugreifen. Getragen von ihr, dürfte es

Einleitung

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nicht aussichtslos sein, den Kategorien des Kosmos und des Lebendigen im Sinne der angedeuteten ontologisch-kritischen Weise des Vorgehens nachzuspüren. 3. Zweckprinzip und Formsubstanz in der alten Naturphilosophie In der Geschichte der Naturphilosophie lassen sich zwanglos vier Perioden unterscheiden. Die längste und bekannteste ist die der Aristotelischen und scholastischen Naturteleologie, die schon in der Platonischen Eidoslehre beginnt und bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts herrscht. Ihr voran geht die kurze, aber reiche Epoche der vorsokratischen Naturmetaphysik; und es folgt ihr, schon im 14. Jahrhundert sich ankündigend, im 17. zur Reife gelangend, die Epoche der klassischen Physik Galileis und Newtons, mit der unmittelbar die neue Kosmologie ohne Zwecke, rein auf Grund exakter Gesetzlichkeit, Hand in Hand geht. Diese Kosmologie erreicht ihren Höhepunkt bei Kant, in seiner „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" sowie in seinen „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft"; und gleichzeitig geht von Kant auch in der „Kritik der Urteilskraft" der erste Anstoß zu einer radikalen Umbildung der Philosophie des Organischen aus. Auf beiden Gebieten ist die Grundlage der Überlegung eine erkenntnistheoretische. Die vierte Periode ist die der idealistischen Naturmetaphysik, gekennzeichnet durch die Namen Schelling und Hegel. Aber sie bildet nur ein kurzes Intermezzo. Ihre Spekulation wird von der fast gleichzeitig zu intensivster Rührigkeit erwachten exakten Forschung im Eilschritt überholt. Unmittelbar nach ihrem Zusammenbruch setzt jene Alleinherrschaft der positiven Wissenschaften und die Zersplitterung in die Spezialmethoden ein, von der oben die Rede war. Philosophisch bringt diese Zeit es nur bis zum Positivismus und allenfalls zu einer beachtenswerten Methodologie der Naturwissenschaften. Aber weder jener noch diese dringen bis zu kategorialen Problemen durch. Eine fünfte Periode ist noch nicht angebrochen — es sei denn, daß man den spekulativen Einschlag der theoretischen Physik in unseren Tagen als ihren Anfang betrachten will. Was die ungeheure Verführung des teleologischen Prinzips in der Naturphilosophie ausmachte, ist in den Hauptzügen seit langem durchschaut. Von jeher bestach den Verstand die Leichtigkeit, mit der auch die schwierigsten Probleme sich zu lösen schienen, wenn man das Resultat komplizierter und undurchsichtiger Prozesse zu deren zwecktätig leitendem Prinzip machte. Daß hierbei ein zwecksetzender und zwecktätiger Verstand in den Naturvorgängen vorausgesetzt wurde, schien keine Schwierigkeit zu machen, solange man in ungeklärt anthropomorphistischer Art — oder

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Einleitung

gar im Hinblick auf einen nicht weniger anthropomorph verstandenen Gottesbegriff — eben dieses Schema der bewegenden Instanz für selbstverständlich nahm. Als das auf der Höhe der griechischen Metaphysik nicht mehr selbstverständlich schien, war es der Kunstgriff der Aristotelischen Philosophie, das zwecktätige Prinzip von der Vorstellung eines agierenden Verstandes abzulösen und in die ewigen Formprinzipien hineinzuverlegen, die dadurch zu substantiellen Formen gestempelt wurden. In dieser verkappten Gestalt hat die Aristotelische Naturteleologie eine fast zweitausendjährige Alleinherrschaft ausüben können, — in der Kosmologie etwas kürzere Zeit, in der Organologie sogar noch etwas längere. Warum die kritische Besinnung dann schließlich ganz einseitig in der Lehre von der unbelebten Natur einsetzte, während das biologische Denken noch lange von ihr unberührt blieb, ist ohne weiteres verständlich, wenn man bedenkt, daß die augenfälligen Phänomene der Zweckmäßigkeit ausschließlich an den Lebenserscheinungen des Organismus hängen. War doch die ganze Orientierung der Aristotelischen Physik und Metaphysik einst von eben diesen Erscheinungen ausgegangen. Von hier aus war der alte Fehler schwer zu fassen. Geschichtlich ist denn auch die neue Naturauffassung nicht diesen Weg gegangen. Die Kritik des Zweckprinzips setzt erst sekundär ein. Das Primäre ist die Kritik am Formprinzip. So erklärt es sich auch, daß noch in den Jahrhunderten der klassischen Mechanik sich im hintergründig-metaphysischen Denken ihrer eigenen Schöpfer und Verfechter ein unbehobener Rest ideologischer Weltdeutung erhalten und mit den theologischen Oberzeugungen ihrer Zeit verbinden konnte. Die alte Formsubstanz nämlich war ein durchaus statisches Prinzip, obgleich sie als das Bewegende in aller Bewegung gedacht war. Sie sollte bewegen, ohne bewegt zu sein. Und in allen Wandlungen, die sie im Laufe der Jahrhunderte erfuhr, bewahrte sie diesen ihren statischen Grundcharakter. Nun besteht aber alle Veränderung im Wandel der Form. Will man also den Prozeß der Veränderung selbst fassen, d. h. ihn nicht durch sein Endstadium, sondern durch die ganze Reihe der durchlaufenen Phasen bestimmen, so ist ein statisches Formprinzip offenbar nicht imstande, das zu leisten. Das hatte Aristoteles erfahren, als er den Versuch machte, den Prozeß zu fassen. Es gibt nach ihm zwei Seinsweisen, Dynamis und Energeia. Keine von beiden paßt auf den Prozeß, in dem die Form verwirklicht wird: in keinem der Ubergangsstadien ist die Form „wirklich", aber auch in keinem ist sie ganz unwirklich, denn jedes ist ja selbst ein Wirkliches. Er mußte also die Reihe der Stadien als „das Wirklichsein eines bloßen Möglichen" fassen. Das ist in der Tat die Formel des Aristoteles. Aber es scheint, daß er mit ihr nicht dasselbe Glück hatte wie mit so vielen anderen

Einleitung

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Formulierungen. Jedenfalls ist sie nicht in gleichem Maße aufgegriffen und fortentwickelt worden. Auf dem Boden der alten Modalkategorien ließ sie sich auch kaum weiter diskutieren. Wohl aber ließ sich der Formbegriff selbst umbilden. Und an diesem Punkte hat denn auch im ausgehenden Mittelalter die Kritik eingesetzt. 4. Die neuen Grunbegriffe:

Gesetz, Kraft, Prozeß, Ursache

Zwei Dinge sind es, die den alten Formbegriff verdrängt und auf den neuen Gesetzesbegriff hinausgeführt haben. Das eine ist der soeben angegebene statische Charakter der substantiellen Form. Das andere ist ihr Gegensatz zur Materie. Beides paßte auf Dinge und allenfalls auf Gebilde, die sich nach Analogie der Dinge auffassen ließen, nicht aber auf Vorgänge. Die Natur aber besteht nicht in stillstehenden Gebilden. Wenn nun Vorgänge sich auch an etwas Materiellem vollziehen, so ist die Materie doch nicht Materie des Vorganges. Suchte man nach dem Substrat des Vorganges selbst, so konnte man es nur in Richtung auf die bewegende Kraft finden. Diese beiden Motive haben zusammengewirkt. Es ist kein Zufall, daß die damals neu entstehende Physik zugleich mit dem Gesetzesbegriff auch den neuen Kraftbegriff geschaffen hat. Auch diese Wandlung setzt bereits im 14. Jahrhundert mit der Impetustheorie ein. Die unbewegliche Form wandelt sich zur „fließenden Form" (forma fluens), die in jedem Augenblick des Prozesses ein anderes Ansehen zeigt, und doch als identisches Verhältnis die Stadien alle umfaßt. Die Kraft aber verliert den Charakter des unbewegt Bewegenden, sie verbraucht sich im Prozeß,geht in ihn über und wirkt aus ihm weiter fort. An diesem Gedanken hängt dann weiter die allmählich sich herausformende neue Fassung des Kausalprinzips, genau so wie am ersteren die der mathematischen Gesetzlichkeit hängt. Beide haben gleichen Anteil an dem Wandel, der sich im Begriff des Prozesses selbst vollzieht. Der Prozeß, einerlei ob Bewegung oder Veränderung, ist jetzt nicht mehr die Verwirklichung eines vorbestehenden Unwirklichen; er ist weder an ein vorgezeichnetes Endstadium gebunden noch überhaupt einem Ende verfallen. Er geht über jedes Ende hinweg in weitere Prozeßstadien über, Prozeß schließt an Prozeß. Und wie er kein aus ihm selbst heraus bestimmtes Ende hat, so auch keinen Anfang. Dieser neue Prozeßbegriff schließt also noch aus einem anderen Grunde das Zweckprinzip von sich aus. Denn im Wesen des teleologisch geleiteten Vorganges liegt es, von einem Anfangsstadium aus auf ein Endstadium hin ausgerichtet zu sein. Wo weder Anfang noch Ende im Wesen eines Geschehens liegt, da ist kein Boden für teleologische Determination.

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Und noch von einer anderen Seite her läßt sich dieser Wandel beleuchten. Auch das Mittelalter hatte seinen Kausalitätsbegriff. Er ist aber etwas völlig anderes, als was wir unter Kausalität verstehen. Er war so weit gefaßt, daß auch das Zweckprinzip als causa finalis mit darunter fiel. Ein Gegensatz zur Finalität ließ sich also an ihm gar nicht zum Ausdruck bringen. Alles, was überhaupt Seinsgrund eines anderen ist, galt als causa. Da es aber Seinsgründe sehr anderer Art gibt als die vergänglichen Prozeßstadien und nach der Theorie die ewigen Formen gerade die wichtigsten von ihnen sein sollten, so mußte man solche „Ursachen", die sich im Prozeß auflösen, von solchen unterscheiden, die zwar in ihm enthalten, aber nicht mit ihm vergänglich sind. Das drückt der Unterschied der causa transiens und causa immanens aus. Der teleologischen Naturmetaphysik kam es natürlich nur auf die causa immanens an. Hier aber lag gerade der Fehler. Was im Prozeß beharrt, ist gar nicht seine Ursache; es kann sein Prinzip, seine Form, sein Gesetz sein, aber nicht das, was ihn in Fluß bringt und was in ihm von einem Stadium aus das andere „bewirkt". Nur die bewirkende Ursache eben ist eigentliche Ursache. Und von dieser ist grundsätzlich alles zu unterscheiden, was sonst noch Form und Verlauf des Prozesses mitbestimmt. Was der Scholastik als die Hauptsache im Problem der causalitas erschien, die causa immanens, fällt hiermit ganz aus dem Kausalverhältnis heraus. Es gehört einer anderen Art von bestimmenden Mächten an. Man kann sich natürlich einreden, das sei doch eine bloß terminologische Angelegenheit: was kommt denn darauf an, ob man unvergängliche Prinzipien causae nennt oder nicht? Aber so einfach liegen die Dinge hier doch nicht. Das Verhängnisvolle der alten Terminologie war ja eben dieses, daß zwei grundsätzlich heterogene kategoriale Momente unter ein und denselben Oberbegriff gefaßt waren. Dadurch wurde die Identität zweier durchaus verschiedener Determinationsverhältnisse vorgetäuscht, des Verhältnisses „Prinzip—Concretum" und des Verhältnisses „Ursache—Wirkung". Eine solche Verwürfelung mußte das Ringen um ein neues Verständnis des Naturprozesses aufs schwerste belasten. Das neue Verständnis besteht ja gerade wesentlich in der Klarstellung jener überkommenen Unklarheiten. Hätte die mathematische Naturforschung an diesem Punkte nicht radikal aufgeräumt, sie wäre wahrscheinlich nie über die ersten Ansätze hinausgekommen. Sie hätte dann auch die Naturgesetze, denen sie auf der Spur war, für „immanente Ursachen" erklären müssen. Daß sie das nicht tat, ist eines ihrer größten Verdienste. Ja, vielleicht ist eben das die radikalste Umwälzung, die sie vollzogen hat. In der Wissenschaft selbst ist das viel zu wenig beachtet und anerkannt

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worden. Die Philosophie aber kann darüber nicht wie über eine Nebensache hinweggehen. Die Analyse des Verhältnisses von Gesetz und Ursache wird das an seiner Stelle noch ins rechte Licht zu rücken haben. i. Kants Philosophie des Organischen und die Naturphilosophie der Idealisten Philosophisch hat wohl erst Kant diesem ganzen Gedankenkomplex den einheitlichen Ausdruck zu geben vermocht. Nicht der transzendentale Idealismus ist dafür charakteristisch, wohl aber die langsam reifende und immer wieder an naturwissenschaftlicher Problematik durchgeprüfte kritische Erkenntnistheorie. Sie bedeutet den Durchstoß auf die Problemhintergründe des in der neuen Naturwissenschaft enthaltenen Apriorismus. Darüber hinaus aber bringt Kant auch eine Fülle inhaltlich neuer Gedanken. In drei Problemrichtungen vollendet sich bei ihm das neu gewonnene Weltbild. Erstens erweitert er den kosmologischen Radius der Schau vom Planetensystem auf das Fixsternsystem und gelangt so als erster zum Einheitsbilde des vergrößerten Kosmos, ja er bleibt auch dabei nicht stehen, sondern faßt den — heute prophetisch anmutenden — Gedanken, die blassen Nebelflecken am Himmel könnten ebensolche Sternsysteme wie die Milchstraße, nur in ungeheurer Entfernung, sein. Zweitens versucht er in seiner „Dynamik" eine Auflösung der Materie in das Widerspiel zweier Grundkräfte (Attraktion und Repulsion) und gibt damit das erste Beispiel der Aufhebung materieller Substanz. Drittens aber dringt er auch erstmalig in das Rätsel der organischen Zweckmäßigkeit ein. Bei aller Originalität setzen die ersten beiden Gedankenreihen doch nur fort, was im Zuge der Errungenschaften jener Zeit lag. Die dritte aber geht weit darüber hinaus. Der Gedanke, daß Zweckmäßigkeit etwas anderes ist als ein Geleitetsein vom Zweck, daß sie an einem Resultat von kompliziert ineinandergreifenden Vorgängen auch bestehen kann, ohne daß deren Abläufe von Zwecken determiniert wären, ist ein Novum in der Naturphilosophie. Zwar tauchte er roh geformt schon in der frühgriechischen Philosophie auf, mußte aber dann der Autorität des Aristoteles weichen. Und auf keinem Gebiet hat das Aristotelische Dogma von den substantiellen Formen als zwecktätig bewegenden Mächten so lange und unumschränkt geherrscht wie in der Lehre vom organischen Leben. Auf keinem Gebiet auch war das spekulative Falschspiel der alten Teleologie so schwer zu durchschauen wie auf diesem. Es ist die kritischste Tat der kritischen Philosophie, daß sie zuletzt auch dieses alte und am tiefsten eingewurzelte Vorurteil durchbrach und den Gegenstand der „teleologischen Urteilskraft" als eine Mannigfaltigkeit von „besonderen Ge-

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setzen" erkannte, die unser Verstand zwar inhaltlich nidit faßt, auf die aber nichtsdestoweniger sein suchendes Vordringen eindeutig ausgerichtet ist, und zwar gerade, indem die Ausrichtung das Regulativ des vermeintlichen Zweckes zum Leitfaden hat. Erst mit dieser kritischen Tat ist der letzte Rest der Aristotelischen Naturmetaphysik überwunden und der erste positive Vorstoß in das Gebiet einer wirklich neuzeitlichen Philosophie des Organischen gemacht. Freilich ist es auch nur gerade ein erster Vorstoß und mutet in Kantischer Zeit wie ein kühner Vorgriff an. Die Teleologie des Lebendigen ist hier nur grundsätzlich und keineswegs in ihren weitverzweigten Teilproblemen überwunden. Gezeigt ist nur, daß überhaupt das Zweckmäßige auch sehr wohl „ohne Zweck" bestehen, und also wohl auch entstehen, kann. Daß dem auch wirklich in der Natur so ist, allgemein und notwendig, diese Konsequenz hat auch Kant selbst nicht zu ziehen gewagt. Was Wunder also, wenn seine Nachfolger seinen kritischen Gedanken nicht ernst nahmen und wieder in alter Weise mit dem Zweck als Grundkategorie des Organischen weiterphilosophierten? Diese Rückkehr zum teleologischen Schema ist charakteristisch für die Naturphilosophie des deutschen Idealismus. Heute fragt man sich wohl staunend, wie das möglich war. Bauten doch Schelling und Hegel in der Meinung, Begonnenes zu vollenden, auch auf der Kritik der Urteilskraft weiter. Das Rätsel löst sich, wenn man sieht, daß Kant keineswegs den Anspruch erhob, die Unmöglichkeit zwecktätigen Geschehens im Reich des Lebendigen erwiesen zu haben, und daß der Idealismus selbst die Form der Geist- und Vernunftmetaphysik angenommen hatte, auf deren Grundlage Zwecktätigkeit ohne zwecktätiges Bewußtsein nicht mehr widersinnig erschien. Von diesen beiden Punkten ist der letztere der ausschlaggebende. Mit der These einer „bewußtlosen Intelligenz" — oder auch des „Geistes in seinem Außersichsein" — werden ja nicht nur grundlegende Einsichten der Kritik der Urteilskraft überflüssig, sondern auch solche der Kritik der reinen Vernunft über den Haufen geworfen. Aber auch das ist nicht der letzte Grund für die allgemein ins alte Geleise zurückführende Naturmetaphysik. Der letzte Grund liegt in der Verlagerung des zentralen Interesses der Philosophie vom Naturgebiet auf das Geistesgebiet, sowie in der Tendenz, gewisse Kategorien des Geistes auf die Phänomene der Natur zu übertragen. Hierbei ist die Zweckkategorie nur eine unter vielen. Daß dabei aus dem regulativen Prinzip wieder ein konstitutives gemacht wurde, ist nicht zu verwundern. Und ebenso darf man es als eine bloße Konsequenz der Systembildung verstehen, daß auch die alte Metaphysik der Formen wieder neu auflebt.

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6. Das Einsetzen der Methodologie. Die wissenschaftliche Induktion Hätten diese Tendenzen sich bloß auf die Philosophie des Organischen bezogen, so wären sie wohl wie so manche frühere Rückschläge im Laufe der Zeit wieder ausgeglichen worden. Denn die biologischen Wissenschaften waren damals noch nicht in der Lage, mit einem klaren Gegenschlage zu anworten. Aber die Idealisten gingen auf das Ganze der Natur. Sie übertrugen ihr Prinzip auch auf die anorganischen Prozesse, ja sie versuchten eine auf manche Einzelheiten gehende Deutung mechanischer, elektromagnetischer und chemischer Prozesse im Sinne ihrer Geist- und Formenmetaphysik. Und hier stießen sie auf kräftige Gegenwehr der inzwischen konsolidierten und ihrer Autonomie bewußt gewordenen positiven Wissenschaften. Dieser Widerstand war durchaus unüberwindlich, weil er auf solider Tatsachenforschung beruhte. Die Folge war der bekannte Einsturz der idealistischen Systeme bald nach dem Tode Hegels. ' Daß hierbei manches wertvolle Gedankengut mit verschüttet wurde, ist heute eine bekannte Tatsache und bedarf keines Wortes. Das aber ist vorwiegend eine Angelegenheit der Philosophie des Geistes und geht die spezielle Kategorienlehre erst auf der Höhe der oberen Seinsschichten an. Im Bereich der niederen Schichten war jener Einsturz in der Tat ein totaler. Darum hat sich die Naturphilosophie ein Jahrhundert lang nicht wieder erheben können. Die Übermacht und das Fortschrittstempo der Tatsachenforschung im 19. Jahrhundert ließ sie so leicht nicht wieder aufkommen. Die Lücke in der Tradition des naturphilosophischen Denkens ist indessen keineswegs eine vollständige. Zugleich mit dem Aufkommen des deutschen Positivismus (etwa bei Laas), der sich als Fortsetzung des alten Empirismus zu geben suchte, kam auch die Erneuerung der Kantischen Philosophie auf. Die Naturphilosophie wurde damit freilich auf die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der exakten Wissenschaften und zuletzt immer mehr auf bloße Methodologie eingeschränkt. Aber auf dieser schmalen Linie, die damals meist unter dem Titel der „Logik" befahren wurde, ist denn doch noch manche wichtige Einsicht gewonnen worden. Aufs klarste hat sich in diesen Untersuchungen das Wesen der wissenschaftlichen Induktion herausgestellt. Daß alle Verallgemeinerung auf Grund beobachteter Fälle unvollständig bleibt, wußte man seit langem; daß sie aber vollständig wird, wenn man das beobachtete Besondere auf ein vorgegebenes Allgemeines beziehen kann, ist eine Einsicht, die sich erst in strenger Analyse von erprobten Verfahrensweisen der wissenschaftlichen Praxis herausstellen konnte. Vollends worin ein solches Allgemeines bestehen kann, ließ sich nur in weit ausholender erkenntnistheoretischer Erörterung ans Licht bringen.

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Es stellte sich hier in den Kontroversen der Positivisten und Neukantianer — vielfach im Gegensatz zu ihren eigenen Intentionen — immer deutlicher heraus, daß dem Induktionsschluß ein apriorisches Erkenntniselement zugrunde liegt, welches stillschweigend vorausgesetzt wird, ein Element also, das die Erfahrung nicht rechtfertigen kann, das aber dennoch seine Berechtigung haben muß. Man sieht es am besten vom Experiment aus. Experimentieren läßt sich nur mit dem Einzelfall, und auch wenn man die Versuche wiederholt oder variiert, kommt man doch über das Einzelne praktisch nicht hinaus. Den Physiker aber interessiert ja nicht, was in dem willkürlich als Beispiel gewählten Falle geschieht, sondern was allgemein in jedem gleichliegenden Falle geschehen muß. Wie kommt es, daß ihm der Einzefall dieses Allgemeine verraten kann? Die Antwort ist: er muß schon vorher wissen, daß alle gleichliegenden Fälle denselben Ablauf des Geschehens zeigen werden wie der beobachtete Einzelfall. Das bedeutet, auf eine philosophische Formel gebracht, er muß vorher wissen, daß überhaupt eine allgemeine Gesetzlichkeit vorhanden ist, welche die gleichartigen Fälle beherrscht. Und zwar muß er das wissen, bevor er das besondere Gesetz kennt, nach welchem das fragliche Geschehen sich richtet. Unter dieser Bedingung allein kann ihm das am Einzelfall angestellte Experiment das Gesetz verraten, nach dem er sucht. Das ist es, was J. St. Mill aussprach, indem er den Grundsatz von der „Gleichförmigkeit der Natur" als oberstes Gesetz der wissenschaftlichen Induktion bezeichnete. Der englische Positivist begriff freilich nicht, daß er damit auf das Gegenteil seiner empiristischen Ausgangsposition hinausgelangte: auf eine unvermeidliche apriorische Voraussetzung der exakten Erfahrungswissenschaft. Und lange hat es dann noch gedauert, bis man in Deutschland hierin den Grundgedanken Kants von den „Analogien der Erfahrung" wiederzuerkennen vermochte. In der Tat hatte Kant den „allgemeinen Grundsatz" seiner drei „Analogien" — d. h. der zu Grundsätzen erweiterten Relationskategorien — in der ersten Ausgabe der Kritik so formuliert: „Alle Erscheinungen stehen ihrem Dasein nach priori unter Regeln der Bestimmung ihres Verhältnisses untereinander in einer Zeit. Das Zeitverhältnis in dieser Formel zeigt, daß sie in erster Linie die Form der Abläufe betrifft. Da aber Erscheinung bei Kant nichts Geringeres als das „empirisch Reale" ist, so bedeutet die Apriorität der „Regeln", unter denen die Verhältnisse aller Erscheinungen in einer Zeit stehen sollen, eben dieses, daß auch der Einzelfall die Regel enthalten muß und sie deswegen dem Forscher verrät, wenn er ihn in der rechten Weise zu befragen weiß. Das erforderliche Vorwissen des Forschers ist also ein Wissen um die durchgehende Gesetzmäßigkeit der Naturvorgänge überhaupt, noch dies-

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seits aller Ermittelung des einzelnen Gesetzes. „Analogie der Erfahrung" bedeutet nichts anderes als den summarischen erkenntnistheoretischen Ausdruck hierfür. 7. Das Metaphysische in den Naturproblemen und die Naturkategorien Macht man sich die Einfachheit dieses Kantischen Gedankens einmal recht klar, so erstaunt man über die logisch-methodologischen Umwege der Theorien seit dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft. Hier lag die Schlüsselstellung des großen, immer weiter sich verzweigenden und in die Spezialforschung sich verlierenden Problembereichs. Der Positivismus führte zwar inhaltlich auf sie hinaus, erfaßte aber nicht den apriorischkategorialen Charakter in ihr; der Neukantianismus dagegen, der sich ungehemmt in Apriorismen bewegte, verfehlte den soliden Ansatz am Boden der Erfahrung. Diese paradoxe Situation ist der Hintergrund des hundertjährigen Interregnums der Naturphilosophie. Daß methodologische Probleme sich nur auf inhaltlidi-kategorialer Basis lösen lassen, ist eine späte Einsicht. Man kann diese Einsicht erst gewinnen, wenn man begriffen hat, daß alles Wissen um Methoden sekundäres Wissen ist. Der Forscher bahnt sich seinen „Weg" im Hinschauen auf den Gegenstand der Forschung. Findet er ihn, so weiß er zunächst nur um den Gegenstand, nicht um den Weg als solchen. Er hat dann das überlegene Können der Einsicht, nicht aber gleich unmittelbar ein Wissen um Hintergründe und Bedingungen dieses seines Könnens. Was er darüber angeben kann, erschöpft meist nicht die wirkliche Struktur seines Vorgehens. In der Regel weiß erst der Epigone um sie, und zwar auch er auf Grund nachträglicher Analyse. Die arbeitende Methode ist das Erste in aller aktiv vordringenden Forschung, die Methodologie aber ist das Letzte. Das Geheimnis der wirklich bahnbrechenden Methode ist dem Geiste, der sie anbahnt, in ähnlicher Weise verborgen, wie das Geheimnis des Genies in der künstlerischen Produktion ihm selbst verborgen bleibt. Darum hat das Geheimnis der Induktion nach den genialen Entdeckungen der ersten großen Meister des Experiments vor dreihundert Jahren noch so lange auf seine Enträtselung warten müssen. Auch die Kritik der reinen Vernunft konnte, obgleich sie das Rätsel löste, mit dieser ihrer Lösung nicht bis in das Bewußtsein der Zeitgenossen durchdringen. Es hat noch einmal anderthalb Jahrhunderte gedauert, bis das Dunkel sich lichtete. Davon wird bei der Kategorie des Naturgesetzes noch die Rede sein müssen. Indessen, um die neue Situation der wiedererwachenden Naturphilosophie in unserer Zeit zureichend zu erfassen, bedarf es noch der Heraus-

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Stellung eines zweiten Momentes. Dieses betrifft den Einschlag des Metaphysischen in den Naturproblemen. Es gehörte mit zur Reaktion gegen den spekulativen Idealismus, daß man nach einer völligen Ausschaltung metaphysischer Fragen strebte. Auch das hatte anfangs seine Berechtigung und mochte als kritische Abwehr gewagter Konstruktionen gelten. Aber sinnvoll war die Abwehr nur, soweit sie sich gegen Annahmen und Theorien wandte, also nicht gegen die Probleme selbst, sondern gegen eine bestimmte Art von Lösungsversuchen. Diese Grenze wurde indessen schnell überschritten, die Probleme selbst wurden abgewiesen, wurden für willkürliche, unsinnige oder „falsch gestellte" Fragen erklärt, sobald ihr Gehalt über die einmal angenommenen Grundlagen hinausdrängte. In dieser Tendenz begegneten sich die feindlichen Brüder, der Positivismus und der Neukantianismus, jener aus empiristischen, dieser aus rationalistischen Gründen. Damit aber verschloß sich das Zeitalter gerade die tieferen Problemschichten sowohl der kosmischen als auch der organischen Welt. Denn so ist nun einmal die Sachlage auf den großen Gegenstandsgebieten der Philosophie: im Hintergrunde der lösbaren Probleme stehen überall unlösbare Problemreste. Die Welt ist nicht an unseren Erkenntnisapparat angepaßt, wohl aber dieser in gewissem Maße an sie — nämlich an die lebensnotwendige Funktion der Orientierung. Nur hat diese Anpassung natürliche Grenzen, die ihr durch ihre eigene Anlage und Einrichtung gezogen sind. Diese Grenzen hängen an den Prinzipien des Begreifens, die sie mitbringt, d. h. an den Erkenntniskategorien. Alles Einsehen, Verstehen, Begreifen reicht so weit, als der Kategorienapparat der Erkenntnis reicht. Wo der Gegenstand von Prinzipien bestimmt ist, die der Verstand nicht hat und seinerseits nicht einsetzen kann, da bleibt er dem Verstande „unverständlich". Das ist ein einfaches Exempel, das ohne weiteres einleuchtet, wenn man es einmal begriffen hat. Aber es gibt Zeiten, denen ein solches Begreifen himmelfern liegt; da hält man sich unbesehen an das Erkennbare und meint, darüber hinaus könne und dürfe es auch im Gegenstandsfelde nichts weiter geben. Im Hintergrunde der naturwissenschaftlichen Probleme lagern nun gleichfalls unlösbare Restprobleme. Sie liegen verborgen im Wesen des Raumes, der Zeit, des Prozesses (der „Bewegung", wie schon die Alten wußten), im Wesen der Materie, der Kraft, der Substanz, der Kausalfolge usf.; das besagt, sie liegen gerade in den Kategorien der Natur. Diese sind es, die das Unerkennbare enthalten. In ihnen selbst also steckt der metaphysische Einschlag der Naturprobleme (vgl. Grundlegung, Einl., Abs. 5 und 6). Die Konsequenz ist leicht zu ziehen. Weist man aus methodologischer

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Voreingenommenheit das Metaphysische in den Naturproblemen ab, so schneidet man sich damit jede Aussicht auf Erfassung von Naturkategorien ab. 8. Die Bearbeitbarkeit unlösbarer Probleme Nimmt man es nun aber mit diesem Metaphysischen in den Naturpioblemen auf, so nimmt man auch eine große und prinzipielle Schwierigkeit auf sich. Denn jetzt handelt es sich darum, wie man das Unerkennbare erkennbar machen soll. Mit dieser Schwierigkeit fertig zu werden, ist kein so großes Kunststück, wie es zunächst scheinen mag. Denn in der angegebenen Form ist sie künstlich zugespitzt. Philosophie ist nicht Zauberei, kein Vernünftiger wird von ihr erwarten, daß sie Unlösbares löse, Unerkennbares erkenne. Es gilt vielmehr nur, die mannigfach grundsätzlich erkennbaren Seiten einer Sache, in deren Wesen ein unerkennbarer Rest steckt, zu erfassen. Damit nämlich gewinnt man weit mehr als bloße Randbestimmungen; man grenzt eben dadurch den unerkennbaren Rest von allen Seiten ein, gewinnt also die Verhältnisbestimmungen, die ihn mit dem Erkennbaren verbinden. Und dadurch gewinnt er, unbeschadet seiner Unerkennbarkeit, doch mittelbar auch für das Erkennen eine gewisse Bestimmtheit. Dieses Verfahren, das sich die „logisch" orientierte Methodologie hat entgehen lassen, ist in der Philosophie ein vielfach bewährtes. Es war von altersher überall da zuhause, wo man im Ernst metaphysische Problemgehalte kritisch zu behandeln gesucht hat. In der Kategorienlehre bildet es ein grundlegendes Methodenmoment. Seine nähere Beschreibung soll hier nicht vorweg gegeben werden. Die Kategorialanalyse selbst wird dafür die besseren Anknüpfungen hergeben. Wohl aber muß hier noch etwas anderes klargestellt werden, was hiermit zusammenhängt und die veränderte Sachlage der Naturphilosophie in unserer Zeit betrifft. Wie war eigentlich die Stellung der alten Metaphysik — und selbst noch die der idealistischen Naturphilosophie — zu den metaphysischen Hintergrundsproblemen der geschilderten Art? Man hat oft genug ihre Lösungsversuche als willkürlich und gewaltsam bezeichnet. Das stimmt gewiß. Aber warum waren sie es? Durch das metaphysische Bedürfnis, durch religiöse oder moralische Postulate läßt sich nicht entfernt alles erklären. Es ist vielmehr dem erkennenden Bewußtsein grundsätzlich unmöglich, bei ungelösten Problemen stehen zu bleiben, solange diese in einem lebendigen Problembewußtsein gegenwärtig und aktuell sind. Die alte Metaphysik griff deshalb nach erdachten Prinzipien, Hypothesen und Weltgründen. Sie „löste" ihre Probleme in der Tat mit dem Zauberstabe. Und die Idealisten taten es nicht weniger. Wenn Schelling die Mannigfaltigkeit

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der Naturformen auf das wunderliche Sich-Recken und Dehnen eines unbewußten Riesengeistes auf seinem Wege zum Selbstbewußtsein versteht, so ist es die reine Magie des Gedankens — oder soll man sagen der Einbildungskraft —, womit er sein Zeitalter fortreißt. Diesem Verfahren stellen die Verneiner der Metaphysik im 19. Jahrhundert das andere Extrem entgegen: sie verneinen zugleidi mit den Lösungen auch die Probleme, sie lassen sie einfach fallen. Sie tun, als stünde es in Mensdienmadit, diese Probleme zu verbannen. In Wahrheit konnten sie sie nur ignorieren. Problemgehalte sind nicht Menschenwerk und können von keiner Theorie aus der Welt geschafft werden. In gewissem Sinne war also die spekulative Naturphilosophie der Idealisten noch fast kritischer als der überkritisch gewordene Positivismus oder Neukantianismus. In dem Augenblick, wo das Bewußtsein heranreift, daß beide Extreme fehlerhaft sind, ergibt sich die neue Situation der Naturphilosophie. Die entscheidende Einsicht ist eine durchaus positive, wiewohl ebensosehr kritische. Es mit einem Problem aufnehmen bedeutet nicht ohne weiteres es lösen. Die meisten wissenschaftlichen Probleme durchlaufen geschichtlich mannigfache Stadien, in denen sich ihre Tiefe erst nach und nach auf tut; der einzelne Forscher trägt hier nur das seinige bei. In der Mehrzahl der Fälle weiß er nicht einmal, ob sich das Problem bis zu Ende lösen läßt oder nicht. An der Bearbeitung macht das auch grundsätzlich keinen Unterschied. Jede Teilerkenntnis ist und bleibt eben doch ein Fortschritt der Einsicht, einerlei wieviel oder wie wenig Unerkanntes übrigbleibt. Daraus ergibt sich: „bearbeiten" läßt sich jedes Problem, auch wenn es sich nicht bis zu Ende löst. Das ist es, warum die Alternative von spekulativer Gewaltlösung und Preisgabe des Problems eine falsche ist. Es gibt noch ein Drittes: die unverdrossene Fortarbeit an dem Problem, auch mit dem Wissen um die unlösbaren Reste, die es enthält. Wenn man nur die Gegebenheitsgebiete folgerichtig auszuwerten weiß, so gibt es immer einen Weg des Vorwärtskommens. An dieser Einsicht hängt das neue Stadium der Naturphilosophie, in dessen Anfängen wir stehen. Es ist jetzt sehr wohl möglich, sich auf Probleme mit metaphysischem Einschlag einzulassen. Denn es ist nicht nötig, sie metaphysisch zu beantworten. Auf die genaue Herausarbeitung des Prinzipiellen kommt es allein an, und dazu gehört auch die Eingrenzung des Nichterkennbaren. Die Herausarbeitung der Kategorien steht eben immer noch in den Anfängen, so sehr auch die Philosophie sich um einzelne von ihnen bemüht hat. Man war doch immer zu leicht geneigt, entweder das Fehlende spekulativ zu ergänzen und damit dem soliden Gange

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der Einsicht vorzugreifen, oder aber ihr Problem als aussichtslos fallen zu lassen. An diesem Punkte also gilt es anzusetzen, und zwar unter sorgsamer Verwertung der geschichtlich aufgehäuften Denkerfahrung. 9. Klassische und moderne Physik. Relativismus und Spielraum der Naturphilosophie Bleiben wir zunächst bei der anorganischen Natur stehen und fragen uns, was das Eigentümliche der heutigen Sachlage in ihrem Problemfelde ausmacht, so fällt der Blick zunächst auf den Zustand der exakten Wissenschaften. Es kann kein Zweifel sein, daß es ein Zustand der Krisis ist. Die klassische Physik ist in Auflösung begriffen — nicht zwar in der Art, daß ihre Resultate hinfällig geworden wären, wohl aber in der Weise, daß ihre Grundlagen sich als unzureichend erwiesen haben. Die Quantentheorie hat die Kontinuität der energetischen Prozesse aufgehoben und das Gewicht auf eine andere Größenordnung von Vorgängen verlegt. Die Relativitätstheorie hat die Substrate möglicher Messung (Raum, Zeit, Materie usw.) relativiert. Ein neuer Typus von Gesetzlichkeit, das statistische Gesetz, hat auf vielen Gebieten den klassischen Gesetzesbegriff abgelöst; und wenn auch das Äquivalenzprinzip sich in weiten Grenzen aufrechterhalten läßt, so ist doch die Grundlage der Gesetzlichkeit eine andere geworden. Selbst ihr altes Fundament, das Kausalitätsprinzip, scheint mit in den Strudel gezogen zu sein. Diese Entwicklung ist heute noch nicht abgeschlossen. Kategoriale Konsequenzen lassen sich aus ihr einstweilen nur bruchstückweise ziehen. Denn vielfach sind in den Wissenschaften selbst die Folgen der Umwälzung noch nicht oder nicht eindeutig gezogen. Die theoretische Physik ist in ihren Grundfragen selbst spekulativ geworden. Ihre Perspektiven führen ins Hypothetische. Die Philosophie ist damit vor neue Aufgaben gestellt. Diese zu bewältigen, dürfte die Zeit noch nicht gekommen sein. Die Katcgorialanalyse also wird sich in dieser Richtung die größte Zurückhaltung auferlegen müssen. Das ist um so mehr geboten, als mit den stürmischen Schritten der Wissenschaft auch relativistische Anschauungsweise in sie eingedrungen ist!). Was sonst nur in der Philosophie und in den Geisteswissenschaften zu Hause war, die Parallelität verschiedener Anschauungsweisen, die einander den Rang streitig machen, hat sich auch in den Forschungszweigen der Physik gezeigt. Und sieht man näher zu, so kann man dieses Auseinl) Man vergleiche hierzu das lehrreiche Buch von Eduard May „Am Abgrund des Relativismus" Berlin 1941. 2 Hirtmann, Philosophie der Natur

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anderklaffen bis tief in die Theorien des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Die Divergenz der Spezialgebiete und das oft beklagte Fehlen einheitlicher Übersicht beruhte eben zum Teil schon auf der beginnenden Unsicherheit der Grundlagen. Man erinnere sich dazu der Kontroverse um den Kraftbegriff und seine Ausschaltung durch Einführung des universal gefaßten Energieprinzips. Im Hinblick auf diese Sachlage wäre es ein vollkommen falscher Anspruch der Philosophie, wenn sie sich zur Richterin aufwerfen und den Streit schlichten wollte, — als hätte sie Kriterien höherer Art in der Hand, die der exakten Wissenschaft abgingen. Es fehlt ja nicht an Versuchen solcher Art, und die Stimmen derer, die das Eingreifen der Philosophie geradezu verlangen, wollen nicht verstummen. Macht man es ihr doch direkt zum Vorwurf, daß sie Probleme, die offenkundig in ihren Bereich schlagen — man meint damit kategoriale Probleme —, nicht energisch aufgreift, daß sie also wieder einmal weit hinterherhinkt, wo sie führend sein sollte. Solche Ansprüche an sie sind keineswegs berechtigt. Der Philosoph soll die exakte Forschung nicht in die Hand nehmen, sondern den Berufenen überlassen. Er soll sich erst recht nicht von der Unruhe der Ungeduldigen antreiben lassen. Es bleibt ihm ohnehin genug zu tun. Sein Geschäft eilt nicht. Die Spezialwissenschaft treibt ihre Probleme zwar bis auf gewisse letzte Grundfragen hinaus; sie dann aber weiter zu bearbeiten, liegt nicht in ihren Methoden. Diese Fragen fallen eines Tages, wenn sie die nötige Spruchreife erlangt haben, ohnehin der Philosophie zu. Es ist kein Schade, wenn die Philosophie von heute sich nicht auf die neuesten, zum Teil noch unsicheren Wissenschaftsresultate beschränkt, sondern in größerer Breite vom Ganzen der naturwissenschaftlichen Zeitlage ausgeht. Ein Endgültiges zu schaffen, liegt in ihren Intentionen ohnehin ebensowenig wie in denen der Naturwissenschaft. Wichtiger für sie ist es, was sie zustandebringt, so anzulegen, daß es auch für künftige und bessere Auswertung heutiger Wissenschaftsresultate als Vorarbeit dienen kann. Auch in diesen Grenzen behält sie noch Spielraum genug. Ihn wirklich auszufüllen, kann sie schwerlich mehr tun als immer wieder neue Ansätze machen. 10. Erweitertes Gesichtsfeld, Kosmologische Perspektiven Soweit die Problemlage der exakten Wissenschaften diesen Krisencharakter trägt, bedeutet sie ein erschwerendes Moment für die Naturphilosophie. Aber sie ist nicht dadurch allein ausgezeichnet. Von mindestens gleicher Gewichtigkeit ist die gewaltige Erweiterung, die das Vorbild der Physik erfahren hat.

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Die Thermodynamik, Elektrodynamik und Strahlungstheorie haben eine Fülle neuer Phänomene erschlossen. Die Atomphysik hat in die MikroStruktur der einst für unauflösbar gehaltenen Materieelemente hineingeführt und in ihr einen neuen Typus des dynamischen Gefüges entdeckt. Das periodische System der chemischen Elemente hat von hier aus eine neue Deutung erfahren, und seine Leerstellen sind durch die Reihe der radioaktiven Elemente aufgefüllt worden. Gleichzeitig stieß auch die organische Chemie in das Reich der hochkomplizierten Moleküle vor, um sich hier mit dem Tatsachenmaterial der Physiologie zu begegnen. Von nicht geringerer Bedeutung, obschon weniger bekannt, ist das Vordringen der Astronomie in die Fernen des Weltraumes. Neben den alten Methoden der Astrometrie haben die neuen der Astrophysik und Stellarstatistik hier Bahn gebrochen. Über die schwer übersehbaren Arbeiten der letzteren liegt heute bereits die erste große Zusammenfassung vor. Der innere Aufbau der leuchtenden Himmelskörper ist dem physikalischanalytischen Eindringen zugänglich geworden; die Quellen ihrer ungeheuren Strahlungsenergie, die lange ein großes Rätsel waren, dürfen auf Grund der Atomdynamik als grundsätzlich erschlossen gelten; für den Lichtwechsel der Cepheiden hat sich in der Instabilität des Strahlungsgleichgewichts, für die Massenkonzentration der sogen, weißen Zwergsterne in der Ionisation der Atome eine Erklärung gefunden. Auch die inneren Bewegungsverhältnisse des galaktischen Systems sind kein undurchdringliches Rätsel mehr, seitdem statistische Methoden einen Ansatz zur Berechnung von Bahnen einzelner Sterngruppen geliefert haben. Nimmt man dazu,daß in fortschreitendem Maße das Reich der extragalaktischen Nebel sich erschlossen hat, so drängt sich der Eindruck auf, daß wir mitten in einer Periode gewaltiger Erweiterung der kosmologischen Perspektiven stehen, die um nichts weniger umwälzend ist als diejenige, die vor viereinhalb Jahrhunderten mit Copernicus begann und bei Kepler ihren Abschluß fand. Das für die Problemlage Entscheidende in alledem ist aber dieses, daß sich hierbei in aller vielfältigen Gespaltenheit der Forschungszweige ganz von selbst eine Art Einheit des kosmologischen Weltbildes hergestellt hat. Die divergierenden Problemlinien haben sich ohne Kompromiß, gerade auf Grund rücksichtsloser Verfolgung ihrer Eigentendenzen auf den einmal eingeschlagenen Bahnen, zuletzt doch wieder als eng verbunden erwiesen. Das überzeugendste Beispiel dafür ist das Ineinandergreifen der astrophysikalischen Analyse und der Atomdynamik: die Welt der größten und die der kleinsten Prozesse zeigen sich hier als so eng aufeinander bezogen, daß die entscheidenden Aufschlüsse über die eine bei der anderen zu suchen sind. Wie sehr auch andere Wissenschaftszweige von dieser Konvergenz erfaßt sind, davon war schon zu Anfang die Rede.

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Das Zusammentendieren selbständiger und von Hause aus heterogener Richtungen des Vordringens mutet heute noch manchen wie ein Wunder an. Wovon die Forschung des letztvergangenen Jahrhunderts ahnungsvoll träumte, ohne zuletzt recht daran glauben zu können, hat ohne Kunstgriffe und Einheitshypothesen sich mitten in der schlichten Fortarbeit zu erfüllen begonnen. Die Zerrissenheit der Wissenschaft hat sich als Täuschung erwiesen. Sie war nichts als das Übergangsstadium der ihren eigenen Sinn noch nicht recht durchschauenden Wissenschaftslage. Philosophisch gesehen liegt darin eine bedeutungsschwere Wahrheit. Im Grunde genommen, wie konnte es denn anders sein? Die kosmische Welt, deren Sonderphänomene jene Wissenszweige unter sich aufteilten, blieb eben doch „eine" Welt, und jene Sonderphänomene waren doch nur verschiedene Seiten eines Ganzen. Aufteilung ist an ihr nur das Werk des endlichen Verstandes, der einer Arbeitsteilung bedarf. Sie erscheint als Zerreißung nur, solange die verschlungenen Wege des Vordringens sich nicht begegnen. Einmal aber müssen sie aufeinander stoßen, und dann stellt sich die Einheit der kosmischen Perspektive von selbst her. Nur daß sie auf gewissen Gebieten schon so bald sich finden sollten, ließ sich nicht voraussehen. An diesem Punkte ist der positive Kern der neuen Problemlage in der Naturphilosophie zu fassen. Die spekulativen Systeme haben abgewirtschaftet, die Methodologie hat das Problem verfehlt. Hier aber zeigt sich im Arbeitsfelde der positiven Wissenschaften selbst der inhaltliche Ansatzpunkt einer auf die Einheit des Ganzen gehenden philosophischen Sicht. Die Frage ist nur, welche Mittel ihr zur Verfügung stehen, sich der neuen Problemlage zu bemächtigen und ihr gerecht zu werden. Die Antwort darauf wird die Kategorienlehre zu geben haben. Denn kein Entwurf eines Programmes oder einer neuen Methode kann hier eine Lösung anbieten, sondern nur das wirkliche Beschreiten des Weges, auch wenn es auf längere Sicht ein suchendes und tastendes sollte bleiben müssen. 11. Die Grenzen des Mathematischen in den Substraten der Größe Soweit ist die Problemlage der Naturphilosophie auf Grund der exakten Wissenschaften zur Zeit eine eminent positive. Aber sie hat auch andere Seiten, und nicht überall liegen die Dinge so günstig. Als Beleg dafür sei an dieser Stelle nur das Verhältnis zur Mathematik angeführt. Was die neuzeitliche Naturwissenschaft so groß gemacht hat, ist ohne Zweifel in erster Linie das mathematische Gerüst, das sie sich erarbeitet hat. Faßbarkeit und Berechenbarkeit gehen hier eng zusammen. Gesetzeserkenntnis und mathematische Formel lassen sich durchaus nicht trennen. Der Grund dieses Verhältnisses ist kein erkenntnistheoretischer, sondern ein ontologischer: die Verhältnisse, Vorgänge und Gebilde der Natur sind

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eben selbst quantitativ geordnet, sie enthalten mathematische Struktur und Gesetzlichkeit. Und da diese Seite an ihnen die dem menschlichen Verstande faßbarste ist, so hängt an ihr die wichtigste Chance, in die Naturverhältnisse einzudringen. Kategorial ausgedrückt: die im Naturgegenstand enthaltenen mathematischen Kategorien sind es, an denen der einzigartige Aufschwung der Naturwissenschaften in der Neuzeit und das Geheimnis ihrer Exaktheit hängt. Aber ebendeswegen stehen diese Wissenschaften auch in der Versuchung, die Seite der Zugänglichkeit und der großen Erfolge für das Ganze ihres Gegenstandes zu halten und diesen geradezu in mathematischen Verhältnissen aufgehen zu lassen. Das entspricht der bekannten Tendenz des Menschengeistes, alles Neuentdeckte und Erfolgreiche zunächst zu überspannen. Das mathematische Denken, einmal seiner selbst Herr geworden, wird zur bevorzugten Denkform. Das Fahnden nach Berechenbarkeit und nach der mathematischen Formel wird zur weltanschaulichen Haltung. Vom 17. Jahrhundert ab läßt sich diese Tendenz verfolgen. Sie führte bei Kant, der in dieser Hinsicht durchaus keine extreme Position einnahm, zu der Auffassung, in unserer Erkenntnis sei soviel Wissenschaft, als Mathematik in ihr sei. In unseren Tagen ist man noch weiter gegangen: wirklich ist, was meßbar ist. Die verhängnisvolle Enge einer solchen Formel verrät sich schon darin, daß die Meßbarkeit nur innerhalb der anorganischen Natur als durchgehende besteht, schon am Organismus äußerst beschränkt ist, und an den höheren Schichten des Realen ganz versagt. Das Wirklichsein aber wird man diesen letzteren nicht absprechen können. Weit wichtiger aber ist es, daß auch der Gegenstand der exakten Wissenschaften selbst in der mathematischen Struktur nicht aufgeht. Es liegt im Wesen der Quantitätsbestimmung, daß sie die Quantität „von etwas" ist. Es muß immer ein Substrat der Quantität vorhanden sein, sonst ist sie Quantität von nichts, ein inhaltleeres Größenverhältnis ohne Realität. Die Substrate selbst aber sind etwas ganz anderes, sie sind die Medien oder Dimensionen, in denen sich die Quantitätsbestimmung bewegt. Die reine Mathematik kann ihrer entbehren, weil sie es nicht mit Realem zu tun hat; die mathematische Physik aber ist auf sie angewiesen und setzt sie in jeder Formel, ja in jedem Buchstabensymbol voraus. Wegstrecke, Zeitdauer, Geschwindigkeit, Beschleunigung sind nicht Quantitäten, sondern Substrate möglicher Quantität. Die reine Mechanik drückt das durch die Verschiedenheit der Symbole aus. Aber sinnvoll ist die Formel nur, wenn man die unquantitativen Grundbedeutungen der Symbole schon kennt und einsetzt. Wer diese Bedeutungen nicht kennt, dem bleibt sie unverständlich. Was für die Mechanik gilt, muß für die übrigen Gebiete der Physik erst recht gelten. Druck, Dichte, Temperatur, Strahlungsintensität, Frequenz,

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Wellenlänge, Spannung, Strommenge, Widerstand — das alles sind Dimensionen möglicher Größenbestimmung, und darum gibt es in jeder von ihnen eine besondere Maßeinheit — konventionell zwar in der gewählten Größe des Maßes, aber unverrückbar in ihrer Heterogenität und in ihrer Eigenart irreduzibel aufeinander. Es liegt ein nicht quantitatives Etwas zugrunde, und erst „an ihm" haftet die Größenbestimmung. Daran ändert es nichts, daß diesen Substraten wieder allgemeinere Substrate zugrunde liegen; die Raum- und Zeit-Dimensionen, Masse, Bewegung, Kraft, Energie. Denn diese tragen schon offenkundig den Stempel kategorialer Momente. Es ist ganz richtig, daß alle diese Momente die eigentlichen Träger der Quantität sind und zusammen das „Meßbare" ausmachen. Nur ist das Meßbare nicht Maßbestimmtheit, sondern ihre Vorbedingung. Das Wesen und die Verschiedenheit der Quantitätsträger, ebenso wie auch ihre Bezogenheit aufeinander, gehen nicht nur der Messung voraus, sondern realen Größenverhältnissen überhaupt und sind etwas anderes als sie. Wie sie denn auch in aller Quantitätsverschiedenheit identisch verharren. Sie als solche stehen eben neutral zur Quantität. Und hier ist die Grenze des Mathematischen im Naturgegenstande, zugleich also auch die Grenze der Exaktheit wissenschaftlicher Bestimmung. Was eigentlich Ausdehnung, Dauer, Kraft oder Masse ist, vermag das mathematische Denken nicht zu sagen. An diesem Punkte aber setzt nun gerade die Kategorialanalyse ein. Die Träger oder Substrate der Quantität sind es, an denen die metaphysischen Hintergrundsprobleme der Naturphilosophie hängen. 12. Kategoriale Stellung des Mathematischen in den Naturphänomenen Auch außer den Substraten der Quantität gibt es in der anorganischen Natur noch mancherlei, was nicht mathematischen Charakter hat. Dahin gehört der allgemeine Prozeßcharakter, das Wesen des Gefüges und seiner Gestaltqualitäten (nicht nur die räumlichen), ferner die Kollokation der Umstände in ihrer Einmaligkeit (Individualität) und die Typen der Abhängigkeit, sowie die hinter diesen stehenden Determinationsformen. Unter den letzteren ist der Kausalnexus nur der bekannteste. Was an ihm über die Gesetzlichkeit überhaupt und speziell über die mathematische hinausgeht, wird die Analyse noch zu zeigen haben; denn auch in den Kausalitätsbegriff haben sich mathematizistische Vorurteile eingeschlichen. Zu beachten ist übrigens auch, daß noch innerhalb des Quantitativen eine Grenze des Mathematischen besteht. Das wird greifbar, wenn man bedenkt, daß alle mathematische Bestimmung bloße Verhältnisbestimmung ist. Schon jede ganze Zahl, jeder Bruch, jedes Vielfache, jede Potenz ist

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dem Wesen nach Verhältnis zur Einheit. Irgendwelche absoluten Realgrößen, einerlei an welchem Träger oder in welcher Dimension, kann sie nicht angeben. Sie muß sie außer sich suchen, muß sie sich geben lassen. Darum sind alle Maßstäbe in der exakten Wissenschaft empirischer Art, oder gar konventionell. Und sie auch nur mit Eindeutigkeit festzulegen, ist eine Aufgabe, die niemals mit mathematisch absoluter Genauigkeit gelingen kann. Etwas Ähnliches wiederholt sich an den sog. Naturkonstanten (Gravitationskonstante, Solarkonstante u. a. m.). Sie können empirisch konstatiert werden, wenn auch der Weg der Konstatierung ein rechnerisches Verfahren einschließt. Sie sind also jedenfalls nicht in mathematische Bestimmung auflösbar. Und schließlich läßt sich in dieser Reihe auch die Naturgesetzlichkeit selbst anführen: die Gesetze lassen sich wohl mathematisch fassen, gehen aber in dieser Fassung nicht auf. Sie haben alle die Form der Beziehung mehrerer Substrate (möglicher Quantität) aufeinander — etwa der Raumstrecke auf die Zeit, der Dichte auf Druck und Temperatur usf. —, und diese Beziehung ist an sich weder eine mathematische noch eine quantitative überhaupt, sondern liegt als kategoriale dem Größenverhältnis schon zugrunde. Das im Auge zu behalten ist von Wert. Denn im übrigen ist gerade die Gesetzlichkeit dasjenige an den Naturwissenschaften, was am greifbarsten mathematischen Charakter hat. Man fragt sich angesichts dieser Sachlage, warum denn die Mathematik in der Naturwissenschaft eine so entscheidende Rolle spielt. Oder in ontologischer Wendung: welches ist denn das wirkliche Verhältnis zwischen den realen Naturvorgängen und dem Mathematischen? Die volle Antwort darauf kann an dieser Stelle noch nicht gegeben werden. Um aber Mißverständnissen vorzubeugen, läßt sich immerhin grundsätzlich das Folgende sagen. Die mathematische Seite im Naturgegenstande ist seine rationale Seite, von dieser Seite läßt er sich fassen. Das macht sich die Wissenschaft zunutze, und darauf beruhen ihre imponierenden Erfolge. Aber die geschichtliche Erfahrung lehrt uns, bei solchen Erfolgen auf der Hut zu sein. Alles Vorgehen mit einseitig ausgewählten Kategorien wird zuletzt abwegig, und zwar eben weil es ein einseitiges Vorgehen ist. Man muß sich hier der Schichtungsgesetze erinnern, welche die allgemeine Kategorienlehre entworfen hat. Die Kategorien der Quantität, an denen die mathematischen Zusammenhänge haften, bilden eine niedere Prinzipienschicht, noch den Fundamentalkategorien verwandt, sofern ihnen keine eigene Realschicht entspricht, aber weniger allgemein als sie, weil ihr Gewicht sich in den höheren Schichten des Realen immer mehr erliert.

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Mit voller Kraft dringen sie noch in die unterste Realschidit durch; darum ist die anorganische Natur so weitgehend von mathematischen Verhältnissen beherrscht, ist berechenbar und Gegenstand einer exakten Wissenschaft. Aber diese Kategorien machen nicht das Ganze des Gegenstandes aus, sondern nur eine bestimmte Seite. Es erfüllt sich an ihnen das Gesetz des Novums: die höhere Schicht geht in den Kategorien der niederen nicht auf, sondern bringt ihre eigenen mit (vgl. Aufbau Kap. 39 a und 53). Die mathematische Struktur des physikalischen Gegenstandes kommt zustande, indem die Quantitätskategorien die besonderen Substrate durchdringen, welche die Welt des Materiellen, Kinetischen und Dynamischen ausmachen. Sie durchsetzen diese gleichsam von unten her, lösen sie aber nicht auf. Die Formbestimmtheit der Gebilde und der Prozesse kann sich also in den mathematischen Verhältnissen nicht erschöpfen. Die Materie mit ihren Momenten der Trägheit und Schwere ist und bleibt, indem sie in die quantitativen Verhältnisse eingeht, doch etwas von Grund aus Unmathematisches. Ebenso unmathematisch sind die Raum- und Zeit-Dimensionen, die Bewegung, die Abhängigkeiten und Bezogenheiten. Man kann den Ablauf eines Naturprozesses wohl mathematisch bestimmen, und damit faßt man dann eine bestimmte Seite seiner Gesetzlichkeit. Aber die Bestimmung, zusammengedrängt in die mathematische Formel, drückt nicht das Reale selbst, nicht den Prozeß als solchen aus, sondern nur etwas Bestimmtes an ihm; ja sie macht nicht einmal seine ganze Gesetzlichkeit aus, denn dazu gehört auch das volle Gewicht der Substrate. Und darin setzt sich das Novum der höheren Kategorien durch. Jener Gedanke einer totalen Auflösung aller physischen Realverhältnisse in mathematische Funktionen, der dem exakten Denken von seinen Anfängen her als Ideal vorschwebte, ist utopisch. Die Realgebilde haben zwar die mathematische Struktur an sich und sind an ihren Leitfaden gleichsam „von unten her" faßbar. Aber ihrem vollen ontischen Gehalt genügt diese Fassung nicht. Sie „faßt" eben nur die Quantitätsverhältnisse an ihm, also das, was Determination der niederen Kategorien an ihm ist. Darum geht sie auch an der Individualität der Einzelfälle vorbei und faßt nur das Allgemeine. Alles Reale aber hat Individualität, auch dort, wo unser an Allgemeinheiten gefesseltes Denken sie nicht faßt. Es ist tief charakteristisch, daß sich das Denken mit Vorliebe an die niedersten Kategorien hält. Diese sind eben die einfachsten, und soweit sie reichen, ist Exaktheit möglich. Darüber hinaus versagt sie. Die Mathematik ist nicht, wie man meinte, die höchste aller Wissenschaften. Dem Gegenstande nach ist sie die niederste. Sie ist wohl die vollkommenste Wissenschaft, die wir haben. Aber sie ist es deswegen, weil sie die kategorial höheren Seiten der Gegenstände gar nicht berührt.

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13. Das Reich des Qrganisdjen. Kausalforschttng und Vitalismus Steigt man von der unbelebten Natur zur belebten auf, so sinken zwar die Probleme des Quantitativen zur harmlosen Vorbedingung herab, dafür aber steigen andere auf, in denen die metaphysischen Einschläge sich beträchtlich verdichten. Auch hier sind es gerade diejenigen, welche die neu hinzutretenden und die Eigenart der Lebewesen ausmachenden Kategorien betreffen. Um gleich am zentralen Punkte einzusetzen: bis in unsere Tage hinein stehen sich in der Philosophie des Organischen die mechanistische und die ideologische — meist „vitalistisch" genannte — Theorie gegenüber, und der Streit zwischen ihnen will nicht abreißen. Es hat nicht genügt, daß die „Kritik der ideologischen Urteilskraft" das Zweckprinzip im biologischen Denken zu einem bloß „regulativen" herabsetzte. Nicht nur die idealistische Naturphilosophie, sondern auch biologische Theorien der Gegenwart haben es wieder konstitutiv gemacht, sei es nun als bestimmendes Formprinzip nach dem Muster der alten Entelechie, sei es als bloßes Planprinzip oder selbst als ein nach Art der „Seele" waltendes Leitprinzip. Das ist immerhin verständlich, denn die „besonderen Gesetze" des Organismus, auf die Kant das Rätsel des Lebens bezog, haben sich auch bei fortgesetztem Eindringen in das Gefüge der organischen Formen und Prozesse keineswegs in dem Maße aufzeigen lassen, daß man mit ihnen eine Erklärung der Phänomene nach Art der physikalischen hätte anbahnen können. Freilich hatte Kant auch keineswegs mit der Möglichkeit einer solchen Erklärung gerechnet. Die besonderen Gesetze mochten verborgen bleiben, die Wiedereinführung konstitutiver Zwecke hätte das nicht rechtfertigen dürfen. Aber bei der Aufdringlichkeit der wunderbaren Zweckmäßigkeitsphänomene ist es doch begreiflich, daß die Theorie sich immer wieder gedrungen gesehen hat, hinter ihnen reale Zweckläufigkeit der organischen Vorgänge zu suchen. Im Grunde ist die Sachlage die, daß beide Theorien mit unaufhebbaren Schwächen behaftet sind. Die mechanistische Deutung scheitert an der Unmöglichkeit, in das innere Gefüge so hochkomplexer Vorgänge wie die organischen hineinzuleuchten. Sie würde, wenn sie genügend weit vorstoßen könnte, sehr wohl auf die Eigenart der „besonderen Gesetze" des Organischen hinausführen können. Und dann würde sich vermutlich zeigen, von wie ganz anderer Art diese Gesetze sind als die physikalischen. Da sie aber nicht so weit kommt, lebt sie in dem Glauben, daß auch der unbekannte Rest der organischen Gesetzlichkeit ein ebenso mechanischer sei (genauer wohl ein ebenso physikalischer); womit dann die kategoriale Autonomie des Organischen schon verneint ist.

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Auf der anderen Seite bleibt die ideologische Deutung auch in allen ihren verfeinerten Formen in einem unverkennbaren Anthropomorphismus stecken. Sie beurteilt die organischen Prozesse nach Analogie menschlicher Zweckmäßigkeit; d. h. sie tut, als säße in den Organen, Zellen oder selbst Zellteilen ein Bewußtsein, das da Zwecke setzen und verfolgen könnte. Und damit setzt sie sich noch viel mehr ins Unrecht als der Gegner, den sie bekämpft. In ihrem traditionellen Kampf tun natürlich beide Theorien einander Unrecht. Jede sieht nur das Negative in der ändern. Der Vitalismus erblickt in der konsequenten Kausalforschung das Schreckbild der „Maschinentheorie" und hat dann natürlich leichtes Widerlegen. Er widerlegt damit aber gar nicht die nüchtern arbeitende Kausalforschung. Diese geht eben in dem von der Polemik geprägten Ausdruck „Mechanismus" nicht auf. Aber sie selbst wiederum verkennt die besseren Tendenzen des Vitalismus ebensosehr, wenn sie in ihm nur die tautologische Erklärungsweise erblickt, die das Endstadium der organischen Prozesse, etwa der Ontogenese, einfach zum bewegenden und lenkenden Formprinzip macht und mit ihm den Prozeß erklären will, während das Zustandekommen des Endstadiums doch gerade das Rätsel bildet. Wohl gibt es unfruchtbare Erscheinungsformen des Vitalismus, die in diesen Fehler fallen, ebenso wie es ja auch einmal Kausaltheorien gegeben hat, die einer primitiv maschinellen Auffassung nahekamen. Aber der affirmative Sinn des Vitalismus ist ein anderer, und das muß im Gegensatz zu vielen ungeschickten oder überspannten Vertretern seiner Sache selbst gesagt werden; sein Sinn ist ganz schlicht der: daß die organisch aufbauenden (und speziell die morphogenetischen) Prozesse in den Kategorien der unbelebten Natur nicht aufgehen — ihre Gesetzlichkeit nicht in physikalischen Gesetzen, ihre Formen nicht in denen des dynamischen Gefüges, ihre Determinationsweise nicht in Kausalität und Wechselwirkung. Das „organische Gefüge" reguliert sich selbst und erzeugt sich selbst wieder. An diesen beiden Grundtatsachen — die aber nur Sammelnamen für eine unübersehbare Tatsachenfülle sind — reicht in der Tat kausale und überhaupt physikalische Erklärungsweise nicht heran. Die nüchtern arbeitende Kausalforschung weiß ihrerseits um diese ihre Grenzen sehr wohl. Man sollte also meinen, im Hinblick auf das eigentlich Positive und Gesuchte — man kann dafür ruhig den Kantischen Ausdruck der „besonderen Gesetze" stehen lassen — sind die beiden gegnerischen Arbeitsweisen einer Meinung. Beide wissen bei kritischer Besinnung darum, daß sie dieses Positive nicht fassen. Dennoch ist dem tatsächlich nicht so. Beide erheben in der Mehrzahl

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ihrer Vertreter einen darüber hinausgehenden Anspruch. Der Grund dafür liegt in den Gegebenheitsverhältnissen. 14. Kategoriale Gründe des Vitalismusstreites. Zweierlei Gegebenheit Gegeben nämlich ist uns das Organische in zweierlei Form. Man kann auch sagen: es liegt vom Bewußtsein aus gesehen, in zweierlei Richtungen. Und in jeder von ihnen zeigt es ein sehr anderes Gesicht. Einerseits haben wir das unmittelbare Bewußtsein des eigenen Leibes, seiner Zustände und gewisser Vorgänge in ihm. Dieses Bewußtsein ist ein mannigfaltig abgestuftes Sich-Fühlen mit sehr feinen qualitativen Schattierungen, aber großenteils ohne gegenständlich ausgeformte Vorstellungen. Wir „erleben" also in gewissen Grenzen das eigene organische Leben, aber teils nur im Ganzen als Gesamttönung des Befindens, teils auf einzelne Reaktionen oder Bewegungen beschränkt. Die große Masse der organischen Prozesse in uns vollzieht sich ohne begleitendes Bewußtsein und ohne begleitendes Erleben, kann auch auf diesem Wege nicht nachträglich bewußt gemacht werden. Von der Verbrennung des Kohlenstoffes im Atmungsvorgang, vom Sezernieren der Drüsen, von den Aufbauvorgängen im Stoffwechsel gibt das innere Leib- und Lebensbewußtsein keinerlei Bild. Sogar bei den bewußt hervorgerufenen Bewegungen unserer Glieder wissen wir nicht, welche Muskeln sie hervorbringen und an welchen Hebelarmen des Knochensystems sie ziehen. Alle solche Dinge lehrt erst die Anatomie, die Physiologie, ja zum Teil erst der Umweg über die Pathologie. Diese Wissenschaften aber arbeiten mit einer anderen Art Gegebenheit. Die andere Art Gegebenheit ist die äußere, durch die äußeren Sinne vermittelte. Denn eben auch außerhalb des eigenen Leibes tritt uns das Leben in sichtbaren Organismen entgegen, dem inneren Erleben hier gänzlich entzogen, dafür in unvergleichlich größerer Mannigfaltigkeit und Greifbarkeit, die ganze Tier- und Pflanzenwelt umfassend, und zwar gegenständlich, eingereiht in den Weltzusammenhang der Objekte. Diese zweite Art der Gegebenheit, obgleich der Unmittelbarkeit entbehrend, ist die bei weitem differenziertere und reichere. Und was wichtiger ist, sie ist in ganz anderem Maße der Beobachtung, der Analyse und überhaupt dem methodischen Eindringen zugänglich. An ihr hängt alles Wissen um den Formen- und Funktionsreichtum, um den Zusammenhang der Lebenserscheinungen mit den Vorgängen der unbelebten Natur. Die Morphologie und die Physiologie hängen ganz und gar an den Daten dieser objektiven Gegebenheit. Mit ihr läßt sich experimentieren, ihr läßt sich, soweit das überhaupt möglich ist, die besondere Gesetzlichkeit des Organischen abgewinnen.

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Stimmten nun die beiden Gegebenheitsgebiete unmittelbar überein, fügten sich die Daten des einen ohne weiteres in die des anderen ein, so könnte audi im Gesamtbilde der organischen Welt kein Widerstreit entstehen. Das ist aber nicht auf der ganzen Linie der Fall. Vielmehr dringen beide nur in gewisse Randgebiete der Lebensphänomene ein, und zwar von verschiedenen Seiten. Die Konsequenzen, zu denen sie führen, stoßen deshalb zunächst noch gar nicht aufeinander. Die objektive Analyse des lebendigen Ganzen führt nicht auf dessen inneres Lebensgefühl hinaus, das innere Sich-Fühlen aber erst recht nicht bis auf die von jener aufgedeckten Formen und Funktionen. Hier bleibt also ein Gebiet des Unzugänglichen, das weder von der einen, noch von der anderen Seite zu betreten ist. Nicht daß sich keine Zusammenhänge ergäben; Zusammenhänge liegen vielmehr unbestritten auf der Hand. Aber wie sie funktionieren, welche Bahnen sie nehmen, welche Arten der Dependenz in ihnen bestimmend sind, läßt sich nur in allgemeinen Umrissen mutmaßen. Gegeben ist das alles nicht. Und diesem unaufhebbaren Gegensatz der Gegebenheit entspricht nun ein ebensolcher Gegensatz der Anschauungsweisen. Je nachdem, von welchem Gegebenheitskreise man ausgeht, neigt man auch dazu, die ihm zugehörigen Kategorien auf die Welt des Organischen anzuwenden. Kommt man von der inneren Gegebenheit her, so überträgt man unwillkürlich die Kategorien des seelischen Seins auf die sichtbaren Lebewesen und ihr Verhalten in ihrer Umwelt; damit kommt man dazu, sie vermenschlicht zu sehen, und dann ist es nur natürlich, ihnen auch Zwecktätigkeit zuzuschreiben. Geht man vorwiegend von der objektiven Beobachtung aus, so sieht man dieselben Lebewesen unter den Kategorien der physischen Welt, als Naturgegenstände unter Naturgegenständen; und dann fällt man in den umgekehrten Fehler, die organischen Prozesse als Abart der physikalischen verstehen zu wollen und ihre Determinationsform auf Kausalität zu beschränken. Hier wurzelt der Gegensatz der Theorien. Und hier ist auch der Grund, warum sie sich nicht zusammenfinden, obgleich ihre Probleme auf denselben Bestand des Unerkennbaren hinausführen und sich darin sehr wohl zusammenfinden könnten. Beide bringen eben die Einseitigkeit ihrer Ausgangsebene mit und kommen von ihr nicht los, übertragen sie vielmehr auch auf das, was sie nicht erkennen können. So machen beide sich mit ihren Kategorien der Grenzüberschreitung schuldig. Der Fehler, den sie begehen, ist sogar im kategorialen Sinne derselbe. Sie dehnen den Geltungsbereich spezieller Schichtenkategorien auf eine andere Seinsschicht aus, die eine „von unten", die andere „von oben" her. Der Organismus wird im Aspekt der äußeren Gegebenheit unter lauter Kategorien der niederen Schicht (des Anorganischen) gesehen, im Aspekt der in-

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neren Gegebenheit unter Kategroien der höheren (des seelischen oder gar des geistigen Seins). Und so erschien er der einen Sicht als gesteigerter Mechanismus, oder doch als ein höherer Typus des bloß dynamischen Gefüges, der anderen als reduziertes Seelenwesen, oder gar als Vernunft niederer Ordnung. Und so ist es kein Wunder, wenn die eine sogar die rätselhaften Regulations- und Selbstwiederbildungsphänomene kausal, die andere auch manche rein physischen Teilprozesse final zu erklären sucht. Dennoch besteht hier ein großer Unterschied, der nicht nur methodologisch ist, sondern auch ontologisch-kategorial die beiden Theorien scheidet. Es ist nicht dasselbe, ob ein Phänomengebiet von unten oder von oben her vergewaltigt wird. Die Kategorien der niederen Schicht können sich auf die höhere durchaus legitim erstrecken, sie können sie nur nicht erschöpfen; die der höheren Schicht aber können sich auf die niedere nicht erstrecken. Eine Wiederkehr der Kategorien gibt es in der Schichtenfolge nur aufwärts, nicht abwärts (vgl. Aufbau, Kap. 51 u. 52). Kausalabhängigkeit kommt im organischen Gefüge allerwärts vor, es fragt sich nur, ob sie zureicht, die Phänomene zu erklären. Zwecktätigkeit aber kann es in ihm nicht geben, weil dafür die kategoriale Bedingung, das zwecksetzende Bewußtsein, fehlt. Insofern ist der gröbere Fehler auf Seiten der ideologischen Deutung. 15. Kategoriale Grenzüberschreitung von zwei Seiten her Praktisch ist dieser Unterschied von größter Tragweite. Er zeigt sich darin, daß die fruchtbaren Methoden der biologischen Wissenschaften fast ausschließlich von der äußeren Gegebenheit ausgehen, mit den Mitteln kausaler Analyse arbeiten und dabei unentwegt vorwärts kommen, ohne in sichtbaren Konflikt mit Phänomenen der inneren Gegebenheit zu geraten. Freilich reichen sie an diese Phänomene zumeist auch gar nicht heran. Teleologische Einstellung hat dagegen immer nur Programme gegeben, freilich dabei auch auf wichtige Probleme hingeleitet, aber keine Lösungen gebracht. So entspricht es auch der Kantischen Einschränkung der teleologischen Urteilskraft auf eine bloß regulative, d. h. wegweisende und hinleitende Funktion. Sieht man hiervon ab, so gleicht sich das Verhältnis der beiderseitigen Fehler im Ansatz aus. Denn innerhalb ihrer „regulativen" Bestimmung ist auch die ideologische Sichtweise nicht zu verachten und in ihrer Art unersetzbar: sie gerade weist unausgesetzt auf die Restprobleme hin, die das kausale Denken nicht bewältigt. Und diese Reste sind in der Ebene des Organischen so bedeutend, daß in ihnen vielmehr die Hauptsache liegt. Diese sonderbare Problemsituation des Organischen ist eine einzigartige.

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Sie kehrt in anderen Seinsschichten nicht wieder. Fragt man sich aber, woher es rührt, daß hier bis in die Methoden der Wissenschaft hinein sich fremde Kategorien vordrängen, bald die der nächstniederen, bald die der nächsthöheren Schicht, so kann die Antwort nur lauten: weil unser Begreifen offenbar über keine entscheidenden Kategorien des Organischen verfügt. Diese Auskunft ist freilich merkwürdig genug. Sind wir denn nicht selbst Lebewesen? Sollte unser eigenes organisches Gefüge uns so viel unzugänglicher sein als die leblosen Dinge mit ihrer mathematischen Gesetzlichkeit und das Seelenleben mit seiner rätselhaften Selbstbewußtheit? Man wird das wohl hinnehmen müssen. Denn nur so ist es zu verstehen, daß sowohl physikalische als auch psychologische Kategorien sich hier so unentwegt vordrängen. In der Tat erweist sich bei näherem Zusehen die Seinsschicht des Organischen als relativ unzugänglich. Die äußeren Sinne sind in erster Linie auf Dingliches eingestellt, der „innere Sinn" auf Seelisches. Das Dingliche wie das Seelische ist, soweit überhaupt gegeben, unmittelbar gegeben; das Organische, das ontologisch zwischen ihnen steht, ist nicht unmittelbar gegeben. Wir haben kein Sinnesorgan für Vorgänge der Lebendigkeit als solcher. Was wir von diesen Vorgängen wissen, ist aufgeteilt an jene beiden Formen sinnlicher Gewißheit; beide aber geben es nur in vermittelter Weise, der innere Sinn auf dem Umweg über das seelische SichFühlen, die äußeren Sinne auf dem über die dingliche Erscheinungsform der organischen Gebilde. Beide also entsprechen nicht deren ontischer Eigentümlichkeit. Anthropologisch ist diese Verborgenheit der Lebensvorgänge wohlverständlich. Das Bewußtsein begleitet und erleuchtet nur diejenigen Funktionen des Menschenwesens, die seiner bedürfen, vor allem also diejenigen, die der Zielsetzung bedürfen und Erfahrung erfordern. Von dieser Art sind die organischen Vorgänge nicht. Sie folgen ihren Gesetzen, und das Eingreifen des Bewußtseins kann sie nur stören. Darum sind sie im Leben seinem Zugriff entzogen. Sie laufen unbewußt ab, auch im bewußtseinsbegabten Menschenwesen; und alle Besinnung auf sie, soweit sie überhaupt gelingt, ist sekundär. Ja, vielleicht darf man sagen, sie ist geradezu erschwert. Das ist eines von den vielen erstaunlichen Zweckmäßigkeitsphänomen des organischen Lebens. Von hier aus erklärt sich mancherlei. So z.B. dieses, daß gerade die äußere Gegebenheit des Organischen, die den weiteren Umweg über die dingliche Wahrnehmung beschreibt, die ergiebigere ist; desgleichen daß die ihr folgende Anwendung der niederen Kategorien die entschieden fruchtbareren Methoden ergibt. Dieser Umweg ist eben weit genug, um die Bewußtseinsentzogenheit der eigenen organischen Prozesse des Menschen

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nicht zu stören. Könnte das innere Sich-Fühlen sich in gleichem Maße zu gegenständlich ausgeformten Vorstellungen erheben, es würde das Gleichgewicht der eigenen Lebensprozesse wahrscheinlich in unheilvoller Weise beeinträchtigen. Wichtiger für die kategorialen Überlegungen ist es, daß aus dieser Sachlage heraus auch der geschichtliche Streit der beiden Theorien einen sehr bestimmten Sinn gewinnt. Unter den kategorialen Grundfragen ist die nach der Determinationsweise der organischen Prozesse — vor allem der morphogenetischen — die zentrale. Gerade diese Frage aber bildet das größte Rätsel. Bedenkt man nun, daß wir auf den Gebieten der beiden angrenzenden Seinsschichten recht gut über die in ihnen waltenden Determinationsformen unterrichtet sind, über die kausale im Physischen und die finale im Seelischen (und Geistigen), so wird es sehr einleuchtend, daß die Tendenz besteht, die eine wie die andere auf dem Gebiet des Organischen einzusetzen und für die dort maßgebende zu halten. Unwillkürlich sucht eben das Denken die breite Lücke des Wissens auszufüllen, die hier klafft. Denn sie einfach offen zu lassen, wie es der Problemlage entspräche, ist nun einmal unbefriedigend. Daß sich das Denken in beiden Fällen eines und desselben elementaren Fehlers, der kategorialen Grenzüberschreitung, schuldig macht, läßt sich erst in einem weit vorgeschrittenen Stadium der ontologischen Besinnung durchschauen. Die biologischen Theorien, in das Detail ihrer komplizierten Untersuchungen vertieft, haben es nicht leicht, sich zu dieser Besinnung durchzuringen. Das Resultat dieser Überlegung ist negativ leicht zu umreißen. Weder der Kausalnexus noch der Finalnexus paßt kategorial auf das Eigentümliche der Lebensprozesse zu. Der eine ist viel zu einfach, der andere viel zu kompliziert. Kausale Folge ist zwar in diesen Prozessen überall enthalten, kann aber Phänomenen der Formbildung und Regulation nicht genügen; finale Folge aber kann in ihnen nicht enthalten sein, weil sie Funktionen voraussetzt, deren nur ein Bewußtsein mächtig ist. Weit schwerer ist es, das positive Resultat anzugeben. Es wird darauf hinauslaufen müssen, daß im Organischen eine dritte Form der Determination waltet, ein eigentümlicher nexus organicus. Aber wie ein solcher beschaffen ist, das bildet die große kategoriale Grundfrage, die hier einsetzt. Das ist eine eminent metaphysische Frage, die wir nicht bis zu Ende lösen können. Was sich aber in ihrer genaueren Behandlung ausmachen läßt, kann nicht vorweggenommen werden. Die Kategorialanalyse wird es zu lehren haben.

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16. Verhältnis von Kosmologie und Organologie. Äußere Begrenzung Ins rechte Licht rückt das Gesagte freilich erst, wenn man die Schichtenreihe weiter aufwärts verfolgt. In gewissen Grenzen läßt sich nämlich ähnliches wie vom organischen Sein auch vom seelischen Sein sagen. Auch hier waltet eine gewisse Verborgenheit, wenigstens der kategorialen Struktur nach, und erst auf der Höhe des Geistes liegt wieder ein großes objektives Gegebenheitsfeld vor, vergleichbar dem der anorganischen Natur. Das Seelenleben ist nicht durchweg bewußt, und wo es bewußt ist, steht es doch zugleich seiner eigenen gegenständlichen Erfassung im Wege. Wie denn das erkennende Erfassen überhaupt die natürliche Richtung „nach außen" an sich hat und erst mittelbar auf das eigene Subjekt zurückgelenkt werden kann. Die mittleren Semsschichten sind hiernach die am wenigsten, die unterste und die oberste die am meisten zugänglichen. Dem entspricht die großartige Differenzierung der exakten Naturwissenschaften einerseits und der Geisteswissenschaften andererseits, während die Psychologie noch im Stadium des Sich-Durchdringens ist, in der Zoologie und Botanik aber der gewaltig angeschwollene Bestand des Tatsachenwissens noch die theoretische Durchdringung bei weitem überwiegt. Dennoch besteht in den kategorialen Bedingungen der Zugänglichkeit noch ein großer Abstand zwischen dem Organischen und dem Seelischen. Das Bewußtsein stößt in seiner Reflexion auf sich selbst wenigstens unmittelbar auf die seelischen Phänomene; in seiner Besinnung auf organische Verhältnisse dagegen ist die Form der Gegebenheit nicht die organische, sondern die seelische. Darum besteht in ihr doch bei aller scheinbaren Unmittelbarkeit die größere Distanz zum Gegenstande. Trotzdem die Naturphilosophie mit ihrer Einteilung in Kosmologie und Organologie zwei durchaus voneinander abgehobene Seinsschichten umfaßt, darf sie doch als relativ einheitlich gelten. Von den drei großen Schichtendistanzen, welche den Aufbau der realen Welt gliedern, hat sie es nur mit der ersten zu tun. Und diese ist noch die bei weitem einfachste und durchsichtigste. Denn sie ist, was die höheren Grenzscheiden nicht mehr sind, ein reines Uberformungsverhältnis: die dynamischen Gefüge der niederen Schicht gehen in die Gebilde und Daseinsverhältnisse der höheren direkt als Bausteine ein. Atome und Moleküle sind die strukturellen Elemente der organischen Gefüge, die Energieverhältnisse in den großen kosmischen Systemen aber machen die äußeren Lebensbedingungen aus, unter denen Organismen bestehen können, und an die sie ihrerseits sich anpassen!). l) Zum Wesen des Überformungsverhältnisses vgl. Aufbau, Kap. 51 c—e.

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Das innere Äquivalent dieses ontischen Ineinandergeschaltetseins ist das Verhältnis der beiderseitigen Kategorien: die der niederen Schicht gehen hier noch alle ohne Abstrich in den Bestand der höheren über. Die Räumlichkeit, die Zeitlichkeit, der Prozeßcharakter, die Ursächlichkeit usw. kehren am Organismus wieder. Ja, sogar die mathematische Form der Gesetzlichkeit ist noch nicht aufgehoben, sondern nur zum untergeordneten Moment gegen die ganz anders gearteten Gesetze der Lebenserscheinungen herabgesetzt, wird gleichsam von ihnen vollkommen überdeckt, besteht aber ontisch unter ihnen fort. Untergeordnet, wenn schon keineswegs ganz zugedeckt, treten die Kausalität, Substantialität und Wechselwirkung auf. Und das Verhältnis, in das diese wiederkehrenden Kategorien zu den neu hinzutretenden Eigenkategorien des Organischen treten — zur besonderen Erhaltungsform des Lebens, zum organischen Gleichgewicht, zum nexus organicus —, bildet einen besonderen Gegenstand der Kategorialanalyse, bei heutiger Problemlage vielleicht den wichtigsten im Gebiete der Philosophie des Organischen. An die zweite Schichtendistanz, die zwischen Leben und Bewußtsein, reicht die Naturphilosophie nur eben gerade heran, hat es aber nicht mehr mit ihr zu tun. Denn bearbeiten und klären läßt sich dieses Schichtenverhältnis nicht mehr von der biologischen Problemebene aus, sondern erst von der der Psychologie. Hier setzt das erste Überbauungsverhältnis ein, hier gehen die niederen Gebilde nicht als Elemente in die höhere Formung ein. Und an dieser Grenzscheide bleibt denn auch ein Teil der Naturkategorien zurück: die Räumlichkeit, die Größenhaftigkeit, die Substanz — letztere namentlich in Form der Materie — kehren am seelischen Sein als solchem nicht wieder, während die Zeitlichkeit, die Prozeßhaftigkeit, die Zuständlichkeit und viele andere in seinen Bereich durchdringen. Diese kategoriale Grenze macht zugleich die natürliche Grenze der Naturphilosophie aus. 17. Besondere Aufgaben und innere Grenze der Analyse Aber das ist nur die äußere Grenze, die Gebietsgrenze. Es gibt hier noch andere Grenzen, die viel enger gesteckt und durch die besondere Art der Probleme oder durch die Tragfähigkeit der methodischen Mittel gezogen sind. Denn selbstverständlich kann nicht von Aufzeigung sämtlicher einschlägigen Kategorien die Rede sein. Und auch an den einzelnen Kategorien läßt sich die vollständige Erschöpfung ihres Wesens nicht erzielen. Viel zu stark ist dafür der Einschlag des Unerkennbaren in ihnen allen. Es wird vielmehr auf beiden Schichtengebieten darauf hinauslaufen müssen, sich auf einige wenige, charakteristische und relativ gut faßbare Kate3 Hirtmann, Philosophie der Natur

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gorien zu beschränken, ohne dabei auch an ihnen selbst auf Totalität ihrer Momente zu prätendieren. Damit nämlich, wenn es in gewissem Umfange gelingt, ist nicht wenig getan. Denn, da die Kategroien einer Seinsschicht in durchgängiger Kohärenz stehen und einander bei genügender Durchdringung auch im endlichen Begreifen implizieren, so ist jede noch so beschränkte Kategorialanalyse von einer Fülle weiterer Ausblicke begleitet, die sich an ihr eröffnen (vgl. Aufbau, Kap. 64). Es ist daher ganz abwegig, sich gleich beim Eintritt in die spezielle Kategorienlehre Sorgen um ihren Abschluß zu machen. Es handelt sich hier um eine ganze Wissenschaft mit vielen Verzweigungen, deren Vollendung niemals einem einzelnen Forscher, ja schwerlich auch einem Zeitalter gelingen kann. Viel zu gewaltig ist dafür die Mannigfaltigkeit der kategorialen Momente, in die sie hineinführt. Die Aufgabe ist, wie fast überall in der Philosophie, eine durchaus unendliche, zum mindesten aber eine unabschließbare. In einer Problemsituation, die den Anfängen noch nahe steht, kann es sich immer nur um ein Anfangen handeln. Bücher über Kategorien lassen sich heute nur für solche Leser schreiben, die erst einmal selbst hineinkommen wollen, um dann ihrerseits weiterzudenken. Die Physik bietet der Erörterung eine stattliche Reihe kategorialer Begriffe dar, von denen jeder zunächst den Anspruch erhebt, auch ontologisch als Naturkategorie zu gelten. Sieht man genauer zu, so findet man, daß sie alle dafür schon zu speziell sind. Meist läßt sich unschwer in ihrem Hintergrunde ein Allgemeines aufzeigen, das mit Recht den Anspruch darauf hat. Nicht leicht wird man der Materie, der Kraft oder der Energie den kategorialen Charakter absprechen können. Aber es gibt ein Gemeinsames in ihnen, das fundamentaler ist, das Sich-Erhaltende, die Substanz. Und in der Tat ist der Erhaltungsgedanke in den physikalischen Theorien von der Materie über die Kraft zur Energie gewandert, um zuletzt auch bei ihr keinen absoluten Halt zu gewinnen. Ebensowenig kann man bei den Modellvorstellungen der Physik stehen bleiben, beim Atom, bei der Welle oder beim Feld. Hinter dem ersteren steckt nur ein unbestimmter Typus des dynamischen Gefüges, ihnter den letzteren beiden die bestimmte Bewegungsordnung, das bestimmte Raum-Kraftverhältnis. Die eigentlichen Kategorien sind nicht mit ihnen identisch, sie liegen ihnen schon zugrunde. Mit dem, was jene Begriffe meinen, hat es nicht die Philosophie zu tun, sondern die Naturwissenschaft selbst. Und sie allein ist dafür zuständig. Je mehr die Mannigfaltigkeit und Komplexheit der Phänomene sich steigert, um so deutlicher tritt der Abstand zwischen wissenschaftlichen Begriffen und Kategorien in Kraft. Im Gebiete des Organischen wird er am greifbarsten, weil auch der Einschlag des Unerkennbaren sich hier noch bedeutend steigert. Überhaupt tritt in der Biologie der Anteil der Theorie

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zurück gegen den Reichtum und die empirische Eigenwilligkeit der Erscheinungen. Darum hat hier der alte Formbegriff so lange herrschen können. Versucht man nun aber etwa Lebensform und Lebensprozeß als Kategorien zugrundezulegen — um nur ein Beispiel möglichen Vorgehens anzudeuten —, so erweist sich sehr bald, daß sie nur deskriptiven Wert haben, und das Problem des Lebendigen noch kaum berühren. Denn beide gehen vielmehr auf den Formbildungsprozeß zurück, desgleichen auf den Formwechsel-Prozeß, wobei sie an beiden untrennbare Seiten bilden. Der Einzelprozeß ist hier überall an bestimmte Formung und zugleich an ein ganzes System aufeinander abgestimmter Prozesse gebunden, das einzelne Formmoment aber an bestimmte Prozeßstadien und zugleich an ein geschlossenes Formensystem. Hier liegen also ontologisch gesehen, erst recht ganz andere Kategorien zugrunde. Sie herauszuarbeiten, ist die vordringliche Aufgabe. Es ist also im organologischen noch mehr als im kosmologischen Problemfelde geboten, sich auf die fundamentalen Momente zu beschränken und der positiven Wissenschaft das Besondere zu überlassen. Welche Aufgaben darüber hinaus der Kategorienlehre in einem weiter fortgeschrittenen Problemstadium erwachsen mögen, läßt sich demgegenüber nicht vorwegnehmen. 18. Die erkenntnistheoretische Seite des Kategorienproblems Die angegebene Einschränkung wird um so dringlicher, je mehr man im Auge behält, daß die Analyse noch anderen Anforderungen genügen muß. Unter diesen dürfte die erkenntnistheoretische die nächstliegende sein; sie ist zugleich die anthropologische Seite des Kategorienproblems, denn hier geht es um die lebenswichtige Funktion der Orientierung des Menschen in der realen Welt, sowie um die Beherrschung von Naturverhältnissen durch ihn. Alle Erkenntnis, die nicht in Wahrnehmung allein besteht, also jede Art von suchendem Eindringen, Verstehen und Begreifen, beruht auf dem Einsatz von Erkenntniskategorien. Aber Erkenntniswert hat dieser Einsatz nur, soweit die Erkenntniskategorien mit den Gegenstandskategorien übereinstimmen. Daß diese Bedingung in gewissen Grenzen erfüllt ist, dafür spricht die Tatsache, daß unser Begreifen sich in der Praxis des Lebens weitgehend bewährt. Tn den Grenzen dieser praktischen Bewährung erklärt sich die Übereinstimmung denn auch einfach anthropologisch: ein Menschenwesen, dessen Kategorienapparat dieser Anforderung nicht genügte, könnte sich im Leben nicht erhalten. Aber damit ist keineswegs gesagt, daß alle unsere Erkenntniskategorien mit den entsprechenden Gegenstandskategorien schlechthin identisch wären. Für die Lebensorientierung genügt vielmehr schon ein kleiner Ausschnitt

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identischer Kategorien. Das wissenschaftliche Erkennen macht ganz andere Ansprüche, greift weit über die lebensnotwendige Einsicht hinaus und bedarf daher einer viel weitergehenden Angleichung der Erkenntniskategorien an die Seinskategorien. Da aber die Anlage unseres Erkenntnisapparates solchen Ansprüchen nicht entspricht, so setzt hier eine Quelle des Irrtums ein, deren kritische Aufdeckung zur Konstatierung jener Erkennbarkeitsgrenzen geführt hat, an denen der Einschlag des Irrationalen im Gegenstandsbereich hängt!). So weit führt auch die allgemeine erkenntnistheoretische Überlegung. Was diese nicht leisten kann, ist die ins Einzelne gehende Untersuchung, an welchen Kategorien die Nichtidentität hängt, und in welchen besonderen inhaltlichen Momenten denn die Abweichung der Erkenntniskategorien von den Seinskategorien besteht. Diese Aufgabe fällt der ontologischen Kategorialanalyse zu. Die Bearbeitung der Modellkategorien hat bereits die Probe einer solchen Untersuchung geliefert (vgl. M. u. W., Kap. 46—53). Es zeigt sich dort, daß die Modi und Intermodalverhältnisse der Erkenntnis in wesentlichen Stücken von denen der Realsphäre abweichen; desgleichen daß diese Abweichung eine Reihe immer wiederkehrender Schwierigkeiten und Fehler im Entwurf der Weltbilder nach sich zieht, und zwar sowohl der naiven als auch der wissenschaftlichen Weltbilder. Der Ertrag dieser Untersuchung würde schon allein genügen, um sich von der Tragweite der Aufgabe zu überzeugen, die hier der Kategorienlehre erwächst. Und zugleich beweist er, daß bei aller Schwierigkeit Untersuchungen solcher Art doch sehr wohl durchführbar sind, wenn man sie zielgerecht anzugreifen weiß. Die fundamentalen Gegensatzkategorien, an welchen sich der Aufriß des Weltbaus und seine Schichtung exemplarisch dartun ließen, eignen sich für diese Art der „differentiellen Kategorialanalyse" weniger. An einigen von ihnen ergab sich freilich auch eine greifbare Differenz von Erkenntnisund Seinskategorien; so z.B. an Diskretion und Kontinuität, Element und Gefüge, Innerem und Äußerem, Allgemeinheit und Individualität. Aber im ganzen war die Ausbeute der Untersuchung nach dieser Seite gering. Und das ist wohl verständlich; denn diese Fundamentalkategorien sind eben diejenigen, in denen Erkenntnis und Sein am stärksten miteinander verbunden sind. Darum zeigen sie den geringsten Sphärenunterschied. !) Die ausführliche Darlegung des Verhältnisses von Erkenntnis- und Seinskategorien findet sich in dem Werk „Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis", 4. Aufl. 1949, Kap. 45—49. Man vergleiche auch „Grundlegung" Kap. 26 und „Aufbau" Kap. 12—14. Besondere Beispiele der kategorialen Divergenz finden sich im letzteren Werk, Kap. 27 d, 29 d, 30 e, 33 e, 34 e, 37 e, 41 a. Konkretere Beispiele folgen unten bei den Kategorien Raum, Zeit, Substanz u. a. m.

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Mit den Naturkategroien dagegen steht es in diesem Punkte ganz anders. Hier klaffen die beiden Kategorienreihen zum Teil ziemlich weit auseinander. Und zwar liegt hier die Differenz nicht wie bei den Modi in schwer greifbaren und noch schwerer beschreibbaren Abweichungen der Seinsweise, sondern in ganz konkreten und inhaltlich angebbaren Momenten. Denn konkret und der Anschauung zugänglich ist hier nicht nur der Gegenstand, sondern weitgehend auch sein kategoriales Gerüst. Am auffallendsten ist das an Raum und Zeit, den dimensionalen Kategorien der realen Welt, die aber auch im weltauffassenden Bewußtsein als seine „Anschauungsformen" vertreten sind. Nur sind sie als Realkategorien nicht ohne weiteres dasselbe wie als Anschauungskategorien. Und es macht gerade den eigentümlichen Reiz der Problemgruppe von Raum und Zeit aus, den besonderen Momenten dieser Divergenz nachzugehen und das die Sphären verbindende Identische in ihnen davon abzuheben. So leicht hat man es freilich bei den übrigen Naturkategroien nicht. In manchen tritt der Sphärenunterschied ganz zurück, in einigen läßt er sich gerade noch an einzelnen Momenten fassen, in anderen drängt er sich auf. Am wenigsten ist in dieser Hinsicht den Kategorien des Organischen abzugewinnen. Und fragt man sich, worauf diese Verschiedenheit beruht, so findet man den Schlüssel dazu in den Schichten des erkennenden Bewußtseins. Der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Begreifen ist wohlbekannt. Zwischen diese beiden aber drängt sich eine noch in sich tief gegliederte Stufenfolge: das anschauliche Erleben, die konkrete, aber vom Erleben bereits abgelöste Vorstellung und das breite Reich der sich ansammelnden und auf Allgemeines hintendierenden Erfahrung. Auf jeder dieser Stufen herrschen bestimmte Kategorien vor, und die Erkenntnistheorie hat hier ein weites Feld von Aufgaben, jeder Stufe ihre besonderen oder vorherrschenden Kategorien zuzuweisen (vgl. Aufbau Kap. 18, 19 und 22). Aufgaben dieser Art liegen im ganzen schon außerhalb des Bereichs der Ontologie, sie werden uns also in den bevorstehenden Analysen nur in gewisser Auslese beschäftigen können, nur insoweit nämlich, als sie zur Beurteilung ontologischer Fragen etwas beitragen. Eines aber ist in dieser Stufenfolge doch von allgemeinem Interesse: der Unterschied von den Seinskategorien verringert sich auf den höheren Erkenntnisstufen. Er ist am größten auf der Ebene der Wahrnehmung und des unmittelbaren Erlebens, am geringsten auf der des Begreifens. Darum sind der Anschauungsraum und die Anschauungszeit so deutlich abgehoben vom Realraum und der Realzeit. Und ebendarum nimmt die Abgehobenheit in den höheren und komplexeren Naturkategorien wieder ab. Denn diesen letzteren entsprechen Erkenntniskategorien, die vorwiegend erst im

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wissenschaftlichen Begreifen auftreten. Und das eben gilt am meisten von den Kategorien des Organischen. Darum darf es nicht befremden, daß die Rolle, die das Problem des Sphärenunterschiedes spielt, an den einzelnen Naturkategorien eine sehr verschiedene ist. Es steht zu hoffen, daß die Philosophie in dieser Hinsicht später einmal mehr zu sagen haben wird. Bei der heutigen Vernachlässigung des ganzen Problembereichs gilt es, auch mit dieser Art Untersuchung erst einmal den Anfang zu machen. Und da kann die Auslese des Aufweisbaren sich nur an die sich darbietenden Angriffsflächen halten. Das hindert natürlich nicht, daß auch die spärlichsten und wohl noch vielfach einseitigen Ansätze bereits Ausblicke eröffnen, die auf Ziele und Wege künftiger Forschung vorausweisen. 19. Zur Metbodenlehre der Kategorialanalyse Eine ausführliche Methodologie der Kategorienforschung kann der inhaltlichen Untersuchung an dieser Stelle nicht vorausgeschickt werden, wiewohl der Physiker oder der Biologe sie gerade hier erwarten möchte. Erstens ist ein Wissen um die Methode „vor" der Arbeit mit ihr grundsätzlich nicht möglich: die funktionierende Methode ist gewiß erste Bedingung der wissenschaftlichen Arbeit, aber das Wissen um sie ist sekundär; es kann erst mitten aus der Arbeit heraus gewonnen und abschließend erst an deren Ende formuliert werden. Zweitens aber hat der vorausgehende Band der Ontotogie, „Der Aufbau der realen Welt", in seinen letzten vier Kapiteln die Methode — oder richtiger das Methodensystem — der Kategorialanalyse in den Grenzen des dort erreichten vorläufigen Abschlusses gebracht (vgl. Aufbau, Kap. 62—65)»). Diese ausführliche Methodologie, die immerhin schon vierzig Seiten umfaßt, enthält vorgreifend die Wesenszüge dessen, was an Reflexion des Verfahrens die Naturphilosophie zur Voraussetzung hat. Sie kann und braucht daher hier nicht wiederholt zu werden. Sie war auch dort nur möglich geworden, weil bereits ein wesentlicher Hauptteil der inhaltlichen Arbeit geleistet war. Und sie konnte von dieser Arbeit — der Analyse der „ Fundamentalkategorien" und der „Kategorialen Gesetze" — nicht abgetrennt werden, weil sie sich Stück für Stück aus deren Resultaten ergab. Was in einer Einleitung der speziellen Kategorialanalyse sich davon reproduzieren läßt, kann also nur eine Art Vorerinnerung an das dort Ausge!) Außerdem gehört hierher natürlich alles, was in der Einleitung des genannten Werkes sowie in seinen ersten siebzehn Kapiteln, über das Wesen der Kategorien und ihre Erkennbarkeit gesagt ist.

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führte sein, zu dessen Begründung auf das vorausgegangene Werk verwiesen werden muß. 1. Aller spezielleren Methode voraus geht ein einfaches Moment der Analysis. Kategorien sind von den Phänomenen aus rückerschließbar, weil sie in den Phänomenen enthalten sind und weil sie kein anderes Sein haben als dieses, daß sie Prinzipien des Seienden resp. Prinzipien der Erkenntnis sind. Wären die Kategorien noch etwas anderes, hätten sie noch ein Sein für sich — so etwa, wie man sich im Platonismus die „Ideen", im Universalienrealismus extremer Tendenz die essentia vorstellte —, so wäre das nicht möglich. Ist ihr Bestehen dagegen lediglich ein solches in und au den Dingen, wie das erste Geltungsgesetz es ausspricht, so muß es inhaltlich an ihnen ablesbar sein. Es kommt nur darauf an, es ihnen abzugewinnen. Das ist Sache der analytischen Methode (vgl. Aufbau, Kap. 63 b, c, d). 2. Dazu bedarf es vorweg einer genauen Klärung und Beschreibung der Phänomene selbst. Das methodische Prinzip dazu hat die Phänomenologie geliefert. Aber sie hat es nicht rein durchgeführt, weil sie ausschließlich auf Aktphänomene eingestellt war; daß es ebenso primäre Gegenstandsphänomene gibt, war ihr entgangen. Gerade auf diese kommt es nun an. Sie sind keineswegs in der Ebene der Wahrnehmung allein gegeben, sondern die ganzen Errungenschaften der positiven Wissenschaft gehören mit zu ihrem Inhalt. Ja, die ganze Jahrhunderte alte Geschichte der menschlichen Erkenntniserfahrung muß mit zu ihrem Bestände gerechnet werden. Denn ein sog. „naives" Bewußtsein, das diesseits aller Wissenschaft stünde, ist für den heutigen Menschen eine bloße Rekonstruktion. Es gilt also, die Phänomenebene von vornherein richtig anzusetzen und ihren reichen Inhalt deskriptiv zureichend zu erfassen (vgl. Aufbau, Kap. 63 e, f). 3. Nun hängen aber die Kategorien einer Seinsschicht unlöslich miteinander zusammen. Sie sind dermaßen ineinander verschränkt, daß man eine einzelne gar nicht fassen, geschweige denn definieren kann, ohne die anderen mit hineinzuziehen, ja geradezu sie vorauszusetzen. Das bedeutet: die Kategorien einer Schicht implizieren einander, jede setzt die ganze Kategoriengruppe der Seinsschicht voraus. Das ist es, was die kategorialen Kohärenzgesetze besagen (vgl. Aufbau, Kap. 45 b—46 d). Methodologisch aber folgt daraus, daß man von einer einmal gefundenen Kategorie einer Schicht, oder auch von einer engeren Gruppe aus, sich auf die übrigen Kategorien derselben Schicht hinführen, bzw. von jener aus diese erschließen kann. Es tritt damit neben die analytische Methode (und ihr deskriptives Fundament) eine zweite, ihr unähnliche und in anderer Richtung ausschauende Methode, die man nach Platonischem Vorbild die „dialektische" nennen kann. Mit der spekulativen Dialektik des Deutschen Idealismus, etwa der Hegeischen, hat sie direkt nichts zu tun. Sie bedeutet einfach das Fort-

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schreiten der Kategorienerkenntnis innerhalb der kategorialen Mannigfaltigkeit einer und derselben Seinsschicht. Sie bewegt sich also in anderer Dimension als die analytische. Und wenn man die letztere gemäß der traditionellen Verbildlichung als vertikale bezeichnen will, so muß man die dialektische als ein „horizontales" Vorgehen verstehen. Dieses Bild drückt das Ergänzungsverhältnis der beiden Methoden sehr genau aus. Auf analytischem Wege kann man stets nur von einem begrenzten Phänomenkomplex aus eine einzelne Kategorie oder eine enge Kategoriengruppe erfassen; ist man aber mit ihr einmal in die Ebene der Kategorien hineingelangt, so kann man mit dialektischer Methode von der gewonnenen Kategorie aus sich weiter in dieser Ebene umsehen. Hätte man die eine total erkannt, so müßte man sogar von ihr allein aus die übrigen Kategorien der ganzen Schicht erschließen können. Diese Bedingung trifft freilich niemals zu; deswegen bedarf es zum Weiterkommen immer wieder der neuen Ansätze der Analysis. Praktisch aber läuft es hier auf ein Handin-Hand-Arbeiten der beiden Methoden hinaus. Und bei solcher gegenseitigen Ergänzung kann es sehr wohl gelingen, den Umkreis aller Kategorien einer Schicht zu umspannen (vgl. Aufbau, Kap. a—d). 4. Soweit ist das Bild des Methodensystems immer noch unvollständig. Denn es gibt noch eine andere Art des Kategorienzusammenhanges. Diese ist in den Schichtungsgesetzen enthalten. Von den niederen Kategorien nämlich kehren viele in den höheren Seinsschichten wieder (Gesetz der Wiederkehr), nicht aber die höheren in den niederen Seinsschichten. Diese Wiederkehr macht indessen niemals den ganzen kategorialen Gehalt der höheren Seinsschicht aus, sondern es tritt stets in der letzteren ein kategoriales Novum auf, d. h. eine Reihe neuer und höherer Kategorien, die dann mit jenen zusammen die kategoriale Kohärenz der höheren Schicht ausmachen (Gesetz desNovums; vgl. Aufbau, Kap. 50—54). Diese Schichtungsgesetze ergeben für die Kategorienforschung eine weitere methodische Handhabe, die man als „Methode der Schichtenperspektive" bezeichnen kann (vgl. Aufbau, Kap. 65). Es handelt sich hier um Unterschiede der Schichtenhöhe, deswegen wird die Betrachtung wieder in die „Vertikale" gezogen, nur jetzt mit umgekehrtem Vorzeichen, weil in der Seinsschichtung die „höheren" Gebilde (und ihre Kategorien) die differenzierteren und komplexeren sind. Es ergeben sich also aus den Schichtungsgesetzen die folgenden methodischen Regeln: a.) Aus einer Kategorie mittlerer Schichtenhöhe müßte, wenn sie total erkannt wäre, die Reihe der niederen Kategorien, die in ihr als Elemente wiederkehren, erkennbar sein. b.) Aus den Kategorien der höchsten Schicht müßten im gleichen Falle sämtliche in ihr wiederkehrenden niederen Kategorien erkennbar sein.

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c.) Von den niederen Kategorien aus läßt sich die Eigenart höherer Kategorien nicht erkennen, weil sie den wiederkehrenden Elementen gegenüber das Novum der höheren Schicht ausmacht. d.) Wohl aber läßt sich von ihnen aus, soweit sie in den höheren Schichten wiederkehren, ein gewisses kategoriales Grundgerüst der letzteren erkennen. Praktisch sind diese Regeln dadurch eingeschränkt, daß sich nicht leicht von einer höheren Kategorie sagen läßt, sie sei total erkannt; desgleichen dadurch, daß von einer erkannten niederen Kategorie sich vor der Untersuchung der höheren Seinsschicht nicht sagen läßt, ob sie in dieser wiederkehrt oder nicht. Bedeutung dagegen gewinnen die Regeln, sobald man sie in ein umfassendes Methodensystem einbaut, in welchem stets die Arbeit der analytischen Methode vorausgeht und die der dialektisch-konspektiven ihr folgt. In diesem Zusammenhang läßt sich das gewonnene Gesamtbild sowohl der höheren als auch der niederen Schichten stets durch die Schichtenperspektive ergänzen. Denn was in einer bestimmten Seinsschicht durch Analysis und Dialektik nicht sichtbar gemacht werden konnte, läßt sich in zahlreichen Fällen auf Grund gegebener Wiederkehr kategorialer Elemente ergänzen. Das gilt sowohl aufwärts von der niederen wie abwärts von der höheren Schicht aus; nur daß die Bedingungen dafür sehr verschieden sind und überdies je nach dem Stande des Vorerkannten variieren. — Was sich bei solcher Kürze der Darlegung einleuchtend machen läßt, ist wenig genug. Aber dieses Wenige ist ausschlaggebend. Es ist einmal die negative Einsicht, daß keines der bekannten einfachen Methodenschemata hier zureicht, weder Deduktion noch Induktion, weder synthetisches noch analytisches, weder beschreibendes noch schließendes Vorgehen. Sodann aber ist es ein eminent Positives, was in den Andeutungen greifbar wird: ein in sich mannigfaltiges aber durchaus geschlossenes System der Methoden, das nur in der straffen Bezogenheit seiner Glieder aufeinander zu Recht besteht und funktionsfähig ist. Das Ineinandergreifen heterogener Sichtweisen macht seine Stärke aus — freilich auch seine Kompliziertheit und Schwererlernbarkeit, sowie auch seine Empfindlichkeit gegen die leiseste Vereinseitigung. Aber an gewissen inneren Kriterien der Stichhaltigkeit fehlt es ihm nicht. Denn alle Ergänzung zwischen selbständig fundierten und gleichzeitig verschieden gearteten Methodengliedern trägt schon ein Moment des Korrektivs und der Gewißheitssteigerung in sich.

ERSTER TEIL

Dimensionale Kategorien

I. Abschnitt

Dimensionen der realen Welt 1. Kapitel STELLUNG VON RAUM UND ZEIT ALS KATEGORIEN a. Vom Anfang der Naturphilosophie Wo immer seit Kant sich Ansätze kosmologischer Betrachtung zeigen, da fangen sie mit Raum und Zeit an. Man könnte das für ein Vorurteil halten, verschuldet vielleicht durch die transzendentale Ästhetik. Haben sich doch auch Tendenzen gezeigt, den Raum als bloße Funktion von Kräften, die Zeit als Funktion laufender Prozesse zu verstehen, beide also als sekundär gegenüber anderweitigen Kategorien zu fassen. Demgegenüber soll hier an der alten Ordnung festgehalten werden, wobei das Problem des pritts und posterius sich erst später klären mag. Zugrunde liegt dem die alte Überlegung, daß im Gegenstandsgebiet der sogenannten Natur alle Gebilde und Vorgänge von zugleich räumlicher und zeitlicher Art sind, also die drei Dimensionen des Raumes und die der Zeit voraussetzen. Das gilt auch durchaus von den Lebensvorgängen des Organischen, denen man unter vitalistischen Voraussetzungen wohl versucht hat, die Räumlichkeit abzusprechen; wobei man aber den Fehler beging, diese Vorgänge nach Art der seelischen als bloß zeitliche zu verstehen. Die nüchterne biologische Forschung bietet dafür keinen Anhalt. An den Phänomenkreis ihrer Kompetenz aber hat sich die Philosophie duchaus zu halten. Vollends in der unbelebten Natur ist dieses Verhältnis durchsichtig. Nicht nur Masse oder Bewegung haben ihre räumliche Einordnung, sondern auch die Kraft hat ihr räumliches Kraftfeld; selbst die qualitative Veränderung löst sich in räumlich ablaufende Prozesse auf. In der Zeit aber laufen alle Prozesse; die Rede vom „zeitlosen Verlauf, etwa dem einer Funktion oder einer Kurve, hat nur mathematische, keine real-gegenständliche Bedeutung. Die mathematische Form der faßbaren Naturgesetze darf darüber nicht täuschen; auch statistische Gesetze, die sich im „Verlauf" von Kurven anschaulich machen lassen, bilden keine Ausnahme davon. Sie betreffen direkt gar nicht die real ablaufenden Prozesse, sondern nur die Häufigkeiten bestimmter Größenbeträge. Überhaupt, Gesetze können wohl zeitliche Vorgänge betreffen, und darauf beruht deren exakte oder ge-

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Erster Teil. I.Abschnitt

näherte Bestimmbarkeit; aber sie selbst sind so wenig zeitlich wie räumlich, sondern von kategorial anderer Art. Ebenso würde man fehlgehen, wenn man aus den Verhältnissen der „Statik", die von idealen Ruhezuständen ausgeht und deren Gesetze entwickelt, auf ein besonderes Gegenstandsgebiet stillstehender Körper oder Massen, unbewegter Kraftfelder usw. schließen wollte. Der Anfängerirrtum, der sich hierdurch einschleichen mag, beruht auf einfacher Verwechselung methodischen Absehens vom Prozeß mit der Annahme prozeßloser Gegenstände. Von solchen Gegenständen handelt die Naturwissenschaft überhaupt nicht; sie kann nur für bestimmte Zwecke der Orientierung vom Prozeß abstrahieren. Wie es keine absolut stabilen Zustände gibt, so auch keine Wissenschaft von ihnen. Und selbst wenn es solche Zustände gäbe, wäre ihr Fortbestehen in der realen Welt doch zeitliche Dauer und nicht Zeitlosigkeit. Was sich hinter solchen Anschauungen verbirgt, ist letzten Endes die mittelalterliche Substanzvorstellung, die in Dingen und dauerhaften Zuständen zeitlose Formen erblickte. Mit der Abwehr dieser Anschauung wird die Kategorialanalyse noch zu tun haben. Das Grundphänomen der Zeitlichkeit ist einstweilen von ihr freizuhalten. Darum also muß die Naturphilosophie mit Raum und Zeit beginnen, weil hier die allgemeinsten Bedingungen von Naturgegenständen überhaupt liegen und alle Naturverhältnisse Raum-Zeitverhältnisse sind. Man könnte, wenn man hiervon allein ausginge, sie sogar für zu elementar halten, um bloße Naturkategorien zu sein. d. h. man könnte sie zu den Fundamentalkategorien rechnen wollen. Dem widerstreitet aber, daß der Raum nicht die Grundeigenschaft der Fundamentalkategorien teilt, durch alle Schichten der realen Welt hindurchzugehen, sondern bereits beim seelischen Sein abbricht. Von der Zeit gilt das nicht, sie erstreckt sich bis in die höchsten Regionen der Geisteswelt; ihr also, wenn sie sich isolieren ließe, könnte man allenfalls eine solche Fundamentalstellung anweisen. Aber die Isolierung bliebe fragwürdig: dem kategorialen Charakter nach gehört sie mit dem Raum zusammen, und im Verhältnis zu ihm ist ihre Eigenart auch am besten zu erfassen. Außerdem ist ihr Geltungsbereich auf die reale Welt beschränkt, Fundamentalkategorien aber erstrecken sich auch auf das ideale Sein. Bei den speziellen Kategorien liegt die Sache ja auch so, daß sie nicht einer Schicht allein, in der sie Geltung haben, angehören, auch nicht derjenigen, in der sie am stärksten dominieren, sondern primär der Schicht zuzurechnen sind, in der sie „zuerst" auftreten (d. h. von unten aus zuerst). Es gibt außer der Zeit noch andere Naturkategorien, die nicht in den beiden untersten Seinsschichten aufgehen, sondern sich weiter hinauf er-

l. Kap. Stellung von Raum und Zeit als Kategorien

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strecken — nach dem Gesetz der Wiederkehr. Von dieser Art sind der Prozeß, die Zuständlichkeit, die Ursächlichkeit. Das ändert nichts daran, daß sie zunächst einmal als Naturkategorien auftreten. In aller weiteren Wiederkehr erscheinen sie entweder abgewandelt oder doch in ganz andere kategoriale Verhältnisse — andere Schichtenkohärenz — eingespannt. Dadurch modifiziert sich ihr Charakter. Am reinsten faßbar sind sie stets in ihrer Ursprungsschicht. Die Kategorienlehre hat also Grund, Raum und Zeit an ihrer traditionellen Stelle zu belassen und mit ihnen die Naturphilosophie zu eröffnen. b. Die Dimensionskategorien und die besonderen Dimensionen Daß Raum und Zeit zusammengehören, ist nicht erst eine philosophische Einsicht. Schon unreflektierte Anschauung rechnet mit ihrer Wesensverwandtschaft. Die Ereignisse der äußeren Welt sind eben räumliche und zeitliche Geschehnisse in eins. Aber worin besteht die Wesensverwandtschaft? In der Anschaulichkeit als solcher schwerlich. Die gilt auch noch von anderen Realkategorien. Überdies ist die Verschiedenheit der Zeit vom Raum genau so anschaulich wie ihr Gemeinsames. Ja, sie ist in gewisser Hinsicht noch auffallender; hat man doch im Neukantianismus den Raum als Form des „Beisammen", die Zeit aber als die des „Auseinander" verstehen wollen — und zwar mit der Begründung, daß alles im Räume Lokalisierte „zugleich" bestehe, das in der Zeit Verteilte aber sich ausschließe. Das Argument und der aus ihm gezogene Schluß sind freilich gleich irrig. Im „Zugleich" verrät sich der Fehler. Offenbar ging man davon aus, daß nur das „beisammen" ist, was im gleichen Zeitabschnitt besteht, und damit erhob man einen bestimmten Modus der Zeitlichkeit, die Simultaneität, zum maßgebenden Gesichtspunkt des Vergleichs. Kein Wunder, daß dieser nun zugunsten des Raumes ausfiel, denn Zeit besteht nun einmal im Sichablösen der Zeitpunkte. Man bezog den Gegensatz von Raum und Zeit sogar auf den von Kontinuität und Diskretion, bemerkte dabei aber nicht, daß der Zeitfluß ebenso kontinuierlich ist wie die Raumstrecke, die räumliche Distanz aber ebenso diskret wie der Zeitabstand des Nacheinanderseienden. Mit solcher Willkürlichkeit kam man natürlich nicht vom Fleck. Es ist vielmehr primär zu fragen: worin besteht das kategorial Gemeinsame an Raum und Zeit, das sich in ihrer Verschiedenheit und gegen sie durchsetzt? Diese Frage kann man freilich auch nur mit einer Fundamentalkategorie beantworten. Aber es ist weder die der Kontinuität noch die der Diskretion, die zwar beide an ihnen vertreten sind, aber nur als untergeordnete

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Erster Teil. 1. Abschnitt

Momente. Das kategoriale gemeinsame Grundmoment in ihnen ist vielmehr das der Dimension. Nun ist an Raum und Zeit nichts bekannter als ihr Dimensionscharakter. Der Begriff der Dimension ist ja auch zuerst vom Räume hergenommen. Das ist der ratio cognoscendi nach folgerichtig: das geometrische Denken ist hier vorangegangen. Aber dem Seinsverhältnis nach geht das Wesen des Dimensionalen als solchen im Räumlichen nicht auf, und auch in Raum und Zeit zusammen nicht. Dimension ist etwas Allgemeineres. Auch die Zahlenreihe ist ein dimensionales Gebilde. Es ist nicht ein bloßes Bild, wenn man die Mannigfaltigkeit der komplexen Zahlen als zweidimensional versteht. Bildhaft ist daran nur die räumliche Darstellung. Die Art der Mannigfaltigkeit ist vielmehr so beschaffen, sie erstreckt sich in zwei Dimensionen, die sich nicht auf den Raum oder sonst etwas anderes zurückführen lassen. Und das eben heißt: sie hat ihre eigene Dimensionierung. Die allgemeine Kategorienlehre hat gezeigt, daß alle Mannigfaltigkeit dimensioniert ist, und daß jeder Dimension ein Gegensatzpaar entspricht: zwischen jt zwei Seinsgegensätzen spannt sich ein Continuum möglichen Überganges, innerhalb dessen ein Feld unendlicher Diskretion sich auftut. Auch bei den vier Dimensionen von Raum und Zeit fehlt diese Gegensatzstruktur nicht ganz; sie tritt nur gegen das unabsehbare Fortlaufen der Dimensionen selbst ganz in den Hintergrund, bleibt aber am unaufhebbaren Richtungsgegensatz innerhalb jeder der Dimensionen von jedem Raum- und Zeitpunkt aus jederzeit aufweisbar. Dieser Richtungsgegensatz spiegelt sich noch deutlich im Orientierungssinn des Menschen, der die Richtungen auf sich bezogen als rechts und links, vorn und hinten, oben und unten, früher und später unterscheidet. Der Gegensatz selbst hängt natürlich nicht an diesen acht Richtungsbegriffen, sondern sie vielmehr hängen an ihm. Genauer, sie hängen an seiner Differenzierung nach den vier Raum-Zeit-Dimensionen. Es gibt im Reiche der Natur eine Fülle spezieller Gegensätze und zugehöriger Dimensionen, die in den Arten des Meßbaren vorliegen. Meßbar ist das Gewicht, die Dichte, die Kraft, die Geschwindigkeit usf., die entsprechenden Dimensionen sind schon dem naiven Bewußtsein geläufig — in den Gegensätzen von schwer und leicht, dicht und dünn, stark und schwach, schnell und langsam. Sie bilden die physikalischen Substrate der Quantität. Ihre in Gesetzesformeln einfangbare vielfache Abhängigkeit voneinander hebt ihre Eigenart nicht auf. Aber ihnen allen liegt das Dimensionssystem von Raum und Zeit schon zugrunde. An manchen ist das unmittelbar einsichtig, wie etwa an der Geschwindigkeit, an anderen erst durch besondere Überlegung auffindbar. Die vier Raum-Zeit-Dimensionen bilden somit kategorial die allgemeine Vorbedingung ihrer Differenzierung.

l. Kap. Stellung von Raum und Zeit als Kategorien

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Sie machen die Grunddimensionen der natürlichen Welt aus und nehmen insofern eine besondere Stellung ein. Sie sind elementarer und fundamentaler als jene. Diese ihre Sonderstellung rechtfertigt es, sie als die im engeren Sinne „dimensionalen Kategorien" auszuzeichnen und sie allen anderen Naturkategorien voranzustellen. Ob sie auch in anderer Hinsicht die fundamentaleren sind, wird sich erst im Verlaufe der Untersuchung herausstellen können. c. Inhaltsleere Dimensionalität Zunächst ist aus diesem Verhältnis eine Konsequenz zu ziehen. Jene mannigfaltigen Substrate der Messung haben wohl auch dimensionalen Charakter, gehen aber darin nicht auf. An ihnen allen tritt ein bereits verdichtet inhaltliches Moment auf, und an diesem hängt gerade ihre Mannigfaltigkeit und irreduzible Verschiedenheit. Raum und Zeit zeigen darin noch einen primitiveren Charakter. Zwar audi sie entbehren der Inhaltlichkeit nicht ganz, wie denn reine Raumverhältnisse ohne dingliche Träger noch Gestalt und Figur hergeben, reine Zeitverhältnisse den Rhythmus. Aber in der realen Welt treten solche Strukturen nicht isoliert auf, sondern nur als Formen dinglicher oder prozeßhafter Gebilde, also nur als Momente von Realstrukturen. In den letzteren sind aber auch die speziellen Substrate schon enthalten. Raum und Zeit teilen also die Unselbständigkeit der allgemeineren Kategorien. Das ist nur ein anderer Ausdruck für ihr Elementarsein. Ihre Dimensionen sind zwar nicht ganz inhaltslos — es sind eben doch „sehr bestimmte" Dimensionen —, stellen sich aber jenen speziellen und eigentlich „inhaltlichen" Dimensionen gegenüber doch als inhaltsleer dar. Die ihnen anhaftende rein dimensionale Bestimmtheit ist eine minimale und gegen jene verdichteten Substrate ganz abfallende. Das ist für die Klarstellung alles weiteren nicht unwichtig. Denn auf diesem Abfallen beruht die Unterscheidung des leeren Raumes vom erfüllten, der leeren von der erfüllten Zeit. Hiermit wird ein weiteres gemeinsames Wesensmoment von Raum und Zeit sichtbar. Denn etwas ähnliches gibt es an jenen inhaltlichen Dimensionen nicht: es wäre sinnlos, von „leerem Gewicht", „leerer Kraft" usf. zu sprechen. An diesen Dimensionen möglicher Messung gibt es den Unterschied des Erfüllten und Leeren nicht. Nur bei den Raum-Zeit-Dimensionen gibt es ihn. Und stets hängt er am Auftreten von Gebilden jener inhaltlichen Dimensionen. Der letzte ontologische Grund dafür wird noch weiter unten aufzuzeigen sein (Kap. 4 b). Man könnte freilich gleich hier einwenden, leerer Raum und leere Zeit 4 Hartmann, Philosophie der Natur

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Erster Teil. 1. Abschnitt

seien ja selbst etwas Fragwürdiges. Die theoretische Physik kennt gewisse Realgründe, beides abzulehnen. Aber vor aller Diskussion leuchtet doch ein, daß es eben Realgründe sind, also solche, die nicht im Wesen von Raum und Zeit liegen, sondern im Wesen der in ihnen spielenden Realverhältnisse. Außerdem handelt es sich ja keineswegs um absolut leeren Raum und absolut leere Zeit, sondern um die Leere „zwischen" raumerfüllenden Körpern und zeiterfüllenden Geschehnissen, kurz um die Leere des Intervalls. Diese zu bestreiten hat auch die Physik keinen Grund. Und sie genügt schon, um den Unterschied von Erfülltheit und Leere in Raum und Zeit eindeutig zu belegen. Es gibt freilich einen sehr einleuchtenden Grund der Ablehnung leerer Räume und Zeiten. Er besteht in der Abwehr aller verdinglichten oder substantialisierten Auffassung: grundverkehrt ist eben die Vorstellung eines für sich bestehenden und im buchstäblichen Sinne „absoluten" Raumes, d. h. eines „abgelöst existierenden", und einer ebensolchen Zeit. Raum und Zeit haben durchaus keine Realexistenz außer und neben den realen Dingen und Vorgängen, deren Realdimensionen sie sind. Dimensionen ohne etwas, „dessen" Dimensionen sie wären, sind ein Ding der Unmöglichkeit. Nur in der Abstraktion lassen sie sich betrachten. Aber der Betrachtung entspricht ontologisch kein Ansichsein. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein. Es handelt sich ja nicht um Dinge, sondern um Kategorien. Zum Wesen von Kategorien gehört es nun einmal, daß sie kein anderes Sein haben als ihr Prinzipsein für das Concretum (vgl. Aufbau, Kap. 43). Die schiefe Vorstellungsweise von Raum und Zeit rührt überhaupt erst daher, daß man nach ihrer „Existenz" fragt, oder gar nach der besonderen Art ihrer Existenz. Raum und Zeit „existieren" vielmehr überhaupt nicht. Sie können keine Existenz haben, weil sie eine ganz andere, dem Existieren nicht vergleichbare Seinsweise haben. Und diese bedeutet ein Gebundensein an real Existierendes. In diesem Sinne also gibt es in der Tat keinen leeren Raum und keine leere Zeit. Und wenn es sie gäbe, so wären es nicht der Realraum und die Realzeit. d. Ausmessung, Ausmeßbares und Substrat der Messung Nach der anderen Seite muß man sich wiederum vorsehen, daß man die Seinsweise von Raum und Zeit auch nicht zu weit herabsetzt, sei es nun, daß man sie subjektiviert oder idealisiert. Beides ist verführerisch, denn es gibt auch den Anschauungsraum, der nur im auffassenden Bewußtsein besteht, und es gibt den Idealraum, von dem die Geometrie handelt; beide aber sind nicht Realraum. Und ähnliches gilt von der Zeit. Um hier richtig vorzubauen, muß man sich klar sein, was eigentlich „Dimension" heißt. Denn offenbar muß ein Dimensionssystem eindeutig

l. Kap. Stellung von Raum und Zeit als Kategorien

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auf die Seinsweise dessen, bezogen sein, was sich in ihm lokalisiert, muß aber zugleich auch von ihr abgehoben sein. Wir sind gewohnt, „Dimension" mit „Ausmessung" zu übersetzen. Aber schon in der Geometrie stimmt das nicht. Eine Dimension ist ja vielmehr Voraussetzung der Messung, kann also mit ihr nicht zusammenfallen. Auch besteht sie vor aller Ausmessung und unabhängig von ihr, genau so wie auch alle bestimmte Größe in ihr Begrenzung und Maßbestimmtheit vor aller Messung hat. In der Tat meint man denn auch hier mit „Ausmessung" etwas ganz anderes, als was das Wort besagt. Was aber ist dieses andere? Man kommt ihm schon näher, wenn man es als das „Ausgemessene" bezeichnet, oder besser noch als das „Ausmeßbare". Denn tatsächlich bewegt sich doch die Messung an ihm wie an einem Substrat. Indessen gerade dann ist es auch wiederum nicht das Ausmeßbare; denn ausmessen läßt sich nur ein Begrenztes, die Dimension als solche aber hat keine Grenzen. Damit nähern wir uns dem wirklichen Wesen der Dimension. Wenn sie weder Ausmessung noch Ausmeßbares ist, so muß sie offensichtlich beiden zugrunde liegen. Sie muß das sein, „worin" das Ausmeßbare begrenzt ist, „worin" es deshalb auch meßbar ist. Denn die Grenzen des Ausmeßbaren sind eben Grenzen „in" einer Dimension, ebenso wie der Maßstab, mit dem wir messen, daß Maß „in ihr" ist, das sich nicht auf beliebige andere Dimensionen übertragen läßt, sondern nur auf solche, die mit ihr isometrisch sind. So läßt sich wohl das gleiche Maß von einer Raumdimension auf die andere übertragen, nicht aber auf die Zeit. In dieser gilt eine andere Art Maß. Nimmt man nun also hinzu, daß die Dimension als solche im Gegensatz zum in ihr Ausmeßbaren unbegrenzt ist, so muß man sie auch im Gegensatz zur bestimmten Größe als das quantitativ „Unbestimmte" verstehen. Und da die Unbestimmtheit als solche natürlich bei allen Dimensionen die gleiche ist, die verschiedenen Dimensionen aber gegeneinander „bestimmte" Unterschiede zeigen, so muß ihre unterschiedliche Bestimmtheit gegeneinander von anderer Art sein als die quantitative Bestimmtheit. Dieses andere nun, das die Eigenart einer Dimension ausmacht, ist ein Letztes und Irreduzibles, das sich nicht ableiten und nicht definieren läßt, sondern stets nur von den konkreten GrößenVerhältnissen her, die in ihr spielen, beschreibbar ist. Es ist ihr Substratcharakter1). Definitorisch kurz also läßt sich sagen: Dimensionen sind die Substrate des Ausmeßbaren. Denn sie sind Substrate möglicher Begrenzung. Und darum sind sie mittelbar auch Substrate möglicher Messung. !) Zur Rechtfertigung des „Substrat"-Begriffs, der nicht Substanz, sondern eine viel allgemeinere Fundamentalkategorie meint, vgl. das unten im Kap. 4 a (Anmerkung) Gesagte.

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Erster Teil. l.Absdinitt 2. Kapitel DIE KANTISCHE RAUM- UND ZEITLEHRE a. Anschauung^formen und Kategorien

In der neuzeitlichen Erkenntnistheorie drängt sich das Idealismusproblem in die Erörterung von Raum und Zeit ein. Wir verdanken dieser Wendung die wichtige Entdeckung, daß Raum und Zeit als Bewußtseinskategorien eine Sonderstellung einnehmen. Kant brachte das auf die Formel: Raum und Zeit sind „Anschauungsformen"; oder in variierter Fassung „reine Anschauungen", „Formen der Sinnlichkeit". Das sollte ihren Gegensatz zu den Verstandesformen festlegen. Nur für die letzteren gebraucht Kant den Namen „Kategorien"; Raum und Zeit sollten keine Kategorien sein. Der Unterschied, der außerdem noch zwischen Raum und Zeit besteht, sollte allein darauf beruhen, daß der Raum Form des „äußeren Sinnes", die Zeit Form des „inneren Sinnes" ist. Daß diese Unterscheidung nur halb zutrifft, ist auch im idealistischen Lager frühzeitig aufgefallen. Zeitlichkeit ist den Gegenständen der äußeren Wahrnehmung ebenso eigentümlich wie denen der inneren, räumlich-dingliche Prozesse verlaufen ebenso zeitlich wie die seelisch-unräumlichen. Immerhin ist dieses nur eine Ungenauigkeit der Definition und erklärt sich aus der idealistischen Sehweise Kants, für die es von vornherein feststeht, daß eine Form des inneren Sinnes den äußeren Sinn mit umfaßt. Das drängt dahin, der Zeit einen Vorrang vor dem Räume zu geben. Dieser Vorrang aber erstreckt sich nicht auf den Anschauungscharakter und seine Apriorität, sondern auf den Umfang des Gegenstandsfeldes der Anschauung. Raumanschauung geht nur auf die Außenwelt, Zeitanschauung auch auf die Innenwelt, also auf die ganze erscheinende Welt. Läßt man an dieser Bestimmung die idealistische Einkleidung fallen, so ist ihr Sinn ein ontologisch unbestreitbarer: der Raum ist nur die dimensionale Form der niederen Seinsschichten (der „Natur"), die Zeit ist dimensionale Form der ganzen realen Welt, einschließlich der seelischen und geistigen Mannigfaltigkeit. Wichtiger aber ist die Unterscheidung der „Anschauungsformen" von den Kategorien. Was ist der Sinn dieses Gegensatzes? Läßt sich auch ihm eine vom transzendentalen Gesichtspunkte unabhängige Bedeutung abgewinnen? Und worin könnte diese bestehen? Kant gibt hierzu einen klaren Hinweis durch die zugrundegelegten Unterscheidungen: Sinnlichkeit und Verstand, Anschauung und Begriff (Denken), Rezeptivität und Spontaneität. Diese sind nicht miteinander

2. Kap. Die Kantische Raum- und Zeitlehre

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identisch, zeigen aber wohl eine gewisse Gleichschaltung: Anschauung ist nicht „intellektual", der Verstand nicht „intuitiv", Sinnlichkeit ist nicht spontan, Denken nicht rezeptiv. Die ganze Einteilung gilt der Architektonik der Erkenntnis, sofern sie sich in Stufen aufbaut. Hat nun die niederste Stufe auch apriorische Prinzipien, so können diese nicht von derselben Art sein, wie die des Verstandes. Was aber unterscheidet sie von den letzteren? Halten wir uns an das Moment der Spontaneität. Warum sollen Kategorien spontan sein, Anschauungsformen aber nicht? Daß jene als „reine Verstandesbegriffe" auftreten, macht das Verhältnis noch nicht durchsichtig. Sie werden vom Verstande ja nicht willkürlich gebildet, sollen vielmehr seine ihm eigentümlichen apriorischen Formen sein, die er im Urteilen „anwendet". Genau so sehr sind aber Raum und Zeit die eigentümlichen apriorischen Formen der Sinnlichkeit, die sie bei der anschaulichen Auffassung der Gegenstände in diese hineinträgt. In beiden Fällen fügt das Subjekt von sich aus das seinige hinzu, und in beiden Fällen ist der Gegenstand nichts anderes als die von diesen hinzugefügten „Formen" gestaltete Erscheinung. Dennoch macht Kant hier einen einschneidenden Unterschied. Sichtbar wird dieser freilich erst von den reinen Verstandesbegriffen aus, und zwar daran, daß die „objektive Gültigkeit" der letzteren nicht eine selbstverständliche ist wie die von Raum und Zeit, sondern erst besonders „deduziert" und auf Gegenstände bestimmter Art „restringiert" werden muß. Man kann also reine Verstandesbegriffe auch zu Unrecht „anwenden". Damit tritt nun das Moment der Anwendung selbst in den Vordergrund. Offenbar liegt bei ihm das Unterscheidende. Um das klarzustellen, reichen freilich die Kantischen Formulierungen nicht aus. Man muß hier schon ein wenig hinter den transzendentalen Begriffsapparat blicken. Von Raum und Zeit nämlich sagt Kant nicht, daß wir sie „anwenden", sie sind einfach in der sinnlichen Wahrnehmung enthalten. Es steht hiernach dem wahrnehmenden Bewußtsein nicht frei, ob es raumzeitlich wahrnehmen will oder nicht. Es kann gar nicht anders wahrnehmen. Dem Verstande aber steht es in gewissen Grenzen frei, seine reinen Verstandesbegriffe anzuwenden oder nicht. Anders hätte ja auch das Tun der „Kritik" keinen Sinn, das doch eben darin besteht, ihm die Anwendung über eine bestimmte Grenze hinaus — die Grenze möglicher Erfahrung — zu untersagen. Hinter dem Terminus „Anwendung" birgt sich also ein Spontaneitätsbegriff, der nicht in Selbsttätigkeit oder im bloßen Hineintragen apriorischer Elemente aufgeht, sondern auch eine gewisse Willkür oder Freiheit des Hineintragens einschließt. Damit dürfte Kant einen Punkt getroffen haben, der für die Kategorien-

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Erster Teil. 1. Abschnitt

lehre von Bedeutung ist. Sieht man nun von den Kantischen Termini ganz ab, so läßt sich dieser Punkt folgendermaßen angeben: Erkenntniskategorien verschiedener Stufen haben ein verschiedenes Verhältnis zum Erkenntnisinhalt; die der niedersten Stufe sind fest mit ihm verbunden und können nicht von ihm abgelöst werden, die der höheren aber können eingesetzt oder auch nicht eingesetzt werden. Zugespitzt ausgedrückt: Anschauungskategorien funktionieren automatisch, Verstandeskategorien dagegen unterliegen der Auswahl in bezug auf die Verschiedenheit der Gegenstandsbereiche. Die letztere Formulierung überschreitet freilich den Kantischen Gedanken. Aber das ändert nichts daran, daß Kant den ersten Ansatz zu einer wichtigen Unterscheidung innerhalb der Erkenntnisprinzipien geliefert hat. Für die gnoseologische Seite des Kategorienproblems ist damit ein Programm gegeben, das gleich bei Raum und Zeit in Kraft tritt. L·. Die Grenzen der transzendentalen Idealität Bezieht man dieses Resultat auf den erörterten dimensionalen Charakter von Raum und Zeit, so liegt es nahe, den Automatismus der Anschauungsformen als einen einfachen Ausdruck dafür zu verstehen, daß reine Dimensionen eben die unumgänglichen Vorbedingungen möglicher Anschauungsgegenstände sind. Dem würde es entsprechen, daß sie im erkennenden Bewußtsein schon der niedersten Stufe eigen und dadurch aller Überwachung durch höhere Einsicht entzogen sind. Die Kontrolle einer solchen Konsequenz kann sich natürlich erst am Vergleich mit anderen Erkenntniskategorien ergeben. Die Entscheidung darüber muß einstweilen noch ausstehen. Indessen steht an dieser Stelle noch eine weitere Frage zur Diskussion, die gleichfalls am Kantischen Begriff der Anschauungsform hängt. Die These der transzendentalen Ästhetik erschöpft sich nicht darin, daß Raum und Zeit Anschauungsformen sind. Sie behauptet darüber hinaus, daß sie „nur" Anschauungsformen seien. „Der Raum stellt gar keine Eigenschaft irgend einiger Dinge an sich ... vor", und „die Zeit ist nicht etwas, was für sich selbst bestände oder den Dingen als objektive Bestimmung anhinge". Das ist eine idealistische These, sie beschränkt Raum und Zeit darauf, Bewußtseinsformen zu sein; und wenn beide auch vom „empirisch realen" Gegenstande gelten sollen, so soll die empirische Realität selbst doch im transzendentalen Sinne bloße „Erscheinung" sein. Man braucht diese Lehrmeinung Kants gewiß nicht auf die Spitze zu treiben. Es handelt sich hier auch nicht darum, sie zu kritisieren; das ist oft geschehen und hat nie zu etwas anderem als zur Feststellung einer heute ohnehin leicht durchschaubaren standpunktlichen Gebundenheit Kants geführt. Es fragt sich vielmehr, ob die These überhaupt aus der eigenen Argu-

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mentation Kants folgt. Es genügt dazu, sich an die „metaphysische" und „transzendentale Erörterung" des Raumes zu halten. Denn bei der Zeit kehren dieselben Argumente wieder. Instruktiv sind hierfür besonders der erste und dritte Punkt der metaphysischen Erörterung (nach der Zählung der zweiten Ausgabe): „Der Raum ist kein empirischer Begriff", und „Der Raum ist kein diskursiver ... Begriff ".Er ist nicht empirisch, weil er nicht aus Erfahrungen abstrahiert ist, und nicht diskursiv, weil er nicht ein Allgemeines ist und nicht vielerlei Räume unter sich befaßt. Er ist also überhaupt kein Begriff. Nun zeigen der zweite und vierte Punkt der Erörterung, daß er gleichwohl „eine notwendige Vorstellung priori" ist, einerseits als „Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen", andererseits als „unendliche gegebene Größe", welch letztere natürlich nicht empirisch gegeben sein kann. Geht man nun davon aus, daß eine „notwendige Vorstellung a priori" nur entweder reiner Begriff oder reine Anschauung sein kann, so folgt eindeutig, daß der Raum reine Anschauung sein muß. Aber folgt daraus auch, daß er „nur" reine Anschauung sein müsse? Kann er nicht außerdem noch die „Eigenschaft irgend einiger Dinge an sich" sein? Das erstere würde doch nur folgen, wenn zuvor feststünde, daß er nichts anderes als eine „notwendige Vorstellung a priori" unseres Bewußtseins sein kann. Nur von einer „Vorstellung" kann die Alternative gelten, daß sie notwendig entweder Anschauung oder Begriff sein müsse, so daß sie, wenn sie nicht Begriff sein kann, unausweichlich Anschauung sein muß. Eben diese Voraussetzung wird aber nicht zuvor erwiesen, wird auch gar nicht in die Erörterung hineingezogen, sondern einfach als zugestanden hingenommen. Nimmt man sie an, so nimmt man damit schon das wesentlichste Stück des Resultats vorweg: daß der Raum, wenn er sich als reine Anschauung erweist, nichts anderes mehr daneben sein kann. Nicht anders steht es mit der „transzendentalen Erörterung". Diese führt folgerichtig die synthetischen Urteile a priori der Geometrie, vor allem ihre Axiome, auf die reine Raumanschauung zurück. Wir müssen diese Anschauung also a priori haben. Daraus folgt strikt, daß der Raum reine Anschauung ist. Aber ist daraufhin der weitere Schluß zulässig, daß er nicht auch Form der Gegenstände sei, auf die sich diese Anschauung erstreckt, und zwar unabhängig davon, ob sie angeschaut werden oder nicht? Das ginge wiederum nur an, wenn die obige Voraussetzung zugestanden wäre. Diese würde hier etwa die Form annehmen: wenn der Raum eine „notwendige Vorstellung a priori" ist, so kann er auch „nur" eine solche und nichts darüber hinaus sein. Gesteht man das aber vor der Beweisführung zu, so gesteht man vielmehr das Kernstück dessen zu, was zu beweisen war. Auch hier also folgt aus dem Kantischen Argument in "Wirklichkeit nur,

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Erster Teil. 1. Abschnitt

daß der Raum als Bewußtseinsform reine Anschauung ist, keineswegs aber daß er „nichts als" reine Anschauung sei. Denn es steht nicht fest, daß er nichts als Bewußtseinsform ist. Macht man sich nun klar, daß eben dieses letztere die transzendental-idealistische Voraussetzung Kants ist, eine Annahme also, die auf keinem Phänomen beruht, sondern lediglich auf dem einmal eingenommenen Standpunkte, so ergibt sich, daß wir hier vor einer Grenze der Tragfähigkeit des transzendentalen Idealismus stehen. Diese Grenze gilt es jetzt zu überschreiten, und zwar unter voller Wahrung der von ihr nicht mitbetroffenen Resultate der Kantischen Erörterungen. Es wird hier nicht daran zu rütteln sein, daß der Raum als Bewußtseinsform — in heutiger Begriffssprache also als Erkenntniskategorie — „reine Anschauung" ist. Darüber hinaus aber wird zu fragen sein, was der Raum als Realkategorie ist. Denn es liegt kein Grund vor, ihn den Realverhältnissen, auf welche allein sich doch die Anschauung bezieht, abzusprechen. Wohlverstanden: gerade von den entscheidenden Punkten der Kantischen Erörterung aus liegt kein Grund mehr dazu vor. Denn in der Tat, die geometrischen Urteile behalten dieselbe apriorische Allgemeinheit und Notwendigkeit, wenn der Raum zugleich Realkategorie ist. Und objektive Gültigkeit haben sie dann für Realverhältnisse genau so weit, als die geometrische Raumanschauung mit dem Realraum dieselbe kategoriale Struktur zeigt. Vollends Bedingung der äußeren Wahrnehmung kann er sogar unabhängig von solcher Strukturidentität sein. Es ist ja nicht ausgemacht, daß die Wahrnehmung der realen Raumverhältnisse diese nicht in ihrer Weise deformierte oder verzeichnete. Das ändert an der Apriorität der Anschauungsform nichts. c. Die Verdoppelung der Raum- und Zeitanalyse. Neue Aporien Überträgt man nun weiter das Resultat dieser Überlegung auf die Zeit — was sich ja schon aus der Parallelität der Kantischen Argumente rechtfertigt —, so ergibt sich für die Kategorialanalyse unabweisbar die Verdoppelung der Aufgabe: sie hat einerseits den Anschauungsraum, andererseits den Realraum, einerseits die Anschauungszeit, andererseits die Realzeit zu behandeln. Wobei das Behandeln sich nicht auf die Herausstellung der Unterschiede allein beschränken kann, sondern erst recht die gemeinsamen Züge, sowie die gegenseitige Beziehung zwischen den abweichenden betrifft. Man steht also hier vor einer besonders zugespitzten Aufgabe der differentiellen Analyse. Darum ist an keiner Kategoriengruppe das Interesse der Erkenntnistheorie so stark beteiligt wie an der von Raum und Zeit. Hängt doch an der Divergenz von Erkenntnis- und Seinskategorien die Grenze des apriorischen Faktors. Wo diese Divergenz einmal wirklich greifbar

2. Kap. Die Kantisdie Raum- und Zeitlehre

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wird, da gilt es den Sphärenunterschied von Erkenntnis und Realität so weit wie möglich inhaltlich zu bestimmen, und das heißt ihn kategorial zu bestimmen. Daß aber die Divergenz gerade an Raum und Zeit in exzeptioneller Weise greifbar wird, hängt daran, daß diese beiden im Bewußtsein nicht erst als Verstandes-, sondern schon als Anschauungskategorien auftreten. Dadurch entfernen sie sich inhaltlich weiter als andere von den Realkategorien. Man wird diese Seite des Problems nicht unterschätzen dürfen. Aber sie ist nur eine Seite. Das kategoriale Raum-Zeitproblem hat noch eine andere Seite, die ontologische. Und diese ist wiederum am Räume eine sehr andere als an der Zeit. Das bedeutet, daß nach der ontologischen Seite hin die ganze Parallelstellung von Raum und Zeit durchbrochen wird. Jede der beiden Kategorien hat dem Sein nach ihre besonderen Aporien und erfordert gesonderte Behandlung. Was zunächst den Raum betrifft, so ist es hier auch mit der „doppelten" Aufgabe nicht getan. Es ist vielmehr von vornherein eine dreifache: neben den Anschauungsraum und den Realraum tritt noch der geometrische Raum. Ontologisch kann man ihn als Idealraum bezeichnen. Wie er sich von jenen beiden unterscheidet, soll hier nicht vorweggenommen werden; es genügt, sich darauf zu besinnen, daß er durchaus kein Wahrnehmungsund Erlebnisraum, zugleich aber auch etwas Allgemeineres ist als der Realraum (schon allein dadurch, daß er mehrere Typen von Raum umfaßt, während der Realraum nur einer sein kann). Dabei ist zu beachten, daß seine Idealität nicht etwa Subjektivität, auch keine transzendentale, bedeutet, sondern eine ontische Seinsweise. Von dieser ist anderweitig gehandelt worden (vgl. Grundlegung, Kap. 38—41). Hier aber geht es nicht um die Seinsweise, sondern um seine positiv kategoriale Struktur. Diesem Problem scheint Kant auf der Spur gewesen zu sein, als er in seiner zweiten Ausgabe die „transzendentale Erörterung" von der „metaphysischen" abtrennte. Er sonderte damit das Problem der geometrischen Urteile von der in der äußeren Wahrnehmung enthaltenen Räumlichkeit. Aber eine Durchführung nach der inhaltlichen Seite hat es bei ihm nicht gefunden. Vielmehr finden wir gewisse charakteristisch geometrische Momente des Raumes, z. B. das der „unendlichen gegebenen Größe", in die metaphysische Erörterung hineingezogen, so daß der Sphärenunterschied, auf den hier alles hinausläuft, wieder verwischt wird. Grundsätzlich tritt freilich dieselbe Frage auch bei der Zeit auf. Es ist sinnvoll, auch von einer „Idealzeit" zu sprechen, und auch dazu findet sich der Ansatz bei Kant im dritten Punkte seiner Erörterung der Zeit. Dort geht es um die „Möglichkeit apodiktischer Grundsätze von den Verhältnissen der Zeit, oder Axiomen der Zeit überhaupt". Und aus der angefügten,

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aber sehr kurz geratenen „transzendentalen Erörterung" geht hervor, daß er dabei das Wesen der Veränderung und der Bewegung im Sinne hat. Aber der Gedanke bleibt fragmentarisch. Und das hat seinen objektiven Grund darin, daß es keine der Geometrie vergleichbare Wissenschaft von der Idealzeit gibt. Denn wenn man sich hier auf die reine Kinematik beziehen wollte, wie die Neukantianer getan haben, so stünde man nicht bei einer einfachen Mathematik der Zeit, sondern bei einer solchen der Bewegung. Bewegung aber ist ebensosehr räumlich wie zeitlich. Der kategoriale Grund für die in diesem Punkte andere Stellung der Zeit ist in ihrer Eindimensionalität zu suchen. Eine dreidimensionale Mannigfaltigkeit ergibt einen Reichtum idealer Verhältnisse, deren Exposition mit Leichtigkeit eine ganze Wissenschaft ausmacht; eine eindimensionale kommt außer einigen wenigen Axiomen — die dann zugleich ihre kategorialen Momente sind — nicht zu weiterer Entfaltung. Anders wäre es, wenn man die rein quantitativen Verhältnisse der Zahlenreihe auf sie beziehen könnte. Aber diese sind vielmehr von noch allgemeinerer Art und gehören ontologisch noch in das Gebiet der Fundamentalkategorien. Zahlenverhältnisse eben sind etwas anderes als Zeitverhältnisse und lassen sich auf diese ebensowenig zurückführen wie diese auf sie.

3. Kapitel REALZEIT UND ANSCHAUUNGSZEIT a. Bewußtsein der Zeitlichkeit und Zeitlichkeit des Bewußtseins Eine viel ernstlichere Aporie dagegen ist es, die der Zeit hinsichtlich ihrer kategorialen Stellung zum Bewußtsein anhaftet. Sie beruht darauf, daß die Zeit nicht nur Anschauungsform des Bewußtseins, also seine Inhaltskategorie ist, sondern zugleich auch Realkategorie des Bewußtseins — und zwar ebendesselben Bewußtseins, dessen Anschauungsform sie ist. Das ist nicht dasselbe Verhältnis wie beim Raum. Der Raum geht zwar auch darin nicht auf, daß er Anschauungskategorie ist, auch er ist Realkategorie; aber er ist nur Realkategorie der „äußeren" Welt, nicht der „inneren" des Bewußtseins. Das Bewußtsein und mit ihm das geistige Sein ist ein raumloses Sein. Seine Prozesse laufen nicht im Räume ab, wohl aber in der Zeit. Und selbst der Erkenntnisprozeß ist noch ein zeitlich ablaufender Prozeß. Am Räume also gibt es diese Paradoxie nicht. Dem Räume im Bewußtsein entspricht kein Bewußtsein im Räume. Aber der Zeit im Bewußtsein entspricht ein Bewußtsein in der Zeit. Und zwar ist es ein- und dasselbe

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Bewußtsein, das die Zeit als seine Anschauungsform „in sich" hat, das aber auch selbst ein „in der Zeit" sich entfaltendes und prozeßhaft ablaufendes Bewußtsein ist. Nur freilich kann die „Zeit im Bewußtsein" nicht identisch sein mit der Zeit, in der das Bewußtsein verläuft. Denn verliefe es in derselben Zeit, in der sein Vorstellungsinhalt sich verteilt, so könnte es nicht Vergangenes oder Zukünftiges vorstellen und wäre in den engen Grenzen des Gegenwartsbewußtseins gefangen. Was allen Tatsachen widerstreitet. Wollte man aber gar schließen, es könne ja nur deswegen und nur insoweit Zeitliches vorstellen, als es selbst ein zeitlich verlaufender Bewußtseinsstrom sei, so geriete man damit in noch ärgere Schwierigkeiten. Es wäre dann bei der kategorialen Parallelstellung von Raum und Zeit nicht einzusehen, wie es dann räumliche Verhältnisse sollte vorstellen können, ohne doch selbst etwas Räumliches zu sein. Und dann müßte man konsequenterweise den Raum auch als Realkategorie des Bewußtseins gelten lassen, das Bewußtsein also allen Phänomenen zum Trotz für etwas Räumliches halten. Mit dieser materialistischen Konsequenz hat die Philosophie, so oft sie sich auf sie eingelassen, kein Glück gehabt. Auf diesem Wege wurde sie stets nur zu weiteren Ungereimtheiten gedrängt. Man muß also wohl oder übel die andere Konsequenz in Kauf nehmen, daß wir es mit zweierlei Zeit zu tun haben: mit der Realzeit und der Anschauungszeit. Beide sind Kategorien des Bewußtseins, die eine als Form seines Ablaufs, seiner Akte, Zustände und Übergänge, die andere als Form seiner Inhalte. Denn ohne die Zeit als Inhaltskategorie könnte das Bewußtsein zeitliche Vorgänge weder „erleben", noch nachträglich vorstellen. Das Bewußtsein der Zeitlichkeit ist nicht identisch mit der Zeitlichkeit des Bewußtseins. Diese aufweisbare Nichtidentität von Anschauungszeit und Realzeit ist beweisend dafür, daß zwischen ihnen auch ein kategor ialer Unterschied bestehen muß. Und wenn die Verdoppelung der Raumkategorie noch eines Beweises bedürfte, so könnte man von hier aus auf sie rückschließen. Ist der Raum auch nicht Realkategorie des Bewußtseins, so ist er doch gleich der Zeit Realkategorie der äußeren Welt; als Anschauungsform aber steht er in strenger Parallelität zur Zeit. Muß nun die Realzeit etwas anderes sein als die Anschauungszeit, weil der Bewußtseinsablauf nicht ein Ablauf in der Anschauungsform sein kann, so muß der Realraum erst recht etwas anderes sein als der Anschauungsraum, weil er ja überhaupt nicht Realkategorie des Bewußtseins ist. Der Raum also könnte gar nicht Bewußtseinskategorie sein, wenn er nicht außer seinem ontisch primären Auftreten als Realform der kosmischen und organischen Welt auch noch Anschauungsform wäre. Um dieses Resultat auch vom Bewußtsein aus klarzustellen, kann man

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Erster Teil. l.Absdinitt

es so formulieren: Der Raum ist am Bewußtsein nur Anschauungskategorie, die Zeit aber ist sowohl Anschauungskategorie als auch Realkategorie des Bewußtseins. Als Anschauungskategorie ist sie bloß eine Dimension seiner inhaltlichen Mannigfaltigkeit und steht als solche zusammen mit den drei Dimensionen des Anschauungsraumes; als Realkategorie dagegen ist sie die Dimension seine eigenen Entstehens und Vergehens, seines Ablaufes und seiner Zustände. Als solche steht sie allein da, ohne die Raumdimensionen. b. Verdoppelung und Wiederkehr Diese Konsequenz ist in den Theorien, die überhaupt auf das Problem eingehen, nirgends klar bezogen worden, teils aus Scheu vor ihrer scheinbaren Kompliziertheit — es wird sich noch zeigen, daß sie in Wahrheit die bei weitem einfachste und den Phänomenen nächste ist —, in der Hauptsache aber wohl, weil man an standpunktlichen Überzeugungen festhielt und einer „Verdoppelung" der Zeit ausweichen wollte. Man ist in dieser Tendenz so weit gegangen, dem Bewußtsein die Zeitlichkeit überhaupt abzusprechen. Daß in jedem Menschen das Bewußtsein „entsteht", sich entfaltet und vergeht, daß seine Zustände und Inhalte kommen und gehen, seine Akte zeitliche Abläufe sind, glaubte man einfach verleugnen zu müssen. Man gab sich nicht Rechenschaft, daß, was man übrig behielt, gar kein reales und personales Bewußtsein mehr mit einem Erlebnisstrom und einem Schicksal war, sondern nur noch die Abstraktion und gleichsam die zeitlose Idee eines Bewußtseins. Gleichwohl lag darin, wenn man einer Duplizität der Zeitkategorie entgehen wollte, die strengste Konsequenz. Solcher mißlichen Konsequenz enthebt man sich ohne Schwierigkeit, wenn man Anschauungs- und Realzeit unterscheidet und beide folgerichtig auf das real-menschliche Bewußtseinsleben bezieht. Vor der „Verdoppelung" braucht man sich nicht zu scheuen; es ist dieselbe Verdoppelung, die alle Kategorien erfahren, soweit sie überhaupt als Inhaltskategorien des erkennenden Bewußtseins wiederkehren, und das will sagen, soweit die Seinsbereiche, deren Prinzipien sie sind, erkennbar sind. Wiederkehr der Kategorien im höheren Schichtenzusammenhang ist ja überhaupt ein viel allgemeineres Gesetz. Am Bewußtsein wird es nur deswegen auffällig, weil die Strukturen der Erkenntnis denen der nach Schichten verschiedenen Seinsbereiche „zugeordnet" sind (diese zum „Gegenstand" haben); wobei man dann über der einseitig gnoseologisch verstandenen Bipolarität von „Subjekt und Objekt" deren Einordnung in die alles umspannende Stufenfolge der Realschichten vergißt. Über das Wesen jener Zuordnung und dieser Einordnung hat die allgemeine Kategorienlehre ausführlich Rechenschaft abgelegt (vgl. Aufbau Kap. 22). Die Verdoppelung ist ontologisch nichts als ein Spezialfall der kate-

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gorialen Wiederkehr; für sie bedarf es keiner besonderen Rechtfertigung. Nur das Wort ist mit einem gewissen Mißklang behaftet: es klingt nach überflüssiger Wiederholung und künstlicher Komplizierung. Einst im Neukantianismus spielte man es in der Erkenntnistheorie gegen die sog. „Abbildtheorie" aus: es sollte neben den Dingen keine Vorstellungen der Dinge, oder umgekehrt jene nicht neben diesen geben. Aber man strich mit der Vorstellung zugleich die ganze Erkenntnisrelation weg und behielt nichts als ein logisches Verhältnis, das Urteil, übrig. In Wahrheit ist Erkenntnis nicht nur Verdoppelung, sondern unabsehbare Vervielfachung; denn in jedem Subjekt, wenn es etwas erkennt, kehrt derselbe Inhalt wieder und immer wieder. Dagegen läßt sich nichts einwenden. Darum kehren auch dieselben Kategorien, welche die reale Welt bestimmen, im Bewußtsein als seine Inhaltsformen wieder, nur freilich in beträchtlicher Abwandlung. Es ist lehrreich, diese Parallelität der Probleme im Auge zu behalten, wenn man an die Kategorialanalyse der Zeit herantritt. Das unaufhebbar Irritierende im Verhältnis von Bewußtseinszeit und Zeitbewußtsein hängt lediglich an der Nichtbeachtung der ontischen Stellung des erkennenden Bewußtseins in der Ordnung der Realschichten. c. Zugehörigkeit und Zuordnung der Anschauungszeit Bei dieser Rückführung der Verdoppelung auf das Gesetz der Wiederkehr ist freilich zu beachten, daß es sich um eine Wiederkehr sehr eigener Art handelt. Das Auftreten der Anschauungszeit im Bewußtsein läßt sich mit dem Durchgehen der Realzeit durch alle Seinsschichten einschließlich des Bewußtseins selbst doch nur vergleichen, wenn man von der Besonderheit der Inhaltskategorien des erkennenden Bewußtseins absieht. Diese Besonderheit kehrt auch am Räume als Anschauungsform wieder und ist letzten Endes allen Erkenntniskategorien gemeinsam. Worin aber besteht die Sonderstellung? Alle Realkategorien unterliegen, soweit sie in höheren Seinsschichten wiederkehren, einer gewissen Abwandlung. Dafür haben die Fundamentalkategorien ein reiches Material von Beispielen gebracht. Die Frage ist nun: läßt sich die Sonderstellung der Anschauungsformen im Bewußtsein — und die der Erkenntniskategorien überhaupt — auf das allgemeine kategoriale Gesetz der Abwandlung zurückführen? Das würde bedeuten, daß sich auch der ganze Sphärenunterschied von Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand auf den Höhenunterschied der Realschichten müßte zurückführen lassen. Das ist an sich nicht unmöglich, weil ja die Erkenntnis selbst einer bestimmten Realschicht zugehört und insofern selbst in die reale Welt hineingehört. Ihre Kategorien zeigen daher durchgehend das doppelte Verhältnis: sie sind einerseits dem erkennenden Bewußtsein „zugehörig", anderer-

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seits aber bestimmten Schichten der realen Welt „zugeordnet". Diese „Zuordnung" ist offenbar etwas ganz anderes als jene „Zugehörigkeit"; sie entspricht dem Verhältnis der Erkenntnis zum Gegenstande, während letztere ihr Enthaltensein in der Erkenntnisfunktion bedeutet. Die Zuordnung also kommt für den Transzendenzcharakter der Erkenntnis auf. Deswegen liegt auf ihr das Hauptgewicht. Bedenkt man aber andererseits, daß die Zeit zugleich Realkategorie des Bewußtseinsablaufs ist und daß schon dadurch allein eine Abwandlung der Realzeit auf der Schichtenhöhe des Bewußtseins bedingt ist, so scheint die Sonderstellung der Anschauungsformen doch wieder nicht in bloßer Abwandlung aufzugehen. Es müßte sich anders um zweierlei Abwandlung derselben Kategorie in derselben Schicht handeln. Diese Überlegung gewinnt noch an Gewicht, wenn man hinzunimmt, daß auch andere Kategorien — wie eben der Prozeß, der Zustand, die Kausalität — am erkennenden Bewußtsein verdoppelt auftreten, als seine Realkategorien und als seine Inhaltskategorien. Was freilich bei ihnen weniger paradox erscheint als bei der Zeit, weil sie weniger der Anschauung als dem Verstande „zugehören" und dort, wie gezeigt wurde, eine gewisse Freiheit der Anwendung haben. d. Stellung der Anschauungszeit in der Abwandlung der Realzeit Werfen wir zunächst einen Blick auf die Schichtenabwandlung der Zeit. Es ist eine in unseren Tagen vielfach vertretene These, daß jede Seinsschicht ihre besondere Art Zeit habe: der mechanische Proezß, der Lebensvorgang, der Bewußtseinsstrom und das geschichtliche Geschehen laufen hiernach nicht in einer, sondern in verschiedenen Zeiten ab. Macht man damit ernst, so sind sie auch nicht auf ein einheitliches Zugleich und Nacheinander bezogen. Man hätte also zu unterscheiden zwischen mechanischer, organischer, psychischer und geschichtlicher Zeit. Und dem scheint es zu entsprechen, daß es auch beim Raum solche Unterschiede gibt: den Kraftraum, den Lebensraum, den geschichtlichen Raum u. a. m. Aber gerade diese Parallele macht den Fehler durchsichtig. Kraftraum und Lebensraum (etwa der einer lebenden Tierart) sind offenbar nicht Arten des Realraumes, sondern Gebiete innerhalb desselben Raumes, die durch die Reichweite bestimmter Beziehungen begrenzt sind, wobei die Beziehungen selbst räumliche sind und sich räumlich überschneiden können. Bestimmt sind sie einmal durch Massen und Kräfte, das andere Mal durch Lebewesen und deren Lebensbedarf usf. Es ist sinnwidrig, dem Raum zuzuschreiben, was allein den in ihm dimensionierten Gebilden zukommt. Ebenso hat man der Zeit irrig zugeschrieben, was den besonderen zeiterfüllenden Geschehnissen zukommt und erst durch diese an Zeitbegren-

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zung, Einteilung und Perspektive in sie hineingetragen wird. Der scheinbare Gegensatz mechanischer, psychischer und geschichtlicher Zeit ist in Wirklichkeit nichts als der Schichtenunterschied des mechanischen, seelischen und geschichtlichen Prozesses. Wenn wir von einer bestimmten „geschichtlichen" Zeit sprechen, meinen wir ja auch gar nicht die Zeitspanne als solche, sondern die Epoche mit ihren Geschehnissen und Bedeutsamkeiten. Die aber hängen nicht an der Zeit als solcher, sondern an lebenden Personen und Völkern mitsamt ihren Taten und Schicksalen. Die Umgangssprache kann solche verkürzte Ausdrücke ungestraft gebrauchen. Die Kategorienlehre darf sich durch sie nicht täuschen lassen. Die wirkliche Abwandlung der Realzeit in den Schichten ist eine viel geringere. Sie besteht in nichts anderem als ihrem Einrücken in immer wieder andere Schichtenkohärenz, d. h. in den Verband anderer und höherer Kategorien. Konkret bedeutet dieses, daß sie aufsteigend durch mechanische, organische, seelische und geschichtliche Vorgänge erfüllt wird. Das bedeutet offenbar nicht, daß die Vorgänge nicht in derselben Zeit abliefen. Für die Schichtenabwandlung der Zeitlichkeit bleibt es vielmehr charakteristisch, daß sie in ihrer ganzen Ausdehnung auf eine einzige, durchaus identische Realzeit, wie auf einen gemeinsamen Nenner gegründet ist. Hält man dieses fest, so hebt sich dagegen eindeutig die Anschauungszeit ab. Sie eben ist nicht auf den gemeinsamen Nenner zu bringen. Sie ist nicht der Zeitfluß, in dem die realen Ereignisse ablaufen, sondern derjenige, in dem ablaufend sie erlebt und vorgestellt werden. Außerdem zeigt sie deutliche strukturelle Abweichungen von der Realzeit. Die Kategorie, die als Anschauungsform dem Bewußtsein „zugehörig" und seinen Gegenständen „zugeordnet" ist, kann eben nicht mehr als ganz dieselbe gelten, die als Realzeit die Dimension bildet, in der das Bewußtsein selbst entsteht, sich entfaltet und vergeht. Von hier aus läßt sich nun die Frage beantworten, ob die Anschauungszeit als kategoriale Abwandlung der Realzeit gelten kann. In die einfache Abwandlungslinie paßt sie nicht hinein, fällt vielmehr vollkommen aus ihr heraus. Damit reimt es sich, daß in ihr nicht die Dinge selbst, sondern nur deren Vorstellungen dimensioniert sind. Bedenkt man aber, daß die „Zuordnung" die ihr im vorstellenden Bewußtsein eignet, Bezogenheit auf realzeitliche Gegenstände ist, also doch nur möglich ist, wenn Anschauungszeit eine Wiederkehr derselben Zeitlichkeit am Bewußtseinsinhalt ist, so wird es vielmehr nötig, den AbwandlungsbegrifF zu erweitern, so daß er die Anschauungsform mit umfaßt. Und das ist durchaus möglich, weil kategoriale Abwandlung wesentliche strukturelle Abweichungen ja gar nicht ausschließt. So dürfte die Streitfrage sich lösen. Damit steht es im Einklang, daß in

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Erster Teil. 1. Abschnitt

der Schichtenfolge das Bewußtsein eben diese einzigartige Rolle spielt, daß es eine „Innenwelt" mit eigener, wiewohl „zugeordneter" Mannigfaltigkeit, ausgestaltet — im Gegensatz zur „äußeren" Welt, in die es selbst eingeordnet ist. Diese Innenwelt ist, ontologisch gesehen, das große kategoriale Novum des seelischen Seins. Ihre Heterogenität muß sich also an der Zeit als ein radikales Anderssein ausprägen. Es ist also kein Wunder, daß hier die sonst einheitliche Abwandlungslinie der Zeitkategorie durchbrochen erscheint. Die Größe des Sprunges an der psychophysischen Schichtendistanz — die ja kein Uberformungsverhältnis mehr ist — rechtfertigt das vollauf. Die Andersheit der Abwandlung spiegelt sich hier ja auch deutlich in der Inadäquatheit der „Zuordnung", die der Anschauungsform eigen ist. Diese Stellung der Anschauungszeit zu der sonst geradlinigen Abwandlung der Zeitkategorie hat denn auch ihr Analogen im Verhältnis der meisten Erkenntniskategorien zu den entsprechenden Realkategorien: an dieser Schichtendistanz zeigen sie denselben Sprung, nur weniger bemerkbar, weil sie nicht gleich fundamental sind und nicht direkt in der Anschauung sich auswirken. Nur der Raum steht darin der Zeit noch nahe. An ihm aber ist das merkwürdige Verhältnis gleichsam verdeckt, weil er nicht zugleich Realkategorie des Bewußtseins ist. Denn das Bewußtsein ist wohl eine zeitliche, aber keine räumliche Mannigfaltigkeit.

4. Kapitel AUSDEHNUNG UND EXTENSIVE GRÖSSE a. Extension und Dimension In der Zweisubstanzenlehre des Descartes galt die Räumlichkeit als die Grundwesensbestimmung der Außenwelt. Das bedeutete der Satz, daß die extensio die Substanz der Dinge sei. Der Sinn dieser Bestimmung liegt im Gegensatz zur cogitatio als Substanz der Innenwelt. Sie ist als These merkwürdig genug, wenn man bedenkt, daß keine materielle Substanz den Raum erfüllen, sondern die Begrenzung der extemio selbst bereits die Erfüllung bilden sollte. Sieht man indes von dieser Substanzenmetaphysik ab, so bleibt die kategoriale Bestimmung des Raumes als der reinen extensio übrig. Und da diese Bestimmung sich bis in unsere Zeit erhalten hat, so muß man fragen, ob sie ontologisch haltbar ist. Denn offenbar gehört Ausdehnung ebenso wesentlich wie Dimension zur Räumlichkeit. Da aber Dimension nicht identisch mit Räumlichkeit ist, so braucht es auch die Ausdehnung nicht zu sein.

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Außerdem bedarf es einer Festlegung des Verhältnisses von Extension und Dimension. Hierzu ist zunächst zweierlei klarzustellen. Erstens erinnere man sich hier, daß Dimension nicht Ausmessung ist, desgleichen auch nicht das Ausmeßbare, sondern dasjenige, „worin" etwas ausmeßbar ist und seine Maßbestimmtheit hat (vgl. oben Kap. l d). So ist denn auch der Raum nicht die Ausdehnung selbst, desgleichen nicht das Ausgedehnte, sondern durchaus nur das, „worin" sich etwas ausdehnt. Wäre er nur die Ausdehnung selbst, so könnte sein Wesen nicht in den Dimensionen und ihrem Verhältnis zueinander bestehen; denn alle Ausdehnung ist vielmehr eine solche „in" bestimmter Dimension, setzt also diese als ihre Bedingung voraus. Wäre der Raum also Ausdehnung, so müßte er Ausdehnung „in" denselben Dimensionen sein, die sein Wesen ausmachen. Er müßte also seine eigenen Dimensionen schon voraussetzen; was widersinnig ist. Außerdem könnte sich nichts anderes, kein Ding und keine Bewegung, in ihm ausdehnen. Er ist also vielmehr „Bedingung" der Ausdehnung, genau so wie seine Dimensionen „Bedingungen" der Ausmessung und des Ausmeßbaren sind. Noch viel weniger aber ist er das „Ausgedehnte" (extensum), weil ja vielmehr die Dinge in ihm das Ausgedehnte sind; und nicht nur Dinge, sondern auch deren Abstände, Entfernungen, Lage und Bewegungsverhältnisse gegeneinander. Nun sind aber Lage, Entfernung, Bewegung notwendig etwas „im" Räume, ebenso wie Länge, Breite, Höhe und selbst der bloße Ort der Dinge, etwas „im" Räume sind. Der Raum selbst ist also ebensowenig das Ausgedehnte, wie er Ausdehnung ist. Er ist vielmehr die kategoriale Bedingung des Ausgedenhten, dasjenige also, worauf das Ausgedehntsein alles Ausgedehnten beruht. Die Verkennung dieses Verhältnisses war es, was bei Deskartes die Substanzialisierung des Raumes verschuldet hat. Verwürfelt man extensum und extensio miteinander und beide mit dem medium extensions, so überträgt sich das Ausgedehntsein auf das letztere, und der Raum erscheint als subtantia extensa. Zweitens aber war es einseitig, die Ausdehnung dem Räume allein zuzusprechen. Sie gehört ebensosehr der Zeit an. Jene selben Dinge und Bewegungen, die im Räume lokalisiert sind, sind ja auch in der Zeit lokalisiert. Und wie im Räume, so sind sie auch in der Zeit ausgedehnt. Diese ihre zeitliche Ausdehnung nennen wir ihre Dauer. Dauer ist ebenso meßbar wie räumliche Ausdehnung, und ihre Maßbestimmtheit ist ebensogut eine „Größe" in der Zeitdimension wie die der räumlichen Ausdehnung eine Größe in den Raumdimensionen ist. Es waltet also in der Zeit derselbe Unterschied zwischen Ausdehnung, Ausgedehntem und Bedingung der Ausdehnung (Dimension) wie im Räume. Und wie der Raum so fällt auch S Hartmann, Philosophie der Natur

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Erster Teil. I.Abschnitt

die Zeit weder mit der extensio noch mit dem extensum zusammen, sondern ist das, „worin" beide ihren Spielraum und ihr Medium haben. Wollte man also Descartes beim Worte nehmen und die „Ausdehnung" substantialisieren, so müßte man vielmehr Raum und Zeit, beide in gleicher Weise, zu Substanzen oder auch beide zusammen als ein einziges Dimensionssystem zu einer Substanz machen. Denn beide sind in gleicher Weise Bedingung der Ausdehnung. Damit freilich würde man den Cartesisdien Dualismus von Grund aus zerstören. Denn was in der cogitatio spielt, ist ebenso zeitlich „ausgedehnt" wie das, was in der extensio spielt. Die extensio würde sich also kategorial auf die cogitatio übertragen. Darin liegt die ontologische Überwindung jenes Dualismus. Wie denn die Zeit in der Tat das gemeinsame kategoriale Grundmoment von Außen- und Innenwelt ist. Ist man indessen darauf bedacht, der Cartesischen Substantialisierung noch einen Rest haltbaren Sinnes abzugewinnen, so muß man diesen nicht in dem von Descartes proklamierten Moment der Ausdehnung suchen, sondern in etwas anderem. Dieses andere ist die in Raum und Zeit wiederkehrende Fundamentalkategorie der Dimension. Es zeigte sich ja schon: Dimension ist das „Worin" der Extension. Für dieses bietet sich das Bild des „Mediums" an. Das bedeutet aber, daß in dem „Worin" noch ein zweites kategoriales Grundmoment steckt: das des Substrates. Dimension ist das Substrat der Messung, denn sie ist schon Substrat der Maßbestimmtheit und der bestimmten Größe. Eine Größe ist wesenlos ohne ein solches Substrat. Erst die bestimmte Dimension, „in" der sie ihr Maß hat, gibt ihr den Seinscharakter, durch den sie mehr ist als ein bloßes Schema. Ob sie Strecke, Winkelweite, Fläche, Volumen, Dauer oder Geschwindigkeit ist, diese Unterschiede sind nicht auf anderes reduzierbar; sie sind die der Größe zugrunde liegenden Substrate und machen die Heterogeneität der Maßbestimmtheiten aus J). !) Man stoße sich nicht daran, daß hier von einem Substratcharakter die Rede ist, der weit von materieller Erfüllung entfernt ist. Substrat ist eine Fundamentalkategorie und als solche weit allgemeiner als die Kategorien der Natur. Sie ist nicht Substanz (Beharrendes im Prozeß), sondern durchaus nur das Apeiron möglicher Bestimmtheit. Das eben will das Bild vom „Medium" möglicher Größe besagen. In diesem Sinne hat jede Dimension, schon rein als solche, einen gewissen Substratcharakter, der als solcher freilich undefinierbar und in seinem Wesenskern unerkennbar bleibt, aber in aller Größen- und Maßbestimmtheit schon zugrunde liegt. Denn er ist das, wodurch sich Größen der einen Art von denen der anderen unterscheiden (z. B. Größe der räumlichen Länge von Größe der Kraft, der Frequenz usw.) — man kann auch sagen: dasjenige in den Dimensionen, was nicht in Gesetz und Relation aufgeht, was also der Metrik schon zugrunde liegt. Ich behaupte, daß dieses der urprünglidie und eigentliche Sinn von „Substrat" ist, erstmalig herausgearbeitet im „Apeiron" des Platonischen „Philebus". Was man dagegen als das Substrathafte

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Freilich ist Substrat nicht dasselbe wie Substanz. Aber in der Geschichte der Metaphysik sind diese beiden Kategorien früh verwürfelt worden. Was Descartes meinte, war nicht Substantialität, sondern Substratcharakter; er unterschied nur das eine nicht vom ändern. Sieht man hiervon ab, so tritt der Wahrheitskern seiner These klar zutage. Damit sind wir bereits auf die Kategorien „Maß und Größe" hinausgelangt. Vor ihrer genaueren Fassung bedarf es aber noch einer weiteren Klärung. b. Dimensionen extensiver und intensiver Größe Mit den getroffenen Unterscheidungen ist das affirmative Wesen der Ausdehnung selbst noch nicht zur Bestimmung gelangt. Wenn nun Ausdehnung einerseits zum Wesen von Raum und Zeit gehört, andererseits aber Raum und Zeit selbst nicht Ausdehnung, sondern Substrate der Ausdehnung sind, so liegt es nahe, das Wesen der Ausdehnung mit dem der „Dimension" zusammenzubringen und als etwas dieser Fundamentalkategorie Anhaftendes zu verstehen. Extension und Dimension würden dann in einem Komplementärverhältnis zueinander stehen. Es müßte dann aber auch jeder Dimension möglicher Größe ein extensum entsprechen, welches sich in ihr ausdehnt. Die weitere Folge davon wäre, daß Ausdehnung einen viel allgemeineren Charakter hätte als Raum und Zeit, also einen fundamental-kategorialen Charakter, wie die „Dimension". Und wie es andere Dimensionen gibt als die raum-zeitlichen, so müßte es auch anders dimensionierte Extension geben. Diese Folge hält der Kritik nicht stand. Sie widerstreitet dem allgemeinen Wesen der Dimension. Von der Dimension ließ sich zeigen, dr.ß sie überall da auftritt, wo Gegensätze sich gegenüber stehen: sie ist das Continuum möglicher Übergänge, das sich zwischen den Gegensätzen spannt (vgl. Aufbau, Kap. 30 a—c). Aber keineswegs ist es so, daß nun in jedem dieser Continuen auch ein extensum aufweisbar wäre. Man nehme die speziellen Dimensionen des Gewichts, des Druckes, der Geschwindigkeit: in ihnen dehnt sich nichts aus, jede Geschwindigkeit ist nur ein Punkt auf der Skala der Geschwindigkeiten, nicht ein extensum in ihr, wie die Strecke im Raum und die Dauer in der Zeit. Das gleiche gilt von jeder Druckstärke und jedem Gewicht, von jeder Kraft- und Energiegröße; wie es ja auch von der Körper im Realraum (oder selbst der Figuren im Idealraume) bezeichnen mag, gehört vielmehr sdion der Raumerfüllung mit besonderen Gebilden an und setzt die reinen Raumdimensionen mit ihrem elementaren (kategorialen) Substratmoment schon voraus. — Vgl. hierzu das im „Aufbau der realen Welt" über Substrat und Dimension Gesagte (daselbst Kap. 28 b, sowie 30 a und b).

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den Dimensionen gilt, die sich zwischen den Gegensatzpaaren der Fundamentalkategorien spannen. Bei den letzteren kann man überhaupt nicht mehr von Größenhaftigkeit sprechen. Sie stehen noch diesseits der Quantitativen. Wohl aber gibt es Größen und Größenmaße der Kraft, des Druckes, der Geschwindigkeit usw.; diese Größen aber sind keine „extensiven", sondern „intensive" Größen, und das Continuum der Abstufung, welches die Dimension ausmacht, ist hier ein solches der Intensitäten. Eine bestimmte Intensität nämlich ist ein bloßer Punkt auf der Dimension, nimmt nicht, sie erfüllend, einen Teil von ihr ein, reicht nicht von einem Punkt bis zu einem anderen, breitet sich nicht in ihr aus. Alles Hinausgehen über den Punkt auf der Skala ist hier vielmehr ein Schwanken der Intensität, ist Veränderung, Übergang zu anderer Intensität, oder — unter statistischem Gesichtspunkte — „Streuung" der Werte. Überall hier fehlt der Dimension die komplementäre Art der Extension. Ganz anders steht es damit bei den Dimensionen von Raum und Zeit. Räumliche Größe ist Ausbreitung im Raum, zeitliche Größe ist Ausbreitung in der Zeit (Dauer). Dieses kategoriale Moment der Ausbreitung bedeutet Erfüllung des dimensionalen Continuums mit Inhalt, die „Besetzung" eines Teiles der Dimension durch ein Seiendes, welches mitsamt seinen Bestimmtheiten und Bezogenheiten eben dadurch in ihr lokalisiert ist. Das Sich-Ausbreiten selbst ist also nichts anderes als die „Ausdehnung" (extensio), und ihre Größe ist „extensive Größe". Darum haftet die Ausdehnung nicht der Dimension an, sondern dem inhaltlich bestimmten Seienden, das sich in ihr ausbreitet. Nicht der Raum dehnt sich aus, sondern im Räume dehnen sich Körper und Entfernungen aus. Nicht die Zeit dehnt sich aus, sondern das Geschehen in ihr. c. Wesensbestimmung der extensiven Größe Die Folge dieses Verhältnisses ist, daß die Raum- und Zeitdimensionen sich eindeutig durch das Moment der Ausdehnung von den anderen Dimensionen unterscheiden. Denn wenn sie auch nicht selbst Ausdehnung sind, so sind sie doch dasjenige, „worin" primär es allein Ausdehnung gibt. Es sind diejenigen Dimensionen, in deren Bereich es extensive Größe und extensive Maßverhältnisse gibt. Hiermit ist eine erste ontologische Grundbestimmung von Raum und Zeit gewonnen. Sie betrifft den kategorialen Charakter ihrer Dimensionen, indem sie deren gemeinsame Artung von der aller sonstigen Dimensionen abhebt. Dieses Resultat stimmt sehr genau zusammen mit der schon früher berührten Eigenart der Raum-Zeitdimensionen, daß in ihnen der Charakter der Gegensätze, zwischen denen sie sich spannen, fast verschwindet und

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nur noch im Richtungsgegensatz greifbar bleibt. Hier freilich meldet sich auch schon ein Unterschied zwischen Zeitdimension und Raumdimension an: in der Zeit ist der Richtungsgegensatz selbst doch ein ganz anders betonter und inhaltlicher als im Räume. Das aber hängt mit anderweitigen kategorialen Besonderheiten der Zeit zusammen und gehört in eine spätere Untersuchung. — Ein nicht unwichtiges Nebenresultat ist die Bestimmung der extensiven Größe, die sich hieraus ergibt. Es ist bekanntlich niemals gelungen, die extensive Größe aus der Art oder Struktur der Größenhaftigkeit selbst zu bestimmen. An Versuchen der Art hat es nicht gefehlt. Am bekanntesten ist der Kantische, wonach extensive Größe diejenige ist, in der die Teile vor dem Ganzen sind; in der intensiven Größe sollte umgekehrt das Ganze vor den Teilen sein. Diese Bestimmung ist mit Recht angefochten worden, schon allein weil sie nicht die Art der Größe selbst, sondern nur die Genesis ihrer Auffassung im Bewußtsein betrifft. Und selbst in dieser Beschränkung isr sie nicht einwandfrei. Geht man aber von dem Verhältnis zwischen Extension und Dimension aus, so ergibt sich zwanglos eine rein strukturelle Bestimmung: extensive Größe ist die Größe der Ausbreitung in einer Dimension, intensive Größe die einer bloßen Stufe möglicher Zu- und Abnahme in einer Dimension. Im letzteren Falle hat die Dimension selbst die Form einer Stufenleiter mit charakteristischem Gegensatzpaar und die rein punkthaft auftretende Größe (ohne Ausdehnung) hat die Form des „Grades"; im ersteren Falle aber hat die Größe den Charakter der Dimensionserfüllung. Und da dieser Modus der Erfüllung primär an die Raum-Zeit-Dimensionen gebunden ist, so läßt sich einfach definieren: extensive Größe ist die Größe der Ausbreitung in Raum und Zeit. Diese Wesensbestimmung bezieht sich in erster Linie auf den Realraum und die Realzeit, beschränkt sich aber nicht auf sie, sondern greift auch auf die Anschauungsformen über. Auch die raum-zeitlichen Inhaltsgebilde der Anschauung haben extensive Größe und werden als ausgedehnte vorgestellt. Und so wesentlich ist das für die anschauliche Auffassung von Dingen, Dingverhältnissen, Bewegungen und Abläufen, daß die extensive Größenbestimmtheit im unreflektierten Bewußtsein geradezu als die primäre und unmittelbar anschauliche gilt, während die intensive erst durch ihre Vermittelung anschaulich wird und selbst in der Wissenschaft durch Reduktion auf Raum- und Zeitgrößen dargestellt werden muß. Unmittelbare Anschauung von Größenverhältnissen haftet an dem Moment der Ausdehnung. Die Wissenschaft macht sich die Darstellbarkeit aller Realgrößen in den Dimensionen von Raum und Zeit in weitestem Maße zunutze. Alle Schema-

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tisierung in Koordinatensystemen (Diagrammen) beruht auf ihr. Das zugrunde liegende Verhältnis aber ist kein so selbstverständliches, wie die Vertrautheit mit solcher Schematisierung es uns vortäuscht. Es bedeutet nichts Geringeres als die Wiederkehr der extensiven Mehrdimensionalität in dem seinem Eigenwesen nach nur zeitlich dimensionierten Reich des Bewußtseins. Und das Geheimnis dieses Verhältnisses ist mit dem Gesagten nicht erschöpft. d. Die Kategorien Maß und Größe Die Untersuchung hat auf die extensive Größe hinausgeführt und ihren Zusammenhang mit den Dimensionen von Raum und Zeit klargestellt. Doch fehlt hierbei noch ein Glied: klargestellt ist nur, was es mit dem Extensiven auf sich hat, nicht aber was „Größe" eigentlich ist. Und doch ist leicht zu sehen, daß beim Wesen der Größe das fundamentalere Moment liegt — ein Moment, das man mit gutem Recht als Kategorie bezeichnen kann. Größe nämlich ist keine Kategorie der reinen Quantität. Die Quantität steht kategorial diesseits des Realen; Größen im eigentlichen Sinn aber gibt es nur, wo etwas ist, worauf die quantitativen Verhältnisse sich beziehen. Man ist zwar in der Mathematik gewohnt, Zahlen als Größen zu bezeichnen, aber sie sind es nicht im strengen Sinne. Im kategorialen Wesen der Größe liegt es, Größe „von etwas" zu sein (des Gewichts, des Drucks, der Dauer, der Geschwindigkeit usf.); Zahlen aber sind nicht Größen von etwas, sondern durchaus von nichts. Zahlen sind bloße Schemata möglicher Größen. Dasselbe wie von der Größe gilt auch vom Maß. Und damit ist ein weiterer Punkt berührt, an dem es noch einer Klärung bedarf. Denn wenn auch Dimension nicht Ausmessung ist, so gehört doch die Ausmeßbarkeit dessen, was sich „in ihr ausdehnt", zu ihren wesentlichen Momenten. Und selbst bei Dimensionen der intensiven Größe ist es nicht anders: alles, was in ihnen lokalisiert ist, hat seine Maßbestimmtheit und ist meßbar. Maß und Größe gehören offenbar eng zusammen. Die menschlichen Maßstäbe sind zwar willkürlich, aber sie unterliegen dem Gesetz dieser kategorialen Zusammengehörigkeit, das man so aussprechen kann: jede Art von Größen ist nur in Maßen ihrer Dimension meßbar, und jedes Maß bezieht sich nur auf Größen seiner Dimension. Die Art des Maßes ist eben durch die Art der Dimension bestimmt und läßt sich nicht auf andersartige Dimensionen übertragen. Denn die Art der Größe, die es messen soll, ist selbst schon durch die Art der Dimension bestimmt. Dagegen, was sich rein quantitativ in Zahlen fassen läßt, ist erst

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das besondere Verhältnis der bestimmten Größe zu dem bestimmten Maß ihrer Dimension. Hegel hat in seiner Logik das rein mathematische Verhältnis als das leere oder „äußerliche" Verhältnis charakterisiert. Den Kategorien der reinen Quantität ließ er deshalb solche des „Maßes" folgen, bei denen es sich um erfüllte oder „wesentliche" Verhältnisse handelt. In dieser Anordnung ist ein Bruchstück echt ontologischer Überlegung enthalten. Maß und Größe bilden die Ubergangskategorien zwischen der reinen Quantität und der auf spezifisch dimensionierte Realverhältnisse bezogenen. Denn alles Maß und alle Größe ist spezifisch dimensioniert. Darum tauchen Maß und Größe erst dort auf, wo die ersten Dimensionen der realen Welt ihren kategorialen Ort haben. Und da die ersten und grundlegenden Dimensionen die von Raum und Zeit sind, so kommen die Kategorien Maß und Größe erst zusammen mit diesen zur Geltung. Sie stehen noch ganz an der Grenze der Naturkategorien, sind den Fundamentalkategorien noch nah verwandt. Es ist verständlich, daß man sie, wo überhaupt sie berücksichtigt wurden, zur Quantität gezählt hat. Der ungenaue Sprachgebrauch der Mathematik, der skrupellos Zahlen als Größen und Zahlverhältnisse als Größenverhältnisse bezeichnet, hat hierbei mitgespielt. Genau genommen, dürften sie erst von der angewandten Mathematik verwendet werden; desgleichen freilich auch schon von der Geometrie, aber diese eben bewegt sich ja schon in den Dimensionen des Raumes. Das Auftreten solcher Dimensionen aber ist die Bedingung von Maß und Größe. Der Zusammenhang, der sich hier greifen läßt, ist ein weitgespannter. In Größen und Maßen bewegt sich alle quantitative Bestimmtheit von Realverhältnissen. Größen wiederum gibt es nur in bestimmten Dimensionen, denn die Dimension bestimmt die Art von Maß und Größe. Nun sind aber Raumgrößen und Zeitgrößen das prototypisch Meßbare, weil sie das prototypisch Größenhafte sind. Und zwar sind sie es, weil sie extensive Größen sind. Auf die Dimensionen von Raum und Zeit sind deshalb alle physisch-inhaltlichen Dimensionen rückbezogen, auf ihre Maße gehen die Maße der intensiven Größe zurück, und in ihnen lassen sie sich ausdrücken. Dadurch kommt Einheit und eindeutige Bezogenheit in die Maßsysteme verschiedenartiger Größendimensionen hinein. Und mittelbar überträgt sich sogar etwas von der Anschaulichkeit der Raum- und Zeitgrößen auf die Mannigfaltigkeit und gegenseitige Bezogenheit der intensiven Größen. Wie denn die Meßinstrumente der Wissenschaft sie alle auf räumlichen Skalen sichtbar machen. Für das erkennende Bewußtsein kommt durch die Raum- und Zeitgröße die Bindung der physischen Realverhältnisse an die quantitative Bestim-

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Erster Teil. 2. Abschnitt

mung zustande. Diese Bindung ist Grundlage der exakten Wissenschaft. Von den Realverhältnissen selbst aber läßt sich wenigstens sagen, daß ihre Quantitäten stets mit auf die Raum- und Zeitgrößen bezogen sind; ist doch schon der Charakter des Prozesses in ihnen ein raum-zeitlicher. Das mathematische Leerverhältnis überträgt sich zwar nicht in diesen Dimensionen allein auf sie, wohl aber ist es primär in ihnen greifbar. Wie es denn auch innerhalb der realen Welt so weit reicht, als die vierdimensionale Struktur der raumzeitlichen Vorgänge und Gebilde reicht. Daran ändert auch die Heterogenität von intensiver und extensiver Größe nichts. Intensive Größen gibt es nicht freischwebend ohne Gebundenheit an etwas, was in Raum und Zeit Ausdehnung hätte. Kräfte haben ihre Wirkungsweite, ihr Feld, ihr zeitliches Einsetzen und Abklingen, und eben daran wird ihre Intensität greifbar. Alle intensive Größe ist dem Gefüge extensiver Größen eingeordnet und aus diesem Zusammenhang nur in der Abstraktion herauslösbar.

II. Abschnitt Kategorialanalyse des Raumes 5. Kapitel DER GEOMETRISCHE RAUM a. Das Ineinandergreifen der Probleme Die Kategorialanalyse des Raumes muß gesondert von der der Zeit vorgenommen werden, weil die in manchen Zügen bestehende Parallelität von Raum und Zeit nicht weit genug reicht, um ihre Besonderheiten als bloße Abweichungen zu behandeln. Andererseits kann man die Problemgebiete auch nicht so weit trennen, daß die kategorialen Momente des einen nicht auch beständig in das andere hineinspielten. Die Probleme greifen unausgesetzt über, zeigen bei aller Verschiedenheit auch weitgehenden Gleichlauf und fordern von Schritt zu Schritt den Vergleich heraus. Damit muß im folgenden gerechnet werden. Etwas Ähnliches gilt vom Verhältnis zwischen Realraum, Anschauungsraum und idealem (geometrischen) Raum. Man muß sie in der Untersuchung voneinander trennen, weil hier ein Sphärenunterschied zugrunde liegt, ontologisch also ein Unterschied der Seinsweise. Dennoch kann man

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ihre Struktur nur fassen, indem man sie ständig gegeneinander hält; es gibt hier keinen anderen Anhalt für die inhaltliche Analyse als den Vergleich. Und so muß denn fortlaufend vieles vorweggenommen werden, was sich erst hinterher zureichend aufweisen läßt. Aus methodologischen Gründen läge es am nächsten, mit dem Anschauungsraum zu beginnen, schon weil die Tradition der Kantischen Philosophie auf diesem Wege vorgearbeitet hat. Man käme dabei rückwärts auf den Realraum hinaus, bei dem die ontologisch zentralen Aufschlüsse liegen. Teils aber bringt das eine sachliche Erschwerung mit sich, weil der Realraum die einfachere, der Anschauungsraum die kompliziertere Kategorie ist (er ist Kategorie des seelischen und geistigen Seins), teils auch schiebt sich zwischen beide das Phänomen des geometrischen Raumes ein, welches einer Sonderbehandlung bedarf und kategorial einfacher ist als jene beiden. Der geometrische Raum nämlich steht noch diesseits des ontischen Gewichts der Realprobleme und natürlich erst recht diesseits der Bewußtseinsprobleme. Er stellt also das Raumphänomen in seiner einfachsten und am wenigsten metaphysisch belasteten Form dar. Zugleich aber ist er die am besten zugängliche Gestalt des Raumes, weil der ganze Apriorismus der Geometrie sich auf ihn erstreckt. Er teilt eben den Vorzug aller idealen Gegenstände, der unmittelbaren inneren Schau greifbar zu sein. Da er aber gleichzeitig sich mit seinen Strukturgesetzen weit und beherrschend in die reale Welt hinein erstreckt, so bildet er auch den natürlichen Zugang zur weiteren Analyse des Realraumes. Aus diesem Grunde soll hier vom geometrischen Räume ausgegangen werden. Erschwert ist dieser Ausgang durch die Verwürfelung kategorial verschiedener Gestalten des Raumes, die aus der Geschichte des Raumproblems stammt und mit bloßer Sachklärung nicht zu überwinden ist, sondern einer Umorientierung des Denkens und aller einschlägigen Begriffe bedarf. Die Geometrie des Euklid unterschied nicht zwischen Realraum und geometrischem Raum; von einem Anschauungsraum vollends wußten die Alten nichts. Und als der Gedanke eines solchen in der Neuzeit auftauchte und sich von Hobbes über Leibniz zu Kant immer klarer herausarbeitete, da ging die gedankliche Tendenz dieser Entdeckung doch nicht auf Unterscheidung vom Realraum, geschweige denn vom geometrischen Raum, sondern auf die Einschmelzung aller seienden Räumlichkeit in die Raum-„Vorstellung". Das Resultat dieser Entwicklung liegt in der These Kants von der transzendentalen Idealität des Raumes vor. Diese schließt keineswegs allen Realraum aus, schreibt aber demselben Räume, der hinsichtlich der Erscheinungen „empirische Realität" hat, die transzendentale Bestimmung zu, bloße Form der Anschauung zu sein. Und wiederum diese selbe Form der

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Erster Teil. 2. Abschnitt

Anschauung ist es, auf die er in der „transzendentalen Erörterung" die Gültigkeit der geometrischen Urteile zurückführt. b. Die Mehrzahl der geometrischen Räume Kant und seine Vorgänger kennen also durchaus nur einen Raum, obgleich die Verschiedenheit der Problembereiche, in die er den Phänomenen nach aufgeteilt ist, ihnen nicht unbekannt ist. Diese Einheit des Raumes ist indessen bei ihnen nicht als ausdrückliche Setzung oder Behauptung — etwa als Identitätsthese — zu verstehen, sondern bloß negativ, als Fehlen der Unterscheidung. Es finden sich dafür auch keinerlei Begründungen, die erst zu widerlegen wären. Bei Kant, wo das ganze Problem erstmalig spruchreif wird, liegt der Grund der mangelnden Unterscheidung natürlich in der idealistischen Voraussetzung. Hat man vorweg entschieden, daß die Dinge im Räume nur Erscheinungen sind, so kann man der Folgerung, daß der vermeintliche Realraum nur Anschauungsform sei, gar nicht mehr entgehen. Für einen Idealraum daneben bleibt dann aber erst recht kein zwingender Grund mehr übrig. Man muß also die Unterscheidung neu einführen und von der Sachlage selbst aus begründen. Dafür sind zwei Argumente bestimmend. Das erste ist dieses, daß der geometrische Raum nicht ein einziger ist. Kant hatte in der metaphysischen Erörterung den Raum als den „einigen" bestimmt. Das soll heißen: es gibt nur einen Raum, nicht mehrere, und was wir „Räume" nennen, sind nur Teile eines Raumes. Diese Bestimmung trifft unumstößlich auf den Anschauungsraum zu, weil er eindeutig vom Euklidischen Typus ist. Sie trifft in etwas anderem Sinne auch durchaus auf den Realraum zu; denn der Raum, in dem die reale Welt sich ausdehnt, kann natürlich nicht zugleich von zweierlei oder mehrerlei Typus sein. Das wäre widersprechend. Nur daß wir hier nicht a priori angeben können, von welchem Typus er ist. Denn gibt es überhaupt mehrere Typen des Raumes, so brauchte er ja nicht von demselben Typus zu sein wie der Anschauungsraum. Aber auf den geometrischen Raum trifft die Kantische Bestimmung jedenfalls nicht zu. Geometrisch ist der Euklidische Raum nur einer von vielen Raumtypen. Ein Idealraum kann z.B. mehr als drei Dimensionen haben; ein n-dimensionaler Raum ist mathematisch durchaus möglich. Und da in der idealen Seinssphäre das Mögliche auch unmittelbar wirklich ist (ideale Wirklichkeit hat), so ist er ein geometrisch ebenso bestehender Raum wie der Euklidische (vgl. M. u. W., Kap. 40 d, 41 a, b). Nur seine Gesetze werden in wesentlichen Stücken anders ausfallen. Außerdem können die Dimensionen des geometrischen Raumes „gekrümmt" sein. Die Geometrie spricht dann vom

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elliptischen oder vom hyperbolischen Räume, je nachdem, von welcher Art die Krümmung ist. Jeder dieser Raumtypen hat sein besonderes System von Axiomen, und in jedem zeigen auch die Figuren eine andere Gestalt und andere Gesetzlichkeit. Von dieser Mannigfaltigkeit geometrischer Räume aus gesehen, ist der Realraum nur ein Spezialfall; und ebenso ist auch der Anschauungsraum nur ein Spezialfall. Zu bemerken ist hierzu freilich, daß die Überlegung, die dieser Typenmannigfaltigkeit zugrunde liegt, eine bloß mathematisch-apriorische ist und, philosophisch betrachtet, nicht ohne Aporie dasteht. Die wichtigste dieser Aporien besteht darin, daß zum Wesen einer Krümmung schon Dimensionen gehören, „in denen" das Krumme gekrümmt ist, d. h. von der Gerade abweicht. Sollen nun die Dimensionen des Raumes selbst gekrümmt sein, so muß es notwendig andere Dimensionen geben (mindestens zwei, „in denen" sie gekrümmt sind. Und dann ist nicht einzusehen, warum nicht vielmehr diese letzteren die eigentlichen Dimensionen des Raumes sein sollten. Sie ihrerseits dürften nicht wiederum gekrümmt sein, sonst liefe die Aporie auf einen regressus infinitus hinaus. Offenbar kann man sich dieser Schwierigkeit nicht dadurch entziehen, daß man die „Gerade" im elliptischen Räume als gekrümmt definiert. Denn die Definition selbst schließt schon die Beziehung auf andere Dimensionen ein, „in" denen die „Gerade" schon gekrümmt sein müßte. Es ist wohl bekannt, daß die Mathematik selbst Konsequenzen dieser Art nicht zieht: sie führt ein Krümmungsmaß ein, ohne neue Dimensionen anzunehmen. Ihre Ansprüche gehen eben gar nicht auf eine kategoriale Rechtfertigung ihres Tuns. Ihr genügt die innere Widerspruchslosigkeit der Formeln. Der Kategorialanalyse genügt diese nicht. Sie muß die Aporien der Voraussetzungen selbst verfolgen und zu entwickeln suchen; anders würde auch sie bei mathematischen Bestimmungen stehen bleiben und nicht bis auf das Wesen des Raumes selbst durchdringen. Die Sache ist keineswegs die, daß Dimensionen jener zweiten Ordnung, „in denen" die Raumdimensionen gekrümmt wären, ihrerseits durchaus von Euklidischer Art, also „gerade", sein müßten. Vielmehr ist der ganze Unterschied von „gerade und krumm" ein sekundärer, der nur innerhalb eines vorausgesetzten Dimensionssystems bestehen kann (resp. einen kategorial eindeutigen Sinn hat). „Gerade" bedeutet dann das Gleichbleiben der Richtung in diesem Dimensionssystem, „krumm" die Abweichung der Richtung. Die Konsequenz ist die weiter unten gezogene, daß Dimensionen selbst im strengen Sinne weder gerade noch krumm sein, noch sonst irgendwelche räumliche Gestalt haben können, weil sie vielmehr die kategorialen Bedingungen möglicher räumlicher Gestalt sind. Sie müßten sonst ihre «igenen kategorialen Bedingungen sein; was entweder sinnwidrig oder

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nichtssagende Tautologie ist. — Daß man diese Schwierigkeit rein definitorisch umgehen kann, ist mathematisch wohlbekannt und ein geläufiger Trick. Dem Seinsproblem des Raumes aber ist damit nicht gedient. Es wird nur verdeckt, statt offen aufgerollt zu werden. — Andererseits, daß der Lichtstrahl im Weltenraum elliptisch oder hyperbolisch gekrümmt verlaufen könne, wird dadurch keineswegs bestritten. Es ist nur eben etwas ontologisch gänzlich anderes, ob die Lichtbahn „im" Räume oder die Dimensionen „des" Raumes selbst gekrümmt sind. Zu verweisen ist hierzu auf das oben im Kapitel l d und 4 a Gesagte. Dimensionen sind kategorial weder Ausmessungen noch das Ausmeßbare, desgleichen weder Ausdehnung noch Ausgedehntes; das alles kann es vielmehr nur „in ihnen" (d. h. „im Räume") geben. Sondern sie sind die letzten Substrate möglicher Ausdehnung und Ausmessung, sind das, was Ausdehnung des Ausgedehnten und Ausmessung des Meßbaren erst möglich macht. Jede andere Fassung verdinglicht ihr Wesen. Darum können sie auch keine räumliche Gestalt haben, können weder krumm noch gerade sein. Alles Gestaltete ist schon etwas „im Räume"; bei den Dimensionen aber handelt es sich um das Wesen des Raumes selbst. Dieses kann also selbst nicht wieder ein räumliches sein, also auch kein räumlich gestaltetes. Den Raum durch räumliche Gestaltung charakterisieren, den Dimensionen Krümmung oder Geradheit zuschreiben, bedeutet Verwechselung des Bedingten mit der Bedingung, ein einfaches . Wendet man dagegen ein, daß es sich bei der „Raumkrümmung" doch nur um ein Verhältnis der Metrik handelt, das als solches auch ohne dimensionale Hilfshypothesen sich darstellen läßt (rep. sich „definieren" läßt), so ist damit vielmehr zugegeben, daß es sich nicht um die Raumdimensionen selbst handelt, sondern nur um die in ihnen spielenden Messungsverhältnisse. Ob aber diese selbst auch kategorial faßbar sind ohne ein dahinterstehendes Dimensionssystem, kann niemals von einer bloß defmitorischen Basis aus entscheidbar sein. Die Vielzahl der Raumtypen kann freilich durch Berufung auf diese Aporie nicht aufgehoben werden. Einerseits kann die mathematische Überlegung es auf ein ungelöstes kategoriales Problem wohl ankommen lassen; es gibt deren ja noch andere, mit denen sie es nicht aufnimmt, obgleich sie selbst sie heraufbeschwört. Und andererseits wird die Krümmung der Dimensionen durch Rückführung auf andere Dimensionen ja nicht aufgehoben, sondern eher noch fundiert. Daß aber die verallgemeinerte Geometrie dann bei sekundären Raumtypen steht, tut weder ihrer Konsequenz noch dem idealen Seinscharakter ihres Gegenstandes Eintrag.

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c. Seinsweise und Zwischenstellung des geometrischen Raumes Das andere Argument für die Besonderheit des geometrischen Raumes ist ein ontologisches und liegt in seinem Verhältnis zur Raumanschauung einerseits, zum Realraum andererseits. Er teilt also die Stellung alles idealen Seins: er muß einen Seinscharakter haben, weil seine Gesetze sich sonst überhaupt nicht auf den Realraum erstrecken könnten, und folglich auch nicht auf Gegenstände im Realraum; und er muß doch zugleich die Nahstellung zum Bewußtsein haben, also von anderer Seinsweise sein als der Realraum, weil er mitsamt seiner Gesetzlichkeit sonst nicht Gegenstand unmittelbar gewisser apriorischer Erkenntnis, d. h. nicht Gegenstand mathematischer Erkenntnis sein könnte (vgl. Grundlegung, Kap. 41—45). Die apriorische Gewißheit der geometrischen Sätze betrifft keineswegs bloß den Euklidischen Raum, sondern ebensosehr den elliptischen Raum und alle weiteren Raumtypen. Sie geht also schon darum nicht auf die Raumanschauung allein zurück, wie Kant lehrte, denn anschaulich ist nur der Euklidische Raum. Sie beruht auf einem unmittelbaren Erfaßbarsein der Raumverhältnisse, das von anderer Art ist als die der äußeren Wahrnehmung zugrunde liegende Raumanschauung. Man kann dieses Erfaßbarsein wohl als ein intuitives bezeichnen, muß aber dann diese Intuition auch als eine solche höherer Ordnung verstehen. Nur bei solcher Fassung des geometrischen Raumes ist Geometrie eine wirkliche Wissenschaft: nämlich echte Erkenntnis von etwas, was auch ohne sie und unabhängig von ihr besteht. Denn das ist das allgemeine Wesen von Erkenntnis — im Unterschiede von bloßem Denken, Urteilen, Vorstellen —, daß ihr Gegenstand in seinem Gegenstandsein für sie nicht aufgeht, sondern ein übergegenständliches Sein hat. Dieses unabhängige Bestehen des geometrischen Raumes (auch wo er nicht zum Gegenstand eines Auffassens gemacht wird) ist eben sein Seinscharakter. Versteht man ihn anders, etwa als bloß in der Vorstellung oder in Gedanken bestehend, so ist er mitsamt dem ganzen Reichtum der geometrischen Figuren und Gesetze eine Ausgeburt des Bewußtseins. Dann aber ist die Geometrie nicht Erkenntnis, sondern bloßes Spiel des Bewußtseins mit seinen eigenen Erzeugnissen und hat nicht den Wert einer Wissenschaft. An der eigenartigen Zwischenstellung des geometrischen Raumes zwischen dem Anschauungsraum und dem Realraum ist es nicht die Seite der Nahstellung zum Bewußtsein, sondern die seines idealen Seinscharakters, die immer wieder verkannt worden ist. Es muß deswegen hier der Nachdruck auf sein Verhältnis zum Realraum gelegt werden. Dieses Verhältnis besteht in der Gültigkeit der geometrischen Gesetze für die im Realraum sich ausbreitenden Dinge und Dingverhältnisse. Wäre der geometrische Raum nichts als Bewußtseinsprodukt, so wäre solche Gültigkeit vollkom-

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men unverständlich: sie könnte dann gar nicht bestehen, oder sie müßte schon ein Wunder sei. Nun aber besteht sie genau ebenso zu recht wie etwa die Gültigkeit der Fundamentalkategorien für die reale Welt. Denn die Berechnungen, die wir auf Grund der reinen Geometrie für reale Gegenstände durchführen, bestätigen sich in der Erfahrung; exakte Naturwissenschaft und Technik beruhen auf ihnen, und selbst, wo in dieser Praxis Fehler auftreten, belehrt uns die Nachprüfung, daß der Irrtum nicht in der Anwendung geometrischer Theoreme, sondern in der Ungenauigkeit der empirischen Messung liegt. Das ist nur möglich, wenn der ideale Raum dem lealen schon zugrunde liegt. Dem tut auch die Mehrheit geometrischer Räume keinen Eintrag. Freilich kann nur einer von ihnen auf die realen Raumverhältnisse zutreffen. Aber das eben genügt ja auch vollkommen, um den idealen Seinscharakter des geometrischen Raumes zu erhärten. Denn alles ideale Sein ist bloß unvollständiges Sein; und diese Unvollständigkeit bedeutet nichts anderes als die größere Allgemeinheit. Die Mehrheit der geometrischen Räume ist daher selbst nichts anderes als die Vielheit der parallelen Möglichkeiten, die stets das Allgemeine gegenüber dem Speziellen hat. Es sind denn auch keine Realmöglichkeiten (deren gibt es stets nur eine), sondern bloße Wesensmöglichkeiten (vgl. M. u. W., Kap. 40 und 41). d. Die ersten kategorialen Momente des idealen Raumes Hiermit sind die Grundbestimmungen des geometrischen Raumes zutage gekommen, die seine Stellung und Seinsweise betreffen. Alles weitere betrifft seine strukturellen, eigentlich kategorialen Momente. Solcher Momente sind sehr viele, wenn man alle mit dazu rechnet, die der ideale Raum mit dem realen teilt, zumal wenn man auch die der in ihm wiederkehrenden Fundamentalkategorien einbezieht. Von den letzteren sollen hier nur die wichtigsten aufgezählt werden — diejenigen, die erst am Raum zu ihrer vollen Entfaltung kommen —, von den ersteren aber nur diejenigen, die für das Gemeinsame verschiedener geometrischer Räume gelten können. Einige davon sind so fundamental, daß sie selbstverständlich wirken und keines Wortes zu bedürfen scheinen. Daß sie nicht selbstverständlich sind, tritt erst im Vergleich mit dem Anschauungsraum zutage. 1. Der ideale Raum ist reines Dimensionssystem; genauer: System von Dimensionen extensiver Größe (vgl. Kap. 4 b, c). Das besagt, daß eine Dimension noch keinen Raum macht. Erst mit zwei Dimensionen beginnt die Räumlichkeit. Raum ist das Spielfeld mehrdimensionaler Mannigfaltigkeit von Formen, Lageverhältnissen und deren Variationen. Solange keine anderen als diese rein räumlichen Verhältnisse hineinspielen, handelt es sich um den idealen oder geometrischen Raum. Die Mehrheit der geome-

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irischen Räume ändert an dieser Grundbestimmung nichts. Ihre Verschiedenheit beruht nur auf der Anzahl und Gestalt der Dimensionen. Reines Dimensionssystem überhaupt ist jeder dieser Räume. 2. Der ideale Raum ist homogen. Er unterscheidet sich nicht in seinen Teilen. Er ist also kein Stellensystem, wie manchmal behauptet worden ist. In einem Stellensystem müßten sich die Stellen als solche voneinander unterscheiden. Im idealen Räume gibt es solche Unterschiede nicht. Alle Unterscheidung der Raumstellen (örter) ist schon relativ auf etwas, was selbst seine Stelle im Räume einnimmt. Auch alle Koordinatensysteme im Räume sind von ihm aus willkürlich, resp. durch räumliche Gebilde bestimmt, die ihn erfüllen. 3. Der ideale Raum ist stetig. Er bildet in allen Richtungen, die in seinen Dimensionen möglich sind, ein einziges durchgehendes Continuum. Darauf beruht es, daß man ihn beliebig teilen, aber nicht in kleinste Teile auflösen kann. Er ist ins Unendliche teilbar. Die Grenze dieser Teilung ist das Ausdehnungslose, der Punkt. Hier ist es wichtig, sich des Unterschiedes von Ausdehnung und Räumlichkeit zu erinnern. Der Punkt nämlich ist zwar unausgedehnt und nimmt keinen Raum ein; er hat deswegen aber doch sehr wohl seine Stelle im Räume, nämlich die vollkommen eindeutige Lagebestimmtheit im Verhältnis zu anderen Raumpunkten. Der Punkt also ist, obschon inextensiv, gleichwohl etwas Räumliches. 4. Der ideale Raum ist unbegrenzt. Es liegt im Wesen seiner Dimensionen, daß man in ihnen an kein Ende kommt. Vom Euklidischen Räume ist das ohne weiteres verständlich, weil hier das Immerweitergehen der Dimensionen keiner Richtungsänderung unterliegt. Beim hyperbolischen Räume folgt es gleichfalls aus dem Gesetz der Krümmung (d. h. der Richtungsänderung selbst). Beim elliptischen Räume scheint es anders zu sein, weil die Ellipse in sich selbst zurückläuft. Aber auch hier ist das Immerweitergehen als solches nicht begrenzt, denn das Zurückgelangen zum Ausgang ist nicht Begrenzung. Man sagt daher, ein solcher Raum sei wohl unbegrenzt, aber nicht unendlich. Diese Bestimmung jedoch stößt auch nicht bis auf das Wesen der Sache durch. Denn erwägt man, daß gekrümmte Dimensionen andere, fundamentalere Dimensionen voraussetzen, „in" denen sie gekrümmt sind, so besteht kein Grund, den elliptischen Raum für bloß unbegrenzt zu erklären; er ist vielmehr insofern ebenso unendlich wie andere Typen des geometrischen Raumes. 5. Andererseits ist er auch wiederum nicht unendlich. Vielmehr hat der ideale Raum überhaupt keine Größe. Und sofern Unendlichkeit immer noch eine Qualitätsbestimmung ist, trifft auch sie nicht streng auf ihn zu. Endlich oder unendlich kann streng genomen nur „etwas im Raum" sein, nämlich ein sich in ihm „Ausdehnendes". Der Raum selbst kann es nicht,

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und am wenigsten wohl der geometrische. Er ist eben kein Ausgedehntes, sondern nur das System der Dimensionen, „in" denen etwas sich ausdehnt, „in" denen also es auch endlich oder unendlich sein muß. Räumliche Größe überhaupt ist nicht Größe des Raumes, sondern „Größe im Räume". 6. Darum gibt es auch keine Grenze des Raumes, sondern nur Grenzen „im" Räume. Alle räumlichen Grenzen sind Grenzen im Räume. Und darum gibt es auch nicht Anfang, Mitte und Ende „des Raumes", sondern nur des bestimmt-großen Ausgedehnten im Räume. Sofern von jedem Punkte aus die Dimensionen unbegrenzt nach allen Richtungen fortlaufen, läßt sich vielmehr jeder Punkt im Räume als Mitte auffassen. Was auf dasselbe hinausläuft, wie daß der Raum keine Mitte hat. 7. Der ideale Raum gibt von sich aus auch kein Größenmaß her. Er bestimmt wohl die „Art" des Maßstabes, sofern diese an der Art der Dimension hängt. Aber es gibt keinen aus seinem Wesen ableitbaren Maßstab der räumlichen Größe. Der Raum als solcher ist das an sich Maßlose. Bei einem reinen Dimensionssystem kann es nicht anders sein. Und eben darum läßt er jeden beliebigen Maßstab, auch den zufälligsten und subjektivsten zu, wenn er nur der Art nach ein Größenmaß seiner Dimensionen ist. Nur das Ausgedehnte kann ein Maß hergeben. Der Raum aber ist nicht ausgedehnt. Darum ist relativ auf den Raum selbst kein räumliches Gebilde groß oder klein — und wenn es auch menschlich gesehen von extremer Größenordnung ist —, es kann vielmehr groß oder klein nur relativ auf andere im selben Räume ausgedehnte Gebilde sein. e. Weitere kategoriale Momente des idealen Raumes Unter den aufgeführten Punkten spricht nur der erste vom Dimensionssystem. Die weiteren Punkte setzen dieses wohl voraus, entwickeln es aber nicht weiter. Es bedarf nun seiner genaueren Bestimmung. Denn ein Dimensionssystem kann von verschiedener Art sein. Dazu muß vor allem das Verhältnis der Dimensionen zueinander näher bestimmt werden. 1. Die Dimensionen des idealen Raumes sind gleichartig. Man kann sie miteinander vertauschen. Der geometrische Raum ist also nicht nur in sich homogen, sondern auch seine Dimensionen sind homogen. Was das bedeutet, davon macht man sich am leichtesten eine Vorstellung, wenn man an das vierdimensionale Raum-Zeitsystem denkt, in dem eine Dimension mit den ändern drei nicht gleichartig und nicht vertauschbar ist. Desgleichen heben sich davon die durchweg heterogenen Dimensionen der intensiven Größe ab (des Gewichts, des Drucks, der Geschwindigkeit usf.), von denen dennoch viele ein durchaus in sich zusammenhängendes Dimensionssystem bilden. Die Raumdimensionen sind einander derartig gleich, daß man sie

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nicht einmal unterscheiden kann, wenn man sie nicht auf ein inhaltlich fixiertes Koordinatensystem bezieht. Aber jedes fixierte Koordinatensystem ist vom Räume selbst aus willkürlich und ihm äußerlich. Nur daß es mehrere Dimensionen und in jedem Raumtypus bestimmt-viele sind, sowie daß sie trotz ihrer Gleichartigkeit nie zusammenfallen, gehört zum Wesen des Raumes. Das gilt ebenso vom Euklidischen wie von jedem anderen Raumtypus. 2. Darauf beruht es, daß der geometrische Raum in sich „isometrisch" ist. Derselbe Maßstab, der in einer Dimension gilt, paßt auch auf die anderen Dimensionen. Daß alle räumlichen Maßstäbe willkürlich sind, ändert daran nichts. Die Isometrie des Raumes beruht ja nicht auf der zum Maßstab gewählten Größe, sondern auf der Gleichartigkeit der Dimensionen und ihrer Gleichgültigkeit gegen den gewählten Maßstab. Die Folge der Isometrie ist, daß eine geometrische Figur, einerlei ob flächen- oder körperhaft, sich im Räume beliebig drehen und wenden läßt, ohne ihre Gestalt zu verlieren. Wären die Dimensionen nicht ausmessungsgleich, so müßte sich bei der leisesten Drehung die Gestalt verändern, denn die in bestimmter Richtung gemessenen Größen könnten in veränderter Richtung nicht dieselben sein. 3. Das affirmative Verhältnis der Dimensionen läßt sich geometrisch als ein Senkrechtstehen aufeinander bezeichnen. Das hierbei verwandte Bild ist zwar von der Winkelmessung hergenommen, setzt also dasselbe Verhältnis der Dimensionen, welches bestimmt werden sollte, schon voraus. Aber da es kein vergleichbares Verhältnis außerräumlicher Art gibt, das zur Charakteristik herangezogen werden könnte, so ist es der legitime Weg, das Richtungsverhältnis der Dimensionen durch das auf ihm beruhende anschauliche Bild des rechten Winkels auszudrücken. Der rechte Winkel ist eben deswegen der prototypische und gleichsam bevorzugte Winkel — zugleich die natürliche Grundlage aller weiteren Winkelteilung — weil er der unmittelbare Ausdruck des Richtungsverhältnisses der Raumdimensionen ist. Will man dieses Verhältnis unter Vermeidung der Rechtwinkligkeit charakterisieren, so kann man es von seiner Konsequenz her bestimmen: das Verhältnis der Dimensionen ist so, daß sich ein Punkt in einer Dimension allein verschieben läßt, ohne zugleich in den anderen verschoben zu werden. Was bei solcher Verschiebung entsteht, ist das geometrisch einfachste Gebilde, die gerade Linie. Und sie ist das einfachste, weil sie nur in einer Dimension ausgedehnt istJDas ist in einem Dimensionssystem an sich nicht selbstverständlich. Es ist vielmehr nur möglich, wo die Dimensionen aufeinander senkrecht stehen. Hiermit hängt es zusammen, daß die Dimensionen des idealen Raumes 6 Hartmann, Philosophie der Natur

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Erster Teil. 2. Abschnitt

zwar eindeutig aufeinander bezogen sind, aber nicht so, daß sie unaufhebbar aneinanderhingen und sich gegenseitig notwendig involvierten. Die Planimetrie ist dafür der beste Beleg. Die zweidimensionalen Figuren der Ebene bilden eine ganze Formenmannigfaltigkeit mit einer Fülle von Gesetzen, ohne daß die dritte Dimension in sie hineinspielte. Dasselbe gilt von den Streckenverhältnissen innerhalb einer Geraden, die auch eine Mannigfaltigkeit, wiewohl eine weit einfachere, bilden. Diese Bestimmungen gelten nicht nur vom Euklidischen, sondern mutatis mutandis von jedem geometrischen Raumtypus. 4. Das Dimensionssystem des idealen Raumes ist kein Koordinatensystem. Es hat zwar, geometrisch dargestellt, die Form eines solchen, und namentlich könnte die Rechtwinkligkeit des Aufeinanderstehens hier zur Verwechselung verführen. Aber in Wahrheit ist es doch etwas von Grund aus anderes. Ein Koordinatensystem hat seinen bestimmten Nullpunkt, in dem die Koordinaten zusammenlaufen, resp. von dem sie ausgehen, und diese selbst haben ihre bestimmte Lage im Räume, laufen in bestimmter Richtung fort. Von alledem ist in einem Dimensionssystem keine Rede. Als Schnittpunkt der Dimensionen kann jeder beliebige Raumpunkt gelten, und als ihre Lage oder Richtung im Räume läßt sich keine der unendlich vielen möglichen Lagen und Richtungen bezeichnen. Es gibt eben im idealen Räume keine bevorzugten Richtungen (wie etwa im Anschauungsraum) und keine bevorzugten Punkte. Und ebensowenig gibt es in ihm eine bevorzugte Lage. Dimensionen sind überhaupt keine Koordinaten. Es können auf sie keine Abstände bezogen sein. Koordinaten bilden ein Grundliniensystem „im" Räume, relativ auf welches die Lage von Punkten im Räume sich bestimmen läßt. Wenn sie aber selbst etwas „im" Räume sind, und der Raum das Dimensionssystem ist, so bedeutet das, daß Koordinatensysteme etwas „im" Dimensionssystem sind, also dieses schon als ihre Bedingung voraussetzen. Darum kann das Dimensionssystem kein Koordinatensystem sein. Es ist damit ähnlich wie mit aller Größe und allem Maßstab im Räume: wie der Raum selbst kein Maß des Extensiven hergibt, sondern nur die Art des Maßes bestimmt, so gibt er von sich aus auch kein Koordinatensystem her, sondern bestimmt nur die Art der in ihm möglichen Koordinatenund Bezugssysteme. Aber eben darum ahmen die einfachen Koordinatensysteme das Senkrechtstehen der Dimensionen aufeinander nach. Und darauf beruht es, daß die Beziehung der Dimensionen zueinander sich am einfachsten im Bilde der Koordinaten ausdrücken läßt. Aber der bestimmte Nullpunkt, die Lage und Richtung der Koordinaten kehren an ihnen nicht wieder. Alle solche Bestimmtheit ist vom Dimensionssystem aus willkürlich und ihm gänzlich

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äußerlich. Wie denn auch praktisch jedes Bezugssystem im Räume von irgendwelchen inhaltlichen Gebilden hergenommen werden muß. /. Folgerungen aus den getroffenen Bestimmungen Von hier aus lassen sich bereits gewisse Folgerungen über das Wesen des Raumes ziehen, obgleich im Obigen direkt nur vom geometrischen Räume die Rede war. Denn die meisten der getroffenen Bestimmungen überschreiten den Idealraum und erstrecken sich mit auf den Realraum. Die Folgerungen aber erleuchten und ergänzen die kategorialen Grundmomente, ohne doch mit ihnen gleich fundamental zu sein. 1. Eine wohlbekannte Darstellungsweise der Geometrie läßt den Raum vom „Puntke" aus in drei Stufen entstehen: durch Bewegung des Punktes entsteht die Linie, durch Bewegung der Linie die Fläche, durch Bewegung der Fläche der Körper. Bei einem mehr-als-dreidimensionalen Räume kann man so fortfahren bis zur -ten Dimension. Anschaulich ist das Verfahren nur bis zur dritten Dimension. Als bloße Verbildlichung ist es einwandfrei; es wird aber schief, wenn es beansprucht, eine Art zeitloser Genesis des Raumes zu geben, oder selbst nur seine kategorialen Momente zu entwickeln. Wieviel mannigfaltiger die letzteren sind, haben die obigen Punkte gezeigt; und was die Genesis anlangt, so ist die Voraussetzung irrig, daß der Punkt das ontische prius vor der Linie, die Linie das vor der Fläche usf. habe. Nicht die isolierte Einzeldimension ist hier primär, auch nicht das nur in ihr Ausgedehnte, geschweige denn das Unausgedehnte im Räume (der Punkt). Primär ist vielmehr gerade das ganze Dimensionssystem, sowie die Bezogenheit von Fläche, Linie und Punkt auf die mehrdimensionale Ausdehnung in ihm. Jede Fläche, einerlei wie sie gelegen ist, hat schon eine Lage im Räume, jede Linie eine Lage in der Fläche, jeder Punkt eine Stelle in der Linie. Die Geometrie kann davon zu bestimmten Zwecken abstrahieren; aber sobald sie etwas bildhaft demonstriert, macht sie von dieser Rückbezogenheit schon Gebrauch. Sie kann kein Dreieck zeichnen, ohne eine im Räume bestimmt gelagerte Ebene zugrundezulegen (die der Tafel oder die des Papiers); sie erfüllt damit stillschweigend das Gesetz der Einbeziehung in das ganze Dimensionssystem, indem sie willkürlich gewählte Koordinaten benutzt. Dasselbe gilt natürlich von der Beschränkung auf zwei Dimensionen bei den planimetrischen Figuren. Die Beschränkung ist ontologisch sekundär und besteht nur in der Abstraktion. Was nicht bedeutet, daß diese nicht geometrisch berechtigt wäre. 2. Neben das Moment der Ausdehnung im Räume tritt als zweites, gleich fundamentales, das der „Richtung im Räume". Diese beiden Momente sind streng aufeinander bezogen: alle Ausdehnung hat ihre bestimmte

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Erster Teil. 2. Abschnitt

Richtung im Räume, und in allen Richtungen gibt es Ausdehnung. Die Mannigfaltigkeit der Richtungen im Räume bildet aber eine aktuale Unendlichkeit (zweiter Mächtigkeit). Das beruht auf der einfachen Mehrheit und dem Senkrechtstehen der Dimensionen: in einer Dimension gibt es nur eine Richtung, in zweien schon unendlich viele, und mit jeder hinzukommenden Dimension potenziert sich diese Unendlichkeit. Dabei überträgt sich die Homogenität und Isometrie der Dimensionen auch auf die Mannigfaltigkeit der in ihnen möglichen Richtungen. 3. Die Unendlichkeit der Richtungen hat aber außer der Mehrzahl der Dimensionen und ihrer Gleichartigkeit noch eine zweite Voraussetzung, die gleichfalls im Verhältnis der Dimensionen zueinander wurzelt: den stetigen Übergang der Richtung von einer Dimension in die andere. Anschaulich stellt sich dieser stetige Übergang als „Drehung" dar. Charakteristisch für die Drehung ist, daß sie stets auf eine Achse im Räume bezogen ist, die selbst ihre bestimmte Lage und Richtung hat. Dadurch ist auch die Richtungsänderung, in der die Drehung besteht, in einer bestimmten Ausgerichtetheit festgehalten, nämlich in der Beschränkung auf eine Ebene im Räume. Deswegen gibt es im zweidimensionalen Räume nur „eine" Drehung; denn dieser Raum besteht nur in einer Ebene, und die Achse der Drehung erscheint als Punkt. Im dreidimensionalen Räume greifen bereits drei Drehungsebenen ineinander, die ein geschlossenes System möglicher Richtungsübergänge bilden. Doch dieses ist nur ein Grundschema. Denn da die Drehungsachsen selbst der kontinuierlichen Richtungsänderung im stetigen Übergange von einer Dimension zur anderen unterliegen, so wird auch die Anzahl der Drehungsebenen im dreidimensionalen Räume bereits eine aktual unendlich große (und zwar von demselben Mächtigkeitstypus wie die der Richtungen). 4. Indem so Ausdehnung und Richtung im Räume zwei gleich fundamentale, gegeneinander selbständige, aber gleichwohl fest aneinander gebundene Formen der räumlichen Bestimmung bilden, wird es klar, daß es auch zwei ebenso verschiedene und nicht aufeinander zurückführbare Arten der Größe und des Maßes im Räume geben muß. Die eine Art ist durch das Moment der Ausdehnung genügend gekennzeichnet; die andere ist die der Richtungsverschiedenheit oder des Winkels. Das Winkelmaß ist etwas grundsätzlich anderes als das Längenmaß. Die Winkelgröße wächst nicht mit der Länge der Schenkel oder mit der Größe der Figur; und alle Abhängigkeit der linearen Größe von der Winkelgröße ist nur eine solche des Verhältnisses. Dem entspricht es, daß es im Räume zwei Arten partialer Identität gibt: die „Gleichheit" und die „Ähnlichkeit" der Figuren. Die erstere beruht auf Identität der Ausdehnung, die letztere auf Identität der Winkel. Der Ausdruck „Ähnlichkeit" für die letztere ist freilich un-

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genau; es handelt sich vielmehr um vollständige Formidentität bei verschiedenem Maß der Ausdehnung. 5. Das Maß der Ausdehnung potenziert sich mit der Anzahl der Dimensionen als Maß der Strecke, Fläche und des Volumens. Da die Dimensionen isometrisch sind, handelt es sich um Potenzen eines und desselben Längenmaßes. Für Maße dieser Art gilt der oben gebrachte Satz, daß der Raum selbst sie nicht hergibt, daß sie vielmehr willkürlich eingeführt werden müssen. Vom Winkelmaß gilt dieser Satz nicht: die Richtungsänderung im Räume hat ihr natürliches, vom Senkrechtstehen der Dimensionen aufeinander hergenommenes Maß im „rechten Winkel". Als Größe der Drehung verstanden, ist es der Quadrant, so benannt als vierter Teil der vollen Umdrehung. Die weitere Einteilung des Quadranten ist natürlich eine willkürliche; aber die Grundlage ist eine feste. g. Weitere Folgerungen und Ausblicke 1. Es ist oft behauptet worden, die Raumgrößen wären alle in Zahlverhältnisse auflösbar. Man hat solche Auflösung geradezu als Aufgabe der Mathematik verstehen wollen, weil die Berechenbarkeit von Größen den Umsatz in arithmetische Verhältnisse verlangt; und die analytische Geometrie schwebte als Mittel zur Erreichung dieses Ideales vor. Demgegenüber ist nicht zu vergessen, daß Berechnung nicht ein Schaffen oder Aufbauen der Größen ist, sondern nur ihr Faßbarmachen für das rechnende Bewußtsein. Die Raumgrößen selbst werden nicht aufgelöst, sondern bleiben bestehen. Sie als solche sind den Zahlen und Zahlverhältnissen durchaus heterogen; und diese lassen sich auf sie nur anwenden, weil die Dimension der Zahlenreihe so allgemein und inhaltsleer ist, daß sie sich auf jede besondere Dimension übertragen läßt. 2. Wie Ausdehnung und Winkelgröße nicht aufeinander reduzierbar sind, so sind erst recht beide nicht auf außerräumliche Verhältnisse reduzierbar. Was die Zahl ausdrücken kann, sind stets nur „Verhältnisse" von Größen, die innerhalb einer Art des Meßbaren liegen. Sie faßt also auch nicht den Raum selbst, sondern nur das Ausgedehnte „im" Räume. Und auch an diesem faßt sie nur das Maß Verhältnis; die Art des Maßes selbst kann sie weder ausdrücken noch ersetzen. Die Art des Maßes muß dem Zahlenausdruck vielmehr ausdrücklich beigefügt werden. Es ist eine irreführende Tendenz, räumliche Gestalten und Verhältnisse in irgend etwas Unräumliches auflösen zu wollen. Raum ist ein Letztes und Irreduzibles, ein echtes kategoriales Grundgebilde. Darum ist auch die Räumlichkeit des im Räume Ausgedehnten auf nichts weiter reduzierbar. 3. Es ist behauptet worden (z. B. von Hegel), der Raum sei das „Auseinander" der Gebilde, ein Prinzip der Trennung also und selbst die Ge-

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trenntheit alles dessen, was in ihm ist. Diese Bestimmung ist in zweierlei Hinsicht unzutreffend. Erstens ist alles räumlich Getrennte auch eindeutig räumlich verbunden und einer einzigen Raumordnung eingefügt. Diese Verbundenheit ist durch die Homogeneität und Stetigkeit der Dimensionen gewährleistet. Aller räumliche Abstand ist auch affirmativ räumliche Beziehung, was in ihrer meßbaren Größe ja auch klar zum Ausdruck kommt. Zweitens aber sind im idealen Räume die verschiedenen Raumgebilde keineswegs notwendig in verschiedenen Raumteilen: geometrische Körper durchdringen einander widerstandslos. Nur reale Körper können einander nicht durchdringen; aber auch das ist kein Gesetz des Raumes, sondern ein Gesetz der Materie. Kategorial ausgedrückt: die Undurchdringlichkeit ist eine Funktion des besonderen im Räume „Ausgedehnten", nicht des Dimensionssystems, „in" dem es ausgedehnt ist. 4. Andererseits ist der Raum auch nicht das reine „Beisammen" der in ihm verteilten Gebilde, etwa im Gegensatz zur Zeit als dem Außereinandersein (wie im Neukantianismus behauptet worden ist). Dieser Vergleich betrachtet das räumliche Zusammenbestehen als Gleichzeitigkeit (Simultaneität), die zeitliche Folge aber als Auseinandergerissensein, sieht also räumliche und zeitliche Ordnung beide unter dem Bilde der Zeit. Was für den Raum unzutreffend, für die Zeit aber tautologisch ist. Läßt man das schiefe Bild aus dem Spiele, hält man sich schlicht an die kategorialen Grundmomente des Raumes — denn von der Zeit zu reden ist hier verfrüht —, so stellt sich die Sachlage viel einfacher dar. Der Raum ist weder das reine Auseinander dessen, was in ihm ist, noch dessen reines Beisammen, sondern die gemeinsame dimensionale Bedingung des einen wie des anderen. Im Wesen eines Systems homogener Dimensionen extensiver Größe liegt es, daß alles in ihm Getrennte auch verbunden, alles in ihm Verbundene auch getrennt ist. Man kann den Raum weder durch Diskretion noch durch Kontinuität zureichend charakterisieren. Denn alle Dimensionalität — und am meisten die der extensiven Größe — ist bereits beides in eins.

6. Kapitel DER REALRAUM a. Sinn der Raumrealität Realraum ist der Raum, in dem die realen Dinge und Dingverhältnisse sind, die physisch-realen Geschehnisse sich abspielen, in dem auch das menschliche Leben verläuft, soweit sein Ablauf ein dinglich-naturhafter und an Naturverhältnisse gebundener ist, und zwar sowohl das individuelle

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als auch das geschichtlich-gemeinschaftliche Leben. Realraum ist ebensosehr Weltraum wie Lebensraum, Spielfeld kosmischer Körper und Kräfte wie Spielfeld menschlichen Schaltens und Waltens. Er ist der Raum des Existierenden, die Form und kategoriale Bedingung der Außenwelt. Die letztere Bestimmung ist vom Gegensatz zum Bewußtsein als einer Innenwelt hergenommen. Dieser Gegensatz verführt zwar zur falschen Vorstellung, als stünde und fiele die räumliche Welt mit ihrem Gegengliede, der raumlosen Innenwelt. Trotzdem ist der Gegensatz als solcher richtig gesehen, denn im Schichtenreich der realen Welt umfaßt die Realkategorie der Räumlichkeit nur die beiden niedersten Schichten. Vom Bewußtsein aufwärts hat sie keine Geltung mehr. Und da die Reflexion des Menschen auf sich selbst ihm die eigene Innenwelt als eine unräumliche zeigt, so ist die räumliche Realwelt in der Tat „für ihn" die Außenwelt. Daß diese Reflexion selbst sekundär ist und streng genommen erst in der philosophischen Überlegung auftritt, ändert hieran nichts. Was hier zugrunde liegt, ist die Zweiteilung der Welt in eine räumliche und eine unräumliche Mannigfaltigkeit, so wie sie Descartes einst überspitzt als Zweiheit der „Substanzen" formulierte. So ungleich die Zweiteilung sein mag, in der Realschichtenfolge besteht sie unabweisbar, und in der Tat ist der Raum das ausschlaggebende Moment, welches die Grenze zieht. Er zieht sie auch in der Weise, daß oberhalb des Organischen kein räumlich-extensives Auseinandersein und Bezogensein mehr vorkommt. Wohl setzt es sich in den mehrschichtigen höheren Gebilden als solchen fort, im Menschen, in der Gemeinschaft und ihrer Geschichte, nicht aber im seelischen und geistigen Sein als solchen, das in ihnen selbst nur die oberen Schichten ausmacht. Denn vom Bewußtsein aufwärts ist alle Koexistenz und alle Beziehung von anderer Art. Am Bestehen des Realraumes hängt darum in erster Linie das Problem von Idealismus und Realismus. Darum ist in der Neuzeit um Realität oder Irrealität des Raumes regelrecht gekämpft worden, wie sonst wohl nur um lebensnahe oder aktuelle Fragen gekämpft wird. Dieser Kampf beginnt lange vor Kant und erstreckt sich weiter über das ganze 19. Jahrhundert. Er ist in mancher Hinsicht lehrreich, am meisten vielleicht in seiner späten Phase. Das kann hier nicht verfolgt werden. Wichtig für das Kategorienproblem des Raumes ist hiervon nur, daß manche überkommene Unklarheiten sich dabei herausgestellt haben, die es zu überwinden gilt. Als Beispiel dafür sei hier die eine genannt: man sprach u. a. statt vom Bestehen oder der Realität des Raumes von seiner „Existenz" und suchte dann nachzuweisen, daß der Raum nicht „existieren" könne. Was natürlich leicht gelang. Denn freilich ist das Bestehen eines Realraumes nicht Exi-

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Erster Teil. 2. Abschnitt

stenz. Existenz ist ein beschränkter Seinsausdruck, der nur auf Dinge, Substanzen, Lebewesen, d. h. überhaupt nur auf relativ stationäre Realgebilde zupaßt. Schon bei Prozessen oder Geschehnissen ist der Ausdruck Existenz unzutreffend, obgleich sie genau so real sind wie jene. Bei allgemeinen Seinsbedingungen wird es völlig sinnlos, darum zu streiten, ob sie „existieren" oder nicht. Ihre Seinsweise ist von anderer Art. Der Raum — auch als Realraum verstanden — „existiert" durchaus nicht; er müßte ja sonst wie ein Ding neben anderen Dingen bestehen. Dinglichkeit aber ist das Letzte, das ihm zukommen könnte. Er ist ja vielmehr die allgemeine Bedingung des Dinglichen und des ausgedehnt Existierenden. Denn nur das in ihm Ausgedehnte existiert räumlich. Der Raum aber ist nicht ausgedehnt (vgl. oben Kap. 4 a, Kap. 5 d 5 u. 7). Wenn auch er „existierte", müßte er ja die Bedingung seiner selbst sein. Was keinen Sinn hat. Der Sinn der Raumrealität ist also ein anderer. Er ist derselbe wie der im Bestehen aller Realkategorien: er geht auf in ihrem Prinzipsein „für" Reales, also auch für real Existierendes. Kategorien haben kein anderes Sein als ihr Prinzipsein für ein Concretum (vgl. Aufbau, Kap. 43). Darum können sie nicht Existenz haben. Sieht man von der mißverstandenen Deutung der Raumrealität ab, so bleibt ein ganz schlichter Sinn übrig: Realität des Raumes ist die Bedingung, unter der räumliche Gebilde und Geschehnisse real sein können. Um der zentralen Bedeutung willen, die dieser Satz im Streit der Standpunkte hat, sei hier an den entscheidenden Zusammenhang erinnert. Daß es real Ansichseiendes gibt — und zwar auch solches, das nur in einer Außenwelt bestehen kann —, beweist die Analyse der transzendenten Akte, unter denen wiederum die emotionalen besonders schwer ins Gewicht fallen (vgl. Grundlegung, Kap. 27—31). Es müßte also, wenn es keinen Realraum gäbe, doch Masse, Gewicht, Dichte, Härte, Kraft usw. geben, aber ohne ein Ausgedehntes; denn nur räumliche Ausdehnung kommt hier in Frage. Nun aber setzen Masse, Dichte, Kraft usw. ein Ausgedehntes voraus. Ihr reales Bestehen verlangt also den Realraum. Dazu kommt manches weitere. Gesetzt, wir könnten nach idealistischer Art nur einen Anschauungsraum voraussetzen, wie kommt es dann, daß im Zusammenhang der Wahrnehmungen das Tastfeld mit dem Gesichtsfeld zusammenwächst? Die reine „Anschauung" kann das nicht leisten, weil von ihr aus das Zusammentreffen der heterogenen Wahrnehmungen zufällig ist. Es kann also auf diese Weise gar nicht zur Verschmelzung kommen. Ganz anders, wenn Tasten und Sehen auf eine und dieselbe realräumliche Ordnung der Gegenstände bezogen sind: Tastraum und Sehraum orientieren sich dann auf dieselbe Realräumlichkeit. Oder auch dieses: wie kann das eigene Ich sich raumgebunden erschei-

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nen, da es doch selbst nicht räumlich ist, und sich auch nicht räumlich erscheint? Das ist sinnwidrig, wenn es nicht an einen realen Leib gebunden ist und dieser nicht seine feste Eingefügtheit in realräumliche Verhältnisse hat. Nur unter dieser Voraussetzung ist es verständlich, daß räumliches Sehen an einen Standort im Räume gebunden ist und nur von einem solchen aus anschauliche Bilder ergibt. Und nur auf diese Weise kann es das praktisch eminent wichtige Sich-Orientieren in der umgebenden Welt leisten. Nicht der Anschauungsmannigfaltigkeit allein kann die dreidimensionale Ordnung eigen sein, sie muß auch die einer realen Welt von Gegenständen sein. Und Ausdehnung, Größe, Abstand, Gestalt, Lage müssen in erster Linie die von Dingen im Realraume sein. Kurz, der Wahrnehmungsraum muß wenigstens in gewissen Grundzügen ein Korrelat des Realraumes sein. Strukturidentisch braucht er deswegen nicht mit ihm zu sein. Aber er muß auf einen Realraum bezogen sein. Sonst verliert er seinen Sinn für ein räumlich wahrnehmendes Wesen. b. Einzigkeit, Dimensionenzahl und Substratcharakter des Realraumes Von den kategorialen Bestimmungen des Realraumes ist eine ganze Reihe schon vom idealen Räume her bekannt. Es wurde bei der Aufzählung von dessen Momenten schon darauf hingewiesen, daß sie teilweise auch auf den Realraum zutreffen. Der ideale Raum ist eben das Allgemeine der Raumkategorie, und der Realraum verhält sich zu ihm wie der Spezialfall zum genus. Es kehrt hier überhaupt das ontische Grundverhältnis der Seinsweisen wieder: ideales Sein ist unvollständiges und deswegen auch unselbständiges Sein, aber es ist zugleich das Allgemeinere. Vom Realen aus gesehen bildet es nur ein Schema möglicher realer Erfüllung. Es ist insofern der niedere Seinstypus. Das Reale allein ist vollständiges und selbständiges Sein. Um hier Klarheit zu schaffen, wird es notwendig, die ganze Reihe der beim Idealraum aufgezählten Momente durchzugehen und sie auf Abweichungen des Realraumes abzuleuchten. Zu beginnen ist mit den Bestimmungen, an denen der Unterschied deutlich in die Augen springt. Erst an diesen können sich dann die Gesichtspunkte ergeben, unter denen bei den übrigen Momenten Abweichungen und Übereinstimmungen sichtbar werden. Denn nicht überall sind sie ohne weiteres zu entdecken. Das erste dieser Momente ist die Einzigkeit des Realraumes. Es wurde oben gezeigt (Kap. 5 b), daß die Kantische Bestimmung, der Raum sei einzig, auf den idealen Raum nicht zutrifft. Auf den Realraum trifft sie zu. Es kann nicht nebeneinander mehrere Realräume geben, gleich den Typen des geometrischen Raumes; denn er ist der Raum, in dem die reale Welt ist, die reale Welt aber ist nur eine. Der Realraum ist notwendig einer,

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und alle Rede von „Räumen" hat bei ihm nur Sinn, wenn damit Teile des einen Raumes gemeint sind. Damit ist nicht gesagt, daß er notwendig Euklidischer Raum sein müßte. An sich ist es möglich, daß seine Dimensionen gekrümmt sind. Er könnte z. B. sehr wohl elliptischer Raum sein oder auch von einem anderen Krümmungstypus. Diese Möglichkeiten finden wir in der heutigen theoretischen Physik sehr ernstlich in die Diskussion gezogen. Über eines aber muß man sich dabei klar seinrder Realraum kann nicht wie der Idealraum sich in diese Raum typen spalten, kann nicht in „Räume" zerfallen. Er kann durchaus nur einer von ihnen sein. Welcher von ihnen dafür in Frage kommt, ist eine davon abtrennbare Frage, die denn auch heute nicht als eindeutig entschieden gelten kann. Daß diese Frage sich nicht so leicht beantworten läßt, liegt daran, daß sie nicht a priori entscheidbar ist. Nur Erfahrung kann darüber belehren, von welchem Typus der Realraum ist. Die unmittelbare Erfahrung aber ist an viel zu enge Raumverhältnisse (die terrestrischen) gebunden, um hier zuständig zu sein; und selbst direkte astronomische Beobachtung reicht nur bis in unsere nächste kosmische Umgebung. Auch deren Maßstäbe sind noch zu klein, um Krümmung oder Nichtkrümmung der Raumdimensionen erkennen zu lassen. Darüber hinaus aber ist alles noch sehr hypothetisch. Einstweilen gibt es überhaupt nur einige wenige Anhaltspunkte, die einen Schluß auf die Struktur des Weltraumes allenfalls zulassen. Und über spekulative Vermutungen geht ein solcher Schluß nicht hinaus. — Das zweite unterscheidende Moment des Realraumes ist, daß er nicht mehr als drei Dimensionen hat. Auch dafür ist der Erkenntnisgrund kein apriorischer, denn vom Anschauungsraum her läßt sich die Dreizahl der Dimensionen nicht erweisen: es könnte ja sein, daß der Realraum in der Dimensionenzahl von ihm abweicht. Wohl aber liegt die Sache so, daß wir im Bereich der räumlichen Realphänomene keinen Anhalt finden, auf mehr als drei Dimensionen des Realraumes zu schließen. Denn was immer wir vom real Ausgedehnten im Räume wissen, zeigt ohne Ausnahme die dreidimensionale Mannigfaltigkeit, und nicht mehr. Das gilt so gut von realen Körpern und ihrer gegenseitigen Lage wie auch von ihrer räumlichen Bewegung. Es hat an Versuchen, die Dreizahl a priori zu erweisen, nicht gefehlt. Sie laufen alle auf die begrenzte Anzahl möglicher Drehungen im Räume hinaus. Man stellt sich die drei Dimensionen wie ein Achsensystem vor und verfolgt die Richtungsänderung einer Linie um die eine Achse, bis sie den ersten Quadranten durchlaufen hat, dann die um die zweite Achse, bei der man angelangt ist, usf.; hat sie auch um die dritte Achse einen Quadranten durchlaufen, so langt sie bei der Ausgangsrichtung an. Man

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schließt daraus, daß es keine vierte Raumdimension gibt. Das Argument ist offenbar falsch. Es setzt eben das voraus, was es beweisen sollte: das anschauliche Bild des Dreiachsensystems ist eben schon dieselbe Dreidimensionalität, die in Frage stand. Der Schluß ist ein idem per idem. Das Wahre an ihm ist nur die Anschaulichkeit des Bildes. Tatsächlich ist er eine Ableitung aus der Struktur des Anschauungsraumes. Die aber beweist nichts für den Realraum. Denn das eben wollte man wissen, ob der Realraum dieselben Dimensionen und keine mehr hat als der Anschauungsraum. Die rein mathematischen Ableitungen, die sich diesem Versuch anreihen, vermeiden zwar den logischen Zirkel, dringen aber nicht bis zum eigentlichen Realraum vor — einfach deswegen, weil sie rein mathematisch sind. Durchaus einleuchtend bliebe ein Argument, welches nachwiese, daß drei Dimensionen das Minimum an Spielraum für die Mannigfaltigkeit der realen Körperwelt bilden. Aber es beweist nicht streng, warum es im Realraum bei diesem Minimum bleibt; es setzt vielmehr eine Art Seinsökonomie im Raumprinzip schon voraus — gleich als stünde es schon fest, daß Kategorien unter einer lex parsimoniae naturae stünden. Das Argumentieren führt zu nichts. Es ist mit der Dreizahl beim Realraume genau so wie mit den meisten Grundmomenten anderer Kategorien, es ist nicht einzusehen, warum sie gerade so sind, wie sie sind. Man muß sie als Tatsache hinnehmen, wie die einschlägigen Phänomene sie zeigen. Kategorien sind Prinzipien, d. h. sie sind ein Letztes, nicht weiter Zurückführbares. Man kann sie nur analysieren, soweit die Phänomene dafür den Anhalt geben, und das, was sich dann zeigt, hinnehmen. Wollte man bei jedem kategorialen Moment fragen, warum es gerade so ist und nicht anders, so hieße das fragen, warum die Welt so ist, wie sie ist, und nicht anders. Hiervon zu unterscheiden ist aber ein anderer Sinn der Frage nach weiteren Raumdimensionen. Er beruht auf der Möglichkeit, daß der Realraum ein „Krümmungsmaß" haben könnte. In diesem Falle müßten den drei Raumdimensionen irgendwelche anderen Dimensionen zugrunde liegen. Denn Krümmung ist ein Gestaltcharakter, den es nur „in" einem Räume geben kann: sie setzt Dimensionen voraus, „in" denen sie Krümmung ist. Nun können die bekannten drei Raumdimensionen natürlich nicht „in" denselben Dimensionen gekrümmt sein, die sie selbst sind, sondern nur in anderen. Sie würden also andere voraussetzen. Und diese müßten dann die primären Dimensionen des Realraumes sein (vgl. oben Kap. 5 b). Zweierlei aber ist hierbei zu beachten. Diese außerordentlich spekulative Konsequenz steht auf schwachen Füßen, solange der Typus des Realraumes sich nicht eindeutig als elliptischer oder sonst einer erweisen läßt; dafür fehlt bislang noch die feste Basis. Und auch wenn der Typus des Raumes sich bestimmen ließe, so wäre damit doch nicht eine Flucht weiterer Real-

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raumdimensionen aufgetan, sondern nur der Ausblick auf einige wenige. Das System der Dimensionen bliebe auch so ein sehr begrenztes. Und an dem Verhältnis der drei unmittelbar konstatierbaren wäre damit nichts geändert. Wichtiger als das ist aber die Überlegung, daß die heute üblich gewordene Rede von „geraden und krummen Dimensionen" überhaupt nur als Bild für ein im übrigen ganz unanschauliches Verhältnis sinnvoll ist, nicht aber als Bezeichnung für einen Realcharakter der Raumdimensionen. Räumliche Gestalt kann nur etwas haben, was im Räume ausgedehnt ist, nicht der Raum selbst, in dem es ausgedehnt ist, und folglich auch nicht die Dimensionen möglicher Ausdehnung, deren System er ist. — Das dritte unterscheidende Moment ist der am Realraum stärker hervortretende Substratcharakter. Nicht als hätte er etwas mit der materiellen Erfüllung zu tun. Letztere macht nur das „Ausgedehnte" im Realraum aus, verhält sich also zu ihm wie Extension zur Dimension. Aber es liegt im Wesen von Dimensionen überhaupt, daß sie Substrate möglicher Größen sind. Am Idealraum ist dieser Substratcharakter aufs äußerste reduziert und gleichsam verdünnt, schon weil es sich nicht um einen einzigen Raum handelt, sondern um mehrere mögliche. Die Dimensionen des Realraumes sind darin anders gestellt: was in ihnen ist, hat damit allein schon Realität, es ist im „Welträume" und zählt zur realen Welt; und was in ihnen seine Größe hat, das hat eben damit reale Größe. Das gilt keineswegs bloß vom materiell Ausgedehnten, es gilt gerade ouch von den großen leeren Zwischenräumen, den „Entfernungen" im Kosmos. Kosmische Abstände bestehen unabhängig vom Auftreten oder Fehlen der Materie im Zwischenraum; und zwar sind sie von demselben Realitätstypus, wie die Körper und Kraftfelder, die sich in sie hinein erstrecken. Wie denn ihr Maß zwar willkürlich wählbar, aber seiner Art nach durch anderes Maß in keiner Weise ersetzbar ist. Die Dimensionen des Realraumes sind eben ein nicht weiter zurückführbares Substrat möglicher realer Größenverhältnisse *). !) Was es mit dem Substratmoment in den Raumdimensionen auf sich hat, kann man gerade in diesem Zusammenhang sehr deutlich sehen. Entfernungen sind eben etwas sehr Reales, obwohl sie über „leeren Raum" hin gehen. Sie sind das real Trennende zwischen den substantiell erfüllten Körpern im Räume, und zugleich das Verbindende zwischen ihnen. Woraus einleuchtet, daß sie selbst nicht etwas Substantielles sind. Substrate sind noch keine Substanzen; sie sind bloße Medien möglicher Größenbestimmtheit (was freilich auch nur ein Bild ist), das „Unbestimmte" als solches, das aller Bestimmung oder Begrenzung zugrunde liegt. Das eben war bei den Alten der ursprüngliche Sinn des , als eines Substrates ( ) möglicher Messung und möglicher Größe überhaupt ( ). (Vgl. Kap. 4 a, sowie Aufbau, Kap. 28 b.)

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c. Der Realraum als reines Dimensionssystem Die nächstfolgenden kategorialen Momente des Realraumes fallen im wesentlichen gleichlautend mit denen des Idealraumes aus. Man darf sich aber durch den Gleichlaut nicht täuschen lassen, es verbirgt sich dahinter teilweise ein veränderter Sinn. Und hier gerade gilt es, Übereinstimmung und Abweichung folgerichtig auseinanderzuhalten. Am auffallendsten ist das gleich am ersten Punkt: auch der Realraum ist ein reines Dimensionssystem. Das bedeutet an ihm aber nicht nur, daß eine Dimension noch keinen Raum bildet, sondern noch etwas anderes. Um das zu zeigen, muß man weiter ausholen. In die Auffassungen vom Realraum hat sich früh das Gegensatzpaar Substanz und Akzidens eingedrängt. Zuerst rechnete man den Raum unter die Akzidentien der Substanz (die man materiell verstand). Descartes dagegen machte ihn selbst zur Substanz und verstand die Körper in ihm als Begrenzungen oder Modifikationen dieser Substanz. Die eine Ansicht macht zu wenig, die andere zu viel aus dem Räume. Nach beiden aber ist er kein reines Dimensionssystem; ja nach beiden wird die Dimensionalität überhaupt zu etwas Sekundärem an ihm. Das ist es, wogegen sich der unscheinbare Satz richtet: der Realraum ist ein reines Dimensionssystem. Er ist das reine Spielfeld materieller und dynamischer Erfüllung. Er ist also selbst weder Substanz, noch Akzidens: er ist nicht das, woraus die Dinge gemacht sind, aber er ist auch nicht eine den Dingen bloß anhaftende Eigenschaft. Er ist vielmehr die allgemeine kategoriale Voraussetzung allen Auftretens von Substanzen und deren Akzidentien in der realen Welt. Denn in irgendwelchen Dimensionen müssen auch reale Substanzen den Spielraum ihres Zusammenbestehens haben. Außer der alten Auffassung des Raumes als Akzidens der Materie ist hiermit auch die neuzeitliche zurückgewiesen, die ihn zu einer Funktion der Kraft macht. Diese Auffassung entspricht genau der Ablösung der materiellen Substanz durch dynamische Substanz. Nach ihr sind Ausdehnung, Volumen, Entfernung geradezu die Leistung oder Wirkung von Kräften, genau so wie auch die Bewegung eine Wirkung von Kräften ist. Woraus dann zu folgen schien, daß auch der Raum selbst Leistung und Wirkung von Kräften ist. Hier aber läßt sich sogleich der ontologische Fehler aufweisen. Ausdehnung ist ja gar nicht der Raum selbst, sondern nur die Ausbreitung „im" Räume, setzt also den Raum voraus. Und erst recht sind Volumen, Entfernung, Bewegung nicht selbst der Raum, sondern etwas „im" Räume. Sind sie also Leistungen der Kraft, so ist deswegen der Raum noch lange nicht eine Leistung oder Funktion der Kraft. Vielmehr sind eben deswegen jene Leistungen der Kraft selbst nur „im" Räume möglich. Sie setzen ihn

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also voraus. Kurz, das Verhältnis der Kraft zum Räume ist dasselbe wie das der Materie zum Räume. Die Rede vom „Kraftraum" oder dem „dynamischen Raum" ist darum mit Vorsicht aufzunehmen. Soweit damit bloß der Realraum als Kraftfeld gemeint ist, läßt sich nichts dagegen einwenden — so wenig wie gegen die Rede vom Lebensraum (einer Tierart oder eines Volkes), vom geschichtlichen Raum oder vom akustischen Raum. Das alles sind besondere Hinsichten am Realraum, Sonderfunktionen, die er durch das Reale gewinnt, das sich in ihm ausbreitet oder abspielt. Der Kraftraum ist ohne Zweifel die fundamentalste von ihnen. Aber das Wesen des Raumes selbst hängt an keiner von ihnen. Er geht ihnen allen vielmehr kategorial voraus und ist ihre Vorbedingung. Sie alle sind ihm gegenüber das Sekundäre und ändern nichts mehr an seinem Wesen. Wäre der Realraum eine Funktion von etwas anderem, so könnte dieses andere seinerseits nicht schon „im" Räume und folglich auch nicht ein räumlich dimensioniertes Etwas sein. Gesetzt also, er wäre eine Beschaffenheit der Materie, so könnte die Materie nicht im Räume ausgedehnt sein, sondern müßte eine unbekannte Substanz jenseits der Räumlichkeit sein; gesetzt er wäre eine Funktion von Kräften, so müßte Kraft etwas Unräumliches jenseits der physischen Welt und des Extensiven sein. Eine solche Konsequenz kann man ziehen, so etwa wie Leibniz sie in seinem Begriff der „primitiven Kraft" gezogen hat. Aber damit verliert man den Boden der Phänomene unter den Füßen und gerät in die Region spekulativ metaphysischer Annahmen. Nimmt man aber gedankenloserweise an, daß die Materie oder die Kraft dennoch „in" demselben Räume seien, den sie erst hervorbringen sollen, so nimmt man auch in Kauf, daß verschiedene Systeme von Körpern oder Kräften in verschiedenen Räumen sein müßten, ohne sich jemals treffen oder beeinflussen zu können. Denn jedes materielle oder dynamische Zentrum würde seinen eigenen Raum um sich herum hervortreiben. Man langt so schließlich beim Gegenteil dessen an, wovon man ausgegangen war. Der „dynamische Raum", als Derivat der Kraft gedacht, bedeutet die Aufhebung der einheitlichen Weltdynamik und damit zugleich die Zersplitterung des kosmischen Zusammenhanges. Man hat zuviel beweisen wollen, und so beweist man nichts. Was einst vom 17. Jahrhundert ab solchen Auffassungen zugrunde lag, ist die durch nichts gerechtfertigte Vorstellung, als müßte der Raum die „Setzung" einer schöpferischen Instanz, eines im Hintergrunde der Welt stehenden Urwesens sein: Setzung der Gottheit, der Urkraft (als des noch gottähnlichen gedachten Antriebes), der Weltintelligenz, des Weltwillens. Anders dann beim heutigen Begriff des „Kraftraumes"; hier liegt die Ten-

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denz vor, das im Räume sich Abspielende, ihm selbst zuzuschreiben, nur daß man es dabei nicht als seine Funktion, sondern ihn als Funktion des sich Abspielenden, der dynamischen Prozesse versteht. Das eine wie das andere ist eine Begriffsverschiebung, welche die kategorialen Verhältnisse verunklärt. Man macht das ontisch Zugrundeliegende und Bedingende, weil man es nur vom Bedingten her fassen kann, selbst zum Bedingten, verwürfelt die ratio cognoscendi mit der ratio essendi und landet bei einem dem eigenen Denken nicht mehr durchschaubaren ^ . d. Homogeneität, Stetigkeit und Unbegrenztheit des Realraumes In den folgenden Punkten tritt der Unterschied vom Idealraum noch mehr zurück (vgl. Kap. 5 d). Dennoch erweisen sich Gewicht und Bedeutung der einzelnen Momente am Realraum als wesentlich verschoben. 1. Auch der Realraum ist homogen: von ihm aus gibt es kein Einteilungsprinzip, keinen Unterschied der Teile, örter und Stellen. Auch er ist kein Stellensystem. Freilich gibt es „in" ihm mannigfaltige Stellensysteme. Jeder beliebige reale Körper kann den Ausgangspunkt eines solchen bilden, von jedem aus läßt sich ohne Schwierigkeit ein Koordinatensystem entwerfen, und in diesem hat dann alles Nahe und Ferne seine bestimmte Stelle. Aber die Relativität solcher Stellen auf etwas Reales im Räume ist nicht aufhebbar; ohne realen Beziehungspunkt sind Bezugssysteme im Realraum nicht möglich. Das gilt auch von den in der Astronomie üblichen Polarkoordinaten-Systemen: sie halten sich alle an eine gegebene Basis, an einen Zentralkörper, eine zentrale Verdichtung der Massen, eine mittlere Ebene der Verteilung und ähnliches. Die Stellensysteme des Realraumes hängen am Ausgedehten im Räume, nicht am Räume selbst. 2. Der Realraum ist ebenso stetig wie der ideale Raum. Es gibt keine Sprünge und Fugen in ihm. Er bildet ein einziges dreidimensionales Continuum. Er ist also ins Unendliche teilbar. Das Endglied der Teilung, der absolute Punkt, verstanden als das Ausdehnungslose, steht aber im Realraum anders da, als im idealen Raum. Im letzteren ist der Punkt selbst noch ein ideales Etwas, von gleicher Seinsweise also wie geometrische Figuren und Körper, ausdehnungslos aber räumlich. Im Realraum dagegen ist er nicht ein reales Etwas, nicht von gleicher Seinsweise wie reale (materielle) Körper. Denn zum Realsein im Räume genügt das Räumlichsein nicht, dazu gehört auch das Ausgedehntsein im Räume. Der absolute Punkt aber ist das Unausgedehnte. Die Stetigkeit des Realraumes ist ein um vieles gewichtigeres kategoriales Moment als die des Idealraums. Auf ihr beruht die Stetigkeit der räumlichen Bewegung. Das glatte Fortlaufen der Bewegung der Massen

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im Räume ist keine Selbstverständlichkeit. Die Quantentheorie hat gezeigt, daß die meisten physischen Prozesse nicht stetig, sondern in Sprüngen, wenn schon in sehr kleinen verlaufen. Das gilt von allem Energieumsatz. Die Quantelung haftet dabei an letzten Energieeinheiten von angebbarer Größe. Bestünde auch der Realraum aus letzten Raumeinheiten von angebbarer Größe — eine Konsequenz, welche die Kraftraumtheorie eigentlich ziehen müßte —, so könnte auch der Transport der Massen im Räume kein stetiger sein. Der Realraum aber ist von anderer Art als die Energie, in ihm gibt es keine letzten Quanten. Darum gibt es die Kontinuität der räumlichen Bewegung!). 3. Der Realraum ist unbegrenzt. Alle räumliche Begrenzung ist Begrenzung „im" Räume, nicht Begrenzung des Raumes. Hier liegt ein 'Wesensgesetz zugrunde: es ist der Sinn einer Dimension möglicher extensiver Größe, kein Ende zu haben, immer weiter zu gehen, einerlei wie weit die materielle Erfüllung reicht. Darum gibt es keine Grenze des Raumes, sondern nur Grenzen im Räume. Fragt man aber, wie weit der Realraum „sich ausdehne", so ist in aller Schroffheit zu antworten: der Realraum dehnt sich überhaupt nicht aus. Ausdehnung gibt es nur „im" Räume, der Raum selbst aber ist nicht im Räume. Also hat er keine Ausdehnung. Er ist vielmehr Bedingung der Ausdehnung. Aber eben deswegen hat er natürlich auch keine Grenzen. Und wie ist es, wenn der Realraum nicht Euklidisch, sondern elliptisch ist? Wofür ja immerhin einige Phänomene zu sprechen scheinen. Es trifft dann auf den Realraum zu, was vom elliptischen Idealraum gesagt wurde: er würde unbegrenzt, aber nicht affirmativ unendlich sein. Sofern aber die Krümmung der in sich zurücklaufenden Ellipse nur eine solche „in" be!) Mir ist sehr wohl bewußt, daß auch dieses von der sich immer weiter ausbreitenden Quantenphysik bestritten wird; man spricht direkt von „Elementarlängen " und meint damit, daß es die kleinste Raumstreckeneinheit ebensogut gibt, wie die kleinste Energieeinheit, und daß alle räumliche Länge in Multiplen von ihr besteht. Ich weiß nicht, ob die heutigen Argumente dafür zureichen, aber kategorial möglich ist so etwas durchaus, sofern es sich um Strahlung, Ausbreitung von Kraftfeldern und ähnliche Vorgänge im Räume handelt. Bei der einfachen mechanischen Bewegung wird es schon um vieles fragwürdiger. Überträgt man den Gedanken aber auf den Raum selbst, so wird er sinnwidrig — nicht nur weil jene Vorgänge doch Vorgänge „im Räume" sind, sondern weil auch die einzelnen Sprünge, ja die angenommene Elementarlänge selbst, etwas sind, was bestimmte Größe im Räume (also „räumliche" Größe) haben soll. Auch die kleinste räumliche Größe aber als solche ist noch unbegrenzt weiter teilbar und stellt ein Continuum dar, welches die kategoriale Bedingung ihrer Begrenzung ist. Nur reale Körper können ein kleinstes Maß haben. Der Raum selbst, in dem das Maß eine bestimmte Größe hat, kann das nicht. Auch hier ist das extensum mit der condicio extensionis verwechselt.

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stimmten Dimensionen und diese nicht wieder vom selben Typus sein könnten, so besteht auch in diesem Falle kein Grund, dem Realraum das „Immer-weiter-gehen" abzusprechen. Denn seine eigentlichen Dimensionen wären dann diese anderen — die Dimensionen erster Ordnung —, in denen die elliptischen des empirischen Raumes gekrümmt wären. Ein Teil der Verwirrung, die in dieser Frage eingerissen ist, geht auf die Verwechselung der im Räume ausgedehnten kosmischen „Welt" mit dem „Weltraum" zurück. Man fragt nach der Unendlichkeit oder Endlichkeit des Weltraumes, meint aber im Grunde die der Welt (bzw. des von ihr eingenommenen Raumvolumens). Das ist nicht ein und dasselbe. Eine endliche Welt kann sehr wohl im unendlichen Welträume sein. Nicht freilich umgekehrt. Kants erste Antinomie z. B. fragte nicht nach Endlichkeit oder Unendlichkeit des Weltraumes, sondern nach der der Welt im Räume. Der Raum selbst konnte nach Kant kein Ende haben, nur die Welt konnte eines haben. Am Problem der Weltgrenzen im Räume hingen These und Antithese. Das Mißverständnis, das Welt und Weltraum verwürfelt, erscheint in gewissen Überlegungen der heutigen theoretischen Physik noch weiter auf die Spitze getrieben. Gestützt auf das Phänomen der mit der Entfernung verbundenen Rotverschiebung im Spektrum der Spiralnebel spricht man von einem Sich-ausdehnen (Wachsen) des Weltraumes, was die Vorstellung involviert, als hätte der Realraum eine bestimmte Größe, die fortschreitend zunehmen oder auch abnehmen könnte. Tatsächlich meint man damit nur das Zunehmen der Welt im Räume; was zwar sehr hypothetisch, aber doch sinnvoll und kategorial folgerichtig ist. Vom Räume selbst gesagt, ist es nicht folgerichtig. Zu- oder abnehmen kann nur etwas, was eine Größe im Räume hat. Der Raum müßte, um wachsen oder schrumpfen zu können, seinerseits eine bestimmte Größe im Räume haben. Was widersinnig ist. Schuld an dieser Unstimmigkeit ist die ungenaue und nicht auf kategoriale Grundverhältnisse bedachte Ausdrucksweise der Physik. Gegen die Unbegrenztheit des Realraumes bei begrenzter Ausdehnung des Kosmos in ihm ist immer wieder das eleatische Argument vorgebracht worden, ein leerer Weltraum sei ein Ding der Unmöglichkeit. Im heutigen Gewände stellt es sich so dar: da alle Entfernung im Räume nur zwischen den Massen besteht, die ihn erfüllen, und auf diese relativ ist, so kann es im leeren Räume keine Entfernungen geben; damit aber fällt auch der leere Raum selbst hin. Denn er ist ja nichts als das „worin" es Entfernungen geben kann. Indessen auch dieser Schluß ist fragwürdig. Ist doch auch der Raum zwischen den kosmischen Massen leerer Raum. Anders wären die Massen ja gar nicht räumlich getrennt; denn offenbar hängt die räumliche Trennung 7 HartmaaD, Philosophie der Natur

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nicht an materieller Erfüllung der Abstände. Man entgeht dem Leeren auch dann nicht, wenn man sich die Masse im Räume so verdünnt denkt, daß man eine gleichmäßige Verteilung bekommt; in der Verdünnung werden die leeren Zwischenräume nur kleiner, entsprechend der Kleinheit der Massenteilchen, aber sie verschwinden nicht. Gesetzt nun, die Welt hätte eine Grenze im Realraume — nicht eine fest gezogene natürlich, wohl aber eine durch letzte kosmische Massen angedeutete —, soll man dann sagen, daß die Dimensionen des Realraumes selbst an dieser Grenze abbrächen? Hat die Vorstellung Sinn, daß jenseits dieser Grenze kein Raum mehr sei? Ist etwa die Leere des Realraumes jenseits der Weltgrenze eine andere als diesseits in den Zwischenräumen der Massen? Und vollends, wenn es wahr sein sollte, daß die Spiralnebel auseinanderstreben, die kosmische Welt also an räumlicher Ausdehnung zunimmt, ist es da nicht evident, daß es den leeren Raum jenseits ihrer jeweiligen Grenzen, in den hinein sie sich ausdehnen kann, eben doch geben muß? Gibt es ihn aber ein Stück weit über diese Grenze hinaus, so hat es keinen Sinn anzunehmen, daß er weiter auswärts irgendwo abbreche. Gegen den leeren Raum, wenn man ihn recht versteht, ist gar nichts einzuwenden. Wenn der Raum in der Ausdehnung von irgend etwas bestünde, wenn er Existenz hätte wie die Massen in ihm, so ließe sich mit gutem Sinn von seiner Begrenzung sprechen. Aber weder hat der Raum Existenz noch ist er Ausdehnung, er ist nur dimensionale Bedingung dinglicher Existenz mit existierenden Massen, enthält keinerlei Widerspruch. e. Das an sich Größenlose Damit hängt es weiter zusammen, daß auch der Realraum, nicht anders als der Idealraum, etwas völlig Größenloses ist. Er hat durchaus keine Größe, weder eine endliche, noch eine unendliche. Streng genommen trifft also auch das Prädikat der Unendlichkeit nicht auf ihn zu. Die ganze Alternative von endlich und unendlich wird an ihm sinnlos, weil beides Größenbestimmungen sind. Wäre der Raum Ausdehnung, so könnte beides auf ihn zutreffen. Aber er ist nicht Ausdehnung, sondern durchaus nur das Gefüge von Dimensionen, „in" denen etwas Ausdehnung hat. Das Ausgedehnte ist niemals er selbst, sondern der Körper, die Masse, die Entfernung, das Kraftfeld. Ebenso ist es mit der Größe: Größe hat, was im Räume sich ausdehnt. Der Raum selbst hat keine. Er müßte ja sonst Größe in anderen Dimensionen sein, dann aber wäre er nicht räumliche Größe. Es gibt keine Größe des Raumes, es gibt nur Größe „im" Räume. Genau so wie es keine Grenze des Raumes gibt, sondern nur Grenzen im Räume. Darum kann der Realraum, streng genommen, weder endlich, noch unendlich sein. Und alle Rede vom „unendlichen Räume" ist ungenau. Sie ist

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deswegen keineswegs ganz unsinnig. Was man damit meint, ist das unbegrenzte Fortgehen möglicher Ausdehnung (z. B. des Kosmos) im Räume; denn in der Tat, der Realraum setzt der realen Welt keine Grenzen. Er selbst aber ist deswegen doch nicht eigentlich unendlich, weil er vielmehr nur die dimensionale Bedingung der Unendlichkeit und Endlichkeit von etwas anderem ist: der Verteilung der Massen, der Kraftfelder, des Fortlaufens der Strahlung u. a. m. Es ist auch keineswegs paradox, daß der Realraum weder endlich noch unendlich ist, es ist einfach die Folge dessen, daß er keine räumliche Größe hat. Es ist auch keineswegs bloß Sache der Abstraktion. Es gehört ebenso zum Wesen des Realraumes, wie daß er keine Grenzen hat; und gerade konkret ist es faßbar, warum es die räumliche Grenze nur „im" Realraume gibt. Der bloße Begriff „Grenze des Raumes" hebt ja schon sein Wesen auf. Darum gibt es auch keine Mitte des Realraumes. Alles Größenhafte in ihm hat seine Mitte, auch eine endliche Welt im Realraume hat ihre Mitte, nicht aber die Dimensionen, in denen sie endlich ist. Mit solchen Ausdrücken, die vom größenhaft Ausgedehnten hergenommen sind, meinte man im Grunde auch nicht eigentlich Grenze und Mitte des Raumes, sondern Grenze und Mitte eines irgendwie in sich geschlossenen Systems von Körpern oder Massen. Unwillkürlich aber ist man geneigt, den Realraum selbst wie ein solches System aufzufassen. Denn andere Analogien hat man nicht. Und nach Analogien sieht man sich eben um, wo die Vorstellbarkeit versagt. Die Vorstellbarkeit aber versagt überall an den reinen Kategorient). /. Das in sich Maßlose Läßt sich nun vom Realraume auch sagen, daß er von sich aus kein Größenmaß hergibt? Beim Idealraum hing das so eng mit dem Fehlen aller Größenbestimmung zusammen, daß darüber kein Zweifel sein konnte. Beim Realraum läßt sich das nicht so schlechthin entscheiden, weil wir nicht wissen, von welchem Dimensionstypus er ist. !) Man sieht aufs Eindringlidiste an diesen Überlegungen, wie sehr der Ansprudi der modernen Physik, die Anschauung zu überwinden und in den unansdiaulichen Formeln, Begriffen oder Symbolen ein adäquateres Gerüst der „Objektivation" zu besitzen, von Grund aus irrig, ja geradezu eine Verkehrung der gnoseologischen Tatsachen ist. Die bloße Diskussion der Fragen, ob der Raum endlich oder unendlich sei, ob es leeren Raum gebe, welche räumliche Gestalt seine Dimensionen haben (gerade oder krumme), ob es die kleinste Raumeinheit gibt, zeugt schon ganz eindeutig davon, daß der Raum nach dem anschaulichen Modell räumlicher Dinge vorgestellt wird. Es ist also gerade die Rückkehr zur sinnlichen Anschauung, die hier unbemerkt vollzogen wird. Das läuft auf eine Selbsttäuschung der exakten Wissenschaft hinaus, die um so gefährlicher ist, als sie die Tendenz hat, sich selbst auf die Spitze zu treiben und dadurch aller freien Diskussion zu entziehen.

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Im Falle des Euklidischen Raumtypus liegen die Dinge einfach, und es gelten dieselben Sätze wie vom geometrischen Räume: nur das Ausgedehnte kann Maße hergeben. Er kann nur die Art möglicher Maße bestimmen, denn nur sie hängt an der Art der Dimensionen. Darum läßt er jeden beliebigen Maßstab zu, auch den zufälligsten und willkürlichsten. Dasselbe gilt auch vom hyperbolischen Raum, sowie von jedem, dessen Dimensionen nicht in sich zurücklaufen. Das unbegrenzte Fortlaufen der Richtungen, wie man sie auch wählt, ist eben das, was das Auftreten eines natürlichen vom Räume selbst hergenommenen Größenmaßes ausschließt. Ist also der Realraum von einem solchen Raumtypus, so ist er nicht nur das an sich Größenlose, sondern auch das an sich Maßlose. Das ändert sich, wenn er die Form des elliptischen Raumes hat. Hier laufen die Dimensionen in sich zurück, bilden geschlossene Ellipsen von bestimmter Größe, deren lange Achse dann etwa einen natürlichen Maßstab abgibt. Dieser Maßstab ist nicht von etwas im Räume Ausgedehntem hergenommen, nicht von den Maßen oder Kraftfeldern, sondern von der Struktur des Raumes selbst. Ein solches Maß ist zwar im Leben, und selbst in der Wissenschaft, nicht als Einheit brauchbar, es ist viel zu groß, unpraktisch. Aber nicht darum handelt es sich hier; in Frage steht nur, ob der Realraum selbst überhaupt ein Maß darbietet. Und das eben trifft zu für den Fall, daß er elliptisch sein sollte. Denn dieses Maß ist das einzige, das er von sich aus hergibt. Wäre er gequantelt wie die Energie, so gäbe es noch ein zweites natürliches Maß der Ausdehnung im Realraume. Aber der Realraum ist ein Continuum. Man hat dieses einzige natürliche Raummaß denn auch theoretisch zu bestimmen gesucht. Der wissenschaftliche Wert dieser Bestimmung bleibt natürlich sehr fragwürdig, sie enthält Voraussetzungen, die nicht einwandfrei sind. Aber für die kategoriale Überlegung ist das gleichgültig. Wichtig ist nur, daß eine solche Bestimmung im Falle eines elliptischen Realraumes überhaupt möglich ist, und daß es sich dann um eine natürliche Raumkonstante handeln würde. Müßte nun das gleiche nicht auch auf den Idealraum zutreffen? Auch bei ihm gibt es doch den Spezialfall des elliptischen Raumes. Wollte man so schließen, es wäre falsch geschlossen. Der elliptische Typus des geometrischen Raumes hat kein natürliches Maß. Hier kann man die lange Achse von beliebiger Größe wählen, es wird immer ein elliptischer Idealraum sein. Und die Verhältnisse in ihm sind offenbar unabhängig von der Größe der Ellipse. Im Realraum dagegen, falls er elliptisch ist, handelt es sich um einen bestimmten Spezialfall. Hier muß die Ellipse, welche die Dimensionen beschreiben, eine bestimmte Größe haben, und diese kann darum auch nur von gewissen empirischen Daten aus erschlossen werden (wie alle

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Konstanten im Reiche der Natur). Der Idealraum gibt auch als elliptischer kein Größenmaß her. Wohl aber der Realraum. Und noch ein zweiter Einwand läßt sich machen. Wenn Krümmung nur „in" bestimmten Dimensionen möglich ist, so muß hinter dem elliptischen Raum noch ein zweites Dimensionssystem stehen; und da dieses nicht vom gleichen Typus sein kann, so können seine Dimensionen nicht in sich zurückkehren. Sie also würden kein natürliches Maß hergeben. Da sie nun die eigentlichen Grunddimensionen des Realraumes wären, während die elliptischen nur ein untergeordnetes Bezugswesen in ihnen bilden würden, so könnte man doch nicht sagen, daß der Realraum selbst das Maß der Ellipse hergebe (vgl. oben Kap. 5 b, Anm.). Dieser Einwand trifft freilich das kategoriale Wesen der Sache. Nur ist er kein Einwand. Denn er hebt den elliptischen Raum nicht auf, sondern ordnet ihn nur ein. Da wir aber von jenen Grunddimensionen keine Vorstellung haben, sondern sie nur erschließen können, so liegt kein Grund vor, dem uns faßbaren elliptischen Raum die Geltung als Realraum abzusprechen. Und in diesem Sinne bleibt der Satz in Kraft, daß ein elliptischer Realraum, falls er besteht, ein natürliches Maß der Ausdehnung hergibt. g. Das Senkrechtstehen der Dimensionen aufeinander und die empirischen Koordinatensysteme In den nächstfolgenden Punkten gleicht der Realraum fast ganz dem geometrischen. Nur die kategoriale Kohärenz der Realschicht bringt Gewichtsverschiebungen hinein (vgl. Kap. 5 e). 1. Die Dimensionen des Realraumes sind gleichartig und miteinander vertauschbar. Das ist bei ihm von größerem Gewicht als beim idealen Raum, weil seine Dimensionen mit der Zeitdimension zusammen ein vierdimensionales System bilden, in dem alle physischen Prozesse ihre räumliche Ausdehnung haben. Dieses System ist nicht gleichartig, denn die Zeitdimension ist mit keiner der Raumdimensionen vertauschbar. Innerhalb dieses kombinierten Systems aber bilden unbeirrt durch die Zeit die drei Raumdimensionen ein engeres, durchaus gleichartiges System, von dem die Zeitkomponente sich deutlich als heterogenes Moment abhebt. 2. Die Folge davon ist, daß auch der Realraum „isometrisch" ist. Alle Größen und Maßstäbe der Ausdehnung übertragen sich ohne Veränderung von einer Dimension auf die andere. Die Willkürlichkeit der Maßstäbe ändert hieran nichts. Die drei Dimensionen sind eben nicht nur von gleicher Art, sondern auch ausmessungsgleich. Und was von den Dimensionen gilt, das gilt ebenso von den unendlich vielen Richtungen möglicher Ausdehnung im Realraum. Die Isometrie ist eine vollständige.

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3. Ebenso überträgt sich das geometrische Verhältnis der Dimensionen, ihr Senkrechtstehen aufeinander, voll und ganz auf den Realraum. Auch in ihm bildet der rechte Winkel die natürliche Grundlage aller Winkelteilung. Der rechte Winkel ist derjenige, der das Maximum an Richtungsverschiedenheit zweier Geraden im Räume bildet, einerlei um welche Achse die Drehung vor sich geht. Über den rechten Winkel hinaus nähert sich die Richtung wieder der Ausgangsrichtung. Durch das Senkrechtstehen sind die Dimensionen eindeutig aufeinander bezogen. Im Realraum aber sind sie dadurch auch unlösbar aneinander gebunden. Was in der Geometrie möglich ist, die Beschränkung auf zwei Dimensionen (im planimetrischen Verhältnis), ist, streng genommen, im Realraum nicht möglich. Man kann zwar in der Betrachtung, zum Zweck vereinfachter Rechnung, von der dritten Dimension absehen, kann Punkte und Linien auf eine genähert plane Realebene im Räume beziehen. Tatsächlich arbeitet man dann aber mit einem zweidimensionalen Idealraum, nicht mit dem Realraum. Den zweidimensionalen Realraum gibt es nicht. Eine mathematisch absolute Ebene gibt es auch im Realraume nicht. Da die Lage einer Ebene im Realraum stets durch Körper bestimmt ist, deren Stellung zueinander dreidimensional bestimmt ist, werden mehr als drei Punkte niemals genau in einer Ebene liegen. Die dritte Dimension ist dann tatsächlich doch mit im Spiele, wie sehr man praktisch auch von ihr absehen mag. Die bekanntesten Beispiele dafür liegen auf dem Gebiet der Erdmessung: in kleinen Maßstäben läßt sich die Erdoberfläche allenfalls als eben betrachten, bei etwas größeren zwingt schon die Krümmung des Erdellipsoids zu ganz anderem Vorgehen. Im Realraum hängen die drei Dimensionen unlöslich aneinander: sie können darum in den Realverhältnissen selbst nicht auseinandergerissen werden. Und wo die Abstraktion sie auseinanderreißt, da involvieren sie einander trotzdem und ziehen der vereinfachten Rechnung Grenzen. 4. Der Realraum ist kein Koordinatensystem. Er ist es schon deswegen nicht, weil er kein Stellensystem ist, noch mehr aber deswegen, weil Koordinaten nicht Dimensionen, sondern etwas „in" den Raumdimensionen sind und diese voraussetzen. Man wird zwar, wenn man das rechtwinklige Verhältnis der Dimensionen verbildlichen will, es stets durch ein Koordinatensystem tun. Aber das Bild wird auch stets irreführend werden, sobald man es für mehr als ein Bild nimmt. Im Realraum gibt es keinen natürlichen Nullpunkt, von dem die Koordinaten ausgehen könnten (er hat keine „Mitte"), und keine natürliche Richtung, in der sie laufen müßten. Koordinatensysteme können im Realraume in beliebiger Menge bestehen und einander überschneiden; von jedem beliebigen Punkte aus ist mit jeder beliebigen Achsenrichtung eines möglich.

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Diese Einsicht ist beim Realraume keine selbstverständliche. Jahrhundertelang hat man an ein absolutes Oben und Unten im Welträume geglaubt. Man setzte einfach die empirische Richtung der Schwere und den Erdboden als Bezugsebene voraus; man sah die Welt in den natürlichen Koordinaten der Orientierung auf die nächste Umgebung. Schon im Altertum wußten fortgeschrittene Denker um die Haltlosigkeit dieser Anschauung, aber erst spät hat sich deren Aufhebung durchsetzen können. Weit mehr aber gehört dazu, einzusehen, daß es im Realraume überhaupt keine bevorzugten Richtungen gibt, und daß man auf Dimensionen als solche keine Abstände im Räume und keine Lage von Körpern beziehen kann. Das widerstreitet nicht der Tatsache, daß alle Bestimmung von Lage und Bewegung im Realraume nur relativ auf ein Koordinatensystem möglich ist, und jedes Koordinatensystem das Dimensionssystem voraussetzt, wie sehr es auch im übrigen empirisch bedingt sein mag. Es sind eben in jeder Lagebestimmung zwei Systeme hintereinander geschaltet: das gemeinsame Dimensionssystem und das in ihm empirisch lokalisierte Koordinatensystem. Und daran ist nichts Auffälliges. Sind doch auch die empirisch angesetzten Koordinatensysteme vielfach untereinander verbunden, ja nicht selten ebenso hintereinander geschaltet. So z. B. überall, wo man vom engeren und empirisch näherliegenden System zum weiteren übergeht, das in größeren kosmischen Zusammenhängen verankert ist; und auf dieser Bezogenheit beruht die Umrechnung der örter von einem System auf das andere. So geschieht es in der Astronomie beim Übergang von Azimut und Höhe zur äquatorialen Länge und Breite (Rektaszension und Deklination), von dieser zur heliozentrischen (auf die Ekliptik bezogenen), oder weiter zur galaktischen Länge und Breite. Immer sind die Koordinaten auf ein physisch zusammenhängendes Körpersystem bezogen und durch dieses bestimmt, um dann ihrerseits das Bezugssystem zu bilden, auf welches Stellung und Bewegung der Körper im Räume bezogen wird. Solche Koordinatensysteme wie die genannten sind nun keineswegs willkürlich. Man kann sie mit Recht als „natürliche" bezeichnen, weil sie die Achse und Hauptebene eines realen Massensystems zugrunde legen. In diesem Sinne kann man dann auch sagen, daß es im Welträume „natürliche Koordinatensysteme" gibt. Dennoch widerspricht das keineswegs der These, daß nicht der Realraum selbst sie hergibt. Denn eben diese natürlichen Systeme sind durch Anordnung und Bewegung der Massen im Weltraum gegeben, sind also nicht solche des Realraumes, sondern solche des Ausgedehnten im Realraume.

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h. Richtungsändemng und Drehung. Raum und Räumlichkeit Die Folgerungen, die sich beim Idealraum aus den Grundmomenten ergaben, übertragen sich fast vollständig auf den Realraum (vgl. Kap. 5 f und g). Sie sollen darum hier nur kurz berührt werden. 1. Punkt, Linie und Fläche sind im Realraum nicht abtrennbar von der dritten Dimension und von der Einordnung in das dreidimensionale Verhältnis. Ein Punkt, der nur auf einer Fläche bestimmt ist, ist kein realräumlicher Punkt, es sei denn, daß die Fläche bereits in den Realraum eingeordnet ist. Und das kann sie nur sein, wenn ihre Lage an eines der empirischen Bezugssysteme angeschlossen ist. Diese Relativität auf das System hebt die Realräumlichkeit nicht auf. Im Gegenteil, alle realräumliche Lagebestimmung teilt notwendig diese Relativität. 2. Unaufhebbar verschieden und nicht aufeinander zurückführbar bleiben im Realraume die beiden Arten der Größe und des Maßes: Ausdehnung im Räume und Richtungsunterschied im Räume. Und ebenso streng sind sie aufeinander bezogen: alle Ausdehnung hat bestimmte Richtung im Räume, und alle Richtungen im Räume lassen dieselbe Art von Ausdehnung zu. Die Mannigfaltigkeit möglicher Richtungen ist unendlich und bildet, da der Realraum homogen ist, ein Continuum. 3. Dieses Continuum stellt sich als stetiger Übergang der Richtung von einer Dimension in die andere dar. Das Schema des Überganges ist die Drehung. Auch die Drehung ist relativ im Räume, nicht anders als die Lage und die einzelne Richtung selbst. Denn die Richtungsänderung ist bezogen auf eine Drehungsachse und auf eine Ausgangsrichtung; diese beiden aber können ihre Bestimmtheit im Realraume nur haben, wenn sie an ein reales Bezugssystem angeschlossen sind. Ob das auch dynamisch gilt, ist eine Frage der theoretischen Physik. Für das Raumproblem ist sie an sich indifferent. Denn im Realraume ist die Richtungsänderung ebenso relativ wie die Richtung. Der Realraum gibt, wenn ein Winkel zunimmt, keinen Anhalt dafür, welcher Schenkel ruht und welcher die Richtung ändert. Darauf beruht es, daß das Auf- und Untergehen der Gestirne sich ebensogut als Drehung des Himmels wie als Drehung der Erde auffassen läßt (Ptolemäisch wie Copernikanisch). Erst die Beziehung auf die Koordinaten realer Massensysteme und ihrer Dynamik bringt die Entscheidung. Diese liegt also nicht beim Realraume, sondern bei dem, was „in ihm" ist. 4. Indifferent stehen auch im Realraume die beiden Arten von Größe und Maß, Ausdehnung und Winkel, einander gegenüber. Sie variieren selbständig gegeneinander, unbeschadet ihrer Bezogenheit aufeinander. Auch ihr engster Zusammenhang in der Krümmung einer Kurve ändert hieran nichts. Im Gegenteil, die Mannigfaltigkeit der Kurven beruht auf

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dem freien Variieren beider Größen gegeneinander. Das Krümmungsmaß eben ist die Riditungsänderung in der Streckeneinheit. 5. Audi im Realraume bildet der rechte Winkel ein natürliches Maß der Richtungsänderung. Auch hier also kann der Satz, daß der Raum von sich aus kein Maß hergibt, nicht vom Winkelmaß gelten. Da es sich nun im Kosmos vorwiegend um Rotations- und Umlaufsbewegungen handelt, so spielt dieses vom Realraume selbst vorgezeichnete Maß der Drehung auch praktisch die größte Rolle. Selbstverständlich kann man ebensogut auch das Doppelte oder Vierfache des rechten Winkels als natürliches Maß ansehen (die halbe oder die ganze Umdrehung). Das aber macht keinen Unterschied aus, denn die Rückkehr zur Ausgangsrichtung bei gleichbleibender Drehungsachse beruht auf demselben Verhältnis der Dimensionen, das den rechten Winkel bestimmt. 6. Wenn es schon vom geometrischen Räume gelten mußte, daß die Größen der Ausdehnung in ihm nicht in Zahlenverhältnisse auflösbar sind, so muß das vom Realraum noch viel mehr gelten. Die Größenverhältnisse der Körper und ihrer Entfernungen im Realraume enthalten zwar das Zahlenverhältnis in sich und können darum durch dieses gefaßt werden, bleiben aber dabei, was sie sind, räumliches Realverhältnis. Die Zahl faßt durchaus nur die Verhältnisse räumlicher Größen, nicht diese als solche, weder die der linearen Ausdehnung noch die des Richtungsunterschiedes. Sie faßt auch nicht das Maß, dessen Multiplum sie angibt, geschweige denn, daß sie es hergeben könnte. Sie setzt es vielmehr voraus. Die Art des Maßes aber ist durch die Art der Dimension bestimmt. 7. Der Realraum ist nicht das „Auseinander" der Dinge. Er ist wohl Bedingung des Auseinanderseins, aber zugleich auch Bedingung des Beisammenseins und des Zusammenhanges. Eben darum ist er aber auch nicht das „Beisammensein" schlechthin (etwa im Gegensatz zur Zeit). Diese einseitigen Bestimmungen sind, vom Realraum ausgesagt, um vieles irreführender als vom idealen Räume; denn hier geht es um das Nebeneinander der Dinge, die Lagerung angrenzender Körper, die Verteilung der Massen im Welträume. In allem Nebeneinander aber, in aller Lagerung und Verteilung, steckt beides: das Auseinander und das Beisammen. Beides ist Funktion des Realraumes, und beides hängt an der Eigenart seiner Dimensionen, daß sie Dimensionen der Ausdehnung sind. Dieses Ineinander von extensivem Getrenntsein und Verbundensein der Körper — und selbst noch ihrer Teile — im Realraume ist recht eigentlich das, was man ihre „Räumlichkeit" nennen kann. Räumlichkeit ist nicht dasselbe wie Raum. Denn sie haftet dem an, was „im" Räume ausgebreitet ist. Der Realraum ist keine Beschaffenheit der Körper, wohl aber ist deren Räumlichkeit eine solche. Und wie das Körpersein schon auf dem Räume

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beruht, so auch das Räumlichsein der Körper. Räumlichkeit ist das kategoriale Grundmoment alles real Körperlichen: sie ist das, was die Momente der Ausdehnung, Gestalt, Lage, Entfernung, Richtung und Richtungsverschiedenheit alle umfaßt. Darum umfaßt sie auch räumliche Bewegung und räumlichen Zusammenhang. Und eben darum auch ist sie nicht der Realraum selbst, sondern seine Funktion an dem, was „in ihm" ist.

7. Kapitel DIE RÄUMLICHKEIT DER DINGE