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German Pages 278 Year 2001
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Rudolf Klußmann, Manfred Gross Martin Kuse-Isingschulte (Hrsg.)
Perspektiven einer integrierten Psychosomatischen Medizin
Mit Beiträgen u.a. von: Cord Benecke, Karl-Heinz Brisch, Peter Buchheim, Johannes Cremerius, Gerhard Dammann, Michael Ermann, Manfred Gross, Ursula Gruber, Sven Olaf Hoffmann, Hans-Peter Kapfhammer, Rudolf Klußmann, Joachim Küchenhoff, Martin Kuse-Isingschulte, Marianne Leuzinger-Bohleber, Otmar Seidl, Thomas Stamm-Kuhlmann, Manfred Stauber, Herbert Tschamler, Léon Wurmser
Verlag Wissenschaft & Praxis
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Perspektiven einer integrierten Psychosomatischen Medizin / Rudolf Klußmann, Manfred Gross, Martin Kuse-Isingschulte (Hrsg.) - Sternenfels : Verl. Wiss. und Praxis, 2001 ISBN 3-89673-117-3
ISBN 3-89673-117-3
© Verlag Wissenschaft & Praxis Dr. Brauner GmbH 2001 Nußbaumweg 6, D-75447 Sternenfels Tel. 07045/930093 Fax 07045/930094 Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Wichtiger Hinweis - Produkthaftung: Der Verlag kann für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen keine Gewähr übernehmen. Da trotz sorgfältiger Bearbeitung menschliche Irrtümer und Druckfehler nie gänzlich auszuschließen sind, müssen alle Angaben zu Dosierungen und Applikationen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Printed in Germany
Inhalt Vorwort der Herausgeber
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Grußwort des Staatsministers Hans Zehetmair
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Grußwort des Direktors der Medizinischen Poliklinik Detlef Schlöndorff
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Grußwort des Arbeitsgruppenleiters Psychosomatische Medizin Michael Ermann... 13 Grußwort des Verbandspräsidenten Deutscher Internisten Gerd Hofmann
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I. Zur Geschichte der Beratungsstelle
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RUDOLF KLUBMANN
Einführung und Einblick in die Geschichte der Psychosomatischen Beratungsstelle der Medizinischen Poliklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München
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JOHANNES CREMERIUS
Zur Vor- und Frühgeschichte der Psychosomatischen Beratungsstelle
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II.Aus der Arbeitsgruppe Psychosomatische Medizin und Psychotherapie: Projekte und Ergebnisse
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KARL HEINZ BRISCH
Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie Bindung und ihre Störungen... 35 MANFRED STAUBER, RALPH KÄSTNER, KIRSTIN HÄRTL, MARIANNE MÜLLER, ANDREA GINGELMAIER, ANGELIKA KNOBBE, CHRISTINE FRIEDL
Perspektiven einer integrierten psychosomatischen Medizin psychosomatische Projekte und Ergebnisse in der Frauenheilkunde
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OTMAR SEIDL, MICHAEL ERMANN
Die Psychosomatik in der Psychiatrischen Klinik der LMU
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URSULA GRUBER, TANJA VOLLMER, MARTIN FEGG, MONIKA BUCHMANN, HANS-JOCHEM KOLB, WOLFGANG HIDDEMANN
Psychoonkologie
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MARTIN W . KUSE-ISINGSCHULTE
Störungen des Eßverhaltens und des Ernährungsstoffwechsels
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MARIUS NICKEL, RUDOLF KLUßMANN
Zur Psychosomatik des Borderline-Patienten
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III. Grundlagen psychosomatischen Denkens
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HERBERT TSCHAMLER
Medizinpädagogik - Ein interdisziplinärer Forschungsund Ausbildungsbereich
105
MARIANNE LEUZINGER-BOHLEBER, ROLF PFEIFER
„Embodied Cognitive Science und Psychoanalyse"
125
LÉON WURMSER
„Die vernichtende Gewalt der Absolutheit - Psychosomatische Probleme in der Psychoanalyse der schweren Neurosen"
159
IV. Spezielle psychosomatische Themen
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MANFRED GROSS
Probleme mit dem Helicobacter: Magenbeschwerden und Psychosomatik
175
SVEN OLAF HOFFMANN, FRANK PETRAK
Befindlichkeitsstörungen und Lebensqualität bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED)
187
CORD BENECKE, GERHARD DAMMANN, RAINER KRAUSE, PETER BUCHHEIM
Überlegungen zur „qualitativ guten Beziehung" bei der Behandlung von Patienten mit Persönlichkeittsstörungen im Wechselspiel von klinischer Erfahrung und empirischer Psychotherapieforschung
199
HANS-PETER KAPFHAMMER
Psychopharmakologie und Psychosomatik
217
JOACHIM KÜCHENHOFF
Tagesklinische Psychotherapie - eine Alternative zur vollstationären Behandlung
233
V. Psychosomatik und Psychohistorie
261
THOMAS STAMM-KUHLMANN, RUDOLF KLUGMANN
Psychosomatik und Psychohistorie. Möglichkeiten einer interdisziplinären Zusammenarbeit am Beispiel Bismarcks
263
Verzeichnis der Autoren/Autorinnen
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Vorwort der Herausgeber In der Medizin galt schon immer das Diktum, nicht Krankheiten, sondern kranke Menschen zu behandeln. Das dahinter stehende Verständnis von Krankheit war ganzheitlich und berücksichtigte die Organpathologie gleichrangig mit der SozioPsychopathogenese. Letztere umfaßt die persönlichen Entwicklungsbedingungen mit der Frage nach einer gelungenen Selbstwertfindung und einer tragfähigen Partnerschaft, die gesellschaftlichen Gegebenheiten und den zeitbedingten Vorstellungen von Kranksein. Dieses übergreifende Denken geriet mit den enormen Erfolgen der naturwissenschaftlichen Vorgehensweise über viele Jahrzehnte in Vergessenheit. Erst Sigmund Freud hat es mit seiner auf der naturwissenschaftlichen Basis aufbauenden Forschung und der Darlegung seiner Beobachtungen insbesondere auf der psychoanalytischen Couch geschafft, der einseitig organischen Betrachtung des Menschen die seelische Dimension wieder hinzuzufügen. Dabei ist es sein Verdienst, die starke Wirksamkeit des Unbewußten auf unsere Lebensgestaltung und auch auf Beschwerden seelischer und körperlicher Art hingewiesen zu haben. In einer einseitig biologisch bestimmten Umgebung waren und sind Freuds Erkenntnisse bahnbrechend. Sie weisen uns den Weg, bei unseren Kranken körperliche wie seelische Faktoren gleichwertig zu berücksichtigen. Der Weg dorthin war schwer und ist noch nicht vollends gelungen. Die Errichtung einer Psychosomatischen Beratungsstelle in der Medizinischen Poliklinik der Universität München vor 50 Jahren kann unter diesen Aspekten als Pionierleistung angesehen werden. Neben Anfängen auch in Heidelberg (Mitscherlich) und Hamburg (Jores) sahen der Klinikdirektor Walter Seitz und sein Assistent Johannes Cremerius bei der großen Anzahl von Patienten einer Poliklinik die Notwendigkeit, diese auch unter dem psychologischen Aspekt zu untersuchen, ohne auf die üblichen körperorientierten Maßnahmen zu verzichten. Der Bedarf war und ist groß. Sind doch etwa die Hälfte aller Patienten, die einen Arzt aufsuchen, mehr oder weniger schwer auch seelisch belastet. Dabei spielt dieser Anteil einmal eine stärkere, dann eine untergeordnete Rolle. Immer jedoch sollte er in einen Diagnose· und Therapieplan mit einbezogen werden. Die Forderung nach einer Simultandiagostik und -therapie ist gegeben. Damit kann dem Patienten in humaner Weise begegnet und auf viele frustrane Untersuchungen und Eingriffe verzichtet werden. Zahlen belegen diese Zusammenhänge. Sie könnten auch zur Gesundung des Gesundheitswesens beitragen. Eine rein reduktionistische Denkweise wird durch die technisch-materielle unterstützt und damit auch finanziell gefördert. Vielerorten jedoch hat sie bereits mit viel Erfolg einer multifaktoriellen, systemischen Platz gemacht.
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GROSS, KLL^MANN, KUSE-ISINGSCHULTE
Die Basis dafür haben vor 50 Jahren die Gründer der Psychosomatischen Beratungsstelle der Medizinischen Poliklinik der Universität München gelegt. Sie haben bewirkt, daß Lehrstühle an den meisten Universitäten eingerichtet, das Fach in die Approbationsordnung für Ärzte verankert und ein Facharzt für diese Disziplin kreiert wurde. So kann die Bedeutung der Pioniertat kaum überschätzt werden. Es ist uns eine Ehre, den Tag der Gründung dieser ältesten Psychosomatischen Einrichtung an einer Universität feierlich zu begehen. Ihre Pioniere sollen mit der Darlegung psychosomatisch-psychodynamischer Denkweise und entsprechenden Forschungsergebnissen in wissenschaftlichen Vorträgen, die unserer Zeit gemäß sind, geehrt werden. So wendet sich die Zusammenstellung der Vorträge an all diejenigen unserer Gesellschaft, die mit dem kranken Menschen zu tun haben. Mögen die Leserinnen und Leser Gewinn aus der Lektüre für die tägliche schwere Arbeit ziehen. Unser Dank gilt in erster Linie den Referenten für ihre Beiträge. Frau Karolina Birnkofer hat die Zusammenstellung und Überarbeitung des Konzepts wesentlich unterstützt und die Organisation des Symposions entscheidend mitgetragen. Ihr gilt unser besonderer Dank. Dieser gilt auch dem Verlag in der Person Dr. Brauners, der mit viel Engagement und Geduld am Entstehungsprozeß des Buches beteiligt war.
Rudolf Klußmann Manfred Gross Martin Kuse-Isingschulte
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Grußwort des Staatsministers Hans Zehetmair Zum Symposion „Perspektiven einer integrierten Psychosomatischen Medizin" anläßlich des 50jährigen Bestehens der Psychosomatischen Beratungsstelle der Medizinischen Poliklinik der Universität München übermittle ich Ihnen die besten Grüße der Bayerischen Staatsregierung. Zugleich gratuliere ich der Psychosomatischen Beratungsstelle zu ihrem Jubiläum und zu den in dieser Zeit erreichten eindrucksvollen Erfolgen in Forschung, Lehre und Kranken-Versorgung. Obwohl die Psychosomatik eine vergleichsweise junge Disziplin ist, hat sie an der Universität München bereits eine lange Tradition - gehört doch die Psychosomatische Beratungsstelle der Medizinischen Poliklinik neben vergleichbaren Einrichtungen in Heidelberg und Hamburg zu den Keimzellen der Psychosomatik in Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg erkannten der damalige Leiter der Klinik Professor Walter Seitz und sein Assistent Johannes Cremerius die Notwendigkeit, psychosoziale Aspekte in die Krankheitsbeurteilung einzubeziehen. Damit war an der Universität München der Weg für eine Medizin bereitet, die gleichberechtigt körperliches und seelisches Krankheitsgeschehen in Diagnostik und Therapie berücksichtigt. So konnten etwa von 1948 an die ersten Patienten der Poliklinik in einem Gesamtkonzept auch psychosomatisch-psychotherapeutisch behandelt werden, ab 1951 im Rahmen einer „Psychosomatischen Beratungsstelle". Die Medizinische Poliklinik mit ihrem breiten Patienten- und Krankheitsspektrum eignet sich in besonderem Maße für einen derartigen integrativen Ansatz. Dank der engagierten Tätigkeit der Psychosomatischen Beratungsstelle in den vergangenen fünf Jahrzehnten hat an der Universität München eine ganzheitliche Betrachtungsweise in viele klinische Bereiche Eingang gefunden und trägt dort wesentlich zu einem komplexeren Krankheitsverständnis bei. Dies belegen eindrucksvoll die Beiträge der Arbeitsgruppe Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im Rahmen des Veranstaltungsprogramms. Darüber hinaus finden auch die interdisziplinären Aspekte psychosomatischen Denkens in Form von geisteswissenschaftlichen Bezügen Berücksichtigung. Das zweitägige Symposion zu den Perspektiven einer integrierten Psychosomatischen Medizin bietet die Gewähr, daß den Teilnehmern eine Fülle neuer Informationen und ein tieferer Einblick in dieses wichtige Gebiet vermittelt wird. Als Schirmherr wünsche ich der Veranstaltung einen erfolgreichen Verlauf und eine breite Resonanz. München, im November 2000 Hans Zehetmair Bayerischer Staatsminister für Wissenschaft, Forschung und Kunst
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Grußwort des Direktors der Medizinischen Poliklinik Detlef Schlöndorff Spectabilis, lieber Herr Kollege Hoffmann, liebe Festgäste, das 50jährige Jubiläum der psychosomatischen Beratungsstelle an der Medizinischen Poliklinik ist in der Tat ein Grund zum Feiern und ein Anlaß, Herrn Klußmann als langjährigem Leiter dieser Beratungsstelle zu danken und zu gratulieren. Als Professor Seitz vor 50 Jahren die Psychosomatik an der Med. Poliklinik etablierte, war dies ein wichtiger und mutiger Schritt. Die Medizin an der Medizinischen Poliklinik hatte gerade eine finstere Zeit hinter sich gebracht, eine Periode der Unmenschlichkeit in der Medizin, bestimmt durch pseudowissenschaftliche ideologische Wahnvorstellungen, Rassenhaß, Verachtung der Grundwerte der abendländischen Zivilisation und der Menschenwürde überhaupt. Professor Seitz's Verdienst war es, an der Medizinischen Poliklinik wieder eine humane Medizin zu etablieren, in deren Mittelpunkt der kranke Mensch steht. Ich bin stolz darauf, daß die Poliklinik diese Tradition auf hervorragende Weise fortführt und fortführen wird. Selbstverständlich gehört die Wechselwirkung zwischen körperlicher Erkrankung und psychischer Belastung, d.h. eine psychosomatische Betrachtungsweise des Kranken, in die Tradition dieser humanen Medizin. Viel ist und wird geschrieben zur Apparatemedizin, die den Kranken selbst vernachlässige und mit der Entschlüsselung des Humangenoms werden von manchen Horrorszenarien einer entmenschlichten Medizin prophezeit. Ich fürchte, daß ein großer Teil dieser Diskussion eine politische Diskussion ist, mit teilweise ideologischem Einschlag. Der kranke Mensch wird immer mit seinen Beschwerden und Ängsten zum Arzt kommen, dessen Aufgabe es dann ist, aus den Beschwerden und Symptomen eine Verdachtsdiagnose zu stellen und entsprechende weitere Untersuchungen zu veranlassen. Solche Untersuchungen können technischer und labortechnischer Art sein, sie können aber auch ein vertieftes Gespräch mit Ergründung möglicher psychischer Ursachen beinhalten, d.h. die naturwissenschaftlich basierte Diagnostik und Therapie und die Psychosomatik ergänzen sich in der Behandlung des Patienten. Selbst wenn sich handfeste somatische Ursachen für die Beschwerden des Patienten ergeben, z.B. eine Form von Krebs, so muß der Arzt bei der Vermittlung der Diagnose und vor allem im Verlauf einer oft einschneidenden Therapie mit großem Einfühlungs- und Fingerspitzengefühl den Patienten und sein familiäres und soziales Umfeld in die Behandlung mit einbeziehen, d.h. er muß psycho11
SCHLÖNDORFF
somatische Aspekte mitberücksichtigen. Dazu gehört auch die Einschätzung und Berücksichtigung seiner eigenen Rolle und Wirkung auf den Patienten, d.h. der Arzt als Droge oder Medikament. Die Berücksichtigung, Erforschung und Umsetzung solcher besonderen Aspekte hat sich die psychosomatische Medizin zur Aufgabe gemacht. Eine breite Richtung innerhalb der Psychosomatik bezieht dabei ihren theoretischen Unterbau aus der Psychoanalyse, die ja wesentlich das Verständnis psychischer Prozesse im letzten, d.h. 20. Jahrhundert, mitbestimmt hat. Aber alles ist im Fluß und Konzepte müssen neue Erkenntnisse berücksichtigen. So werden auch die Konzepte der Psychoanalyse sich neuen Erkenntnissen aus der Psychologie, Psychiatrie und Neurobiologie anpassen müssen, wenn sie nicht zur Ideologie erstarren wollen. Man muß kein Prophet sein, um vorauszusagen, daß im Zeitalter der evidence-based medicine, d.h. des Konzeptes der Überprüfbarkeit von Diagnosen und vor allem der Evaluation der Effektivität von Therapiekonzepten, auch die psychosomatische Medizin einem Wandel unterliegen wird. Das sollte nicht Anlaß zu Ängsten oder zu heftigen Widerständen sein, sondern sollte als Chance aufgenommen werden, die Psychosomatik erfolgreich ins nächste Jahrtausend zu überführen. Denn schließlich steht ja niemals die Grundlage der psychosomatischen Medizin, d.h. die Wechselwirkung zwischen Psyche und körperlicher Krankheit in Frage. Was einem Wechsel unterliegen wird, sind hingegen die Methoden, wie man diese Wechselwirkungen aufklären kann und welche Art der therapeutischen Konsequenzen sich für den Kranken ergeben. In diesem Sinne bin ich zuversichtlich, daß die Psychosomatik im allgemeinen und insbesondere die Psychosomatik am Klinikum der LMU, auch in der Zukunft gedeihen und durch Flexibilität ihre Jugendfrische unter Beweis stellen wird. Dazu wünsche ich für die nächsten 50 Jahre den gleichen Pioniergeist und Erfolg wie in den vergangenen 50 Jahren. München, 12.01.2001
Prof. D. Schlöndorff
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Grußwort des Arbeitsgruppenleiters Psychosomatische Medizin der Medizinischen Fakultät der LMU München Michael Ermann Die Psychosomatik in München wird 50!! Ein Grund zum Rückblick, ein Grund zu gratulieren, ein Grund zum Feiern. Als Seitz mit Hilfe der amerikanischen Sponsoren vor 50 Jahren die erste psychosomatische Einrichtung an einer deutschen Universität gründete, war er ein Pionier. Der anschließende Rückblick auf die Entwicklung der Psychosomatischen Beratungsstelle wird uns in Erinnerung bringen, daß dieses psychosomatische Institut zur Heimat bedeutender Ärzte und Forscher unseres Faches wurde. Ich möchte hier nur erwähnen, daß die enge Verknüpfung der analytischen Psychotherapie mit der Inneren Medizin in Ihrer Einrichtung über lange Zeit wegweisend in Deutschland blieb. Das verdient besondere Anerkennung. Denn die Psychotherapie hat sich im Laufe der Jahre immer stärker verselbständigt und Anbindungen an die Psychiatrie und an die klinische Psychologie gefunden. Im Rahmen der Inneren Medizin ist sie - trotz bedeutender Persönlichkeiten - insgesamt aber randständig geblieben. Daß sie hier an unserer Fakultät dennoch lebendig blieb, dafür verdient dieser Institution besonderer Dank. 50 Jahre Psychosomatik in München ist auch ein Anlaß für einen Blick in die Gegenwart und Zukunft. Heute verfügen wir mit der Psychotherapeutischen Medizin in Deutschland über eine weltweit einmalige eigenständige Organisationsform der Psychosomatik und Psychotherapie in der Versorgung. An den meisten Universitäten ist dieser Entwicklung mit Lehrstühlen, Hochschulkliniken und eigenständigen wissenschaftlichen Abteilungen Rechnung getragen worden. Damit fand die enorme Häufigkeit von psychosomatischen Leiden auch im akademischen Bereich Niederschlag. Betroffen sind 20 Prozent der Bevölkerung und 30 Prozent der Patienten in der allgemeinen Medizin. München und die LMU sind dieser Entwicklung aber nicht ganz gefolgt. Wir haben hier einen besonderen Weg eingeschlagen und an verschiedenen Kliniken relativ kleine psychosomatische Arbeitsgruppen eingerichtet. Mit einigen Stolz können wir sagen, diese Gruppen in der Inneren Medizin, in der Frauenund Kinderheilkunde und in der Psychiatrie sind erfolgreich. Um die beschränkten Kräfte zu bündeln, haben wir vor 6 Jahren eine Arbeitsgruppe dieser psychosomatischen Einrichtungen ins Leben gerufen, die für dieses Fach spricht. Als informelle Einrichtung wird sie aber sicherlich viel zu selten gehört. In den Entscheidungsgremien der Fakultät ist sie nicht vertreten. Die Psychosomatik und Psychotherapie ist zwar inzwischen ein Pflichtfach im Unterricht, es fehlen ihr hier an der LMU aber die notwendigen Strukturen, um ihr im Kanon der Fä13
ERMANN
cher unserer Fakultät das notwendige Gewicht zu geben. Als Arbeitsgruppe vertreten wir deshalb seit langem die Meinung, daß wir auch hier Strukturen brauchen, die München und die LMU wieder zu einem bedeutenden Ort für die Psychosomatik machen. Arb*ll«|rnpp« PiychotemtllwHr Mcdifta and ri)cho(hrriplr - Pi)rhnthfr*prutltrhr Mfdl/1« · « (irr
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Mit Blick auf die Gegenwart und Zukunft erscheint der Erhalt und Ausbau unserer bewährten fach integrierten Arbeitsgruppen und Abteilungen unabdingbar. Psychosomatik ist ein integrativer Bestandteil der meisten medizinischen Fächer, und dort hat sie unverzichtbare Aufgaben. Das wird auch im Titel dieses Symposions thematisiert. Aber die Nützlichkeit unserer bestehenden Arbeit darf nicht über die Mängel der Gesamtsituation an unserer Fakultät hinwegtäuschen. Um unseren Platz als bedeutender Kooperationspartner mit den anderen Fächern zu behaupten, brauchen wir an dieser Medizinischen Fakultät einen Lehrstuhl für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und ein zentrales Institut. Das ist ein Gebot der Klugheit, um die Entwicklung, die hier vor 50 Jahren so hoffnungsvoll begann, weiter voranzutreiben und zu sichern. Zum Nutzen der Patienten, der Studenten und der Wissenschaft. Ihre Einrichtung, lieber Herr Klußmann, hat nicht nur die Wurzeln des Faches hier bei uns und in der deutschen Universitätslandschaft gelegt. Mit ihrer Arbeit hat sie die Notwendigkeit und Nützlichkeit der Psychosomatik täglich neu begründet. Dafür danke ich Ihnen im Namen unserer Arbeitsgruppe. Wir wünschen Ihnen und uns eine fruchtbare und erfolgreiche gemeinsame Zukunft. Michael Ermann
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Grußwort des Verbandspräsidenten Deutscher Internisten Gerd Hofmann Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, werte Festgemeinde - und hier bei dem Wort „Gemeinde" lassen Sie mich schon einhalten, wenn der Präsident des Internistenverbandes zur Eröffnung eines psychosomatischen Kongresses spricht. Wie viel Gemeinsamkeit offensichtlich oder hintergründig vorhanden ist, darum geht es ja. Deshalb sei gleich zu Beginn deutlich ausgesprochen: Psychosomatische Medizin ist integraler Bestandteil der Inneren Medizin. Die Zugehörigkeit der Psychosomatik zur Inneren Medizin wurde in der Zeitschrift Der Internist im 13.Jahrgang 1972 durch Herausgabe von zwei Heften mit dem Titel Psychosomatik eindrucksvoll demonstriert. Mein klinischer Lehrer, Eberhard Buchborn, hat für diese beiden Hefte eine Einführung zum Thema geschrieben, die nichts von ihrer Aktualität verloren hat, so daß man sich auch heute geradezu auf sie beziehen muß. Die enge Beziehung der Psychosomatik zur Inneren Medizin ist aber bis heute mehr angedacht als wirklich gelebt worden. Die häufig als zu einseitig somatisch kritisch betrachtete Orientierung der Inneren Medizin hat sich aus der durchaus fruchtbaren objektiven Verdinglichung des Menschen und seiner Krankheiten auf der naturwissenschaftlichen Grundlage ergeben. Dabei ist in der Praxis die Erfahrung des ganzheitlichen Charakters des Krankseins nie aus dem Bewußtsein verschwunden, aber in die wissenschaftliche Arbeit an den Inneren Erkrankungen nie gleichwertig einbezogen worden. Die Differenzierung „psychogen - somatogen" in ihrer versimplifizierenden Unidirektionalität kann man heute noch viel zu häufig hören. Wissenschaft vom Menschen als Ganzem ist unmöglich, das wissenschaftliche „en detail" ist in der Entwicklung auch der Inneren Medizin immer spezialisierter geworden. Und diese Spezialisierung hat ja dann den Begriff Ganzheit geradezu erst geboren. Ganzheit entsteht aus der Komplementierung von unterschiedlichen, ja durchaus auch gegensätzlichen wissenschaftlichen Ansätzen. Hier können wir von der Physik lernen: Heisenberg hat in seiner „Unschärfenrelation" ausgeführt: „Komplementäre Größen können mit voller Genauigkeit grundsätzlich nicht gleichzeitig bestimmt werden." Ich zweifle nicht daran, daß dies auch für die ärztliche Wissenschaft gilt. Dann läßt sich aber eine Maxime für ärztliches Handeln formulieren; die heißt: Das Prinzip der Komplementarität verwirklichen und hierbei stellt der psychosomatische Zusammenhang einen integralen Bestandteil dar. 15
HOFMANN
Dabei muß sich die psychosomatische Medizin aber derselben Herausforderung stellen wie alle Disziplinen der Inneren Medizin: methodenkritisch auf demselben Niveau zu arbeiten, d.h. ein evaluiertes Qualitätsmanagement zu verwirklichen und dies transparent zu machen. Dies ist um so notwendiger als Psychotherapie in toto ja immer wieder in die Schlagzeilen gerät: z.B. zuletzt Spiegel-Titel September 2000: Seelen-Heiler im Labyrinth mit dem ohne Zweifel tendenziösen Untertitel Sind die meisten Psychotherapieformen nutzlos oder gar Scharlatanerie? Oder z.B. die Veröffentlichung eines Lexikons der Psychoirrtümer (Rolf D. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, August 2000). Die Bemühungen der Inneren Medizin um die Evidenz ihrer Aussagen gelten für alle ihre Disziplinen, also auch für die Psychosomatik. Daß die strengen Kriterien der Evidence-Based-Medicine nicht überall anwendbar sind, schmälert diesen Qualitätsanspruch nicht. Die Transparenz des Qualitätsmanagement ist der beste Garant für eine Richtigstellung von ungerechtfertigten Vorwürfen. Ich wünsche dem Kongreß einen effektiven und erhellenden Verlauf.
Dr. G. C. Hofmann Präsident des Berufsverbandes Deutscher Internisten e.V.
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I. Zur Geschichte der Beratungsstelle
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RUDOLF KLUBMANN
Einführung und Einblick in die Geschichte der Psychosomatischen Beratungsstelle der Medizinischen Poliklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München* War die Gründung der Psychosomatischen Beratungsstelle der Medizinischen Poliklinik der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München eine Vision oder eine Illusion? Die pessimistische Seite in mir will mich immer wieder in den Bereich der Illusion, ja der Utopie, zurückholen und listet dafür wichtige Begründungen auf wie • du hast doch keine Chance, zwischenmenschliche Werte in einer Welt durchzusetzen, die von Technologie und Mammon bestimmt ist und • was willst du schon in einer wissenschaftlichen Umgebung groß bewegen, wenn dort nur das gilt, was gesehen und gemessen werden kann und • einseitig reduktionistisches Denken, das als einzig anerkannter Zugang zur Krankheit und damit zum kranken Menschen angesehen wird und schließlich • wie gehst du damit um, daß das Maschinenmodell für Krankheiten vorherrscht? Hinzu kommt, daß psychodynamisches Denken und Handeln und damit das (psychotherapeutische) Gespräch auch finanziell weit unterbewertet werden. Meine optimistische Seite hingegen überwiegt trotz dieser düsteren Wolken am Himmel des Äskulap. Denn immerhin feiern wir heute einen 50. Geburtstag! Und wir haben viel erreicht und in Bewegung gesetzt! Zudem erinnere ich mich an die Eröffnungsrede des Münchener Internisten Eberhard Buchborn auf dem 86. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin 1980 in Wiesbaden. Er betonte, daß die „Einzelwissenschaften für die Medizin nur Teilaspekte und Teilwahrheiten" der „gesamten Wirklichkeit" darstellen können und kam zu dem Schluß: „So mußte auch die naturwissenschaftliche Medizin in den 150 Jahren ihrer kumulativen Entfaltung an Grenzen ihrer Erfahrung stoßen, die mit den Methoden der Morphologie und Physiologie, der Biophysik und Biochemie nicht zu überschreiten waren. Weitere Fortschritte im Krankheitsverständnis waren daher nur zu erwarten von einer Grenzüberschreitung zu weiteren Wissen*
Eingangsreferat anläßlich des Symposions zum 50jährigen Bestehen der Psychosomatischen Beratungsstelle der Medizinischen Poliklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München am 12./13. Januar 2001 19
KLUßMANN
Schäften vom Menschen/ Ich möchte mit Mitscherlich ergänzen: „Die organpathologisch denkende naturwissenschaftliche Medizin hat die Dynamik der Erlebnisverarbeitung unterschätzt. Die Psychoanalyse hat das wettgemacht/' Bei gleichwertig-simultaner Beurteilung des Somas und der Psyche, die das Unbewußte einschließt, bekommt das Wort „psychosomatisch" die ursprüngliche Bedeutung zurück und braucht und sollte nicht mehr mit „psychogen" gleichgesetzt werden. Vielmehr ist das bio-psycho-soziale Modell v. Uexkülls zukunftweisend. Es überwindet einseitig reduktionistisches Denken mit der Annahme einer linear-monokausalen Verursachung von Krankheiten und ersetzt es durch ein multifaktorielles Krankheitskonzept. Die Einrichtung einer Psychosomatischen Beratungsstelle kann für die damalige Zeit als bahnbrechend bezeichnet werden. Urärztliches Anliegen im Sinne eines Sich-Kümmerns um den kranken Menschen steht hinter der Idee und deren Verwirklichung. Ihre Gründer erkannten, daß die Behandlung der Patienten mit den herkömmlichen Mitteln der Pharmakologie wie der Operationen nicht ausreichte und nur den geringeren Anteil der Patienten wirklich erreichte. Das Klientel einer Poliklinik ähnelt demjenigen der Praxis eines niedergelassenen Arztes. Die Poliklinik ist eine universitäre Einrichtung, die zwischen laborwissenschaftlichem und klinisch-wissenschaftlichem Anspruch angesiedelt ist. Letzterer ist der Zugang zum kranken Menschen mit dem Dialog zwischen Arzt und Patient „als Medium", der „dem Interview als wissenschaftlichem Instrument zur Erforschung des Menschen" als wichtiger Schlüssel zur Seite gestellt wird. Und Engel ist davon überzeugt, „daß das Interview das mächtigste, umfassendste, empfindsamste und vielseitigste Instrument ist, das dem Arzt zur Verfügung steht." Die Objektivität der Krankheitseinschätzung wird durch dieses Vorgehen vergrößert. Es handelt sich allerdings um eine „andere Art der Datenerfassung". Aber erst dadurch wird es möglich, den hiatus scientificus in Richtung einer praktischen Medizin zu überwinden. Den zahlreichen Patienten mit somatoformen, neurotischen und Persönlichkeitsstörungen kann damit besser geholfen werden. Der damalige Klinikdirektor und Gründer der Abteilung, Walter Seitz, war von seinen Lehrern Richard Siebeck und Gustav von Bergmann geprägt und von der Anthropologie Viktor von Weizsäckers fasziniert. Er widmete sich dem Studium der Psychoanalyse bei Fritz Riemann und führte diese zusammen mit Johannes Cremerius in die Medizinische Poliklinik ein. In seinem umfassenden Ansatz warnte Seitz jedoch auch vor der Gefahr einer Psychologisierung der Medizin und vertrat ein offenes, alle Seiten gleichwertig berücksichtigendes Konzept der Krankenbehandlung. Da Seitz ein sehr offener, stets neugieriger Chef war, ließ er seinem Assistenten Johannes Cremerius (mit einigen berühmt gewordenen Adlaten) Handlungsfreiheit. Es war also möglich geworden - wie sich Cremerius ausdrückte - , „drei 20
EINFÜHRUNG UND EINBLICK IN DIE GESCHICHTE DER PSYCHOSOMATISCHEN BERATUNGSSTELLE
Dinge unter einem Dach (zu vereinen), die bisher noch nie miteinander existiert hatten: Das Krankenbett, das Labor und die psychoanalytische Couch." Eine erste Sprechstunde im Rahmen der poliklinischen Ambulanz wurde 1948 abgehalten. Bald aber mußte ein festerer, sicherer Rahmen geschaffen werden. Es stellte sich schnell heraus, daß die Patientenversorgung und die notwendige Forschung durch zwei interessierte Assistenten nicht annähernd zu bewältigen waren. Die Frage war diejenige nach der Finanzierung einer eigenen Abteilung. Cremerius gelang es, eine größere Spende des High Commisioner for Germany of the United States einzuwerben. Dadurch konnte er Räume ausstatten, Assistentenstellen schaffen und gründete die Psychosomatische Beratungsstelle für Erwachsene zusammen mit einer für Kinder, die kürzlich Karl-Heinz Brisch übernommen hat. Als Cremerius auf den psychosomatisch-psychotherapeutischen Lehrstuhl in Freiburg berufen wurde, übernahmen zunächst Hans Kilian, dann Siegfried Elhardt, Wolfgang Zander und schließlich ich die Beratungsstelle. Es waren überwiegend Internisten und in einem Zweitstudium voll ausgebildete Psychoanalytiker, die die integrative Sichtweise des kranken Menschen im Rahmen eines psychodynamischen Verständnisses weitergetragen haben. Sie bereiteten damit den Boden für die Etablierung des Faches in der Medizinerausbildung. Und mehr noch: Ich zitiere aus dem Glückwunschbrief von Johannes Cremerius. Er schreibt: „Walter Seitz und ich hatten vor 50 Jahren nicht ahnen können, daß die Psychosomatik, damals in Deutschland noch kaum bekannt, heute ihren Platz in der Wissenschaft vom Menschen gefunden hat und sich in der Medizin mit eigenen Lehrstühlen präsentiert." Mit der Einführung der Psychosomatik/Psychotherapie als Pflichtfach im Rahmen der Approbationsordnung von 1970 wurde das Fach auch in universitärem Rahmen wesentlich aufgewertet. Dadurch kamen aber neue Aufgaben auch auf die Beratungsstelle zu. Die betrafen zunächst nur die Lehre. Aus anfänglicher Angst heraus, den Patienten zu verletzen, blieben wir lange bei der Vermittlung unserer theoretischen Vorstellungen. Die Kritik seitens der Studenten wurde lauter, weil die Patientenferne größer wurde und sich niemand recht vorstellen konnte, was wir eigentlich mit Begriffen wie dem Unbewußten, der Übertragung, der innerpsychischen Abwehr, des Widerstandes meinten. Schließlich gingen wir dazu über, Patienten aus unserer immer hochfrequentierten psychosomatischen Ambulanz mitzubringen, um den Unterricht lebensnäher und lebendiger zu gestalten. Interessant ist ein Blick auf die Forschungsinitiativen. Cremerius hatte früh erkannt, daß nicht alle Patienten einer Poliklinik in analytischen Langzeitbehandlungen therapiert werden konnten und begann bereits damals Projekte mit Kurztherapien. Andere Forschungsschwerpunkte ergaben sich aus der Zusammenarbeit mit den übrigen Abteilungen der Klinik wie der des Stoffwechsels, der 21
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Angiologie und der Rheuma-Einheit. Auch die Weiterentwicklung der Psychoanalyse von der Triebpsychologie Freuds über die Ich- und Selbst-Psychologie bis zur Objektbeziehungstheorie fand ihren Niederschlag im Denken und Handeln der jeweiligen Leiter der Beratungsstelle. Kaum jemals jedoch wurde die körperliche oder die seelische Seite des kranken Menschen einseitig betrachtet. Das ist nicht zuletzt aus der langen Publikationsliste der Abteilung bis heute zu ersehen. Dieser Zugang zum kranken Menschen scheint selbstverständlich und wird zumindest in Sonntagsreden - auch immer wieder betont. Dennoch will ich die Schwierigkeiten nicht leugnen, denen die Psychosomatik im Medizinbetrieb ausgesetzt ist und denen sie sich stellen muß. Das bezieht sich nicht nur auf die Beratungsstelle in ihrer heutigen Struktur. In besonderer Weise will ich die Innere Medizin nennen. Ist sie doch das Fachgebiet, aus dem sich ganzheitliches Denken entwickelt hatte! Es ist verbunden mit Namen der Heidelberger von Krehl, Siebeck, von Weizsäcker und den Münchnern Friedrich von Müller, Heyer, von Bergmann. Inzwischen aber werden brisante Fragen der inneren Medizin den Psychiatern überlassen - z.B. wie die Morbidität des Helicobacter wirklich aussieht, ob die Fibromyalgie und das Chronique-fatigue-Syndrom nur pharmakologisch behandelt werden sollten und auch - wie mit Schwerkranken umzugehen sei. Hier scheint mir eine enge und intensive, respektvolle kollegiale Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Fachabteilungen vonnöten. Ein integratives Konzept der Krankenbehandlung könnte hier Abhilfe schaffen und Spaltungen begrenzen. Mit der Einrichtung einer Psychosomatischen Beratungsstelle haben Walter Seitz und Johannes Cremerius versucht, einen ganzheitlichen Zugang zum kranken Menschen zu finden. Ihre Pionierleistung hat bewirkt, daß die Medizin um die psychodynamisch-psychologische, um die spezifisch menschliche Dimension wie mein geistiger Mentor Arthur Jores sich ausdrückte - erweitert wurde. Dieser, durch Seitz und Cremerius initiierte Weg kann nicht nur die Not der Patienten adäquater lindern, iatrogene Chronifizierungen hintanhalten und/oder verhindern, sondern auch einen Beitrag zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen leisten. In moderner, unvergleichlicher Art beschäftigt sich Robert Gernhardt mit unserem Problem. Zum Schluß möchte ich Ihnen sein Gedicht „Noch einmal: mein Körper" vorlesen: Mein Körper rät mir: Ruh dich aus! Ich sage: Mach ich, altes Haus! 22
EINFÜHRUNG UND EINBLICK IN DIE GESCHICHTE DER PSYCHOSOMATISCHEN BERATUNGSSTELLE
Denk aber: Ach, der Siehts ja nicht! Und schreibe heimlich dies Gedicht. Da sagt mein Körper: Na, na, na! Mein guter Freund, Was tun wir da? Ach gar nichts! Sag ich aufgeschreckt, und denk: Wie hat er das entdeckt? Die Frage scheint recht schlicht zu sein, doch ihre Schlichtheit ist nur Schein. Sie läßt mir seither keine Ruh: Wie weiß mein Körper Was ich tu? Ich denke, daß wir - die Ludwig-Maximilians Universität, ihre Medizinische Fakultät und die ihr zugehörige Medizinische Poliklinik - gerade in unserer technologisch orientierten Zeit allen Grund haben, den runden Geburtstag der Psychosomatischen Beratungsstelle in ihrem 50jährigen Bestehen gebührend zu feiern und ihre Gründer damit zu ehren. • • •
Zum Schluß gestatten Sie mir noch einige wenige Anmerkungen zum Symposion selber. Zusammen mit Herrn Gross habe ich das Programm so zusammengestellt, daß zunächst die Arbeitsgruppe „Psychosomatische Medizin und Psychotherapie - Psychotherapeutische Medizin" - der Medizinischen Fakultät unserer Universität ihre Initiativen und Projekte vorstellt. Danach wird Herr Tschamler aus geisteswissenschaftlicher Sicht seine Vorstellungen zu unserem Thema darlegen; mit ihm und seinem Institut führen wir ein Medizin-Pädagogik-Projekt durch. Danach wird Frau Leuzinger-Bohleber Grundlagen psychosomatischpsychoanalytischen Denkens erörtern. Herr Wurmser wird in seinem Festvortrag aus seinem Blickwinkel die Überlegungen erweitern und vertiefen. Morgen werden dann Herr Hoffmann aus Mainz und Herr Gross auf spezifischere gastroenterologische Probleme eingehen. Danach wird in Abänderung des 23
KLUßMANN
Programms Herr Professor Dr. med. Wolfgang Herzog aus Heidelberg das integrierte internistische Konzept seiner berühmten Heidelberger Abteilung vorstellen und den Handlungsansatz mit Zahlen untermauern. Ich freue mich über die so kurzfristige Zusage von Herrn Herzog. Dennoch muß ich Ihnen auch sagen, daß sich Herr Buchheim einer plötzlich notwendig gewordenen Operation unterziehen und damit seine Teilnahme hier absagen mußte. Auch er läßt Sie alle herzlich grüßen. Zum Verständnis und zur Behandlung psychosomatischer Erkrankungen werden die Herren Kapfhammer, von Rad und Küchenhoff sprechen. Den Abschluß bildet der Vortrag von Herrn Stamm-Kuhlmann aus Greifswald, der als Historiker wie zuvor der Pädagoge Tschamler - den Blick über den Tellerrand der psychosomatischen Medizin werfen und die psychosomatischen Krankheiten Bismarcks in psychohistorische Überlegungen einbringen wird. Ein Potpourri? Ich zweifele nicht daran, daß Sie angeregt nach Hause gehen werden! Und abschließend noch ein Hinweis, der mir am Herzen liegt: in diesem Gebäude unserer Universität wurde von den Geschwistern Scholl und Professor Huber zusammen mit vielen anderen aktiver Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime geleistet. Sie haben Gelegenheit, die „Denk Stätte Weiße Rose" am Lichthof unserer Universität zu besuchen.
Literatur Buchborn E 1980: Die Medizin und die Wissenschaft vom Menschen, Verh.Dt.Ges.lnn.Med.86 XLIII Cremerius J 1992: Vorwort In: (Hrsg) R. Klußmann: Psychosomatische Beratung, Vandenhoeck & Ruprecht, Cöttingen Engel GL 1996: Wie lange noch muß sich die Wissenschaft der Medizin auf eine Weltanschauung aus dem 17. Jahrhundert stützen? In: (Hrsg): RH Adler, JM Herrmann, Κ Köhle, OW Schonecke, Th von Uexküll: Uexkuell Psychosomatische Medizin, Urban&Schwarzenberg, München Gernhardt R 1999: Reim und Zeit. Gedichte, Reclam, Stuttgart Klußmann R 1992: Anhang In: (Hrsg) R.Klußmann: Psychosomatische Beratung, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Mitscherlich A 1953: Zur psychoanalytischen Auffassung psychosomatischer Krankheitsentstehung, Psyche 10., 561-578 Uexküll Th v, W Wesjack 1988: Theorie der Humanmedizin - Grundlagen ärztlichen Denkens und Handelns, Urban & Schwarzenberg, München Weiner Η 1998: Immer wieder Reduktionismus? Das Beispiel des Helicobacter pylori, PPmP Psychother.Psychosom.med.Psychol.48,425-429
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JOHANNES CREMERIUS
Zur Vor- und Frühgeschichte der Psychosomatischen Beratungsstelle Die Geschichte der Beratungsstelle begann im September 1949 damit, daß Walter Seitz mich einer amerikanischen Kommission, die junge Ärzte von Universitätsabteilungen, die politisch unbelastet waren, für das re-education-Programm suchten, für einen Amerika-Aufenthalt vorschlug. Das verschaffte mir, gerade Facharzt für Psychiatrie und Neurologie geworden und am Beginn meiner psychoanalytischen Ausbildung, die Möglichkeit, an die Orte in den USA zu gelangen, die damals das Mekka der jungen Wissenschaft Psychosomatische Medizin waren: Chikago, mit Franz Alexander; New York, mit S. Wolf (Psychosomatische Forschungsabteilung an der Cornell Universität) und New York, mit Kaufmann und Margulin am Mount Sinai Hospital. Natürlich besuchte ich auch das Psychoanalytische Institut in New York (hier hatte ich vor allem Gespräche mit Kurt Eissler und Rudolph, M. Loewenstein), das Training- und Forschungsinstitut an der Columbia Universität New York (Sandor Rado), die Menninger Clinic in Topika (Karl Menninger) und, was den Psychiater besonders interessierte, das Zentrum für Psychosentherapie in Chesnut Lodge (Frieda Fromm-Reichmann). In New York begeisterte mich der große Zauberer Moreno in seinem Psychodrama-lnstitut. Nach meiner Rückkehr erhielt Walter Seitz im Winter 1949/50 eine großzügige amerikanische Stiftung - eine erfreuliche Folge meiner Reise - mit dem Auftrag, an den beiden Polikliniken im Hause, an der Medizinischen wie an der Pädiatrischen Poliklinik, eine Psychosomatische Beratungsstelle einzurichten. Professor Weber, der Direktor der Pädiatrie, begrüßte diesen Plan und tat gerne mit. Beauftragt mit der Einrichtung der beiden Stellen machte ich mich daran, Räume und Mitarbeiter zu suchen. Carl Klüwer übernahm zusammen mit dem Pädagogen Kurt Seelmann die Beratungsstelle in der Pädiatrie. Die Suche nach Mitarbeitern für die Beratungsstelle in der Medizinischen Poliklinik war nicht sehr schwierig, da in dem „Mittwoch-Kreis'', der seit 1949 wöchentlich in unserer Wohnung im Färbergraben tagte, geeignete und interessierte Kollegen und Kolleginnen zur Verfügung standen. Wegen der großen Hilfe, die dieser Kreis der Beratungsstelle für viele Jahre geleistet hat, zähle ich hier die Namen der Teilnehmer auf. Da sind zunächst die Namen derer, die in den nächsten Jahren meine Mitarbeiter wurden: Maria Oelze, Wilhelm Hose, Siegfried Elhardt, Rolf Klüwer, Hans Kilian (chronologisch geordnet), dann die weiteren Teilnehmen an dem Mittwochkreis: Frau Elhardt, Fritz Friedmann, Lotte Köh25
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1er, Friedrich Kocicka, Carl Klüwer, Siegfried Langhans, Paul Matussek, Charlotte Neumann, Ulrich Otto, Otmar Reinecke, Maria Renner und meine Frau. Als Gäste haben im Laufe der Jahre teilgenommen: Thure von Uexküll und Helmut Stolze. In diesem Kreis lasen wir Freud und arbeiteten uns in nächtelangen Diskussionen in die Begrifflichkeit seines Werkes ein. Die Kollegen vom amerikanischen Hospital, vor allem Dr. Perle, welche über außerordentlich gute theoretische Kenntnisse der Psychoanalyse und über klinische Erfahrungen in der Anwendung derselben verfügten, waren dabei eine große Hilfe. Die ersten Mitarbeiter aus diesem Mittwochkreis waren die Ärzte Maria Oelze und Siegfried Elhardt. Mit dem amerikanischen Geld konnten die beiden Mitarbeiter und eine Halbtagssekretärin, Frau Rohmer, bezahlt und die Räume möbliert werden - natürlich im Stil eines analytischen Behandlungszimmers mit einer Liege und dem am Kopfende stehenden Analytikersessel. So hatte es auch unser Lehranalytiker, Fritz Riemann, bei dem wir alle zur selben Zeit, auch Walter Seitz, in Analyse waren, insgesamt 16 Personen. Jeder erhielt zwei Stunden pro Woche. Ich selber erhielt nach zwei Jahren unbezahlter Tätigkeit an der Poliklinik 1951 eine planmäßige Stelle als Assistenzarzt mit 300 DM im Monat. In den 10 Jahren meiner Tätigkeit dort arbeiteten mit mir Wilhelm Hose, Hans Kilian und Rolf Klüwer langfristig, Helm Stierlin und Hanns Schiefele vorübergehend. Die heutigen Kollegen und Kolleginnen können sich kaum noch vorstellen, wie schwierig der Anfang war. Eine der größten Schwierigkeiten war die Beschaffung von Fachliteratur. Bis zum Jahre 1954 war es z.B. fast unmöglich, FreudTexte zu besorgen. Die wenigen Texte, die wir in Antiquariaten fanden und die uns Freunde liehen, erlaubten z.B. nicht, sich ein Gesamtbild der psychoanalytischen Theorie zu machen. Natürlich gab es auch noch kein Vokabular der Psychoanalyse. Das bedeutete lange, schwierige, oft endlose Diskussionen über die Definition bestimmter Begriffe. Das Jahr 1954 schaffte hier Abhilfe. Über die Witwe des bekannten Analytikers, Pfarrer Pfister, konnte ich dessen Bibliothek für einen geringen Betrag für die Beratungsstelle erwerben. Wie sollte nun der Transport stattfinden? Ohne mich um eine Einfuhrgenehmigung etc. zu kümmern, setzte ich mich in meinen Volkswagen und fuhr nach Zürich. Zum Glück brachte ich den Schatz unkontrolliert über die Grenze nach München. Mit diesem Grundstock - es waren vor allem die Klassiker der Psychoanalyse Abraham, Rank, Sachs, Fenichel u.a., die gerade erscheinende erste Freudausgabe bei S. Fischer, und die Zeitschrift „Psyche" - waren wir jetzt im Bereich der Psychoanalyse gut ausgerüstet. Im Bereich der Psychosomatik halfen uns die amerikanischen Freunde, die ich während meiner Reise gewonnen hatte. Sie schickten die damaligen Standardwerke der Psychosomatik und regelmä26
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ßig die Zeitschrift „Psychosomatic Medicin". Über den Freund Werner Schwidder erhielten wir die „Zeitschrift für Psychosomatische Medizin". Das Problem der Beratungsstelle war, daß sie sich in München in einer extrem isolierten Position befand. Die Entwicklungen in unserem Fachgebiet fanden in Berlin und Heidelberg/Frankfurt statt. Hier half wieder die amerikanische Dotation. Mit ihrer Hilfe konnten wir auswärtige Gäste zu Vorträgen und Seminaren einladen. Das Glück wollte es, daß auch zwei Männer kamen, mit deren Zusage wir nicht zu rechnen gewagt hatten: Zunächst Medard Boss und später Michael Balint. Beide haben uns, jeder auf seine Weise, weitergeholfen. In den Technischen Seminaren mit Boss erlebten wir zum ersten Mal, was das eigentlich praktisch bedeutet, eine psychoanalytische Behandlung einleiten, weiterführen und beenden, wie Deutung stattfinden muß, wie mit Übertragung und Gegenübertragung gearbeitet wird. Balint setzte diese Fortbildung in psychoanalytischer Praxis systematisch fort. Mit ihm erlebten wir ein Stück der großen psychoanalytischen Tradition, wie sie sich nach Ferenczi in Budapest entwickelt hatte. Sein großes Verdienst war, daß er im Hörsaal der Medizinischen Poliklinik, eingeführt von Walter Seitz, öffentliche Vorlesungen über Psychoanalyse hielt. Es war das erste Mal, daß dies in München geschah. Sein internationaler Ruf lockte viele Hörer an. Der Hörsaal war bis auf den letzten Stehplatz gefüllt. Es war Balint gelungen, die Jugend für die Psychoanalyse zu begeistern. Bald entstanden Arbeitsgruppen, die sich dem Studium der Freudschen Werke widmeten. Ich spürte Balints Wirkung daran, daß meine Vorlesungen von jetzt an stets überfüllt waren. Eine andere Hilfe, aus dieser Isolation herauszukommen, erfuhren wir durch die Veranstaltungen von Mitscherlich in Heidelberg, an denen einige von uns teilnahmen. Dort lehrten die großen Repräsentanten unseres Faches, viele von ihnen ehemalige Dozenten am Berliner Psychoanalytischen Institut: Alexander, Bally, Balint, Eissler, Heimann, Hoffer, Lampl-de-Groot, Grunberger, Spitz und viele andere. Ich benutzte die Besuche von Boss und Balint zur Supervision, gelegentlich ergab sich auch in Heidelberg die Möglichkeit, einen Fall mit einem der Vortragenden zu besprechen. Aus der Empörung über die Behandlung der Nazi-Opfer während der AdenauerÄra entstand der Plan, an der Beratungsstelle ein Zentrum für die Begutachtung der Verfolgten des Nazi-Systems einzurichten. (Erst 1952 gelang es der SPD eine Mehrheit im Bundestag für ein Wiedergutmachungsabkommen zu erreichen.) Walter Seitz als SPD-Mann stimmte meiner Idee zu, und bald fanden sich viele derer ein, deren Anträge auf Anerkennung ihrer Verfolgungsschäden bisher von deutschen Ärzten, insbesondere von deutschen Psychiatern, abgelehnt worden waren. Die Personen, die zu uns kamen, litten in der Regel an somatischen wie psychischen Störungen. Das Problem war, daß damals Neurosen, den Terminus „Psychosomatik" gab es in der Versorgungsmedizin noch nicht, noch nicht als 27
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entschädigungspflichtige Leiden anerkannt waren. Seitz und ich mußten also Begründungen für die Entschädigungspflicht finden, die von den Behörden respektiert werden konnten. Das fiel nicht leicht, da uns noch jegliche entsprechende Literatur fehlte. Die Publikationen von Eissler, Bayer, Häfner, Kisker, wie die von Niederland, erschienen erst nach 1960. Zu unserer Genugtuung ist es uns gelungen, weit mehr als hundert Geschädigten zu ihrem Recht zu verhelfen. Ein Teil meiner Erfahrungen erschien 1960 in dem Buch „Verfolgung und Angst", das Hans Marsch herausgab. Daß dieses Buch, trotz der Beiträge von von Bayer, Jores und Strauss und der Publikation in dem damals renommierten Klett-Verlag, keine Beachtung in der deutschen Ärzteschaft fand, zeigt an, welche Einstellung zur Begutachtung Verfolgter in Deutschland damals vorherrschte. Einen positiven Effekt hatte das Begutachtungszentrum für die Beratungsstelle insofern, als sie sie nach außen bekannt machte. Von nun an fanden Patienten den Weg zu uns ohne überweisenden Arzt, und einige Ärzte begannen, uns Patienten anzuvertrauen. Das nächste Ereignis, das die Münchener Öffentlichkeit auf uns aufmerksam machte, war die Feier zu Freuds 100. Geburtstag im Jahre 1956, die unter dem Vorsitz von Walter Seitz im Hörsaal der Poliklinik stattfand. Auch dieses Mal war der Hörsaal brechend voll. Außer den Mitarbeitern der Beratungsstelle sprachen noch Paul Matussek und Fritz Riemann. Von der Presse besonders hervorgehoben wurden die Vorträge von Hans Kilian „Psychoanalyse und Anthropologie" von Hanns Schiefele „Freuds Bedeutung für die Kunstbetrachtung" und von Rolf Klüwer „Psychoanalyse und religiöser Glaube". Der Münchener BeckVerlag publizierte die Vorträge. Sie erzielten zwar kein reges, aber doch ein gewisses Interesse für das Geschehen. Erstaunlicherweise waren es katholische Kreise, die sich für uns zu interessieren begannen. Auf Anregung einer katholischen Kollegin bildete sich eine kleine Arbeitsgruppe zu Gesprächen über Theologie und Psychoanalyse. An ihr nahmen Romano Guardini und der Theologe Paul Dessauer neben dem Analytiker Paul Matussek und mir teil. Über zwei Jahre trafen wir uns regelmäßig einmal im Monat zu einem abendlichen Gespräch. Von den Themen, die wir bearbeiteten, erinnere ich noch: „Psychoanalyse und Beichte", „Wo Es war, soll Ich werden", d.h. wieviel Trieb darf zugelassen werden, oder anders gefragt, ab wann in der kindlichen Entwicklung und in welchem Umfang müssen korrigierende, regulierende, verbietende Maßnahmen einsetzen?, „Trieb und Kultur", „Der Begriff der Sünde in analytischer Sicht", „Die psychoanalytische Einstellung zur Sexualität im Erwachsenenalter", „Sexuelle Freiheit in der Ehe". Beide Teile haben von diesen Gesprächen viel gewonnen. Vielleicht haben sie auch ein wenig dazu beigetragen, die Zurückhaltung in der Münchener Bevölkerung uns gegenüber etwas zu verringern.
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Mitte der 50er Jahre hatte sich unsere kleine Gruppe soweit in die Psychosomatik eingearbeitet und soweit mit der psychoanalytischen Methode vertraut gemacht, daß wir uns zutrauten, eine psychosomatische Forschungsarbeit in der Art, wie Franz Alexander sie initiiert hat, zu unternehmen. Wir wählten als Gegenstand derselben den Diabetes melitus - und zwar aus zwei Gründen: Zum einen gab es darüber noch kaum Publikationen in unserem Fachgebiet, zum anderen unterhielt der Kollege Mehnert im Hause eine Diabetiker-Ambulanz, von der wir profitieren konnten. Wir waren alle sehr glücklich, als wir die Zusage der Deutschen Forschungsgemeinschaft erhielten, daß sie das Projekt für drei Jahre finanziell unterstützen werde. Ich glaube, es war eine der ersten Forschungsarbeiten im Gebiet einer psychoanalytisch orientierten Psychosomatik, die in Deutschland diese Auszeichnung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft erhalten hat. Wir gingen in derselben Weise vor wie Franz Alexander. Jeder von uns nahm einen für eine Analyse geeigneten Kranken in eine, wenn eben möglich hochfrequente Analyse, und protokollierte die Stunden. Diese Protokolle diskutierten wir täglich unter dem Aspekt der Spezifität. Walter Seitz nahm des öfteren an diesen Diskussionen teil. Wir erhielten von ihm manche fruchtbaren Hinweise aus seiner Erfahrung mit Diabetes-Kranken. Durch seine persönliche Analyse war er ein kompetenter Gesprächspartner. In vier Veröffentlichungen in der „Psyche" machten wir die Ergebnisse unserer Arbeit bekannt. Um dieselben auch in der nicht-psychotherapeutischen Ärzteschaft bekanntzumachen, publizierten wir sie auch in zwei medizinischen Zeitschriften. Der Erfolg befriedigte uns. Die Studie wurde in Fachkreisen positiv aufgenommen, was wir an der lebhaften Korrespondenz bemerkten, die sich entwickelte. Leider blieb das Echo aus der organischen Medizin und von Seiten der Praktiker gering. Mich brachte diese Arbeit dazu, zu untersuchen, welches Konzept Freud über die Entstehung psychogener Körpersymptome hatte. Die Reaktionen der Fachwelt auf diese Untersuchung zeigte, daß das Thema Interesse fand und wenig bearbeitet war. Die zahlreichen Einladungen an auswärtige psychoanalytische und/oder psychosomatische Institute, über das Thema vorzutragen, bestätigten dies. Eine andere Arbeit, die sich aus der Diabetes-Studie ergab, behandelte das „Problem der Spezifität der Persönlichkeitstypen und der Konflikte in der Psychosomatischen Medizin", eine Arbeit, an der alle Mitglieder des Teams engagiert mitgearbeitet haben. Das Studium der funktionellen Pathologie von Gustav von Bermann machte mich auf die funktionellen Syndrome aufmerksam, die wir sehr häufig in der Beratungsstelle sahen. Was mich an ihnen insbesondere interessierte, war ihre Verlaufsform: Sind es vornehmlich chronische Verläufe, die das Leben begleiten, gibt es Spontanremissionen, kommt es zum Phänomen des Symptomwandels aus dem funktionellen in den psychischen oder organischen Bereich etc.? Die Ergebnisse dieser Untersuchung habe ich dann später in „Die Prognose funktioneller Syndrome" im Enke-Verlag veröffentlicht.
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Von Kurt Kolle, der nach Bumke den Psychiatrischen Lehrstuhl übernahm, haben wir leider keine Hilfe erfahren. Unsere Hoffnung darauf, genährt von seinen früheren psychotherapiefreundlichen Publikationen, wurden enttäuscht. Im Gegensatz zu ihnen tat er nichts zur Förderung der Psychotherapie/Psychoanalyse. Vielmehr entpuppte er sich als ihr Gegner. Immer wieder benutze er die psychiatrische Vorlesung, um gegen die Psychoanalyse zu polemisieren; die psychotherapeutische Ambulanz, die seit Jahren an der Klinik bestand, zunächst von Stolze, später von Ruckteschel geleitet, löste er zwei Jahre nach Amtsantritt auf; die Lehranalyse, der sich einige seiner Mitarbeiter unterzogen, unterband er auf die Weise, daß er verbot, sie während der Dienstzeit aufzusuchen. Da in der Regel Abendstunden schwer zu haben waren, haben manche ihre Analysen nicht fortsetzen, andere sie nicht beginnen können. (Nach außen hat er diese Einstellung zur Psychotherapie verborgen. Als Görres im Auftrage der Deutschen Forschungsgemeinschaft bei ihm anfragte, ob an seiner Klinik Psychotherapie betrieben werde, antwortete er: Natürlich werde an seiner Klinik Psychotherapie betrieben.) Auf unsere Beratungsstelle war er, aus Gründen, die Walter Seitz und ich nie haben ergründen können, schlecht zu sprechen. Hilfe erfuhren wir dagegen durch Gustav von Bergmanh. Er schickte uns für die Analyse geeignete Patienten und ließ sich immer gerne über den Fortgang und den Abschluß der Behandlungen berichten. Bei diesen Gesprächen erlebten wir ihn als sensiblen, taktvollen Zuhörer mit großem Einfühlungsvermögen. Oft gingen wir mit Anregungen zu den vorgetragenen Patienten nach Hause. Zu seinem 75. Geburtstag 1953 widmete ich ihm einen Aufsatz, in dem ich die Berührungspunkte zwischen seiner funktionellen Pathologie und der psychosomatischen Medizin nachwies. Als ich 1948 meine Arbeit an der Seitzschen Klinik begann, riet Seitz mir, einen Besuch bei Oswald Bumke, dem Direktor der Psychiatrischen Klinik, zu machen. Da standen wir uns nun gegenüber, der alte Feind der Psychoanalyse, der 1931 geschrieben hatte: „Die Psychoanalyse darf man heute als erledigt betrachten" und ich, einer von jenen jungen Leuten, die dabei waren, der Psychoanalyse wieder eine Stellung in der Therapie wie in der Forschung zu beschaffen, die - so glaubten wir ganz fest - ihr zustehe. Als ich ihm von meiner psychoanalytischen Ausbildung und von meinem wissenschaftlichen Vorhaben erzählte, blieb sein Gesicht unbewegt. Seine alte Ablehnung der Psychoanalyse hat er nie wieder geäußert. Er hatte das Glück, den Siegeszug der Psychoanalyse und der Psychosomatik nicht mehr erleben zu müssen. Er starb vorher. Leider sollte sich seine schlechte Prognose für die Psychoanalyse - in dem Fall zwar nur für München - erfüllen, und Freuds ebenso schlechter Prognose für München recht geben. Erst mit einer Zeitverschiebung von mehr als 10 Jahren fand München Anschluß an die Entwicklung in den übrigen Bundesländern: 1974 entstand eine erste psychosomatische Abteilung innerhalb der Psychiatrie, die ihr Leiter, Siegfried Elhardt, bereitslO Jahre später wieder verließ. In seiner 30
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Abschiedsrede erklärte er, daß die Abteilung eine bloße Alibifunktion habe. Es gebe weder ausreichend Personal, noch Ausbildungsplätze. Die räumliche Unterbringung sei menschenunwürdig; die nächste psychosomatische Abteilung wurde dann erste 1984, dieses Mal im Klinikum Rechts der Isar, eingerichtet. Hier übernahm Michael von Rad die Leitung; ebenfalls außerhalb der alten Medizinischen Fakultät entstand 1976 ein Lehrstuhl für Poliklinik der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Technischen Universität. Auf ihn wurde Jochen Stork berufen. Unter die schlechte Prognose für unser Fach in München ist auch die von Seitz und mir gegründete Psychosomatische Beratungsstelle gefallen. Bis heute hat sie nicht jene Stellung in der Universität gefunden, die ihr aufgrund ihrer klinischen und wissenschaftlichen Bedeutung zukommt. Ich wünsche ihr Glück und Erfolg für noch viele Jahre.
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II. Aus der Arbeitsgruppe Psychosomatische Medizin und Psychotherapie: Projekte und Ergebnisse
KARL HEINZ BRISCH
Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie Bindung und ihre Störungen Die Abteilung Kinderpsychosomatik bestand 1999 bereits seit 50 Jahren an der Kinderpoliklinik der Universität München und ist die älteste Kinderpsychosomatik in Deutschland. Sie wurde ursprünglich mit finanzieller Unterstützung der Alliierten nach dem Krieg als „Child Guidance Clinic" gegründet und hatte neben der Diagnostik und Behandlung von Kindern, Jugendlichen und deren Familien durchaus auch den von politischen Ideen geleiteten Hintergrund, daß eine solche frühzeitige Erziehungsberatung von Eltern und ihren Kindern einen Beitrag zum Aufbau eines neuen demokratischen Deutschlands leisten könnte. Die Kinderpoliklinik kann damit auf eine lange Tradition kinderpsychosomatischer Diagnostik und psychoanalytischer Behandlung zurückschauen, während eine Abteilung Kinderpsychosomatik in der Vergangenheit am Dr. von Haunerschen Kinderspital in dieser Form nicht existierte. Mit der Fusion der Kinderkliniken der Ludwig-Maximilians-Universität im Jahre 1998 sind der Aufgabenbereich der pädiatrischen Psychosomatik und die Patientenanfragen enorm gewachsen, da jetzt die spezifische psychosomatische Versorgung auch im Dr. von Haunerschen Kinderspital angeboten wird (vgl. auch Geiso, 1992). Die Anfragen für ambulante und stationäre Behandlungen von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen ist groß. Nach epidemiologischen Studien leiden 2025% aller kranken Kinder an psychosomatischen Erkrankungen, aber nur 1 % dieser Kinder wird mangels ausreichender Möglichkeiten gezielt behandelt. Die Patienten in der Kinderklinik sind in einigen Bereichen zu mehr als 80% chronisch kranke Kinder mit allen Schwierigkeiten der Krankheitsverarbeitung für die Kinder und ihre Eltern. Das Ausmaß der psychosozialen Belastungen für diese Familien ist groß und erfordert eine notwendige begleitende psychotherapeutische Hilfestellung. Der Bedarf wächst, denn durch die Entwicklungen in der Intensivmedizin und Neonatologie überleben immer mehr sehr kleine Frühgeborene, deren Eltern und Kinder Hilfestellungen bei der Verarbeitung der Frühgeburt und möglicher peri- und postnataler Komplikationen und Risiken benötigen können. Auch in der Transplantationsmedizin sind die psychosozialen Belastungen, die etwa mit einer Transplantation eines Herzens oder auch einer Knochenmarkstransplantation verbunden sind, für die Kinder und ihre Familien sehr groß. Auch in der Kinderchirurgie ist eine intensive Präsenz der Kinderpsychosomatik erforderlich. Viele Kinder mit unklaren Schmerzsymptomen, wie etwa Bauch35
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schmerzen, bedürfen der psychosomatischen Abklärung und oft auch der Behandlung. Die Unfallpatienten, etwa nach Verbrennungstraumata oder nach Autounfällen, sowie deren Familien benötigen eine psychosoziale Langzeitbetreuung, die während der stationären Behandlung auf den Weg gebracht werden sollte. Die Versorgung dieser Kinder wird durch eine intensive Liaisontätigkeit einzelner Mitarbeiterinnen auf den Spezialstationen sowie durch eine Konsiliartätigkeit auf den allgemeinpädiatrischen Stationen gewährleistet. Insgesamt ist aber die Personalausstattung im Vergleich mit dem Gesamtbedarf bei weitem nicht ausreichend. So steht etwa für den psychosomatischen Konsiliar- und Liaisondienst auf den allgemeinpädiatrischen Stationen und den Intensivstationen im Dr. von Haunerschen Kinderspital nur eine Psychologin zur Verfügung. In den kinderklinischen Abteilungen im Klinikum Großhadern fehlen bisher noch gänzlich Mitarbeiter vor Ort, die einen kinderpsychosomatischen Konsiliar- und Liaisondienst anbieten könnten. Auch eine kinderpsychiatrische Diagnostik und Behandlung im Dr. von Haunerschen Kinderspital und in der Kinderpoliklinik wird vom Team der Kinderpsychosomatik durchgeführt, wenn sich im Rahmen der pädiatrischen Behandlung von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen entsprechende kinderpsychiatrische Fragestellungen ergeben. Dies betrifft auch Kinder mit Vernachlässigung sowie nach Mißhandlung und Mißbrauch. Zur weiterführenden nachstationären Behandlung wird in enger Kooperation mit den Sozialdiensten und Kinderschutzzentren an die entsprechenden Fachabteilungen und niedergelassene Kollegen verwiesen. Die Station der Kinderpsychosomatik umfaßt zur Zeit 4-6 Behandlungsplätze. Hier werden Kinder in einer therapeutischen Gemeinschaft nach einem milieutherapeutischen Gruppenkonzept behandelt, die auf Grund der Schwere oder der Chronifizierung ihrer psychosomatischen Erkrankung nicht ausreichend ambulant behandelt werden können oder deren somatische Erkrankung sich in einem so schweren Zustand befindet, daß eine stationäre pädiatrische Betreuung und eine psychotherapeutische Behandlung Hand in Hand gehen müssen, wie etwa bei Patienten mit Asthma bronchiale, Anorexia nervosa und Bulimie, Colitis ulcerosa, oder anderen schweren somatoformen Erkrankungen. Das Behandlungskonzept legt neben der psychoanalytischen Einzel- und Familienbehandlung einen Schwerpunkt auf die Gruppenbehandlung, in der non-verbale Therapieverfahren mit Musik, Kunst und Gestaltung sowie Bewegungs- und Tanztherapie in der Gruppe kombiniert werden. Besonders diese non-verbalen Methoden können in der Gruppe für die psychosomatisch kranken Patienten einen ersten Zugang zu ihren Gefühlen ermöglichen, die sonst nur über die Ebene der Körper- und Symptomsprache zum Ausdruck kommen.
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PÄDIATRISCHE PSYCHOSOMATIK UND PSYCHOTHERAPIE
Der Bedarf an stationären kinderpsychosomatischen Behandlungsplätzen ist allerdings weitaus größer und wird auch durch die in anderen Kliniken im Münchner Raum zur Verfügung stehenden Behandlungseinheiten bei weitem nicht abgedeckt, so daß Kinder und Eltern mit viel zu langen Wartezeiten vertröstet werden müssen. Für die Behandlung von Mädchen mit einer Magersuchtserkrankung betragen die Wartezeiten bis zu einer stationären Aufnahme zur psychotherapeutischen Behandlung in München teilweise 6 Monate und länger. Ein gutes Therapieergebnis ist aber immer schwieriger zu erzielen, je länger die Erkrankung während der Wartezeit chronifiziert. Diese verschiedenen Aufgaben können nur in enger Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen wie etwa des psychosozialen Dienstes, mit den Lehrerinnen der Schule, den Erzieherinnen und Ergotherapeutinnen und der Krankenhausseelsorge geleistet werden. Sinnvoll und anzustreben ist eine zukünftige stationäre Behandlungseinheit Kinderpsychosomatik mit 8 Betten für Kinder im Alter von 4-12 Jahren und 8 Betten für Jugendliche im Alter von 13-18 Jahren, so daß zwei Gruppen milieutherapeutisch behandelt werden können. Weiterhin ist die Einrichtung einer Tagesklinik mit 8 Behandlungseinheiten für Mütter mit Säuglingen und Kleinkindern in der Altersgruppe von 0-3 Jahren dringend erforderlich. Hier könnte eine Gruppenbehandlung angeboten werden, die speziell Müttern mit Säuglingen zugute kommt, die viel schreien und kaum zu beruhigen sind, oder die an Schlaf- und Eßstörungen leiden oder schon sehr früh zeigen, daß sie sich nur langsam auf eine Beziehung zu ihren Eltern einlassen. Solche frühen Behandlungen von Interaktionsstörungen in der ElternKind-Beziehung könnten langfristig eine Chronifizierung von psychosomatischen Symptomen verhindern. Insgesamt ist die Psychosomatik ein Gewinnunternehmen, da kostenintensive somatische Diagnostik und teure medikamentöse Behandlung der Kinder in der Regel entfallen und lediglich die reinen Personalkosten gegengerechnet werden müssen, die relativ konstant und damit gut kalkulierbar sind. Aus diesem Grund ist ein Ausbau der Kinderpsychosomatik dringend erforderlich, weil kostensparend frühzeitig psychosomatische Erkrankungen fachspezifisch behandelt werden können und langfristig sich wiederholende stationäre Behandlungen in der somatischen Akutklinik mit kostenintensiver Diagnostik vermieden werden könnten. Durch das enge Zusammenspiel zwischen somatischer und psychosomatischer Medizin in einem Hause kann hier frühzeitig ein gemeinsamer Weg der Diagnostik und Therapie beschritten werden, so daß der Psychosomatiker nicht mehr erst dann gerufen wird, wenn per Ausschlußdiagnostik sonst keine andere Erklärung für die Symptomatik mehr übrigbleibt.
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Bindung von der frühesten Kindheit bis ins Erwachsenenalter Der Autor übernahm zum 1. Mai 2000 die Leitung der Abteilung Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie. Da der Autor seit vielen Jahren zum Thema „Entwicklung der kindlichen Bindung und ihrer Störungen" wissenschaftlich arbeitet, erhielt die Abteilung damit auch einen eigenen Forschungsschwerpunkt.
Die Bindungstheorie Die Bindungstheorie besagt, daß sich ein Säugling im Laufe des ersten Lebensjahres spezifisch an diejenige Pflegeperson bindet, die dieses Kind in Pflegeund Spielsituationen in feinfühliger Weise behandelt. Feinfühligkeit bedeutet, daß die Bindungsperson die Signale des Säuglings wahrnimmt, sie richtig interpretiert und angemessen und prompt darauf reagiert. In der Regel wird die Mutter zur Hauptbindungsperson, aber es kann dies auch der Vater, ein Geschwisterkind, die Großmutter oder etwa die Tagesmutter sein. Fühlt sich der Säugling von seiner spezifischen Bindungsperson getrennt, reagiert er mit Trennungsprotest: er weint, ruft und sucht aktiv nach seiner Bindungsperson. Dieses Verhalten ist aus evolutionsbiologischer Sicht für den Säugling und das Kleinkind überlebensnotwendig. Die Hauptbindungsperson verkörpert für den Säugling einen „sicheren Hafen", den er bei Aktivierung seines Bindungssystems, - etwa bei Trennung, Angst, Gefahr, Erkrankung - , aufsuchen kann. Beruhigt sich sein Bindungssystem wieder durch die Anwesenheit der Bindungsperson und etwa durch Körperkontakt mit ihr, kann der Säugling anschließend auch die Umwelt wieder erkunden. Bindung und Erkundung der Umwelt stehen in einem wechselseitigen Verhältnis. Nur wenn das Bindungssystem beruhigt ist, kann der Säugling und das Kleinkind seine Umwelt entsprechend seinem Neugierverhalten erforschen. Sicher gebundene Kinder nutzen ihre Bindungspersonen als sichere emotionale Basis: sie reagieren im Alter von einem Jahr mit Protest auf die Trennung von dieser Person sehr spezifisch und suchen sie bei Gefahr als „sicheren emotionalen Hafen" auf. Unsicher vermeidend gebundene Säuglinge äußern nur wenig oder gar keinen Protest auf eine Trennung, unterdrücken ihre Gefühle und ignorieren eher die Bindungsperson bei deren Rückkehr. Unsicher ambivalent gebundene Säuglinge geraten selbst durch eine kurzfristige Trennung in einen solchen Erregungszustand, daß sie sich auch viele Minuten später nach der Rückkehr ihrer Bindungsperson noch nicht wieder beruhigen und trösten lassen. Sie klammern die Bindungsperson teilweise extrem und vermeiden jegliche Trennung von ihr. Kinder nach Vernachlässigung, Mißhandlung und Mißbrauch zeigen zusätzlich noch deutlich desorganisierte Verhaltensweisen wie kurzfristige absenceartige Zustände, motorische Stereotypien, widersprüchliche Verhaltensmuster, die nicht durch eine neurobiologische Erkrankung, etwa 38
PÄDIATRISCHE PSYCHOSOMATIK UND PSYCHOTHERAPIE
ein Krampfleiden, erklärt werden können. Säuglinge von Müttern, die selbst eine schwerwiegende, noch unverarbeitete Traumatisierung, - wie etwa durch sexuellen Mißbrauch und Mißhandlung - , erlebt haben, zeigen ebenfalls solche desorganisierten Sequenzen in ihrem Bindungsverhalten (Spangler & Zimmermann, 1995).
Bindungsstörungen In klinischen Stichproben von Patienten finden sich darüber hinaus verschiedene Bindungsstörungen, die auf eine tiefgreifendere Veränderung in der Bindungsentwicklung zurückzuführen sind (Brisch, 1999). So zeigen etwa manche Straßenkinder selbst in extremen Bedrohungssituationen kein Bindungsverhalten und ziehen sich eher einsam und alleine zurück, als daß sie sich in ihrer Not vertrauensvoll an eine Bindungsperson wenden würden. Andere zeigen undifferenziertes Bindungsverhalten, indem sie sich an jede beliebige, momentan verfügbare Person wenden und diese um Hilfe ersuchen. Dieses Pseudo-Bindungsverhalten ist nicht spezifisch, sondern beliebig austauschbar. Besonders Kinder nach vielfältigen Wechseln in den Betreuungssystemen während der ersten Lebensjahre und nach Traumatisierungen zeigen solche Bindungsstörungen. Eine Gruppe von Kindern klammert so sehr, daß sie nicht in den Kindergarten gehen können und kaum eine auch nur kurzfristige Trennung von ihrer Bindungsperson tolerieren, selbst wenn sie schon das Grundschulalter erreicht haben. Sie verweigern manchmal den Schulbesuch, weil eine Trennung massive Ängste auslöst. Auch aggressiv-provokatives Verhalten als Form der Beziehungsgestaltung kann Ausdruck einer Bindungsstörung sein. Frühe Formen der MutterKind-Störung mit psychosomatischen Symptomen wie Schrei-, Schlaf-, Eßstörungen können Zeichen einer Bindungsstörungen sein. Besonders Patienten mit Eßstörungen sowohl im Kindes- wie auch im Jugendalter mit Anorexia nervosa oder Bulimie zeigen in ihren Beziehungen oft erhebliche Störungen in ihrer Bindungsentwicklung. Weitere Risikogruppen stellen Kinder und Säuglinge dar, bei denen durch Irritationen in der Schwangerschaft und durch frühzeitige Entbindung gerade bei extremer Frühgeburtlichkeit die Entwicklung einer Eltern-Kind-Bindung nicht so ungestört verläuft wie bei reifgeborenen Kindern. Die Bindungsentwicklung kann zusätzlich durch neurobiologische Risiken wie etwa Hirnblutungen belastet sein. Bei sehr kleinen Frühgeborenen sind peri- und postnatale Risiken sowie die Entwicklung einer Behinderung im ersten Lebensjahr häufiger mit der Ausbildung einer unsicheren Bindungsqualität verbunden, trotz feinfühliger elterlicher Interaktionen, denen allgemein bei Reifgeborenen eine Schutzfunktion für die Entwicklung einer sicheren Bindung zugeschrieben wird. Dies zeigt, daß die Neurobiologie in diesen Risikogruppen einen bedeutungsvollen Einfluß haben kann. 39
BRISCH
Modell für die Psychosomatik Die Bindungsforschung zeigt, daß Kinder mit bindungsvermeidendem Verhalten bereits mit einem Jahr gelernt haben, ihre Bindungsverhaltensweisen zu unterdrücken und nicht nach außen zu zeigen. Sie können dies aber nur auf Kosten einer erhöhten inneren Streßbelastung erreichen. Dies äußert sich darin, daß sich bei ihnen nach kurzen Trennungssituationen im Alter von einem Jahr die höchsten Streßreaktionen fanden, wie sie etwa durch die Erhöhung der Herzfrequenz, der Veränderung des Hautwiderstandes und durch eine Erhöhung des Cortisols im Speichel gemessen wurde. Damit besteht eine enge Verbindung zur Psychosomatik: diese Kinder äußern in Trennungs- und Bedrohungssituationen ihre ethologischen Verhaltensbereitschaften und die damit verbundenen Affekte nicht nach außen. Diese Unterdrückung ist von einer erhöhten physiologischen Erregung begleitet. Von psychosomatischen Patienten wissen wir, daß sie über belastende Situationen und die damit verbundenen intensiven Gefühle oft nicht sprechen können und diese teilweise auch nicht wahrnehmen, stattdessen reagieren sie mit körperlichen Symptomen als Ausdruck ihrer inneren Erregung (Spangler & Schieche, 1995).
Bindung und Psychotherapie Die Erkenntnisse der Bindungstheorie lassen sich ganz hervorragend für die Psychotherapie nutzen. Wenn ein Patient psychisch oder psychosomatisch erkrankt, ist „Angst" oft ein Leitsymptom, sei es, daß diese Angst offen geäußert wird oder sei es, daß sie über Körpersymptome und damit verbundene körperliche Erregungszustände ausgedrückt wird. Angst aktiviert aber das Bindungssystem des Menschen, so daß psychisch kranke Patienten im Psychotherapeuten eine sichere emotionale Basis suchen mit der Hoffnung, daß durch die therapeutische Beziehung das aktivierte Bindungssystem sich wieder beruhigen kann und die Angst abnimmt. Der sicheren emotionalen Bindung zwischen Patient und Psychotherapeut kommt eine große Bedeutung zu, da in der Psychotherapieforschung nachgewiesen werden konnte, daß ein guter Therapieerfolg häufiger mit einer sicheren Bindungserfahrung des Patienten in der Therapie verbunden ist (Orlinsky, Grawe & Parks, 1994). Auch für die Entwicklung und Umsetzung von Interventionsprogrammen läßt sich die Bindungstheorie nutzen. Aus amerikanischen Studien liegen inzwischen Längsschnittdaten aus Präventionsprogrammen für psychosozial hochbelastete Familien über ein Zeitspanne von 25 Jahren vor. Diese zeigen, daß teilweise eine Unterbrechung von Teufelskreisen in Hochrisiko-Familien möglich ist, wenn die Interventionen sehr früh in den ersten Lebensjahren beginnen. Diese Ergeb-
40
PÄDIATRISCHE PSYCHOSOMATIK UND PSYCHOTHERAPIE
nisse beinhalten eine Botschaft mit weitreichenden politischen Konsequenzen (Egeland, Carlson & Sroufe, 1993).
Psychosomatische Forschung Mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Hübner-Stiftung und der Köhler-Stiftung konnten verschieden Forschungsprojekte durchgeführt werden, die auf der Bindungstheorie aufbauen. Sie befassen sich mit der frühkindlichen Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung unter Risikobedingungen und der Durchführung und Auswertung von psychotherapeutischen Interventionsprogrammen. Ein Grundlagenforschungsprojekt untersucht in einer prospektiven Längsschnittstudie die Bindungsentwicklung von extrem kleinen Frühgeborenen unter Berücksichtigung der neurobiolgischen und der elterlichen Schutz- und Risikofaktoren. Eine Interventionsstudie unterstützte die Eltern durch eine präventive elternzentrierte psychotherapeutische Intervention mit dem Ziel der Verarbeitung des Frühgeburtserlebens und der Förderung des Aufbaus der Eltern-Kind-Beziehung (Brisch et al., 1996; Brisch et al., 1997). Eine andere Längsschnittstudie untersuchte den Angstverlauf und die Bewältigungsstrategien von mehr als 600 Frauen, die zur pränatalen Ultraschall-Fehlbildungsdiagnostik kamen sowie von 150 Kontrollschwangeren ohne Risiko (Brisch et al., 2000). Durch eine Intensivpsychotherapie unmittelbar ab dem Zeitpunkt der stationären Aufnahme wegen drohender Frühgeburt wurden in einer weiteren prospektiven Studie Schwangere unterstützt, die durch die Aufnahme und die Gefährdung ihrer Schwangerschaft sehr beunruhigt und geängstigt waren (Mahler et al., 1999). Es ist das Ziel dieser Studien, durch Grundlagen- und Interventionsforschung zu einer Verbesserung der frühkindlichen Entwicklung und der Eltern-Kind-Interaktion von Kindern mit hohem Entwicklungsrisiko beizutragen. Damit kann thematisch ein Anliegen fortgeführt werden, das im Dr. von Haunerschen Kinderspital schon eine lange Tradition hat.
41
BRISCH
Literatur Brisch, Κ. Η. (1999). Bindungsstörungen Cotta.
- Von der Bindungstheorie
zur Therapie.
Stuttgart: Klett-
Brisch, Κ. H., Buchheim, Α., Köhntop, B., Kunzke, D., Schmücker, G., Kachele, H., & Pohlandt, F. (1996). Präventives psychotherapeutisches Interventionsprogramm für Eltern nach der Geburt eines sehr kleinen Frühgeborenen - Ulmer Modell. Randomisierte Längsschnittstudie. Monatsschrift für Kinderheilkunde, 144, 1206-1212. Brisch, Κ. H., Gontard, A. v., Pohlandt, F., Kachele, H., Lehmkuhl, G., & Roth, B. (1997). Interventionsprogramme für Eltern von Frühgeborenen. Kritische Übersicht. Monatsschrift für Kinderheilkunde, 745(5), 457-465. Brisch, K. H., Münz, D., Bern merer-Mayer, Κ., Kreienberg, R., Terinde, R., & Kächele, H. (2000, 27. Juli). Ultrasound scanning for diagnosis of fetal malformation: Anxieties and coping processes of pregnant women. Paper presented at the 7th Congress World Association for Infant Mental Health, Montreal / Canada. Egeland, B. R., Carlson, Ε., & Sroufe, L. A. (1993). Resilience as process. Special Issue: Milestones in the development of resilience. Development and Psychopathology{5), 517-528. Geiso, T. v. (1992). Psychosomatik und Pädiatrie. Psychosomatische Arbeiten an der Kinderpoliklinik der Universität München. In R. Klußmann (Hrsg.), Psychosomatische Beratung (S. 43-53). Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht. Mahler, G., Barth, U., Kächele, H., Kreienberg, R., Zimmer, L, & Brisch, Κ. H. (1999). Bewältigungsstrategien von Risikoschwangeren mit drohender Frühgeburt. In S. Hawighorst-Knapstein, G. Schönefuß, P. G. Knapstein, & H. Kentenich (Hrsg.), Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe. Beiträge der Jahrestagung 1998 (S. 99-105). Gießen: Psychosozial-Verlag. Orlinsky, D. Ε., Grawe, K., & Parks, Β. K. (1994). Process and outcome in psychotherapy - noch einmal. In Α. E. Bergin & S. L. Garfield (Hrsg.) (4 ed., pp. 270-376). Handbook of Psychotherapy and behavior change: Wiley. Spangler, G., & Schieche, M. (1995). Psychobiologie der Bindung. In G. Spangler & P. Zimmermann (Hrsg.), Die Bindungstheorie. Grundlagen, Forschung und Anwendung (S. 297-310). Stuttgart: Klett-Cotta. Spangler, G., & Zimmermann, P. (Hrsg.). (1995). Die Bindungstheorie. Anwendung. Stuttgart: Klett-Cotta.
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Grundlagen,
Forschung und
MANFREDSTAUBER, RALPH KÄSTNER, KIRSTIN HÄRTL, MARIANNE MÜLLER, ANDREA GINGELMAIER, ANGELIKA ΚΝΟΒΒΕ, CHRISTINE FRIEDL
Perspektiven einer integrierten psychosomatischen Medizin - psychosomatische Projekte und Ergebnisse in der Frauenheilkunde An der I. Frauenklinik der Universität München gibt es seit 1987 eine Abteilung für psychosomatische Geburtshilfe und Gynäkologie. Bereits Jahre früher bestanden solche Abteilungen im deutschsprachigen Raum an einigen anderen Universitäts-Frauenkliniken z.B. in Berlin, Düsseldorf, Hamburg, Würzburg, Wien, Hannover und Freiburg. Besonders hilfreich und wichtig für den Aufbau von integrierten psychosomatischen Abteilungen in der Frauenheilkunde waren sowohl die Deutsche als auch die Internationale Gesellschaft für psychosomatische Geburtshilfe und Gynäkologie, die z.Z. im deutschen Raum ca. 1000 und international ca. 5000 Mitglieder haben. Auf den Kongressen dieser Gesellschaften erfolgten umfangreiche Bestandsaufnahmen zur Forschung, Lehre und Klinik. Es wurde hierbei auch eine Basisliteratur in Form zahlreicher Kongreßbände erstellt. In den letzten Jahren entstanden im deutschen Raum mehrere Lehrbücher, u.a. ein Referenzwerk für Ausbildung und Praxis im Springer-Verlag (Stauber et al. 1999). Von Uexküll bezeichnete wiederholt die Integration der Psychosomatik speziell im Fach Frauenheilkunde in den 80er und 90er Jahren als besonders gelungen. Ein außerordentlich großer Fortschritt für eine integrierte Psychosomatik im Fach Frauenheilkunde gelang schließlich noch 1993 mit der Festschreibung einer für die Facharztausbildung verpflichtenden Weiterbildung - in Theorie, Interventionstechnik und Balintgruppenarbeit. Es soll hier nicht verschwiegen werden, daß bei vielen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für psychosomatische Geburtshilfe und Gynäkologie gelegentlich der Eindruck entstand, daß die Universitäts-Frauenkliniken einen unfruchtbaren Boden für eine integrierte Psychosomatik darstellen. Ein Hinweis darauf sind die nur zögernd aufblühenden Abteilungen für dieses Fach an wenigen Universitäts-Frauenkliniken (vgl. Stauber M. 2000). Als an der I. Universitäts-Frauenklinik die psychosomatische Abteilung 1987 gegründet wurde, gab es - wie erwartet - auch eine Reihe von Widerständen, die diesem damals hier neuen Fach entgegenstanden. Die monokausale Denkweise der Naturwissenschaftler im Ärztekreis stand der Berücksichtigung individueller, psychosozialer Störfaktoren entgegen. Es gelang allerdings mit Hilfe dosierter 43
STAUBER, KÄSTNER, HÄRTL, MÜLLER, GINCELMAIER, ΚΝΟΒΒΕ, FRIEDL
Vorträge und Interventionen in den Ärztebesprechungen, diese Abwehr langsam zu unterlaufen. Ein besonders hilfreicher Weg war und ist noch heute der wiederholte Hinweis auf die zahlreichen Gründe, die für eine psychosomatische Sorgfaltspflicht in der Frauenheilkunde wichtig sind. In Abb. 1 werden diese Gründe zusammengefaßt.
Psychosomatische Sorgfaltspflicht in der Frauenheilkunde Das Fach Geburtshilfe und Gynäkologie bedarf in besonderer Weise einer psychosomatischen Sorgfaltspflicht, • da es eine große Zahl von Symptomen gibt, die psychisch bedingt oder mitbedingt sind (z.B. Sexualstörungen, Schwangerschaftserbrechen, Unterbauchschmerzen, unerfüllter Kinderwunsch, Zyklusstörungen) • besonders vulnerable Zeitabschnitte behandelt werden wie Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett, Pubertät, Adoleszenz, Klimakterium • da Patientinnen mit sehr traumatisierenden Krankheitsbildern behandelt werden, die eine psychosomatische Begleitung erforderlich machen, z.B. Genitalcarcinome, Brustkrebs, frustraner Kinderwunsch, HIV bzw. Sucht in der Schwangerschaft. • da das Fach Gynäkologie und Geburtshilfe große Sensibilität erfordert.
Abbildung 1: Psychosomatische Sorgfaltspflicht
in der Frauenheilkunde
Die häufigen Symptome in der Frauenheilkunde, die psychisch bedingt oder mitbedingt sind, werden in Abb. 2 aufgeführt.
44
PSYCHOSOMATISCHE PROJEKTE UND ERGEBNISSE IN DER FRAUENHEILKUNDE
Symptome in der Frauenheilkunde mit evtl. Psychogenese
Sexualstörungen
\
häufiger
/
Hyperemesis gravidarum Klimakterische Beschwerden Fluor, Pruritus vulvae Vorzeitige Wehen, Gebärstörungen Laktationsstörungen Zyklusstörungen (sek. Am., Anov.) Sterilität, Infertilität Blasenentleerungsstörungen OP-Entscheidungen
\\Psychogenese//
\ / \ / \ / \ / \/ seltener
Abbildung 2: Symptome in der Frauenklinik
mit evtl. Psychogenese
Da in der hier erbetenen komprimierten Darstellung wissenschaftliche Projekte und Ergebnisse in der integrierten psychosomatischen Medizin vorgestellt werden sollen, folgen einige Beispiele aus der Universitäts-Frauenklinik München anhand von Abbildungen. Ein noch in Berlin begonnenes und hier in München fortgesetztes wissenschaftliches Projekt ist die Thematik der Betreuung onkologischer Patientinnen. In Abb. 3 wird ein Überblick zu dieser Langzeitstudie gegeben
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STAUBER, KÄSTNER, HÄRTL, MÜLLER, GINGELMAIER, ΚΝΟΒΒΕ, FRIEDL
Abbildung 3: Psychoonkologische Langzeitstudie an der I. UFK München
46
PSYCHOSOMATISCHE PROJEKTE UND ERGEBNISSE IN DER FRAUENHEILKUNDE
Sowohl bei Patientinnen mit Mamma- als auch mit Genitalcarcinomen wurde bereits vor mehr als 10 Jahren eine psychosomatische Langzeitstudie eingeleitet, die für eine Laufzeit von 10-20 Jahre konzipiert ist. In einem ersten Teil wurde ein gleichbleibendes Patientinnen-Kollektiv präoperativ, postoperativ und im Rahmen der Nachsorge untersucht. Dies geschah und geschieht weiterhin durch mehrere Dissertationen. Die bisherigen Ergebnisse brachten uns in den letzten Jahren eine Reihe von praxisnahen Interventionsmöglichkeiten für die Betreuung von krebskranken Patientinnen in der Klinik und in der Nachsorge (Strack, Fischer, Knobbe, Fischer, Hirsch, Engert). Eine spezielle Fragestellung in der Psychoonkologie betrifft die immer wieder diskutierte Thematik nach der Wertigkeit von Strukturdominanten bei der Carcinogenese. Hier haben wir im Rahmen von zwei Dissertationen bereits vor ca. 10 Jahren zahlreiche Daten, psychologische Tests und Interviews bei der gynäkologischen Vorsorge erhoben. Diese Basisdaten sollen nun anhand der in der Literatur vermuteten Hypothesen aktuell überprüft werden. Es geht dabei um die Frage, ob es eine psychisch auffällige Risikogruppe - also eine „Krebspersönlichkeit" gibt - die sich prospektiv bestätigen läßt. Die Psychosomatik speziell in der Geburtsmedizin - und hier vor allem auch im Hinblick auf die Prävention mütterlicher und kindlicher Störungen - spielt eine besonders wichtige Rolle. Angefangen vom unerfüllten Kinderwunsch, bis hin zur frühen Mutter-Kind-Beziehung werden von unserer psychosomatischen Arbeitsgruppe mehrere Fragestellungen bearbeitet. Wir dürfen dazu auf zwei Projekte hinweisen: Beim ersten Projekt geht es um die Betreuung suchtkranker Mütter, deren Embryonen und Feten über die Plazenta ebenso wie die Mütter suchtkrank werden. An der I. Frauenklinik München spielt hierbei vor allem das Heroin eine große Rolle und wurde deshalb besonders intensiv untersucht. Ein gefürchtetes Hauptproblem der suchtkranken Mutter besteht vor allem darin, das Kind aufgrund ihrer Krankheit evtl. „fallen zu lassen", (wie von William Hogath 1751 dargestellt). Abb. 4
47
STAUBER, KÄSTNER, HÄRTL, MÜLLER, GINGELMAIER, KNOBBE, FRIEDL
Abbildung 4: Gin Lane - William Hogath 175 /
Nun ist es interessant, daß die Schwangerschaft eine große Chance für die suchtkranke Mutter und somit auch für ihr Kind darstellt. Die suchtkranke Mutter ist oft sehr motiviert, für ihr Kind alles besser zu machen, was sie selbst in ihrer Kindheit vermißt bzw. traumatisch erlebt hat. Die meisten Mütter sind deshalb gut in ein therapeutisches Polamidonprogramm einzubinden, das Schritt für Schritt so gesteuert wird, daß möglichst 4 Wochen vor der Geburt Drogenfreiheit erreicht wird. Gelingt dies, so sind auch die heroinabhängigen Feten suchtfrei und vor einem neonatologischen Entzugssyndrom geschützt. Eine möglichst tägliche psychotherapeutische Begleitung dieser Frauen - und dies scheint besonders wichtig für den Erfolg zu sein - wird von unseren Mitarbeitern organisiert. Die folgenden Abb. stellen das Profil der suchtkranken Schwangeren, die Ziele der Behandlung sowie das Entzugsprogramm und einige Ergebnisse bzw. Schlußfolgerungen dar.
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PSYCHOSOMATISCHE PROJEKTE UND ERGEBNISSE IN DER FRAUENHEILKUNDE
Behandlungsziele schwangerer heroinkranker Frauen 1. Für die Mutter •
Nutzung der meist ausgeprägten Motivation „beim eigenen Kind alles besser zu machen" („Messiaserwartung").
•
Nutzung der Erfahrung einer relativ hohen Erfolgsrate durch eine Kombination von schrittweiser sinkender Polamidonsubstitution und hochfrequenter Psychotherapie „Holding" („depressive Struktur")
•
Drogenfreiheit ermöglicht eine gelungenere Empathie der Mutter für ihr Kind
2. Für das Kind •
weniger Suchtmittel führen zu unkomplizierterer fetaler Entwicklung.
•
Drogenfreiheit nach der Geburt ermöglicht bessere Startbedingungen (weniger Gefährdungen, weniger Vernachlässigungen).
Abbildung 5: Behandlungsziele schwangerer heroinkranker
Frauen
Typisches Profil einer heroinkranken Schwangeren •
24 Jahre alt (Ί 7 - 34 Jahre)
•
ledig oder geschieden
•
arbeitslos, häufig Prostitution
•
Beschaffungskriminalität
•
Abhängigkeit seit 5 Jahren (Polytoxikomanie)
49
STAUBER, KÄSTNER, HÄRTL, MÜLLER, GINGELMAIER, KNOBBE, FRIEDL
Typische Biographie •
„broken home"
•
neurosenrelevante Daten
•
abgebrochene Schulbildung
•
frustrane Entzugsversuche
•
Behandlung wegen Depression
Abbildung 6: Typisches Profil
und häufige biographische Daten bei heroinkranken
Schwangeren
Medizinische Betreuung heroinkranker Frauen in der Schwangerschaft Individualisiertes Polamidon-Entzugsprogramm (strenge Indikation unter täglicher ärztlicher Kontrolle) Langsamer Entzug mit I-Polamidon im 2.-3. Trimenon Cave: Aprupter Entzug, da intrauterine Asphyxie möglich 1. Schritt: Stationäre Aufnahme für 3-10 Tage - Umstellung der letzten Heroindosis auf I-Polamidon - Tagesdosis auf morgens und abends verteilen - I-Polamidon-Tropfenzahl an klinische Symptome anpassen - nach 3-5 Tagen Versuch der einmaligen Tagesdosis 2.
Schritt: Ambulantes Entzugsprogramm nach stationärer Stabilisierung - tägliche Reduktion der I-Polamidondosis um einen Tropfen - tägliches ärztl.-psychother. Gespräch (Holding)
Allgemein: Strenge Indikation, Urinkontrollen (Cave: Polytoxikomanie)
Abbildung 7: Medizinische Betreuung heroinkranker
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Frauen in der Schwangerschaft
PSYCHOSOMATISCHE PROJEKTE UND ERGEBNISSE IN DER FRAUENHEILKUNDE
Zur weiteren Lebenssituation ehemals heroinabhängiger schwangerer Frauen Fragen und Schlußfolgerungen • Welcher Faktor bestimmt bei heroinabhängigen Schwangeren entscheidend die Prognose? «=> Die individuelle Entzugsmotivation. • Ist es zu rechtfertigen, einer ehemals drogenabhängigen Frau ihr Kind anzuvertrauen? *=> Ca. 60 % der Mütter versorgen ihr Kind langfristig befriedigend, der Entzug erfolgreich war.
wenn
• Hat das Polamidon-Programm in der Schwangerschaft suchtbewältigenden Einfluß auf die Zukunft? «=> Bei erfolgreichem Entzug innerhalb der Schwangerschaft - also noch vor der Geburt - bleiben ca. 50 % der Schwangeren primär drogenfrei.
Abbildung 8: Zur weiteren Lebenssitualion ehemals heroinabhängiger schwangerer Frauen
Zu diesem klinisch-wissenschaftlichen Projekt „Sucht in der Schwangerschaft" ist noch zu erwähnen, daß bei den besonders schwierig führbaren Patientinnen auch viele Mißerfolge bestehen. Trotzdem sind die Chancen für einen dauerhaften Entzug in der Schwangerschaft gegenüber Frauen ohne Schwangerschaft besonders groß. Eine Reihe von Risikofaktoren für das Kind, z.B. einen abrupten Entzug in der Schwangerschaft zu vermeiden, der zum Tod des Feten führen kann, bedürfen der besonderen Berücksichtigung. Ein zweites, wissenschaftliches, psychosomatisches Projekt in der Geburtshilfe erscheint uns besonders eindrucksvoll, da es das durch die Psychosomatik veränderte Bild in der Geburtshilfe weiterhin positiv verändern kann. Gerade weil die psychische Vulnerabilität in der ersten Stunde post partum und auch innerhalb der ersten Tagen nach der Geburt als besonders groß einzuschätzen ist, haben wir eine prospektive Studie zu den frühesten Kommunika51
STAUBER, KÄSTNER, HÄRTL, MÜLLER, GINGELMAIER, KNOBBE, FRIEDL
tionsprozessen im Kreißsaal und auch erweitert in der perinatalen Zeit eingeleitet. Mit Hilfe von umfangreichen Untersuchungen - speziell auch mit Videokonzepten - wurden verschiedene Kollektive prospektiv untersucht (vgl. Kästner, Gingelmaier, Stauber 1998). Eine komprimierte Zusammenstellung des Projektes mit den ersten Ergebnissen und Schlußfolgerungen erfolgt in Abb. 9.
Frühe Mutter-Kind-Beziehung Untersuchung über die erste Stunde nach der Geburt
R. Kästner, A. Gingelmaier, M. Stauber I. Studiendesign •
prospektiv, randomisiert
•
Definition der Gruppen: 1. Untersuchungsgruppe
2. Kontrollgruppe
Das Kind verblieb bei der Mutter für eine Stunde nach der Geburt
Mutter und Kind werden für ca. 20 min. Routinebehandlungen innerhalb der ersten Stunde getrennt
Untersuchungszeitpunkte und -instrumente 1. Geburt (erste Stunde): 2. Wochenbett (3.-5. p.p.) 3. zu Hause ( 5 - 6 Wochen p.p.)
-
Videoaufzeichnung Videoaufzeichnung einer Stillsituation Interview Videoaufzeichnung einer Stillsituation Interview Gießentest
II. Ergebnisse
52
•
Signifikante Unterschiede in den Skalen der Mutter-Kind-Beziehung (Kontakt, sprachliche Zuwendung, Stillen) und der Kind-Mutter-Beziehung zu allen drei Untersuchungszeitpunkten zwischen beiden Gruppen
•
Fast 80% aller Kinder waren zwischen 40 - 60 min. durchgehend wach und aufmerksam
PSYCHOSOMATISCHE PROJEKTE UND ERGEBNISSE IN DER FRAUENHEILKUNDE
•
Mütterliche Impulse und kindliche Reaktionen wurden durch professionelle Handlungen leicht abgelenkt
III. Schlußfolgerungen („Münchener Thesen") •
Erforderliche sofortige medizinische Hilfe bei Gefahr für Mutter und Kind hat oberste Priorität
•
Routinehandlungen im Kreißsaal sind im Hinblick auf ihre Notwendigkeit und Nebenwirkungen kritisch zu hinterfragen
•
Bei kindlichem und mütterlichem Wohlbefinden trägt ein möglichst ungestörter Mutter-Kind-Kontakt im Kreißsaal zur Prävention von Beziehungsstörungen in den ersten Wochen bei. Ein glückvoller Start ins Leben muß bereits unmittelbar nach der Geburt gefördert werden (MünchenerThesen) Abbildung 9: Früheste Mutter-Kind-Beziehung (Studiendesign, erste Ergebnisse und Münchener Thesen)
Geburt „Trennung von Mutter und Kind" Brücke der Kontinuität: •
Wärme der Mutter
•
Stimme der Mutter
•
Herzschlag der Mutter
•
Geruch der Mutter
Abbildung 10: Geburt: „Trennung von Mutter und Kind
0
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STAUBER, KÄSTNER, HÄRTL, MÜLLER, GINGELMAIER, KNOBBE, FRIEDL
Abbildung
1 /: Mutter-Kind-Beziehung
post partum
Die ersten Ergebnisse weisen auf signifikante Daten im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Unterstützung einer möglichst ungestörten und lang dauernden frühesten Mutter-Kind-Beziehung (Eltern-Kind-Beziehung) hin. Noch Wochen post partum lassen sich positive Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Beziehung bei einem positiven Geburtserlebnis nachweisen. Eine Reihe weiterer Projekte, auch im Hinblick auf Schwangerschaftskonflikte, HIV in der Schwangerschaft, die moderne Reproduktionsmedizin usw., werden im Rahmen wissenschaftlicher Fragestellungen bearbeitet. Wichtig erscheint uns zum Schluß noch das Ansprechen eines wissenschaftlichen Projektes Gynäkologie im Nationalsozialismus, das bei sehr vielen Mitarbeiterinnen zu mehr Sensibilität für psychosomatische und ethische Fragestellungen in der Gynäkologie geführt hat. Bei der Aufarbeitung der jüngeren Geschichte der Universitäts-Frauenklinik in der Maistraße fiel auf, daß die in Büsten verehrten Direktoren der Klinik Mitautoren des ersten Rassengesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses waren. 54
PSYCHOSOMATISCHE PROJEKTE UND ERGEBNISSE IN DER FRAUENHEILKUNDE
Im ärztlichen Personal scheint diese Tatsache nicht bekannt gewesen zu sein. Es wurde auch deutlich, daß diese Klinik eine Schwerpunktklinik für Zwangseingriffe war. Ca. 1445 Zwangssterilisationen z.T. mit Zwangsabruptiones und Todesfolge wurden an der I. UFK vorgenommen (Horban 1999). Einer der Direktoren - es war Heinrich Eymer - wurde wegen seiner beruflichen Tätigkeit in der NS-Zeit von 1945 bis 1948 vom Dienst entfernt. Er wurde aber dann - und hierin bestand die Kontinuität - wieder als Ordinarius eingestellt, erhielt das Bundesverdienstkreuz und ist Ehrenmitglied der Bayerischen und Deutschen Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie geworden. In den folgenden Abbildungen (12,13) werden zusammengefaßt einige Aspekte zum Thema Gynäkologie im Nationalsozialismus aufgeführt, die für uns alle eine notwendige Erinnerung ermöglichen.
Medizin im Nationalsozialismus Zahlen zur konkreten Erinnerung -
Existenzverlust von „nicht arischen Ärzten"
ca.
6.000
-
Zwangssterilisation
ca.
300.000
-
Todesfolge der Zwangssterilisationen
ca.
5.000
-
Tötung von Behinderten durch Ärzte
ca.
75.000
-
Folterung und Tötung durch medizinische Versuche ca.
100.000
-
Tötung in KZs (Ärzte selektierten häufig)
ca. !5.000.000
Literatur: G. Hohendorf υ. A. Magull-Seltenreich, 1990 Toellner, 1989 Vogel, 1990
Abbildung 12: Medizin im Nationalsozialismus
55
STAUBER, KÄSTNER, HÄRTL, MÜLLER, GINGELMAIER, KNOBBE, FRIEDL
©Φ0 iut X)etl)(Uung
erbfrcmfen Bad)a>ud)feo vom i f Juli 19)3 ncbfl Jlueftfyrungotxrorbntmgtn tttaibtlltl unb ctlâulcil von Dr. mt6. *ill)i»t ΦΰΙΙ t JH. intb. ίπι|ί KfiMn ** rtl T *"*J Dr. iur. Salf Hultft Olli S«llil|tn: DU Eingriffe jur Unftud)lbormad)ung btt ITlmmce unb )ui Hnlmannung. Γοα Φ * Η · " · Ι Ρι·|. (i.iMb.(il4 («μι. IRûnAm Die Clngil||t jur UnJtu25) in % der Bevölkerung, bezogen auf das Lebensalter
Die Darstellung (DGE-Ernährungsbericht 1992) läßt erkennen, daß mit steigendem Lebensalter, bei Männern früher als bei Frauen, das Körpergewicht zunächst kontinuierlich ansteigt, dabei dürften zunehmende berufliche Belastung und Bewegungsmangel auch infolge anderer (z.B. familiärer) Verpflichtungen eine entscheidende Rolle spielen. Wie dramatisch sich diese Situation auf die Gesundheit auswirkt ist bei der Entwicklung der sehr adipösen Männer ab dem 5. Lebensjahrzehnt zu erkennbar (DGE 1992):
Abbildung 2: Adipositas (BMI >30) in % der männlichen Bevölkerung, bezogen auf das Alter
Der ab dem ca. 60. Lebensjahr zu verzeichnende Rückgang ist keineswegs Folge besserer Einsicht und geänderter Ernährungsgewohnheit, vielmehr wirkt sich die erhöhte Morbidität und die nachfolgend erheblich erhöhte Mortalität deutlich aus. So betrachtet erscheint der äthiologisch zutreffende Ausdruck „Zivilisationskrankheiten" (Hauner 1995) euphemistisch, die Abhängigkeit erhöhter Sterblichkeit von steigendem Körpergewicht ist exponentiell und läßt sich als Parabelfunktion beschreiben. Von ärztlicher Seite hat dies zu zahlreichen Bemühungen geführt, aber auch zu einer Fülle weiterer, z.T. para-medizinischer Angebote an 88
STÖRUNGEN DES EBVERHALTENS UND DES ERNÄHRUNCSSTOFFWECHSELS
die Betroffenen - nicht selten mit fragwürdigem Hintergrund aus ärztlicher Sicht (z.B. „chat-room-coaching"). Verschiedene Therapiekonzepte werden empfohlen, u.a. neue Medikamente entwickelt und vermarktet - indessen steigt die Prävalenz der Adipositas schneller als zuvor. Da für die genetische Komponente bei der Entstehung von Übergewicht zwischen 30% und 50% angenommen wird, je nach Körperbau- und Körperfettverteilungstyp (Bouchard et al. 1991), kamen schon frühzeitig psychotherapeutische Aspekte ins Gespräch, zumal es sich beim Übergewicht um eine Folge fehlgeleiteten Eßverhaltens handelt. Bei der Suche nach geeigneten Interventionsmöglichkeiten wurden im Rahmen von Gewichtsreduktionsprogrammen psychotherapeutische Elemente wiederholt mit aufgenommen und z.T. evaluiert (Stunkard, Wadden 1992):
•20
»
Monate
I
I 2
I
I
I
4
• 1 .niedrigst-kalorische Diät
Abbildung 3: Tberapieformen
1 6
I
I 8
I
I 10
I
I 12
Ξ 2.Psychotherapie (VT)
I
I 14
•
ί 16
.
.
.
18
• Kombination t. + 2.
und -kombinationen zur Gewichtsreduktion
(Abnahme in kg)
Psychotherapeutische Maßnahmen allein können einen nachhaltigen Gewichtsverlust bewirken, noch effektiver ist die Kombination mit diätetischer Therapie, die in ausschließlicher Anwendung beim Anfangserfolg günstig, aber am wenigsten nachhaltig wirkt (nach Perri 1987). Als weiteres Element kombinierter Maßnahmen ist Bewegungstherapie von tragender Bedeutung (graphisch nicht dargestellt, mehr darüber: Wirth 1997 und 1994). Die Therapie stark übergewichtiger Patienten, vor allem mit manifesten Folgeerkrankungen, stellt z.T. spezielle Behandlungsanforderungen, wie bei der Therapie des Diabetes mellitus (D.m.). Wie eng überhöhtes Körpergewicht und die Prävalenz des D.m. Typ II b zusammenhängen, zeigt Abb. 4. (nach Colditz et al. 1990):
89
KUSE-ISINGSCHULTE
Abbildung4: Körpergewicht
(BMI 22 bis > 35) und Prävalenz von Diabetes Mellitus Typ II b in %
Das Risiko bei steigendem Körpergewicht an Dm II b zu erkranken ist signifikant erhöht, umgekehrt läßt eine Gewichtsreduktion eine Entlastung (ggf. auch Normalisierung) der Stoffwechsel läge erwarten. So betrachtet hängt das gesundheitliche Schicksal des Diabetikers wesentlich mit dem Gewicht zusammen (MüllerWieland et al. 1990), eine Körpergewichtsabnahme ist der entscheidende präventivmedizinische Schritt zur Abwendung oder Verbesserung der pathologischen Stoffwechsel läge. Bei der Therapie treten somatische und psychotherapeutische Aspekte in Wechselwirkungen und bedürfen interdisziplinärer Betrachtung: z.B. bestimmt die Kinetik verordneter Antidiabetika und deren Wirkmodus die Frequenz und den Umfang der Mahlzeiten, was bei entsprechender Prädisposition oder akuter psychosozialer Belastung zu Komplikationen beim Eßverhalten führen kann. Zur Erfassung möglichst aller für das Eßverhalten relevanten Einflüsse aus aktueller psychosozialer und biographischer Sicht kann eine im psychosomatischen Sinn erweiterte, umfassende Anamnese die Gesamtsituation der Betroffenen berücksichtigen: • internistische Anamnese und Verlaufsparameter • psychosomatisch-psychodynamische Anamnese mit: •
aktuellen Lebensereignissen
•
Copingstrategien
•
Biographie
•
Persönlichkeitsmerkmalen
Die Einbeziehung der für das Eßverhalten und die Ernährung relevanten Parameter ermöglicht eine individuelle Anpassung der Therapieerfordernisse auch im 90
STÖRUNGEN DES EBVERHALTENS UND DES ERNÄHRUNCSSTOFFWECHSELS
Hinblick auf psychosomatische Gesichtspunkte der Behandlung. Zur Erläuterung somato-psychischer Interaktionen wird eine Kasuistik aus einer Pilotstudie vorgestellt, in Vorbereitung einer Untersuchung zur psychosomatischen Diagnostik und zur Ermittlung des Bedarfs an Psychotherapie, mit der sich daraus ergebenden differentiellen Indikationsstellung: Eine im Jahr 2000 beim Erstgespräch 62jährige Patientin ist seit ca. 6 Jahren an Dm II b erkrankt, der zunächst oral therapiert wurde, seit ca. 2 Jahren besteht Insulinmedikation mit einer Kombination aus einem langwirkenden Basis- und einem kürzerwirkenden Alt-Insulin. Der Kinetik der Insulinpräparate entsprechend wurden 5 bis 6 kleine Mahlzeiten (10 BE insgesamt) über den Tag verteilt empfohlen, unter diesem Regime lassen die serologischen Parameter eine noch ausreichende, suboptimale Einstellung der Stoffwechsellage erkennen (s. Abb. 5.). Aktuell berichtet die Patientin, daß es ihr seit längerem schwer falle, den empfohlenen Mahlzeitenrhythmus einzuhalten. Sie habe ständig Hunger, die kleinen Portionen vermitteln keinerlei Sättigungsgefühl - es hatte sich eine Situation mit „gezügeltem Eßverhalten" (restrained eating) und Episoden von Kontrollverlusten eingestellt. Weiterhin gibt sie an, nicht nur aufgrund dieser unbefriedigenden gesundheitlichen Situation (seit geraumer Zeit steigt das Körpergewicht kontinuierlich) unter psychischen Verstimmungen zu leiden. Die erweiterte psychosomatische Anamnese ergibt, daß einschneidende Lebensereignisse vor einigen Jahren zu einer reaktiven Depressivität geführt hatten, in deren Verlauf es zu einer ersten Gewichtszunahme und später zur Manifestation des Dm II b kam, danach mit einer weiteren kontinuierlichen Zunahme des Körpergewichts. Die Patientin berichtete von einer 1992 diagnostizierten Malignomerkrankung des Sohnes, die im folgenden Jahr zur Pflegebedürftigkeit führte, die die Patientin übernahm. Während dieser Zeit vertiefte sich ein sehr zugewandtes Verhältnis zu ihm, zum späteren Bedauern der Patientin waren aber Gespräche über die sich verschlechternde Gesamtsituation nicht möglich, auch nicht zum Ende der Erkrankung. Der Sohn verstarb nach weiteren 2 Jahren 1994, die unausgesprochenen Gedanken und Gefühle erschwerten der Patientin die Trauer. In dieser Situation verschlechterte sich auch die Stoffwechsel läge der Patientin, es fiel ihr zunehmend schwerer, die medizinischen Empfehlungen einzuhalten und das Eßverhalten danach auszurichten und zu kontrollieren. Im weiteren Verlauf ergab sich eine nur sehr mühsame Veränderung der psychischen- wie auch der Erkrankungssituation. Abbildung 4 faßt die somatische und psychosoziale Anamnese zusammen (es wurden weitere, vor allem frühe biographische Belastungen erruiert, die als erkrankungsrelevant eingeschätzt wurden - hier aber aus Platzgründen nicht näher erörtert werden):
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KUSE-ISINGSCHULTE
Edith R. *1938 bei Therapiebeginn: BMI 32,7 entspr. 96,1 kg /171 cm somatisch:
psychosozial:
- Asthma bronchiale seit Kindheit
- 1992 Malignomerkrankung
- rezidivierende
- 1993-94 häusliche Pflege
Infekte
- 1994 Dm II b seitdem Gewichtszunahme (von 72 kg ausgehend) - 1998 Insulin
- 1994 verstirbt
des Sohnes
der Sohn - reaktive
Depressivität l vermehrt Probleme beim Management des Dm II b
Abbildung 5: Kasuistik / erweiterte
Anamnese
Mit der Patientin wurden einerseits die Schwierigkeiten bei der Einhaltung der Mahlzeitenempfehlung besprochen und eine Änderung hin zu einer großen, kohlenhydratreichen Mahlzeit (mit 8 BE) mittags veranlaßt. Diese konnte oral mit einer Tablette eines kurz wirkenden Sulfonylharnstoffs abgedeckt werden, die Insulingabe war von vornherein verzichtbar (was keinesfalls vordergründiges Therapieziel war, von der Patientin aber dankbar hingenommen wurde). Frühstück und Abendessen wurden für die Zeit der geplanten Gewichtsreduktion mit einer Mahlzeitenzubereitung nach dem Prinzip des „proteinsubstituierten Teilfastens" (Wechsler, Wenzel 1994) bestritten, diese Mahlzeiten haben den Vorzug; längere Insulin-neutrale Stoffwechselphasen zu ermöglichen, unter konsequentem Verzicht auf Zwischenmahlzeiten. Aus psychosomatischer Sicht ergab sich für die Patientin hinsichtlich des Eßverhaltens, daß es ihr leicht fiel, sich auf die große Mittagsmahlzeit einzustellen. Das zuvor so quälende, kontinuierliche Hungergefühl blieb bei weiterem Verzicht auf Zwischenmahlzeiten im gesamten Tagesverlauf aus. In Bezug auf die schicksalsbedingte Depressivität wurden verbleibende Gedanken und Gefühle von Niedergeschlagenheit angesprochen und bearbeitet. Das Gefühl, gedrückte Stimmungen mit „kleinen Mahlzeiten" kompensieren zu wollen, nahm dabei ab. Es erwies sich als günstig, daß sich der Therapiezeitraum über die Weihnachtszeit und den Jahreswechsel erstreckte, denn zu diesen Zeitpunkten („anni versary-reaction") war der Affekt der Patientin deutlich reduzierter, was im psychotherapeutischen Gesprächsverlauf z.T. aufgefangen werden konnte. Wie die psychische Lage besserte sich auch die somatische Situation, Abb. 5 zeigt den Verlauf:
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STÖRUNGEN DES EVERHALTENS UND DES ERNÄHRUNSSTOFFWECHSELS
21.8.2000
6.3.2001
Δ
Gewicht (in kg)
96,1
83,5
- 12,6
Blutglukose (pp. - mg/dl)
165
130
HbAi %
8,0
6,8
145/75
105/60
Blutdruck (mmHg)
- 1,2
4
Abbildung 6: Kasuistik / Verlauf
Der aktuelle Verlauf ist durch weitere Kontinuität der beschriebenen Entwicklung gekennzeichnet, begleitet von gelegentlichen Phasen, in denen die Gewichtsreduktion stagniert. Inzwischen sind dies nicht mehr nur depressive Situationen, sondern auch andere, positive Einflüsse die die Patientin bewußt wahrnimmt, um die Wechselwirkungen zwischen ihrem psychischen Erleben und körperlichen Reaktionen einschätzen und integrieren zu können.
Zusammenfassung Die dargelegte Fallbeschreibung zeigt, wie eng die somatische Therapie mit der psychischen Verfassung der Patienten und ggf. auch der Lebensgeschichte verknüpft ist, insofern erscheint es wesentlich, diese Aspekte bei der Behandlung angemessen zu berücksichtigen. Allgemeine Empfehlungen zu formulieren ist aufgrund widersprüchlicher Ergebnisse verschiedener Untersuchungen problematisch, denn noch so umfangreich und sorgfältig geplante epidemiologische Studien lassen keinen spezifisch-charakteristischen Typus „des Adipösen" erkennen. Im Gegensatz zu den „klassischen" Eßstörungen zeigt sich bei der Adipositas ein viel heterogeneres Patientenbild, so daß sich aus den Untersuchungen keine therapeutische Strategie i.S. eines „Goldstandards" festlegen läßt. Allgemeine Empfehlungen können daher nur unverbindlich sein, die uneinheitliche Datenlage erlaubt als kleinstmöglichen gemeinsamen Nenner „Verhaltensmodifikation bezüglich der Nahrungsaufnahme" (Deut. Adipos.-Gesell.: Richtlinien, 1995). Während psychische Beeinträchtigungen in diesen Richtlinien durchaus berücksichtigt werden, kommt es an anderer Stelle zu der Einschätzung, daß es sich dabei lediglich um eine Folge des Übergewichts handelt (Pudel 1991). Die psychische Verfassung der Betroffenen als potentieller äthiologischer (Co-)Faktor wird so nicht angemessen gewürdigt, was den individuellen Behandlungserfordernissen in vielen Fällen kaum entspricht. Aufgrund einer im psychosomatischen Sinne erweiterten Anamnese (s.o.) ist bei gegebener Indikation eine Behandlung aus einem breiten Spektrum psychotherapeutischer Verfahren möglich. Verschiedene Psychotherapieformen und prinzipien wurden angewendet und z.T. auch evaluiert. Tiefenpsychologische
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KUSE-ISINGSCHULTE
Verfahren zielen auf ein erweitertes emotionales Selbstverständnis (durch Bewußtwerden und Bearbeiten innerer Konflikte) und auf eine Reifung der Persönlichkeit. In Bezug auf die Adipositastherapie kann orale Regression bearbeitet werden, dabei ist Gewichtsreduktion nicht unbedingt primäres Therapieziel, sondern ggf. Folge des therapeutischen Prozesses (Krüger 1997). Verhaltenstherapeutische Verfahren zielen auf adaptierte, ungünstige Muster des Eßverhaltens (mit auslösenden Bedingungen), um diese erkennbar zu machen und um eine Umstrukturierung zu ermöglichen. Dabei sollen konstruktivere Lösungen für nachteiliges Verhalten erarbeitet und erlernt werden (Beutel 2000). Je nach Konzept steht auch hier die Gewichtsverminderung nicht unbedingt im Vordergrund, z.B. wurden „Anti-Diät-Therapien" entwickelt, bei denen eine verbesserte Körperwahrnehmung und verbessertes „Self-Management" erarbeitet werden (Fichter 1990). Insgesamt zeigt sich, daß keines der beiden Verfahren dem anderen erkennbar überlegen ist, auch nicht im stationären Bereich (Beutel i.p.). Die günstigen Effekte von Psychotherapie auf die Lebensqualität der Patienten sind evident, es bleibt jedoch aus medizinischer Sicht eine Gewichtsabnahme wegen der problematischen Gesundheitsfolgen ein wesentliches Therapieziel. Unabhängig vom angewendeten Psychotherapieverfahren erweist der Langzeitverlauf, daß eine dauerhafte Gewichtsreduktion am günstigsten durch eine Kombination mit weiteren Maßnahmen (Diätetik und Bewegung) zu erreichen ist (Wirth et al. 1989). An dieser Stelle ist anzumerken, daß kaum Empfehlungen hinsichtlich einer psychosomatischen bzw. psychotherapeutischen Diagnostik vorliegen, um eine individualisierte Differentialindikation für eines der Therapieverfahren oder einer Kombination zu ermöglichen. Das Ziel weiterer Untersuchungen in der Psychosomatischen Ambulanz der Medizinischen Poliklinik ist es, bei der somatopsychischen Therapie der Adipositas und der Folgeerkrankungen den spezifisch psychotherapeutischen Handlungsbedarf zu eruieren, um ein individuelles Vorgehen zu ermöglichen.
1. Schulungen zur Wissensvermittlung 2. Psychoedukation 3. Psychotherapie: - tiefenpsychologisch - verhaltenstherapeutisch - systemisch Abbildung 7: Stufenplan psychotherapeutischer
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Intervention in der Adipositastherapie
STÖRUNGEN DES EVERHALTENS UND DES ERNÄHRUNSSTOFFWECHSELS
Ein gestufter Plan (Abb. 7.) für eine unterschiedlich intensive psychotherapeutische Komponente basiert 1. auf der Vermittlung ernährungsmedizinischen Basiswissens, die 2. um individuelle Aspekte der Symptomentstehung und -aufrechterhaltung zu erweitern ist und 3. bei gegebener Indikation Psychotherapie i.e.S. beinhaltet. Dabei richtet sich die Indikation für die verschiedenen Verfahren nach den jeweiligen psychosozialen und/oder biographischen Belastungen. Für die individuelle Planung ist dies ein entscheidender Aspekt, zumal ein spezifisches, auf Adipositas als Symptom bezogenes Verfahren nicht standardisiert werden kann. Die dargestellte Kasuistik ist einer Pilotstudie entnommen, im Hinblick auf eine Untersuchung zur Erfassung psychopathogenetischer Faktoren bei der Äthiologie und Persistenz von Adipositas: Zur Untersuchung der Pathogenese von Übergewicht und Adipositas werden Fragebögen und Untersuchungsinstrumente zur Erfassung relevanter Aspekte (Körperbild, Depressivität, Life-events, soziales Umfeld etc.) zusammengeführt. Verschiedene faktorenanalytische Skalen werden zu einem Untersuchungsinstrument zusammengefaßt, das symptombezogen wesentliche Faktoren biographischer und aktueller psychosozialer Belastungen ermittelt. In einem weiteren Schritt wird dieses Instrument an mehreren Gruppen von jeweils ca. 100 Patienten normiert und validiert werden, die an einem von Ärzten, Psychologen und Ökothrophologen begleiteten Gewichtsreduktionsprogramm des Instituts für Ernährungsmedizin der Innenstadtkliniken der LMU teilnehmen. Längerfristig soll dieses Instrument zunächst eine Bestandsaufnahme ermöglichen, sowie eine Einschätzung des psychosomatischen Behandlungsbedarfs. Je nach der Bewertung von Einzelfaktoren und deren Kohärenz sollen verschiedene psychotherapeutische Verfahren (tiefenpsychologische und systemische Psychotherapieverfahren, Verhaltenstherapie, jeweils in Kombination mit körperorientierten Entspannungsverfahren und Bewegungstherapie) auf ihre différentielle Indikation und später ggf. auch auf die Effizienz untersucht werden. • Die Adipositas stellt wegen ihrer zunehmenden Verbreitung und den erheblichen Folgen für die Gesundheit des Einzelnen, sowie für das Gesundheitssystem im Ganzen eine Herausforderung dar. • Psychosomatisch-psychotherapeutische Maßnahmen haben einen deutlichen therapeutischen Effekt und wirken in Kombination mit Bewegungstherapie und somatisch orientierter Diätetik am nachhaltigsten. • Eine standardisierte Therapieempfehlung ist beim aktuellen Stand wissenschaftlicher Untersuchungen kaum möglich, so daß nach psychosomatisch erweiterter Anamnese individuelle Differentialindikationen zur psychosomatischen Mit-Behandlung zu stellen sind.
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KUSE-ISINGSCHULTE
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Weitere Literatur beim Verfasser
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MARIUS NICKEL, RUDOLF KLUBMANN
Zur Psychosomatik des Borderline-Patienten - Annäherungen an ein großes Thema Zusammenfassung Stationär untergebrachte, als auch ambulante Borderline-Patienten präsentieren ihre körperlichen Beschwerden oft vehement. Oft ist der Leidensdruck auch von organischer Seite her groß. Die psychophysischen Zusammenhänge finden in der wissenschaftlichen Literatur und damit auch in den internationalen Klassifikationen (insbesondere des DSM-IV) jedoch kaum Beachtung. Am Patientenmaterial der Inntalklinik, Simbach am Inn wurde 1998 eine Studie über körperliche Symptomatik bei Borderline-Patienten durchgeführt. Die Borderline-Patienten haben vor Beginn der Psychotherapie ihre körperlichen Beschwerden als im Vordergrund stehend identifiziert. Der Unterschied zu einer der Vergleichsgruppen war bei ρ-0,001 signifikant. Diese Patienten geben, im Bezug auf die Bedeutung ihrer körperlichen Beschwerden in der Gesamterkrankung, auf einer Skala von 1 bis 5 durchschnittlich 2,68 Punkte an. Es konnte beobachtet werden, daß die äußerst intensiv erlebte, wechselhafte körperliche Symptomatik bei einem extrem hohen subjektiven Leidensdruck oft dort eingesetzt wird, wo andere bewußte bzw. bewußtseinsnahe aber inkompatible Inhalte ausgeblendet werden müssen, um im Rahmen der Kupierung von Depersonalisationszuständen eine Art von Hilfs-Außenwelt herzustellen, sie können als Sprachsurrogat angesehen werden sowie eine zentrale Rolle in der Organisation der (Deck-)Abwehr des Borderline-Patienten spielen. In den letzten Jahren ist es angesichts neuer Forschungsergebnisse und gleichzeitig bis jetzt wenig befriedigenden Behandlungsoutcomes bei Patienten mit frühen Persönlichkeitsstörungen zu einer nicht geringen Weiterentwicklung oder sogar Änderung mancher Ansichten sowohl in der ambulanten als auch stationären psychosomatischen Medizin gekommen. Die Wechselwirkungen zwischen drei Dimensionen: dem seelischen Erleben, der körperlichen Symptomatik und den psychosozialen Aspekten, also das sogenannte bio-psycho-soziale Modell, werden zunehmend berücksichtigt, die körperlose Psycho-Medizin erfährt zunehmend Kritik. Der überwiegende Teil der wissenschaftlichen und didaktischen Publikationen aus dem Bereich „Persönlichkeitsstörungen" läßt das somatische Bild des Patienten außer Acht. Sogar die sogenannten klassischen Psycho-
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NICKEL, KiUßMANN
somatosen finden in den Klassifikationsmanualen der Persönlichkeitsstörungen keine Berücksichtigung. Wie schwer manchmal das mehrdimensionale Denken, Forschen und letztendlich Therapieren ist, kommt unter anderem in dem Titel dieser Arbeit zum Ausdruck: „Ohne Abstinenz stirbt die Psychoanalyse. Über die Unvereinbarkeit von Psychoanalyse und Körpertherapie". Die sogenannte psychische Disposition zur Psychosomatose liegt jedoch überwiegend bei Patienten mit einer gestörten Persönlichkeit, auffallend deutlich bei Borderline-Persönlichkeitsstörung vor. Es gibt viele Hinweise auf einen ständigen Zuwachs von Patienten mit dieser Persönlichkeitsstörung, die in einer psychosomatischen Klinik bzw. psychotherapeutischen Praxis behandelt werden. Es wird geschätzt, daß im gesamten sich zur Zeit in der therapeutischen Behandlung befindenden Patientengut über 30% Borderline Patienten sind. Von diesen 30% sollen ungefähr ein Drittel dem ambulanten und zwei Drittel dem stationären Bereich zugeschrieben werden. Während unserer beruflichen Laufbahn haben wir beobachten können, daß sowohl stationär untergebrachte als auch ambulante Borderline-Patienten ihre körperlichen Beschwerden oft vehement präsentieren, und der dabei von uns wahrgenommene Leidensdruck beachtliche Dimensionen erreicht. Um die psychosomatische Symptomatik bei dieser Patientengruppe zu überprüfen, wurden 149 Borderline-Patienten ausgewählt und untersucht. Die Aussagekraft der Ergebnisse dieser Studie wurde durch Einbeziehen von zwei Kontrollgruppen relativiert. Die zweite Gruppe (DS) bestand aus 149 Patienten mit einer depressiven Störung (erste Vergleichsgruppe), die sich, genauso wie die Zielgruppe zwischen 1995 und 1998 in der Inntalklinik, Simbach am Inn behandeln ließen. Die dritte Untersuchungsgruppe (PF) bildete die Belegschaft einer großen Firma aus Passau (zweite Vergleichsgruppe). Den Mitarbeitern dieser Institution wurde der Rahmen und Zweck der Untersuchung erklärt und gleichzeitig nach dem Zufallsprinzip 149 Fragebögen verteilt. Das Zufallsprinzip bezog sich hier sowohl auf die Geschlechtsverteilung als auch auf die Zugehörigkeit zu der Arbeiter- bzw. Angestelltengruppe. Die Rücklaufquote betrug: 65 (43,62%) Borderline-Patienten und 78 (52,35%) bzw. 53 (35,57%) aus den beiden Kontrollgruppen. Insgesamt bildete das Gesamtkollektiv 196 befragte Personen. Sowohl die Rohwerte als auch die darauf folgende statistische Auswertung der Fragebögen erfolgte mit Hilfe von statistischen Programmen, die am IBE, Universitätsklinikum Großhadern-München, zur Verfügung gestellt wurden.
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ZUR PSYCHOSOMATIK DES BORDERLINE-PATIENTEN
Die Null-Hypothese wurde verworfen, wenn wie allgemein üblich, die Irrtumswahrscheinlichkeit ρ ^ 0,05 war. Die Prävalenz von Borderline-Persönlichkeitsstörung in der Inntalklinik Simbach am Inn (BRD) beträgt, von Jahr zu Jahr etwas unterschiedlich, ca. 5-9%. Bei Eckert et al. lassen sich wiederum mehrere Beispiele finden, wo die Prävalenz des Borderline-Syndroms zwischen 9,5 und 25% geschätzt wird. Die Geschlechtsstruktur der Patientengruppe mit Borderline-Persönlichkeitsstörung ist in dieser Studie eindeutig: Es zeigt sich eine Überlegenheit von weiblichen Patienten, die 80,00% der Gruppe bilden. Bei den Patienten mit rezidivierender depressiver Störung ließen sich um 15,85% und in der PassauerGruppe um 49,33% weniger Frauen finden. Die Ergebnisse der Geschlechtsverteilung sind statistisch signifikant und mit einem p-Wert von 0,0001 behaftet. Gunderson gibt die Frauenquote mit ca. 66% an. Die Zusammenstellung von Eckert et al. zeigt einen Anteil von Frauen zwischen 66 und 75 %. Unsere Untersuchung stellte im Bereich „starke und sehr starke Beschwerden" eine ca. 70% Komorbidität von Borderline-Persönlichkeitsstörung und psychosomatischen Symptomen fest. In vergleichbaren Studien, allerdings in Bezug auf alle Persönlichkeitsstörungen, wurde von Barsky A.J. eine Korrelation von 63% und von Stern et al. von 72 % festgestellt. Das Studium der Ergebnisse im Bereich der psychosomatischen Beschwerden zeigte folgende Auffälligkeiten: Schwindelgefühle und Herzjagen/-stolpern traten bei Borderline-Patienten signifikant häufiger als in der PF-Gruppe auf. Nach dem Zusammenfassen von Tabellen in die beiden Antworten „nein" und „vohanden" wurden signifikante Unterschiede zwischen den drei Gruppen bei Schwindelgefühlen, Gliederschmerzen, Herzjagen/-stolpern, Störungen der Sexualfunktion, Erkrankungen der Genitalorgane und bei Bulimia nervosa deutlich. Häufiger (nicht signifikant) als in der PF-Gruppe wurden bei BorderlinePersönlichkeitsstörung Migräne, Bauchschmerzen, Gastritis, Darmerkrankungen, Störungen der Sexualfunktion, Erkrankungen der Genitalorgane, Beschwerden beim Wasserlassen, Bluthochdruck und Bulimia nervosa gefunden. Häufiger (nicht signifikant) als in der DS-Gruppe wurden bei Borderline-Patienten Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Darmerkrankungen, Störungen der Sexualfunktion, Erkrankungen der Genitalorgane, Beschwerden bei Wasserlassen, Bluthochdruck und Bulimia nervosa ermittelt. Innerhalb der Borderline-Gruppe haben die weiblichen Befragten deutlich stärker Gastritis und die männlichen Herzjagen empfunden. Bei Schwindelgefühlen, Migräne, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Herzjagen, Bauchschmerzen, Störungen der Sexualfunktion, Erkrankungen
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NICKEL, K U
der Genitalorgane und Beschwerden bei Wasserlassen piazierten die BorderlinePatienten ihre Antworten überwiegend im Bereich „stark" und „s. stark". Die Borderline-Patienten haben vor Beginn der Psychotherapie ihre körperlichen Beschwerden eindeutig als im Vordergrund stehend identifiziert (55,56%). Unmittelbar nach dem stationären Aufenthalt ist die Zahl der BorderlinePatienten, die ihre körperlichen Beschwerden so einschätzen, auf 31,11 % gesunken. Diese Unterschiede weisen auf eine inzwischen deutlich entwickelte Introspektions- und Verbalisationsfähigkeit hin. Die Borderline-Patienten geben, im Bezug auf die Bedeutung ihrer körperlichen Beschwerden in der Gesamterkrankung, auf einer Skala von 1 bis 5 durchschnittlich 2,68 Punkte an; dieser Skalenwert entspricht annähernd Patienten der DS-Gruppe (2,54 Pkt.), die in vielen Publikationen als die „somatisierende Gruppe" gilt. Es konnte eine Beobachtung gemacht werden, daß die intensivst erlebte, wechselhafte körperliche Symptomatik oft dort eingesetzt wird, wo andere bewußte bzw. bewußtseinsnahe aber inkompatible Inhalte ausgeblendet werden müssen. Massive körperliche Symptome werden nicht selten verwendet, um im Rahmen der Kupierung von Depersonalisationszuständen eine Art von Hilfs-Außenwelt herzustellen, auch im Sinne einer Art von Zwischengrenze. In diesem Moment werden die betroffenen Körperteile wie (teil-)äußere Objekte behandelt, was die Abgrenzung stärkt und die Restitutionsversuche der bedrohten Integration unterstützt. Ein wichtiger Aspekt des körperlichen Ausagierens fällt bei einem gestörten Verhältnis zwischen dem affektiven Erleben und dem Verbalisationsvermögen auf. Die somatische Symptomatik kann als Sprachsurrogat angesehen werden. Mit den uns zur Verfügung stehenden theoretischen Arbeiten können viele auf der Körperebene präsentierte Phänomene nur insuffizient erklärt werden. Solche Patienten geraten durch Körpermanipulationen in abnorme subjektive Erlebniswirklichkeiten. Der spontane Weg daraus gelingt nicht immer. Es fällt ein beträchtlicher Distanzverlust zum eigenen Körpererleben auf. Entscheidend wäre hier die Kapazität zur Symbolbildung. Ob und wie weit die Patienten in abnorme Erlebniswirklichkeiten hineingeraten, d.h. krank werden, ist von deren Funktionsfähigkeit abhängig. Der Unterschied zwischen gesund und krank liegt in der intakten oder beschädigten Symbolisierungsfähigkeit, im semiotischen Niveau. Die frühe Sexualtheorie der Psychoanalyse leitet die unbewußten Phantasien noch direkt aus der körperlichen Erfahrung der Geschlechtlichkeit ab. Ungeachtet auch dieser Tatsache wird Körperliches gegenwärtig in der Psychoanalyse allenfalls als symbolische, metaphodische Form der Darstellung diskutiert. Die Grundannahme, daß sich die Ich-Entwicklung ausschließlich in der Begegnung mit den äußeren Primärobjekten vollziehe, ist fast zur Selbstverständlichkeit ge100
ZUR PSYCHOSOMATIK DES BORDERLINE-PATIENTEN
worden. Es gibt jedoch Hinweise auf die zentrale Rolle der primären Körpererfahrung, auf die Funktion des Körpers als Primärobjekt. Die ersten Wahrnehmungen des Lebendigseins oder des Körperseins ereignen sich auf der somatischen Ebene. Sie stellen allererste Inhalte des psychischen Apparates. Das Selbst wäre nach dieser Annahme vom Ursprung her eine Internalisierung der Körpererfahrung und erst später eine Internalisierung von Objekterfahrung. Letztere wären fast so etwas wie eine Anwendung der Körpererfahrung. Sie kultivieren, katalysieren und differenzieren die Körpererfahrung. Sie wären, nach Winnicott, ein Spiel. Die psychische Entwicklung des Menschen hängt ganz offenbar maßgeblich vom pränatalen und postnatalen „Dialog mit dem Körper" ab und nicht nur vom Dialog mit den Primärobjekten. Die Strukturstörungen im Körperselbst persistieren sowohl durch fortgesetzte Manipulation des Körpers (Artefakte, ärztliche Eingriffe) als auch durch eine innerpsychische (mißbräuchliche) Verwendung des Körpers zu Abwehrzwecken. Psychisch inkompatible Inhalte werden durch Projektion und Abspaltung im Körper abgewehrt und dadurch, so Plassmann, in pathologischen Organwelten verwendet. Der Körper wird gleichsam zur Deponie für psychisch Ungeklärtes, so daß sich eine normale Beziehung zum Körper nicht entwickeln kann. Das Leiden bestimmter Borderline-Patienten ist dadurch charakterisiert, daß negative, angstbesetzte und unbewältigte Erlebnisweisen der frühen Selbstentwicklung in unbewußter körperlicher Repräsentanz erhalten bleiben. Ähnlich wie das Übergangsobjekt für das Kleinkind reparative und kompensatorische Funktionen hat, kann auch im späteren Alter das Agieren mit dem eigenen Körper über Zustände von psychosenaher Spannung und Leere, ausgelöst sowohl von Trennung und Bedrohung wie auch von Symbioseangst, hinweghelfen. Der Körper repräsentiert gleichzeitig das Opfer des traumatischen Geschehens, wie er das Gefühl von Macht und Autarkie verschafft und darüber hinaus vor dem Alleinsein schützt. Sowohl die statistischen Ergebnisse dieser Studie, als auch theoretische Überlegungen weisen auf die große Bedeutung und Intensität des Erlebens von körperlichen Beschwerden bei Borderline-Patienten hin. Das Ernstnehmen dieser Tatsachen könnte in der Konsequenz die Gestaltung der Erst-Kontakte und des Verlaufes einer psychotherapeutischen Behandlung entscheidend beeinflussen. Schon in der ersten Phase einer therapeutischen Begegnung könnten sich diese Patienten viel schneller gesehen und verstanden fühlen, wenn dasjenige von ihrem Leid, welches sich in der Körpersprache repräsentiert, auf einen empathischen Empfänger trifft. Wir sind davon überzeugt und es entspricht auch unseren Erfahrungen, daß die Zeitperiode, in der das gegenseitige Vertrauen und eine tragfähige therapeutische Beziehung aufgebaut wird, durch eine solche Ein-
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NICKEL, K U
Stellung eine bedeutsame Verkürzung erfahren kann. Es ist aber zu betonen, daß es sich hier, auf Grund ungewöhnlicher Feinfühligkeit dieser Menschen, um ein echtes Verständnis und aus ihm resultierende echte ärztliche Haltung handeln müßte. Das einfühlsame Wahrnehmen der Körpersprache wäre auch zu jedem weiteren Zeitpunkt der Psychotherapie von größter Bedeutung und zwar so lange, bis das Sprach-Ich des Borderline-Patienten in konflikthaften Bereichen seine Rolle suffizient übernehmen und erfüllen kann. Gezielte Förderung von symbolischem Ausdruck der im Kontakt mit sich und mit dem Gegenüber vollzogen wird, könnte dem Borderline-Patienten schneller (als bis jetzt angenommen) ermöglichen, die Grenze des Präverbalen zu transzendieren.
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III. Grundlagen psychosomatischen Denkens
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HERBERT TSCHAMLER
Medizinpädagogik - Ein interdisziplinärer Forschungs- und Ausbildungsbereich Warum erfahren Pädagogen sehr oft von vielen Medizinern eine arrogante Ablehnung, wenn es um ihre Tätigkeit oder gar um ihre Wissenschaft geht? Die Beziehungen zwischen beiden Disziplinen sind nicht immer als positiv zu bezeichnen. Eine Brücke bietet sich in der Psychosomatik, mit der sich ein Tor in die Medizin auftut, das sie für die Fragestellungen anderer Wissenschaften öffnet. In diesem Sinne stehen auch diese Gedanken zum 50jährigen Jubiläum der Psychosomatik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Aus der Geschichte freilich könnte man auch positive Beispiele anführen, wenn Mediziner sich pädagogischen Fragestellungen öffneten, meist freilich als Sorge um die Förderung behinderter Menschen. Eine Vertreterin deren Lebensweg dies deutlich zeigt ist Maria Montessori (1870-1952). Von der Ärztin zur Pädagogin begründete sie eine weltweit verbreitete Pädagogik. Hier löste die Sorge um die optimale Entwicklung der Kinder sie von ihrem heiß erkämpften Medizinerberuf ab und führte sie zur Erziehungswissenschaft. Ein sicherlich nicht alltäglicher Schritt, der in umgekehrter Richtung weitaus plausibler erscheinen würde. Wie kommt es aber zu dieser Entfremdung der beiden Disziplinen? Und wie schaut der Weg aus, der beide wieder in einem wissenschaftlichen Gespräch zueinander führen kann? Diese Fragestellungen beschäftigen Mitarbeiter meines Lehrstuhls und mich in geschichtlicher und in systematischer Sicht, wobei bereits heute einige Studien dazu vorliegen. Wir arbeiten gegenwärtig an einem Forschungsbereich und suchen nach einer tragenden Finanzierung. Die Beschäftigung mit diesen Problemen führte dazu, Überlegungen anzustellen, wie diese Einsichten in Ausbildungscurricula umzusetzen sind. Im Probelauf eines eigenen Studienschwerpunkts „Medizinpädagogik" innerhalb des Magisterstudiengangs fanden diese Bemühungen ihren Niederschlag, der in seinem ersten Durchlauf im Sommersemester 2001 zu Ende geht. Magisterpädagoglnnen sollen für mögliche kooperative Arbeitsfelder mit Medizinern eine Qualifikation erwerben, die in dem Abschluß des Magistergrades ihr Ausbildungsziel findet. Die ersten Schwierigkeiten zeigen deutlich, wie schwer es ist, originelle, vom normalen Weg abweichende Ideen in einer Institution durchzusetzen, die in ihren Rechtsvorschriften erstarrt und unbeweglich geworden ist. 105
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Doch dieser Neubeginn kann vielleicht dazu führen, daß sich neue Horizonte einer interdisziplinären Zusammenarbeit öffnen. Versucht man die Gemeinsamkeiten beider Disziplinen unabhängig von einseitigen Ausrichtungen oder wissenschaftstheoretischen Standpunkten aufzuzeigen, dann geht es in beiden Wissenschaften darum, Menschen zu verändern. Das bedeutet für die Pädagogik jene Akte der Erziehung zu setzen, die sich im zwischenmenschlichen Bereich, also in der Beziehung von Erzieher und Zögling vollziehen. In der Medizin werden sowohl Diagnose, als auch Therapie von der Arzt-Patient-Beziehung bestimmt. Der sich in diesen Beziehungen zeigende Erfolg bemißt sich an der Überführung von Krankheit in Gesundheit sowie in der Erziehung zu einer positiven Veränderung des Wissens, der Fertigkeiten oder der Einstellungen. Bei der Feststellung des Erfolgs wird die gelungene Therapie des Mediziners in der Regel auffälliger sein als das Ergebnis der Erziehung. Eine Veränderung des Menschen aufgrund der Erziehung ist nicht immer so offenkundig wie die Heilung einer Krankheit, wenn die Symptome verschwinden. Der zwischenmenschliche Kontakt aber ist für den Erfolg einer medizinischen Behandlung genauso wichtig wie in der Erziehung, bei der die Bedeutung dieser Beziehung auf der Hand liegt. Diese Kontakte liegen und vollziehen sich alle in der Alltags- oder Lebenswelt der Menschen und müssen dort von den einschlägigen Wissenschaften aufgesucht werden. Seit Jahrzehnten belegt man diese Beziehung von Wissenschaft und Alltagswelt mit den Termini Theorie und Praxis (H.Tschamler 1998). Sowohl die Medizin als auch die Pädagogik stehen im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis und müssen hier auch ihre Bewährungsprobe bestehen. Je weiter sich die Wissenschaft von dieser Alltagswelt entfernt, desto abstrakter sind auch ihre Aussagen über den zu erforschenden Bereich. Der Medizin ist es gelungen, ihre Praxisfelder in den Bereich der Forschung und damit in die Wissenschaft zu integrieren. Sie hat sich in den Universitätskliniken eine Möglichkeit geschaffen, die in dieser Weise in der Pädagogik noch nie realisiert werden konnte. Diese Einrichtungen dienen sowohl der Ausbildung der Studierenden, als auch als Forschungsfeld. Die dort als Leiter der Klinikzweige fungierenden Universitätsprofessoren und Assistenzärzte vertreten Forschung und Lehre in Personalunion. Dadurch ergibt sich auch eine viel geringere Distanz zwischen der Alltagswelt und der Forschung, abgesehen von der Gefahr, daß der Apparatemedizin und der medikamentösen Behandlung der Patienten ein Vorzug gegenüber anderen in der Alltagswelt durchaus gefragten und praktizieren alternativen Verfahren gegeben wird. Diese enge Beziehung von Theorie und Praxis führt aber auch dazu, daß die dringend erforderliche Grundlagenforschung gegenüber der pragmatischen Vorgehensweise sehr oft zu kurz kommt. Durch die Ausbildung der zukünftigen Mediziner an der Universität spielt aber die Frage der Vermittlung des Faches wie auch der Schwerpunkt der Inhalte eine wichtige Rolle. Welche Qualifikationen soll und muß der zukünftige Arzt mitbringen?
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Dabei können auch scheinbare Selbstverständlichkeiten wie die Arzt-PatientBeziehung in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Der Pädagogik ist es im Gegensatz dazu bis heute nicht gelungen, ihre Praxisfelder in den Bereich der Universität hineinzuholen, abgesehen von einigen wenigen Versuchen, die aber bereits weit in der Vergangenheit liegen. Der denkwürdigen Forderung von Johann Friedrich Herbart auf Einrichtung einer Universitätsschule bei seiner Berufung nach Königsberg 1809 wurde nicht stattgegeben. Trotz der aus Geldmangel verweigerten Einrichtung, versuchte Herbart auf eigene Initiative diese zu realisieren. Dabei blieb dieser Versuch in den Anfängen stecken. Die Schule der Herbartianer hatte bei ihren Bemühungen einen etwas größeren Erfolg, blieb aber auch bis auf wenige Ausnahmen in den Anfängen stecken. Der berühmteste und am längsten währende Versuch ist und bleibt die Universitätsschule in Jena, von einem Herbartianer (Wilhelm Rein) gegründet, von einem Reformpädagogen (Peter Petersen) weitergeführt, um als Jenaplanschule in die Geschichte einzugehen. Der Versuch als solcher aber blieb ohne Folgen für die Pädagogik. So begleitete die Schließung der Schule durch die DDR kein aufsehenerregender Protest der Fachkollegen. Dazu kam in unserem Jahrhundert die professionelle Ausweitung der Pädagogik auf Felder, die jenseits der Schule lagen und neue Aufgaben für Pädagogen eröffneten. Von der Erwachsenenbildung über die Sozialpädagogik bis hin zur außerschulischen Jugendarbeit wurden immer neue Felder erschlossen und auch von BindestrichPädagogen begleitet, deren jüngster Zweig sich Medizin-Pädagogik nennt. Neben diesen ersten Gemeinsamkeiten und Tendenzen in Pädagogik und Medizin gibt es aber auch wichtige Unterschiede. Wenn man die heutige wissenschaftliche Diskussion in den verschiedenen medizinischen Teilgebieten verfolgt, dann dominiert noch vorwiegend das alte naturwissenschaftliche Schema des Ursache-Wirkung-Zusammenhangs. Ob es sich dabei um die Verursachung einer Krankheit oder um ein Medikament als Therapiemittel handelt, immer wieder sucht man solche Beziehungen herauszustellen und ihnen in Hinsicht auf das Eintreffen ihrer Wirkung Allgemeingültigkeit zuzuschreiben. Dieser atavistische Zug der Medizin hat auch seine politische Relevanz. Wenn z.B. ein Medikament zugelassen werden soll, dann stehen nicht in erster Linie die verschiedenartigen möglichen Wirkungen in der Diskussion, sondern allein seine Eignung, eine bestimmte Krankheit zu heilen, unabhängig davon, was darüber hinaus an Nebenwirkungen beim Patienten auftreten. Der selbstverständliche Anspruch von Wissenschaftlichkeit für diese Versuche verhindert, den hier offenkundig vorausgesetzten Wissenschaftsbegriff zu hinterfragen. Dies geschieht auch deshalb nicht, weil der „gesunde Menschenverstand" diese vordergründigen Argumentationen als rational einsichtig legitimiert und evident einsichtig macht. Aus diesen Gründen wird auch in der Regel nicht weiter nachgedacht, welche mentale Subreptionen dahinter stehen könnten. Man hat doch wieder ein Mittel gegen eine bestimmte Krankheit gefunden.
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Diese heute in vielen Fällen vorherrschende Autoritätsgläubigkeit und die Kämpfe, die die Vertreter der Allopathie gegen Naturheilverfahren oder z.B. gegen die Homöopathie führen, sprechen ihre eigene Sprache und zeigen deutlich, daß hier Dogmatiker am Werke sind, die diese ihre Vorurteile nicht kritisch hinterfragen wollen. Die Öffentlichkeit bildet dabei nicht immer ein Korrektiv, weil man sich allzu gern mit den Meinungen der Experten zufrieden gibt. Die Pharmaindustrie will sich auch durch keine kritischen Anmerkungen um den Lohn ihrer eingesetzten Forschungsmittel bringen lassen. Daher unterstützt sie dieses für sie vorteilhafte Vorgehen. Diese Situation gibt dem kritisch Fragenden einige wichtige Hinweise. Woher nehmen manche Mediziner den Anspruch der Wissenschaftlichkeit, wenn sie wie selbstverständlich mit Induktionen arbeiten? Sie stellen an einem Einzelfall, an einem Individuum oder an einigen Versuchspersonen eine Reaktion fest, beobachten das Vorkommen eines Symptoms und schließen zugleich auf die Wirkung bei allen Menschen. Sie postulieren eine allgemeine, alle Individuen tragende und sie umfassende Menschennatur, die als Grundlage für diese Aussagen fungiert. So produziert die Medizin immer wieder neue auf Induktionen beruhende Ergebnisse, ohne die Reichweite und die wissenschaftliche Berechtigung zu hinterfragen. Wissenschaftstheoretisch wird dies wohl kaum zu rechtfertigen sein. Versucht man Vertreter der Medizin darauf hinzuweisen, dann lehnen einige dies als Spintisiererei schlichtweg ab, andere berufen sich auf die Notwendigkeit irgend etwas für die kranken Menschen zu tun, auch dann, wenn es der Gesundheit des Menschen nicht immer und in allen Kontexten förderlich ist. Wo Nebenwirkungen auftreten handelt es sich um Ausnahmefälle, die gegenüber der Vielzahl der gelungenen Interventionen nicht ins Kalkül gezogen werden. So vom öffentlichen Konsens getragen, bestätigen sie sich in ihrem Paradigma. Die Abweichler werden bekämpft und nach Möglichkeit auch aus der Zunft ausgeschlossen. Dieser fast ausschließlich an veraltetem naturwissenschaftlichem Denken orientierten Medizin steht die Pädagogik gegenüber, die sich in ihrer Wissenschaftsauffassung an den verschiedenen im europäischen und amerikanischen Raum aktuellen philosophischen Richtungen orientiert und von dorther auch die Begründungen für ihre Wissenschaftlichkeit bezogen hat.
Die Medizin - eine naturwissenschaftliche Disziplin? In ihren Hauptvertretern versteht sich die Medizin als eine naturwissenschaftliche Disziplin, die im menschlichen Körper ihren Objektbereich ausgewählt hat. Ihre Erkenntnisse gewinnt sie durch Beobachtung und Experiment am Einzelfall und in Reihenuntersuchungen an beliebig ausgewählten Patienten. Ihre Aussagen haben immer eine induktive Herkunft. Der Allgemeingültigkeitsgrad der 108
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gewonnenen Aussagen legitimiert sich allein über einen hypostasierten Begriff einer allgemeinen menschlichen Natur. So geht man von Gesetzesaussagen aus, die im Horizont der Allgemeingültigkeit stehen. Gegenwärtig praktiziert man zwar weitgehend dieses Verfahren, jedoch grenzt man ihre Reichweite und Gültigkeit kontextbezogen ein und relativiert damit ihren absoluten Geltungsanspruch. An der grundsätzlichen Einstellung und Veränderung der bisher vertretenen Position hat sich jedoch nur wenig geändert. Mit dem Naturbegriff Hand in Hand richtet die Medizin ihr Hauptinteresse auf den menschlichen Körper und nimmt damit auch eine Reduktion des Menschen in Kauf. Ob damit ein Monismus vertreten wird, der alle menschlichen Phänomene auf körperbezogene reduziert, oder ob diese Voraussetzungen stillschweigend angenommen, aber nicht explizit formuliert werden, ändert nichts an der Tatsache, daß hier eine Sicht verabsolutiert wird. Tolerante Vertreter lassen es offen, ob es neben dem somatischen auch noch andere Bereiche wie die Seele oder den Geist gibt. Solange diese die Diagnostik und Therapie nicht irritieren, sind sie für den Mediziner nicht existent. Geht die Medizin in der Regel vom menschlichen Körper aus steht damit auch das Verständnis des Körpers selbst in der Frage. Man kann nun den Körper in Analogie als eine Maschine oder als einen Organismus auffassen. Hier zeigen sich sicherlich grundsätzliche Einstellungen, die ihre geschichtlichen Wurzeln am Beginn der Neuzeit haben. Einer der Denker, der auf das Wissenschaftsverständnis des europäischen Abendlandes seit dem 17. Jahrhundert besonderen Einfluß ausgeübt hat, war Rene Descartes. Er postulierte einen fundamentalen Unterschied zwischen dem menschlichen Leib und dem menschlichen Geist oder seiner Geistseele. Den Körper bezeichnete er als res extensa (ausgedehnte Sache) und den denkenden Menschen als eine res cogitans (denkende Sache). Beide sind fundamental voneinander verschieden. Der menschliche Körper wird in diesem Verständnis zum Mechanismus und so in seinen Organen austauschbar, wie die Teile einer Maschine, ohne das sich dadurch am geistigen Sein des Menschen etwas ändert. Der Siegeszug der Apparatemedizin hat hier seinen begründeten Ansatz. Dem stellt er den geistigen Anspruch des Menschen gegenüber, der nur das als Wissen gelten läßt, was in sich rational einsichtig und mit einer Evidenz verbunden ist, die keine weiteren Fragen zuläßt. Das Ideal der Wissenschaft liegt im menschlichen Denken und in seiner Rationalität. Alle Aussagen enthalten nach ihm auch einen Wahrheitsanspruch und lassen keine wahrscheinlichen oder wahrähnlichen Aussagen in der Wissenschaft gelten. Daher bleibt auch die Analyse die einzige wissenschaftliche Methode, um zu klaren Begriffen zu kommen und damit eine Wissenschaft aufzubauen, die ihr Ideal in der mathesis universalis nimmt. Mit dem Aufkommen des Historismus im 19. Jahrhundert und der Berücksichtigung der Bedeutung einzelner Ereignisse, die in den historischen Wissenschaf109
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ten zentral im Mittelpunkt des Interesses stehen, kommt es zu einer Erweiterung des Wissenschaftsverständnisses. Der Historismus führte zur Auseinandersetzung zwischen den Anhängern einer am invarianten Charakter der Natur in den Naturwissenschaften festhaltenden Vertretern und jenen Wissenschaftlern, die sich den einmaligen, geschichtlichen Ereignissen zuwandten.
Die Wende in den Naturwissenschaften Die Kontroverse Natur - versus Geisteswissenschaft orientiert sich immer am Ideal und an der Auffassung der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert. Als nomothetische Wissenschaften sind sie an der Gesetzmäßigkeit der Vorgänge interessiert. Alle individuumbezogenen Fragestellungen werden als unwissenschaftlich ausgeblendet. Neben der Gesetzmäßigkeit steht dann noch die Allgemeingültigkeit der Aussagen, die letztlich in einem sicheren und eindeutigen Wissen einmünden sollen und sich vor allem am Ursache-Wirkungs-Zusammenhang orientiert. Mit der Entdeckung der Mikrophysik kommt es zu einem Schlag gegen jeglichen naiven Objektivismus. Vor allem mußte auch die Geltung allgemeingültiger Gesetze in den Naturwissenschaften in Frage gestellt werden. Das Atommodell in seiner noch sehr grob angenommenen Variante zeigte und verwies freilich auch hier auf Zusammenhänge, d.h. auf Funktionen, Strukturen und Systeme, ohne die man ein dynamisches Verhalten von miteinander verbundenen Elementen nicht erklären konnte.
Die Pädagogik eine geisteswissenschaftliche Disziplin? Der Berliner Lebensphilosoph Wilhelm Dilthey (1833-1911) setzte mit seiner am Ende des vorigen Jahrhunderts erschienen Schrift „Einleitung in die Geisteswissenschaften" die Wissenschaftsbezeichnung „Geisteswissenschaft" für alle mit dem Menschen als geschichtlichem und kulturellem Wesen zusammenhängenden Fragestellungen durch. So wie einst Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft die Natur kritisch begründete, wollte Dilthey in einer Kritik der historischen Vernunft dieselbe Grundlegung für all jene Disziplinen leisten, die sich mit dem Leben in seinen verschiedenen Formen befassen und die sich für die durch den Menschen hervorgebrachte Kultur interessieren. „Der objektive Geist und die Kraft des Individuums bestimmen zusammen die geistige Welt. Auf dem Verständnis dieser beiden beruht die Geschichte/' (VII, 213) In diesem Sinne werden als Geisteswissenschaft alle jene Disziplinen bezeichnet, die in irgendeiner Weise mit dem Leben verbunden sind. Sie werden von
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den Naturwissenschaften in ihrem Wissenschaftscharakter dadurch abgegrenzt, daß sie einer eigenen Methode folgen, die er als die Methode des Verstehens und dann später - an die Tradition anknüpfend - die Hermeneutik nannte. Daher stammt auch sein Diktum: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen w i r / Seither bestimmt die Kontroverse „ Erklärung versus Verstehen" bis in unsere Zeit die Diskussion zwischen den beiden Wissenschaftsgruppen. Die für Dilthey umfaßendste Kategorie aber ist und bleibt das Leben, das aus diesem Grunde immer schon über alle geistige Erkenntnis eines Sachverhalts hinausweist und diese umgreift, daher auch nicht einholbar ist. Nur „im Ausdruck ist das Leben fixiert, festgelegt, zum Stand gekommen" (V, 332, 339 ). Daher setzt auch das Verstehen am einfachen Ausdruck an, um das darin sich manifestierende Erleben des Menschen nachzuvollziehen und zu erkennen. Bei komplexeren Äußerungen muß man dann auf den „ganzen Lebenszusammenhang" (VI, 210) zurückgehen. Damit aber will er einen Weg für die Erkenntnis weisen, wenn sie sich aufmacht, Leben in einen Ausdruck zu bringen. Jegliche Wissenschaft hat die Aufgabe all das, was für den Menschen erkennbar ist, zu erforschen. An der Verknüpfung von einer Ursache mit einer Wirkung, zeigt er den Unterschied zwischen den beiden Wissenschaftsgattungen. In den Naturwissenschaften stehen die Ursachen und die Wirkungen auf derselben Ebene, d.h.: causa äequat effectum. In den Geisteswissenschaften geht die Wirkung immer über die Ursache hinaus. Damit geraten die beiden scheinbar sich entgegenstehenden Wissenschaftstypen in einen Begründungszusammenhang, weil sie beide auf dem Boden des menschlichen Geistes entstehen. So werden die Geisteswissenschaften die Grundlage für die Naturwissenschaften. Dilthey unterteilt die Geisteswissenschaften in historische und systematische Disziplinen (VII, 213). In den historisch ausgerichteten Geisteswissenschaften geht es nicht nur um die Universalgeschichte, sondern insbesondere um Biographie· und Lebenslaufforschung. Dilthey spricht dabei von der Selbstbiographie. Sie sei der Quellgrund für die Erfahrung der menschlichen Geschichtlichkeit. Da im Entwicklungsverlauf Bildungs- und Erziehungsprozesse stattfinden, bekommt die Pädagogik hier eine wichtige Aufgabe. Sie soll durch Rekonstruktion, die im Lebenslauf auftretenden Erziehungs- und Bildungsprozesse herausarbeiten. Die systematischen Geisteswissenschaften bemühen sich um die Erkenntnis von Invarianten, die Dilthey Strukturen nennt und die relativ konstant bleiben. Darunter fallen z.B. die Sprache, die Ökonomie, der Staat, das Recht, die Religion und die Kunst (VII, 146). Solche gleichbleibende Strukturen nennt er auch Systeme und führt diese zwei in der Neuzeit in Ablösung des Substanzdenkens eingeführten Begriffe in seine Wissenschaftskonzeption mit ein und sieht in ihnen das zukünftige Fundament der systematischen Geisteswissenschaften. Struktur, System und Funktion werden drei aus der Wissenschaftsdiskussion nicht
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mehr wegzudenkenden Grundbegriffe und begleiten das wissenschaftliche Denken bis in die Gegenwart. Es ist das Verdienst Diltheys, diesen zentralen Begriffen zu einer ersten Präzision verholfen zu haben. In der Folgezeit entstehen die verschiedenen Varianten des Strukturalismus, des Funktionalismus, sowie der Systemtheorien bis heute. Dilthey betrachtet auch das menschliche Individuum als einen Kreuzungspunkt zwischen verschiedenen Systemen (I, 49ff.). Die Verbindung der menschlichen Individuen sieht er in Analogie zur Geistphilosophie Friedrich Wilhelm Hegels im objektiven und subjektiven Geist gegeben. Paul Natorp hat in diesem Zusammenhang von der Veränderung der wissenschaftlichen Einstellung gesprochen, die nun nicht nach der Invarianz von Dingen im Sinne der Substanzen sucht, sondern diese in den Relationen als beharrende Beziehungen findet. (P. Natorp, 1910, 72). In diesem Sinne spricht Dilthey auch von der Teleologie des Seelenlebens, als jener Invariante der wechselseitigen Beziehungen zwischen dem Denken, Fühlen und Wollen beim Menschen. An diesem Denkmodell, das sich auch an der Formel von Pestalozzis „Kopf - Herz - Hand" orientiert, nahmen seine Schüler Anstoß. In der Göttinger Schule setzt man an die Stelle der Teleologie des Seelenlebens den pädagogischen Bezug als invariantes Verhältnis zwischen Erzieher und Zögling. Damit wird in der Folge die Eigenständigkeit der Pädagogik begründet. Schließlich gerät auch dieses pädagogische Verhältnis wegen seines angeblich mangelnden gesellschaftlichen Bezugs in die Kritik ohne an seine Stelle etwas akzeptables Neues zu setzen. Man übersah dabei, daß es darüber hinaus Ansätze aus der Richtung des Neukantianismus (E. Spranger) und des Neuhegelianismus (Th. Litt ) gab, die diese Tradition der Geisteswissenschaften im Sinne der Kultur- und Wertpädagogik durch einen anderen Schwerpunkt ersetzten. Als eine geisteswissenschaftliche Disziplin stellt die Pädagogik die Frage nach dem Individuellen genauso, wie nach dem Ganzen des Menschseins und seiner Verflechtungen in Gesellschaft und Kultur. In diesem Sinne ist die Pädagogik für Dilthey ein „System des gesellschaftlichen Lebens" (IX,179). Zentral bleibt für die Geisteswissenschaften der Weg und die Methode des Verstehens, die nach Dilthey in der Tradition der Hermeneutik seit Aristoteles Regeln für ihr methodisches Vorgehen finden kann. Trotz des Interesses für das Erbe seines Vorgängers D. F. E. Schleiermacher, übersieht er doch dessen Erweiterung der traditionellen Hermeneutik über die schriftlich fixierten Äußerungen hinaus auf das Nachkonstruieren der menschlichen Rede. Damit hat Schleiermacher aber die konkrete Kommunikation unter Menschen als einen konstitutiven Gesichtspunkt in die Hermeneutik mit einbezogen. Der Heideggerschüler H. G. Gadamer verweist in seinem Werk über „Wahrheit und Methode" auf diesen umfassenden Aspekt der Hermeneutik. Sie ist für ihn
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ein „universaler Aspekt der Philosophie" und „nicht nur die methodische Basis der sogenannten Geisteswissenschaften" (H. G. Gadamer 1960,2. 451).
Lineare Kausalität und strukturelle Multikausalität in der Systemtheorie Eine Teilmenge von Gesetzen bilden die Kausal- oder die Ursache-WirkungsBeziehungen. Sie stehen zentral im traditionellen wissenschaftlichen Aufmerksamkeitsfeld. Überall wo es gelingt solche Zusammenhänge zu finden, gewinnt die Wissenschaft einen sicheren Boden. Die Auseinandersetzung um diese wichtige Beziehung zieht sich wie ein roter Faden durch die abendländische Wissenschaftsgeschichte. Von Aristoteles, der noch vier Ursachen kannte, über das Mittelalter bis zum Empiristen Hume, von I. Kant bis in die Gegenwart. Kant hat diesem Problem eine fast klassische Formulierung gegeben: „Alles was geschieht, setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt" (K.r.V.A 189) und „Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetz der Verknüpfung von Ursache und Wirkung" (K.d.r.V. Β 232) Damit wurde das Kausalgesetz eigentlich als Wissenschaftsgesetz dogmatisiert und beherrschte die Wissenschaftsdiskussion bis in die Gegenwart. Die Kausalität trifft die Menschen in „empfindsamster Weise - in ihren Weltanschauungen sowie in ihren religiösen und ethischen Belangen" so Wolfgang Stegmüller in seinem Beitrag über das Problem der Kausalität (W. Stegmüller 1960, 172). Damit wird auf die Reichweite der Bedeutung des Kausalproblems über die Wissenschaft hinaus verwiesen. Die Diskussion darüber reicht weit in die Alltagswelt hinein. Kausalität besagt, daß es zwischen einer Ursache und einer Wirkung eine eindeutige Verbindung gibt, die in der sprachlichen Formulierung lautet: Wenn A, dann B. Oder: Immer wenn A, dann Β (M. Bunge 1987). Gibt es solche Zusammenhänge, dann erscheinen auch Prognosen einfach zu sein, weil das Zukünftige keinen weiteren Unwägbarkeiten ausgesetzt ist. Heute spricht man nicht mehr von der Sicherheit einer Aufeinanderfolge, sondern bezeichnet das Eintreten einer Wirkung als Wahrscheinlichkeitsereignis. Dies beruht in erster Linie auf der Induktion, durch die aus Ursache-WirkungsRelationen, die für einen Einzelfall gelten allgemeine Aussagen abgeleitet werden. Daß die Induktion kein konsequentes logisches Schlußverfahren darstellt hat schon Aristoteles in seinen Organonschriften deutlich gezeigt. Trotzdem kann die Wissenschaft immer dann, wenn es um die Gewinnung von Erkenntnissen aus Erfahrungen geht nicht auf induktive „Schlüsse" verzichten. Sie muß freilich dabei nur beachten, daß hier die Gewißheit der Aussage gelockert wird. Besonders in der Sozialforschung bringt dies wichtige Korrekturen für die Evi-
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denz empirisch gewonnener Erkenntnisse mit sich. Wenn durch eine Umfrage unter Jugendlichen Einstellungen zu verschiedenen Tagesproblemen untersucht werden, so dürfen solche Ergebnisse nicht überinterpretiert werden. Vielmehr erscheint es sehr wichtig zu sein, die Grenzen dieser Vorgehensweisen methodisch zu hinterfragen. Dann kann es auch nicht zu pauschalen Vorurteilen kommen, die immer wieder in diesem Zusammenhang auftreten. Man spricht nicht mehr von einer Ursache, die eine Wirkung hervorbringt, sondern von vielfachen Möglichkeiten auf beiden Seiten, bei den Ursachen, wie bei den Wirkungen. Man will dadurch die Komplexität deutlich machen und zeigen, daß der Weg zu einer Erklärung nicht immer ein eindeutiger oder linearer sein kann. Die Arbeit von Rüdiger Jacob widmet sich Krankheitsbildern und Deutungsmuster wie sie sich bei chronisch degenerativen Krankheiten zeigen. Hier wird es klar, daß es dafür vielfältig mögliche Ursachen gibt, die im Einzelfall keineswegs angebbar sind (R. Jacob 1995, 278). Die Einbeziehung individueller Verhaltensweisen begrenzt alle Aussagen auf Allgemeingültigkeit, weit mehr spielt die persönliche Biographie der Patienten eine wesentliche Rolle. „Es gibt, wie gesagt, eine Fülle möglicher Ursachen mit zeitlich versetzten Folgen und unübersichtlichen Wechselwirkungen, ohne daß sich eindeutige Kausalbeziehungen beobachten lassen" (R. Jakob 1995 279). Da aber diese Krankheiten heute weit verbreitet sind kommt diesem an Krankheitsbildern und Deutungsmustern orientierten Vorgehen eine große Aktualität zu. Ein Ausweg und eine Hilfe kann dabei die Biographie-Forschung im Zusammenhang mit der Systemforschung leisten. System, Funktion und Struktur sind die in unserem Jahrhundert besonders verwendeten Theoreme, die die linearen Modelle der Ursache-Wirkungsbeziehungen zugunsten einer komplexeren Betrachtungsweise abgelöst haben. Die Systemtheorie der Gegenwart verweist auf die ersten Ansätze bei Ludwig von Bertalanffy aus den 30er Jahren. Dabei werden jene Versuche im Zusammenhang mit dem Neukantianismus nicht zur Kenntnis genommen, wie z.B. die Herausstellung der zentralen Bedeutung der Relation bei Paul Natorp. Man kann nie von einem System sprechen ohne die Relationen der einzelnen Teile oder Elemente im Blick zu haben. Das geht aber bei Natorp so weit, daß er in den Relationen auch die Möglichkeit von Invarianten sieht. „So sucht denn auch die Wissenschaft unveränderliche Grundbestimmungen. Doch sucht sie sie nicht mehr in sogenannten Dingen (Substanzen), sondern in beharrenden Relationen, die ihr fortan die Dinge vertreten müssen"(P. Natorp 1921,72). Die Verbreitung der Systemtheorie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommt mit der Kybernetik.
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In einer der älteren grundlegenden Publikationen zur Kybernetik zeigt H. J. Flechtner, daß die Teile eines Systems durch Relationen miteinander verbunden sind. Aufgabe der Systemtheorie sieht er darin, daß, „die Art und die Eigenschaft derartiger Relationen" (H. J. Flechtner, 1968, 228) untersucht und erforscht werden muß. In diesem Zusammenhang erscheint es auch wichtig, welche Systeme in der Systemtheorie vorkommen. So spricht man von dynamischen versus statischen, offenen versus geschlossenen und natürlichen gegenüber künstlichen Systemen. Man kann ein System in sich, aber auch im Austausch und in Beziehung zu seiner Umwelt verstehen. Das einfachste kybernetische System zeigt sich als Kommunikationssystem. Diese im zweiten Weltkrieg beginnende Kybernetik I beginnt mit dem sogenannten Blocksystem, das noch sehr linear erscheint. Ein Sender sendet eine Nachricht, die entcodiert werden muß (Beispiel Morsealphabet), um durch einen Kanal zum Empfänger zu gelangen, der aber ihren Sinn durch Decodierung erfährt. Wenn man auf diesem Weg viele Störquellen annimmt, die ein lineare Übertragung unmöglich machen, muß man zusätzliche Komponenten einschalten, damit die Wahrscheinlichkeit größer wird, daß die Nachricht den Empfänger erreicht. Die erste Möglichkeit liegt in der Redundanz, d.h. der Inhalt der Nachricht wird immer wieder in gleicher oder ähnlicher Codierung wiederholt. Um aber zu wissen, welche Inhalte der Nachricht bereits angekommen sind, bedarf es der Rückmeldung, die als Rückkoppelung bezeichnet wird. Der Prozeß der Nachrichtenübertragung ist erst dann abgeschlossen, wenn der Empfänger die ihm zugedachte Nachricht erhalten hat. Die Nachricht wird als Information bezeichnet und kann in sog. „Bytes" angegeben werden. Daraus entwickelt sich die Informationstheorie, die auch dem Computer zu Grunde liegt. Seither verbindet sich mit der Systemtheorie auch die Informationstheorie und findet ihre Anwendung in den verschiedenen Wissensbereichen. Ein Beispiel kann hier stellvertretend aus der Immunologie stehen. Die Immunologie geht vom Abwehrsystem aus, das eng mit den Körperreaktionen verbunden ist. Sie spricht vom Immunsystem. Dieser Systembegriff beruft sich auf die Kybernetik I und gebraucht den zentralen Begriff der Information. „Es gelingt eine optimale Regulation in der Abwehr von Antigen, die speziell über Rezeptoren der Zelloberflächen mittels spezifischer Informationssysteme gesteuert wird" (P. Schleicher 199 7 2 , 14). Die dabei auch zu berücksichtigenden Beeinträchtigungen des Immunsystems führen zur Immunschwäche. Hier verwendet die Immunologie den Begriff der Harmonie, der beim Fehlen zu Immunkrankheiten führen kann. „Unser Abwehrsystem (ist) harmonisch in die gesamten physiologischen Abläufe des Körpers eingegliedert und von ihnen abhängig" (P. Schleicher 17). Das Immunsystem in seinem Normalzustand wird mit dem Begriff des „Gleichgewichts" oder der „Harmonie" belegt. „Psychoimmunologisch ... erreicht unser
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Körper über komplexe Vernetzungen durch Regelkreise eine Verknüpfung von Immunsystem, Hormonsystem und Emotion. Alle Systeme beeinflussen sich miteinander. Funktionieren sie nach dem Ursprung der Harmonie, so resultiert Gesundheit" (P. Schleicher, 1987 2 , 17). Aus diesen an die negative Rückkoppelung noch gebundenen Systemen entwikkelte sich die Kybernetik II mit der Einbeziehung einer positiven Rückkoppelung, um schließlich in die heute noch umstrittene Kybernetik III einzumünden, in der es um selbstreferentielle Systeme geht. Damit aber erfolgte eine optimale Nähe zu menschlichen Entscheidungs- und Handlungssystemen. In der Weiterentwicklung dieser einfachen Anfänge stehen komplexere Systemmodelle. Eine andere Anwendung der kybernetischen Kommunikationstheorie praktiziert die Paolo-Alto-Schule im Mental Research Institute in den USA in der Kommunikationstheorie von G. Bateson und P. Watzlawick, die eine weite Verbreitung gefunden hat und immer wieder für Kommunikationsanalysen herangezogen und zitiert wird. Vor allem die Axiome der Kommunikation, die Unterscheidung in Inhalts- und Beziehungsaspekt und ihre Bedeutung für Kommunikationsabläufe haben ein breites Echo gefunden, weil sie komplexe Sachverhalte durch relativ plausible Einsichten vereinfachen. Eine andere erweiterte Anwendung fand die Systemtheorie in der Chemie und Biologie durch die Entdeckung von autotelischen oder autopoietischen Systemen durch den Nobelpreisträger Prigogine. Dadurch wird aber einer determinierbaren Voraussage über das Verhalten von lebenden Systemen eine wesentliche Grenze gesetzt (R. Grossarth-Maticek 2000). Kybernetik, Systemtheorie und Strukturalismus konkurrieren um ein besseres Verständnis von Prozessen, die Veränderungen erfassen sollen. Das kann man vor allem an der Aktualität und der Einbeziehung des Funktionalismus ersehen. Nun waren gerade Funktionen und ihre Darstellung in der Geometrie als analytische Geometrie seit Descartes bestens bekannt. Die Durchsetzung auf andere Gebiete brauchte auch seine Zeit. Es wurde von Beziehungen, Systemen, Interaktionen und Strukturen gesprochen. Dieser Funktionalismus geht Hand in Hand mit der Systemtheorie und ein Vertreter einer funktional-strukturellen Gesellschaftstheorie - der Soziologe Niklas Luhmann - beschreibt dies wie folgt: „Die funktionale Analyse benutzt Relationierungen mit dem Ziel, Vorhandenes als kontingent und Verschiedenartiges als vergleichbar zu erfassen. Sie bezieht Gegebenes ... (Zustände, Ereignisse) auf Problegesichtspunkte und sucht verständlich und nachvollziehbar zu machen, daß das Problem so oder auch anders gelöst werden kann. Die Relation von Problem und Problemlösung wird dabei nicht um ihrer selbst willen erfaßt; sie dient vielmehr als Leitfaden der Frage nach anderen Möglichkeiten, als Leitfaden der Suche nach funktionalen Äquivalenten." (N. Luhmann 1984, 83f.)
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Luhmann übernimmt von Talcot Parsons, einem Schüler Max Webers, die Anregung, die Systemtheorie auf soziale Phänomene zu übertragen. Diese Systemtheorien in der Soziologie zusammen mit dem Funktionalismus zeigen eine komplexe Sicht der Wirklichkeit und verweisen die einfachen kausalen Erklärungen in eine ihnen zukommende Grenze. Aber auch hier gibt es verschiedene Versuche, die nicht von allen Vertretern akzeptiert werden, besonders dann, wenn - wie bei Luhmann - das individuelle Handelns des Menschen in diesen Paradigmen keine Rolle mehr spielt. Ausgleichend fordert daher der Soziologe Hans Jonas: „Wünschenswert erscheint eine .realistische' Verwendung eines Systemmodells auf der Basis einer Theorie des individuellen und kollektiven Handelns. ,Realistisch' soll hier heißen, daß die Systemanalyse auf die realen Wechselwirkungen gesellschaftlicher Akteure begrenzt wird" (Jonas 1992, 324f). Jonas denkt hier besonders an den Entwurf Amitai Etzionis. Wenn aber der Funktionalismus zur Charakterisierung wechselseitiger Abhängigkeitsverhältnisse gebraucht wird, trägt er bereits das Charakteristikum eines realitätsorientierten Begriffs in sich. „Offenheit, Dynamik und Komplexität sind die Eigenschaften eines Systems, in dem sich letztlich dann auch die Evolution des Sozialverhaltens im Sinne eines mehrseitigen Interaktionsprozesses verstehen läßt" (W.L. Bühl 1982, 29). Walter Bühl entwirft ein Mehrebenenmodell, das er in vierfacher Weise aufgliedert: 1. die Instinkt-Reflex Mechanismen 2. die hormonalen Mechanismen 3. den generalisierten Altruismus, 4. dem Selbst, der Selbstreflexion und dem Diskurs (ebd. S. 41 ff). System, Funktion und Struktur sind die in unserem Jahrhundert besonders verwendeten und für zwischenmenschliches Handeln gebräuchlichen Theoreme, die die linearen Modelle der Ursache-Wirkungsbeziehungen zugunsten einer komplexeren Betrachtungsweise abgelöst haben. In diesem Zusammenhang erscheint es wichtig, daß hier vor allem Wert auf die Wechselseitigkeit gelegt wird, die in dem Systembegriff mit eingeschlossen ist. Bei der Erfassung von Gruppenrelationen in ihren Auswirkungen auf das Verhalten in der Lebenslaufforschung, in der Anamnese einer Krankengeschichte überall kommen Zusammenhänge in Form eines Systems zum tragen (D. Wyss 1987). In jüngster Zeit fordert daher Jürgen Kriz eine personzentrierte Systemtheorie und versucht, diese als sinnvolle Ablösung von den Handlungssystemen herauszustellen. „Die personzentrierte Systemtheorie richtet dabei den Fokus auf den Menschen, sein Erleben und seine Interaktionen - wählt also nicht primär z.B. eine makro-
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soziologische oder physiologische/biologische Perspektive. Gleichwohl ist klar, daß die Eingebundenheit" 0. Kriz 1999,130) in diese Bereiche nicht beiseite geschoben werden darf, genausowenig wie die Berücksichtigung der Lebenswelt, wie diese seit W. Dilthey über E. Husserl bis heute die Diskussion der Anthropologie bestimmt und begleitet.
Anthropologische Grundlagen Die Gemeinsamkeit, in der die Medizin und die Pädagogik sich als Wissenschaft treffen ist der Mensch. Die Aspekte, oder das Formalobjekt, unter dem der Mensch in den beiden Disziplinen gesehen wird, sind jedoch verschiedene: Der Mensch als Objektbereich des wissenschaftlichen Interesses in Medizin und Pädagogik kann von zwei Aspekten anvisiert werden: • die analytische Sichtweise arbeitet bestimmte ausgewählte Aspekte des Menschseins heraus, • die synthetische oder ganzheitliche Betrachtungsweise. Die verschiedenen, den Menschen als Ganzheit betreffenden Interpretationen können • als monistische, als dualistische oder als trialistische Entwürfe artikuliert werden. In der monistischen Sicht werden alle menschlichen Erscheinungsweisen auf eine einzige reduziert. So kann man z.B. in der Medizin alle auftretenden Symptome nur vom menschlichen Leib her verstehen und so auf somatische Ursachen zurückführen. Die dualistischen Sichtweisen gehen von zwei Bereichen aus, die für den Menschen wichtig sind: Körper und Seele. Hier haben die klassischen Entwürfe der Psychosomatik ihren Ort (G. Danzer 1998, F.B. Simon 1995). Die trialistische Sicht umfaßt Körper, Seele und Geist. In der geschichtlichen Denktradition verschiedener Völker und Kulturen wird der Mensch als trialistische Einheit von Leib, Seele und Geist verstanden. Dieses Denken gibt es auch im Abendland und wird vom Christentum zunächst übernommen. Durch die Manichäer wurde der Trialismus auf einen Dualismus reduziert, in dem von der Geistseele des Menschen gesprochen wurde und ihr der Leib dual gegenübergestellt wurde. In einer trialistischen Sicht kommt die Komplexität menschlicher Fähigkeiten besser zum Ausdruck und gerät nicht in Gefahr in zwei dualistische Prinzipien auseinanderzufallen. Sie ist eine ganzheitliche Sicht und in der die einzelnen Bereiche nicht voneinander getrennt werden können. Dabei ist eine reflexiv-
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analytische Trennung möglich und damit auch die Zuordnung von bestimmten Funktionen zu den einzelnen Bereichen. Neben diesen an der Denktradition ausgerichteten Verständnisweisen menschlichen Daseins stehen die immer wieder anzutreffenden Aussagen über das Menschsein, in denen der Mensch als ein ZOON LOGON ECHON oder als ein ZOON POLITIKON seit den Griechen verstanden und bis zur Gegenwart rezipiert wird. Dabei versteht sich der Mensch in seiner Teilhabe am geistigen Sein. Die Diskussion um die Unsterblichkeit der Seele entsteht auf diesem Boden, weil die Seele in ihrer Praeexistenz die Wesenheiten als Ideen geschaut hat und nach dem Tod wiederum in das geistige Sein zurückkehrt. So gibt es eine Dimension des Menschseins, die über das Zeitliche, das Kontingente hinaus auf eine Transzendenz verweist, die die menschliche Existenz und ihr Verständnis wesentlich mitbestimmt. Die nichtaufhörenden Diskussionen um das Leib-SeeleProblem in der Philosophie und in der Psychologie findet seine Weiterführung in der Psychosomatik der Medizin. Mit dem Anheben der Neuzeit kommen zu all den Traditionen und Verständnisweisen des Menschseins noch die die Ganzheit bestimmenden Begriffe der Struktur, der Funktion und schließlich des Systems hinzu. Letzteres gerät augenscheinlich erst in unserem Jahrhundert in den Blickpunkt der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, wenn es auch der Sache nach älter ist. In der Medizin wird der Mensch vorwiegend als biologisches Lebewesen gesehen. Diese, in der Medizin vorherrschende Sichtweise orientiert sich an einer bestimmten naturwissenschaftlichen Richtung, die in erster Linie allgemeine Aussagen allein als wissenschaftliches Argument anerkennt und die Gesetzmäßigkeit des Kausalgesetzes zum obersten Prinzip wissenschaftlicher Aussagen macht. Diese Sicht wird in neuester Zeit immer mehr durch systemorientierte Ansätze abgelöst. Die Pädagogik orientiert sich an der im 20. Jahrhundert aufkommenden Anthropologie und dem darin ausgearbeiteten Verständnis des Menschen als Person. Persönlichkeit als Bildungsziel kommt in einer Varianten Breite bis heute immer wieder vor. In der Person, die in ihrer historischen Genese bis zur Gegenwart ausgearbeitet wurde, sind Individualität, Sozialität, Spontaneität und Ganzheitlichkeit enthalten. In gleicher Weise nimmt aber auch die Analyse pädagogischer Objektbereiche einen wichtigen Stellenwert ein. Hier haben wir zwei Wissenschaften, die von zwei unterschiedlichen Positionen aufeinander zugehen, aber beide nur gewinnen können, wenn sie den jeweils anderen Aspekt berücksichtigen. Das Wachsen der Gemeinsamkeit zeigt sich in erster Linie durch die Angewiesenheit der Medizin auf Zusammenhänge, auf Ganzheiten, ohne die heute fast keine Krankheit adäquat erfaßt werden kann. Schon die Reduktion auf den kranken Menschen verkürzt den Menschen um seine Beziehung zu seiner Umwelt.
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Durch die Einbeziehung der Systemtheorie wird ein erster Schritt in Richtung einer ganzheitlichen Erfassung getan (W. Feigl 1997, K. Ludewig 1992, A. Schlippe; J. Schweizer 1996, F.B. Simon 1995). Die Pädagogik wiederum muß anthropologisch konsequenter von der Ganzheit des Menschen ausgehen. Das bedeutet aber auch die Berücksichtigung der Wechselbeziehungen zwischen Leib-Seele-Geist. Hat der seelisch-geistige Bereich in der Pädagogik seit seinen Ursprüngen beim Verständnis pädagogischer Prozesse in pädagogischen Feldern meistens dominiert, wurde der Aspekt des menschlichen Körpers und des Leibes entweder übergangen oder als ein lästiges Substrat empfunden, über das der Geist und die Seele die Herrschaft erringen muß. Heute kommt es zu einer Korrektur unter Einbeziehung der menschlichen Leiblichkeit und damit des menschlichen Körpers und der Körperphänomene. Auch hier bietet die Systemtheorie eine wichtige Hilfe. Damit wird deutlich, daß beide Disziplinen sich in der Systemtheorie aufeinander zu bewegen können. Daher muß in dieser Bewegung die neue Gemeinsamkeit gesucht werden. Die Anthropologie stellt die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung von Individualität, Sozialität, Ganzheitlichkeit, Spontaneität und Rezeptivität des Menschen und integriert diese in einem von der Tradition her mitgetragenen Verständnis des Menschen als Person. Für die Medizin und für die Pädagogik muß aber der systemische und strukturelle Zusammenhang, der sich vor allem in der Dyade des Verhältnisses„von Arzt und Patient, Meister und Jünger, Lehrer und Schüler, Educand und Educator mit all den soziokulturellen Verflechtungen und biographischen Entwicklungen zeigt, zum Ausgangspunkt aller Analysen gemacht werden. Als um die Jahrhundertwende der naturwissenschaftlich ausgerichtete Mediziner Sigmund Freud seine Psychoanalyse vorstellte, verwies er damit auf Zusammenhänge und Abhängigkeiten von Seele und Leib. Er reduzierte diese freilich auf eine lineare, später auf eine dualistisch geprägte Trieblehre (Lebens- und Todestrieb). Das Unbewußte als der Quellgrund des Bewußtseins in der Entwicklung des menschlichen Daseins und das Über-Ich als introjizierte Kontrollinstanz, sollte eine Erklärung nicht nur für bestimmte seelische Krankheiten bieten, sondern auch eine Folie für die Entstehung der menschlichen Kultur abgeben. So einfach dieses Grundmodell auch erscheint, bringt seine Anwendung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen größte Schwierigkeiten mit sich. Freud versteht seine Trieblehre in einer dreifachen Weise, wie ein Ziel erreicht werden kann: als Trieberfüllung, als Triebversagung und als dem Zwischen, dem ,sowohl - als auch' dem Mittelweg. In diesem Mittelweg, d.h. zwischen der Skylla der Trieberfüllung und der Charybdis der Triebversagung, sieht er den ge120
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eignetsten Weg, um Menschen in einer gesunden Weise zu erziehen. Damit entlarvt er die möglichen Extreme als für den Menschen krankheitsfördernde Möglichkeiten. Für unsere Thematik bleibt die entscheidende Weichenstellung Freuds, auf den Zusammenhang zwischen Leib und Seele hingewiesen zu haben, wobei er als Naturwissenschaftler in erster Linie monistisch denkt, weil er alle Phänomene auf die triebhaften Energien reduziert, die somatisch zu erklären sind. Trotzdem wird er als einer der Väter der Psychosomatik im 20. Jahrhundert gefeiert, auf den sich bis heute einige Psychosomatiker berufen. Diese Richtung der Psychosomatik gerät dabei in Gefahr, sich in erster Linie in den Menschen als Seelensack einzuschließen und alle aus der Lebenswelt herrührenden Anstöße als sekundär abzutun. Doch dies verkürzt den Ansatz Sigmund Freuds. Freud selbst hat immer wieder in seinen Werken auf die Lebenswelt des Menschen und ihre Bedeutung für die Entwicklung des Menschen hingewiesen und damit auch einer Verengung keinen Vorschub geleistet. Das 'Unbehagen in der Kultur' wäre eine der zentralen Schriften Freuds, in denen dies in besonderer Weise zum Ausdruck kommt. Hier zeigt er deutlich die kulturelle und soziologische Relevanz der Psychoanalyse. Freud lebte auch in einer Gesellschaft, die zu seiner Zeit den Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation in besonderer Weise artikulierte. Eros und Thanatos, die beiden unversöhnlichen Grundtriebe des Menschen, die Freud in seinen Spätschriften dialektisch für das Menschenleben als grundlegend anerkennt, zeigt auch in besonderer Weise, daß er sich von der linearen Denkweise der Naturwissenschaften loslöste, um die Situation des Menschen besser verstehen zu können. Wie sein Wiener Schüler Bruno Bettelheim berichtete, hatte Freud eine starke Neigung zur Archäologie (B. Bettelheim 1984, 54). Diese Vorliebe aber führte ihn auch aus dem Bann einer rein nomothetischen Wissenschaft zur idiographischen Auffassung. So kann auch Bettelheim - sicher nicht mit vielen Freudinterpreten - behaupten, daß „die Psychoanalyse... eindeutig eine idiographische Wissenschaft" ist, „die einzigartige historische Vorkommnisse nutzt, um ein Bild von Entwicklung und Verhalten des Menschen zu liefern." (B. Bettelheim, 1984, 55). In diesem Sinne freilich rückt die Psychoanalyse in die Nähe einer Geisteswissenschaft. Die Behandlung der Menschen selbst führt den Arzt, ob er will oder nicht, immer in die Konfrontation mit der Individualität des Patienten, ganz gleich welchen Stellenwert dieser gegeben wird. So gelingt es Bettelheim zu zeigen, daß Freud eine Hinwendung vom Ideal allgemeingültiger Erkenntnisse zu den individuellen Lebenslaufentwicklungen im Laufe seines wissenschaftlichen Lebens vollzieht. Aus der Nachschrift zur Selbstdarstellung von Sigmund Freud von 1935 bringt Bettelheim ein interessantes Zitat, in dem Freud diese Wandlung selbst eingesteht. „Nach dem lebenslangen Umweg über die Naturwissenschaften, Medizin und Psychotherapie war mein Interesse zu jenen kulturellen Problemen zurückgekehrt, die dereinst den kaum zum Denken erwachten Jüngling gefesselt hatten ...die Geschehnisse der Menschheitsgeschichte, die Wechselwirkungen zwischen Menschennatur, Kulturentwicklung und jenen
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Niederschlägen urzeitlicher Erlebnisse, als deren Vertretung sich die Religion vordrängt... Diese von der Psychoanalyse ausgehenden, aber weit über sie hinausgreifenden Studien haben vielleicht mehr Anklang beim Publikum gefunden als die Psychoanalyse selbst../ (B. Bettelheim, 1984, 60). Nach diesem Zitat aus seiner Nachschrift zur Selbstdarstellung aus dem Jahre 1935 schreibt Bettelheim, daß Freud sicherlich den Graben zwischen der naturwissenschaftlichen und der geisteswissenschaftlichen Denkweise gerade in der Psychoanalyse überwunden hat, die sehr stark vom geisteswissenschaftlichen Denken getragen war. In all diesen Strömungen kann die Medizinpädagogik in besonderer Weise auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Pädagogik und Medizin reflektieren um so die beiden Disziplinen in einem wechselseitigen Gespräch näherzubringen. So können sie einander ergänzen und sowohl auf dem Boden der Wissenschaft, wie auf der Basis der Berufsfelder zu einer gemeinsamen Aufgabe zusammenbringen.
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MARIANNE
LEUZINGER-BOHLEBER,
ROLF
PFEIFER
Embodied Cognitive Science und Psychoanalyse"1 „Die Welt ist nicht, was ich denke, sondern das, was ich lebe..." (Maurice Merleau-Ponty)
1. Einleitung Maurice Merleau-Ponty, wohl einer der bedeutendsten französischen Philosophen der Nachkriegszeit, war einer der ersten, der in den Vierziger- und Fünfzigerjahren mit Nachdruck die implizite Auffassung vieler Phänomenologen und Existentialisten in Frage stellte, der Mensch sei vor allem durch das Zentrum von Bewußtseinserfahrungen bestimmt, durch das, was man sich abstrakt und immateriell denken kann. Merleau-Ponty bestand darauf, daß es für unsere Identität als Menschen grundlegend ist, daß wir physische Objekte sind und als solche einen je unterschiedlichen und einzigartigen Platz in Raum und Zeit einnehmen. Wir sind in radikaler Weise von unserem Körper abhängig, ohne ihn können wir weder wahrnehmen noch handeln. Diese an sich banale Aussage, führt zu komplexen philosophischen Fragestellungen: Ist der menschliche Körper eher als Subjekt oder als Objekt zu betrachten? Er ist wohl beides und zugleich auf eine merkwürdige Weise nichts davon. Er ist kein körperloses Subjekt der Erfahrung, denn er ist physisches Objekt in der Welt. Doch ist er auch kein Objekt wie alle anderen materiellen Objekte in der Welt, denn er ist ein selbstbewußtes Subjekt, das Erfahrungen macht. In analoger Radikalität wie Merleau-Ponty den philosophischen Diskurs vor einigen Jahrzehnten in eine andere Richtung zu lenken versuchte, vollziehen einige Cognitive Science Forscher wie Brooks (1991a, b), Clancey (1991, 1993, 1997), Edelman (1987, 1992/95), Rosenfield (1988, 1992) und vor allem Pfeifer und Scheier (1999) in den letzten Jahren einen Perspektivewechsel. Wie wir im folgenden kurz skizzieren möchten, führt dieser Wechsel weg von der kognitivistischen, „klassischen Cognitive Science" hin zu der sogenannten „Embodied Cognitive Science". Wissenschaftshistorisch interessant scheint uns dabei, daß es - im Gegensatz zum philosophischen Diskurs - nicht einzelne nur theoreti1
Dieses Manuskript ist die Überarbeitung eines Vortrags, den M. Leuzinger-Bohleber an den Lindauer Psychotherapiewochen 2000 und in einer neueren Fassung an der Tagung „Perspektiven einer integrierten Psychosomatischen Medizin" (München, januar 2001) gehalten hat (vgl. auch Leuzinger-Bohleber und Pfeifer, 1998 a und im Druck)
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LEUZINGER-BOHLEBER, PFEIFER
sehe Argumente waren, die ein fundamentales Umdenken bewirkten, sondern der Einsatz unterschiedlicher empirischer und vor allem synthetischer Methoden und damit erzielter neuer Erkenntnisse zur Funktionsweise des Gedächtnisses, wie wir gleich zu diskutieren versuchen. Wir möchten in diesem Beitrag illustrieren, daß diese Erkenntnisse nicht nur für die Cognitive Scientists selbst, sondern auch für andere Wissenschaftler oder Kliniker von Interesse sein können, da wir uns im diagnostischen oder therapeutischen Umgang mit neurotisch oder psychosomatisch Erkrankten oft mit Funktionsweisen des Gedächtnisses - Erinnerungen, affektivem oder kognitivem Problemlösen - beschäftigen i.a.W. mit einem adäquaten bzw. inadäquaten Transfer von Wissen, das in früheren Situationen erworben und i.d.R. unbewußt auf aktuelles Denken, Fühlen und Handeln übertragen wird. Zwischen 1992 und 1997 diskutierte eine Gruppe von 15 Psychoanalytikern und Neurowissenschaftlern in regelmäßigen Colloquien in München solche Fragen intensiv und kontrovers 1. Unter dem Titel „Erinnerung von Wirklichkeiten. Psychoanalyse und Neurowissenschaften im Dialog" (Koukkou, LeuzingerBohleber, Mertens, 1998) haben wir im ersten Band einige Ergebnisse unserer theoretischen Diskussionen zusammengefaßt. In einem zweiten Band wird die eben erwähnte These belegt, daß der interdisziplinäre Dialog auch für die klinisch-psychoanalytische Praxis eine Bereicherung darstellen kann. Dies wird anhand detaillierter Untersuchungen von Traumdeutungsstunden einer Psychoanalyse mit einem transvestitischen Patienten illustriert (Leuzinger-Bohleber, Mertens, Koukkou, 1998). Wissenschaftstheoretisch betrachtet, geht es bei diesem interdisziplinären Dialog allerdings nicht um eine Neuauflage des von Freud in seinem „Entwurf einer Psychologie" (1895) formulierten Versuchs, psychische Prozesse auf neurophysiologische zu reduzieren, den Jürgen Habermas (1968) bekanntlich als szientistisches Selbstmißverständnis der Psychoanalyse kritisiert hat, sondern um einen Versuch, sich im Sinne Carlo Strengers (1991) um externale Kohärenz psychoanalytischer Konzepte mit jenen der Neurowissenschaften zu bemühen. Ziel unseres interdisziplinären Colloquiums war es, einen solchen Brückenschlag zwischen der Psychoanalyse und den Neurowissenschaften zu versuchen, die dabei gewonnenen Erkenntnisse zu dokumentieren und kritisch zu diskutieren. Allerdings ist dabei zu bedenken, daß auch die Neurowissenschaften nicht „Wahrheiten an sich" darlegen, sondern - wie alle Wissenschaften - Modelle und Konzepte formuliert haben, die diese Beobachtungsdaten möglichst adäquat zu interpretieren und erklären suchen. I.a.W. besteht der interdisziplinäre Dialog zwischen der Psychoanalyse und den Neurowissenschaften bei näherem 1 Ich (M. Leuzinger-Bohleber) danke der Köhler Stiftung, Darmstadt für das Forschungsstipendium, das mir, zusammen mit Prof. Dr. Martha Koukkou diesen interdisziplinären Austausch ermöglichte - und meinen Kolleginnen und Kollegen, daß sie - mit uns zusammen - diesen wichtigen, wenn auch oft nicht einfachen Dialog führten.
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„EMBODIED COGNITIVE SCIENCE UND PSYCHOANALYSE
Hinsehen aus einem kritischen Austausch von Modellen - Modellen, die psychoanalytische Daten abzubilden versuchen, einerseits, und Modellen, die von Beobachtungen in den Neurowissenschaften ausgehen, andererseits. Daher stellte sich auch in unserem interdisziplinären Diskurs immer wieder die Frage nach der Qualität und der Brauchbarkeit theoretischer Modelle, eine Frage, auf die im 2. Band der erwähnten Publikation ausführlich eingegangen wird (LeuzingerBohleber et al., 1998). Wir können in diesem Rahmen nur einen fragmentarischen Eindruck vermitteln, in welcher Weise sich das Verständnis von Erinnerungs- und Problemlösungsprozessen in der psychoanalytischen Situation durch die Auseinandersetzung mit den Neurowissenschaften verändern mag, und wie dieses Verständnis zu einer Modifikation unserer psychoanalytischen Modelle führen kann. Bekanntlich gelten für uns Kliniker teilweise andere Gütekriterien bei der Beurteilung theoretischer Modelle als etwa für empirische Psychotherapieforscher, für die z.B. Validität, Réhabilitât, Objektivierbarkeit und Operationalisierbarkeit von Modellen zentral sind. Für Kliniker ist wesentlicher, ob sich bestimmte Modelle als „nützlich" erweisen, komplexe, dynamische Prozesse in der analytischen Situation adäquat zu verstehen und dabei die „frei schwebende Aufmerksamkeit" unterstützen als erschweren 1, ob sie die Phantasietätigkeit und Entdeckungsfreude anregen, erleichtern Widerspenstiges, Unerwartetes und Tabuisiertes (d.h. „Unbewußtes") wahrzunehmen, emotional zu ertragen und kritisch zu reflektieren etc. - Wir möchten im folgenden skizzieren, daß Gedächtnismodelle, die z.Zt. in der Cognitive Science in kritischer Auseinandersetzung mit den Neurowissenschaften diskutiert werden, sich für Klinikerin als innovativer „fremder Blick" auf das Eigene erweisen, die klinische Neugier anregen und ermöglichen, den Bewußtwerdungsprozeß in der analytischen Situation präziser und detaillierter zu verstehen. Der Dialog mit der Cognitive Science eignet sich u.E.n. besonders gut, um einen solchen „fremden Blick" auf die psychoanalytische Theoriebildung zu werfen, weil sich diese wissenschaftliche Disziplin u.a. dadurch auszeichnet, daß sie eine große Sensibilität und Radikalität in der eben erwähnten Prüfung der Qualität von Modellen und ihrer Anwendungen entwickelt hat. Die Cognitive Science ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, an der Artificial Intelligence, Psychologie, Linguistik, Neurobiologie, Philosophie, Anthropologie und in neuerster Zeit auch die Ingenieurwissenschaften, insbesondere die Robotik, beteiligt sind. Sie versteht sich als Grundlagenwissenschaft zum Studium kognitiver Prozesse und bezieht in ihren Modellbildungen immer schon den Austausch mit den Neurowissenschaften mit ein. Konkret bedeutet dies, daß sie die neurowissenschaftlichen Modelle zur Erklärung von kognitiv-affektiven Informationsverarbeitungen, 1 So beeindrucken manche systemtheoretischen Modelle z.B. durch ihre Eleganz und Geschlossenheit, oder verhaltenstherapeutische Ansätze durch das zugrunde liegende "logisch-konsekutive Denken*, doch kann die Anwendung solcher Modelle in der psychotherapeutischen Praxis u.U. dem Kliniker die Wahrnehmung komplexer und widersprüchlicher Informationen eher erschweren als erleichtern (vgl. dazu u.a. LeuzingerBohleber, 1998).
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basierend die auf neurobiologischen und neurophysiologischen Prozessen des Gehirns basieren, zur Kenntnis nimmt und in ihre eigenen Modellbildungen zu integrieren versucht. Wir haben in verschiedenen Arbeiten solche Integrationsbemühungen vorgelegt, die aktuelles, interdisziplinäres Wissen in ein möglichst adäquates, valides und reliables Modell des Gedächtnisses integrieren (vgl. u.a. Pfeifer u. Leuzinger-Bohleber, 1998, Pfeifer, Leuzinger-Bohleber u. Röckerrath, 1998, Leuzinger-Bohleber, Pfeifer im Druck). Dieses Integrationsbemühen zeichnete auch schon die klassische Cognitive Science aus. Doch hat u.a. die biologisch orientierte Gedächtnisforschung in den letzten Jahren einen Paradigmenwechsel im Sinne Kuhns evoziert, wie wir bezugnehmend auf eine eigene Arbeit diskutieren möchten. Wir hatten schon 1983 begonnen, die damals viel diskutierten neueren Ansätze zum Gedächtnis, wie sie beispielsweise von Schänk (1982) in seinem Buch „Dynamic Memory" dargelegt wurden, für das Verständnis von Erinnerungs- und Bewußtwerdungsprozessen in einer Psychoanalyse beizuziehen und zentrale psychoanalytische Konzepte, wie den Wiederholungszwang, die Abstinenzregel und das Durcharbeiten zentraler Konflikte in der Übertragung, neu zu beleuchten (Pfeifer u. Leuzinger-Bohleber, 1986). Viele der damals von uns diskutierten Gedächtniskonzepte der „klassischen Cognitive Science" bedürfen heute einer grundlegenden Neuinterpretation. Wir fassen daher hier einige der wesentlichen Überlegungen zusammen, die diesen Paradigmenwechsel notwendig machten (3.). Darauf diskutieren wir einige der grundsätzlichen Überlegungen zu einer alternativen Konzeptualisierung von Gedächtnis im Sinne der „Embodied Cognitive Science" (4.). Da aber für den klinisch arbeitenden Psychoanalytiker und Psychotherapeuten eine zentrale Frage bleiben wird, ob der interdisziplinäre Dialog wirklich neue Einsiehten zum Verständnis von Phänomenen in der klinischen Praxis bieten kann, möchten wir trotz des beschränkten Rahmens hier versuchen, die theoretischen Überlegungen anhand einer kurzen Sequenz aus einer Psychoanalyse zu illustrieren (2.). Auf diese Behandlungssequenz kommen wir abschließend (5.) nochmals zurück, auch um daran auf den möglichen Gewinn dieser theoretischen Diskussion für die klinisch-psychoanalytische Praxis und die Theoriediskussion zum Gedächtnis innerhalb der psychoanalytischen Community hinzuweisen (6.).
2. Fallbeispiel (M. Leuzinger-Bohleber)1 Ein dreißigjähriger Informatikstudent suchte in einer verzweifelten Lebenssituation psychotherapeutische Hilfe. Wegen massiver psychosomatischer Symptome (Eß- und Schlafstörungen, Migräne, Schwindelanfälle, Hautjucken) konnte er seit 5 Jahren seinem Studium nicht mehr nachgehen. Er lebte völlig isoliert und schien zunehmend paranoide Phantasien zu entwickeln. Die einzige Beziehung, 1 Das Fallbeispiel ist aus Diskretionsgründen aktiv verschlüsselt.
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die er damals noch unterhielt, war jene zu seinem um drei Jahre jüngeren Bruder. Doch wurde diese Beziehung im Laufe des letzten Jahres immer brüchiger, vor allem, weil er seinen Bruder in plötzlichen Wutanfällen beschimpfte und zweimal sogar physisch angegriffen hatte. Herr X. kam mit dem ausdrücklichen Wunsch, eine Psychoanalyse zu beginnen. Er hatte darüber gelesen und schätzte dieses Verfahren als das für ihn geeignete ein. Ich zögerte bei der Indikation, da ich Herrn X. als Borderlinepatienten diagnostizierte und zweifelte, ob eine hochfrequente Behandlung im Liegen wohl das Richtige für ihn sei. Während des ersten Jahres der Psychoanalyse kontrollierte Herr X. die Nähe zu mir durch ausgeprägte Intellektualisierungen und eine fast vollständige Abwehr von Emotionen auf der Couch. Es war kaum möglich, neue analytische Einsichten zu gewinnen. Dennoch erschien der Analysand pünktlich zu den Sitzungen, kämpfte energisch für Ersatzstunden, falls ich einen Termin absagen mußte und schien die Zuwendung in der Psychoanalyse existentiell zu brauchen. So veränderte sich, ohne daß dies mit Einsichten aus der Psychoanalyse in Zusammenhang zu stehen schien, sein Studienverhalten: Er besuchte wieder Vorlesungen und Seminare und konnte sich besser konzentrieren. Auch die psychosomatischen Beschwerden hatten sich gemildert, so daß Herr X. vor der Sommerpause feststellte: „Die Behandlung tut mir gut...". Die Sequenz, die ich nun kurz schildern möchte, fand nach dieser ersten längeren Sommerpause statt. Herr X. versuchte in der ersten Sitzung an sein ritualisiert anmutendes Verhalten auf der Couch von vor den Ferien anzuschließen, doch schien ihm dies nicht zu gelingen. Er unterbrach sich mitten im Satz und begann mich heftigst zu beschimpfen. Er schien plötzlich außer sich vor Wut und Zorn, daß ich mir herausgenommen hatte, vier Wochen in Urlaub zu verschwinden und nonchalant, braun gebrannt und uninteressiert ihn hier wieder zu empfangen. Dies sei unverantwortlich, selbstsüchtig und zeige, daß ich gar nicht interessiert an meinem Beruf und an Analysanden sei. Ob ich überhaupt eine Ausbildung als Analytikerin hätte oder eine „Feld-, Wald- und Wiesentherapeutin" sei ... Ich war überrascht von der Heftigkeit seiner Wut und Verzweiflung und scheiterte während der Sitzung, ihn emotional oder mit Deutungen zur Trennungserfahrung etc. zu erreichen. Zwar gelang es in der nächsten Stunde, seine extreme Reaktion auf die Trennung anzusprechen und einen erneuten Wutanfall zu verhindern. Allerdings versank Herr X. stattdessen in langes Schweigen, was für mich noch eine unheimlichere Qualität hatte als seine Beschimpfungen. Es folgten extrem schwierige Wochen. Herr X. schien nur zwischen zwei Zuständen auf der Couch wählen zu können: entweder extreme Beschimpfungen, Wut und vernichtende Angriffe oder aber Schweigen und Rückzug. Inhaltlich fiel mir auf, daß sich seine Angriffe vor allem auf meine analytische Funktion,
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mein Denken, richteten. Herr X. beschimpfte mich, ich sei dumm, beschränkt, unfähig, ihn auch nur im entferntesten zu verstehen, inkompetent und nicht professionell ausgebildet. Ich hätte keine Ahnung, wie man mit Analysanden umzugehen habe. Seine Angriffe und sein extremes Schweigen konfrontierten mich zunehmend mit großen Ohnmachts- und Insuffizienzgefühlen. Am schwierigsten aber waren die extremen körperlichen Reaktionen zu ertragen: Seine Attakken lösten schließlich eine derartige starke, innere Spannung während der Sitzungen aus, daß ich schließlich Übelkeitsgefühle verspürte und zuweilen sogar Magenkrämpfe bekam, für mich ungewöhnliche psychosomatische Reaktionen während psychoanalytischen Sitzungen. Schließlich versuchte ich, in einer Supervision mit einem erfahrenen Kollegen besser zu verstehen, was sich in diesen analytischen Sitzungen ereignete. Das Nachdenken über einen fragmentarischen Traum, in dem Herr X. ohne jegliche Emotionen beobachtete, wie Säuglinge durch eine Maschine auf grausamste Weise zerquetscht wurden, führte uns zu der Frage, ob die extreme Qualität der Attacken und des Schweigens in den analytischen Sitzungen auf früh erlittene Traumatisierungen hinweisen könnten, wahrscheinlich während des ersten Lebensjahres des Analysanden, in einer Entwicklungsphase, in der physische und affektive Zustände noch nicht eingegrenzt oder symbolisiert werden können. Das Gespräch mit meinem Kollegen hatte mir eine gewisse innere Distanz vermittelt und mir ermöglicht, meine heftigen Gegenübertragungsreaktionen und -phantasien wieder vermehrt kritisch reflektieren zu können. Als bald darauf Herr X. nach einer Sitzung mit extremen Wutausbrüchen etwas ruhiger zur nächsten Analysestunde kam, teilte ich ihm vorsichtig meine Vermutung mit, daß die lange Sommerpause zu einer heftigen Reaktivierung von unerträglichen Abhängigkeits- und Verlassenheitsgofühlen geführt haben könnte, die er mit Hilfe extremer aggressiver Attacken zu bewältigen versuche. Da ich aber während des Formulierens das Gefühl hatte, irgendwie schief damit zu liegen, fragte ich, einem intuitiven Einfall folgend, ob er nach solchen Sitzungen wie der letzten irgendwelche körperlichen Reaktionen spüre. Er erzählte, daß es ihm jeweils „im ganzen Körper übel sei", er nichts mehr essen könne und unter extremen Magenkrämpfen leide. Ich war erstaunt über die Analogie zu meinen eigenen psychosomatischen Reaktionen in und nach solchen analytischen Sitzungen. Ich sagte ihm, daß ich aufgrund der totalen Qualität dieser Zustände eine Reaktivierung sehr früher Erfahrungen vermute, „die sich im Körper erhalten haben könnten" und „vielleicht auf diese für uns beide unerträgliche Weise versuchen, sich unserem analytischen Verständnis zu erschließen. Wissen Sie, ob Sie im ersten Lebensjahr körperlich schwer krank waren, vielleicht unter Ernährungsstörungen litten oder ob es zu Trennungen von ihrer Mutter kam?" Herr X. verneinte dies, rief aber seiner Mutter an und erfuhr, daß diese 6 Wochen nach der Geburt den Eindruck hatte, nicht genügend Milch zu haben. Sie beendete das Stillen abrupt und verwandte Babynahrung. Der Säugling reagierte mit einer starken Nahrungsmittelallergie und einem schmerzenden, juckenden Hautausschlag am ganzen Körper. Die Mutter erzähl130
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te, daß sie den Säugling nicht mehr anfassen konnte, und er dauernd schrie, sich kaum beruhigen ließ. Sie sei fast verzweifelt, doch nach drei Monaten hatte sie, wie sie es ausdrückte „alles wieder im Griff" und gab dem Kind andere Nahrung. Darauf verschwanden die Symptome. „Und Sie beschimpfen mich seit den Sommerferien, daß ich alles falsch mache, Ihnen ,analytisch die falsche Nahrung gebe' und mich in den Ferien total verändert habe. Die analytischen Sitzungen tun Ihnen nicht mehr gut wie vor den Ferien - sie sind nur noch furchtbar. Jede Berührung scheint unerträglich und Sie werfen mir vor, ich sei zu ,dumm und inkompetent' um den Schlüssel zu finden, wie diese unerträglichen Zustände zu beenden sind. Ihre Mutter hat immerhin nach 3 Monaten einen solchen Schlüssel gefunden ..." - Herr X. beginnt zu weinen, das erstemal in der Psychoanalyse. In den folgenden Wochen konnten wir sukzessiv die Reaktivierung der frühen Traumatisierungen zusammen verstehen: Das Trauma fand vorsichtig und abtastend seine Bilder und seine Sprache. Welche theoretischen Modelle stehen uns zur Verfügung, um solche körperlichen, unbewußten Erinnerungsprozesse differenziert zu verstehen? Dazu im folgenden einige Überlegungen.
3. Evozieren von Erinnerungen durch unbewußte Wahrnehmungen kognitiver Analogien (TOPs) aus Sicht der „klassischen Cognitive Science" Wie erwähnt haben wir schon vor 15 Jahren die Frage erörtert, wie solche Erinnerungs- und Bewußtwerdungsprozesse in analytischen Sitzungen konzeptualisiert werden können. Anhand von drei Schlüsselszenen aus einer Psychoanalyse versuchten wir diese Fragen zu verfolgen und bezogen uns dabei auf Konzepte der klassischen Cognitive Science. Wir postulierten, daß die Erinnerungsprozesse durch strukturelle Analogien von Informationsgestalten in der Übertragung und jenen der aktuellen Problemsituation und der frühinfantilen Traumatisierung evoziert werden, wie sie mit dem Fokus-Konzept der Psychoanalyse bzw. dem Konzept der Thematic Organization Points (TOPs) von Schänk (1982) beschrieben werden.
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Jriangle of insight" (Menninger)
Abbildung 1: „Einsichtsdreieck"
(TOP und Fokuskonzept)
Legende: Einsichtsdreieck (bzw. „Personendreieck") nach Karl Menninger mit gemeinsamem TOP bzw. Fokus als gemeinsame Struktur der Übertragungssituation („Transference": Τ), der aktuellen Konfliktsituation mit einem „Bedeutsamen Anderen"(„Other": O) und der frühinfantilen, konflikthaften Beziehung („Past": Ρ). Thematic Organisation Point (TOP) (Schänk, 1982) ist eine abstrakte Gedächtnisstruktur, die mindestens folgende Komponenten enthält: - eine Zielkonfiguration - Erwartungen über Pläne und Resultate - Effektive Pläne und Resultate - Erklärungen für Diskrepanzen TOPs sind frames, d.h. abstrakte Gedächtnisinhalte, die - so unser damaliges Verständnis gespeichert sind und i.d.R. unerkannt, d.h. unbewußt durch sogenannte Dämonen-Programme aktiviert werden, die die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen der aktuellen Situation und gespeicherten Erfahrungen erkennen können. Man spricht von „Dämonen-Programmen", weil diese kontinuierlich gewissermaßen auf „der Lauer" sitzen und aufpassen, ob ein bestimmtes Ereignis eintritt (siehe auch Abb. 2). Bewußtwerden entsteht nach dieser theoretischen Konzeptualisierung durch ein plötzliches Erkennen der Analogien in den aktuellen verglichen mit den gespeicherten Informationen: Es kommt zu einem Prozeß der Erinnerung.
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„EMBODIED COGNITIVE SCIENCE UND PSYCHOANALYSE
Auf unser Fallbeispiel bezogen würde dieses theoretische Modell nahe legen, daß Herr X. an einer (unbewußten) Reaktivierung früher Traumatisierungen aufgrund einer unerkannten „Verwechslung" der aktuellen Situation mit der früheren, traumatischen leidet. So „erinnerte" ihn unbewußt die Nähe zu seinem Bruder an die Nähe zum Primärobjekt, das sich plötzlich von einem „guten nährenden Objekt" in ein „böses, unempathisches Objekt" verwandelte, das dem Selbst die falsche Nahrung gab, und dieses in einen unerträglichen physischen und psychischen Zustand führte. In der Übertragungssituation löste möglicherweise die Sommerpause die „unbewußte" Erinnerung an die eben erwähnte plötzliche Verwandlung des Primärobjekts und die damit verbundenen heftigen negativen Affekte aus. Das sukzessive Verstehen der Analogien in den Informationsstrukturen wäre nach dieser Modellvorstellung die Voraussetzung eines Bewußtwerdungsprozesses. Theoretisch ist entscheidend, daß Schänk zwar von einem „dynamischen Gedächtnis" spricht, aber in seiner Konzeption von einem „statischen" Speichern von Wissen ausgeht, das abgerufen wird und das Handeln bestimmt, wie dies aus der folgenden Graphik ersichtlich ist. Schänk stützt sich auf eine „klassische" Definition von Gedächtnis, wie sie heute noch häufig vertreten wird, z.B. von Baddeley (1990) in seinem „klassischen" Lehrbuch für Gedächtnis in der kognitiven Psychologie: „Das menschliche Gedächtnis ist ein System, um Informationen zu speichern und wieder abzurufen, Informationen, die selbstverständlicherweise durch unsere Sinne gewonnen wurden." (Baddeley, 1990, 13, Übersetzung, d.V.) (vgl. dazu u.a. auch Atkinson u. Shiffrin, 1968). Die Konzeptualisierung von „Gedächtnis als gespeicherte Strukturen" („memory as stored structures") ist fast zu einer Binsenwahrheit geworden. Fragt man Laien nach ihrem Verständnis von Gedächtnis, werden viele von ihnen antworten, Gedächtnis sei ein spezieller Ort im Gehirn, in dem Informationen gespeichert werden. Auch in den Sprachgebrauch ist diese Vorstellung von Gedächtnis eingegangen: „Wir rufen gespeichertes Wissen ab" oder „Wir suchen im Gedächtnis nach einem vergessenen Namen" (wie nach einem Gegenstand in einer Garderobe). Roediger (1980) hat belegt, daß 75% der 32 Metaphern, die er in der Literatur zum Gedächtnis gefunden hat, Varianten dieser „store-houseMetapher" sind (vgl. dazu schon Aristoteles' Vergleich des Gedächtnisses mit einer Wachstafel, in die sich Erfahrungen einritzen). Diese Vorstellung von Gedächtnis führt zu einer Anzahl typischer theoretischer Probleme, die für die „klassische Cognitive Science" ganz allgemein gelten (ausführlich vgl. Clancey, 1997; Glenberg, 1996; Pfeifer, 1995; Pfeifer u. Scheier, 1999; Rosenfield, 1988). Wir erwähnen hier nur diejenigen, die das Gedächtnis i.e.S. und daher auch die Bewußtwerdungsprozesse betreffen:
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LEUZINGER-BOHLEBER, PFEIFER
Abbildung 2: Visualisierte Metapher für die Konzeptualisierung als der „klassischen Cognitive Science 0
von Gedächtnis
QUELLE: LINDSAY, P.H., NORMAN, D.A. (1981) EINFÜHRUNG IN DIE PSYCHOLOGIE
Legende: Lindsay und Norman (1981) haben mit dieser visualisierten Metapher die Funktionsweise des Gedächtnisses illustriert. Die „Dynamik des Gedächtnisses" besteht lediglich darin, daß die Dämonenprogramme Vergleichsprozesse zwischen der einkommenden und der gespeicherten Information durchführen und entsprechendes Wissen aus dem Langzeitgedächtnis ins Kurzzeitgedächtnis transferieren. Im Langzeitgedächtnis jedoch ist Wissen statisch, d.h. in nicht modifizierbarer Form, gespeichert (analog zu einer „Speicherplatte eines Computers").
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a. Mit Hilfe des Speichermodells kann nicht erklärt werden, wie adäquates Verhalten in neuen Situationen aufgrund früherer Erfahrungen, d.h. gespeichertem Wissen, möglich ist. Z.B. ist es für uns kein Problem, ein Musikstück zu erkennen, auch wenn es mit einer anderen instrumentalen Besetzung gespielt wird als üblich, d.h., daß es sich bei dieser Gedächtnisleistung nicht um ein einfaches „Wiedererkennen" im Sinne eines Abrufens einer statisch gespeicherten Informationsstruktur (eines einfachen „pattern matching") handeln kann, sondern um einen konstruktiven, inneren Erkennungsprozeß, der das Neue mit dem schon Bekannten in noch nie da gewesener Weise in Beziehung setzt (Bursen, 1980). Es muß sich folglich um einen aktiven Vorgang handeln und nicht um ein „automatisches Abrufen" einer gespeicherten Informationsgestalt. Auch sich wiederholende, motorische Abläufe, wie z.B. beim Tennisspiel, können nicht aufgrund einer Aktivierung von statisch gespeichertem Wissen erklärt werden: Jeder Schlag muß wieder neu aufgebaut werden und hat nicht genau den gleichen Ablauf wie in früheren Spielen (vgl. dazu Bartlett, 1932). b. Ein anderes Beispiel ist die rasche körperliche Adaptation an komplexe Situationen: Bei einem Spaziergang durch die Stadt sind wir einer kontinuierlichen Stimulierung der Sensorik und der Motorik ausgesetzt und müssen schnell handeln können: anderen Leuten oder Autos ausweichen, im Vorbeigehen Schaufenster anschauen, nicht über Randsteine stolpern etc. Wenn wir darauf angewiesen wären, statisch gespeichertes Wissen zu aktivieren, um in den sich rasch wechselnden Situationen adäquat handeln zu können, wären wir (bezüglich der Verarbeitungsgeschwindigkeit und der Menge der zu speichernden Informationen) hoffnungslos überfordert. Die Schnelligkeit und Leichtigkeit, mit der wir uns - aufgrund unseres „inneren Wissens" - verhalten können, kann folglich nicht mit dem Speichermodell erklärt werden, sondern bedarf einer grundsätzlich anderen theoretischen Sichtweise. c. Ein weiteres theoretisches Problem, das mit dem Speichermodell nicht gelöst werden kann, dreht sich um die Frage, wie die Bedeutung von Symbolen zustande kommt, das sogenannte „symbol-grounding-Problem". Wir Menschen haben keinerlei Schwierigkeiten, neu wahrgenommene Objekte (z.B. einen „roten Plastikapfel" oder ein „Schulgebäude") einer bereits bestehenden Kategorie (in der Terminologie der Cognitive Science: einem „Symbol", d.h. einer Datenstruktur) zuzuordnen, d.h. es als „Apfel" oder „Gebäude" zu erkennen. Ein Speichermodell hingegen kann solche Zuordnungsprozesse nicht spontan vornehmen, es kann nur Objekte (z.B. einen grünen Apfel) einordnen, die genau jenen entsprechen, die es bereits unter einem bestimmten Symbol (grüner Apfel), gespeichert hat (ist der Apfel aber rot und aus Plastik, wird er nicht als dem Symbol „Apfel" zugehörig erkannt). 135
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d. Eine weitere Schwierigkeit der Modellbildung ist die laufende Anpassung des Modells an eine sich verändernde Umwelt bzw. einen sich verändernden Kontext (das sogenannte „frame-Problem"). Wir Menschen können in einer bestimmten Situation auf Anhieb erkennen, was sich aktuell verändert und was nicht. Beispielsweise wissen wir, daß sich die Farbe eines Raumes nicht verändert, wenn wir ihn verlassen. Was sich aber sehr wohl verändert, ist z.B. die Position der Tasche, die wir mit uns herumtragen. Wir können ebenfalls sofort feststellen, was in einer Situation wichtig ist oder nicht, z.B. daß es für das Verlassen des Raumes irrelevant ist, wenn sich ein Vogel auf das Fensterbrett gesetzt hat, daß es aber relevant ist, wenn jemand die Türe vorher abgeschlossen hat. Für ein theoretisches Gedächtnismodell, das all diese Probleme genau definieren und lösen muß, ist dies aber eine knifflige Problematik. Es stellt sich heraus, daß sich dieses Relevanzproblem in einem klassischen symbolbasierten Gedächtnismodell nicht befriedigend lösen läßt. Wir müssen in solchen Modellen die Relevanz einer Situation immer definieren, eine Relevanz, die sich aber - je nach Kontext - immer wieder ändern kann (vgl. Dennett, 1987). e. Erwähnen wollen wir schließlich noch das bekannte Homunculus-Problem. Vereinfacht gesagt, handelt es sich um die Frage, wer denn die Gedächtnisstruktur, die im Gehirn gespeichert ist, „anschaut", d.h. erkennt, daß in neuen Situationen genau diese Gedächtnisstruktur von Relevanz ist und daher das darin enthaltene Wissen aktiviert werden muß. Das Postulat eines Homunculus führt zu einem unendlichen Regreß, d.h. wir brauchen immer wieder einen neuen Homunculus, der die inneren Steuerungs- und Kontrollfunktionen übernimmt (vgl. u.a. Edelman, 1992). Alle diese theoretischen Klippen sind wesentlich verbunden mit einem grundsätzlichen Problem der wissenschaftlichen Theoriebildung. Es steht in Zusammenhang mit dem Konzept des sogenannten „Kategorienfehlers" und betrifft die verbreitete Verwechslung von Verhalten und den ihm zugrundeliegenden Funktionen, die dieses Verhalten hervorbringen, in unserem konkreten Fall, die Funktionen des Gedächtnisses (z.B. neurobiologische Prozesse). Die damit verknüpften Fragen wurden als das sog. „frame-of-reference"~Problem beschrieben, das zu den grundlegenden Problemen der Cognitive Science gehört (Clancey, 1991, 1997). Seine Vernachlässigung hat zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Modellbildung beigetragen, da nicht präziser zwischen einer deskriptiven Beschreibung eines Verhaltens und der Ebene der kausalen Gedächtnismechanismen unterschieden wird, die dieses Verhalten determiniert. In anderen Worten: Was wir - unreflektiert - als „Gedächtnis" bezeichnen, manifestiert sich immer im Verhalten, also in einer sensomotorischen Koordination bzw. in einer System-Umwelt-Interaktion und ist somit zu unterscheiden von den inneren Mechanismen des Systems, die das konkrete Verhalten „von innen" 136
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determinieren. Gedächtnis ist, wenn wir dies genau betrachten, nicht von der Interaktion mit der Umwelt zu trennen (vgl. 4. b). So hatten wir in unserer TOP-Arbeit versucht, die analogen Strukturen in drei Schlüsselszenen einer Psychoanalyse („im Verhalten") präzise herauszuarbeiten. Wir waren uns aber damals nicht genügend bewußt, daß wir damit eine rein deskriptive „Verhaltensanalyse" vorlegen, sondern dachten, daß wir die Funktionsweise des Gedächtnisses selbst beschreiben. Dies war aber ein Kategorienfehler, denn die Strukturen (die Verhalten beschreiben) können nicht auf die ihnen zugrundeliegenden Mechanismen im Gedächtnis reduziert werden. Ein analoger Fehler wäre z.B., wenn eine Grammatik, die zur Beschreibung der Struktur einer natürlichen Sprache verwendet werden kann, mit den spracherzeugenden Mechanismen des Sprechers verwechselt würde (daher spricht Clancey, 1997, von grammatikalischen Modellen). Solche „Kategorienfehler" sind in der Fachliteratur erstaunlich häufig anzutreffen, denn die Vorstellung von „Gedächtnis als gespeicherter Struktur" ist uns so geläufig, daß wir nur schwer einsehen, warum dies eine falsche theoretische Vorstellung über die Mechanismen sein soll, die Gedächtnisleistungen zugrunde liegen. Die Computeranalogie von Gedächtnis als „Speichern" und „Abrufen" von Informationen ist auf Anhieb plausibel und bestechend einfach - daher fällt es schwer, sich Gedächtnis grundsätzlich anders vorzustellen.
4.
Alternative Konzeptualisierungen zum Gedächtnis in der Embodied Cognitive Science
Doch erweist es sich als notwendig, grundsätzlich andere Konzeptualisierungen von Gedächtnis zu entwerfen, in anderen Worten, einen Paradigmenwechsel in diesem Gebiet zu vollziehen. Läßt man sich darauf ein, das Gedächtnis prinzipiell anders zu denken, erledigen sich viele der eben beschriebenen theoretischen Probleme quasi von selbst. Wie einleitend erwähnt, führten vor allem eine veränderte empirische Vorgehensweisen zu den prinzipiellen alternativen Konzeptualisierungen von Gedächtnis (vgl. dazu Box: methodische Anmerkung: mobile Systeme als Forschungsmethodik in der Embodied Cognitive Science).
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Box: methodische Anmerkung: mobile Systeme als Forschungsmethodik in der Embodied Cognitive Science. Wissenschaftshistorisch betrachtet basieren Paradigmen Wechsel in den empirischen Wissenschaften meist auf alternativen empirischen Methodologien. Eine der fundamentalen Kritiken an der „Speichermetapher" kam von biologisch orientierten Gedächtnisforschern. Sie argumentierten, daß lebende Organismen zu einer dauernden Adaptation an eine sich ständig verändernde Umgebung gezwungen sind. Würde ihr Gedächtnis analog zu einem Computer funktionieren, könnten biologische Organismen schlichtweg nicht überleben. Sie sind gezwungen, Wissen, das sie in früheren Situationen erworben habe, kontinuierlich auf neue, unbekannte Situationen zu übertragen. Im realen Leben gibt es nie zwei Situationen, die völlig identisch sind. Daher kann auch nie ein „identisches Wissen" auf eine neue Situation angewandt werden: Konstruierende, adaptive Prozesse sind unverzichtbar. Daher können lebende Organismen als selbstlernende, selbstregulierende Systeme in konstanter Interaktion mit der Umwelt charakterisiert werden. In welcher Weise muß daher die moderne Gedächtnisforschung diese Sachverhalte berücksichtigen? Im Gegensatz zu den traditionellen empirischen Wissenschaften, die eine analytische Methodologie verwenden, stützt sich die Cognitive Science auf einen sogenannten „synthetischen Ansatz". Dieser kann als „Verstehen durch Konstruieren bzw. Nachbauen" charakterisiert werden, wie Randell Davis (1983) dies knapp formulierte: „There's the old joke about not really understanding something until you have taught it to somebody else. The new version now says you don't really understand it until you've programmed it into a computer" (83). l.a.W.: Um z.B. zu verstehen, wie ein natürliches System funktioniert, wird ein künstliches System konstruiert, das die Funktionsweise des natürlichen Organismus nachbilden und so bzw. sein Verhalten präzise und detailliert erklären soll. Das inzwischen meist verwandte gebräuchliche „künstliche System" ist das Computersimulationsmodell, das heute in fast allen Wissenschaften zur Anwendung kommt. In der psychoanalytischen Grundlagenforschung wurde seit den Sechzigerjahren die Computersimulation eingesetzt, um die innere Konsistenz und die begriffliche und logische Präzision komplexer Theorien zu überprüfen. Z.B. haben Colby und Gilbert (1964) Teile der psychoanalytischen Neurosenlehre mit Hilfe der Computersimulation validiert; Colby (1975) die Determinanten des paranoiden Wahns (vgl. dazu auch Colby und Stoller, 1988). Wegmann (1977) entwickelte ein Computersimulationsmodell zur Validierung eines Teils der psychoanalytischen Abwehrlehre, des „Gegenwillens". Clippinger (1977) simulierte den Anfang einer psychoanalytischen Sitzung mit einer Patientin und entwickelte daran ein Modell der sie determinierenden kognitiv-affektiven Prozesse. Die Forschungsgruppe um Ulrich Moser in Zürich führte eine Reihe solcher Studien zur psychoanalytischen Abwehrlehre und zur psychoanalytischen Traumlehre 1 durch (vgl.
1
Wir können in diesem Rahmen nicht belegen, welchen Gewinn Kliniker von diesen Forschungsarbeiten für ihre praktische Tätigkeit haben. Ich (M. L.-B.) möchte nur festhalten, daß sowohl das Computersimulationsmodelle der psychoanalytischen Abwehrlehre als auch das Traumsimulationsmodell meine klinische Wahrnehmung präzisierte und die detaillierte theoretische Reflexion der entsprechenden komplexen klinischen Phänomene bereicherte. Wie ich andernorts zu diskutierten versuchte, beeinflussen die „theoretischen Modelle" in unserem Hinterkopf bekanntlich die klinischen Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse immer - bewußt oder unbewußt Daher ist es für die Qualität der klinischen Arbeit entscheidend, wie diffe-
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dazu Moser, v. Zeppelin und Schneider, 1991). Von verschiedensten Forschergruppen wurde nun auch die Computersimulation verwendet, um verschiedenste Gedächtnisphänomene zu konzeptualisieren. (vgl. z.B. Baddeley, 1997). Ein grundsätzliches Problem, das dabei auftaucht, ist, daß die meisten Computersimulationsmodelle nicht direkt mit der Umgebung interagieren: der Input und der Output dieser Modelle wird vom Modelldesigner vorgegeben. Dies steht nun in kraßem Gegensatz zum „realen Leben", in dem, wie erwähnt, lebende Organismen zu einer dauernden Adaption an eine sich verändernde Umgebung gezwungen sind. - Daher haben einzelne Forschergruppen begonnen, Roboter als methodisches Instrument bei der Konzeptualisierung und Überprüfung von intelligenten Systemen, z.B. Gedächtnismodellen, einzusetzen. Roboter unterscheiden sich von den „klassischen Computersimulationsmodellen" vor allem dadurch, daß sie mobil sind und mit der Umwelt interagieren, wenn auch, im Vergleich mit lebenden Organismen, in weit primitiverer Form. Konstruiert man nun das Gedächtnis von Robotern analog zu statischen Computersimulationsmodellen, sind sie unfähig, sich auch nur an leicht sich verändernden Situationen zu adaptieren: Das „statisch gespeichertes Wissen" erweist sich für sie als nutzlos. Daher muß das Gedächtnis also bei Robotern prinzipiell anders konzeptualisiert werden, nämlich als Fähigkeit, sich kontinuierlich an dauernd sich verändernde Situationen - dank sensomotorischer Feedbackschleifen - zu adaptieren. Für die Grundlagenforschung bieten Roboter den enormen Vorteil, daß der Einfluß der sensorischen Stimulation aus verschiedenen Modalitäten (visuellen, haptischen, auditorischen, propriozeptiven etc.) genau gemessen, gespeichert und analysiert werden kann. Daher kann die Kopplung solcher sensorischer Stimulationen mit dem künstlichen neuronalen Netzwerk während der Interaktion des Roboters mit seiner Umwelt untersucht werden: Ein Modell eines biologischen neuronalen Systems kann auf diese Weise präzise nachgebaut werden. Daher kann - im Gegensatz zu lebenden Organismen - das (künstliche) neuronale Netzwerk in seinen Veränderungen durch aktuelle Interaktionen mit der Umwelt genau erforscht verfolgt werden. Diese Möglichkeit erweist sich nun als besonders wertvoll beim Studium von Entwicklungsprozessen, ein Grund, warum die Robotik bereits in der neueren Entwicklungspsychologie eingesetzt wird. In anderen Worten: Diese Forschungsmethodologie erlaubt es den Forschern, die inneren Veränderungen eines Organismus in Abhängigkeit von seinen Interaktionen mit der Umwelt en detail zu studieren. Metaphorisch ausgedrückt können wir direkt in das Gehirn eines Roboters schauen, während dieser sich in Interaktion mit seiner Umwelt befindet und Aufgaben löst. So können wir untersuchen und herausfinden, wie sich die neuen Erfahrungen auf Veränderungen seines neuronalen Netzwerkes auswirken. Ohne hier in weitere Details gehen zu können, möchten wir festhalten, daß sich diese Forschungsmethodik inzwischen in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen als enorm fruchtbar erwiesen hat, z.B. in der Ethologie, den Neurowissenschaften, der Psychologie, speziell der Entwicklungspsychologie und, wie wir nun illustrieren möchten, der Gedächtnisforschung.
renziert diese Modelle sind und wie sorgfältig sie in ihrem Einfluß auf das klinisch-psychoanalytische Verstehen und Handeln reflektiert werden (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber, 1995, 1998). 139
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Wir können in diesem Rahmen nur einige der grundsätzlichen Überlegungen der Embodied Cognitive Science bezüglich des Gedächtnisses kurz zusammenfassen und anschließend illustrieren, wie fruchtbar sich diese Konzeptualisierungen auch für Gedächtnisprozesse in der klinischen Situation erweisen:
a) Gedächtnis als theoretisches Konstrukt Ashby (1956) erzählte folgende Geschichte, um Gedächtnis zu charakterisieren: „Suppose I am in a friend's house and, as a car goes past outside, his dog rushes to a corner of the room and cringes. To me the behavior is causeless and inexplicable. Then my friend says: „He was run over by a car six months ago'. The behavior is now accounted for by reference to an event of six months ago" (117). Anders ausgedrückt: Das Verhalten des Hundes wird nicht durch seinen aktuellen inneren Zustand erklärt, sondern durch ein Ereignis, dem er in der Vergangenheit ausgesetzt war. Gedächtnis ist daher ein theoretisches Konstrukt, das aktuelles Verhalten mit Ereignissen aus der Vergangenheit in Beziehung setzt und deren Einfluß auf das aktuelle Verhalten dieses Individuums vermittelt. Die theoretische Annahme muß präzise von den Mechanismen unterschieden werden, die diesem Verhalten in der aktuellen Situation zugrunde liegen. In diesem Sinne ist Gedächtnis nicht etwas, was sich in einer „Box" im Kopf des Hundes abspielt, sondern etwas, das dem gesamte Verhalten des Hundes in einer bestimmten Situation zugeschrieben wird. Ähnliche Vorstellungen zum Gedächtnis wurden in der sogenannten ökologischen Ansätzen entwickelt, in der untersucht wird, wie Gedächtnis in natürlichen Kontexten funktioniert (vgl. u.a. Weisser, 1988). Das eben skizzierte Verständnis von Gedächtnis in der Embodied Cognitive Science kommt jenem der Psychoanalyse sehr nahe. Der Analytiker beobachtet ein bestimmtes Verhalten, das einer aktuellen Situation nicht angemessen ist. Er sucht daher nach früheren Situationen (in der Vergangenheit des Individuums), in denen dieses Verhalten entstanden ist (und zuweilen ursprünglich adäquat war) und zieht daher das Konzept „Gedächtnis'' bei, um das (inadäquate) gegenwärtige Verhalten des Individuums zu erklären. - Um dies nochmals zu betonen: der Analytiker macht dabei keine Aussage über neuronale Mechanismen des Individuums, die sein aktuelles Verhalten determinieren, sondern verknüpft aktuelles Verhalten des gesamten Organismus mit jenem in einer Situation in der Vergangenheit dieser Person. Diese Unterscheidung wird, wie schon kurz erwähnt, in Zusammenhang mit Überlegungen zu einer zweiten grundsätzlichen Problematik diskutiert, dem so genannten frame-of-reference Problem.
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b) Das frame-of-reference-Problem Sprechen wir von Gedächtnis, ist es entscheidend, klar zwischen einem Verhalten zu unterscheiden, das in Bezugnahme auf Gedächtnis erklärt wird, und den neuronalen Mechanismen, die - in der aktuellen Situation - in Interaktion des Organismus mit der Umwelt - dieses Verhalten hervorbringen. Wenn diese Unterscheidung nicht sauber getroffen wird, unterliegt man, wie wir selbst in der erwähnten Arbeit (1986), einem sogenannten Kategorienfehler (vgl. 3. e). Zu erwähnen ist weiter, daß z.B. Ashbys Konzept des Gedächtnisses sowohl auf biologische als auch auf künstliche Systeme angewandt werden kann, da es bezüglich der Implementierung der Gedächtnismechanismen im Organismus neutral ist. In biologischen Organismen spielt die neuronale Plastizität für das Gedächtnis eine entscheidende Rolle. In künstlichen Systemen, wie z.B. Robotern, wird Gedächtnis durch Feedbackschleifen ermöglicht, die in Silikon implementiert sind. Ein weiteres Beispiel eines Gedächtnisses wird von Edelman (1992) beschrieben: das Immunsystem eines Organismus. Dabei bewirkt die Interaktion zwischen dem Organismus und seiner Umwelt, d.h. einem eindringenden Virus oder Bakterium, durch eine Klonreaktion jener Zellen, an die das Virus "andockt", eine Veränderung des Organismus (vgl. „embodiment"), die ihm in dem Sinne ein Gedächtnis ermöglicht, als bei einer nächsten Infektion durch das gleiche Virus, eine größere Anzahl der Zellen zur Verfügung steht, um dieses zu binden: l.a.W. der Organismus kann aufgrund früherer Erfahrungen mit einer aktuellen Situation schneller und effizienter umgehen: er hat einen funktionalen Lernprozeß durchlaufen und dabei seine Zellstruktur verändert: Er verfügt über „Gedächtnis". Auf diese Weise versucht Edelman (1987, 1989), die Mechanismen zu beschreiben, die in biologischen Systemen Gedächtnisleistungen hervorbringen (vgl. dazu auch Fuster, 1997). Allerdings muß betont werden, daß diese Mechanismen nicht das „Gedächtnis sind", sondern sie implementieren ein Verhalten, das wir mit dem Konstrukt „Gedächtnis" erklären, wenn der Organismus mit der Umwelt interagiert über Veränderungen der synaptischen Veränderungsstrukturen. Dieser Gesichtspunkt mag noch klarer werden, wenn wir weiter unten von der die Bedeutung der sensomotorischen Koordination für das Zustandekommen von Gedächtnis diskutieren.
c) die Entwicklungsperspektive Der dritte wichtige Aspekt in der Methodologie der Embodied Cognitive Science ist die Entwicklungsperspektive. Dabei wird bei der Modellbildung von Gedächtnis weniger intendiert, die Gedächtnisprozesse direkt zu implementieren. Vielmehr ist das Ziel dieser Perspektive, die Entwicklungs- und Lernprozesse zu verstehen, die aktuelles Verhalten als Resultat dieser Prozesse bzw. der Interak141
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tionsweise, wie ein Individuum mit seiner Umwelt interagiert, erklärbar machen. Aus methodischer Sicht besteht einer der Vorteile dieses Vorgehens darin, daß weniger Vorannahmen über die innere Repräsentation gemacht werden müssen. Statt dessen sind wir gezwungen, die Mechanismen zu verstehen und zu definieren, die möglicherweise - während der Entwicklung - zu dem beobachteten Verhalten geführt haben. Daher besteht ein Großteil der Arbeit in der Embodied Cognitive Science in der Analyse solcher Entwicklungsprozesse, was ihr eine innere Nähe zur Psychoanalyse verschafft, die immer schon Entwicklungsprozesse und deren Auswirkungen auf aktuelles Verhalten fokussierte. Lassen Sie uns die drei eben erwähnten generellen Überlegungen nochmals anhand eines Beispiels illustrieren: Wir beobachten den sechs Monate alten Peter, der nach Äpfeln und Zeitungen greift, die auf einem Tisch vor ihm liegen. Peter nimmt alles in seinen Mund - Äpfel und Zeitungen/Nach einer gewissen Zeit greift er nur noch nach den Äpfeln und läßt die Zeitungen beiseite. Als Beobachter dieser Szene nehmen wir an, daß Peter aus seinen Erfahrungen gelernt hat und „erinnert", daß Äpfel besser schmecken als Zeitungen. Daher zieht er nun Äpfel vor. Wenn wir als Beobachter sein Verhalten analysieren, postulieren wir, daß Peter Äpfel aufgrund seiner früheren Erfahrungen auswählt: Er verfügt daher über ein funktionierendes Gedächtnis! Wir haben daher Gedächtnis ausschließlich aufgrund der Verhaltensbeobachtung von Peter definiert und nicht durch einen Blick in sein Gehirn (vgl. Gedächtnis als theoretisches Konstrukt und frame of reference Problem). „Gedächtnis" ist eine Attribution zu Peter als gesamtem Organismus (wir evaluieren sein gesamtes Verhalten) und nicht nur einen spezifischen Teil davon, z.B. seine Gehirnleistungen. Dies bedeutet nun, daß wir bei der Erklärung seines Verhaltens in keiner Weise auf die internen Repräsentationen zurückgreifen müssen. Eine weitere entscheidende Beobachtung ist, daß das Kind Kategorien entwikkelt hat: Er kann nun zwischen Äpfeln und Zeitungen unterscheiden. Die Fähigkeit, Kategorisierungen zu bilden, d.h. zwischen verschiedenen Situationen, Objekten etc. sofort zu unterscheiden, ist eine zentrale Funktion des Organismus, ohne die er nicht überleben könnte. Der Aufbau und die Modifikation von Kategorien ist daher auch eine entscheidende Problemstellung jedes Gedächtnismodells. Wie wir schon erwähnt haben (vgl. 3.1.) benutzt die klassische Cognitive Science Rekognitionsprogramme (sogénannte Dämonenprogramme) für diese Aufgabe (vgl. unser Musikbeispiel). Eines der großen methodischen Probleme dieses Ansatzes ist, daß die Kategorien durch den Modellbildner selbst - „von außen" genau vorgegeben und definiert werden müssen. In einer Umgebung, die sich ständig verändert und neue Situationen mit neuen Gegenständen auftauchen, erweist es sich als unmöglich, alle Kategorien, die in solchen Situationen gebraucht werden, von vornherein zu definieren. Bezogen auf unser Beispiel: Falls z.B. die Kategorien von außen, etwa von seiner Mutter, vermittelt worden wären, könnte Peter nicht zwischen Äpfeln einerseits und einer Zeit142
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schrift zu unterscheiden: Er könnte nur zwischen Äpfeln und Zeitungen wählen, denn eine Zeitschrift bedeutet nicht genau die gleichen Stimuli wie eine Zeitung. Zudem wäre Peter auf einen Homunculus in seinem Gehirn angewiesen, der für ihn entscheidet, daß er nun genau diese beiden Kategorien in der aktuellen Situation benötigt. Doch wie unser Beispiel zeigt: Peter, als einem lebenden Organismus, fällt es überhaupt nicht schwer, die durch Handlung erworbene Kategorie „Zeitung'' auf das Erkennen des neuen Stimulus „Zeitschrift" zu übertragen. Er kann das theoretisch schwierige Problem ohne weiteres lösen, ob ein bestimmter neuer Stimulus (Zeitschrift) zu einer Erweiterung der bisher erworbenen Kategorie (Zeitung) führt (z.B. Gegenstände aus Papier) oder ob er - gezwungen durch eine neue, verhaltensrelevante Situation - eine neue Kategorie aufbauen muß (z.B. zur Unterscheidung zwischen „schmeckenden" und „ekligen" Gegenständen, wie z.B. Seife). Dieses theoretisch schwierige Problem wird gelöst, wenn Gedächtnis als dynamischer, konstruierender Prozeß konzeptualisiert wird, bei dem die aktuelle Interaktion mit der Umwelt eine zentrale Rolle spielt.
d) Neuronale Implementation von Gedächtnis als dynamischer, konstruierender Prozeß Die Lösung des eben erwähnte fundamentalen Problems der Kategorisierung in der realen Welt war eines der Hauptziele der Arbeiten von Edelman (1987, 89). Seine dabei entwickelten Ideen sind nicht nur von Interesse, weil er selbstorganisierende Prozesse fokussiert, sondern weil er Gedächtnis konsequent aus einer „embodied" Perspektive betrachtet. Seine Konzeptualisierung von „Gedächtnis als Rekategorisierung" basiert auf Prozessen der sensomotorischen Koordination, die - in einer sehr direkten Weise - Gedächtnis, bzw. die Manifestationen von Gedächtnis, in der Interaktion eines (embodied) Individuums mit seiner Umwelt verankern. Wir können hier nur zwei der zentralen Ideen von Edelman kurz aufgreifen, die sensomotorische Koordination und das Wertesystem. Edelman postuliert, daß die motorische Aktivität ein zentraler Bestandteil der Kategorisierung ausmacht. „While sensation and perhaps certain aspects of perception can proceed without a contribution of the motor apparatus, perceptual categorization depends on the interplay between local cortical sensory maps and local motor maps. The strongest consequence of this assumption is that categorization cannot be a property of one small protion of the nervous system!" (Edelman, 1987, 210). Der zentrale Mechanismus dabei ist die sensomotorische Koordination, die automatisch sich dauernd verändernde Kategorisierungen - analog zu den eben gemachten sensomotorischen Erfahrungen in neuen Situationen - , hervorbringt. Edelman postuliert, daß durch die gleichzeitige Stimulation von verschiedenen sensorischen Karten in verschiedenen oder unterschiedlichen Modalitäten durch 143
LEUZINGER-BOHLEBER, PFEIFER
sensomotorische Koordination zeitlich korrelierte Signale erzeugt werden. Diese korrelierten Signale spielen nun die entscheidende Rolle bei der Bildung von Kategorien (vgl. unten). Edelman illustriert die sensomotorische Koordination, die in der Interaktion eines Systems mit seiner U m w e l t durch reziproke Kopplung stattfindet, mit der folgenden Graphik: Entwicklungetelektlon (führt zur Bildung de« primiren Repertoires)
Zellteilung Zelttod
y J Zettl
Erfahrungsselektion
Vertlngerung ι Rückbildung % Zellfortsitzen Wirkung der CAM Veränderungen der Stärken
(führt zur Bildung de· sekundären Repertoires)
In der Synapeenpopulatlon Karte 1
Karte 2
Reize für Karte 1
Reize für Karte 2
> ZeH 2
Reziproke Kopplung Reize für Karte 1
Reize für Karte 2
Abbildung 3: Entwicklung des neuronalen Netzwerkes in der Ontogenese nach Edelman (1992) QUELLE: EDELMANN, G . M . ( 1 9 9 5 ) GÖTTLICHE LUFT, VERNICHTENDES FEUER
Legende: Nach Edelman ist die Entwicklung des neuronalen Netzwerkes von Beginn an das Produkt der Interaktion des Organismus mit seiner Umwelt. Die ersten Verbindungen der Nervenzellen untereinander (z.B. im Gehirn), die zur Bildung des primären Repertoires führen, ist das Ergebnis einer entwicklungsgesteuerten Selektion. Erfahrungsselektion (wiederum konsequent als System - Umwelt - Interaktion konzeptualisiert) bewirkt die Bildung des sekundären Repertoires und schließlich das Ausbilden globaler neuronaler Karten, die durch reziproke Kopplung („reentry") miteinander verbunden sind. Sie bestehen aus einigen 10000 Neuronen, die funktionell in einer Richtung arbeiten. So hat jedes Wahrnehmungssystem, z.B. der Sehapparat, die Sinnesoberfläche Haut etc., eine Vielzahl von Karten angelegt, die durch qualitativ verschiedene Eindrücke gereizt werden: Farbe, Berührung, Richtung, Wärme etc. Diese Karten sind untereinander durch parallele und reziproke Fasern verbunden, die für den erneuten und wiederholten Eintritt, Durchlauf und Austausch von Signalen sorgen. Werden durch Reize Gruppen von Neuronen einer Karte selektiert, erfolgt gleichzeitig eine Stimulation der mit ihr verbundenen Karten. Aufgrund der reziproken Verbindungen („reentry") werden die 144
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Nervenimpulse rückgeführt, wodurch eine Verstärkung bzw. Schwächung von Synapsen in den neuronalen Gruppen jeder Karte erfolgt: Auch die Verbindungen der Karten selbst erfahren ein Modifizierung. Dadurch entstehen neue,selektive Eigenschaften, mit anderen Worten, „automatische" Rekategorisierungen aktueller Stimuli aus unterschiedlichen Sinneskanälen. So sichert sich der Organismus fortlaufend die Fähigkeit, sich in der Interaktion mit der Umwelt zu orientieren, indem die bisherigen Rekategorisierungen aufgrund der erhaltenen Stimuli an die neue Situation adaptiert werden. Das heißt „Kategorien" zur Einordnung aktueller Erfahrungen (Stimuli aus unterschiedlichen Sinneskanälen) müssen nicht „von außen" definiert bzw. durch einen Homunculus innerlich erkannt werden, sondern bilden sich „automatisch" aufgrund der zeitlich simultanen sensomotorischen Koordinationen der stimulierten Karten.
Thelen und Smith (1994) betonen in ihrer entwicklungspsychologischen Arbeit, daß zeitliche Assoziationen von multimodalen Informationen eine zentrale Invariante des Wahrnehmungssystems bilden: „... this perfect temporal association of multimodal information is perhaps the only perceptual invariant that spans all ages, contexts and modalities. We believe, with Edelman, that this correlation is the primary link between the mind and the world // (149). - Diese Konzeptualisierung von Kategorisierungsprozessen ist nun von zentraler Bedeutung für die Embodied Cognitive Science: Die sensomotorische Koordination strukturiert den hochdimensionalen sensorischen Raum, indem er Regularitäten produziert, die daraufhin zum Erkennen von Kategorien führen. Die zeitliche Korrelation der Signale in den neuronalen Karten steht in Beziehung zu den unterschiedlichen sensomotorischen Modalitäten, die durch die Interaktion des Individuums mit einem Objekt generiert werden und bildet das basalste Beispiel solcher Regularität. Welche dieser Korrelationsmuster an Korrelationen daraufhin im Prozeß der Kategorisierung ausgewählt werden, wird durch das sogenannte Wertesystem moduliert. Diese Wertesysteme beinhalten basale Ziele, die dem Organismus ein Überleben garantieren. Kann z.B. ein Organismus wie Peter verschiedene Objekte in seinen Mund stecken, wird ein „Wertesignal·' generiert, das ihm ermöglicht, eine Assoziation in der Aktivierung der neuronalen Karten zu bilden, die den verschiedenen sensorischen und propriozeptiven Modalitäten entspricht. Auf diese Weise ist der Organismus in der Lage, eigene Kategorien zu generieren, indem er mit der Umgebung interagiert. Peter lernt zwischen Äpfeln und Zeitungen zu unterscheiden, indem er nach ihnen greift und sie in seinen Mund steckt. Beide Interaktionssequenzen führen zu unterschiedlichen Aktivierungen in unterschiedlichen neuronalen Karten (visuelle, haptische, auditive und propriozeptive), die dann, durch die Modulation des Wertesystems, miteinander assoziiert werden. Falls eine neue, verhaltensrelevante Situation neue sensorische Muster stimuliert („eklige" Seife statt „schmeckender Apfel" oder „neutrale Zeitung" wird in den Mund gesteckt) werden neue Kategorien („Seife" versus „Apfel" versus „Papiergegenstände") gebildet. Die Assoziationen zwischen unterschiedlichen neuronalen Karten bilden nun die Basis, die das Verhalten eines Organismus in einer neuen Situation formen. In diesem Sinne können sie als die neuronale Basis der Kategorisierung und daher des Gedächtnisses betrachtet 145
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werden. Es ist wichtig festzuhalten, daß sich diese Assoziationen mit jeder neuen sensomotorischen Koordination verändern. Edelman spricht von einem nie endenden Prozeß der Rekategorisierung, die dem Organismus eine dauernde Anpassung an sich verändernde Situationen und eine Anwendung von Wissen erlaubt, das in früheren Situationen erworben wurde. Vielleicht sollte man hier erwähnen, daß es neuere Erkenntnisse in der Entwicklungs-Neurobiologie gibt, die zeigen, daß nicht nur eine Selektion stattfindet, sondern daß auch synaptische Verbindungen gebildet werden können (e.g. Abbott and Sejnowski, 1999). Diese Überlegungen führen zu einer Definition von Gedächtnis, die stark im Gegensatz steht zu der traditionellen Auffassung von Gedächtnis als gespeicherter Struktur. „... memory is the enhanced ability to categorize or generalize associatively, not the storage of features or attributes of objects as a list" (Edelman, 1987, 241). Gedächtnis wird daher als eine Fähigkeit des gesamten Organismus zu rekategorisieren definiert, eine Fähigkeit, die immer auf sensomotorischen Koordinationsprozessen beruht. In ähnlicher Weise definiert z.B. Clancey (1991) Gedächtnis: „Human memory is a capability to organize neurological processes into a configuration which relates perceptions to movements similar to how they have been coordinated in the past" (253). (Zu einer detaillierten Diskussion dieser Konzepte, siehe Pfeifer und Scheier, 1999, 503-534). Um dies nochmals zusammenzufassen: Edelmans Konzeptualisierung von Gedächtnis basiert auf Prozessen der sensomotorischen Koordination, d.h. sie schließt sensorische und motorische Prozesse mit ein. Die motorischen Prozesse, aber auch die Art der sensomotorischen Stimulation, die innerhalb des neuronalen Systems stattfindet, hängt von der Spezifität des Stimulus ab (z-.B. physikalische Charakteristika und Formen und deren Positionen bezogen auf den Organismus vgl. etwa „Äpfel", „Zeitungen" und „Seife" in unserem Beispiel) und dem motorischen System. Daher ist der zentrale Begriff der modernen Cognitive Science „Embodiment". Es ist wichtig zu betonen, daß Kategorisierungen, und daher Gedächtnis, nicht nur eine Frage der inneren Verarbeitung von sensorischen Signalen ist, sondern von sensorischen und motorischen Prozessen. Dieser Punkt kann kaum überbetont werden: Wahrnehmen wird nicht mehr gesehen als ein Ereignis, bei dem eine sensorischen Stimulation (z.B. einer Stimulation auf der Retina) auf eine innere Repräsentation abgebildet wird, sondern als ein Akt, der sowohl die sensorischen Modalitäten als auch das motorische System umfaßt. Eine analoge These wurde bereits vor über hundert Jahren durch den amerikanischen Philosophen John Dewey (1896) aufgestellt, aber in der Fachliteratur kaum aufgenommen. - Die Implikationen für unser Verständnis von Gedächtnis sind enorm, speziell in einem klinischen Kontext. Plötzlich ist Gedächtnis nicht mehr eine Box, in der bewußte oder unbewußte Erinnerungen gespeichert sind, aus der sie wieder abgerufen werden können, sondern eine Charakteristika eines biologischen, physischen Organismus, der mit der realen Welt interagiert. Gedächtnisspuren können immer bis hin zu sensomotorischen 146
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Koordinationen zurückverfolgt werden und daher spielen solche sensomotorischen Koordinationen auch die entscheidende Rolle für das Gedächtnis. Mit der folgenden Graphik von Edelman (1992) möchten wir abschließend die fundamentalen Unterschiede der Konzeptualisierungen in der traditionellen „klassischen Cognitive" Science und der „Embodied Cognitive Science" illustrieren. Adresse
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reziprok gekoppelte Karten
reziprok gekoppelte Karten
Abbildung 4: Replikative und dynamische Sicht des Gedächtnisses Legende: Bei klassischen Gedächtnismodellen geht man analog zur Informationsverarbeitung in Computern - von einer präzisen Wissensspeicherung aus (vgl. Newell und Simon, 1976; Norman, 1981), die aber statisch und unveränderlich ist und daher kaum einen Transfer auf neue Problemlösungssituationen ermöglicht. Hingegen ist die „Wissensspeicherung" in dynamischen, z.B. biologischen Modellen zwar ungenauer, ermöglicht aber gerade durch diese Eigenschaft eine optimale Generalisierungsfähigkeit und Adaptationsmöglichkeit an neue Situationen (vgl. oben). 147
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5. Kurze Anwendung der Konzepte der „Embodied Cognitive Science" auf das Fallbeispiel Was bedeutet nun eine solche konsequent interaktive, rekategorisierende Konzeptualisierung von Gedächtnis für das Verständnis von Erinnern und Bewußtwerden in der klinischen Situation?1 (vgl. dazu auch Modell, 1984). Wie wir eben diskutiert haben, wird in der Embodied Cognitive Science postuliert, daß „Gedächtnis" darin besteht, daß in aktuellen Beziehungssituationen Interaktionen (d.h. System - Umwelt - Interaktionen) Wahrnehmungen und Bewegungen analog koordiniert und damit rekategorisiert werden, wie in den (traumatischen) früheren Interaktionen mit wichtigen Bezugspersonen (vgl. Definition von Clancey, vgl. oben). Danach ist zu vermuten, daß zu Beginn der ersten Sitzung nach der Sommerpause die Wahrnehmung von mir als einer veränderten Person (braun gebrannt) zu sensomotorischen Koordinationen führten (vgl. verändertes Verhalten auf der Couch), die Analogien zu den traumatischen Interaktionserfahrungen mit der an Insuffizienzgefühlen leidenden, vermutlich depressiven Mutter aufwiesen, die ihm „plötzlich" die „gute Milch" entzog, ihm die „falsche Nahrung" gab mit den unerträglichen psychophysischen Folgen (juckender Ganzkörperausschlag) für ihn (als passivem Opfer). Diese frühen Interaktionserfahrungen hatten sich unbewußt im Körpererleben, sensomotorisch perpetuiert, d.h. ständig wiederholt, und waren durch spätere analoge Interaktionserfahrungen immer und immer wieder „überschrieben" worden. Möglicherweise standen sie in Zusammenhang mit den psychosomatischen Symptomen von Herrn X. sowie seinem sozialen Rückzug, mit dem er evtl. unbewußt Abhängigkeitssituationen von nahen Personen vermied, die ihn plötzlich in eine unerträgliche, psychophysische Situation stürzen könnten. In der analytischen Beziehung hatte sich dagegen während des ersten Behandlungsjahres sukzessiv eine „Beziehung zu einer nahen Person" hergestellt. Die plötzliche Veränderung in der Wahrnehmung von mir nach der Sommerpause führte daher sogleich zu analogen sensomotorischen Koordinationsprozessen wie in der ursprünglichen traumatischen Interaktionssituation. Herr X. konnte sich auf der Couch nicht mehr in ähnlicher Weise wie vor der Sommerpause verhalten, sondern wirkte verkrampft, unwohl, hilflos und abhängig. In dieser Situation generierte er daher vermutlich analoge, unerträgliche Affekte und Körpersensationen wie in der früheren, traumatischen. Wir gehen folglich bei diesen Erklärungsversuchen nicht davon aus, daß solche Reaktionen durch „strukturelle Analogien" der gegenwärtigen Interaktions1 Selbstverständlich legen wir im folgenden nicht nahe, die Komplexität psychoanalytischer Prozesse mit Hilfe der alternativen Gedächtnistheorien „endgültig" zu verstehen. Vielmehr lassen wir uns durch den triangulierenden, interdisziplinären Blick anregen, einen neuen, bisher unbekannten Blick „auf das Eigene", psychoanalytische Konzeptualisierungen von Erinnern und Bewußtwerden, zu werfen und dadurch evtl. Einsichten zu gewinnen, die andere ergänzen, in Frage stellen oder modifizieren können. 148
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situation mit früheren, traumatischen „statisch abgerufen" bzw. „reaktiviert" wurden (vgl. TOP Diskussion), sondern daß in der aktuellen Beziehungssituation Wahrnehmungen, Körpersensationen etc. analoge sensomotorische Koordinationen generierten wurden, wie sie in der ursprünglichen, traumatischen Situation stattgefunden hatten (im Sinne einer „neuen", aber sich dennoch wiederholenden organisierenden seelischen Aktivität). Wie erwähnt hatten mich die plötzlichen Veränderungen des Analysanden nach der Sommerpause (extreme Wutanfälle, Beschimpfungen etc.) zuerst einmal überrascht und überfordert. Im Laufe der weiteren analytischen Sitzungen wurden meine Wahrnehmungen feinster sensomotorischer Signale (bzw. sensomotorischer Koordinationen) von Herrn X. sukzessiv differenzierter und generierten daher auch bei mir - durch probeweise Identifikationen mit dem inneren Zustand von Herrn X. - intensive affektive und körperliche Empfindungen. Daher entwickelte ich analoge Körperempfindungen wie der Analysand selbst (extreme Spannungen, Unwohlsein, Magenkrämpfe). Herr X. klagte in diesen Sitzungen immer und immer wieder darüber, daß das Liegen auf der Couch für ihn eine körperliche Erfahrung der Abhängigkeit, der Ohnmacht und des Sichausgeliefert-Fühlens sei. Ich vermute nun, daß sich das Liegen auf der Couch1 besonders gut dafür eignete, um in dem eben erwähnten Sinne analoge sensomotorische Koordinationsprozesse zu durchlaufen wie in der frühen MutterSäuglings-Interaktion (2.-5. Lebensmonat von Herrn X.). In der Supervision gelang es uns, erste Bilder bzw. sprachliche Hypothesen für traumatische Erfahrungen zu finden, die das aktuelle Verhalten von Herrn X., bzw. die dadurch bei mir ausgelösten Affekte und Körpersensationen - aufgrund vergangener Ereignisse „erklären könnten" (vgl. Gedächtnis als theoretisches Konstrukt zur Erklärung aktueller Verhaltensweisen aufgrund von früheren Verhaltensweisen). Dies ermöglichte mein aktives Nachfragen nach körperlichen Reaktionen von Herrn X. in und nach unseren „unerträglichen" analytischen Sitzungen bzw. nach evtl. traumatischen Erfahrungen im ersten Lebensjahr. Die Nachforschungen von Herrn X. führten zu den erwähnten, für uns wichtigen lebensgeschichtlichen Informationen, die ein neues Licht auf die aktuellen Beobachtungen in der Übertragungssituation warfen. Daher scheint mir aufgrund der hier vorgestellten Modelle plausibel, daß in der Übertragungssituation Spuren der vielfach überschriebenen, modifizierten, vorsprachlichen Beziehungserfahrungen erkennbar wurden, in denen z.B. der Wunsch nach Nähe zu einer wichtigen Beziehungsperson mit den traumati1 Wir denken, daß gerade durch das Stilllegen der Grobmotorik die Aufmerksamkeit auf feinere körperliche Signale gelenkt werden kann, die in „normaleren Interaktionssettings" gut unbewußt kontrolliert werden können und sich daher einer reflexiven Betrachtung leicht entziehen. Vermutlich ist bei Körpertherapien mit solch' früh gestörten Patienten das Problem, daß durch direkte körperliche Berührung die Intensität der sensomotorischen Stimulierung derart intensiv ist, daß sie zu einer Überflutung des Organismus führen kann und dadurch die Beobachtung und Reflexion feinster, inadäquater sensomotorischer Koordinationsprozesse bei dieser Patientenpopulation eher erschwert als ermöglicht (vgl. Fußnote 8). 149
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sehen Erfahrungen der plötzlichen Veränderung des Primärobjekts von einem „guten, nährenden Objekt" zu einem „inkompetenten, unprofessionellen und schädlichen Objekt" (das durch falsches Verhalten einen extremen schmerzlichen Körperzustand des Selbst evozierte) verbunden waren. Die erwähnte Selbstanalyse aufgrund des „triangulierenden Blickes" in der Supervision führte schließlich zu einer aufdämmernden Einsicht in die Determinanten meiner Gegenübertragungsreaktionen, d.h. den interaktiven Quellen meiner aktuellen sensomotorisch-affektiven Rekategorisierungsprozesse. Dies ermöglichte eine gewisse selbstreflexive Distanzierung und eine vermehrte körperliche Entspannung sowie die erwähnte Exploration. Die dabei neu gewonnenen lebensgeschichtlichen Informationen konnten daraufhin mit den Beobachtungen aus dem Übertragungsgeschehen verknüpft und sukzessiv verstanden, d.h. dem Bewußtsein des Analysanden erschlossen werden. In diesem Sinne bildeten die „rekategorisierenden Wiederholungen" der traumatischen Erfahrungen in der Übertragung und die sukzessive Analyse der dadurch ausgelösten Gegenübertragungsreaktionen unverzichtbare Voraussetzungen für das Bewußtwerden des bisher unbewußten, körperlichen Erinnerungsprozesses von Herrn X. 1 . Metaphorisch ausgedrückt: Erst die vermehrte „differenzierende, rekategorisierende" Erfahrung einer tragenden analytischen Beziehung zur Analytikerin ermöglichte es daher Herrn X. in den extremen Attacken auf sein Gegenüber sein existenzielles Aufbegehren gegen das „Bewußtwerden" der unerträglichen, traumatischen frühen Objektbeziehungserfahrungen zu erkennen. Zusammenfassend möchten wir festhalten, daß wir aufgrund der Gedächtnismodelle der Embodied Cognitive Science postulieren, daß die oben erwähnten Erinnerungsprozesse an traumatische Kindheitserfahrungen nur in einer neuen Interaktion mit einem bedeutungsvollen Anderen (d.h. in der Übertragung) möglich werden: Sie sind an sensomotorische Koordinationen in der aktuellen therapeutischen Beziehung gebunden, die - im besten Falle - ermöglichen, durch
1 Wie wir aus der Traumaforschung wissen, wird eine traumatische Erfahrung gerade dadurch definiert, daß sie psychophysiologisch eine extreme Reizüberflutung darstellt und daher bewirkt, daß vom Organismus Notfallmechanismen eingesetzt werden, diese traumatischen Empfindungen aus dem seelischen Erleben zu eliminieren. So postuliert z.B. van der Kolk (1996), daß traumatische Erfahrungen - im Gegensatz zu normalen - vorwiegend im limbischen System als sensomotorisches, visuelles und affektives Geschehen gespeichert werden. Die exzessive Stimulierung verhindert das Aufsteigen der Aktivierung in den Neokortex. Damit ist die kognitive Bewertung der Erfahrung und ihre semantische Repräsentation gestört bzw. kann sich bei schweren, frühen Traumatisierungen gar nicht erst entwickeln. Die frühen Interaktionen von Herrn X. mit seiner an schweren Insuffizienzgefühlen leidenden, vermutlich depressiven Mutter, die nicht in der Lage war, das psychophysische Unwohlsein des Säuglings zu lindern, hatten vermutlich eine solche traumatische Qualität für Herrn X. Zudem vermuten wir, daß im ersten Analysejahr - in der ruhigen, „reizarmen" und überschaubaren Situation auf der Couch in der berechenbaren, wiederkehrenden Interaktion mit der Analytikerin - analoge sensomotorische Koordinationen ablaufen konnten, wie in den „genügend guten" Interaktionen mit der Mutter vor und nach der Nahrungsmittelallergie und daher entsprechende (unbewußte) Erinnerungen generierten (vgl. Feststellung des Analysanden: „Die Analyse tut mir gut"). Die „plötzliche Veränderung" der Analytikerin in der Wahrnehmung des Analysanden bedeuteten eine plötzliche Veränderung der sensomotorischen Koordinationen - ebenfalls analog zu der früheren traumatischen Interaktionserfahrung - und evozierten entsprechende unbewusste Erinnerungen an diese Traumatisierungen (vgl. dazu auch Bohleber 1997). 150
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die professionelle Identifikation des Analytikers mit seinem Analysanden und daran anschließende selbstreflexive Prozesse Hypothesen zu generieren, welche früheren, traumatischen Ereignisse mit dem aktuellen Verhalten in Zusammenhang stehen könnten, die wir dem (unbewußten) Gedächtnis von Herrn X. zuschreiben. Das dadurch ermöglichte Erinnern ist abhängig von einer realen Interaktion mit einem Objekt und dadurch evozierten sensomotorischen Koordinationsprozessen in Herrn X. und seiner Analytikerin. Herr X. konnte sich nicht allein an seine frühen traumatischen Objektbeziehungserfahrungen erinnern. Erst in der neuen System-Umwelt-Interaktion werden Erinnerungen durch aktuelle sensomotorische Koordinations- und Rekategorisierungsprozesse, die früheren Erfahrungen entsprechen, „konstruierbar" und daher bestenfalls auch sukzessiv verstehbar.
6. Kurze Diskussion und Zusammenfassung Theorien zum Gedächtnis beeinflussen - oft unerkannt und wenig reflektiert unsere klinische Wahrnehmung und unser Verständnis therapeutischer Veränderungen, wie wir in einem kritischen Rückblick auf unsere '86er Arbeit diskutierten, in der wir Konzepte der klassischen Cognitive Science auf einige Sequenzen einer Psychoanalyse angewandt haben. Unsere damaligen Analysen bieten zwar durchaus weiterhin einen plausiblen, klinischen Erklärungsgehalt, sofern wir die Analysen auf einer rein deskriptiven Ebene verstehen. Doch haben wir dabei, aufgrund unserer heutigen Sichtweise, das sogenannte „frame-ofreference"-Problem vernachlässigt, indem wir diese deskriptiven Analysen des Auftauchens von Erinnerungen in der psychoanalytischen Situation u.a. nicht präzise von einer Analyse der neurobiologischen und neurophysiologischen Mechanismen des Gehirns unterschieden haben, die in Interaktion mit der Umwelt diese Erinnerungen generiert haben. Die in der klassischen Cognitive Science benutzte Informationsverarbeitungsmetapher (bzw. Computermetapher) eignet sich nicht zur Anwendung auf die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses als eines biologischen Systems: Im Gehirn gibt es keine „Speicher", die aufgrund eines (unbewußt-kognitiven) Erkennens analoger Strukturen aktueller und gespeicherter Informationen reaktiviert werden, sondern Gedächtnis ist, wie dies die Forschungen von Brooks, Edelman, Rosenfield, Clancey, Glenberg und der Forschungsgruppe um Pfeifer u.a. nahelegen, ein Aspekt des gesamten Organismus: Es ist kein bestimmtes Modul oder Organ. Gedächtnis ist ein theoretisches Konstrukt zum Erklären von aktuellem Verhalten, das mit früheren erlebten Ereignissen in Verbindung gebracht wird. Wir sprechen von Lernen und Gedächtnis, wenn sich das Verhalten des Organismus über die Zeit ändert. Es waren vor allem biologische Gedächtnisforscher, die radikal die „Speichermetapher" von Gedächtnis in Frage stellten, da lebende Organismen nicht in der Lage wären, sich in einer sich dauernd sich verändernden Umwelt adäquat zu 151
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verhalten, falls ihr Gedächtnis analog zu einem Computer mit statisch gespeichertem Wissen funktionieren würde. Sie müssen als selbstregulierende und selbstorganisierende Systeme konzeptualisiert werden. Daher entwickelte die „Embodied Cognitive Science" ein alternatives Verständnis von Gedächtnis, in dem die Interaktion eines Organismus mit seiner Umwelt Gedächtnisleistungen „erzeugt" werden (z.B. Erinnern). So wandte z.B. Edelman diese biologisch basierte Sichtweise konsequent auf die Ontogenese lebender Organismen an und legte einen Versuch vor, sowohl das Ausbilden des primären und sekundären Repertoires, als auch die Entstehung (gekoppelter) neuronaler globaler Karten durch die Interaktion des Organismus mit seiner Umwelt zu erklären. Durch zeitlich simultane sensomotorische Koordinationen (aufgrund von Stimulierungen in verschiedenen Modalitäten und globalen, „gekoppelten" neuronalen Karten) werden Regularitäten erzeugt, die „automatisch" Kategorien generieren bzw. Rekategorisierungen initiieren. Edelman's Implementierungsversuch löst daher auf interessante Weise eines der grundlegenden Probleme von Gedächtnis: die Frage, wie Kategorien gebildet und ständig an neue Erfahrungen adaptiert werden. In Gegenüberstellung zu einer statischen Speicherung (analog zu einer Speicherplatte auf einem Computer) diskutierten wir, daß die Definition von Gedächtnis als sensomotorischer Koordination eine zwar weniger präzise, aber flexible und sich ständig an neue Situationen adaptierende Kategorisierung beinhaltet, ohne die ein lebender Organismus in einer ständig sich verändernden Umgebung nicht überleben könnte. Auf diese Weise kann der Organismus - in einem - jeweils einmaligen, neuen, konstruierenden Akt in einer bisher noch nie dagewesenen Situation neurologische Prozesse, perzeptive und motorische Vorgänge, in analoger Weise koordinieren wie in früheren Sifuationen (vgl. Definition des Gedächtnisses von Clancey, 1991) und daher kann er so das Wissen, das er in früheren Situationen gewonnen hat, auf die aktuelle Situation - in neuer und adaptiver Weise - anwenden. Daher wird Gedächtnis als Funktion des gesamten Organismus verstanden, als komplexer, dynamischer, rekategorisierenden und interaktiver Prozeß, der immer auf aktuellen sensomotorischen („embodied") Koordinationen basiert und sich im Verhalten des Organismus manifestiert. Leider fehlt uns bis heute eine „griffige" Metapher, um diese neuen Konzeptualisierungen plastisch zu beschreiben. Edelman vergleicht z.B. die Wirkungsweise des Gehirns eher mit einem Gewitter im Urwald als mit einem Computer. Doch vielleicht wird es sich als unmöglich erweisen, dieses dynamische und sich ständig an neue Situationen adaptierende Gedächtnis mit einer einzigen Metapher zu charakterisieren. Wir haben diskutiert, daß sowohl das Postulat von „Gedächtnis als eines Konstrukts zur Erklärung von aktuellem aufgrund von früherem Verhalten" als auch die darin enthaltene konsequente Entwicklungsperspektive, sowie die ganzheitliche Sichtweise auf das Gedächtnis als Produkt der Interaktion des gesamten Organismus mit seiner Umwelt, eine große Nähe zum psychoanalytischen Denken aufweist. Anhand einer kurzen Sequenz aus einer Psychoanalyse versuchten 152
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wir dies zu konkretisieren und zu illustrieren, daß Gedächtnismodelle der „Embodied Cognitive Science" zu einem vertieften Verständnis von Erinnerungsund Bewußtwerdungsprozessen in der klinischen Situation beitragen können. Zudem scheinen uns diese neueren Gedächtnistheorien die klinisch-psychoanalytische Forschung der letzten Jahre interdisziplinär abzustützen, die immer radikaler postulierte, daß therapeutische Veränderungen nicht durch das Aufdecken frühinfantiler Traumatisierungen („Archäologiemetapher") allein, durch „reine Erkenntnis im Kopf des Analysanden", zustande kommen, sondern daß das Durcharbeiten in der Übertragungsbeziehung zum Analytiker (inklusive der sensomotorisch-affektiven Erfahrungen in der therapeutischen Interaktion, d.h. der konkreten, „embodied" Interaktion zwischen zwei Personen) das Entscheidende ist. Danach ist Erinnern kein statisches Abrufen gespeicherter Informationen, sondern ein hochdynamischer Rekategorisierungsprozeß im Hier und Jetzt der Übertragung. Weiter scheint Erinnern und Bewußtwerden abhängig zu sein von der System-Umwelt-Interaktion und beinhaltet Konstruktionen „narrativer Wahrheiten" in aktuellen oder aktualisierten Beziehungen, die aber gleichzeitig eine konstruierende Annäherung an die „historische Wahrheit" darstellen (Sozialisationserfahrungen sind biologisch verankert). So werden durch das Erinnern alte Rekategorisierungsprozesse bisher unbewußter (traumatischer) Erfahrungen verändert und differenziert, eine Voraussetzung für eine strukturelle Veränderung von Verhalten; denn bewußtes Erinnern erlaubt eine neue Integration und Verfügbarkeit der eigenen, unverwechselbaren Geschichte (vgl. dazu auch Damasio, 1999). Schließlich scheint uns aufgrund der Gedächtnisforschung der Embodied Cognitive Science, die psychische Prozesse einmal mehr biologisch bzw. neuroanatomisch zu verankern sucht, ebenfalls plausibel, warum die in der Frühsozialisation entstandenen Bedürfnisse und Konflikte derart persistent und determinierend sind und weshalb „strukturverändernde Psychoanalysen ihre Zeit brauchen": Biologische Prozesse verändern sich nicht so schnell wie „rein kognitive" Einsichten! Zum Schluß sollte vielleicht erwähnt werden, daß die Idee der sensomotorischen Koordination spezifisch ist und nicht allgemein mit nichtverbalem Verhalten gleichgesetzt werden kann. Tatsächlich ist es so, daß durch eine sensomotorische Koordination korrelierte Sensorstimulationen in den verschiedenen Sensorkanälen erzeugt werden, was informationstheoretisch für die Kategorisierung von zentraler Bedeutung ist. Daß das nicht-verbale allgemein von Bedeutung ist, ist ja eine Trivialität; sensomotorische Koordination ist ein viel spezifischeres Konzept. Auf grundlegende wissenschaftstheoretische und methodische Fragen, die bei der interdisziplinären Gedächtnisforschung zu bedenken sind, konnten wir in diesem Rahmen nicht eingehen, hoffen aber einen Eindruck vermittelt zu haben, daß es sich für Psychoanalytiker und Cognitive Scientists - in Zeiten des Pluralismus in den Wissenschaften (vgl. u.a. Hampe, 2000) - als herausfordernd er153
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weisen kann, sich dem triangulierenden Blick einer fremden Disziplin zu stellen, da sich damit sowohl das Besondere des eigenen Forschungsverständnisses und damit verbundener spezifischer Qualitäts- und Wahrheitskriterien als auch das Gemeinsame in der Suche nach der "Einheit der Vernunft" in besonderer Schärfe der eigenen, selbstkritischen Wahrnehmung erschließt.
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LEUZINGER-BOHLEBER, PFEIFER
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LÉON WURMSER
„Die vernichtende Gewalt der Absolutheit Psychosomatische Probleme in der Psychoanalyse der schweren Neurosen" Als ich von Herrn Prof. Klußmann vor einem Jahr die freundliche und ehrenvolle Einladung erhielt, heute abend vor Ihnen zu Anlaß des Jubiläums der psychosomatischen Abteilung zu sprechen, wollte ich mich mit dem Einwand, daß ich doch wenig Erfahrung mit der spezifischen Behandlung oder Untersuchung von psychosomatischen Störungen besitze, entschuldigen. Je mehr ich jedoch an das Thema dachte, desto mehr packte mich die Problematik und um so stärker wurde mir bewußt, wie vielschichtig und schwierig sie wirklich ist und welche Bedeutung sie auch für meine eigene Arbeit hat.
Einige neuere Perspektiven Zunächst einmal scheint es mir, daß wir eigentlich bei nahezu all unseren Patienten mit schweren Neurosen Probleme antreffen, die bald mehr der Konversionshysterie, bald mehr den psychosomatischen Erkrankungen im näheren Sinn zuzurechnen sind, wobei es oft gar nicht so leicht ist, diese beiden klar zu unterscheiden, wie in dem klinischen Exzerpt, das ich später bringe. Die Affektstörungen, besonders die totale Natur sowohl der Affekte wie der Abwehr gegen diese, wie die ebenso absolute Gewalt der Überichforderungen, die aus diesen Konflikten sich ergebenden, gewöhnlich vorübergehenden Bewußtseinsstörungen und Bewußtseinsspaltungen, die oft als Psychose verkannt und dementsprechend weniger als optimal behandelt werden, die totalitäre Atmosphäre in ihren Familien und in der Übertragung, die narzißtischen Einstellungen und Ansprüche, die sadomasochistische Grundhaltung und Sexualorientierung - alle diese beherrschen ja das Bild der schweren Neurosen. Es ist geradezu typisch, daß wir bei diesen Störungen eklatante psychophysische Phänomene beobachten. Das Umgekehrte gilt freilich mit geringerer Prägnanz: Immer wieder treffen wir Patienten an, die herkömmlicherweise als psychosomatisch angesehen werden, doch anscheinend wenig psychische Störungen, besonders nicht von solch tiefer Art, aufweisen, sondern vielmehr tüchtige, gut funktionierende Persönlichkeiten sind. Oft wirken bei Ihnen jene tiefen Affektstörungen aus Urzeiten gleichsam abgekapselt weiter, finden ihren Ausdruck nur in chronischen physiologischen Veränderungen und erscheinen gerade auch mittels unserer herkömmlichen 159
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psychoanalytischen Zugangsweise kaum zugänglich. Bei ihnen, wie bei den schweren Neurosen, stellt sich dann die Frage, inwieweit dissoziative Phänomene, als Ausdruck v.a. von Abwehr durch Verleugnung gegen Trauma und Überichforderung, ihr ganzes Leben als stille und verborgenen Schatten begleiten. Bei beiden Gruppen zeigt es sich, welch ganz zentrale Bedeutung bei den psychosomatischen Störungen das Überich spielt, innere, weitgehend unbewußte Konflikte also, die mit Werten und Idealen, mit Verpflichtungen und Loyalitäten, mit Schuld- und Schamgefühlen, mit Gerechtigkeits- und Ungerechtigkeitsgefühl zu tun haben. Dann möchte ich kurz einen anderen Aspekt beleuchten, der mir in unserem Zusammenhang bemerkenswert erscheint, nämlich eine doppelte Verleugnung: Auf der einen Seite wird gerade im populären Halbwissen wie auch in der somatischen Medizin alles auf das Technische und auf das, was durch einfache Maßnahmen manipulierbar sein sollte, abgewälzt. Die Antwort auf alles innere Leiden wird in verschiedenen Pillen gesucht. Es ist eine Form des magischen Denkens. Die psychische Dimension, die zumindest mitbegleitend, oft ausschlaggebend ist, wird dabei verleugnet. Demgegenüber sehen wir aber auch dessen Spiegelbild. Dabei wird oft naiv jedes körperliche Symptom fast automatisch als psychogen angeschaut und als symbolisch ausdruckskräftig angesehen, eine Sinusitis als Selbstbestrafung für den ersten Kuß, eine schwere autoimmune Erkrankung oder jede Art von Krebs in direkter Weise mit selbstgerichteter psychischer Aggression und Todestrieb gleichgesetzt. Ich spreche nur von der unilinearen Kausalität, die dabei vorausgesetzt wird, nicht davon, daß unbewußte wie auch bewußte innere Konflikte und mit ihnen verbundene überwältigende Affekte bei diesen Körperkrankheiten stark, wenngleich unspezifisch, v.a. durch Immunitätsstörungen, mitwirken können. Dabei wird in ebenso magischer Weise, wie beim Spiegelbild, das Physische, das Biologische, selbst verleugnet und eine absolute Macht des Geistes über den Körper unbefragt angenommen, oft sogar mit ernsten ethischen Implikationen: man, d.h. sehr oft der Andere, solle selber daran schuld sein, wenn man krank werde. Oder, die Antwort auf schwere körperliche Krankheit sei einfach und liege v.a. in der Psychotherapie oder Analyse. Beim weiteren Überdenken scheint mir dann aber auch, daß eine dritte Seite der Psychosomatik, die eigentlich weniger unter dieser Rubrik mitverstanden wird, mitbetrachtet werden soll: zu welchem Ausmaß unsere Lebensführung körperliche Folgen pathologischer Natur zeitigt. Ich denke an die Ernährungsweise, an den Mangel an körperlicher Anstrengung und Bewegung, an die legalen Suchtmittel wie Rauchen und Alkohol, wo oft die Abstinenz selber stigmatisiert und belächelt, ja mit Scham belegt wird, Substanzen aber, die alle gewaltige Folgen für die Gesundheit haben. Eine weitere Art der Vergewaltigung der menschlichen Natur ist die Schlafversagung - genauer: die Mißachtung des Schlafbedürfnisses, die Ruhelosigkeit, die unstete Betriebsamkeit und der unablässige 160
.DIE VERNICHTENDE GEWALT DER ABSOLUTHEIT PSYCHOSOMATISCHE PROBLEME IN DER PSYCHOANALYSE DER SCHWEREN NEUROSEN"
Lärm unseres Lebens. Eine jüngst erschienene Studie der Harvard Medical School zeigt, daß Schlaf eine Voraussetzung für Lernen (vital for learning) ist und sowohl Gedächtnis wie Leistungsfähigkeit bestimmt (New York Times, 12/17/2000, Week in Review, S. 2). Wir können hinzufügen, daß gerade Affektregulation und -modulation sehr durch Schlaflosigkeit, wie auch durch jene toxischen Substanzen, stark beeinträchtigt werden. Die Lebensführung ist aber ihrerseits schon weitgehend Ausdruck des Psychischen. Auch die Anpassung an die soziale Umwelt, die solche Aspekte der Lebensführung zu diktieren scheint, ist etwas Psychisches: eine Unterwerfung unter äußere Autorität, ein Ersticken der inneren Stimme dagegen, ein Ausweichen vor dem inneren Konflikt darüber, das Mitmachen. Wichtige Teile der allgemein gültigen Normen der Lebensführung können und müssen ihrer schwerwiegenden Folgen wegen angezweifelt werden. Die ganze Idee des Schabbats als eines Refugiums geschützter Zeit dient dem Schutz der inneren Erholung und einer breiteren, auf andere Werte gerichteten Lebensführung. Diese geheiligte, von Schranken umzäunte Zeit dient nicht einfach der Ruhe, sondern der Selbstbesinnung, des Zusammenseins mit der Familie, der Abstinenz von allem Schaffen und von allem Verändern der Natur, und letztlich der Intensivierung der Geistigkeit, des Lernens und Lehrens. Vielleicht ist aber ein Viertes das Wichtigste, daß die neurobiologische Forschung der letzten Jahre einerseits die frappierende Wirkung psychischer Vorgänge auf die Hirnphysiologie zeigt, wie daß schwere, gewöhnlich chronische Traumatisierung zu einer Störung des Kortikosteroidstoffwechsels und in deren Gefolge zu ganz sichtbaren Dauerveränderungen in den durch Imaging nachweisbaren Hirnfunktionen führt: „... andauerndes Erleben von affektiv nicht richtig eingestimmten Muttergestalten verhindert das Wachstum des kortikallimbischen Systems (extensive experience with an affectively misattuned primary caregiver creates a growth-inhibiting environment for a maturing corticolimbic system) ..., * sagt Allan Schore (JAPA, 1997, p. 830). Er spricht von „Defiziten in der Bewältigung von intensivem Affekt/ spezifisch einer „regulatorischen Dysfunktion in der orbitofrontalen Struktur." Andererseits hat sich aber auch die Reversibilität dieser Hirnveränderungen durch Psychotherapie erwiesen: „...die Fähigkeit für erfahrungsabhängige plastische Veränderung bleibt durch das Leben hindurch erhalten" (I.e., S. 831), ganz spezifisch im „präfrontal-limbischen Cortex/ Entsprechend der chronischen und wiederholten Natur der Traumatisierung ist es eben gerade die langdauernde intensive Behandlung, ja vielleicht sogar die Natur der freien Assoziationen, die entsprechende rückläufige Veränderungen bewirkt. Das heißt aber, in den Worten von Harry R. Brickman (Workshop, „Visiting Freud's Bedrock/ Amer. Psychoanal. Meeting, 12/15, 2000), daß jeder heilende (remedial) Prozeß, genau so wie jeder traumatisierende, selber schon psychosomatisch ist. Ja, sogar der Begriff psychosomatisch sei insofern irreführend, da er, in den Worten von Steven Roose, „den Körper-Geist-Dualis161
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mus auf den Thron setzt/ Körper und Seele bilden eine untrennbare Einheit, das Psychische sei selbst schon auch biologisch; im Denken von Erich Kandel müsse die Psychoanalyse ihre Wurzeln in der Biologie entwickeln, sonst verschwinde sie. Trennung von Soma und Psyche ist immer fragwürdig, und man kann vielleicht eher von einem Mehr oder Weniger in den relativen, doch komplementären Anteilen sprechen. Insbesondere ist jeder Affekt psychosomatisch, und insbesondere jede globale Affekt, der Affektsturm, mit der dabei auftretenden Bewußtseinsveränderung. Aber gerade der letzte Gedanke führt zu einer weiteren wichtigen Frage: Wenn wir an die entscheidende Rolle solch globaler Affekte für die Psychopathologie wie für die Psychosomatik denken, führen wir damit nicht wiederum ein quantitatives Element in unsere Theorie ein? Kehren wir damit nicht zum ursprünglichen Freudschen ökonomischen oder Energie-Modell zurück, auch wenn wir vorsichtig genug sind, dabei nicht in hydraulischen Metaphern, in Begriffen von Entladung und Energiebesetzungen und Neutralisierungen und verschiebbaren Quantitäten zu sprechen? Mir selber scheint tatsächlich dieses alte Energiemodell zwar unbefriedigend, und doch kommen wir nicht darum herum, in diesem Bereich quantitativ, d.h. in einer ökonomischen Metapher zu reden (s. auch Gedö, 1997, Forsberg, 1997). Shevrin sagt daher, der Energiebegriff sei sowohl nützlich wie angemessen und beziehe sich wohl auf etwas Reales (1997, S. 850). Dasselbe kann nach Schore über den in den letzten 20 jähren so entwerteten Triebbegriff gesagt werden: er sei nach den neuesten psychobiologischen und neurobiologischen Studien ein zentrales Konstrukt der psychoanalytischen Theory (1997, S. 827). Wenn wir demnach über Energie sprechen, beziehen wir uns auf Affekte und von ihnen unabhängige Triebe, v.a. deren Zuviel, deren Zuwenig und deren Konflikte miteinander; sie sind sowohl biologisch wie auch psychologisch höchst bedeutsam und wirkungsvoll, und zwar von Anbeginn an, z.T. unabhängig von Objektbeziehungen; ihre ursprüngliche Natur ist in Körpervorgängen zu suchen, die mit Sinnhaftigkeit ausgestattet werden. Dies führt nun zu einer psychoanalytisch überaus wichtigen Gleichung.
Eine archaische Gleichung Wilma Bucci (1997, Psychoanalytic Inquiry, 17:151-172) beschreibt einen nonverbalen, subsymbolischen Modus der Kodierung (encoding) emotionellen Erlebens, der zugleich sensorische, somatische und motorische Komponenten umfaßt. Dieser Modus besteht gleichzeitig und parallel zu einem non-verbalen, symbolischen, bildhaften Modus und einem verbalen symbolischen Modus. Traumatisierung führt zu einer pathologischen Dissoziation zwischen diesen drei Modi, fügt Lichtenberg hinzu (Kap. 7, „Transference as Communication: The Language of the Body/' in einem neuen, noch nicht publizierten Werk), während die Behandlung Verbindungen zwischen den dissoziierten Modi schaf162
DIE VERNICHTENDE GEWALT DER ABSOLUTHEIT PSYCHOSOMATISCHE PROBLEME IN DER PSYCHOANALYSE DER SCHWEREN NEUROSEN"
fe (s. dazu auch Fonagy & Target, 2000, Internat. Journal of Psychoanalysis, Vol. 81, S. 856). Fassen wir nun denselben traumatogenen Vorgang im dynamischen Begriff der Affektregression (ich fasse kurz zusammen, was ich in meinen Büchern mehrfach ausgeführt habe): Schwere, sich wiederholende Traumatisierung bringt es, nach Henry Krystal, mit sich, daß jedes emotionelle Erleben die Wiederkehr des Traumas ankündige. Es kommt zum (gewöhnlich partiellen) affektiven Entwicklungsstillstand, der die Differenzierung, Verbalisierung und Desomatisierung der Emotionen verhindere und die Affekttoleranz vermindere. Als Resultat werden später dann die erregten Gefühle rasch überwältigend, entgleiten der inneren Kontrolle; sie werden 1. global, d.h. entdifferenziert, 2. entziehen sie sich der Symbolisierung, d.h., sie werden deverbalisiert, und 3. werden sie so empfunden, als wären sie körperlicher Natur, d.h. sie werden resomatisiert. Entdifferenzierung, Deverbalisierung oder Hyposymbolisierung und Resomatisierung sind die Merkmale der Affektregression (Krystal). Dazu wird aber Sexualisierung als archaische Abwehr eingesetzt, um Affekte zu regulieren. Diese Überflutung mit Affekten, zusammen mit der sehr urtümlichen Abwehr durch Sexualisierung, führt zu einer überwältigenden Empfindung des Sichschämens, der Demütigung: Keine Kontrolle über das eigene Gefühlsleben zu haben, ist Ursache tiefster Scham (wie wir es unten in einem literarischen Beispiel und hernach im Fallauszug sehen werden). Als weitere Abwehrfront werden dann aggressive Wünsche, Impulse und Phantasien als Mittel zur Wiederherstellung der Kontrolle eingesetzt; sie sollen den weiteren Absturz in jener regressiven Spirale aufhalten. Das Ergebnis solch schwerer Störung der Affektregulierung ist eine archaische Gleichsetzung, deren Erkenntnis und in Wortefassen ich immer wieder als sehr hilfreich erfahren habe. Es ist die Gleichung 1. von Überstimulierung durch etwas Äußeres, das als traumatisch, als unerträglich erlebt wird und dem man sich hilflos gegenüber gestellt und damit passiv sieht, 2. überwältigenden, widerstreitenden Gefühlen, und damit der Empfindung des Platzens, „ich halte es nicht mehr aus", 3. des Verschlingenden, Verzehrenden, also Bildern der Oralität, 4. von sexueller Erregung, und 5. von aggressiven Phantasien und Gewalttätigkeit, ja Grausamkeit Diese archaische Gleichsetzung von traumatischen Gefühlsstürmen, Sexualisierung und Aggression führt sowohl zu globalen Formen der Abwehr, namentlich von Verleugnung, Externalisierung und Projektion und damit zu den immer wieder beobachtbaren dissoziativen Phänomenen. Gleichzeitig führt sie aber auch zu massiven Gegenmaßnahmen durch das Überich im Sinne der gleichen Absolutheit, nämlich in Gestalt von durchdringenden, verinnerlichten und globalen Schuld- und Schamgefühlen. Ein guter Teil dieser Hypertrophie des Überichs wird durch die Allmacht der Verantwortlichkeit als Abwehr gegen die traumatische Hilflosigkeit begründet: „Es liegt völlig an mir, das Schreckliche zu verhindern. Tritt es ein, ist es ganz und gar meine Schuld." 163
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Hinter der Überichthematik leuchtet daher, in der Schichtung der Psychodynamik, jene Gleichung und damit der Kern der chronischen Traumatisierung auf. Auch diese muß in pauschaler Weise sowohl durch Verleugnung wie durch Sexualisierung abgewehrt werden. Das Verstehen und Angehen von innerem unbewußtem Konflikt ist m.E. für die Behandlung der psychosomatischen Störungen ebenso bedeutsam wie für die der Neurosen überhaupt. Das heißt, daß dabei mindestens eine der im Konflikt stehenden Grundkräfte abgewehrt, eben unbewußt ist. Sehr häufig sind dies Aspekte von Überichfunktionen und diese ausdrückende Affekte, wie Scham und Schuld. Eine Patientin mit schwerer Bulimia spricht davon, wie sie sich an rigide Strukturen klammere. Die Unsicherheit sei so schwer auszuhalten. Wenn die Kinder sie unsicher machen, flüchte sie sich ins Fressen und Brechen oder verprügle sie in maßloser Wut. Sie brauche den festen Rahmen und ertrage keine Flexibilität. Sie müsse ganz im System bleiben. Die Erklärung dafür liegt darin, daß bei jedem Anstoß, eben jeder Unsicherheit, jedem Konflikt, ihre Affekte sofort überwältigend, also traumatisch werden. Mit dieser Affektregression kommt zugleich eine kognitive Regression: „Ich weiß nicht, was das bedeuten soll/ ein Konflikt über die Bedeutung. Das Wort „Unsicherheit" steht für beide Seiten der Regression: sie erlebt sich sogleich als dumm. Diese „Dummheit" oder „Verwirrtheit" ist Ausdruck der Denkstörung und damit der wenigstens partiellen und passageren Dissoziation. Als Schutz dagegen braucht sie dann die Starre des Rahmens, und zu deren Garanten wird das Überich eingesetzt. Wiederum soll das starre, autoritäre, analsadistische, in absoluten Kategorisierungen urteilende Überich Halt bieten im Sturm der Affekte und deren Sexualisierung und dem aggressiven Toben Einhalt bieten. In der Quälerei, die sie gegen andere wie sich selbst richtet, steckt auch viel Lust - als Abwehr, etwa im Sinne: Lieber Lust als Angst (pers. Mitteilung von Dr. Grüneisen). Das starre Überich kann dabei als Schutz gegen die überwältigenden Affekte und gegen die kognitive Regression, gegen die erlebte Mystifizierung angesehen werden: „Wenn ich soll und muß, weiß ich wenigstens, was ist. Und ich baue damit eine Wand von Entfremdung auf gegen die inneren Stürme: Das bin ich ja gar nicht. Der Andere ist es." Die Unsicherheit in der affektiven und kognitiven Regression bedeutet Selbstverlust, und das Fressen ist ein Protest dagegen, eine trotzige Autonomiebehauptung, und das Sich-Erbrechen ist die Buße dafür. Das Fressen kann etwa in dem Sinne verstanden werden: „Ich will totale und ganz konkrete Kontrolle über ein Ding haben, wenn ich schon gar keine Macht über meine Gefühle gewinnen kann." Das konkrete Ding steht dabei sowohl für die überflutenden Affekte wie für die Objektbeziehungen, die diese Affekte auslösen. Im Erbrechen wie in der Trance, dem veränderten Bewußtseinszustand, wird alles in einen Nebel getaucht, die heftigen Affekte sind weg. Sie erstickt die Gefühle mit der Fresserei. 164
DIE VERNICHTENDE GEWALT DER ABSOLUTHEIT PSYCHOSOMATISCHE PROBLEME IN DER PSYCHOANALYSE DER SCHWEREN NEUROSEN"
Die vernichtende Gewalt der Absolutheit In Dostoievsky's „Idiot" sagt der todkranke Ippolyt: „Wissen Sie denn, daß, wenn nicht diese Schwindsucht dazwischengekommen wäre, ich mich selbst getötet hätte..." (russ. S. 347, dt., modif., S. 339). Nach dem Durchbrechen seiner tiefsten Gefühle über seinen bevorstehenden Tod und angesichts des Großmuts von Myschkin, den er eben noch einen Heiligen genannt und der ihm all seine Hilfe angeboten hatte, erhebt er sich „mit dem Ausdruck der schrecklichsten Scham, die fast schon an Verzweiflung grenzte, auf dem Gesicht" und schreit ihm zu: „So wißt, wenn ich überhaupt jemanden hier hasse,... hasse ich Sie, Sie jesuitische, schleimige, kleine Seele, Sie Idiot, Sie mildtätiger Millionär, am meisten von allen, am meisten von allem auf der Welt!... Sie haben einen Sterbenden gezwungen, sich bitter schämen zu müssen, Sie, Sie, nur Sie sind schuld an meinem schändlichen Kleinmut! Ich würde Sie töten, wenn ich am Leben bleiben sollte!" ... „Schämt sich seiner Tränen!" flüstert Lebedew, der Hausherr (russ. S. 349, dt. modif. S. 341/2). Hier wird eine enge Beziehung geschaffen, nicht unbedingt kausaler Art, doch als Sinnzusammenhang zwischen tödlicher Erkrankung an Tuberkulose und Selbstmord, überwältigender Scham und Schambereitschaft, und der daraus resultierenden mörderischen Wut. Sowohl die Affekte wie die somatische Erkrankung erscheinen in ihrer totalen Form. Über diese Sequenz von Traumatisierung, Affektregression, Sexualisierung und Aggression möchte ich jetzt anhand eines besonders schwierigen Falles sprechen, doch nur das herausgreifen, was im jetzigen Zusammenhang von Interesse ist. Es handelt sich um eine unter anhaltender, schwerer Depression und Depersonalisation, sowie chronischer Angst, Angstanfällen und Alkoholabusus sowie mannigfachen Schmerzsymptomen, episodisch markanter Hypertonie und Hörstörungen leidende Patientin. Sie selbst sieht die somatischen Erscheinungen, ich glaube zuweilen in übersteigerter Weise, als rein oder vorwiegend psychogen an. Gwen war in ihrer Kindheit stark mißhandelt worden. Sie durfte nicht versagen, dafür mußte sie sich zutiefst schämen. Sie durfte aber auch nicht Erfolg haben, denn dafür war sie schuldig; so erregte sie den Neid von Mutter und jüngerer Schwester. Alles sei entweder Unwert oder aber Hybris. Der weitgehend unbewußte Gewissenskonflikt besteht zwischen dem Ideal der Stärke, gegenüber Schwäche, und dem Ideal der Bravheit, gegenüber jeder Form von Aggression. Zwischen so massiver Scham und ebenso schwerer Schuld fühlt sie sich gelähmt, verwirrt und als ob sie nicht existierte, oder daß sie verrückt werde oder sterbe. Ich vergleiche ihr Leben mit der Wanderung auf einem ganz kleinen und immer schmaler werdenden Gratpfad, mit Abgrund links und Abgrund rechts. „Ich bin überhaupt nicht berechtigt zu existieren." Ihre Wut, ihr Haß und ihre Abscheu 165
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werden gleichsam von ihrem inneren Richter übernommen und gegen ihr eigenes Selbst gerichtet, so daß sie immer wieder äußerlich wie innerlich, in Vergangenheit wie Gegenwart als Opfer endet. Die Absolutheit des Urteils erstickt gleichsam das Weiterleben. Dahinter lauert die Globalität ihrer Affekte, und wiederum dahinter die chronische Traumatisierung. Dazu kommt die Angst, daß die Realität verschwinde oder sie ermordet werde, der Handwerker ein Frauenmörder sei. Alles wird in Richtung von Verschwörung, die Bösen draußen, und sie selbst als das Opfer umgedeutet. Das hauptsächliche Problem während unserer Arbeit waren ihre oft schweren und bedrohlichen Trinkexzesse. Als sie zu mir kam, war sie in schrecklichem Zustand, völlig arbeits- und funktionsunfähig, immer wieder dem Alkohol verfallen, obwohl sie nie betrunken in die Stunden selbst kam, nur mit dem bitteren Nachgefühl, der Gereiztheit, den Selbstanklagen, Verdächtigungen und Verwünschungen gegen alle und alles. Sie war auch überzeugt, ihr Vater habe sie in ihrer frühen Kindheit sexuell mißbraucht, vermochte sich aber an keinen solchen Vorfall zu erinnern. „Nach außen hin erschien die Mutter als eine ganz feine Person, begabt, künstlerisch, klug, redegewandt, hübsch. Das war nur ihre äußere Hülle. Darunter verbarg sich unheimlich viel Schmutz, sexueller Schmutz, auch Exhibition und perverse, mörderische Phantasien. Ich habe ein Muttermal am linken Bein. Sie fragte: 'Wo kommt dieser Fleck her?' Wie vor Gericht. 'Es ist gut, daß du diesen Fleck hast. Es könnte ja sein, daß du entführt und verstümmelt wirst, und dann kann man die Leiche identifizieren.' Ich finde das sehr,pervers. Der Großvater war Nazianhänger, SS-Mann, ein abscheuliches Monster, brüllte ständig, eine ekel- und furchterregende Erscheinung. ... Er war ein sehr brutaler Mann, der meinen Vater mißhandelt hat. Mein Vater hatte einmal einen Unfall und wurde dafür von ihm zusammengeschlagen ... Im Grunde ist mein Vater genau so [wie der Großvater]: dieses Lügen und Vertuschen und Mißbrauchen/ Der Vater mißhandelte sie körperlich schwer, die Mutter mehr durch Verachtung und dem Hohn, sie sei verrückt und gehöre in die Anstalt oder durch Schuldzuweisung, daß Gwen sie ins Grab bringe. Sie äußert in immer größerer Eindringlichkeit die ständig stärker werdende, beinahe wahnhafte Überzeugung, daß ich sie für dumm halte, das Interesse an der Analyse verliere und mich von ihr abwende - auch hier wieder ein Hinweis auf die Zentralität der „Trance", also der Dissoziation, und damit die Schamübertragung: man spürt, ganz allgemein, diese kognitive Regression ebenso wie die Affektregression, als etwas überaus Demütigendes, Beschämendes. Die Rachephantasien sind sehr stark und bedrohlich. Über die frühere Therapeutin und den Vater sagt sie: „Ich könnte sie alle beide umbringen... Ich war immer an allem schuld... Wenn ich die Allmacht der Gedanken hätte, würde ich 166
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ihn durch meine Gedanken in den Tod treiben... Ich sollte ihm das Messer in den Leib stechen... Wenn ich nicht dafür bestraft würde, brächte ich ihn eiskalt um, ohne Gefühl. Einmal habe ich ihn mit dem Messer bedroht." Ich gebe nun einen Ausschnitt aus einer Stunde nach ungefähr einem Jahr der Behandlung: Die Angst sei gewichen; dafür spüre sie schwere, lähmende Depression und Depersonalisation. „Eine imaginierte Geisterfigur schlägt auf mich ein." Doch ist es immer das Gefühl, die wirklich äußerst schmerzhafte Empfindung, sie breche in der Mitte auseinander. Es sei, wie wenn jemand versuche, ihr die Wirbelsäule zu brechen, wie ein Stich mit einem Messer oder ein Schlag mit einem Gegenstand. Ich gebe zu bedenken, es könne entweder in der Tat, wie sie postuliert, die Erinnerung an ein Trauma sein, das nun dort ganz konkret wieder erlebt werde, oder es könne eine symbolische Bedeutung haben: „Ich breche in zwei Identitäten auseinander." Ihr leuchtet diese zweite Möglichkeit als solche ein, plädiert aber für die erste, entsprechend der beherrschenden Abwehr durch Externalisierung, bei der jeder innere Konflikt in einen äußeren verwandelt wird. Doch nun bringt sie eine faszinierende Erweiterung des Themas, die das dynamische Verständnis entscheidend vertieft: Sie spricht eingehend über das Märchen von der Meerjungfrau: „Sie mußte sich den Körper mit dem Schwert durchtrennen lassen und dann wuchsen ihr Beine statt des Schwanzes. Als Kind hatte ich die umgekehrte Phantasie: daß ich mich in die Meerjungfrau verwandle, den Körper durchtrenne und einen Fischschwanz bekäme, und ich könnte im Meer leben. Als ich das Märchen [in der früheren Therapie] erzählte, bekam ich die Rückenschmerzen ganz extrem; es war qualvoll." Ich frage sie, wie sie die Bedeutung des Märchens für sie deute. „Ich habe etwas in mir getragen, wie eine verborgene Liebe, wahrscheinlich sogar zu meinem Vater, wie eine Illusion." „'Es bricht mich in zwei Hälften, in zwei Selbst.'" „Nein, nein! Noch was anderes: das Eigentliche ist, daß es darum geht, die Liebe zu realisieren, aber daß das unmöglich ist und mit dem Tod des Prinzen oder der Jungfrau enden muß. Ich aber wollte den Tod des Prinzen, im Märchen war es die Jungfrau. Ich wollte den [treulosen] Prinzen unter die Erde bringen. Das Entscheidende ist das Unerreichbare der Beziehung, die Sehnsucht nach der Liebe.... Für mich ist es die Sehnsucht nach der Liebe zu einem Mann und die Unmöglichkeit, sie zu gewinnen. Ich habe auch nicht die Bereitschaft, mich dafür masochistisch aufzuopfern und mein Leben hinzugeben für den blinden Prinzen, sondern ich hätte ihm das Messer in das Herz gestochen." „Und da haben wir auch den stechenden Schmerz." „Und der ist jetzt auch ganz verschwunden. Der Wunsch zuzustechen, lieber den andern zu töten, als masochistisch hinzusiechen/ „Das ist wahrscheinlich die Deutung des Schmerzes." 167
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„Doch gegen mich gerichtet." „Die Wendung der Aggression gegen Sie selbst." Sie geht sofort über auf Wahrnehmungsstörungen, wie sie, wie in Trance, fast blind dahinstolpere. Ich gebe dem von ihr Entwickelten jetzt eine breitere Deutung: „Die zwei Identitäten, in die Sie auseinanderbrechen, ist die der masochistischen Meerjungfrau und die der zustechenden Frau." In die folgende Stunde kommt sie ganz aufgebracht mit einem Crescendo der Anklagen, wobei ihre Phantasien zu Überzeugungen werden und die Grenze zwischen dem Aussprechen des Inneren mit Selbstreflektieren und unreflektiertem Angreifen überschritten wird. Die therapeutische Ichspaltung zwischen dem erlebenden und dem beobachtenden Ich wird aufgehoben. Der innere Konflikt wird zu einem äußeren Streit mit mir, nämlich zu einer paranoiden Anklage gemacht - als Abwehr der Übertragungsbedeutung jener Sehnsucht. Das innere Urteil wird mir zugeschrieben und als äußeres wenigstens momentan völlig geglaubt. Dabei versucht sie, mich deutlich gerade zu dem zu provozieren, wessen sie mich anklagt. Dazwischen hat sie immer wieder Momente der Einsicht, wo sie mir Recht gibt und auch weiteres zum Verstehen beiträgt. Aber der Übergang über jene Grenze zur Absolutheit und Konkretheit und wo die Phantasie zur unbezweifelten Realität, wo die freie Assoziation zum Wahn wird, geschieht immer wieder. Damit geht die Intensität der mörderischen Wut einher. Ihre Seelenblindheit mir gegenüber gibt mir ein absolutes Gefühl der Hilflosigkeit. Die massive Verleugnung von allem, was mit Grenzen zu tun hat, verstehe ich am ehesten als ihren Versuch, das Überich aufzuheben. Dahinter und darunter ist es die Verleugnung all der traumatisiecenden Erlebnisse, wobei ich nicht nur an die Gewalt denke, sondern daran, was sie als mörderischen Haß in ihrer Familie erlebte. Die Absolutheit der Verurteilung ist Ausdruck des totalitären Gewissens. Sie brach die analytische Arbeit für einige Monate ab. Gwens paranoide Grundeinstellung schien zumeist unerschütterlich, obwohl es nicht zu einem ausgebildeten Wahn kam. Mir schien es mehr ein Versinken im sadomasochistischen Sumpf zu sein als das Verfallen in einen Wahn. Die Verleugnung der Grenzen und die ständige Doppelheit von Teilnahme an unserer gemeinsamen Wirklichkeit und einem Leben in Allmacht und Ohnmacht, in absoluten Urteilen und globalen Affekten erwies sich bei Gwen als so stark, daß ich mich oft selbst in den Strudel hereingerissen fühlte. Nach dem Führerscheinentzug und ernsten, von ihr als psychosomatisch erkannten Symptomen von Blutdrucksteigerung und Neuralgie, kam es zur Wiederaufnahme der Therapie. Eine ganz wichtige Einsicht kam, als wir den Ablauf eines schweren Rückfalles von Trinken und Suizidalität mikroskopisch untersuchten. Sie hatte zuvor von der durchdringenden Scham vor mir darüber, daß sie das Gesicht verloren habe, gesprochen. In der Schamübertragung sieht sie alles in einem Zerrspiegel und 168
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führt es dann auch herbei, daß alle gegen sie sind. Es ist die Absolutheit, die unweigerlich zu Enttäuschung und Scham führen muß. Nun wird ihre Bewerbung für eine Stelle erneut abgelehnt. Zuerst verspürt sie ungeheuren Ärger. Doch dies wird dann, in der folgenden Stunde, abgelöst durch den Bericht: „Ich hatte einen totalen Rückfall; ein böser Dämon, der ergreift von mir Besitz. Und daß mir niemand helfen kann." Sie war durch die Absage sehr ins Loch gerissen, fühlte sich depressiv und gelähmt. Es war Beschämung. Sie war dann von einer Freundin eingeladen, fürchtete schon die Möglichkeit, daß ihr Wein angeboten würde. Sie wollte sich herausreden, sie mache eine Diät. „Es ist dasselbe Muster, das immer wieder passiert: daß ich eingeladen bin und dann trinke, um mir nicht die Blöße zu geben. Ich wußte es schon zum voraus und habe schon vorher hier etwas getrunken. Was mich belastet, ist, daß ich es nicht mit dem Alkohol sagen kann, wie mit dem Rauchen: nämlich daß ich süchtig bin. Es dreht sich im Kreis herum. Schon im Vorfeld habe ich getrunken." „Denken Sie nicht, daß es in alledem wieder die Scham ist: 1. die erlittene Beschämung, dann 2. die Angst davor stigmatisiert zu erscheinen, also erneut beschämt zu werden, und dann 3. die Beschämung vorwegzunehmen, sie einzuladen, indem Sie sich völlig betrinken, sie aktiv herbeizuführen." „Ich habe die Leute gehaßt, die mich dazu genötigt haben. Dann habe ich Unmengen getrunken und geraucht. Alles war zunichte. Ich dachte, ich komme nicht mehr weiter." „Lassen wir es auch nicht außer acht, daß Sie sich vor mir dann auf dem Boden wälzen:,Schau, welch Scheusal ich bin!' Vielleicht ist da noch ein 4. Schritt: der Wunsch, den anderen, also mich, zu beschämen." „Ich dachte, daß es mit Ihnen zu tun hat. Ich bin gescheitert; es sind jetzt schon 2 Jahre." „Daß ich inkompetent bin." „Das steckt bestimmt dahinter: von Ihnen als dumm betrachtet zu werden, und ich räche mich an Ihnen, indem ich mich unmöglich benehme. Das Schlimme ist nur, daß ich aus diesem Teufelskreis nicht herauskomme. Ginge ich in eine Klinik, würde es nur gleich wieder neu anfangen: es eine noch massivere Schamwiederholung. Es wird dort mit Beschämung gearbeitet." Der 3. und der 4. Schritt spielen sich ganz stark in der Übertragung ab. Diese Einsichten brachten nun eine, wie mir scheint, entscheidende Wende. Die Welt der Absolutheit ist eine Welt der totalen Affekte und der totalen Abwehr. Die dadurch geschaffenen zwei Welten, die der Phantasie und die der Realität, bedeuten Nein und Ja und stiften die Verwirrung, schaffen also den Ausnahmezustand, die Trance. Wegen der totalen Affekte und Abwehrarten zerfällt in der Dissoziation scheinbar die Persönlichkeit in kleine Stücke, in Frag169
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mente. Diese Fragmentierung ist aber, wie gesagt, äußerst beschämend. Der Schamaffekt wird selber ebenso überwältigend wie alle anderen traumatogenen Affekte, und der Circulus vitiosus ist kaum mehr zu durchbrechen. Ganz allgemein gilt dabei (und dies trifft auch sehr für Gwen zu), daß die Perversion die Abwehr der Schuld, insbesondere der Allmacht der Verantwortung bezweckt: „Ich bin nicht schuldig, und ich bin nicht verantwortlich. Ich fühle mich in den anderen gar nicht ein und verdingliche ihn ganz konsequent. Ich nehme alles ganz konkret, nicht deutend und bedeutungsvoll, denn damit kann ich das Eigenständig-Seelische und Personhafte des Anderen leugnen." So dient die Abwehr gegen das Symbolische der Abwehr gegen die Allmacht der Schuldhaftigkeit und indirekt der Abwehr gegen die Hilflosigkeit. Etwas ganz Ähnliches dürfte sich in Bezug auf die Scham abspielen: Die „Idealforderung - den ideale forderingen" (in Ibsens „Wildente") von Unverwundbarkeit, Stärke und Bewunderung beinhaltet dieselbe Grenzenlosigkeit und muß zur gleichen überwältigenden Beschämung führen, die die menschliche Welt verdinglichen und das Symbolische und Innerseelische im Anderen ausblenden: die Grenze zwischen Realitätsprüfung und wahnhafter Verzerrung wird beständig verletzt. Sie ist momentan völlig davon überzeugt, daß ich sie für dumm und schmutzig halte, - eine ganz intensive Schamübertragung. Die Radikalität der Forderung an das Selbst ist aber selber nur eine Folge der totalen Hilflosigkeit, v.a. im Sinne der lähmenden Beschämung darüber, ein Nichts zu sein, schwach und verächtlich, nicht wert, gesehen zu werden. Das System der Perversion, wie übrigens auch das ihr nahe verwandte der Sucht, dient damit als großartige Abwehnstruktur gegen die Überichthematik (und nicht umgekehrt). Mit dem Agieren wird die Allmacht der Verantwortung verhüllt, die gewaltige Rettungsphantasie. Da dieser Gewinn so groß ist, sind diese Fälle so schwer zu behandeln. Ein Supertrauma, das plötzlich alles klarmachen soll und das unbedingt sexueller Natur sein muß, schirmt Gwen gegen die Komplexität ab, wie die Absolutheit aller Urteile, dieses totale Entweder-Oder, gegen die Differenziertheit schützt. Das Heilsein ist nur möglich, wenn es nicht darum geht, vollkommen zu sein und das Absolute von sich zu fordern, sondern einfach besser zu sein, und damit stetsfort Grenzen als notwendig anzuerkennen. Das archaische Überich mit seiner Absolutheit dient der primitiven Affektregulierung. Es ist eine wirkungsvolle Abwehr, aber zu ungeheurem Preis. Die dabei nötige Aggression, nämlich die massivste Selbstverurteilung, wird leicht von innen nach außen gewendet - als Haß, als Verachtung und v.a. als Vorwurf. Bei dieser Externalisierung ist es entweder der Überichteil, der draußen gesehen wird: „Sie verachten mich, sie wollen nichts mit mir zu tun haben, denn ich bin dumm;" oder es ist der Opferteil des Selbst, der Verurteilte, das Schamselbst, das
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draußen erlebt wird: „Sie sind an allem schuld. Sie helfen mir nicht. Sie sind unfähig/ Ich schließe diese Ausführungen zum Doppelthema der vernichtenden Gewalt der Absolutheit und des psychobiologischen Ganz- und Heilseins mit den folgenden Ausdeutungen der doppelten Schöpfungsgeschichte. Zu Beginn (1.1) heißt es: „Gott, Elohim, schuf Himmel und Erde." Der Gottesname Elohim stehe für Gott als Richter, der „nach dem Maß der Gerechtigkeit" schaffe, während es in der zweiten Schöpfungsgeschichte (2.4) JHWH Elohim heißt. JHWH stehe für Barmherzigkeit. Der mittelalterliche Kommentator Raschi erklärt: „Er sah, daß die Welt nicht Bestand hätte, wäre sie nur nach dem Maß der Gerechtigkeit. Er gab dem Maß des Erbarmens den Vorrang und verband es mit dem Maße der Gerechtigkeit/ Dazu gibt es den folgenden Midrasch: J H W H Elohim: Dies ist wie ein König, der leere Gläser hatte. Es sagte der König: ,Wenn ich heißes Wasser in sie gebe, brechen sie. [Gieße ich] kaltes [hinein], brechen sie.' Was tat der König? Er mischte das warme mit dem kalten und füllte sie, und sie blieben bestehen. Also sprach der Heilige, gepriesen sei er: Schaffe ich die Welt in der Dimension der Barmherzigkeit, werden ihre Sünden groß sein. [Schaffe ich sie] in der Dimension des strengen Rechts, wie kann die Welt bestehen? Doch ich erschaffe sie auf Grund von Recht und auf Grund von Barmherzigkeit, auf daß sie bestehen bleibe!"
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Literatur Brickman, H.R. (2000): „Revisiting Freud's 'Bedrock': Evolution and the Neurobiological Turn in Psychoanalysis." Aufsatz (precirculated paper), Tagung der Amer. Psychoanal. Ass. New York, 15. Dez. 2000 Bucci, W. (1997): Symptoms and Symbols: A Multiple Code Theory of Somatization. Psychoanal. Inquiry, 17: 151-172 Dostoievsky, F. M. (1868): Der Idiot, dt. Übers. J.v. Guenther. Otto Walter, Olten, 1956. russ. Ripol Klassik, Moskau, 1997 Fonagy, P. & Target, M. (2000): Playing with Reality: III. The Persistence of Dual Psychic Reality in Borderline Patients. Internat. Journ. Psycho-Anal. Bd 81: 853 - 873 Forsberg, C. (1997): Den ekonomiska synpunkten. Ett försvar av det psykiska energibegreppet, dess plats i teori och praktik. Almqvist & Wiksell International, Stockholm Gedö, J. Ε. (1997): Reflections on Theoretical Coherence. Journ. Amer. Psychoanal. Ass. 45: 779- 806 Krystal, H. (1997): Desomatization and the Consequences of Infantile Psychic Trauma: Psychoanal. Inquiry, 17: 126-150 Schore A.N. (1997): A Rapprochement with Neurobiology. Journ. Amer. Psychoanal. Ass. 45: 807-840 Shevrin, H. (1997): Analysis - High in Feeling, Low in Energy. Journ. Amer. Psychoanal. Ass.45:841-864
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IV. Spezielle psychosomatische Themen
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Probleme mit dem Helicobacter: Magenbeschwerden und Psychosomatik* Zusammenfassung Das Ulcus duodeni ist in über 90% der Fälle mit einer Infektion des Magens mit Helicobacter pylori assoziiert, für das Ulcus ventriculi beträgt die Assoziation ca. 70%. Ohne Eradikation des Bakteriums rezidiviert das Ulcus duodeni innerhalb eines Jahres bei zwei Dritteln der Patienten, das Ulcus ventriculi bei mehr als der Hälfte der Patienten. Durch die Eradikation von Helicobacter pylori können die Rezidivraten auf 0-6% verringert werden. Diese Daten belegen die Bedeutung der Infektion in der Genese des Ulkusleidens. Andererseits erkrankt nur einer Minderheit der Helicobacter pylori-infizierten Personen an einem Ulkus. Neben der somatischen Disposition kann eine chronische psychosoziale Streßbelastung als gesicherter Kofaktor der Ulkusentstehung angenommen werden. Dabei kommen mehrere möglicherweise bedeutsame Interaktionswege zwischen Streß und Helicobacter-Infektion in Betracht, für deren Bedeutung in der Ulkusgenese teilweise erste empirische Befunde vorliegen. Auch akute psychische Streßbelastungen werden mit der Ulkusmanifestation in Verbindung gebracht. Ebenso wie ein einseitig infektionszentrierter Zugang setzt sich ein heute überholtes rein psychogenetisches Verständnis der Ulkuskrankheit zu Recht dem Vorwurf des Reduktionismus aus. Statt dessen wird in jedem Einzelfall die relative Bedeutung infektiöser, somatischer und psychosozialer Kausalfaktoren zu überprüfen sein. Dieser biopsychosoziale Zugang eröffnet grundsätzlich die Möglichkeit gezielter psychotherapeutischer Interventionen bei bestimmten Ulkuspatienten, deren Evaluation im Rahmen systematischer Interventionsstudien allerdings noch aussteht.
Einleitung Das chronische Ulkusleiden gehört nach Meinung wahrscheinlich der meisten Psychosomatiker zu den klassischen psychosomatischen Krankheiten, zu denen Diese Zusammenfassung des Vortrags ist eine überarbeitete Fassung einer Veröffentlichung von M. Gross und Ch. Herrmann, Das Ulkusleiden - nur eine Infektionskrankheit? Zsch psychosom Med 1999;45:390-400 175
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zumindest früher auch die essentielle Hypertonie, das Asthma bronchiale, die atopische Neurodermitis, die Colitis ulcerosa, die Hyperthyreose und die chronische Polyarthritis gehörten („holy seven"). Zumindest sind viele Ärzte davon überzeugt, daß Ulzera meist nach belastenden Lebensereignissen eintreten. Seit der Entdeckung von Helicobacter pylori ist diese Position ins Wanken geraten. „The role of H. pylori as the major causative factor of ... peptic ulcer disease seems beyond refute" (Fennerty, 1994, S. 721). Ein Ulcus duodeni tritt fast ausschließlich bei Personen auf, die eine Besiedelung der Antrumschleimhaut mit dem Erreger Helicobacter pylori aufweisen (Marshall, 1994). Für das Ulcus ventriculi ist diese Assoziation zwar schwächer aber immer noch deutlich ausgeprägt. Insbesondere die Heilung des chronischen Ulkusleidens durch eine antibiotische Therapie scheint keinen Platz für psychosomatische Faktoren zu lassen, sondern spricht für das Ulkusleiden als eine Infektionskrankheit. Im folgenden sollen zunächst die epidemiologischen und infektiologischen Daten zusammengestellt werden, die den Hintergrund für die Sicht des Ulkusleidens als Infektionskrankheit darstellen. Anschließend wird versucht, die psychosomatischen Befunde zur Ulkuskrankheit vor diesem Hintergrund neu einzuordnen und Perspektiven für ein integriertes biopsychosoziales Verständnis der Ulkuspatienten aufzuzeigen.
Mikrobiologie und Epidemiologie der Helicobacter pylori-lnfektion In der Mukusschicht des Antrums und Corpus ventriculi von Patienten mit einem akuten Ulkus oder chronischen Ulkusleiden findet sich ein Bakterium, das zunächst aufgrund struktureller Ähnlichkeiten zu anderen CampylobacterSpezies als „Campylobacter pyloridis" oder „C. pylori" bezeichnet wurde. Später wurden besondere Eigenschaften gefunden und der neue Name Helicobacter pylori eingeführt. Rückblickend wurde es 1938 erstmals beim Menschen beschrieben (Doenges, 1938), aber die klinische Bedeutung wurde erst 1983 erkannt (Warren, 1983; Warren u. Marshall, 1983). Es handelt sich um ein spiralförmiges, gram-negatives Bakterium mit vier bis sechs Geißeln mit einer Größe von 0,5 χ 3,0 μητι. Mit Hilfe der Geißeln bewegt es sich in der Schleimschicht über der Magenmukosa und siedelt sich an der Grenzschicht zwischen Schleim und epithelialen Zellen an. Es kann in jedem Teil des Gastrointestinaltraktes mit Magenepithel gefunden werden, so beispielsweise im Magen selbst oder in metaplastischen Arealen im Ösophagus oder Duodenum. Eine Besonderheit dieses Bakteriums ist die Bildung von Urease, die Harnstoff in Ammoniak und Bicarbonat umsetzt. Hierdurch entsteht ein alkalisches Mikromilieu, welches das Bakterium vor der Magensäure schützt. In 176
PROBLEME MIT DEM HELICOBACTER: MAGENBESCHWERDEN UND PSYCHOSOMATIK
Anwesenheit von Harnstoff kann sich der Organismus deshalb bis zu einem pH von 4,3 vermehren und bis zu einem pH von 2,3 überleben. In westlichen Industrienationen wird ein Anstieg der Prävalenz der Helicobacter pylori-lnfektion mit zunehmendem Lebensalter beobachtet. Eine Infektion vor dem 20. Lebensjahr ist selten. Ab dem 60. Lebensjahr liegt die Prävalenz in der Größenordnung um 40-60% (Dooley et al., 1989; Perez-Perez et al., 1988; Marschall, 1994). Wahrscheinlich ist die Altersabhängigkeit der Prävalenz ein Kohortenphänomen (höhere Infektionsraten in früheren Jahrzehnten). Die jährliche Serokonversionsrate bei Erwachsenen ist niedriger als 1 % (Parsonnet et al., 1992). Es handelt sich um eine dauerhafte Infektion, die ohne Therapie jahrelang oder sogar lebenslang bestehen bleibt. Seit der Beschreibung von Helicobacter pylori in der Antrumschleimhaut von Patienten mit Ulcus duodeni vor über 15 Jahren (Warren υ. Marshall, 1983) hat sich in zahlreichen Untersuchungen gezeigt, daß nahezu alle Patienten mit einem Ulcus duodeni eine Besiedelung des Magens mit diesem Keim zeigen: In einer Metaanalyse über 15 Studien wurde eine Infektion mit Helicobacter pylori bei 92 % der Patienten mit einem Duodenalulkus und bei 73% der Patienten mit einem Magenulkus beschrieben (Tytgat υ. Rauws, 1990). Der Pathomechanismus, der zum Übergang der asymptomatischen Infektion in das Ulkus führt, ist bis heute allerdings nicht aufgeklärt. Die wenigen Patienten mit Duodenalulkus ohne Nachweis von Helicobacter pylori weisen fast ausnahmslos andere ätiologisch bedeutsame Faktoren wie beispielsweise die Einnahme von nicht-steroidalen Antirheumatika auf (Marshall, 1994).
Erfolge einer antibiotischen Therapie der Patienten Als zweiter Aspekt zur Einschätzung der Bedeutung von Helicobacter pylori für die Ulkuskrankheit sollen die Erfolge antibiotischer Therapieansätze dargestellt werden. Das akute Ulcus duodeni kann sowohl ohne antibiotische Therapie als auch ohne psychosomatische Interventionen durch konsequente medikamentöse Säureblockade meist rasch zur Abheilung gebracht werden. Aufgrund der hohen Rezidivrate schon innerhalb eines Jahres (etwa 65% aller Patienten mit einem Ulcus duodeni erleiden in diesem Zeitraum ein Rezidiv, Tennant et al., 1986) soll deshalb zur Beurteilung des Therapieerfolges die Rezidivrate herangezogen werden. In einer großen Metaanalyse (Hopkins et al., 1996) über 19 Studien und 892 Patienten mit Duodenalulkus betrug die Rezidivrate am Ende der Nachbeobachtung, die überwiegend ein Jahr betrug, 67% (Grenzen des 95 %-Konfidenzintervall: 63%-72%) für die Patienten, bei denen Helicobacter pylori durch eine 177
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antibiotische Therapie nicht erfolgreich eradiziert wurde. Für Patienten nach erfolgreicher Eradikation des Bakteriums hingegen betrug die Rezidivrate nur 6% (4%-9%). Für das Ulcus ventriculi wurden in dieser Metaanalyse über 222 Patienten Rezidivraten von 59% (49%-69%) für Patienten mit nicht erfolgreicher Eradikation und von 4% (1%-10%) nach gelungener Eradikation von Helicobacter pylori ermittelt. Die Studie mit der längsten Nachbeobachtungsdauer von bis zu zehn Jahren fand bei 141 Patienten mit Ulcus duodeni und 45 Patienten mit Ulcus ventriculi in keinem Fall ein Rezidiv nach erfolgreicher Eradikation (Van der Hülst et al., 1997). Diese Zahlen stellen einen deutlichen Hinweis auf die pathogenetische Bedeutung von Helicobacter pylori dar und scheinen gegen psychosomatische Zusammenhänge als wesentliche ursächliche Faktoren für das Ulkusleiden zu sprechen. Der Erfolg psychotherapeutischer Interventionen bei Patienten mit einem Ulkusleiden ist weit weniger gut untersucht. Nur sehr wenige kontrollierte prospektive Therapiestudien wurden veröffentlicht. Die Erfolge in bezug auf die Rezidivverhinderung sind dabei meist nur gering. Beispielsweise konnte in einer randomisierten prospektiven Therapiestudie eine kognitive Kurzzeit-Psychotherapie (zehn Sitzungen in vier Monaten) keinen Effekt auf die Rezidivrate des Ulcus duodeni zeigen (Wilhelmsen et al., 1994). Eine andere prospektive, kontrollierte und randomisierte Therapiestudie mit kognitiver Psychotherapie an 28 Ulkuspatienten wurde nach zehn Wochen abgebrochen, als 72% der Psychotherapiegruppe aber nur 29% der Kontrollgruppe ein Ulkusrezidiv erlitten (Wilhelmsen et al., 1990). Dies deutet freilich auf eine wenn auch erwartungswidrige Bedeutung psychischer Faktoren für die Rezidiventstehung hin.
Rückgang psychosomatischer Forschung über das Ulkusleiden Mit der Identifikation von Helicobacter pylori als ätiologisch bedeutsames Agens für das Ulkusleiden scheint dieses Krankheitsbild für die Psychosomatiker an wissenschaftlichem Reiz verloren zu haben. Diese Aussage stützt sich auf eine Analyse der Zahl wissenschaftlicher Publikationen zu diesem Thema im zeitlichen Verlauf. In der Medline-Datenbank wurde für die Zeiträume 1966-1975, 1976-1985 sowie 1986-1996 die Anzahl der Veröffentlichungen zu folgenden Themen ermittelt: • Ulkus allgemein (Suchbegriffe: duodenal ulcer, peptic ulcer, stomach ulcer) • Psychosomatik und Psychotherapie (Suchbegriffe: psychosomatic, psychophysiologic, psychosomatic medicine, psychotherapy, behavior-therapy, psychoanalysis ) 178
PROBLEME MIT DEM HELICOBACTER: MAENBESCHWERDEN UND PSYCHOSOMATIK
• Schnittmenge therapie)
beider
Suchstrategien
(Ulkus
und
Psychosomatik/Psycho-
Dabei zeigt sich, daß sich die Anzahl der Publikationen sowohl über das peptische Ulkus als auch über Fragen der Psychosomatik und Psychotherapie auf einem gleichbleibend hohem Niveau bewegt (Tabelle 1). Veröffentlichungen zur Psychosomatik oder Psychotherapie bei peptischen Ulzera gehen jedoch in ihrer' Häufigkeit deutlich zurück.
Tabelle 1: Literaturrecherche in der Medline-Datenbank über Publikationen zur Ulcera duode oder ventriculi und Psychosomatik (genaue Suchbegriffe s. Text)
in der Medline abgefragte Kategorien (Suchbegriffe s. Text) Zeitraum
Ulkus (allgemein)
Psychosomatik oder Psychotherapie
Schnittmenge von Ulkus und Psychosomatik/Psychotherapie
Ulkusbehandlung (allgemein)
Psychotherapie bei Ulkus
1966-1975
13.064
16.487
209
656
41
1976-1985
13.884
18.012
149
727
30
1986-1996
13.553
16.569
92
729
18
In einer weiteren Analyse wurde die Zahl der Veröffentlichungen entweder zur Therapie der Ulzera allgemein (unabhängig von der Therapieform) oder zur Psychotherapie bei dieser Krankheit ermittelt. Folgende Suchbegriffe wurden verwendet: • gesamte Ulkustherapie (Suchbegriffe: duodenal ulcer/therapy, peptic ulcer/ therapy, stomach ulcer/therapy) • Psychotherapie bei Ulkus (Schnittmenge von duodenal ulcer, peptic ulcer, stomach ulcer und psychotherapy, behavior-therapy, psychoanalysis ) Die ohnehin begrenzte Anzahl von Veröffentlichungen zur Psychotherapie bei Ulzera zeigt einen starken Rückgang (Tabelle 1). Die Gesamtzahl der Arbeiten über die Therapie dieser Erkrankung steigt hingegen mit der Zeit geringfügig an. Offensichtlich verliert die Psychotherapie bei Patienten mit peptischen Ulzera an wissenschaftlicher Bedeutung. Hinzu kommt, daß die Mehrzahl dieser Veröffentlichungen keine Therapiestudien darstellt, sondern es sich meist lediglich um Übersichtsarbeiten handelt, in denen die Frage der Psychotherapie mehr oder weniger kurz gestreift wird. 179
ROSS
Helicobacter pylori als notwendige Voraussetzung, psychische Faktoren als manifestationsfördernde Einflüsse? Die epidemiologischen Daten sowie die Erfolge von Eradikationstherapien sprechen für die Bedeutung der Helicobacter pylori-lnfektion in der Genese insbesondere des chronischen Ulkusleidens aber auch des akuten Ulkus, soweit nicht medikamentös induziert. Für psychosomatische Fragestellungen scheint auf den ersten Blick wenig Platz zu bleiben. Andererseits können durch den infektiologischen Ansatz nicht alle Phänomene erklärt werden (vgl. Weiner 1998). Die Mehrzahl der Patienten mit Ulcus duodeni hat die Infektion mit Helicobacter pylori bereits in der Kindheit erworben, aber sie erkranken erst Jahrzehnte später an einem Ulkus. Was entscheidet darüber, wann sich das Ulkusleiden manifestiert? Diese Frage kann von dem infektiologischen Ansatz ebenso wenig beantwortet werden wie die Frage, warum nur eine Minderheit der Helicobacter-besiedelten Personen jemals ein Ulkus entwickelt. In westlichen Industrieländern beträgt die Prävalenz der Helicobacter-lnfektion bei Personen vor dem 30. Lebensjahr etwa 10-20%, steigt dann pro Lebensjahr etwa um 1 % an, und erreicht einen Wert über 50% bei Personen ab dem 60. Lebensjahr (Graham et al., 1991). Das Risiko, im Laufe des Lebens ein peptisches Ulkus zu entwickeln, liegt hingegen bei etwa 10% (Soll, 1993). Welche Faktoren entscheiden darüber, welche Helicobacter-besiedelte Person wann ein Ulkus entwickelt? Die Beantwortung dieser Frage muß weitere Aspekte als lediglich die Fcage der Helicobacter pylori-lnfektion berücksichtigen. Diese haben Lewin und Lewis (1995) in ihrer Übersichtsarbeit zusammengestellt. An somatischen Risikofaktoren nennen sie genetische Faktoren wie beispielsweise das Vorliegen der Blutgruppe 0 oder einer autosomal-dominant vererblichen Hyperpepsinogenämie. Ulcera treten gehäuft auf bei einer Reihe akuter oder chronischer Erkrankungen sowie schweren Verletzungen. Auch Genußmittel wie Kaffee, Alkohol und Zigaretten können auf physiologischem Weg die Ulkusentstehung begünstigen. Neben letzteren, indirekt psychisch beeinflußten Verhaltens-Risikofaktoren können jedoch auch psychosomatische Prozesse im engeren Sinn Bedeutung erlangen. Seit über 150 Jahren ist bereits bekannt, das psychische, insbesondere emotionale Vorgänge, die Magenfunktion beeinflussen: 1833 beobachtete der amerikanische Militärarzt William Beaumont bei seinem Diener, der nach einer Schußverletzung eine Magenfistel aufwies, Zusammenhänge zwischen psychischen Vorgängen und der Magensekretion und -motorik (zitiert nach Becker; 1983). 1943 berichteten Wolf und Wolff bei einem Labordiener mit Witzel-Fistel und hernienartiger Vorwölbung der Magenschleimhaut eine Steigerung von Säuresekretion und Magenmotilität in Streßsituationen, bei Ärger und Wut (Wolf u. Wolff, 1943). In psychoanalytischen Interviews unter gleichzeitiger röntgenologischer 180
PROBLEME MIT DEM HELICOBACTER: MAGENBESCHWERDEN UND PSYCHOSOMATIK
Beobachtung der Magenmotilität wurden fast nur bei Ulcus-duodeni-Patienten und nicht bei gesunden Kontrollpersonen bei der Besprechung von Neid-ÄrgerThemen spasmenartige Antrumkontraktionen beobachtet. Bei der Besprechung belangloser Themen traten diese Innervationsstörungen nicht auf (Zander, 1978). Ausgehend von den ersten unsystematischen Beobachtungen haben in der Vergangenheit zahlreiche Arbeitsgruppen versucht, das Ulkus als Folge einer spezifischen Persönlichkeitsstruktur, spezifischer intrapsychischer Konflikte oder bestimmter psychischer Störungen zu beschreiben. Die teilweise berichteten positiven Beziehungen der genannten psychischen Variablen zur Ulkusentstehung sind jedoch aufgrund widersprüchlicher Befunde und methodischer Mängel der meisten Untersuchungen angezweifelt worden. So kommen Lewin und Lewis (1995) zu dem Schluß, daß ein gesicherter Zusammenhang zur Ulkuserkrankung weder für spezifische Persönlichkeitsstrukturen oder intrapsychische Konflikte noch für bestimmte psychische Störungen als gesichert gelten kann. Auch in den aktuellen psychosomatischen Lehrbüchern (Uexkül 1996) wird das Konzept von der „Ulkuspersönlichkeit" (Dunbar, 1948) nicht mehr aufrechterhalten. W. Zander stellte nach seinen eingehenden Untersuchungen an Ulkuspatienten fest, daß „die Persönlichkeitsstruktur des späteren Ulcuskranken zwar relevant aber nicht spezifisch" sei (Zander, 1977, S.96). Als einzigen, im Vergleich zu somatischen Einflüssen aber nur mäßig starken psychosozialen Risikofaktor akzeptieren Lewin und Lewis (1995) das Vorliegen schwerer, chronisch belastender Lebenssituationen bzw. -ereignisse. Wie sie zeigen, konnten unter anderem chronische Frustrationen von Lebenszielen mehrfach mit Ulkusentstehung bzw. -komplikationen in Verbindung gebracht werden. Psychophysiologische Einflüsse auf die Ulkusentstehung wurden in den vergangenen Jahrzehnten zwar eingehend erforscht (Tennant, 1988), meist aber ohne daß in diesen Untersuchungen der Helicobacter-Status berücksichtigt wurde. Retrospektiv ist daher kaum zu sagen, in welchem Ausmaß die vermeintlichen psychophysiologischen Effekte durch die Folgen einer Infektion mit Helicobacter pylori beeinflußt waren. Die Möglichkeit einer Interaktion psychischer und infektiöser Kausalfaktoren wurde erst in jüngster Zeit insbesondere von der Arbeitsgruppe um Levenstein diskutiert. Diese Arbeitsgruppe hat auch als eine der ersten empirisch die Beziehungen zwischen psychosozialen Faktoren, Helicobacter-Infektion und Ulkusentstehung untersucht. Dabei fanden sie unter Ulkuspatienten mit mehreren somatischen Risikofaktoren oder hohen Helicobacter-Antikörpertitern nur eine geringe psychische Risikobelastung. Andere Patienten wiesen dagegen kaum somatische Risikofaktoren, jedoch mehrere psychische Belastungen auf (Levenstein et al., 1995). Diese Ergebnisse wurden so interpretiert, daß sowohl somatische als auch psychosoziale Risikofaktoren zur Ulkusentstehung beitragen kön181
GROSS
nen. Je mehr somatische Risikofaktoren vorliegen, umso weniger psychosoziale Auslöser sind für das Auftreten eines Ulkus erforderlich. Umgekehrt können ausgeprägte psychosoziale Belastungen auch bei Personen ohne somatische Risikofaktoren die Ulkusentstehung begünstigen. Wie bei vielen möglicherweise psychisch beeinflußten Erkrankungen würde damit auch bei der Ulkuskrankheit gelten, daß es sich nicht um ein homogenes Krankheitsbild handelt, sondern daß die relative Bedeutung psychosozialer und somatischer Risiken von Patient zu Patient variiert (Spiro, 2000). Passend zu einem solchen Konzept der Interaktion aus somatischen und psychosozialen Faktoren sind Befunde, daß bei einem Teil der Ulkuspatienten mit gängigen Meßinstrumenten keine Hinweise auf relevante psychosoziale Störungen zu finden sind. In Untersuchungen an Patienten mit kürzlich aufgetretenem Ulkus berichteten 62% über keine belastenden Lebensereignisse, 40% hatten unauffällige Profile im MMPI, und 32% hatten Skalenwerte für Angst oder Depression unter dem Medianwert von Kontrollpersonen. 25% der Patienten hatten in keinem dieser Instrumente auffällige Werte (Levenstein et al. 1994; Levenstein et al. 1995; Levenstein 2000). Unklar bleibt bis heute die Bedeutung psychischer Streßbelastungen für die Ulkusentstehung. Hier ist nicht die Rede vom sogenannten „Streß-Ulkus", das bislang typischerweise als somatisch - etwa durch Ischämien der Magenmukosa ausreichend erklärbare Folge schwerer körperlicher Verletzungen oder Krankheiten verstanden wird und vereinzelt wohl auch ohne Helicobacter-Einwirkung auftreten kann. Vielmehr geht es um die Frage, inwieweit bereits akute psychische Belastungen zur Erkrankung an einem Ulkus führen können. Während Lewin und Lewis (1995) diesen Zusammenhang noch für fraglich halten, liefert eine aktuelle Untersuchung von Aoyama et al. (1998) neue Hinweise auf eine solche Beziehung. Die Autoren fanden, daß es nach dem großen japanischen Hanshin-Erdbeben von 1995 im Umkreis trotz massiver, zerstörungsbedingter Abnahme der Endoskopiezahlen um 50% zu einem deutlichen Anstieg der Häufigkeit nachgewiesener Ulcera gegenüber einem Vergleichszeitraum kam (Aoyama et al., 1998). Die Analysen beschränkten sich auf Personen ohne körperliche Verletzungen und zeigten, daß die Ulkushäufigkeit mit zunehmender Nähe zum Epizentrum des Erdbebens anstieg. Spezifischer fand sich insbesondere eine Zunahme blutender Magen-Ulcera bei älteren Menschen, während die Zahl der Duodenalulcera analog der niedrigeren Endoskopie-Rate abnahm (Aoyama et al., 1998). Diese Befunde werden im begleitenden Editorial von Feldman (1998) - immerhin im American Journal of Gastroenterology - so interpretiert, daß hierdurch zwar nicht bewiesen, aber doch nahegelegt wird, daß gravierende (akute) Streßbelastungen die Inzidenz schwerwiegender Ulcera erhöhen können. Das Konzept des akuten Streß-Ulkus müsse daher um emotionale Stressoren erweitert werden. 182
PROBLEME MIT DEM HELICOBACTER: MAGENBESCHWERDEN UND PSYCHOSOMATIK
Als mögliche vermittelnde Mechanismen zwischen chronischer Streßbelastung, Helicobacter-Infektion und Ulkusgenese vermutet Levenstein (1998): • die Begünstigung der Helicobacter-Besiedelung bzw. der Ulceration infektiös vorgeschädigter Schleimhaut durch streßbedingte gastrale bzw. duodenale Hyperazidität; • eine Bedeutung der aus anderen Zusammenhängen bekannten immunsuppressiven Streßeffekte, die zu einem Ungleichgewicht zwischen Helicobacter und körpereigener Abwehr führen könnten; • eine streßbedingte, beispielsweise durch Verhaltensweisen wie vermehrtes Zigarettenrauchen vermittelte Störung der Mukosa-Schutzfaktoren. Weitere Mediatoren, über die Streß die Ulkusentstehung begünstigen kann, sind die streß-assoziierten Verhaltensweisen wie Rauchen, Alkoholkonsum und unregelmäßige Essenszeiten. Zusätzlich spielen die bereits angesprochenen psychophysiologischen Mechanismen wie der Einfluß auf die nervale Mageninnervation mit ihren Folgen auf die Magenentleerung oder die gesteigerte Säuresekretion eine Rolle (Übersicht in Levenstein, 2000). Dieses erweiterte bio-psycho-soziale Konzept sollte die überholten und von Weiner (1998) zu Recht als reduktionistisch kritisierten monokausal-somatogenetischen Vorstellungen ebenso überwinden wie naive, rein psychogenetische Konzepte, die bislang überwiegend ihren Beleg sowie ein Verständnis der beteiligten Mechanismen schuldig geblieben sind. Ein integratives Modell der Ulkuskrankheit wird die Rolle der Helicobacter-Infektion ebenso berücksichtigen müssen wie diejenige der sonstigen gesicherten körperlichen und psychosozialen Risikofaktoren.
Therapeutische und wissenschaftliche Konsequenzen Therapeutisch spricht demgemäß ebensowenig für eine globale Empfehlung zur Psychotherapie bei allen Ulkuspatienten wie für eine ausschließliche Helicobacter-Eradikationsbehandlung. Vielmehr wird in jedem Einzelfall zu prüfen sein, inwieweit neben (oder vereinzelt auch anstelle) der Helicobacter-Infektion behandelbare somatische oder psychosoziale Risikofaktoren vorliegen. Die Indikation zur Psychotherapie besteht auch bei Ulkuspatienten vor allem dann, wenn zusätzlich zum Ulkus eine psychische Störung vorliegt. Vorstellbar aber nicht belegt ist, daß damit auch der Verlauf der Ulkuskrankheit günstig beeinflußt werden könnte. Gleiches gilt für Patienten mit starker akuter oder chronischer Streßbelastung (einschließlich schwerer intrapsychischer Konflikte) aber ohne eine für sich alleine betrachtet krankheitswertige psychische Störung. Angesichts eines zu vermutenden aber unbewiesenen Nutzens von Psychotherapie auf die Ulkuskrankheit bei diesen Patienten scheinen angepaßte psy183
GROSS
chotherapeutische Interventionsstudien erforderlich. Neben der Ermittlung geeigneter Therapieverfahren (Streßbewältigungstraining? Entspannungsverfahren? psychodynamische Psychotherapie?) sollten derartige Studien ein besonderes Augenmerk auch auf den Helicobacter-Infektionsstatus, die beteiligten physiologischen Mechanismen sowie deren eventuelle Beeinflußbarkeit durch die verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren richten.
184
PROBLEME MIT DEM HELICOBACTER: MAGENBESCHWERDEN UND PSYCHOSOMATIK
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186
SVEN OLAF HOFFMANN, FRANK PETRAK
Befindlichkeitsstörungen und Lebensqualität bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) Ergebnisse einer Befragung von 1322 Betroffenen 1 Über den Zusammenhang zwischen psychischen Eigenschaften einerseits und Entstehung sowie Verlauf von CED sind in der Vergangenheit zahlreiche Beobachtungen gemacht und Hypothesen aufgestellt worden. Dies sei an einem einzigen Beispiel verdeutlicht: „...es werden folgende typische Persönlichkeitsmerkmale beschrieben: Nettigkeit, Sorgfalt und scheinbare Bescheidenheit, deren Hintergrund aus überwertigem Selbstbild, Egozentrismus, Passivität, geringem Ehrgeiz und Bedürfnis nach Liebe, Sympathie und Zuneigung besteht. Typisch für die Patienten ist, daß sie ungern geben und ein naives, infantiles Bild von der Liebe haben" (Cheren & Knapp, 1988; in: Psychosomatische Störungen, Hrsg. Baker et al.). Über Jahrzehnte konnte man in der Fachliteratur ähnliche Beschreibungen von CED-Patienten finden. Der Schwerpunkt der Forschung lag in dem Versuch, Persönlichkeitsmerkmale zu finden, die für Crohn/Colitis-Patienten charakteristisch sein sollten. Auch wenn sich in manchen Studien ein Überwiegen bestimmter Züge (z.B. der sog. Introversion) fanden, steht mittlerweile fest, daß es keinen wissenschaftlichen Beleg für solche typischen „Crohn/Colitis-Persönlichkeiten" gibt. Ein über den Einzelfall hinausgehender Beweis konnte nie erbracht werden. Über die Suche nach geeigneten Persönlichkeitsbeschreibungen von Crohn/ Colitis Patienten wurde die Frage nach den subjektiven Belastungen durch die Erkrankung lange Zeit vernachlässigt. Dies ist nun erfreulicherweise seit Anfang der 90er Jahre anders. Es besteht heute eine weitgehende Übereinstimmung darüber, daß es notwendig ist, körperliche Befunde und das persönliche Erleben der Erkrankungen gemeinsam zu berücksichtigen. Warum ist es nun wichtig, gezielt nach Belastungen durch die Erkrankung zu fragen? Es besteht gerade bei Crohn/Colitis-Patienten die Gefahr, das tatsächliche Ausmaß der Belastungen zu übersehen. Diese Risiko entsteht auf folgendem Wege: Betrachtet man objektive Daten von CED-Patienten wie Schulausbildung, beruf-
1 Mit freundlicher Unterstützung der Dr. Falk Pharma GmbH und der Deutschen Morbus Crohn/Colitis ulcerosa Vereinigung e.V. (DCCV) 187
HOFFMANN, PETRAK
licher Status, Familienstand usw. so fällt auf, daß die Betroffenen „von außen betrachtet" ein weitgehend normales Leben führen können. So betonten die Autoren mancher Studien nachhaltig die psychische „Normalität" der an CED Erkrankten, was nach dem heutigen Wissen auch zutreffend ist. Andererseits kann diese Betonung auch dazu führen, daß die durchaus vorhandenen Belastungen in verschiedenen Lebensbereichen unterschätzt werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie belastet CED-Patienten durch ihre Krankheit im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung tatsächlich sind und welche Lebensbereiche dabei besonders betroffen sind. Zu diesen Fragen sollen einige aktuelle Forschungsergebnisse vorgestellt werden: Wir haben in Zusammenarbeit mit der Deutschen Crohn/Colitis Vereinigung (DCCV) eine große Gruppe von CED-Patienten nach ihren Belastungen und ihrer Lebensqualität umfassend befragt. Die DCCV hat etwa 12000 Mitglieder. Wir schrieben eine Zufallsauswahl von 3000 Mitgliedern mit CED an und erhielten 1322 anonymisierte Fragebögen, die sich folgendermaßen auf die Erkrankungsgruppen verteilen (s. Abb. 1).
Abbildung 1: Stichprobengewinnung und Verteilung der Krankheitsgruppen
Männer und Frauen antworteten etwa zu gleichen Teilen und 60% der CEDBetroffenen waren zum Zeitpunkt der Erhebung in einer Remissionsphase. Weitere Details der Stichprobenbeschreibung finden sich in Abbildung 2.
188
BEFINDLICHKEITSSTÖRUNGEN UND LEBENSQUALITÄT BEI CHRONISCH-ENTZÜNDLICHEN DARMERKRANKUNGEN (CED)
STICHPROBENBESCHREIBUNG (N = 1322) •
Alter (in Jahren)
39.6 χ 11.2 SD
•
Geschlecht
männlich
48.8%
weiblich
52.5%
*
Erkrankungsdauer (in J.)
•
Entzündungstatus
11.3 χ ( S D - 7 . 3 0 )
CED in Remission Aktive CED
60.4%
12.3%
Chronisch aktive CED
13.4%
Unklarer Entzündungsstaus
13.9%
Abbildung 2: Stichprobenbeschreibung
Wie belastet sind nun die CE D-Betroffenen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung? Auf diese Frage gibt Abbildung 3 eine eindrucksvolle Information.
Lebensqualität von CED-Patienten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung SF-3Î, (Z-Werte) Körperliche Komponente
Psychische Komponente
1 a
1 Jι
1 (1) (2) (3) (4)
2
3
I1 · ·
4
Körperliche Funktionsfähigkeit Körperliche Rollenfunktionen Körperliche Schmerzen Allg.Gesundheitswahrnehmung
5 (5) 16) (7) (8)
6
7
0
Vitalität Soziale Funktionsfähigkeit Emotionale Rollenfunktionen Psychisches Wohlbefinden
Abbildung 3: Körperliche und psychische Dimension der Lebensqualität bei CED. Die Werte sind z-transformiert, die gestrichelten Linien markieren die Standardabweichungen. Die stärker gestrichelte O-Linie stellt den Mittelwert der Allgemeinbevölkerung dar. je tiefer die Werte unterhalb der O-Linie liegen, desto belasteter sind die Betroffenen.
189
HOFFMANN, PETRAK
Dargestellt sind die Ergebnisse zur Lebensqualität. Es handelt sich dabei um die Daten eines Standardfragebogens (SF 36), der weltweit zu Messung von gesundheitsbezogener Lebensqualität eingesetzt wird. Die Ergebnisse sind gruppiert nach eher körperlichen Aspekten und eher psychischen Aspekten der Lebensqualität. Die körperliche Komponente der Lebensqualität umfaßt z.B. das Ausmaß, in dem der Gesundheitszustand körperliche Aktivitäten (Treppensteigen, Gehen, Heben usw.) zuläßt. Es geht auch das Ausmaß, in dem der körperliche Zustand eine Arbeitsfähigkeit zuläßt, sowie die allgemeine Beurteilung der Gesundheit. Die psychische Komponente beinhaltet die empfundenen Vitalität, das Ausmaß, in dem die körperliche Gesundheit oder emotionale Probleme normale soziale Aktivitäten beeinträchtigen, sowie das allgemeine psychische Wohlbefinden. Die Ergebnisse zeigen, daß die Lebensqualität der CED-Patienten im Durchschnitt so vermindert ist, daß sie vergleichbar ist mit jenen 15% der Allgemeinbevölkerung, die am stärksten belastet sind. Die Abweichungen sind insgesamt ausgeprägter in den psychischen als in den körperlichen Komponenten. Die hier gemessenen Belastungen sind auf Fragen.der Gesundheit im Allgemeinen bezogen. Welches sind nun die Belastungen, die speziell mit einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung einhergehen? Die folgenden Abbildungen zeigen eine Rangreihe der am häufigsten genannten Belastungen. Die Werte sind Durchschnittsangaben für die Gesamtgruppe. D.h., daß die Ergebnisse für den einzelnen Betroffenen natürlich ganz anders ausfallen können. Als „erhebliche Belastung" werden vor allem die Beeinträchtigung durch medizinische Maßnahmen, Krankheitssymptome und Sorgen über eine Verschlimmerung der Erkrankung genannt (Abb. 4). Diese Einschätzung scheint unmittelbar nachvollziehbar. Unsere Beobachtung im Kontakt mit Gastroenterologen geht allerdings eher dahin, daß diese zum Teil überrascht sind, wenn wir ihnen vortragen, als wie belastend ihre Patienten die diagnostischen Eingriffe erleben.
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BEFINDLICHKEITSSTÖRUNGEN UND LEBENSQUALITÄT BEI CHRONISCH-ENTZÜNDLICHEN DARMERKRANKUNGEN (CED)
Belastungen durch CED Erhebliche Belastung
• Abführmaßnahmen vor medizinischen Untersuchungen • Darmspiegel ungen • Operationen • Fisteln, Stenosen, Abszesse • Kraftlosigkeit und Erschöpfung • Imperative Durchfälle • Gedanken an mögliche Krankheitsverschlimmerungen Abbildung 4: „Erhebliche Belastung" durch CED Als „mäßige Belastung" werden u.a. Ängste vor dem Verlust der Darmkontrolle, Sorgen in verschiedenen Lebensbereichen, Beeinträchtigungen der Stimmung und im Berufsleben angegeben (Abb. 5). Die Bewertung auch dieser Belastungen an zweiter Rangstelle ist gut nachvollziehbar.
Belastungen durch CED Mäßige Belastung
• Angst vor peinlichem Darmkontrollverlust • Angst vor Krebserkrankung • Befürchtung, Familie mit CED zu belasten • Schlechtere Aussichten auf neuen Arbeitsplatz wegen CED • Bauchschmerzen • Depressive Verstimmung • Nebenwirkungen der Medikamente
Abbildung 5: „Mäßige Belastung" durch CED
191
HOFFMANN, PETRAK
Eine nur „leichte Belastung" wird dagegen im sozialen Bereich angegeben. Dies betrifft sowohl die engere persönliche Beziehung wie auch das allgemeinere soziale Erleben (Abb. 6). Die vergleichsweise niedrige Einstufung der Belastung etwa durch reduzierte sexuelle Aktivität, durch verminderte körperliche Attraktivität oder durch die Angst vor Partnerverlust hat uns überrascht. In Beratungsgesprächen sind es gerade diese Beschwerden, die regelhaft auftauchen, wenn erst einmal das Vertrauen des Patienten gewonnen ist und er die Benennung von Problemen jenseits der körperlichen zulassen kann. Die etwa 12 Patienten, die von mir (S.O.H.) wegen Problemen im Zusammenhang mit ihrer CED i.e.S. psychotherapeutisch behandelt wurden, litten unter den entsprechenden Einschränkungen ganz erheblich. Was auch die Gründe sein mögen - im Fragebogen schlägt sich dieser Befund nicht nieder.
Belastungen durch CED Leichte Belastung • Weniger Geschlechtsverkehr seit CED • Eindruck, aufgrund der CED weniger attraktiv zu sein • Beeinträchtigung der Ehe/Partnerschaft durch CED • Selbsteinschätzung als „Behinderter" • Bestreben, CED vor anderen zu verheimlichen • Angst vor Partnerverlust
Abbildung 6:0Leichte Belastung" durch CED
Die Mehrheit der Betroffen gibt an, „keine Belastungen" im Bereich sozialer Unterstützung oder durch eine schwierige Arzt-Patient-Beziehung zu erleben (Abb. 7). Dieses Ergebnis weist auf eine insgesamt erfreulich gute Arzt-PatientenBeziehung und auf eine ausreichende Krankheitsaufklärung hin. Dabei muß allerdings berücksichtigt werden, daß es sich bei unserer Stichprobe um eine selektierte Gruppe von Patienten handelt (Angehörige einer Selbsthilfeorganisation), bei der man eine von vorn herein höhere Aktivität in der Auseinandersetzung mit der CED wird unterstellen müssen. 192
BEFINDLICHKEITSSTÖRUNGEN UND LEBENSQUALITÄT BEI CHRONISCH-ENTZÜNDLICHEN DARMERKRANKUNGEN (CED)
Belastungen durch CED Keine Belastung • Fehlende soziale Unterstützung • Unzureichende ärztliche Information über CED • Fehlendes Vertrauen in den Arzt
Abbildung 7: „ Keine Belastung" durch CED
Folgendes Fazit läßt sich aus unseren Ergebnissen ziehen: Die gesundheitsbezogene Lebensqualität von Patienten mit CED ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich vermindert. Die stärksten krankheitsspezifischen Belastungen werden überwiegend im Bereich körperlicher Symptome, medizinischer Untersuchungen sowie verschiedener Sorgen und Befürchtungen benannt. Geringere oder keine Belastungen werden dagegen im sozialen Bereich angegeben. Die Ergebnisse werfen eine Reihe von Fragen auf. Eine davon ist die Frage, wovon es abhängt, ob jemand stärker belastet ist. Die naive medizinische Antwort läge im Bezug auf das Ausmaß der körperlichen Beeinträchtigung oder der Aktivität der Erkrankung. Das ist jedoch nur teilweise richtig. Erwartungsgemäß sind Patienten in einem aktiven Entzündungsschub belasteter als solche, die sich in einer Remissionsphase befinden. Wir wissen jedoch aus vielen Untersuchungen, und das hat sich auch in unserer Studie gezeigt, daß das Ausmaß der Symptome und der Entzündungsaktivität eben nur einen Teil der erlebten Belastungen erklärt. Es stellt sich die Frage, welche Einflußfaktoren hier des weiteren eine Rolle spielen. Eine der vielen denkbaren Faktoren, die bei chronischen Erkrankungen immer wieder untersucht werden, ist das sogenannte „Coping". Als krankheitsbezogenes Coping wird das Verhalten beschrieben, wie eine Person mit der Tatsache umgeht, daß sie eine chronische Erkrankung hat. Mit einer chronischen Erkrankung kann man z.B. sehr aktiv umgehen, etwa Informationen über die Erkrankung suchen und Probleme, die sich ergeben, gezielt und planvoll angehen. Alternativ man kann auch versuchen, sich eher abzulenken, andere Dinge bewußter zu genießen, Trost im Glauben zu finden oder aber auch sich von anderen zurückzuziehen, gereizt zu reagieren, Dritten die Schuld am eigenen Befinden anzulasten. Tatsächlich ist eine Vielzahl von sog. „Copingstrategien" im Laufe der Zeit beschrieben und hinsichtlich ihrer Nützlichkeit für den 193
HOFFMANN, PETRAK
Kranken und die Bewältigung der Krankheit bewertet worden. Im allgemeinen wird angenommen, daß depressive Copingarten ungünstig und aktive Arten des Umgangs mit der Erkrankung in der Tendenz eher günstig für den Patienten sind. Auch unsere Studie befaßte sich mit dieser Fragestellung, die sich unter der Überschrift „Wie ist der Zusammenhang zwischen dem Umgang mit der Erkrankung und der erlebten Lebensqualität?" präzisieren läßt. Ein Teil unserer Ergebnisse führte zu von uns unerwarteten Antworten. Die deutlichsten Ergebnisse betreffen das sog. „depressive Coping". Je stärker sich CED-Patienten von anderen zurückziehen, gereizt auf andere reagieren, sich selbst bemitleiden und mit dem Schicksal hadern, desto größer ist die Beeinträchtigung der Lebensqualität. Dies betrifft nicht nur die psychische (Abb. 8) sondern auch die körperliche Komponente (Abb. 9). Das bedeutet, daß ein solches Verhaltensmuster auch mit einer Reduktion der körperlichen Leistungsfähigkeit einhergeht.
Depressives Coping und Lebensqualität (psychische Komponente)
Lebensqualität SF-36
Je ausgeprägter das depressive Coping desto geringer die Lebensqualität
0 4-
1
2
3
depressives Coping
Abbildung 8: Depressives Coping , psychische Komponente. (Z-trans formierte Werte, die Striche markieren die Standardabweichungen, die Nulllinie den Normwert der Allgemeinbevölkerung)
194
BEFINDLICHKEITSSTÖRUNGEN UND LEBENSQUALITÄT BEI CHRONISCH-ENTZÜNDLICHEN DARMERKRANKUNGEN (CED)
Depressives Coping und Lebensqualität (körperliche Komponente)
Lebensqualität SF-36 0
Je ausgeprägter das depressive Coping desto geringer die Lebensqualität
. 2 3 depressives Coping
il·--
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Abbildung 9: Depressives Coping, körperliche Komponente. (Z-transformierte Werte, die Striche m kieren die Standardabweichungen, die Nulllinie den Normwert der Allgemeinbevölkerung)
Diese Ergebnisse waren vorherzusagen und überraschen - jenseits der Bedeutung auch der körperlichen Komponente für das depressive Coping - nicht. Wie sieht es nun mit dem aktiven Coping aus? Personen die ein aktives Coping betreiben, suchen Informationen über die Erkrankung und die Behandlung. Sie unternehmen aktive Anstrengung zur Lösung von Problemen, handeln planvoll und kämpfen entschlossen gegen die Krankheit an. Diesem Stil ist in der Literatur immer eine besondere Bedeutung für eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit verschiedenen chronischen Erkrankungen bescheinigt worden. Betrachtet man die Gesamtgruppe der CED-Patienten zeigen unsere Ergebnisse jedoch, das es für die Lebensqualität unerheblich ist, ob ein aktiver Bewältigungsstil herangezogen wird oder nicht. Wir haben zusätzlich untersucht, welche Rolle der Entzündungsstatus dabei spielt und sind auf ein interessantes Ergebnis gestoßen (Abb. 10): Befinden sich Patienten in Remission, spielt es tatsächlich keine Rolle ob sie aktives Coping betreiben oder nicht. In einem akuten Entzündungsschub zeigt sich folgender unerwarteter Zusammenhang: Je ausgeprägter das aktive Coping, desto stärker die Beeinträchtigung der körperlichen Aspekte der Lebensqualität. Praktisch ausgedrückt bedeutet das, daß ein aktiver, lösungsorientierter und kämpferischer Umgang mit der Erkrankung während eines Entzündungsschubes zu einer Verstärkung der körperlichen Beeinträchtigung führt. In einer Remissionsphase ist dieses Verhalten weder günstig noch ungünstig für die Lebensqualität. 195
HOFFMANN, PETRAK
Aktives Coping, Lebensqualität (körperliche Komponente) und Entzündungsstatus der CED Lebensqualität
Remission:
SF-36
Kein Einfluß von aktivem Coping auf Lebensqualität CED: Remission
CED: aktiv
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Aktives Coping
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Aktive CED: Je ausgeprägter das aktive Coping desto geringer die Lebensqualität
Abbildung 10: Aktives Coping (körperliche Komponente) und aktueller Entzündungsstatus. (Z-transformierte Werte, die Striche markieren die Standardabweichungen, die Nulllinie den Normwert der Allgemeinbevölkerung)
Wie kann man diese Ergebnisse interpretieren? Eine plausible Interpretation ist die, daß es in einer Krankheitsphase, in der die körperlichen Auswirkungen der Erkrankung im Vordergrund stehen, wenig hilfreich ist, einen unangemessenen Aktivismus zu betreiben und dabei auch noch zu erleben, daß man damit nichts Positives bewirkt. In dieser Phase scheint es angebrachter zu sein, auf die medizinische Behandlung zu setzen und die Grenzen der eigenen, direkten Einflußmöglichkeiten auf die Erkrankung zu akzeptieren. Welches Fazit läßt sich zu den Störungen der Befindlichkeit und zur Lebensqualität bei CED ziehen? • Beeinträchtigungen von CED-Patienten sind ausgeprägt und liegen überwiegend in der subjektiven Belastung durch körperliche Beschwerden, medizinische Maßnahmen und Zukunftssorgen. • Belastungen werden auch in umschriebenen Alltagssituationen erlebt (z.B. Angst vor Verlust der Darmkontrolle). • Überbewertung objektiver Daten (körperlicher Status) kann zur Unterschätzung der subjektiven Belastung führen. • Depressives Coping verschlechtert die Lebensqualität bei CED erheblich.
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BEFINDLICHKEITSSTÖRUNGEN UND LEBENSQUALITÄT BEI CHRONISCH-ENTZÜNDLICHEN DARMERKRANKUNGEN (CED)
• Aktives Coping ist trotz seiner guten ärztlichen Bewertung in aktiven Krankheitsphasen für den Patienten sogar von Nachteil. Welche Konsequenzen ergeben sich schließlich für das ärztliche Cesprächl • Im ärztlichen Gespräch sollten, neben der Erhebung von Symptomen, gezielte Fragen zur subjektiven Beeinträchtigung durch diese Beschwerden routinemäßig gestellt werden. • Auch die Frage nach dem Umgang mit der Erkrankung (Coping) im beruflichen und privaten Lebensbereichen in Abhängigkeit von dem ErkrankungsStadium ist wesentlich für ein Verständnis der Situation des Patienten. • Bei ausgeprägt depressivem Coping sollte ein Hinweis auf die Möglichkeiten fachpsychotherapeutischer Unterstützung gegeben werden, obwohl bisher systematische Studien hierzu fehlen.
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HOFFMANN, PETRAK
Literatur Cheren S., Knapp, P.H. (1988) Gastrointestinale Erkrankungen. In: Baker et al. (Hrsg.) Psychosomatische Störungen. Thieme. Stuttg., 227-240
CORD BENECKE, GERHARD DAMMANN, RAINER KRAUSE, PETER BUCHHEIM
Überlegungen zur „qualitativ guten Beziehung" bei der Behandlung von Patienten mit Persönlichkeittsstörungen im Wechselspiel von klinischer Erfahrung und empirischer Psychotherapieforschung 1 Die Beziehung in der Psychotherapie Wenn man die empirisch ausgerichtete Psychotherapieforschung betrachtet, ist sicher eines der am besten bestätigten Ergebnisse, daß neben einer im engeren Sinne störungsspezifischen Behandlungstechnik (etwa bei Zwangs-, Angst- oder Borderline-Störungen) die Qualität der Beziehung zwischen Therapeut und Patient entscheidend für den Erfolg von Behandlungen ist. Daß diese Qualität mit dem auch beobachtbaren interaktiven Verhalten beider Protagonisten etwas zu tun hat, findet ebenfalls Konsens (Orlinsky; Grawe & Parks 1994, Rudolf 1991). Was jedoch eine qualitativ „gute Beziehung" im Umfeld von Psychotherapien in Abgrenzung von sonstigen nicht therapeutischen guten Beziehungen charakterisiert, ist dagegen umstritten: Man kann der Meinung sein, die therapeutische Beziehung habe keine spezifischen differentiellen Merkmale gegenüber einer guten Alltagsbeziehung. Das Therapeutische sei die Behandlungstechnik, die sich auf diese gute Beziehung gewissermaßen draufsattle, und dadurch erträglich werde (Fiedler 1997). In der Psychoanalyse findet man ebenfalls Gruppierungen, die beispielsweise das Arbeitsbündnis oder die sogenannte „hilfreiche Beziehung" (Ermann 1993), die ja Konzeptualisierungen der Beziehung darstellt, als eine unspezifische Basis der eigentlichen Technik betrachten. Die Schwierigkeit wird auch dadurch sichtbar, daß sich der englische terminus technicus „alliance" nur höchst begrenzt als „Bündnis" ins Deutsche übersetzen läßt, spielen doch „Beziehung" und „Bindung" ebenfalls in das Konzept „alliance" hinein. Andere analytische Gruppierungen halten das Konzept weiterhin für ziemlich irrelevant, wenn nicht gar schädlich. Die Beziehung selbst ist im Rahmen dieser orthodoxen Technikauffassung kein eigentlich wichtiger Parameter (Hamilton 1996). 1
Stark überarbeitete Version der Arbeit von Benecke et al. (2000). 199
BENECKE, DAMMANN, KRAUSE, BUCHHEIM
Andere Forscher und Therapeuten innerhalb der Verhaltenstherapie und der Psychoanalyse (Grawe 1997, Krause 1997) schließlich sind der Meinung, die therapeutische Beziehung selbst habe nicht nur eine unspezifische sondern darüber hinaus auch eine spezifische kurative Bedeutung, die über die Herstellung einer Basis für die Behandlungstechnik allein deutlich hinausgehe. Sie sei aber gleichwohl mit derselben auf eine komplizierte Art und Weise verknüpft. So bestimme die prinzipiell mögliche und häufig auch durch den Kranken „erzwungene" Form der Beziehung welche Formen der Technik und Intervention überhaupt möglich und hilfreich sind. Die "psychoanalytisch-interaktionelle Psychotherapie" sensu Heigi, Heigl-Evers & Ott (1993) wirke beispielsweise nur im Rahmen eines Beziehungstypus, der in weiten Bereichen andere Techniken verlangt als die abstinentere „psychoanalytische Psychotherapie". Innerhalb der Verhaltenstherapie gelte - so ein Befund der Psychotherapieforschung - die hohe Wirksamkeit der Reizkonfrontationsbehandlungen bei offenen Angstsymptomen nur für die Patienten, die eine dependente Beziehungsform benötigen (Grawe 1998). Die vorab gestellte Frage nach der therapeutischen Bedeutung der Beziehung in der Psychotherapie weitet sich damit zu einer umfassenderen Frage aus: Welche Form der Beziehung durch welche Therapeuten hilft welchen Patienten mit welchen Störungen?
Zwei prototypische Modelle: interaktionell versus selbstreflexiv Eine solche différentielle Indikation innerhalb eines Verfahrens setzt jedoch Kenntnis der dominierenden Modelle von Beziehungen der Patienten voraus. Im psychoanalytischen Umfeld der sogenannten neueren Mentalisierungstheorien (theory of mind) beginnt sich eine Typologie herauszubilden, die Beziehungen danach unterscheidet, ob sie unter Rückgriff auf selbstreflektive Funktionen (reflective functioning) gestaltet werden oder nicht (Krause 1997; Fonagy et al. 1998). So geht etwa die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie von dominierenden (zumeist äußeren) Beziehungsformen aus, die gerade durch das Fehlen dieser „inneren" Fähigkeit geprägt sind. Nur in ihrem Rahmen sind Behandlungstechniken wie „authentisches Antworten" und „Klarifizierung von Affekten" wirksam. Sie sollen Staunen und Neugier auf das „Andere", Fremdpsychische erst schaffen. Diese Gefühle dienten dann als Grundlage für das psychische Tolerieren des andersartigen Dritten, in diesem Falle des Therapeuten, etwa durch eine Borderline-Patientin. Diese kann deshalb zunehmend diese Fähigkeit entwickeln, weil sie ihrerseits die Erfahrung macht, daß der Psychotherapeut sie und ihre Affekte tolerieren (oder besser ,contained) kann. Die Verinnerlichung der Funktionen dieses wohlwollenden andersartigen Dritten ist die Grundlage 200
ÜBERLEGUNGEN ZUR „QUALITATIV GUTEN BEZIEHUNG" BEI DER BEHANDLUNG VON PATIENTEN MIT PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN
für die Entwicklung selbstreflexiver Vorgänge. Die meisten Behandlungsschritte in diesem Beziehungsrahmen muß man wohl als eine Form der „Nachreifung" sehen, die sehr oft wiederholt werden muß, ehe sie von Dauer sein kann. Sie ist also, wenn auch in einem indirekten, unbewußten Sinne, „psychoedukativ". Die psychoanalytische Behandlung von Neurosen, die unbewußt gewordene Konflikte zur Grundlage haben, versucht dagegen diese schon entwickelte, aber durch die Abwehr unzugänglich gewordene innere repräsentationale Welt deutend zurückzugewinnen. In diesem Rahmen sind authentische Antworten nicht zu gebrauchen. Sie sind, wenn sie trotzdem auftauchen, meist der Niederschlag einer agierten Gegenübertragung. Wenn einem Zwangskranken beispielsweise authentisch versichert wird, daß er den Therapeuten durch sein kontrollierendes Beziehungsverhalten zur Weißglut bringt, steigen die unbewußten Schuldgefühle ohne jeden Erkenntnisgewinn. Anstatt zu „containen" (d.h., im Sinne Bions, negative Affekte, und diese übersetzend, auszuhalten), agiert der Therapeut im Rahmen des unbewußten Schemas des Patienten, was letztlich seinem Bedürfnis nach Wiederholung von verinnerlichten Erfahrungen zwar entspricht, jedoch keine (narrative) Neustrukturierung zuläßt. Gerade wenn man die psychodynamische Behandlung von Borderline-Patienten betrachtet, finden sich alle möglichen therapeutischen Haltungen innerhalb dieses Kontinuums, das durch die beiden Pole (reflexiv, repräsentiert, symbolisiert einerseits und agiert, nicht-integriert und präsymbolisch andererseits) gebildet wird. Aus diesen beiden Polen lassen sich eine Fülle weiterer Aspekte (normalneurotisches versus borderline-psychotisches strukturelles Niveau, Identität versus Identitätsdiffusion, primitivere versus reifere Abwehrmechanismen, schizoidparanoide versus depressive Position) kennzeichnen. Vereinfachend läßt sich die Diskussion darauf reduzieren, ob die zentralen Ich-Funktionen ausgebildet wurden und nur nicht ausreichend verfügbar sind oder eben nicht, d.h. ein massiverer Struktur- oder „Ich-Defekt" vorliegt. Diese Frage ist für die BorderlinePatienten bis heute nicht abschließend beantwortbar, sie weist trotzdem eine Fülle von wichtigen therapeutischen Implikationen auf. Entsprechend gehen die meisten dieser Behandlungsansätze von einer unüberwindbaren Dichotomie aus (um ein Beispiel zu geben: Borderline-Patienten wären demnach zum „PerspektivenWechsel", d.h. die innere Perspektive eines anderen Menschen voll einnehmen zu können, in der Lage oder sie wären es nicht). Gerade hier sind die Borderline-Patienten, die oft (zum Beispiel phasenweise oder in bestimmten Beziehungskonstellationen) sowohl integriertere, stabilere Seiten wie andererseits desintegrierte, labilere Seiten aufweisen, unter diesem Aspekt besonders interessant zu betrachten. Möglicherweise wird sich in Zukunft nachweisen lassen, daß sich in ein und dem selben Individuum wechselnd normale, neurotische, persönlichkeitsgestörte (borderline-organisierte im Sinne von Kernberg) und psychotische „Felder" befinden können, die auch einen entsprechend differenzierten Zugang benötigen würden. In Erweiterung der 201
BENECKE, DAMMANN, KRAUSE, BUCHHEIM
Theorie Otto F. Kernbergs würde demnach das oszillierende Wechseln (etwa der Partialobjektrepräsentationen ,verfolgt' und ,verfolgend') nicht nur innerhalb einer strukturellen (hier Borderline-)Organisationsebene vorkommen, sondern möglicherweise sogar verschiedene Ebenen (d.h. etwa neurotische und psychotische Partialobjekte oder besser -zustände) umfassen. Eine Auffassung, die der Steiners (1993) nahekommt, der zwar davon ausgeht, daß Borderline-Patienten eben gerade die Schwierigkeit hätten zwischen den Positionen (paranoidschizoid und depressiv i.S. Melanie Kleins) zu wechseln und so quasi in einer festgefrorenen Mitte (psychic retreats ) zwischen paranoider Vernichtung und depressiver Selbstentleerung zu verharren suchen. Denn auch hier findet sich die Auffassung, daß sich Borderline-Patienten zwischen den oben dargestellten technisch-therapeutischen und metapsychologischen Extrempositionen befinden. Der Unterschied von Neurose und Charakterstörung könnte sich, diesen neueren Modellen folgend, eher als ein quantitatives denn ein rein qualitatives Problem erweisen.
Die Funktion affektiver Zeichen in Abhängigkeit vom intersubjektiven Bezugsfeld Ein zweites nicht weniger kontroverses Thema betrifft das Verhältnis der sichtbaren (und hörbaren etc.) oder wenn man so will „äußeren" Anteile einer Beziehung, zu deren inneren Erleben, zu ihrer bewußten, vorbewußten oder unbewußten inneren Abbildung im Patienten, im Therapeuten und darüber hinaus in beiden als sich begegnende, aufeinander bezogene menschliche Wesen. Wenn wir nicht davon ausgehen, die Innenwelten zweier Personen könnten direkt, beispielsweise durch die Übertragung von Gedanken, miteinander kommunizieren, müssen wir auf Übertragungswege und damit Signale, Reize oder Stimuli zurückgreifen. Damit nehmen wir implizit eine Art von Psychophysik sozialer Interaktionen und von Beziehungen an. Ein solches Modell wurde von Brunswick (1969) schon sehr früh in vorzüglicher Weise ausgefüllt. In Brunswicks Modell der Interaktion ist das äußere Verhalten des Senders der distale Reiz für das innere Erleben des Empfängers. Der Sender nimmt dadurch, ob gewollt oder ungewollt, ob bewußt oder unbewußt auf das Innere des Empfängers Einfluß. Für den Empfänger hat der distale Reiz im allgemeinen Indikatorfunktion. Er wird als Ausdruck des inneren Zustandes des Senders gesehen. Im Rahmen dieses einfachen psychophysikalischen Modells sozialer Interaktion wird von einer Art 1-zu-1-Entsprechung zwischen dem beobachtbaren Verhalten und der Befindlichkeit des Senders in der aktuellen Situation ausgegangen. So würde das Gesicht des Patienten seinen aktuellen Zustand in der therapeutischen Situation ausdrücken und dazu führen, daß der Therapeut in empathischer Weise eben diesen Zustand in den Patienten hineinattribuiert und in ent202
ÜBERLEGUNGEN ZUR „QUALITATIV GUTEN BEZIEHUNG" BEI DER BEHANDLUNG VON PATIENTEN MIT PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN
sprechender Weise darauf interaktiv reagiert. Man könnte ergänzen, dadurch auch diesen attribuierten Zustand mit verstärkt oder hervorruft. Eine solche Art einfacher interaktiver emotionaler Psychophysik kommt sicher vor. In dem Moment allerdings, in dem wir eine repräsentationale innere Welt auch nur für einen der Beteiligten postulieren, wird die 1-zu-1 -Entsprechung zu einem wahrscheinlich eher seltenen Sonderfall. Vielmehr ist der Regelfall eher der, daß sich das (für den Empfänger) sichtbare affektive Zeichen auf die respräsentationale innere Objektwelt des Senders bezieht (Merten 1997). Das Gesicht des Patienten drückt zwar immer noch ein Gefühl aus, aber das bezieht sich vor allem auf seine innere repräsentationale Objektwelt. Sogar die Wahrnehmung von sich selbst als Objekt „transzendiert" die direkte Indikatorfunktion. Der Sender mag also auch über sich weinen oder lachen oder sich über sich selbst ärgern, sich selbst verachten, wenn er an sich denkt oder über sich spricht. Im Falle der Einführung einer selbstreflexiven inneren Repräsentanzenwelt ist das Beobachtbare nicht mehr allein Symptom für den Zustand des Patienten in der aktuellen Beziehung zum Therapeuten, sondern auch ein Zeichen für seine Beziehung zu einer inneren Objektrepräsentanz und damit in eine Art von Reflexivität grundlegender Art eingebettet. Der Kontext der Benutzung des Zeichens bestimmt, auf welche Welt es sich bezieht, auf die unmittelbare relationale Beziehung im Hier und Jetzt oder auf die repräsentationale innere Welt. Möglich ist immer beides. Die gleiche Logik muß man auch für den Therapeuten annehmen. Selbstverständlich stehen wiederum beide Beziehungswelten, die relationale (zwischen den beiden Beteiligten) und die objektale (zu den jeweils inneren Objekten) in Beziehung.
Affektive Zeichen und mentale Repräsentanz bei Neurosen und Borderline-Störungen Aus unseren bisherigen Forschungen läßt sich ein vorläufiges Bild der Verknüpfung von affektiven Zeichen und mentalen Repräsentanzen bei verschiedenen Störungen ableiten. Bei neurotischen Patienten zeigen die mimisch ausgedrückten Affekte eine große Variabilität (Schwab & Krause 1995; Benecke & Krause in Vorbereitung). Das mimisch-affektive Verhalten spiegelt sich aber nicht im subjektiven Erleben der Patienten wider und es findet sich keine systematische Verkoppelung der Affekte mit bestimmten Sprachinhalten, bspw. mit dem Sprechen über bestimmte Selbstaspekte oder bestimmte Objekte (Benecke & Krause 2001). Dies macht Sinn, wenn man davon ausgeht, daß die Affekte dieser Patienten an eine unbewußte repräsentationale Innenwelt angebunden ist, und somit der Objektbezug des affektiven Zeichens nicht unmittelbar durch die sprachlich kontextuelle Einbettung expliziert werden kann. Für den Interaktionspartner bleibt der Bezug der 203
BENECKE, DAMMANN, KRAUSE, BUCHHEIM
mimischen Affekte dann notwendigerweise unklar, und er wird daher das affektive Zeichen auf die aktuelle Beziehung respektive auf sich selbst beziehen und entsprechend direkt interaktiv affektiv darauf reagieren. Auf diese Weise werden die eigentlich an unbewußte Repräsentanzen geknüpfte Affekte regelmäßig interaktiv wirksam und die zunächst subjektive Innenwelt des Patienten manifestiert sich im interaktiven intersubjektiven Feld, dann als gemeinsam erlebte, reale Beziehungskonstellation. Diese Prozesse der Aktualisierung der subjektiven Innenwelt des Patienten im interaktiven intersubjektiven Feld des realen Beziehungsgeschehens finden auch in Psychotherapien statt und in diesem Fall ist es der Therapeut, der durch seine interaktiven Reaktionen einen wesentlichen Anteil daran hat. Bei Borderline-Patienten zeichnet sich dagegen folgendes Bild ab (Benecke & Dammann 2000; Benecke & Dammann in Vorbereitung): Die mimisch ausgedrückte Affektivität ist gekennzeichnet durch eine deutliche Reduktion von Freude und ein Dominieren negativer Affekte, insbesondere Ekel und Verachtung. Üblicherweise ist diesen Patienten ihre negative Affektivität durchaus bewußt. So zeigte eine schwer suizidale Patientin innerhalb eines strukturellen Interviews nach Kernbeg sehr viele negative Affekte, insbesondere Verachtung und Ekel, und fast keine Freude. Ein erstes Screening des sprachlichen Kontextes der negativen Affektausdrücke zeigt, daß die Patientin Verachtung und Ekel vornehmlich dann zeigt, wenn sie über sich selbst spricht, häufig sogar zeitsynchron zum Aussprechen des Wortes „ich", „mich" usw. Diese Patientin hat schwere frühkindliche Vernachlässigungen/Verwahrlosungen erlitten. Die daraus entstandenen heftigen negativen Affekte scheinen sich voll auf die Selbstrepräsentanz zu richten - sie betrachtet sich mit ihr bewußt zugänglichem Abscheu und Verachtung, was dann im Suizid mündet. Bei einer anderen Patientin, deren Mimik ebenfalls durch ein Dominieren von Verachtung und Ekel gekennzeichnet war, richteten sich diese Affekte wechselweise auf ihre Selbstrepräsentanz und auf die Objekte. Diese Patientin zeigte eher histrionisch-infantile Persönlichkeitszüge und litt unter einer völlig chaotischen Lebensgestaltung, mit wechselnden Beziehungen, Arbeitsstellen und Wohnorten, begleitet von häufigen Suizidgedanken.
Diese offen sichtbare negative Affektivität findet sich aber nicht bei allen Borderline-Patientinnen. So zeigte eine dritte Patientin während des gesamten Interviews nur 6 negative Affektausdrücke, dafür aber 50 mal Freude. Diese Patientin kann durch eine schwere Identitätsproblematik gekennzeichnet werden, sie war weder in der Lage andere Personen noch sich selbst zu beschreiben. Auf der Symptom-Ebene litt sie unter schweren Selbstverletzungen. Die Vermutung liegt nahe, daß der Ausfall der negativen Affekte die Folge einer extremen Spaltung ist, daß mit dieser Abspaltung aber auch die mit diesen Affekten verbundene Selbstrepräsentanz der Patientin verloren geht. 204
ÜBERLEGUNGEN ZUR „QUALITATIV GUTEN BEZIEHUNG" BEI DER BEHANDLUNG VON PATIENTEN MIT PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN
So sehr sich diese drei „Borderline-Patientinnen" unterscheiden (bis hin zu sehr unterschiedlichen dominierenden Persönlichkeitszügen), können doch alle drei durch eine mangelnde Fähigkeit zur Mentalisierung charakterisiert werden, insofern als ihre negativen Affekte direkt handelnd Ausdruck finden, sobald sie einmal aktiviert sind.
Der therapeutische Prozeß und die Konstituierung des intersubjektiven Feldes Während in Alltagsdyaden die Interaktionspartner der Patienten für gewöhnlich in erster Linie an ihrer Selbstregulation interessiert sind und somit der „maladaptive" Zirkel, der natürlich andererseits gerade dadurch adaptiv ist, ständig in Variationen wiederholt wird, geht es in therapeutischen Dyaden um die Durchbrechung dieser Wiederholungsprozesse. Eingedenk der eben beschriebenen Aktualisierungsvorgänge geht es also darum, die verloren gegangene repräsentationale Innenwelt des Patienten wieder zurückzugewinnen, und damit auch das eigentliche Bezugsfeld der Affektivität des Patienten. Der Wiederholungsanteil des Geschehens im interaktiven intersubjektiven Feld zwischen Patient und Therapeut kann so, wenn es gelingt, in das mentale intersubjektive Feld zurück geholt werden, mitsamt der zugehörigen Affektivität und nun für beide bewußt erleb- und reflektierbar. Diese Aufgabe ist insbesondere bei Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen stark erschwert. Wenn man, wie oben beschrieben, bei diesen Patienten von einer mangelnden Mentalisierungsfähigkeit ausgeht, dann würde es erst einmal um den Aufbau eines mentalen Raumes gehen, durch den die Affekte gepuffert werden können. Der erschwerte Umgang mit den Affekten in der Behandlung solcher Patienten manifestiert sich je nach Störung unterschiedlich, sei es, daß die Gefühlswelt schizoid abgewehrt wird, die Abhängigkeitswünsche und ihre Abwehr narzißtisch den Zugang zum anderen affektiv erschweren, die Affekte fast einseitig parano/cf-querulatorischen Abwehren dienen müssen, die Affekte als Pseudoaffekte histrionisch fassadär zur Vitalisierung eingesetzt werden oder stärksten ßorc/er//ne-Gefühlsschwankungen unterliegen usw. Vermutlich finden sich deshalb bei den wirksamen Behandlungsstrategien, unabhängig von ihrer metatheoretischen Fundierung (als dialektisch-behavioral, traumazentriert oder übertragungsfokussiert) übergeordnete gemeinsame allgemeine Prinzipien, die für diese Patienten wirksam sind und potentiellen Gefahren (Kontaktabbruch etc.) wirkungsvoll zu begegnen suchen (Dammann 2001).
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BENECKE, DAMMANN, KRAUSE, BUCHHEIM
Die Affekte der Therapeuten in Kurzpsychotherapien Welche Rolle spielen nun die Affekte des Therapeuten bei der Etablierung einer hilfreichen therapeutischen Beziehung? Aus den oben dargestellten Überlegungen und Ergebnissen läßt sich ableiten, daß die Affekte der Therapeuten, auch die mimisch sichtbaren, je nach behandelter Störung sehr unterschiedliche „Wirkung" auf den Patienten und damit auf die sich entwickelnde Beziehung haben. Die mimisch-affektiven Zeichen von sechs Therapeuten in Kurzzeittherapien verschiedener Schulrichtungen (drei mit erfolgreichen und drei mit wenige erfolgreichen jeweils 15-stündige Behandlungen) wurden von Benecke (2000) in Hinblick auf ihre kontextuelle Einbettung untersucht. Alle Therapeuten zeigten eine hohe Anzahl negativer Affektausdrücke (Ärger, Verachtung und Ekel) und die Frage war, ob sich anhand der simultanen Verhaltenskontexte (insbesondere der Sprachinhalte) unterschiedliche Bezugsfelder dieser Affektexpressionen bei den beiden Therapeutgruppen ausfindig machen lassen. Denn das Bezugsfeld ihrer affektiven Reaktionen trägt wesentlich dazu bei, ob die Affektivität im interaktiven Feld verbleibt oder ob es zu einer Erschließung der vormals unbewußten Repräsentanzenwelt und damit einer Neuverortung und -Ordnung der Affekte kommen kann. Geht man davon aus, daß der sprachinhaltliche Kontext eines Affektausdrucks der Explikation des Bezugsfeldes des Affektes dient, kann erwartet werden, daß die mimisch affektiven Zeichen erfolgreicher Therapeuten innerhalb anderer Inhaltskontexte gezeigt werden, als diejenigen ihrer weniger erfolgreichen Kollegen. Als Ergebnis zeigte sich, daß die negativen Affekte des Therapeuten (Ärger, Ekel, Verachtung in den Stunden 3 und 12) in den erfolgreichen Therapien eine weit niedrigere Wahrscheinlichkeit haben als durch Zufall zu erwarten wäre, wenn über den Patienten gesprochen wird. Geht es um andere Personen, ist sie weit höher. In den weniger erfolgreichen Behandlungen ist es genau umgekehrt: Wird über den Patienten oder die therapeutische Beziehung gesprochen, sind negative Affekte überzufällig häufig vertreten, geht es um andere Personen, findet man sie weit seltener. Bei einer Verlaufsuntersuchung (Benecke 2000) zeigte sich, daß die erfolgreichen Therapeuten zudem anfangs (in der ersten Stunde) mehr interaktive negative Affekte als die weniger erfolgreichen zeigen. Das Verhältnis kehrt sich aber sehr schnell um: in den erfolglosen Therapien steigen die nicht an die repräsentierten Objekte gebundenen affektiven Zeichen der Therapeuten deutlich an, während sie in den erfolgreichen Behandlung im Verlauf der ersten vier Behandlungsstunden stetig fallen. Wenn man solche Befunde im analytischen Rahmen interpretiert, könnte man folgende Konstruktion wagen: Zu Beginn der Behandlung gibt es ein Gegen206
ÜBERLEGUNGEN ZUR „QUALITATIV GUTEN BEZIEHUNG" BEI DER BEHANDLUNG VON PATIENTEN MIT PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN
übertagungsagieren in der Hinsicht, daß die interaktiv emotionalen Zeichen in der therapeutischen Beziehung und in Bezug auf die Person des Patienten auftreten und auch so wirksam werden. Sie sind so betrachtet symptomatisch für das interaktive intersubjektive Feld. In den erfolgreichen Behandlungen wird dieser symptomatische Anteil der emotionalen Zeichen des Therapeuten und damit sein Wirksamwerden in der therapeutische Beziehung in der Hinsicht aufgehoben, daß im Verlauf die affektiven Signale wieder an diejenigen inneren Repräsentanzen des Patienten angeheftet werden konnten, denen sie wohl ursprünglich einmal gegolten haben. Mit diesem Vorgang ist eine Form von „Einsicht" verbunden, die beinhaltet, daß eine Generalisierung und Ausdehnung auf alle möglichen anderen Objekte historisch gewissermaßen überholt ist. Ein ähnliches Ergebnis haben Hölzer und Mitarbeiter (1997) gefunden. Sie hatten sich allerdings nur an den Emotionen des Patienten und ihrem Verhältnis zur repräsentationalen Objektwelt, so wie sie sich in seiner Sprache abbildet, orientiert. Der Therapeut als Mediator wurde nicht berücksichtigt. Anhand eines sowohl vom Patienten als auch vom Therapeuten als erfolgreich eingestuften Einzelfalles wurde die Entwicklung der Verkoppelung von Mimik und Sprachinhalt untersucht (Benecke 2000, Benecke & Krause 2001). Zu Beginn der Behandlung zeigte die Mimik des hysterischen Patienten keinen Zusammenhang mit den Sprachinhalten. Seine Affekte waren unsystematisch über alle verhandelten Themen verteilt. Die negativen Affekte des Therapeuten dagegen tauchten von Beginn an häufiger auf, wenn von den ausbeuterischen und entwertenden Verhaltensweisen der Objekte des Patienten die Rede war. Im Verlauf der Therapie verkoppelten sich nun auch die negativen Affektausdrücke des Patienten mit genau diesen Themen. Die hier festgestellte Entwicklung könnte als Hinweis auf die Übernahme der affektiven Bewertung des Verhaltens der Objekte gesehen werden: der Patient scheint sich im Laufe der Behandlung mit der affektiven Haltung seines Therapeuten gegenüber bestimmten Aspekten der Objekte zu identifizieren, was als „modellgeleitete Identifizierung" (Benecke 2000) interpretiert werden kann. Durch die Sprache wird ein von beiden gestaltetes mentales intersubjektives Feld geschaffen, beide können sich gewissermaßen in einem gemeinsamen mentalen Raum bewegen und über den Affektausdruck können Geschehnisse oder Personen in diesem mentalen Raum kommentiert, bewertet, illustriert oder imitiert werden. Der Therapeut zeigt dem Patienten via mimischen Affektausdruck, wie er, der Therapeut, sich diesen Objekten gegenüber verhalten würde, nämlich deutlich sich abgrenzend, wozu der Patient bisher nicht in der Lage war. Die entsprechenden Affekte waren mimisch durchaus auch beim Patienten von Anfang an vorhanden, nur waren sie nicht mit spezifischen mentalen Repräsentanzen verbunden. Man kann vermuten, daß diese gewissermaßen frei fluktuierenden Affekte die gesamte Repäsentanzenwelt des Patienten kontaminierte. Mit der Neu-Verortung der negativen Affekte in die spezifischen negativen Beziehungsanteile wurde dem Patienten in diesem spezi207
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fischen Beziehungsbereich eine Distanzierung und Abgrenzung möglich, und er konnte sich nun den realen Objekten in neuer Weise nähern. Die bisher dargestellten Ergebnisse lassen sich wie folgt verstehen: In erfolgreichen Behandlungen, unabhängig von ihrer behandlungstechnischen Ausrichtung, läßt sich eine Vereindeutigung des Zusammenhangs zwischen der repräsentationalen Welt beider Protagonisten, wie sie sich in der Sprache und dahinter wohl auch im Denken ausdrückt, und den affektiven Phänomenen des Therapeuten herauspräparieren. Das heißt, in den erfolgreichen Behandlungen wird der Zusammenhang zwischen der bewußten kognitiv repräsentationalen Welt des Patienten und den beobachtbaren affektiven Signalen des Therapeuten immer eindeutiger. Patient und Therapeut können sich über diese mentale Welt sprachlich verständigen, wodurch eine repräsentationale Intersubjektivität entsteht und in diese sind dann auch die Affekte eingebunden. In den schlecht verlaufenden Behandlungsformen tritt dies nicht auf und die affektiven Zeichen der Therapeuten bleiben auf nicht eindeutig klärbare Weise gewissermaßen freischwebend oder, wenn man so will, nur interaktiv wirksam. Man muß allerdings klar festhalten, daß auch in den gut verlaufenden Behandlungen die negativen affektiven Zeichen der Therapeuten zu Beginn der Behandlung nicht der Objektwelt des Patienten galten, sondern sich auch direkt interaktiv auf den Patienten und damit der Beziehung bezogen. Man kann vermuten, daß, wenn dies nicht der Fall ist, eine Gegenübertragungsabwehr auftritt. Das Verstehen des Patienten im Sinne einer Begegnung schließt ein, daß die Therapeuten sich in das episodische innere Beziehungsfeld der Patienten gewissermaßen hineinziehen lassen (vgl. Sandler 1976). Nicht zu viel, sonst J