Performance als Lebensform: Zur Verbindung von Theorie und Praxis in der Performance-Kunst. Linda Montano, Genesis P-Orridge und Stelarc 9783839437421

Utilizing the term 'way of life', Marion Leuthner reflects on performance art not as 'live art', but

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German Pages 384 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Alltag und Religion (Linda Montano)
2.0.1 Sakrale und profane Zeiten in Religion und Kunst
2.0.2 Manifeste, Konzepte, Performances
2.0.3 Leben, Religion und Kunst
2.0.4 Verbindung von Theorien über Leben, Religion und Kunst
2.0.5 Konzept und Vertrag, Wiederholung und Ausdauer, Ritual und Askese
2.1 Konzept und Vertrag
2.1.1 Organisation des menschlichen Lebens
2.1.2 Sorge
2.1.3 Die Möglichkeit der ,individuellen‘ Entscheidung
2.1.4 Regeln für das Zusammenleben
2.1.5 Verträge in der Performance-Kunst
2.1.6 Rahmen und Werte
2.2 Wiederholung und Ausdauer
2.2.1 Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst
2.2.2 Umgang mit alltäglichen Mustern
2.2.3 Religiöse Handlungen
2.2.4 Raum und Zeit
2.2.5 Wiedererleben
2.2.6 Säkularer Kontext der Moderne und Rückbin dung an den Mythos
2.3 Ritual und Askese
2.3.1 Rituale
2.3.2 Besondere Form des Handelns und des Vorstellens
2.3.3 Das Heilige
2.3.4 Der religiöse Mensch
2.3.5 Entbehrung als Selbsterkenntnis und Sorge
2.3.6 Religiöses Leben
3. Ich und Anderer (Genesis P-Orridge)
3.0.1 Vorbilder
3.0.2 Gemeinschaften
3.0.3 Künstlerische Identitätssuche als Lebens-Performance
3.0.4 Theorien zu Identität, Gemeinschaft, Geschlechtergrenzen, Erotik und Kunst
3.0.5 Neuerschaffung des Selbst, Gemeinschaft als Kunstform, Das Aufgehen des Ich im Anderen
3.1 Neuerschaffung des Selbst
3.1.1 Vermittlung von Anschauungen
3.1.2 Die Freiheit des Menschen
3.1.3 Vor- und Selbstbestimmung
3.1.4 Suche nach den eigenen Bedürfnissen und der eigenen Identität
3.1.5 Bewusste und unbewusste Fragmenterzeugung
3.1.6 Überführung von Unbewusstem in das Bewusstsein und Grenzziehung
3.1.7 Individualität und Gemeinschaftsdenken
3.2 Gemeinschaft als Kunstform
3.2.1 Ein mit dem Sein selbst verbundenes ,Mit-Sein‘|
3.2.2 Unterschiede zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft
3.2.3 Anleitungen und Rituale
3.2.4 Organisation und Formen der Gemeinschaft
3.2.6 Gemeinschaft als Idee
3.3 Das Aufgehen des Ich im Anderen
3.3.1 Die Beziehungen zwischen Ich und Anderem und Vorstellungen von der Liebe
3.3.2 Der Körper der Liebenden
3.3.3 Überschreiten der Geschlechtergrenzen
3.3.4 Sexualität und Erotik
3.3.5 Kunst und Schöpfung
4. Mensch und Maschine (Stelarc)
4.0.1 Verbindung von Mensch und Technik
4.0.2 Auswirkungen und Einfluss der Technik
4.0.3 Vorstellungen vom Cyborg
4.0.4 Projekt, Performance, Theorie, Experiment
4.0.5 Philosophie, Medien, Kybernetik und Artifizielle Intelligenz
4.0.6 Erweiterung, Vernetzung, Steuerung
4.1 Erweiterung
4.1.1 Psychische und physische Erfahrungen
4.1.2 Kunst als wissenschaftliches Experiment
4.1.3 Körperprothesen
4.1.4 Das Objekt als Teil des Subjekts
4.1.5 Verinnerlichung von Technik
4.2 Vernetzung
4.2.1 Informationsübertragung
4.2.2 Entwicklung von Sprache und Medien
4.2.3 Erweiterung der Sinne und des Denkvermögens
4.2.4 Vermittlung von Ich und Du mittels Maschine
4.3 Steuerung
4.3.1 Befehle, Feedback, Lernen
4.3.2 Sprache, Reflexion und Bewusstsein
4.3.3 ,Selbstständig‘ agierende Maschinen
4.3.4 Kunst, Wissenschaft, Gesellschaft und Religion
4.3.5 Natur – Kultur und die Veränderung des Mensch-Seins
5. Performance-Kunst als Technik zur Gestaltung einer Lebensform
Literaturverzeichnis
Internetquellen
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Performance als Lebensform: Zur Verbindung von Theorie und Praxis in der Performance-Kunst. Linda Montano, Genesis P-Orridge und Stelarc
 9783839437421

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Marion Leuthner Performance als Lebensform

Theater | Band 94

Für Alex

Marion Leuthner (Dr. phil.), studierte Kulturwissenschaft (B.A.) und Europäische Moderne – Geschichte und Literatur (M.A.) an der FernUniversität Hagen und promovierte am Institut für Theaterwissenschaft an der Johannes GutenbergUniversität in Mainz. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der Verbindung von Kunst, Wissenschaft und Leben.

Marion Leuthner

Performance als Lebensform Zur Verbindung von Theorie und Praxis in der Performance-Kunst. Linda Montano, Genesis P-Orridge und Stelarc

Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2016 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen. Herzlich danke ich Prof. Dr. Michael Bachmann für seine Aufgeschlossenheit gegenüber meinem Projekt und seine Unterstützung während des Entstehungsprozesses meiner Dissertation, Prof. Dr. Friedemann Kreuder für seine lobenden Worte und meinen Eltern, Gisela und Norbert, meinem Bruder Stefan und seiner Frau Stefanie Leuthner, dass sie mich auch auf diesem Weg begleitet haben.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Marion Leuthner Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3742-7 PDF-ISBN 978-3-8394-3742-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Einleitung | 9 2. Alltag und Religion (Linda Montano) | 29

2.0.1 Sakrale und profane Zeiten in Religion und Kunst | 34 2.0.2 Manifeste, Konzepte, Performances | 36 2.0.3 Leben, Religion und Kunst | 40 2.0.4 Verbindung von Theorien über Leben, Religion und Kunst | 42 2.0.5 Konzept und Vertrag, Wiederholung und Ausdauer, Ritual und Askese | 44 2.1 Konzept und Vertrag | 47

2.1.1 Organisation des menschlichen Lebens | 48 2.1.2 Sorge | 51 2.1.3 Die Möglichkeit der ,individuellen‘ Entscheidung | 54 2.1.4 Regeln für das Zusammenleben | 59 2.1.5 Verträge in der Performance-Kunst | 61 2.1.6 Rahmen und Werte | 65 2.2 Wiederholung und Ausdauer | 71

2.2.1 Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst | 75 2.2.2 Umgang mit alltäglichen Mustern | 80 2.2.3 Religiöse Handlungen | 83 2.2.4 Raum und Zeit | 86 2.2.5 Wiedererleben | 88 2.2.6 Säkularer Kontext der Moderne und Rückbindung an den Mythos | 92 2.3 Ritual und Askese | 100

2.3.1 Rituale | 103 2.3.2 Besondere Form des Handelns und des Vorstellens | 105 2.3.3 Das Heilige | 107 2.3.4 Der religiöse Mensch | 111 2.3.5 Entbehrung als Selbsterkenntnis und Sorge | 113 2.3.6 Religiöses Leben | 117

3. Ich und Anderer (Genesis P-Orridge) | 129

3.0.1 Vorbilder | 133 3.0.2 Gemeinschaften | 136 3.0.3 Künstlerische Identitätssuche als Lebens-Performance | 141 3.0.4 Theorien zu Identität, Gemeinschaft, Geschlechtergrenzen, Erotik und Kunst | 144 3.0.5 Neuerschaffung des Selbst, Gemeinschaft als Kunstform, Das Aufgehen des Ich im Anderen | 146 3.1 Neuerschaffung des Selbst | 149

3.1.1 Vermittlung von Anschauungen | 152 3.1.2 Die Freiheit des Menschen | 155 3.1.3 Vor- und Selbstbestimmung | 159 3.1.4 Suche nach den eigenen Bedürfnissen und der eigenen Identität | 162 3.1.5 Bewusste und unbewusste Fragmenterzeugung | 166 3.1.6 Überführung von Unbewusstem in das Bewusstsein und Grenzziehung | 169 3.1.7 Individualität und Gemeinschaftsdenken | 174 3.2 Gemeinschaft als Kunstform | 179

3.2.1 Ein mit dem Sein selbst verbundenes ,Mit-Sein‘| 181 3.2.2 Unterschiede zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft | 184 3.2.3 Anleitungen und Rituale | 187 3.2.4 Organisation und Formen der Gemeinschaft | 192 3.2.6 Gemeinschaft als Idee | 199 3.3 Das Aufgehen des Ich im Anderen | 205

3.3.1 Die Beziehungen zwischen Ich und Anderem und Vorstellungen von der Liebe | 206 3.3.2 Der Körper der Liebenden | 211 3.3.3 Überschreiten der Geschlechtergrenzen | 216 3.3.4 Sexualität und Erotik | 222 3.3.5 Kunst und Schöpfung | 224 4. Mensch und Maschine (Stelarc) | 233

4.0.1 Verbindung von Mensch und Technik | 237 4.0.2 Auswirkungen und Einfluss der Technik | 239 4.0.3 Vorstellungen vom Cyborg | 242 4.0.4 Projekt, Performance, Theorie, Experiment | 244

4.0.5 Philosophie, Medien, Kybernetik und Artifizielle Intelligenz | 246 4.0.6 Erweiterung, Vernetzung, Steuerung | 250 4.1 Erweiterung | 253

4.1.1 Psychische und physische Erfahrungen | 254 4.1.2 Kunst als wissenschaftliches Experiment | 260 4.1.3 Körperprothesen | 264 4.1.4 Das Objekt als Teil des Subjekts | 269 4.1.5 Verinnerlichung von Technik | 271 4.2 Vernetzung | 279

4.2.1 Informationsübertragung | 281 4.2.2 Entwicklung von Sprache und Medien | 285 4.2.3 Erweiterung der Sinne und des Denkvermögens | 290 4.2.4 Vermittlung von Ich und Du mittels Maschine | 295 4.3 Steuerung | 304

4.3.1 Befehle, Feedback, Lernen | 307 4.3.2 Sprache, Reflexion und Bewusstsein | 312 4.3.3 ,Selbstständig‘ agierende Maschinen | 318 4.3.4 Kunst, Wissenschaft, Gesellschaft und Religion | 322 4.3.5 Natur – Kultur und die Veränderung des Mensch-Seins | 326 5. Performance-Kunst als Technik zur Gestaltung einer Lebensform | 335 Literaturverzeichnis | 355 Internetquellen | 378 Filmverzeichnis | 380

1. Einleitung

In der Beschäftigung mit der Performance-Kunst hat lange Zeit die Flüchtigkeit der konkreten Handlungen im Vordergrund gestanden 1 . Vernachlässigt wurde dabei das Denken, das in ihr zum Ausdruck kommt. Die Performance-Kunst ermöglicht eine Verbindung von Theorie und Praxis, die über das einmalige Ereignis der Performance hinausweist und auf das Leben selbst ausgeweitete Formen annehmen kann. Infolgedessen wird in der vorliegenden Arbeit die Performance-Kunst zur Darstellung dieser Verbindungen nicht als ‚Live-Art‘, sondern als ‚Lebensform‘ reflektiert. Anstelle einzelner Performances steht der Austausch von Theorie und Praxis mit seinen Auswirkungen auf das Leben der Künstler im Zentrum des Interesses. Dieser Möglichkeit der Performance als einer ‚Lebensform‘ nachzugehen, wirft das Leben selbst betreffende Fragen auf: wie sich dem Menschen das Leben im Angesicht von Routinen und Gewohnheiten darstellt und er diesen gegenüber aktiv und bewusst Fähigkeiten und Strategien zur Lebensgestaltung entwickelt; auf welche Weise sich das Ich selbst kreieren und sowohl zur Selbstdefinition als auch für ein gemeinsames Schaffen mit Anderen ein produktives Austauschverhältnis eingeht; die Möglichkeiten aufzuzeigen, die dem Menschen durch Gegenstände zur Handlung und Selbstveränderung zur Verfügung stehen, die er – sowie sich selbst – immer weiter fort entwickelt. Im Folgenden soll es nicht um eine Veranschaulichung von Theorien gehen, die zu nicht ausführbaren, rein fiktiven Utopien der Künstler führen, sondern darum, Menschen darzustellen, die aktiv in ihrem Leben mittels der Kunst Grenzen überschreiten. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt dabei auf drei Gegenüberstellungen: ‚Alltag und Religion‘, ‚Ich und Anderer‘, ‚Mensch und Maschine‘. Diese werden mittels der Performance-Kunst der US-Amerikanerin Linda Montano, des Briten Genesis P-Orridge und des aus Zypern stammenden

1

Vgl. z.B. Phelan 2006, S. 146, Schneider 2006, S. 22 und Goldberg 2010, S. 9.

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ALS

L EBENSFORM

Australiers Stelarc untersucht2. Im Hinblick auf die Fragestellungen spielen unterschiedliche Gebiete wie Kunst, Religion, Philosophie, Psychologie, Kybernetik und Medien eine Rolle. Auf diese Weise sollen die Performance-Künstler in Verbindung zu modernen Denktraditionen gestellt werden, denen gegenüber sie allerdings nicht bei der reinen Theorie stehen bleiben, sondern mittels der Performance-Kunst zu einer Verbindung von Theorie und Praxis im Leben finden. Die Performance-Kunst mit dem Begriff der Lebensform zu verbinden nimmt Bezug auf Foucaults „Suche […] nach einer Ästhetik der Existenz.“3 In seiner Gleichstellung von Einzelwerk und dem Leben als Werk, überführt er den Begriff des Werks vom Bereich der Kunst in den Bereich des Lebens4. Jedoch erscheint der statische Begriff des Werkes nicht der Bewegung des Prozesses und der Dauer im Üben einer „Lebenskunst“5, wie sie Foucault beschreibt, gerecht zu werden. Angesichts dessen soll in Äquivalenz zu der Aussage Foucaults gegenüber der „Sorge um sich“ auch für die Performance-Kunst gelten, dass sie „nicht einfach eine zeitlich begrenzte Vorbereitung auf das Leben“, sondern „eine Lebensform“6 ist. Auf diese Weise wird mit Foucault eine Verbindung von Ästhetik und Ethik in der Performance-Kunst möglich7.

2

Siehe http://www.lindamontano.com/artist-bio/, Williams 1977, S. 770 und Paffrath

3

Foucault 2007, S. 282.

4

„Ich mache da keinen Unterschied zwischen Menschen, die ihr Dasein zu einem Werk

1984, S. 8.

machen, und solchen, die in ihrem Dasein ein Werk schaffen. Das Dasein kann ein vollkommenes und sublimes Werk sein. Die Griechen wussten das, während wir es vollkommen vergessen haben, vor allem seit der Renaissance.“ Foucault 2007, S. 111. 5

Foucault 2007, S. 110.

6

Foucault 2007, S. 126. Siehe 2.0.3 ‚Leben, Religion und Kunst’, S. 40 und 2.1.2 ‚Sor-

7

Zur Verbindung von Ästhetik und Ethik siehe Foucault 2007, S. 282; bzw. siehe 2.1.2

ge‘, S. 51ff. ‚Sorge‘, S. 51ff. Es sei an dieser Stelle auf das Buch Philosophie als Lebensform von Hadot verwiesen. Kennzeichen für die Lebensform des antiken Philosophen nach Hadot sind: „Seelenfrieden […], […] innere Freiheit […], und […] kosmische[s] Bewußtsein“ (Hadot 2011, S. 179.) Wie zu sehen sein wird haben die drei Künstler für eine solche Perspektive jeweils eigene Wege gefunden. Sie eint, sich jeweils einen eigenen Rahmen gewählt zu haben. Auch wenn sie dabei nicht wie die antiken Philosophen nach Hadot die Weisheit zu erlangen suchen (siehe ebd.), streben auch sie nach einem höheren, nicht erreichbaren Ziel. (Siehe 5. ‚Performance-Kunst als Technik zur Gestaltung einer Lebensform’, S. 350.). (Aufgrund der fehlenden Kenntnis des Bu-

E INLEITUNG | 11

Die Untersuchung steht im Kontext von aktuellen Bestrebungen die Performance als eine Art des Denkens gegenüber der Philosophie zu etablieren. Mit dem Begriff „Performance Philosophy“8 schlägt Cull eine Umkehrung der Richtung von der Reflexion zur Aktion hin zur Betonung der Bedeutung der Aktion für die Reflexion vor: „increasing the tendency for concepts to come from performance.“9 Damit verweist sie auf die der Performance inhärente Möglichkeit besondere Denkprozesse auszulösen. Eine Nähe von Theorie und Praxis, sowohl im reflexiven als auch exekutiven beziehungsweise expressiven Sinne, kommt in Puchners Verbindung von Theater und Philosophie zum Ausdruck, die seiner Meinung nach „intimately, if continously, related“10 sind. Und Rokem beschäftigt sich in Philosophers and Thespians mit der gegenseitigen Beeinflussung in der Entwicklung von Strategien zwischen diesen beiden Personengruppen, indem er den Fragen nachgeht: „how philosophers have tried to embrace thespian modes of expression“ und „how the philosophers’ thespian partners have frequently applied philosophical tools and modes of thinking in their own work.“11 Im Folgenden wird nach einem Austauschverhältnis zwischen Denken und Handeln, Aktion und Reflexion zu fragen sein, das in einer Vermittlung von Performance und Konzept und letztlich in den Auswirkungen der Kunst auf das Leben der Künstler zum Ausdruck kommt. Insofern steht diese Arbeit auch in Verbindung zu Bestrebungen, die Theater- beziehungsweise Kunstwissenschaften mit anderen Theorien in Bezug zu stellen. In diesem Zusammenhang verweist Fischer-Lichte auf eine Zusammenführung der Kunstwissenschaften, die sie vor allem an zwei Punkten verdeutlicht: „zum einen die zunehmende Aufhebung der Grenze zwischen den Künsten, wie sie durch Performativierung, Hybridisierung und Multimedialisierung hervorgebracht wird, und zum anderen die Ästhetisierung der Lebenswelt“ 12 . Angesprochen sind damit Verbindungen von unter-

ches von Hadot zur Zeit der Entstehung des vorliegenden Buches wird es im Folgenden nicht weiter erwähnt.) 8

Siehe Cull 2014, S. 15.

9

Cull 2014, S. 23.

10 Puchner 2010, S.vii. 11 Rokem 2010, S. 2. 12 Fischer-Lichte 2010, S. 7.

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ALS

L EBENSFORM

schiedlichen Bereichen der Kunst, aber auch der von Kunst und Leben, die alle für eine Überwindung von Grenzen stehen13. Mit dem Begriff der Performance können Bereiche der Wissenschaft und der Kunst in Zusammenhang gebracht, Theorie und Praxis miteinander in Bezug gestellt und die alltägliche Lebenswelt des Menschen thematisiert werden. Auf unterschiedliche Weise wird der Begriff in den verschiedenen Disziplinen definiert, werden unterschiedliche Schwerpunkte bei der Verwendung des Begriffs der Performance gelegt. Insofern beinhaltet er eine Vielfalt unterschiedlicher Bewertungen und Deutungsdimensionen, die von der alltäglichen Selbstdarstellung des Menschen14 bis zur künstlerischen Performance in der Performance-Kunst reichen15. Auf diese Weise wird der Begriff zwar unterschiedlich definiert, aber nimmt dabei keine die Disziplinen voneinander trennende Position ein, sondern scheint als Vermittler, immer wieder Disziplinen miteinander in Verbindung bringen zu können. Gerade diese dem Begriff inhärente Möglichkeit macht ihn für die vorliegende Arbeit bedeutsam. Bereits im Alltag ist die Performance, wie Goffman zeigt, auf unterschiedliche Weise Teil unseres Lebens. In The Presentation of Self in Everyday Life untersucht er Strategien des Menschen, anderen von sich ein bestimmtes Bild zu vermitteln. „A ‚performance‘ may be defined as all the activity of a given participant on a given occasion which serves to influence in any way any of the other participants.“16 Allerdings verbinden sich bei Goffman unbewusste Verinnerlichung gesellschaftlicher Regeln und bewusste Idealisierung derselben, die zur Betonung individueller Eigenschaften führt. Letztlich scheint sich der Mensch, nach seiner Theorie, unbewusst Verhaltensmuster anzueignen, die er mit dem Glauben an ihre Realität, als zur eigenen Identität zugehörig empfindet17. Denn gleich ob die Performance eines Menschen im alltäglichen Leben anderen als „real“ oder „contrived“18 erscheint, könne im Großen und Ganzen davon ausge-

13 Zur Bedeutung der Thematisierung der Grenzen in der Kunst schließt Rajewsky: „Grenzziehungen und die Grenze als solche lassen sich in diesem Sinne als Ermöglichungsstrukturen begreifen, als Strukturen, die Spielräume und neue Bedeutungs- und Erfahrungszusammenhänge schaffen.“ Rajewsky 2010, S. 47. Über Kunst und NichtKunst und eine weitere Grenze zum Leben siehe Reiche/Romanos/Szymanski 2011. 14 Siehe Goffman 1959, S. 15, bzw. in diesem Text das Folgende. 15 Vgl. Schechner 2006, S. 167 oder Fischer-Lichte Fischer-Lichte 2004, S. 352. 16 Goffman 1959, S. 15. Siehe auch 2.2. ‚Wiederholung und Ausdauer‘, S. 74. 17 Siehe Goffman 1959, S. 41 und S. 48, S. 70 und S. 72. 18 Goffman 1959, S. 70.

E INLEITUNG | 13

gangen werden, dass viele selbst von der Realität derselben überzeugt sind, und jeder Mensch lernt auch innerhalb von Situationen, Rollen zu wechseln. Künstlerische Performances werden demgegenüber, nach Schechner, durch Rahmung und Bezeichnung zu einer Performance gemacht19 oder wie FischerLichte für den Begriff der Aufführung feststellt, ist es „der institutionelle Rahmen, der darüber entscheidet, ob sie als künstlerisch oder nicht-künstlerisch einzustufen sind.“20 Was die Performance darüber hinaus als grundlegend von der allgemeinen, alltäglichen Performance, wie sie Goffman untersucht, unterscheidet, ist die aktive Entscheidung zu ihrer Ausführung, oder wie Carlson hervorhebt „a consciousness that gives them the quality of performance“21 und damit das Bewusstsein gegenüber einem bestimmten Wert dieser Handlung. Bewusstsein muss sich deshalb aber nicht auf die Ausführung selbst erstrecken. Insofern ist die Performance, wie zu sehen sein wird, auch ein Rahmen, um das Bewusstsein zu verlieren und damit eine bewusste Entscheidung zum Bewusstseinsverlust22. Es muss hervorgehoben werden, dass die Performance-Kunst hier selbst nicht im Sinne der Aufführung im Mittelpunkt steht, sondern als eine auf das Leben selbst angewendete und damit auch praktizierte Theorie aufgezeigt werden soll. Obgleich der Begriff der Performance, wie Goldberg feststellt, als „open-ended“23 bezeichnet werden kann, gibt es in der Beschäftigung mit Performance-Kunst eine Betonung im Hinblick auf die Möglichkeiten der Teilnahme und der Beziehung zwischen Akteuren und Zuschauern. Von Bedeutung für die Definition von Performance ist, auch wenn dies nach Goldberg als die allgemeinste Form der Definition erscheint, dass Kunst hier auf ‚direktem Wege dem Publikum dargebracht‘24 wird, es sich vor allem um „live art by artists“25 han-

19 Siehe Schechner 2006, S. 167. 20 Fischer-Lichte 2004, S. 352. Diese künstlerische Rahmung wird in Verbindung mit der historischen Avantgarde im ersten Kapitel, anhand Bürger und Groys, näher erläutert werden. Siehe 2.1.6 ‚Rahmen und Werte’, S. 65ff. 21 Carlson 2009, S. 4. 22 Siehe für Montano 2.3 ‚Ritual und Askese‘, S. 100ff.; für P-Orridge 3.1.4 ‚Suche nach den eigenen Bedürfnissen und der eigenen Identität‘, S. 162ff.; für Stelarc 4.1.1 ‚Psychische und physische Erfahrungen‘, S. 254ff. 23 Goldberg 2010, S. 9. In ihrem folgenden Buch verweist Goldberg erneut auf diese Definition. Siehe Goldberg 2004, S. 12. 24 „The history of performance art in the twentieth century is the history of a permissive, open-ended medium with endless variables, executed by artists impatient with the lim-

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ALS

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delt. Für Fischer-Lichte kulminiert der Begriff der Performance in der Aufführung26. Mittels einer Verschiebung des Werks zum Ereignisbegriff27, die ebenfalls bei Goldberg zu finden ist28, und dem Verweis einer Verbindung zwischen Performance und Ritual, das wiederum gemeinschaftsbildende Auswirkungen besitzt29, betont Fischer-Lichte die Vereinigung von Akteuren und Zuschauern, die sich in einer „feedback Schleife“30 befinden. Vor allem Phelan beschränkt den Begriff der Performance auf die Dauer der Performance selbst: „Performance’s only life is in the present. Performance cannot […] participate in the circulation of representations of representations: once it does so, it becomes something other than performance.“31 Auf diese Weise wird die Performance eingeengt auf den Vollzug von Handlungen von Akteuren vor einem Publikum und damit auf das unmittelbare Ereignis und Erlebnis derselben. Auch Schneider betont die Bedeutung des Verhältnisses von Akteur und Zuschauer32 hebt allerdings daneben auch die Bedeutung des Relikts gegenüber dem Ereignis hervor: „To my mind, we would do well to trouble any distinction between live arts and still arts that relies on an (historically faulty) absolutist distinction between performance and remains.“ 33 Diese Verschiebung der Bedeutung des Relikts fußt jedoch auf der Bedeutung, die es für Schneider als Mittel der Erinnerung – ob als körperliche, flüchtige Performance oder als archiviertes Relikt – gewinnt34. Gleichzeitig spricht sie auf diese Weise auch die Veränderung des Begriffs der Performance an, die aus dem Historisch-Werden desselben resultiert. Dabei ergeben sich nicht lediglich neue Perspektiven innerhalb des Feldes der Performance-Kunst, sondern auch neue Möglichkeiten im Hin-

itations of more established forms, and determined to take their art directly to the public.“ Goldberg 2010, S. 9. 25 Goldberg 2010, S. 9. 26 Siehe Fischer-Lichter 2004, S. 41. 27 Siehe Fischer-Lichte 2004, S. 22 und S. 29. 28 Siehe Goldberg 2010, S. 152, bzw. 2.0.2 ‚Manifeste, Konzepte, Performances‘, S. 38f. 29 Siehe Fischer-Lichte 2004, S. 41, S. 44f. und S. 86. 30 Siehe Fischer-Lichte 2004, S. 59. 31 Phelan 2006, S. 146. 32 „Performance implies always an audience/performer or ritual participant relationship – a reciprocity, a practice in the constructions of cultural reality relative to its effects.“ Schneider 2006, S. 22. 33 Schneider 2011, S. 138. 34 Siehe Schneider 2011, S. 2, S. 10 und S. 100.

E INLEITUNG | 15

blick auf die Dauer der Beschäftigung mit bestimmten Themen der PerformanceKünstler. Diese zeitliche Dauer über die kurze Zeitspanne der Performance als momenthaftes Ereignis hinaus, ermöglicht das Austauschverhältnis von Reflexion und Aktion näher zu betrachten und mit ihm die Entwicklungen unterschiedlicher Strategien darzustellen, die sich auf die Lebensdauer der Künstler ausweiten. In diesem Sinne soll hier untersucht werden, inwiefern mit dem Begriff der Performance-Kunst auch eine innere Lebenseinstellung verbunden werden kann, die Künstler in ihren Theorien zu umfassen und weiterzuentwickeln suchen und mittels derer sie andererseits bestimmte Praktiken zur Beschäftigung und Erforschung derselben entwickeln. Und so besitzt für Jones die Performance-Kunst eine Bedeutung als mögliches Vehikel zur ‚Transformation des Lebens‘35, die über den Begriff der Performance als Aufführung hinausweist, die von einem Publikum miterlebt werden kann36. Sie beschäftigt sich in ihrer Darstellung der Body Art mit der Performance als einer Praxis, die Möglichkeiten der Teilnahme eines Publikums oder des nachträglichen, medialen Nacherlebens durch „photography, film, video, and/or text“37 mit einschließt. In der folgenden Untersuchung wird es um Performances, Experimente und Projekte gehen, die von den Künstlern vollzogen und als Text einem Diskurs überlassen werden. Das Publikum spielt für die Performance-Künstler Montano 38 , P-Orridge und Stelarc eine untergeordnete Rolle. Unterschieden werden können Performances von diesen Künstlern in solche, die entweder von Menschen miterlebt werden, die dies nicht bewusst als Kunst erleben (zum Beispiel auf der Straße wie bei Montano 39 oder auch über einem Straßenzug im Falle Stelarcs40) oder auch privat (zum Beispiel als Ritual, wie im Falle P-Orridges41)

35 „Performance art has typically been defined as motivated by a ‚redemptive belief in the capacity of art to transform human life,’ as a vehicle for social change, and as a radical merging of life and art.“ Jones 1998, S. 13. 36 So hebt z. B. van Eikels die Bedeutung der Praxis und der ‚Verwirklichung‘ in Bezug auf die Performance-Kunst hervor. Siehe van Eikels 2013, S. 28f. 37 Jones 1998, S. 13. 38 Zur Verinnerlichung des Publikums bei Montano siehe 2.2.1 ‚Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst‘, S. 79f. 39 Siehe Montano 1981 (The Story of my Life). 40 Siehe http://stelarc.org/?catID=20316.

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beziehungsweise mit sehr kleinem ausgewähltem Publikum, dessen Anwesenheit teilweise auch dazu dient, die Performance technisch erst zu ermöglichen (wie zum Beispiel bei Stelarc42). Beachtet werden muss dabei immer, dass die Performance-Kunst dieser Künstler als Bestandteil ihres Lebens sich auch auf dasselbe auswirkt. Sie alle tragen, wie es Stelarc formuliert „the physical consequences of ones ideas“43. Leben und Kunst sind kaum mehr voneinander zu trennen, das Leben und der Mensch sind in die Idee der Kunst übergegangen und der Künstler ist zur ‚lebenden Skulptur’ 44 geworden45 . Der Künstler scheint selbst zur Kunst zu werden und doch wird auch diese Grenze immer wieder auf unterschiedliche Weise infrage gestellt: denn für Stelarc spielt das Subjekt dahinter eine untergeordnete Rolle46, P-Orridge sucht das Kollektive47 und für Montano geht die Kunst mit dem Leben teilweise eine derart enge Verbindung ein, dass sie selbst die Grenzen derselben kaum mehr ziehen kann48. Als entscheidend erscheint hier, dass die Verantwortung für die Handlung jeder Künstler in erster Linie für sich selbst übernimmt. Dieser Tatsache steht ein Austauschverhältnis zwischen Akteur und Zuschauer entgegen, das noch explizit auf eine Unterscheidung zwischen aktiv und passiv verweist, angesichts der von

41 P-Orridge hat für diese Rituale eine Art Aufpasser, den er ‚The Eye‘ nennt. Siehe Kinney/Breyer P-Orridge 2009, S. 341, bzw. 3.1.4 ‚Suche nach den eigenen Bedürfnissen und der eigenen Identität‘, S. 164. 42 Siehe Stelarc/Smith 2005, S. 237f., sowie http://stelarc.org/?catID=20316, bzw. 4.1 ‚Körperprothesen‘, S. 267f. 43 http://www.t0.or.at/stelarc/interview01.htm. 44 „living sculpture“ Juno/Montano 1991, S. 53, sowie Goldberg 2010, S. 167. Dieser Begriff wird mittels Goldberg und Krauss anhand Montano veranschaulicht. Siehe 2.0.2 ‚Manifeste, Konzepte, Performances’, S. 37f. und 2.2.6 ‚Säkularer Kontext der Moderne und Rückbindung an den Mythos‘, S. 93f. 45 „Das Problem der Subjektkonstitution erscheint als zentrale Schnittstelle bei der Betrachtung theatraler Praktiken aus einer kunst- und kulturwissenschaftlichen Perspektive.“ Kreuder/Bachmann/Pfahl/Volz 2012, S. 11. 46 Siehe 4.1.1 ‚Psychische und physische Erfahrungen‘, S. 260. 47 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2010/10/douglas-rushkoff-and-genesis-porridge.html?zx=b40322ff019d35c7. Bzw. 3.3.5 ‚Kunst und Schöpfung‘, S.229 und 3.2 ‚Gemeinschaft als Kunstform’, S. 179ff. 48 Siehe Kussoy/Montano 2005, S. 163, bzw. ‚2.2.1 Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst‘, S. 79.

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Grehan die Bedeutung eines möglichen ethischen Umdenkens aufseiten des Zuschauers thematisiert wird49. Es wird im Folgenden zu fragen sein, inwiefern gerade durch die Herangehensweise an Kunst und Leben dieser drei Künstler eine jeweilige Eigenverantwortung jedes Individuums angesprochen wird, Entscheidungen zu fällen, Überlebensstrategien zu entwickeln und deshalb bereits von einer ethischen Grundeinstellung der Künstler ausgegangen werden kann. In diesem Sinne geht es um eine theoretische Annäherung an eine lebendige Kunst. Werden Ideen und Theorien veranschaulicht, die zur Kunst führen, gehen mit den Performances Formen des Konzepts einher sind sie auf diese Weise mit Schrift und Sprache verbunden, reflektieren sie sowohl mittels bestimmter Konzepte als auch durch Performances bestimmte Fragestellungen die nicht nur die Kunst, sondern auch das menschliche Leben betreffen. Über Austins Sprechakttheorie50, die auf unterschiedliche Weise für den Begriff der Performance interpretiert wurde hinaus51, ist in diesem Zusammenhang die Entstehung der Conceptual Art von Bedeutung 52 . Lippard und Chandler sprechen von einem Interesse der Konzept-Kunst an der „dematerialization of art“ und heben den Reflexionsprozess gegenüber der Aufführung durch die Formel: „The studio is again becoming a study“53 hervor. Sie betonen den experimentellen und auf Übung angelegten Charakter dieser Kunst, für den trotz Dematerialisierung weiterhin die Ästhetik eine Rolle spielt. In dieser ‚Dematerialisierung der Kunst’ in der Konzept-Kunst kann eine Parallele zur Verschiebung vom Werk zum Ereignis und Happening und damit zum Prozess in der Per-

49 „Ultimately this incident, along with the works addressed in this book challenge spectators to consider a host of difficult and often contradictory ethical questions about the importance of a commitment to response and responsibility and how such a commitment might be activated and sustained.“ Grehan 2009, S. 175. 50 Siehe Austin 1975. 51 Siehe Fischer-Lichte 2004, S. 26 und Krämer 2009. Diese Beispiele gehen allerdings auch von einem Akteur-Zuschauer Verhältnis aus. Siehe Krämer 2009, S. 141. 52 Obgleich es wenige Künstler zu geben scheint, die sich als Konzeptkünstler bezeichnen möchten: „M. C.: […] I cannot remember any artist ever accepting himself to be a conceptual artist? […]. S.S.: I think Joseph (Kosuth) did.“ Dusinberre/Siegelaub/Buren/Laura 1999, S. 438. 53 Lippard/Chandler 1999, S. 46.

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formance-Kunst gesehen werden, die Goldberg und Fischer-Lichte aufzeigen54. Eine Möglichkeit, diesen Ideen der Konzept-Kunst Ausdruck zu verleihen und Realität werden zu lassen, ist, wie Goldberg hervorhebt, und wie auch im Kapitel über Montano zu sehen sein wird, der Körper und mit ihm die Performance55. Gleichzeitig sucht Goldberg diesen materialistischen Ansatz durch unterschiedliche theoretische Strategien zu relativieren, denen sich die Künstler zur Annäherung an eigene, sowie kollektive Erinnerungen und Ideen bedienen56. Auf diese Weise wird der Körper zum materiellen Träger für Theorien und verweist dabei gleichzeitig sowohl auf die Flüchtigkeit seiner Präsenz im Gegensatz zum dauerhaften Werk als auch auf die Generierung von Ideen und reflexiver Praxis. Betont wird damit auch ein Streben nach Strukturierung und Organisation, angesichts dem Lippard und Chandler im Zusammenhang mit der Konzept-Kunst einen Vergleich zur Wissenschaft vor allem der Mathematik ziehen57. Hier sollen Theorien aus unterschiedlichen Bereichen wie Philosophie, Religionswissenschaft, Naturwissenschaft und Medientheorie dazu dienen, einzelne Themen näher zu veranschaulichen sowie auf eine Überführung der Theorie in die Lebenspraxis anhand der drei Performance-Künstler zu verweisen. Wissenschaft und Kunst gehen bei den Künstlern unterschiedliche Beziehungen ein. So ist die Wissenschaft im Hinblick auf Stelarcs Verbindung von Performance und Technik von Bedeutung, in Bezug auf die Generierung einer auf das Leben ausgeweiteten Philosophie bei P-Orridge und im Sinne eines Vergleichs des experimentellen, konzeptionellen Vorgehens in der Vermittlung von PerformanceKunst, Religion und therapeutischer Praxis bei Montano58. Anstelle der verbreiteten Darstellung der Performance, als einer auf dem unmittelbaren Ereignis beruhenden Praxis, die auf unterschiedliche Weise Beziehungen zwischen Akteuren und Zuschauern zu generieren sucht, stehen hier die

54 Dass dies auch zu einer Verschiebung in Richtung Materialität durch Betonung des Körpers führt, wird im Kapitel über Montano diskutiert werden. Siehe 2.0.2 ‚Manifeste, Konzepte, Performances‘, S. 37f. 55 Siehe Goldberg 2010, S. 152. Und siehe 2.0.2 ‚Manifeste, Konzepte, Performances‘, S. 36ff. 56 Siehe Goldberg 2010, S. 153. 57 Siehe Lippard/Chandler 1999, S. 48. Über diese Verbindung von Mathematik, Wissenschaft und Kunst wird vor allem im 4. Kapitel mit Heisenberg die Rede sein. Siehe 4.1.2 ‚Kunst als wissenschaftliches Experiment‘, S. 260ff. 58 Über die Verbindung künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung siehe den Band von Tröndle/Warmers 2012.

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Künstler mit ihren jeweiligen Theorien und Praktiken, die ihre Leben als Ganzes beeinflussen, im Mittelpunkt. Es wird im Folgenden nicht um eine Darstellung oder Interpretation konkreter Performances dieser drei Künstler gehen, sondern vielmehr darum, ihre Ideen in einen erweiterten, theoretischen Kontext zu stellen. Hier soll nicht versucht werden, durch das Medium der Schrift, Performances der hier dargestellten Künstler zu interpretieren oder auch zu übersetzen und auf diese Weise zu einem wiederholbaren Erlebnis zu machen. Statt eines Versuchs die Erfahrungen der Künstler zu verstehen, geht es darum zu untersuchen, auf welche Weise sie einen Weg zwischen geistiger und körperlicher Erfahrung, Theorie und Praxis, ihre Kunst und mit ihr, ihr Leben zu gestalten suchen. Entsprechend wird hier der Begriff der Performance als ein spezifisch vergebener Wert in Verbindung zur Kunst gestellt und nicht als unterscheidbar zum authentischen, wahren Subjekt in der alltäglichen Lebenswelt des Menschen verstanden59. Dabei beinhaltet der Begriff der Performance die Möglichkeit eine bestimmte Stellung zum eigenen Selbst zu Anderen, Gegenständen und der Welt einzunehmen und ermöglicht damit zu einem besonderen Status von Bewusstsein gegenüber dem eigenen Denken und Handeln zu gelangen. Auf diese Weise soll die Performance-Kunst um die Möglichkeit einer sowohl ästhetischen als auch ethischen Lebenspraxis erweitert werden. Mit der Suche nach Techniken zur aktiven Lebensgestaltung, vorrangig im Bereich der Kunst, der die Theorie immer wieder dazu dient, Konzepte zu entwickeln, nach Plan zu experimentieren, thematisiert diese Untersuchung eine Form der Verbindung von Kunst und Leben, wie sie für die Moderne vor allem von Nietzsche propagiert wurde und gleichzeitig neue Fragen aufgeworfen hat. Für Nietzsche ist sein Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik im Rückblick aus unterschiedlichen Gründen ein Fehlschlag60. Und doch findet er in ihm eine bedeutende Fragestellung: „das Problem der Wissenschaft selbst […] – Wissenschaft zum ersten Male als problematisch, als fragwürdig gefaßt.“61 Aber dieses „Problem der Wissenschaft“ scheint nicht mittels der Wissenschaft klärbar, sondern benötigt zu seiner Grundlage die Kunst. Und so sieht Nietzsche die „Aufgabe […], an welche sich jenes verwegene Buch zum ersten

59 Es sei an dieser Stelle noch einmal auf das Zitat Foucaults verwiesen, (siehe 2.0.3 ‚Leben, Religion und Kunst‘ , S. 42.), der vorschlägt, nicht zu unterscheiden „zwischen Menschen, die ihr Dasein zu einem Werk machen, und solchen, die in ihrem Dasein ein Werk schaffen.“ Foucault 2007, S. 111. 60 Siehe Nietzsche 2000, S. 9. 61 Nietzsche 2000, S. 11.

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Male herangewagt hat [darin], die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens…“62 Und auch diese Verbindung der Darstellung von Wissenschaft, Kunst und Leben ist noch nicht vollständig: „[F]ügen wir seine schwerste Frage hinzu! Was bedeutet, unter der Optik des Lebens gesehen, – die Moral?…“63 Einer christlichen, moralischen Weltauslegung stellt Nietzsche eine ‚ästhetische‘ gegenüber, die er im Falle von Die Geburt der Tragödie in Dionysos verkörpert findet 64 . An dieser Stelle steht die Grenzziehung einer ästhetischen gegenüber einer moralischen Weltauslegung. Nietzsche möchte seine Schrift als „antichristliche“65 verstanden wissen und dennoch stellt sich in Bezug zur folgenden Darstellung die Frage, inwiefern er auf andere Weise die ‚Moral‘ in seine Theorie wieder einführt: durch den Mythos 66 . In Zur Genealogie der Moral prangert Nietzsche die Folgen von Schuld und Strafe für den Menschen im Christentum an: „Eine Schuld gegen Gott: dieser Gedanke wird ihm zum Folterwerkzeug.“67 Im Atheismus sieht er die Möglichkeit des Menschen, sich von dieser Schuld zu befreien68. Dennoch ist damit eine Erlösung von der monotheistischen Religion des Christentums angesprochen, denn „[d]aß an sich die Konzeption von Göttern nicht notwendig zu dieser Verschlechterung der Phantasie führen muß, […] das läßt sich zum Glück aus jedem Blick noch abnehmen, den man auf die griechischen Götter wirft“69. In diesem Zusammenhang ist der Unterschied zwischen archaischen Kulturen und dem Christentum bedeutsam, den Eliade hervorhebt: Während die zyklische Struktur in archaischen Kulturen eine Neuerschaffung des Individuums ermöglicht, führt die lineare Struktur des Christentums zu einer Geschichte seiner

62 Nietzsche 2000, S. 12. 63 Nietzsche 2000, S. 15. 64 Siehe Nietzsche 2000, S. 18. 65 Nietzsche 2000, S. 18. 66 „Ohne Mythus aber geht jede Kultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbewegung zur Einheit ab. Alle Kräfte der Phantasie und des apollinischen Traumes werden erst durch den Mythus aus ihrem wahllosen Herumschweifen gerettet.“ Nietzsche 2000, S. 171. 67 Nietzsche 1991, S. 85. 68 Siehe Nietzsche 1991, S. 83. 69 Siehe Nietzsche 1991, S. 86.

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Schuld70. Neben der Darstellung der zyklischen Strukturen und des Mythos in archaischen Kulturen mit Eliade wird die Bedeutung derselben im ersten Kapitel auch im Hinblick auf die historische Avantgarde thematisiert werden, auf deren Schaffen Nietzsche Einfluss genommen hat71. Als eine Folge der Todeserklärung Gottes durch Nietzsche wird in der Moderne das Subjekt nicht nur in der Philosophie Camus’ und Sartres zum Schöpfer des eigenen Lebens72, sondern auch der Künstler erhält die Möglichkeit zur Autonomie. Die Avantgardisten streben nach Krauss eine Selbstgeburt durch ihre Kunst an und versuchen, wie Bürger darstellt, die „Kunst in die Lebenspraxis zurückzuführen“73. Mit Nietzsche sind damit für die folgende Fragestellung bedeutende Themen angesprochen: Zur Erklärung der Wissenschaft kann die Kunst zu Rate gezogen werden. Die Kunst wiederum verbindet sich für ein besseres Verständnis derselben mit dem Leben und mit ihm mit der Frage nach der Notwendigkeit von Moral. Einerseits erscheint der Mensch dabei als Teil eines ewigen sich wiederholenden Prozesses, andererseits steht die Möglichkeit zur aktiven Entscheidung und der Umgang des Menschen mit diesen beiden Phänomenen infrage 74. Im Folgenden werden verschiedene Kontexte und Formen von Glauben und Unglauben im Hinblick auf Religion und individuelle Wertgebung dargestellt werden75. Am deutlichsten in den Performances Montanos, da sie explizit religiöse

70 Siehe Eliade 2007, S. 68f. und S. 176. 71 Siehe 2.2.3 ‚Religiöse Handlungen‘, S. 83ff. und 2.2.6 ‚Säkularer Kontext der Moderne und Rückbindung an den Mythos’, S. 92ff. 72 Siehe Nietzsche 1976, S. 13 und S. 92. Zur Theorie Camus’, siehe 2.2.2 ‚Umgang mit alltäglichen Mustern‘, S. 82f und zur Theorie Sartres 3.1 ‚Neuerschaffung des Selbst‘, S. 150. 73 Bürger 1974, S. 28. Für das Vorhergehende siehe Krauss 2000, S. 205. 74 „Es ist ein ewiges Phänomen: immer findet der gierige Wille ein Mittel, durch eine über die Dinge gebreitete Illusion seine Geschöpfe im Leben festzuhalten und zum Weiterleben zu zwingen. […]. Aus diesen Reizmitteln besteht alles, was wir Kultur nennen: je nach der Proportion der Mischungen haben wir eine vorzugsweise sokratische oder künstlerische oder tragische Kultur“; Nietzsche 2000, S. 135. 75 Über ‚Glauben‘ und ‚Unglauben‘ in den Theorien zum ‚Theater‘ bei Kierkegaard und Nietzsche, siehe Deleuze 2007, S. 27. In Bezug auf diese Unterscheidung schließt Deleuze: „Man hat uns allzu oft gedrängt den Atheisten von der Seite des Glaubens […], kurz: von der Seite der Gnade aus zu beurteilen, als daß wir nicht versucht wären, die umgekehrte Bewegung zu vollziehen: den Gläubigen nach dem gewalttätigen Athei-

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Praktiken und Techniken mit religiösem Bezug in ihren Performances anwendet, aber auch selbst Entscheidungen und eigenständige Wertungen vornimmt und Zusammenhänge für ihre Performances herstellt76. Trotz der Ablehnung jeglicher Dogmen kommen auch bei P-Orridge religiöse Kategorien und Denkmuster zur Bildung von Identität, Gemeinschaft und dem Wunsch nach dem Erlangen einer gemeinsamen Transzendenz zum Ausdruck77. Stelarc bezeichnet sich selbst als Atheisten und sieht seine Suspensions, die in einem religiösen hinduistischen Kontext stehen, nicht glaubensmäßig in diesem Zusammenhang78. Sein Schaffen ist der technischen Entwicklung des Menschen und der Vorbereitung auf ein Leben in möglichen Universen gewidmet, womit eine Ersetzung des Glaubens an ein Jenseits angedeutet ist79. Dem Menschen werden immer wieder Praktiken an die Hand gegeben, und er ist selbst dazu in der Lage, derartige Praktiken und Techniken zu entwickeln – dies wird im Laufe dieser Arbeit deutlich. Sloterdijk spricht von „Anthropotechniken“80. Anstelle der Religion gebe es „nur mißverstandene spirituelle Übungssysteme“81, womit für ihn die Unterscheidung in Glauben und Unglauben hinfällig wird. Und so setzt Sloterdijk einer vermeintlichen Wiederkehr der Religion Formen der Übung entgegen82. Mit „Übung“ meint Sloterdijk „jede Operation, durch welche die Qualifikation des Handelnden zur nächsten Ausführung der gleichen Operation erhalten oder verbessert wird, sei sie als Übung deklariert oder nicht.“83 In gewisser Weise aber scheint die Übung zumindest den Glauben an ihre Bedeutung zu beinhalten oder mit dem Wert belegt zu sein, wenn schon

sten zu beurteilen, der in ihm wohnt, nach dem auf ewig in der Gnade und für ‚allemal‘ gegebenen Antichrist.“ Ebd. S. 129f. 76 Siehe 2. ‚Alltag und Religion‘, S. 29ff. und 2.1.6 ‚Rahmen und Werte‘, S. 65ff. 77 Siehe 3.1.6 ‚Überführung von Unbewusstem in das Bewusstsein und Grenzziehung‘, S. 169f.; 3.2.3 ‚Anleitungen und Rituale‘, S. 187ff. und 3.3.5 ‚Kunst und Schöpfung‘, S. 224ff. 78 Siehe 4.0.2 ‚Auswirkungen und Einfluss der Technik‘, S. 239f. 79 Siehe 4.1.5 ‚Verinnerlichung von Technik‘, S. 276f. 80 Sloterdijk 2011, S. 23. 81 Sloterdijk 2011, S. 12. 82 „Ich werde zeigen, daß eine Rückwendung zur Religion ebensowenig möglich ist wie eine Rückkehr der Religion – aus dem einfachen Grund, weil es keine ‚Religion‘ und keine ‚Religionen‘ gibt […].“ Sloterdijk 2011, S. 12. 83 Sloterdijk 2011, S. 14.

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nicht zu einer Verbesserung so doch zumindest zur Vermeidung einer Verschlechterung zu führen. Die Beschäftigung Sloterdijks gilt den „symbolischen beziehungsweise psycho-immunologischen Praktiken“84, denn mittels ihnen hofft er, die „Anthropotechniken“ zu finden. In diesen kulturellen ‚Übungsverfahren’, die die Basis für eine Verbesserung des psychischen und physischen „Immunstatus“85 darstellen, sieht er eine Möglichkeit jenseits von „gentechnischen Experimenten“ 86 und möchte verdeutlichen, dass Anthropotechniken (auch) eine Frage der „menschlichen ‚Arbeiten an sich selbst‘“87 darstellen. Zur Debatte stehen bei Sloterdijk die durch den Menschen geschaffenen gestalterischen Möglichkeiten an sich selbst, sich an das eigene Leben anzupassen und den Tod als Faktizität zu akzeptieren, die zwar als Techniken bezeichnet werden, aber über die hinaus der Mensch keine weiteren Hilfsmittel oder Werkzeuge verwendet oder benötigt88. Mit Foucault wird im Kapitel über Montano von den „Techniken des Selbst“ 89 und der „Sorge um sich selbst“ 90 die Rede sein91. Damit ist eine Grenze der Techniken des Menschen angesprochen, die sowohl in ihrer Begrifflichkeit, da in beiden Fällen von Techniken gesprochen wird, als auch in der sie betreffenden Praxis auf das Leben des Menschen bezogen schwer zu ziehen erscheint. Denn wie auch mit Weber deutlich werden wird, dienen verstandesmäßige Praktiken im Katholizismus und Protestantismus dazu, Instinkt und Natur des Menschen zu überwinden92. Im Folgenden wird der Versuch unternommen werden, diese Techniken zu veranschaulichen und ihre Grenzen dabei infrage zu stellen. Immer wieder ist diese Grenze dabei an einen nachvollziehbaren Nutzen gebunden, sowie sie auf unterschiedliche Weise aus unterschiedlichen Gründen angepasst wird. Dies betrifft sowohl die Bedürfnisse des einzelnen Individuums, dessen mögliche Auswirkungen auf Andere sowie auf die Gesellschaft als Ganzer als auch das Schaffen des Menschen für eine bestimmte und gleichzeitig unbestimmte Zukunft. Angesprochen sind damit die

84 Sloterdijk 2011, S. 22. 85 Sloterdijk 2011, S. 23. 86 Sloterdijk 2011, S. 23. 87 Sloterdijk 2011, S. 23. 88 Siehe Sloterdijk 2011, S. 23. 89 Foucault 2007, S. 74. Siehe auch „Technologien des Selbst“ Foucault 2007, S. 287ff. 90 Foucault 2007, S. 290. 91 Siehe 2.1 ‚Sorge‘, S. 39ff. 92 Siehe Weber 2010, S. 156, bzw. 2.3.6 ‚Religiöses Leben’, S. 119.

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dem Menschen als zu seiner Natur gehörig erscheinenden sowie seine künstlichen, kulturellen Grenzen93. Die Performances der Künstler Linda Montano, Genesis P-Orridge und Stelarc beginnen um 197094. Sie können, mit Goldberg, der Generation der Performance-Kunst zugeordnet werden, die sich unter dem Einfluss der Konzept-Kunst dem Körper als Vehikel zur Entwicklung von Ideen und Theorien bedienen95. Sie beschäftigen sich mit der Bedeutung des Subjekts, dessen Grenzen und möglichen Transformationen und nehmen dafür Aufgaben auf sich, die zuweilen lebensbedrohliche Ausmaße annehmen. Dies geht von psychischer Belastung bei Montano96 über Selbstverletzung und chirurgische Eingriffe bei P-Orridge97 hin zu Suspensions und technischer Erweiterung bei Stelarc98. Angesichts der, auch für die weiteren Kapitel, bedeutenden Themenstellung steht das Kapitel über Linda Montano über eine Verbindung von Alltag und Religion am Beginn dieser Untersuchung, denn das menschliche Leben erscheint einerseits von unbewussten Routinen beherrscht, andererseits sucht der Mensch nach Erholung und erhebenden Momenten der Bewusstwerdung. Montano vermittelt disziplinierte Strukturierung der Religion mit konzeptioneller künstlerischer Praxis, um sie auf das Leben zu übertragen und spricht selbst in diesem Zusammenhang von einer Art/Life99 Verbindung. In diesem Kapitel über Montano werden allgemeine Begriffe und Theorien dargestellt, die im Laufe dieser Ar-

93 Siehe 4.3.5 ‚Natur – Kultur und die Veränderung des Mensch-Seins‘, S. 326ff. 94 Montano beginnt ihre Performances 1971, in dem sie zur Chicken Woman wird (Siehe Montano Montano 2005, S. 113). Neil Megson entscheidet sich 1965 den Kunstcharakter P-Orridge zu erschaffen (Siehe Tessitore/P-Orridge 2002, S. 139.) Im Jahr 1971 lässt er sich diesen Namen offiziell eintragen. Die Performances mit COUM beginnen 1969 (Siehe P-Orridge 2002, S. 150.) Stelarc beginnt mit Amplified body events 1970 und Supensions ab 1972 (allerdings verwendet er zu Beginn anstelle der Haken, Gurte). 1972 lässt er sich den Namen Stelarc auch offiziell eintragen. (Siehe http://stelarc.org/documents/Stelarc-BiographicalNotes.pdf). 95 Siehe Goldberg 2010, S. 152ff. 96 Siehe 2.2.1 ‚Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst‘, S. 79. 97 Siehe 3.1.4 ‚Suche nach den eigenen Bedürfnissen und der eigenen Identität‘ S. 162f. und 3.3.3 ‚Überschreiten der Geschlechtergrenzen‘, S. 221. 98 Siehe 4.1.1 ‚Psychische und physische Erfahrungen‘, S. 257f. und 4.1.3 ‚Körperprothesen‘, S. 266f. 99 Grey/Grey/Montano 2005, S. 40.

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beit immer wieder anklingen. Konzepte dienen ihr dazu, ihre Performances theoretisch zu entwerfen, aber auch als Leitfaden für die Ausführung. Als Verträge bestehen sie sowohl in Dokumenten festgehalten als auch als Entschluss und Vereinbarung der Künstlerin mit sich selbst. Ihre Performances verfolgen auf unterschiedliche Weise die Methode der Wiederholung und stehen auch angesichts dessen im Zeichen der Ausdauer, ihr Vorhaben diszipliniert durchzustehen. Auf diese Weise bedient sie sich eigen definierter ritueller Praktiken, bezieht sich aber auch mit ihrer religiösen Lebens-Kunst-Verbindung direkt auf die Askese. Mit Montano kann die aktive und bewusste Gestaltung des Lebens veranschaulicht werden, die letztlich Ausgang für alle drei Künstler ist. Der gemeinsamen Lebenswelt widmet sich das zweite Kapitel, wenn sich das Ich als Identität zu gestalten sucht und dabei nicht nur an eigene Grenzen stößt, sondern auch die Vorstellungen und Erinnerungen Anderer als eine solche erfährt. P-Orridge ist sich dessen bewusst und sucht explizit nicht nur nach einer Neuerschaffung des eigenen Selbst und damit der eigenen Identität, sondern verbindet sie aktiv auf unterschiedliche Weise mit dem Kollektiven: Zum einen abstrakt durch die Entwicklung einer magischen Methode in der Tradition des CutUps, von Gysin und Burroughs100, mittels der er sich aus unterschiedlichen vorhandenen Archiven bedient. Zum anderen aber auch durch das Gründen einer Gemeinschaft, Thee Temple ov Psychick Youth, die den Versuch unternimmt, bestimmte Praktiken für geeignete, auserwählte Individuen herauszustellen und dabei auf jegliche Form der Hierarchisierung zu verzichten sucht101; hier wird sie als eine Gemeinschaft im Sinne einer Kunstform untersucht werden. In der Suche des Ich, im geliebten Anderen aufzugehen, beschränken sich Breyer P-Orridge nicht nur auf geistigen Dialog und körperliche Intimität, sondern bedienen sich auch der plastischen Chirurgie, um ihre Körper aneinander anzugleichen und Geschlechtergrenzen zu überwinden102. Obgleich alle drei Performance-Künstler in einem Austausch mit anderen stehen, versteht P-Orridge sein Leben als ein solches in Kollektiven. Allerdings besteht die Lebenswelt des Menschen neben anderen Menschen auch aus Gegenständen, die ihm für bestimmte Zwecke dienen und immer wie-

100 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 288, bzw. 3.0.1 ‚Vorbilder‘, S. 135f. und 3.1.5 ‚Bewusste und unbewusste Fragmenterzeugung‘, S. 166ff. 101 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 103, bzw. 3.2.2 ‚Unterschiede zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft‘ S. 184ff. und 3.2.3 ‚Anleitungen und Rituale‘, S. 187ff. 102 Siehe 3.3 ‚Das Aufgehen des Ich im Anderen‘, S. 205f. bzw. 3.3.5 ‚Kunst und Schöpfung‘, S. 224ff.

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der über dieselben hinausweisen. Sie stellen dem Menschen die Fragen nach einer möglichen Unterscheidung zwischen Organismus und Mechanismus, Automatismus und damit Fremd- und Selbstkontrolle sowie Subjekt und Objekt. Einer Beschäftigung mit der Entwicklung vom Werkzeug zur Maschine in ihren unterschiedlichen Facetten, wird sich das dritte Kapitel mit Stelarc widmen. Dabei geht es um die Erweiterung sowohl als geistige als auch körperliche, innerliche sowie äußerliche Prothese, die gemeinhin den Ersatz für einen körperlichen Verlust darstellt, aber in der Kunst Stelarcs der Übertreibung und Erhöhung der Möglichkeiten dient103. Die Vernetzung ist bei Stelarc Mittel der Kommunikation mit anderen Menschen über das Internet, der die Information, in der Theorie Stelarcs, untergeordnet ist104. Der Frage nach der Steuerung im Hinblick auf die Entwicklung von möglichen Maschinen wird am Ende die Frage nach den Möglichkeiten der Eigensteuerung des Menschen gegenübergestellt werden. Inwiefern die als natürlich empfundenen und gedachten Grenzen des Menschen die Kultur beinhalten und bei welchen Entwicklungen noch vom Mensch-Sein gesprochen werden kann, wird abschließend zu betrachten sein. Für Montano, P-Orridge und Stelarc sind ihre Performances auch Experimente105. Alle drei bedienen sich der Mittel Schrift und Sprache, um ihre Ideen zu generieren, zu planen, auch wenn am Ende nicht die Erfüllung eines bestimmten Zieles steht. Sie alle haben einen bestimmten Rahmen für ihre Performances gewählt, um innerhalb desselben, Grenzen zu überschreiten. Dieser Rahmen gewinnt seine Bedeutung durch die Dauer der Beschäftigung mit demselben, angesichts der von einer Entwicklung, so die hier zu untersuchende Theorie, vom Werk zur Lebensform gesprochen werden kann. In der Folge erscheint gegenüber Definitionen der Dematerialisierung in der Konzept-Kunst als auch der, auf Präsenz und Flüchtigkeit basierenden Performance-Kunst, der Begriff des Werks als einer Form in einem weiteren Kontext. Mit ihm wird, über eine statisch aufgefasste Grenze des greif- und definierbaren hinaus, ein Prozess in der Performance-Kunst angesprochen, der auf veränderbaren Theorien und Praktiken basiert und erst in der Lebensdauer seine Grenze erhält. Es soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern eine Erweiterung der Kunst auf das Leben nicht ledig-

103 http://stelarc.org/?catID=20229. Bzw. siehe 4.1.3 ‚Körperprothesen‘, S. 264ff. 104 Stelarc 1998, S. 116. Bzw. siehe 4.2.1 ‚Informationsübertragung‘, S. 284. 105 Zum Experiment bei Montano siehe 2.0.5 ‚Konzept und Vertrag, Wiederholung und Ausdauer, Ritual und Askese’, S. 46; bei P-Orridge siehe 3.1 ‚Neuerschaffung des Selbst’, S. 151 und 3.1.1 ‚Vermittlung von Anschauungen’, S. 154; bei Stelarc siehe 4.0.4 ‚Projekt, Performance, Theorie, Experiment‘, S. 246.

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lich eine reine Ausweitung der ‚Kunst um der Kunst willen‘ auf das Leben bedeutet, sondern als eine theoretische sowie praxisnahe Entwicklung von natürlichen und kulturellen Techniken des Menschen auch eine Form der Moral generiert, zu einer Verinnerlichung derselben führt und damit auf die mögliche Verbindung von ästhetischer sowie ethischer Lebenspraxis verweist.

2. Alltag und Religion (Linda Montano)

Während sich der Mensch in seinem Alltag unbewusst Strategien zur Bewältigung desselben anzueignen scheint, sucht er andererseits nicht nur nach Momenten der Erholung, sondern auch nach Möglichkeiten der Bewusstwerdung. Die Religion ist dabei ein mögliches Vehikel, dem Menschen sowohl von seiner Alltäglichkeit durch Rituale zu befreien als auch nach einem besseren Leben durch die Verinnerlichung von Regeln zu streben. Auf der höchsten Stufe dieser Verinnerlichung befindet sich der religiöse Mensch in der Askese1. Im Folgenden soll mittels der Performance-Kunst Linda Montanos nach Praktiken gesucht werden, die anhand vorheriger bewusster Reflexion und Konzeptualisierung eine unbewusste Hingabe an das Leben erlauben. Um den gewohnheitsmäßigen Handlungen im Alltag sowohl eine Form der disziplinierten Strukturierung entgegenzusetzen als auch einen bestimmten Wert zu verleihen, besitzt der Einfluss der Religion im künstlerischen Schaffen Linda Montanos eine weitreichende Bedeutung. Ihren künstlerischen Werdegang beginnt sie in den sechziger Jahren mit Skulpturen im Sinne von Objekten wie Kruzifixen, erweitert diese Skulpturen durch die Ausstellung von lebendigen Hühnern, um ab 1971, zunächst als Chicken Woman, selbst in ihren Performances zur „living sculpture“2 zu werden3. Sie verbindet in dieser Entwicklung Erfahrungen und Erlebnisse, die auf ihre Kindheit zurückzuführen sind.

1

Siehe 2.3.2 ‚Besondere Form des Handelns und des Vorstellens‘, S. 106f.

2

Juno/Montano 1991, S. 53. Zu diesem Begriff siehe auch Goldberg 2010, S. 167.

3

Siehe Montano 1981, (Crucifix); Montano 1981 (The Chicken Show). (Das Buch Art in Everyday Life von Linda Montano hat keine Seitenzahlen. Ich werde deshalb bei Zitaten und Verweisen aus diesem Buch nur jeweils ihren Namen, das Jahr und die Überschrift des Kapitels angeben, das in vielen Fällen für den Titel der Performance steht.) Und Montano 2005, S. 113.

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In ihrer Familie hat Montano ein Bestreben erlebt, Kunst und Leben in Einklang zu bringen. Neben der Erfüllung von Notwendigkeiten und Pflichten im Leben, lernt sie bereits in ihrer Kindheit die alltäglichen Dinge in einem künstlerischen Sinne zu bewältigen4. „There were hints going back in time... gatherings of hints from watching my grandmother perform conceptually. [...]. Nan was aesthetically directed! She did things that were performative, art therapeutic, and I was her witness, watching her every day in silence for hours. I therefore got imprinted conceptually at an early age. Other hints came from my mother and father, who also were both creative...”5

Auf der anderen Seite wird Montano aufgrund ihres familiären, italienischen Hintergrunds katholisch erzogen. „We can‘t forget the influence of the Catholic Church! I was not only raised strictly in that religion, but also became a nun for a few years. The Church must breed conceptual artists/performance artists because the configuration of the theology [...] train young minds in ‚transcendence-thinking‘ and become perfect components for ‚conceptual-thinking‘ later on when those Catholic girls and boys become grown-up artists.”6

Der in ihrer Familie praktizierte Katholizismus weiht sie in Gehorsam und Pflichterfüllung ein. Einerseits verinnerlicht sie durch ihn Disziplin, und andererseits entwickelt sie die Fähigkeit, zu einer eigenen Strukturierung und Ordnung zu finden; zur ,Konzept-Künstlerin‘ zu werden7. Während ihrer Zeit im Kloster hat Montano den strengen Tagesablauf einer Nonne er-/gelebt und die Disziplin des Katholizismus weiter verinnerlicht. Genießt sie es einerseits Teil eines sich immer wieder wiederholenden Prozesses zu sein, führt andererseits ihre Hingabe an den Glauben zu einer vollkommenen Selbstvergessenheit8. „It was only logical that this intense early training resulted in a desire for sanctity. In 1960 I entered a missionary convent and for two years did the following. 1. I talked only 1 hour a day and that was ‚in common,‘ in a room with all nuns present. 4

Siehe Montano 1981 (Art in Everyday Life) und Montano 1981 (Introduction).

5

Cohn/Montano 2005, S. 53.

6

Cohn/Montano 2005, S. 53.

7

Siehe Grey/Grey/Montano 2005, S. 44 und Montano/Ingber 1981.

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Siehe Montano 2005, S. 18.

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2. I wore 4 layers of medieval, pre-Vatican-II clothes called a habit. 3. I chanted ecstatically with over 300 nuns in a Nun Story chapel and even though I was as high as a kite, emotionally I was unready and was told to leave by a Katherine Hepburn look-alike nun who said, ‚Go and be an actress, Sister Rose Augustine.‘ I left 82 pounds, anorexic and hungry for something that only art gave me.”9

Was für Montano theoretisch/konzeptionell als positiver Druck in Form der Disziplin, die der Katholizismus seinen Gläubigen abverlangt, erschienen ist, stellt sich für sie selbst als untragbare Last heraus. Ihr Willen und ihr Enthusiasmus können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich überfordert und letztlich an Anorexie erkrankt. Einsicht in diese mangelnde Fähigkeit erhält sie erst durch den Hinweis einer Nonne. Nach ihrem Austritt aus dem Konvent wird für Montano deutlich, dass der Weg des katholischen Glaubens nicht für sie geeignet ist und sie zu einem eigenen finden muss. Sie entscheidet sich für eine Hinwendung zur Kunst: „Mother art became my trauma catcher, my therapy, my confidante, my best friend, my guide, my confessor, and my salvation. Art became my religion. And in separating from catholicism, I married art.“ 10 Aus diesem Entschluss entsteht eine Vermischung von Religion und Kunst, der in dem Wunsch gipfelt, eine „performance art saint“11 zu werden – das Leben einer Heiligen mittels der Kunst zu führen. Der Weg Montanos vom Katholizismus zur Kunst, führt nicht nur über dessen Struktur und Ordnung, sondern auch über das ,Theatrale‘ und das ,Ritual‘. „Catholic ritual is really high drama and theater.“12 Sowohl ihre Entscheidung, ins Kloster zu gehen als auch ihre Entscheidung, dort zu hungern13 stehen für sie im Kontext der „dramatic gesture“14. Zum einen gibt die Kunst Montano die Freiheit, sich nicht explizit für eine Religion zu entscheiden, und erscheint zum anderen als Weg jenseits der Geschlechtergrenzen, den der Katholizismus für

9

Montano 2005, S. 90.

10 Montano 2005, S. 90. 11 Montano 2005, S. 106. 12 Juno/Montano1991, S. 52. 13 Über eine Verbindung zwischen Performance, Anorexie, Leiden und Heiligkeit, siehe Hewitt 1997, S. 107. 14 Juno/Montano 1991, S. 52.

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Frauen nicht vorsieht15. Über die Zuweisung unterschiedlicher Arbeitsbereiche zwischen Männern und Frauen ist sie sich schon früh bewusst: „At an early age I was aware of the power differential in the church between men and women: that the women were the ‚nuns‘ whose job was to ‚shepherd‘ the children, keep them quiet and keep them going to confession. And the men were the ‚priests‘ officiating up on the podium, with altar boys serving them while they performed the ‚magic‘ (not that taking care of the kids wasn‘t magic, but…). I certainly wanted to be a priest!“16

Damit besitzt Montano als Frau einen anderen Stellenwert in der Religionsgemeinschaft und sieht sich selbst aus dem Bereich, der für sie das Heilige kennzeichnet, nämlich der ,Magie’, aber auch dem ‚Ritual‘, ausgeschlossen. „Art gave me the same kinds of pleasures and aesthetic ecstasy as the Church used to give me. And because a woman is denied priesthood in Roman Catholicism, I knew instinctively that I would never be able to be a ritual-maker.”17

Aus diesen Erfahrungen entwickelt Montano die Möglichkeit, Leben mit Kunst zu verbinden und zu verweben und sich explizit dieser Beziehung in ihrer Kunst zuzuwenden. Ihre Kunst ist der Prozess, die Transformation selbst und nicht das Produkt. „The weakness of my work is that I would never go for the product and always went for the process and so it‘s a shame and it‘s a strength.“18 Letztlich ist sie selbst das Material und wird während ihrer Performances zur „living sculpture“19. Kunst besitzt für Montano auch immer eine therapeutische Komponente, sowohl im Hinblick auf sie selbst als auch in ihren Auswirkungen für andere. „Artists tend to deny the relationship of their work to therapy and subsequently to psychology, insisting that they make highly inspired, intensely complex works which link

15 Von ihren „religiously complicated routes“ (Montano 2005, S. 95.) wird noch zu sprechen sein. Siehe z. B. 2.2.1 ‚Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst‘, S. 75. Und 2.3 ‚Ritual und Askese‘, S. 100ff. Zur Stellung der Frau im Katholizismus siehe Juno/Montano 1991, S. 52. 16 Juno/Montano 1991, S. 51. 17 Couillard/Montano 2005, S. 49. 18 Sorkin/Montano 2005, S. 69. 19 Juno/Montano 1991, S. 53.

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them to the history of art and aesthetic traditions. This need for professional validation is somewhat arcane because underneath the surface of each artist is a shaman, an instinctual curer and therapist who lives a life outside of and beyond social medicine.”20

Es geht Montano nicht nur um eine Selbstfindung mittels der Kunst, sondern auch um eine Kunst als eine therapeutische Praxis, die als Resultat der Vermittlung zwischen Kunst und Religion verstanden werden kann21. Angesichts dessen ordnet sie sich selbst als Künstlerin nicht in erster Linie in eine Tradition der Kunst ein, sondern die Kunst erlangt für sie als Praxis und Prozess selbst eine Bedeutung, aus dem eine persönliche Lehre gezogen werden kann. „Artists have found that the best way to direct their energies, learn hidden information about themselves, and face hidden fears [...].“22 Als Künstlerin sieht sie sich verpflichtet, dieses Wissen gleich dem Vorbild von ,Schamanen‘ auf unterschiedliche Weise weiterzugeben, sei es in Form ihres Art/Life Institute23, als Professorin an einer Universität24, mit Art/Life Counceling25 oder in der Weitergabe ihrer Performance 14 Years of Living Art an andere Künstler: 21 Years of Living Art26. Auf diese Weise sind unterschiedliche alltägliche und religiöse Strategien angesprochen, die auf die Unterscheidung sakraler und profaner Zeiten verweisen. Einen Einfluss auf Montano besitzen auch die Konzept-Kunst und mit ihr die Manifeste der Avantgarde. Mittels einer Darstellung dieser Bereiche soll Montanos Performance-Kunst in einen Zusammenhang zu profanen und sakralen sowie künstlerischen Versuchen der Strukturierung und Manifestation gestellt werden.

20 Montano 2005, S. 111. 21 Im 3. Kapitel (3.2.3 ‚Anleitungen und Rituale‘, S. 189) wird mit Foucault die Entwicklung von der christlichen Beichte zur ‚scientia sexualis‘ im 19. Jahrhundert thematisiert werden. (Siehe Foucault 1983, S. 65f. und S. 71.) 22 Montano 2005, S. 111. 23 Klein/Montano 2005, S. 8. 24 Siehe Montano 2005, S. 263ff. 25 Siehe Kussoy/Montano 2005, S. 161. 26 Siehe Klein/Montano 2005, S. 11 und Montano 2005, S. 153.

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2.0.1 Sakrale und profane Zeiten in Religion und Kunst Für eine Betrachtung des Lebens als Bewegung und damit als gelebtes Leben spielen nicht nur individuelle Beweggründe, Einstellungen und Prägungen eine Rolle. Elias spricht im Zusammenhang mit dem Zivilisationsprozess von einer Entwicklung durch eine Ordnung, die nicht auf konkrete Entscheidungen oder Definitionen zurückführbar ist: „Und dann erst kann man es also auch verstehen, daß der Veränderung des psychischen Habitus im Sinne einer Zivilisation eine ganz bestimmte Richtung und Ordnung innewohnt, obgleich sie nicht von einzelnen Menschen geplant und durch ,vernünftige‘, durch zweckentsprechende Maßnahmen herbeigeführt worden ist.“27

Der heutige Mensch wird bereits in eine geordnete Zeit hineingeboren. Eine kulturelle Zeiteinteilung wird im Kalender offenbar, der als eingeteilt in unterschiedliche Zeiten des Lebens erscheint, in denen der Mensch arbeitet und feiert. Nach Rüpke stellt er eine Form der sozialen Ordnung dar28. „Als Text verweist der Kalender wie auch das Kirchenjahr auf eine rituelle und gesellschaftliche Realität“29. Es sind alltägliche und heilige beziehungsweise profane und sakrale Zeiten, Alltage und Festtage, die auf diese Weise für eine Einteilung, Ordnung und Orientierung für den Menschen sorgen und daneben auf Grundbedürfnisse des Menschen verweisen. Die Gegenüberstellung von profaner und sakraler Zeit beinhaltet auch den Verweis auf eine Zeit des Betens und eine Zeit des Arbeitens. Für diejenigen, für die das ora et labora gilt, gibt es einen Vorrang des Betens. Mönche und Nonnen haben ihr Leben und ihre Liebe Gott gewidmet, wohingegen der profane Mensch sein Leben in erster Linie an seine Existenz geheftet hat. Für Sloterdijk ist es evident, dass sich aus den „Analogien zwischen den klösterlichen Exerzitien und den in den Werkstätten beheimateten Übungen“30 eine Entwicklung ergeben hat, beide Tätigkeiten gleichwertig zu behandeln. „Wie für die Mehrzahl der Mönche seit langem das ora et labora gegolten hatte, so legte sich den weltlichen Brüdern des artisanalen Lebens das zeitgemäßere labora et ora dringend

27 Elias 1997, S. 326f. 28 Siehe Rüpke 2006, S. 166. 29 Rüpke 2006, S. 16. 30 Sloterdijk 2011, S. 461.

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nahe.“31 Unter bestimmten Voraussetzungen also, könnte von einer Gleichstellung von ora et labora, gegenüber labora et ora gesprochen werden32. Während der Alltag den Menschen in seine immer wiederkehrenden Pflichten und Notwendigkeiten zu beschränken scheint, geben ihm Feste und Rituale die Möglichkeit, intensive Momente zu erleben, in denen er seinen Alltag vergessen kann. In diesem Zusammenhang betont Gumbrecht die Bedeutung der „ästhetische[n] Erfahrung“, die „uns immer mit bestimmten Gefühlen der Intensität versorgt, die wir in den von uns bewohnten historisch und kulturell spezifischen Alltagswelten nicht finden können.“33 Andererseits sorgen diese Momente aber auch für eine andere Form des Bewusstseins. Largier beschreibt die Lebensführung von Märtyrern und Asketen als rationale Versuche der Beherrschung der Leidenschaft, für „eine produktive Verwandlung der Affekte“34. Auch wenn es schon immer sowohl profane als auch sakrale Feste gegeben haben mag35, „es“ für primitive, archaische Kulturen nach Eliade „einerseits die Intervalle heiliger Zeit, die Zeit der Feste […], und andererseits die profane Zeit, die gewöhnliche zeitliche Dauer, in der die Ereignisse ohne religiöse Bedeutung liegen“36 gibt, scheint doch bei einer Gegenüberstellung des modernen und des archaischen Zeitverständnisses die Differenz zu bleiben, dass das profane „Zeiterlebnis“ „immer eine ,Öffnung‘ auf die religiöse Zeit“37 beinhaltet. Vermittelt werden diese beiden Zeiten durch entsprechende Rituale 38 . Durkheim betont diesbezüglich das Generieren von Energien durch „religiöse Zeremonien“ für die „Anforderungen des materiellen Lebens“39 im Alltag, die vorwiegend an das Individuum und einen bestimmten Zweck gebunden sind. Auch wenn die von Eliade und Durkheim beschriebenen Formen des Rituals für moderne Gesellschaften keinen derartigen Wert mehr haben können, bleibt doch die Schwierig-

31 Sloterdijk 2011, S. 461. 32 In 2.3.6 ,Religiöses Leben‘ wird eine Entwicklung von der Lebenspraxis der Mönche (Agamben) zum Protestantismus (Weber) veranschaulicht werden (Siehe S. 117ff.). Diese erhalten durch die Theorie Foucaults auch ästhetische Bedeutung. Siehe S. 120 und S. 125. 33 Gumbrecht 2004, S. 120. 34 Largier 2001, S. 45. 35 Siehe Rüpke 2006, S. 57. 36 Eliade 1998, S. 63. 37 Eliade 1954, S. 438. 38 Siehe Eliade 1998, S. 63. 39 Durkheim 2007, S. 511.

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keit der Definition der Begriffe. Wie Köpping und Rao aufzeigen, erscheint es als problematisch, den Anteil des Religiösen am Ritual aufzuheben, da es bei einer gleichen Wertung mit dem alltäglichen Ritual seine Besonderheit zu verlieren droht40. Und doch spiegeln sich solche Bestrebungen von den Avantgardisten bis zur Performance-Kunst wider, wenn, wie Fischer-Lichte aufzeigt, die „NeoAvantgarde seit den sechziger Jahren [...] im Theater alltägliche performative Akte endlos wiederholt und ausstellt“41 und Goffman der Ansicht ist, dass auch alltägliche Handlungen ,Performances‘ darstellen42.

2.0.2 Manifeste, Konzepte, Performances Struktur, Ordnung und Regeln entstehen auch mittels Programmschriften in der Kunst der Avantgarde. Jede avantgardistische Bewegung besitzt ihre eigenen Manifeste, Programme und Schriften, in denen sie das Vorhaben ihrer Kunst der Welt zu präsentieren sucht 43 . So gründet das Schaffen der Futuristen auf der Veröffentlichung des Manifests des Futurismus von Marinetti44. Hugo Ball stellt Dada bei einem Vortrag von Das erste dadaistische Manifest in Zürich vor45, und André Breton beginnt den Surrealismus mit dem Surrealistischen Manifest46. Die historische Avantgarde kennzeichnet ein Interesse, Kunst und Leben zu verbinden47, und wie Krauss betont, ein neues, eigenes Selbst gebären zu wollen. „Diese Parabel der absoluten Selbsterschaffung, mit der das erste Futuristische

40 Siehe Köpping/Rao 2000, S. 1 und S. 5. 41 Fischer-Lichte 2002, S. 300. 42 Siehe z.B. Goffman 1959, S. 15f. 43 Puchner beschäftigt sich in Poetry of the Revolution mit den Beginnen des Manifests bei Marx und dem Übergang und der Fortentwicklung des Manifests in der Kunst. Er schließt: „Just as the socialist manifesto had to admit to a certain degree of theatricality, so the avant-garde manifesto achieved speech acts and transformative interventions despite its dominant theatricality.“ Puchner 2006, S. 261f. 44 Siehe Schmidt-Bergmann 2009, S. 28. 45 Siehe Korte 1994, S. 11. Das erste dadaistische Manifest Balls siehe Ball 1988, S. 39f. 46 Siehe Nadeau 2002, S.59. 47 Siehe Bürger 1974, S. 29.

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Manifest beginnt, dient als ein Modell für das, was die Avantgarde im frühen 20. Jahrhundert unter Originalität verstand.“48 Neben der schriftlichen Auseinandersetzung für die Revolutionierung der bildenden Kunst soll auch das Theater eine grundlegende Wandlung erfahren49. Dies führt zum einen zu Visionen über das Theater in Texten, die nie eine Bühne gefunden haben50. So schreibt zum Beispiel Schwitters über seine Merzbühne: „Das Merzgesamtkunstwerk aber ist die Merzbühne, die ich bislang nur theoretisch durcharbeiten konnte.“51 Zum anderen wird begonnen, die Bedeutung des Werks selbst infrage zu stellen52, wodurch die theoretische schriftliche Ausarbeitung desselben wiederum eine veränderte Bedeutung gewinnt. Obwohl, wie Nadeau feststellt, die Abgrenzung des Surrealismus vom Dadaismus mit dem Vorwurf der fehlenden Handlung beginnt53, enden die Surrealisten beim Schreiben als revolutionäres Mittel54 und in der Begründung einer neuen Art des Schreibens: das „mechanische, automatische Schreiben“55. Für Breton gibt es im Anschluss an die Ideen Freuds die „Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.“56 Besondere Bedeutung gewinnt das Manifest in Form des Konzepts, wie Goldberg darstellt, im Anschluss an die historische Avantgarde in der Conceptual Art und der mit ihr verbundenen Performance Art57. „At that time, conceptual art, which insisted on an art of ideas over product, and on an art that could not be bought and sold – was in its heyday and performance was often a demonstration, or an execution, of those ideas.“ 58 Mit der Neubewertung des

48 Krauss 2000, S. 205. 49 Siehe Gay 2008, S. 368. Siehe auch Goldberg 2010, S. 11f. zum Futurismus, bzw. S. 50ff. zum Dadaismus. 50 „Early Futurist performance was more manifesto than practice, more propaganda than actual production.“ Goldberg 2010, S. 11. Siehe auch ebd., S. 89. 51 Schwitters 2004, S. 79. 52 Zu dieser Wendung im Surrealismus siehe Goldberg 2010, S. 81. 53 „Nach Bretons Ansicht sollte nämlich der Dadaismus nicht nur ein großes Geschrei vollführen, sondern auch Taten folgen lassen.“ Nadeau 2002, S. 34. 54 Siehe Nadeau 2002, S. 206. 55 Breton 2012, S. 35. 56 Breton 2012, S. 18. 57 Siehe Goldberg 2010, S. 7. 58 Goldberg 2010, S. 7.

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Konzepts, das das übrig bleibende Kunstobjekt, das Kunstwerk abschaffen sollte, wird eine veränderte Ausmaterialisierung notwendig. Es wurde nach einer Möglichkeit gesucht Ideen zu materialisieren und mit dem Künstler zu verbinden und damit statt einem vom Künstler abgetrennten, dauerhaften Werk etwas zeitlich einmaliges und ereignishaftes zu erschaffen 59 . Diese Lücke füllt in der Conceptual Art der menschliche Körper, der damit nicht nur zum Material von Kunst, sondern, wie Goldberg verdeutlicht, auch zu einem Medium für die künstlerischen Ideen wird. „For conceptual art implied the experience of time, space and material rather than their representation in the forms of objects, and the body became the most direct medium of expression. Performance was therefore an ideal means to materialize art concepts and as such was the practice corresponding to many of those theories.”60

Ein solcher Ansatz fußt auf der Theorie, dass Geist und Körper nicht voneinander getrennt sind, sondern wie Fischer-Lichte betont „, daß der Geist immer verkörpert ist.“61 Diese Theorien gipfeln im Begriff der Body Art, die nach Jones eine Verbindung von Philosophie und Kunst ermöglicht. „The term ‚body art’ thus emphasizes the implication of the body […] in the work. It also highlights both the artistic and the philosophical aspects of this project […].“62 Allerdings erscheint dieser Begriff, nach Goldberg, einerseits als vage und andererseits für einige Künstler zu materialistisch63. Sie definiert in diesem Zusammenhang performative Richtungen, die im Zuge dieser Auseinandersetzung entstanden sind, die auch im Hinblick auf Montanos Schaffen von Bedeutung sind: „living sculpture“64, „Autobiography“65 und „collective memory“ 66. Während die ‚living sculpture‘ dem Künstler eine Konzentration auf seine „personality and appearance“67 und damit eine Schwerpunktlegung auf sein Äußeres ermöglicht, eröffnet der Begriff

59 Siehe Fischer-Lichte 2004, S. 19. 60 Goldberg 2010, S. 152. 61 Fischer-Lichte 2004, S. 154. 62 Jones 1998, S. 13. 63 Siehe Goldberg 2010, S. 153. 64 Goldberg 2010, S. 167. 65 Goldberg 2010, S. 170. 66 Goldberg 2010, S. 153. 67 Goldberg 2010, S. 153.

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der autobiographischen Performance eine Hinwendung zur Innerlichkeit und der Erfahrung des Künstlers – seiner „private memory“68. Bei dieser persönlichen Erfahrung bleiben viele Künstler jedoch nicht stehen und suchen eine Erweiterung derselben in der „‚collective memory’ – the study of rituals and ceremonies“69. Der Grund dafür, dass das Leben der einzelnen Künstler eine solche Rolle spielte und spielen konnte, ist, dass das Leben selbst nun, wie Lippard im Hinblick auf die Conceptual Art zeigt, unter formalistischen Gesichtspunkten betrachtet wird: „For artists looking to restructure perception and the process/product relationship of art, information and systems replaced traditional formal concerns of composition, color, technique, and physical presence. Systems were laid over life the way a rectangular format is laid over the seen in paintings, for focus.”70

Insofern findet eine neue Strukturierung und Ordnung statt, ein Rahmen wird um das Leben gelegt und gleichzeitig verschwimmen Grenzen zwischen realem Leben und Performance. Für das bürgerliche Theater ist hier die Situation klarer. Goffman sieht den Unterschied zwischen Theater und realem Leben darin, dass alle, die am Theater beteiligt sind, aufgrund des vorliegenden Dramas, ein Wissen über das was geschehen wird, haben, während Menschen im realen Leben dieses Vorwissen nicht besitzen71. Dabei geht er jedoch vom ‚bürgerlichen Theater‘ aus und lässt die Performance-Kunst außer Acht. Denn das Drama, das dort sowohl Bewegungsabläufe als auch den Text des Schauspielers festlegt, spielt für den Performance-Künstler keine Rolle. Im Hinblick auf die kurzen Performances, die eindeutig Alltägliches zu ihrem Inhalt haben, und den durational Performances72 Montanos, kann weder von einem vorliegenden Drama aber auch nicht von einer Form Improvisation gesprochen werden, wie sie in Schechners Garage oder bei Grotowski erprobt werden. Ihre Interessen verbleiben bei einer Erneuerung des

68 Goldberg 2010, S. 153. 69 Goldberg 2010, S. 153. 70 Lippard 2001, S. XV. 71 Siehe Goffman 1986, S. 134f. und S. 151. 72 Zum Begriff der durational Performance im Hinblick auf Montanos Performances siehe z. B. Phelan 2012, S. 85. Auch Heathfield verwendet diesen Begriff für Tehching Hsiehs Performances. Siehe Heathfield/Hsieh 2009, S. 12.

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Theaters, für die Schechner die Grenzen zwischen Zuschauer, Schauspieler und Bühne öffnen will73. Grotowskis Fokus richtet sich auf das „Schauspielerhandwerk“74, das Theater und die „Schauspieler-Zuschauer-Beziehung“75, auch wenn es dabei in letzter Konsequenz um den Menschen selbst geht76.

2.0.3 Leben, Religion und Kunst Zu Montanos Verbindung von Kunst und Religion, gehört die Verschmelzung mit dem Leben, wobei sie den Schwerpunkt auf das alltägliche Leben legt. „My performances are daily life and train me for daily life and any hardships that fate may send my way.“77 Explizit wird diese Herangehensweise an das alltägliche Leben insbesondere in Performances wie Odd Jobs78 (Verrichtung kleinerer Arbeiten), oder Dad Art79 (die Pflege ihres alten und kranken Vaters bis zu dessen Tod). Auf eine andere Art sucht sie mit dem alltäglichen Leben umzugehen, indem sie es mit Formen der Meditation und Stille verknüpft, wie zum Beispiel in den Chicken Performances80, in denen sie eine bestimmte Zeit sitzt, liegt und tanzt; oder aber durch die Verbindung mit religiösen Ideen und Theorien, wie

73 Siehe Schechner 2010, S. 85. „To summarize thus far: the drama is what the writer writes; the script is the interior map of a particular production; the theater is the specific set of gestures performed by the performers in any given performance; the performance is the whole event, including audience and performers (technicians, too, anyone who is there). It is hard to define ‚performance‘ because the boundaries separating it on the one side from the theater and on the other side from everyday life are arbitrary.“ Schechner 2010, S. 87. 74 Grotowski 2006, S. 15. 75 Grotowski 2006, S. 18. 76 „Dies ist nicht die Ausbildung eines Schülers [...]. Der Schauspieler wird wiedergeboren – nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Mensch -, und mit ihm werde ich wiedergeboren. Das ist eine unbeholfene Art, es auszudrücken, aber was wir erreichen, ist die völlige Annahme eines menschlichen Wesens durch ein anderes.“ Grotowski 2006, S. 26. 77 Robinson/Montano 2005, S. 38. 78 Siehe Montano 1981 (Odd Jobs). 79 Siehe Montano 2005, S. 197f. 80 Siehe Montano 1981 (Chicken Show; Lying: Dead Chicken, Live Angel; Sitting: Dead Chicken, Live Angel; Chicken Dance).

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durch das Ausleben der sieben Energiezentren/Chakren in 7 Years of Living Art81 und Another 7 Years of Living Art82. Montanos Performance-Kunst steht im Kontext eines weit gefassten Begriffs von Religion. Sie verwertet nicht nur ihre Ursprungskonfession, den Katholizismus, sondern auch Praktiken und Glaubensansätze des Buddhismus. Da sie selbst ihren religiösen Umgang mit Kunst in den Kontext ihrer „religiously complicated routs“83 stellt, soll hier nicht versucht werden, die von ihr verarbeiteten Komponenten auf konkrete katholische oder buddhistische Praktiken zurückzuführen und zu erläutern, denn wie Eliade feststellt: „Selbst wenn man sich auf das Studium einer einzigen Religion beschränkt, genügt ein Menschenleben kaum, die Untersuchung zu Ende zu führen.“ 84 Stattdessen wird der Versuch unternommen, Aspekte aus Montanos Performance-Kunst durch Literatur aus unterschiedlichen Bereichen zu diesen Themen zu beleuchten und in den Kontext zu Montanos Performances zu stellen. Im Wesentlichen verbleibt die Perspektive dieser Literatur, trotz der Darstellung unterschiedlicher Kulturen und Zeiten, immer mit Blick auf das Christentum behaftet, als der Religion, die den größten beziehungsweise ursprünglichsten Einfluss auf die theoretischen Schriftsteller, die hier zur Darstellung kommen, aber letztlich auch auf die Künstlerin Montano ausgeübt hat. Zunächst eine Unterscheidung zwischen Alltag und Religion explizit vorzunehmen statt einer reinen Unterscheidung zwischen Alltag und Kunst, liegt darin begründet, dass die Kunst bei Montano über diesen beiden steht. Sie ist die Form für den Inhalt Alltag und Religion, ein Rahmen, der ermöglicht, Handlungen weder als Alltag noch als Religion zu sehen; und so stellt auch Wark fest: „Because Montano regards her life activities as art and frames them within the institutional systems of the art world, they must be acknowledged as art even though there may be nothing else to distinguish them from the activities of her everyday life.”85

Für ein Schaffen, das sich nicht nur auf den Grenzlinien zwischen Alltag und Religion bewegt, sondern auch als künstlerische Praxis versteht, erscheint es in außerordentlichem Maß von Bedeutung, dieses als eine solche zu kennzeich-

81 Montano 2005, S. 156f. 82 Montano 2005, S. 166f. 83 Montano 2005, S. 95. Für das Folgende siehe Sorkin/Montano 2005, S. 66. 84 Eliade 1954, S. 19. 85 Wark 2006, S. 96.

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nen86. Zum Ausdruck kommt diese Problematik der Rahmung allerdings nicht nur im Hinblick auf Alltag, Religion und Kunst, sondern auch in der Technik der Performance-Kunst, die, statt ein konkretes Werk hervorzubringen, der Vergänglichkeit preisgegeben ist. Hilfreich erscheint für diese Verschiebung und Veränderung des Wertes eines Werks der Vorschlag Foucaults, nicht zu unterscheiden „zwischen Menschen, die ihr Dasein zu einem Werk machen, und solchen, die in ihrem Dasein ein Werk schaffen.“87 Wobei in dieser Perspektive mehr als dem Begriff der Kunst ein Wert gegenüber dem Schaffen und Üben in einer „Lebenskunst“88 zum Ausdruck kommt, der sich weniger der Rezeption des Geschaffenen als vielmehr der Tätigkeit und Technik selbst widmet. Dies scheint im Besonderen auf die Performance-Kunst zuzutreffen. In der Darstellung von Alltag und Religion in der Performance-Kunst Montanos kann auch gegenüber den anderen Kapiteln die Grundlegung für einen Rahmen gesehen werden, der die Nähe zwischen Kunst und Leben beschreibt, indem er sich auf einem schmalen, schwierig zu beschreibenden Grad zwischen Alltag und Religion und Kunst bewegt. Insofern wird es nicht im Detail um Inhalte der Performances Montanos und deren Deutung, sondern vielmehr darum gehen, grundlegende Prinzipien und Formen denen Montano folgt herauszuarbeiten, die auch für die folgenden Performance-Künstler, Genesis P-Orridge und Stelarc, als Eckpunkte zur Orientierung dienen können.

2.0.4 Verbindung von Theorien über Leben, Religion und Kunst Neben Texten und Interviews Montanos aus Art in Everyday Life und Letters from Linda Montano bewegen sich die hier verwendeten Theorien thematisch vor allem zwischen Kunst, Religion und Leben. Zunächst dient die Theorie Bergsons dazu, eine Verbindung zwischen Theorie und Praxis, ‚Erkenntnis und Leben’ herzustellen. Mittel dazu ist die Darstellung von Vorstellungen gegenüber Instinkt und Intellekt, Raum und Zeit, Einheit und Trennung/Zählbarkeit. Infrage stehen dabei auch die Möglichkeiten des Bewusstseins, der Kommunikation von einheitlichen Empfindungen, denen Schrift und Sprache im Wege zu stehen scheinen. Um eine Verbindung von Schrift und

86 Zur Bedeutung des Rahmens in der Body Art in Anlehnung an die Conceptual Art, siehe Carlson 2009, S. 112. 87 Foucault 2007, S. 111. 88 Foucault 2007, S. 110.

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Sprache sowie Geist und Körper herzustellen, wird Derridas Theorie einer ursprünglichen Verbindung derselben herangezogen. Bewusstsein gegenüber dem Leben spielt auch in Foucaults Beschäftigung mit der ‚Sorge um sich’ eine Rolle. Seine Theorien helfen, sowohl antike philosophische und christliche Techniken einander gegenüberzustellen als auch dieselben für eine Theorie der Moderne in Verbindung zur Ästhetik nutzbar zu machen. Mit Heidegger wird deutlich, dass das Ich sich bewusst für sich und sein Leben entscheiden muss, wenn es nicht fremd kontrolliert und ohnmächtig leben will. Obgleich jedoch Entscheidungen, Entwürfe und Entschlüsse mehr im Hinblick auf eine bestimmte moralische Einstellung zu verstehen sind, als dass sie tatsächlich zu einem freien, selbstbestimmten Individuum führen. Und so steht auch Camus’ Theorie über den eintönigen Alltag in Form endlos scheinender Wiederholung in Verbindung mit der Einsicht der Bedeutung der eigenen Einstellung im Hinblick auf das eigene Handeln und der Möglichkeit von selbstbestimmtem, bewusstem Leben. Um den Vertrag und dessen Bedeutung zu veranschaulichen, wird von Rousseau aber auch von Durkheim die Rede sein. Letzterer wird aber vor allem auch im Hinblick auf das ganze Spektrum der Religion eine Rolle spielen. Dies betrifft den Begriff der Religion und die damit verbundenen Theorien zum Heiligen sowie die Klärung von religiösen Praktiken wie Ritual und Askese. Theorien zur Unterscheidung von heiligem und profanem sowie religiöse Praktiken in primitiven/archaischen Kulturen und im Buddhismus werden mittels Eliades Theorien dargestellt. Im Zentrum steht mit ihm die Vorstellung von religiöser Praxis im Zeichen der Wiederholung und der Verbindung mit dem Mythos, aber auch die Bedeutung des ‚Schamanen‘ für religiöse Gesellschaften. Individuelle Religiosität sowie ihre Wirkung werden anhand James veranschaulicht, wodurch ein veränderter Blick auf Religion als auch die Möglichkeiten von Heiligkeit für das Selbst entsteht. Auch Freud wird insbesondere für eine Entwicklung der Bedeutung von Auserwählten, besonderen Individuen zur Sprache kommen. Agamben und Weber sorgen für eine mögliche Gegenüberstellung mönchischer, liturgischer und calvinistischer, leistungsorientierter Lebenspraxis. Zwar sind die Orte der Ausübung dieser Praktiken verschieden – auf der einen Seite im Kloster auf der anderen Seite das alltägliche Leben in der Gesellschaft – beide verbindet jedoch eine Hingabe an den Glauben durch die Zeit. Die Wertgebung und ihre Auswirkung auf kulturelle Prozesse wird mit Groys' Theorie der Entstehung von Neuem im Hinblick auf Archive veranschaulicht. Sie steht nicht nur in direktem Bezug zur Kunst, sondern dient auch unter Bezugnahme Bürgers zur Darstellung der Kunst der Avantgardisten. Weitere Bedeutung erhält dieselbe auch mittels Krauss, ihrer Entdeckung der Wiederho-

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lung in der avantgardistischen Kunst, die wiederum durch Gay einen weiteren Einblick auf die Wertstellung des Künstlers und dessen Beziehung zur Religion erhält. Eine Verbindung zwischen Performance, Religion und Ritualen wird grundlegend vor allem anhand der Verbindung der Theorie Schechners, FischerLichtes, van Genneps und Turners hergestellt. Gemeinsam ist allen Theorien, ob aus dem Bereich Philosophie, Religion oder Kunst, dass sie organisierte Formen für das Leben der Menschen suchen, die sowohl das Selbst dazu inspirieren, sich über sich und seine Bedürfnisse bewusst zu werden, als auch ermutigen, über sie hinauszugehen, um Ängste zu überwinden. Montano begibt sich nicht nur theoretisch, sondern in ihren Performances auch aktiv auf die Suche nach einer solchen Praxis. Dabei wird sie an ihre eigenen Grenzen geführt, Leid zu erdulden und Disziplin zu üben. Vor allem mittels der Kunst scheint es ihr möglich zu werden, dem Ernst eine Leichtigkeit gegenüberzustellen, die das Scheitern und den Humor zulässt.

2.0.5 Konzept und Vertrag, Wiederholung und Ausdauer, Ritual und Askese Anhand von ‚Konzept und Vertrag‘ gewinnen Struktur und Ordnung eine Form in Montanos Performance-Kunst; wird der Theorie die Möglichkeit kontrollierter Praxis eröffnet. Sie erscheint als ein Versuch der Organisation des individuellen menschlichen Lebens, indem Körper und Geist, Theorie und Praxis, Erkenntnis und Handeln miteinander in Einklang gebracht werden. Dahinter steht die Sorge des Subjekts um sich selbst und sein Leben, sowohl eigene Bedürfnisse zu erkennen und nach ihnen zu handeln, als auch eine diesen entsprechende Umgebung beziehungsweise einen dafür brauchbaren Kontext zu finden oder selbst zu definieren. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Möglichkeit der ‚individuellen‘ Entscheidung, insofern der Mensch in eine Welt mit Gesetzen und Normen geboren wird, die sich ihm als gewohnte Wirklichkeit darstellt. Regeln für das Zusammenleben besitzen Gewicht und Bedeutung vor allem durch ihre Manifestation in bindende, Menschen miteinander in ein Verhältnis bringende Verträge. Sie stehen den von Montano für die Performance geschaffenen Entwürfen und Regeln gegenüber. Selbst wenn dieselben keine äußere verbindliche Form durch den Vertrag erhalten, scheinen sie eine ebenbürtige Bedeutung durch die Möglichkeit des Rahmens und dem daraus resultierenden veränderten Wert zu gewinnen.

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Innerhalb dieses Rahmens werden von Montano Handlungen praktiziert, die immer wieder auf ‚Wiederholung und Ausdauer‘ als ihre wesentlichen Komponenten verweisen. Derart entwickelt sich eine Praxis, die über einen längeren Zeitraum, also eine bestimmte Dauer geübt wird. Ein solches Vorgehen verweist auf eine Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst, wie sie sich auch in den Inhalten von Montanos Performances widerspiegelt. In Verbindung steht Montanos Vorgehen allerdings auch mit der zuweilen unerträglich erscheinenden Routine des Alltags, weswegen nach einem möglichen aktiven Umgang mit alltäglichen Mustern gesucht wird. Religiöse Handlungen stehen in einem Kontext zu bestimmten zeitlichen Vorstellungen innerhalb von Gesellschaften, die Auswirkungen auf die Möglichkeiten des Individuums besitzen. Sie verweisen auf die Bedeutung und Verbindung der Begriffe von Raum und Zeit, die auch in die Performance Konzepte von Montano einfließen. Wiederholungen von Handlungen ziehen jedoch nicht zwangsläufig die Möglichkeit des Wiedererlebens von bestimmten Empfindungen nach sich und sind damit mit den Möglichkeiten von Übersetzungen verbunden. Es wird deutlich werden, dass sich trotz des säkularen Kontexts der Moderne unterschiedliche Formen der Rückbindung an den Mythos finden lassen. ‚Ritual und Askese‘ beinhalten wiederum Wiederholung und Ausdauer. Aufgrund ihrer Religiosität, dem religiösen Einfluss auf ihre Kunst versteht Montano ihre Performances als Rituale und verknüpft ihr Leben als Art/Life Verbindung mit dem Wunsch, ,heilig‘ zu werden. In diesem Zusammenhang müssen die besonderen Formen des Handelns und des Vorstellens veranschaulicht werden, die zu Ritualen und der Lebenspraxis Askese führen, um zu versuchen, sie vom Alltäglichen abzugrenzen. Das gilt auch für den Begriff des Heiligen, der in sich Unterschiede vereinheitlicht und Ambivalenzen beinhaltet. Auf diese Weise kommt der religiöse Mensch ins Spiel, der sich seinen Idealen widmet und in Askese lebt. Die Askese verlangt und beinhaltet Entbehrung, die zu Selbsterkenntnis führen soll und eine aktive Sorge um das eigene Selbst darstellt. Unterschiedliche Vorstellungen von einem religiösen Leben beinhalten dennoch den übereinstimmenden Kern, durch Übung bestimmte Techniken zu verinnerlichen, um zu einer Erkenntnis über sich selbst zu gelangen, bewusst handlungsfähig zu sein und Denken und Handeln in einen bestimmten Kontext zu stellen, wie es Montano mittels ihrer Performance-Kunst zu erreichen sucht. Trotz der thematischen Verknüpfung der unterschiedlichen Kapitel untereinander erscheint die Abfolge derselben, die den theoretischen Ausgangspunkt der Performances zu ihrem Inhalt macht, als folgerichtig: Erst auf Basis dieser Entscheidungen, Entwürfe und Regeln wird von Montano eine bestimmte Performance Praxis gesucht und geübt, die dazu dient zu lernen, eine Veränderung

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und Entwicklung des eigenen Selbst in Gang zu setzen. Die religiöse Kontextualisierung dieser Theorien und Handlungen bewirkt zum einen, ihre geschichtliche Bedeutung aufzuzeigen, zum anderen wird ein besonderes Individuum angesprochen, das sich an die notwendigen Regeln hält und dieselben verinnerlicht praktiziert. Montano bricht mit ihren Performances diese Grenzen auf, aber nicht ohne auf eine bedeutende Komponente zu verweisen. Ob alltägliche Routine oder besonderer Status in Religion und Kunst: Es gilt, sich selbst bewusst für eine oder auch immer wieder neu für Lebensweise/n zu entscheiden. Für Montano sind ihre Performances nicht nur starres Konstrukt sondern auch Experiment89. Sie können als Versuche verstanden werden, Praxis und Theorie von Alltag, Religion und Kunst für das Leben nutzbar zu machen.

89 Siehe Kussoy/Montano 2005, S. 161 und S. 163. Und Montano 2005f, S. 238.

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V ERTRAG

Die Erarbeitung von Konzepten verhilft Montano dazu, ihren Alltag zu strukturieren und gleichzeitig Erfahrungen über sich selbst zu sammeln. Mittels dieser Rahmung, die als eine Form der Orientierung dient, sucht sie andererseits auch eigene Grenzen in Bezug auf ihre Persönlichkeit zu überwinden. Verbindlichkeit erhalten diese Konzepte durch Verträge, die Montano mit sich selbst und anderen schließt. Im Folgenden sollen Montanos Konzepte und Verträge in Verbindung mit unterschiedlichen individuellen aber auch gesellschaftlichen Strategien der Organisation dargestellt und der Frage nachgegangen werden, in welchem Verhältnis Regeln und Freiheit stehen. Am Beginn von Montanos künstlerischem Lebensweg stehen kleinere konzeptuelle Performances, bei denen sie sich unterschiedlicher Symbole bedient, beispielsweise dem Huhn als Totemtier90, den Steppschuhen als Symbol für den Tanz und den Humor91, dem Kruzifix und der Zahl ,drei‘ als Symbol für die Dreieinigkeit: Vater, Sohn, Heiliger Geist92. Ihre Performances werden im Laufe der Zeit immer länger, gehen zuletzt über Jahre hinweg, werden zu ihrem Leben und dienen dazu, aktiv ihr Leben zu gestalten. „Until I wrote a recipe that indicated that every minute was performance, there was a distinction. In 1984 I appropriated all time as performance time or art, meaning every minute of my life was an opportunity for that kind of higher – not higher – but that kind of consciousness, a kind of awareness or – sacredness […]. Before 1984 I made attempts, but they were for a week or a month or for shorter periods of time. In 1984 I designed it so that the rest of my life will be a work of art.”93

Sie folgt damit dem Bestreben der Avantgardisten, wie es Bürger definiert: „die Kunst in Lebenspraxis zurückzuführen“94. Konzept und Vertrag gehen den Performances Linda Montanos voraus. Von Beginn an ist diese Abmachung mit sich und zuweilen auch anderen Anfangs-

90 Cohn/Montano 2005, S. 63. 91 Siehe Sorkin/Montano 2005, S. 66 und Klein/Montano 2005, S. 5. 92 Siehe Montano 1981 (Art in Everyday Life). 93 Couillard/Montano 2005, S. 48. 94 Bürger 1974, S. 29.

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punkt und zugleich Garant für eine Abgrenzung zur Realität und eine neue Bewusstseinserfahrung95. „Conceptual art theories made it easier for me to follow my inclinations because they gave me permission to drop constraints of content and to consider process. I have always trusted my ability to materialize my ideas and wasn‘t interested in perfecting a form or in becoming good at one thing because the product wasn‘t important to me but my involvement was. [...]. Underneath all of these changes there is a basic theme that reappears: endured actions, involvements that allow for transformation, and often humor.”96

Gedanken, Ideen zu strukturieren und zu organisieren, führt für Montano zu einer Einschränkung, erlaubt aber auch einen Zugewinn: einerseits etwas Bestimmtes näher und intensiver zu betrachten andererseits den Schutz des Rahmens und in ihm Schrankenlosigkeit. Insofern öffnet das Konzept/die KonzeptKunst Raum und Zeit, in der der künstlerische Prozess stattfindet, das Kunstwerk entsteht. Das Konzept verlangt nach einer Manifestierung, einer äußeren Form, die es im Vertrag erhalten kann, allerdings auch in der Idee und dem damit verbundenen Plan bereits besitzt. So ist für Lewitt „[i]n conceptual art the idea of the concept […] the most important aspect of the work.“97 – Piper spricht von einer „meta-art“: „By ‚meta-art’ I mean the activity of making explicit the thought processes, procedures, and presuppositions of making whatever kind of art we make.“98

2.1.1 Organisation des menschlichen Lebens Konzepte auszuarbeiten, die der Mensch als Performer ausführt, scheint eine mögliche Antwort auf die Philosophie Bergsons zu sein, der die Evolution mit einem Versuch des Menschen verbindet, anhand des Verstehens das eigene Handeln besser an die Welt anzupassen. Für ihn ist der

95 Siehe Montano/Ingber 1981 und Montano 2005, S. 151. 96 Montano/Ingber 1981. 97 LeWitt 1999, S. 12. 98 Piper 1999, S. 298.

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„Intellekt im engeren Sinn des Worts dazu bestimmt [...], die vollkommene Verwebung unseres Körpers in seine Umgebung zu sichern, die Beziehungen der äußeren Dinge aufeinander vorzustellen, kurz: dazu, die Materie zu denken.“99

Dass dieser Versuch immer wieder durchgeführt wird, aber scheinbar nie erfüllt wird, davon zeugt auch das Schaffen der historischen Avantgarde100. Bergsons Untersuchungen, die von dem Gedanken geleitet sind „, daß Erkenntnistheorie und Lebenstheorie etwas Untrennbares sind“101, führen ihn jedoch nicht in die Lebenswelt des Menschen, sondern zu einer Erklärung über die „allgemeine Bewegung des Lebens“102 der „ursprünglichen Lebensschwungkraft“103, die einen nicht zuvor definierten Zweck beinhaltet und sich bereits dadurch erfüllt „, daß das Leben vorzüglich eine Tendenz der Wirkung auf die tote Materie ist.“ 104 Damit verbinde sie viele mögliche Entwicklungen105, aber ebenso, wenn auch in geringerem Maß, die Wahl. „Wahl aber setzt die vorwegnehmende Vorstellung mehrerer möglicher Handlungen voraus. Möglichkeiten des Handelns also müssen sich dem Lebewesen noch vor der Handlung selbst malen.“106 Nach Bergson besitzt der Mensch also die Möglichkeit zu wählen, aber diese Möglichkeiten verändern sich im Laufe seines Lebens. „Jeder von uns wird beim Rückblick auf seine Geschichte feststellen, wie seine Kindheitspersönlichkeit, ihrer Unteilbarkeit ungeachtet, mannigfache Personen in sich vereinigte, die – weil noch im Werdezustand – verschmolzen bleiben konnten: ja diese Unentschiedenheit mit ihrer Fülle von Versprechungen ist gerade ein größter Zauber der Kindheit.“107

Je länger wir leben, desto größer häufen sich, so Bergson, die unerfüllten Hoffnungen und Wünsche, über das, was im Leben hätte sein können, an und der

99

Bergson 2006, S. 1.

100 Siehe 2.1.6 ‚Rahmen und Werte‘, S. 67f. 101 Bergson 2006, S. 5. 102 Bergson 2006, S. 107. 103 Bergson 2006, S. 93. 104 Bergson 2006, S. 113. 105 Siehe auch Bergson 2006, S. 93. 106 Bergson 2006, S. 102. 107 Bergson 2006, S. 105.

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Mensch muss mit den Verlusten dieser Möglichkeiten leben. Demgegenüber stellt Bergson die Natur, die nichts verliert und alles beinhaltet108. Für Bergson „gibt [es] nur die eine allgemeine Bewegung des Lebens“, die aus „einer Anzahl divergenter Richtungen“ 109 besteht. Um als ,Schwungkraft‘ verstanden werden zu können, müssten diese miteinander verbunden werden. Dennoch sieht er in dieser Bewegung nicht „die Verwirklichung eines Gesamtplanes, wie die Zweckmäßigkeitslehre behauptet.“ 110 Denn „Verwirklichte das Leben einen Plan, es müßte je im Maß seines Vorrückens eine immer höhere Harmonie offenbaren.“111 Geht man mit ihm davon aus, dass der Mensch wählen muss, während die Natur alles enthält, kommt die Frage auf, ob ihre Grundvoraussetzungen bereits entschieden sind? Und demgegenüber stellt sich die Frage, inwiefern der Mensch eine größere ,Harmonie‘ erreichen könnte, wenn er in der Lage wäre, einen genauen Plan zu verfolgen, insofern er nicht alles sein kann, sondern sich je entscheiden muss? Intellekt und Instinkt gehören für Bergson untrennbar zusammen, jedoch sind sie keine fixen Größen, sondern ständig in Bewegung und entziehen sich dadurch der Definition112 . Umschreiben lassen sie sich aber anhand von ,Bewusstsein und Unbewusstsein‘, „Akt und Vorstellung“113, sich Abspielendes und Gedachtes. Bewusstsein zeigt sich nach Bergson in der „Inadäquatheit von Akt und Vorstellung“ 114 , der Differenz zwischen dem was vorgestellt beziehungsweise gedacht wurde und dem, was sich tatsächlich unbewusst abspielt. „Von diesem Gesichtspunkt aus wäre Bewußtsein als die arithmetische Differenz zwischen möglicher und wirklicher Aktivität zu definieren. Es bemißt den Abstand zwischen Vorstellung und Handlung.“ 115 Mit Bergson kann das Bewusstsein als das Verstehen definiert werden, das mithilfe des Intellekts zu einem Verständnis und einer Fähigkeit führt, Möglichkeit und Wirklichkeit vorzustellen, und anhand diesen Gedanken einen Plan für die Handlung vorzubereiten. Entsprechend verweist Bergson darauf, dass in der „philosophische[n] Terminologie [...] instinktmäßige Erkenntnis [...] in kategorischen Sätzen [...] [und] intel-

108 Siehe Bergson 2006, S. 106. 109 Bergson 2006, S. 107. 110 Bergson 2006, S. 107. 111 Bergson 2006, S. 109. 112 Siehe Bergson 2006, S. 141. 113 Bergson 2006, S. 149f. Siehe auch die vorhergehende Seite. 114 Bergson 2006, S. 149. 115 Bergson 2006, S. 149.

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lektuelle Erkenntnis [...] [in] hypothetische[n]“116 Sätzen zusammengefasst werden. Insofern wäre der Instinkt nah am Leben und würde sich immer wieder auf die konkrete Handlung beziehen, während der Intellekt im Gedanken-Experiment verbleibt. Der Instinkt dient dem Menschen, nach Bergson, mit vorgefundenen Gegebenheiten intuitiv umzugehen 117 , wohingegen der Intellekt dabei hilft, Umstände vorbereitend zu erdenken, eine Ordnung zu generieren und die Möglichkeit verleiht, über sich hinauszuwachsen118. „Gewiß das Leben, [...] ist an die Materie gebunden. Wäre es reines Bewußtsein oder richtiger Überbewußtsein, es wäre reine schöpferische Aktivität. Tatsächlich aber ist es einem Organismus angeschmiedet, der es den allgemeinen Gesetzen der leblosen Materie unterwirft. Doch geht alles so vor sich, als ob das Leben sein Möglichstes täte, sich von diesen Gesetzen zu befreien.“119

Im Hinblick auf das Gesagte wäre die Verbindung von Konzept- und Performance-Kunst bei Montano immer Vermittlung von Körper und Geist, Instinkt und Intellekt, Bewusstsein und Unbewusstem. Dieser Zusammenhang zwischen dem Intellekt und der schöpferischen, künstlerischen Aktivität am Leben wird auch bei Foucault deutlich, wenn er sagt: „Diese Selbstverwandlung durch das eigene Wissen ist, glaube ich, etwas, das der ästhetischen Erfahrung recht nahe ist.“120

2.1.2 Sorge Der Intellekt und das daraus entstehende Verständnis des Menschen für sich und andere und die Dinge, die ihn umgeben, bedarf der Untersuchung der Gründe, die dazu führen, dass der Mensch sich seines Intellekts bedient, um bewusst seinen Alltag zu bewältigen; sowie ob und inwiefern er sich und sein Verhalten durch das Befolgen von bestimmten bewussten Strategien beeinflussen und weiterentwickeln kann.

116 Bergson 2006, S. 154. 117 Siehe Bergson 2006, S. 155. 118 Siehe Bergson 2006, S. 155f. 119 Bergson 2006, S. 250. 120 Foucault 2007, S. 168.

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In Foucaults Beschäftigung mit der Ästhetik der Existenz, wird eine Entwicklung von der antiken philosophischen „Sorge um sich selbst“121, die in einer Ausarbeitung des Lebens zu einem persönlichen Kunstwerk zum Ausdruck kommt, zu einer stärker durch Regeln und Gehorsam geprägten Moral im Christentum deutlich122. Zu diesen „Techniken des Selbst“123 in der Antike gehören unter anderem „Aufzeichnungen über sich selbst“ 124 , die eine Parallele zu den PerformancePraktiken der Selbstbeschäftigung125 aufweisen. Weniger als die Techniken im Detail 126 ist zunächst der Umgang mit dem Selbst von Bedeutung. Hier gilt: „Sich um sich selbst sorgen, ist nicht einfach eine zeitlich begrenzte Vorbereitung auf das Leben; es ist eine Lebensform.“127 Und diese Vorgehensweise findet Foucault nicht nur in der Antike, sondern sie kehrt für ihn bei Baudelaire wieder, den er als modernen Zeugen für die Notwendigkeit der Selbstgestaltung hervorhebt128. Damit impliziert Foucault einen weiterhin gültigen „philosophischen ethos, [...] [den] man als permanente Kritik unseres geschichtlichen Seins charakterisieren könnte.“129 Trotz der streng vorherrschenden Regeln im Christentum, beinhaltet es nach Foucault die ,Sorge um sich‘. Allerdings entstehe an dieser Stelle ein Widerspruch, denn „[i]m Christentum [...] verwirklicht sich das Heil durch den Verzicht auf das Selbst.“130 Wohingegen sich „in der Antike die Ethik als reflektierte Praxis ganz um diesen fundamentalen Imperativ drehte: ,Sorge dich um dich selbst‘.“ 131 Bedeutung erlangt die ,Selbstsorge‘ dort als ,Selbsterkenntnis‘, die untrennbar mit Regeln der Ethik ausgestattet ist. „Sich um sich selbst zu sorgen heißt, sich mit diesen Wahrheiten auszurüsten: Dies ist der Punkt, an dem die

121 Foucault 2007, S. 290. 122 Foucault 2007, S. 280. 123 Foucault 2007, S. 74. Siehe auch „Technologien des Selbst“ ebd., S. 287ff. 124 Foucault 2007, S. 297. 125 Siehe 2.0.2 ‚Manifeste, Konzepte, Performances’, S. 38f. Bzw. siehe Goldberg 2010, S. 170. 126 Diese werden im Zusammenhang mit den Techniken des Christentums verglichen und in Bezug auf die Praxis der Askese thematisiert werden. Siehe 2.3.5 ‚Entbehrung als Selbsterkenntnis und Sorge’, S. 113ff. 127 Foucault 2007, S. 126. 128 Foucault 2007, S. 182. Siehe auch ebd., S. 181. 129 Foucault 2007, S. 182. Siehe auch ebd., S. 181. 130 Foucault 2007, S. 257. 131 Foucault 2007, S. 258.

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Ethik mit dem Spiel der Wahrheit verknüpft ist.“132 Von einem ,Spiel‘ scheint im Christentum, in dem Regeln und Kodexe herrschen, nicht mehr die Rede sein zu können133, denn es impliziert eine Form der Leichtigkeit, des Ausprobierens und Übens, die sich nur schwer mit der Einübung von Regeln oder deren Ausleben durch ,Askese und Ritual‘ zu vereinbaren scheinen. Für die ,Sorge-um-sich‘ gehen bei Montano Religion, Therapie und Kunst eine Verbindung ein. Ihre Erkenntnis, dass (auch) in der Religion der häusliche Bereich den Frauen zugeteilt ist und den Männern die ,Welt des Magischen‘ gehört134, führt für sie dazu, diesen häuslichen, alltäglichen Bereich durch Kunst zu erhöhen. „I templated Catholicism into art. It was a feminist gesture, not knowing at the time, of course, that I was really envious of the priests and totally mystified by the Eucharist and the Crucifixion.“135 Grundlegend besteht für Montano, seit ihrer Kindheit, eine Verbindung zwischen Performance-Kunst und Therapie einerseits und Konzept und Religion andererseits136. Von Beginn an verfolgen auch ihre kleineren Performances einen therapeutischen Zweck für ihre ,Sorge-um-sich‘: „In retrospect, it seems that most of the work had a therapeutic reason but was always couched in the language of sculpture. My insistence on belonging to the art community committed me to my work but I was forced to find an individual sculptural language suitable to my needs. That was the beauty of the 1960s and its source of energy. There was permission to do what you wanted to do, find a personal form based on a historical structure but do things your way. And I did!“137

Kunst mit Therapie zu verbinden, sieht Montano im Kontext ihrer Zeit138. Diese Verbindung dient Montano nicht lediglich dazu, in ihrem künstlerischen Schaffen ihren Interessen, Ideen und Bedürfnissen zu folgen, sondern mittels der

132 Foucault 2007, S. 258. 133 Siehe 2.3.6 ,Religiöses Leben‘, S. 117f. 134 Siehe 2. ‚Alltag und Religion‘, S. 32. 135 Cohn/Montano 2005, S. 60. 136 Siehe 2. ‚Alltag und Religion‘, S. 30f. 137 Montano 2005, S. 113. 138 Über die Bedeutung der Therapie in der Kunst wird auch im 3. Kapitel bei P-Orridge die Rede sein. Siehe 3.1.4 ‚Suche nach den eigenen Bedürfnissen und der eigenen Identität‘, S. 162ff. Und im Zusammenhang mit dem Temple ov Psychick Youth, siehe 3.2.3 ‚Anleitungen und Rituale‘, S. 187ff.

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Kunst den therapeutischen Zweck zu erreichen, sich selbst kennenzulernen sowie für sich selbst Sorge zu tragen. „So instead of going for therapy three times a week I would blindfold myself for three days when I lost touch with who I was.“139

2.1.3 Die Möglichkeit der ,individuellen‘ Entscheidung Mit ihrer Geste, den Alltag und den mit ihm verbundenen Regeln, durch eine künstlerische Erhöhung umzudefinieren, begibt sich Montano auf die Suche nach einem individuellen Umgang mit dem allgemein Normierten und Gewohnten. Diesbezüglich entstehen Fragen, inwiefern das Selbst einen Zugang zu eigenen Bedürfnissen erlangen kann und inwieweit individuelle Entscheidungen des Selbst der Gesellschaft gegenüberstehen; aber auch, welche Bedeutung Konzepte, Pläne und Entwürfe für das individuelle Leben haben können und welchen Einschränkungen sie unterliegen. In Sein und Zeit widmet sich Heidegger der Untersuchung des Lebens und mit ihm der des Alltags. Für ihn gibt es zunächst das, was er als „alltägliche Indifferenz des Daseins“ mit „Durchschnittlichkeit“ 140 bezeichnet. In dieser ,alltäglichen Durchschnittlichkeit‘ steht dem Menschen nur eine Möglichkeit zur Verfügung, ein mögliches Leben141. Dabei muss jedoch beachtet werden, dass diese Alltäglichkeit bei Heidegger nicht mit „Primitivität“ gleichzusetzen, sondern als „Seinsmodus des Daseins“142 unabhängig von kultureller Entwicklung zu verstehen ist. Nach Heidegger ist das Dasein nicht nur durch die „Jemeinigkeit“ und damit als „Dasein [...] das ich je selbst bin“ gekennzeichnet, sondern auch als „In-derWelt-Sein“143. Für das Verhältnis zwischen Ich und Welt und Ich und Anderen und dem Verhältnis zu sich selbst definiert er verschiedene Arten der ,Sorge‘144.

139 Montano 2005, S. 113f. Siehe auch Montano 1981 (Three Day Blindfold). 140 Heidegger 2006, S. 43. 141 „Das Dasein bestimmt sich als Seiendes je aus einer Möglichkeit, die es ist und d.h. zugleich in seinem Sein irgendwie entsteht.“ Heidegger 2006, S. 43. 142 Heidegger 2006, S. 50f. 143 Heidegger 2006, S. 53. 144 Z. B.: „Wie dem Besorgen als Weise des Entdeckens des Zuhandenen die Umsicht zugehört, so ist die Fürsorge geleitet durch die Rücksicht und Nachsicht.“ Heidegger 2006, S. 123.

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,Durchschnittlichkeit‘ und ,Alltäglichkeit‘, entstehen durch das „Miteinandersein“145, denn anhand der Summe der Menschen, komme es zu einer Art Zusammenschluss von allen und allem im „Man“ 146 . Es scheint als ,die Gesellschaft‘147 verstanden werden zu können, die Normen und Regeln für das richtige Leben, Genießen, Denken und Fühlen ausbildet, denen der Mensch zu folgen hat. In dieser Anpassung löst der Mensch sein Sein ,im Miteinandersein, in den Anderen auf‘148. Aber diese Auflösung bedeutet für den Menschen nicht nur etwas Negatives, denn sonst würde er sich viel mehr dagegen sträuben sich dem ,Man‘ zu fügen. „Weil das Man jedoch alles Urteilen und Entscheiden vorgibt, nimmt es dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit ab. [...]. Das Man entlastet so das jeweilige Dasein in seiner Alltäglichkeit.“149 Für Heidegger besitzt der Mensch nicht von ,Natur‘ aus ein Selbst, sondern ist Teil der Welt des ,Man’, weshalb er von ihm in erster Linie als „Man-Selbst“150 spricht. Um ,Selbst‘ zu sein, müsste sich der Mensch erst definieren und für ein eigenes Sein entscheiden151. Obgleich das Selbst, um ,Selbst‘ zu sein, immer wieder wählen muss zwischen verschiedenen Möglichkeiten, kann es sich selbst immer wieder neu entwerfen, gibt es für Heidegger viele Möglichkeiten des „Seinkönnens“152. Jedoch verbindet er den Seins-Entwurf nicht mit einem Plan, wie er sich in dem hier zur Debatte stehenden ,Konzept‘ äußern könnte, sondern für ihn ist das ,Entwerfen‘ wesentlich mit einem Verstehen des Daseins in seinen Möglichkeiten verbunden: „Der Entwurfcharakter des Verstehens konstituiert das In-der-Welt-sein hinsichtlich der Erschlossenheit seines Da als Da eines Seinkönnens. [...]. Dasein versteht sich immer schon und immer noch, solange es ist, aus Möglichkeiten.“153

145 Heidegger 2006, S. 126. 146 Heidegger 2006, S. 126. 147 Diese Bedeutung der Gesellschaft wird später mit Durkheim thematisiert werden. Siehe 2.1.4 ‚Regeln für das Zusammenleben’, S. 59ff. 148 Siehe Heidegger 2006, S. 126. 149 Heidegger 2006, S. 127. 150 Siehe Heidegger 2006, S. 128f. 151 Heidegger 2006, S. 129. 152 Heidegger 2006, S. 145. 153 Heidegger 2006, S. 145.

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Montanos Performances können aber auch als expliziten Versuch bezeichnet werden, diesen ,Entwurf‘ Heideggers als einen Plan oder ein Konzept sichtbar zu machen. Um zu versuchen, ein solches Konzept diesem Entwurf näher zu bringen, ist es notwendig herauszufinden, inwiefern ein Unterschied zwischen dem was Heideger als ,Entwurf‘ im Sinne von Verstehen des Seins und dem, was er als ,Selbst-wählen‘ bezeichnet, besteht, denn es stellt sich die Frage, inwiefern diese Selbstwahl mit einem ,Plan‘ verbunden ist. Im Grunde besteht das Leben für Heidegger in einer Angst des Menschen vor dem ,In-der-Welt-Sein‘ und den vielen Möglichkeiten, die dieses Sein/Leben mit sich bringt154. Als Möglichkeit, gegen diese Angst anzukämpfen, erscheint gerade ein ,Konzept‘, eine Ordnung, um dieser Angst vor dem In-der-Welt-Sein und damit einhergehenden zahllosen Möglichkeiten entgegenzutreten. Entsprechend könnte das ,mögliche Seinkönnen‘ Heideggers als ein Dasein verstanden werden, das „immer schon ,über sich hinaus’“155 und sich damit seiner zukünftigen Möglichkeiten bewusst ist. Auch im Hinblick darauf, dass für Heidegger die Sorge wesentlich zum Dasein gehört und nach ihm „[i]m Sich-vorweg-sein als Sein zum eigensten Seinkönnen [...] die existenzial-ontologische Bedingung der Möglichkeit des Freiseins für eigentliche existenzielle Möglichkeiten [liegt].“156 Aber in dieser Möglichkeit setzt sich nicht zwangsläufig ein tatsächlicher, ,faktischer’157 Entwurf des Selbst durch, denn die durch die Möglichkeiten entstehenden Freiheiten müssen nicht eigenständig vom Selbst gewählt werden, sondern können „der Verfügung des Man überlassen [werden]. Im Sich-vorwegsein meint daher das ,Sich‘ jeweils das Selbst im Sinne des Man-selbst.“158 Es scheint, als wäre das Einzige, was dem Selbst bei Heidegger letztlich noch bleiben würde, der Wunsch. Jedoch bezeichnet dieser für ihn nicht mehr das Selbst in seinem ,Sich-vor-weg-nehmen‘, sondern es scheint als halte sich das Selbst

154 Siehe Heidegger 2006, S. 187f. 155 Heidegger 2006, S. 192. 156 Heidegger 2006, S. 193. 157 Für Heidegger ist allerdings „Existenzialität [...] wesenhaft Faktizität“, Heidegger 2006, S. 192. 158 Heidegger 2006, S. 193.

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statt dessen an der Vergangenheit fest, die es in einem Entwurf zu aktualisieren sucht159. Im Hinblick auf die Theorie Heideggers stellt sich die Frage, inwiefern das Konzept Montanos eine Art von Wunsch ist, der das eigene Selbst als etwas erscheinen lassen will und dabei immer wieder nur Vergangenheit zu verändern sucht, indem sie aktualisiert wird? Dafür sprechen würde der bestehende Zusammenhang zwischen der ,autobiographischen‘ Arbeit und der Kunst bei Montano. Und doch gibt es für Heidegger eine ,Wahl‘, aber diese ist mit der Entscheidung zur Wahl und damit nicht nur mit der Einsicht in das eigene Selbst verbunden, sondern aus diesem heraus auch die eigenen Möglichkeiten erkennen zu können: „Im Wählen der Wahl ermöglicht sich das Dasein allererst sein eigentliches Seinkönnen.“160 Damit verbindet Heidegger jedoch nicht die vollständige Freiheit161 des Seins, denn „Grund-seiend, das heißt als geworfenes existierend, bleibt das Dasein ständig hinter seinen Möglichkeiten zurück. Es ist nie existent vor seinem Grunde, sondern je nur aus ihm und als dieser. Grundsein besagt demnach, des eigensten Seins von Grund auf nie mächtig sein.“162

Was dem Selbst bei Heidegger bleibt, ist einzig die Verantwortung für die eigene Existenz zu übernehmen163. „Anruf[e] [...] des Gewissens“, erinnern das Selbst Heideggers auf der Stufe des ,Man-Selbst‘ an die eigene Schuld. Demgegenüber unterscheide sich das ,Selbst’ vom ‚Man-Selbst’, durch die aktive Übernahme der Schuld und des „Anrufverstehen[s] [das] besagt: Gewissen-haben-wollen.“164 Für die Gegenüberstellung dieser Theorie zum Konzept erscheint die Entscheidung – der Entschluss von Bedeutung. Denn in der Übernahme von Schuld steht auch für Heidegger ein ,Entschluss‘, obgleich dieser nicht als einzig möglicher verstanden werden kann, sondern sich in ihm die mögliche Wirklichkeit, in

159 „Das Wünschen ist eine existenziale Modifikation des verstehenden Sichentwerfens, das, der Geworfenheit verfallen, den Möglichkeiten lediglich noch nachhängt.“ Heidegger 2006, S. 195. 160 Heidegger 2006, S. 268. 161 Freiheit wird im Kapitel über P-Orridge vor allem mittels Sartre weiter thematisiert werden. Siehe 3.1.2 ‚Die Freiheit des Menschen’, S. 155ff. 162 Heidegger 2006, S. 284. 163 Siehe Heidegger 2006, S. 288. 164 Heidegger 2006, S. 288.

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der das Selbst mit der ,Welt‘ verbunden wird, manifestiert. „Der Entschluß entzieht sich nicht der ,Wirklichkeit‘, sondern entdeckt erst das faktisch Mögliche, so zwar, daß er es dergestalt, wie es als eigenstes Seinkönnen im Man möglich ist, ergreift.“165 Diese eine Möglichkeit, die zur Wirklichkeit wird, in der sich das Selbst mit dem ,Man‘ verbindet, nennt Heidegger „Situation“166. Merleau-Ponty wird sie im Anschluss als das bezeichnen, was das Subjekt konstituiert. Er macht deutlich, dass das Subjekt sich in „Möglichkeiten von Situationen“ befindet und als „Leib-Seiendes“167 der Welt begegnet. Montanos Regeln und Konzepte können in den Zusammenhang der Wahl, der Entscheidung und des Entschlusses für bestimmte Handlungen verstanden werden. Auf diese Weise antwortet sie einerseits auf das, was sie durch das Christentum gelernt hat, denn im Kloster findet Montano „structure with a built-inritual“ 168 , ein Eingebundensein in einen strengen Rhythmus, Tagesablauf und damit in eine Struktur, die sie zu schätzen gelernt hat. Andererseits möchte sie sich aktiv ihren Ängsten stellen und nicht aus dem Alltag in einen Zufluchtsort, wie einem Kloster, fliehen. „[O]ne of the issues of being a nun or being in any institution is security, because there that‘s a given. [...] [. S]ome people hide out in institutions so they don‘t have to deal with [...] everyday life and that‘s an issue for me. I want to be able to handle the everyday life, because that‘s where the real saintliness is.”169

Nur in einer aktiven Auseinandersetzung mit dem alltäglichen Leben spiegelt sich für Montano ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Leben wider, den sie mit ihrer Vorstellung zum Erlangen einer möglichen ,Heiligkeit‘ verbindet. Dennoch bietet ihr der Katholizismus wichtige Grundlagen zur Orientierung für ihre Lebenskunst. Aus ihm übernimmt sie die Idee der Struktur, der Einteilung des Tagesablaufs, die Konzentration und Disziplin. Denn durch einen Rahmen entsteht nicht nur ein Kloster, sondern für sie auch Kunst aus Leben und letztlich eine Verschmelzung von Art/Life170. Montanos Vorgehen, ihren Selbstentwürfen

165 Heidegger 2006, S. 299. 166 Heidegger 2006, S. 299. 167 Merleau-Ponty 1974, S. 464. 168 Juno/Montano 1991, S. 52. 169 Juno/Montano 1991, S. 60. 170 Grey/Grey/Montano 2005, S. 40.

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einen festen ,Entschluss‘171 mithilfe eines Vertrages zu geben, kann als Schritt gesehen werden, diesem Eingebundensein in die vorherrschende Gewohnheit in der Welt zu begegnen.

2.1.4 Regeln für das Zusammenleben Montano scheint mit ihrer verantwortungsvollen Übernahme und der selbstgewählten Strukturierung ihres Tagesablaufs, als ein Selbst172, im Sinne Heideggers, in Abgrenzung zum „Man-Selbst“173 verstanden werden zu können. Allerdings stellt sie derart auch ihre selbstdefinierten Konzepte und Regeln denen der Gesellschaft gegenüber. Verträge und Regeln stehen in ihrer Entstehung und Entwicklung, folgen wir Durkheim, im Zusammenhang mit Religion, insofern sie zu einer Gemeinschaft geführt hat, die auf Moral basiert174. Mittels dieser Zusammenhänge wird deutlich, dass dafür Begriffe eindeutiger Erklärung bedürfen, die in ihrer Bedeutung anscheinend nicht greifbar sind: „Wir haben heute keinen wissenschaftlichen Begriff davon, was Religion eigentlich ist. [...] [. S]ehr oft regelt sie die rechtlichen, moralischen und wirtschaftlichen Beziehungen. Ihr Wirkungsbereich geht also weit über den Verkehr des Menschen mit dem Göttlichen hinaus.“175

Auch wenn diese Zeilen im Jahr 1893 erschienen sind, scheint sich die Religion heute nicht weniger der Definition zu entziehen. Dies schließt jedoch nicht aus, davon auszugehen, dass es Zusammenhänge zwischen Religion, Gemeinschaft/Gesellschaft und Moral gibt. In einem solchen Zusammenhang kann, mit Durkheim, der Ursprung der Entwicklung und die Bedeutungsgebung für Regeln und Verträge gesehen werden. So ist nach ihm

171 Von einem ,Entschluss‘ ist auch bei Heidegger die Rede (Siehe Heidegger 2006, S. 299, bzw. in diesem Text weiter oben). Die Bedeutung eines solchen ‚Entschlusses’ wird auch im Folgenden eine Rolle spielen. 172 Heidegger 2006, S. 129. 173 Siehe Heidegger 2006, S. 128f. 174 Siehe Durkheim 2012, S. 55 und Durkheim 2007, S. 334. 175 Durkheim 2012, S. 223.

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„[e]ine Regel [...] nicht nur eine gewohnheitsmäßige Form des Handelns, d.h., sie ist vor allem eine verpflichtende Form des Handelns, [...] [. N]ur eine festgefügte Gesellschaft [genießt] die moralische und materielle Überlegenheit, die unerläßlich ist, um die Individuen dem Recht zu unterwerfen.“176

Verträge beruhen, wie Durkheim deutlich macht, auf „korrelative[n] und gegenseitige[n] Verpflichtungen“177 im Hinblick auf bestimmte Leistungen und Handlungen. Aber sie sind auch Basis der Gesellschaft selbst. Was Rousseau als den ,Gesellschaftsvertrag‘ bezeichnet, ist mit dem „Übergang vom Naturzustand zum bürgerlichen Stand“ 178 verbunden. Damit einher geht die Verbindung des ,Instinkts‘ mit dem ,Intellekt‘179: „Was der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag verliert, ist seine natürliche Freiheit und ein unbegrenztes Recht auf alles, wonach ihn gelüstet und was er erreichen kann; was er erhält, ist die bürgerliche Freiheit und das Eigentum an allem, was er besitzt.“180

Diese Aussage Rousseaus impliziert, was Durkheim später als Maß einer „ökonomischen Disziplin“181 bezeichnet, deren Auswirkungen sich auf die Moral erstrecken. Hier jedoch gilt es, nicht näher auf diesen ökonomischen Aspekt des Vertrages näher einzugehen. Bedeutend ist vielmehr, was Freud in Das Unbehagen in der Kultur schreiben wird: dass „[d]er Kulturmensch [...] für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht“182 hat. Dem Vertrag, wie es der Mensch als Teil der Gesellschaft verspürt verpflichtet zu sein, einen weiteren Vertrag entgegenzusetzen, über dessen Regeln das Individuum selbst bestimmt, ist womöglich der Versuch, ein Stück Freiheit zurückzugewinnen. Er erscheint als eine Antwort auf die Situation des ,modernen Menschen‘ wie sie Foucault beschreibt: „[D]as gleichermaßen politische, ethische, soziale und philosophische Problem, das sich uns heute stellt, ist nicht der Versuch, das Individuum vom Staat und dessen Institutionen

176 Durkheim 2012, S. 45. 177 Durkheim 2012, S. 175. 178 Rousseau 2011, S. 22. 179 Siehe auch 2.1.1 ,Organisation des menschlichen Lebens‘, S. 48ff. 180 Rousseau 2011, S. 23. 181 Siehe Durkheim 2012, S. 44. 182 Freud 2004, S. 79.

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zu befreien, sondern uns selbst vom Staat und der damit verbundenen Form von Individualisierung zu befreien.“183

Und so verdeutlicht auch Durkheim, dass es in einer Gesellschaft voller Verträge wichtig ist, neue Verträge zu entwerfen, die die alten ,außer Kraft setzen‘, um neue Machtstrukturen zuzulassen. Freiheit wäre damit an Regeln und Verträge gebunden 184 . Gegenüber der Vorstellung vom „conceptual artist“ folgt auch Montano einer solchen Verbindung von Regeln und Freiheit: „What it means is […] flying into freedom, having permission, feeling the excitement of doing what you want, when you want, how you want, why you want.“185

2.1.5 Verträge in der Performance-Kunst Verträge implizieren folglich immer eine besondere Form der Verbindlichkeit, während Regeln als eine Form der Orientierungsmöglichkeit erscheinen, ohne jedoch nicht auch ein gewisses Maß an Disziplin zu verlangen. Montanos Performance-Kunst kennzeichnet einen experimentellen Umgang mit Vorstellungen gegenüber Regeln, Konzepten und Verträgen. Bereits ihre frühen Performances rahmt sie durch Konzepte und Vereinbarungen mit sich selbst ein, wie zum Beispiel die Performance „Lying: Dead Chicken, Live Angel“186 im Jahr 1972, in der sie drei Tage lang in einem Bett mit Flügeln aus Hühnerfedern liegt. 1981 entwirft Montano das Konzept „Living/Art“: „The purpose of LIVING ART is to allow artists and nonartists to designate specific times, hours, days, weeks, or months, to work and live, together or alone. This time then becomes ART.“187 Hintergrund für Montano ist, bestimmte Handlungen als Kunst zu definieren: „activities which the artists perform are intended to be art“188 und eine Unterscheidung der Zeit vorzunehmen: „LIVING ART divides time into actual time

183 Foucault 2007, S. 91. 184 „Ich kann nur in dem Maße frei sein, in dem ein anderer daran gehindert wird, seine physische, ökonomische oder andere Überlegenheit, die er besitzt auszunützen, um meine Freiheit zu unterdrücken; nur soziale Regeln können einen Mißbrauch der Macht verhindern.“ Durkheim 2012, S. 43. 185 Cohn/Montano 2005, S. 55. 186 Montano 1981 (Lying: Dead Chicken, Live Angel). 187 Montano 2005, S. 150. Siehe auch Montano 1981 (Living Art). 188 Montano 2005, S. 150.

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and ART.“189 Als Grundlage für bestimmte Handlungen und Zeiten definiert sie die Dokumentation der Entscheidung der Beteiligten in Form des Vertrages. „The contract is an agreement made by the artists before the event. It states that the time together and activity performed will be ART.“190 Eine konkrete Form erhält die „One Year Performance“191 von Linda Montano und Tehching Hsieh, in einem von beiden Künstlern unter Zeugen unterzeichneten Vertrag, der beide Künstler zu bestimmten Handlungen und Enthaltungen verpflichtet192: „We, Linda Montano and Tehching Hsieh, plan to do a one year performance. We will stay together for one year and never be alone. We will be in the same room at the same time, when we are inside. We will be tied together at waist with an 8 foot rope. We will never touch each other during the year. The performance will begin on July 4, 1983 at 6 P. M. and continue until July 4, 1884 at 6 P. M.”193

In der Folge dieser durational Performance ist Montano nicht nur dazu inspiriert, ihre Performances über längere Zeiträume zu vollziehen, sondern sie auch entsprechend konzeptionell konkreter auszuarbeiten. „After being tied for one year, I knew that I needed to design my own long-term project that would teach me about the possibility of art being life and life, art. Because by insuring myself that I am ‚in art‘ at all times for seven years and that the entire universe is my studio, I have lifted the pressure to create since every minute is framed and being used creatively.”194

Eine schriftliche Ausarbeitung der Performance erscheint für Montano von grundlegender Bedeutung, um ihre Performances zu definieren, um sich selbst

189 Montano 2005, S. 151. 190 Montano 2005, S. 151. Siehe auch Montano 2005, S. 155 und Juno/Montano 1991, S. 56. 191 Heathfield/Hsieh 2009, S. 232. 192 Siehe Juno/Montano 1991, S. 56. 193 Heathfield/Hsieh 2009, S. 232. 194 Montano 2005, S. 122.

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im ,Status der Kunst‘ 195 zu fühlen und denselben auszuleben 196 . Ein solcher Rahmen, eine solche Vereinbarung bietet ihr auch eine Form der Sicherheit und Orientierung. „I‘m not good when there‘s no time frame because I‘m untrained, impatient, and faithless.“197 In der Weiterentwicklung von kurzen, mit Regeln verbundenen Performances zu längeren, ausgearbeiteten Performances gewinnen Rahmung und Ausdauer bei Montano an Bedeutung198. Verbunden sind sie alle mit einem auf dem Konzept basierenden ,Entschluss’199. Verträge sind, wie mit Durkheim deutlich wurde, in erster Linie Verpflichtungen zu Handlungen und Leistungen, die eine bestimmte Anzahl von Personen miteinander eingehen200. Allerdings betont Agamben im Hinblick auf das mönchische Leben im Kloster nach der Benediktinerregel, dass „die gängigste Form der Profess die einseitige Erklärung war, nicht der Vertrag.“201 Und diese gilt, wie Agamben zeigt, einer bestimmten „Lebensform“202. „Der Mönch verpflichtet sich also nicht so sehr zu einzelnen Handlungen, als vielmehr dazu, den Willen Gottes in sich zu wecken“203. Im Hinblick auf Montanos Konzepte und Performances stellt sich aufgrund des Gesagten die Frage, inwieweit auch von Vertrag gesprochen werden kann, wenn sie lediglich eine Verpflichtung in Bezug auf bestimmte Handlungen mit sich selbst eingeht sowie ob es möglich ist, Lebenspraxis und Vertrag als miteinander einhergehend zu verstehen, da sie, vor allem mit ihrem Konzept zu 7 Years of Living Art, auch immer das Bewusstsein gegenüber dem Status, sich in einem

195 Über ihren „state of art“ siehe Montano 2005, S. 159 und Couillard/Montano 2005, S. 49. 196 Zum Vertrag für ihre 7 Years of Living Art Performance siehe Montano 2005, S. 155 und S. 156f. Über die Einzelheiten dieser Performance wird im Folgenden zu sprechen sein. Siehe 2.2.1 ‚Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst‘, S. 77f. 197 Robinson/Montano 2005, S. 38. 198 Siehe 2.1 ‚Konzept und Vertrag‘, S. 47f. Siehe auch Couillard/Montano 2005, S. 48. 199 Die Bedeutung des ,Entschlusses‘ wird anhand Heideggers Theorie in 2.1.3 ,Die Möglichkeit der ,individuellen‘ Entscheidung‘ S. 54ff. thematisiert. 200 Siehe 2.1.4 ,Regeln für das Zusammenleben‘, S. 60. Bzw. Durkheim 2012, S. 175. 201 Agamben 2012, S. 66 202 Agamben 2012, S. 66. 203 Agamben 2012, S. 67.

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künstlerischen Prozess zu befinden, verbindet204. Angesichts dieses Status von Bewusstsein gegenüber ihren Performances sind Vorstellungen von Moral beteiligt, die nicht nur die Kunst und sie selbst als Künstlerin betreffen, sondern auch Verhaltensweisen und Handlungen sich selbst und anderen gegenüber im alltäglichen Leben miteinschließen. Die Bedeutung einer solchen Form des Vertrags wird durch Deleuzes Aussage über Sacher-Masochs Masochismus deutlich, den es „ohne Vertrag nicht gibt, und wenn der Vertrag auch nur im Kopf des Masochisten besteht“ 205 . Hier scheint eine Verbindung zwischen Masochismus und Performance in der Ausarbeitung und Ausführung des Konzepts zu bestehen, die eine Bedeutung des Vertrags als Verpflichtung mit sich selbst und im Hinblick darauf, neue Realitäten Wirklichkeit werden zu lassen, zulässt. In einem erweiterten Sinne wird der Vertrag, der Sinnbild einer kontrollierten, auf Gesetzen basierenden Gesellschaft ist, bei Montano durch den Vertrag in der Kunst abgelöst206. Er führt sie zu einer neuen Realität und erschließt dadurch einen neuen Lebensraum mit eigenen Regeln. In diesem gelten nicht die Regeln der Gesellschaft, sondern die Regeln der Künstlerin beziehungsweise der zusammenarbeitenden Künstler207. Durch ihn gibt Montano ihrem Leben einen neuen Rahmen, der neue Sichtweisen und Erkenntnisse zulässt, aber auch eine neue Form des Ich-Seins zur Folge hat. Denn die Regeln dieses Vertrags ermöglichen eine neue Realität des Subjekts und mit ihm dessen Bewusstseinszustände 208. Das Subjekt ist nun nicht mehr Subjekt der Realität der Gesellschaft, sondern Subjekt der eigenen Vertragsrealität und kann sich in dieser neu erschaffen. „It‘s wonderful to create laws that apply only to me and to find security in my private world view.“209

204 „I am doing this to ensure that I am in the ‚state of art‘ or consciousness twenty-four hours a day for seven years while living a relatively normal life.“ Montano 2005, S. 159. Siehe auch 2.2.1 ,Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst‘, S. 76. 205 Deleuze 1980, S. 227. 206 Näheres hierzu siehe 2.1.5 ,Verträge in der Performance-Kunst‘, S. 63f. 207 Dies gilt zum Einen für die One Year Performance von Montano und Tehching Hsieh, siehe 2.1.5 ‚Verträge in der Performance-Kunst’ S. 62. Über ,künstlerische Gemeinschaften‘ wird im Kapitel über P-Orridge zu sprechen sein. Siehe 3.2 ‚Gemeinschaft als Kunstform’, S. 179ff. 208 Siehe Couillard/Montano 2005, S. 48. 209 Montano/Ingber 1981.

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2.1.6 Rahmen und Werte Die Verbindungen von Alltag und Religion, Konzept und Vertrag, Leben und Kunst führen bei Montano dazu, dass ,alles zur Kunst‘ werden kann und damit alles eine neue Bewertung durch eine veränderte Kontextualisierung erfährt. So wird durch den Vertrag Arbeit, ein Treffen mit Freunden, ein Sitzen, Liegen, Stehen, mit offenen oder geschlossenen Augen zur Kunst210. „I have to ‚artify’ everything.“ 211 Dieser Drang trifft letztlich auch den Raum, in dem sie ihre Kunst ausübt. Um einen neuen, besseren Umgang mit ihrem Haus zu finden, erklärt sie es zum Museum und später zum ,Art/Life Institute‘212. Der neue Rahmen ist für Montano die neue Belegung mit Bedeutung. Denn während ein Haus im Allgemeinen für Sicherheit steht und Fragen im Hinblick auf Familie aufkommen lässt, bewirkt ein Haus ,Living Art Museum‘ zu nennen für sie, es als Kunst sehen zu können und eröffnet ihr Freiheiten im Ausleben von Ideen213. „When I was living in San Francisco I had the ‚Living Art Museum‘ because I get uncomfortable if I have to live in a ‚home‘ - a home means nurturing, food, security, and raises issues about family and communication. So no matter where I‘m living, I call it a museum or an institute and that makes me happy, because then I am art living in art. Doing this also gives me permission to make a place a ‚work of art‘ instead of a ‚home‘.”214

So definieren Konzept und Vertrag für Montano Handlungen und ,Verpflichtungen‘ und ermöglichen dadurch eine ,Neu-‘ beziehungsweise ,Um-Definition‘ von bereits Bestehendem. Durch das Entstehen einer neuen Realität, können bei Montano Dinge, Handlungen neu bewertet werden und tragen auf diese Weise dazu bei, neue Perspektiven zu entwickeln. Solche Umwertungen können auch zu Bewusstseinsveränderungen führen. „I have chosen to do art because it allows me to give value to things and I also like getting so involved in something that I can transcend my ordinary concerns.“215 Es geht Montano um eine Veränderung

210 Siehe Montano 1981 (Home Endurance) und Montano 2005, S. 124. 211 Klein/Montano 2005, S. 8. 212 Klein/Montano 2005, S. 8, Montano 2005, S. 159 und Kussoy/Montano 2005, S. 161. 213 Für „eine bestimmte ästhetische Reflexion des Verhältnisses von Subjekt und Wohnen“ (Bachmann 2012, S. 299), siehe Bachmann 2012. 214 Juno/Montano 1991, S. 60. 215 Montano/Ingber 1981.

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der Bedeutungen, um Dinge, Erfahrungen in einem neuen Licht erscheinen zu lassen, sie neu zu erleben und Bewusstsein ihnen gegenüber entwickeln zu können216. Mit Bezug auf Nietzsches „Umwertung der Werte“217 entwickelt Groys seine Theorie der Umwertung für die Kunst218. Wie anhand Montanos konzeptionellem Vorgehen für ihre Performances deutlich wurde, dass der Rahmen dem Inhalt seine Bedeutung gibt, so kommt es darauf an, ob ein Pissoir, wie im Falle Duchamps Ready-Made, in einer Toilette oder im Ausstellungsraum eines Museums steht, um es zur Kunst werden zu lassen219. Entsprechend gibt es nach Groys auch einen Kontext, der zu einer ,Wahl‘ der verwendeten Elemente und Handlungen führt220. Für seine Definition des ,Neuen‘ spricht er anstelle von einer Unterscheidung zwischen ,profanem‘ und ,sakralem’ von einer Unterscheidung zwischen „valorisierten Archivalien [...] [,] dem valorisierten, hierarchisch aufgebauten kulturellen Gedächtnis einerseits und dem wertlosen profanen Raum andererseits“221. Als ,innovativ‘ bezeichnet er in diesem Sinne etwas, das zwar bereits bekannt war, aber einen neuen Wert erhalten hat222: Es ist von etwas Profanem, in gewissem Sinne Alltäglichen zu etwas mit kulturellem Wert aufgestiegen beziehungsweise „aufgewertet“ 223 worden, wodurch ein veränderter Blick auf das Umgewertete entsteht. In gleicher Weise werden jedoch auch kulturelle, valorisierte Dinge „abgewertet“ 224 , das heißt, es finden Prozesse der „Aufwertung“225 und der „Abwertung“226 statt. Als problematisch erscheinen dabei Dinge, die sich im profanen Raum befunden haben, da sie laut Groys die Dinge sind, „die von den Archiven nicht erfaßt sind“227. Ihnen komme einerseits nicht genügend Bedeutung zu, als dass sie es Wert wären, in einem ,kulturellen Archiv‘ aufbewahrt zu werden, andererseits dienen sie als eine Art vergessenes

216 Siehe Grey/Grey/Montano 2005, S. 43. 217 Siehe z.B. Nietzsche 1986, S. 24. 218 Siehe Groys 2004, S. 74. 219 Siehe Groys 2004, S. 86 und Fischer-Lichte 2004, S. 352. 220 Siehe Groys 2004, S. 86. 221 Groys 2004, S. 56. 222 Siehe Groys 2004, S. 14. 223 Groys 2004, S. 14. 224 Groys 2004, S. 14. 225 Groys 2004, S. 63. 226 Groys 2004, S. 63. 227 Groys 2004, S. 56.

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Archiv, aus dem jederzeit etwas genommen werden könnte, das in etwas ,Valorisiertes‘, ,Kulturelles‘ verwandelt werde228. Es stellt sich die Frage, welche Folgen dies für Dinge hat, die in ein geschichtliches Archiv gelangen beziehungsweise für ein Museum, in dem alltägliche Gegenstände aufbewahrt werden, die das Leben der Menschen zu der jeweiligen Zeit beschreiben? Womöglich handelt es sich dabei nicht um Kunst, da sie kein ,anerkannter‘ Künstler wie Duchamp zuvor in Händen gehalten, sie durch einen Akt, wie des ,Umdrehens’, ihrer Funktion beraubt und anschließend noch durch ein Zeichen als Kunst gekennzeichnet hat: durch die Signatur229. Und dennoch bleibt der Zweifel, dass es sich bei diesen Dingen auch um Gegenstände mit kulturellem Wert handelt. Sie verweisen auf die Frage, wer die Entscheidung über diese Gegenstände fällt, die für Benjamin mit Machtstrukturen gleichzusetzen ist, denen eine Form des Opfers anhaftet: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.“230 Der Vorgang der „Umwertung der Werte“ 231 kennzeichnet für Groys die Kunst der historischen Avantgarde und manifestiert sich insbesondere in den Ready-Mades Duchamps. Als Überführung eines Gegenstandes, wie dem Pissoir aus dem profanen Raum in das kulturelle Archiv im Sinne Groys können sie als ein Sinnbild des von Bürger hervorgehobenen Bestrebens der Avantgardisten angesehen werden ,die Kunst mit der Lebenspraxis‘ zu vereinen232. Auch wenn die Avantgardisten, wie Bürger darstellt, an diesem Ziel gescheitert sind233, sind sie seiner Meinung nach nicht erfolglos geblieben, denn sie haben zwar „die Institution Kunst nicht zerstören können, wohl aber haben sie die Möglichkeit zerstört, daß eine bestimmte Kunstrichtung mit dem Anspruch allgemeiner Gültig-

228 Siehe Groys 2004, S. 56. 229 Über die Bedeutung von Wahl und Signatur in Bezug auf die Ready-Mades Duchamps, siehe Charles 1989, S. 41f. 230 Benjamin 1977, S. 254. 231 Groys 2004, S. 74. 232 Siehe Bürger 1974, S. 29. 233 Mit Bezug auf Adornos Ästhetik und dessen Bewertung der Avantgarde schließt Bürger: „So aber wird die Avantgarde zum einzig zeitgemäßen Typus von Kunst. Diese Auffassung hat ihre Wahrheit darin, daß die weiterreichenden Intentionen der Avantgardebewegungen in der Tat als gescheitert gelten können; ihre Unwahrheit liegt darin, daß eben dieses Scheitern nicht ohne Folgen geblieben ist.“ Bürger 1974, S. 121f.

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keit auftreten kann.“234 Die Kunst als Institution hat auch nach den Avantgardisten Bestand, aber gleichzeitig verdeutlicht ihre Kunst die Institution und ihre Bedeutung selbst, indem sie, so Bürger, „das Gewicht der Institution Kunst für die reale gesellschaftliche Wirkung der Einzelwerke erkennbar“235 gemacht hat. Die Avantgardisten haben, wie mit Groys Theorie der ,Auf-‘ und ,Abwertung‘236 deutlich wird, auf diesen Prozess verwiesen. Darüber hinaus wird durch die Avantgardisten nach Bürger das Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit derart verändert, dass Wirklichkeit Teil von Kunst werden kann237. Letztlich haben die Avantgardisten den Weg geebnet für die Vereinigung von Kunst und Leben, wie sie in den Performances Montanos zelebriert wird. „Performance is no longer avant-garde – it truly is practiced universally.“238 Auf diese Weise wird eine Nähe von Kunst und Leben/Alltag sowie Kunst und Religion begünstigt, die gerade auch durch Groys' Unterscheidung von profanem Raum und valorisiertem, kulturellem Archiv deutlich wird, da sie an die Differenz ,profan‘ und ,sakral‘ angelehnt erscheint. Für Groys ist die christliche Askese ein Akt, indem profane Dinge durch die Heiligkeit des Verzichts und der Demut des Gläubigen aufgewertet werden239. ,Auf- und Abwertungen‘ würden auf diese Weise auch durch das Christentum in Gang gesetzt. Allerdings erscheinen die Beziehungen des Heiligen und des Profanen, wie Agamben verdeutlicht, an strikte religiöse Praxis gebunden. Er führt das Wort „religio“ auf „relegere“240 zurück und damit „auf die Gewissenhaftigkeit […], die bei den Beziehungen zu den Göttern walten sollen, [...] vor den Formen [...] an die man sich halten muß, wenn man die Absonderung zwischen Heiligem und Profanem reflektieren will.“241 Gegenüber dieser streng geregelten religiösen Praxis steht ein freierer und flexiblerer Umgang mit Wertungen in der Kunst. Montano hat in ihrem Leben beide Bereiche kennengelernt. Ihr Ein- und Austritt aus dem Konvent, kann deshalb als bedeutend für das Verständnis mit Werten und Regeln für ihre Performance-Kunst verstanden werden. Die Abgrenzung zur realen Lebenswelt wird

234 Bürger 1974, S. 122. 235 Bürger 1974, S. 117. 236 Siehe Groys 2004, S. 63. 237 Siehe Bürger 1974, S. 128. 238 Robinson/Montano 2005, S. 34. 239 Siehe Groys 2004, S. 123f. 240 Agamben 2005, S. 71. 241 Siehe Agamben 2005, S. 71f.

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im Konvent durch unterschiedliche Praktiken garantiert, denn es gilt nicht nur dessen Regeln und Gesetze in Form eines Gelöbnisses anzuerkennen, sondern auch den Namen aufzugeben, den man in der ,Gesellschaft‘ innehatte, zugunsten dessen, den man im Kloster erhält. Diese Namen haben meist einen biblischen Hintergrund oder sind auf Heilige zurückzuführen. Mit ihnen geht die Verkörperung einer neuen Identität einher: Der gesellschaftliche Mensch wird als ,religiöser Mensch‘ anerkannt, und von ihm werden entsprechende Verhaltensweisen gefordert. Auch Montano erhält im Kloster einen neuen Namen – Sister Rose Augustine – mit dem sie in ihrer 7 Years Performance of Living Art gearbeitet hat242. Sie kennt diesen Schritt, eine andere Person zu verkörpern und mit ihr die dazugehörigen Regeln anzunehmen. In gewisser Weise erscheint Montanos Leben im Konvent als erste Performance ihres Lebens. Je näher sich Alltag und Kunst kommen, die Grenzen zwischen Kunst und Leben verschwimmen, scheint es im Hinblick auf die Entwicklung von Montanos Performances von Bedeutung, den eigenen Willen zu formulieren und damit diese Grenze zu verdeutlichen243. Das Konzept dient ihr dazu, erweiterte Gesetze zur Lebensführung zu erstellen und einen bewussten Umgang mit Handlungen zu ermöglichen244. Auf theoretischem Gebiet haben auch Konzept und Vertrag die Macht, Geschehnisse, Gegenstände und Menschen umzuwerten. Werte stehen nicht für sich, sondern ändern sich durch Auswahl und Zusammenhang, denn wie Dilthey bemerkt: „Nur die Kategorie der Bedeutung überwindet das bloße Nebeneinander, die bloße Unterordnung der Teile des Lebens.“245 In Montanos Kunst sind Konzept und Vertrag eine schriftliche oder gedankliche Ausführung und Auseinandersetzung mit Ideen. Sie setzen die Reflexion voraus und sind in gewisser Weise auch ein philosophischer Akt, insofern es Montano darum geht, richtige und falsche Handlungen abzuwägen, Situationen zu veranschaulichen, das eigene Bewusstsein zu erweitern – Gewinne für das eigene Leben, die eigene Lebensführung zu ziehen246. Das Konzept zu einem Vertrag zu formulieren, macht es für alle Beteiligten verbindlich, weist jedem seinen Platz und seine Möglichkeiten zu. Auch der Vertrag des Ich mit sich selbst hat den Effekt der Verbindlichkeit und Organisation.

242 Siehe Montano 2005, S. 158 und Montano 1981 (Characters). 243 Siehe Couillard/Montano 2005, S. 48. 244 Siehe Grey/Grey/Montano 2005, S. 43. 245 Dilthey 1981, S. 249. 246 Siehe Juno/Montano 1991, S. 60.

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Er verlangt Disziplin, ihn einzuhalten, und ähnelt damit den Gesetzen, die über Klöstern stehen, da auch diesen eine besondere (Ausnahme-) Stellung gegenüber den Gesetzen der Gesellschaft zukommt. So wird der Vertrag in der Kunst nicht nur etwas, an das man sich halten muss, sondern auch etwas, an dem man sich festhalten kann. In Bezug auf den Alltag kann abschließend festgehalten werden, dass er die Möglichkeit der Fremd- und der Eigenbestimmung beinhaltet. Entgegen der Erwartung, dass er in erster Linie mit ,Durchschnittlichkeit‘247 oder mit Heideggers „Man“248 verbunden ist und dadurch dem Individuum rein äußerliche Erwartungen, Meinungen und Regeln aufdrängt, ist er auf eigentümliche Art und Weise mit den „Techniken des Selbst“249 und der „Sorge um sich selbst“250 verbunden, wie sie durch Foucault aufgezeigt wurden 251 . Am Ort, der am meisten von Unbewusstem beherrscht wird, stellt sich die größte Möglichkeit des Menschen heraus, sich selbst zu formen und zu erkennen.

247 Siehe 2.1.3 ,Die Möglichkeit der ‚individuellen’ Entscheidung‘, S. 54. 248 Heidegger 2006, S. 127. 249 Foucault 2007, S. 74. Siehe auch „Technologien des Selbst“; ebd., S. 287. 250 Foucault 2007, S. 290. 251 Siehe 2.1 ,Sorge’, S. 51ff.

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2.2 W IEDERHOLUNG

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AUSDAUER

Der alltäglichen, sich wiederholenden Routine setzt Montano eine bewusste Wiederholung in der Performance entgegen, der sie sich mit Ausdauer und Disziplin widmet. Auf diese Weise wird Wiederholung zur künstlerischen Praxis, beeinflusst durch unterschiedliche religiöse Theorien und Praktiken, die mit der Ausdauer eine Form des Durchhaltens und Ertragen des Leidens beinhalten und mit dem therapeutischen Ziel verbunden sind, das eigene Selbst bewusst in eine bestimmte Richtung zu gestalten 252 . Montanos Strategien werden in diesem Zusammenhang in Verbindung mit Theorien aus Religion, Philosophie und Kunst dargestellt, um der Frage nachzugehen, inwiefern der Mensch gegenüber den Wiederholungen des Lebens aktiv werden kann und inwieweit auch Religion und Mythos ihm in diesem Zusammenhang als Orientierung dienen. Wiederholung wird von Montano auf verschiedene Art und Weise in ihrem Schaffen eingesetzt. Sie spielt zum Beispiel eine Rolle, wenn Sie ,auf einer Tretmühle laufend die Geschichte ihres Lebens erzählt’253, um sich mittels dieser wiederholenden Bewegung nach innen zu wenden. Dabei erfährt sie den Einfluss der Wiederholung auf ihren Körper als eine Art der ‚Programmierung’: „After walking for three hours on the treadmill, going uphill, I felt psychically and physically expanded and when I got off the machine I couldn’t stop walking because my legs were programmed to move. I was very surprised by this and decided that if I could change myself physically by means of repetition, then maybe I could change old fears by repeating the action that seemed fearful (talking).”254

Und so nutzt Montano diese Kraft der Veränderung der Wiederholung auch, wenn sie sich einen Monat lang jeden Morgen mit einem Lächeln fotografiert,

252 Über eine Verbindung von Ästhetik und Wiederholung in der Performance siehe Kalu 2013. 253 Siehe Montano 1981 (The Story of my Life). 254 Montano/Ingber 1981. Dieser Angst vor dem Reden, widmet sie sich auch in ihrem Buch Performance Artists Talking in the Eighties, in dem sie andere PerformanceKünstler interviewt. „My own childhood habit was not to speak but to silently intuit everything. By placing myself in an atmosphere of talking with artists about subjects I once thought too delicate or taboo to discuss, I have slowly untied my own tongue.“ Montano 2000, S. xii.

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um ihre Traurigkeit zu bewältigen 255 . „I wanted the habit of happiness to be available to me so I disciplined myself to smile everyday. I had just started therapy.“256 Diese, der Wiederholung gewidmeten Performances Montanos, haben den therapeutischen Zweck, sich Tatsachen zu stellen, Krisen zu überwinden und stark zu bleiben. Ihre Mittel sind solche, die ihr die Kunst an die Hand gibt. Ihre spärlichen Dokumentationen durch Fotografien und Videos sind nicht nur ein Dokument, sondern auch eine Vergegenwärtigung des Emotionalen, ein Spiegel für sich selbst, wie zum Beispiel in der Performance Talking about Sex while under Hypnosis257: „The Video was confessional and confusing. I was sick for days after the opening because the piece was about the conflict of appearing one way and feeling another.“258 In ihrer ersten durational Performance von einem Jahr lässt sich Montano mit Tehching Hsieh durch ein Seil verbinden259. Das Aneinandergebundensein zweier Menschen wird für Montano schon früher zur Performance und stellt damit eine thematische Wiederholung dar. In Lying: Dead Chicken, Live Angel260 liegt sie an drei Tagen drei Stunden neben ihrem damaligen Ehemann Mitchell Payne. Des Weiteren lässt sie sich mit Tom Marioni drei Tage lang durch Handschellen verbinden261. Wiederholung steht allerdings nicht nur im Kontext der bewussten sowie unbewussten Wiederholung eigener Handlungen, sondern auch in Verbindung zur menschlichen Geschichte. Die Bedeutung der Nachahmung hat Aristoteles in seiner Poetik für die „Dichtkunst selbst und von ihren Gattungen“ betont262. Ihre Verwendung der Nachahmung ist sowohl im Hinblick auf „Mittel, [...] Gegenstände“263 als auch „der Art und Weise“264 unterschiedlich. Allerdings vollziehen

255 Siehe Montano 1981 (The Story of my Life; Happiness Piece). 256 Montano 1981 (Happiness Piece). 257 Montano 1981 (Talking about sex while under Hypnosis). 258 Montano 1981 (Talking about sex while under Hypnosis). In diesem Zusammenhang resümiert Festa: „The reflexive capabilities of performance art and video technology enabled Montano to do in ‚art’ what she felt unsure of doing in ‚life.’“ Festa 2000, S. 10. 259 Siehe Heathfield/Hsieh 2009, S. 232 und Juno/Montano 1991, S. 56. 260 Montano 1981 (Lying: Dead Chicken, Live Angel). 261 Siehe Montano 1981 (Handcuff). 262 Aristoteles 2012, S. 5. 263 Aristoteles 2012, S. 5.

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nach Aristoteles alle Künste, auch Maler, die Darstellung der Nachahmung „handelnde[r] Menschen [...]. Demzufolge werden Handelnde nachgeahmt, die entweder besser oder schlechter sind, als wir zu sein pflegen, oder auch ebenso wie wir.“265 Und diese werden, so Aristoteles, entweder real, erhöht oder überzeichnet in positivem wie im negativen Sinne dargestellt266. Aber die Nachahmung ist für Aristoteles nicht nur ein bedeutender Bereich der Kunst. „Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, daß er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine erste Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt […].“267

Bereits das Kind erlernt nach Aristoteles durch Wiederholung notwendige Verhaltensmuster im Umgang mit anderen Menschen268, worin er eine bedeutende Fähigkeit des Lernens beim Menschen erblickt. Derart ist mit Aristoteles’ Definition die menschliche Geschichte als ein großes Archiv an bereits vollzogenen Handlungen vorstellbar, die von späteren Generationen wieder aufbereitet werden. Mit seinem Begriff „restored behavior“269 betont Schechner die Funktion der Wiederholung für die Performance. Er definiert es als „marked, framed, or heightened. Restored behavior can be ‚me‘ at another time or psychological state – for example, telling the story of or acting out a celebratory or traumatic event.“270 Auch hier kommt der Handlung durch ihren Rahmen und den dadurch verliehenen Wert eine Bedeutung zu. Jeder Mensch wiederholt damit, auch bei Schechner, Handlungen, die nicht ,neu‘ sind, da sie „in endless variations“271 verknüpft werden. Aufgrund dessen stellen sie auch keine exakten Kopien dar,

264 Aristoteles 2012, S. 9. 265 Aristoteles 2012, S. 7. 266 Siehe Aristoteles 2012, S. 9. 267 Aristoteles 2012, S. 11. 268 Siehe auch Schechner 2006, S. 101. 269 Schechner 2006, S. 30. 270 Schechner 2006, S. 35. 271 Schechner 2006, S. 30.

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sondern sind jeweils mit Abweichungen verbunden. Wiederholung spiele sowohl im alltäglichen Leben272 als auch in der Performance-Kunst eine Rolle273. Während bei Aristoteles vor allem Philosophen mittels der Nachahmung oder durch Darstellung derselben lernen und die „übrigen Menschen [...] nur wenig Anteil daran“ 274 haben, macht vor allem Goffman deutlich, dass der Mensch in seinem Lebensverlauf dazu angehalten ist, immer wieder eine Art der Performance einzustudieren, um sich so an seine Lebensumstände anzupassen275. Als Voraussetzung dafür erscheint die Einigung der Menschen auf bestimmte Verhaltensweisen in bestimmten Zusammenhängen, wie sie sich im Laufe der Geschichte entwickelt haben. Goffman spricht deshalb von einem „preestablished pattern of action which is unfolded during a performance and which may be presented or played through on other occasions may be called a ,part‘ or ,routine‘.“276 Insofern spielt auch hier wieder der Alltag und mit ihm einhergehend die dort herrschende Routine eine Rolle. Nach Goffman werden ,Routinen‘ „institutionalized in terms of the abstract stereotyped expectations to which it gives rise, and tends to take on a meaning and stability apart from the specific tasks which happen at the time to be performed in its name.“277 Wiederholung nimmt unterschiedliche Formen an und erscheint als unvermeidlich, entweder als aktive, bewusste Entscheidung mit dem Zweck zu einer bestimmten Selbstgestaltung, wofür sowohl die Wiederholung von Bewegungen und Handlungen in Montanos Performances als auch thematische Wiederholungen Beispiele sind, oder in einem grundlegenden geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang, der, nach Aristoteles, bereits durch das frühkindliche Lernen, mittels der Nachahmung, das Leben des Menschen prägt. Insofern ist Montanos Kunst auch Ausdruck des nachahmenden Lernens von ihrer Familie, den Alltag künstlerisch und konzeptionell zu bewältigen und sich an der religiösen Praxis der Strukturierung und Disziplinierung zu orientieren.

272 Siehe Schechner 2006, S. 34f. 273 Siehe Schechner 2006, S. 28f. 274 Aristoteles 2012, S. 11. 275 Siehe Goffman 1959, S. 16f. 276 Goffman 1959, S. 16. 277 Goffman 1959, S. 27.

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2.2.1 Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst Wiederholung beinhaltet nicht nur eine Form der Dauer, im Sinne eines zeitlichen Maßes, sondern auch im Sinne eines Aushaltens. Neben der eigenen Disziplinierung, die Montano als Lehre aus dem Katholizismus in ihrer Kindheit zieht, entwickelt sie ihre Ausdauer später mittels buddhistischer Theorien und Praktiken weiter. Seit dem Jahr 1970 praktiziert sie Yoga und geht über 30 Jahre lang in die Lehre des Gurus Dr. R. S. Mishra278. „[H]e has said, over and over, ‚Linda, you were not born, you cannot die. You are not the body and mind. Unless you understand your own death, you will have dis-ease.‘ [...]. I began meditating under his direction, my Roman Catholic fear of death and the devil were no longer the dreaded enemy, but eventually became words and issues that I could experience and examine from another cultural and mythological perspective. Yoga literally saved my life and my soul [...].“279

Der psychische Druck, den die katholischen Theorien und Praktiken auf Montano ausüben, löst sich durch das Kennenlernen der buddhistischen Lehren und der dazugehörigen Praxis, der Mediation und dem Yoga. Aber anstelle einer Abkehrung von der einen Religion und der Hinwendung zu einer anderen, sucht Montano den Weg einer sinnvollen Verbindung des Erlernten: „So, happily, I found the eastern traditions, and started with yoga, moved to Tibetan Buddhism and then Zen and back to yoga, and then found a way to interface Catholicism into all of it.“280 In der buddhistischen Lehre gewinnt die Ausdauer im Sinne vom Erdulden von Leiden und Vergänglichkeit an Bedeutung, denn so Eliade „[f]ür den Buddha ist wie für die Mehrheit der indischen Denker und Geistlichen nach der Zeit der Upanishaden alles Leiden.“ 281 Allerdings hat der Buddhismus wie Eliade zeigt auch Methoden entwickelt „, die zum Aufhören des Leidens führen.“282 Da

278 Siehe Montano 2005, S. 157 und http://www.lindamontano.com/artist-bio/. 279 Montano 2005, S. 237. 280 Sorkin/Montano 2005, S. 66. 281 Eliade 1994, S. 87. 282 Eliade 1994, S. 87.

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Theorie und Praxis im Yoga zusammengehören, sei ein Verständnis beider Bereiche grundlegend erforderlich283. Als Folge der Beschäftigung mit den buddhistischen Lehren entwickelt Montano Performances, um sich mit dem Verlust und dem Tod auseinandersetzen. „To prepare myself for death, I continue to study meditation and after experiencing the exhileration of meditation training, I began going inside publicly as art, doing sensory experiments (often blindfolded for a weak) to explore dying to one of my senses. […]. In 1970, I began a series of death simulations. Lying as if dead, having seen my embalmed grandparents in coffins, as if asleep.”284

Diese Vorbereitung auf den Tod gehört zu den bedeutendsten Übungen der Meditation im Buddhismus285. Davon zeugt insbesondere das Tibetanische Totenbuch, das nach Jung, den Sterbenden auf den nahenden Tod vorbereitet und ihm Anleitung für diesen „Zwischenzustand [...] zwischen Tod und Wiedergeburt“286 gibt. Der Mensch soll, wie Woodroffe verdeutlicht, lernen, sich vom Leben zu lösen, weil „der Tod zu allen kommt“287. Montanos künstlerischer Prozess der kurzen Performances führt nach ihrer One Year Performance288 mit Hsieh zu 7 Years of Living Art289, eine Performance bei der Montano, beginnend am 8. Dezember 1984290, ihre Ausdauer über sieben Jahre hinweg übt und den sieben Energiezentren/Chakren widmet. Jeweils ein Jahr lang verinnerlicht sie ein Zentrum, die dazugehörige Farbe und den Ton291. Von Beginn ihrer Yoga-Praxis an haben die Chakren für Montano eine

283 Siehe Eliade 1994, S. 94. Es sei darauf hingewiesen, dass sowohl aufgrund dessen als auch der Tatsache, dass nach Eliade Buddha selbst viele bedeutende Begriffe nicht definiert hat (siehe Eliade 1994, S. 85), nicht näher auf den Buddhismus eingegangen wird. Zudem ist der Buddhismus Montanos von ihrem Guru Dr. Mishra geprägt. 284 Montano 2005, S. 238. 285 Siehe Eliade 1985, S. 281. 286 Jung 2003, S. 41. 287 Woodroff 2003, S, 57. 288 Heathfield/Hsieh 2009, S. 232. 289 Montano 2005, S. 155 und Montano 2005, S. 156f. 290 Siehe Montano 2005, S. 153. 291 Siehe Montano 2005, S. 22f.

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grundlegende Bedeutung für ihre geistige Entwicklung im Umgang mit ihrem Körper. „I [...] have used the idea that there are seven energy centers (chakras) located on the spinal column and that each one aids the healthy functioning of different organs in the body while also promoting psychological/spiritual assistance to the practitioner.”292

Die Chakren293 setzen nach Eliade mit den nâdî den „Körper - physischer Körper und ,Feinleib‘ zugleich“294 zusammen. „Mit einer gewissen Vereinfachung könnte man sagen: die Lebensenergie in Form der ,Atem‘ zirkuliert durch die nâdî, während die kosmische und göttliche Energie in den cakra verborgen ist.“295 So entspricht jedem Chakra ein Organ beziehungsweise eine Stelle des Körpers, von der Wurzel296 bis „zwischen den Augenbrauen“297, während das siebte Chakra zwar am Kopf angesiedelt ist, aber „nicht mehr zur Ebene des Körpers gehört, sondern schon die transzendente Ebene bezeichnet, woraus sich erklärt, daß man allgemein von der Doktrin der ,sechs cakra‘ spricht.“298 Montanos 7 Years of Living Art Performance ist geteilt in ihre persönliche und ihre innere Erfahrung. Sie ist eine Art spirituelles Erlebnis bei dem die Kleidung in der Farbe des Chakras zu tragen299 und dadurch sowohl das Chakra zu

292 Montano 2005, S. 157f. 293 Eliade verweist, für eine Darstellung der Chakren, in einer Fußnote auf das Werk von Woodroffe (siehe Eliade 1985, S. 250), auf das hier für eine genauere Veranschaulichung auch verwiesen sei. In seiner Einleitung betont Woodroffe jedoch zum einen die unterschiedlichen Interpretationen im Hinblick auf die Chakren (Siehe Woodroffe 1982, S. 15f.) und zum anderen schließt er: „Man braucht mehr als einen umfangreichen Wälzer, wenn man den Sinn und die inneren Zusammenhänge dieses Yoga vermitteln und die ihn stützenden Fundamente ausführlich beschreiben wollte.“ Ebd., S. 23. 294 Eliade 1985, S. 246. 295 Eliade 1985, S. 246. 296 „liegt an der Basis der Wirbelsäule zwischen der Afteröffnung und den Geschlechtsorganen“; Eliade 1985, S. 250. 297 Eliade 1985, S. 252. 298 Eliade 1985, S. 252. 299 „Wearing one-color clothes every day, a different color each year allows the mind to play with and defy habituation and keeps the mind alert and conscious to purpose.“ Montano 2005, S. 25.

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verinnerlichen als auch zu verkörpern, sich in dem dazugehörigen farbigen Raum aufzuhalten und den Ton zu hören dazu dienen, sich selbst auf das Zentrum einzulassen, Erfahrungen über Energien zu sammeln und Energien zu generieren300. Verbunden ist die Konzentration auf die jeweiligen Chakren mit den von ihr im Jahr 1975 geschaffenen sieben Charakteren und dem zu ihnen gehörigen Akzent. Jedes Jahr steht damit im Kontext eines Chakra und eines ihm entsprechenden Charakters und dessen Eigenschaften301. „For the next seven years my daily activities at the Art/Life Institute will be: •

Staying in a colored space for extended periods of time so that the color can activate the center so that I am working on (minimum three hours).



Listening with and without headphones to the pitch associated with that center (minimum seven hours).



Wearing clothes that are the same color as the color of the center.



Speaking in the accents to illustrate the center (except with family).



Focusing on the location of that center during everyday life actions.”302

Dieser Rahmen, dieses Konzept Montanos, beinhaltet Wiederholung der Handlungsmuster der verschiedenen von ihr geschaffenen artifiziellen Persönlichkeiten303 und mit ihnen die Rückbindung an alte Performances, – aber vor allem, mittels des alltäglichen Rahmens und der Strukturierung des Tagesablaufs, der prinzipiell jedem Jahr entspricht304. Letztendliche Zielsetzung dieser 7 Years of Living Art Performance ist für Montano, anhand des künstlerischen Konzepts einen Zustand der Wachsamkeit und Bewusstheit zu schaffen, der es ihr dennoch erlaubt ,ein relativ normales Leben‘ zu führen: „I am doing this to ensure that I am in the ‚state of art‘ or consciousness twenty-four hours a day for seven years while living a relatively normal life. My daily life will be disciplined enough to keep me deeply alert but flexible enough to appear normal. My intention is to reach the place of no-art so that life is enough.”305

300 Siehe Montano 2005, S. 21 und Montano 2005, S. 157. 301 Siehe Kussoy/Montano 2005, S. 162. 302 Montano 2005, S. 156. 303 Montano 1981 (Characters). 304 Montano 2005, S. 156f. 305 Montano 2005, S. 159.

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Zu Beginn ist Montano von dem Gedanken erfüllt, ihr Vorhaben diszipliniert durchzuführen. Im Laufe der Zeit muss sie feststellen, dass es ihr schwerfällt, mit vollem Bewusstsein ihr Vorhaben auszuführen. „I have traveled and forgotten to put my orange cloth over the bed and I‘ve woken up and realized that I had forgotten the cloth and the sound. It is both about life and death and it isn‘t. It‘s my own life and death, but it isn‘t like forgetting to eat for eighty days. It‘s forgivable. [...]. I think that part of this current piece is learning to forgive myself.”306

Ihre Erfahrungen, darunter auch ein leichter Schlaganfall 307, führen sie zu der Erkenntnis, dass sie lernen muss, sich zu verzeihen, um ihre Persönlichkeit in Kunst und Leben auszugleichen – ausgleichend zu behandeln. „I was very permissive in my art and my life was suffering. Not that there‘s a really big difference between my art and life, but there are subtle kinds of differences. I was expressive, emotional, and permissive in my art. Now I want to be that way in my life, […]. In order to do that, I‘m going to conventional therapy.”308

Während sich Montano einerseits zur Vermittlung von Kunst und Leben nach außen wendet und therapeutische Hilfe in Anspruch nimmt, wendet sie sich andererseits von einem Publikum für ihre Performances ab. Mit der Veränderung und Verlängerung ihrer Performances geht eine Entwicklung ihres Umgangs mit dem Publikum einher. Zunächst ist es Teil ihrer Selbstheilung und Therapie. In der Zurschaustellung ihrer selbst hofft sie, von der Angst befreit zu werden „that ‚others are better than I am‘“309. Sie lernt durch ihre öffentlichen Performances einen reflexiven Umgang mit sich selbst und gleichzeitig die Verallgemeinerung ihrer Probleme mittels einer ,instinktiven Universalisierung ihrer Botschaft‘310. Das Erlangen eines bewussteren Umgangs mit sich und ihrer Kunst hat zur Fol-

306 Siehe Kussoy/Montano 2005, S. 163. 307 Siehe Klein/Montano 2005, S. 10. 308 Kussoy/Montano 2005, S. 163f. 309 Juno/Montano 1991, S. 55. 310 „Like saints and martyrs and priests. […] … the audience started teaching me how to pay attention to myself so I could drink in this attention. And when I did get the audience‘s attention, I felt this was because I had succeeded in universalizing my ‚message’ – although I did this instinctively, not consciously. Now I can be more conscious about how to achieve this.“ Juno/Montano 1991, S. 55.

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ge, dass sie sich das Publikum, das als Zeuge ihrer ,Läuterung‘ von Bedeutung war, im Laufe der Zeit verinnerlicht hat: „I used the audience for years as witness, but now I‘m very, very conscious of where they are, who they are, and are they coming with me? If they are not, I‘ll adjust, I will make it happen so that is not just myself alone. So, I have really become quite mature in relation to the audience, I‘m very, very conscious of them.”311

Damit dient die mit Ausdauer gekennzeichnete Praktizierung der Wiederholung für Montano nicht nur dazu, eine Erkenntnis über sich selbst zu erlangen, sondern auch bestimmte Praktiken, Umstände einzuüben, zu verarbeiten und zu verinnerlichen, aber auch, sich auf veränderte Weise wieder sich selbst zuwenden zu können.

2.2.2 Umgang mit alltäglichen Mustern Montanos Ringen, Leben und Kunst in einem gleichwertigen Sinne zu bewältigen, scheint zu verdeutlichen, dass der Mensch trotz enormer Anstrengung und dem Streben nach bewusster Lebensgestaltung, immer wieder in die unbewusste Wiederholung von Verhaltensmustern zurückfällt. Angesichts dieser dem Menschen auferlegten oder auch innewohnenden Passivität kommt die Frage auf, welche Einstellung er bewusst und aktiv diesen Einschränkungen gegenüber einnehmen kann. Im Mythos des Sisyphos definiert Camus „das Gefühl der Absurdität“ als die „Entzweiung zwischen dem Menschen und seinem Leben, zwischen dem Handelnden und seinem Rahmen“312. Er bezeichnet bereits das Leben selbst als einen Rahmen und ermöglicht dadurch den Bezug zu Heidegger, bei dem das „Seinkönnen“313, der Seins-Entwurf als im Wesentlichen mit dem Sein verbunden erschienen ist. Deutlich wurde in diesem Zusammenhang jedoch auch, dass in dem ,Konzept‘ ein artifizieller Plan über das Leben geworfen wird. Und so ist auch für Camus

311 Sorkin/Montano 2005, S. 68f. 312 Camus 2001, S. 14. 313 Heidegger 2006, S. 193.

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„das Werk die einzige Chance, sein Bewußtsein aufrechtzuerhalten und dessen Abenteuer zu fixieren. Schaffen heißt: zweimal leben. [...] [. A]lle absurden Menschen [...] erproben sich darin, ihre Wirklichkeit nachzuahmen, zu wiederholen und neu zu erschaffen.“314

Was für das Leben gilt, scheint aber auch für dessen Wiederholung im Konzept zu gelten, denn während man dem Wunsch der Vorstellung nachhängt, dass dieser artifizielle Rahmen durch das Konzept in seiner Wiederholung einen selbst gewählten und persönlich gesteckten Rahmen ermöglicht, der zu einer Vereinheitlichung von Mensch und Leben führt, zeigt Montano das genaue Gegenteil, indem sie an ihren eigenen Regeln scheitert und ihren Vertrag bricht315. „Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden Büro oder Fabrik, Essen Straßenbahn, vier Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus – das ist meist ein bequemer Weg. Eines Tages aber erhebt sich das ,Warum‘ [...].“316

Und in diesem ,Warum‘ spiegelt sich auch für Camus „[d]ie einfache ,Sorge’“317, die der Beginn für das Bewusstsein ist, wider, die schon bei Heidegger und Foucault erschienen ist318. Aber diese Sorge hat bei Camus einen Haken, der der routinehaften Wiederholung des alltäglichen Rhythmus gleicht: „[J]e mehr ich hoffe, je mehr ich besorgt bin um eine mir eigene Wahrheit, um eine Art, zu sein oder zu schaffen, je mehr ich schließlich mein Leben ordne und dadurch beweise, daß ich ihm einen Sinn unterstelle, um so mehr Schranken schaffe ich mir, zwischen denen ich mein Leben einzwänge.“319

Sowohl die Sorge um das alltägliche Leben als auch seine Wiederholung im Konzept beinhalten die Wiederkehr der Einschränkung. Wenn Montano in ihrer Kunst dem ,Alltäglichen‘ womöglich gerade deshalb einen besonderen Platz ge-

314 Camus 2001, S. 124. 315 Siehe 2.2.1 ,Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst‘, S. 79. 316 Camus 2001, S. 22f. 317 Camus 2001, S. 23. 318 Siehe 2.1 ,Sorge’, S. 52 und 2.1.3 ,Die Möglichkeit der ,individuellen‘ Entscheidung‘, S. 54f. 319 Camus 2001, S. 77f.

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ben möchte, scheint sie mit ihm und seiner dazugehörigen Wiederholung ,Frieden‘ schließen zu wollen. Verbunden ist damit eine Anerkennung der Umstände, die auch Camus zu formulieren sucht: „Ich kenne zweifellos die dumpfe Resonanz, die den Lauf der Tage begleitet. Aber ich sage mir das eine: sie ist notwendig.“ 320 Mit dieser Einsicht Camus‘ in eine Notwendigkeit scheint ein Entschluss getroffen worden zu sein, der sich auf die Lebensbedürfnisse selbst bezieht. Bewusste Wiederholung beinhaltet ,Ausdauer’. Über das reine Zeitmaß der Dauer hinaus verweist dieser Begriff auf eine dazugehörige Form des Leidens und Erduldens und ist mit einer intensiven Form der Emotionalität verbunden321. Montano widmet sich der Ausdauer mit unterschiedlichen Themen 322 und in Form von durational Performances dient sie ihr dazu ,involviert zu sein’323. Ihr Interesse an Ausdauer ist direkt mit ihren „religiously complicated roots“324 verbunden325. Eine religiöse Bedeutung erhält auch Camus’ Vorstellung des Schaffens durch eine Verbindung mit der Askese. ,Schaffen‘ ist für ihn die ,wirksamste Schule der Geduld’326, die trotz der alltäglichen Wiederholung dem Menschen sein Leben zurückgibt, denn „[e]s ist zudem das erschütternde Zeugnis für die einzige Würde des Menschen: die unnachgiebige Auflehnung gegen seine conditio, die Ausdauer in einer für unfruchtbar erachteten Anstrengung.“327 Dabei geht es Camus viel weniger darum, die Wiederholung selbst auszulöschen, die von ihm als ,notwendig‘ akzeptiert wird, als vielmehr ihr gegenüber einen Perspektivenwechsel vorzunehmen und in ihr nicht mehr das ewige Verharren in einem

320 Camus 2001, S. 84f. 321 „The meaning of the word duration itself, evolving from the Latin duratus (to last), is bound into the notion of persistence, of remaining through time, and is separable from but shadowed by the term endurance, often associated with sufferance.“ Heathfield 2009, S. 22. 322 Siehe Montano 2005, S. 95 und S. 123. 323 „I have chosen to do art because it allows me to give value to things and I also like getting so involved in something that I can transcend my ordinary concerns.“ Montano/Ingber 1981. 324 Montano 2005, S. 95. 325 Näheres hierzu siehe 2.3 ‚Ritual und Askese‘, S. 100ff. 326 „Von allen Schulen der Geduld […] ist das Schaffen die wirksamste.“ Camus 2001, S. 149. 327 Camus 2001, S. 149.

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Zustand zu sehen. Vielmehr findet Camus in ihr für den Menschen die Möglichkeit einer „Bewährung [...] und die Gelegenheit [...] zur Überwindung seiner Gespenster und zur weiteren Annäherung an seine nackte Wirklichkeit.“328 Insofern scheint zwar nicht nur Sisyphos, sondern auch der Mensch ,von den Göttern‘ bestraft mit „unnütze[r] und aussichtslose[r] Arbeit“329. „Tragisch ist es aber nur in den wenigen Augenblicken, in denen er sich dessen bewußt wird. Sisyphos, der ohnmächtige und rebellische Proletarier der Götter, kennt das ganze Ausmaß seiner elenden conditio“330. Und auch wenn für Camus weder die Sorge noch das Bewusstsein einen Ausgang aus diesem ,Kreislauf‘ bieten, ermöglichen sie doch eins: das Gefühl das eigene Leben aktiv in die Hand zu nehmen. In diesem Sinne zumindest schließt sich für Camus der Kreis der Wiederholung des Sisyphos, der trotz seiner Strafe Freude empfinden kann: „Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache.“331 Soweit zum Existentialismus Camus‘, für den in der Tradition Nietzsches „Gott töten, selbst Gott werden“332 heißt. Denn wenn Sisyphos sein Schicksal besitzt, ist er Gott seines Lebens, wenn auch in beschränkter Art und Weise. Demgegenüber soll im Folgenden anhand der Theorie Eliades der religiöse Umgang mit Wiederholung sowohl in archaischen Kulturen als auch christlichen Religionen dargestellt werden.

2.2.3 Religiöse Handlungen Nach Eliade besteht das Leben des ,archaischen, primitiven Menschen‘ 333 aus der „Wiederholung gewisser Handlungen, die in illo tempore von den Göttern

328 Camus 2001, S. 149. 329 Camus 2001, S. 155. 330 Camus 2001, S. 157f. 331 Camus 2001, S. 159. 332 Camus 2001, S. 140. Diese Einsicht gilt nach Camus auch für die Romanfigur Kirilow aus Dostojewskijs Roman Böse Geister. Siehe Dostojewskij 2003. 333 Es sei darauf hingewiesen, dass Eliade in seiner wissenschaftlichen Untersuchung dieser religiösen Formen, einen grundlegenden Respekt gegenüber denselben besitzt, allerdings nicht alte Zeiten herauf zu beschwören wünscht. So schreibt er im Vorwort zu Das Heilige und das Profane: „Der Versuch, auf zweihundert Seiten das Verhalten des homo religiosus [...] darzustellen, [...] kann leicht als Ausdruck einer geheimen Sehnsucht nach der vergangenen Seinsform [...] ausgelegt werden [...].

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vollzogen wurden“334. Dabei fehle die klare Unterscheidung zwischen ,profanen‘ und ,heiligen‘ Handlungen, „denn jede Handlung, die einen klar umrissenen Sinn hat – Jagd, Ackerbestellung, Spiele, Konflikte, Sexualität usw. –, ist auf irgendeine Weise des Heiligen teilhaftig.“335 Anteil am Heiligen besäßen sie vor allem dadurch, dass sie „nur an einigen Gegenständen - die gewissermaßen die Archetypen der betreffenden Klasse sind – vorgenommen und in einer von Heiligem getränkten Atmosphäre ausgeführt“336 werden. Entsprechend schwierig gestaltet sich nach Eliade die Darstellung von ,profaner und heiliger Zeit‘ für archaische Kulturen in Abgrenzung zu ,modernen, westlichen Gesellschaften‘, denn im profanen „Zeiterlebnis“ besitzen die „Primitiven immer eine ,Öffnung‘ auf die religiöse Zeit hin“337. Eliade zeigt die Bedeutung des immer wiederkehrenden ,Rückbezugs‘, der Rückbesinnung‘ anhand von ,Festen‘ auf den Ursprung, den ,Anbeginn der Zeiten‘. „Die heilige Zeit ist somit unendlich oft wiederholbar. [...]. Mit andern Worten: man findet in dem Fest zurück zur ersten Erscheinung der heiligen Zeit, wie sie sich ab origine, in illo tempore erfüllt hat.“338 Als Grund dafür nennt Eliade die mit der ,heiligen Tätigkeit‘ der Schöpfung der Welt durch die Götter einhergehende Heiligung der Zeit 339 . Wiederholung kennzeichnet nach Eliade folglich nicht nur die Handlungen der Menschen in archaischen Kulturen sondern auch den Umgang mit Zeit: „Man stellt sich den Kosmos als lebendige Einheit vor, die entsteht, sich entwickelt und mit dem letzten Tag des Jahres erlischt, um am Neujahrstag wiedergeboren zu werden. Wir werden sehen, daß diese Wieder-Geburt eine Geburt ist, daß der Kosmos jedes Jahr wiedergeboren wird, weil an jedem Neujahr die Zeit ab initio anfängt.”340

Unsere Absicht bestand darin, dem Leser zu helfen, nicht nur die tiefe Bedeutung einer religiösen Existenz archaischen und traditionellen Typs wahrzunehmen, sondern auch ihre Gültigkeit als menschliche Entscheidung anzuerkennen, ihre Schönheit und ihren ,Adel‘ zu würdigen.“ Eliade 1998, S. 8. 334 Eliade 2007, S. 48. 335 Eliade 2007, S. 44. 336 Eliade 1998, S. 77. 337 Eliade 1954, S. 438. 338 Eliade 1998, S. 63. 339 Siehe Eliade 1998, S. 64. 340 Eliade 1998, S. 67.

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Wie das Jahr, die Zeit und damit die Welt vernichtet und neu erschaffen wird, entledigt sich der an diesem Ereignis teilhabende Mensch seines alten Lebens und erhält ein Neues. Diese Darstellung Eliades kann als Parallele zur periodischen Neuerschaffung durch die Übernahme einer neuen Rolle in der 7 Years of Living Art Performance Montanos angesehen werden341. Das Christentum basiert nach Eliade „auf der direkten und persönlichen Offenbarung der Gottheit“342, die zur monotheistischen Religion führt. Für ihn ist dies der Beginn der Geschichte und der Zeit, wie wir sie kennen, obwohl er sich bewusst ist, dass dabei „Archetypen in dem Sinne, daß diese Vorgänge zu exemplarischen gemacht und wiederholt werden“ 343 im Spiel sind. An dieser Stelle zeigt Eliade einen Unterschied zwischen der archaischen Kultur und dem Christentum auf: während der archaische Mensch die Möglichkeit besitzt, sich jedes Jahr neu zu erschaffen344 und seine Fehler zu vergessen, hat der Mensch im Christentum eine Geschichte seiner Schuld345. Für Eliade erlangt die Vorstellung einer linearen Zeit, der Geschichte und der Eintritt in einen unaufhörlichen Fortschritt seinen Durchbruch ab dem 17. Jahrhundert und besitzt den Höhepunkt in Leibniz und der Aufklärung346. Seine Aussagen erwecken den Eindruck als hätte das Christentum schlicht einen neuen Nullpunkt gesetzt anhand dem wiederum ein neuer Zyklus gefeiert werden kann, denn „[d]as liturgische Jahr des Christentums ist übrigens auf eine periodische und wirkliche Wiederholung der Geburt, des Leidens, Sterbens und der Auferstehung Jesu gegründet“347. Halten wir fest, dass nach Eliade die Bedeutung des Zyklus in der archaischen Kultur vorherrschend ist, aber in der christlichen Kultur nicht ausgelöscht. Vielmehr findet eine Art der Vermischung von zyklischem und linearem Zeitverlauf statt. In jedem Fall wird deutlich, dass „[i]n illo tempore [...] nicht nur am Anfang der Zeiten, sondern auch am Ende der Zeiten [bedeutet].“348

341 Siehe 2.2.1 ‚Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst‘, S. 78. 342 Eliade 2007, S. 119. 343 Eliade 2007, S. 119. 344 Siehe Eliade 2007, S. 68f. 345 Siehe Eliade 2007, S. 176. 346 Siehe Eliade 2007, S. 157. 347 Eliade 2007, S. 142. 348 Eliade 2007, S. 120.

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Auch die Sorge, wie sie weiter oben als Sich-vorweg-Sein, Sich-Entwerfen, anhand Heidegger thematisiert wurde349, führt zu einer solchen Übereinkunft. In ihr fallen bei Heidegger „Geburt und Tod“ zusammen, denn „Als Sorge ist das Dasein das ,Zwischen‘.“350 Da für Heidegger das Dasein „im Grunde seines Seins zeitlich ist“351, liegt der „Seinssinn der Sorge“ in der „Zeitlichkeit.“352

2.2.4 Raum und Zeit Der neuen Belegung von Wert, Bedeutung und Funktion des Raumes durch einen neuen Rahmen entsprechend353, wie zum Beispiel der Umbenennung des eigenen Hauses in Living Art Museum354, definiert Montano für die Dauer der Performance, die Zeit als Kunst. „LIVING ART divides actual time and ART. Actual time is divided in terms of seconds, minutes, hours, days, months, and years. [...]. When it is intended that a specific time together will be designated as time for LIVING Art then that time will become ART and not time.”355

Der Vertrag und das Konzept bieten Montano die Möglichkeit, sowohl den Raum als auch die Zeit von ihren allgemein verbindlichen Definitionen durch den selbst gesetzten Rahmen der Kunst zu ersetzen und sie in einen einheitlichen Zusammenhang zu stellen. Angesprochen ist damit eine bewusste, dem Verstand gemäße Entscheidung über Raum und Zeit, der gegenüber mit Bergson der Frage nachgegangen werden soll, wie und auf welche Weise der Mensch zu Vorstellungen von Raum und Zeit gelangt. Zum Verständnis von Zeit gehört, folgen wir Bergson, sie durch oder anhand des Raumes vorzustellen356. Um dieses Verhältnis in seiner Philosophie zu verdeutlichen, muss zunächst die Möglichkeit von Einheit und Teil-/Zählbarkeit ge-

349 Siehe 2.3.1 ,Die Möglichkeit der ,individuellen‘ Entscheidung‘, S. 54ff. 350 Heidegger 2006, S. 374. 351 Heidegger 2006, S. 376. 352 Heidegger 2006, S. 436. 353 Siehe 2.1.6 ,Rahmen und Werte‘, S. 65. 354 Juno/Montano 1991, S. 60. 355 Montano 2005, S. 151. 356 Über den Zusammenhang von Raum und Zeit siehe Bergson 2012, S. 63f. und S. 71.

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klärt werden, denn nach Bergson ist es unsere geistige Vorstellung, die dazu führt, die Einheit als Ganzheit und nicht aus Teilen bestehend zu denken357. „Im Augenblicke, wo ich eine einzelne dieser Einheiten für sich genommen denke, betrachte ich sie zweifellos als unteilbar; denn ich soll ja dann nur an sie allein denken. Sobald ich sie aber beiseite setze, um zur nächsten überzugehen, objektiviere ich sie, und mache damit eine Sache, d.h. eine Mannigfaltigkeit aus ihr.“358

Letztlich stellt sich in Bezug auf Bergsons Theorie die Frage, inwiefern die Teil/Zählbarkeit sowie die Vereinheitlichung der Dinge auf einer verstandesmäßigen Konstruktion basieren. So sieht er die Zeit zunächst als etwas dem Raum Entsprechendes, vorausgesetzt, dass sie „ein Medium ist, worin unsre Bewußtseinszustände so wohlunterschieden aufeinanderfolgen, daß man sie zählen kann, und [...] unsre Auffassung von der Zahl darauf hinausläuft, daß alles, was man zählt, im Raume ausgestreut wird“ 359 . Anhand den Begriffen Bewegung und Dauer versucht er, sich den möglichen Vorstellungen von ,Raum und Zeit‘ anzunähern und stellt fest: „[G]enau wie in der Dauer nur soviel Homogenes steckt als nicht Dauerndes, d.h. Raum darin enthalten ist, worin sich die Simultaneitäten aneinanderreihen, ebenso ist das homogene Element der Bewegung das, was ihr am wenigsten eigentümlich ist, nämlich der durchlaufende Raum, d.h. das Bewegungslose.“360

Sowohl für die Dauer als auch die Bewegung scheint, wie Bergson feststellt, der Geist einen Prozess der Synthetisierung in Gang zu setzen, der ihrem Wesen nicht entspricht361. Zum Raum gehört nach Bergson „Exteriorität“362, das heißt, in ihm werden Bewusstseinszustände „nebeneinander angeordnet“ 363, was wiederum „die tief eingewurzelte Gewohnheit, die Zeit in den Raum zu entfalten“364 nach sich zieht.

357 Siehe Bergson 2012, S. 63. 358 Bergson 2012, S. 64. 359 Bergson 2012, S. 71. 360 Bergson 2012, S. 87. 361 Siehe Bergson 2012, S. 88. 362 Bergson 2012, S. 95. Zu diesem Begriff siehe auch ebd., S. 92f. 363 Bergson 2012, S. 92. 364 Bergson 2012, S. 92f.

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Er kommt zu dem Schluss, dass die „Vorstellung einer Mannigfaltigkeit ohne Beziehung zur Zahl oder zum Raum [...] in die Sprache des gemeinen Verstands nicht übersetzt werden [kann].“365 Grund dafür seien zwei verschiedene Formen des Ichs: „Oberflächen-Ich“ 366 und „innere[s] Ich“ 367 . Während Ersteres sein Bewusstsein auf die Außenwelt gerichtet hat und deshalb den Raum als ,homogen‘ wahrnimmt, indem es dem Begriff der Exteriorität entsprechend auch ein Nacheinander als Einheit wahrnimmt, wendet sich Letzteres den „Tiefen des Bewußtseins“368 zu, dem ,Leidenschaften und Gefühle‘ angehören. Letztlich bilden diese beiden Ichs für Bergson jedoch eine Einheit, da „beide auf gleiche Weise [...] dauern“369, was dazu führt, dass alle Bewusstseinszustände geteilt und damit zählbar werden. Um also zum ,inneren Ich‘ und seinen reinen Bewusstseinszuständen vorzudringen, müsste das ,Oberflächen-Ich‘ ausgeschaltet werden, was so viel bedeuten würde, dass der Instinkt über den Verstand siegen müsste370. Was für Bergson den Zugang des Menschen zu seinem Instinkt über den Intellekt bereithält, ist die Einsicht in sein ,inneres Ich‘. Zweigeteilt erscheinen dann auch bei Bergson Mannigfaltigkeit und Dauer – und mit ihr die Zeit, da „jede Bewußtseinstatsache [...] im Schoße einer wohlunterschiedenen oder einer verworrenen Mannigfaltigkeit betrachtet“371 werden kann „in der Zeit als Qualität, in der sie entsteht, oder in der Zeit als Quantität, in die sie sich projiziert.“372

2.2.5 Wiedererleben Neben dem Rahmen, der Raum und Zeit in der Kunst Montanos einen neuen Wert verleiht, verweisen Wiederholung und Ausdauer in ihren Performances auf die Möglichkeit der Entwicklung, der Veränderung des Erlebnisses, dem Wunsch nach dem Erlangen einer höheren Stufe von Bewusstsein. Auf diese

365 Bergson 2012, S. 93. 366 Bergson 2012, S. 95. 367 Bergson 2012, S. 95. 368 Bergson 2012, S. 95. Siehe auch vorhergehende und folgende Seiten. 369 „Da aber dies tiefere Ich mit dem Oberflächen-Ich ein und dieselbe Person bildet, scheinen notwendig beide auf gleiche Weise zu dauern.“ Bergson 2012, S. 95. 370 Siehe Bergson 2012, S. 95f. 371 Bergson 2012, S. 97. 372 Bergson 2012, S. 97.

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Weise scheint die Wiederholung eine qualitative Veränderung mit sich zu bringen und andererseits die Frage aufzuwerfen, inwiefern der Mensch Erfahrungen wiedergeben, in andere Medien übertragen und erneut erleben kann, aber auch welche Verbindung Körper und Geist für ein Wiedererleben oder eine mögliche Übersetzung in Sprache miteinander eingehen. Wohlunterschiedenheit, Quantität von Gefühlen oder Bewusstseinstatsachen betreffen in der Folge Bergsons Theorie auch wiederholte Empfindungen. Gefühle wären nie auf die gleiche Weise nachempfindbar, stattdessen werden sie jedes Mal, wenn sie wiederholt werden, modifiziert373. Grund dafür, dass der Mensch trotz allem in solchen Momenten den Eindruck einer ,Wiederholung‘ verspürt, ist für Bergson, „das Wort, mit seinen fest bestimmten Umrissen, das brutale Wort, das in sich aufspeichert, was an Stabilität, an Gemeinsamem und folglich Unpersönlichem in den Eindrücken der Menschheit liegt, vernichtet oder verdeckt wenigstens die zarten und flüchtigen Eindrücke unsres individuellen Bewußtseins.“374

Einen Eindruck dieser ,starren Begriffe‘ und ihre Verbindung zu Handlungen kann anhand der Theorie Derridas gewonnen werden. Er sieht nicht nur den Mangel in der Mathematik, sondern eben auch „die Unzulänglichkeiten der alphabetischen Schrift“375 und verfährt ähnlich wie Bergson in der ,qualitativen und quantitativen Unterscheidung von Zeit‘376, wenn er einerseits die Schrift als ,tot‘ und andererseits als ,lebendig‘ bezeichnet377. Lebendigkeit, die Nähe zu den Gefühlen, besitzt die Schrift nach Derrida vor allem durch die ,abendländische Tradition‘ in der ihr eine Verbindung zu „Körper und [...] Materie“ 378 zugeschrieben wurde. Er geht davon aus, dass „Sprache nie existiert hat, daß sie nie unversehrt, nie unberührt von der Schrift war; daß sie selbst schon immer eine Schrift gewesen ist.“379 Aufgrund dessen besitzen nach ihm auch alle „sogenann-

373 Bergson 2012, S. 99. 374 Bergson 2012, S. 99. 375 Derrida 1983, S. 22. 376 Siehe 2.2 ,Raum und Zeit‘, S. 88. 377 Siehe Derrida 1983, S. 33. 378 Siehe Derrida 1983, S. 61f. 379 Derrida 1983, S. 99.

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ten ,schriftlosen‘ Völker[...]“380 eine Form der Schrift. Um dies zu erläutern, geht er zurück auf „die Einheit der Geste, des Worts, des Körpers und der menschlichen Rede, des Werkzeugs und des Denkens [...] bevor die Originalität des einen und des anderen zum Ausdruck kommt, und ohne daß diese tiefe Einsicht Verwirrung stiftet.“381

Und dabei stellt er fest, dass eine fehlerhafte Annahme über die ,lineare Zeit‘ in der Philosophie den Blick auf die tatsächliche Mehrdimensionalität des „symbolischen Denkens“382 versperrt hat. Folge dieser linearen Vorstellung von Zeit ist die Linearität der Schrift383, die sich auch weiterhin noch im Buch manifestiert. Die daraus resultierende „Unruhe in der Philosophie, der Wissenschaft und der Literatur“384 von der Derrida spricht, kommt in Musils „Wohl dem, der sagen kann ,als‘, ,ehe‘ und ,nachdem‘!“385 zum Ausdruck, das jede klar unterscheidbare Abfolge von Erinnerungen als theoretische Konstruktion entlarvt. Über die Herkunft der Schrift wird für Derrida ihr Mangel verdeutlicht: „Das erste Zeichen ist als Bild determiniert. Die Idee hat einen wesensmäßigen Bezug zum Zeichen als dem repräsentativen Substitut der Empfindung.“386 Dieses Bild wiederum geht auf die Geste zurück, weshalb „[u]nsere Schrift und unsere Lektüre [...] selbst heute noch in entscheidender Weise von der Bewegung der Hand determiniert [sind].“387 Mit der Theorie Derridas erhält die Schrift etwas zurück: die Geste, die unweigerlich mit der Materialität, dem Gefühl und dem Körper verbunden ist. Während Eliades Wiederholung ,urtümlicher Handlungen‘, die er auch als „göttliche gesta“388 bezeichnet, in einem Kontext des Festes und damit mit ,rituellen Handlungen‘ in Verbindungen stehen 389 , beschäftigt Bergson, die unbewusste Wiederholung alltäglicher Handlungen:

380 Derrida 1983, S. 148. 381 Derrida 1983, S. 150. 382 Derrida 1983, S. 153. Siehe auch folgende Seiten. 383 Siehe Derrida 1983, S. 155f. 384 Derrida 1983, S. 155. 385 Musil 1978, S. 650. 386 Derrida 1983, S. 485. 387 Derrida 1983, S. 495. 388 Eliade 1998, S. 89. 389 Siehe 2.2.3 ,Religiöse Handlungen‘, S. 83f.

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„Nunmehr werden wir sagen müssen, daß unsre täglichen Handlungen weit weniger auf unsre Gefühle selbst in ihrer unbegrenzten Beweglichkeit als ihre Quelle zurückgehen, als auf die unveränderlichen Bilder, an die diese Gefühle geknüpft sind.“390

Auch wenn als ungeklärt erscheint, woher diese ,unveränderlichen Bilder‘ Bergsons letztlich stammen. Insofern sie mit der menschlichen Erfahrung verbunden erscheinen, verbinden sich dort Intellekt und Instinkt, als unbewusste Erkenntnis über den Alltag des Menschen. Wenn Eliades ,göttliche Handlungen‘ immer das Profane beinhalten, verweisen auch sie schon immer auf einen bewussten sowie unbewussten Zusammenhang. Ausschlaggebend hier ist, dass die Wiederholung eine Verbindung zu archaischen Kulturen herstellt, deren Vorstellung von Zeit dem Zyklus gefolgt ist, aber in denen gleichzeitig die Verbindung zwischen Gefühl, Geste, Hand als Schrift noch deutlicher verstanden wird. Eliade geht davon aus, dass für den ,modernen Menschen‘ diese Möglichkeiten der ‚archaischen Kulturen’, Handlungen zu wiederholen, den Anschein erwecken, dass der ,archaische Mensch‘ unter starken Einschränkungen seines Lebens gelitten haben muss391. Hier verbindet sich seine Einsicht, mit der Camus’: Der ,archaische Mensch‘ nimmt die Verantwortung für sich und sein Leben auf sich und folgt so der ,Sorge um sich‘392. In der Folge Eliades Untersuchungen tut er dies nicht nur wie der ,profane, moderne und zivilisierte Mensch‘ „vor sich selbst und vor der Gesellschaft“ 393 , sondern er „versetzt sich immer in einen kosmischen Zusammenhang“ 394 . Dieser ,kosmische Zusammenhang‘ ist nach Eliade die Verbindung mit dem Zeitpunkt der Erschaffung der Welt durch die Götter, „die Sehnsucht, in die starke, frische und reine Welt, die in illo tempore war, zurückzutreten. Es ist Durst nach dem Heiligen und zugleich Sehnsucht nach dem Sein.“395 Allerdings ist Eliades Feststellung, dass „man das Leben mit einem Maximum an ,Chancen‘ periodisch neu beginnen kann“396, wiederum in eingeschränkter Weise zu verstehen, da der Mensch sich immer wieder nur auf die ,urtümlichen‘ Handlungen zurückbesinnen kann 397 . Demgegenüber suchen

390 Bergson 2012, S. 126. 391 Siehe Eliade 1998, S. 82. 392 Siehe 2.2.2 ,Umgang mit alltäglichen Mustern‘, S. 82f. 393 Eliade 1998, S. 83. 394 Eliade 1998, S. 83. 395 Eliade 1998, S. 83. 396 Eliade 1998, S. 83. 397 Siehe 2.2.3 ,Religiöse Handlungen‘, S. 83f.

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Montanos Performance-Konzepte sowohl die Wiederholung von traditionellen Handlungsmustern von Religion als auch deren mögliche Modifikation anhand der Kunst miteinander zu verbinden.

2.2.6 Säkularer Kontext der Moderne und Rückbindung an den Mythos Bereits der individuelle, künstlerische Akt Montanos, Raum, Zeit und Handlungen einen selbstbestimmten Wert zu verleihen, weist über den religiösen Zusammenhang hinaus, die darin vorherrschenden Regeln strikt zu befolgen und zu wiederholen und rückt ihre individuellen Bestrebungen in den Zusammenhang der Theorien und des künstlerischen Schaffens der Avantgarde398. Angesichts dessen soll im Folgenden der Umgang der Avantgarde sowohl in ihrem theoretischen als auch in ihrem praktischen Schaffen mit der Wiederholung untersucht und der Frage nachgegangen werden, welche Verbindung die Avantgarde zu Religion und Mythos eingegangen ist. Wiederholung steht, wie durch Krauss’ Definition des „Rasters“ 399 der Avantgardisten deutlich wird, nicht nur im Kontext zu konkreten Handlungsweisen und Verhaltensmustern. Es sei sowohl in der ,bildenden Kunst‘ der Avantgarde, als auch in der Grundeinstellung des Schaffens der Avantgardisten wiederzufinden400. „Und geradeso, wie das Raster ein Stereotyp ist, das paradoxerweise ständig neu entdeckt wird, ist es auch – ein weiteres Paradox – ein Gefängnis, in dem sich der eingesperrte Künstler frei fühlt.“ 401 Als unmittelbare Folge der Entscheidung des Künstlers für ,das Raster‘, erscheint für Krauss die ,Wiederholung‘, denn letztlich ermöglicht diese Entscheidung für das Raster nicht, wie von den Künstlern intendiert, die Erschaffung eines „unanfechtbaren Nullpunkt[s]“ 402 aus dem das ,Originäre‘ 403 entsteht, sondern es findet anhand desselben lediglich eine Wiederholung statt. „Denn das Raster kommt nach der Leinwand, verdoppelt sie. [...]. Das Raster legt also die Fläche nicht frei, deckt

398 Siehe 2.1.6 ‚Rahmen und Werte‘ S. 65ff. 399 Krauss 2000, S. 205. 400 Siehe Krauss 2000, S. 205f. 401 Krauss 2000, S. 208. 402 Krauss 2000, S. 209. 403 Siehe Krauss 2000, S. 209.

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sie nicht auf, sondern verbirgt sie vielmehr durch eine Wiederholung.“ 404 So kann auch Montanos Rahmen in Form von Vereinbarungen und Verträgen sowohl als Einschränkung zum Freisein405 als auch bereits als eine Wiederholung des Lebens innerhalb dieses neuen Rahmens verstanden werden406. Die Theorien der Avantgarde fließen in die unterschiedlichen Künste ein. So gibt es, wie Gay zeigt, vor allem zwischen Malern und Bildhauern große Parallelen in ihrem Schaffen und in ihrem Bestreben, in ihrer Kunst nicht die Natur nachzuahmen407. Krauss sieht auch die Skulptur im Kontext des ,Rasters‘ in der bildenden Kunst der Avantgarde408. Beide verdeutlichen ihrer Meinung nach eine Beziehung zur ,Wiederholung‘, die für Montano als ,living sculpture‘409 von Bedeutung ist. „Die Logik der Skulptur ist anscheinend untrennbar mit der Logik des Denkmals verbunden. Kraft dieser Logik ist eine Skulptur eine Repräsentation, die an etwas erinnert.“410 Die Skulptur, die in der Avantgarde als vom Künstler getrenntes Werk verbleibt, wird von Krauss als „Eintritt [...] in die Moderne“ bezeichnet „, denn die moderne Periode der Bildhauerei arbeitet eben mit diesem Verlust des Ortes, indem sie das Denkmal als Abstraktion errichtet“411. Andererseits kann diese Verneinung der Sinngebung durch konkrete Verweise, wie Gay zeigt, mit der durch die Verneinung der Nachahmung gewonnenen Freiheit des Künstlers und dessen Subjektivität verbunden werden412: „Tatsächlich wurde der Künstler als einzige Autorität für den Sinn einer Plastik zur Norm oder zumindest zum Ausgangspunkt für gelehrte Interpretationen.“413 So betrifft auch der Begriff der Originalität in der Avantgarde bei Krauss nicht nur das Werk, sondern darüber hinaus auch den Künstler. „Die Originalität der Avantgarde ist nicht bloß eine Zurückweisung oder Zerstörung der Vergangenheit, sie wird buchstäblich als ein Ursprung begriffen, ein Anfangen vom Nullpunkt, eine Ge-

404 Krauss 2000, S. 209. 405 Siehe 2.1.4 ,Regeln für das Zusammenleben‘ S. 61, bzw. Cohn/Montano 2005, S. 55. 406 Siehe 2.1.6 ,Rahmen und Werte‘, S. 69, bzw. Grey/Grey/Montano 2005, S. 43. 407 Siehe Gay 2008, S. 197 und S. 199. 408 Siehe Krauss 2000, S. 66. 409 Siehe z. B. Robinson/Montano 2005, S. 37 oder Juno/Montano 1991, S. 53. 410 Krauss 2000, S. 334. 411 Krauss 2000, S. 335. 412 Siehe Gay 2008, S. 197ff. 413 Gay 2008, S. 203.

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burt.“414 Mit dem Werk suche der avantgardistische Künstler sich selbst zu erschaffen und damit zum originären Ursprung seiner Kunst zu werden415. Auch wenn ihm dies nach Krauss nicht gelingt, denn „der Künstler […] [ist] nicht nur nicht der Erfinder des Rasters, sondern dieses Patent kann auch niemand sonst für sich beanspruchen: Das Copyright erlosch irgendwann in der Antike“416. Als Folge dieser Suche des Künstlers, sowohl als Person als auch in seiner Wahl selbst an Bedeutung zu gewinnen, kann Montanos Umgang mit Skulptur und die mit ihr einhergehende neue Möglichkeit, sich selbst einen Wert zu verleihen, gesehen werden. „[T]he concept of performing ‚me‘ was self-propelled, and it was then that my conceptual intelligence and mind took flight and form outside the institutions. I became a conceptual clone of my thoughts.“417 Mittels ihrer Kunst wird Montano zur Wiederholung ihrer selbst und damit zu ihrer eigenen Kreation. Ihr religiöser Kontext bietet dabei einen Hintergrund, der über sie selbst als rein egoistisches Subjekt hinausweist und sie in einen moralischen Zusammenhang stellt. Vielleicht löst Montano durch ihr Bestreben, zur „performance art saint“418 und damit zum lebendigen Vorbild werden zu wollen, auf neue Weise dieses von Krauss definierte Versprechen des Denkmals durch Repräsentation ein419. Die „Erfahrung der kosmischen Heiligkeit“ kann sich nach Eliade in der Moderne derart verringern, „bis sie schließlich zu einer nur noch menschlichen Emotion wird – wie etwa der des ,l‘art pour l‘art‘.“420 Aber diese steht, wie Gay aufzeigt, wiederum in einem übergeordneten Zusammenhang, einem Kontext eines gesellschaftlichen Prozesses der Säkularisierung421, an deren Anfang Nietzsche den Tod Gottes erklärt hat422. „Tatsächlich schlossen sich Künstler der Avantgarde dem bunten Haufen der Streiter für den Glauben an, indem sie eine eigene Kandidatin, die Religion der Kunst präsentierten und, wie sie selbst es ausdrückten, ,Kunst um der Kunst willen‘ kultivierten. Wenn das

414 Krauss 2000, S. 205. 415 Siehe Krauss 2000, S. 208. 416 Krauss 2000, S. 208. 417 Cohn/Montano 2005, S. 55. 418 Montano 2005, S. 106. 419 Siehe Krauss 2000, S. 334. 420 Eliade 1998, S. 136. 421 Siehe Gay 2008, S. 47ff. 422 Siehe Nietzsche 1976, S. 13 und S. 92.

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Zeitalter der Priester Vergangenheit war, wie manche Moderne behaupteten, vielleicht sollte darauf nun das Zeitalter der Künstler folgen.“423

Mit Gay kann von einem Versuch der Avantgardisten gesprochen werden, die Religion durch die Kunst abzulösen, den Priester durch den Künstler zu ersetzen. Allerdings zeigt sich die Kunst der Avantgarde als zu schwer vermittelbar, um diesem Ziel gerecht zu werden, weshalb nach Gay „sich denn auch die meisten Modernen auf der Gegenseite [engagierten] und versuchten, die Religion zu zerstören statt eine neue zu schaffen.“424 Montano konzentriert sich im Gegenzug zunächst auf ihre eigene künstlerische Entwicklung, um diese erst im Anschluss an andere weiterzugeben425. Auch wenn bereits am Beginn ihrer Karriere der Wunsch zur Heiligen zu werden bestanden hat, liegt ihre Betonung auf dem Prozess der Umsetzung der Kunst in die Lebenspraxis426. Trotz gegensätzlich erscheinender Bestrebungen der Avantgardisten bleibt das Religiöse, wie mit Gay aber auch mit Krauss deutlich wird, von Bedeutung427. So zeigt Krauss, dass die Avantgardisten nicht nur wie die ,archaischen Kulturen‘ eine Neu- oder Wiedergeburt im eigenen Leben anstreben, sondern ihr Schaffen selbst von der Wiederholung geprägt ist428. Nach Krauss ist „[d]as Raster [...] das kuriose Zeugnis dafür“429, dass der moderne Künstler das ,Säkulare‘ mit dem ,Heiligen‘ zu verbinden sucht. „In dem zunehmend entsakralisierten Raum des 19. Jahrhunderts war die Kunst zum Refugium für religiöse Gefühle geworden; sie wurde und blieb eine säkulare Form des Glaubens.“430 Aber dies betrifft nicht nur den Raum. Anhand einer „strukturalistischen Analysemetho-

423 Gay 2008, S. 49. 424 Gay 2008, S. 49. 425 Näheres hierzu siehe 2. ‚Alltag und Religion‘, S. 32f. und Montano 2005, S. 111. 426 Näheres hierzu siehe 2.2.6 ,Säkularer Kontext der Moderne und Rückbindung an den Mythos ‘, S. 94. 427 So schließt Gay: „Ich kann gar nicht oft genug betonen, dass die Rebellion der modernen Kunst aus allen Lagern der politischen, intellektuellen und emotionalen Welt hervorging. Gemeinsam war all diesen Rebellen eine entschiedene Ablehnung der vorgefundenen Welt und ein Hunger nach Spiritualität.“ Gay 2008, S. 168. Und siehe Krauss 2000, S. 55. 428 Siehe Krauss 2000, S. 205 und S. 209. 429 Krauss 2000, S. 55. Für das Folgende siehe ebd. S. 54f. 430 Krauss 2000, S. 55.

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de“431 verbindet Krauss das Raster mit dem Mythos. Sie kommt zu dem Schluss, dass das Raster einer ,Struktur‘ entspricht, die sich der Linearität verweigert432. Das Interesse der Avantgarde am Mythos und mit ihm an der zyklischen Struktur spiegelt sich nicht nur in der Form ihrer Kunstproduktion, sondern auch in ihrem Interesse an ,primitiver Kunst’ wider, die ihnen zur Inspiration ihrer eigenen Kunst dient433. So betont beispielsweise Kandinsky, dass es dem Künstler nicht um einen Versuch gehen kann die Kunst einer vergangenen Epoche zu wiederholen, da jede Zeit ihren eigenen Kontext besitzt, aus dem wiederum Ideen und Gefühle resultieren434. Stattdessen schlägt er eine andere Möglichkeit vor: „[D]ie Ähnlichkeit der inneren Stimmung einer ganzen Periode kann logisch zur Anwendung der Formen führen, die erfolgreich in einer vergangenen Periode denselben Bestrebungen dienten. So entstand teilweise unsere Sympathie, unser Verständnis, unsere innere Verwandtschaft mit den Primitiven.“435

Auch wenn Camus seine Theorie auf die aktive Annahme des ,Individuums seines Lebens gegenüber der Gesellschaft‘ gründet436, was Eliade für typisch für moderne westliche Gesellschaften bezeichnet437, geschieht dies nicht ohne einen Zusammenhang: Camus bindet seine Theorie zurück an den Mythos des Sisyphos und stellt den Menschen damit wieder in den Zusammenhang mit seinen Mythen, seinen Möglichkeiten, ,Handlungen‘ zu wiederholen. Die „Freude des Sisyphos“438 von der Camus spricht, ist bei Eliade in ,archaischen Gesellschaften‘ im Allgemeinen nicht lediglich die Freude dieses einzelnen Individuums, sondern der ,archaische Mensch‘ besitzt „nicht nur eine optimistische Sicht der Existenz, sondern auch eine uneingeschränkte Bejahung des Seins.“ 439 Eliade

431 Krauss 2000, S. 55. 432 Krauss 2000, S. 57. 433 Siehe Thomas 2000, S. 55ff. Siehe auch Krauss‘ Aufsatz über den Einfluss primitiver Kunst auf das Werk Giacomettis, Krauss 2000, S. 87-128. 434 Siehe Kandinsky 2004, S. 25. 435 Kandinsky 2004, S. 25. 436 Siehe 2.2.2 ,Umgang mit alltäglichen Mustern‘, S. 82. 437 Siehe Eliade 1998, S. 83. 438 Camus 2001, S. 159. 439 Eliade 1998, S. 83.

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zeigt die Verwurzelung des Glaubens an das Sein im archaischen Menschen, über das ihn die Offenbarungen im Mythos versichern440. Gleich, um welche Form der Wiederholung es sich handelt, sei sie auf Verhaltensmuster bezogen oder ein Verweis auf ,Periodizität‘, sie wird in den hier dargestellten Theorien nicht als konkrete Kopie des Wiederholten verstanden. Sie ist eine Abweichung, eine Modifikation, ein Verweis und als solche nicht lediglich eine Einschränkung, sondern auch Träger von Möglichkeit441. Sowohl zyklische als auch lineare Vorstellungen von Zeit beinhalten den Wunsch und Willen, die Zeit für die Gegebenheiten und Umstände der Gesellschaft zu ordnen und in einen für sie jeweils bedeutenden und verständlichen Zusammenhang zu bringen442. Angesichts dessen sind nicht nur Begriffe und Worte, sondern auch die als ursprünglicher erscheinenden „göttliche[n] gesta“443 Eliades ein theoretisches menschliches Konstrukt zur Kommunikation. Sie werden in unterschiedlichen Kontexten wiederholt und stellen Verweisungszusammenhänge her. Zur Sinngebung und Verbindung scheinen nicht nur archaische Menschen, sondern auch die Modernen auf den Mythos zurückzugreifen444. Es stellt sich damit die Frage, ob der Mensch nicht als grundlegend in einem Kontext in Situationen lebender verstanden werden muss. Ob er in einem Zyklus oder einer linearen Geschichte lebt, kann er sich doch nur der Mittel bedienen, die ihn umgeben. Sei der Verweis oberflächlich betrachtet auch noch so leer, wie es sich die ,Kunst für die Kunst‘ wünscht, steht selbst sie in einem Zusammenhang mit ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, oder wie mit Kandinsky deutlich wurde, der von den Avantgardisten gefundenen Analogie zu den primitiven Künsten445. Als leer erscheinen die Bilder, Gesten und Handlungen dennoch, wenn sie keinen konkreten Verweis oder Kontext mehr beinhalten. Das Problem der Moderne erscheint deshalb nicht, keine/eine Geschichte zu besitzen oder die Fähigkeit zum Glauben an den Zyklus verloren zu haben, sondern vielmehr die Last des Auswählens. Ein bedeutender literarischer Charakter der mo-

440 Siehe Eliade 1998, S. 84. 441 Siehe 2.2.5 ,Wiedererleben’, S. 88ff. 442 Siehe 2.2.3 ,Religiöse Handlungen‘, S. 83ff. und 2.2.4 ,Raum und Zeit‘, S. 86ff. 443 Eliade 1998, S. 89. 444 Siehe 2.2.6 ,Säkularer Kontext der Moderne und Rückbindung an den Mythos‘, S. 92ff. 445 Siehe 2.2.6 ,Säkularer Kontext der Moderne und Rückbindung an den Mythos‘, S. 96.

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dernen Literatur, Musils Mann ohne Eigenschaften, dem „das primitiv Epische abhandengekommen“446 ist, kommt deshalb zu dem Schluss „, daß unser Dasein ganz und gar aus Literatur bestehen sollte!“447 Das einzige Problem, das sich bei dieser Lebensweise stellt, ist die Tatsache „, daß jedes vollkommene Leben das Ende der Kunst wäre“ 448 . Aber dass Literatur leben, oder in Montanos Fall, Theorie leben nicht bedeutet, dass das Leben dadurch vollkommen wird, wurde bereits deutlich449. Wiederholung gewinnt anhand Zeit und Dauer Bedeutung. Eine bewusste Übernahme des Lebens (Camus) 450 verweist auf die Annahme der räumlichen und zeitlichen Komponente des Lebens (Bergson)451. „Unsre Existenz spielt sich also mehr im Raum als in der Zeit ab: wir leben mehr für die äußere Welt als für uns; wir sprechen mehr, als daß wir selber handelten. Frei handeln heißt von sich selbst Besitz ergreifen, sich in die reine Dauer zurückversetzen.“452

Die Dauer wieder in das Leben Einzug halten zu lassen, bedeutet mit Bergson das eigene Leben wieder bewusst in die Hand zu nehmen und – so kann mit Camus’ Darstellung des Sisyphos erweitert werden, dem ,Schicksal‘ zu trotzen453. Zeit ist auf diese Weise auch immer wieder konkreter Bezug und Rahmen für Montanos Kunst454, anhand dem Wiederholung und Ausdauer zu den gewünschten Auswirkungen führen: „I want that kind of intensity. […]. I want my mind to have that aspect of training. This sounds good, but it‘s very hard and exhausting. It doesn‘t always work, but that‘s the intention.“455 Montano sucht die Intensität des Gefühls durch die zeitliche Dauer. Für ihren theoretischen Entwurf ihres Le-

446 Musil 1978, S. 650 447 Musil 1978, S. 365. 448 Musil 1978, S. 367. 449 Siehe 2.2.1 ‚Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst‘, S. 79f. 450 Siehe 2.2.2 ,Umgang mit alltäglichen Mustern‘, S. 82f. 451 Siehe 2.2.4 ,Raum und Zeit‘, S. 86ff. 452 Bergson 2012, S. 171. 453 Siehe 2.2.2 ,Umgang mit alltäglichen Mustern‘, S. 83. 454 Siehe Robinson/Montano 2005, S. 37 und Montano 2005, S. 150f. 455 Kussoys/Montano 2005, S. 165.

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bens greift sie auf Verhaltensmuster unterschiedlicher Lehren zurück456. Ihr Anfangspunkt steht in der Tradition des Katholizismus. Ihre Wahl des Rückbezugs im Hinblick auf das Bestreben in ihrer Performance-Kunst wird im Vorschlag eines Experiments zur Überwindung der Angst vor der katholischen Kirche deutlich: „This experiment in understanding would culminate in a re-enactment of a martyr‘s life story, performed by an endurance artist whose life is mirrored in the martyr‘s life.“457

456 Siehe 2.2.1 ,Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst‘, S. 73ff. 457 Montano 2005, S. 260.

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Anhand der Performance-Kunst heilig zu werden, ist die Schlussfolgerung aus Montanos Verbindung von Religion und Kunst 458 . Anstelle eines Lebens als Nonne in einem Kloster entscheidet sich Montano für ein Leben in einer Performance-Kunst-Realität. Dabei ist ihre künstlerische Praxis, die Wiederholung bestimmter Übungen, um zu einer Heiligen zu werden459, mit den religiösen Praktiken Ritual und Askese verbunden460. Ihr Leben gestaltet Montano von Kindheit an als Ritual, das ihr die Möglichkeit an die Hand gibt, ihre Taten zu strukturieren und auszuführen: „Getting up in the morning was performative and ritualistic. I chose from an early age to listen to my parents via my own structure as well as knowing from some kind of inner sense that whatever I did I had to document in memory, photos, or writing.”461

Der Wunsch, ihren Alltag zu strukturieren, ist sowohl auf den Einfluss des Katholizismus zurückzuführen als auch therapeutisch: „As a result of training in Catholic imagery and rituals, in my life the recipe of rituals and neuroses produced performances which were not ‚schooled'... but personally necessary to express insanity and therefore maintain sanity.“462 Vor allem ihre 7 Years of Living Art Performance behandelt das Streben nach einem bestimmten Bewusstseinszustand, möchte diesen ausstellen und überschreiten, in dem Sinne, dass sie durch ,Übung‘ zu einem nächsten gelangen will463: „Hopefully, the hard work will lead to a kind of mind and heart states that practitioners of very advanced meditiations get to, which is compassion, understanding, and wisdom. These are some of my goals.“464 Ihre Performances provozieren intensive Emotionen, wie zum Beispiel das Verbinden der Augen465, das Treten auf der Stelle466, und for-

458 Siehe Montano 2005, S. 106. 459 Siehe Montano 2005, S. 18. 460 Für eine Darstellung des Theaters als Ort der Askese siehe Gronau 2012. 461 Robinson/Montano 2005, S. 32. 462 Juno/Montano 1991, S. 52. 463 Siehe 2.2.1 ,Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst‘, S. 78f. 464 Kussoy/Montano 2005, S. 162. 465 Siehe Montano 2005, S. 113f. und Montano 1981 (Three Day Blindfold). 466 Siehe Montano 1981 (The Story of my Life).

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dern der Künstlerin ihre Energien ab467. Sie sind aber auch Übergangsriten468: die Vergegenwärtigung des Lebens (The Story of my Life), die Verarbeitung der Trauer (Mitchell Performances), der Umgang mit dem Sterben (Dad Art)469. Als asketische Praxis der Entbehrung dient Montano das Hungern. Es ist für sie eine Praxis, um einen anderen Bewusstseinszustand zu erreichen, die Dinge, die Realität intensiver zu sehen und neue Möglichkeiten zu entdecken. „Anorexia invigorates people because starvation probably releases chemicals in the brain. The body is becoming efficient in a new way – a self-preservation machine! […]. I appreciate your reading of my work as using anorexia and my endurance pieces to ‚clear‘ the way for entry of an unwordly force, but who knows?”470

Ihre Performances beinhalten den Vertrag mit sich selbst, eine gewisse Zeit eine bestimmte Übung, ein Training zu absolvieren, sich zu zügeln und zu disziplinieren471. Aber diese Disziplinierung ist für Montano nicht reiner Verzicht, sondern die von ihr praktizierte Performance-Kunst ist für sie der beste Rausch, den sie haben kann. „My belief and experience has been that I continue in this profession to get high; performance is a cheap drug, and cheaper therapy! But it also has a nobler purpose, one of transformation, for its ability to change brain waves makes it a preparation for meditation.”472

Montano tritt in ihren Performances gerne aus sich selbst, um über sich zu lernen. Dies wird nicht nur durch die wiederkehrende Verwendung von Hypnose473

467 Siehe Robinson/Montano 2005, S. 38; Grey/Grey/Montano 2005, S. 43 und Kussoy/ Montano 2005, S. 162 und S. 165. 468 „I have always felt that performance artists/body artists create brilliant rites of passage. [...] [. P]erformance gives artists a chance to practice for the passages to come and also to perform in substitution for the audience members unaware of their need […].“ Montano 2005, S. 262. 469 Siehe Montano 1981 (The Story of my Life; A Tribute to Mitchell Payne; Mitchell‘s Death) Und Montano 2005, S. 27, S. 74 und S. 197f. 470 Klein/Montano 2005, S. 8. 471 Siehe 2.1.5 ,Verträge in der Performance-Kunst’, S. 61ff. 472 Montano 2005, S. 132. Siehe auch ebd., S. 18. 473 Siehe Montano 1981 (Talking about sex while under Hypnosis).

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deutlich, sondern auch durch die von ihr erschaffenen Charaktere474, anhand deren sie Verhaltensweisen einübt, die einerseits aus ihr selbst heraus entstanden sind und die andererseits Fragen nach ihrer ,wahren Persönlichkeit aufwerfen‘. „By 1975, I had formalized and made the gift of being able to get out of my own way, a bit more sophisticated: [...] I resurrected in myself seven personae, and found that I could easily act as them, perfect them, speak as them and this was much more fun and easier than being me! By then I was beginning to ask, who is the real Linda Montano?”475

Die Performances Montanos verbinden Ritual und Askese, indem sie eine klare Struktur aufweisen, Ausdauer und Wiederholung folgen und thematisch immer wieder um dasselbe kreisen: Am Ende geht es ihr darum, Energien für das Leben zu generieren und sich auf den Tod ohne Angst vorzubereiten476. „Death was always a fascination for me, but one that felt taboo in its mystery. […]. Art became a safe space, often the only place where I could explore my fears and fascination.“ 477 In den beiden Begriffen Ritual und Askese laufen nicht nur Stränge aus den vorhergehenden Kapiteln zusammen. Konzept und Vertrag, Ausdauer und Wiederholung verweisen bei Montano auf Ritual und Askese als religiöse, intensive Emotionen provozierende Praktiken, die entsprechende Verbindungen zwischen Geist und Körper beinhalten. Während das Ritual in unterschiedlichen Kontexten zu Aktivitäten und Feierlichkeiten Verwendung findet und deshalb eine Praktik darstellt, die von jedem Menschen ausgeführt werden kann, bezieht sich die Askese nur auf einen kleinen Bereich von Menschen, der sich explizit der Entbehrung und den damit verbundenen Vorstellungen widmet478. Insofern sind sowohl gemeinschaftliche Praktiken als auch individuelle Bestrebungen gegenüber Ritual und Askese angesprochen, die in ihrem geschichtlichen Kon-

474 Siehe Montano 1981 (Characters). 475 Montano 2005, S. 121. 476 Siehe 2.2.1 ,Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst‘, S. 76. 477 Montano 2005, S. 236. Sie auch ebd., S. 233f. „Death was always a fascination for me, but one that felt taboo in its mystery. [...] Art became a safe space, often the only place where I could explore my fears and fascination.“ Ebd., S. 236. 478 Siehe 2.3.2 ,Besondere Form des Handelns und des Vorstellens‘, S. 105ff. und 2.3.4 ,Der religiöse Mensch‘, S. 111ff.

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text dargestellt und auf die Frage hin untersucht werden sollen, welche Möglichkeiten sie für moderne Individuen bieten.

2.3.1 Rituale Eine Beziehung zwischen Performance und Ritual stellt Schechner durch die Verbindung des Rituals mit dem Spiel und Fischer-Lichte in der Verknüpfung des Rituals mit der Aufführung her479. In beiden Fällen gilt ein spezieller Rahmen im Bezug auf Theater, Bühne und Zuschauer. Demgegenüber kommt die Frage auf, welche Bedeutung die vollzogenen Handlungen im Ritual besitzen und welche Auswirkungen sie in den beteiligten Menschen auslösen. Nach van Gennep sind Riten/Übergangsriten notwendig, weil sie die Trennung zwischen der profanen und heiligen Welt überwinden480. „Jede Veränderung im Leben eines Individuums erfordert teils profane, teils sakrale Aktionen und Reaktionen, die reglementiert und überwacht werden müssen, damit die Gesellschaft als Ganzes weder in Konflikt gerät, noch Schaden nimmt.“481

Damit verlangt sie das Leben, mit all seinen verschiedenen Stadien, wie zum Beispiel „Geburt, soziale Pubertät, Elternschaft [...].“ 482 Seinen thematischen Schwerpunkt legt van Gennep deshalb in seiner Untersuchung darauf, „alle zeremoniellen Sequenzen zusammenzustellen, die den Übergang von einem Zustand in einen anderen oder von einer kosmischen bzw. sozialen Welt in eine andere begleiten.“ 483 So verstanden wären Rituale eine bestimmte Abfolge von Handlungen in einem bestimmten Rahmen, die dazu dienen, das Individuum zu transformieren. Wie Eliade im Zusammenhang mit dem Zyklus von einer „Wiedergeburt“484 spricht485, so ist für van Gennep „[d]er Übergang von einem zum anderen Zustand [...] buchstäblich gleichbedeutend mit dem Abstreifen des

479 Siehe Schechner 2006, S. 52. Und siehe Fischer-Lichte 2004, S. 41 und S. 45. 480 Gennep 2005, S. 14. 481 Gennep 2005, S. 15. 482 Gennep 2005, S. 15. 483 Gennep 2005, S. 21. 484 Eliade 1998, S. 67. 485 Siehe 2.2.3 ,Religiöse Handlungen‘, S.85 .

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alten und dem Beginn eines neuen Lebens.“486 Dieser Übergang Genneps ist unter anderem gekennzeichnet als „Schwellen- bzw. Umwandlungsphase“487, deren sich wiederum Turner bedient um eine Unterscheidung zwischen „liminal“ und „liminoid“488 vorzunehmen. Er differenziert diese Schwelle für ,archaische Kulturen‘ und ,moderne Gesellschaften‘ aus. Während die ,Liminalität‘ Turners mit Eliades Vorstellungen von der Wiederholung ,urtümlicher Handlung‘ in archaischen Gesellschaften verbunden werden kann, die nicht nur in den konkreten Kalender dieser Kulturen eingebunden sind, sondern auch im alltäglichen Leben konkrete, funktionale Handlungen bezeichnen489, muss das ,Liminoide‘ Turners den modernen Gesellschaften und deren Vorstellungen von Freiheit und Individualität zugerechnet werden. „One works at the liminal, one plays with the liminoid.“ 490 . In diesem Zusammenhang trennt Schechner solche Rituale, die dauerhaft Individuen transformieren (Genneps ,Übergangsriten’), von solchen, die dies nur temporär tun491. Für ihn ist die Performance auch nicht in ihren Ursprüngen auf das Ritual begrenzt, denn „[e]very performance both entertains and ritualizes.“ 492 Dies gilt jedoch vorwiegend für Performances, die ein direktes, konkretes Publikum haben und weniger für solche, auf die Zuschauer keinen Zugriff besitzen, wie im Falle der Performances Montanos493. Darüber hinaus besitzen die Rituale in Verbindung mit ihren Performances auch konkreten religiösen Bezug.

486 Gennep 2005, S. 176. 487 Gennep 2005, S. 21. Siehe auch ebd., S. 27f. 488 Turner 1982, S. 52. Sie auch folgende Seiten. 489 Siehe Eliade 1998, S. 89. Siehe 2.2.3 ,Religiöse Handlungen‘, S. 84. 490 Turner 1982, S. 55. 491 Schechner 2006, S. 52. 492 Schechner 2006, S. 87. 493 Im Hinblick auf Montanos und Hsieh‘s Performance in Bezug auf das Publikum schreibt Carr: „It‘s a piece no one‘s watched but in bits, with the performers often hiding from their audience, since they never set out to be spectacles of themselves. They have worked to keep their lives noneventful, avoiding those colorful interactions that would interest a reporter, confining their activities on most days to Chinatown and their Tribeca neighborhood where people are used to seeing them.“ Carr 2008, S. 3. Diese Aussage vermittelt auch einen Eindruck über das Verhalten Montanos in ihren durational Performances im Allgemeinen.

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2.3.2 Besondere Form des Handelns und des Vorstellens Ritual und Performance erscheinen als wesentlich mit Gemeinschaft verknüpft. Entsprechend sind für Durkheim „Riten [...] Handlungen, die nur im Schoß von versammelten Gruppen entstehen können und die dazu dienen sollen, bestimmte Geistzustände dieser Gruppen aufrechtzuerhalten oder wieder herzustellen.“494 Wie bei Montano jedoch von einer Art der Verinnerlichung des Publikums gesprochen worden ist495, geht Durkheim davon aus, dass das Individuum letztlich die Gesellschaft verinnerlicht und auf diese Weise dazu in der Lage ist, dessen Vorstellung von Moral zu folgen496. Religion ist für Durkheim eine Einigung auf Theorie und Praxis, die das Heilige zur ihrem Thema macht und sich in Form einer Kirche als „moralische[...] Gemeinschaft“497 organisiert. Eliade versucht den Begriff der Religion zu erweitern, wenn er sagt, dass „das Verschwinden der ,Religionen‘ [...] nicht das Verschwinden der ,Religiösität‘“498 nach sich zieht, denn dadurch impliziert er die Möglichkeit, dass der Religion in ihrem Wesen etwas anhaftet, das sowohl bei ihrer Entstehung als auch weiterhin von Bedeutung für die Menschen sein kann. In allen Theorien über Religion spielt jedoch die Unterscheidung zwischen ,Heiligem und Profanem‘ eine wesentliche Rolle, wird, so Eliade, „in irgendeiner Weise das Heilige und das religiöse Leben dem Profanen und dem weltlichen Leben entgegen[gesetzt].“499 Zudem kann das Heilige sowohl bei Eliade als auch bei Durkheim als etwas verstanden werden, das allem und jedem innewohnt, was so viel bedeutet wie, dass das Heilige nicht aus sich selbst einen hervorstechenden Anteil am Heiligen besitzt, sondern durch eine Auswahl500 von „kollektiven Vorstellungen“501 ihm dieser Wert beigemessen wird – wie sie auch mittels der ,Auf- und Abwertungen‘ bei Groys thematisiert wurde502. Durkheim teilt darüber hinaus

494 Durkheim 2007, S. 25. 495 Siehe 2.2.1 ,Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst‘, S. 80. 496 Siehe Durkheim 2007, S. 35. 497 Siehe Durkheim 2007, S. 76. 498 Eliade 1998, S. 10. 499 Eliade 1954, S. 19. 500 Siehe Eliade 1954, S. 33 und S. 35. 501 Durkheim 2007, S. 337. 502 Siehe 2.1.6 ,Rahmen und Werte‘, S. 65ff.

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„[d]ie religiösen Phänomene [...] in zwei Kategorien [...]: die Glaubensüberzeugungen und die Riten. Die ersten sind Meinungen; sie bestehen aus Vorstellungen; die zweiten sind bestimmte Handlungsweisen. Zwischen diesen beiden Klassen liegt derselbe Abstand wie zwischen dem Denken und Tun.“503

Religion beinhaltet für Durkheim Unterscheidungen zwischen Vorstellungen von Handlungen und Geistigem von Körperlichem. Für beide gilt die Einteilung in das Profane und das Heilige 504 , wobei Regeln und Verbote für den richtigen Umgang mit diesen Bereichen sorgen. Deshalb sind „[r]eligiöse Überzeugungen [...] Vorstellungen, die die Natur der heiligen Dinge und die Beziehungen ausdrücken, die sie untereinander mit den profanen Dingen halten. Riten schließlich sind Verhaltensregeln, die dem Menschen vorschreiben, wie er sich den heiligen Dingen gegenüber zu benehmen hat.“505

Zur Umschreibung dieser Verhaltensregeln dienen Durkheim zwei Formen des Kults. „Ein Kult [...] ist ein System von Riten, von Festen, von verschiedenen Zeremonien, denen allen gemeinsam ist, daß sie periodisch wiederkehren.“506 Er besteht „aus regelmäßigen Beziehungen zwischen dem Profanen und dem Heiligen“ 507 . Regeln, Verbote, beziehungsweise sogenannte Tabus, die eine klare Trennung zwischen den beiden Bereichen vollziehen und in ihrer Ausübung von Riten unterstützt werden, gehören für Durkheim, dem „negative[n] Kult“508 an. Ihr Zweck sei es, das Heilige vom Profanen auszuschließen, den Menschen vom profanen Leben fernzuhalten, um, in einem weiteren Schritt, das religiöse Leben zu intensivieren und damit „einen Zugang zum positiven Kult“509 zu ermöglichen. Ein Mensch, der sich strikt an diese Verbote des ,negativen Kults‘ hält, erlangt damit eine höhere Ebene. Er überschreitet eine Schwelle, wie sie mit van Gennep im ,Übergangsritus‘ beschrieben wurde510. Aber diese Verbote, sich gewohnheitsmäßiger Handlungen zu enthalten, kennzeichnen nach Durkheim auch

503 Durkheim 2007, S. 61. 504 Siehe Durkheim 2007, S. 62. 505 Durkheim 2007, S. 67. 506 Durkheim 2007, S. 99. 507 Durkheim 2007, S. 443. 508 Durkheim 2007, S. 454. 509 Durkheim 2007, S. 454. 510 Siehe 2.3.1 ,Rituale‘, S. 103.

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eine weitere religiöse Praktik: die Askese. Sie ist seiner Definition gemäß eine Ausweitung des ,negativen Kults‘ auf die Lebenspraxis511. Das Ritual besitzt bei Durkheim nicht nur eine strikte, auf Disziplin gegenüber Verboten basierende Bedeutung, sondern es beinhaltet schon das, was Schechner für die Performance geltend macht: eine Form der ,Unterhaltung’512. Denn zum Ritual gehöre eine Komponente der „Erholung“513 und des „Wohlbehagens“ 514 ; aufgrund seiner Verbindung mit Kunst und Spiel, eine „ästhetische[…] Seite“ 515 . Allerdings bedeute dies nicht, dass das Heilige keine ,Wirklichkeit‘ besitzen kann.516 Auf diese Weise wäre das Ritual bereits mit einer Ästhetik in religiösem Sinne verbunden. Übertragen auf die künstlerische Praxis Montanos kann von einer Generierung und Wiederholung von Riten gesprochen werden, die sie als Performance in einem System zusammenfasst. Auch ihre Konzepte, insbesondere ihre Verträge verweisen auf verbotene Handlungen, denen sie sich über einen längeren Zeitraum asketisch zu enthalten sucht.

2.3.3 Das Heilige In ihrem Streben, Heiligkeit zu erlangen, scheint Montano, bedenken wir die Entbehrungen, die mit der Askese verbunden sind, auch zu hoffen, sich durch das Erlangen eines höheren Bewusstseinszustands belohnen zu können. Aber der Begriff der Heiligkeit erweist sich sowohl für die Performance-Kunst, als auch bereits für die Religion als schwer definierbar. Und das obwohl sie, wie im Folgenden mit Durkheim und Eliade deutlich werden wird, mit der Befolgung strenger Theorie und Praxis verbunden ist. Für Durkheim gibt es keinen ,positiven Kult‘ ohne ,negativen Kult‘, das bedeutet, der Umgang mit dem Heiligen ist durch genaue Regeln festgelegt 517 . Dennoch bleibt das Heraustreten des Menschen aus dem profanen Bereich in den

511 Siehe Durkheim 2007, S. 457f. 512 Siehe Schechner 2006, S. 76. 513 Durkheim 2007, S. 559. 514 Durkheim 2007, S. 561. 515 Durkheim 2007, S. 560. 516 Dies betont vor allem Durkheim. Siehe Durkheim 2007, S. 335f., bzw. 2.3.3 ‚Das Heilige‘, S. 109. 517 Siehe 2.3.2 ,Besondere Form des Handelns und des Vorstellens‘, S. 106f.

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heiligen Bereich eine ,Überschreitung‘ von Verboten, weshalb jeder ,positive Ritus‘ „im Grund eine wirkliche Entweihung ist“518. Komplizierter wird diese Tatsache dadurch, dass das Heilige, nach Durkheim, selbst ein schwer zu fassender Begriff ist: „Aus dem Reinen kann man Unreines machen; und umgekehrt. In der Möglichkeit dieser Umwandlungen besteht die Zweideutigkeit des Heiligen.“519 Die Differenzierung des Heiligen in ,rein und unrein‘, ist für Eliade maßgeblich für das Verhalten des Menschen. Wie das ,Reine‘ ist das ,Unreine’ „,geweiht‘, es unterscheidet sich – ontologisch – von allem, was zur profanen Sphäre gehört.“520 Entsprechend gelten für das Unreine wie für das Reine Verbote, die den Umgang regeln, beziehungsweise ,rituelle Vorbereitungen’521, um mit ihnen in Berührung zu kommen. Bei Eliade gibt es eine „Scheu“, eine Angst vor dem „Durchbrechen einer ontologischen Ebene“522 in eine andere – der profanen in die Heilige –, die durch das Tabu gekennzeichnet ist. Sie verweist auf das, was Freud als „heilige Scheu“ 523 bezeichnet. Wie Eliade zeigt, möchte der Mensch zwar Anteil am Heiligen haben, jedoch hat er andererseits Angst sein profanes Leben zu verlieren524. Und doch gehöre es zu dem Wesen alles Heiligen, auf diesen Bruch zu verweisen: „Dieses paradoxale Zusammenfallen des Heiligen und des Profanen, des Seins und des Nichtseins, des Absoluten und des Relativen, zeigt sich in jeder Hierophanie, auch in der elementarsten.“525 Alles Heilige scheint damit noch auf seine profane Herkunft weiter zu verweisen und kann sich nie vollständig von ihr ablösen. In gewisser Weise gibt es, angesichts Eliades Theorie, die Gegenstände genauso doppelt wie die ,göttlichen Handlungen‘, die rituell wiederholt werden526: als heilige Gegenstände und Handlungen und als Profane. Demgegenüber von Bedeutung ist auch, dass nach Eliade „archaische religiöse Akte“ einen „synthetischen Charakter“527 besitzen. Einheit und Kontinuität

518 Durkheim 2007, S. 497. 519 Durkheim 2007, S. 602. 520 Eliade 1954, S. 37. 521 Siehe Eliade 1954, S. 38. 522 Eliade 1954, S. 40. 523 Freud 2005, S. 66. 524 Siehe Eliade 1954, S. 41. 525 Eliade 1954, S. 54. 526 Siehe 2.2.3 ,Religiöse Handlungen’, S. 83ff. 527 Eliade 1954, S. 183.

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kennzeichnen für ihn sowohl das Verständnis von Raum als auch das von Zeit, denn „[s]o wie eine ,Weltmitte‘, die doch eigentlich an einem unerreichbaren Ort liegt, überall erbaut werden kann, [...] kann auch die heilige Zeit, [...] zu jeder Zeit und von wem immer erlangt werden – durch bloße Wiederholung eines archetypischen Aktes.“528

Derart kann alles immer wieder an den Ursprung anknüpfen, sowohl an die heilige Weltmitte als auch an die heilige Zeit529. Es scheint, dass die Religion eine Möglichkeit beinhaltet, Differenzen zum Fall zu bringen und zu vereinheitlichen. Auch wenn Durkheim klare institutionelle Vorstellungen gegenüber der Religion besitzt, erkennt er dennoch einen umstrittenen Faktor als ihr wesentlich inhärent an: „Es ist in der Tat wahr, daß die Religion keinen bestimmten Intensitätsgrad erreichen kann, ohne eine psychische Überreizung, die irgendwie mit dem Delirium verwandt ist. Darum weisen die Propheten, die Religionsstifter, die großen Heilige [...] sehr oft Zeichen einer übermäßigen [...] pathologischen Reizbarkeit auf [...].“530

Die Fähigkeit zur intensiven Erfahrung von Religion wird also auf diejenigen beschränkt, die ihr Leben auf extreme Weise der Religion widmen. Dieser Ansicht sind auch Eliade und James531. Hervorgerufen werden Delirien und Ekstasen nach Durkheim jedoch durch „moralische[...] Kräfte“532. Angesichts der Faktizität ihres Auftretens müsse ihre Wirklichkeit anerkannt werden. Damit verleiht Durkheim diesen pathologischen Zuständen Wirklichkeit und bezeichnet sie nicht als ,Illusionen‘. Er begründet dies mit Hilfe des „soziale[n] Denken[s]“533, dessen Vorstellungen „imperative[...] Autorität“534 gegenüber dem Geist des Individuums besitzen. „Es gibt daher ein Gebiet in der Natur, wo die Formel des Idealismus fast wörtlich genommen werden kann: den sozialen Bereich. Die Idee

528 Eliade 1954, S. 450. 529 Siehe 2.2.3 ,Religiöse Handlungen‘, S. 83ff. 530 Durkheim 2007, S. 335. 531 Eliade widmet sich jedoch explizit zur Erklärung der Ekstase dem Schamanismus zu. Siehe Eliade 2012, S. 14. Und siehe James 1985, S. 6f. 532 Durkheim 2007, S. 335f. 533 Durkheim 2007, S. 337. 534 Durkheim 2007, S. 337.

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ist dort, mehr als anderswo, die Wirklichkeit.“535 Ihre Grenzen werden durch die Gesellschaft bestimmt. Delirien, Ekstasen entstehen für Durkheim aus der Einwirkung von ,Gewalt‘ durch das ,soziale Leben‘536. Für den Schamanen ist, nach Eliades Untersuchungen, kennzeichnend, den „Übergang von einer kosmischen Region zur anderen: von der Erde zum Himmel oder von der Erde zur Unterwelt“537 zu leisten. Er besitzt keine Angst vor dem oben genannten Bruch zwischen ,heiligem und profanem‘ Bereich und ist damit nicht mehr ,profaner Mensch‘: „Indem der Schamane in der Ekstase die ,gefährliche‘ Brücke überschreitet, welche die beiden Welten verbindet und mit welcher nur die Toten es aufnehmen können, beweist er einerseits, daß er ,Geist‘ ist, [...] bemüht er sich andererseits die ,Verkehrsmöglichkeit‘ wiederherzustellen, welche in illo tempore zwischen dieser Welt und dem Himmel bestand.“538

Aufgrund dieser Fähigkeit ist er, wie Eliade zeigt, auch in der Lage, die menschliche Seele zu sehen und zu heilen539. Aber auch der profane Mensch besitze die Fähigkeit in eine andere ,Dimension‘ zu gelangen, in der Raum und Zeit außer Kraft gesetzt sind: in den Neujahrszeremonien, in denen die Wiederholung der Handlungen der Götter zelebriert werden. „In diesem merkwürdigen Zwischenzustand zwischen zwei ,Zeiten‘ […] ist Kommunikation zwischen Lebenden und Toten […] möglich.“ 540 Insofern wäre auch dem normal sterblichen Menschen zumindest einmal im Jahr ein besonderer Zustand gegeben, der mit der besonderen Form des Festes einhergeht, das nicht nur in der ,heiligen Zeit‘, sondern in der ,Ewigkeit‘541 stattfindet. Zu diesem Wunsch der zeitlichen Aufhebung in der Ewigkeit gehöre ein „Heimweh nach [...] einem konkreten Paradies“542 in Bezug auf den Raum.

535 Durkheim 2007, S. 337f. 536 Siehe Durkheim 2007, S. 336. 537 Eliade 2012, S. 249. 538 Eliade 2012, S. 449. 539 Siehe Eliade 2012, S. 227. 540 Eliade 1954, S. 451f. 541 Siehe Eliade 1954, S. 450. (Eliade mit Verweis auf Mauss.) 542 Eliade 1954, S. 462.

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„In diesem Sinn lassen sich die archaischen Mythen und Riten, die mit heiligen Räumen und heiliger Zeit verknüpft sind, wohl auf den Traum eines ,irdischen Paradieses‘ und einer Art von ,Versuch der Ewigkeit‘ zurückführen, die der Mensch noch zu erreichen können gedenkt.”543

Folgen wir Eliade, strebt der ‚profane Mensch‘ nicht danach, den profanen Bereich zugunsten eines vollständig heiligen Bereichs zu verlassen, sondern versucht vielmehr einen Teil des Heiligen mit der profanen Welt dauerhaft zu verbinden.

2.3.4 Der religiöse Mensch Als Künstlerin, die unterschiedliche religiöse Glaubensansätze mittels der Kunst zu verbinden sucht, steht Montanos Schaffen in erster Linie für die individuellen Möglichkeiten des einzelnen religiösen Menschen und dessen Erfahrungen. Eine bedeutende Komponente ihrer performativen Praxis von Ausdauer und Wiederholung ist auch das Ertragen von Leid. Während die Beschäftigung mit Ritualen vorwiegend gemeinschaftliches, an feste Regeln gebundenes Handeln beinhaltet, ist mit dem Umgang und der Definition des Heiligen ein bestimmtes religiöses Individuum angesprochen, dessen Kennzeichen näher nachgegangen werden soll. James beschäftigt sich mit einer Intensivierung der Gefühle bei religiösen Menschen, die er als „exceptional and eccentric“544 beschreibt. Er bezeichnet sie als „‚geniuses‘ in the religious line“ 545 , die häufig „symptoms of nervous instability“ 546 aufweisen, da sie zu „acute fever“ 547 neigen, ,in Trance fallen, Stimmen hören, Visionen haben‘548, die, wie auch Durkheim feststellt, einen pathologischen Charakter besitzen549. Aufgrund seines psychologischen Ansatzes

543 Eliade 1954, S. 462. 544 James 1985, S. 6. 545 James 1985, S. 6. 546 James 1985, S. 6. 547 James 1985, S. 6. 548 „They have known no measure, been liable to obsessions and fixed ideas; and frequently they have fallen into trances, heard voices, seen visions, and presented all sorts of peculiarities which are ordinarily classed as pathological.“ James 1985, S. 7. 549 Siehe 2.3.3 ,Das Heilige‘, S. 107.

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in der ,modernen Gesellschaft‘, kommt James zu einer Definition der Religion, die sich im Wesentlichen auf das Individuum konzentriert: „Religion, therefore, as I now ask you arbitrarily to take it, shall mean for us the feelings, acts, and experiences of individual men in their solitude, so far as they apprehend themselves to stand in relation to whatever they may consider the divine.”550

James folgend, kann eine Bestätigung dessen gefunden werden, was Eliade im Weiterleben der ,Religiosität‘ in der modernen Gesellschaft‘ ausgedrückt hat: ein Weiterbestehen von religiösen Gefühlen, ein Bedürfnis nach intensiven Zuständen551. Das Leben der Menschen, die sich der Religion widmen, ist neben der Ausführung von Ritualen und verschiedenen Bewusstseinszuständen für Durkheim vor allem durch eine bestimmte Form der ,Lebenspraxis’552 gekennzeichnet: der Askese. Sie ist nach James durch „chastity, obedience, and poverty which the monk vows to observe“553 geprägt. Ihr wesentliches Element ist aufgrund der mit ihr verbundenen Enthaltungen und Entbehrungen für Durkheim „der Glaube, daß der Schmerz eine heiligende Wirkung hat.“ 554 Er gilt als Beweis und deshalb auch als Mittel für die Loslösung von der „profane[n] Welt“ 555 . Gleich dem Konzept und dem Vertrag in Montanos Performance-Kunst556 legt der Schmerz hier dem Menschen einerseits Entbehrungen auf, führt andererseits aber auch zu Freiheit. Für den in Askese befindlichen Menschen zeugt diese Hingabe an den Schmerz, die seine Trennung von der profanen Welt darstellt, wie Durkheim zeigt, von einem Opfer an die Heilige Welt557. Durch ihn übt der Mensch „das Desinteresse gegenüber der Welt und jene Ausdauer [...], ohne die es keine Reli-

550 James 1985, S. 31. 551 Siehe 2.3.2 ,Besondere Form des Handelns und des Vorstellens‘, S. 103, bzw. Eliade 1998, S. 10. 552 Siehe 2.3.2 ,Besondere Form des Handelns und des Vorstellens‘, S. 105, bzw. Durkheim 2007, S. 457. 553 James 1985, S. 310. 554 Durkheim 2007, S. 464. 555 Durkheim 2007, S. 464. 556 Siehe 2.1.5 ,Verträge in der Performance-Kunst’, S. 61ff. 557 Siehe Durkheim 2007, S. 464.

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gion gibt“558. Schmerz, Übung, Enthaltung und Ausdauer sind Praktiken, die zur Askese gehören. Sie sind eine Übertreibung des von Durkheim bezeichneten ,negativen Kults‘559. Allerdings wird, wie bei James560, auch bei Durkheim die Askese nur von Ausnahmepersönlichkeiten praktiziert und dient für andere Menschen sowohl als Vorbild als auch zur Abschreckung561. Gefühle, die der ,normale Mensch‘ zu umgehen sucht, beschwört demnach der Asket apathisch herauf. Er ist Sinnbild nicht nur der Aufhebung von Raum und Zeit, sondern, so Eliade, des vollständigen Verlustes der Gegensätze: „Lust und Schmerz, Verlangen und Widerwille, Kälte und Hitze, Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit sind aus seinem Erleben verschwunden, und in ihm vollzieht sich eine ,Totalisation‘ als Entsprechung zur Totalisation der Gegensätze im Schoße der Gottheit.“562

2.3.5 Entbehrung als Selbsterkenntnis und Sorge Askese ist jedoch nicht nur eine extreme Form der Aufhebung und Intensivierung von Emotion, sie erfüllt daneben auch einen bestimmten ,irdischen Zweck‘. „Wir können sehen, dass die christliche Askese sich ebenso wie die antike Philosophie unter das Zeichen der Sorge um sich selbst stellte. Die Verpflichtung, sich selbst zu erkennen, zählt zu den wesentlichen Elementen ihres Denkens und Tuns.“563

Auch Foucault beschäftigt sich mit der Darstellung zweier Formen von Realitäten im Bezug auf die christliche Askese: die Ablösung von der irdischen Wirklichkeit zugunsten einer religiösen Realität durch einen „gewissen Verzicht auf das Selbst“564. Demgegenüber ist im Sinne der antiken philosophischen Sorge

558 Durkheim 2007, S. 465. 559 Siehe Durkheim 2007, S. 457f. 560 Siehe James 1985, S. 310. 561 Durkheim 2007, S. 465. 562 Eliade 1954, S. 476. Diese über den ,indischen oder chinesischen‘ Asketen getroffene Aussage, kann unter Einbezug auf das Vorgehende verallgemeinert werden. 563 Foucault 2007, S. 291f. 564 Foucault 2007, S. 305.

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„Askese nicht Verzicht, sondern zunehmende Beachtung des Selbst“565 und dessen weltliche Lebensrealität. Als Gegenleistung für den Verzicht und die Einhaltung bestimmter Regeln verspricht die „Heilsreligion“ Christentum, „den Einzelnen aus einer Realität in eine andere, vom Tod zum Leben, aus der Zeit in die Ewigkeit zu führen.“566 Als „Bekenntnisreligion“ verlangt das Christentum nach Foucault, vom Gläubigen Selbsterkenntnis zu erlangen: „[E]r soll ergründen, was in ihm vorgeht, er muss versuchen, Fehler, Versuchungen und Begierden in sich selbst ausfindig zu machen, und jedermann ist gehalten diese Dinge entweder vor Gott oder vor den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft zu enthüllen, also öffentlich oder privat gegen sich selbst auszusagen.“ 567

Mit Foucault wird deutlich, dass Sünde und Buße tun im Christentum grundlegend verankert sind 568 . Als Vorläufer des christlichen Asketen erscheint der Märtyrer, der für eine Zeit steht, in der das Christentum noch durch die Bereitschaft der Aufgabe des eigenen Lebens verteidigt werden musste569. „Theorie und Praxis der Buße kreisen um das Problem, lieber den Tod in Kauf zu nehmen als […] dem Glauben abzuschwören. Der Märtyrer der dem Tod ins Auge blickt, ist das Vorbild für den Büßer.“570 Immer wieder wird deutlich, dass den besonderen, auserwählten Menschen auszeichnet, keine Angst vor dem Tod zu besitzen, im Gegenteil diesem bewusst ins Auge zu sehen571. Entsprechend gehört bei Foucault zur Praxis der Askese auch „das Einüben des Todes“572, das bereits in den ersten Performances Montanos praktiziert wird 573 . „Because I wanted so badly to be a saint, I took on romancit concepts of death as ways to achieve sainthood. […]. Death has always been in my work.“574

565 Foucault 2007, S. 305. 566 Foucault 2007, S. 309. 567 Foucault 2007, S. 309. 568 Siehe auch Foucault 2007, S. 310. 569 Siehe auch Gemeinhardt 2010, S. 23. 570 Foucault 2007, S. 312. 571 Siehe 2.3 ,Das Heilige‘, S. 109f. 572 Foucault 2007, S. 135. 573 Siehe 2.2.1 ,Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst‘, S. 76. 574 Blumenthal 1984, S. 25.

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Während der durchschnittliche Mensch Angst vor einem Bruch hat, dem Einbrechen des Heiligen in das Profane575, steht dahinter, fasst man das diesbezüglich Gesagte zusammen, vor allem die Todesangst. Erwählte, Schamanen, Märtyrer, Asketen, Helden und andere Heilige besitzen diese Angst vor dem Tod nicht. Ähnlich wie Durkheim zwischen einer „materielle[n]“ und einer „ideale[n] Welt“576 unterscheidet, wobei er Letzterer eine „moralische Höherwertigkeit“577 zurechnet, spricht James von einem Kampf in der Protestantischen Religion zwischen einem ,aktuellen‘ und einem ,idealen Selbst‘578. Während sich Durkheim, da er von einer Verbindung der Religion mit der Gesellschaftsbildung ausgeht579, entsprechend auf die Entstehung von Regeln und Verboten in der Religion konzentriert580, beschäftigt sich James in seiner Konzentration auf das Individuum mit den „many ways of reaching unity“ 581 und damit verbunden möglicher ,Transformationen’ 582. Jedoch gelingt es ihm letztlich nicht, Transformationen von einfachen Veränderungen vollständig abzugrenzen 583 . Stattdessen kommt James zu einem Verständnis von Wiedergeburt eines religiösen Menschen als das, was er als ,heilig‘ bezeichnet: „The personality changed, the man is born anew, whether or not his psychological idiosyncrasies are what give the particular shape to his metamorphosis. ‚Sanctification‘ is the technical name of this result“584. Dafür muss dieser Mensch nicht frei von Sünde sein, sondern es scheint im Gegenteil, je mehr Sünde er auf sich geladen hat, desto mehr Buße kann er tun. Dafür folgt James der Botschaft Luthers: „That is, the more literally lost you are, the more literally you are the very being whom Christ‘s sacrifice has already saved.“585 Diese Tatsache weist von Neuem auf die große Ambiva-

575 Siehe ,Das Heilige‘, S. 94f. 576 Durkheim 2007, S. 388. 577 Durkheim 2007, S. 388. 578 „The man‘s interior is a battle-ground for what he feels to be two deadly hostile selves, one actual, the other ideal.“ James 1985, S. 171. 579 Siehe Durkheim 2007, S. 35, bzw. S. 334. Und Durkheim 2012, S. 55. 580 Siehe Durkheim 2007, S. 440f. 581 James 1985, S. 175. 582 James 1985, S. 194. 583 Siehe James 1985, S. 194 und S. 270. 584 James 1985, S. 241. 585 James 1985, S. 245.

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lenz, die dem Religiösen innewohnt586: Der Sünder erscheint als prädestiniert, um zum Heiligen zu werden. Nach Foucault beginnt die „Selbsterforschung“587 in der „christliche[n] Hermeneutik“588 beim „Wechselspiel zwischen dem verborgenen Gedanken und einer inneren Unreinheit.“589 Der Grund dafür kann in Foucaults Feststellung gesehen werden, dass im Christentum „das Problem einer Ästhetik der Existenz durch das Problem der Reinheit überdeckt“590 wird. Diesbezüglich scheint es relevant zu fragen, auf welche Weise der christliche Asket Reinheit erlangen soll, um in der Folge heilig zu werden, wenn dem Heiligen selbst in seinem Wesen etwas ,Unreines‘591 anhaftet? Freud macht deutlich, dass der Verzicht, der dem Menschen durch das Tabu auferlegt wird, gleich welcher Kultur, immer ein solcher ist, der auf unbewussten Begierden gründet592. ,Tabus’, die aufgrund dieser Begierden definiert werden, sind „einerseits: heilig, geweiht, anderseits: unheimlich, gefährlich, verboten, unrein“593, also ambivalent wie das Heilige selbst. Diese Ambivalenz haftet nach Freud aber auch den Trägern des Heiligen und damit den besonderen Mitgliedern einer Gesellschaft „wie Könige[n], Priester[n], Neugeborene[n], an allen Ausnahmezuständen“594 an. Sie besitzen eine Kraft, die Menschen durch Überschreitung des Verbots zukommt, wodurch sie „selbst den Charakter des Verbotenen gewonnen, gleichsam die ganze gefährliche Ladung auf sich genommen“595 haben. Freud scheint die Problematik des asketischen Ideals und dem damit verbundenen heiligen Leben mit einer Aussage zu treffen:

586 Diese Ambivalenz ist bereits durch die möglichen Verbindungen von ,Reinem‘ und ,Unreinem‘ im Heiligen zum Ausdruck gekommen. Siehe 2.3.3 ,Das Heilige‘, S. 108f. 587 Foucault 2007, S. 315. 588 Foucault 2007, S. 315. 589 Foucault 2007, S. 315. 590 Foucault 2007, S. 212. 591 Siehe 2.3.3 ,Das Heilige‘, S. 108. 592 Siehe Freud 2005, S. 81. 593 Freud 2005, S. 66. 594 Freud 2005, S. 70. 595 Freud 2005, S. 70.

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„Die von der Bürde ihrer Heiligkeit erdrückten Könige wurden unfähig, die Herrschaft in realen Dingen auszuüben, und mußten diese geringeren, aber tatkräftigen Personen überlassen, welche bereit waren, auf die Ehren der Königswürde zu verzichten.“596

Je heiliger ein Leben, desto weniger ist der Mensch dazu in der Lage das profane alltägliche Leben zu leben. Diese Theorie geht davon aus, dass es nicht nur Helden und Heilige geben kann, sondern immer Menschen geben muss, die die profanen Tätigkeiten übernehmen. Aber das vermeintlich ,heilige Leben‘ ist, wie Freud zeigt, bestimmt von Gefahren im Hinblick auf Verantwortung, die dem profanen Leben vorenthalten sind. Während der Umgang mit Verboten für profane Menschen als klar mit Verboten geregelt erscheint, muss das ,heilige Leben‘ jeweils entscheiden, besitzt es einerseits Verfügungsgewalt andererseits die Last der „gefährlichen Ladung“597. Dagegen scheint Montano mit ihrer Art/Life Verbindung gerade zu versuchen, aktives Exempel für die Übernahme von Verantwortung als auch dem Bestreiten des alltäglichen Lebens werden zu wollen und damit einen scheinbar unüberwindbaren Widerspruch außer Kraft setzen zu wünschen.

2.3.6 Religiöses Leben Katholizismus und Protestantismus haben, wie mit Agamben und Weber deutlich werden wird, je eigene Lebensformen entwickelt. Dabei betrifft diese Art zu leben im Falle des Katholizismus lediglich eine bestimmte Personengruppe, Mönche und Nonnen, während im Protestantismus jeder Mensch dazu aufgerufen ist, sich an die dort entwickelten Regeln zu halten. Diese Entwicklung von der Einschränkung im Katholizismus zur Verallgemeinerung im Protestantismus ermöglicht eine Parallele zwischen Montanos Bestreben, Heiliges und Profanes miteinander zu verbinden. Das Leben der Mönche kann mit Agamben als ein „Versuch“ verstanden werden, „eine Lebens-Form zu schaffen, das heißt ein Leben, das mit seiner Form so innig verbunden ist, dass es von ihr nicht mehr unterschieden werden kann.“598 Als Grundvoraussetzung dafür erscheint, „die Dialektik zu verstehen,

596 Freud 2005, S. 97. 597 Freud 2005, S. 70. 598 Agamben 2012, S. 9.

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die so zwischen den Termini ,Regel‘ und ,Leben‘ entsteht.“599 Lebensnotwendige Verpflichtungen müssen für diese ,Lebensform‘ umdefiniert werden, um sie für die Mönche möglich zu machen, weshalb aus ihr nach Agamben eine Vergeistigung der Arbeit resultiert, die wiederum auf „das mönchische Ideal in der totalen Mobilmachung des Daseins durch die Zeit“600 zurückführbar ist. Während archaische Kulturen, wie mit Eliade deutlich wurde, noch Feste und Zeremonien bedurften, um die ,urtümlichen Handlungen’601 der Götter nachzuvollziehen und auch der Schamane selbst auf Ekstasen zur Übertretung zurückgreifen muss602, teilt, wie Agamben aufzeigt, der katholische Mönch anhand der Liturgie derart seinen Tagesablauf ein, dass alle seine Tätigkeiten als in einer sakralen Zeit getätigt verstanden werden können, weshalb er mit Righetti, von einer „Heiligung des Lebens durch die Zeit“603 spricht. Der ,lineare, homogene‘ Zeitablauf, der bereits thematisiert wurde, gründet in dieser Erneuerung, in der nach Agamben „Leben und die Zeit erstmals im klösterlichen horologium vitae konsequent aufeinander bezogen, wenn nicht gar zur Deckung gebracht wurden.“604 Während die von Agamben beschriebene Lebensführung auf den im Kloster lebenden Mönch beschränkt ist, zeigt Weber auf, dass der calvinistische Protestantismus ein System, eine Ordnung erstellt, die das einfache alltägliche Leben der Menschen der profanen Welt betrifft605. Von ihnen wird ein Leben nicht angefüllt mit wiederkehrenden „einzelne[n] ,gute[n] Werke[n]‘“ verlangt, sondern in Form einer „Werkheiligkeit“ 606 , die nicht mehr zwischen Sünde und Buße schwankt, sondern sich vollends in die Ordnung und Kontrolle der Religion begibt: Ein Leben als heiliges Werk. Auch für Weber gilt eine Einteilung der Handlung in die Zeit, wenn er betont, dass „in jeder Stunde und jeder Handlung [...] sich das Wirken der Gnade als einer Enthebung des Menschen aus dem Status naturae in den Status des gratiae bewähren [konnte].“607 Was diese protestanti-

599 Agamben 2012, S. 9. 600 Agamben 2012, S. 41. 601 Siehe Eliade 1998, S. 89. 602 Siehe 2.2.3 ,Religiöse Handlungen’, S. 83ff. Und siehe 2.3.3 ,Das Heilige‘, S. 110, bzw. Eliade 2012, S. 449. 603 Agamben 2012, S. 42. 604 Agamben 2012, S. 43. 605 Siehe Weber 2010, S. 155. 606 Weber 2010, S. 155. 607 Weber 2010, S. 155. An anderer Stelle betont er auch: „Nicht Muße und Genuß, sondern nur Handeln dient dem unzweideutig geoffenbarten Willen Gottes zur Meh-

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sche Askese von der katholischen mönchischen Askese jedoch am meisten trennt, ist, dass Letztere „je intensiver sie den einzelnen erfaßte, desto mehr ihn aus dem Alltagsleben herausdrängte, weil eben in der Ueberbietung der innerweltlichen Sittlichkeit das spezifisch heilige Leben lag.“608 Während Erstere gerade durch die „Umgestaltung der Askese zu einer rein innerweltlichen“609 ihre Bedeutung gewinnt. Wichtiges Element dieser Neuerung ist dabei der Beruf, in der die ,göttliche Berufung‘610 zu einer Tätigkeit anklingt, die als aktive, systematische und „rationale Berufsarbeit“611 definiert ist und keine Formen der Kontemplation mehr zulässt. Askese wird in der christlichen Tradition zwar immer als Weg zu einer Form von Heiligkeit verstanden, aber sie beinhaltet verschiedene Vorgehensweisen. Während die Askese der Mönche im Rahmen des Klosters und der Ordenszugehörigkeit stattfindet612, betrifft sie den von Weber beschriebenen Protestanten in seinem alltäglichen Leben in der Gesellschaft613. Erstere spitzt sich mit Agamben auf eine Verneinung des materiellen Lebens zu614 und Letztere führt nach Weber zu einer Ansammlung materieller Güter615. Und doch geht es beiden Seiten, wie Weber aufzeigt, um eine rationale Überwindung der natürlichen Instinkte und der Natur insgesamt616. Es scheint als böte die Religion einen Rahmen, wie er bereits mittels Konzept und Vertrag angesprochen wurde, der den Menschen dazu befähigt, zu einem rationalen Verständnis gegenüber sich selbst und der Welt zu gelangen617. Askese

rung seines Ruhms. Zeitverschwendung ist also die erste und prinzipiell schwerste aller Sünden.“ Weber 2010, S. 183. 608 Weber 2010, S. 157. 609 Weber 2010, S. 157. 610 Siehe Weber 2010, S. 101. 611 Siehe Weber 2010, S. 186. 612 Siehe Agamben 2012, S. 42f. 613 Siehe Weber 2010, S. 155. 614 „Abdicatio iurus – und die mit ihr einhergehende Rückkehr zum Naturzustand vor dem Sündenfall – und Trennung von Eigentum und Gebrauch sind die Dispositive, derer sich die Franziskaner bedienten, um jenen Stand technisch zu definieren, den sie ,Armut‘ nannten.“ Agamben 2012, S. 155. Siehe auch ebd., S. 194. 615 Siehe Weber 2010, S. 65 und S. 193. 616 Siehe Weber 2010, S. 156. 617 Siehe 2.1 ‚Konzept und Vertrag‘, S. 47ff.

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dient dazu, rationale Verhaltensweisen einzuüben, in dem Sinne, dass jede Erkenntnis auf einer Übung von Techniken beruht618. Die asketische Welt führt zu Montanos ,Sinnbilder des Alltäglichen‘ und zu einem speziellen Umgang. „I believe that if life is hard and I choose to do something harder, then I can homeopathically balance the two difficulties.“ 619 Sie stellt sich dem ,alltäglichen Leben‘ in ihren Performances auf eine extreme Weise. Die daraus resultierende Intensität führt zu neuen Emotionen und zwingt sie, mit ihren emotionalen Abgründen umzugehen: „I didn‘t know how to be furious until I embraced my fear, which happened after I was tied with a rope to Tehching Hsieh [...]. That event uprooted rage and anger, which as a good Catholic girl, I had hidden.“620 Aber auch sich selbst zu vergessen und in der Situation und im anderen aufzugehen: „By staying tied to Tehching Hsieh [...] I died a little every day, learning humility and collaboration.“621 Nicht nur die genaue Ausarbeitung durch Konzept und Vertrag, sondern auch die Performances selbst, sind für Montano ein intensiver emotionaler sowie geistiger Prozess, der sich durch die Verinnerlichung von Erfahrungen äußert622. Und so trifft auch Foucault eine Unterscheidung zwischen „Übungen [...] die realiter ausgeführt werden und im Wesentlichen in der Einübung von Ausdauer und Enthaltsamkeit bestehen, und solchen, die im Einüben in Gedanken und durch das Denken bestehen“623, die von der Askese auf das Schaffen Montanos übertragen werden kann. Montanos Performances kennzeichnet kein äußeres Martyrium, das sich im Zufügen von körperlichem Schmerz äußert. Erst mittels der schriftlichen Ausarbeitung ihres persönlichen Umgangs mit Theorie und Praxis, ihrer Performances sowie durch Interviews, werden ihre Emotionen öffentlich624. Über ihre Theorie

618 Siehe 2.3.5 ,Entbehrung als Selbsterkenntnis und Sorge‘, S. 114, bzw. Foucault 2007, S. 309. 619 Grey/Grey/Montano 2005, S. 43. 620 Sorkin/Montano 2005, S. 66. 621 Siehe Montano 2005, S. 245. 622 Diese Vorgehensweise der Verbindung von Theorie und Praxis ist auch für den Buddhismus bedeutend. Siehe 2.2.1 ,Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst‘, S. 75f. 623 Foucault 2007, S. 133. 624 Heartney vergleicht Montanos Performances mit Acconcis und Burdens wie folgt: „While such performances did not involve the possibility of bodily harm or physical pain inherent in many of Acconci and Burden‘s actions, their duration and strict rules certainly turned them into tests of endurance. From one perspective, this ap-

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erfahren wir, dass ihre Performances für sie höchste Konzentration, Aufopferung und Disziplin erfordern. Im Laufe ihres performativen Werdegangs wird für Montano immer mehr deutlich, dass ihre Kunst ein Weg für sie ist, ihr Potenzial auszunutzen – „One of the purposes of this piece is to stay awake – to wake myself up to my full potential.“625 – über sich hinauszugehen, weiter an sich zu arbeiten, das Leben zu einem ,Training‘ zu machen626. Sie stellt fest, dass sie ihre eigenen Emotionen unterdrückt und lernt, diese in ihren Performances auszuleben 627 . Als Konsequenz lockert sie in „Another 7 Years of Living Art or 14 Years of Living Art“628 die Regeln ihrer Performances und sucht sich im Leben mehr Emotion zuzugestehen. Dieses Mal beginnt sie mit dem Kopf und endet an der Wurzel629. Sie trägt die entsprechende einfarbige Kleidung, um sich selbst ihr Vorhaben in Erinnerung zu halten; jedoch sind sowohl das Sitzen in dem einfarbigen Raum als auch das Hören des Tons nicht mehr Pflicht. Die reine Vorstellung dessen reicht ihr aus. Insofern hat sie die letzten sieben Jahre derart verinnerlicht, dass sie sie anhand dieser Verinnerlichung noch einmal wiederholt 630 . Deshalb erscheint sie auch entweder physisch oder astral in der Chagall Kapelle der Vereinten Nationen „INSTALLING MYSELF AS A LIVING ART DONATION“631 und dokumentiert die Performance nur durch ein von ihr selbst aufgenommenes Foto in den ganzen sieben Jahren. Ihr ,Entschluss’, mehr Hilfe in Anspruch zu nehmen, führt zur immer weiteren Öffnung. Direkt nach Another 7

proach to art/life is in keeping with the ascetism and discipline which are parts of the Yoga training. But it also reflects Montano‘s interest in Catholicism and her early experience as a novitiate in a convent.“ Heartney 2004, S. 58. 625 Kussoy/Montano 2005, S. 164. 626 Siehe Kussoy/Montano 2005, S. 165. 627 Siehe Sorkin/Montano 2005, S. 66. 628 Montano 2005, S. 153. Siehe hierzu und zum folgenden Montano 2005, S. 26f. und Montano 2005, S. 166f. Another 7 Years of Living Art beginnt direkt nach 7 Years of Living Art. 629 „BEGINNING 1991 AT THE HEAD CENTER AND ENDING 1998 AT THE ROOT CENTER.“ Montano 2005, S. 166. 630 „After 7 Years of Living Art, Montano immediately began the performance again, making it into 14 Years of Living Art. During Another 7 Years of Living Art, Montano did the disciplines ‚internally' but externally wore the colored clothes again for seven years.“ Montano 2005, S. 166. 631 Montano 2005, S. 167.

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Years of Living Art gibt Linda Montano die Performance 21 Years of Living Art632 an andere Künstler weiter. Mit der Lockerung ihrer Regeln und mit ihnen ihrer Performances fällt wie Klein feststellt, auch Montanos Ziel performance art saint zu werden. „As she has stated often in both her writings and in interviews, she realizes that she is ‚not a perfect saint‘ – through enacting her attempts to become a saint, [...] Montano demonstrates the impossibility of ever attaining feminine perfection – either spiritual or corporeal. Her refusal to fix the meaning of her identity is reinforced by her use of different names […].”633

Angesichts dessen kommt die Frage auf, ob Linda Montano nun an ihrem Vorhaben gescheitert ist, insofern sie feststellen musste, nie heilig werden zu können, sie nicht nur entschieden hat, ihre eigenen Regeln zu brechen634 wann sie es will und für nötig hält, sondern sich immer weniger Regeln zu machen635 – oder, ob sie stattdessen einen Punkt erreicht hat, an dem sie ihre Regeln so sehr verinnerlicht hat, ohne explizit darauf verweisen zu müssen, beziehungsweise ohne äußere Disziplinierung auskommen zu können? In gewisser Hinsicht verliert die Performance damit einerseits an Konsequenz, denn die Übung der Ausdauer und Askese verlangt Selbstaufgabe und Disziplin, das Vorhaben durchzustehen. Auch wenn darin eine Form von Gewalt gegenüber dem eigenen Selbst ausgeübt wird, erscheint diese doch notwendig, um sich selbst zu überwinden und dabei neu zu erschaffen. Dazu gehören ebenfalls das Ertragen und die Bewältigung von seelischen und körperlichen Leiden, für die im – extremen Fall – die Märtyrer Montanos Vorbilder sind636. Sie stehen für sie auch für das Ideal der Heiligkeit, das sie selbst anstrebt637.

632 Siehe Montano 2005, S. 168. 633 Klein 2005, S. XiV. 634 Siehe Couillard/Montano 2005, S. 49 und Montano 2005, S. 25f. 635 Siehe Klein/Montano 2005, S. 11. 636 Für Beispiele von Märtyrer-Porträts, siehe das gleichnamige Buch herausgegeben von Weigel 2007. Dieses Buch beschäftigt sich mit der „Verbreitung von Märtyrerbildern und Deutungsmustern und deren offenkundige Wirkmächtigkeit in der Kulturgeschichte“; Weigel 2007, S. 17. 637 Siehe Montano 2005, S. 260 und Juno/Montano 1991, S. 55.

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„In the beginning it was about discipline. I had to do this, [...]. Then I found that the overall intentionality worked to incorporate my needs, and the disciplines were really my own ego struggling, pushing. So when I lightened up and stopped pushing so much and creating boundaries and formulas, the permission to live in the state of art loosened me up.”638

Trotz der Vereinbarungen und Verträge, die Montano mit sich und anderen schließt, bleibt für sie das Bewusstsein, sich im künstlerischen Prozess zu befinden, Freiheit zu empfinden auch gegenüber sich selbst, von Bedeutung. Regeln und Verträge erscheinen nur so lange den Zweck einer neuen Wirklichkeitsgestaltung zu erfüllen, wie sie nicht wieder am Ende zur Abschaffung dessen führen, für das sie eigentlich geschaffen wurden: die Freiheit. An Montanos Performance-Kunst wird deutlich, dass in der Vermischung von Kunst und Alltag nicht mehr genug Nebenrealität entsteht, um zu einer Heiligen zu werden: Der Alltag fordert immer wieder aufs Neue eine Anpassung an überraschende Lebensumstände. Das Besondere verlangt die Ausnahmezustände639, die im Widerspruch zum Alltäglichen stehen. Die Performances gewinnen womöglich auf diese Weise den Humor640 und die Ironie zurück, die es erlauben, mit dem Leben selbst überhaupt noch reflexiv umzugehen. Denn das Erstarren in Regeln scheint am Ende zu nichts anderem zu führen, als dass die neu erschaffene Realität, zu eben solch einer Realität wird, deren Regeln nicht mehr angefochten, sondern nur noch übernommen werden. Insofern ist das Scheitern, wie schon bei Camus deutlich wurde641, ein Gewinn und Teil der Übung selbst, auch wenn, beziehungsweise weil es bedeutet, immer neu anfangen zu müssen, die eigene Identität immer weiter zu entwickeln. „So one of the attitudes in my work is the gesture of the matyr, the suffering victim. […]. By making my attitude visible, I began to see how humorous it was especially since I often performed events that were on the line between pathos and humor. There was always that edge and it was supported by clothes (tapshoes, [...]) and actions [...]. Attitudinally, I

638 Couillard/Montano 2005, S. 49. 639 Dass zu solchen nicht nur, wie bei Freud deutlich wurde, eine ,Ambivalenz‘ gehört (siehe Freud 2005, S. 70.), sondern diese auch Gewalt und Gesetzeslosigkeit heraufbeschwören zeigt Agamben in Homo Sacer. Siehe Agamben 2002, S. 92f. 640 Zur Bedeutung des ,Humors‘ bei Montano, siehe Montano 1981 (The Story of my Life); Sorkin/Montano 2005, S. 66 und Montano 2005, S. 114. 641 Siehe 2.2.2 ,Umgang mit alltäglichen Mustern‘, S. 80ff.

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believe in great seriousness and devotion; and yet, in the intensity of that seriousness, there is humor.”642

Damit ist die Entwicklung von Montanos Performances Sinnbild für das Ringen, Leben – alltägliches Leben – und Kunst in eine für sie erträgliche und gewinnbringende Einheit zu bringen. Infrage stehen dabei die Mittel zur Selbstüberwindung und -bildung wie Disziplin, Ausdauer, Wiederholung, Ritual und Askese in Bezug auf ihre Eignung, nicht nur im Hinblick auf die alltäglichen Umstände und Widrigkeiten, sondern auch als restriktive Konstrukte und Stellvertreter für eine religiöse Moral, die lediglich eine Transformation in eine bestimmte Richtung vorsehen. Selbst diese haben im Laufe der Geschichte derartige Veränderungen erlebt, dass weder das Phänomen Religion selbst noch die dazugehörigen Formen und Praktiken, die in der Heiligkeit gipfeln, genau gefasst werden könnten. Und so stellt sich die Frage, was die Vorstellung des Heiligen in der Moderne noch bieten kann? Gehen wir davon aus, dass ,Ideale‘ den Menschen in seinem Denken und Handeln beeinflussen, weshalb er immer einer Form des Idealtypus von Mensch, wie James es formuliert, dem „saint‘s type, and the knight‘s or gentleman‘s type“643 nacheifert, können ihm diese als eine Art Fixpunkt zur Orientierung dienen. Ein Fehler erscheint jedoch dabei, diese Ideale in ihrem Inhalt als unveränderlich zu verstehen, denn wie uns die ,empirische Philosophie‘ nach James lehrt: „all ideals are matters of relation“644 und dem ,Wert‘ der ihnen jeweils zugewiesen wird645. In seiner Untersuchung kommt James in Bezug auf die Bedeutung des Heiligen zu dem Schluss: „Economically, the saintly group of qualities is indispensable to the world‘s welfare. The great saints are immediate successes; the smaller ones are at least heralds and harbingers, and they may be leavens also, of a better mundane order.”646

Ideale, so kann mit James geschlossen werden, helfen dem Menschen, in der Gesellschaft zu leben und sich für sie und in ihr einzubringen. Auf diese Weise

642 Montano/Ingber 1981. 643 James 1985, S. 374. 644 James 1985, S. 374. 645 Siehe 2.3.2 ,Besondere Form des Handelns und des Vorstellens‘, S. 105. 646 James 1985, S. 377.

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kann an den gesellschaftlichen Nutzen der Religion, wie ihn Durkheim schon bei ,primitiven Kulturen‘ anzutreffen glaubt, angeknüpft werden647. Religion, Philosophie und Kunst haben und das wurde im Laufe dieses Kapitels deutlich, eines gemeinsam: den Versuch einer Ausarbeitung einer Lebenskunst648. Jede auf die ihre eigene Weise. „Entscheidend ist die Kunst, mit der man die Wahrheit über sich selbst einsetzt, um das zu tun, was man tut, und das zu sein, was man ist. Eine Kunst seiner selbst, die das genaue Gegenteil des eigenen Selbst wäre. Das eigene Sein zu einem Kunstwerk machen, das ist wirklich der Mühe wert.“649

Dieses von Foucault genannte Risiko der Konfrontation dessen, was sie ist und was sie nicht ist, geht Montano in ihren Performances ein650. Insofern handelt es sich bei ihren Performances um eine Übung sowie ein Ausprobieren, das jedoch mit diszipliniertem Ansporn betrieben wird. Für sie wird die Performance dadurch nicht nur zur „permission to be alive“651, weil es ihr durch sie gelingt, dem Leben einen tieferliegenden Sinn zu geben, sondern zur Möglichkeit, spielerisch, im Sinne von ,ohne Gefahr und Angst‘, mit dem Leben umzugehen – sowohl in seinen alltäglichen Abläufen mit allen menschlichen Beziehungen als auch in seiner letzten Konsequenz: dem Tod. Während das Attribut der Unterhaltung bei Schechner auf eine Form der Performance mit Publikum abzielt652, erscheint das von Durkheim beschriebene Ri-

647 Siehe 2.3.2 ,Besondere Form des Handelns und des Vorstellens‘, S. 105f. 648 „Insofern ist das Kloster der Ort, wo zum ersten Mal das Leben selbst – und nicht nur die asketischen Techniken, die es formen und ausrichten – als Kunst praktiziert wurde. Es wäre jedoch falsch, diesen Vergleich mit der Kunst als Ästhetisierung der Existenz zu verstehen. Er deutet vielmehr auf das hin, was Michel Foucault in seinen späten Schriften vorgeschwebt zu haben scheint: ein durch unablässige Praxis bestimmtes Leben.“ Agamben 2012, S. 54f. 649 Foucault 2007, S. 112. 650 Darauf verweist die Bedeutung der von ihr geschaffenen Charakteren auch für die 7 Years of Living Art Performance, Siehe 2.2.1 ‚Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Theorie und Praxis in Kunst‘, S. 78. Bzw. Kussoy/Montano 2005, S. 162. Siehe zu dieser Bedeutung der Identität bei Montano auch das Zitat von Klein weiter oben im Text (S. 105). 651 Montano 2005, S. 257. 652 Siehe Schechner 2006, S. 76.

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tual in diesem Zusammenhang zu sehr von religiös-gesellschaftlicher Vorstellung geprägt653, als dass es im Zusammenhang mit Montano als ausreichend verstanden werden könnte. Dennoch verweisen beide auf ein wesentliches Element der Erbauung, da trotz des hohen energetischen Aufwands, wie er von Montano beschrieben wird, das Ritual eine Art des ,erlösenden Rauschs‘ beinhaltet 654 . Vielleicht kann in der Weiterführung der Begriffe Ritual, Askese und Heiligkeit das verstanden werden, was Eliade als Fortbestehen des Religiösen trotz des ,Verschwindens von Religionen‘ andeutet655. Der Verweis auf sie und ihre Inhalte birgt auch weiterhin einen religiösen Zusammenhang, selbst wenn diese auf andere und nicht mehr explizite Weise verstanden werden, wie auch das Beispiel des Sisyphos bei Camus gezeigt hat656. Letztlich kann ihnen ihr Ursprung nicht genommen werden, sei dieser für folgende Generationen auch immer schwerer nachvollziehbar, verlieren sie womöglich gerade dadurch nicht ihren Reiz und ihre eigene Form oder Möglichkeit von Wahrheit. Das Erreichen des Status Performance-Art-Saint ist sowohl für Montanos Schaffen selbst als auch im Hinblick auf die Unmöglichkeit der Definition des Status nicht relevant657. Wert erlangt auch das Heilige dadurch, dass andere ihm diesen Wert zuweisen, weshalb der Begriff immer wieder neue Formen von Bedeutung erhält658. Und doch kann zumindest so viel zu Montanos Vorstellung von Heiligkeit gesagt werden, dass es ihr nicht darum geht, dass einzelne Menschen für andere Heilige werden und damit die Welt weiterhin in Opfer und Tä-

653 Siehe 2.3.2 ‚Besondere Form des Handelns und des Vorstellens‘, S. 105. 654 „Rausch, [...], gilt als konstitutiver Teil des Festes bzw. des Rituals.“ Köpping/Rao 2000, S. 4. 655 Siehe 2.3.2 ,Besondere Form des Handelns und des Vorstellens‘, S. 105. 656 Siehe 2.2.2 ,Umgang mit alltäglichen Mustern‘, S. 80ff. 657 In Bezug auf das Heilige und den Katholizismus in der Performance Kunst schreibt Heartney: „I do not mean to argue here that contemporary twentieth century endurance artists are deliberately mimicking the trials of the saints which, of course, were undertaken for quite different purposes. The point is that Catholicism provided an imaginative structure which artists from Catholic backgrounds have been able to exploit for their own ends. And, in keeping with the atmosphere of social experimentation which permeated the 1960s and `70s, these ends involved a radical breakdown of the distance between audience and artist through self-inflicted pain or body based ritualistic activity which simulated the Catholic believer‘s submission to Christ or to the Christian community.“ Heartney 2004, S. 47. 658 Siehe 2.3.3 ‚Das Heilige‘, S. 108f.

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ter, in Retter und Gerettete, Zuschauer und Performer unterschieden wird. Montano übernimmt aktiv die Verantwortung sowohl für ihre Kunst als auch für ihr Leben. Die Verinnerlichung des Publikums, der Übung, der Askese und des Rituals in der Entwicklung von Montanos Performances sind Zeichen einer Form der Läuterung, über deren Gelingen und Misslingen kein Urteil zu fällen ist. Von Bedeutung ist womöglich lediglich das Streben nach einer Lebensform, die mittels eines immer wieder auszudefinierenden Ethos sich immer wieder auf unterschiedliche Situationen einstellt659 – Beispiel für ein solches Leben zu sein, auch wenn Schwerpunktlegungen, Interessen und künstlerische Ausarbeitung die Individualität der Künstlerin Linda Montano aufweisen und nicht allgemein übertragbar sind. Ihre Kunst ist Sinnbild ihres eigenen ,Lebens‘ mit all seinen Wünschen, Hoffnungen und Defiziten, die jedoch als Tatsache selbst das Leben jedes Menschen betreffen. Anhand von Übergangsriten, aufgrund von Verlusten geliebter Menschen, dem Umgang mit Arbeit und Freunden, dem eigenen Körper und den eigenen Fehlern – vor allem aber der Versuch mehr zu sein, als man sich zutraut/man zu sein glaubt – ein anderer Mensch zu sein, sich über die vermeintlichen geglaubten eigenen Grenzen hinwegzusetzen. Die Weitergabe ihrer 7 Years of Living Art Performance an andere Künstler ist Sinnbild Montanos Öffnung Richtung Welt. Am Ende verweist ihr Werk auf uns selbst, denn von dieser Vermischung von Kunst und Leben ist es nur ein kleiner Schritt zur Theorie „that everyone is becoming a performance artist.“660

659 So kommt selbst Heathfield im Bezug auf Hsieh, der sein Werk selbst als frei von Religiösem bezeichnet (siehe Montano 2005, S. 44), zu dem Schluss: „In sum, the work figures art as a way of being, as an ethical practice, but one whose ethos is non-programmatic and non-transcendent, whilst it echoes and corresponds with fragments of many existing ethical systems of belief.“ Heathfield/Hsieh 2009, S. 28. 660 Robinson/Montano 2005, S. 36.

3. Ich und Anderer (Genesis P-Orridge)

Der Mensch wird in eine familiäre und gesellschaftliche Situation geboren, angesichts der sich das Selbst um Selbst zu sein, wie im ersten Kapitel mit Heidegger deutlich wurde, für eigene Möglichkeiten des „Seinkönnens“1 entscheiden muss. Auf unterschiedliche Weise steht das Ich in Beziehung zu Anderen, sowohl durch verinnerlichte Erwartungen und Normen als auch direkt im Hinblick auf seine Handlungen und Verhaltensweisen gegenüber Anderen. Um diese verschiedenen Austauschverhältnisse zwischen Ich und Anderem darzustellen, Möglichkeiten des Ich aufzuzeigen, zu sich und seinen eigenen Bedürfnissen zu finden und zu einer eigenbestimmten Identität zu gelangen, soll die Verbindung von Kunst und Leben des Kunstcharakters Genesis P-Orridge untersucht werden2. In diesem Kapitel werden sowohl Themen aus dem ersten Kapitel weiterentwickelt, als auch in einem anderen Kontext herausgestellt. Dies betrifft die Normierung der Gesellschaft, die bei Montano in Form von Verträgen thematisiert wurde und denen gegenüber sie ihre eigenen Regeln und Verträge gesetzt hat3. P-Orridges Versuch, eine Gemeinschaft, den Temple ov Psychick Youth, zu etablieren, macht es notwendig, eine solche auf eigenen Regeln basierende Gemeinschaft der Gesellschaft gegenüberzustellen, als auch die Möglichkeiten einer grundlegenden Form des Mit(-Anderen)-Seins näher zu betrachten4. Für die-

1

Heidegger 2006, S. 145. Siehe auch ebd., S. 129, bzw. 2.1.3 ‚Die Möglichkeit der

2

„art character Genesis P-Orridge“; Tessitore/P-Orridge 2002, S. 139. Siehe Zitat auf

3

Siehe 2.1 ‚Konzept und Vertrag‘, S. 47ff.; 2.1.4 ‚Regeln für das Zusammenleben‘, S.

4

Siehe 3.2 ‚Gemeinschaft als Kunstform‘, S. 179ff.

,individuellen‘ Entscheidung’, S. 54ff. der folgenden Seite in diesem Text. 59ff. und 2.1.5 ‚Verträge in der Performance-Kunst‘, S. 61ff.

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se Form der Gemeinschaft, wird sich unter anderem wieder das Religiöse nicht nur als gesellschafts-, sondern auch als gemeinschaftsbildend erweisen. Aber auch Fragen in Bezug auf individuelle Möglichkeiten der Identitätsbildung gegenüber von der Gesellschaft gezogenen Grenzen werden gestellt werden5. Während Montano insbesondere durch eine Verbindung religiöser Theorien und therapeutischen Praktiken zu einer Form der künstlerischen Selbstsorge und Lebensgestaltung zu gelangen sucht 6, verbinden sich bei P-Orridge spirituelle und künstlerische Praktiken, die er von seinen Vorbildern übernimmt und weiterentwickelt. Auch therapeutische Maßnahmen am eigenen Selbst kehren thematisch bei P-Orridge zur Identitätsstiftung wieder, die ihre Verbreitung in einer Gemeinschaft finden7. Mit Montano wurde bereits die Grundlage zu einem Übergang vom Glauben an die Regeln der Religion zur eigenbestimmten Wertung gelegt 8 , die in der Verneinung von Dogmen bei P-Orridge ihren Fortgang findet. Wie Montano bedient sich P-Orridge dem Ritual als bewusstseinserweiternder Praxis gegenüber dem eigenen Ich, und auch bei ihm kann, wenn nicht von religiöser Askese, so doch von einer Lebenspraxis gesprochen werden, die die bedeutende Übung der Vergegenwärtigung des Todes mit einschließt. Über diese kulturellen Techniken, die dem Menschen als seiner Natur näher erscheinen, hinaus scheut sich POrridge nicht, die Grenzen der eigenen Selbstgestaltung durch körperliche chirurgische Eingriffe auszuweiten9. Und so spielt auch der Begriff der Freiheit eine veränderte Rolle. Stehen Konzept und Vertrag bei Montano für die aktive Erschaffung eigen definierter Grenzen, wird in diesem Kapitel die Freiheit in ihrer grundlegenden dem Menschen auch als Verantwortung erscheinenden Bedeutung sowohl in Bezug auf sich selbst als auch auf Andere thematisiert werden10. Seine künstlerische Karriere beginnt Genesis P-Orridge mit dem Akt einer Selbstgeburt.

5

Siehe 3.1 ‚Neuerschaffung des Selbst‘ S. 149ff. und 3.1.7 ‚Individualität und Gemein-

6

Siehe 2.1.2 ‚Sorge‘, S. 53f .

7

Siehe 3.1.4 ‚Suche nach den eigenen Bedürfnissen und der eigenen Identität‘, S.

8

Siehe 2.1.6 ‚Rahmen und Werte‘, S. 65ff.

9

Siehe 3.3.3 ‚Überschreiten der Geschlechtergrenzen‘, S. 219.

schaftsdenken‘, S. 174ff.

162ff. und 3.2.3 ‚Anleitungen und Rituale‘, S. 187ff.

10 Siehe 2.1.4 ‚Regeln für das Zusammenleben‘, S. 59ff. und 2.1.5 ‚Verträge in der Performance Kunst‘, S. 61ff. und 3.1.2 ‚Die Freiheit des Menschen‘, S. 155ff.

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„In 1965 Neil Megson decided to create an art character Genesis P-Orridge, or to at least accept that character, and instead of having it be a contrived idea, that was very much about gallery art. I decided that I would completely immerse myself in Genesis P-Orridge, and then place GPO into art and popular culture to see what would happen. In a sense, all of my art has been the diary of GPO.”11

Durch die Erschaffung der Künstlerpersönlichkeit mit dem Namen Genesis POrridge setzt Neil Megson eine eigene Geschichte in Gang. Diese ‚Autobiografie‘ ist nicht von ihm zuvor geschrieben, um diesem Charakter konkrete Handlungen vollziehen zu lassen, auch wenn Neil Megson zu Beginn als eine Art „puppet master“12 desselben agiert, Genesis P-Orridge nutzt, um künstlerisch tätig zu sein. Im Laufe dieses Prozesses verliert die Identität Neil Megson, die als auf fremdbestimmten Erinnerungen und Vorstellungen basierend erscheint, immer mehr an Bedeutung13. In Verbindung steht dieser Werdegang Neil Megsons – Genesis P-Orridges – mit dessen Vorstellung der Bedeutung von Erinnerung für die Identität. „Our very first ‚memories‘ are hand-me-downs from other people. [...]. We are edited bloodlines seeking an identity with only partial data and unknown motivation and expectation.“ 14 Insofern für P-Orridge sowohl die Erwartungshaltung des Umfelds als auch deren Erinnerung an die eigene Kindheit maßgebend für die Entwicklung von Identität ist, sucht er ab 1967 nach Möglichkeiten diesen Einflüssen zu entgehen und findet sie in der Magie15.

11 Tessitore/P-Orridge 2002, S. 139. 12 Tessitore/P-Orridge 2002, S. 139. 13 Siehe Tessitore/P-Orridge 2002, S. 139f. 14 Breyer P-Orridge 2009, S. 275. 15 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 276. Bei der hier verwendeten und zitierten Version der Psychick Bible, handelt es sich um die zweite, erweiterte Auflage. Die erste Auflage stammt aus dem Jahr 1994. „This book is a result and was thirty y-eras in the constructing. […]. Thee ‚Psychick Bible’ is a result of co-operation and shared dreams, hopes and dynamic imagination.“ Breyer P-Orridge 2009, n.p. Obwohl es sich um die Kollektivarbeit einzelner Tempelmitglieder handelt, werden die Beiträge Breyer P-Orridges ohne den Zusatz eines kleinen Buchstaben gekennzeichnet, da hier, bis auf eine Ausnahme, lediglich Texte verwendet werden, die er alleine oder in Kollaboration mit Anderen geschrieben hat. Es sei darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Namen ‚Breyer‘ um den Familiennamen von Genesis P-Orridges Frau Lady Jaye (✝ 2007) handelt. In der Psychick Bible, werden alle Texte unter dem Namen Genesis

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„Magick is by one definition [...] the science of making things happen according to your desires in order to maximize control over one‘s life and immediate environment to create a universe that is perfecting in its kindness towards you.”16

Die Magie wird P-Orridges Vehikel, ein Leben nach den eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen zu führen. Seine magische Praxis findet er trotz des Einflusses von Spare und Crowley vor allem in der Cut-Up Technik Gysins und Burroughs17. „Further, if all we imagine as reality is equivalent to a recording, then we become empowered to edit, re-arrange, re-contextualize and re-project by cutting-up and re-assembling our own reality and, potentially, the reality of others.“18 In der Cut-Up Technik als magische Methode, sieht P-Orridge die Möglichkeit, Fragmente aus eigener Identität und Geschichte mit der von Anderen zu verbinden – neu zu kontextualisieren. Angesichts dessen ist für ihn seine eigene Identität Sinnbild für die Vereinigung unterschiedlicher Identitäten und Geschichten. „You know, sometimes someone for whatever reason happens to be chosen to represent a collective metaphor, as a person. That’s why I chose a fictional character, Genesis P-Orridge, in the first place.“19 Mit dem Erschaffen von Genesis P-Orridge ist für Neil Megson von Beginn an nicht nur die Idee verbunden, neue Möglichkeiten für das eigene Ich zu entwickeln und zu eröffnen, sondern auch diese neue Person in den Rahmen des Kollektiven zu stellen20. Es geht

Breyer P-Orridge angegeben. Und dennoch ist in den ersten beiden Kapiteln, die sich mit der Zeit vor ihrer Beziehung und Ehe beschäftigen, von P-Orridge die Rede. 16 Breyer P-Orridge 2009, S. 277. Das Wort ,Magic‘ wird von P-Orridge ,Magick‘ geschrieben. Deshalb wurde es nicht mit ‚[sic!]’ gekennzeichnet. P-Orridge besitzt einen eigenen Umgang mit Schrift und Sprache, derart, dass er einige Wörter für sich umbildet. So schreibt er zum Beispiel statt ,but’ „butter“ (Breyer P-Orridge 2009, S. 97.). Im Folgenden wird deshalb nicht mehr explizit darauf hingewiesen. 17 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 278. 18 Breyer P-Orridge 2009, S. 288. 19 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2010/10/douglas-rushkoff-and-genesis-porridge.html?zx=b40322ff019d35c7. 20 Diese Tatsache wirft sowohl die grundlegende Frage nach der möglichen Authentizität des Menschen selbst auf als auch die Auswirkungen die diese teilweise virtuellen Anderen in Form des Archivs auf den Kunstcharakter P-Orridge haben. Und so schließt Bachmann in einer Gegenüberstellung von Derridas Philosophie in Zusammenhang mit filmischen Auftritten desselben: „This sincerity is constantly ailleurs, displaced to a familiar elsewhere, […] [. S]pectral sincerity relates to a ‚faith-

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dabei nicht lediglich darum ,das Neue‘/eine ,neue Person‘ zu erschaffen, sondern vielmehr dadurch selbst zu ,Fragmenten‘ und ,Bruchstücken‘ aus Ich und Anderem zu werden21. Bewusst entscheidet sich P-Orridge für das Selbstgebären und verweist damit auf die angestrebte Neugeburt der Avantgardisten22. Aber während die Avantgardisten einerseits ihre eigene Originalität zu beteuern suchen, sie sich andererseits selbst zum einen mit der primitiven Kunst und zum anderen mittels Zyklus und Mythos in einen geschichtlichen Kontext stellen, ist POrridges Schaffen bewusst und ausdrücklich mit Einflüssen unterschiedlicher Vorbilder und Gemeinschaften verbunden.

3.0.1 Vorbilder Künstler, Magier und Musiker nehmen als Vorbilder in P-Orridges Leben und Schaffen eine bedeutende Rolle ein. P-Orridge setzt sich sowohl dem Kulturellen, Allgemeinen als auch dem direkten Einfluss beziehungsweise der Inspiration durch andere Menschen aus. Dies ist nicht nur für seine Vorstellung von künstlerischer Zusammenarbeit von Bedeutung23, sondern darin kommt für ihn eine wichtige Lektion für das Leben des modernen Menschen zum Ausdruck: „It’s also just being modern. There’s the old way, which is all about individual ego, individual power, individual self-gratification and so on. It‘s over. Just geographically, there’s too many people now. You’ve GOT to learn to get on with each other.”24

ful representation’ of the division ‚in one’s heart,’ exposing the discontinuities of self. Through spectral sincerity, one authorizes his or her self–as well as the discourse associated with it–as open and hospitable toward the haunting of the unpredictable other.“ Bachmann 2009, S. 229. 21 Zu einer Verbindung von Fragmentierung und Theaterpraxis, siehe Bosse 2009. Und für eine theoretische Annäherung zwischen Fragment und Theater, siehe Primavesi 2009. 22 Siehe 2.1.6 ‚Säkularer Kontext der Moderne und Rückbindung an den Mythos‘, S. 92. 23 Siehe http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2010/10/douglas-rushkoff-and-genesis-p-orridge.html?zx=b40322ff019d35c7. 24 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2010/10/douglas-rushkoff-and-genesis-porridge.html?zx=b40322ff019d35c7.

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Seine Faszination für Brian Jones (ehemaliges Bandmitglied der Rolling Stones, ✝ 1969 25 ), zeugt von seinem frühen Interesse an Androgynie 26 . Mittels der Schriften von Austin Osman Spare entwickelt P-Orridge sein Interesse an Sexualität durch die Praktizierung der Sigils weiter27. Er beschäftigt sich mit dem Liber al vel Legis von Crowley, in dem er das „There is no law beyond Do what thou wilt“28 zum satanistischen Grundsatz erklärt29. Von Bedeutung ist allerdings auch die Popkultur und mit ihr, vor allem Andy Warhol. „I had also been thinking about celebrity, how Andy Warhol had turned fame into a new artistic medium, upping the cultural ante by making a ‚star‘ merely a stage, and inventing a new word for the next stage with ‚superstar‘.“30 P-Orridge prägt im Anschluss den Begriff „godstar“31 und wird zu einem Lied für Brian Jones inspiriert. Darüber hinaus gewinnt der Begriff Einfluss auf die Erschaffung des Kunstcharakters P-Orridge selbst. „Neil Megson thought he could make an artwork that was an extension of Andy Warhol‘s idea of the superstar and create consciously a character as an art piece, which was Genesis POrridge.“32 In diesem Zusammenhang steht die Bedeutung, die Warhol als Persönlichkeit gegenüber seinem Werk gewinnt. Bei einer Ausstellungseröffnung in Philadelphia im Jahr 1965 werden die Bilder aufgrund des großen Andrangs von Menschen von den Wänden genommen33. Als die Menschenmenge Andy Warhol und Edie Sedgewick sieht, begrüßen sie die beiden wie Pop- beziehungsweise Superstars34. „I wondered what it was that had made all those people scream. I‘d seen kids scream over Elvis and the Beatles and the Stones – rock idols and movie stars – but it was incredible to

25 Breyer P-Orridge 2009, S. 309. 26 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 302. 27 Siehe Spare 2013, S. 215ff. In Das Buch der Freude (Selbstliebe) entwickelt Spare seine Theorie des ,Kiā‘. Siehe Spare 2013, S. 165ff. 28 Crowley 1993, S. 72. Siehe auch Crowley 1993, S. 22. 29 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 243ff. 30 Breyer P-Orridge 2009, S. 312. 31 Breyer P-Orridge 2009, S. 312. 32 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html. 33 Siehe Warhol/Hackett 2007, S. 166. 34 Siehe Warhol/Hackett 2007, S. 167.

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think of it happening at an art opening. [...]. But then, we weren‘t just at the art exhibit – we were the art exhibit, we were the art incarnate and the sixties were really about people, not about what they did [...].“35

Warhol versteht diese Entwicklung und Reaktion des Publikums nicht nur als persönliche Glorifizierung seiner Person, sondern ordnet sie als Phänomen seiner Zeit ein, den Künstler über dessen Werk zu stellen. Besonderen Einfluss auf P-Orridge haben William S. Burroughs und Brion Gysin, da sich über die künstlerische Inspiration hinaus auch ein persönlicher Kontakt zu den beiden entwickelt. So erklärt P-Orridge die von ihnen geprägte Cut-Up-Methode zu seiner eigenen magischen Methode36 und lernt Burroughs 197337 und Gysin in den Jahren 1980/198138 kennen. Inspiriert von Burroughs entwickelt Gysin im Jahr 1959 die Cut-Up Metho39 de , die wiederum Burroughs für seine literarischen Werke übernimmt40. Gysin sieht sie als notwendige Weiterentwicklung, als eine Überführung der Collage von der Bildkunst in die Literatur. „While cutting a mount for a drawing in room #25, I sliced through a pile of newspapers with my Stanley blade and thought of what I had said to Burroughs some six months earlier about the necessity for turning painters‘ techniques directly onto writing. I picked up the raw words and began to piece together texts which later appeared as ‚First Cut Ups‘ in Minutes to Go.”41

Für Burroughs macht das Cut-Up lediglich explizit, was dem schriftstellerischen Prozess und dessen Produkt bereits grundlegend inhärent ist. „The best writing seems to be done almost by accident but writers until the cut-up method was made explicit – all writing is in fact cut-ups [...].“42 Und dennoch geht es auch

35 Warhol/Hackett 2007, S. 168. 36 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 288, bzw. 3. ‚Ich und Anderer’, S. 132. 37 Siehe Vale/P-Orridge 1982, S. 69. 38 P-Orridge nennt im Interview mit Vale zwar keine Jahreszahl, aber vermutet, dass er Gysin ein Jahr vor dem Interview kenngelernt hat. Siehe Vale/P-Orridge 1982, S. 71. 39 Siehe Gysin 1973, S. 3f. 40 Siehe Burroughs 1979, S. 29f. Und Breyer P-Orridge 2009, S. 284. 41 Gysin 1973, S. 4. 42 Burroughs 1979, S. 29.

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darum, Zufall – „spontaneity“43, in das Werk einfließen zu lassen, ohne dass dieser Effekt bewusst erzwungen wird. Burroughs wird mit dem Cut-Up durch Romane wie Naked Lunch44 berühmt, während Gysin weder als Autor noch mit seinem bildkünstlerischen Schaffen zu Lebzeiten Anerkennung erlangt45. In seinem künstlerischen Leben übernimmt P-Orridge darüber hinaus die von Burroughs und Gysin gelehrte Formel, die Techniken seiner Zeit zu verwenden, wie es die Alchemisten getan haben46. „[I]n order to be an effective and practicing magician in contemporary times one must utilize the most practical and cutting-edge technology and theories of the era.“ 47 Er begreift sich selbst als „Cultural Engineer“48, der immer nach neuen Mitteln und Wegen sucht, mittels der Kunst zu einer allumfassenden Transformation zu gelangen. „The whole premise of cultural engineering is not to consider one’s self smart or unique or special if one comes up with something that is relevant, so much as it is just to observe the culture and try to see the trends and indications of how things are unfolding and then try to point them out.”49

3.0.2 Gemeinschaften Der Kontext der Gemeinschaften, in dem der Temple ov Psychick Youth steht, beginnt in den sechziger Jahren. Die Geschichte der Manson Family von 1967 bis zu ihrem Ende im Jahr 196950, in der die Mitglieder nach grausamen Morden verhaftet wurden, kann als weitgehend bekannt vorausgesetzt werden51. Sie ist in ihrer als widersprüchlich erscheinenden Faszination auf folgende Generationen von Bedeutung, bei der es nach Bugliosi nicht um Opferzahlen, sondern die Kombination von Elementen geht „to make Manson perhaps the most

43 Burroughs 1979, S. 29. 44 Burroughs 2010. 45 Siehe Savage/Gysin 1982, S. 52f. und Vale/P-Orridge 1982, S. 71. 46 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 293. 47 Breyer P-Orridge 2009, S. 293. 48 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 283 und Brother Words 2009, S. 389. 49 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2010/10/douglas-rushkoff-and-genesis-porridge.html?zx=b40322ff019d35c7. 50 Siehe Sanders 2002, S. 12ff. und S. 297. 51 Für weitere Informationen zur Manson Family siehe Sanders 2002 und Bugliosi 1994.

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frightening mass murderer and these murders perhaps the most bizarre in American history.“52 Von Vale über die Bedeutung Mansons und seines Einflusses befragt, antwortet P-Orridge: „The philosophy is what‘s interesting – the view of the world of anybody is interesting. [...]. You could see how people could really get into a trip that became more and more kind of a fantasy life. I cannot honestly condemn exactly, condemn completely even what happened at the end – although obviously I wouldn‘t have been very pleased if it was me! I think there was an argument for that kind of activity to become inevitable by somebody... they were an instrument of fate, in that sense. [...]. But really, it‘s not that interesting to discuss the events of 1969 anymore. It‘s just part of America...“53

Für P-Orridge ist das grundlegende Interesse an Weltanschauungen unterschiedlicher Menschen ausschlaggebend, die seiner Meinung nach auch durch gesellschaftliche Voraussetzungen befördert werden. Derart kommt auch dem Mann ohne Eigenschaften gegenüber dem Lustmörder Moosbrugger in den Sinn: „[W]enn die Menschheit als Ganzes träumen könnte, müßte Moosbrugger entstehen.“54 Dennoch sucht P-Orridge die weitere Beschäftigung und Ausbeutung der Thematik zu vermeiden und begreift die Ereignisse als ‚Teil der Geschichte Amerikas‘. Vielleicht geht es, wie Sloterdijk meint, darum zu archivieren, was verboten 55 ist . Seine Vorstellung des Archivs liegt nicht in der Bewahrung „normativer Werke“, sondern es besitzt eine „neue Funktion als Endstation für Singularitäten, das heißt, als Ablage für nicht anschlußfähige und nicht zu wiederholende Produktionen.“56 Wenngleich dies die Frage aufwirft, ob ein Archiv als statisch aufgefasst werden kann, wenn mit Groys Prozesse der Auf-und Abwertung stattfinden57 und Foucault der Ansicht ist, dass die Grenzen des Archivs nicht gezogen werden können58. Dennoch stellt Bugliosi 1994 fest:

52 Bugliosi 1994, S. 626. 53 Vale/P-Orridge 1982, S. 68. 54 Musil 1978, S. 76. 55 Siehe Sloterdijk 2011, S. 673. 56 Sloterdijk 2011, S. 674. 57 Siehe Groys 2004, S. 63. 58 Siehe Foucault 1981, S. 189.

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„Although Manson, today, has far more supporters and sympathizers than ever were members of his Family, I know of no group at the present time, in or out of prison, calling themselves the Manson Family and trying to keep the flame alive.”59

The Process Church of the Final Judgement wird 1966 von einem Ehepaar, Mary Ann McLean und Robert de Grimston, Scientology Aussteigern, in London gegründet. In den folgenden Jahren werden mehrere Kirchen vor allem in Amerika, aber auch unter anderem in Deutschland eröffnet. Bereits vor der Gründung entwickeln Mary Ann und Robert basierend auf dem ,E-Meter‘ von Scientology, beziehungsweise deren Gründer L. Hubbard, ihr eigenes ,Psychotherapie System‘60, das sie „Compulsions Analysis“61 nennen62. Den EMeter nutzen sie in erster Linie, um in Einzelsitzungen unbewusste Bedürfnisse und Wünsche aus ihren ,Versuchsobjekten‘ zu locken. Wyllie, ehemaliges Mitglied der Sekte, beschreibt diese Versuche in den Anfängen wie folgt: „The sessions with Robert and Mary Ann were proving to be so effective at releasing our everyday problems and pressures in the light of the deeper issues that we inevitably started touching on previous lifetimes.“ 63 Was als Gemeinschaft mit psychotherapeutischem System beginnt, entwickelt sich später weiter zur Kirche, mit einer eigenen Theologie, die die Vorstellung von drei Göttern beinhaltet: „Jehovah, Lucifer and Satan“64. Angesichts der zeitlichen Parallele und Schwerpunktlegung der Ideen wurde eine Verbindung der Process Church – vor allem durch Sanders – zur Manson Familiy hergestellt, die jedoch laut Untersuchungen des Staatsanwalts Bugliosi nicht nachgewiesen werden kann65. In der Process Church kommt es des Weiteren nicht zu einer strafrechtlichen Verfolgung 66 .

59 Bugliosi 1994, S. 661. 60 Siehe Wyllie 2009, S. 24. 61 Wyllie 2009, S. 29. 62 Ab 1966 verwenden sie ihr eigenes Gerät den „P-Scope“ (Wyllie 2009, S. 48.), um letztlich vollständig von Maschinen abzusehen und auf ihre natürlichen Fähigkeiten zu setzen. (Siehe ebd.) 63 Wyllie 2009, S. 28. 64 Wyllie 2009, S. 54. 65 Siehe Wyllie 2009, S. 63 und siehe Bugliosi 1994, S. 610f. 66 Auch wenn ihre Mitglieder sich an eigene körperliche und seelische Grenzen führen liessen, allerdings alt genug waren ihre eigenen Entscheidungen zu treffen (Siehe Wyllie 2009, S. 45, S. 51 und S. 59ff). Problematischer ist dies im Fall der vernachlässigten Kindererziehung: siehe Wyllie 2009, S. 53 und McCaffrey 2009, S. 163ff.

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Und so resümiert Wyllie: „In spite of the many inaccuracies and lies that have been written about The Process in its heyday, we were not bad people [...] we were certainly not killers or cannibals [...] we never set out to deliberately hurt anyone.“67 P-Orridge ist schon als Jugendlicher von dieser Gemeinschaft fasziniert, als er ein Mitglied mit Kutte bekleidet auf der Straße das Process magazine verkaufen sieht68. Er sammelt und liest die Magazine, und einige Ideen fließen bewusst in den Temple ein; andere Parallelen entdeckt P-Orridge erst im Nachhinein69. Bedeutung behält die Process Church für ihn vor allem als Bewegung: „Freedom of thought, self-designed ethics and a questioning mind with an altruistic belief in the potential for positive evolution in our human species can expose to the light the impoverished decay of society.“70 In der ab 1970 sich um den Wiener Aktionisten Mühl entwickelnden71 MühlKommune beziehungsweise ,AAO – Aktionsanalytische Organisation’, ,Kommune Friedrichshof‘, kommen sowohl die Ideen des Wiener Aktionismus – vor allem Kunst und Leben zu verbinden72 – als auch das Interesse in dieser Zeit für alternative Lebensgemeinschaften zusammen73. Im Jahr 1991 wird Mühl unter anderem wegen „Vergewaltigung [...] Beischlafs mit Unmündigen [...] Mißbrauchs eines Autoritätsverhältnisses“ 74 zu sieben Jahren Haft verurteilt. Er selbst bestreitet seine Taten nicht und ist sich gleichzeitig „keiner schuld bewusst“75. Kurz vor seinem Tod im Jahr 2013 entschuldigt er sich mittels eines

67 Wyllie 2009, S. 118. 68 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 403. 69 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 401ff. 70 Breyer P-Orridge 2009, S. 430. 71 „Ein bestimmtes Konzept für ein Zusammenleben als auslösendes Moment ihrer Entstehung läßt sich in der untersuchten Kommune nicht feststellen. Eine geplante Gründung wird sogar ausdrücklich von allen Beteiligten in Abrede gestellt.“ Stoeckl 1994, S. 33. 72 Siehe Busse 2004, S. 8 und Fleck 2003, S. 251ff. 73 Siehe Busse 2004, S. 8 und Fleck 2003, S. 26. 74 Auszug aus dem Gerichtsurteil zitiert aus Fleck 2003, S. 213. 75 „ich bin mir keiner schuld bewusst. ich habe fehler gemacht, ich habe keine schuld auf mich geladen. ich bin vor allem kein verbrecher und keiner, der unter dem schutzmantel der kunst abnorme sexualpraktiken versteckt. in der österreichischen kunstgeschichte wird die behandlung, die mir widerfuhr, kein ruhmesblatt sein. ich will mich hier weder verteidigen noch jemanden anklagen. was wirklich los war, wird sich mit

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auf einer Ausstellungseröffnung im Jahr 2010 verlesenen Briefs bei den Opfern76. Mühl und seine Kommune verdeutlichen die Problematik der Regeln einer Gemeinschaft neben den Gesetzen der Gesellschaft. Fleck stellt in diesem Zusammenhang fest, wie sich die Macht eines Anführers zum Größenwahn verselbstständigen kann: „In den achtziger Jahren hielt sich Otto Mühl für den größten lebenden Künstler, wobei die Kommunarden ihm dies mehrfach täglich bestätigten.“77 Und das, obwohl, wie Fleck hervorhebt, zu dieser Zeit die Kunstproduktion weit weniger Bedeutung als die Kommune in Mühls Leben einnimmt78. In seiner Kommune fördert Mühl künstlerische Fähigkeiten im Hinblick auf therapeutische Maßnahmen79. So ist für ihn „in der berufsrolle künstler [...] die darstellung der krankheit, das kranksein selbst als beruf anerkannt. die produktion des künstlers ist nutzlose, sinnlose produktion.“80 Beeinflusst ist er von dem Therapeuten Wilhelm Reich und dessen Theorie des „KÖRPERPANZERS“ 81 auf Basis derer er unter dem Titel „aktionsanalyse“82, „einzel- und gruppenanalysen“83 durchführt. „der behandelte lernt in der aktionsanalyse seine aggressionen, seine angst, die bei der durchbrechung der körperpanzer hochkommt, darzustellen.“84 Es ist eine Theorie zur Selbstfindung und neuen Identitätserschaffung,

der zeit von selbst ergeben.“ Mühl 2004, S. 23. (Es sei darauf hingewiesen, dass Mühl hier, sowie in anderen Texten alles klein schreibt. Im Folgenden wird nicht weiter auf diese Tatsache verwiesen.) Eine bei Fleck aus Profil zitierte Aussage eines Mädchens aus der Kommune verdeutlicht das Macht-Gefüge der Gruppierung: „Von 14. Ein Mädchen war sogar 12. Freiwillig? Das ist schwierig zu sagen. Man hat ja geglaubt, man macht es freiwillig. Aber es ist ja überhaupt nicht freiwillig. Weil, wenn du [sic!] nicht mit dem Otto tust, dann wirst du angesehen als wärst du negativ, und alle glauben, du spinnst. Weil, der Otto ist doch der beste Mann auf der ganzen Welt“; Fleck 2003, S. 244. 76 Siehe http://www.art-magazin.de/szene/62244/otto_muehl_nachruf. 77 Fleck 2003, S. 255. 78 Siehe Fleck 2003, S. 255. 79 Siehe Fleck 2003, S. 30f. und S. 45f. 80 Mühl 1976, S. 215. 81 Mühl 1976, S. 23. 82 Mühl 1976, S. 23. 83 Mühl 1976, S. 23. 84 Mühl 1976, S. 23.

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die in der Kommune mittels „selbstdarstellung“85 praktiziert und durch Mühls Schriften vermittelt wird. Sitzungen in psychoanalytischer Hinsicht finden in veränderter Form auch im Temple ov Psychick Youth statt86. Bereits der dargestellte Kontext des Temple ov Psychick Youth macht die Problematik der Möglichkeiten von Gemeinschaft deutlich. P-Orridge sieht den Temple im Zusammenhang der Versuche anderer Gemeinschaften als neues Experiment: „We ourselves had been constructing TOPY initially ‚to see what happens‘ when demystified occult and shamanic practices are released non-hierarchically into popular culture. [...]. It had never been done before, so we saw this as a contemporary research into the effectiveness of these techniques.”87

3.0.3 Künstlerische Identitätssuche als Lebens-Performance P-Orridges Leben erscheint weder zurückgewendet noch lediglich als eine fortlaufende Geschichte, sondern auch immer wieder als ‚Spiegel seiner Zeit‘. „I think that lookin[sic!] back now, Genesis has almost been a mirror of the way that society‘s been changing over these decades. [...]. I‘m trying to say that the artist ultimately is the mirror of the society that they‘re in, and I‘ve created a mirror that changes the same way that society does.”88

Steht am Beginn seiner künstlerischen Karriere die Performance und Identitätsstiftung89, verbindet er die von Goldberg dargelegten Ideen ,Living Sculpture‘90, ,Autobiography‘91 und ,Punk Aesthetic‘92. Gründet er eine Gemeinschaft, liegen

85 Mühl 1976, S. 83. Zur ,Entwicklung der Selbstdarstellung‘ siehe auch die folgenden Seiten. 86 Siehe 3.2.3 ,Anleitungen und Rituale‘, S. 191. Und zur weiteren Bedeutung von Mühl auch 3.2 ‚Gemeinschaft als Kunstform‘, S. 179. 87 Breyer P-Orridge 2009, S. 407. 88 Tessitore/P-Orridge 2002, S. 141. 89 Siehe den Beginn dieses Kapitels und 3.1 ‚Neuerschaffung des Selbst‘, S. 149ff. 90 Goldberg 2010, S. 167f. 91 Goldberg 2010, S. 172f. 92 Goldberg 2010, S. 181f.

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Gemeinschaftsformen zwischen Sekten und Kommunen in der Luft93. Widmet er sich der Body Modification94 zunächst, wie in Vale und Junos Modern Primitives95 dokumentiert, anhand von Piercings und Tätowierung und später durch chirurgische Eingriffe, greift er nicht nur aufgrund der verwendeten Technik, sondern auch durch die Provokation der Überschreitung der Geschlechtergrenzen in Breaking Sex/Pandrogeny relevante gesellschaftliche Fragen auf96. Die Konzentration liegt hier auf seinem künstlerischen Leben selbst97, dessen Bedeutung auch Rushkoff während seines ersten Gesprächs mit P-Orridge erkennt: „And, as I listened to him recount his saga, I realized that Genesis was not a musician, a writer, or even a collagist any more than he was a performance artist. Gen‘s life was his art project. An experiment in finding the ill-defined margins or conflicting codes in our cultural scheme and then mining them for their untapped voltage.”98

Insofern kann seine eigene Aussage über das Projekt Breaking Sex mit Lady Jaye auf sein Leben als Ganzes ausgeweitet werden; verweist sie auf seine Ge-

93 Siehe 3.0.2 ,Gemeinschaften‘, S. 136ff. 94 „The term ‚body modification‘ refers to a long list of practices which include piercing, tattooing, branding, cutting, binding and inserting implants to alter the appearance and form the body.“ Featherstone 2005, S. 1. 95 Siehe Vale/Juno 1989. 96 „So erfolgte bei uns in den siebziger und vor allem achtziger Jahren eine neuartige Trennung der sexuellen von der geschlechtlichen Sphäre, die zu einer (neuerlichen) Genuierung der weiblichen (und damit auch der männlichen) Sexualität und zu einer grundsätzlichen Problematisierung des Mann-Frau-Verhältnisses führte. Diese wirkmächtige kulturelle Dissoziation wurde angestoßen vom politischen und wissenschaftlichen Feminismus und folgte auf die historisch weit zurückreichende Trennung der reproduktiven von der sexuellen Sphäre.“ Sigusch 2005, S. 135. 97 Mit der Band Throbbing Gristle gilt P-Orridge als Wegbereiter der Industrial Music. Es sei hier auf den bedeutenden Zusammenhang zwischen COUM und TG hingewiesen: „With the formation of TG COUM activities were gradually phased out. TG translated the artistic avant-gardism of COUM into a popular context.“ Ford 1999, S. 0.12. Für weitere Informationen zur ,Industrial Music‘ und Throbbing Gristle siehe Vale 2006, S. 6ff. Zur Bedeutung von Psychick TV im Zusammenhang mit dem Temple ov Psychick Youth siehe Breyer P-Orridge 2009, S.14f. 98 Rushkoff 2002, S. 26.

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danken im Hinblick auf seine aktiv ,gelebte Kunst‘: „By changing ‚Live Art’ to ‚Living Art’, more levels and flexibilities of meaning are aroused. Living Art implies some form of being alive as opposed to dead. The art is active and filled with potential and still evolving.“99 Kunst ist damit nicht lediglich die Nachahmung des menschlichen Lebens, sondern Prozess des Lebens selbst. Gleichzeitig macht P-Orridge deutlich, dass dabei das Leben auch zu einem Objekt/Werk wird: „From the artists’ perspective it clarifies an important distinction for BREYER PORRIDGE, namely the insistence that we are living art constantly without any separation between creation of art objects, installations, films and any other useful medium available, and what are normally seen as ‚domestic’ activities in daily living.”100

Als Konsequenz dieser Vorgehensweise ergibt sich des Weiteren, dass in der Beschäftigung mit dem Temple ov Psychick Youth die Frage gestellt wird, welchen Stellenwert diese Gemeinschaft im Leben von Genesis P-Orridge besitzt. Im Zusammenhang mit einem Leben, das der Kunst gewidmet ist, wird auch diese Gemeinschaft zu einer Kunstform, die unter den gleichen Prinzipien und Methoden steht, deren sich P-Orridge im Hinblick auf seine eigene Identität bedient hat. „It’s all about letting go of those preconceptions, and not being afraid to not exist in a sense [...]. It’s incredibly liberating when you let go of that need, and let yourself become fictional–as well as knowing you’re fictional. Because actually we all are fictions. We’re all just stories unfolding.101”

Alle guten und moralischen Ideen vermeiden jedoch nicht die Gefahren, die in der Freiheit als Gebot des Umgangs mit dem eigenen Selbst stehen. In Zusammenhang mit dem über ihn erschienenen Buch Painful but Fabulous bemerkt P-Orridge:

99

http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html.

100 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html. 101 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2010/10/douglas-rushkoff-and-genesis-porridge.html?zx=b40322ff019d35c7.

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„I said to everybody, Look you’ve got carte blanche for once, no one’s gonna censor you, you can use me as an excuse to say something you’ve always wanted to say, I don’t care, I don’t have to agree with you [...]. And that’s basically how the book happened, as you know. And that’s why I love it so much.“102

Eine ‚Freikarte‘ für die Anderen in ihm zu sehen, was sie sich wünschen, scheint er sein Leben lang vergeben zu haben. Dies hat immer wieder zu Missverständnissen und Konflikten geführt.

3.0.4 Theorien zu Identität, Gemeinschaft, Geschlechtergrenzen, Erotik und Kunst Die Schriften P-Orridges stammen vor allem aus der Psychick-Bible. Darüber hinaus werden beispielsweise auch Interviews und Texte von und über ihn aus dem Buch Painful but Fabulous und Wreckers of Civilisations103 verwendet. Angesichts P-Orridges Versuch, sich selbst eine neu-geschaffene Identität zu geben, erscheint die Frage nach den Möglichkeiten des Willens des Menschen und der Bedeutung der Vorstellung in Schopenhauers Philosophie von Bedeutung. Im Existentialismus Sartres wiederum erlangt das Individuum zwar Freiheit, aber trägt deshalb auch volle Verantwortung für alles, was um es herum geschieht104. P-Orridge selbst erklärt den Einfluss Sartres Philosophie auf seine eigene105. Einen solchen Einfluss hat auch Jung, dessen Theorie der Archetypen, des Kollektivbewusstseins und der Vorstellung von Individualität hier dargestellt werden wird106.

102 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2010/10/douglas-rushkoff-and-genesis-porridge.html?zx=b40322ff019d35c7. 103 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass zitierte Aussagen von P-Orridge aus dem Buch von Ford mit einfachen Anführungszeichen gekennzeichnet werden, während sich in der Fußnote lediglich der Verweis auf Fords Buch (Ford 1999) und die entsprechende Seitenzahl befindet. 104 „Die Vergangenheit, die ich bin, habe ich zu sein ohne irgendeine Möglichkeit, sie nicht zu sein. Ich übernehme für sie die ganze Verantwortung, als wenn ich sie ändern könnte, und doch kann ich nichts anderes sein als sie.“ Sartre 2001, S. 231. 105 Siehe Kinney/Breyer P-Orridge 2009, S. 336. 106 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 265 und Wilson 2002, S. 55f.

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Mit Camus‘ Theorie der Revolte wird der Revoltierende als eine Grenzzone zwischen Individuum und Gemeinschaft veranschaulicht – als ein Leben, das derselben gewidmet ist. Mit Plessner wird die Gemeinschaft in ihren Möglichkeiten aber auch Grenzen infrage gestellt, während Nancys Theorien sich zwischen Ideen zur Gemeinschaft und der Bedeutung der Intimität bewegen. Foucault dient der geschichtlichen Kontextualisierung der Sexualität. Mit ihm wird auch die Entwicklung von der religiösen Beichte zur Psychologie deutlich. Eine Erweiterung des religiösen, heiligen Bezugs der Sexualität kommt in Batailles Theorie der Beziehungen von Kontinuität und Diskontinuität und der Überschreitung zum Ausdruck. Beauvoirs Theorie, in der sie die Entwicklung der Frau als auf Normen und Vorstellungen der Gesellschaft basierend darstellt, wird durch Butlers Hervorhebung der performativen Wiederholung und Singers Theorie zur Androgynie erweitert. Sigusch wird zu einer zeitgenössischen Einschätzung der normativen Vorstellung von Sexualität verhelfen. Des Weiteren sind Freuds Vorstellung vom Gewissen für das Individuum gegenüber seiner Umwelt, seine Gegenüberstellung von Lust und Schmerz und die Bedeutung der Kunst zur Sublimierung hier von Interesse. Angesichts der Tatsache, dass es immer wieder um Möglichkeiten von Einheit sowohl in der Gemeinschaft als auch in der Liebe geht, spielt auch Girards Theorie des Verlusts der Unterschiede eine Rolle. Merleau-Pontys Theorie wird herangezogen, wenn es für das Individuum einerseits darum geht, der Umwelt gegenüber Grenzen zu ziehen, andererseits aber auch um mögliche Formen des Austauschs zum Verlust ebensolcher Grenzen darzustellen. Die Bedeutung der Grenze kommt auch in der Theorie des „Haut-Ichs“107 Anzieus zum Ausdruck, die hier im Hinblick auf die Liebenden thematisiert werden wird. Auf diese Weise werden unterschiedliche Theorien zur Vorstellung von Identität und die Möglichkeit, zu einer Identität zu gelangen, mittels unterschiedlicher Theorien aus Philosophie und Psychologie veranschaulicht. Dabei werden nicht nur Parallelen zwischen diesen beiden Gebieten, sondern auch zur künstlerischen Praxis deutlich. Auch für sie ist der menschliche Körper Vehikel, um zu Erkenntnissen über das eigene Selbst und dessen Grenzen zu gelangen. Mittels P-Orridges Leben werden Theorien dargestellt, die sich mit der Problematik von Identität befassen, aber auch die Konflikthaftigkeit des Ich in seinem Umgang mit Anderen verdeutlichen. Auch wenn die Liebe als mit Gefahren, sowie die Erotik als mit Ekel, Hässlichkeit und dem Tod verbunden, thematisiert werden wird, erscheint sie als die größte Möglichkeit dem Anderen näherzukommen.

107 Anzieu 1996, S. 60.

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3.0.5 Neuerschaffung des Selbst, Gemeinschaft als Kunstform, Das Aufgehen des Ich im Anderen Die ‚Neuerschaffung des Selbst‘ gestaltet sich im Falle P-Orridges in einem künstlerischen Zusammenhang: Das Ich wird in einem Kunstcharakter wiedergeboren. Anschauungen können auf unterschiedliche Weise, durch verschiedene Medien vermittelt werden und beinhalten doch einen Reibungsverlust aufgrund der Notwendigkeit ihrer Übersetzung, der womöglich im Ausleben derselben ausgeglichen werden kann. Diesbezüglich stellt sich die grundlegende Frage nach der Freiheit des Menschen, die zwar existenziell, aber dennoch als mit Verantwortung verbunden scheint, im Hinblick auf Mangel und Möglichkeiten des Individuums, den grundsätzlichen Voraussetzungen und Fähigkeiten, die an seine Umgebung geknüpft sind. Diese nehmen Einfluss auf das menschliche Leben, erscheinen als eine Vorbestimmung, der gegenüber aber auch eine Selbstbestimmung mittels der Wahl stehen könnte. Angesichts dessen erscheint es für das Individuum grundlegend notwendig, die eigenen Bedürfnisse und die eigene Identität kennenzulernen und auf diese Weise Zusammenhänge zwischen Willen, Leib, Identität und Körper herzustellen. Folglich wird nach einer Methode gesucht, die eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten mit denen der Welt zu verbinden. Für P-Orridge ist das Cut-Up eine Möglichkeit, bewusst Fragmente herzustellen, um neue Verbindungen zwischen Ich und Welt zu eröffnen, in deren Folge Fragen gegenüber unbewusster Erzeugung von Fragmenten aufgeworfen werden. In diesem Zusammenhang stehen sowohl persönliche als auch kollektive unbewusste Inhalte, die vom Bewusstsein verarbeitet werden und eine eigenständige, auf Ausgleichung derselben beruhenden Grenzziehung des Ich notwendig machen. Im Hinblick auf die Darstellung des Ich gehen Individualität und Gemeinschaftsdenken unterschiedliche Beziehungen ein, die dem Menschen einerseits fremdbestimmt und von außen auferlegt erscheinen, aber andererseits eine Möglichkeit der eigenbestimmten Selbstfindung und Entscheidung in sich bergen. Eine ganze ‚Gemeinschaft‘ gibt nicht nur einen Rückhalt für eine einzelne Person, sondern ist Stellvertreter von Ideen vieler Menschen nach außen. Durch kreativen Umgang der einzelnen Mitglieder mit sich selbst, dem Willen jedes Einzelnen sich ,neu zu erschaffen‘, erscheint diese Bewegung selbst als Ganzes zur ‚Kunstform‘ werden zu können, vor allem, wenn sie in Verbindung mit einem Künstler wie P-Orridge steht. Grundlegend stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwiefern das Sein selbst als ein Mit-Sein verstanden werden kann und damit jeder Mensch bereits durch seine Existenz mit Anderen verbunden ist. Des Weiteren geht es darum, Unterschiede zwischen Gemein-

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schaft und Gesellschaft auszumachen, den jeweiligen allgemeinen und individuellen Nutzen sowie damit verbundene Empfindungen herauszustellen. Anleitungen und Rituale dienen nicht nur dem Individuum, eigene Bedürfnisse zu erkennen und zum Ausdruck zu bringen, sondern auch der Gemeinschaft, Einfluss zu nehmen und sich immer wieder zu erneuern; die Zugehörigkeit der Mitglieder zu sichern. Auf diese Weise entsteht eine Organisation der Gemeinschaft, die allerdings auch immer auf eine Notwendigkeit von Hierarchien zu verweisen scheint und die mit der vom ‚Temple ov Psychick Youth‘ gesuchten Gleichberechtigung der Mitglieder als nicht vereinbar angesehen werden können. Die Schwierigkeit, eine solche Gemeinschaft Wirklichkeit werden zu lassen, verweist am Ende auf die verbleibende Möglichkeit, ihr in der Idee eine Form zu geben. Womöglich kann lediglich in einem direkten Gegenüber von ‚Ich‘ und ‚Anderem‘, eine Diffusion von Ideen und ein ineinander ‚Aufgehen‘ stattfinden. In den Beziehungen zwischen Ich und Anderem, lernt das Individuum auch einen veränderten Blick auf sich selbst zu entwickeln, der in der Liebe sowohl zu größeren Gefahren als auch Gewinnen führen kann. In dem Wunsch nach Einheit spielt vor allem der Körper der Liebenden eine Rolle. Dieser führt im Projekt ‚Breaking Sex‘ von Breyer P-Orridge zu einem Überschreiten der Geschlechtergrenzen, sowohl im Hinblick auf die mit dem Projekt verbundene Theorie als auch in der Praxis mittels chirurgischer Eingriffe. Sexualität, Erotik und Kunst gehen dabei eine enge Verbindung ein, sodass die Sexualität vom normativen Zweck der Fortpflanzung befreit wird. Auf diese Weise erhält die Kunst als Schöpfung einen veränderten Wert, indem sie dem Individuum einen weiteren Weg zum Fortleben eröffnet. Die Themen der Kapitel folgen der künstlerischen Biografie P-Orridges. Und diese folgt keinem konkreten Plan, obgleich es, aus dem Blickwinkel in seine Vergangenheit betrachtet, beinahe so erscheinen mag. Denn die Entwicklung seiner künstlerischen Identität, die von Beginn an an die Zusammenarbeit mit anderen gebunden ist und zu kleineren Kollektiven führt, scheint in dem Versuch, eine Gemeinschaft zu gründen, kulminieren zu müssen, der als ein solcher irgendwann enden muss. In seinem Leben und seiner Kunst hat P-Orridge dem Kollektiven immer einen besonderen Stellenwert beigemessen. Trotz der gescheiterten Gemeinschaft Temple ov Psychick Youth, ist er im Anschluss ein künstlerisches Projekt eingegangen, dass die Liebe zu ihrer Basis, ihrem Ausgangspunkt und Thema gemacht hat. In diesem Fall ist es die Endlichkeit des Menschen, die Genesis Breyer P-Orridge zu einem veränderten Umgang des

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Kunstprojekts Breaking Sex mit Lady Jaye Breyer P-Orridge nach ihrem Tod zwingt108.

108 Siehe Breyer P-Orridge 2009, n.p.

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3.1 N EUERSCHAFFUNG DES S ELBST „What I feel is that this is Genesis, I‘m Genesis, and I think I killed Neil. [...]. I think the reason that my art, writing and music succeeded in the way they have, [...] is precisely because I was prepared to sacrifice everything including my identity.”109

Neil Megson hat in Form von Genesis P-Orridge sein Leben einem KunstExperiment ausgesetzt. Aber diese Entscheidung ist nicht abrupt, sondern das Ende und der Beginn eines weiteren Prozesses. Der Grundstein für die Möglichkeit zu diesem Schritt, wie an den Aussagen P-Orridges deutlich wird, wurde durch ein Nahtod-Erlebnis in seiner Kindheit gelegt. Es erhält Bedeutung nicht lediglich aufgrund des Erlebnisses selbst, sondern auch der Gewissheit von lebensbedrohlichem Asthma und der damit verbundenen Einnahme von Steroiden: „,I very consciously decided that I was going to do what I really wanted in life, which was to become involved with writing and art. I decided that I couldn‘t waste any time and that they‘d lost me at that point.‘“110 Im Angesicht des Todes entscheidet sich Neil Megson von Grund auf, selbst sein Leben in die Hand zu nehmen. Aufgrund dessen gewinnt diese Einsicht weitere Bedeutung für seine Lebensphilosophie: „The first lesson from which all others grow is the simplest. We are mortal. We all die. This is not a morbid wallowing in hopelessness. It is the ability to genuinely coum to terms with our physical transcience that liberates us all.“111 Nach Schopenhauer ist „[d]er Tod [...] der eigentliche inspirierende Genius“112. Mit dem Eintreten der Vernunft kommt er in das Bewusstsein der Menschen, aber nicht, ohne dass die Natur ihm Hilfestellung bietet: „so verhilft dieselbe Reflexion, welche die Erkenntnis des Todes herbeiführte, auch zu metaphysischen Ansichten, die darüber trösten“113 wie „alle Religionen und philosophischen Systeme“114. Wie der ,Held, der Märtyrer, der Heilige‘ stellt sich POrridge dieser Tatsache115, aber daraus ergibt sich für ihn nicht, sich einer Institution des Glaubens hinzugeben, sondern wie zu sehen sein wird, seinen eigenen

109 Tessitore/P-Orridge 2002, S. 139. 110 Ford 1999, S. 1.6. 111 P-Orridge/Dwyer 2009, S. 52. 112 Schopenhauer 1986b, S. 590. 113 Schopenhauer 1986b, S. 591. 114 Schopenhauer 1986b, S. 591. 115 Siehe 2.3.5 ,Entbehrung als Selbsterkenntnis und Sorge’, S. 114f.

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Glauben zu kreieren. „I haven‘t been able to align myself with an orthodoxy. [...]. I start to blaspheme [...] to see if it‘s more fun reversed. [...]. It‘s existentialism. I think I should never have read Jean-Paul Sartre when I was a kid.“116 Entsprechend folgt Genesis P-Orridge dem, was Sartre unter dem Wunsch des Menschen versteht, selbst ein Gott im Sinne eines dauernden Schöpfers des eigenen Lebens zu sein117. „Gott als Wert und oberstes Ziel der Transzendenz stellt die permanente Grenze dar, von der her der Mensch sich das anzeigen läßt, was er ist. Mensch sein heißt danach streben, Gott zu sein, oder, wenn man lieber will, der Mensch ist grundlegende Begierde, Gott zu sein.“118

In einer kleinen Übergangsphase existierten Genesis P-Orridge und Neil Megson nebeneinander119: zur Zeit von COUM Transmissions, ein Performanceprojekt, das vor allem, wenn auch nicht von Beginn an, aus Genesis P-Orridge und seiner damaligen Lebensgefährtin Cosey Fanni Tutti bestand 120 . Auch Cosey ersetzt währenddessen ihren bürgerlichen Namen Christine Newby in ,Cosey Fanni Tutti‘121. Im Jahr 1971 lässt sich P-Orridge diesen Namen offiziell eintragen122. Neben seinem Interesse am Schreiben, das auch in seinem eigenwilligen Verwenden von Sprache in seinen Aussagen und Schriften zum Ausdruck kommt123, fühlt sich P-Orridge zur Pop-Kultur seiner Zeit und den dazugehörigen Künstlern hingezogen. Dies ist, nach Goldberg, typisch für die ihn betreffende Generation: „The seductive appeal of oneself becoming an art object, which resulted in numerous offshoots of living sculpture, was partly the result of

116 Kinney/Breyer P-Orridge 2009, S. 336. 117 Für eine Darstellung des „schau-spielerischen Blick[s] auf das alltägliche Leben zur ontologischen beziehungsweise anthropologischen Grundverfassung des Menschen“ (Stahlhut 2005, S. 22) in der Philosophie des 20. Jahrhunderts bei Sartre und Plessner siehe Stahlhut 2005. 118 Sartre 2001, S. 972. 119 Siehe Wilson 2002, S. 54. 120 Siehe Ford 1999, S. 1.15f. und S. 1.20. 121 Siehe Ford 1999, S. 1.19. 122 Siehe P-Orridge 2002, S. 150. Ford 1999, S. 2.4f. Und Tessitore/P-Orridge 2002, S. 139. 123 Siehe Fußnote 3. ‚Ich und Anderer‘, S. 132.

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the glamour of the rock world of the sixties“124. P-Orridge nimmt diese Ideen auf und stellt dabei fest: „,The lives of artists were almost more interesting than their art. [...]. Biographies are fascinating: ,Live your life as if you‘re writing a book‘, try and make all the pages interesting.‘“125 Und so wird der Vorschlag der Romanfigur Mann ohne Eigenschaften ‚Literatur zu leben’ 126 für P-Orridge zum Experiment im wahren Leben. Der Unterschied ist, P-Orridge geht nicht davon aus, dass die Seiten seines Buches gefüllt sind, sondern sie werden durch sein Leben geschrieben. „In a way, my whole life has been an ever more meticulous unfolding of, and creation of, my imaginary Self in the material world. Bit by bit I have used a process of removal. And with this individual language by which it is defined and described, I can reclaim, and actually be, the author of my own, ‚divine‘ higher Self.”127

Inwiefern ein Leben zu einem Buch werden, beziehungsweise als ein Buch gelebt werden kann, verdeutlicht auch Foucault an der Figur des Don Quichotte. „Er ist, weil er Bücher gelesen hat, zu einem irrenden Zeichen der Welt geworden, die ihn nicht erkannt hat, und ist jetzt, gegen seinen Willen und ohne es zu wissen, zu einem Buch geworden“ 128 . Foucaults Aussage beinhaltet den Verweis, der auch für P-Orridge von Bedeutung ist: Es geht nicht nur um ein Buch, sondern um viele Bücher, Texte, Dokumente, Bilder, Geräusche, die mittels des Cut-Ups129 zu Fragmenten werden und auf das große Archiv verweisen, das nach Foucault „in seiner Totalität nicht beschreibbar [...] in seiner Aktualität nicht zu umreißen“130 ist.

124 Goldberg 2010, S. 169. 125 Ford 1999, S. 1.9f. 126 Siehe Musil 1978, S. 365 und S. 367. Siehe auch 2.2 ‚Wiederholung und Ausdauer‘, S. 98. 127 P-Orridge 2009, S. 301. 128 Foucault 2012, S. 80. 129 Siehe 3.1.5 ,Bewusste und unbewusste Fragmenterzeugung‘ S. 166ff. 130 Foucault 1981, S. 189.

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3.1.1 Vermittlung von Anschauungen P-Orridges Versuch, Literatur auf experimentelle und individuelle Weise zu leben, wird zunächst in den Kontext der Möglichkeiten der Übersetzung von Anschauungen gestellt werden. Um der Frage nachzugehen, welche Bedeutung die Literatur, die Biografie und das Archiv derselben für das Leben bereithalten, soll nicht nur untersucht werden, inwiefern Schrift und Sprache unsere Vorstellungen wiedergeben können, sondern auf welche Weise Theorie gelebt werden kann131. Da der Begriff, im Gegensatz zu den sinnlichen Eindrücken oder Vorstellungen „frei von der Gewalt der Zeit ist“132, kann er, nach Schopenhauer, „die eigentliche Erfahrung ausmachen, deren Belehrung für die Zukunft unser Handeln leiten soll.“133 Insofern vermittelt der Begriff bereits erlangtes Wissen der Menschen, das ,Wesentliche‘ von ,Anschauungen‘134. Im Gegensatz zum Wort behält der Begriff bei Schopenhauer dauerhaft seinen Inhalt und bleibt doch an die „Aufbewahrung an das Wort gebunden“135. Denn das „Bewußtsein mit seiner innern und äußern Wahrnehmung hat durchweg die Zeit zur Form.“136 Und dieser stellt sich der Begriff „als durch Abstraktion entstandene völlig allgemeine und von allen einzelnen Dingen verschiedene“ 137 Vorstellung entgegen. Aufgrund dessen benötigt nach Schopenhauer der Begriff das Wort, „um in die unmittelbare Gegenwart eines individuellen Bewußtseins treten, mithin in eine Zeitreihe eingeschoben werden zu können [...]. Nur vermöge dieses Mittels ist uns die willkürliche Reproduktion, also die Erinnerung und Aufbewahrung der Begriffe möglich [...].“138

Diese Verbindungen, Übersetzungen von Anschauungen, Begriffen und Worten bleiben auch bei Schopenhauer nicht ohne Verlust, denn wenn auch „Wort und Sprache [...] das unentbehrliche Mittel zum deutlichen Denken“ sind, werden sie

131 Zu dieser Bedeutung von Schrift und Sprache siehe auch 2.2.5 ‚Wiedererleben‘, S. 88ff. 132 Schopenhauer 1986b, S. 86. 133 Schopenhauer 1986b, S. 86. 134 Siehe Schopenhauer 1986b, S. 87. 135 Schopenhauer 1986b, S. 86. 136 Schopenhauer 1986b, S. 89. 137 Schopenhauer 1986b, S. 89. 138 Schopenhauer 1986b, S. 89f.

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„den unendlich nuancierten, beweglichen und modifikabeln Gedanken“139 nicht gerecht und legen sie stattdessen durch eine Fixierung fest. Deshalb trifft Schopenhauer eine Unterscheidung zwischen Menschen die lediglich „Worte durch Worte erklären, Begriffe mit Begriffen vergleichen, worin das meiste Philosophieren besteht, [...] [das] im Grunde ein spielendes Hinund Herschieben der Begriffssphären“140 darstellt. Ihnen fehlt es an der Fähigkeit der ,Anschauung‘, während die ,Auserwählten‘ „[h]ingegen anschauen, die Dinge selbst zu uns reden lassen, neue Verhältnisse derselben auffassen, dann aber dies alles in Begriffe absetzen und niederlegen, um es sicher zu besitzen: das gibt neue Erkenntnisse.“141 Als Werkzeug dient dabei die „Phantasie“142. Und doch „muß am Ende jeder in seiner Haut bleiben und in seiner Hirnschale, und keiner kann dem andern helfen.“ 143 Je nach Fähigkeit in Bezug auf das ,anschauende Vermögen‘, leben die Menschen, so Schopenhauer, in verschiedenen Welten. Entsprechend ist „Weisheit [...] etwas Intuitives, nicht etwas Abstraktes. [...] [. S]ie ist die ganze Art, wie sich die Welt in seinem Kopfe darstellt.“144 Im Hinblick auf P-Orridge kann gefragt werden, ob die Darstellung dieses ‚Ganzen’, in einem Versuch, diese Anschauung zu leben, statt von ihr zu schreiben, erreicht werden kann. Besondere Bedeutung für die Tätigkeit des ,Auserwählten‘ besitzt für Schopenhauer „die Kunst [...]. Sie wiederholt die durch reine Kontemplation aufgefaßten ewigen Ideen [...]. Während die Wissenschaft, dem rast- und bestandlosen Strom vierfach gestalteter Gründe und Folgen nachgehend, bei jedem erreichten Ziel immer wieder weitergewiesen wird [...] so ist dagegen die Kunst überall am Ziel.“145

Aus dem Wunsch der künstlerischen Vermittlung von Ideen ergibt sich in der Wirklichkeit durch die Darstellung und Übermittlung der Ideen ins Leben bei POrridge ein Konflikt mit den alltäglichen Zufälligkeiten, der Gesellschaft und den Vorstellungen von anderen Menschen. Entsprechend ist von Beginn an die

139 Schopenhauer 1986b, S. 90. 140 Schopenhauer 1986b, S. 96. 141 Schopenhauer 1986b, S. 96. 142 Schopenhauer 1986b, S. 97. 143 Schopenhauer 1986b, S. 99f. 144 Schopenhauer 1986b, S. 100. 145 Schopenhauer 1986a, S. 265.

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Erschaffung des Kunstcharakters Genesis P-Orridge durch einen Zwiespalt gekennzeichnet. Einerseits bringt sie ihn zu der Einsicht: „Tell your Self that you will make the entire world agree with you, rather than compromise by trying to figure out what the world will like and then agreeing with I.T. in order to please and be pleased.“ 146 Andererseits gilt: „Neil invented this game, this character GPO and sort of set him loose into the world.“147 Insofern sein Experiment auf sein Leben ausgeweitet ist, kennt es keine Grenze und damit kein Ziel. P-Orridge geht es um ein freies Spiel und der damit verbundenen möglichen Erkenntnis. „,Since there is no goal to this experiment other than the goal of perpetually discovering new forms and new ways of perceiving, it is an infinite game. An infinite game is played for the purpose of continuing play, as opposed to a finite game which is played for the purpose of winning or defining winners. [...]. Play is indeed, implicitly voluntary.‘“148

Der Begriff des Spiels ist hier in seiner grundlegenden auch von Huizinga gestützten Definition von Bedeutung: „der Freiheit“149. Allerdings ist das Spiel für P-Orridge nicht wie bei Huizinga „Ergänzung, ja Teil des Lebens im allgemeinen“150 und es unterscheidet sich deshalb auch nicht „vom gewöhnlichen Leben durch seinen Platz und seine Dauer“151; und es ist vor allem kein „Wettstreit darum [...] wer etwas am besten darstellen kann.“152 Für P-Orridge geht es um ein Spiel ohne Grenzen, im Sinne von Freiheit, mit all ihren Konsequenzen, die, wie Sartre verdeutlicht, für den Menschen nicht nur Vorteile besitzt153.

146 Breyer P-Orridge 2009, S. 105. „I.T.“ steht für „Imaginary T.I.M.E.“ Breyer POrridge 2009, S. 104. 147 Tessitore/P-Orridge 2002, S. 139. 148 P-Orridge zitiert aus Wilson 2002, S. 55. Aussagen von P-Orridge, die aus Wilsons Text übernommen werden, werden im Folgenden mit einfachen Anführungszeichen gekennzeichnet, während sich in der Fußnote lediglich der Verweis auf Wilsons Text (Wilson 2002) und die entsprechende Seitenzahl befindet. 149 Huizinga 2001, S. 16. 150 Huizinga 2001, S. 17. 151 Huizinga 2001, S. 18. 152 Huizinga 2001, S. 22. 153 Siehe Sartre 2001, S. 100f.

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3.1.2 Die Freiheit des Menschen Für Sartre ist die Existenz des Menschen unmittelbar, das heißt, direkt und untrennbar mit Freiheit verbunden154. In erster Konsequenz löst diese Freiheit jedoch im Menschen eine Angst aus, weil sie ihm verdeutlicht, dass er sich selbst immer wieder erschaffen muss155. „Der Mensch trägt ständig ein präjudikatives Verständnis seines Wesens mit sich, aber gerade deshalb ist er von ihm durch ein Nichts [néant] getrennt.“156 Das Wesen des Menschen bezieht sich, so Sartre, auf seine Vergangenheit, die er nicht vollständig erfassen kann. Sie ist für ihn Ansich und als Totalität vom Für-sich bis zum Tod getrennt157. „Wenn ich nicht in die Vergangenheit zurückkehren kann, so nicht wegen irgendeiner magischen Kraft, die sie unerreichbar machte, sondern einfach, weil sie An-sich ist und ich Für-mich bin; die Vergangenheit ist das, was ich bin, ohne es leben zu können.“158

Da der Mensch nach Sartre als vollkommen getrennt von seiner Vergangenheit betrachtet werden muss, erscheint es für ihn notwendig in einem „Nichtungsprozeß [...] einen Schnitt zwischen der unmittelbaren psychischen Vergangenheit und der Gegenwart“159 zu ziehen. Und dennoch kommt Sartre zu dem Schluss, dass der Mensch nicht nur für seine Vergangenheit ,Verantwortung‘ übernehmen, sondern sich auch mit ihr ,identifizieren‘ muss160. Aus dem Gesagten ergibt sich die Frage, welche Folgen es hat, einen Schlussstrich zu ziehen und wie es P-Orridge getan hat, im nächsten Schritt sich selbst zu erschaffen, und, in diesem Zusammenhang, wie sich Vergangenheit zu Gegenwart und Zukunft, in Sartres Theorie, in Bezug zueinander verhalten? „Im Unterschied zur Vergangenheit, die An-sich ist, ist die Gegenwart Fürsich.“161 Sie ist „nicht das, was sie ist (Vergangenheit), und ist das, was sie nicht

154 „Der Mensch ist keineswegs zunächst, um dann frei zu sein, sondern es gibt keinen Unterschied zwischen dem Sein des Menschen und seinem ,Frei-sein‘.“ Sartre 2001, S. 84. 155 Siehe Sartre 2001, S. 100f. 156 Sartre 2001, S. 101. 157 Siehe Sartre 2001, S. 230. 158 Sartre 2001, S. 236. 159 Sartre 2001, S. 88. 160 Siehe Sartre 2001, S. 231. 161 Sartre 2001, S. 239.

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ist (Zukunft). Damit sind wir auf die Zukunft verwiesen.“162 Der Entwurf auf die Zukunft ist bei Sartre Antwort auf den Mangel des Ich in der Gegenwart. „Das also, was das Für-sich zu sein hat als Anwesenheit beim Sein jenseits des Seins, ist seine eigene Möglichkeit.“163 Nicht nur die Vergangenheit kann bei Sartre das Für-sich nicht mehr einholen, nicht Sein, sondern auch die Zukunft erscheint als nicht erreichbares Ideal. „[D]er Entwurf des Für-sich auf die Zukunft hin, die es ist, ist ein Entwurf auf das An-sich hin“164, das als Totalität, wie bereits deutlich wurde, mit dem Für-Sich keine Einheit bilden kann165. „In einem Wort, ich bin meine Zukunft in der konstanten Perspektive der Möglichkeit, sie nicht zu sein.“166 Daraus resultiert nach Sartre eine Angst des Für-sich. „Vergebens möchte sich das Für-sich an sein Mögliches ketten als an das Sein, das es außerhalb seiner selbst ist, das es aber zumindest mit Sicherheit außerhalb seiner selbst ist: das Für-sich kann stets nur auf problematische Weise seine Zukunft sein, denn es ist von ihr getrennt durch ein Nichts, das es ist: mit einem Wort, es ist frei, und seine Freiheit ist sich selbst ihre eigene Grenze.“167

Ähnlich der Einschränkung Sartres erscheint die Schopenhauers, wenn er eine Unterscheidung zwischen dem „Wille[n] als Ding-an-sich“ 168 und dem Menschen als Erscheinung des Willens vornimmt169. Entsprechend ist der Wille für Schopenhauer nicht der Kausalität unterworfen, „sondern er ist eines als das, was außer Zeit und Raum, dem principio individuationis, d.i. der Möglichkeit der Vielheit, liegt“170, während der Mensch für Schopenhauer als Teilerscheinung des Willens determiniert ist 171 . Und doch kennzeichnet seine Philosophie die Idee: „,Die Welt ist meine Vorstellung‘ [...] - Diesen Satz zum Bewußtsein gebracht und an ihn das Problem vom Verhältnis des Idealen zum Realen, d.h. der

162 Sartre 2001, S. 244. 163 Sartre 2001, S. 251. 164 Sartre 2001, S. 251. 165 Siehe Sartre 2001, S. 230. 166 Sartre 2001, S. 253. 167 Sartre 2001, S. 253. 168 Schopenhauer 1986a, S. 173. 169 Siehe Schopenhauer 1986a, S. 174. 170 Schopenhauer 1986a, S. 174. 171 Siehe Schopenhauer 1986a, S. 174.

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Welt im Kopf zur Welt außer dem Kopf, geknüpft zu haben“172. Unweigerlich damit verbunden ist für ihn die Feststellung, dass „wahre Philosophie jedenfalls idealistisch sein“173 muss. Keiner kann sich, so Schopenhauer, vollständig mit „ihm verschiedenen Dingen, unmittelbar [...] identifizieren: sondern alles, wovon er sichere, mithin unmittelbare Kunde hat, liegt innerhalb seines Bewußtseins.“ 174 Insofern gilt, folgt man Schopenhauer, dass für die Philosophie das Streben nach Idealen eine nicht nur berechtigte, sondern auch als eine der Wahrheit nähere Vorgehensweise erscheint, da sie Hypothesen entwirft, die zwar nicht der weltlichen Realität entsprechen, sondern stattdessen Möglichkeiten aufweisen175. P-Orridges Leben kann als ein Versuch betrachtet werden, ein Ideal zu leben, allerdings nicht bei vollem Bewusstsein oder vielleicht vielmehr nicht unter vollständiger Kontrolle. Denn auch wenn das Bewusstsein angestrebt wird, steht dem vollen Bewusstsein im Sinne einer Kontrolle die Praxis des Experiments entgegen. Im Hinblick auf das Gesagte scheint es, dass P-Orridge mit seiner Vergangenheit auch seine Zukunft und damit die Totalität des ‚An-sichs‘ Sartres negiert. Auf diese Weise erscheint sein Leben als aus Teilen des ‚Für-Sichs‘ Sartres bestehend. Dem Sein enthüllen sich die Möglichkeiten des Seins, nach Sartre, durch Negation. Insofern ist das Nichts die Bedingung der Möglichkeiten, was auch durch seine Verbindung zum Mangel deutlich wird, denn das „mangelnde Fürsich ist das Mögliche.“176 Das heißt, das Ich kann nach Sartre nur werden, was es nicht ist. „Denn das Für-sich beschreibt sich ontologisch als Seinsmangel, und das Mögliche gehört zum Für-sich als das, was ihm mangelt“177. Mit der Gleichstellung von ,Mangelbegriffen‘ und ,Freiheitsbegriffen‘ bringt Sartre Möglichkeit, Mangel, Freiheit und Nichts in einen Zusammenhang, die im Sein zu ihrem Ausdruck kommen. Dort machen sie für ihn deutlich:

172 Schopenhauer 1986b, S. 11f. 173 Schopenhauer 1986b, S. 13. 174 Schopenhauer 1986b, S. 13. 175 Siehe Schopenhauer 1986b, S. 13f. 176 Sartre 2001, S. 209. 177 Sartre 2001, S. 969.

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„Die menschliche-Realität leidet in ihrem Sein, weil sie [...] gerade das An-sich nicht erreichen könnte, ohne sich als Für-sich zu verlieren. Sie ist also von Natur aus unglückliches Bewußtsein ohne mögliche Überschreitung des Unglückszustands.“178

Und ähnlich kommt Schopenhauer zur Einsicht: „Alles Wollen entspringt aus Bedürfnis, also aus Mangel, also aus Leiden.“179 Trotz dieser von Sartre entdeckten Unmöglichkeit der Einheit von Für-Sich und An-sich, besitzt der Mensch scheinbar andere Vorteile: „Ich bin eine Unendlichkeit von Möglichkeiten, denn der Sinn des Für-sich ist komplex und nicht auf eine Formel zu bringen. Aber die eine Möglichkeit ist für den Sinn des gegenwärtigen Für-sich bestimmender als die andere, die in der universellen Zeit näher liegt.“180

In Letzterem wird bereits wieder eine Einschränkung deutlich, denn es geht dem Für-Sich nach Sartre darum, „ein Mögliches einzuholen, das ich bin.“181 Grundlage für die vielen Möglichkeiten bei Sartre ist wiederum: „Das Nichts führte also die Quasi-Vielheit innerhalb des Seins ein. Diese Quasi-Vielheit ist die Grundlage aller innerweltlichen Vielheiten, denn eine Vielheit setzt eine erste Einheit voraus, innerhalb deren die Vielheit sich abzeichnet.“182

In der Zeitlichkeit kommen für Sartre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen und bleiben dennoch voneinander getrennt. „Das Für-sich ist das Sein, das sein Sein in der diasporischen Form der Zeitlichkeit zu sein hat.“183 Es kommt die Frage auf, was eine ,Quasi-Vielheit‘ beziehungsweise die ,Unendlichkeit der Möglichkeiten’ dem Menschen bedeuten und auf welche Weise er sie selbst aktiv und bewusst nutzbar machen kann.

178 Sartre 2001, S. 191. 179 Schopenhauer 1986a, S. 279. 180 Sartre 2001, S. 254. 181 Sartre 2001, S. 254. 182 Sartre 2001, S. 266. 183 Sartre 2001, S. 275.

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3.1.3 Vor- und Selbstbestimmung „Das Für-sich“ steht für Sartre in Verbindung mit einem „Entwurf auf einen Zweck hin.“184 Dieser bedürfe des Zusammenhangs von Bewusstsein und Wahl: „wenn feststeht, daß das Bewußtsein Nichtung ist, begreift man, daß Bewußtsein von uns selbst haben und uns wählen eins sind.“185 Gebunden bleibt das Für-Sich für ihn an sein In-der-Welt-Sein. „Die Freiheit konstituiert also als innerweltliches Sein, eben durch ihre Projektion auf einen Zweck hin, ein besonderes Datum, das sie zu sein hat. Sie wählt es nicht, denn das hieße ihre eigene Existenz wählen, aber durch die Wahl ihres Zwecks macht sie, daß das Datum sich [...] mit der Entdeckung der Welt selbst enthüllt.“186

Im Wählen eines Zwecks liegt nach Sartre die Möglichkeit eines bestimmten Inder-Welt-Seins. Schopenhauer unterscheidet Stufen des Intellekts, mit denen er eine Entwicklung des Bewusstseins im Menschen verbindet 187 . Erst durch die Vorstellung werde die Möglichkeit von Bewusstsein und damit der Erkenntnis im Willen geweckt188. Das Genie ist dadurch erkennbar, dass in ihm eine „fortschreitende Ablösung des Intellekts vom Willen“ 189 stattgefunden hat. Je höher also laut Schopenhauer die intellektuellen Fähigkeiten, desto mehr wird der instinktive Wille von Bewusstsein und Erkenntnis beherrscht. „Meine Philosophie ist aber die einzige, welche der Moral ihr volles und ganzes Recht angedeihen läßt: denn nur, wenn das Wesen des Menschen sein eigener Wille, mithin er im strengsten Sinne sein eigenes Werk ist, sind seine Taten wirklich ganz sein und ihm zuzurechnen.“190

Angesichts dessen erachtet es Schopenhauer als unzureichend, dass der Mensch sich des Werkzeugs der Erkenntnis im Laufe seines Lebens bedient, um sich

184 Sartre 2001, S. 779. 185 Sartre 2001, S. 801. 186 Sartre 2001, S. 842f. 187 Siehe Schopenhauer 1986b, 361f. 188 Siehe Schopenhauer 1986b, S. 359. 189 Schopenhauer 1986b, S. 378. 190 Schopenhauer 1986b, S. 755.

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selbst „in Folge und Gemäßheit der Beschaffenheit seines Willens“191 kennenzulernen, sondern er muss seinen eigenen Willen zu einem Werkzeug des Erkennens und Handelns durch seinen Intellekt umformen. Ob Wille als Ding-an-sich und Erscheinung (Schopenhauer) oder An-sich und Für-sich (Sartre), der Mensch muss sich einerseits seinem Mangel stellen und andererseits seine Möglichkeiten ausnutzen192. Werkzeuge sind ihm dabei Bewusstsein, Erkenntnis und Vorstellung. Immer jedoch gibt es eine Art der Orientierung. Sei dies bei Schopenhauer die Bedeutung der Erkenntnis des eigenen Willens193 und der eigenen Kausalität oder bei Sartre der Zweck194, determiniert durch den eigenen Charakter sowie die eigene Vergangenheit. Mit Schopenhauer und Sartre erscheint der Mensch umgeben von einer Totalität von Möglichkeit und hat selbst Anteil am An-sich oder am Willen, jedoch kann er immer nur einen Teil erfassen. Wahl und Zweck führen bei Sartre zu einem ,Platz‘, der bereits vorgezeichnet ist. In der Kindheit liegt für ihn ein Determinismus195: „Geboren werden ist also, unter anderen Merkmalen, seinen Platz [...] bekommen. Und da dieser ursprüngliche Platz der ist, von dem aus ich nach bestimmten Regeln neue Plätze einnehmen werde, scheint es hier eine starke Einschränkung meiner Freiheit zu geben.“196

Bedeutung erhält dieser Platz für Sartre aber lediglich als „Faktizität“: „So muß man sagen, daß die Faktizität meines Platzes mir nur in der freien Wahl und durch die freie Wahl meines Zwecks enthüllt wird. Die Freiheit ist für die Entdeckung meiner Faktizität unentbehrlich.“197 Insofern kann gefragt werden, ob die ,Faktizität‘ des der Vergangenheit zugehörigen Platzes durch Geburt und Kindheit überhaupt eine Rolle spielen, wenn das Individuum, wie im Fall P-Orridges, keinen festen, konkreten Platz mehr

191 Schopenhauer 1986a, S. 403. 192 Siehe 3.1.2 ,Die Freiheit des Menschen‘, S. 153ff. 193 Siehe Schopenhauer 1986b, S. 755. 194 Siehe Sartre 2001, S. 779. 195 Auf einen Einfluss von Sartre auf P-Orridge wird weiter oben hingewiesen. Siehe 3.1 ‚Neuerschaffung des Selbst‘, S. 150. Und im Hinblick auf die Bedeutung der Erinnerung Anderer auf das Ich, siehe 3. ‚Ich und Anderer‘, S. 131. 196 Sartre 2001, S. 847. 197 Sartre 2001, S. 853.

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einnehmen möchte, wenn es ihm lediglich um den Prozess des Auslebens von Möglichkeiten geht. Statt die Erinnerung in einen reinen Kontext der Vergangenheit zu stellen, wird sie bei Sartre, entsprechend seiner Vorstellung von Zeit198, durch den zukünftigen, möglichen Entwurf des Selbst aktualisiert199. „So wie die Platzierung integriert sich die Vergangenheit in die Situation, wenn das Fürsich durch seine Wahl der Zukunft seiner vergangenen Faktizität einen Wert, eine hierarchische Ordnung und eine Aktualität verleiht, von denen aus sie seine Handlungen und seine Verhaltensweisen motiviert.“200

Zusammen kommen Vergangenheit und Zukunft sowie Wahl, Zweck und Platz für Sartre in der Situation. Bedingung für diese ist wiederum die Vielheit der Möglichkeiten des Menschen und dessen mangelhaftes Sein, denen er mit seiner Freiheit begegnen muss. „[I]ch bin verurteilt, frei zu sein.“201 Freiheit ist dem Menschen laut Sartre nicht einfach Möglichkeit der Entscheidung, sondern Last und Angst, Determinismus und Pflicht. Entsprechend beinhaltet sie lediglich Möglichkeit, die selbst beschränkt ist. „[D]ie Kontingenz der Freiheit und die Kontingenz des An-sich drücken sich durch die Unvorhersehbarkeit und die Widrigkeit der Umgebung als Situation aus. So bin ich absolut frei und für meine Situation verantwortlich. Doch deshalb bin ich frei nur in Situation.“202

Die Freiheit des Für-sich impliziert für ihn zugleich „ihre eigene Grenze“203. Unter dem Begriff Situation sucht Sartre diese Einschränkung zusammenzufassen. Sie führt ihn zu der Erkenntnis, dass „[d]as Für-sich [...] in seinem Bemühen, sich als persönliches Selbst zu wählen, [...] gewisse soziale und abstrakte Merkmale an der Existenz, die aus ihm einen Menschen machen“204 empfängt. Dem Menschen gehe es deshalb nicht nur um sich, sondern auch die Anderen im Gro-

198 Siehe 3.1.2 ,Die Freiheit des Menschen‘, S. 155f. 199 Siehe Sartre 2001, S. 860. 200 Sartre 2001, S. 870. 201 Sartre 2001, S. 764. 202 Sartre 2001, S. 879. 203 Sartre 2001, S. 253. 204 Sartre 2001, S. 895.

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ßen und Ganzen. „[I]n diesem Sinn ist jedes Für-sich in seinem Sein für die Existenz einer Spezies Mensch verantwortlich.“205 Die Anderen sind in der Folge von Sartres Theorie von Kindheit an für das Ich von Bedeutung. Dies wirft nicht nur Fragen im Hinblick auf die Möglichkeit, eine alte Identität wie die, Neil Megsons ,zu töten’, auf206, sondern auch im Hinblick auf mögliche Konsequenzen. Wenn das Kind nach Freud, an den Eltern sein „Ichideal oder Über-Ich“207 und sein Gewissen entwickelt208 und, so kann gefolgert werden, eine Form der Moral, dann stellt sich die Frage nach anderen selbst gewählten Möglichkeiten der Orientierung.

3.1.4 Suche nach den eigenen Bedürfnissen und der eigenen Identität Was unter dem Namen COUM als eine Art improvisatorisches musikalisches Projekt aus unterschiedlichen Leuten entsteht209, entwickelt sich mehr und mehr zu einem Performance-Projekt zwischen P-Orridge und Cosey Fanni Tutti. „At first it was involved with body movement, but very quickly it went into sexual taboos. The performances went from being street theater to having more and more to do with art galleries because those were places where it was safe to experiment.”210

Im Mittelpunkt stehen dabei die Suche nach der eigenen Identität und ihre sowohl geistigen als auch körperlichen Grenzen. „,My interest in putting myself into unpleasant or risk situations is various as is all my work in COUM. Firstly E use it as a means of deconditioning myself psychologically. [...] I get NO masochistic pleasure from my risks, but I do get the satisfaction of facing up to

205 Sartre 2001, S. 895. 206 Siehe Tessitore/P-Orridge 2002, S. 139. Bzw. siehe 3.1 ‚Neuerschaffung des Selbst‘, S. 149. 207 Freud 2007, S. 274. 208 Siehe Freud 2007, S. 306. 209 Siehe Ford 1999, S. 1.20f. 210 Kinney/Breyer P-Orridge 2009, S. 325.

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my fears and relinquishing inherited and to me false, taboos and neuroses in a way that offers a system of revelation and education to a percentage of bystanders.‘”211

Um sich selbst zu erkennen, so die Theorie P-Orridges, muss der Mensch zunächst über sich hinausgehen, die eigenen Ängste überwinden. Kunst wird für POrridge zur Plattform für therapeutische Maßnahmen am eigenen Selbst – „I‘ve always tried to be my own therapist or analyst checking“212 – und die Performance-Kunst zur ersten Möglichkeit, dies zu erreichen: „[E]verybody is truly equal at the time of performance. We might think we know exactly what we would like to do, but we will still assimilate any chance occurrences, audience involvement, or stipulation by entrepreneur.’“213 Bedeutung haben im Stoßen an die eigenen Grenzen nach P-Orridge nicht nur die eigenen inneren Erfahrungen, sondern auch die äußeren Reaktionen der beteiligten Künstler und Zuschauer. Am Ende kreisen die Performances von COUM, wie Ford P-Orridge zusammenfasst, um „a catalogue of taboo acts using bodily fluids such as urine, blood, vomit and milk, combined with abject acts of defecation, urination, selfmutilation and masturbation.“214 Von Bedeutung für P-Orridges weitere rituelle Erfahrungen sind dabei vor allem die Gegenüberstellung sexueller Akte und die Selbstverstümmlung mit Spritzen, Rasierklingen und Nägeln, die letztlich bei POrridge zu einem lebensbedrohlichen Ereignis während einer Performance führen215 . Er verliert das Bewusstsein und muss in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Damit werden zwei existenzielle Themen verarbeitet und einander gegenübergestellt, denen innerhalb der Gesellschaft laut Freud die ältesten Tabus anhaften: Tod und Sexualität216. Ihre Überschreitungen dienen P-Orridge dazu, seine eigenen Bedürfnisse kennenzulernen217.

211 Ford 1999, S. 6.33. 212 Tessitore/P-Orridge 2002, S. 140. 213 Wilson 2002, S. 66. 214 Ford 1999, S. 6.32. 215 Siehe Ford 1999, S. 8.6f. 216 Siehe Freud 2005, S. 80. 217 „It was this quest for a method that led me first towards performance art, within which context I attempted to set myself tasks that forced me to locate barriers and inhibitions related to pain and sexual thresholds, for example. [...] I was able to think about whether they were actually useful to me, or were merely inherited.“ Breyer POrridge 2009, S. 158.

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Im Anschluss an diese Performance stellt P-Orridge fest, dass das Publikum, das dazu gedient hatte, eine Perspektive und andere Grenze von Realität dem Ritual hinzuzufügen, für ihn selbst und seine Bewusstseinszustände und Erkenntnisse zur Gefahr wird218. „That was when I decided that whatever it was dealing with in these performance pieces, it was getting so peculiar that I didn‘t want to do it in a public situation anymore, because there were obviously risks involved. I was getting to the point where sometimes I nearly physically died, and couldn‘t put that responsibility on an art gallery or on other people.”219

In der Folge werden die rituellen Performances, die in der Öffentlichkeit stattgefunden haben zu einem privaten Ritual, für das P-Orridge eine Person als ,Aufpasser‘ und Kontrollinstanz für sich agieren lässt: „In ritual I always work with someone who is completely straight and who is there as an observer. The Eye, I call them. The Eye is there to police the ritual and watch everyone and make notes and also has the right to intervene.“220 Intensive Grenzerfahrungen lassen sich für P-Orridge nur mit ausgewählten Mitmenschen vollziehen, die nicht nur eingeweiht, sondern auch in der Lage sind, Problemsituationen aufzufangen. Sowohl in den Performances von COUM als auch in seinen privaten Ritualen sucht P-Orridge nicht nur seine eigenen Bedürfnisse kennenzulernen, sondern verdeutlicht die Bedeutung der identitätsstiftenden Praxis von körperlichen Grenzerfahrungen. „Die Reflexion“, so Sartre „bleibt eine permanente Möglichkeit des Für-sich als Versuch einer Übernahme von Sein.“221 Aber sie ist nicht die einzige: Für Schopenhauer sind Wille und Leib miteinander verbunden. „Jeder wahre, echte unmittelbare Akt des Willens ist sofort und unmittelbar auch erscheinender Akt des Leibes; und diesem entsprechend ist andererseits jede Einwirkung auf den Leib sofort und unmittelbar auch Einwirkung auf den Willen“222.

218 Siehe Wilson 2002, S. 69. 219 Kinney/Breyer P-Orridge 2009, S. 326. 220 Kinney/Breyer P-Orridge 2009, S. 341. 221 Sartre 2001, S. 293. 222 Schopenhauer 1986a, S. 158.

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Lust und Schmerz sind für ihn dabei Resultate von Für- und Zuwider Handlungen auf Leib oder Willen223. Als Folge der Feststellung, dass die Grenze zwischen Lust und Schmerz nicht so leicht zu ziehen ist, führt Freud einen „ökonomischen Gesichtspunkt“224 ein, nachdem „der Ablauf der seelischen Vorgänge automatisch durch das Lustprinzip reguliert wird, das heißt, wir glauben, daß er jedesmal durch eine unlustvolle Spannung angeregt wird und [...] mit einer Vermeidung von Unlust oder Erzeugung von Lust zusammenfällt.“225

Allerdings gestaltet sich diese Gegenüberstellung Freuds als ähnlich problematisch wie die von ,Lebens- und Todestrieben‘226, denn er kommt zu dem Schluss: „die Art, wie man bei schmerzhaften Erkrankungen eine neue Kenntnis seiner Organe erwirbt, ist vielleicht vorbildlich für die Art, wie man überhaupt zur Vorstellung seines eigenen Körpers kommt.“227 Sowohl Lust als auch Schmerz dienen nach Freud dazu, Erfahrungen über den Körper, und damit auch, wie Schopenhauer sagen würde, über den eigenen ,Willen‘ zu machen228. Es wird deutlich, dass die Performances und Rituale nicht nur dem Zweck dienen, P-Orridges Bedürfnisse zu finden, sondern auch diesen Prozess, und dessen Bedeutung auszustellen suchen. Neue Regeln und Normen zu erschaffen und damit eine neue Realität aufzubauen, führen bei P-Orridge nicht nur zu einer begrenzten, sondern zu einer permanenten Außerkraftsetzung derselben und damit zu einer andauernden Konfrontation mit der Gesellschaft. Seine Suche nach Identität beziehungsweise sein kreativer Umgang mit Identität hat ihn nicht nur an eigene geistige und körperliche Grenzen, sondern auch an die von gesellschaftlicher Sitte und Moral geführt. Die Verschiebung der Teilnehmer beziehungsweise die Ersetzung der öffentlichen Performance durch das private Ritual stellt nicht lediglich eine persönliche Entscheidung dar: Die Zügellosigkeit von COUM, vor allem die Ausstellung Prostitution (1976), führt zu einem Aufschrei der bürgerlichen Gesellschaft Englands. Von der Daily Mail werden die Künstler zu „wreckers of

223 Siehe Schopenhauer 1986a, S. 158. 224 Freud 2007, S. 193. 225 Freud 2007, S. 193. 226 Freud kommt auch hier zu einer „Mischung der beiden Triebarten“; Freud 2007, S. 279. 227 Freud 2007, S. 266. 228 Siehe Schopenhauer 1986a, S. 158.

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civilization“ 229 erklärt. Provokation bleibt Bestandteil in Genesis P-Orridges Werk, ob in den Bands Throbbing Gristle und Psychick TV oder dem Temple ov Psychick Youth. Sie entspringt aus der Gegenüberstellung der eigenen individuellen Grenzerfahrungen mit der allgemeinen Moral der Gesellschaft. Das Abtrennen der Person von der eigenen Vergangenheit oder im Falle POrridges der eigenen Kindheit, führt zu einer Erleichterung, diese Grenzen zu überschreiten. Ein Gewissen gegenüber den Eltern, eine diesbezügliche Form der Scham gibt es scheinbar nicht. Es erscheint als evident, dass damit auch die Grenzen der Normen der Gesellschaft an Bedeutung verlieren. „Für die Zeitlichkeit, die das Bewendenlassen konstituiert, ist ein spezifisches Vergessen wesentlich. Um an die Zeugwelt ,verloren‘ ,wirklich‘ zu Werke gehen und hantieren zu können, muß sich das Selbst vergessen.“230 Womöglich kann mit Heidegger in diesem Zusammenhang davon ausgegangen werden, dass Grade des Vergessens entsprechende Veränderungen und den Mut zu Neuem mit sich bringen, vor allem im Hinblick darauf, dass P-Orridge zwar die Grenzen des ‚guten Geschmacks der britischen Gesellschaft’, aber nicht deren Grundgesetze verletzt hat.

3.1.5 Bewusste und unbewusste Fragmenterzeugung P-Orridges Begegnungen mit William S. Burroughs und später mit Brion Gysin beeinflussen nachhaltig seine künstlerische Arbeit an sich selbst und in der Folge immer expliziter mit anderen. Von ihnen übernimmt er die Cut-up Methode, die nicht nur in Form von sampling und looping Eingang in das musikalische Schaffen der Band Throbbing Gristle Einzug findet231, sondern zu einem Lebensstil umdefiniert wird: „With a cut-up you can break down the expected, inherited values and assumptions and retrain yourself to look at revealing possibilities, describing ‚reality‘ more accurately than any linear system. Our languages are linear. Life is not.“232

229 Daily Mail Artikel von Nicholas Fairbairn vom 19.10.1976 zitiert aus Ford 1999, S. 6.22. 230 Heidegger 2006, S. 354. 231 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 142f. Und siehe Rushkoff 2002, S. 21f. 232 Breyer P-Orridge 2009, S. 155.

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Im Anschluss wird P-Orridge auf diese Form des Auseinandernehmens und NeuZusammensetzens von Identitäten setzen. Neben Grenzerfahrungen des Körpers in Performances und in Ritualen entwickelt er auf diese Weise eine reflexive, theoretische Praxis zur Generierung einer selbst erschaffenen Identität. Sprache bleibt für P-Orridge als identitätsstiftendes Medium, in der Reflexion mit dem eigenen Ich und zur Kommunikation mit Anderen von großer Bedeutung. Entsprechend besitzt die Erkenntnis, dass sie unzureichend die tatsächlichen Umstände des Lebens wiedergibt, Auswirkungen auf das Verständnis des Lebens selbst233: Wenn die Schrift linear ist und nur durch das Cut-Up ihre Destruktion erreicht werden kann, gilt das auch für das Leben des Menschen. Dieses Vorgehen steht jedoch nicht im Kontext einer reinen Destruktion, sondern macht vielmehr die Möglichkeit der Wahl deutlich: „What Bill explained to me then was pivotal to the unfolding of my life and art: Everything is recorded. If it is recorded, then it can be edited. If it can be edited then the order, sense, meaning and direction are as arbitrary and personal as the agenda and/or person editing.”234

Für P-Orridge ist die Welt gegeben und im einzelnen Herausnehmen von Möglichkeiten aus dem Repertoire der Welt entscheidet sich der Mensch immer wieder neu, einzelne Bruchstücke zusammenzusetzen. Ein ‚Leben in Fragmenten‘235 ist bei P-Orridge zum einen an andere Menschen gebunden, weil sie immer wieder die Realität der prozesshaften Identität bestätigen, zum anderen erscheint das Teilen dieser Identität als nicht möglich: „‚[W]ith all honesty I don‘t know of anyone else who has decided to let go of the first thing they were born with and actually become a piece of ART set free on a planet with no specific agenda except to reveal the mystery of being alive.”’236

Die schwer vollziehbaren Verbindungen der Verantwortung gegenüber der eigenen Vergangenheit, dem Entwurf auf die Zukunft, denen sich das Für-sich Sartres stellen muss 237, können in den Zusammenhang zu den Schlüssen gestellt

233 Siehe Kali 5/Breyer P-Orridge 2009, S. 123. 234 Breyer P-Orridge 2009, S. 279. 235 „We live in fragments.“ Breyer P-Orridge 2009, S. 244. 236 Wilson 2002, S. 92. 237 Siehe Sartre 2001, S. 231.

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werden, zu denen Schopenhauer im Hinblick auf gegenseitige Einwirkung der „äußern (sinnlichen) Anlässe der Gegenwart unserer Vorstellung“ und der „innern (der Gedankenassoziation)“238 auf das Bewusstsein kommt. Sie führen zu „häufigen Unterbrechungen unseres Gedankenverlaufs, welche eine gewisse Zerstückelung und Verwirrung unsers Denkens“239 zur Folge haben. Das Problem für das Selbstbewusstsein ist nach Schopenhauer, dass es sich einem Intellekt bedienen muss, der lediglich linear denken kann 240 . „Auf dieser Unvollkommenheit des Intellekts beruht das [...] Fragmentarische unsers Gedankenlaufs [...] und aus diesem entsteht die unvermeidliche Zerstreuung unseres Denkens.“241 Denn der Intellekt ist seiner Meinung nach nicht nur nicht dazu in der Lage, sich dauerhaft auf etwas zu konzentrieren, sondern wird auch durch äußere Umstände abgelenkt242. Für Schopenhauer entspringt aus jeglicher Theorie und Praxis eine „Zusammensetzung solcher Fragmente“243 und damit in übertragenem Sinne ein Cut-up. Allerdings spricht Schopenhauer nicht von einem bewussten künstlerischen Prozess, sondern von einem Resultat des Intellekts selbst. Schopenhauers Urteil darüber ist zwiespältig: Einerseits erscheint die Arbeit des Intellekts als „mangelhaft“244, andererseits ermöglicht die „Zerstreuung [...] zu unserer Angelegenheit zurückkehren und so sie mehrmals in stark verändertem Lichte erblicken [zu] können.“245 Eine solche Möglichkeit, neue Perspektiven zu enthüllen beinhaltet für P-Orridge auch das Cut-up246. Der Intellekt scheint in der Folge Schopenhauers Theorie nur Fragmente hervorbringen zu können, gleich, welcher Mittel er sich bedient. Das Cut-up verdeutlicht diesen Mangel, stellt ihn aus und durch die Wiederholung/Verdoppelung dieses Aktes, wird, wenn auch im künstlerischen Rahmen, die Möglichkeit des Wählens und Interpretierens eröffnet. „Die Anwendung der Vernunft auf das Praktische leistet zunächst dies, daß sie das Einseitige und Zerstückelte der bloß anschauenden Erkenntnis wieder zusammensetzt und die

238 Schopenhauer 1986b, S. 176. 239 Schopenhauer 1986b, S. 176. 240 Siehe Schopenhauer 1986b, S. 176. 241 Schopenhauer 1986b, S. 177. 242 Siehe Schopenhauer 1986b, S. 177. 243 Schopenhauer 1986b, S. 178. 244 Schopenhauer 1986b, S. 178. 245 Schopenhauer 1986b, S. 178. 246 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 155.

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Gegensätze, welche diese darbietet, als Korrektionen zu einander gebraucht, wodurch das objektiv richtige Resultat gewonnen wird.“247

Dieses „objektiv richtige Resultat“248 Schopenhauers ist Bestandteil eines Abwägens und Reflektierens und damit Ergebnis eines Prozesses der Vernunft.

3.1.6 Überführung von Unbewusstem in das Bewusstsein und Grenzziehung An dieser Stelle treffen bei P-Orridge verschiedene Stränge zusammen: Einerseits seine Performances und Rituale, die ihm dazu dienen, zu einer Erkenntnis über den eigenen Körper und die eigenen Bedürfnisse (beziehungsweise den eigenen Willen) zu gelangen 249 , andererseits das Cut-up- Fragment und damit Sprache, die erneut im Kontext steht, ,Geste zu sein‘250. Sie führen zu einer Form von religiösem Streben, das anhand Jungs Theorie verdeutlicht werden kann: „Es ist eine Tatsache, daß die große Mehrheit gebildeter Leute aus fragmentarischen Persönlichkeiten besteht und daß eine Menge von Ersatzmitteln anstelle der wahren Güter gebraucht werden.“251 So wie die Arbeit des Intellekts nach Schopenhauer fragmentarisch ist252, sind es bei Jung auch Menschen. Und für viele stecke dahinter die Gefahr der „Neurose“253. Das Problem des Fragments steht auch über dem, was Schopenhauer als ,Wahnsinn‘ definiert, denn dieser entspringt einem mangelnden Vermögen der Erinnerung: „daß der Faden des Gedächtnisses zerrissen, der fortlaufende Zusammenhang desselben aufgehoben und keine gleichmäßig zusammenhängende Rückerinnerung der Vergangenheit möglich ist.“254 Diesen Mangel an Zusammenhang definiert Schopenhauer auch

247 Schopenhauer 1986b, S. 192. 248 Schopenhauer 1986b, S. 192. 249 Siehe 3.1.4 ,Suche nach den eigenen Bedürfnissen und der eigenen Identität‘, S. 162ff. 250 Siehe 2.2.5 ‚Wiedererleben’, S. 89. So schließt beispielsweise auch Merleau-Ponty: „Die Sprache ist Geste, ihre Bedeutung ist die Welt.“ Merleau-Ponty 1974, S. 218. 251 Jung 1997, S. 47. 252 Siehe Schopenhauer 1986b, S. 177; bzw. 3.1.5 ,Bewusste und unbewusste Fragmenterzeugung‘, S. 168. 253 Jung 1997, S. 47. 254 Schopenhauer 1986a, S. 275.

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für den Intellekt, gelangt dabei jedoch mittels der Vernunft zu einem „objektiv richtige[n] Resultat“255. Für Jung wiederum ist das Fragmentarische Ursprung für das „[w]as man gewöhnlich und im allgemeinen ,Religion‘ nennt [...]. Sie hat den offensichtlichen Zweck, unmittelbare Erfahrung zu ersetzen durch eine Auswahl passender Symbole, die in ein fest organisiertes Dogma und Ritual eingekleidet sind.“256

Während die Bedeutung der Rituale sowohl im privaten Bereich als auch anhand von Performances verdeutlicht wurde, hat P-Orridge das Dogma zurückgewiesen257. Allerdings bedient er sich derselben Mittel und Ideen. Grund dafür könnte die Feststellung Jungs sein, denn nach dieser besitzt „jede wissenschaftliche Theorie, [...] vom Standpunkt psychologischer Wahrheit aus weniger Wert als das religiöse Dogma, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil eine Theorie notwendigerweise abstrakt und ausschließlich rational ist, während das Dogma eine irrationale Ganzheit durch sein Bild ausdrückt.“258

Im Zusammenhang mit dem ,religiösen Dogma‘ stehen bei Jung „Träume“259. Sie „sind zu einem sehr hohen Grade aus kollektivem Material gemacht […]. Ich habe diese Motive Archetypen genannt“260. Darunter versteht Jung „[d]ie Inhalte des kollektiven Unbewußten“261, die Grundlage für Märchen und Mythen und „das Grundmuster instinkthaften Verhaltens“262 sind. Ein möglicher Zugang zu diesen Archetypen ist für Jung die „aktive Imagination. [...]. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die Intensität und Häufigkeit von Träumen verstärkt wird durch das Vorhandensein unerfaßbarer und unbewußter

255 Schopenhauer 1986b, S. 192. 256 Jung 1997, S. 47. 257 Siehe 3.1 ‚Neuerschaffung des Selbst‘, S. 150. 258 Jung 1997, S. 49. 259 Jung 1997, S. 54. 260 Jung 1997, S. 54. 261 Jung 1990, S. 8. 262 Jung 1990, S. 46.

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Phantasien [...] Traumquellen sind häufig unterdrückte Instinkte, die eine natürliche Neigung haben, den bewußten Verstand zu beeinflussen.“263

Auf ähnliche Weise sucht P-Orridge neben seinen Ritualen und Cut-Ups nach seinen unbewussten Wünschen: „Daydreams are really important activators in this evolution of personal wisdom. If we are able to be totally honest with our Self without inhibitions, filters and hesitations we can build visual metaphors in our daydreams of what we truly and intimately desire to become.”264

Auch seine privaten Rituale, die er im Anschluss an COUM beginnt, stehen im Kontext einer derartigen Einkehr und Suche im Unbewussten. Gekennzeichnet sind diese Rituale durch die Kapuze, die sich P-Orridge zum Einleiten des rituellen Prozesses über den Kopf zieht, um in die Tiefen seines Unbewussten vorzudringen, und das sich selbst Schneiden mit einem Messer, um sich einer Erneuerung zu öffnen 265 . Zu dieser Zeit entstehen auch die Sigils 266 , künstlerische Auseinandersetzungen über die vollzogenen Rituale, wie sie später im Temple ov Psychick Youth praktiziert werden267. Im Unterschied zu den öffentlichen Performances P-Orridges, deren Hauptthemen die Entgrenzung der eigenen Identität sind und die sich entsprechend mit der Destruktion sowohl alter eigener Vorstellungen und Prägungen als auch solcher von gesellschaftlichen Normen widmen, kehrt er durch das Ritual zur Erinnerung an seine eigene Kindheit zurück 268 . Allerdings findet dabei, wie Wilson anhand eines Briefes, der diese Entwicklung charakterisiert, feststellt, eine Art der Entpersönlichung statt, die sich während des Schreibens in einem Überleiten von „I, My Self and The Child“269 äußert. POrridge beginnt, sich selbst von außen als allgemeines Symbol zu sehen. Auf diese Weise wird in den Ritualen über die Cut-Up Methode hinaus eine Veränderung deutlich, in der sich identitätsstiftende und kollektive Inhalte und Vor-

263 Jung 1990, S. 52. 264 Breyer P-Orridge 2009, S. 301. 265 Siehe Wilson 2002, S. 74f. und S. 77f. 266 Siehe Wilson 2002, S. 74. 267 Siehe 3.2.3 ,Anleitungen und Rituale‘, S. 187ff. 268 Siehe Wilson 2002, S. 74 und S. 80. 269 Wilson 2002, S. 82.

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stellungen verbinden. Dieser grenzüberschreitende Prozess wirft Fragen nach der Notwendigkeit von Grenzen für das Individuum auf. Voraussetzung des Menschen für einen gesunden Umgang mit sich selbst, anderen und der Welt erscheint nach Jung eine Form des Erlangens von Selbstbewusstsein durch Verschiebung „des persönlichen Unbewußten ins Bewußtsein“270 als dessen Folge die „Selbsterkenntnis“271 zutage tritt. Jedoch gehören zu dem ,persönlichen Unbewussten‘ bei Jung nicht lediglich individuelle Inhalte, sondern auch „in seinen tieferen Schichten gewissermaßen, relativ belebte, kollektive Inhalte [...]. Ich spreche darum von einem kollektiven Unbewußten.“272 Doch Jung stellt fest, dass die Umschichtung von Unbewusstem ins Bewusstsein und das damit einhergehende Erlangen von Selbsterkenntnis nicht zwangsläufig zu Weisheit führen, sondern im Gegenteil Probleme erzeugen, die das Selbstbewusstsein betreffen: „Die Einen bauen damit ein unverkennbares, ja unangenehm gesteigertes Selbstbewußtsein oder Selbstgefühl auf [...]. Die Andern aber werden heruntergestimmt, ja erdrückt von den Inhalten des Unbewußten.“ 273 Gemeinsam ist ihnen „eine Unsicherheit über ihre Grenzen.“274 Jung sieht darin eine ,Überschreitung‘ der menschlichen Möglichkeiten und bezeichnet diesen Zustand deshalb mit „Gottähnlichkeit“275 beziehungsweise „psychischer Inflation“276. Hintergrund für Jung ist, dass diese Individuen nicht in der Lage sind, zwischen ihrem individuellen Unbewussten und dem weniger bedeutenden ,kollektiven Unbewussten‘ zu unterscheiden und deshalb Letzterem in übersteigertem Maße Bedeutung geben. Diese resultieren „in jener Erdrückung des Selbstgefühls oder in jener unbewußten Steigerung der Ichbetonung bis zum krankhaften Machtwillen“ 277 . Verdeutlicht wird diese Problematik der Grenze auch in der Feststellung Merleau-Pontys gegenüber Handlungen.

270 Jung 1998, S. 20. 271 Jung 1998, S. 20. 272 Jung 1998, S. 22. 273 Jung 1998, S. 23. 274 Jung 1998, S. 26. 275 Jung 1998, S. 26. 276 Jung 1998, S. 26. 277 Jung 1998, S. 32.

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„[D]iese [...] verlangen nämlich ein und dasselbe Vermögen, in der gegebenen Welt Grenzen zu ziehen, Richtungen festzuhalten, Kraftlinien abzuzeichnen, Perspektiven zu eröffnen, kurz, nach einem Augenblicksprinzip die Welt zu organisieren [...].“278

Grundvoraussetzung ist also zumindest nach Jung und Merleau-Ponty eine konkrete Orientierung in der Lebenswelt um ,normal‘ handlungsfähig zu sein. Bereits zum Ende von COUM und Throbbing Gristle entstehen Konflikte, die P-Orridge im Laufe seines Lebens weiter verfolgen werden: „I know, I like devotion for its own sake! [...]. And it gets me into strange conflicts with people.“279 Der „potentielle Mensch“280 ist für sein Umfeld nicht greifbar und dennoch hat er die Erwartungshaltung, zumindest an die ihm nahestehenden Personen, dass sie mit ihm die Veränderungen an seine Vorgehensweise nicht nur nach-, sondern auch mitvollziehen. „,The issue for me was that I was being abandoned for suburban hypocrisy and double standards [...]. With Scenes of Victory I felt that one possible strategy was to compensate for their lack of commitment by taking the whole thing as far as I could take it. To expunge the hypocrisy by sacrifice.‘“281

P-Orridge antwortet auf das gefühlte Unverständnis in seiner Umgebung mit einem ,heiligen Opfer‘: sich selbst noch weiter zu bringen als bisher. Diese Darstellung wirft die Frage auf, inwiefern der Wunsch ,die Mysterien des Lebens‘282 bloßzulegen, sich selbst ,gottähnlich‘ werden zu lassen nicht in diesem kritischen Kontext stehen, den Jung entwirft. Dafür muss zunächst geklärt werden, was Individualität überhaupt ist, denn wie Jung selbst feststellt: „Es ist darum schwierig zu sagen, welche Inhalte als kollektiv und welche als persönlich zu bezeichnen sind.“283

278 Merleau-Ponty 1974, S. 138. 279 Kinney/Breyer P-Orridge 2009, S. 336. 280 Musil 1978, S. 251. 281 Ford 1999, S. 8.5. 282 „,the mystery of being alive’“; Wilson 2002, S. 92. 283 Jung 1998, S. 38.

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3.1.7 Individualität und Gemeinschaftsdenken Folgen wir Jung und Merleau-Ponty bringt das ,In-der-Welt-sein‘ des Menschen, sein ,In-Situation-sein‘, Schwierigkeiten in der Identifikation dessen mit sich, was er selbst ist und wo sich seine Grenzen befinden 284 . Um sich dennoch zurechtzufinden, konstruiert sich der Mensch auf unterschiedliche Weise für unterschiedliche Situationen, die jedoch selbst wiederum beschränkt sind; denn so Merleau-Ponty: „[d]ie Idee der Situation schließt eine absolute Freiheit im Ursprung unserer Engagements aus.“285 Jung bezeichnet einen „Ausschnitt aus der Kollektivpsyche [...] als Persona“286. „[S]ie ist aber, wie ihr Name sagt, nur eine Maske der Kollektivpsyche, eine Maske, die Individualität vortäuscht, die andere und einen selber glauben macht, man sei individuell, während es doch nur eine gespielte Rolle ist, in der die Kollektivpsyche spricht.“287

Trotzdem diene sie dem Menschen im Umgang mit seinen alltäglichen Beschäftigungen, denn indem die Persona einen „Kompromiß zwischen Individuum und Sozietät“288 darstellt, definiert sie den Menschen über seinen Beruf und seine gesellschaftliche Zugehörigkeit; ,Namen, Titel, Ämter‘289. Als Maske des Schauspielers erscheint auch die ,Persona‘ Jungs, als eine Möglichkeit der Definition der Tatsache, dass sich P-Orridge eine Rolle durch einen Namen und ein von Zufall geprägtes Leben wie eine Art Improvisator angeeignet hat290. Um dem Individuum näherzukommen, unterscheidet Jung zwei Möglichkeiten: „Individualismus ist ein absichtliches Hervorheben und Betonen der vermeintlichen Eigenart im Gegensatz zu kollektiven Rücksichten und Verpflichtungen. Individuation aber

284 Siehe 3.1.6 ,Überführung von Unbewusstem in das Bewusstsein und Grenzziehung‘, S. 169ff. 285 Merleau-Ponty 1974, S. 516. 286 Jung 1998, S. 41. 287 Jung 1998, S. 41. 288 Jung 1998, S. 41. 289 Siehe Jung 1998, S. 41. 290 Zu den Praktiken des ‚Versteckens‘ und ‚Zeigens‘ des Subjekts im Theater, siehe Warstat 2012, S. 175ff.

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bedeutet geradezu eine bessere und völligere Erfüllung der kollektiven Bestimmungen des Menschen, indem eine genügende Berücksichtigung der Eigenart des Individuums eine bessere soziale Leistung erhoffen läßt“291.

In der Individuation soll der Mensch nach Jung zu sich selbst kommen, „das Selbst aus den falschen Hüllen der Persona einerseits und der Suggestivgewalt unbewußter Bilder andererseits zu befreien.“292 Dieses Idealbild wird erweitert, wenn Jung zwischen „legitime[n] und illegitime[n] Beschäftigung[en] mit unpersönlichen Problemen“293 unterscheidet. „Legitim sind solche Exkursionen […], wenn sie aus tiefstem und wahrstem individuellen Bedürfnis hervorgehen; illegitim dagegen, wenn sie entweder bloß intellektuelle Neugier oder Fluchtversuche aus einer unangenehmen Wirklichkeit sind.“294

Während Letztere für Jung eigene Defizite durch Wohltätigkeiten zu kompensieren suchen, geht es Ersteren um die reine Erfüllung der Sache selbst. Am Ende erscheint dieses Selbst, das Jung als erstrebenswert beschreibt, als schwer erreichbares Ideal. Es geht um eine „Mitte zwischen Bewußtsein und Unbewußtem [...]. Dies wäre der Punkt des neuen Gleichgewichts, eine neue Zentrierung der Gesamtpersönlichkeit, ein vielleicht virtuelles Zentrum, welches der Persönlichkeit wegen seiner zentralen Lage zwischen Bewußtsein und Unbewußtem eine neue sichere Grundlage gewährt.“295

Das „Selbst“, in dem für Jung dieser Mittelpunkt zwischen Bewusstem und Unbewusstem kulminiert, bleibt „ein transzendentes Postulat, das sich zwar psychologisch rechtfertigen, aber wissenschaftlich nicht beweisen läßt.“296 Zu einer solchen Vorstellung führt auch P-Orridges Verbindung von spielerischer, andauernder Identitätsbildung im Angesicht von Tod und Freiheit: „Only he is free who stands in the middle. Intermediately. It is very difficult. We are slaves. We

291 Jung 1998, S. 59. 292 Jung 1998, S. 60. 293 Jung 1998, S. 68. 294 Jung 1998, S. 68. 295 Jung 1998, S. 106. 296 Jung 1998, S. 124f.

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are weak. In order to become intermediate one has to go against the law of nature itself.“297 Der ,Revoltierende‘ Camus‘ beschreitet diesen Grenzbereich, weil die „Revolte ihrem Wesen nach nicht egoistisch ist.“298 Ausschlaggebendes Zeichen dafür ist, dass der Revoltierende zur Aufgabe/zum Opfer seiner selbst bereit ist. „Das Individuum stellt demnach nicht an sich den Wert dar, den es verteidigen will. Um ihn zu bilden, bedarf es mindestens aller Menschen. In der Revolte übersteigert sich der Mensch im andern, von diesem Gesichtspunkt aus ist die menschliche Solidarität eine metaphysische.“299

Für diese Entscheidung zur ,Identifikation mit der „natürlichen Gemeinschaft“’300 macht das Individuum bei Camus eine Entdeckung, die eine Möglichkeit der Entwicklung in der ,Individuation‘ Jungs beschreibt: „Der erste Fortschritt eines von der Befremdung befallenen Geistes ist demnach, zu erkennen, daß er diese Befremdung mit allen Menschen teilt und daß die menschliche Realität in ihrer Ganzheit an dieser Distanz zu sich selbst und zur Welt leidet. [...]. Ich empöre mich, also sind wir.“301

Aus dieser Erkenntnis entspringt für Camus ein Gemeinschaftsgefühl, auf dessen Basis das Individuum das ,Ich bin‘ ersetzt. „An dieser Grenze definiert das ,Wir sind‘ paradoxerweise einen neuen Individualismus. [...]. Dieser […] ist nicht Genuß, sondern immer Kampf und manchmal Freude ohnesgleichen auf dem Gipfel des stolzen Mitleids.“302 Das ,An-sich’ (Sartres) zu ignorieren und in der Gegenwart zu leben, sich selbst dem Zufall zu überlassen, nimmt dem ,Für-sich’ (Sartres) einerseits die Last ab, zu versuchen, etwas erreichen zu wollen, was nicht erreichbar ist. Andererseits führt es scheinbar dazu, dass sich das ,Für-sich‘ in das ,An-sich‘ verkehren möchte, sich nicht mehr lediglich als Teil, sondern als Totalität zu sehen. Ähn-

297 P-Orridge 2009, S. 367. 298 Camus 2001, S. 24. 299 Camus 2001, S. 25. 300 Camus 2001, S. 24. 301 Camus 2001, S. 31. 302 Camus 2001, S. 334f.

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lich verhält es sich mit der Abschaffung der eigenen Vergangenheit und dem Erschaffen eines neuen Ich, wodurch dem Individuum nicht nur die eigene Geschichte, sondern damit auch die ersten Erfahrungen mit Moral und Gewissen genommen werden. Einerseits ermöglicht dies, Schranken zu überschreiten, auf denen im Angesicht der Familie oder der Gesellschaft ein Verbot gelegen hätte. Andererseits wird die Moral durch eine Jungsche Kollektivpsyche303 ersetzt und damit das Individuum entgrenzt. Als eine Art Freilegung und gleichzeitig Ausweg aus dem Dilemma der ,kollektiven Inhalte des Unbewussten‘, erscheint das Cut-Up. Nicht nur, dass durch diese Methode Ereignisse in ihrer Bedeutung relativiert, in unterschiedliche Kontexte gebracht und auf neue Weise mit Welt und Situation verknüpft werden können, die über das Individuum selbst hinausgehen. Es verdeutlicht auch das bereits vorhandene Archiv an Reflexionen, Verhaltensmustern, Handlungen und Ideen, das sich das Individuum auswählen und zunutze machen kann. Insofern verweist P-Orridge auf die Möglichkeiten der Wahl und das Ideal selbst durch Ausstellung dieses Prozesses. Als Mittel dient ihm dabei, sein eigenes Leben zur Kunst zu machen – oder wie es Camus formuliert: „In der Revolte entdeckt man die metaphysische Forderung nach Einheit, die Unmöglichkeit, ihrer habhaft zu werden, und die Herstellung einer Ersatzwelt. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Revolte eine Weltenherstellerin. Das kennzeichnet auch die Kunst. Die Forderung der Revolte ist in Tat und Wahrheit teilweise eine ästhetische.“304

Es wird deutlich, dass das Ideal den Menschen nicht davor bewahrt, seine Handlungen in den Kontext der Kompensation von individuellen Vorstellungen zu stellen und alles dafür zu tun, die eigene Wirklichkeit zu stützen. Auffallend ist, dass P-Orridge trotz seiner Konflikte mit anderen Menschen immer wieder für sein Schaffen die anderen gesucht hat. Sei dies als Performer in COUM, als Musiker bei Throbbing Gristle oder das ,Eye‘ bei seinen privaten Ritualen. Statt in der Individuation305 zu einem Einzelwesen zu werden, sucht er dauerhaft im Kol-

303 Siehe 3.1.6 ,Überführung von Unbewusstem in des Bewusstsein und Grenzziehung‘, S. 172. 304 Camus 2001, S. 284. 305 „P-Orridge‘s implementation of radical psychical and physical processes is to assured, calculated and framed within very clear programs of research to be considered clinically abnormal. His work may be considered as a process of what the psychologist Carl Jung called ‚individuation‘ albeit in a very extreme form.“ Wilson 2002, S.

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lektiv als Individuum aufzugehen306. Und doch erscheint dies als natürlich, denn wie bereits durch Camus deutlich wurde, beinhaltet Existenz auch nach Sartre nicht nur lediglich das Für-Sich, sondern die Menschen und ihr Miteinander307. Dem Für-sich kann es folglich nicht lediglich um sich selbst gehen. Für Sartre „erscheint“ nicht nur „das Für-Andere-Sein als eine notwendige Bedingung meines Fürmichseins.“308 Die Freiheit des Für-Sich besitzt neben ihrer eigenen „in der Existenz der Freiheit des Andern“309 eine weitere Grenze. Insofern hätte das Für-sich in gewisser Weise nicht nur die Pflicht, die Grenze der eigenen Freiheit kennenzulernen, sondern auch die der Anderen. Dass es dabei, wenn das Fürsich wie im Falle P-Orridges, seine eigenen Grenzen nicht kennt, zu Konflikten kommt, wurde bereits deutlich310. Es stellt sich die Frage, ob eine solche Vorstellung zum allgemeinen und allgemeingültigen Prinzip erhoben werden kann. Die Realität der Gesellschaft und der von ihr festgelegten Regeln kann, so scheint es, durch die Erschaffung eines eigenen Ich beziehungsweise einen solchen Versuch für das Subjekt gebrochen werden. Dabei entsteht eine eigene, dem Ich angehörende Realität, die jedoch nicht über es selbst hinausgeht. Zur ,Realität‘, die einer gesellschaftlichen Realität entgegenstehen kann, scheint es einer größeren Anzahl von Menschen zu bedürfen, die für eine solche Realität gemeinsam einstehen wollen.

55. Es wird hier nicht mit Julie Wilson davon ausgegangen, dass dieser Prozess als erreichbar angesehen werden kann – auch nicht mit den Mitteln der Kunst. 306 Siehe 3.1.7,Individualität und Gemeinschaftsdenken‘, S. 176. 307 Siehe 3.1.3 ,Vor- und Selbstbestimmung‘, S. 161f. 308 Sartre 2001, S. 433. 309 Sartre 2001, S. 904. 310 Siehe 3.1.6 ,Überführung von Unbewusstem in das Bewusstsein und Grenzziehung‘, S. 169ff.

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3.2 G EMEINSCHAFT

ALS

K UNSTFORM

Thee Temple ov Psychick Youth zählt zu den ,esoterischen Gemeinschaften’311, wird also nicht zwangsläufig als ,Kunstform‘ definiert. Sie ist kein Zusammenschluss von Künstlern, wie die avantgardistischen Bewegungen oder wie der Wiener Aktionismus312, von dessen Mitgliedern vor allem Otto Mühl Vorbild für Genesis P-Orridge ist313 – oder ein Performance-Projekt wie COUM Transmissions. Es geht ihr auch nicht darum, wie Fischer-Lichte für Nitsch und Schechner herausstellt, eine „Gemeinschaft[...] aus Akteuren und Zuschauern“314 im Gegensatz zur bereits genannten Verinnerlichung der Zuschauer des Künstlers zu vollziehen, obgleich der „Vollzug von Ritualen“315 auch im Temple, eine große Rolle spielt316. Der Temple ov Psychick Youth wird womöglich erst zur Kunstform im Kontext mit dem Kunstcharakter Genesis P-Orridge. Und dennoch scheint diese Gemeinschaft den Vorstellungen von einer Gemeinschaft als Kunstform sehr nahezukommen317. Trotz der Erfahrungen, die P-Orridge mit anderen Menschen gesammelt hat, treiben ihn seine Theorien im Jahr 1981318 an, eine Gemeinschaft zu gründen: „We called our experimental organization Thee Temple Ov Psychick Youth. Our previous involvement with mail art gave us a grounding in mailing out flyers and newsletters. My researches into ritual and directed orgasm became a central activity demanded 23 monthly sigils created [...].”319

311 „A creation of leading minds in the P-Orridgean sphere at the time, the group, usually called ‚TOPY‘, grew in number and as since been academically recorded in the history of esoteric movements.“ Abrahamson 2002, S. 33. 312 Zum Wiener Aktionismus als Gruppierung siehe Oberhuber 1989. 313 Siehe Ford 1999, S. 3.16f. 314 Fischer-Lichte 2004, S. 86. 315 Fischer-Lichte 2004, S. 86. 316 Siehe 3.2.3 ,Anleitungen und Rituale‘, S. 187ff. 317 Eikels stellt in Die Kunst des Kollektiven die verschiedenen Entwicklungen des Theaters dar, Einfluss auf das Publikum und in der Folge auf die Gesellschaft zu nehmen. Siehe Eikels 2013, S. 104ff. 318 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 405. 319 Breyer P-Orridge 2009, S. 405f.

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Ähnlich der Formulierung des Wunsches Otto Mühls durch Fleck, „den Aktionismus als Kommune weiterzuführen“ 320 , kann geschlossen werden, dass POrridge das Performance-Projekt COUM Transmissions in eine Gemeinschaft übersetzen möchte. Dafür spricht, dass er seine Erfahrungen aus der Performance-Kunst321 und seinen persönlichen Ritualen für den Temple übernimmt und zu einer Methode für Andere weiterentwickelt. In einem Aufsatz in der Psychick Bible bezieht er sich auf Mühl: „Otto Muehl‘s A. A. Kommune has seen that art must deal with the existing structures of a mass society with its tribal cultural experiment. Art performance will become academies of possibility by group.“322 Dahinter verbirgt sich der Wunsch beziehungsweise der Glaube P-Orridges: „there is really nothing that much more special about being an artist unless he makes a special attempt to be everyone else.“323 Bereits Beuys hat im Hinblick auf die gesellschaftlichen Umstände seiner Zeit324 den Schluss der Notwendigkeit eines Entwurfs einer „Sozialen Kunst“325, einer „Soziale[n] Plastik“326 gezogen, mit der „[d]ie Formel, ,jeder Mensch ist ein Künstler‘“327 verbunden ist. Sie „bezieht sich auf die Umgestaltung des Sozial-Leibes, an dem nicht nur jeder Mensch teilnehmen kann, sondern sogar teilnehmen muß, damit wir möglichst schnell die Transformation vollziehen.“ 328 Damit meint Beuys jedoch nicht, dass „jeder Mensch [...] ein guter Maler [ist] sondern es war ja die Fähigkeit gemeint, an jedem Arbeitsplatz, und es war gemeint, die Fähigkeit einer Krankenschwester oder [...] eines

320 Fleck 2003, S. 13. 321 Siehe Breyer P-Orridge 2009 S. 158. Auch seine rituellen Erfahrungen fließen vor allem im Hinblick auf die ,Sigils‘ in die Praktiken von TOPY ein. Siehe Wilson 2002, S. 74. 322 Breyer P-Orridge 2009, S. 494. 323 Breyer P-Orridge 2009, S. 494. 324 „In dieser Weise fühlte ich mich veranlaßt, mit dem Aussprechen in dieser Form etwas zu verbinden, das sich auf die Krise, nicht nur unseres Volkes, sondern auch auf die Krise in der ganzen Welt bezieht als auf die Ungestalt, in der sich der soziale Organismus überall befindet.“ Beuys 1985, S. 38. 325 Beuys 1985, S. 40. 326 Beuys 1985, S. 40. 327 Beuys 1985, S. 40. 328 Beuys 1985, S. 40.

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Landwirts als gestalterische Potenz und sie zu erkennen als zugehörig einer künstlerischen Aufgabenstellung.“329

Auf ähnliche Weise macht auch Camus darauf aufmerksam, dass die Gesellschaft die Arbeit mit dem Begriff der Schöpfung verbinden muss. „Die nunmehr notwendige Zivilisation wird in den Klassen wie im Individuum nicht mehr den Arbeiter vom Schöpfer trennen können“330. Geläufige Definitionen von Kunst können nicht auf eine Gemeinschaft wie den Temple ov Psychick Youth angewandt werden. Im Hinblick auf das Gesagte stellt sich die Frage, welche Attribute Kennzeichen für eine Gemeinschaft als Kunstform sein können. „What became apparent was that to evolve and remain relevant and vibrant, TOPY must become a template for a way of life.“ 331 Eine Gemeinschaft als Kunstform könnte entsprechend als ein auf Ideen basierendes mit Lebenspraxis verbundenes Experiment verstanden werden, dessen Mitglieder die Ideen verkörpern und sich durch ihr Engagement im Hinblick auf die Gemeinschaft künstlerisch einbringen. Sie impliziert Bewegung und ,Prozess‘ – entsprechend lautet eine Art Leitspruch des Temples of Psychick Youth: „Thee process is thee product.“332 Das neu erschaffene Ich P-Orridges, braucht, um Realität zu werden und Anerkennung zu finden, Andere, die die gleichen Vorstellungen und Ideologien haben; im besten Fall auch an einer radikalen Destruktion ihres alten Ich und einem Entstehenlassen eines neuen Ich interessiert sind. Infrage steht dabei zunächst die grundlegende Beschaffenheit des Bezugs von Ich und Anderen und damit ein zum Sein selbst gehörender Status von Mit-Sein.

3.2.1 Ein mit dem Sein selbst verbundenes ,Mit-Sein‘ „Singulär plurales Sein heißt: Das Wesen des Seins ist, und ist nur, als MitWesen [...]. Also nicht das Sein zuerst, dem dann ein Mit hinzugefügt wird, sondern das Mit im Zentrum des Seins.“333 Nancy betont nicht nur die Bedeutung

329 Beuys 1985, S. 44. 330 Camus 2001, S. 310. 331 P-Orridge 2009, S. 407. 332 P-Orridge 2009, S. 61. 333 Nancy 2012b, S. 59.

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des Miteinander-Seins, sondern macht deutlich, dass für ihn das Sein von Anfang an immer ein ,Mit-Sein‘ ist. Aufgrund dessen ist der Status des Individuums auch nicht einfach ein ,Ich bin‘. „Man müsste vielmehr die dritte Person als die in Wirklichkeit erste denken. Sie wird dann also die erste Person Plural. Und das Sein lässt sich dann nur auf diese singuläre Weise sagen: ,Wir sind‘.“334 Zu diesem Schluss kommt auch Sartre, wenn er sagt: „,Wir‘ kann Subjekt sein, und in dieser Form kann es einem Plural von ,ich‘ gleichgesetzt werden.“335 Allerdings verbindet Nancy dieses ‚Mit-Sein’ nicht mit dem Glauben an die Gemeinschaft, denn sie „könnte also durchaus sowohl der älteste Mythos des Abendlandes als auch der durch und durch moderne Gedanke der Teilhabe des Menschen am göttlichen Leben sein: Es ist dies die Vorstellung vom Menschen, der in die reine Immanenz eindringt.“336

Das Sein des Menschen ist nach den Theorien Nancys und Sartres, aber auch Camus’ 337 immer ein ‚Mit-Sein‘. Sartre grenzt seine Definition des Mit-Seins vom Mit-Anderen-Sein und damit auch von Heidegger ab: „Die Existenz des Andern hat nämlich – und das wird der neue Gewinn sein, den wir aus der kritischen Prüfung der Heideggerschen Lehre ziehen – die Natur eines kontingenten und unreduzierbaren Faktums. Man begegnet dem Andern, man konstituiert ihn nicht.“338

Der Andere besitzt für Sartre eine nicht hintergehbare Realität und steht dem Ich gegenüber. Er ist ein sichtbares „Faktum“339, wohingegen das Mit-Sein nicht die Form der Gegenständlichkeit beinhaltet. Sartre unterscheidet deshalb zwischen „Objekt-Wir“340 und „Subjekt-Wir“341:

334 Nancy 2012b, S. 63. 335 Sartre 2001, S. 720. 336 Nancy 1988, S. 28. 337 Siehe 3.1.7 ,Individualität und Gemeinschaftsdenken’, S. 176f. 338 Sartre 2001, S. 452. 339 Siehe Sartre 2001, S. 464 und insbesondere die Bedeutung des ,Blicks‘ bei Sartre – Siehe Ebd., S. 467 und S. 474. 340 Sartre 2001, S. 746. 341 Sartre 2001, S. 746.

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„Das erste ist die Enthüllung einer realen Existenzdimension und entspricht einer bloßen Bereicherung des ursprünglichen Erfahrens des Für-Andere. Das zweite ist die psychologische Erfahrung eines historischen Menschen [...]: sie enthüllt nichts Besonderes, sie ist ein rein subjektives ,Erlebnis‘.“342

Während der Andere also nach Sartre eine konkrete Erfahrung in der Welt für das Ich darstellt, findet das ‚Mit-Sein‘ lediglich in der Vorstellung statt. „Der ursprüngliche Bezug des andern zu meinem Bewußtsein ist nicht das Du und Ich, sondern das Wir, und das Heideggersche ,Mitsein‘ ist nicht die klare und deutliche Position des Individuums gegenüber einem andern Individuum, ist nicht die Erkenntnis, sondern die dumpfe Gemeinschaftsexistenz“343.

Für Heidegger ist das ‚Mitsein‘ dem Sein nicht inhärent, sondern es ist eine „Seinsverfassung des Daseins“344. Begegnung mit anderen finde „primär in ihrem In-der-Welt-sein“345 statt. Aber damit ist sie nach Heidegger eine „Seinsart des mitseienden In-der-Welt-seins im verstehenden Kennen dessen, was das Dasein mit den Anderen umweltlich umsichtig vorfindet und besorgt.“346 Insofern beinhaltet das Mitsein nach ihm die Formen der Sorge und damit ein Erkennen des/der Anderen. Wenn Sartre also Heideggers ‚Mitsein‘ als „ein absolutes ,gemeinsames Alleinsein‘“347 definiert, stellt sich die Frage, warum „[d]as Alleinsein“ nicht mit Heidegger als „ein defizienter Modus des Mitseins“348 verstanden werden kann? Heidegger löst letztlich das Mitsein im ,Man‘ auf, in dem gilt „[d]as Man ,war‘ es immer und doch kann gesagt werden, ,keiner‘ ist es gewesen.“349 Insofern bietet das ,Man‘ Heideggers das Verschieben der Übernahme von Verantwortung.

342 Sartre 2001, S. 746. 343 Sartre 2001, S. 447. 344 Heidegger 2006, S. 121. 345 Heidegger 2006, S. 120. 346 Heidegger 2006, S. 124. 347 Sartre 2001, S. 447. 348 Heidegger 2006, S. 120. 349 Heidegger 2006, S. 127.

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„Die Welt entspringt immer und jedes Mal in einer exklusiven lokal-augenblicklichen Wendung. Ihre Einheit, Einzigartigkeit und Totalität besteht in der Kombinatorik dieser vernetzten Vielheit ohne Resultante. [...]. Deshalb ist das Heidegger‘sche Man als erste Annäherung an die existenzielle ,Alltäglichkeit‘ nicht hinreichend.“350

Wie Nancy deutlich macht, gründet das Subjekt in der Vielheit der Möglichkeiten in der Welt, während Heidegger das Selbst als eine mögliche Einheit denken möchte, das sich aus dem ,Man‘ „Zurückholen“351 kann. Gegenüber der Möglichkeit der Erschaffung eines Individuums durch Individuation, wie es mit Jung dargestellt wurde352, kann in der Folge gefragt werden, ob eine Gemeinschaft als ein Versuch verstanden werden kann, Erfahrungen und Erlebnisse des Mit-Seins in eine Form zu bringen. Aber für eine solche Darstellung einer Gemeinschaft bedarf es zunächst einer Abgrenzung zur Beschaffenheit der Gesellschaft.

3.2.2 Unterschiede zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft „[W]e hold firm thee truth that nothing is beyond our capabilities when we work together. The tribe exists everywhere, butter it is invisible to those who don‘t know how to see.“353 Wie jede Gemeinschaft, die sich parallel zur Gesellschaft entwickelt oder wie Nancy es bezeichnet „uns also von der Gesellschaft ausgehend zustößt“354, besteht die Begründung einer Gemeinschaft für P-Orridge in dem gemeinsamen Erreichen von Zielen, die jedoch nicht denen der Gesellschaft entsprechen. Diese Art der ,Radikalität‘ ist nach Plessner „Vernichtung der gegebenen Wirklichkeit zuliebe der Idee, die entweder rational oder irrational, aber in jedem Sinne unendlich ist, Vernichtung der Schranken, die ihrem vollkommenen Ausdruck gezogen sind, um ihrer Materialität, Ungeistigkeit, Unlebendigkeit willen.“355

350 Nancy 2012b, S. 29. 351 Heidegger 2006, S. 268. 352 Siehe 3.1.7 ‚Individualität und Gemeinschaftsdenken‘, S. 174f. 353 P-Orridge 2009a, S. 98. 354 Nancy 1988, S. 31. 355 Plessner 2002, S. 17f.

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Die Theorien des Temples sind allerdings nicht auf die Vernichtung der Gesellschaft ausgerichtet, sondern vielmehr eine ,Gemeinschaft‘ entstehen zu lassen. Der Temple beinhaltet dabei sowohl ,Exklusivität‘ als auch ,Allgemeingültigkeit‘356. Obgleich es unterschiedliche Ansichten im Verständnis dahingehend gibt, welche Formen Gesellschaft und Gemeinschaft im Zusammenleben der Menschen einnehmen – so ist zum Beispiel für Durkheim die Familie eine Gesellschaftsform 357 , während sie für Plessner 358 und auch Nancy 359 eine Gemeinschaftsform darstellt – erweist sich der Unterschied als bedeutend, der sich zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft ausmachen lässt. Während Erstere nach Nancy „ein Zusammenschluß oder eine Verteilung von Kräften und Bedürfnissen ist“, kennzeichnet „Gemeinschaft [...] Mitteilen, Auflösen oder Eindringen einer Identität in eine Pluralität, und zwar so, daß jedes einzelne Mitglied dieser Pluralität seine Identität nur genau durch diese zusätzliche Vermittlung seiner Identifikation mit dem lebendigen Körper der Gemeinschaft findet.“360

Jedoch bringt Nancy die Gemeinschaft in Verbindung mit einem Gefühl der ,Brüderlichkeit‘361, das für Plessner den Schwachen kennzeichnet: „[S]tark ist, wer den ganzen Wesenskomplex der Gesellschaft um der Würde des einzelnen Menschen und der Gesamtheit willen bejaht, schwach ist, wer die Würde um der Brüderlichkeit in der Gemeinschaft willen preisgibt.“362 Mitglieder für den Temple werden nach einem bestimmten Prinzip gesucht und ausgewählt:

356 Siehe 3.2 ‚Anleitungen und Rituale‘, S. 187. 357 „Die Familie ist also so etwas wie eine vollständige Gesellschaft, deren Einfluß sich sowohl auf unsere ökonomische wie auf unsere religiöse, politische, wissenschaftliche usw. Tätigkeit erstreckt.“ Durkheim 2012, S. 58. 358 „Wo immer das Leben sich gemeinschaftlich gestaltet, in der Familie, im hauswirtschaftlichen Verband von Herrschaft und Gesinde [...].“ Plessner 2002, S. 43. Allerdings vollkommen eindeutig ist dies auch bei Plessner nicht. Siehe ebd., S. 114. 359 „Im Leitspruch der Republik definiert die Brüderlichkeit die Gemeinschaft: es ist dies das Modell der Familie und der Liebe.“ Nancy 1988, S. 27. 360 Nancy 1988, S. 27. 361 Siehe Nancy 1988, S. 27. 362 Plessner 2002, S. 31f.

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„Next, go looking for these unorthodox, like-minded individuals, have undying faith that they exist and are probably looking for you too. Offer stimulation, speculation, exchange ideas, [...]. Nothing is stronger in its anarchic potency and cultural resonance than a pack of previously ‚lone‘ wolves.”363

Das Bild der ,einsamen Wölfe‘, das P-Orridge hier benutzt, verweist auf die Notwendigkeit der Mitglieder, innerhalb der Gemeinschaft individuell zu bleiben, wodurch sich die Gemeinschaft nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch von anderen Gemeinschaften abgrenzen will. Aufgrund dessen betont POrridge nach der Auflösung des Temple: „There‘s a difference between tribalism and the mob mind. Our tribe was based on individual strength, while the mob is based on individual weakness and communal strength.“364 Eine Gemeinschaft setzt sich nach Plessner durch „Geburt, Einweihung, Überzeugung, Wahlverwandtschaft“ 365 zusammen. Dabei macht er eine Einschränkung: „Kommt sie nicht aus der Geburt, so muß der einzelne in die Gemeinschaft nach bestimmten Zeremoniell aufgenommen sein. Es soll dadurch die Person sozusagen mit Haut und Haaren, existentiell, nicht nur auf Treu und Glauben, in die Bindung eines überpersönlichen Lebens übergehen.“366

Entsprechend geht damit bei Plessner der „Verzicht auf Behauptung des eigenen Selbst“367 einher. Angesichts dessen ergibt sich jedoch seiner Meinung nach ein Problem, denn ,Bindung‘, ,Vertrauen‘ und ,Geborgenheit‘, sind an ein besonderes Gefühl gebunden. „[I]m Zugehörigkeitsgefühl ist Gemeinschaft noch nicht beschlossen, es bedarf echter Liebe zwischen ihren Gliedern, um sie in Wirklichkeit aufzubauen. Darum schließen sich echte Gemeinschaften stets um eine verehrte Person […].“368

363 Breyer P-Orridge 2009, S. 103. 364 Kinney/Breyer P-Orridge 2009, S. 344. 365 Plessner 2002, S. 58. 366 Plessner 2002, S. 45. 367 Plessner 2002, S. 58. 368 Plessner 2002, S. 48.

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Individualität, die für die einzelnen Mitglieder nicht erlaubt ist, wird in einer Gemeinschaft für Plessner nur von einem Anführer verkörpert, der das Zentrum und den Anhaltspunkt für alle darstellt. „Wo immer das Leben sich gemeinschaftlich gestaltet, in der Familie […] oder im Bund, der unter geistiger Idee steht, in der religiösen Gemeinde bringt es ein emotional getragenes Führertum hervor.369 Bei Plessner steckt also in diesem Aufgehen in der Vielheit der Verlust der Individualität der Vielen, zugunsten der Individualität eines einzelnen Menschen. Der Temple ov Psychick Youth beinhaltet allerdings gezielte Praktiken, die jedem Individuum sowohl zum Finden der eigenen Individualität verhelfen als auch garantieren sollen, als Individuum Teil der Gemeinschaft zu sein.

3.2.3 Anleitungen und Rituale „Our emphasis from now on is as a philosophical, occult movement; a church without orthodoxy or dogma, an elite organization dedicated to coumtinuance of individual choice and options. Discipline of thee self, involvement to whatever degree a person wishes.”370

P-Orridge versteht die von ihm gegründete Gemeinschaft Temple ov Psychick Youth trotz seiner Abneigung gegen den Glauben und vor allem der Kirche als eben eine solche. Im Unterschied jedoch zu einer herkömmlichen Kirche soll die Theorie des Temples, die in der Psychick Bible ihre Form findet, ermöglichen, dass sich jedes Individuum nach seinen Bedürfnissen erkennen und entfalten kann. Entsprechend beinhaltet die Psychick Bible Aufsätze unterschiedlicher Mitglieder und Kooperationen unter denselben371. Wie eine Kirche verlangt auch der Temple von den Mitgliedern ,Disziplin‘, um eine Regel des Temple garantieren zu können: „The Temple is a church of only LEADERS, no followers.“372 Sie dient also in diesem Falle dazu, jeden selbstständig zu machen, um eigene Regeln zu definieren und nicht dazu, fremde Regeln lediglich zu befolgen. Für POrridge ist deshalb „[t]he voluntary relinquishing of responsibility for our lives and actions [...] one of the greatest enemies of our times.“373

369 Plessner 2002, S. 43. 370 Breyer P-Orridge 2009, S. 31. 371 „Thee ‚Psychick Bible’ is a result of co-operation and shared dreams, hopes and dynamic imagination.“ Breyer P-Orridge 2009, n.p. 372 Breyer P-Orridge 2009, S. 32. 373 Breyer P-Orridge 2009, S. 39.

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Der Temple ist ein Versuch, eine Unterscheidung zu fällen zwischen Befehl und Vorgehensweise – ,Instruktion‘ und ,Methode‘: „What we suggest next is not instruction. It is method – a method which can be used by anyone, alone with friends, regardless of any material or social circumstances; a method to be used by the Individual to break through to their deeper consciousness, where fantasies, ambitions and real wishes reside, the place where all dreams meet.”374

Er verkörpert die Idee, seinen Mitgliedern eine Methode näher zu bringen, mit der sie in der Lage sein sollen, ihrem Unbewussten zu begegnen, es zu erkunden und ihre Wünsche umzusetzen, statt sich selbst den Regeln und Bedürfnissen von Institutionen wie Religion und Politik zu ergeben und in diesen, im ,Man‘375 aufzugehen. Eine Erweiterung dieser Theorie auf andere erscheint jedoch nicht ohne den entsprechenden Zwiespalt zu lösen: Es ist eine Methode für ,Jeden‘ und gleichzeitig eine, die lediglich für die Mitglieder einer ,elitären Organisation‘ geeignet ist, denn sie setzt einen Menschen voraus, der bereit ist, sich auf die eigene Individualität zu berufen und Verantwortung zu übernehmen376. Grenzziehung ist für eine Gemeinschaft laut Plessner unerlässlich, denn „Gemeinschaft ohne diese Grenze ist keine Gemeinschaft mehr. Paradox gesagt: wäre auch nur einen Augenblick das urchristliche Ideal, der ekstatische Gefühlskommunismus allverbindender Liebe zwischen allen Menschen verwirklicht, so hätte die Menschheit den äußersten Gegenpol dessen erreicht, was sie wollte.“377

Trotz des Bewusstseins für diese Abgrenzung, die immer wieder deutlich wird, beinhaltet der Temple den Wunsch, diese Grenzen aufzulösen. Allgemeingültig soll diese Methode aufgrund ihrer tiefliegenden Verankerung im Menschen sein: „People can most readily identify and relate to dreams that are sexual, and that is the primary reason for our choice of sex as vehicle for this method to begin with. Our interest is therefore practical.“378 Sexualität wird damit zum Prinzip erhoben, um zu einer Erkenntnis über das eigene Selbst zu gelangen.

374 Breyer P-Orridge 2009, S. 41. 375 Siehe 3.2.1 ,Ein mit dem Sein selbst verbundenes ,Mit-Sein‘‘, S. 183f. 376 Siehe 3.2.2 ‚Unterschiede zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft‘, S. 184ff. 377 Plessner 2002, S. 56. 378 Breyer P-Orridge 2009, S. 41.

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Eine solche Vorgehensweise kann mit Foucault in eine lange Tradition gestellt werden, für die im 19. Jahrhundert insbesondere die christliche Beichte eine Vorbildfunktion eingenommen hat. „Die scientia sexualis, wie sie seit Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt worden ist, bewahrt in ihrem Kern paradoxerweise den eigentümlichen Ritus der obligatorischen, erschöpfenden Beichte, die im christlichen Abendland die erste Technik zur Produktion der Wahrheit des Sexes darstellte.“379

Davon übrig geblieben sei lediglich das Wissen um diesen Diskurs und dessen Praktiken, weshalb „Medizin, die Psychiatrie und die Pädagogik begannen, es festzuhalten“380 und ein Archiv anlegten. Dieses aus dem Christentum stammende Ritual der Beichte fußt, wie Foucault aufzeigt, auf einer bestimmten Technik: dem ,Geständnis‘381. Darunter versteht er „ein Diskursritual, in dem das sprechende Subjekt mit dem Objekt der Aussage zusammenfällt, und [...] das sich innerhalb eines Machtverhältnisses entfaltet, denn niemand leistet sein Geständnis ohne die wenigstens virtuelle Gegenwart eines Partners, der nicht einfach Gesprächspartner, sondern Instanz ist, die das Geständnis fordert [...].“382

Insofern wäre der Aufruf P-Orridges, an ihn und die Mitglieder des Temples, die eigenen sexuellen Träume zu gestehen, gleichzeitig eine Forderung, die in gewisser Weise eine moralische Abnahme erteilt. Dies geschieht zum einen durch die monatlich entstehenden Sigils, ein Ritual, das nicht verbal, sondern künstlerisch dem Begehren Ausdruck verleiht, es freilegen und verständlicher machen soll. Praktiziert wird es „on the 23rd of each month at 23 hours Greenwich Mean Time.“383 Sexualität soll dabei für das Ich zu einem besonderen rituellen Ausdruck gelangen, um ,Erfahrungen‘384 über das eigene Selbst zu sammeln. „Indeed it is essential that thee ritual be one that is re-

379 Foucault 1983, S. 71. 380 Foucault 1983, S. 67. 381 Siehe Foucault 1983, S. 65. 382 Foucault 1983, S. 65. 383 Breyer P-Orridge 2009, S. 406. 384 „All must coum from experience, and all experience is ov value. It is simply a question of observation;“ Breyer P-Orridge 2009, S. 95.

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flective ov who you are, and so should be thee result ov personal input intuitively arrived at.“385 „Im Rahmen der allgemeinen Tabuistik [...] nimmt“ nach Hirschfeld und Götz „das Geschlechtliche einen hervorragenden Platz ein.“ 386 . Entsprechend dient im Temple Sexualität dazu, Kunst ohne Produkt im Werksinne entstehen zu lassen. „Although we strongly recommend thee making ov a Sigil Paper, other methods ov recordings may also be incorporated into thee ritual: polaroids, photographs, cassette recordings, drawings [...], film or video. [...] [. A]ll these methods should be used in thee ritual to heighten thee intensity ov what it is you do, rather than purely document thee event.”387

Diese Methode hat deshalb nicht nur rituellen sondern auch ,magischen‘ Charakter: „Life becoums fluid, a continual transformation ov color, energized with magickal purpose.“ 388 In Form von Ritualen werden „Beziehungen zwischen dem Profanen und dem Heiligen“ 389 ermöglicht, wie sie Durkheim beschreibt, denen allerdings eine besondere Bedeutung zukommt, da, wie Bloch feststellt, „[d]ie geschlechtliche Hingebung als rein sinnlicher Akt [...] mit einem religiösen Gefühle verknüpft [ist].“390 Beachtet werden muss, dass Sexualität im Temple nicht, wie in den Anfängen der Sexualwissenschaft definiert, mit dem Ziel der Fortpflanzung verbunden ist391 und aufgrund dessen von Krafft-Ebing als „pervers“392 bezeichnet werden würde. Von diesen Sigils wird ein anonymisiertes Archiv angelegt393 und so entsteht statt eines Archivs der Worte zur Wahrheit, wie sie nach Foucault die ,scientia

385 Breyer P-Orridge 2009, S. 97. 386 Hirschfeld/Götz 1929, S. 15. 387 Breyer P-Orridge 2009, S. 97. 388 Breyer P-Orridge 2009, S. 99. 389 Durkheim 2007, S. 443. 390 Bloch 1908, S. 113. 391 Zur Verbindung von Sexualität und Fortpflanzung siehe Hirschfeld/Götz 1929, S. 7ff. 392 „Als pervers muss – bei gebotener Gelegenheit zu naturgemässer geschlechtlicher Befriedigung – jede Aeusserung des Geschlechtstriebes erklärt werden, die nicht den Zwecken der Natur, i.e. der Fortpflanzung entspricht.“ Krafft-Ebing 1984, S, 68. 393 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 415.

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sexualis‘ produziert, ein Archiv der Kunst des Körpers, das für Außenstehende verschlossen bleibt. Zum anderen hält der Temple wöchentliche Sitzungen ab, in denen jeder die ,Geschichte seines Lebens‘ erzählen soll und sich damit direkt in die Tradition der Beichten stellt. „One potent and fulfilling exercise was the TOPY Life Story. Each Monday one Individual would be chosen, or would volunteer, to tell their life story – the rule being that NOTHING is left out [...]. The act of trust involved in revealing such vulnerability was immense.”394

Es wird deutlich, dass Gemeinschaft, wie Plessner feststellt, „Affektwerte höchsten Grades einschließt. Aus ihr spricht, ob Lebens- oder Glaubensgemeinschaft, die Gewalt unmittelbarer Lebendigkeit letzter Entschleierung“395 und damit das Teilen von ,Geheimnissen’; im Fall des Temples insbesondere über die eigene Sexualität. Diese offenen ,Geständnisse‘ sowie die monatliche Wiederholung des Sigils, dienen sowohl als Ritual als auch als ,Zeremoniell‘, das nicht lediglich den Eintritt, wie ihn Plessner betont396, sondern die dauerhafte Zugehörigkeit zur Gemeinschaft garantiert. Durch diese Wiederholung wird auch versucht, an das Verantwortungsgefühl für die eigene Individualität der jeweiligen Mitglieder zu appellieren. „It seemed apparent to us all that committed repetition of a personally developed magickal language and set of talismanic objects could literally ‚FORCE THE HAND OF CHANCE‘. [...] [. M]aking what you wished to happen more and more likely as you continued using sigils to reinforce your will.”397

Von der Beichte des Christentums zur Psychoanalyse im 19. Jahrhundert hat sich, wie Foucault verdeutlicht, eine Verschiebung in der Bedeutung der Sexualität ergeben. „Als die ersten Demographen und Psychiater des 19. Jahrhunderts auf ihn zu sprechen kommen mußten, meinten sie sich dafür entschuldigen zu müssen […].“398 Aber dies hat sich in der Folge derart geändert, dass die Be-

394 Breyer P-Orridge 2009, S. 408f. 395 Plessner 2002, S. 45. 396 Siehe 3.2.2 ,Unterschiede zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft‘, S. 186. 397 Breyer P-Orridge 2009, S. 412. 398 Foucault 1983, S. 14.

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schäftigung mit dem Sex im Temple genau diesem „Hauch von Revolte, vom Versprechen der Freiheit“399 zu umgeben scheint, von dem Foucault in Bezug auf „die Unterdrückung des Sexes“400 spricht. Entsprechend ist die von ihm gekennzeichnete „Technik zur Produktion der Wahrheit des Sexes“401 für die Mitglieder im Temple mit einem „Zugang zu seiner Selbsterkennung [...], zur Totalität seines Körpers [...], zu seiner Identität“402 verbunden, wie ihn Foucault für die Veränderung in der Bedeutung des Sexes beschreibt. An diese Herangehensweise geknüpft ist seit der Antike die „Analyse der Träume“, die „zu den Existenztechniken gehörte.“403 Eine Beschäftigung mit Träumen und Sexualität kann mit Foucault zu den Formen der ,Sorge um sich‘ gezählt werden. Dadurch wird „die sexuelle Aktivität als moralischer Bereich konstituiert.“404 Obwohl Foucault seine Zeit als eine solche bewertet, die die Erkundung der eigenen Sexualität in den Mittelpunkt stellt, führen die Aktionen und Rituale des Temples und dessen Sigil Archivs letztlich dazu, dass Genesis P-Orridge England verlassen muss. „[T]hat sex magick was central to our contemporary occult way of life. This was both our ‚selling‘ point and our downfall.“405

3.2.4 Organisation und Formen der Gemeinschaft Der Temple ov Psychick Youth versucht, sich aus selbstständigen und sich selbst bewussten Individuen zusammenzusetzen und auf Hierarchien zu verzichten. Einem solchen Versuch gegenüber steht die Frage nach Möglichkeiten der individuellen Entwicklung in der Gemeinschaft sowie möglichen Entwicklungen, die sich innerhalb dieser Gemeinschaft zwischen Individuen ergeben und damit zu einer produktiven und gleichberechtigten Organisation der beteiligten Individuen verhelfen. Sowohl bei Plessner als auch bei Jung ist eine spezifische Gesellschaftsperson zu finden. Ersterer bezeichnet sie als „Maske“: „Der Mensch verallgemeinert und objektiviert sich durch eine Maske, hinter der er bis zu einem gewissen Gra-

399 Foucault 1983, S. 14. 400 Foucault 1983, S. 14. 401 Foucault 1983, S. 71. Siehe auch folgende Seiten. 402 Foucault 1983, S. 150. 403 Foucault 1989b, S. 11. 404 Foucault 1989a, S. 17. 405 Breyer P-Orridge 2009, S. 412.

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de unsichtbar wird […]. Eine Zweiteilung entsteht zwischen Privatperson und Amtsperson [...].“406 – Letzterer „als Persona“407, hinter der jedoch das Attribut der Maske steht408. Sie dient bei beiden dazu, die Anforderungen von Ämtern und Arbeit in der Gesellschaft zu erfüllen. P-Orridge ist der Ansicht, dass die Individuen die Gesetze der Gesellschaft derart verinnerlicht haben, dass sie dieselben ohne Widerspruch und ohne die Strukturen zu erkennen verkörpern: „With the passage of history, society‘s control over individuals has been so progressively subtle that it has becoum imperceptible, perhaps even genetically inherited. [...]. Control is so able to shroud an individual‘s perception of reality in trivia as to becoum a uniform reality in itself.”409

Wenn Jung die Individuation als Grundlage für die „Weltverbesserung“410 bezeichnet, kreist seine Theorie doch letztlich um eine „Gesamtpersönlichkeit“, die sich „zwischen Bewußtsein und Unbewußtem“411 befindet. Für Plessner ist der Mensch „ewige Potentialität“412, aufgrund deren sich die Menschen nie vollständig kennen können. Diesbezüglich stellt auch Jung fest: „Die erdrückende Mehrzahl der Menschen ist gänzlich unfähig, sich individuell in die Seele eines andern zu versetzen. [...] [. D]as Äußerste und Beste, was wir zu tun vermögen, ist, dieses Andere wenigstens zu ahnen, zu achten, und uns vor der gewalttätigen Stupidität, es deuten zu wollen, zu hüten.“413

Entscheidend erscheint, dass sich Menschen nur bis zu einem gewissen Grad verstehen können, weshalb P-Orridge im Zusammenhang mit dem Temple feststellt: „Not one person understands another. Almost everything in life is wrong. There can be no accurate meaning. It is all accidental, nothing is controlled, at

406 Plessner 2002, S. 82. 407 Jung 1998, S. 41. 408 Siehe 3.1.7 ,Individualität und Gemeinschaftsdenken‘, S. 174. 409 Breyer P-Orridge/Dwyer 2009, S. 56. 410 Jung 1998, S. 111. 411 Jung 1998, S. 106. 412 Plessner 2002, S. 59. 413 Jung 1998, S. 105.

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least by us. We are thrall to the Law of Accident.“414 Eine Totalität lässt sich in der Gemeinschaft, so Plessner, nicht herstellen, weshalb „[j]edes Zusammenleben [...] den Keim des Aneinandervorbeilebens in sich [trägt], weil die Seelen mehr sind als was sie wirklich sind. Auf die Gnade völligen Einklangs der Wesens läßt sich Gemeinschaft nicht bauen.“415 Was Jung als ,Individuation‘ bezeichnet416, nimmt auch bei Plessner, allerdings in Form von ,Individualisierung‘ einen Platz ein. „Der Mensch aber, welcher in der Herausarbeitung individuell-seelischen Seins den Quell zu großen Werten spürt, muß das Schicksal der Individualisierung auf sich nehmen.“417 Es bleibt jedoch unklar, wo sich diese Individualisierung verwirklichen soll, denn in den Bereich der Gemeinschaft ist sie zumindest nach den Vorstellungen Plessners nicht zu rechnen, da dieselbe die Bedürfnisse des Körpers418 verneint und lediglich die „Vergeistigung“ 419 ihrer Mitglieder anstrebt. Im Gegensatz dazu wird allerdings gerade durch die Bedeutung der Sigils im Temple deutlich, dass diese versuchen, dem Körper und seinem Begehren einen Platz einzuräumen. Insofern besitzt der Temple ein Ideal auf geistige und körperliche Art und Weise, sowohl zu einem individuellen Selbst als auch zum Streben für die Menschlichkeit zu finden. „During the later years of TOPY we began to feel that just obsessing on personal self-improvement and ‚therapy‘ was not enough. [...]. As a more purely realized Individual one becomes aware of one‘s inclusion in the human species.“420 Neben den Möglichkeiten der Entwicklung von Individualität und dem Bestreben des Erhalts einer individuellen Position innerhalb der Gemeinschaft, entwickeln sich innerhalb von Gemeinschaften, wie mit Jung deutlich wird, zwangsläufig Hierarchien mittels kollektiver Berufung. In seiner Beschäftigung mit der Kollektivpsyche unterscheidet Jung zwischen ,Propheten und Jüngern’421, obgleich er misstrauisch im Hinblick auf die Existenz von Propheten ist, denn „[j]eder richtige Prophet wehrt sich zunächst mannhaft gegen die unbewußte Zumutung dieser Rolle. Wo daher ein Prophet im Handumdrehen entsteht,

414 Breyer P-Orridge 2009, S. 351. 415 Plessner 2002, S. 59. 416 Siehe 3.1.7 ,Individualität und Gemeinschaftsdenken‘, S. 175. 417 Plessner 2002, S. 60. 418 Siehe Plessner 2002, S. 60. 419 Plessner 2002, S. 61. 420 Breyer P-Orridge 2009, S. 418. 421 Siehe Jung 1998, S. 54.

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denkt man besser an einen psychischen Gleichgewichtsverlust.“422 Ein Prophet wird also laut Jung von anderen Menschen zu dieser Rolle auserkoren, aber die Annahme derselben erscheint als individuelle Entscheidung. Aufgrund seiner ,Zweifel‘ gegenüber dem Propheten, kommt dem ,Jünger‘ bei Jung eine positivere Bedeutung zu, da dieser sich selbst auf Kosten des Propheten entwickeln kann. „Durch seine Verhimmelung wächst man, ohne es anscheinend zu bemerken, selber in die Höhe, und überdies hat man ja die große Wahrheit […] aus des ,Meisters‘ eigenen Händen empfangen.“423 Der Jünger hat also nach Jung den Vorteil, sich durch den Propheten hindurch zu erschaffen, der zudem die Last und Verantwortung für seine Jünger trägt. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Hegel im Bezug auf Herrschaft und Knechtschaft: „[W]ie die Herrschaft zeigte, daß ihr Wesen das Verkehrte dessen ist, was sie sein will, so wird auch wohl die Knechtschaft vielmehr in ihrer Vollbringung zum Gegenteile dessen werden, was sie unmittelbar ist; sie wird als in sich zurückgedrängtes Bewußtsein in sich gehen und zur wahren Selbständigkeit sich umkehren.“424

Keine Seite hat, so Jung, den Vorteil, mehr Individualität zu besitzen als die andere, sondern beide opfern sich der Kollektivität425. Allerdings muss der Prophet mehr Willen zur ,Selbstständigkeit‘ vorweisen als der Jünger. „Die Genüsse der damit verbundenen Inflation sind dann wenigstens ein kleines Entgelt für den Verlust der geistigen Freiheit.“426 Letztlich scheint sich beides gegenseitig zu bedingen, ist beides für Jung „menschlich“ und „verständlich“427. Die Theorien zur Gemeinschaft von Jung und Plessner verweisen auf die Notwendigkeit des Anführers, während der Temple einen Weg jenseits von Hierarchien zu gehen sucht. Alle TOPY Individuen erhalten eine Nummer und gemäß ihres Geschlechts, „Males were EDENs and females were KALIs“428, einen Namen.

422 Jung 1998, S. 54. 423 Jung 1998, S. 54. 424 Hegel 1986, S. 152. 425 Siehe Jung 1998, S. 55. 426 Jung 1998, S. 55. 427 Jung 1998, S. 55. 428 Breyer P-Orridge 2009, S. 415.

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„TOPY was built almost as an anti-cult. We hoped to avoid the traditional methods of engendering belonging by rejection of the past. So the names were used to give a sense of equality. After a year or two, we noticed that people with lower numbers were copping an attitude at TOPY gatherings.”429

Was für die Anonymisierung der Sigils funktioniert hat430, erweist sich als ein Problem der Gleichberechtigung, da Nummern aufgrund ihrer Reihenfolge einen bestimmten Wert besitzen und sich die Menschen mit diesem gegebenen Wert identifizieren. Um dies zu vermeiden, entscheiden die Mitglieder des Temples, die Nummern nach einem bestimmten Zyklus wieder zu ändern, „so that NO sense of superiority or specialness could even be implied.“431 Dies betrifft die zufällig verteilten Nummern, aber nicht die Realität der Gemeinschaft, in der sich auf Dauer Unterschiede im Engagement der einzelnen Mitglieder zum Erhalt derselben einstellen, denn um sich zu finanzieren, muss die Gemeinschaft Geld einnehmen. In Bezug darauf unterscheidet P-Orridge zwischen Individuen, die sich wenig bis gar nicht einsetzen: „there WERE casually involved Individuals, not much beyond consuming the events [...]. Other people regularly gave time and assistance to TOPY [...]; others lived in TOPY houses full time in the UK, Germany, Holland and the USA.”432

Auf der anderen Seite gibt es aber auch solche, die sich dauerhaft einsetzen, bis zu denen, die suchen vollständig in der Gemeinschaft aufzugehen: „Beyond even that full-time dedication to TOPY as a way of life were those of us, very similar in a way to The Process‘ Masters, who not only lived in TOPY houses full-time, but also made TOPY our occupation.“433 Trotz der guten Vorsätze scheint die Realität der Gemeinschaft die Notwendigkeit der Unterscheidung angesichts des eingebrachten Wertes der einzelnen Mitglieder für die Gemeinschaft mitzubringen, denn genau dieser Grund führt im Temple zu einer Unterscheidung in „RATIOS“434 von eins bis fünf, um die Tätigkeiten der Mitglieder einzuteilen und festzuhalten. „We mainly used these demarcations to decide who got to read

429 Breyer P-Orridge 2009, S. 416. 430 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 415. 431 Breyer P-Orridge 2009, S. 416. 432 Breyer P-Orridge 2009, S. 416. 433 Breyer P-Orridge 2009, S. 417. 434 Breyer P-Orridge 2009, S. 417. Siehe auch folgende Seiten.

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more sensitive memoranda and/or were informed of legal and media crises“435. Ohne das Wissen der restlichen Mitglieder, entscheidet der ,engagierte Teil der Gemeinschaft‘, eine Unterscheidung vorzunehmen und sich selbst von den anderen abzugrenzen. Der Temple kommt letztlich um die Probleme der Hierarchie nicht herum, sowohl für die Abgrenzung von Mitgliedern der Gemeinschaft, als auch im Hinblick auf die Führung436. „My rejection of that pressure to become the Omega figurehead and other Individuals‘ accusations that we had become hierarchical caused a splintering and an amount of jealousy“437. Es wird zu einer Belastung, dass es auf der einen Seite keine eindeutige Leitfigur gibt und andererseits nicht jedem Mitglied der gleiche Wert beigemessen werden kann, da sich die Individuen in ihrem Dafürhalten im Hinblick auf die Gemeinschaft unterscheiden. „Die Krise des Opferkultes ist also als Krise der Unterschiede zu definieren und damit als Krise der kulturellen Ordnung insgesamt. [...] [. E]s ist dieses graduelle Gefälle von Unterschieden, das den Individuen ihre ,Identität‘ verleiht und so deren Zuordnung zueinander ermöglicht.“438

Auch wenn es sich hier nicht um eine Krise des ,Opferkultes‘ handelt, kann mit Girard deutlich gemacht werden, dass es scheinbar unerlässlich ist, dass sich Menschen angesichts von herrschenden Unterschieden definieren und damit zu der Möglichkeit von Organisation beitragen. Im Hinblick darauf wäre die dargestellte hierarchische Krise des Temples Sinnbild für die Bedürfnisse der Menschen. Auch Plessner verneint die Möglichkeit der utopischen Vereinheitlichung. „Hätte der Mensch an seinem Herzen, an seiner Seele ein gleich vereinheitlichendes Besitztum wie an seinem Geist, so wäre es ihm wohl möglich, den leibbedingten Egoismus einfach systematisch zu reglementieren“439. Statt dessen suche der Mensch, seine Seele zu maskieren und zu schützen, müsse er sich von

435 Breyer P-Orridge 2009, S. 418. 436 „Thee Temple ov psychic Youth, despite being antihierarchical became something of a cult. It turned out that many young people, having disengaged from the official parent figures of their childhood, now felt the need to project a kind of parental authority onto Genesis.“ Rushkoff 2002, S. 22. 437 Breyer P-Orridge 2009, S. 419. 438 Girard 2006, S. 77. 439 Plessner 2002, S. 103.

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anderen Menschen distanzieren440. Daneben besitze er das grundlegende Bedürfnis, einen Ort der Geborgenheit zu finden auch auf die Gefahr des Selbstverlusts441. Angesichts dessen gibt es für Plessner im Menschen ein Vertrauen in der Gemeinschaft und ein Misstrauen gegenüber der Gesellschaft442. „Jede Sphäre hat ihre spezifischen Entscheidungsinstanzen, die Gemeinschaft regelt sich nach Einsicht und Liebe, die Gesellschaft nach spielgerechtem Kampf und Takt.“443. Die Definition von Regeln und Normen und das Errichten eines ,Staates‘ stellen für Plessner die einzige Möglichkeit dar, den Bedürfnissen des Menschen gerecht zu werden, auch wenn sie dieselben gleichzeitig einschränken444. Zu diesem gehört jedoch eine bestimmte Leitfigur: „Der Zwang zur Führung ist die Pflicht zur Macht, [...]. Sie begründet das Recht des Staates und der Kirche, das Recht zu Machtgewinn und Machtgebrauch, zur Aufrichtung und Verteidigung der gesellschaftlichen Lebensordnung gegen den ewigen Aufstand der Vernunft und des Herzens.“445

Sowohl Gemeinschaft als auch Gesellschaft wären demnach in der Realität nicht ohne Führung zu haben. Neben dem Fehlen von Hierarchien geraten die Praktiken des Temples selbst zu öffentlichem Interesse. Der Temple wird für die Gesellschaft zu einer satanistischen Sekte, in der Perversionen ausgelebt und Menschen sexuell missbraucht und misshandelt werden. Anlass dafür ist vor allem ein neun Jahre altes fiktives Video. „One video was created for Spanish national television‘s ‚La Edad de Oro‘ program on Psychic TV, and the other as performance art commissioned by the same Channel Four, and that they featured film director Derek Jarman as the visional presenter of a fictional cult in an exercise of how media can manipulate perceptions and control responses!”446

440 Siehe Plessner 2002, S. 103. 441 Siehe Plessner 2002, S. 114f. 442 Siehe Plessner 2002, S.114. 443 Plessner 2002, S. 116. 444 Siehe Plessner 2002, 115. 445 Plessner 2002, S. 121. 446 Breyer P-Orridge 2009, S. 426.

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Als Konsequenz durchsucht Scotland Yard im Februar 1992 das Haus POrridges und anderer Mitglieder des Temples. „They seized two tonnes of photographic, video, and other material“447. P-Orridge befindet sich mit seinen Kindern in dieser Zeit in Tibet, wo er eine Suppenküche leitet und mit buddhistischen Lehren beschäftigt ist448. Nach England zurückzukehren würde bedeuten, dass er vor Gericht gestellt und womöglich zu Gefängnis verurteilt würde – in jedem Fall würde er Gefahr laufen, seine Kinder zu verlieren. Vor diese Wahl gestellt emigriert P-Orridge mit seinen beiden Kindern in die USA 449. Dieser Weggang aus England bedeutet für ihn auch das Ende des Temple ov Psychick Youth und den Beginn von Querelen zwischen Mitgliedern des Temples und POrridge.

3.2.6 Gemeinschaft als Idee Die Anklage Englands gegen P-Orridge persönlich450 – nicht den Temple ov Psychick Youth im Allgemeinen – steht am Ende dieses Konflikts zwischen Menschen, die einerseits Teil der Gemeinschaft sein wollten, aber andererseits nicht vor dem Gesetz für ihren ,Glauben‘ zur Rechenschaft gezogen worden sind451. Im Konflikt zwischen dem Temple ov Psychick Youth und Genesis P-Orridge zeigt sich eine für eine Gemeinschaft ungewöhnliche Gegenüberstellung: Das Beharren und die Fortführung der Gemeinschaft Einzelner, die den Temple zu ihrem Besitz erklärt haben und damit den Gründer enteignen wollen452, aber andererseits auch einen Gründer, der nie Anführer sein wollte. Genesis P-Orridge versucht den Temple ov Psychick Youth auf ein rechtlich geschütztes Produkt zu reduzieren, denn so, wie er seinen neuen Namen offiziell trägt, hat er sich den Namen Temple ov Psychick Youth offiziell zum Besitz gemacht. „As you proba-

447 Breyer P-Orridge 2009, S. 426. 448 Breyer P-Orridge 2009, S. 425. 449 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 427f. 450 „But the damage was done. Always in the shadow of the Spanner case, in which TOPY had openly supported and provided funds, safe haven and security for Mr. Sebastian, it became apparent that I had been singled out as a scapegoat for everything in British culture that disturbed the status quo and the conservative government‘s witch-hunt style paranoia.“ Breyer P-Orridge 2009, S. 427. 451 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 429. 452 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 505.

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bly know, both the name and the logo are my internationally registered trademarks and/or intellectual copyrights which I have used continually for well over a decade.“453 Dieser ungewöhnliche Besitz wirft wiederum einen Schatten auf die Gemeinschaft, aber macht einmal mehr auch den Kunstcharakter der Gemeinschaft deutlich, denn durch die Sicherung des Namens als eine Art Marke hält P-Orridge scheinbar Besitz an der Gemeinschaft als einem aus Menschen bestehenden Produkt. „Thee contiuing use ov a name E coumceived and proselytized should be inessential to thee integrity ov thee group.“454 Während der vermeintliche Kopf der Gemeinschaft auf dem Besitz eines Namen als Marke und dessen Symbol beharrt, allerdings nie rechtliche Schritte einleitet, kämpft ein Teil der Mitglieder der Gemeinschaft für den Namen zum Erhalt der Einheit der Gemeinschaft. Es stellt sich die Frage, was der Name einer Gemeinschaft noch bedeuten kann, wenn sie keine Mitglieder mehr zählt. Und des Weiteren warum eine Gemeinschaft noch auf einem Namen beharrt, der einer Gemeinschaft angehört hat, die in dieser Weise nicht mehr existiert? Zwei Gruppen stehen dabei einander gegenüber: Auf der einen Seite ein Individuum, das sich zwar nicht als Anführer gegenüber den Mitgliedern der Gruppe verhalten und doch ihre Prinzipien und Grundhaltungen gesteuert und gelenkt und dann am Ende Besitzrecht angekündigt hat – auf der anderen Seite eine Gruppe, die sich womöglich inhaltlich verselbstständigt, jedoch in jedem Fall Ernst genommen hat, dass es keinen Anführer gibt und damit niemanden, der der Gemeinschaft ein Ende setzen könnte, es sei denn, keiner würde mehr an ihr teilhaben wollen. Untersucht werden muss, inwiefern eine Gemeinschaft ein geistiges, künstlerisches Eigentum darstellen kann; und im Hinblick darauf, ob in diesem Zusammenhang Menschen zu einem damit verbundenen Besitz gemacht werden. „Die Gemeinschaft nimmt also folgende besondere Stellung ein: Sie garantiert die Unmöglichkeit ihrer eigenen Immanenz, die Unmöglichkeit eines gemeinschaftlichen Seins als Subjekt. Die Gemeinschaft garantiert und markiert in gewisser Weise die Unmöglichkeit der Gemeinschaft [...].“455

453 Breyer P-Orridge 2009, S. 507. 454 Breyer P-Orridge 2009, S. 503. 455 Nancy 1988, S. 38.

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Gemeinschaft negiert sich nach Nancy selbst. Sie ist für ihn nicht Garant irgendeiner erfahrbaren Totalität oder Ekstase 456 und beinhaltet mit Blanchot keine „Notwendigkeit der Vollständigkeit“457. Es scheint als könnten sich Individuen weder in einer Gemeinschaft, gleich welcher Intensität von ,Vertrauenssphäre‘ diese auch zu erzeugen imstande sein sollte, auflösen noch als einzelne Individuen eine Gemeinschaft dauerhaft erhalten. Gleich wie offen sie sich sowohl nach innen als auch außen geben mag, beinhaltet sie ihre eigenen Grenzen. Was als Versuch und Projekt beginnt, endet mit einer Unwahrheit angesichts des verheimlichten Umgangs mit Hierarchien: Die Gleichberechtigung, die Gleichheit aller Mitglieder erscheint nicht auf die Lebenspraxis der Gemeinschaft umsetzbar; ihre Mitglieder kennzeichnet sowohl als Individuen als auch in ihrer Beteiligung an der Gemeinschaft voneinander verschieden zu sein, weshalb eine Hierarchie innerhalb der Gemeinschaft lediglich die daraus entstehenden Konsequenzen verkörpert. Die ,Krise der fehlenden Unterschiede‘ Girards458 ist vielleicht weniger das Problem als die Akzeptanz der Verschiedenheit. Gleichheit ist entweder ein Konstrukt oder besteht nur in der Gesamtheit jedes Einzelnen durch den Anderen hindurch. Womöglich lässt sich mit Girard schließen, dass sich die Konflikte, die sich sowohl im Inneren der Gemeinschaft selbst als auch von außen durch die Medien in der Person von Genesis P-Orridge aufgelöst haben. Anzeichen dafür könnte auch sein, dass dies nicht das vollständige Ende der Gemeinschaft bedeutet hat, sondern Mitglieder trotz aller Ereignisse weiter daran festhalten wollen. Girard spricht in diesem Fall von „Opferstellvertretung [...]. Sie schützt nämlich alle Glieder der Gemeinschaft vor ihrer eigenen Gewalttätigkeit, und zwar immer durch die Vermittlung des versöhnenden Opfers.“459 Vielleicht ist es immer wieder ein Mangel an angemessener Verantwortungsübernahme, der sich bereits im Prozess der Individuation beziehungsweise Individualisierung als Problem erwiesen hat460. Hier handelt es sich zwar um eine Zuweisung von außen, gegen die sich eine Person nicht wehren, aber von der sie eben auch, zumindest mit Sartre, nicht frei gesprochen werden kann461. In seinem Freiheitsbegriff gibt es für das Ich keine Möglichkeit, nicht involviert zu

456 Siehe Nancy 1988, S. 20f. 457 Blanchot 2007, S. 16. 458 Siehe 3.2.4 ,Organisation und Formen der Gemeinschaft‘, S. 197. 459 Girard 2006, S. 151f. 460 Siehe 3.1.7 ,Individualität und Gemeinschaftsdenken‘, S. 174f. 461 Siehe Sartre 2001, S. 231, bzw. 3.1.2 ,Die Freiheit des Menschen‘, S. 155.

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sein, denn das Ich ist für alles und jede Situation verantwortlich, deren Teil es ist und dennoch „muß ich ohne Gewissensbisse und ohne Bedauern sein, so wie ich ohne Entschuldigung bin, denn vom Augenblick meines Auftauchens zum Sein an trage ich das Gewicht der Welt für mich ganz allein, ohne daß irgend etwas oder irgend jemand es erleichtern könnte.“462

Darin liegt bei Sartre kein Aufruf, Unheil zu stiften, sondern vielmehr die pessimistische Feststellung, dass es keine Erleichterung und damit keine Erlösung gibt 463 und in der Folge Sartres Theorie, selbst für denjenigen nicht, der die höchsten Ideale in sich verkörpert zu sehen glaubt. Was sich im Prozess der Individuation lediglich als Prozess innerhalb des Individuums darstellt – die Folgen der mangelnden Grenzen des Individuums, das Verschwimmen des Unbewussten mit der Kollektivpsyche bei Jung464 – kann in einen Zusammenhang mit Definitionen des Mit-Seins gestellt werden. Aber das Mit-Sein scheint nicht wie die Kollektivpsyche nur das Unbewusste zu betreffen, sondern auch das Sein selbst. Als eine Voraussetzung des Seins hat es sich nach Nancy noch nicht in der Welt materialisiert. „Wenn uns aber diese Welt, die sich trotz allem verändert hat, [...] keine neue Figur der Gemeinschaft anbietet, so mag uns dies selbst etwas bedeuten. Wir begreifen vielleicht, daß es nicht mehr darum gehen kann, einem gemeinschaftlichen Wesen Gestalt oder Form zu heben, [...] vielmehr geht es darum, die Gemeinschaft zu denken [...].“465

Vielleicht kann mit Nancy geschlossen werden, dass sich ein Denken an Gemeinschaft mit dem Mit-Sein verbinden, aber nie außerhalb der Vorstellung stattfinden kann. Sie bleibt nicht materialisiert und damit nicht realisiert. Angesichts dessen spricht Nancy mit Blanchot von „Entwerkung der Gemein-

462 Sartre 2001, S. 953. 463 „In diesem Sinn ist die Verantwortlichkeit des Für-sich drückend, weil es das ist, wodurch geschieht, daß es eine Welt gibt; und weil das Für-sich auch das ist, das sich sein macht, muß es, was immer die Situation ist, in der es sich befindet, diese Situation gänzlich annehmen mit ihrem eigenen Widrigkeitskoeffizienten, und sei sie auch unerträglich;“ Sartre 2001, S. 950. 464 Siehe 3.1.7 ,Individualität und Gemeinschaftsdenken‘, S. 174ff. 465 Nancy 1988, S. 52.

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schaft“466. „[S]ie ist einfach ihr Sein – ihr auf seiner Grenze in der Schwebe gehaltenes Sein.“467 Insofern drückt sich das Scheitern des Temples in seinem Ausspruch, den ,Prozess zum Produkt‘ 468 zu erheben, aus. Mag sein, dass der Name und ein Symbol, wie der Temple ov Psychick Youth und das dazugehörige Psychick Cross469 dazu dienen können, unterschiedliche künstlerische Inhalte in sie hinein zu fügen, vor allem damit eine Idee zu bewahren und zu entwickeln. Während der Prozess eine Erfahrung darstellt, ist das Produkt hergestellt470. Entsprechend kann eine Methode Menschen nicht in eine bestimmte Form gießen, sondern nur einen Prozess anstoßen. Der Temple ist dem Determinismus der Vorstellungen der einzelnen Mitglieder sowie der Gesellschaft erlegen, die die Gemeinschaft – mit Nancy – ,nicht neu leben konnten, weil sie zunächst neu zu denken ist‘471. So betrifft das Ende des Temples letztlich nur die Gemeinschaft und nicht dessen Ideen, die in ihrem Namen als patentierter Begriff und Symbol erhalten und verbunden bleiben. Vielleicht ist die mit ihm einhergehende Vorstellung von Kunst beziehungsweise Gemeinschaft als Kunstform sowohl ihre Besonderheit als auch Zeichen ihres Scheiterns/nicht Gelingens, gerade weil sie mit einer Freiheit im Umgang mit dem eigenen Ich, dessen Abgründen, Wünschen, Begehren und Möglichkeiten verbunden ist. Sie scheitert als Gemeinschaft daran, dass es Einen gibt, der diese Ideen zunächst gesät hat und die Gemeinschaft nicht nur Prozess, sondern zum Produkt dieses Keimes gewachsen ist, statt das Denken aller sowohl gleichzeitig als auch in absoluter Gleichheit verkörpern zu können. So wird mit dem Scheitern der Gemeinschaft der Vielen, für P-Orridge die Möglichkeit eröffnet, die Nancy in der Änderung der Denkart Batailles von der

466 Nancy 1988, S. 70. 467 Nancy 1988, S. 70. 468 „Thee process is thee product.“ Breyer P-Orridge 2009, S. 61. 469 „I just sat down and designed the Psychick Cross on graph paper. I wanted a symbol that seems really familiar, that is almost the same as lots of things but not quite the same, so that people could find it easy to adopt into their personal mythology.“ Breyer P-Orridge 2009, S. 327. 470

„Daher kann die Gemeinschaft nicht dem Bereich des Werkes angehören. Man kann sie nicht herstellen, man erfährt sie (oder ihre Erfahrung macht uns aus) als Erfahrung der Endlichkeit.“ Nancy 1988, S. 69.

471 Siehe Nancy 1988, S. 52 und siehe 3.2.6 ,Gemeinschaft als Idee‘, S. 202.

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,politischen Gemeinschaft’ zur „Gemeinschaft der Liebenden“472 „als Aufgehen in Innerlichkeit, als Selbstpräsenz einer realisierten Einheit“ 473 gefunden hat. Von einer solchen Fortführung der Idee der Gemeinschaft in der Beziehung der Liebenden bei Breyer P-Orridge zu sprechen, erhält eine weitere Bestätigung darin, dass die Theorie des Kunstprojekts Breaking Sex/Pandrogeny in der zweiten Ausgabe der Psychick Bible zu finden ist474.

472 Nancy 2007b, S. 24. 473 Nancy 2007b, S. 25. 474 Siehe Breyer P-Orridge/Breyer P-Orridge 2009, S. 443ff. Die Psychick Bible ist im Jahr 2009 und damit zwei Jahre nach dem Tod Lady Jayes im Jahr 2007 erschienen. Siehe Breyer P-Orridge 2009, n.p.

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3.3 D AS AUFGEHEN

DES I CH IM

ANDEREN

Davon ausgehend, dass sich der Mensch immer schon im Konflikt mit sich selbst und zusätzlich im Konflikt mit anderen befindet475, entstehen immer mehr Konflikte, je mehr Menschen beteiligt sind. Veränderung beginnt deshalb, nach POrridge, bereits im Kleinen. „If you can’t change the way we behave towards each other, then you can’t change society, you can’t change the culture into something focused on creation and compassion and evolution.“476 Die Liebe zu einem einzelnen anderen Menschen, idealerweise vom Standpunkt der Gesellschaft aus gesehen eine heterosexuelle Beziehung, entspricht den Normen, wie sie von der bürgerlichen Gesellschaft propagiert und wie sie dem Mensch (aus der Sichtweise der westlichen Gesellschaften) von klein auf anerzogen werden477. Bereits während der Ehe mit Paula P-Orridge zu Zeiten des Temple ov Psychick Youth, prägt P-Orridge den Begriff „Pandrogyny“478; jedoch erhält dieser seine Form erst in seiner Ehe mit Lady Jaye in dem Projekt Breaking Sex, das auf ihrer gegenseitigen Liebe basiert: „So consumed by our discovery of what Lady Jaye dubbed ‚Big Love‘ were we that our deepest desire was to, in a sense, quite literally be totally absorbed by each other [...]. We were driven by a boundless passionate energy to eventually achieve absolute union by whatever means became available to us.”479

In ihren Aussagen wird deutlich, dass ihre Liebe zueinander zwei Komponenten besitzt: Während die beiden große Ähnlichkeiten in ihrer Kindheit entdecken,

475 In diesem Zusammenhang weist Gay auf die mögliche Parallele zwischen dem Begriff des Konflikts in der Psychologie und der Gesellschaft hin: „Der Psychoanalytiker versteht Konflikt im wesentlichen als Erfahrung des Individuums mit sich selbst, doch kann man dieses Modell auch auf die gesellschaftliche Ebene übertragen.“ Gay 2000, S. 16. 476 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2010/10/douglas-rushkoff-and-genesis-porridge.html?zx=b40322ff019d35c7. 477 Siehe 3.3.3 ,Überschreiten der Geschlechtergrenzen‘, S. 217f. 478 Vale/Juno/P-Orridge 1989, S. 171. 479 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2011/06/ruminations-on-sexiness-andaging-with.html?zx=62969001900410f3.

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geht es ihnen andererseits nicht darum, den Eindruck zu erwecken, dass zwischen ihnen keine Unterschiede herrschen480: „It would not be a work of the Third Mind/Third Being if we saw everything identically. Sometimes our views will contradict each other, like an exception that proves the rule. Our work isn’t parallel sometimes, but rather perpendicular, and forms a greater whole that covers a lot more territory.”481

Im Folgenden soll untersucht werden was ein solcher Versuch, einander anzugleichen, ein Third Being entstehen zu lassen, im Hinblick auf sowohl bestehende Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede bedeutet und inwiefern die Liebe Möglichkeiten von Totalität beinhaltet 482 . Angesprochen sind damit auch die gegenseitige Akzeptanz der Unterschiede und die Möglichkeit eines gleichberechtigten Umgangs der Liebenden.

3.3.1 Die Beziehungen zwischen Ich und Anderem und Vorstellungen von der Liebe Sartre kommt im Hinblick auf die Beziehung des Ich zum Anderen zu dem Schluss, dass sich das Ich einer „Gefahr“ aussetzt, im Hinblick auf „Möglichkeiten [...], die nicht meine Möglichkeiten sind [...], um mich als ein Mittel auf Zwecke hin konstituieren zu können, die ich nicht kenne. Und diese Gefahr ist kein Zufall, sondern die permanente Struktur meines Für-Andere-seins.“483

In dieser möglichen Einschränkung beziehungsweise Nutzung durch Andere liegt aber für Sartre auch die Öffnung auf neue Möglichkeiten, denn „durch den

480 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html. 481 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html. 482 Für einen Versuch „aus einer marginalen Erfahrung in einer Performance-Situation entlang einer mikrologischen Analyse der Verbindung von zwei Personen, die ich Paarbildung nenne, allgemeingültige Erkenntnisse über Kollektivität zu gewinnen.“ Wenner 2002, S. 221f. Siehe ebd. 483 Sartre 2001, S. 482.

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Blick des Andern mache ich die konkrete Erfahrung, daß es ein Jenseits der Welt gibt.“484 Daneben eröffnet sich für das Ich eine neue Perspektive, nämlich die, ein „Objekt zu sein“485. Konstituiert ist also, für Sartre, die ,An- und Abwesenheit‘ der Menschen in der Welt füreinander durch „Erblickt-sein oder Erblikkend-sein [...], das heißt je nachdem, ob der andere für mich Objekt ist oder ich selbst Objekt-für-den-Andern bin.“486 Für das Ich entsteht damit im ,Für-Anderesein‘ ein neues Sein. „[M]ein Objekt-Ich [...] ist ein völlig reales Sein, mein Sein als Bedingung meiner Selbstheit gegenüber dem Andern und der Selbstheit des Andern mir gegenüber. Es ist mein Draußen-sein: nicht ein erlittenes Sein [...], sondern ein als mein Draußen übernommenes und anerkanntes Draußen.“487

Diesen von Sartre definierten ,Blick‘ auf den jeweils Anderen scheinen Breyer P-Orridge in Breaking Sex zu vereinen zu suchen: „Breyer P-Orridge both supply our separate bodies, individuality and ego to an ongoing and substantially irreversible of cutting-up identity to produce a third being, an ‚other‘ entity that we call the Pandrogyne.“488 In diesem Third Being, das durch Gysin und Burroughs Cut-up Methode inspiriert ist489, kommen in gewisser Weise die beiden ,Objekt-Ichs‘ als ein Drittes zusammen, das jeweils durch das Erblicken des Anderen und das Erblickt-Werden bestimmt wird. Um diesen Blick auf den Anderen zu verändern, haben Breyer P-Orridge entschieden, sich in ihrem Aussehen einander angleichen zu lassen: „In our quest to create the Pandrogyne, both Genesis and Lady Jaye have agreed to use various modern medical techniques to try and look as much like each other as possible. We are required, over and over again by our process of literally cutting-up our bodies, to create a third conceptually more precise body”490.

484 Sartre 2001, S. 486. 485 Sartre 2001, S. 486. 486 Sartre 2001, S. 501. 487 Sartre 2001, S. 511. 488 Breyer P-Orridge/Breyer P-Orridge 2009, S. 444. 489 Siehe 3.0.1 ,Vorbilder’, S. 135f. und 3.1.5 ,Bewusste und unbewusste Fragmenterzeugung‘, S. 166ff. 490 Breyer P-Orridge/Breyer P-Orridge 2009, S. 444.

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Obgleich Merleau-Ponty wie Sartre schließt, dass das Ich durch den Anderen die Perspektive des Objekts erfährt, geht er nicht davon aus, dass dadurch klare Grenzen gezogen werden. „In Wahrheit ist der Andere nie in meinen perspektivischen Ausblick auf die Welt eingeschlossen, weil diese meine Perspektive selbst keine bestimmten Grenzen hat, vielmehr spontan in die des Anderen hinübergleitet und beide gemeinsam in einer einzigen Welt versammelt sind, an der wir alle als anonyme Subjekte des Wahrnehmens teilhaben.“491

Insofern sieht Merleau-Ponty Ich und Anderen nicht durch den ,Blick‘ getrennt wie Sartre492, sondern eine Möglichkeit der Kommunikation durch Sprache und Dialog. „Das ergibt ein Sein zu zweien, [...] in vollkommener Gegenseitigkeit sind wir für einander Mitwirkende, unser beider Perspektiven gleiten ineinander über, wir koexistieren durch ein und dieselbe Welt hindurch.“493 Dementsprechend wird der Dialog bei Breyer P-Orridge als Möglichkeit beschrieben, dem Ich beziehungsweise dem Ego zu entgehen und es dem Anderen zu öffnen, gegenseitige Vorstellungen auszuloten. „A core part of our collaboration was always endless discussion and dialogue back and forth about the effects we were noting on ourselves, and the expanding implications we felt we were exposing.“494 Auf diese Weise entsteht ein gegenseitiger Diskurs nicht nur über den Blick auf den Anderen als fremde Person, sondern als einer Person, die sich im eigenen Aussehen widerspiegelt. Unvermeidlich entsteht daraus ein Konflikt, da der Mensch sich selbst als Besitz nicht verlieren möchte. „We encounter unexpected internal conflicts as our egos try to survive intact as the ‚person‘ they have been previously conditioned to accept without question and then BE. We have discovered that how we look does relate very directly to the internal dialogue that describes us to our SELF and to each other.”495

491 Merleau-Ponty 1974, S. 404. 492 Siehe weiter oben im Text, bzw. Sartre 2001, S. 486. 493 Merleau-Ponty 1974, S. 406. 494 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html. 495 Breyer P-Orridge/Breyer P-Orridge 2009, S. 444.

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„Konflikt“, der nach Sartre „der ursprüngliche Sinn des Für-Andere-seins“496 ist, hat auch Auswirkungen auf die Liebe, denn da jedem Ich Entwürfe auf einen Zweck und Wert hin sowie ihm eigentümliche Möglichkeiten angehören, tritt ihm der Andere als eine Freiheitsbeschränkung entgegen497. Auch wenn Sartre die Möglichkeit der totalen Vereinigung zurückweist498, wird in seiner Vorstellung deutlich, dass die Liebe nicht ohne Ideal zu haben ist: „Also begehrt der Liebende nicht, den Geliebten zu besitzen, wie man ein Ding besitzt, er verlangt einen besonderen Aneignungstypus. Er will eine Freiheit als Freiheit besitzen.“499 Aber auf welche Weise, so kann gefragt werden, lassen sich Besitz und Freiheit miteinander verbinden? Trotz einer von Sartre gezogenen Parallele zur Hegelschen Gegenüberstellung von Herr und Knecht, denn „[w]as der Hegelsche Herr für den Knecht ist, will der Liebende für den Geliebten sein“500, erschließt sich Sartres Theorie nicht in dieser Problematik. Der Grund dafür kann darin gesehen werden, dass Hegel „zwei entgegengesetzte Gestalten des Bewußtseins; die eine das selbständige, welchem das Fürsichsein, die andere das unselbständige, dem das Leben oder das Sein für ein Anderes das Wesen ist; jenes ist der Herr, dies der Knecht“501

definiert. Auch wenn Hegel, im Laufe seiner Darlegung diese Unterschiede gegeneinander aufzulösen sucht502, stehen sie in ihrer Grundvoraussetzung einer

496 Sartre 2001, S. 638. 497 Siehe Sartre 2001, S. 641. 498 „Die Einheit mit dem Andern ist also de facto unrealisierbar.“ Sartre 2001, S. 641. 499 Sartre 2001, S. 643. 500 Sartre 2001, S. 648. 501 Hegel 1986, S. 150. 502 „Es ist ferner nicht nur diese allgemeine Auflösung überhaupt, sondern im Dienen vollbringt es sie wirklich; es hebt darin in allen einzelnen Momenten seine Anhänglichkeit an natürliches Dasein auf und arbeitet dasselbe hinweg. Das Gefühl der absoluten Macht aber überhaupt und im einzelnen des Dienstes ist nur die Auflösung an sich, und obzwar die Furcht des Herrn der Anfang der Weisheit ist, so ist das Bewußtsein darin für es selbst, nicht das Fürsichsein.“ Hegel 1986, S. 153. Dennoch wird die gegensätzliche Vorraussetzung auch im gegensätzlichen Erreichen bzw. Aufeinanderzugehens deutlich: „Es sind zu dieser Reflexion die beiden Momente der Furcht und des Dienstes überhaupt sowie des Bildens notwendig, und zugleich beide auf eine allgemeine Weise. Ohne die Zucht des Dienstes und Gehorsams bleibt

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Beziehung und einem Aufeinander zugehen als gleichberechtigte und damit gleichermaßen Freiheit besitzende menschliche Wesen entgegen, wie sie für Sartre von Bedeutung ist503. Für Sartre ist Liebe von einer freien Wahl abhängig, die sich im „Ausdruck Erwählter bezeichnet.“504 Aber auch hier bleibt bei Sartre die Konflikthaftigkeit erhalten: „[J]eder Liebende ist gänzlich Gefangener des andern, insofern er von ihm unter Ausschluß jedes andern geliebt werden will; [...]. Die so vom andern geforderte Liebe kann nichts fordern: sie ist reines Engagement ohne Gegenseitigkeit.“505

Laut der Theorie Sartres ist die Liebe fordernd und darf doch nichts fordern, darf nicht an Formen des Besitzes gebunden sein. Sie ist ,Hingabe‘ und ,Verschwendung‘ des Ich506. Der von Sartre beschriebene Verlust, den das Ich in dieser Selbstaufgabe erlebt, ist auch für Freud lediglich an die Möglichkeit von Rückgewinn verbunden: „Es ist ferner leicht zu beobachten, daß die Libidobesetzung der Objekte das Selbstgefühl nicht erhöht. Die Abhängigkeit vom geliebten Objekt wirkt herabsetzend; wer verliebt ist, ist demütig. Wer liebt, hat sozusagen ein Stück seines Narzißmus eingebüßt und kann es erst durch das Geliebtwerden ersetzt erhalten.“507

Bei Sartre ergibt sich hierbei allerdings in der Liebe trotz der in ihr lauernden Gefahren ein bedeutendes Gefühl: das der ,Rechtfertigung der eigenen Existenz‘508.

die Furcht beim Formellen stehen und verbreitet sich nicht über die bewußte Wirklichkeit des Daseins.“ Hegel 1986, S. 154. 503 Siehe Sartre 2001, S. 643. 504 Sartre 2001, 648. 505 Sartre 2001, S. 656. 506 „Von dieser Liebe her erfasse ich also meine Entfremdung und meine eigne Faktizität anders. Sie ist – insofern sie Für-Andere ist – nicht mehr ein Faktum, sondern ein Recht. Meine Existenz ist, weil sie gerufen wird. Diese Existenz wird, insofern ich sie übernehme, reine Hingabe. Ich bin, weil ich mich verschwende.“ Sartre 2001, S. 649. 507 Freud 2007, S. 73. 508 Siehe Sartre 2001, S. 650.

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„So sind die Liebesbeziehungen ein System unendlicher Verweisungen, analog dem reinen ,Spiegelung-gespiegelt‘ des Bewußtseins, unter dem idealen Zeichen des Werts ,Liebe‘, das heißt einer Verschmelzung der Bewußtseine, bei der jedes von ihnen seine Alterität bewahrt, um das andere zu begründen.”509

Sartres Ideal erscheint als das einer Liebe, bei der in der Verschmelzung das Selbst der Beteiligten erhalten bleibt. Breyer P-Orridge suchen jedoch im Gegenteil in der Verschmelzung zu einem neuen, einem Third-Being zu werden. Obgleich in demselben eine vergleichbare Öffnung im Hinblick auf ,unendliche Verweisungen‘ zum Tragen kommt, die letztlich auch die Menschheit im Allgemeinen betrifft, denn „[i]n this context the journey represented by their PANDROGENY and the experimental creation of a third form of gender-neutral living being is concerned with nothing less than strategies dedicated to the survival of the species.“510 Damit ist eine Auflösung der Identitäten zu einer Einheit verbunden: „‚WE ARE BUT ONE...‘ becomes less about individual gnosis and more about the unfolding of an entirely new, open-source, 21st century myth of creation.“511

3.3.2 Der Körper der Liebenden Im Projekt Breaking Sex/Pandrogeny wird der Körper der Liebenden Breyer POrridge zum künstlerischen, kulturellen Konstrukt. Allerdings eröffnet er in der Intimität der beiden Körper auch die Möglichkeit, das eigene Selbst zu vergessen. Auf diese Weise scheinen unterschiedliche Beziehungen zwischen Reflexion und Körper, Theorie und Praxis zum Ausdruck zu kommen, die die Frage nach individuellen Verlusten, Grenzverletzungen und möglichen Rückgewinnen aufwerfen. Für Merleau-Ponty „ist unser Leib dem Kunstwerk vergleichbar. Er ist ein Knotenpunkt lebendiger Bedeutungen, nicht das Gesetz einer bestimmten Anzahl miteinander variabler Koeffizienten.“ 512 Körper, Geschlechtlichkeit, die menschliche Existenz als Ganzer sind nach ihm durch „Zweideutigkeit“513 und

509 Sartre 2001, S. 658. 510 Breyer P-Orridge/Breyer P-Orridge 2009, S. 445. 511 Breyer P-Orridge/Breyer P-Orridge 2009, S. 445. 512 Merleau-Ponty 1974, S. 181f. 513 Merleau-Ponty 1974, S. 202.

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damit durch „Unbestimmtheit“514 gekennzeichnet. Angesichts dessen müsse der Mensch immer wieder eigenmächtig in Situationen selbst Entscheidungen fällen, denn er „ist eine geschichtliche Idee, keine natürliche Spezies.“515 Während der Körper für Merleau-Ponty Ausgangspunkt zum ,Verstehen‘ und ,Wahrnehmen‘ von Anderen sowie von Dingen dient516, ist er für Sartre darüber hinaus auch „eine permanente Struktur meines Seins und die permanente Möglichkeitsbedingung meines Bewußtseins als Bewußtsein von der Welt und als Entwurf, der auf meine Zukunft hin transzendiert.“517 Angesichts der untrennbaren Verknüpfung von Bewusstsein und Körper ist der Körper, ähnlich MerleauPontys ,Unbestimmtheit‘ 518, bei Sartre „unerfaßbar[…]“, aber dennoch Bedingung für die „Notwendigkeit, daß es eine Wahl gibt, das heißt, daß ich nicht alles zugleich bin.“519 Letztlich ist der Körper damit für Merleau-Ponty und Sartre an Entscheidungen, die das Leben des Menschen betreffen, gebunden. Für Sartre gibt es zwar einerseits in der Liebe keine „Einheit“520, aber andererseits kennzeichnet die Begierde „das Vergehen der Sinne als letzte Stufe des Einvernehmens mit dem Körper sein“521, sowie ein „Schwindelgefühl“522. Allerdings vollziehen sich diese Empfindungen nach Sartre immer nur im Ich selbst, ausgelöst von einem anderen Körper523. In der ,Begierde‘ wird der Körper nach Sartre zu ,Fleisch‘524. „Und auf diese Weise erscheint wirklich das Besitzen als doppelte wechselseitige Fleischwerdung. So enthält die Begierde einen Fleischwerdungsversuch des Bewußtseins [...] um die Fleischwerdung des andern zu realisieren.“525 Mit dieser Reduktion des Ich und des Anderen vom Körper auf das Fleisch verfolgt Sartre einen bestimmten Zweck:

514 Merleau-Ponty 1974, S. 202. 515 Merleau-Ponty 1974, S. 203. 516 Siehe Merleau-Ponty 1974, S. 218. 517 Sartre 2001, S. 580. 518 Merleau-Ponty 1974, S. 202. 519 Sartre 2001, S. 581. 520 Sartre 2001, S. 641. 521 Sartre 2001, S. 680. 522 Sartre 2001, S. 680. 523 Siehe Sartre 2001, S. 680. 524 Siehe Sartre 2001, S. 681. 525 Sartre 2001, S. 683.

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„[D]as unmögliche Ideal der Begierde: die Transzendenz des andern als reine Transzendenz und dennoch als Körper besitzen, den andern auf seine bloße Faktizität reduzieren, weil er dann mitten in meiner Welt ist, aber machen, daß diese Faktizität eine fortwährende Appräsentation seiner nichtenden Transzendenz ist.“526

So schwingt in der fleischlichen Begierde Sartres doch zumindest ein Ideal der gegenseitigen lustvollen Hingabe und einer möglichen daraus resultierenden Einheit mit. Wahrnehmung und Bewusstsein sind bei Freud mit dem Körper untrennbar verbunden527. Er spricht deshalb von einem „Körper-Ich“528. Von Bedeutung ist dabei „vor allem die Oberfläche“ des Körpers „von dem gleichzeitig äußere und innere Wahrnehmungen ausgehen können.“529 Angesichts dessen ist das ,KörperIch‘ Freuds „nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst Projektion einer Oberfläche.“530 Auch bei ihm definiert sich das Ich über seinen Körper531, allerdings insbesondere mittels seiner ,Oberfläche‘. Dies hat Anzieu dazu inspiriert, in der Haut ein wesentliches Mittel für die Erkenntnis über den Menschen zu sehen. Er schließt aus Freuds Theorie über das ,Körper-Ich‘, dass die Haut der Ort des Bewusstseins ist und prägt den Begriff des „Haut-Ichs“532. Darunter versteht er „ein Bild, mit dessen Hilfe das Ich des Kindes während früher Entwicklungsphasen – ausgehend von seiner Erfahrung der Körperoberfläche – eine Vorstellung von sich selbst entwickelt als ich, das die psychischen Inhalte enthält.“533 Insofern ist die Haut für Anzieu bedeutende Abgrenzung nach außen zu anderen Menschen sowie Träger von Bedeutung, über die sich das Ich darstellen möchte. Trotz der Bedeutung des „Gefühl[s] der Ich-Grenze“ gibt es bei ihm „ein primäres Gefühl eines unbegrenzten Ichs [...], das im Zustand der Depersonalisation oder manchen mystischen Zuständen wieder erfahren wird.“ 534 Verbunden sind die Liebenden „wo ihre psychischen

526 Sartre 2001, S. 688. 527 Siehe Freud 2007, S. 264ff. 528 Freud 2007, S. 267. 529 Freud 2007, S. 265. 530 Freud 2007, S. 266. 531 Siehe Merleau-Ponty und Sartre weiter oben im Text. 532 Anzieu 1996, S. 60. Für das Vorhergehende siehe Anzieu 1996, S. 114. 533 Anzieu 1996, S. 60. 534 Anzieu 1996, S. 121.

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Grenzen unsicher, ungenügend oder schwach sind.“535 Auch wenn die Grenzen des Ichs beweglich sind, liegt für Anzieu im Bewusstsein der Grenzen des HautIchs ein bedeutender Schutz des Individuums536. Er entdeckt eine Unterscheidung in der Kindheit, nach der bei der Ausbildung des ,Haut-Ichs‘ „das psychische Ich auf der Handlungsebene vom KörperIch differenziert wird, auf der Vorstellungsebene jedoch mit ihm verschmolzen bleibt.“537 Entsprechend biete sich die Möglichkeit, zwischen Körper als Werkzeug für Handlungen und Haut als Fläche, an der Bedeutungen projiziert werden als auch Berührungen stattfinden, zu unterscheiden. Auch für Nancy wird die Haut der Bezugsort für emotionale menschliche Beziehungen. „[E]in Körper, der als berührende und berührte Haut Geltung hat, das heißt, der die Modulation einer immer wieder neu beginnenden Annäherung an seine eigene Körpergrenze ist. Er berührt seine Grenze, er geht über seine Grenze hinaus, er entgrenzt sich.“538

Als Konsequenz daraus, dass Freud „Lieben als die Relation des Ichs zu seinen Lustquellen“539 bezeichnet, ergeben sich Veränderungen im Hinblick auf die Beziehungen zwischen denselben. Denn „[w]enn das Objekt die Quelle von Lustempfindungen wird, so stellt sich eine motorische Tendenz heraus, welche dasselbe dem Ich annähern, ins Ich einverleiben will“ 540. ,Lieben’ und „Sicheinverleiben“541, gehören für Freud zusammen und werden von der Lust geleitet. „Die Liebe stammt von der Fähigkeit des Ichs, einen Anteil seiner Triebregungen autoerotisch, durch die Gewinnung von Organlust zu befriedigen. Sie ist ursprünglich narzißtisch, übergeht dann auf die Objekte, die dem erweiterten Ich einverleibt worden sind [...].“542

535 Anzieu 1996, S. 121. 536 „Ich habe dieses Buch auch geschrieben, um durch das Schreiben mein eigenes Haut-Ich zu schützen. Mit dieser Erkenntnis kann ich dieses Werk als abgeschlossen betrachten.“ Anzieu 1996, S. 297. Die Bedeutung der Grenze für Anzieu wird jedoch schon am Beginn deutlich. Siehe ebd., S. 19. 537 Anzieu 1996, S. 60. 538 Nancy 2010, S. 26. 539 Freud 2007, S. 96. 540 Freud 2007, S. 98. 541 Freud 2007, S. 99. 542 Freud 2007, S. 99.

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Verbindungen, Berührungen der Körper finden bei Breyer P-Orridge nicht nur durch das Angleichen des Aussehens statt, sondern in den Beziehungen der Körper selbst und im Überschreiten der Geschlechtergrenzen, angetrieben von der gegenseitigen Liebe und dem daraus resultierenden Begehren. Der Beginn ihrer Liebe ist deshalb vom Begehren ,einander aufzuzehren, einander aufzuessen‘543 gekennzeichnet. Zu Breyer P-Orridges Liebe gehört das Entstehen einer gemeinsamen Erotik, die das freie Ausleben von Sexualität beinhaltet, die in der eigenen Kindheit und Jugend als eingeschränkt erlernt und erlebt wurde. „Lady Jaye embodied all the qualities, sacred and profane, we had ever sought in a lover and was an absolute of ‚sexiness‘.“544 Gegenseitige Anziehung führt zwischen ihnen zu einem besonderen Erlebnis und damit einhergehend zu einer Erkenntnis über das eigene Selbst: „Lady Jaye changed all that and became the first woman to truly make me BELIEVE…believe we were unique, wonderfully sexy, the perfect lover.“545 Die Eigenliebe findet demnach durch den Anderen statt; der Glaube und das Gefühl für die eigene Lust ist unmittelbar an die geliebte andere Person geknüpft. „We both knew we had really found our ‚Other Half‘ and THAT union, that merging of two into one is sexiness and is beyond age or even physical existence.“546 Unbewusstes dem eigenen Ich gegenüber kommt für Nancy auch in seinem Verhältnis zum Körper zum Ausdruck und bestimmt dasselbe. „Im Denken über den Körper zwingt der Körper das Denken immer weiter, immer zu weit, als daß es noch Denken ist, doch nie weit genug, daß es Körper wäre.“547 Denken und Körper sind nach Nancy in der ,Berührung‘ miteinander verbunden und bilden dort einen „Zwischenraum“548. Im Begehren sucht bei Nancy das Ich als Körper durch andere Körper sich selbst: „Sich selbst fremd in seinem Ruf nach sich; sonst würde er sich nicht rufen, würde er nicht mit seiner ganzen Ausdehnung

543 Siehe The Ballad of Genesis and Lady Jaye: 03:18- 03:29. 544 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2011/06/ruminations-on-sexiness-andaging-with.html?zx=62969001900410f3. 545 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2011/06/ruminations-on-sexiness-andaging-with.html?zx=62969001900410f3. 546 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2011/06/ruminations-on-sexiness-andaging-with.html?zx=62969001900410f3. 547 Nancy 2007a, S. 35. 548 Siehe Nancy 2007a, S. 35.

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die Forderung zum Ausdruck bringen, diesem Fremden zu begegnen.“549 Dies hat Folgen für das Selbst, wie Nancy anhand des ,Lustkörpers‘ feststellt. „Er selbst ist nicht mehr der Welt zugewandt, und nicht einmal dem anderen, mit dem er sich – wenn es sich um sexuelle Lust handelt – im Austausch befindet.“ 550 Aber er sucht, so Nancy, auch nach Veränderung, nach einer ,neuen Zusammensetzung‘, die „sich von all den Zusammensetzungen unterscheidet, zu denen ihn seine Handlungen gemeinhin veranlassen mögen. Dieser Körper ist mit sich selbst vermengt und an dieser Vermengung ausgerichtet.“551 Die Lust bietet bei Nancy dem Ich die Möglichkeit, sich selbst loszulassen, die eigenen Grenzen neu auszuloten552. Für ihn ist deshalb der Sex ein ,Name‘ dafür, dass der Körper seine Namen verliert: „Man soll ihn weder ,Frau‘ noch ,Mann‘ nennen. Diese Namen, was immer wir an ihnen haben, lassen uns zu sehr zwischen Phantasmen und Funktionen zurück, genau dort, wo es weder um die einen noch um die anderen geht.“553 In der Intimität der Liebenden liegt derart ein grundlegendes Verschwimmen der Geschlechtergrenzen begründet. Breyer P-Orridge suchen demselben sowohl in ihrem Aussehen als auch in ihrer Theorie ihres Kunstprojekts einen Ausdruck zu verleihen und stellen damit grundlegende gesellschaftlich vergebene Rollenmuster, die sowohl psychologische als physiologische Vorstellungen beinhalten, infrage.

3.3.3 Überschreiten der Geschlechtergrenzen Das Schaffen Genesis P-Orridges ist von Beginn an durch sein Interesse an Androgynie gekennzeichnet. Als Kind und Jugendlicher faszinierten ihn die Mods, eine Gruppierung englischer Jugendlicher, die sich durch ihren androgynen Stil

549 Nancy 2010, S. 52. 550 Nancy 2010, S. 25. 551 Nancy 2010, S. 25. 552 „Es gilt hier unbedingt, die Bestimmung der Lust als Forderung voranzutreiben: Aufruf, Anregung, Reiz, über die Nützlichkeit und die Befriedigung hinauszugehen, um zur Loslösung von sich selbst, zur Preisgabe, zur Grenzüberschreitung zu gelangen – eine Überschreitung, die nicht überschreitet, sondern streift, berührt und sich beim Berühren vom Außen (Nichts-Gott) berühren lässt.“ Nancy 2010, S. 27f. 553 Nancy 2007a, S. 36.

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auszeichneten554. Auch sein Interesse an Brian Jones fußt auf dessen androgyner Ausstrahlung555. Früh stellt er seine Vorliebe für Rollentausch anhand von Kleidung fest556; dieses Thema wird in den Performances von COUM Transmissions zwischen ihm und Cosey aufgenommen557. Kleidertausch steht auch am Beginn der Beziehung mit Lady Jaye: „[O]ne of the first things she did was dress me up like a little doll, in a very androgynous way. [...]. From then on we playfully started to cross-dress with each other, and play with the idea of looking similar and not-taking on traditional roles.”558

Insofern ist die Begegnung der Liebenden Breyer P-Orridge zunächst einmal auf die Äußerlichkeiten beschränkt, in denen sich die Geschlechter in der Öffentlichkeit präsentieren. Hintergrund für ihr Kunstprojekt ist der Wunsch, den gesellschaftlich vorgegebenen Determinismus zu durchbrechen: „Breyer P-Orridge believe that the binary systems embedded in society, culture and biology are the root cause of conflict, and aggression which in turn justify and maintain oppressive control systems and divisive hierarchies.“559 Es wird deutlich, dass Beauvoirs weitreichender Satz: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“560 auch für Männer gilt. Obgleich „[d]ie Frau dagegen [...] ausschließlich in ihrer Beziehung zum Mann definiert“ 561 wird, weil „[d]ie Vorstellung von der Welt [...], wie die Welt selbst, das Produkt der Männer“562 ist, hat dies auch Folgen für die Möglichkeiten des Mannes. Butler kommt im Anschluss an Beauvoir zu dem Schluss: „Gender is the repeated stylization of the body, a set of repeated acts within a highly rigid regulatory frame that congeal over time to produce the appearence of substance, of a natural sort of being.“ 563 Wenn sie in diesem Zusammenhang von einer

554 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 299. 555 Siehe Breyer P-Orridge 2009, S. 302. 556 Siehe Wilson 2002, S. 58. 557 Siehe Ford 1999, S. 4.15. 558 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html. Siehe auch: The Ballad of Genesis and Lady Jaye: 09:35. 559 Breyer P-Orridge/Breyer P-Orridge 2009, S. 445. 560 Beauvoir 2002, S. 334. 561 Beauvoir 2002, S. 194. 562 Beauvoir 2002, S. 194. 563 Butler 2007, S. 45.

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,Performativität’ der Handlungen spricht, „performative in the sense that the essence or identity that they otherwise purport to express are fabrications manufactures and sustained through corporeal signs and other discursive means“ 564 , unterstreicht dies den kulturellen beziehungsweise künstlichen Hintergrund derselben. Allerdings werden diese vorgegebenen Rollenmuster nach Butler unbewusst angeeignet, denn „the mundane social audience, including the actors themselves, come to believe and to perform in the mode of belief.“565 Beinhaltet die ,Persona’ oder ,Maske‘, von der mit Jung und Plessner die Rede war566, noch eine Art der Wahl des gesellschaftlichen Milieus, werden Geschlechterrollen nach diesen Theorien von Geburt an vergeben und verinnerlicht. Aber nicht nur das Verhalten, die Handlungen werden mittels dieser kulturellen, gesellschaftlichen Vorstellungen gesteuert, sondern auch das Verständnis der natürlichen Körper der Menschen wird dadurch beeinflusst. Kulturelle GenderDefinitionen haben nach Butler Einfluss auf biologische ,Voraussetzungen‘, den ,Sex’, genommen: „If gender is the social construction of sex, and if there is no access to this ‚sex‘ except by means of its construction, then it appears not only that sex is absorbed by gender, but that ‚sex‘ becomes something like a fiction, perhaps a fantasy, retroactively installed at a prelinguistic site to which there is no direct access.”567

Bereits in seiner Kindheit fühlt P-Orridge als Mann einen Mangel im Hinblick auf die Möglichkeit des Schmückens der Frau: „We vividly recall watching my sister having her long hair brushed and being jealous of the entire process. [...]. Why couldn’t men wear glamorous and multi-layered clothes, distinctive makeup and limitless hairstyles?“568 Während für Frauen, wie Beauvoir feststellt, das Bild im Hinblick auf ihr Aussehen und Erscheinen als ein gesellschaftlicher Druck erscheint, denn „[i]n der geschmückten Frau ist die Natur gegenwärtig, aber gefangen, von einem menschlichen Willen dem Verlangen des Mannes entsprechend modelliert“569,

564 Butler 2007, S. 185. 565 Butler 2007, S. 192. 566 Siehe 3.2.4 ,Organisation und Formen der Gemeinschaft‘, S. 192f. 567 Butler 1993, S. 5. 568 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2011/06/ruminations-on-sexiness-andaging-with.html?zx=62969001900410f3. 569 Beauvoir 2002, S. 214.

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wird es für Männer mithilfe der Homosexuellenbewegung nach Sigusch erstrebenswert, sich „zu schmücken und zu präsentieren, auch als Sexualkörper.“570 Es erscheint als relevant, dass das, was für die eine Seite als Druck und Anzeichen für die weibliche Beschränkung bedeutet, für die andere zu einem Symbol für Freiheit geworden ist. Obgleich Freiheit für beide Seiten eben dadurch produziert wird: Die Möglichkeit auf den ,Schmuck‘ zu verzichten, steht der diese Seite auszuleben gegenüber. Insofern wird anscheinend doch die Möglichkeit geschaffen für „[d]ie Wahrheit, daß für die Frau der Mann sexuell und körperlich anziehend ist“571, für die es nach Beauvoir noch keine Zeit der ,Verkündung‘ gab. Es stellt sich jedoch die Frage ob und warum dies über die Formen der körperlichen Begehrbarkeit der Frau geschieht. In den Theorien der Geschlechterdifferenzen wurde der Frau immer der Körper und dem Mann der Geist zugewiesen. Butler ist deshalb vorsichtig in ihrer Theorie über den Geschlechtskörper: „To return to matter requires that we return to matter as a sign which in its redoublings and contradicitions enacts an inchoate drama of sexual difference.“572 Trotz der hohen Bewertung des Geistes, dem Wunsch des Mannes, wie Beauvoir ihn betont „reine Idee, wie das Eine, das Ganze, der absolute Geist“573 zu sein, ist der Körper für den Menschen nach Bataille ein Vehikel: „Der Geist allein, dessen Wahrheit intim und subjektiv ist, kann nicht auf ein Ding reduziert werden. Er ist heilig, während er in einem profanen Körper wohnt, der seinerseits erst in dem Augenblick heilig wird, in dem der Tod den unvergleichlichen Wert des Geistes offenbart.“574

Versucht wird die gegenseitige Angleichung Breyer P-Orridge nicht nur anhand der Annäherung der Gesichter der jeweils anderen Hälfte, sondern beide lassen sich Brustimplantate einsetzen575. Unterschiede zwischen den Menschen werden von Breyer P-Orridge als Grund für Krieg und Konflikte verstanden, die durch den Hermaphrodismus als Einheit zu überwinden gesucht wird. „For that

570 Sigusch 2005, S. 46. 571 Beauvoir 2002, S. 194. 572 Butler 1993, S. 49. 573 Beauvoir 2002, S. 197. 574 Bataille 1994, S 146. 575 Siehe The Ballad of Genesis and Lady Jaye: 33:42. Und http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interview-with.html.

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reason alone, a perspective based upon reconciliation and likeness, a hermaphrodite culture becomes a political position and a threat to entrenched masculine systems of social order.“576 P-Orridge versteht sich dabei jedoch als „basic heterosexual, which confuses people because it’s much less common for heterosexuals to be transgender. And I’m not fully accepted by the transgender community because they don’t understand why it would be an art project.”577

Betont werden muss dabei also immer, dass es sich in erster Linie um ein Kunstprojekt zwischen zwei sich liebenden Menschen handelt, das zugleich politischen Einfluss nimmt, angesichts der radikalen Infragestellung der gesellschaftlichen Vorstellung von Geschlechtergrenzen und der körperlichen beziehungsweise biologisch gegebenen Grenzen. In diesem Zusammenhang sind jedoch auch Vorstellungen und Bedürfnisse gegenüber möglichen geschlechtsverbundenen Rollenmustern eine bedeutsam, wie sie im Begriff der Androgyny zum Ausdruck kommen. Singer beschäftigt sich mit Androgyny „which in its broadest sense can be defined as the One which contains the Two; namely, the male (andro-) and the female (gyne). [...]. The archetype of androgyny appears in us an innate sense of a primordial cosmic unity, having existed in oneness or wholeness before any separation was made.”578

Androgyny rekurriert für Singer auf die Vorstellung, dass die Geschlechter einmal eine Einheit gebildet haben, wie sie noch im Hermaphrodismus zum Ausdruck kommt. Sinnbilder für diese Vorstellung findet sie sowohl in der Bibel im ,hermaphroditischen Adam‘579 oder auch in der Antike in der Gestalt des Dionysos580. Allerdings trifft sie eine klare Unterscheidung für ihre Definition von Androgyny im Hinblick auf Hermaphrodismus, denn „Hermaphrodites belong to the classification of intersexuals, in whom there is a significant shift of one or more of the sex qualities in the direction of the opposite sex.“581 Im Unterschied

576 Breyer P-Orridge 2009, S. 310. 577 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html. 578 Singer 1989, S. 5. 579 Singer 1989, S. 61. 580 Singer 1989, S. 48. 581 Singer 1989, S. 11.

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zu diesen körperlichen Gegebenheiten ist die Androgyny für Singer eine psychische Vorstellung582, die das Selbstverständnis und die Handlungen der Menschen beeinflussen kann. „The new androgyne is not confused about his or her sexual identity. Androgynous men express a natural, unforced and uninhibited male sexuality, while androgynous women can be totally female in their own sexuality.“583 Dies betrifft vor allem das körperliche Verständnis, das jedoch auf der psychischen Ebene erweitert werden kann: „We need to think of ourselves no longer as exclusively ‚masculine‘ or exclusively ‚feminine‘ but rather as whole beings in whom the opposite qualities are ever-present.“584 Demgegenüber beinhaltet Breaking Sex zwei Konzepte: das der Androgynie und das des Hermaphrodismus, insofern als nicht nur jeweils auf das andere Geschlecht als psychische Vorstellung verwiesen wird, sondern auch chirurgische Eingriffe zur Veränderung zum biologisch gegebenen Geschlecht vorgenommen werden. Wenn Sartre zur Erkenntnis gelangt, dass Bewusstsein und Körper miteinander derart verknüpft sind, dass der Körper dem Ich dazu dient, zu einem Bewusstsein über die eigenen Fähigkeiten zu gelangen und einen Lebenszweck zu finden585, kann im Körper auch die Möglichkeit gesehen werden, den natürlichen Willen Schopenhauers durch den selbst geschaffenen zu ersetzen 586 . „Anders ausgedrückt erreicht der Mensch eine gültige moralische Haltung, wenn er auf das bloße Sein verzichtet und seine Existenz auf sich nimmt.“587 Auch in Beauvoirs Theorie über die Frau kommt der Wille zum Ausdruck natürliche Gegebenheiten nicht durch allgemeingültige, kulturelle zu übersetzen zu suchen, sondern bewusst zu be- und ergreifen und zu deuten588. „BREYER P-ORRIDGE have come to view the physical body as simply raw material. ‚A cheap suitcase for consciousness’, as Lady Jaye says. We support all surgical or genetic advances towards self-designed futures.“589 Als Weg für die-

582 Siehe Singer 1989, S. 68. 583 Singer 1989, S. 14. 584 Singer 1989, S. 199 585 Siehe Sartre 2001, S. 580, bzw. 3.3.2 ,Der Körper der Liebenden‘, S. 212. 586 Siehe Schopenhauer 1986b, S. 755, bzw. siehe 3.1.3 ,Vor- und Selbstbestimmung’, S. 159f. 587 Beauvoir 2002, S. 191. 588 Siehe 3.3.3 ,Überschreiten der Geschlechtergrenzen‘, S. 217f. 589 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html.

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sen absoluten Versuch der Aneignung und Veränderung des eigenen Körpers dient ihnen dabei die Kunst.

3.3.4 Sexualität und Erotik Von Bedeutung ist im Hinblick auf die körperliche Veränderung der Körper sowie der Intimität der Liebenden Breyer P-Orridge eine grundlegende Unterscheidung von ,Sexualität‘ und ,Erotik‘, wie sie Bataille zieht: „[W]as die Erotik von der gewöhnlichen sexuellen Aktivität unterscheidet, ist ein vom natürlichen Zweck der Fortpflanzung und der Versorgung der Kinder unabhängiges psychisches Streben.“ 590 Während die Sexualität in der Wissenschaft von Schopenhauer 591 , Freud 592 oder vor allem Krafft-Ebing 593 , dem konkreten Zweck der Vermehrung dient, setzt Bataille die Sexualität für die Erotik und das zu ihr gehörige Begehren, die Lust frei. Daraus ergibt sich eine weitreichende Konsequenz: Sexualität wird als Ort der Schöpfung des Neuen definiert, wohingegen die Erotik auf die „ruinöse[...] Verschwendung“594 verweist. Trotz der Trennung von Erotik und Sexualität Batailles, „ist der wesentliche Sinn der Fortpflanzung nichtsdestoweniger der Schlüssel zur Erotik.“595 Fortpflanzung entgegnet der Endlichkeit des Menschen, trägt zur Erhaltung der Spezies bei. Beauvoir definiert mittels Sartres Theorie, die beinhaltet, dass zum Mensch-Sein der Tod gehört, eine ,ontologische Begründung der Fortpflanzung‘, denn „wäre ein Existierendes unsterblich, so wäre es nicht mehr das, was wir einen Menschen nennen. [...] [. D]ie Erhaltung der Art scheint demnach das

590 Bataille 1994, S. 13. 591 „Das Grundthema aller mannigfaltigen Willensakte ist die Befriedigung der Bedürfnisse, welche vom Dasein des Leibes in seiner Gesundheit unzertrennlich sind, schon in ihm ihren Ausdruck haben und sich zurückführen lassen auf Erhaltung des Individuums und Fortpflanzung des Geschlechts.“ Schopenhauer 1986a, S. 448. 592 „Das neue Sexualziel besteht beim Manne in der Entladung der Geschlechtsprodukte; es ist dem früheren, der Erreichung von Lust keineswegs fremd, vielmehr ist der höchste Betrag von Lust an diesen Endakt des Sexualvorgangs geknüpft. Der Sexualtrieb stellt sich jetzt in den Dienst der Fortpflanzungsfunktion; er wird sozusagen altruistisch.“ Freud 1999b, S. 108. 593 Siehe Krafft-Ebing 1984, S. 68. 594 Bataille 1994, S. 166. 595 Bataille 1994, S. 14.

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Korrelat der individuellen Begrenztheit zu sein.“596 Angesichts dieser Verdeutlichung des Todes „bringt“ die Fortpflanzung nach Bataille „diskontinuierliche Wesen ins Spiel. [...] Zwischen dem einen und dem anderen Wesen liegt ein Abgrund, erstreckt sich die Diskontinuität. [...] [W]ir können gemeinsam das Schwindelerregende dieses Abgrunds empfinden.“597 In der Erotik Batailles erlebt der Mensch seine Endlichkeit, ,den Tod‘ und die mit ihm einhergehende ,Kontinuität‘. In den unsicheren Grenzen des Ichs scheint für Bataille der Zustand der Diskontinuität des Individuums zu einem konkreten Ausdruck zu kommen, beziehungsweise die Möglichkeit zu entstehen, das Ich für das Erlebnis der Kontinuität zu öffnen. „Wir sind diskontinuierliche Wesen, Individuen, die getrennt voneinander in einem unbegreiflichen Abenteuer sterben, aber wir haben Sehnsucht nach der verlorenen Kontinuität.“598 Die Funktion der Erotik nach Bataille ist nun „die Auflösung konstituierter Formen“599, die auch Veränderungen für das Ich nach sich ziehen. „Die Erotik, [...], ist in meinen Augen jene Störung des Gleichgewichts, in der sich das Wesen selbst in Frage stellt, und zwar bewußt. In einem gewissen Sinne verliert sich das Wesen objektiv, doch dann identifiziert sich das Subjekt mit dem Objekt, das sich verliert.“600

Bei Bataille gibt es auf diese Weise eine Möglichkeit, dass sich das Ich selbst zu einem Objekt wird. Die von ihm beschriebene Intensität des Erlebens in der Erotik führt zu einer neuen Grenzziehung und basiert gleichzeitig auf der Faktizität, der Grenze, die im Verbot ihren Ausdruck und Wert erhält, da der Mensch eine Angst mit dem Verbot verbindet. Erst das Verbot ermöglicht die Überschreitung und mit ihr „die Erfahrung der Sünde.“601 Für Bataille ist die Erotik eine „innere Erfahrung“, deren Religiosität sich in der Verbindung von „Angst“ und „Verlangen“ bekundet602.

596 Beauvoir 2002, S. 31. 597 Bataille 1994, S. 15. 598 Bataille 1994, S. 17. 599 Bataille 1994, S. 21. 600 Bataille 1994, S. 33. 601 Bataille 1994, S. 40. 602 Bataille 1994, S. 40f.

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3.3.5 Kunst und Schöpfung So gibt es verschiedene Möglichkeiten für die Liebenden Breyer P-Orridge, zu einer Einheit zu gelangen. Sowohl durch Dialog, Blick als auch das Begehren und chirurgische Verändern der Körper und letztlich: mittels der Kunst. Gegenüber einer als unvermeidlich erscheinenden Verbindung von ‚Sexualität und Fortpflanzung‘ sowie einer reinen ‚Verschwendung in der Erotik‘ bei Bataille, setzen Breyer P-Orridge mit ihrem Projekt Breaking Sex die künstlerische Schöpfung. Während der ,gemeinsame Orgasmus‘ 603 auf das verweist, was mit dem „,kleinen Tod‘“604 bezeichnet wird, ist entsprechend auch die Fortpflanzung mit diesem Eindruck verbunden. „Die Ejakulation ist eine Todesverheißung, sie behauptet die Art gegen das Individuum. Die Existenz des Geschlechts und seine Aktivität verneinen die stolze Eigenartigkeit des Subjekts. Eben dieses Infragestellen des Geistes macht das Geschlecht zu etwas Anstößigem.”605

Ein Kind zu zeugen, steht nach Beauvoir in Verbindung mit dem Verlust der eigenen Identität und verweist doch wieder auf die Endlichkeit jedes Individuums selbst606. Breyer-P-Orridge suchen nach einer anderen Weise, dieser Endlichkeit zu entgehen und zu einer Einheit zu gelangen: „We didn’t want to have a baby, but we did want to create a new being that represented the two of us, so we took each other and started to analyse how we could play with that sense of Positive Surrender, and create a new dynamic being. That’s where the more considered artistic side began.“607

603 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html. 604 Bataille 1994, S. 166. 605 Beauvoir 2002, S. 218. 606 Beauvoir kommt zu diesem Schluss mit Verweis auf Hegel. Siehe Beauvoir 2002, S. 218. 607 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html. Siehe auch The Ballad of Genesis and Lady Jaye: 31:35-32:48.

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In ihrem Projekt Breaking Sex entsteht eine Form des Werks, das sich nicht als Produkt manifestiert, sondern den Versuch einer Lebensform darstellt, die über die begrenzten biologischen Gegebenheiten der Fortpflanzung hinausweisen soll. „Wir werden es sagen, und wir haben es auf andere Weise immer gesagt: Das Seinsbegehren trägt auch den Namen ,Kunst‘.“608 Mit dem Verweis auf den alten Namen der Kunst „Schöne[...] Künste“ macht Nancy deutlich, dass in der Kunst eine doppelte Befremdung zum Ausdruck kommt. „Das ,Schöne‘ benennt immer die Störung eines Gegebenen, das Eindringen eines Übermaßes, eine Unbequemlichkeit und eine Unangepasstheit“609. Aber eine Ambivalenz kommt für Nancy nicht nur in der Schönheit zum Ausdruck, wie sie die Kunst anzustreben vermag, sondern auch in der Technik, die neben ihrem kulturellem Vorgehen ihre natürlichen Wurzeln nicht leugnen kann. „Die Techniken antworten auf Zwecke, welche jenen Zwecken fremd sind, die das, was wir ,Natur‘ nennen, in sich trägt. Deshalb sagt Aristoteles, dass die Kunst Nachahmung der Natur ist: Sie nimmt deren Platz ein, um sich dort, wo die Natur nichts tut, wie sie zu verhalten.“610

In gewisser Weise öffnet sie einen ,Zwischenraum‘ wie ihn Nancy als wesentlich für die Beziehung der im Geschlechtsakt sich auflösenden Geschlechterdifferenzen aufdeckt611. Angesichts der Verbindung der Kunst mit dem Begehren lässt sich dieser von Nancy beschriebene Zwiespalt durch die Empfindungen gegenüber dem Sexualakt mit Beauvoir erweitern: „Überall wo das Leben im Entstehen ist, im Keimen und Gären, erregt es Ekel, weil es nur entsteht, indem es vergeht [...]. Weil dem Menschen vor der Grundlosigkeit und vor dem Tod graut, graut ihm auch davor, daß er gezeugt worden ist, und er würde seine tierischen Bindungen gern verleugnen.“612

Von dieser bestehenden Abneigung im Menschen gegen das an die Fortpflanzung gebundene Sexuelle, von der Beauvoir spricht, bleibt auch die Erotik Batailles nicht verschont. „Die Schönheit ist in erster Linie deshalb wichtig, weil

608 Nancy 2010, S. 56. 609 Nancy 2010, S. 56. 610 Nancy 2010, S. 56f. 611 Siehe Nancy 2012a, S. 31. 612 Beauvoir 2002, S. 197.

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die Häßlichkeit nicht beschmutzt werden kann […]. Die Menschlichkeit, das Kennzeichen des Verbots, wird in der Erotik überschritten.“613 Es ist die Materie, der Körper, der bei Beauvoir und Bataille ,Ekel‘ erregt, ,hässlich‘ ist, den Menschen auf seine Natur zurückverweist. Angesichts dessen betont Bataille: „Ich sprach von Entweihung der Schönheit. Ebensogut hätte ich von Überschreitung sprechen können, da das Animalische in bezug auf uns eine Überschreitung bedeutet, denn das Tier kennt kein Verbot.“614 Vielleicht begegnet die Kunst der „ruinösen Verschwendung“615 von der Bataille in der Erotik spricht. Sie könnte ein Verfahren sein, aus der todgeweihten Sexualität eine Schöpfung zu machen, so wie sie im Freudschen „Prozeß der ,Sublimierung‘“ beschrieben wird, insofern „überstarken Erregungen aus einzelnen Sexualitätsquellen Abfluß und Verwendung auf andere Gebiete eröffnet wird“616. Die Gefahr, die dem Menschen bei Freud durch den Trieb lauert, sie auf ,falsche‘ Objekte und Handlungen zu verwenden, scheint durch die Kunst gebannt werden zu können: „[J]e nachdem solche Sublimierung eine vollständige oder unvollständige ist, wird die Charakteranalyse hochbegabter, insbesondere künstlerisch veranlagter Personen jedes Mengungsverhältnis zwischen Leistungsfähigkeit, Perversion und Neurose ergeben.“617

Und trotzdem bleibt im körperlichen Begehren, dem durch die Kunst Ausdruck verliehen wird, eine Form von unberechenbarer Ambivalenz bestehen, die durch die Funktion der Kunst bei Nancy umschrieben wird; nämlich die „Fremdheit des Begehrens und dieses Begehren des Fremden in Form und zur Geltung zu bringen.“ 618 Bei Bataille erhält diese Fremdheit einen mystischeren, verheißungsvolleren Namen: „unsere sexuelle Aktivität [ist] mit dem Geheimnis verbunden; überall, wenn auch in verschiedenem Graden, scheint sie unserer Würde zu widersprechen: so daß wir in der un-

613 Bataille 1994, S. 140. 614 Bataille 1994, S. 141. 615 Bataille 1994, S. 166. Siehe 3.3.4 ,Sexualität und Erotik’, S. 222. 616 Freud 1999b, S. 137. 617 Freud 1999b, S. 137. 618 Nancy 2010, S. 58.

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entwirrbaren Verbindung des sexuellen Vergnügens mit dem Verbot das Wesen der Erotik erblicken müssen.“619

Das Fremde, das Hässliche ist für Bataille im Erotischen als eine Form des Geheimnisses verortet, weil dennoch die Lust mit ihm einhergeht, auch wenn es den menschlichen Vorstellungen von Moral widerspricht und die Gründe für das Lustempfinden verborgen bleiben. Wenn das Animalische noch weiter im Menschen fortlebt und sich der Exzess auch weiter seine Wege sucht, muss dieser, so Bataille, im Sinne der Produktivität umgewandelt werden, um Dauerhaftes zu schaffen. „Diese Impulse gewähren denen, die ihnen nachgeben, eine unmittelbare Befriedigung: im Gegensatz dazu verspricht die Arbeit denen, die sie beherrschen, einen späteren Nutzen, dessen Wert nicht bestritten werden kann“620. Auch wenn die Erotik nach Bataille „organisierte Aktivität; insofern sie organisiert wird“621 ist und damit je nach Zeitalter bestimmten Moralen und Ästhetiken folgt, schafft sie doch nichts außer sich selbst und besitzt in sich ihren eigenen Zweck. Angesichts dessen nimmt sie in Batailles Theorie vor allem die Form der Zerstörung und der Gewalt an622. Sollte Girard damit recht behalten, dass das Fehlen der Unterschiede zum Konflikt und zur Gewalt führt, wie sie beispielsweise in Zwillingen zum Ausdruck kommt623, stellt sich die Frage, ob auch Breaking Sex durch den Wunsch nach Auslöschung der Unterschiede Gewalt in der Form der Vereinigung von ,Romantik und Monströsem‘624 heraufbeschwört? Entscheidend ist dabei jedoch, dass es sich hier nicht um eine Aufteilung zwischen dem ,Guten‘ und dem

619 Bataille 1994, S. 105. 620 Bataille 1994, S. 42. 621 Bataille 1994, S. 105. 622 „Das Gebiet der Erotik ist im wesentlichen das Gebiet der Gewaltsamkeit, der Vergewaltigung.“ Bataille 1994, S. 19. Siehe in diesem Zusammenhang auch die unter dem Titel Das obszöne Werk zusammengefassten Erzählungen Batailles (Bataille 2007). 623 Siehe Girard 2006, S. 88. 624 In diesem Zusammenhang stellt der Interviewer Dominic Johnson im Gespräch mit Breyer P-Orridge fest: „I’m reminded of Burroughs’ statement that ‚paranoia is having all the facts’, where a political statement emerges from blurring the boundaries between two opposites: the positive and the negative, loaded and neutral, romance and monstrosity.“ http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interview-with.html.

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,Bösen‘ wie in dem „monströsen Doppelgänger“625 Girards handelt, sondern von Bedeutung ist das, was zwischen den beiden entsteht. Mit der Erschaffung des Third Being durch die plastische Chirurgie scheint der Wunsch nach Transzendierung der beteiligten Körper und Bewusstseine verbunden: „[W]e woke up together in the room where you come back from being under the anaesthetic, and we held hands, and as I looked down I found myself saying, ‚Oh, these are our angelic bodies.’“626 Von der bewussten Kunst/Theorie über die moderne Technik zu einem ,heiligen Körper‘. Es kommt die Frage auf, inwiefern, wenn das Animalische an die Gewalt erinnert, entsprechend ein zu viel an Kultur, das Unterschiede zu Fall bringt, den Eindruck des Monströsen weckt, und sich Gewalt in Befremdung verwandelt. „The human, it seems, must become strange to itself, even monstrous, to reachieve the human on another plane. This human will not be ‚one,‘ indeed, will have no ultimate form, but it will be one that is constantly negotiating sexual difference in a way that has no natural or necessary consequences for the social organization of sexuality.”627

Butler scheint hiermit zu formulieren, was in dem Kunstprojekt Breyer-POrridge intendiert ist. Die Veränderung der Menschheit selbst in die Hand zu nehmen, selbst eine Evolution durch Kunst auszulösen. „Pandrogeny – and the experimental creation of a third form of gender-neutral living being – is concerned with nothing less than strategies dedicated to the survival of the species.“628 Gleich welche Versuche unternommen werden, eine Einheit zu erreichen, bleiben in den Menschen die Unterschiede erhalten; und so geht es auch Breyer P-Orridge in erster Linie um einen Umgang mit denselben. „Pandrogeny is not about defining differences but about creating similarities. Not about separation but about unification and resolution.“629 Dieser Versuch fußt auf der Feststellung, dass der Mensch allein nicht alles sein kann. Stattdessen suchen Breyer P-

625 Girard 2006, S. 211. Siehe auch die folgenden Seiten und ebd., S. 369. 626 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html. 627 Butler 2004, S. 191. 628 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html. 629 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html.

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Orridge sich als Teile des Ganzen zu begreifen, in den Unterschieden des andern Ähnlichkeiten zu entdecken und im und durch den Anderen neue mögliche ,Territorien’ 630 zu erkennen. Das ist auch der Grund dafür, dass Genesis POrridge sein Leben der kollektiven Zusammenarbeit gewidmet hat: „I’ve always worked in collectives. I’ve never had this need, or this motivation, to identify myself as the sole source of anything.“631 Vollständig zum Verschwinden kommen die Unterschiede selbst nicht in Girards Vorstellung vom ‚Heiligen‘. Statt dessen birgt es im Gegenteil im Kern eine Befremdung, angesichts der Vereinigung von Widersprüchen und Ambivalenzen: „Im Heiligen sind die Unterschiede, wie man weiß, nur deshalb ausgelöscht und aufgehoben, weil sie alle in vermischtem Zustand, in chaotischer Form vorhanden sind. Dem Heiligen angehören heißt, an dieser Monstrosität teilhaben.“632

Wenn die Kultur einen Wert besitzt, die ,animalische Gewalt‘ zu beherrschen, so kann gefragt werden, ob es einen künstlerischen, kulturellen oder auch technischen Weg gibt, eine mögliche Veränderung sowohl der Verhaltensweisen als auch des Menschen selbst in Gang zu setzen und ihn damit letztlich auch seinen (selbst geschaffenen) Umständen anzupassen. „At a very early stage, that DNA program of fight, attack and kill [...] actually helped the human species to evolve and survive. [...]. As we’ve gradually changed our environment to this futuristic science fiction environment that we exist in, we’ve done nothing to change our behavior or the pattern of our DNA program.”633

Und doch ist die Überschreitung von Geschlechtergrenzen in Breaking Sex in ihren Grundsätzen nicht derart dem Menschen fremd, wie es auf den ersten Blick

630 „Our work isn’t parallel sometimes, but rather perpendicular, and forms a greater whole that covers a lot more territory.“ http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interview-with.html. 631 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2010/10/douglas-rushkoff-and-genesis-porridge.html?zx=b40322ff019d35c7. 632 Girard 2006, S. 415. 633 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html.

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erscheinen mag; denn wie Freud deutlich macht: „[e]in gewisser Grad von anatomischem Hermaphroditismus gehört nämlich der Norm an“634. Nach dem Tod Lady Jayes im Jahr 2007 ist für die übrig gebliebene Hälfte Breyer P-Orridge das Kunstprojekt nicht beendet. Genesis Breyer P-Orridge widmet ihr die Psychick Bible mit den Worten: „DEDICATED TO MY ‚OTHER HALF‘ THEE ANGELIC BEING LADY JAYE BREYER P-ORRIDGE 1969-2007 S/HE IS (STILL) HER/E”635

In der Liebe zu einem anderen Menschen scheint eine Intimität zwischen den Menschen erreicht zu werden, die der Gemeinschaft fehlt. „Die Liebenden berühren sich, die Mitmenschen aber nicht [...]. Diese banale und recht lächerliche Wahrheit bedeutet, daß die Berührung, die zwar nicht erreichte, aber greifbar nahe und wie verheißene (nunmehr wortlose und blicklose) Immanenz, die Grenze ist.“636

Auch wenn Nancy mit Bataille den Wunsch nach Totalität unerfüllt aber ewig vorhanden erscheinen lässt, zeigt er doch, dass eine bedeutende Lehre aus ihr für das Zusammenleben gezogen werden kann: „die Liebenden [...] sind nicht die Einswerdung, die der Gesellschaft verschlossen oder verborgen bliebe, sie offenbaren vielmehr, daß Kommunikation nicht Einswerdung ist.“637 Allerdings ist diese Intimität der Liebenden auch an gesellschaftliche Normierungen gebunden. In seinem aus dem Jahr 2005 stammenden Buch Neosexualitäten schließt Sigusch im Hinblick auf den heutigen Umgang mit Sexualität: „Dass die Sphären des Sexuellen eine Einheit in der Separation bilden, dass es keine in sich harmonische Möglichkeit des Sexuellen gibt, dass die große Liebe so zwieschlächtig ist wie die Perversion, geht manchem Psychoanalytiker nicht in den Kopf.“638

634 Freud 1999b, S. 44. 635 Siehe Breyer P-Orridge 2009, n.p. 636 Nancy 1988, S. 83f. 637 Nancy 1988, S. 81. 638 Sigusch 2005, S. 91.

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Folglich bleibt nach Sigusch der Begriff der Perversion gegenüber individueller Gestaltung von Sexualität innerhalb von Beziehungen als eine psychologische Wertung weiterhin bestehen639. Und so stellt auch Nancy das ‚(Seins)-Begehren’, das in der Kunst zum Ausdruck kommt640, als Entfernung von der „genitalen Abfuhr“641 unter Rückgriff auf Freud in den Kontext der Perversion. Im Versuch über die Intimität, dem Bestreben nach einer gemeinsamen Erotik und dem Angleichen der beiden Körper Breyer P-Orridge werden sowohl in Bezug auf sexuelle Normierungen als auch durch die Erhöhung der Bedeutung der Kunst im Sinne des Gebärens gesellschaftliche Grenzen überschritten. Vor allem auch im Hinblick darauf, dass Breyer P-Orridge mit ihrem Kunst-Projekt nicht nur die Fortpflanzung zu ersetzen gesucht haben, sondern die Veränderung der Spezies als Ganzer anstrebten642. Mag darin eine Form des Größenwahns stecken, scheint doch so lange niemand in Gefahr, als ein moralischer Grundsatz der Nächstenliebe vorherrscht – „Do EVERYTHING as if that so meticulously, make it so full of passion and of love for the moment and for the thing that you’re doing, so that you would always be proud to be remembered by that thing.“643 – keiner der Beteiligten Angst vor der eigenen Veränderung besitzt – „There is no reason to believe or assume that this is our finished state. This is, to BREYER P-ORRIDGE, a ‚larval’, initial state of being at a crossroads.“644 – die eigene Identität infrage gestellt werden kann und nicht das gewalttätige Auslöschen Anderer, sondern der Wunsch nach einer Auflösung aller im Vordergrund steht. So lange ein Bewusstsein herrscht, dass es sich um eine Utopie handelt, die man nicht erzwingen kann – „Hence we say, ‚Viva La Evolution!’ Utopian? Absolutely.“ 645 – und es sich trotzdem lohnt, sie zu denken und einen Diskurs über sie in Gang zu bringen646 – „If Pandrogeny does nothing else but

639 Siehe Sigusch 2005, S. 80. 640 Siehe Nancy 2010, S. 56, bzw. 3.3.5 ,Kunst und Schöpfung’, S. 225. 641 Nancy 2010, S, 69. 642 Siehe Breyer P-Orridge/Breyer P-Orridge 2009, S. 445. 643 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2010/10/douglas-rushkoff-and-genesis-porridge.html?zx=b40322ff019d35c7. 644 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html. 645 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html. 646 Sigusch kommt im Zusammenhang mit Geschlechtergrenzen zu dem Schluss: „Wir sind alle bisexuell, weil wir alle, unabhängig vom Körpergeschlecht, auf einen ande-

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open up debate by becoming a word that can be rebuilt from the beginning to represent as much more non-aligned view of things, then that would be important.“647 Vielleicht ist die Kunst und nicht die Religion – „To me art is the religion. The fact that god‘s first quality is creation, to that‘s everything.“648 – der Raum, in dem eine von alldurchringender Liebe beherrschte Moral dazu führt, nicht mehr mit Gewalt auf den Wunsch nach Einheit und Kontinuität zu reagieren, sondern statt dessen ein lebendes Zeichen zu setzen. „From union through and as love, to union as a demonstration of change socially, and eventually to union of an entire species perceived as one fully integrated organism with no limitation on any level of biological mutability.“649

ren Menschen erotisch oder sexuell reagieren können, bewusst oder unbewusst. Wir sind alle transsexuell, weil wir alle beide kulturellen Geschlechter in uns tragen, weil wir alle einmal männlicher, einmal weiblicher sind und die diktierten Geschlechtergrenzen überschreiten.“ Sigusch 2005, S. 162. Insofern würde das Projekt nur den tatsächlichen Gegebenheiten Ausdruck verleihen. 647 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html. 648 Tessitore/P-Orridge 2002, S. 144. 649 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html.

4. Mensch und Maschine (Stelarc)

Dem Menschen bieten sich unterschiedliche Möglichkeiten zur Entwicklung: Neben dem Streben nach höheren Zielen, wie beispielsweise in der Religion und den Beziehungen zu anderen Menschen, entwickelt er Werkzeuge und Maschinen, um sich seinen Lebensumständen anzupassen und sich selbst zu verändern. Angesichts dessen erscheinen Mensch und Maschine im Hinblick auf ihre Entwicklung in einem Austauschverhältnis zu stehen, das dem Menschen in Bezug auf Kontrolle und Steuerung zwar eine Vorherrschaft zu gewähren scheint, aber auch die Frage nach der möglichen Autonomie nicht nur der Maschine, sondern auch des Menschen aufwirft1. Es wird am Beispiel des Performance-Künstlers Stelarc zu untersuchen sein, inwieweit die Maschine und die Technik natürliche Defizite des Menschen auf künstliche und kulturelle Weise kompensieren oder erweitern und als zum Mensch-Sein gehörende Strategien verstanden werden können. Auf diese Weise erreichen die Techniken des Selbst und mit ihm die Möglichkeiten und Grenzen des Mensch-Seins bei Stelarc eine weitere Grenze: die des Objekts, das kein anderer Mensch ist. Stellte sich dem Ich im zweiten Kapitel bei P-Orridge der Andere als ‚Objekt-Anderer‘ gegenüber, der dem Ich auf unterschiedliche Weise die Möglichkeit bietet, sich selbst zum ‚Objekt-Ich‘ zu werden2, wird in diesem Kapitel anhand dem Schaffen Stelarcs der Frage nachgegangen, inwiefern das Objekt Maschine dem Subjekt zum Objekt-Anderen werden und darüber hinaus und unweigerlich damit verbunden, ob die Maschine

1

Siehe 4.0.1 ‚Verbindung von Mensch und Technik‘, S. 237ff.; 4.3.2 ‚Sprache, Reflexion und Bewusstsein‘, S. 312ff. und 4.3.3 ‚Selbstständig agierende Maschinen‘, S. 318ff.

2

Siehe 3.3.1 ‚Die Beziehungen zwischen Ich und Anderem und Vorstellungen von der Liebe‘, S. 206ff.

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eine Form des Subjekts darstellen kann3. Allerdings ist die Maschine auch Vehikel und Vermittler zwischen den Menschen und führt zu neuen Möglichkeiten und Visionen des Kollektiven. Teil dieser Fragestellung sind die Grenzen der Natur und der Kultur des Menschen. Von der geistigen, spirituellen und therapeutischen Technik Montanos über die Anwendung chirurgischer Körpermodifikation bei P-Orridge4 kann im technischen und künstlichen Eingriff im Hinblick auf die sowohl experimentelle als auch faktische Verschmelzung von Mensch und Technik, in Form des Ear on Arm bei Stelarc von einer weiteren Grenzüberschreitung gesellschaftlicher Normen gesprochen werden 5 . Während Montano aktiv zu einer NeuDefinition unterschiedlicher religiöser Ideen zur Selbstgestaltung zu gelangen sucht und in diesem Zusammenhang einen Begriff des Heiligen zu verkörpern anstrebt, wird bei P-Orridge das Ich zum Schöpfer des eigenen Lebens6. Bei Stelarc spiegeln sich sowohl die Ideen der Schaffung einer neuen, allerdings mit Technik verbundenen Identität wider, als auch selbst zum Schöpfer zu werden. Wie bei P-Orridge geht es Stelarc, allerdings auf neue Weise, um eine Anpassung an die Umstände. Spielen bei P-Orridge vor allem kollektive Ideen eine Rolle, sieht sich Stelarc einer Natur gegenübergestellt, die der Mensch mit Technik zu kontrollieren sucht. Allerdings sind beide, wenn auch auf unterschiedliche Weise mit den Normen der Gesellschaft im Hinblick auf Grenzen und Vorstellungen gegenüber dem Mensch-Sein konfrontiert; überschreiten beide auf ihre Weise die Grenze in Richtungen zum Monströsen7. Und so führt die thematische Auseinandersetzung des Verhältnisses von Mensch und Maschine zur Fragestellung nach dem möglichen gottähnlich-Sein des Menschen, über die Möglichkeit der Selbsterfindung und Gestaltung und in der Folge zur Erschaffung einer anderen Lebens-Form: der Maschine. Obwohl die Performance-Kunst Stelarcs einen wissenschaftlichen und technischen Ansatz beinhaltet, bedient er sich einer Form des Rituals zur Be-

3

Siehe 4.3.5 ‚Natur – Kultur und die Veränderung des Mensch-Seins‘, S. 326ff.; siehe 4.3.2 ‚Sprache, Reflexion und Bewußtsein‘, S. 312ff. und 4.2.4 ‚Vermittlung von Ich und Du mittels Maschine‘, S. 295ff.

4

Siehe 2. ‚Sorge’, S. 51ff. und 3.3.3 ‚Überschreiten der Geschlechtergrenzen‘, S. 221.

5

Siehe in diesem Kapitel 4.1.3 ‚Körperprothesen ‘, S. 264ff.

6

Siehe 2.3 ‚Ritual und Askese‘, S. 100ff. und 3.1 ‚Neuerschaffung des Selbst‘, S. 149ff.

7

Siehe 3.3.5 ‚Kunst und Schöpfung‘, S. 227f; 4.1.3 ‚Körperprothesen‘, S. 262ff.; 4.3.5 ‚Natur – Kultur und die Veränderung des Mensch-Seins‘, S. 331.

4. M ENSCH UND M ASCHINE | 235

wusstwerdung, Erkenntnis und Ideen-Generierung: den Suspensions. Diese Praxis Stelarcs verdeutlicht, dass es in seinem Streben, Mensch und Maschine miteinander zu verbinden, nicht um eine gedankenlose Ersetzung des Körpers geht. Mit dieser ursprünglich spirituellen Praxis sucht auch Stelarc nach einer Erkenntnis über Körper und Geist und deren Beziehung zu gelangen. Sie verweist auf die kulturelle Technik gegenüber, womöglich auch vermeintlich natürlichen Bedingungen8. Auch wenn Stelarc am deutlichsten von den drei hier dargestellten Künstlern die Religion und den Glauben an Gott ablehnt, kann er sich der Kontextualisierung seines Werkes nicht entziehen9. Ob Glaube oder Unglaube, in seinen Projekten und Theorien wird, wenn nicht der Glaube an ein Jenseits, so die neue Belegung mit Wert nicht durch ein Diesseits, sondern an die Notwendigkeit der Anpassung an mögliche neue Welten ersetzt und damit auch umgedeutet. Wert besitzt nun nicht mehr die Hoffnung nach einem paradiesischen Leben nach dem Tod, sondern die Hoffnung, dass der Mensch im Universum für sich neue Lebensräume entdecken kann. Stelarcs lang angelegte Projekte, die immer wieder zu neuen Experimenten führen, nach Möglichkeiten zu forschen, Mensch und Maschine miteinander zu verbinden, suchen auf ihre Weise nach einer Lebensform, die nicht mehr lediglich auf geistige Techniken des Selbst rekurriert, sondern die Technik einerseits veräußerlicht und auf der anderen Seite wieder verinnerlicht. Es geht um die Verschmelzung des Objekts mit dem Subjekt und damit um ein menschliches Leben, das zu lernen akzeptiert hat, mit der Maschine in ein Austauschverhältnis zu treten. Viel weniger als Montano und P-Orridge, ist Stelarc ein PerformanceKünstler, der spezielle Techniken zur Bewusstwerdung zu entwickeln sucht. Seine technischen Projekte sind so vielfältig, wie die Wissenschaft auf diesem Gebiet. Auf diese Weise scheint er zum lebenden Exempel für alle die möglichen individuellen Auswahlmöglichkeiten zu werden, die der Mensch besitzt, um sich mit der Maschine für ein längeres und veränderten Umweltbedingungen ausgesetztes Leben zu verbünden. Für Stelarc geht es nicht darum die Frage nach den Grenzen des Menschlichen neu zu stellen, sondern in einem ursprünglichen, dem Menschen bereits von den Anfängen des Mensch-Seins an zugehörigen Sinne10.

8

Siehe 4.1.1 ‚Psychische und physische Erfahrungen‘, S. 254ff.

9

Siehe 4.0.2 ‚Auswirkungen und Einfluss der Technik‘ S. 239f.; bzw. Stelarc/u.a. 1984, S. 17.

10 Siehe Zylinksa/Hall 2002, S. 114.

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Ein Interesse an der Verbindung von Körper und Geist durch die Bewegung, der Wunsch künstlerisch tätig, aber nicht den traditionellen Maßstäben der Kunst gewachsen zu sein, haben Stelarc zur Performance-Kunst geführt. „I‘m a performance artist, I guess. I had to do something after discovering I was such a bad painter in art school [laughs]. I was always interested in the body as a structure rather than a site for the psyche or for social inscription – not as an object of desire but rather an object one might want to redesign, the body as a biological apparatus that fundamentally determines our perception of the world. [...]. In performance art, you have to take the physical consequences for your ideas.”11

In Stelarcs Kunst verbinden sich Ideen und Körperlichkeit auf eine Weise, dass durch gegenseitige Anregung dieser Bereiche, neue Ideen sowie Erfahrungen von Körperlichkeit generiert werden. Dabei kommt er häufig an seine körperliche Grenzen. „My original name was Stelios Arcadiou. [...] I‘ve always wanted to shorten my name but also to have just a single name, so I took the first few letters of each name“12. Im Jahr 1972 hat Stelarc diesen Namen zu seinem legalen, in seinem Ausweis stehenden Namen eintragen lassen13. Wie bei P-Orridge14, ist bei Stelarc der Beginn des künstlerischen Schaffens mit einer Namensänderung verbunden. Zunächst sind grundlegende Zusammenhänge zwischen Mensch und Technik – der Entwicklung derselben in Form von Werkzeugen und Maschinen – zu untersuchen und in der Folge, welche Bedenken in Bezug auf mögliche Auswirkungen dieser Entwicklungen in Betracht gezogen werden müssen. Im schwer fassbaren Begriff Cyborg kulminieren unterschiedliche Ideen und Möglichkeiten in Bezug auf eine Erweiterung des Menschen, die auch seinen Lebensraum betreffen.

11 Stelarc/Smith 2005, S. 215. Siehe hierzu auch: http://www.bizarremag.com/weirdnews/tattoos-body-art/7719/future_mods.html. 12 Stelarc/u.a. 1984, S. 16. 13 http://stelarc.org/documents/Stelarc-BiographicalNotes.pdf. 14 Siehe P-Orridge 2002, S. 150, Ford 1999, S. 2.4f. Und Tessitore/P-Orridge 2002, S. 139.

4. M ENSCH UND M ASCHINE | 237

4.0.1 Verbindung von Mensch und Technik Von Grund auf geht Stelarc davon aus, dass Technik ein Bestandteil des Mensch-Seins darstellt. „For me the body has always been a prosthetic body. Ever since we evolved as hominids and developed bipedal locomotion, two limbs became manipulators.“15 Seiner Meinung nach besitzt der Mensch immer schon Technik, die ihm dazu dient, sich und seine Umwelt zu verändern. In dieser Entwicklung des Menschen verändert sich nicht nur der Mensch selbst, denn wie Günther feststellt: „Eine Maschine ist nichts anderes als ein innerhalb gewisser Grenzen – autonom gewordenes Werkzeug.“16 Während das Werkzeug noch die Hände und die Kraft des Menschen vorausgesetzt hat, führt nach Günther die Maschine eigenständig die Befehle des Menschen aus. In Günthers Theorie erscheint diese Entwicklung als technische Hoffnung, aber nach Heideggers Definition der Technik, die dem Menschen dienen soll, geht eine Autonomie über die Bedürfnisse des Menschen hinaus. Für ihn ist Technik sowohl „Mittel für Zwekke“17 als auch eine Handlung des Menschen, insofern die Zwecksetzung selbst in Verbindung zur Handlung steht18. „Alles liegt daran, die Technik als Mittel in der gemäßen Weise zu handhaben. [...]. Man will sie meistern. Das Meisternwollen wird um so dringlicher, je mehr die Technik der Herrschaft des Menschen zu entgleiten droht.“ 19 So der Hinweis Heideggers auf die Gefahr der Technik aus einer Schrift aus dem Jahr 1953. Allerdings ist sie dem Menschen bisher noch nicht entglitten. Einerseits möchte der Mensch, folgen wir Heidegger, die Maschine ,meistern‘, aber andererseits entwickelt er sie, wie Günther aufzeigt, zu größerer ,Autonomie‘. Technik und Mensch gehen eine Art Austauschverhältnis ein, das allerdings nicht nur dazu führt, dass die Maschine gegenüber dem Menschen als autonom, sondern der Mensch ihr gegenüber als ,Automatismus‘ erscheint; denn wie Blumenberg feststellt „geht im Rahmen der Uhr-Metapher der Mensch als Funktionselement in das Werk mit ein.“20 Für die Maschine und ihre Beziehungen zum Menschen wurden, wie Günther darstellt, unterschiedliche Begriffe definiert. Mit der Entwicklung vom

15 Zylinksa/Hall 2002, S. 114. 16 Günther 2002, S. 207. 17 Heidegger 2007, S. 6. 18 Siehe Heidegger 2007, S. 6. 19 Heidegger 2007, S. 7. 20 Blumenberg 2013, S. 104.

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Werkzeug zur Maschine gehen Veränderungen hin zu größerer Selbstständigkeit einher: „[V]om nicht-automatischen Werkzeug [...] (Töpferscheibe, Spinnrad usw.) zur halbautomatischen Maschine“ (zum Beispiel ,Auto‘), „zum vollautomatischen maschinellen Arbeitsaggregat“21 (zum Beispiel ,Stromheizung‘)22. Bereits Letztere können, als ,Robots‘ bezeichnet werden23. Der Begriff wurde im Jahr 1923 durch das Drama W.U.R von Karel Čapek geprägt. Nach Günther ist mit ihm die Vorstellung von ,selbsttätigen Maschinen‘24 allerdings lediglich im Hinblick auf die Verrichtung von Arbeit verbunden. Dennoch lernen die Roboter im Drama Čapeks von den Menschen eine folgenschwere Lektion: „Lest die Geschichte! Lest die Menschenbücher! Ihr müßt herrschen und morden, wollt ihr Menschen sein!“25 Mit der Vernichtung der Menschheit ,verwirklichen die Roboter nach ihrer Interpretation die menschliche Geschichte, die menschliche Kultur‘26. Auf seinem Weg von Europa nach Amerika hat der Begriff ,Roboter‘, wie ihn Günther aufzeigt, eine deutliche Wandlung erfahren. Er unterscheidet zwischen einer „archimedisch-klassische[n] Maschine“, die auf einem „Arbeitsmodus von dem archimedischen Hebelprinzip“ 27 basiert und der „nichtarchimedische[n] Maschine“28, deren Vorbild das ,menschliche Gehirn‘ ist und die deshalb auch als „mechanical brain“29 bezeichnet wird. Zu diesem Bereich ist auch die Arbeit Turings zu zählen. Er spricht von „Intelligent Machinery“30 und geht den Fragen nach: „,Can machines think?‘“31 und „is [it] possible for ma-

21 Günther 1976, S. 93. 22 Siehe Günther 1976, S. 93. 23 Siehe Günther 1976, S. 94. 24 Siehe Günther 1976, S. 94. 25 Čapek 1922, S. 119. 26 Siehe Čapek 1922, S. 119. 27 Günther 1976, S. 94. 28 Günther 1976, S. 95. 29 Günther 1976, S. 98. 30 Turing 2013d, S. 410. 31 Turing 2013c, S. 441.

4. M ENSCH UND M ASCHINE | 239

chinery to show intelligent behaviour.“32 Mit seiner Arbeit hat er den Grundstein für das Gebiet der ,Artifiziellen Intelligenz‘ gelegt33. Für das 21. Jahrhundert definiert Ichbiah den Roboter als „ein komplexes System [...], das in der Lage ist, Informationen in durchdachte Handlungen umzusetzen“ 34 und verbindet damit den Widerspruch zwischen Autonomie und Kontrolle, wie er durch die Gegenüberstellung von Günther und Heidegger deutlich wurde. „Es scheint, als würde der Mensch unablässig versuchen, ein Ebenbild von sich selbst zu schaffen, dessen Schicksal er vollständig beherrscht.“35

4.0.2 Auswirkungen und Einfluss der Technik Alle Performances Stelarcs verweisen auf das Verhältnis von Mensch und Technik, obgleich die Suspension-Performances auf den ersten Blick mehr an eine religiöse Praktik erinnern mögen. Letztlich kann dieser Eindruck einer Form des Heraufbeschwörens von Spiritualität auch nicht vollständig zurückgewiesen werden36, insofern Stelarc selbst durch seine Beschäftigung mit dem Hinduismus inspiriert worden ist, seine Suspensions weiter zu entwickeln: „[H]aving read about the suspensions by insertions into the skin, I really became taken up by the idea of the body becoming part of its own support structure.“37 Darüber hinaus geht es auch Stelarc um eine intensive Form der Erfahrung der Grenzen von Körper und Geist, aus denen er Theorien und Ideen zu schöpfen, allerdings nicht zu einer Erleuchtung zu gelangen sucht. „NO, its[sic!] an art experience its[sic!] not a religious experience. In fact, I‘m an atheist. [...]. The human creature has

32 Turing 2013c, S. 410. 33 „Turing founded the field now called ‚Artificial Intelligence’ (AI) and was a leading early exponent of the theory that the human brain is in effect a digital computer.“ Copeland 2013a, S. 2. 34 Ichbiah 2005, S. 9. 35 Ichbiah 2005, S. 9. 36 Angesichts dessen wird er immer wieder von Theoretikern in einen religiösen Kontext gestellt. So schreibt Dolan: „Stelarc‘s activities are extensions of this mode, using a variety of techniques not generally associated with art. There are also precedents of a sort in the practices of gurus, mystics and holy men of various religions, who desired to test the body [...]. Stelarc also can be seen as creating a new image of the artist in our society“; Dolan 1984, S. 67. Siehe auch Jones/Sofia 2002, S. 56ff. 37 Stelarc/u.a. 1984, S. 16.

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the capacity to invent and creatively express ideas. I don‘t think this has anything to do with religion.“38 Virilio spricht von einer Ästhetik des Verschwindens. Er beschreibt die Problematik der Verarbeitung von Information im Hinblick auf Geschwindigkeit aufgrund der neuen Medien, der Entwicklung der Technologie. Dies kann nicht nur etwas Negatives sein, denn wie Virilio feststellt: „je mehr gewußt wird, desto mehr ist auch unbekannt. Oder vielmehr: je rascher die Informationen einander jagen, desto klarer wird uns auch, wie fragmentarisch und unvollständig sie sind.“39 Insofern könnte uns die Geschwindigkeit der Informationen darauf hinweisen, dass wir ihren Inhalt schwer dauerhaft erfassen können, dass wir je nach unseren Wünschen und Bedürfnissen auf kleine Teile zugreifen, aber es letztlich nicht um ein genaues und vollständiges Verständnis derselben gehen kann. Dagegen spricht Virilio von einem Verlust von Empfindung gegenüber dem Gesehenen, einer „apatheia“ und „wissenschaftliche[r] Gleichgültigkeit“40, „denn auf den Gebieten von Elektronik und Informatik ist nicht mehr die Speicherung, sondern die Anzeige der Informationen entscheidend.“41 Es wird jedoch zu sehen sein, dass ,Speicherung‘42 auf dem Gebiet der technischen Entwicklung von Maschinen eine große Rolle spielt und sich im Hinblick darauf die Frage stellt, auf welche Weise wir damit umgehen (werden). Im Fortschritt und der Technik sieht Virilio die Gefahr des Verlusts der Diskontinuität und damit den Verlust der Grenzen „zwischen Natur und Kultur, Utopie und Realität“43, die ein „Ende von Religionen und Philosophien“44 bedeuten könnten. Von einem Wunsch nach Kontinuität spricht Bataille, allerdings im Zusammenhang mit der ,Überschreitung‘, um das natürliche Begehren des Körpers freizusetzen, dem Heiligen zu begegnen 45 . Angesichts dessen stellt sich auch im Hinblick auf die vorangegangenen Kapitel die Frage, welche Art der

38 Stelarc/u.a. 1984, S. 17. 39 Virilio 1986, S. 51. 40 Virilio 1986, S. 52. 41 Virilio 1986, S. 52f. 42 Siehe 4.3.2 ‚Sprache, Reflexion und Bewußtsein’, S. 316. Bzw. siehe Turing 2013c, S. 445f und Turing 2013a, S. 501. 43 Virilio 1986, S. 105. 44 Virilio 1986, S. 105. 45 Siehe Bataille 1994, S. 17, bzw. 3.3.4 ‚Sexualität und Erotik‘, S. 222f.

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Verbindung Kunst und Technik zu einer säkularisierten Form des Glaubens eingehen46. In Erewhon aus dem Jahr 1872 stellt Samuel Butler im Hinblick auf die Entwicklung der Maschine fest: „No class of beings have in any time past made so rapid a movement forward.“47 Angesichts dieser einzigartigen Geschwindigkeit in der Entwicklung sieht er die Notwendigkeit, betreffende Maschinen zu vernichten, um den Menschen vor möglichen Gefahren zu schützen. Bei aller Auseinandersetzung mit den Gefahren der Technik und der Maschine scheinen die Gedanken des konservativen Grafen Leinsdorf im Mann ohne Eigenschaften aufschlussreich: „,Was einmal war, wird niemals wieder in der gleichen Weise sein‘, und während er das dachte, war er sehr erstaunt. Denn angenommen, daß es in der Geschichte kein freiwilliges Zurück gebe, so glich die Menschheit einem Mann, den ein unheimlicher Wandertrieb vorwärtsführt, für den es keine Rückkehr gibt und kein Erreichen, und das war ein sehr bemerkenswerter Zustand.“48

Es treibt den Menschen immer wieder vorwärts, ohne dass er seine Vergangenheit in einem totalen Bild verstehen oder seine Zukunft vorhersehen könnte. Trotzdem müssen die ,Trümmer‘, die den Menschen stellenweise durch seine Vergangenheit offenbar werden, weil sie zu fragmenthaft sind, um geordnet zu werden, und der ,Sturm‘, der ihn ohne Halt davontreibt, nicht bedrohlich erscheinen, wie es Benjamin für den Engel der Geschichte beschreibt49. Es als einen ,bemerkenswerten Zustand‘ zu bezeichnen, mag auf unsere Ohnmacht hinweisen, aber es verweist auch darauf, dass wir uns, ob wir wollen oder nicht, immer in Bewegung befinden, wenn wir uns derselben gewahr werden und wir diesen ungewissen Entwicklungen auch mit Neugierde statt lediglich mit Verzweiflung begegnen können. In diesem Sinne scheint auch Stelarc nicht nur seine Herangehensweise an seine Kunst, sondern Kunst im Allgemeinen zu verste-

46 Einen spirituellen Zusammenhang in Bezug auf Stelarcs Suspensions untersucht auch King in seinem Aufsatz Concerning the Spiritual in Twentieth-Century Art and Science. Er stellt jedoch fest, dass Stelarc denselben – im Gegensatz zu Fakir Musafar nicht herstellt. Siehe King 1998, S. 26. Für weitere Informationen zu Fakir Musafar siehe Vale/Juno/Fakir Musafar 1989. 47 Butler 1985, S. 203. 48 Musil 1978, S. 234. 49 Benjamin 1977, S. 255.

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hen. „Artistic practice is the realm of exploring, experimenting and exposing. [...]. That's what artists have always been doing and will continue to do as an integral part of being curious and creative.“50

4.0.3 Vorstellungen vom Cyborg Die Verbindung von Mensch und Maschine in der Kunst Stelarcs, insbesondere aufgrund des Ear on Arm, dem dritten Ohr an seinem Unterarm, macht ihn zu einer Art Cyborg. Geprägt wurde der Begriff Cyborg von Clynes und Klyne in einem Aufsatz von 1960 über die Raumfahrt 51 . Zusammengesetzt ist er aus ,Kybernetik‘ und ,Organismus‘ 52 und verweist auf die möglichen technischen Veränderungen angesichts deren eine automatische Kontrolle des Organismus des Menschen herbeigeführt werden kann. Auch wenn mit diesem ein ,selbstregulierendes Prinzip‘ angesprochen ist, das vorwiegend auf die Beeinflussung des menschlichen Organismus durch bio-chemische Prozesse abzielt, verweist der Begriff dennoch auf eine Erweiterung des Menschen durch die Maschine, eine Verbindung von „biochemical, physiological, and electronic modifications“53, die den Organismus des Menschen allerdings nicht grundlegend angreifen oder ersetzen, sondern ihm hinzugefügt werden sollen. Auf einer niedrigen Stufe kann nach Clynes ein Fahrradfahrer bereits als Cyborg bezeichnet werden54. Die Technik hat, so Haraway, nicht lediglich Vorstellungen von ‚Mensch und Maschine‘ und ,Körper und Geist‘, sondern auch die Lebenswelt des Menschen und die darin verankerte Lebenspraxis verändert. „It is not clear who makes and who is made in the relation between human and machine. It is not clear what is mind and what body in machines that resolve into coding practices. In so far as we know ourselves in both formal discourse (for example biology) and in daily practice (for example, the homework economy in the integrated circuit), we find ourselves to be cyborgs, hybrids, mosaics, chimeras.”55

50 http://transalchemy.wordpress.com/2009/06/30/transalchemy-interviews-stelarc/. 51 Siehe Clynes/Klyne 2009, S. 29f. 52 Siehe Pfeifer/Bongard 2007, S. 264. 53 Siehe Clynes/Klyne 2009, S. 29. 54 Siehe Gray 2009, S. 49. 55 Haraway 2010, S. 177.

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Angesichts dieser Vielfalt von Einflüssen durch die Technik auf den Menschen scheint eine klare Definition des Begriffs Cyborg als nicht möglich. „For one thing there is no consensus on what a cyborg is.“56 Nach der Prägung des Begriffs Cyborg durch Clynes und Klyne haben sich, wie Gray mit seiner Aufsatzsammlung im Cyborg Handbook zeigt, die Definitionen verselbstständigt und vervielfältigt. „[C]yborgs can range from the barely organic Terminator, merely a human skin over a complete robot, to Chief Engineer Geordie LaForge [...] with his prosthetic visor“57. Als Grund dafür nennt Gray vor allem auch die Popularisierung und breite Verwendung des Begriffs in der Science-Fiction Literatur, in Filmen und Serien. Dies gilt auch für den von Steele eingeführten Begriff ,Bionics‘, den er als „applying biological principles in the aid of machine design“58 definiert. Aber Stelarc geht es nicht nur um eine Erweiterung des Menschen durch Technik, wie sie in Third Hand oder Extended Arm veranschaulicht werden, sondern auch um ,virtuelle Vernetzungen‘. „What we‘re really constructing are more and more feedback loops between the body and other bodies and its environment, whether technological, cultural, social or whatever, and this makes for a much more interesting extended operational system. And that‘s another way of seeing the cyborg.“59

Im Begriff des Cyborg kommen für Stelarc sowohl körperliche Erweiterungen durch Technik als auch Vernetzung durch Verinnerlichung von Technik zusammen. Insofern wirft die Verbindung von Mensch und Technik, wie sie in einer Verinnerlichung oder Erweiterung durch dieselbe deutlich wird, Fragen nach dem Begriff des Mensch-Seins selbst und den Verbindungen von Natur und Kultur auf60.

56 Gray/Mentor/Figueroa-Sarriera 2009, S. 3. 57 Gray/Mentor/Figueroa-Sarriera 2009, S. 2. 58 Steele 2009, S. 56. 59 Zylinska/Hall2002, S. 120. 60 Näheres hierzu siehe 4.3.5 ,Natur – Kultur und die Veränderung des Mensch-Seins’, S. 326ff.

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4.0.4 Projekt, Performance, Theorie, Experiment Die Performances Stelarcs können auf unterschiedliche Weise in den Kontext der Performance-Kunst gestellt werden61. Dixon untersucht unter anderem Stelarcs Performances mit technischen Prothesen unter dem Aspekt der „‘metal performance‘ - robot performances and artworks, and cyborgic performances featuring human bodies with metal prostheses“62. Nach Gray hat sich Stelarc mit seinen Performances in unterschiedlichen Bereichen bewegt und sich weiter entwickelt: „There has been a clear progression in the work of [...] Stelarc from performance art, to body art, to carnal art, to what can variously be described as cyborg art or post-human art. I would like to add prefigurative art to this litany”63.

In dieser ,Entwicklung‘ im Schaffen Stelarcs legt Gray einen eigenen Schwerpunkt: „a direct attempt to shape our cyborg future.“64 Auf allgemeinere Weise fasst Goldberg Stelarcs Performance-Kunst als Verbindung von ,Biologie und Technologie‘65 zusammen. Aufgeführte Performances stehen bei Stelarc in Verbindung mit größer angelegten Projekten. So dienen beispielsweise auch die Suspensions dazu, Erfahrun-

61 Birringer untersucht beispielsweise die Verbindung von Performance und Technologie vor allem im Hinblick auf Choreographie. Auch Stelarc sieht er als ,Choreograph‘ seines Körpers. Siehe Birringer 1999, S. 365. Lichty hebt die Verbindung von „new media and performance“ hervor. Lichty 2000, S. 353. Elsenaar beschäftigt sich mit „Electric performance art“. Elsenaar 2002, S. 17. Er interessiert sich für die Verwendung von „muscle stimulation“ (Elsenaar 2002, S. 23) in Stelarcs Performances. Siehe Ebd., S. 24ff. 62 Dixon 2004, S. 15. 63 Gray 2002, S. 189. Gray stellt Stelarcs Kunst im Vergleich zu Orlan dar und folgt diesbezüglich der Aufsatzsammlung Cyborg Experiments. Stelarc bewertet die Gemeinsamkeiten ihres Schaffens wie folgt: „She‘s very much a postmodern performance artist, more so than myself. In general, what we have in common, with a lot of other performance artists before us, is that you are dealing on a human scale with the biological body, with its physiology, and you have to put up with the physical difficulties involved.“ Zylinska/Hall 2002, S. 121. 64 Gray 2002, S. 181. 65 Goldberg 2004, S. 119.

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gen über den Körper für die technische zukünftige Veränderung des Menschen zu machen66. Angesichts dessen sind auf seiner Homepage, Performances unter dem Titel Projects67 subsumiert. Auf die Frage über die Zusammenhänge der Entwicklung vom Projekt zur Performance antwortet Stelarc: „Each project is different, varying in time and requiring of technical or programming expertise. Some are achieved with funding, others are self-sponsored financially. The general strategy can be categorized as constructing an interface, directly experiencing it in actions and then attempting to articulate the meaning…”68

Zum einen gibt es in Stelarcs Kunst eine Verbindung von Mensch und Technik, Kultur und Natur und zum anderen von Ideen, die in Form von lang angelegten Projekten ihre Darstellung in einzelnen Performances finden. Schwerpunkt in der Auseinandersetzung mit Stelarcs Kunst soll hier eine Untersuchung der möglichen Verbindungen und Beziehungen von Mensch und Technik sein, wie sie im Verhältnis von Subjekt und Objekt und dem Umgang des Menschen mit seiner Natur und seiner Kultur zum Ausdruck kommen. Besonderes Interesse gilt dabei Stelarcs Projekten und damit seinen Ideen und Theorien. Angesprochen auf die Irritationen, die Stelarcs Theorien zu seiner Kunst auslösen, erklärt er seine eigene Vorgehensweise als Möglichkeit seine Performances in einen erweiterten Kontext zu stellen: „And if my writing does generate uncertainty, anxiety, if it makes these small disruptions and creates these little slippages, that sounds good to me. The performances aren‘t meant to be illustrative and self-explanatory. [...]. The seductiveness of technology is the seductiveness of providing alternative possibilities, of new strategies in both conceptualizing and visualizing the arts.”69

Auf diese Weise erhält die Verbindung von Kunst und Technik für Stelarc gerade die Bedeutung, Theorie und Praxis miteinander zu verbinden. Von Bedeutung

66 „Stelarc considers the redesigning of the human body as a genetic and technological project to be of utmost priority. The suspensions have become a testing device for the limits of the body‘s capabilities.“ Paffrath 1984, S. 9. 67 http://stelarc.org/?catID=20247. 68 http://www.readersvoice.com/interviews/2003/04/performance-artist-stelarc-intervie wed/. 69 Zylinska/Hall 2002, S. 124.

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ist des Weiteren im Zusammenhang mit Stelarcs Projekten, die auf künstlerischen Versuchen in Form der Performances aufbauen, denen wiederum immer wieder Theorien zugrunde liegen, auch der Begriff des Experiments 70 . Das künstlerische Schaffen Stelarcs, ist nicht von einzelnen Momentaufnahmen, sondern von Ideen und Experimenten, die parallel nebeneinander hergehen, sich weiter fortentwickeln und zu neuen Projekten führen, geprägt. So rückt seine Kunst sowohl angesichts ihrer Thematisierung der Beziehung von Mensch und Maschine als auch durch ihre Herangehensweise in die Nähe zur Wissenschaft71.

4.0.5 Philosophie, Medien, Kybernetik und Artifizielle Intelligenz In erster Linie wird hier von Maschine gesprochen. Das mag den Nachteil haben, das erst durch den Kontext klar wird, von welcher Art von Maschine gesprochen wird, ob von einer rein arbeitstechnischen, auf Bewegung ausgelegten, intelligenten oder einer Verbindung von Mensch und Maschine. Andererseits erscheint es – nicht nur angesichts der Tatsache, dass es innerhalb der verschiedenen hier verwendeten Texte, immer wieder zu Begriffseinführungen kommt – auch in Bezug auf die Texte miteinander – leichter, einen allgemeinen Begriff zu verwenden, der dann anhand der jeweiligen Ideen seine Bedeutung erhält72.

70 Goodall sieht Stelarcs Performances als ,Experimente‘: „Stelarc‘s work as a performance artist has run in parallel with a process of commentary in which he elaborates on the themes and purposes underlying his experiments“; Goodall 2005, S. 1. Des Weiteren wird der Begriff ,Experiment‘ zum Beispiel durch den Titel der Aufsatzsammlung Cyborg Experiments im Hinblick auf Stelarcs Kunst angewendet. Siehe Zylinska 2002; Jones 2005, S. 111 und Massumi 2005, S. 172. Auch Stelarc selbst benutzt diesen Begriff: zum Beispiel auf seiner Homepage wendet er ihn auf seine Suspensions ( http://stelarc.org/?catID=20325 26.07.2014) und auf sein Vorgehen beim Projekt des Ear on Arm an. Siehe http://stelarc.org/?catID=20242. 71 Siehe Massumi 2005, S. 156f. 72 In seinem Aufsatz Foundation and Development of Robotic Art stellt Kac neben der Schwierigkeit der Definition des Roboters fest: „Each artist explores robotics in particular ways“; Kac 1997, S. 60. Seine Beschäftigung gilt auch Stelarc. Siehe ebd., S. 65.

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Die Darstellung der Projekte Stelarcs ist vor allem an seinen eigenen Aussagen und Theorien orientiert73 und folgt damit der Vorgehensweise der vorhergehenden Kapitel, nicht einzelne, konkrete Performances, sondern ausgearbeitete Konzepte und Ideen zu untersuchen. In diesem Kapitel wird es nicht darum gehen, einen Überblick über die aktuelle Forschung von ,Cyborgs‘ oder der ,Artifiziellen Intelligenz‘ und damit verbundene technische Erneuerungen aufzuzeigen74, als vielmehr Theorien darzulegen, die mit dem Mensch-Sein selbst verbunden sind und im Zusammenhang mit grundlegenden Vorstellungen, wie sie in der ,Kybernetik‘ (Wiener, Günther) und der Erforschung der ,Artifiziellen Intelligenz‘ (Turing) bereits in den Anfängen angelegt wurden, stehen. Wiener, der Begründer des Bereichs ,Kybernetik‘, definiert mit seinen Büchern Cybernetics, in dem er vor allem auch mathematische Grundlagen darlegt, die er in The Human Use of Human Being noch einmal in eine theoretische, philosophische Sprache übersetzt hat, grundlegende Ideen der Kybernetik, die sich auf ‚Kommunikation, Kontrolle und Information‘ 75 beziehen. Obgleich dieser Ansatz nicht die Ideen entwickelt, die mit einer konkreteren Beschäftigung der Biologie oder der Neurologie abgedeckt sind, verweist er auf die entscheidende Verbindung von ,Mechanismus und Organismus‘76. Dagegen sind die Aufsätze Turings, auf einer der Intelligenz selbst gewidmeten Ebene zu betrachten. Er beschäftigt sich mit der Möglichkeit der Entwicklung von Maschinen mittels des Austauschs zwischen Mensch und Maschine. In gewisser Weise dazwischen bewegen sich die Theorien Günthers, die sowohl die Maschine als Arbeit ausführend beziehungsweise einer konkreten Zwecksetzung dienend thematisieren, als auch Ideen im Hinblick auf mögliche Denkprozesse in der Maschine zu generieren, die dem Menschen eine Form der Prothese sein können77. Darüber hinaus widmet er sich mittels dieser Ideen und Theorien den Möglichkeiten einer neuen Logik78. Neben der Kybernetik scheinen in diesem Zusammenhang die Theorien

73 Seine Projekte präsentiert Stelarc auf seiner Webseite: http://stelarc.org/_.swf. Die verwendeten Interviews folgen in erster Linie den Vorschlägen auf Stelarcs Webseite: http://stelarc.org/?catID=20216. Für eine größere Darstellung des Schaffens Stelarcs siehe Stelarc. The Monograph. 74 Einen Überblick über die zeitgenössische Maschinenforschung bietet Mensch 2.0. 75 Siehe z.B. Wiener 1965, S. 11. 76 Siehe Wiener 1954, S. 32. 77 Zur „Denkprothese“ siehe Günther 1980, S. 231. 78 Siehe Günther 1976.

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der Philosophischen Anthropologie79 von Bedeutung, wie sie hier anhand Plessner und Gehlen dargestellt werden80. Neben ihrer einheitlichen Vorstellung einer Verbindung von Körper und Geist81 spielen Fragen nach dem Mensch-Sein und der „Positionialität“ 82 (Plessner)/ „Stellung“ 83 (Gehlen) des Menschen zu sich wie seiner Umwelt84, zu seiner Natur und seiner Kultur85 eine Rolle. Bindeglieder sind des Weiteren die Auseinandersetzung mit Möglichkeiten und Defiziten des Menschen im Hinblick auf Körper und Geist in der Philosophie (Descartes, La Mettrie) sowie die Theorie in der Physik (Heisenberg) als auch die Entwicklung der Medien (McLuhan). Grund für eine Auseinandersetzung mit der Theorie von Körper und Geist bei Descartes ist seine Bedeutung nicht nur für den Bereich der Philosophie, sondern auch für die Naturwissenschaft 86 . Als Gegenüberstellung zu ihm dient die Theorie La Mettries von Mensch und Maschine, in der er im Gegensatz zu Descartes, für den eine mögliche Kontrolle durch die Vernunft im Vordergrund steht, aufzeigt, dass der Mensch selbst einem Automatismus unterliegt. Der Physiker Heisenberg hat sich nicht nur auf dem Gebiet der Quantenmechanik bewegt, sondern auch auf einer theoretischen, philosophischen Ebene, den Grundlagen der Physik wie dem Experiment, Möglichkeiten der Ordnung und Organisation oder auch der Bedeu-

79 Plessner und Gehlen können als bedeutende Vertreter dieser Denkrichtung verstanden werden. Siehe Rehberg 2009, n.p. 80 Plessner selbst schreibt über diesen Einfluss: „Phaenomene der Regulation, der Steuerung und des Gedächtnisses, früher für Arcana der lebendigen Substanz gehalten, verloren im Lichte der Kybernetik ihre Sonderstellung, vielleicht zu schnell, aber die elektronischen Modelle verlocken nun einmal zu Analogien. Und auch diese sind fruchtbar.“ Plessner 1975, S. VIII. 81 Dies äußert sich bei Plessner im Begriff der „exzentrischen Positionalität“ (Plessner 1975, S. 318) und bei Gehlen durch die Fähigkeit des Menschen durch Handlung seinen Mängeln zu begegnen. Siehe Gehlen 2009, S. 32. 82 Plessner 1975, S. XIX. 83 Gehlen 2009. 84 Siehe Plessner 1975, S. Vf. 85 Es sei bereits hier darauf hingewiesen, dass Plessner von einer „natürlichen Künstlichkeit“ spricht (siehe Plessner 1975, S. 309) und für Gehlen „der Mensch von Natur ein Kulturwesen“ (Gehlen 2009, S. 80) ist. Dieser Zusammenhang ist nach Rehberg bedeutend im Hinblick auf die ,Philosophische Anthropologie‘ von Plessner und Gehlen. Siehe Rehberg 2009, n.p. 86 Siehe Heisenberg 2011, S. 112.

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tung der Sprache in der Moderne gewidmet. Mit ihm soll deutlich werden, dass die Bereiche der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft nicht nur traditionell eine Verbindung besitzen, sondern dass sie immer wieder im Hinblick auf technische Veränderungen, die Einfluss auf das Leben des Menschen haben, in Beziehung zueinander stehen können 87 . Im Hinblick auf mediale Neuerungen und deren Auswirkungen ist die Theorie McLuhans hier von Interesse, weil sie sich mit Information und deren Übermittlung schwerpunktmäßig auseinandersetzt und daneben auch die Entwicklungen in der Geschichte des Menschen thematisiert. Grundlagen der Kybernetik im Bereich der zwischenmenschlichen Kommunikation werden dadurch erweitert. Des Weiteren wird die Definition des ,organlosen Körpers‘ von Deleuze und Guattari im Zusammenhang mit der Verinnerlichung von Technik sowie der bereits genannte Aufsatz von Clynes und Klyne über ihre Ideen zur ,Anpassung des Körpers in neue Umgebungen‘ hier eine Rolle spielen und Gesangs Versuch einer Theorie zu technischen Verbesserungen, die mit einer gesellschaftlichen Ethik verbunden ist. Auch die Theorie Samuel Butlers wird immer wieder herangezogen, um Hoffnungen und Befürchtungen gegenüber der Maschine zu thematisieren. Diese Vorgehensweise erlaubt es, wichtige Gedanken in dem Wissenschaftsgebiet der Kybernetik und der Artifiziellen Intelligenz in einer Parallele zu anderen Bereichen aufzuzeigen und daneben, über die Kapitel hinweg, wichtige Ideen dieser bedeutenden Theoretiker (vor allem von Wiener, Günther und Turing) zu veranschaulichen. Auf diese Weise entsteht ein genauerer Einblick in die Forschung im Bereich der Maschinen und damit wiederum können Möglichkeiten und Ideen aufgezeigt werden, die mit Stelarcs Performances in Verbindung stehen, die eine Vielzahl an Themenschwerpunkten aus der wissenschaftlichen Forschung abdecken. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass nicht sämtliche technischen Begriffe und Unterscheidungen dabei verwendet und erklärt werden88. Die Konzentration der in den Kapiteln dargestellten Themen liegt da-

87 „Der große Sturm von Naturwissenschaft und Technik, der unsere Zeit erfüllt, entspringt also zwei Quellen, die im Gebiet der antiken Philosophie liegen, und wenn auch inzwischen manche andere Einflüsse in diesen Strom münden und seine fruchtbaren Wassermassen vergrößern helfen, so ist der Ursprung doch immer wieder deutlich genug zu spüren. Insofern kann also auch die Naturwissenschaft aus der humanistischen Bildung nutzen ziehen.“ Heisenberg 1955, S. 42f. 88 Dies gilt insbesondere in Bezug auf die Unterscheidung Turings unterschiedlicher Computer. Siehe z. B. Turing 2013d, S. 412f. und Turing 2013c, S. 444f.

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mit auf Begriffen, die sich in anderen Bereichen wiederfinden lassen und mit diesen verbunden werden können. Mit dieser Schwerpunktlegung auf mögliche Verbindungen, Allgemeinheit und der derzeitigen Weiterentwicklung der Ideen schien es folgerichtig auf eine genauere Betrachtung in den Bereichen Biologie und Neurologie zu verzichten, die ein neues Vokabular mit sich gebracht hätten89. In diesem Kapitel bauen die jeweiligen Ideen aufeinander auf, stellen Entwicklungen im Hinblick auf den jeweiligen Bereich dar. Diese Vorgehensweise erscheint auch deshalb als sinnvoll, da die Ideen und Theorien im Hinblick auf die Maschine zum einen vielseitig sind und zum anderen ist sie verbunden mit dem Gedanken daran, dass derzeit an Maschinen gearbeitet wird, die in den Anfängen der Erforschung bereits erdacht wurden, aber nicht umsetzbar waren. Allerdings kann von einer vollständigen Realisierung dieser Ideen in der Gegenwart trotz vieler Erneuerungen nicht die Rede sein, wenn dies auch nicht bedeutet, dass sie nie realisierbar sein werden. Obgleich die Aussage Dreyfus‘ aus dem Jahre 1992 stammt, erscheint sie weiterhin gültig: „After fifty years of effort, however, it is now clear to all but a few diehards that this attempt to produce general intelligence has failed. This failure does not mean that this sort of AI is impossible; no one has been able to come up with such a negative proof.”90

4.0.6 Erweiterung, Vernetzung, Steuerung Zu Beginn wird nach einer möglichen ‚Erweiterung‘ des Körpers des Menschen durch die Maschine zu fragen sein. Von Bedeutung sind dabei die Verbindung von Körper und Geist, wie sie beispielsweise in den ‚Suspensions’ Stelarcs als Erfahrung von Psyche und Physis zum Ausdruck kommen. Seine Performances sind als eine Art künstlerisches Experiment zu verstehen, da sie sich zum einen dem Versuch widmen, durch Grenzerfahrungen Ideen zu generieren und zum anderen einen Versuch darstellen, die Beziehung von Mensch und Maschine auszuloten. Die Maschine wird dabei in den Performances der ,Third Hand‘ oder des ,Extended Arms‘ zu einer Körperprothese, die einen Zusatz von Möglichkeiten darstellt. Insofern begegnen sich Subjekt und Objekt auf eine intensive Art

89 Ein bedeutendes Werk in diesem Bereich ist Embodiments of Mind von McCulloch (siehe McCulloch 1988). 90 Dreyfus 1992, S. ix.

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und Weise, indem nicht nur ersetzt wird was fehlt, sondern hinzugefügt wird, um neue Fähigkeiten zu erlangen. Allerdings verbleiben diese Verknüpfungen mit der Maschine nicht nur äußerlich. Stelarc verweist auf die Möglichkeiten, die durch eine Verinnerlichung von Technik für den Menschen nutzbar gemacht werden könnten. Eine solcher Verinnerlichung kann auch im Bereich der ‚Vernetzung‘ von Bedeutung werden, wenn Informationen übertragen werden sollen. Mit dem ‚Ear on Arm‘ ist der Wunsch Stelarcs verbunden, über Schnittstellen an seinem Arm und in seinem Mund mit der Welt kommunizieren und Informationen aufnehmen zu können. Eine Beschäftigung mit der Entwicklung von Sprache und Medien soll die unterschiedlichen Möglichkeiten in den Formen der Kommunikationen und der Informationsweitergabe veranschaulichen und sie als variable, den jeweiligen Umständen angepasste Techniken aufzeigen. Mit diesen technischen Eingriffen medialer Art geht auch eine Erweiterung, Veränderung der Sinne und des Denkvermögens einher. In der Folge kann die Maschine dem Menschen aber auch zu einer Vermittlung von Ich und Du verhelfen. ‚Steuerung‘ ist der zentrale Begriff, der hinter der ,Kybernetik’, nach Wiener, steht 91 . Stelarc ist in vielen seiner Performances, wie zum Beispiel der ‚Third Hand‘ oder dem ,Exoskeleton’, mit Prothesen und Maschinen Initiator der Bewegung, reagiert andererseits aber mit seinen Bewegungen auf die der Maschine. Befehle, Feedback und Lernen, stehen in einem engen Zusammenhang und zeigen eine Veränderung und Entwicklung der Maschinen auf. Zur Beschreibung dieses ,inneren‘ Prozesses sowohl im Menschen als auch der Maschine verhilft eine Beschäftigung mit Sprache, Reflexion und Bewusstsein, auf deren gegenseitige Beeinflussung auch Stelarc mit seinem ‚Prosthetic Head’ verweist. Der ,Walking Head Robot‘ ist eine selbstständig agierende Maschine Stelarcs im Entwicklungsprozess, mit dem die Vorstellungen im Hinblick auf die Möglichkeiten des Lernens durch Regeln und Autonomie dargestellt werden können. Eine solche Beschäftigung mit Technik in Performances ist nicht lediglich eine Sache der Kunst, sondern durch ihre weitreichenden Auswirkungen stehen sie in unterschiedlichen Bereichen wie Wissenschaft, Gesellschaft und Religion im Blickfeld des Interesses. Letztlich wird durch die Verbindung von Mensch und Maschine eine Auseinandersetzung mit den Bereichen Natur und Kultur notwendig, die je nach Verhältnis zueinander zu einer veränderten Form des Mensch-Seins zu führen scheinen.

91 Siehe Wiener 1965, S. 11f.

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Alle Kapitel beschäftigen sich mit einem Austauschverhältnis von Körper und Geist, Mensch und Maschine, Subjekt und Objekt. Auf unterschiedliche Weise werden dabei Schwerpunkte gesetzt. Während in der Beschäftigung mit der Erweiterung Theorien dargestellt und Ideen entwickelt werden, die Formen einer möglichen Selbsterkenntnis des Menschen thematisieren und sich mit der Frage beschäftigen, welche Notwendigkeiten mit einer geistigen und körperlichen Erweiterung verbunden sind, stehen in Bezug auf die Vernetzung die Möglichkeiten zur Debatte, die Menschen zur Verfügung stehen, mit anderen Menschen und mit der Maschine in ein Austauschverhältnis zu treten. Diese betreffen nicht nur die Entwicklung unterschiedlicher Medien zur Kommunikation, sondern auch die Auswirkungen auf die Sinne des Menschen. Im Begriff der Steuerung kommen diese unterschiedlichen Themen zusammen. Denn letztlich geht es dem Menschen in der Entwicklung von Technik darum, zu einer Kontrolle über sich selbst zu gelangen und diese Kontrolle auf eine neu geschaffene Lebensform zu übertragen.

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4.1 E RWEITERUNG Auf unterschiedliche Weise scheint der Mensch nach geistiger und körperlicher Erweiterung zu streben. Stelarcs Performances zeugen sowohl von einem Interesse an Praktiken zu geistiger Erkenntnis als auch an konkreter technischer Veränderung des Menschen. Thematisiert werden sollen in diesem Zusammenhang die Grenzen des Menschen, seine Mängel und Fähigkeiten sowie die Möglichkeiten, die die Technik mittels der Maschine für den Menschen bereithält. Infolgedessen wird der Frage nachgegangen, an welcher Stelle die Grenzen zwischen natürlicher Wiederherstellung und künstlicher Verbesserung zu setzen sind und bis zu welchem Grad sich der Mensch erweitern kann, ohne an nicht versetzbare ethische Grenzen zu stoßen. Als Versuch zu einer Erkenntnis zu dem zu gelangen, was dem Menschen als Innerstes erscheint, eine ,Einheit‘ von Körper und Geist zu erreichen und dadurch eine Erfahrung zu ermöglichen, die sowohl auf den Mangel als auch das Potenzial des Menschen verweist, sind die Suspension-Performances Stelarcs zu verstehen. „STRETCHED BETWEEN WHAT IT NEVER WAS AND WHAT IT COULD NEVER BECOME; SUSPENDED BETWEEN THE INWARD PULL OF GRAVITY AND THE OUTWARD THRUST OF INFORMATION, THE BODY RETURNS TO THE TREE, ANXIOUS AND VULNERABLE AFFIRMING ITS PRIMAL ORIGINS, AMPLIFYING ITS OBSOLESCENCE.”92

Stelarcs Suspensions, bei denen er sich mit Haken, die seine Haut durchbohren, in unterschiedlichen Positionen an unterschiedlichen Orten aufhängen lässt 93 , sind Zeichen und Versuch einer Aufhebung von Körper und Geist, der Erschaffung eines Gravitationsfeldes und einer Auslöschung von Identität. „I found that the event was essentially a psychological rather than a physical experience. [...] [. I]t was a breathtakingly beautiful physical and psychological experience.“94 In extremen Situationen, in denen der Mensch sich seinem Körper aussetzt, scheint seine Psyche ihn auszutricksen, ein Gleichgewicht herzustellen – oder wird, im Sinne Descartes, der psychische Eindruck vom Körper produziert95?

92 http://stelarc.org/?catID=20316. 93 Siehe http://stelarc.org/?catID=20316. 94 Paffrath 1984, S. 8. 95 Siehe Descartes 1994, S. 64f.

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Welche Beziehungen Körper und Geist miteinander eingehen, ohne dass der Mensch gegenüber denselben ein Bewusstsein besitzt, aber auch welche möglichen Erfahrungen der Mensch aus denselben ziehen kann, soll im Folgenden untersucht werden. Einerseits erscheint der Mensch dabei als unbewusster Automatismus, andererseits werden Möglichkeiten in Richtung künstlerischer Schöpfung am eigenen Körper eröffnet.

4.1.1 Psychische und physische Erfahrungen Descartes sieht den Unterschied zwischen Geist und Körper darin begründet, dass Ersterer „beim reinen Denken sich sozusagen auf sich selbst richtet und irgendeine der Ideen, die in ihm sind betrachtet.“96 Und dass sich durch den Körper im Geist ein Konflikt ergibt, da sich seine Vorstellungen am Körper orientieren: „Wenn er aber etwas in der Einbildung hat, so richtet er sich auf den Körper und schaut in ihm irgend etwas an, das der entweder von ihm selbst gedachten oder sinnlich erfaßten Idee entspricht.“97 Angesichts dessen stellt sich für Descartes die Frage nach der Bedeutung und der „Notwendigkeit“98 des Körpers, denn nach seiner Auffassung ist er überbewertet aufgrund der Intensität der Lebendigkeit des Eindrucks, den er hinterlässt99. Hinzukomme, dass die Natur im Menschen den Anschein erweckt, dass der Körper untrennbar mit dem Geist verbunden ist, weil er ihn zu Reaktionen auf körperliche Empfindungen wie „Schmerze und [...] Lust aber [...] auch Hunger, Durst und andere Begehrungen“100 zu zwingen scheint. Seine Meditationen über das Verhältnis von Körper und Geist führen Descartes zu der Erkenntnis, dass der Körper keine Notwendigkeit für die Existenz des Menschen darstellt und der Geist allein über das Leben versichert: „Daraus also, daß ich weiß, ich existiere und daß [...] durchaus nichts anderes zu meiner Natur oder Wesenheit gehöre, als allein, daß ich ein denkendes Ding bin, schließe ich mit

96

Descartes 1994, S. 62f.

97

Descartes 1994, S. 63.

98

Descartes 1994, S. 63.

99

Siehe Descartes 1994, S. 64.

100 Descartes 1994, S. 64.

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Recht, daß meine Wesenheit allein darin besteht, daß ich ein denkendes Ding bin. Und [...] ich von meinem Körper wahrhaft verschieden bin und ohne ihn existieren kann [...].“101

Aber diese Erkenntnis verbleibt letztlich eine Erkenntnis im Rahmen seiner Meditation, denn tatsächlich besteht für Descartes ein gegenseitiges Verhältnis zwischen Körper und Geist, das für die Bewältigung des Alltags des Menschen von Bedeutung ist. Demgegenüber stellt er Erfahrungen, die dem Menschen die Erfahrung der ,Meditation‘ und „damit die Gewohnheit des ganzen Lebens, die geistigen Dinge mit den körperlichen zu verwirren, durch die entgegengesetzte Gewohnheit wenigstens einiger Tage, sie voneinander zu unterscheiden“102. Im Anschluss an die Ideen Descartes sind angesichts seiner Festlegung einer ,realen Verschiedenheit‘103 zwischen Körper und Geist, die auf einer Entscheidung des Verstandes basiert, nach Heisenberg, Schwierigkeiten im Hinblick auf das Verständnis gegenüber der Beziehung von Körper und Geist entstanden104. In Bezug auf diese Auffassung Descartes macht Heisenberg deutlich, dass durch sie Wechselwirkungen zwischen diesen Bereichen ausgeschlossen wurden, die wiederum den Menschen in der Folge als ,Maschine‘ erscheinen ließen105. Während für Descartes lediglich der Körper des Menschen eine Maschine ist106, sieht La Mettrie deshalb diese Problematik in einem weiteren Zusammenhang: „Der menschliche Körper ist eine Maschine, die selbst ihre Triebfedern aufzieht – ein lebendes Abbild der ewigen Bewegung. Die Nahrungsmittel erhalten das, was die Erregung aufrührt. Ohne sie verschmachtet die Seele, gerät in Raserei, und entkräftet stirbt sie.”107

101 Descartes 1994, S. 67. 102 Descartes 1994, S. 119. Siehe auch S. 207f. 103 „Also sind Geist und Körper real verschieden.“ Descartes 1994, S. 154. 104 Siehe Heisenberg 2011, S. 116. 105 Siehe Heisenberg 2011, S. 116. 106 „Und ebenso wie eine aus Rädern und Gewichten zusammengesetzte Uhr nicht weniger genau alle Gesetze der Natur beobachtet, wenn sie schlecht angefertigt ist und die Stunden nicht richtig anzeigt, als wenn sie in jeder Hinsicht dem Wunsche des Anfertigers genügt, so verhält sich auch der menschliche Körper, wenn ich ihn als eine Art von Maschine betrachte, die aus Knochen, Nerven, Muskeln, Adern, Blut und Haut so eingerichtet und zusammengesetzt ist, daß, auch wenn gar kein Geist in ihr existiere, sie doch genau dieselben Bewegungen hätte […].“ Descartes 1994, S. 72f.

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Im Gegensatz zu Descartes hebt er die Bedeutung des Körpers für die geistigen und seelischen Aktivitäten hervor, andererseits nicht ohne in seiner Zeit durch den Vergleich zwischen Mensch und Maschine Anstoß zu erregen108. Damit verbindet La Mettrie selbst allerdings nichts Negatives 109 : „Eine Maschine sein, empfinden denken [...] – kurz: mit Intelligenz und einem sicheren moralischen Instinkt geboren und trotzdem nur ein Tier sein, sind also zwei Dinge, die sich nicht mehr widersprechen“110. Für Plessner ergibt sich aufgrund der Verbindung des „geistigen Tuns, schöpferischer Arbeit [...] mit der Ebene seines leiblichen Daseins […] [ein] Existenzkonflikt“111. Da dieser für Plessner grundlegend zum Mensch-Sein gehört, ist es Aufgabe des Philosophen, sich mit diesem „Doppelaspekt seines Daseins […] aus einer Grundposition“112 zu beschäftigen. In der Physik kommt etwa Mach zu der Erkenntnis: „Es gibt also kein isoliertes Fühlen, Wollen und Denken. Das Empfinden, welches zugleich physisch und psychisch ist, bildet die Grundlage alles psychischen Lebens.“113 Für Stelarc ist, mit Hinblick auf die Philosophiegeschichte vom Körper zu sprechen, das Ganze zu betrachten114. „For me, a body is this total physiological, phenomenological cerebral package, which interacts with the world, interacts with other bodies and is augmented by technology.“115 Körper-Sein ist so verstanden immer schon auch Geist-Sein, bedeutet immer schon In-der-Welt-Sein. Mensch-Sein ist für Stelarc im Wesentlichen damit verbunden, in diesen grundlegenden Zusammenhängen zu stehen. Nach Descartes ist diese Einsicht darin,

107 La Mettrie 1990, S. 35. 108 „Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens galt La Mettries Schrift L‘homme machine selbst bei seinen aufgeklärten [...] Zeitgenossen als durchweg skandalöses Pamphlet“; Becker 1990, S. X. 109 Auch S. Butler vergleicht den Menschen mit einer Maschine: „BUT other questions come upon us. What is a man‘s eye but a machine for the little creature that sits behind his brain to look through?“ Butler 1985, S. 205. 110 La Mettrie 1990, S. 125. 111 Plessner 1975, S. 32. 112 Plessner 1975, S. 32. 113 Mach 2011, S. 30. 114 Stelarc gibt an vieles gelesen zu haben, aber zitiert in seinen Theorien nicht die Schriften von Philosophen oder anderen Theoretikern. Siehe Zylinska/Hall 2002, S. 118. 115 http://www.t0.or.at/stelarc/interview01.htm.

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dass es andere Körper außerhalb des eigenen gibt, auf die Natur zurückzuführen116. Plessner prägt in diesem Zusammenhang den Begriff der „exzentrischen Positionsform“ 117 beziehungsweise der „exzentrischen Positionalität“ 118 : „Der Exzentrizität der Struktur des Lebewesens entspricht die Exzentrizität der Lage oder der unaufhebbare Doppelaspekt seiner Existenz als Körper und Leib, als Ding unter Dingen“119. Plessners ,exzentrische Position‘ des Menschen erstreckt sich auf sämtliche Gebiete, die den Menschen betreffen120, so zum Beispiel auch auf die „Mitwelt“121. Angesichts der Grenzerfahrung von Körper und Geist, die in den Suspensions provoziert wird, macht Stelarc nicht nur psychische und physische, sondern auch Grenzen zwischen Aktion und Kontemplation, Schmerz und Lust, Leben und Tod deutlich und scheint dieselben wieder aufzuheben. „I guess to do these performances they had to be done with a certain indifference – an indifference that allows you to remain open to possibilities“122. Die Suspensions Stelarcs erweitern den Körper auf seine eigene Weise durch ihn selbst, denn sie fügen ihm nichts hinzu, sondern verweisen ihn auf seine eigene innere Mitte – machen ihn schwerelos. „I really became taken up by the idea of the body becoming part of its own support structure.“123 Das Resultat erscheint als zwiespältig: Für Beobachter schwebt Stelarc wie ein Gott im Raum, in sich ruhend124. Andererseits fließt Blut aus den Löchern seines Körpers in denen sich die Haken befinden125, verzerrt sich sein Gesicht bei Bewegungen126.

116 Siehe Descartes 1994, S. 70. 117 Plessner 1975, S. 304. 118 Plessner 1975, S. 318. 119 Plessner 1975, S. 294. 120 Siehe Plessner 1975, S. 294ff. 121 Plessner 1975, S. 302. 122 Stelarc/Smith 2005, S. 222. 123 Stelarc/u.a. 1984, S. 16. 124 „Stelarc hung in the darkened space, like a god in the image of man, controlling his universe. He had created his own environment. The amplified sounds were audible evidence of his control over brain, muscle and heart, though the stomach had an almost independent life of its own.“ Scarlett 1984, S. 20. 125 Siehe z.B. http://stelarc.org/video/?catID=20258. 126 „Pain is manifested in most of Stelarc‘s performances. If you stand close enough to the action, you can see the pain pass in waves through the musculature of the face

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Der Schmerz wird nicht überwunden, aber er wird auch nicht zelebriert127. Er ist lediglich ein Nebeneffekt der Performance, den der Künstler zu ertragen weiß, der ihn über das Funktionieren seines körperlichen ,Warnsystems‘ 128 weiter bestätigt beziehungsweise der ihn, wie Descartes sagen würde, auf seine Natur zurückverweist, die ihn über die Information, die durch den Schmerz vermittelt wird, belehrt hat129. „[I]n situations and circumstances where you put your body into unpredictable positions, where you are pushing the limits, when you are interfacing it with complex and powerful machines, it may be difficult, it may be dangerous, it may be painful, but those aren‘t the issues, at least in these performances.”130

Die Möglichkeit der Erweiterung des Körpers/des Menschen ist für Stelarc mit der Hingabe und Selbstaufgabe in der ausgleichenden Kontemplation verbunden131, den Körper in einen Ausnahmezustand zu versetzen, physikalischen Kräften auszusetzen. „I‘m interested in manifesting rhythms and flows of energy; I‘m interested in gravitational states; I‘m interested in magnetic and electrical states... this idea of a gravitationless state has always been interesting one.“132 Diese Außerkraftsetzung führt für ihn zur Erfahrung der Generierung von Ideen. „From a personal perspective, these ideas can be authenticated only by my actions. [...]. I‘m intrigued, more than anything, to attempt to analyze how ideas evolve.“133 Insofern ermöglicht der Prozess der Performance selbst die Grenzerfahrung von Körper und Geist zu einer Öffnung im Hinblick auf Möglichkeiten. Obgleich Stelarcs Ideen zu seinen Performances bestanden haben mögen, wird

and the effort of pain management register as the next cycle of movement is anticipated.“ Goodall 2005, S. 19. 127 Für eine Verbindung von Stelarcs Suspensions zum Masochismus, siehe Armstrong 1984. 128 „In fact I‘d be worried if it didn‘t hurt. Pain s[sic!] an early alert warning system for the body.“ Stelarc/u.a. 1984, S. 16. 129 Siehe Descartes 1994, S. 69. 130 http://www.t0.or.at/stelarc/interview01.htm. 131 Zur Grenze zwischen ,Aktivität‘ und ,Passivität‘ in den Suspensions, siehe Massumi 2005, S. 150. 132 Paffrath 1984, S. 8. 133 Stelarc/Smith 2005, S. 230.

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an diesen Aussagen die Bedeutung der ,inneren Erfahrung‘ für den Künstler deutlich. „Ich verstehe unter innerer Erfahrung das, was man gewöhnlich mystische Erfahrung nennt: die Zustände der Ekstase, der Verzückung oder wenigstens einer meditativen Gemütsbewegung. Aber ich denke weniger an die glaubensmäßige Erfahrung, an die man sich bisher halten mußte, als an eine entblößte Erfahrung, die selbst ihrer Herkunft nach von Bindungen an einen beliebigen Glauben frei ist.“134

Mit Bataille kann Stelarcs Erfahrung in seinen Suspensions als Möglichkeit gesehen werden, jenseits von konkretem religiösen Glauben zu einer Ekstase zu gelangen. Der von Stelarc als indifferent bezeichnete Gefühlszustand wird im Zusammenhang mit der ,inneren Erfahrung‘ Batailles, zur „Harmonie“. Sie „ist der Fall des Menschen im Zustand des Projekts, er hat die Ruhe gefunden und die Ungeduld des Verlangens ausgeschaltet.“135 Während allerdings das Projekt nach Bataille „Verwerfung des Verlangens“136 darstellt und dem Ausführenden selbst zu nichts dient, geht die Kunst darüber hinaus. Im Auslöschen des Verlangens und mit ihm der Zeit ermögliche die Kunst den Wiedergewinn des ‚Verlangens’: „In der Kunst gelangt der Mensch wieder zur Souveränität (zur Erfüllung des Verlangens)“137. Die Möglichkeit der Bedeutung eines solchen Erlebnisses zur Entwicklung und Schöpfung wird auch bei Gehlen betont: „die Bewegung muß, um bewußt und einsetzbar zu werden, sensorisch zurückempfunden werden, sie muß in einer Hülle wirklicher oder zu erwartender Empfindungen ein ,entfremdetes Selbstgefühl‘ gewinnen.“ 138 Es scheint als müsste der Mensch sich zunächst von sich selbst entfernen, um wieder zu sich auf eine veränderte Weise zurückzufinden, oder vielmehr: um neue Erfahrungen für das Mensch-Sein zu sammeln139.

134 Bataille 1999, S. 13. 135 Bataille 1999, S. 82f. 136 Bataille 1999, S. 83. 137 Bataille 1999, S. 83. 138 Gehlen 2009, S. 134. 139 Über die Theorie des ‚o.K.‘ (‚organlosen Körpers’) von Deleuze/Guattari wird im Hinblick auf die ,Verinnerlichung von Technik‘ noch zu sprechen sein. Siehe 4.1.5 ‚Verinnerlichung von Technik‘, S. 274f.

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In den Suspensions stehen der Künstler und dessen Erfahrung im Mittelpunkt, weshalb die meisten Suspension Performances Stelarcs ohne Publikum vonstattengehen. „An audience as a witness to a live performance is not always possible and is not necessary to authenticate the action. [...]. Generally, the projects have been structured to be performed and experienced by the willing body, which is the artist.“140

Häufig spricht deshalb Stelarc von sich selbst auch als ,Körper‘141 und nicht als Subjekt und bezeugt damit seinen Willen, als ersetzbarer Körper gegenüber der Welt aufzugehen142. Auf diese Weise betont er körperliche, zwischenmenschliche und weltliche Zusammenhänge. „So it‘s the intensity and accumulation of information, the intimidation of precise, powerful, and speedy machines and exreme off-the-world environments that confront the body with its obsolescence.“143

4.1.2 Kunst als wissenschaftliches Experiment Mittels der Verwendung des Begriffs Experiment für seine Kunst stellt sich Stelarc in einen Kontext zur Wissenschaft. Es gilt nach einer Parallele zwischen künstlerischem und wissenschaftlichem Experiment zu fragen und nach möglichen Gründen zu suchen, warum der Mensch am experimentellen Umgang mit der Welt interessiert ist. Indem er sich als Körper möglichen Experimenten hingibt und sich selbst dabei Gefahren aussetzt, geht Stelarc in seiner Kunst selbst auf. Das Selbst, das Individuum verliert dabei in der höheren Idee an Bedeutung.

140 Stelarc/Smith 2005, S. 237f. 141 Siehe http://stelarc.org/?catID=20316, http://stelarc.org/?catID=20227, http://stelarc.org/?catID=20227 und Scheer 2002, S. 87. 142 „The practice of split physicality in such experiments also creates a dissociation between body and self. Stelarc has consistently maintained that the body reconceived for evolution in an electronic environment is no longer the container for a self or psyche“; Goodall 2005, S. 16. „By targeting the body as object, Stelarc is targeting the body in its generality.“ Massumi 2005, S. 137. 143 Smith 2005, S. 228.

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„It‘s interesting you‘ve pointed that out, I‘ve never felt that I am the artwork. In fact the reason why my performances are focused on this particular body is that it is difficult for me to convince other bodies to undergo rather awkward, difficult and sometimes painful experiences.”144

In seinen Performances verbindet Stelarc wissenschaftliche Herangehensweisen und Ideen mit Kunst145. Sie sind ein Experiment146, ein wissenschaftlicher Versuch, dem sich der Künstler für die Zukunft der Menschheit aussetzt. Als Basis für dieselben dient ihm die ,Vorstellungs-‘ 147 beziehungsweise ,Einbildungskraft‘148, die durch seine Performances geweckt wird. Diese ,Kräfte‘ sind, wie mit Heisenberg deutlich wird, der Naturwissenschaft nicht fremd. In ihren Ursprüngen entwickelte sich die Naturwissenschaft, nach Heisenberg, „zu einem Sammelbegriff für alle jene Erfahrungsbereiche, in die der Mensch mit den Mitteln der Naturwissenschaft und Technik eindringen kann, unabhängig davon, ob sie ihm in der unmittelbaren Erfahrung als ,Natur‘ gegeben sind.“149 Obwohl in dieser Definition bereits die Möglichkeit inbegriffen ist, dass diese Wissenschaft Dinge untersucht, die nicht unmittelbar fassbar sind, entwickelte sich „die mathematische Beschreibung [...], d.h. eine möglichst präzise, kurze, aber umfassende Sammlung von Informationen über die gesetzmäßigen Zusammenhänge in der Natur“150 zum Mittel der Wahl, ein Bild von der Natur zu erhalten. Heisenberg sieht die Naturwissenschaft seiner Zeit vor neue, veränderte Aufgaben gestellt, die in der Folge eine neue Herangehensweise verlangen. „Für uns ist der gesetzmäßige Ablauf in Raum und Zeit nicht mehr das feste Skelett der Welt, sondern eher nur ein Zusammenhang unter anderen, der durch die Art, wie wir ihn untersuchen, durch die Fragen, die wir an die Natur richten, aus dem Gewebe von Zusammenhängen herausgelöst wird, das wir die Welt nennen.“151

144 http://web.stanford.edu/dept/HPS/stelarc/a29-extended_body.html. 145 „In a more recent vocabulary, Stelarc‘s project is to practice art as a ‚minor‘ science.“ Massumi 2005, S. 157. 146 Näheres hierzu siehe 4.0.4 ,Projekt, Performance, Theorie, Experiment‘, S. 246. 147 Zur ‚Vorstellungskraft’ siehe La Mettrie 1990, S. 58. 148 Zur ‚Einbildungskraft‘ siehe Descartes 1994, S. 22. 149 Heisenberg 1955, S. 9. 150 Heisenberg 1955, S. 10. 151 Heisenberg 1989, S. 36f.

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Gesucht wird deshalb eine Möglichkeit diesen wandelbaren Gegebenheiten mit einer entsprechenden Methode zu begegnen. Dabei kommt der Mathematik nicht nur weiterhin eine große Bedeutung zu, sondern auch ihre Zwiespältigkeit wird deutlich, denn trotz ihrer ,Genauigkeit‘ kann sie zwar die Wirklichkeit nicht getreu als ein „eindeutiges Schlußverfahren“152 abbilden, aber hat Anteil an einer Ordnung derselben. „Denn eben weil die mathematischen Sätze eigentlich eine von allem Inhalt losgelöste Form oder Ordnung darstellen, so kann auch umgekehrt jede Ordnung, und zwar um so eher, je vollendeter sie ist, in mathematischer Form dargestellt werden.“153

Aber nicht nur die Mathematik ist eine ,Ordnung‘, der es um eine vom Inhalt unabhängige Darstellung in der Form geht, sondern, wie Heisenberg bemerkt, beinhalten „auch Musik oder die bildende Kunst, [...] bei genauerer Analyse innere Ordnungen, die mit mathematischen Gesetzen aufs engste verwandt sind.“154 Auch der Naturwissenschaft gehe es bei ihrem Versuch einer „Ordnung der Wirklichkeit“ nicht um eine „sichere Erkenntnis“155. Die Funktion des Künstlers liegt für Heisenberg darin, den Möglichkeiten seiner Zeit entsprechende Ideen aufzugreifen und zu ,gestalten‘. In der Kunst erhält für ihn das gestaltende, künstlerische Subjekt größere Bedeutung als in Politik oder Wissenschaft, weshalb „die großen fruchtbaren Epochen der Menschheit die Zeiträume [darstellen], in denen Kunst entstehen kann; während die anderen Jahrhunderte […] eher als Epochen des Niedergangs oder der Vorbereitung erscheinen.“156 Die Möglichkeiten des Menschen sind scheinbar unbegrenzt – zumindest für den Künstler. Er ist dazu in der Lage, den Körper des Menschen für die Zukunft zu entwerfen. „With this internalization of technology, evolution becomes a conscious process, a design problem in which intervention by the artist becomes a necessity.“157 Aufgabe des Künstlers ist es, so Stelarc, bereits bestehende Entwicklungen aufzugreifen und damit verbundene Möglichkeiten für den Menschen zu verdeutlichen. „In fact, it is now time to REDESIGN HUMANS, TO

152 Heisenberg 1989, S. 46. 153 Heisenberg 1989, S. 46. 154 Heisenberg 1989, S. 46f. 155 Heisenberg 1989, S. 47f. 156 Heisenberg 1989, S. 154. 157 Stelarc 1984c, S. 134.

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MAKE THEM MORE COMPATIBLE WITH THEIR MACHINES.“158 In dieser bestehenden Kluft, sieht Musil eine Erkenntnis mit weiterführenden Folgen: „Es bedeutet also kein gar kleines Glück, wenn man darauf kommt [...], daß der Mensch in allem, was ihm für das Höhere gilt, sich weit altmodischer benimmt, als es seine Maschinen sind.“159 Angesichts dieser Aussagen scheint es, als würde der Mensch mit seiner Technik immer wieder über sich hinausweisen. Gehlen spricht von einem „Antriebsüberschuss“ im Menschen, als „jener Leidenschaft, das Leben selbst aufs Spiel zu setzen […].“160 Es ist ein Trieb zu Gefahr und Risiko, scheinbar wider besseren Wissens. Es geht ihm nicht um den Erhalt des individuellen Lebens, sondern dieser von Gehlen beschriebene Trieb weist über sich selbst hinaus: „Die Bewältigung des Antriebsüberschusses ist erzwungen, der Mensch also zum Schöpferischen geschaffen, ja genötigt.“161 Die Suspension Performances Stelarcs gehen mit den technologischen Performances einher. Parallel zu dem Versuch körperlich-geistiger Extremerfahrung entwickelt Stelarc Ideen zur Möglichkeit der Erweiterung des Körpers mittels Technologie162. „On the one hand you were discovering the psychological and physical limitations of the body. On the other you were developing strategies for extending and enhancing it through technology.“163 Was für Descartes noch einen Widerspruch, angesichts seiner Schwerpunktlegung einer höheren geistigen kulturellen Entwicklung weg von der Natur des Menschen und damit vom Körper, bedeutet hätte164, wird bei Stelarc aus einem anderen Blickwinkel betrachtet: eine Verbindung des menschlichen, natürlichen Körpers mit Technologie. Trotz der Betonung Stelarcs als Körper wird die damit verbundene Problematik deutlich: Der Körper des Menschen reicht in seiner natürlichen Form nicht den Notwendigkeiten seiner Entwicklungen gegenüber aus. Einen solchen Widerspruch entdeckt auch Günther im Werkzeug mithilfe Hegels Theorie des ,objektiven Geistes‘, denn es ist „ein materielles Stück der Außenwelt [...], und Geist insoweit, als die Natur von allein keine Werkzeuge

158 Stelarc 1998, S. 121. 159 Musil 1978, S. 37. 160 Gehlen 2009, S. 60. 161 Gehlen 2009, S. 369. 162 „In fact, the third hand project begins a year after the first suspension event.“ http://web.stanford.edu/dept/HPS/stelarc/a29-extended_body.html. 163 http://web.stanford.edu/dept/HPS/stelarc/a29-extended_body.html. 164 Siehe 4.1.1 ‚Psychische und physische Erfahrungen’, S. 254f.

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hervorbringt“165. Für ihn ist das Werkzeug sowohl geistiges als auch natürliches Produkt und deshalb „eine instabile Existenzform, die die Tendenz hat, sich von beiden Seiten abzulösen und etwas selbständiges Drittes zu bilden.“166 Die technische Entwicklung in den stofflichen Möglichkeiten führe zu einer weiteren Entfernung von der Natur, die wiederum eine „Verselbständigung des Werkzeuges zur Maschine“167 zur Folge hätte.

4.1.3 Körperprothesen Angesprochen ist damit ein über einen bestimmten Zweck hinausgehendes Bedürfnis des Menschen, sich selbst mithilfe der Technik zu verändern und andererseits eine Notwendigkeit. Es geht sowohl darum, Möglichkeiten der Wiederherstellung als auch die Möglichkeiten der Verbesserung durch Technik zu veranschaulichen und eine natürliche sowie künstlich gezogene Grenze zu thematisieren. Einen Verlust, ein Fehlen durch ein materielles Objekt wie ein künstliches Bein oder eine künstliche Hand zu kompensieren, scheint für den Menschen keine neuen Fragestellungen aufzuwerfen. „[D]ie älteste künstliche Hand stammt“ wie Löffler aufzeigt „aus der Zeit um das Jahr 300 vor Christus.“168 Allerdings handelt es sich dabei um eine reine „Schmuckhand“, wohingegen die Entwicklung zur Beweglichkeit dieser Hände, nach Löffler, erst im „späten Mittelalter“169 zu finden ist. In erster Linie geht es den Menschen also bereits vor den technischen Errungenschaften darum, die Bewegungen und Funktionen der Hand nachzuahmen, zumindest äußerlich über den Verlust eines Körperteils hinwegzutäuschen170. Auch wenn diese Prothesen als Teil des Körpers aufzufassen sind, bleiben sie Lösungen im Hinblick auf einen Verlust. Und dennoch gehört zum Menschen, nach Günther, auch immer das Streben, über seine Fähigkeiten hinauszugehen. „Soweit es sich um unsern Körper handelt, sind wir seit Jahrtausenden gewohnt, die Funktionsfähigkeit unserer Glieder

165 Günther 1976, S. 92. 166 Günther 1976, S. 92. 167 Günther 1976, S. 93. 168 Löffler 1984, S. 4. 169 Löffler 1984, S. 7. 170 Siehe Löffler 1984, S. 2.

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durch Prothesen in fast unvorstellbarem Maße zu erhöhen.“171 Günthers Beispiele bleiben jedoch dem Menschen sowohl im geistigen als auch körperlichen Sinne äußerlich, da sich der Mensch denselben bedienen muss, um bestimmte Zwecke mit ihrer Hilfe zu erfüllen. Dies gilt für „Wagen, Flugzeuge und Schiffe“ als auch für „Mikroskope, Brillen und Fernrohre“ oder „elementare[...] Rechenmaschinen“172. So ist es im Hinblick für Gesangs Verständnis von ‚Enhancement‘ für ihn wichtig zu betonen, dass darunter „Eingriffe in den gesunden Körper verstanden werden sollen, die unternommen werden, um Menschen zu verbessern.“173 Damit vermeidet er, dass rein äußerliche Gebrauchsgegenstände, wie „Sonnenbrillen, Staubsauger und letztlich jede Technik als Enhancement bezeichne[t wird.]“174 Die Gewohnheit des Menschen, sich Werkzeugen zu bedienen, sie als körperliche Prothese zu akzeptieren, verweist nicht über eine direkte Erweiterung seiner körperlichen Möglichkeiten hinaus 175. Jedoch wie Gehlen bemerkt: „es gibt noch keine Feststellung dessen, was eigentlich der Mensch ist, und zweitens: das Wesen Mensch ist irgendwie ‚unfertig‘, nicht ‚festgerückt‘.“176 Für Gehlen erscheint „der Mensch […] im Vergleich zum Tier als ‚Mängelwesen‘“177. Andererseits bezeichnet er ihn als „das handelnde Wesen.“178 Angesichts dessen

171 Günther 1979, S. VIII. 172 Günther 1979, S. VIII. 173 Gesang 2007, S. 37. 174 Gesang 2007, S. 37. 175 Und so stellt Zylinska in ihrem Aufsatz über Stelarc und Orlan fest: „A prosthetic extension reveals a lack in the corpus to which it is attached, the very need for, or even a possibility of, such an attachment or extension indicating an original incompleteness, or perhaps unboundedness, of the self. It is in this sense that prosthesis becomes an important figure in ethical ruminations.“ Zylinska 2002b, S. 215. 176 Gehlen 2009, S. 10. 177 Gehlen 2009, S. 20. Zum ,umstrittenen‘ (Rehberg 2009.) Begriff des ,Mängelwesens’ (Gehlen 2009, S. 20) siehe Plessner 1975, S. XIVf. Und Sloterdijks Kapitel ‚Die Mängelwesen-Fiktion’(Sloterdijk 2004, S. 699-711). Hier kommt Sloterdijk zu dem Schluss: „Evidentermaßen ist es also nicht ein von der Evolution erzeugtes Mängelwesen, das dem Anthropologen Sorgen bereitet; es ist das Luxuswesen Mensch, dessen konstitutive Verwöhntheit und unberechenbare Protuberanz ihm bis ins Letzte unheimlich bleiben.“ Ebd., S. 711. 178 Gehlen 2009, S. 32.

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ist der Mensch nach Gehlen dazu in der Lage, durch „produktive Akte der Bewältigung der Mängelbelastung – Entlastungen“179, seinen Mängeln zu begegnen. Eine Erweiterung des Menschen wird mit Gehlen 180 und Günther bereits durch die Verwendung seiner Werkzeuge offenbar181. Auch für Stelarc ist damit ein inneres Bedürfnis des Menschen verbunden. „I think that was partly due to the fact, that your body simply isn‘t just this biological entity. It is always augmented by technology to increase it’s[sic!] power, to extend it‘s[sic!] sensory range, [...]. I think there is this desire to modify“182. Die Verwendung von Prothesen ist eine Grundlage in Stelarcs Schaffen183, die in ihrer bewussten Darstellung und Verwendung und in ihrer Ausstellung von Übertreibung von Bedeutung ist. Er beschäftigt sich mit ihnen in Bezug auf das menschliche Äußere, das innerliche sowie die komplette körperliche Erweiterung des Menschen durch Technik. „What characterizes all the projects and performances is the notion of the prosthetic. The prosthesis not as a sign of lack, but as a symptom of excess. Rather than replacing a missing or malfunctioning part of the body, these interfaces and devices augment or amplify the body’s form and functions. The THIRD HAND (technology attached), the STOMACH SCULPTURE (technology inserted) and EXOSKELETON (technology extending) are different approaches to prosthetic augmentation. The EXTRA EAR is a soft prosthesis, constructed not out of hard materials and technologies, but out of soft tissue and flexible cartilage. This would not be simply a wearable prosthesis, but one constructed on the body using its skin and cartilage as a permanent addition.”184

Sowohl die Third Hand als auch der Extended Arm sind Stelarcs Körperteilen nachgebaute, technische Körperteile, die er seinem Körper hinzufügt, „using ma-

179 Gehlen 2009, S. 37. 180 Zu Gehlens Antriebsüberschuss siehe 4.1.2 ‚Kunst als wissenschaftliches Experiment‘, S. 263. 181 Für eine aktuelle Auseinandersetzung zum Thema Prothesen siehe Benford/Malartre 2007, S. 13ff. Mit Hinblick auf Stelarc siehe Zylinska 2002b und Hogle 2005. 182 http://www.t0.or.at/stelarc/interview01.htm. 183 Chambers hebt die Bedeutung von Künstlern wie Stelarc auf dem Gebiet der „bioethics“ (Chambers 2005, S. 3) hervor. 184 http://stelarc.org/?catID=20229.

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terials like stainless steel, aluminium and acrylic.“185 Bei Performances mit diesen Prothesen setzt er seinen Körper und die Prothesen in Bewegung, lässt aber auch sich selbst durch sie bewegen186. Ursprünglich ist mit der Third Hand für Stelarc der Wunsch nach einer dauerhaften Prothese verbunden, die aufgrund von ,Hautirritationen‘ und der Schwere der Prothese nicht verwirklicht werden konnte187. Auch wenn die Third Hand lediglich Verwendung in Performances von Stelarc findet, verweist sie dennoch auf das ,höhere Ziel‘: „The Third Hand has come to stand for a body of work [...] – not as a replacement but rather as an addition to the body.“188 Eine zusätzliche Hand ist für Stelarc sowohl Überschreitung als auch Übertreibung, ein ,Exzess‘ der Möglichkeiten, wie mit seiner Performance, in der er mit ,drei Händen‘ das Wort ,EVOLUTION‘ schreibt, deutlich wird189 – zumindest, wenn man davon ausgeht, dass unser Körper auf die ,bestmögliche‘ Weise geformt ist, so wie wir uns nach Leibniz in der ,vollkommensten Welt‘190 befinden. Der Mensch scheint bei Stelarc nicht nur von seinem Trieb bemächtigt, durch Technik über sich selbst hinaus zu gehen, sondern auch als vom Zweifel getrieben, dass dieser Körper und seine Möglichkeiten nicht ausreichend sind und erweitert werden müssen, aber auch, dass diese Welt nicht die einzig Mögliche ist. Für Stelarc liegt in diesem Mangel, der Grundstein für seine Kunst. „Another way to characterize what I do and how I do it is to say that I‘ve made a career out of being a failure.“191 Mit dem Ear on Arm gelingt es Stelarc seinen über Jahre gehegten Wunsch zu erfüllen, eine Prothese dauerhaft an seinen Körper anzubringen. Allerdings gehen diesem Vorhaben jahrelange Versuche der Entwicklung voraus, was nicht

185 http://stelarc.org/?catID=20218. 186 „An interest in distributed agency becomes increasingly evident in Stelarc‘s work through the 1980s and 1990s and grows out of his experiments with feedback loops between body and machine.“ Goodall 2005, S. 10. Kontrollierte und unkontrollierte Bewegungen Stelarcs werden im Kapitel zur ,Steuerung’ thematisiert werden (siehe S. 304ff.) Und siehe Stelarc 2002b, S. 23ff. 187 Siehe: http://stelarc.org/?catID=20265. 188 http://stelarc.org/?catID=20265. 189 „Doing the performance with three hands writing EVOLUTION at the Maki Gallery in 1982 [...]. The idea was that one can simultaneously write with three hands, each hand writing a separate letter at the same time.“ Zylinska/Hall 2002, S. 116. 190 Siehe Leibniz 2002, S. 15. 191 Stelarc/Smith 2005, S. 216.

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zuletzt auch auf ethische Bedenken der Ärzte zurückzuführen ist 192. Zunächst lässt Stelarc das 1/4 Scale Ear mit Hilfe von Tissue Culture & Art193 an einem Gerüst aus seinem organischen Material heranwachsen194; um dann durch zwei Operationen zunächst seine Haut erweitern und im Anschluss ein Gerüst für das Ohr unter derselben anbringen zu lassen195. Da das Ohr allerdings nicht auf geplante Weise vom Arm abgehoben werden konnte, lässt Stelarc Stammzellen in Europa züchten. „I have always been intrigued about engineering a soft prosthesis using my own skin, as a permanent modification of the body architecture. The assumption being that if the body was altered it might mean adjusting its awareness. Engineering an alternate anatomical architecture, one that also performs telematically.”196

Die Idee des Ear on Arm verbindet damit nicht nur die Idee der Erweiterung des Körpers selbst, sondern auch dessen kommunikativen Möglichkeiten im Hinblick auf mögliche Vernetzungen197. Eine Erweiterung des menschlichen Körpers durch äußerliche Prothesen hat die Veränderung seiner Form und damit seiner Gestalt zur Folge. Angesichts der Definition der „exzentrischen Positionalität“ 198 des Menschen kommt jedoch Plessner zu dem Schluss: „Mensch sein ist an keine bestimmte Gestalt gebunden und könnte daher auch [...] unter mancherlei Gestalt stattfinden, die mit der uns bekannten nicht übereinstimmt.“199 Die Begründung dafür kann in der Theorie Plessners gefunden werden, die ihm selbst „paradox“ erscheint: Nach ihm beinhaltet die Grenze des Körpers des Menschen gleichsam seinen „Grenzüber-

192 Siehe Zylinska/Hall 2002, S. 126. 193 „The core of the Tissue Culture & Art (TC&A) Project is the artistic manipulation of living materials using the tools of modern biological research in order to sharpen questions arising from the utilization of these new sets of tools.“ Catts/Zurr 2002, S. 365. Für weitere Informationen siehe auch die Homepage des Tissue Culture & Art Projects: http://tcaproject.org/. 194 Siehe http://stelarc.org/?catID=20240. 195 Siehe http://stelarc.org/?catID=20242. 196 http://stelarc.org/?catID=20242. 197 Näheres hierzu siehe 4.2 ‚Vernetzung‘, S. 279ff. 198 Plessner 1975, S. 318. 199 Plessner 1975, S. 293. In dem hier ausgelassenen Teil verweist Plessner auf den Paläontologen Dacqué.

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gang“ 200 , und deshalb kann der Mensch trotz unterschiedlicher Grenzziehung und damit der Veränderung seiner Gestalt eine Einheit bleiben201. Auch wenn die Theorie so wie die Kunst Stelarcs Befremdung auslösen mag, in seiner Verbindung von Technik und Mensch wird das deutlich, was auch Gehlen als eine „Paradoxie“ bezeichnet: „[D]er Mensch kann nicht in der Gegenwart leben, er lebt in der Zukunft, oder was dasselbe ist, handelnd. Aber das Material seiner Tätigkeit ist auf die Gegenwart beschränkt, ist ein beschränktes der Gegenwart.“202 Insofern schafft der Mensch immer schon für, beziehungsweise auf eine mögliche Zukunft hin, ist jedoch gezwungen, sich der Mittel seiner Zeit zu bedienen. In seinem Versuch, Möglichkeiten und Gefahren von ‚Enhancement‘ aufzuzeigen, um zu einer ethischen Nutzbarmachung für die Gesellschaft und deren Mitglieder zu gelangen, stellt Gesang zwar fest, dass Chimären (zu stark äußerlich veränderte Menschen) womöglich für andere Menschen nur noch schwer als Menschen zu identifizieren sein und deshalb bei anderen für Irritationen sorgen, die in der Folge zu Konflikten führen könnten203. Dennoch kommt er zu dem Schluss: „Es bleibt – selbst bei transhumanistischen Gedankenspielen – noch genug Menschliches übrig, um uns wechselseitig als Menschen zu identifizieren“204.

4.1.4 Das Objekt als Teil des Subjekts Mit der Erweiterung des Menschen durch Technik in Form von Prothesen sind sowohl körperliche als auch geistige Veränderungen angesprochen. Aber nicht nur in diesem Zusammenhang steht das Objekt auf veränderte Weise dem Subjekt gegenüber und beginnt Teil von ihm zu werden. Wie im Folgenden deutlich werden wird, kann auch in der wissenschaftlichen Forschung von einer Vermischung von Objekt und Subjekt gesprochen werden. Auffallend dabei ist, dass der Mensch einerseits in Bezug auf das Mensch-Sein die Bedeutung der Subjek-

200 Plessner 1975, S. 103. 201 Diese Grenze wird in 4.1.5 ‚Verinnerlichung von Technik‘, S. 271ff. weiter thematisiert werden. 202 Gehlen 2009, S. 301. 203 Siehe Gesang 2007, S. 75. 204 Gesang 2007, S. 131.

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tivität hervorhebt, aber auf der Suche nach Erkenntnis zu einer reinen Form der Objektivität zu gelangen sucht. Im Hinblick auf die wissenschaftliche Erkenntnis lehrt die Religion nach Heisenberg nicht nur, dass der Glaube das Sprechen „[ü]ber die letzten Dinge“205 ersetzt, sondern auch die Bedeutung der Subjektivität206 und der „schöpferischen Kräfte“207. Auch wenn der „Wahrheitsanspruch“208 der Wissenschaft, so Heisenberg, als bedeutender im Hinblick auf seine Dauerhaftigkeit angesehen werden kann, wird der Versuch der Wissenschaft, die reine Objektivität zu erreichen, durch die Vorgehensweise der Religion infrage gestellt. Heisenberg sucht deshalb nach einer neuen, umfassenderen Methode. „Die Ordnung der Wirklichkeit, die wir suchen, soll vom Objektiven zum Subjektiven aufsteigen.“209 Es ist ein Versuch eine neue Verbindung zwischen Objektivität und Subjektivität herzustellen. Aber auch eine notwendige Schlussfolgerung, denn der Wissenschaftler muss nach Heisenberg die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass es „bei einer vollständigen Beschreibung der Zusammenhänge eines Bereiches vielleicht nicht möglich ist, davon abzusehen, daß wir selbst in die Zusammenhänge verwoben sind.“210 Der Anspruch des Subjekts des Naturwissenschaftlers auf reine Objektivität gegenüber seinem Gegenstand wird von Heisenberg damit infrage gestellt. Beobachtet der Naturwissenschaftler die Natur, wird ihm die Natur zu seinem Untersuchungsobjekt, ist er als Mensch Teil dieses natürlichen Zusammenhangs. Das Objekt der Untersuchung und der Mensch als Subjekt gehen dabei eine Verbindung ein. Diese Verbindung wird auch durch die in der Wissenschaft verwendeten Werkzeuge und Instrumente deutlich 211 . Aber neben dieser Ordnung der Wirklichkeit geht es Heisenberg auch um die Gestaltung der Welt durch den Menschen212.

205 Heisenberg 1989, S. 48. 206 Siehe Heisenberg 1989, S. 51. 207 Heisenberg 1989, S. 51. 208 Heisenberg 1989, S. 51. 209 Heisenberg 1989, S. 57. 210 Heisenberg 1989, S. 58. 211 Siehe Heisenberg 1955, S. 13. 212 „An der Spitze der Ordnung aber stehen, wie in dem Goethe‘schen Entwurf, die schöpferischen Kräfte, mit deren Hilfe wir selbst die Welt verwandeln und gestalten.“ Heisenberg 1989, S. 57.

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Plessner geht einen Schritt weiter, wenn er den Menschen in den „Mittelpunkt“ seiner Lebensphilosophie stellt. „Nicht als Objekt einer Wissenschaft, nicht als Subjekt seines Bewußtseins, sondern als Objekt und Subjekt des Lebens d.h. so, wie er sich selbst Gegenstand und Zentrum ist.“213 Hierzu gehört seine Vorstellung der Verbindung von Körper und Geist214, denn „als psychophysisch indifferente oder neutrale Lebenseinheit existiert der Mensch ‚an und für sich‘.“ 215 Demnach ist der Mensch bei Plessner sowohl Subjekt als auch Objekt, kann er für sich auch zum ‚Gegenstand‘ werden. Demgegenüber sei ein Werkzeug nicht nur von einem ,Konstrukteur‘ gemacht, sondern besitze eine innere ,Objektivität‘, die ihm nicht hinzugefügt wurde. „Was also in die Sphäre der Kultur eingeht, zeigt Gebundenheit an das menschliche Urhebertum und zugleich [...] Unabhängigkeit von ihm. Der Mensch kann nur erfinden, soweit er entdeckt.“216 Insofern beinhaltet jedes Werkzeug zum einen die Idee des Erschaffers, aber zum anderen die Objektivität des vorgefundenen ,Dinges‘. Jedoch entsteht in der Umsetzung dieser Idee und der Verbindung mit dem Ding, folgen wir Plessner, etwas Höheres: Aus der Natur wird Kultur. „Der schöpferische Griff ist eine Ausdrucksleistung. Dadurch erhält der realisierende Akt, der sich auf die von der Natur dargebotenen Materialien stützen muß, den Charakter der Künstlichkeit.“217 Mit Heisenberg und Plessner wird deutlich, dass der Mensch sowohl als Teil der Natur, als auch mit seinem künstlich geschaffenen Werkzeug eine Verbindung mit dem Objekt eingeht. Eine Erweiterung des Menschen durch die Maschine wird den Zusammenhang von Subjekt und Objekt noch weiter verändern.

4.1.5 Verinnerlichung von Technik Aber nicht nur eine äußerliche Erweiterung des Körpers spielt bei Stelarc eine Rolle. Theoretisch fasziniert ihn vor allem die Idee des menschlichen Körpers als eine Art ,Behältnis‘218, für den die Haut als Grenze ihre Bedeutung verändert.

213 Plessner 1975, S. 31. 214 Siehe 4.1.1 ‚Psychische und physische Erfahrungen‘, S. 256. 215 Plessner 1975, S. 31. 216 Plessner 1975, S. 321. 217 Plessner 1975, S. 322. 218 „But this body considers itself [...] a hollow body“; Zylinska/Hall 2002, 122.

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„As a surface, skin was once the beginning of the world and simultaneously the boundary of the self. But now stretched, pierced and penetrated by technology, the skin is no longer the smooth and sensuous surface of a site or screen. Skin no longer signifies closure.“219

Mit dem Eingriff, dem Zerstören der Grenze Haut, sieht Stelarc auch die Tradition des Denkens und der Vorstellungen ihr gegenüber als geöffnet220. Ein lebendiger Körper zeichnet sich bei Plessner dadurch aus, dass die Grenze zum Sein gehört, aber sich gerade durch die Abgrenzung und Distanzierung zur Umwelt darstellt. „Seiende Grenze heißt Werden.“ 221 Wobei sich das ,Werden‘ des ,Körpers‘ sowohl nach außen als auch nach innen richtet und für Plessner „positionalen Charakter“222 erhält. Aufgrund der Gegenüberstellung von Im-Körper-Sein und Außerhalb-des-Körpers-Sein, besitzt der ,Körper als Ganzer‘ bei Plessner ein Verhältnis zum Raum223. Um im Körper zu sein, benötige der Körper selbst einen „Zentralpunkt“224, der innerhalb von ihm selbst nicht fest platziert sei. Auf diese Weise werde der Körper zum System in dem die „den Körper aufbauenden Elemente (Teile)“225 und der ganze Körper aufeinander bezogen seien. Dadurch erhalte er seine Grenze. Während die Gestalt bei Plessner noch eine „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ 226 darstellt, ergibt sich durch die Manifestierung eines nicht verortbaren Zentrums innerhalb des Körpers eine „Verdoppelung“227, die den ,lebendigen Körper zu einem ,systemhaften Ganzen‘ macht228. Nach Plessner hat der ,lebendige Körper’ „noch einen zweiten, ,noch

219 Stelarc 2002a, S. 15. 220 Zur Thematisierung der Haut in Bezug auf die Suspensions siehe http://web.stanford.edu/dept/HPS/stelarc/a29-extended_body.html. In diesem Zusammenhang schreibt Benthien: „Daß gerade anhand der Haut diese Auflösung zwischen Intern und Extern immer wieder verdeutlicht wird, liegt zum einen darin begründet, daß die Haut historisch als finale Grenze des Selbst bestimmt wurde, zum anderen als das Sinnesorgan, welches am stärksten leiblich und am wenigsten entrinnbar ist.“ Benthien 2001, S. 275. 221 Plessner 1975, S. 154. 222 Plessner 1975, S. 155. 223 Siehe Plessner 1975, S. 158. 224 Plessner 1975, S. 158. 225 Plessner 1975, S. 158. 226 Plessner 1975, S. 159. 227 Plessner 1975, S. 159. 228 Siehe Plessner 1975, S. 160.

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tiefer innen’ seienden Kern, um in ihm selbst gesetzt zu sein.“229 Dieser verleihe dem Organismus eine „eigentümliche systemhafte Ganzheitlichkeit“230. Die Gegenüberstellung von Teilen und Ganzem gibt Plessner Rätsel auf, denn zum einen beinhaltet der „Organismus absolut lebensnotwendige Organe“ zum Andern stellt der Organismus selbst eine „ungeteilte Einheit des Ganzen“231 dar. Plessner unterscheidet zwischen Teilen der Gestalt und Organen, denn die Teile der Gestalt sind „nur unmittelbar gestaltbildend“232. Dagegen hätten Organe sowohl ,unmittelbar‘ Anteil an der ,Gestaltbildung‘ als auch ,mittelbar‘ an der Einheit des Organismus233. Aber als Teile des ganzen Organismus erscheinen sie Plessner nicht zwangsläufig lebensnotwendig. „Deshalb ist der Gedanke nicht ganz sinnlos, daß man einem Lebewesen sämtliche Organe entfernt, und dabei glauben kann, es selbst trotzdem noch irgendwie am Leben zu erhalten.“234 Und doch behalten sie für Plessner ihre grundlegende Bedeutung: „Die In ihm Gesetztheit des organischen Körper ist wirklich vermittelte Unmittelbarkeit“235. In ihrer Spezialisierung beziehen sich die einzelnen Organe als Teile dennoch auf das Ganze des Körpers. „Oder kurz gefaßt: der wirkliche Körper ist in jeder seiner faktisch erreichten Phasen in ihm selbst Zweck.“236 Demgegenüber hebt Gehlen hervor, dass ein Mangel des Menschen „an hochspezialisierten, d.h. umweltspezifisch angepaßten Organen, [besteht] und dieses wären die von außen sichtbaren Bedingungen eines handelnden und weltoffenen, also auf sich selbst gestellten Wesens.“ 237 Organe stehen für Gehlen damit in Verbindung der Anpassung an die menschliche Lebenswelt. Er schlägt diesbezüglich eine „Spezialisierung“ von Organen vor, die als „Verlust der Fülle der Möglichkeiten, die in einem unspezialisierten Organ liegen, zugunsten der Hochentwicklung einiger dieser Möglichkeiten auf Kosten anderer“238 aufgefasst werden können.

229 Plessner 1975, S. 160. 230 Plessner 1975, S. 160. 231 Plessner 1975, S. 166. 232 Plessner 1975, S. 166. 233 Siehe Plessner 1975, S. 166. 234 Plessner 1975, S. 166. 235 Plessner, 1975, S. 169. 236 Plessner 1975, S. 169. 237 Gehlen 2009, S. 86. 238 Gehlen 2009, S. 87.

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„Findet euren organlosen Körper, findet heraus, wie man ihn macht, das ist eine Frage von Leben und Tod“239. Mit diesem Aufruf zum Experiment am eigenen Körper verweisen Deleuze und Guattari auf die Möglichkeiten von neuen selbstständigen Erfahrungen wider den Normen und Erwartungen, die ihrer Ansicht nach durch das ,Phantasma‘ der Psychoanalyse den Menschen auferlegt wird240. „Der oK ist das, was übrigbleibt, wenn man alles entfernt hat.“ 241 „Intensitäten“242 belagern dabei sowohl den ok als auch die Organe. Angesichts dessen sind für Deleuze und Guattari die Organe nicht das eigentliche Problem bei der Neuerschaffung des Körpers und dessen möglichen Intensitäten. „Der Feind ist der Organismus. Der oK widersetzt sich nicht den Organen, sondern jener Organisation der Organe, die man Organismus nennt.“ 243 In gewissem Sinne umschreiben sie das, was Mach mit ,funktionaler Abhängigkeit der Elemente voneinander’244 bezeichnet hat. Mit der ‚Auflösung des Organismus’ verbinden Deleuze und Guattari nicht die Idee des Selbstmords „, sondern den Körper für Konnexionen zu öffnen“245. Nicht nur die Erhaltung von Teilen des Organismus, sondern auch die Voraussetzung, ihn immer wieder „neugestalten“246 zu können, erscheint ihnen als lebensnotwendig. Auf diese Weise sei der Mensch in der Lage zur Maschine zu werden: „Man hat sich seine eigene kleine Maschine gebastelt und ist bereit, sie je nach den Umständen an andere kollektive Maschinen anzuschließen.“247 Der Körper ist für Stelarc eine Form, die er zu verändern sucht. „So you can think of amplifying body processes as expanding and transforming the human form into an architectural structure.“248 Als Künstler ist er ,Architekt‘, sein Körper wird ihm mittels Technologie zu einer erweiterbaren Skulptur. Jedoch setzt Stelarc diesen Begriff der Skulptur im Fall der Stomach Sculpture Performance für das Körperinnere ein. Er schluckt eine Kapsel, die sich in ihm öffnet und

239 Deleuze/Guattari 2002, S. 207f. Der Begriff des ‚organlosen Körpers‘ ist von Artaud inspiriert; siehe ebd., S. 206 und Deleuze/Guattari 1977, S. 15. 240 Siehe Deleuze/Guattari 2002, S. 208f. 241 Deleuze/Guattari 2002, S. 208. 242 Deleuze/Guattari 2002, S. 210. 243 Deleuze/Guattari 2002, S. 218. 244 Siehe Mach 2011, S. 18. 245 Deleuze/Guattari 2002, S. 219. 246 Deleuze/Guattari 2002, S. 220. 247 Deleuze/Guattari 2002, S. 221. 248 Stelarc/u.a. 1984, S. 16.

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Aufnahmen von seinem Körperinnern macht249. „The body becomes hollow – not the BWO but rather a body with art. […]. The hollow body becomes a host, not for a self but simply for a sculpture.“250 Auch wenn sein Körper im Beispiel der Stomach Sculpture nicht ein ,organloser’, sondern ein mit Kunst angefüllter Körper wird, so folgt Stelarc doch der Idee von Deleuze und Guattari, den Körper mit eigenbestimmten Bedürfnissen, „Intensitäten“251 zu füllen. Als eine Art der Umkehrung der Stomach Sculpture hat Stelarc zusammen mit Nina Sellers in der Installation Blender252 eine Maschine zum Behältnis für das von beiden abgesaugte Fettgewebe gemacht. Alle fünf Minuten wird das darin befindliche Material umgerührt253. Trotz der Betonung der Veränderung der Form des Körpers, die in Stelarcs Performances und Projekten, vor allem der Erweiterung seines Körpers durch das Ear on Arm zum Vorschein kommt, wird die Grundidee Stelarcs, die technologische Veränderung des Menschen in seinem Inneren voranzutreiben, immer wieder deutlich. Die Zukunft sieht Stelarc unter anderem in der Implantierung von Nanomaschinen in den Körper des Menschen. „At a nanotechnology scale, the technology will be able to re-colonize the human body. [...]. [A]ll technology of the future will be invisible because [sic!] will be inside of the body.“254 „Micro-Miniaturized Robots“ 255 könnten nach Stelarc den Menschen auch Informationen über ihre Körper liefern und ihnen auf diese Weise zu „INTERNAL SURVEILLANCE SYSTEMS“256 werden. Clynes und Klyne beschäftigen sich im Zusammenhang mit der Raumfahrt mit den Möglichkeiten der Anpassung und Veränderung des biologischen Körpers. „For the exogenously extended organizational complex functioning as an

249 Siehe http://www.digicult.it/digimag/article.asp?id=1641; http://www.bizarremag.com/weird-news/tattoos-body-art/7719/future_mods.html und http://stelarc.org/video/?catID=20258. 250 Stelarc 2002a, S. 15. Die Abkürzung ‚BWO‘ steht hier für ‚Body without organs‘, also dem ‚organlosen Körper‘ von Deleuze/Guattari. 251 Deleuze/Guattari 2002, S. 210. 252 Siehe http://stelarc.org/?catID=20245. 253 Über die Bedeutung des ,körperlichen Materials‘ im Vergleich zur Technologie in der Performance siehe Clarke 2006, S. 412f. 254 http://www.digicult.it/digimag/article.asp?id=1641. 255 Stelarc 1998, S. 121. 256 Stelarc 1998, S. 121.

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integrated homeostatic system unconsciously, we propose the term ‚Cyborg.‘“257 Analog dem biologischen Körper des Menschen geht es um eine Beeinflussung des Körpers im Sinne eines ,selbst-regulierenden‘ Prinzips, das eigenständig auf die Umstände reagiert und dem Menschen sein gewohntes Leben und seine Betätigungen in anderen Lebensräumen ermöglicht, ohne weitere bewusste Eingriffe zu leisten, die entsprechende Automatismen in Gang setzen würden. „The combination of an osmotic pressure pump capsule with sensing and controlling mechanisms can form a continuous control loop which will act as an adjunct to the body‘s own autonomous controls.“258 Zusätzlich schlagen Clynes und Klyne die Einnahme bestimmter Drogen vor259. Für Clynes gibt es unterschiedliche Etappen in der Entwicklung des Cyborgs, die sowohl auf die technischen als auch ethischen Voraussetzungen der jeweiligen Zeit antworten 260. Seine Ideen können in Verbindung zu der von Gehlen thematisierten Spezialisierung von Organen verstanden werden261. Die Fixierung der Darstellung des Körpers bei Stelarc ist Mittel, um ein Zeichen dafür zu setzen, über ihn hinaus zu gehen und die Möglichkeit, den Körper durch Technik zu erweitern. „When I talk about the obsolete body I don‘t mean that we should discard bodies altogether, but rather that a body with this form and these functions cannot operate effectively in the technological terrain that it has created. [...]. The question is not so much whether we discard bodies but rather how to rethink the design of the body: is this an adequate architecture for perpetuating intelligent life in a technological realm and in an extraterrestrial environment?”262

Stelarc geht es damit nicht um eine Verneinung oder ein vollständiges Ablegen des Körpers, sondern um Ergänzung263. Zum einen muss sich der Mensch, nach Stelarc, seiner von ihm geschaffenen Technik anpassen und zum anderen geht es ihm wie Clynes und Klyne darum, Möglichkeiten für den Körper zu finden, sich

257 Clynes/Klyne 2009, S. 30f. 258 Clynes/Klyne 2009, S. 31. 259 Siehe Clynes/Klyne 2009, S. 31. 260 Dies wird insbesondere an seiner Beschreibung der Entwicklung von ,Cyborg III‘ zu ,IV‘ deutlich. Siehe Gray 2009, S. 51. 261 Siehe Gehlen 2009, S. 87. 262 Zylinska/Hall 2002, S. 122. 263 Siehe Stelarc 1984d, S. 52.

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neuen Umgebungen und Umständen auch im Hinblick auf die Raumfahrt anzupassen264. Wenn Stelarc davon spricht, den Körper den Gegebenheiten seiner Umstände anpassen zu wollen, scheint er damit zu meinen, dass der Mensch in einer Kultur lebt, aber sein Körper, er selbst als Ganzes noch Natur ist. Dabei ergeben sich jedoch Konsequenzen für die Kultur, die den Menschen vor neue Aufgaben stellen. Sieht er sich gemäß der Tradition der Philosophie als Subjekt dem Objekt gegenüber, wird diese Beziehung durch die Technik, die Maschine infrage gestellt. Und doch gilt in der klassischen Logik wie Günther aufzeigt: „,Ich denke Etwas‘ [...]. Das heißt ,Ich‘ und ,Etwas‘ sollen zueinander in einer Beziehung (Denken) stehen, die durch das erste Axiom als ,Identität‘ definiert werden soll.“ 265 Insofern stehen Ich und Gegenstand im Denken in einer identitätsstiftenden Beziehung. Das Ich macht sich am Ding. Wenn La Mettrie den Körper des Menschen als Maschine definiert, verweist er auf die Notwendigkeit der Akzeptanz der Natur, die sich in unserem Körper und mit ihm in unserem Denken widerspiegelt. Eine ganz andere Herangehensweise ist es jedoch, den Menschen zu einer Maschine anhand von Technik zu machen, seine Organe, seinen Organismus zu erweitern oder gar zu ersetzen, Prothesen anzufügen, die nicht seinen natürlichen Gegebenheiten entsprechen, sondern über ihn hinausweisen. In seiner Organisation als Gemeinschaft und in seinem Umgang mit der Natur hat der Mensch sich nicht gescheut, seine Erfindungen und Ideen anzuwenden. Auch Teile seines Körpers, soweit es seiner funktionalen Lebenserhaltung dient, werden mithilfe der Technik wiederhergestellt. Schwerpunktlegung ist jedoch die ,Wiederherstellung‘, also nicht die Veränderung, der Eingriff in den Organismus durch die Technik266. Die dargestellten Ideen, die Organe des Körpers zu verändern, beziehen sich vor allem auf die Funktion des Organismus als Ganzem – nicht auf die einzelnen Organe, nicht auf die Teile des Organismus. Gesucht wird nach einer Möglichkeit, in diese Form der Ordnung und Organisation einzugreifen, um den Menschen in seiner Art selbst zu verändern. Mit der Veränderung des Ich, des Subjekt-Körpers durch Technik gehen, und dies wird angesichts dieser Problemstellung deutlich, auch zwischenmenschliche

264 Siehe Stelarc 1998, S. 121. Für einen Vergleich von Stelarcs Ideen mit denen von Clynes und Klyne, siehe Appleby 2002, S. 101ff. 265 Günther 1976, S. 37. 266 Zum Thema künstliche Organe siehe z.B. Clark 2009, S. 157-160.

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Probleme einher. Während im Verhältnis von Ich und Anderem, das als Beziehung zwischen zwei Subjekten bezeichnet wird, deutlich wird, dass das Subjekt Für-Andere ein Objekt ist, ist die Angliederung, Verinnerlichung von Objekten in Form von Technik eine Erweiterung des Subjekts durch das Objekt267.

267 In diesem Zusammenhang erhält vor allem der Begriff der Distribution, wie er von Günther verwendet wird, Bedeutung. Siehe 4.2 ‚Vermittlung von Ich und Du mittels Maschine‘, S. 299f.

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4.2 V ERNETZUNG Von der Erweiterung des Subjekts durch unterschiedliche Prothesen führt dieses Kapitel hin zum Thema der Vernetzung mittels der Maschine zur Welt, aber auch zur Vernetzung des Künstlers mit der Maschine. Erweiterung und Vernetzung gehen bei Stelarc ein Austauschverhältnis ein und dennoch stellt die Vernetzung aufgrund der mit ihr verbundenen Fragestellung nach der Bedeutung von Information die Sprache und mit ihr die Möglichkeiten von Kommunikation sowie die Aufnahmemöglichkeiten der Sinne in einen veränderten Zusammenhang. Des Weiteren wird zu untersuchen sein, welche Umstände zur Entwicklung unterschiedlicher Medien führen und welche Auswirkungen dieselben mit sich bringen. Das Ear on Arm kombiniert Ideen Stelarcs: die Erweiterung des Körpers, in dem es dauerhaft an seinem Arm angebracht ist und damit verbunden den Hinweis auf den Mangel des menschlichen Körpers. Daneben ist es auch Sinnbild für die Vernetzung, denn das Ohr soll auf eine darin befindliche Schnittstelle verweisen. Von Beginn an steht es für ein zusätzliches Aufnahme- und Vernetzungsorgan, eine dauerhafte Verbindung mit dem Internet und damit ständigen Kontakt mit anderen Menschen. Außerdem bindet es Stelarc dauerhaft und konkret an seine Kunst, seinen Willen nach der Umwälzung von Gestalt und Kommunikation des Menschen. „Certainly what becomes important now is not merely the body's identity, but its connectivity- not its mobility or location, but its interface.“268 Damit setzt Stelarc die Vernetzung über die Identität, den möglichen Zugriff auf Information über die Gedanken und Gefühle des Subjekts. Ein Versuch ein kleines Mikrofon an die Stelle des Ohres zu setzen, ist allerdings gescheitert, da es von seinem Körper abgestoßen wurde. Die technischen Möglichkeiten sind noch hinter den Ideen Stelarcs zurück. Dennoch bleibt die Idee der Verbindung mit dem Internet über das Ohr für Stelarc bestehen, den Körper hin zu weiteren Verbindungen von Informationen zu öffnen. „The final procedure will re-implant a miniature microphone to enable a wireless connection to the Internet, making the ear a remote listening device for people in other places. For example, someone in Venice could listen to what my ear is hearing in Melbourne. This project has been about replicating a bodily structure, relocating it and now-re-wiring it for alternate functions.”269

268 http://stelarc.org/?catID=20242. 269 http://stelarc.org/?catID=20242.

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Darüber hinaus soll das Ohr und der Mund Stelarcs als Sender und Empfänger dienen, wobei Stelarc die Funktionen der beiden Körperteile umdreht: Das Ohr wird zum Sender, der Mund zum Empfänger. „Another alternate functionality, aside from this remote listening, is the idea of the ear as a part of an extended and distributed Bluetooth system – where the receiver and speaker are positioned inside my mouth. If you telephone me on your mobile phone I could speak to you through my ear, but I would hear your voice ‚inside’ my head. If I keep my mouth closed only I will be able to hear your voice. If someone is close to me and I open my mouth, that person will hear the voice of the other coming from this body as, an acoustical presence of another body from somewhere else. This additional and enabled EAR ON ARM effectively becomes an Internet organ for the body.”270

Angedeutet wird damit eine Veränderung der natürlichen beziehungsweise „funktionale[n] Abhängigkeit“271 Machs körperlicher Elemente voneinander. Wir sprechen durch unseren Mund, hören mit unserem Ohr, aber es könnte genauso gut anders sein. Mit dieser Idee werden jedoch die Anspielungen auf die natürlichen Körperteile selbst ,obsolet‘ und mit ihnen die herkömmlichen Formen der Kommunikation. „THE EAR ON ARM project suggests an alternate anatomical architecture – the engineering of a new organ for the body: an available, accessible and mobile organ for other bodies in other places, enabling people to locate and listen in to another body elsewhere.”272

Mit dieser nach Stelarc notwendigen Veränderung von Körper und Geist, um sich den technischen Entwicklungen anpassen zu können, ist eine veränderte Definition von Information verbunden273. „Simply, the body has created an information and technological environment which it can no longer cope with. […]. This is one of the human and technological pressures that came for the computer. [...]. I think this is an individual crisis, but it’s also an evolutionary one

270 http://stelarc.org/?catID=20242. 271 Mach 2011, S. 18. 272 http://stelarc.org/?catID=20242. 273 Siehe auch Stelarc 1984b, S. 24.

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because the human body, if it can’t absorb the information that its accumulating, and more importantly it can’t even understand it, that’s the real problem.”274

4.2.1 Informationsübertragung Die Entwicklung im Verständnis von Information und deren Übertragung ist eng mit der jeweiligen Sicht und Beobachtungsweise beziehungsweise der verwendeten Methoden verbunden. Es wurde bereits mit Heisenberg deutlich, dass in der Naturwissenschaft nicht mehr zwangsläufig von einem rein objektiv beobachtbaren Wissen ausgegangen wird und die Genauigkeit der Mathematik nicht an eine „sichere Erkenntnis“275 gebunden ist276. Entsprechend der verlorenen Bedeutung an sicheren Erkenntnissen scheint auch gegenüber der Information aufgrund einer immer weiter fortschreitenden Anhäufung derselben, von einem Wertverlust im Hinblick auf ihren Inhalt gesprochen werden zu können. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern es möglich oder notwendig ist, die Informationsübertragung unter einem veränderten Blickwinkel zu betrachten. An diese Stelle tritt nach Wiener eine große Veränderung für die Physik aufgrund der Einführung der Statistik durch Boltzmann und Gibbs277. „This revolution has had the effect that physics no longer claims to deal with what will always happen but rather with what will happen with an overwhelming probability.“ 278 Gesucht werden angesichts dessen nicht mehr allgemeingültige, allgemein anwendbare Gesetze, sondern Wahrscheinlichkeiten. Diese werden so Wiener nicht auf eine konkrete Welt angewendet, sondern gesucht wird nach Wahrscheinlichkeiten, die für ,eine große Zahl ähnlicher Universen’279 verwendbar sind. „The measure of this probability is called entropy and the characteristic tendency of entropy is to increase.“ 280 Die Wahrscheinlichkeit wird demnach

274 Stelac/u.a. 1984, S. 17. 275 Heisenberg 1989, S. 48. 276 Siehe Heisenberg 1989, S. 57f. Und siehe 4.1.4 ,Das Objekt als Teil des Subjekts‘, S. 270f. 277 Siehe Wiener 1954, S. 7f. 278 Wiener 1954, S. 10. 279 „[…] ask instead questions which may find their answers in a large number of similar universes.“ Wiener 1954, S. 11. 280 Wiener 1954, S. 12.

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durch das Maß der Entropie gemessen. ,Entropie hat die Neigung, sich in den Universen auszubreiten und dabei Ordnung und Differenzierung durch Vereinheitlichung und Chaos zu beseitigen‘281. „In Gibb‘s universe order is least probable, chaos most probable.“ 282 Entgegen stehen der Entropie, wie mit Wiener deutlich wird, kleine Enklaven oder Inseln, „in which there is a limited and temporary tendency for organization to increase“283, wodurch die Möglichkeit des Lebens entsteht. Wiener entwickelt anhand dieser Theorie seine Theorie der Botschaften, „messages as a means of controlling machinery and society, the development of computing machines and other such automata, certain reflections upon psychology and the nervous system, and a tentative new theory of scientific method”284

auf die er wiederum die ,Kybernetik‘ gründet. Für sie ist Information sowohl als Mittel zur Kontrolle als auch der Kommunikation von Bedeutung 285 . „Information is a name for the content of what is exchanged with the outer world as we adjust to it, and make our adjustment felt upon it. [...]. To live effectively is to live with adequate information.“286 In der klassischen Logik, so Günther, ist das „metaphysisch reale Sein“287 aus „objekthaft Seiendem und subjekthafter Reflexion oder Denken“ 288 zusammengesetzt. „In dem aber, was wir als die empirische wirkliche Welt, als unser Diesseits, betrachten, treten sie als scheinbar unversöhnliche Gegensätze aus-

281 „As entropy increases, the universe, and all closed systems in the universe, tend naturally to deteriorate and lose their distinctiveness, to move from the least to the most probable state, from a state of organization and differentiation in which distinctions and forms exist, to a state of chaos and sameness.“ Wiener 1954, S. 12. 282 Wiener 1954, S. 12. 283 Wiener 1954, S. 12. Wie allerdings Wiener in einer Fußnote zum zitierten Text schreibt: „There are those who are skeptical as to the precise identity between entropy and biological disorganization. […]. It is too much to expect a final, clear-cut definition of entropy on which all writers will agree in any less than the closed isolated system.“ 284 Wiener 1954, S. 15. 285 Siehe Wiener 1954, S. 17. 286 Wiener 1954, S. 17f. 287 Günther 2002, S. 62. 288 Günther 2002, S. 62.

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einander.“289 Damit stehen sich die Identität des Objekts sowie die Identität des Subjekts unvereinbar gegenüber. Ersteres wird so Günther in metaphysischem Sinne als ,tot‘ letzteres als ,lebendig‘ definiert290. In Bezug auf das Denken, hat dies zur Folge, dass „zwischen dem Denken als subjektivem Prozeß und dem Gedachten als seinem bloßen Inhalt unterschieden werden kann.“291 Auch Plessner unterscheidet zwischen „lebendigen […] [und] unbelebten Körper[n]“ 292 . Nur auf Ersteren trifft seine Definition der ,Positionalität‘ zu, die in einer gegenseitigen Verbindung von Organismus und Umgebung besteht293. Die Kybernetik stellt sich, wie Günter aufzeigt, der klassischen zweiwertigen Logik entgegen, zwischen „totem und lebendigem Prozeß, also [...] Mechanismus und Organismus“294 zu unterscheiden. Angesichts dessen rechnet die Kybernetik das Maß der Information am Maß der Entropie und damit in Form von Wahrscheinlichkeiten. „Information und Entropie werden nämlich als ein gegenseitiges Umtauschverhältnis interpretiert. Daraus folgt nun weiter, daß die Theorie der kybernetischen Maschinen den Gesetzen der statistischen Mechanik unterliegt“295. Wenn die Information einer Botschaft auf ihre Form der Organisation verweist, „, it is possible to interpret the information by a message as essentially the negative of its entropy, and the negative logarithm of its probability. That is, the more probable the message, the less information it gives.“296 Nach Wiener steht die Botschaft als Ordnung der Entropie entgegen, allerdings hat sie Auswirkungen auf die Information: Mit dem Steigen ihrer Wahrscheinlichkeit, sinkt die Menge der Information. Angesichts dessen macht Günther deutlich, dass die Menge an Information im Kommunikationsprozess laut der Kybernetik nicht vorhersehbar, sondern mit einer konkreten Wahl verbunden ist. „Dieser negativen Definition entspricht dann die positive, nach der Information jederzeit äquivalent dem Grad der Frei-

289 Günther 2002, S. 62. 290 „Metaphysisch gesprochen: es kann für dieses Denken niemals ein Zweifel bestehen, was totes Ding und was lebendiges Subjekt ist.“ Günther 2002, S. 64. 291 Günther 2002, S. 67. 292 Plessner 1975, S. 157. 293 Siehe Plessner 1975, S. 157. 294 Günther 2002, S. 68. 295 Günther 2002, S. 69. 296 Wiener 1954, S. 21.

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heit ist, der im Prozeß der Kommunikation bei Auswahl einer Mitteilung zur Verfügung steht.“297 In der Theorie von McLuhan spielt die Information gegenüber der medialen Übertragung gar keine Rolle mehr: „the medium is the message.“298 Grund dafür ist: „the ‚content‘ of any medium is always another medium.“ 299 Es geht bei McLuhan also nicht um Inhalte oder die Übertragung von Information, sondern darum, auf Medien selbst zu verweisen. „The role of information has changed. Once justified as a means of comprehending the world, it now generates a conflicting and contradictory, fleeting and fragmentary field of disconnected and undigested data. […]. The accumulation of information has lost all purpose.“300

Trotz der kritischen Einstellung Stelarcs in Bezug auf die scheinbar ins Unfassbare ansteigende Menge von Information, angesichts der er das ,Ende der Akkumulation von Information diagnostiziert‘, bleibt Information auch in diesem Sinne von Bedeutung. Denn wie Information in der Kybernetik Wieners eine grundlegende Rolle zur Steuerung spielt301, erhält sie auch im Schaffen Stelarcs eine Bedeutung. „Moving requires feedback loops of sensory and perceptual data that coordinates the articulation of the jointed body.“302 Auch wenn er selbst den Schwerpunkt in einer Entwicklung weg von der Information hin zur Aktion sieht: „The internet becomes not merely a means of information transmission, but a mode of transduction – affecting physical action between bodies. Electronic space as a realm of action, rather than information.“303

297 Günther 2002, S. 71. 298 McLuhan 2010, S. 7. 299 McLuhan 2010, S. 8. 300 Stelarc 1998, S. 116. 301 Siehe Wiener 1954, S. 17. Es wird im Folgenden im Kapitel, 4.3.1 ‚Befehle, Feedback, Lernen‘, auf den Begriff der Kybernetik einzugehen sein. Siehe S. 307f. 302 Stelarc 2002b, S. 28. 303 Stelarc 2002a, S. 21.

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4.2.2 Entwicklung von Sprache und Medien Mit der Information steht die Sprache mit ihren Möglichkeiten und Grenzen in unterschiedlichen Bereichen infrage. Der Mensch entwickelt unterschiedliche Medien zur Kommunikation, mit denen er die kontrollierte Weitergabe zu erreichen sucht. Statt diesem Ziel gerecht zu werden, scheinen immer wieder neu Fragen aufgeworfen zu werden, die sowohl die Vermittlung der Bedeutung als auch die Sprachsysteme selbst betreffen. In der Physik werden, wie Heisenberg aufzeigt, zwei Sprachen verwendet: zum einen die „mathematische Sprache; nämlich das mathematische Schema, das den Physikern erlaubt, die Resultate zukünftiger Experimente vorherzusagen.“304 Die Mathematik ist notwendig, um möglichst präzise Gesetze aufstellen zu können. Zur Mitteilung von Ergebnissen über das eigene wissenschaftliche Feld hinaus bedient die Physik sich des Weiteren der „gewöhnlichen Sprache“305. Heisenberg unterscheidet zwei Formen der Sprache: „,statisch[e]‘ und ,dynamisch[e]’". Dabei ist Erstere „eine immer weitergehende Verschärfung der Begriffe zu einer immer genaueren Abbildung, [...] so daß von jedem Satz, der dieses Begriffssystem benützt, eindeutig entschieden werden kann, ob er ‚richtig’ oder ‚falsch‘ ist.“ 306 Demgegenüber steht die ,dynamische Sprache’, das „unendlich vielfache Bezogensein der Worte“307, bei dem es um mögliche Verknüpfungen, Variationen statt um Genauigkeit geht. Sinnvoll scheint für Heisenberg eine Verbindung der beiden Sprachen, um Vor- und Nachteile der einen durch die andere ausgleichen zu können308. Dass die Physik sich zweier Sprachen bedienen muss, nämlich der mathematischen als auch der ,gewöhnlichen Sprache‘, liegt nicht nur in dem Wunsch, derartige Theorien einem größeren Publikum näherzubringen begründet. Hofstadters Interesse an „Seltsamen Schleifen“309, die er nicht nur in der Fuge Bachs, sondern auch in den Bildern Eschers findet, die beide auf etwas Mathematisches zu verweisen scheinen, führt ihn auch zu der Auseinandersetzung mit dem Gödelschen Widerspruchssatz. Dessen „Idee war es, mathematisches Denken zur

304 Heisenberg 2011, S. 238. 305 Heisenberg 2011, S. 238. 306 Heisenberg 1989, S. 40f. 307 Heisenberg 1989, S. 42. 308 Siehe Heisenberg 1989, S. 43. 309 Siehe Hofstadter 1996, S. 17.

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Erforschung des mathematischen Denkens selbst zu verwenden.“310 Dabei stößt Gödel, so Hofstadter, auf das Problem der Selbstbezüglichkeit in der Mathematik. „Während es aber sehr einfach ist, in der Sprache über die Sprache zu reden, ist es keineswegs leicht einzusehen, wie eine Aussage über Zahlen über sich selbst sprechen kann.“311 Zur Lösung dieses Problems, Zahlenfolgen zu Aussagen werden zu lassen, erfand Gödel den „Gödel-Code [...]. Und dieser Kunstgriff des Codierens macht es möglich, daß man zahlentheoretische Sätze auf zwei verschiedenen Ebenen verstehen kann: als zahlentheoretische Aussagen und auch als Aussagen über zahlentheoretische Aussagen.“312

In diesem Zusammenhang stellt sich Gödel, wie Hofstadter deutlich macht, in die Reihe der Mathematiker, die nach der Möglichkeit von Beweisen in der Mathematik suchen. „Wichtig ist, festzuhalten, daß Beweise innerhalb fester Systeme von Aussagen operieren.“ 313 Die nach Hofstadter bedeutende Entdeckung Gödels ist, „daß überhaupt kein axiomatisches System welcher Art auch immer alle Wahrheiten der Zahlentheorie produzieren kann, außer wenn es in sich widerspruchsvoll ist!“314 Einmal mehr scheint hier die von Heisenberg proklamierte Nähe zwischen Mathematik und Kunst deutlich zu werden. Denn wenn es auch leichter sein mag, Sprache für Sprache zu verwenden, geht doch die Wirkung jedes Gedichts in der Übersetzung verloren 315. In seiner Beschäftigung mit unterschiedlichen Sprachen kommt Heisenberg zu einem weiteren Schluss: „[M]it dem Prozeß der Erweiterung unserer wissenschaftlichen Kenntnisse erweitert sich auch die Sprache.“316 Mit dieser Aussage verweist Heisenberg auf die Notwendigkeit der Fragestellung, inwiefern von einer Veränderung der Sprache durch unterschiedliche Nutzung in unterschiedlichen Bereichen gesprochen werden kann. Eine solche Veränderung und Beeinflussung wird jedenfalls, wie Hofstadter aufzeigt, in der „Computerwissenschaft“ deutlich, die an der „Entwicklung neuer

310 Hofstadter 1996, S. 19. 311 Hofstadter 1996, S. 19. 312 Hofstadter 1996, S. 20. 313 Hofstadter 1996, S. 20. 314 Hofstadter 1996, S. 27. 315 Siehe Heisenberg 1989, S. 39. 316 Heisenberg 2011, S. 244f.

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Sprachen“ 317 interessiert ist. Denn „[e]in Schlüssel zum Verständnis und zur Schaffung von Intelligenz liegt in der fortwährenden Weiterentwicklung und Verfeinerung der Sprachen, mit denen Prozesse der Symbolmanipulation beschrieben werden können.“318 Sprache betrifft auch die Zusammenkunft von Menschen, denn jede Gruppierung von Individuen besitzt, wie Wiener es formuliert, „its own mode of speech“319. Derart passt sich die Art und Weise des Sprechens unter Menschen den jeweiligen Situationen und Interessenlagen an. Folglich verändert und entwickelt sich Sprache durch ihren jeweiligen Gebrauch durch unterschiedliche Menschen. Für Wiener verfolgt sie allerdings ihrem Wesen nach keinen bestimmten Zweck. In erster Linie gehe es nicht um Weitergabe bestimmter Information, sondern die Verwendung des Mediums selbst. „[T]he human interest in language seems to be an inate interest in coding and decoding, and this seems to as nearly specifically human as any interest can be.“320 Die Weiter- und Fortentwicklung der Sprache scheint einem dem Menschen immanenten Trieb zu obliegen, sich mit diesem Medium und dem Austausch mit anderen Menschen zu befassen. Dieses Prinzip kann mit McLuhan auf jedes weitere Medium übertragen werden. „Perhaps the most obvious ‚closure' or psychic consequences of any new technology is just the demand for it.“321 Das Medium ist für McLuhan eine grundlegende ,Erweiterung des Menschen‘ 322 , die bereits seine ,Sinne‘ und sein ,Nervensystem‘ erreicht hat 323 . Seiner Meinung nach wird sie mit der „technological simulation of consciousness, when the creative process of knowing will be collectively and corporately extended to the whole of human society“324 ihr Ende finden325. Die Entwicklung der Literalität und die mit ihr einhergehende Möglichkeit der Entfernung der Menschen voneinander stellt eine große Veränderung in der

317 Hofstadter 1996, S. 321. 318 Hofstadter 1996, S. 321. 319 Wiener 1954, S. 83. 320 Wiener 1954, S. 85. 321 McLuhan 2010, S. 74. 322 Wie bereits im Titel McLuhans Buch Understanding Media. The extensions of men deutlich wird. McLuhan 2010. 323 Siehe McLuhan 2010, S. 3f. 324 McLuhan 2010, S. 3. 325 Zu McLuhan siehe auch Zylinska 2002a, S. 1ff.

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Kommunikation des Menschen dar, die McLuhan mit dem Wechsel der Bedeutung der Sinne „[t]he giving to man of an eye for an ear“326 verdeutlicht. Mit dem Ear on Arm könnte in Bezug auf McLuhans Theorie „Eye for an Ear“327 gesagt werden, verweist Stelarc auf die mündliche Tradition der Kommunikation. Während in oralen Gesellschaften das Zuhören, aber auch das Sprechen selbst eine große Rolle spielen, liegt die Betonung in literalen Gesellschaften für McLuhan auf dem Sehen. Es entsteht der Eindruck, dass das, was verbindet, gleichzeitig trennt. Während neue Technologien ermöglichen, dass Menschen auf der ganzen Welt zu gleichgültig welchen Zeiten miteinander kommunizieren, auf Informationen zugreifen können, steht die materielle Präsenz des Menschen nicht mehr in Verbindung mit dieser Entwicklung. Andererseits werden mit diesen Verschiebungen neue Möglichkeiten der Verbindung geöffnet. „The oral man‘s inner world is a tangle of complex emotions and feelings that the Western practical man has long ago eroded or suppressed within himself in the interest of efficiency and practicality.“328 Allerdings hat der Mensch in dieser Entwicklung nicht nur, wie durch McLuhan deutlich wird, Fähigkeiten zur Emotionalität verloren, sondern sich auch den durch die Technik veränderten Umständen angepasst. „The inventions of the telephone, the telegraph, and other similar means of communication have shown that this capacity is not intrinsically restricted to the immediate presence of the individual“329. Wiener geht davon aus, dass das Vermögen der Kommunikation durch Technik erweitert wird und nicht zwangsläufig eine Qualitätsminderung bedeutet. Denn letztlich führe die Unmöglichkeit der Vergrößerung von Distanz für primitive Gesellschaften dazu, sich nicht geografisch ausbreiten zu können 330 . Entsprechend kommt McLuhan zu dem Schluss: „It is in its power to extend patterns of visual uniformity and continuity that the ‚message‘ of the alphabet is felt by cultures.“ 331 Sowohl Sprache als auch Schrift bringen damit Nachteile, aber auch Vorteile mit sich, denn wie Ong feststellt, ist die Oralität gesellschaftsbildend, aber demgegenüber dient die Literalität der „Bewußtseinserweiterung“332.

326 McLuhan 2010, S. 54. 327 McLuhan 2010, S. 88. 328 McLuhan 2010, S. 55f. 329 Wiener 1954, S. 91. 330 Siehe Wiener 1954, S. 91. 331 McLuhan 2010, S. 91. 332 Ong 1987, S. 176.

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Angesichts der Entfernung der Menschen voneinander entsteht, wie McLuhan aufzeigt, auch das Phänomen der Privatsphäre, wie sie in primitiven Gesellschaften nicht gekannt wird333. Die Privatsphäre entwickelt sich in den bürgerlichen Haushalten, wenngleich sie nach Gay zu einer zwiespältigen Erfahrung für die Mitglieder eines familiären Haushalts führt. „[D]ie Eltern [...] öffneten die Briefe die ihre Kinder bekamen, kontrollierten ihre Lektüre, begutachteten ihre Besucher, inspizierten ihre Unterwäsche.“334 Von Beginn des Begriffs der Privatsphäre an ist mit ihr die Kontrolle einer ,höheren Instanz‘ – in diesem Beispiel der Eltern – verbunden. Im großen weltpolitischen Geschehen ist die Sicherheit in Bezug auf Kommunikation, gleich welchem Medium, wie Wiener verdeutlicht, immer vorrangig auf die eigene Kommunikation gerichtet. „The whole technique of secrecy, message jamming, and bluff, is concerned with insuring that one‘s own side can make use of the forces and agencies of communication more effectively that the other side.“335 Mit dem Zugewinn von Distanz und damit der Erweiterung der medialen Kommunikationsmöglichkeiten vergrößern sich zwar einerseits die Möglichkeiten, mit Menschen in Kontakt zu treten, die räumlich weiter entfernt sind sowie das Maß an eigener Entfernung von anderen Menschen steigt, andererseits verringert sich auch die Sicherheit der transportierten Information, die immer mehr äußeren Eingriffen ausgesetzt ist. Die Kodierung beziehungsweise Verschlüsselung von Sprache ist deshalb insbesondere in der Kriegsführung von Bedeutung, um interne kriegerische Informationen zur Kriegsführung vor dem Gegner zu schützen, aber auch die Strategie und das Vorgehen des Feindes durch die Entschlüsselung seines Codes zu erfahren336. Die Bedeutung dieser Wissenschaft in Bezug auf die Entwicklung von intelligenten Maschinen wird im Schaffen Turings offenbar. Seine Forschung auf diesem Gebiet hat Anteil am Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg337. Es bleibt jedoch für Wiener auch das immanente Problem der Information selbst:

333 Siehe McLuhan 2010, 129. 334 Gay 2000, S. 436. 335 Wiener 1954, S. 128. 336 Wiener thematisiert diese militärische Bedeutung, siehe Wiener 1954, S. 128f. Über die Bedeutung der Kryptographie im 2. Weltkrieg, siehe Bertsch 2014, S. 69ff., bzw. S. 95f. 337 Siehe Copeland 2013b, S. 264 und Bertsch 2014. S. 75-82, bzw. auch folgende Seiten dieses Kapitels.

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„as efficient as communications‘ mechanism become, they are still, as they have always been, subject to the overwhelming tendency for entropy to increase, for information to leak in transit, unless certain external agents are introduced to control it.”338

Mit dieser Aussage macht er deutlich, dass Information Kontrolle und Auswahl unterliegen muss, weil sie sonst ins Unermessliche ansteigt.

4.2.3 Erweiterung der Sinne und des Denkvermögens In den Möglichkeiten der Informationsübertragung und medialer Entwicklung kommen neben technischen Errungenschaften auch die Fähigkeiten des Menschen zur Wahrnehmung zum Ausdruck. Angesichts dessen gilt es, Defizite und Möglichkeiten des Menschen zu untersuchen, sein Denken aber auch seine Sinne mittels Technik zu erweitern sowie der Frage nachzugehen, inwiefern mit einer solchen geistigen und sinnlichen Erweiterung ethische Bedenken verbunden sind, die der Mensch in der Weiterentwicklung seiner Fähigkeiten in Betracht ziehen sollte. Für Stelarc müssen die Veränderungen der geistigen Möglichkeiten mit denen des Körpers einhergehen339. In diesem Zusammenhang prägt er die Begriffe Fractal Flesh 340 und Phantom Limb 341 . Bei Ersterem geht es Stelarc um die ,elektronische Verbindung‘ 342 über das Internet zwischen Körpern und Individuen. „This would be a more complex and interesting body – not simply a single entity with one agency but one that would be a host of multiplicity of remote and alien agents.“ 343 Von Bedeutung sind damit die Verarbeitung, Aufnahme und Weitergabe von Informationen, die Feedbacks auf den Körper erzeugen344. Mit dem Phantom Limb verbindet Stelarc die Idee der Gefühls- beziehungsweise Erregungserweiterung durch das Internet.

338 Wiener 1954, S. 92. 339 Siehe http://www.t0.or.at/stelarc/interview01.htm. 340 Siehe Stelarc 2002a, S. 15f. 341 Siehe Stelarc 2002a, S. 20. 342 Stelarc 2002a, S. 15. 343 Stelarc 2002a, S. 16. 344 Siehe auch die folgenden Beispiele Ping Body und Movatar, die als Performances für Fractal Flesh stehen. Siehe Stelarc 2002b, S.17ff.

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„[W]e begin to generate powerful phantom presences [...] as in a phantom limb sensation. The sensation of the remote body sucking on your skin and nerve endings, is a collapsing the psychological and spatial distance between bodies on the Net.”345

Allerdings ist der äußere Einfluss von ,Sensationen‘ auch im ‚Stimbod‘346 angelegt. „Such a Stimbod would be a hollow body, a host body for the project and performance of remote agents. [...] Stimbod is not merely a sensation of touch but an actuation system.“347 Nach McLuhan zeigt sich im ,elektronischen Zeitalter’, dass nicht nur von einem Medium in ein weiteres übersetzt, sondern mittels der immer weiter gehenden Übersetzungen ein über den Menschen hinausgehendes Wissen erreicht wird. „By putting our physical bodies inside our extended nervous systems, by means of electric media, we set up a dynamic by which all previous technologies that are mere extensions of hands and feet [...] will be translated into information systems.”348

Der Körper wird auf diese Weise im technischen Medium vergeistigt, geht in einem ,Informationssystem‘ auf. Entsprechende Feststellungen macht McLuhan auch im Hinblick auf die Sinne. Über unsere bisherige Gewohnheit, Sinneserfahrungen in andere zu übersetzen hinaus349, könnte dieser Vorgang nun auch künstlich in den Computer übertragen werden, um Bewusstsein zu erzeugen. „Yet such condition would necessarily be an extension of our own consciousness as much as [sic!] wheel is an extension of feet in rotation.“350 So verstanden wäre die Übersetzung dieses Vorgangs ein Denk- und Verstehenswerkzeug des Menschen. Und nach McLuhan ist Technologie grundsätzlich eine notwendige, zweckdienliche „extension of our own bodies and senses“351.

345 Stelarc 2002a, S. 20. 346 Stelarc 2002a, S. 16f. 347 Stelarc 2002a, S. 17. 348 McLuhan 2010, S. 63. 349 Siehe McLuhan 2010, S. 66f. 350 McLuhan 2010, S. 67. 351 McLuhan 2010, S. 74. Über die Bedeutung von McLuhans Theorie zur ,Erweiterung‘, siehe Zylinkska 2002, S. 1ff.

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Und trotzdem bringt jede ,Prothese‘ seiner Meinung nach eine Verringerung eines anderen Sinnes mit sich. „Any invention of technology is an extension or self-amputation of our physical bodies, and such extension also demands new ratios or new equilibriums among the other organs and extensions of the body.“352 Das würde heißen, dass der Mensch jede technologische Entwicklung, die er zu seinen Gunsten zu erreichen glaubt, mit dem Verlust von etwas bereits Besessenem erkauft. Für McLuhan bedeutet dies jedoch nicht, Angst vor möglichen Erneuerungen zu entwickeln. „By continuously embracing technologies, we relate ourselves to them as servo-mechanisms.“353 Denn abgesehen von dem genannten möglichen Verlust beinhalten neue Medien für McLuhan eine mögliche Veränderung, eine neue Form von Erkenntnis, die uns aus dem alltäglichen, teilweise unbewussten Handeln wieder aufweckt. „The moment of the meeting of media is a moment of freedom and release from the ordinary trance and numbness imposed by them on our senses.“354 Neben der körperlichen Erweiterung durch Technik, die in ihrem Überschreiten des Ausgleichs von grundlegenden Mängeln bereits dargestellt wurde, wird auch die Erhöhung unserer Denkfähigkeiten, zum Beispiel bereits in Form von Taschenrechnern, genutzt. „In fact, wherever precision is required man flies to the machine at once, as far preferable to himself.“355 Auch Samuel Butler sieht einen Nutzen der Maschine für den Menschen im Hinblick auf geistige Genauigkeit. Dass jedoch die Erhöhung der intellektuellen Fähigkeiten im Menschen besondere Ängste hervorrufen, zeigt sich an Bedenken, die in Bezug auf Artifizielle Intelligenz im Großen und Ganzen stehen. Von Bedeutung scheinen hier insbesondere zwei Punkte, die Turing im Zusammenhang mit den Ängsten in Bezug auf Artifizielle Intelligenz aufzeigt: (a) An unwillingness to admit the possibility that mankind can have any rivals in intellectual power. This occurs as much amongst intellectual people as amongst others […]. The same situation arises in connection with the possibility of our being superseded by some other animal species. This is almost as disagreeable and its theoretical possibility is indisputable.

352 McLuhan 2010, S. 49. 353 McLuhan 2010, S. 51. 354 McLuhan 2010, S. 61. 355 Butler 1985, S. 205.

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(b) A religious belief that any attempt to construct such machines is sort of Promethean irreverence.356

Zum einen also eine Angst des Menschen durch die Intelligenz von einer von ihm Geschaffenen oder auch neben ihm bestehenden Art, wie zum Beispiel dem Tier, bedroht zu sein und zum anderen die Angst, sich über das Gottgegebene hinwegsetzen zu wollen; den Menschen zu einem Gott werden zu lassen und damit die Schöpfung Gottes infrage zu stellen und Gott selbst herauszufordern. Für Günther ist der grundlegende Wandel und mit ihm einhergehend ein Umdenken des Menschen unausweichlich 357 . Allerdings sieht er ihn im Zusammenhang mit der Angewohnheit des Menschen, sich die Welt mithilfe der traditionellen Logik zu erklären. Die Überwindung des Aristotelischen führt in seiner Sicht zu einer „Selbstenthronung“358 des Menschen und nicht einfach dazu, dass er Gott wird, denn nun steht er selbst in einem neuen Zusammenhang. Dem Menschen werde bewusst „, daß jenseits seiner Existenz noch ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten jenes rätselhaften Phänomens liegen, das wir Leben nennen.“359 Der Blick des Menschen wende sich von sich selbst und seiner Welt oder dem, was er als „Mythos vom ,Ewigen Leben‘“360 zu besitzen geglaubt hat, ab und lerne seine Sicht zu erweitern darauf, „, daß das System der menschlichen Rationalität keineswegs das System der Rationalität des Universums ist.“361 Infolge dessen mache er durch die Erschaffung oder Nutzung der Maschine nicht einfach sich selbst zu etwas Vollkommenem, begehe er nicht zwangsläufig unentschuldbare ,Gotteslästerung‘. „Häresie“362 steht für Günther in unmittelbarer Verbindung zum religiösen Glauben. Sie „ist das untrügliche Symptom eines im Glauben nicht aufgelösten Restbestandes der Furcht und der Weltangst“363 und damit der Furcht des Menschen, dass seine Hoffnung auf das jenseitige Paradies eine Illusion sein könnte. „Jener Zweifel aber läßt sich aus dem zweiwertigen Bewußtsein und seiner spezifischen Reflexionssituation in aller Ewigkeit nicht eliminieren, weil er eine konstitutionelle Eigenschaft alles zweiwerti-

356 Turing 2013d, S. 410. 357 Siehe Günther 1976, S. Xf. 358 Günther 1976, S. XI. 359 Günther 1976, S. XII. 360 Günther 1976, S. XII. 361 Günther 1976, S. XII. 362 Günther 1979, S. 18. 363 Günther 1979, S. 18.

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gen Erlebens ist.“364 Dieser Zweifel kann jedoch auch ins Produktive gewendet werden, denn wie Wiener feststellt: „It is the part of the scientist – of the intelligent and honest man of letters and of the intelligent and honest clergyman as well – to entertain heretical and forbidden opinions experimentally, even if he is finally to reject them.“365 Häresie wäre so verstanden eine unvermeidbare Folge der Neugierde des Wissenschaftlers, wir können auch sagen des Künstlers, über Grenzen hinaus zu blicken, die gesellschaftlich verboten sind, da sie zu neuen, bedeutenden Entdeckungen führen können. Günther ist der Ansicht, dass dem Menschen maschinelle „Denkprothesen“366 neue Türen in Richtung Problem- und Aufgabenstellungen öffnen können. Dabei würde ein anregender Austausch zwischen dem Denken des Menschen und der Maschine entstehen. „Hat die Maschine aber erst einmal eine solche Problemstellung offengelegt und die Bedingungen festgestellt, unter denen sie durchdacht werden kann, dann geht die Fragestellung an die menschliche Subjektivität zurück, die jetzt die Maschine wieder ablöst, bis eine neue Schwierigkeit auftaucht, bei der die Maschine wieder helfend eingreifen muß. Maschine und Mensch leisten hier komplementäre Arbeit und befinden sich in gegenseitiger Abhängigkeit.“367

Es geht Günther also um ein Wechselspiel von Mensch und Maschine, die sich gegenseitig in der Denkleistung, Kapazität und damit in der Fähigkeit des Verstehens stützen, wie sie in den Ideen Fractal Flesh, Phantom Limb oder auch Stimbod von Stelarc zum Ausdruck kommen368. Im Folgenden soll dargestellt werden, auf welche Weise ein solcher Austausch zwischen Menschen über die Maschine erreicht werden könnte und welche Veränderungen ein solches zwischenmenschliches Austauschverhältnis im Hinblick auf eine mögliche Neubewertung der Perspektive auf das Ich-Du Verhältnis zwischen den Menschen sowie zwischen Mensch und Maschine mit sich bringt.

364 Günther 1979, S. 18. 365 Wiener 1964, S. 5. 366 Günther 1980, S. 231. 367 Günther 1980, S. 232. 368 Näheres hierzu siehe 4.2.3 ,Erweiterung der Sinne und des Denkvermögens’, S. 290f.

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4.2.4 Vermittlung von Ich und Du mittels Maschine „Information is more a matter of process than of storage.“369 Für Wiener ist der Inhalt und dessen Bewahrung weniger von Bedeutung als die Notwendigkeit des Menschen, für Veränderungen und Zuwachs von Information offenzubleiben. „In the figurative sense, to be alive to what is happening in the world, means to participate in a continual development of knowledge and its unhampered exchange.“370 Auch diese Erkenntnis zieht er insbesondere im Hinblick auf die militärische Vorgehensweise, denn sie macht offensichtlich, dass sich das eigene Wissen immer an dem der ,gegnerischen Seite’ – oder für das zivile Leben übersetzt: der fremden Seite – orientieren muss. Für Stelarc stehen hierbei die Interaktionen von Menschen und Maschinen selbst im Mittelpunkt: „Going beyond the purely psychological to the more global kind of consciousness that has to do with being able to function remotely, being able to connect and interact in a multiplicity of ways, both with other people, with teleoperated robots, software agents.”371

Verarbeitung von Information kann nach einer Idee von Günther durch „Denkprothesen“ 372 , einer Korrelation von Mensch und Maschine erweitert werden. Um diese Idee der Erweiterung zu veranschaulichen, ist es notwendig, auf den Umgang der Kybernetik mit Information als „Umtauschverhältnis“373 zur Entropie und ihrer Weigerung, zwischen ,totem Mechanismus und vitalem Organismus‘374 zu unterscheiden, zurückzukehren375. Betont werden muss an dieser Stelle, dass mit dem Bedeutungsverlust der metaphysischen Kategorie des Seins in der klassischen Logik zugunsten der Reflexion in der Kybernetik, wie sie Günther darstellt, eine höhere Bewertung der empirischen Wirklichkeit einhergeht. Auf diese Weise erst gewinnen die technischen Möglichkeiten des Menschen Bedeutung, Ideen im Hinblick auf eine intelligente Maschine umzusetzen:

369 Wiener 1954, S. 121. 370 Wiener 1954, S. 122. 371 http://www.t0.or.at/stelarc/interview01.htm. 372 Günther 1980, S. 231. 373 Günther 2002, S. 69. 374 Siehe Günther 2002, S. 68. 375 Siehe 4.2.1 ,Informationsübertragung’, S. 282f.

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„Damit entsteht in der Kybernetik aber ein eigengesetzliches Zwischengebiet, [...] dadurch, daß erstens die klassische Isomorphie von Sein und Denken also das absolute Identitätsprinzip, auf dem Boden der Informationstheorie hinfällig wird. Zweitens aber, daß durch die Ablösung des Kommunikationsprozesses vom Selbstbewußtsein bisher eminent metaphysische Kategorien, zumindest partiell, in die Empirie übergeführt werden und damit einem fast blasphemisch anmutenden technischen Zugriff des Menschen unterliegen.“376

Durch die Schwerpunktlegung der Kybernetik auf Denken, Information und Prozess ergibt sich, wie Günther aufzeigt, die Konsequenz, im Reflexionsprozess „eine arteigene Transzendenz“377 zu sehen. Denn „die Reflexion kann nie ganz objektiviert werden, und das mechanische Gehirn kann nie ganz den Charakter eines Ichs annehmen.“378 Transzendenz beschreibt dabei die unendliche Bewegung des „Reflexionsproze[sses], resp. der Information“379, die weder subjektive Innerlichkeit noch objektive Gegenständlichkeit erreicht. „Eine Transzendenz besitzen aber heißt einen unerreichbaren Grund haben. [...] Erstens die objektive Unerreichbarkeit des Ansichs, zweitens die subjektive Unerreichbarkeit der Innerlichkeit, wozu jetzt noch jene dritte Unerreichbarkeit kommt, die uns lehrt, daß Subjekt und Objekt einander auch in der Mitte nicht vollkommen begegnen können.“380

In der Kybernetik geht es nach Günther nicht darum, die ,klassische Logik‘ zu ersetzen, in der sich ,Subjekt‘ und ,Objekt‘ in einem Umtauschverhältnis gegenüberstehen381, denn die Definition des Objekts bliebe von ihr unangetastet382. Es gehe ihr um die Veränderung der „Idee der Subjektivität“383, durch die sie zu einer „dreiwertigen oder sogar generell mehrwertigen Metaphysik“384 zu gelangen

376 Günther 2002, S. 70f. 377 Günther 2002, S. 73. 378 Günther 2002, S. 73. 379 Siehe Günther 2002, S. 73. 380 Günther 2002, S. 73f. 381 Siehe Günther 2002, S. 75. 382 Günther 2002, S. 74. 383 Günther 2002, S. 74. 384 Günther 2002, S. 74.

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suche. Dafür etabliert sie gegenüber Subjekt und Objekt ein gleichwertiges „Drittes“385. Nach Günther ergeben sich für die Kybernetik „drei zweiwertige Identitätsprinzipien“386. Alle drei Relationen verweisen auf einen jeweilig ausgeschlossen Restbestand. In der ersten Relation, der „Seinsidentität“387, identifiziert sich das Objekt als Objekt im Reflexionsprozess. Keine Rolle spielt für die Beschäftigung des Objekts mit sich das Subjekt. Die nächste Relation bezeichnet Günther als „Reflexionsidentität“388, wobei das Subjekt seine Innerlichkeit im Reflexionsprozess entdeckt, Selbstbewusstsein gewinnt389. Da das Objekt im Fall der Selbstbetrachtung unberücksichtigt bleibt, nicht Teil der Innerlichkeit des Subjekts ist, ist es in diesem Fall Restbestand. Die letzte Relation beinhaltet die ersten beiden: Subjekt und Objekt. „D.h. es wird hier die reine auf sich selbst bezogene Innerlichkeit der Subjektivität dem existenten Objekt in der Welt gleichgesetzt. [...] Transzendentalidentität also konstituiert das Du, wie es uns in der objektiven Wirklichkeit begegnet.“390

An dieser Stelle macht Günther im Hinblick auf den Restbestand einen Unterschied zu den anderen Relationen. Denn während im Identitätsverhältnis von Objekt und Subjekt das jeweils andere ausgeschlossen bleibt, bezeichnet die ,Transzendentalidentität‘ einen nicht möglichen Zugriff des Subjekts auf den ,Reflexionsprozess‘ im Du. Der Reflexionsprozess findet in jeder Relation statt, aber in der Koinzidenz von Objekt und Subjekt im Du, bleibt er für das Ich nicht aktiv nachvollziehbar, auch wenn wir das Du als Subjekt, das nicht wir selbst sind, anerkennen. „Denken ist immer unser eigenes Denken. Das Du bleibt für ewig das gedachte ich, weshalb es möglich ist, es mit dem Reflexionsprozeß gleichzusetzen.“391 Damit gibt es bei Günther zwei ,Erfahrungen‘ der Subjektivität: die dem Subjekt eigenen und die dem Subjekt fremden392. Aufgabe der Kybernetik ist es

385 Günther 2002, S. 75. 386 Günther 2002, S. 75. 387 Günther 2002, S. 75. 388 Günther 2002, S. 75. 389 Siehe Günther 2002, S. 60. 390 Günther 2002, S. 78. 391 Günther 2002, S. 78. 392 Günther 2002, S. 79.

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mittels „der Konstruktion eines Information produzierenden und Kommunikation leistenden Mechanismus“393 eine Verbindung zwischen Ich-Identität und DuIdentität herzustellen. Ihre Bedeutung liegt für Günther darin aufzuzeigen, dass im Austausch von Information im Kommunikationsprozess nicht eine Verallgemeinerung der Innerlichkeit des Ichs dargestellt werden kann. „Der Weg zum Selbstverständnis des Menschen führt also über das allen gemeinsame Nicht-Ich, d.h. die Dimension der Objektivität.“394 Und angesichts dessen über das Nachaußen-wenden der inneren Subjektivität in eine technische Konstruktion der Objektivität395. Zur Bewältigung des Reflexionsrestes bedarf es nach Günther „gemeinsamer Handlung“396. Da, wie Günther aufzeigt, die Reflexion in der Kybernetik alle Kategorien im Sinne von Reflexionen auflösen kann, hat dies auch Konsequenzen für das ,Sein: „Das Sein hat jetzt keine von Ewigkeit her vorbestimmten Eigenschaften mehr.“397 Es kann nach Günther durch ,Bewusstsein‘ verändert werden. In der Verbindung von ,Bewusstsein‘, ,Wille‘ und ,Handlung‘ entstehen, in der Folge seiner Theorie, einerseits „Phantasiegebilde“ als Resultat innerer, subjektiver, allerdings nicht von außen zugreifbarer Reflexion und andererseits „Technik“ als äußere, objektive auf die Welt gerichtete Reflexion398. Auch die Technik unterscheidet Günther wiederum in zwei Bereiche: derjenigen, die sich an der Natur und deren Gesetze orientiert, die der klassischen Logik entspricht, und einer Technik, die mit Blick auf die Natur mittels „theoretische[r] Gesetze“399, wie Mathematik, etwas Eigenes zu erzeugen sucht. Die Kybernetik arbeite daran, „dem bloßen Stoff, der sich nicht selber reflektieren kann, das Denken beizubringen!“400 Dieses Vorhaben beinhalte die Vorstellung, dass das Objekt, wie das Subjekt „reflexive Gesetzlichkeit“401 besitzen könnte. Mit dieser ,veränderten‘ Form der Technik geht für Günther die Bemühung des Men-

393 Günther 2002, S. 79. 394 Günther 2002, S. 81. 395 Siehe Günther 2002, S. 79. 396 Günther 2002, S. 79. 397 Günther 2002, S. 101. 398 Siehe Günther 2002, S. 101. 399 Siehe Günther 2002, S. 102. 400 Günther 2002, 102. 401 Günther 2002, S. 109.

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schen einher „sich selbst, die Wiederholung seines Wesens im Material zu konstruieren. Das ist der Sinn der Kybernetik.“402 Die Veränderungen, die sich durch dieses Denken in der Relation zwischen Ich und Du ergeben, können nach Günther mittels der Maschine grundlegend verändert und erweitert werden. „[D]ie natürliche Distribution des menschlichen Denkens über konkurrierende Ichzentren soll durch eine künstliche (technische) Distribution der Reflexionsvorgänge über Mensch und Maschine überboten werden. Es ist offensichtlich, daß wenn dieses Unternehmen gelingt – und es besteht alle Aussicht, daß es glücken wird – menschliches Ich und menschliches Du zusammen auf eine Seite rücken müssen. Auf der anderen steht dann der mensch-erschaffene Mechanismus, und das Denken ist über beide Seiten distribuiert...über das Menschsein sowohl als auch über das im geschichtlichen Prozeß entstandene Artefakt.“403

Damit würde die Maschine für den Menschen zum Vehikel, Ich und Du im Kollektiv aufgehen zu lassen und Informationen auf neue Weise zu generieren und zu vermitteln, einen neuartigen ,Reflexionsprozess‘ in Gang zu bringen404. Die Maschine dient in diesem Prozess dazu, das Denken neu zu ,distribuieren‘, aber steht gleichzeitig auch Ich und Du gegenüber405. In gewisser Weise wären wir dann aber auch wieder bei der ,klassischen Logik‘ der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt angelangt406. Stelarc zieht eine Verbindung in der Bedeutung des Internets und dem Kollektiv407.

402 Günther 2002, S. 140. 403 Günther 2002, S. 180. 404 Landsberg schlägt mit dem Begriff der „prosthetic memory“ „a new form of public cultural memory“ vor. „This new form of memory, […] emerges at the interface between person and historical narrative about the past, at an experiential site such as a movie theater or museum.“ Landsberg 2004, S. 2. 405 Über die Veränderungen in Bezug auf den Menschen durch die Technik wird am Ende noch zu sprechen sein. Siehe 4.3.5 ‚Natur – Kultur und die Veränderung des Mensch-Seins‘, S. 326ff. 406 Siehe Günther 2002, S. 75. 407 Für eine Darstellung von ‚Internet Performances’, siehe Glesner 2009. Darin untersucht sie unterschiedliche Formen derselben. „Ihnen allen ist jedoch gemeinsam, die Teilnehmer während eines klar definierten Zeitraumes räumlich getrennt über ver-

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„[T]he Internet becomes this external nervous system connecting bodies that are nodes and nexuses. [...] [W]e are developing a system whereby each individual can have a sense of the collective, without loosing the sense of being themselves.”408

Aber Günthers Theorie geht in diesem Sinne noch weiter, denn eine solche Möglichkeit hätte grundsätzliche Folgen für das Verständnis des Menschen gegenüber dem Begriff ,Subjektivität‘ und damit auch dem Begriff ,Selbstbewusstsein‘. Wiederum mit Hinblick auf die Philosophie Hegels verweist Günther darauf „, daß das Selbstbewußtsein des Menschen im Verlauf der Geschichte einen Strukturwandel an sich erfahren hat, derart, daß [...] die Reflexionstiefe des Selbstbewußtseins unaufhörlich gewachsen ist“409. Neben der Feststellung, dass das Selbstbewusstsein als wandelbare Größe verstanden werden muss, wird hier deutlich, dass es in seiner Bedeutung selbst immer wieder infrage steht. Bereits Günthers Verschiebung des Zusammenhangs von Sein zum Denken in Richtung Denken und Reflexionsprozess beinhaltet die Feststellung, dass das Selbstbewusstsein des Du für das Ich fremd bleibt410. Eine Distribution allerdings über die Maschine könnte bedeuten, neue Einsichten in das Selbstbewusstsein anderer zu erlangen, aber andererseits durch die Streuung der vielen möglichen Du und wiederum deren Reflexionen als Maß an Bedeutung verlieren. „Was wir gegenwärtig menschliche Reflexion nennen, hat vorerst nur minimale Distributivität. Vor uns liegt eine unendliche Folge welthistorischer Epochen, von denen jede das Bild des Ich in einer neuen Dimension des Seins spiegelt.“411

Ein neues Verständnis von Subjektivität sieht auch Stelarc in der Verbindung von Mensch und Maschine. Sein Interesse gilt jedoch der von ihm erklärten, bereits oben genannten Verschiebung von Information zu Aktion und Körperlichkeit412. „Consider a body that can extrude its awareness and action into other

schiedene Dienste des Internets in einem theatralen Kontext miteinander zu verbinden.“ Glesner 2009, S. 12. 408 http://www.t0.or.at/stelarc/interview01.htm. 409 Günther 1976, S. 49. 410 Siehe 4.2.4 ‚Vermittlung von Ich und Du mittels Maschine’, S. 295ff. 411 Günther 1980, S. 56. 412 Stelarc 2002a, S. 21.

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bodies or bits of bodies in other places. An alternate operational entity that is spatially distributed but electronically connected.“413 Es scheint, als würde auch die Theorie der Kybernetik trotz der Verschiebung des Schwerpunktes vom Sein zur Reflexion 414 am Ende wieder auf das Sein selbst verweisen. Mit der Erweiterung des Begriffes der Subjektivität von eigener zu fremd erfahrener macht sie zwar deutlich, dass es zwischen Subjekten unterschiedliche Positionen geben kann und wir nicht in der Lage sind, in die Köpfe der anderen zu sehen, ihr Denken wie das Unsere zu empfinden und wahrzunehmen. Andererseits dient sie als Technik der ,Distribution von Information‘415 selbst. Wenn wiederum in Bezug auf Information nicht mehr von einer Bedeutung konkreter Inhalte 416 gesprochen werden kann, scheinen wir einander nur noch gegenseitig mitteilen zu wollen, dass wir am Leben sind, dass das menschliche Sein existiert. Aber vielleicht geht hier die Kybernetik einen Schritt weiter. Denn für sie ist die Einsicht, dass es keinen Unterschied zwischen ,Mechanismus und Organismus‘ 417 gibt, mit einer Akzeptanz des Objekts verbunden, die sie bereits im Ich-Du Verhältnis angedeutet sieht. In ihren Augen ist es möglich, in der Maschine, die sich der Mensch erschaffen kann, ein ,objektives Subjekt‘418 zu sehen, wenn auch ohne Selbstbewusstsein419. Aber ihre Theorie wirft die Frage nach einer erweiterten Weltsicht auf, die den Begriff des Selbstbewusstseins seiner geschichtlichen Bedeutung enthebt 420 . Entsprechend stellt Samuel Butler im Hinblick auf die Fähigkeit des Geistes die Frage: „[W]hy may not there arise some new phase of mind which shall be as different

413 Stelarc 2002a, S. 15. 414 Siehe Günther 2002, S. 70f. Siehe hierzu sowie dem folgenden 4.2.4 ,Vermittlung von Ich und Du mittels Maschine’, S. 296. 415 Günther 2002, S. 180. 416 Dies wird auch durch die Schwerpunktlegung Wieners auf den Prozess im Hinblick auf Information deutlich. Siehe 4.2.4 ‚Vermittlung von Ich und Du mittels Maschine’, S. 295, bzw. siehe Wiener 1954, S. 121. 417 Günther 2002, S. 68. Siehe auch Wiener 1954, S. 32. 418 „Der Stoff hat in der Reflexion die objektive Subjektivität als primordiale Eigenschaft.“ Günther 2002, S. 157. Siehe auch Günther 1980, S. 39ff. 419 Darauf wird im Folgenden noch näher einzugehen sein. Siehe Günther 1976, S. 98. 420 Siehe Günther 1980, S. 56.

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from all present known phases, as the mind of animals is from that of vegetables?“421 Die Veränderung der körperlichen Wahrnehmung und der Übersetzungen der Sinne bringt für Stelarc Veränderungen der Empfindungen mit sich, wie wir sie bisher nicht gekannt haben422. „You have a situation there, where if I touch my skin, prompting you to touch your skin, I would feel my touch through your body from another place. And so there are a couple of extra loops of interactivity there, that aren‘t possible. In other words, you could have an intimacy without proximity, you would have an intimacy without the contact of skin, and in fact one can well argue that skin is no longer an adequate interface to the world, and that technology becomes this new membrane of our existence.”423

Die Entfernungsmöglichkeiten zwischen den Menschen beziehen sich auf diese Weise nicht mehr lediglich auf die Sprache, sondern auch auf das, was ganz unvermittelt zwischen den Menschen passiert, entsteht oder in ihnen vorgeht, ohne konkret einen Ausdruck zu erhalten. Insofern werden nicht nur die äußerlichen Kommunikationsmöglichkeiten des Menschen erweitert. Technik wird nach Stelarc zu einem Medium anhand dem sich Menschen in der Zukunft berühren und fühlen werden424. Es geht ihm allerdings nicht darum, das vom Menschen Gewohnte einfach in ein neues Medium zu übertragen. Insbesondere an der höchsten Form der Intimität, der Sexualität zwischen Menschen, wird diese Einstellung Stelarcs deutlich: „If cybersex is simply a simulation of real sex, than[sic!] I don‘t see much point in it. [...] It‘s not going to do away with physical sex, it‘s just going to augment physical interactivity between people remotely.“425 Welche Folgen diese technische Veränderungen auf die Sexualität und der mit ihr verbundenen Fortpflanzung haben werden, erscheint ungewiss426. Angedeutet ist dennoch, dass wir unsere Technik nicht dafür nutzen sollten, in ihr und mit ihrer Hilfe lediglich das zu sehen und zu ,wiederholen‘, was wir

421 Butler 1985, S. 198. 422 Bateson hebt Veränderungen im Verständnis von Körper, Geist und Gefühl durch die Kybernetik hervor. Siehe Bateson 2000, S. 454ff. 423 http://www.t0.or.at/stelarc/interview01.htm. 424 Benthien hat sich vor allem mit den Ideen Stelarcs zum Stimbod beschäftigt. Siehe Benthien 2001, S. 271ff. 425 http://www.t0.or.at/stelarc/interview01.htm. 426 Über „Reproductive Technologies“ siehe z.B. Clarke 2009, S. 150, bzw. S. 139-155.

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bereits kennen – nicht nur angesichts der Tatsache, dass die Technik und die mit ihr verbundenen Medien einen ,Widerstand‘ in sich bergen werden, der dem Gewohnten entgegen steht und bereits aufgrund dessen etwas ,Andersartiges‘ generieren, beziehungsweise zum Vorschein bringen werden. „[I]f we engage in these kinds of attitudes and operations than[sic!] a lot of our philosophical problems evaporate, a lot of our personal hangups don‘t have to exist anymore, what‘s meaningful is interaction, exchange. connectivity[sic!], collectivity and that makes the transition to function intelligently on the Internet.”427

Angesichts der neuen Verbindungen, die die Menschen mittels der Technik eingehen können, sieht Stelarc in der Technik die Möglichkeit philosophische und menschliche Konflikte aus dem Weg zu räumen.

427 http://www.t0.or.at/stelarc/interview01.htm.

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4.3 S TEUERUNG Bereits in den vorhergehenden Kapiteln wurde der mit der Kommunikation verbundene Zweck der Kontrolle angesprochen. Im Folgenden werden über diese Kontrolle hinaus die Möglichkeiten der Steuerung mit Hinblick auf unterschiedliche Experimente Stelarcs in Verbindung zur Theorie der Kybernetik Wieners und Günthers sowie der Artifiziellen Intelligenz Turings erweitert. In diesem Zusammenhang stellt sich nicht nur die Frage, ob und auf welche Weise der Mensch dazu in der Lage ist, sein Verhalten zu kontrollieren und entsprechend zielgerichtet zu steuern, um dieses erlernte Verfahren wiederum an die Maschine entsprechend weiterzugeben, sondern auch inwiefern der Mensch Bewusstsein und Selbstbewusstsein besitzt und auf welche Weise entsprechende Fähigkeiten in der Maschine geweckt werden können. Welchen Beitrag die Kunst im Hinblick auf die Wissenschaft leistet, welche Bedeutung in diesem Kontext die Religion noch haben kann, wird ebenso bedeutend sein, wie abschließend der Frage nachzugehen, wie weit der Mensch seine Kultur auf die Natur ausweitet. In den Projekten Stelarcs, sei es Third Hand oder Movatar, spielen Kontrollsysteme in denen Mensch und Maschine miteinander verbunden sind, eine grundlegende Rolle. Während der alltägliche Umgang mit der Maschine dadurch gekennzeichnet ist, dass der Mensch die Maschine steuert, um sie für bestimmte Zwecke einzusetzen 428 , schöpft Stelarc unterschiedliche Möglichkeiten aus – sowohl im virtuellen als auch realen Raum429. Es geht nicht nur darum, größere Maschinen oder Maschinen als Teile des Körpers zu steuern, sondern auch Feedbacks zwischen Mensch und Maschine zu erzeugen. Manchmal gibt Stelarc auch die Verantwortung vollständig an die Maschine ab, so zum Beispiel im Fall des Prosthetic Head und des Walking Head Robot.

428 Siehe Günther 1976, S. 95. 429 Zur Bedeutung von ‚virtuellen Welten‘, bzw. ‚Kunstwelten‘ zur Betrachtung der realen Welt schreibt Weibel: „Im Zeitalter der Elektronik wird die Welt als Schnittstelle zwischen Betrachter und Objekten immer manipulierbarer. Weil durch die von der elektronischen Technologie geförderte Erkenntnis, daß wir nur Teil oder innere Bewohner des Systems sind, das wir beobachten oder mit dem wir interagieren, wir erstmals auch Zugang zu einer Technik und Theorie haben, die uns die Welt nicht mehr nur als Schnittstelle auferlegen, die wir nur von innen beobachten können, sondern uns auch einen Beobachterstandpunkt außerhalb des Systems und der Schnittstelle imaginieren bzw. die Schnittstelle nanometrisch und endophysikalisch ausdehnen lassen.“ Weibel 1992, S. 12.

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Seine bedeutendsten und frühesten Performances in diesem Bereich sind die der Third Hand und des Extended Arms. Das Kontrollsystem der Third Hand obliegt dem Körper Stelarcs: „The motions of the hand are controlled by the electrical signals of the muscles (EMG), typically from the abdominal and leg muscles for independent movements of the three hands. Simply, signals from muscle contractions are picked up, pre-amplified, rectified and sent to the switching system.”430

Mittels der ,Bauch- und Beinmuskeln‘ Stelarcs wird die Third Hand unabhängig von seinen anderen Händen gesteuert, oder wie Goodall bemerkt, „mediating between areas within the body that were not used to being ‚in touch‘ with each other.“ 431 Diese Vorgehensweise umschreibt eine Möglichkeit. Eine andere zeigt er mittels des Extended Arm auf: „Whilst the right arm was extended and automated the left arm was moving involuntarily to 8 channels of muscle stimulation, allowing not only bending of the arm and wrist with deltoid, biceps, flexor and extender muscles but also activating some individual finger flexions. A split body both automated and involuntary. Again the pneumatic sounds and the finger clicks were amplified acoustically and the switch signals were used to trigger synthesized sounds. The performance rhythms were thus largely orchestrated by not only the visual choreography, but also by the sounds.”432

In dem Projekt mit dem Extended Arm kommt im Gegensatz zu der Third Hand die Komponente der gegenseitigen Beeinflussung zwischen maschinellem Arm und natürlichem, menschlichem Körper hinzu. Für Performances lässt Stelarc nicht nur den linken Arm unkontrolliert durch elektrische Muskelstimulation in Bewegung versetzen, sondern auch die Third Hand wird nicht kontinuierlich über die Bauch- und Beinmuskeln gesteuert433. Geräusche, die durch die Bewegung mit der Maschine in seinem Körper erzeugt werden, haben Einfluss auf die Bewegungen Stelarcs und dienen in allen Maschinen-Performances als Mittel zur Interaktion. Diese Zusammenführung seiner Performance mit dem Geräusch ist für Stelarc insofern eine bedeutende

430 http://stelarc.org/?catID=20265. 431 Goodall 2005, S. 11. 432 http://stelarc.org/?catID=20218. 433 Siehe Massumi 2005, S. 166. Siehe auch S. 180.

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Komponente, da sie Bewegung, Körper und Technik miteinander in Verbindung bringt434. Stelarc bedient sich dafür „amplified body sounds“435. Erzeugt werden die Sounds/Geräusche, indem er mittels Elektroden Körpersignale der Muskeln, des Herzens, des Gehirns und seinem Blutfluss aufnimmt und über einen Synthesizer ,moduliert‘436. Aber Stelarc beschränkt seine Performances nicht nur auf einzelne Körperteile, sondern sucht auch eine komplette Erweiterung des menschlichen Körpers durch die Maschine. Exoskeleton und Muscle Machine sind große mehrbeinige Maschinen, die als Vehikel dem kompletten Körper dienen, der in sie hineinsteigt und sie nicht nur lenkt, sondern sich auch ihren Bewegungen übergibt437. Stelarc hat die Möglichkeiten der Interaktion von Mensch und Maschine vom Exoskeleton zur Muscle Machine erweitert. Während das Exoskeleton 438 vorwiegend über den menschlichen Körper gesteuert wird, verschmelzen – zumindest scheinbar – die Bewegungen von Mensch und Maschine in der Muscle Machine. „The Muscle Machine is a six-legged walking robot, five metres in diameter. It is a hybrid human-machine system, pneumatically powered using fluidic muscle actuators. […]. Thus the interface and interaction is more direct, allowing an intuitive human-machine choreography. The walking system, with attached accelerometer sensors provide the data that generates computer structured sounds augmenting the acoustical pneumatics and operation of the machine. […]. Once the machine is in motion, it is no longer applicable to ask whether the human or machine is in control as they become fully-integrated and move as one.”439

434 „I guess the idea of amplifying body signals came about in two ways. Firstly I was increasingly unhappy about collaboration in general, and secondly having to use sounds that were external to the structure of the performance. It became a problem of reconciling the actions with the acoustical results. I wanted sounds that were intrinsic to the movement, and so gradually it occurred to me to use body signals.“ http://www.rainerlinz.net/NMA/repr/Stelarc_interview.html. 435 http://www.rainerlinz.net/NMA/repr/Stelarc_interview.html. 436 Siehe hierzu: http://www.rainerlinz.net/NMA/repr/Stelarc_interview.html. 437 Über die Verbindung von Natur und Technologie, bzw. eine Verbindung von Mensch und Tier in Bezug auf Stelarcs Exoskeleton, siehe Dixon 2004, S. 30f. 438 Siehe http://stelarc.org/?catID=20227. 439 http://stelarc.org/?catID=20231.

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In erster Linie allerdings ist es Stelarc, der die Maschine steuert; bewegt sich die Maschine nicht ohne ihn. Damit entspricht die Interaktion zwischen beiden dem, was Günther als „die klassisch-archimedische Maschine“ bezeichnet, „[d]ie [...] in Analogie zum menschlichen Arm (und Hand) entworfen worden“440 ist. Stelarc scheint dabei als eine Art Mechanismus seiner Maschinen und damit als Motor der Maschine zu agieren. Zumindest, wenn das von Günther definierte Prinzip der ,kybernetischen Maschine‘ in Betracht gezogen wird: „die konstruktive Verwirklichung eines Mechanismus, der Daten aus der Außenwelt aufnimmt, sie als Information verarbeitet und dieselbe in Steuerungsimpulsen dann an die klassische Maschine weitergibt.“441 Ein entscheidender Unterschied zwischen beiden ist, dass während mit dieser klassischen Maschine eine konkrete Verrichtung von Arbeit verbunden ist, Stelarcs Mensch-Maschine Interaktion lediglich dem Zweck der Performance, der mit ihr verbundenen Bewegungen und Geräusche dient, den Eindruck einer Verschmelzung zwischen Mensch und Maschine zu erwecken. Die Bedeutung, die der Mensch in dieser Konstellation eines Aktivators übernimmt, ist Teil dieses performativen Prinzips. Allerdings bleibt nach Günther der Zweck der Maschine immer Sache des Menschen: „Der archimedische Typ des Mechanismus liefert physische Arbeitsvorgänge. Er dirigiert (steuert) aber diese Arbeitsvorgänge nicht auf sinnvolle Zwecke hin. Das bleibt uns überlassen.“442 Auf diese Weise steuert der Mensch einerseits zielgerichtet durch Übermittlung von Information und Daten die Maschine, aber er kann auch selbst Teil dieses Austauschverhältnisses werden. Es wird zu fragen sein, welche Möglichkeiten der Mensch besitzt, einerseits mittels Informationsübertragung konkrete Befehle zu definieren, aber andererseits auch, inwiefern der menschliche Lernprozess auf die Maschine übertragen oder für sie übersetzt werden kann, um einen vom Menschen unabhängigen Lernprozess in der Maschine auszulösen.

4.3.1 Befehle, Feedback, Lernen Die Ideen der Kybernetik, aber auch letztlich die Stelarcs gehen über eine festgelegte Form der Steuerung hinaus. Angelegt ist dies bereits im Begriff der ,Cybernetics‘ selbst. In diesem fasst Wiener Fragen von „control and communi-

440 Günther 2002, S. 211. 441 Günther 2002, S. 211. 442 Günther 1976, S. 95.

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cation“443 zusammen. Er verweist auf das Wort Steuerung, das dem griechischen Wort für ,Steuermann‘ entlehnt ist. „In choosing this term, we wish to recognize that the first significant paper on feedback mechanisms is an article on governors, which was published by Clerk Maxwell in 1863 [...].”444 „We also wish to refer to the fact that the steering engines of a ship are indeed one of the earliest and best-developed forms of feedback mechanisms.”445

Mit dieser Aussage Wieners wird deutlich, dass Möglichkeiten der Steuerung, Fragen der Informationsübertragung vorausgehen. Wiener macht dabei keinen Unterschied zwischen Befehlen, die an Menschen oder Maschinen gerichtet sind446. Bei diesen Befehlen handele es sich um Informationen, die sich gegen die Art der Natur, jegliche Form der Organisation zurückzuweisen, wie sie in der zerstörerischen Definition der Entropie ausgedrückt ist, entgegenstellen. Darin sieht Wiener den Versuch, Kontrolle auf unsere Umwelt auszuüben447. Und dennoch ist die Tätigkeit einer Maschine, wie Turing verdeutlicht, in erster Linie abhängig von dem, was sie für den Menschen leisten soll. „It has been said that computing machines can only carry out the process that they are instructed to do. This is certainly true in the sense that if they do something other than what they were instructed then they have just made some mistake.”448

Turing verweist darauf, dass die Erwartungshaltung die der Mensch gegenüber der Maschine hat, die ist, Befehle genau zu befolgen und die damit verbundene Arbeit zu verrichten. Angesichts dessen ist das Verhältnis Mensch-Maschine vor allem eine ,Master-Slave‘ Beziehung. Es sind jedoch, folgen wir seiner Theorie, auch andere Herangehensweisen vorstellbar. „Let us suppose we have set up a machine with certain initial instruction tables, so constructed that these tables might on occasion, if good reason arose, modify those tables.“449

443 Wiener 1965, S. 11. 444 Wiener 1965, S. 11. 445 Wiener 1965, S. 12. 446 Siehe Wiener 1954, S. 16. 447 Siehe Wiener 1954, S. 17. 448 Turing 2013f, S. 392. 449 Turing 2013f, S. 393.

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Für diesen Ansatz der Modifikation des Verhaltens und des Umgangs mit Befehlen gibt es verschiedene Möglichkeiten, die mittels Günther, Wiener und Turing im Folgenden veranschaulicht werden sollen. Es wurde bereits mit Günther darauf hingewiesen, dass die Kybernetik den Unterschied zwischen ,lebendem Organismus und totem Mechanismus‘ nicht akzeptiert450. Für Wiener sollten und können die menschlichen Organe Vorbild zur Erschaffung von Maschinen sein. Er unterscheidet dafür zwischen „effector organs (analogous to arms and legs in human beings)“451 – wie sie Günther mit der klassischen Maschine beschreibt452 und Stelarc in Form der Third Hand oder des Extended Arms veranschaulicht – und „sense organs“453. Letzteren kommt eine übergeordnete Bedeutung zu. Sie dienen nicht nur dazu, Informationen aus der Umwelt aufzunehmen, sondern auch die Aktionen der Maschine zu verarbeiten und letztlich ,Feedback‘ zu erzeugen. „Feedback may be as simple as that of the common reflex, or it may be a higher order feedback, in which past experience is used not only to regulate specific movements, but also whole policies of behavior.“ 454 Im ersten Fall kann mit Wiener von ,Konditionierung’ („conditioned Reflex“) und im letzten von einem ,Lernen’ („learning“455) gesprochen werden456. Zusätzlich zu diesen Organen, die Handlungen ausüben oder Informationen aus der Umwelt aufnehmen und verarbeiten, benötigt die Maschine wie der Mensch eine Form des ,Entscheidungsorgans’ („decisions organs“457), das aus der Erinnerung der Maschine entsprechende Informationen für Handlungen auswählt. „Thus the nervous system and the automatic machine are fundamentally alike in that they are devices which make decisions on the basis of decisions they have made in the past.“458 Wiener geht also davon aus, dass eine Maschine wie ein Mensch Befehle in Reaktion und in Bezugnahme des Umfelds entgegennimmt, verarbeitet, ausübt und als ausgeführte Performance wieder aufnimmt und für weitere Handlun-

450 Siehe Günther 2002, S. 68. Näheres hierzu siehe 4.2.1 ,Informationsübertragung’, S. 283f. 451 Wiener 1954, S. 32. 452 Siehe 4.3 ‚Steuerung’, S. 307. 453 Wiener 1954, S. 33. 454 Wiener 1954, S. 33. 455 Wiener 1954, S. 33. 456 Wiener spricht von „conditioned Reflex“ und „learning“, Wiener 1954, S. 33. 457 Wiener 1954, S. 33. 458 Wiener 1954, S. 33.

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gen/Performances nutzbar machen kann. Das Feedback schließt damit einen, die Umstände einberechneten Lernprozess durch ,Erinnerung’ ein459. Demgegenüber sind Turings Ideen auf einer konkreteren Ebene der Interaktion zwischen Mensch und Maschine ausgelegt. Er schlägt eine ,Master-Pupil‘ Beziehung zwischen Mensch und Maschine vor in der letztere das vom Master erlernte Wissen eigenständig erweitern kann. „When this happens I feel that one is obliged to regard the machine as showing intelligence. As soon as one can provide a reasonable large memory capacity it should be possible to begin to experiment on these lines.“460 Fähigkeiten wie Erinnerung und Erfahrung spielen auch bei Turing eine große Rolle. Nach ihm soll die Maschine die Möglichkeit haben, von Menschen zu lernen, weshalb er die Bedeutung des Kontakts zwischen Menschen und Maschinen betont461. Ein solches Lernen der Maschine vom Menschen ist nach Turing vor allem über die Imitation von menschlichem Verhalten durch die Maschine möglich462. Neben der Imitation von Routinen geht es entsprechend darum, sie zu ,modifizieren‘, ,kombinieren‘ und zu ,variieren‘463. Anhand des Schüler-Lehrer-Verhältnisses in der Erziehung entwickelt Turing ein System von ,Reward‘ und ,Punishment‘ für die Maschine464. Wie bei Wiener nimmt auch bei Turing die Situation Einfluss auf die Maschine, allerdings ist diese Situation vorwiegend abhängig von der Einschätzung des Lehrers gegenüber dem Verhalten des Schülers. Er spricht von einer Bildung des Charakters durch die Reaktionen, die das Verhalten des Schülers Maschine in bestimmten Situationen auslöst. „It is intended that pain stimuli occur when the machine‘s behaviour is wrong, pleasure stimuli when it is particularly right.“465 In diesem Zusammenhang zieht Wiener eine Parallele zwischen den Abläufen, die im Nervensystem des Menschen angesichts eines „triggers" wie Hunger oder

459 Zur Erinnerung siehe Wiener 1954, S. 23f. 460 Turing 2013f, S. 393. 461 Siehe Turing 2013f, S. 394. 462 Siehe Turing 2013d, S. 420. 463 Siehe Turing 2013d, S. 421. 464 „The training of the human child depends largely on a system of rewards and punishments, and this suggests that it ought to be possible to carry through the organising with only two interfering inputs, one for ‚pleasure‘ or ‚reward‘ (R) and the other for ‚pain‘ or ‚punishment‘ (P).“ Turing 2013d, S. 425. 465 Turing 2013d, S. 425.

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Schmerz ausgelöst werden und den Möglichkeiten, die die Kybernetik besitzt, anhand demselben „a change in taping“466 in der Maschine auszulösen. Für Turing gibt es letztlich zwei Möglichkeiten des Lernens. Schlagworte in diesem Zusammenhang sind für ihn „discipline and initiative.“467 Zum einen eine Grundvoraussetzung zu schaffen, dass die Maschine zunächst bestimmte Verhaltensweisen, Arbeitsweisen konkret lernt, die sie unter allen Umständen ausführt und erst auf ihrer Basis ihr Verhalten weiter variiert. Zum anderen könnte nach Turing jedoch auch versucht werden, der Maschine beides gleichzeitig in Bezug aufeinander zu lehren468. In jedem Fall ist für ihn von Bedeutung, auf die möglichen Parallelen in der menschlichen Erziehung und der Entstehung von Intelligenz in der Maschine hinzuweisen. „The analogy with the human brain is used as a guiding principle. It is pointed out that the potentialities of the human intelligence can only be realised if suitable education is provided. The investigation mainly centres round an analogous teaching process applied to machines.”469

Eine Interaktion zwischen Mensch und Maschine beinhaltet demnach Möglichkeiten des Lernens – für beide Seiten. In erster Linie allerdings ist die Forschung in Bezug auf die Artifizielle Intelligenz daran interessiert, der Maschine das eigenständige Lernen beizubringen. Mit dem Movatar, dem Inverse Motion Capture System und dem Prosthetic Head bewegt sich Stelarc auf dem Gebiet, das den Schwerpunkt auf die Möglichkeiten des Erlernens von Maschinen legt. Seine Versuche zielen auf die Bewegung470 des Körpers – zum Beispiel mit dem Movatar. „MOVATAR is an inverse motion capture system. Instead of a body animating a computer entity, it allows an avatar to perform in the real world by possessing a physical body.

466 Wiener 1954, S. 69. 467 Turing 2013d, S. 429. 468 Siehe Turing 2013d, S. 429f. 469 Turing 2013d, S. 431f. 470 Die Bedeutung der Bewegung und Körperlichkeit im Hinblick auf Entwicklung von Intelligenz erforschen Pfeifer und Bongard. „We will also make a case that brain processes cannot be understood by looking at the brain alone: in order to understand the function of the brain, we must consider embodiment; we must deal with the coupling between brain, body, and environment.“ Pfeifer/Bongard 2007, S. 20.

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[…] [. H]ere the body shares its agency with an artificial entity. A virtual body which is capable of evolving behaviour. […]. It is visualized as a doppelganger human in form and limb movements.”471

Zum Leben erweckt wird der Movatar, indem ein menschlicher Körper mit ihm in Verbindung tritt. Von diesem ergreift der Movatar zumindest teilweise Besitz, um Bewegungen in der realen Welt zu beeinflussen, selbst aber auch mittels dieser Bewegungen zu lernen 472 . Insofern bewegt sich der Movatar anhand des menschlichen Körpers in der realen Welt sowie der menschliche Körper durch den Movatar in der virtuellen Welt473. Zwischen diesen beiden Körpern entsteht ein Feedback. In diesem Zusammenhang stellt sich Stelarc des Weiteren Möglichkeiten vor, ,Feedback loops‘ auf einen Movatar in 3D zu übertragen474.

4.3.2 Sprache, Reflexion und Bewusstsein In erster Linie ist die Entwicklung von Maschinen hin zur Artifiziellen Intelligenz auf die Übertragung und Verarbeitung von Informationen ausgelegt. In diesem Zusammenhang zeigt Wieners Theorie, dass es um eine allgemeine sensorische Aufnahme von Information aus dem Umfeld gehen kann475 und des Weiteren, wie Turing darlegt, aber auch darum, Informationen durch Verhaltensweisen, Aktionen und entsprechender Reaktionen aufzunehmen und zu verarbeiten476. Es wird deutlich, dass Informationen vom Menschen mit unterschiedlichen Sinnen aufgenommen und wieder an die Umwelt zurückgegeben werden und diese dem Menschen dienenden Mechanismen auch für die Entwicklung von Maschinen nutzbar gemacht werden sollen. Gegenüber dieser Übersetzung der Vermittlung von Verhaltensweisen in Bezug auf Lernprozesse kommt die Frage auf, auf welche Weise der Mensch zu Bewusstsein und Selbstbewusstsein ge-

471 http://stelarc.org/?catID=20218. 472 Siehe hierzu auch Clarke 2002, S.49. 473 Stelarc bemerkt hierzu in einem Interview: „The e-motion reference originally came from Edward Scheer and was expressing what happens with the Movatar system. [...]. The body itself becomes a prosthesis for the behavior of an artificial entity.“ Stelarc/Smith 2005, S. 222. 474 Siehe Inverse Motion Capture http://stelarc.org/?catID=20225. 475 Siehe 4.3 ‚Befehle, Feedback, Lernen’, S. 309, bzw. siehe Wiener 1954, S. 33. 476 Siehe 4.3 ,Befehle, Feedback, Lernen‘, S. 310f., bzw. siehe Turing 2013d, S. 421.

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langt und inwiefern auch die Maschine dazu in der Lage sein kann, einen Status von Bewusstsein zu erreichen. Eine grundlegende Bedeutung im Verhältnis von Mensch und Maschine behält in diesem Zusammenhang die Sprache, da sie unmittelbar mit Information und Kommunikation verbunden ist, nicht nur, weil sie auf unterschiedliche Weise als Computersprache dazu dient, Information zu verarbeiten, sondern auch als Mittel zur Interaktion zwischen Mensch und Maschine. „I wish to point out nevertheless that language is not exclusively an attribute of living beings but one which they may share to a certain degree with the machines man has constructed.“477 Zu Beginn der Kybernetik bereitet Wiener damit den Gedanken für Gespräche zwischen Mensch und Maschinen vor. Und dennoch bleiben auch für die Kybernetik nicht die Schwierigkeiten verborgen, die mit der Ungenauigkeit der Sprache, ihren möglichen Bedeutungsgehalten, verbunden sind: In der Sprache werden Probleme zwischen Mensch und Maschine offenbar, die zum einen die Sprache selbst und zum anderen, die mit ihr verbundene Information betreffen, denn letztlich muss der Befehl gegenüber der Maschine konkret verwertbare Aussagen beinhalten, um zu bestimmten Handlungen zu führen oder wie Wiener es bezeichnet, geht es um „the quantity of information which can penetrate into a communication and storage apparatus sufficiently to serve as the trigger for action.“478 Der Schwerpunkt in den Performances Stelarcs liegt in der Bewegung von Mensch und Maschine. Sprache in Form von Befehlen spielt angesichts dessen weniger eine Rolle als die Rückkopplung von Bewegung. Diese Bewegungen werden zum Beispiel bei den Ping Body-Performances auch über zufällig zusammengesetzte Daten aus dem Internet gesteuert479. Abgesehen vom Movatar haben die bisher genannten Maschinen Stelarcs auch keine Form von Erinnerungsvermögen, durch das sie Bewegung in Form von Erinnerung in sich aufspeichern und verarbeiten könnten480. Auf der anderen Seite beschäftigt sich Stelarc aber auch mit dem Phänomen der Intelligenz und den Möglichkeiten des Erlernens von kommunikativen Fä-

477 Wiener 1954, S. 75f. 478 Wiener 1954, S. 94. 479 „In Ping Body, Digital Aesthetics, Sydney 1996, instead of people from other places activating the artist, Internet data moves the body“; Stelarc 2002b, S. 27. Zu den Ping Body Performances, siehe auch Popper 2007, S. 255. 480 Näheres hierzu siehe 4.3.1 ,Befehle, Feedback, Lernen’,S. 311f., bzw. http://stelarc.org/?catID=20218.

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higkeiten. Von diesem Versuch zeugt der Prosthetic Head, der auf einer virtuellen Rekonstruktion von Stelarcs Kopf basiert: „The aim was to construct an automated, animated and reasonably informed artificial head that speaks to the person who interrogates it. The PROSTHETIC HEAD project is a 3D avatar head, somewhat resembling the artist, that has real time lip-synching, speech synthesis and facial expressions. Head nods, head tilts and head turns as well as changing eye gaze contribute to the personality of the agent and the non-verbal cues it can provide. It is a conversational system which can be said to be only as intelligent as the person who is interrogating it. There is an attempt to make the Prosthetic Head more creative in its responses.”481

Der virtuelle Kopf Stelarcs besitzt die Fähigkeit, mit einem Menschen ein Gespräch einzugehen und auf Fragen zu antworten482. Stelarc kann die Antworten des Prosthetic Heads nicht steuern und setzt sich auch der Gefahr aus, dass dieser Antworten gibt, die er selbst nicht geben würde483. Sein zweites virtuelles Ich ist damit von ihm und seinem Denken unabhängig. Der Prosthetic Head soll durch die Menschen, die ihn befragen, lernen. Verantwortung für etwaige Aussagen des Prosthetic Head gibt Stelarc vollständig an die Maschine ab484. Damit verweigert sich Stelarc der Feststellung Turings, dass die Intelligenz einer Maschine immer auf ihren Schöpfer zurückführbar ist485. Zur Überprüfung der Intelligenz von Maschinen hat Turing das ImitationGame486 erfunden beziehungsweise den nach ihm benannten Turing Test487. Bei diesem Test stellt ein Mensch über den Computer Fragen sowohl an einen ande-

481 http://stelarc.org/?catID=20241. 482 Über die Bedeutung von Interaktion, bzw. Aktion und Wahrnehmung für Roboter unter Berücksichtigung des Prosthetic Head siehe Kroos/Herath/Stelarc 2012. Zum Prosthetic Head siehe auch Kroker/Kroker 2005, S. 72. 483 „It will learn from the conversations that it has. So after a couple of years I won’t be able to take responsibility for what my Head says; oh, oh.“ http://www.readersvoice.com/interviews/2003/04/performance-artist-stelarc-interviewed/. 484 http://www.readersvoice.com/interviews/2003/04/performance-artist-stelarc-intervie wed/. 485 „In so far as a machine can show intelligence this is to be regarded as nothing but a reflection of the intelligence of its creator.“ Turing 2013d, S. 411. 486 Turing 2013c, S. 441ff. 487 Christian 2011, S. 4f.

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ren Computer als auch an einen Menschen. Der Befrager hat keine Informationen darüber, wer ihm welche Antworten gibt, ob Mensch oder Maschine und muss selbst eine Entscheidung darüber treffen. Über die Bedeutung des Erlernens von Maschinen durch den Menschen hinaus werden mit diesem Test die Fähigkeiten und Unterschiede von Mensch und Maschine offenbar488. Allerdings geht es bei letzteren um die Feststellung, inwiefern durch technische Neuerungen eine Angleichung zwischen beiden stattgefunden hat. Für Turing ist Grundvoraussetzung für die Entwicklung der Maschine ein entsprechender Speicher mit „unlimited store“489, um Informationen dauerhaft aufnehmen und verarbeiten zu können. In seiner Beschäftigung mit der Erweiterung des klassischen logischen Systems verfolgt Günther das Ziel, die Bedeutung der Reflexion hervorzuheben490. Er veranschaulicht allerdings nicht nur die verschiedenen Reflexionen von Subjekt und Objekt, sondern auch die verschiedenen Stufen der Reflexionen in Bezug auf die Entstehung und Entwicklung von Subjektivität und Selbstbewusstsein. Letztlich unterscheidet er dabei wiederum drei Reflexionsstufen491. Auf der „nullte[n] R-Stufe“492 reflektiert das Ich die Welt, wodurch ihm das Sein selbst offenbar wird. In diesem Zusammenhang bleibt das Ich ein Objekt gegenüber der Welt, gegenüber der es sich selbst nicht als Erlebendes wahrnimmt. Durch die Rückverbindung auf die ,nullte Reflexionsstufe‘ gewinnt das Ich ein Wissen über das eigene Selbst auf der „ersten Reflexionsstufe“ und lernt „,Sein‘ und ,Bewußtsein‘ zu unterscheiden.“493 Allerdings stehen sich nach Günther erst auf der ,zweiten Reflexionsstufe‘ Subjekt und Objekt gegenüber, denn hier lernt das Subjekt „Erleben und Erlebtes“494 und damit, sich selbst vom erlebten Gegenstand zu unterscheiden, aber auch, dass es sich dabei um eine „unmittelbare[...] Erfahrung“495 handelt. Für Günther wird durch die Wiederholungen der Reflexion auf die vorherige Stufe deutlich, dass diese Relationen unendlich wiederholt

488 So geht beispielsweise der zur Repräsentation der Menschen zum Turing-Test geladene Brian Christian der Frage nach: „how human I am“; Christian 2011, S. 8. 489 Turing 2013c, S. 445f. Siehe auch Folgendes und Turing 2013a, S. 501. 490 Näheres hierzu siehe unter 4.2.4 ,Vermittlung von Ich und Du mittels Maschine‘, S. 295ff. 491 Siehe Günther 1976, S. 49f. 492 Günther 1976, S. 49. 493 Günther 1976, S. 50. 494 Günther 1976, S. 53. 495 Günther 1976, S. 53.

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werden, aber ab der zweiten Reflexionsstufe kein „höherer Allgemeinheitsgrad“496 erreicht werden kann. Eine Definition von Selbstbewusstsein ist damit nach Günther unerreichbar. Dennoch fasst er diese unendliche Reflexionsmöglichkeit zu einer Totalität zusammen, die er als ,dritte Reflexionsstufe’ 497 bezeichnet. „In dieser Idee der Totalität der introszendenten Unendlichkeit einer vor jedem Zugriff in immer tiefere Schichten der Reflexion zurückweichenden Subjektivität reflektiert das Selbstbewußtsein auf sich selbst und definiert so das Ich als totale Selbstreflexion.“498

In der kybernetischen Theorie Wieners wird das ,Feedback‘ als eine Verarbeitung von Information und entsprechend darauf abgestimmte Handlungen als grundlegend angesehen499. Damit wird ein Prozess umschrieben, den Günther in seinen Reflexionsstufen zu vereinen sucht. Es wird deutlich, dass die technischen Möglichkeiten, auf die Turing verweist, in diesem Zusammenhang nicht unerheblich sind. Mit „unlimited store“ 500 scheinen unendliche Folgen von Feedback möglich. Und doch der letzte Rest bleibt für die Maschine scheinbar in unerreichbarer Ferne: der Besitz von eigenem Bewusstsein. Dieses scheint, folgen wir Günther, allein in seinem Schöpfer – dem Menschen – auffindbar und damit bliebe das Bewusstsein immer der Maschine äußerlich501. Auf diese Weise begegnet auch Stelarc in seinen Performances der Maschine: Er ist das Zentrum, um und für welches sich die Maschinen bewegen oder auch ‚denken’502. Und dennoch ist mit der ,kybernetischen‘ oder „nicht-archimedischen Maschine“, von der Günther spricht, die Idee einer Maschine verbunden, „die solche Arbeitsvorgänge dirigiert und ,kritisch‘ steuert“503 und damit „Information verarbeitet und dieselbe in Steuerungsimpulsen dann an die klassische Maschine

496 Günther 1976, S. 53. 497 Siehe Günther 1976, S. 58. 498 Günther 1976, S. 57. 499 Siehe 4.3.1 ‚Befehle, Feedback, Lernen’, S. 309, bzw. siehe Wiener 1954, S. 33. 500 Turing 2013c, S. 445. Siehe auch Folgendes. 501 Siehe Günther 2002, S. 216. 502 Näheres hierzu siehe 4.3 ‚Steuerung‘, S. 307. 503 Günther 1976, S. 95.

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weitergibt.“ 504 Insofern produziert eine Maschine Arbeit, während mit der ,Neueren‘ Informationsweitergabe verbunden ist505. Günther betont die Unmöglichkeit der Maschine, Selbstbewusstsein zu besitzen, denn „die Konstruktion eines Robots muß in einer Sprache erfolgen, die relativ zu der Sprache, in der ein Robot ,denkt‘, eine Metasprache ist.“ 506 Das heißt, dass der Mensch in der Lage sein müsste, für die Maschine eine Sprache zu entwickeln, die in der Lage ist, Aussagen über Ich und Du zu machen, damit wiederum die Maschine ein Verständnis dafür erlangen könnte, was es bedeutet, von sich selbst zu sprechen. „Wenn beide die gleiche Sprache sprächen, dann wären Schöpfer und Geschöpf einander geistig ebenbürtig. Dies ist absurd.“507 Die Möglichkeit von Bewusstsein schließt Günther jedoch nicht aus, wenn er die Weitergabe von Information innerhalb eines „feedback-system[s]“508 durch die Maschine anstrebt, denn aus einem solchen entsteht Bewusstsein. „Jedenfalls hat sich noch niemand unter Bewußtsein etwas anderes vorstellen können als Information (Erlebnissinn), die sich in einer sinnhaft modifizierten Weise auf sich selber bezieht und dadurch von sich selber weiß.“509 Die Erfahrung von Selbstbewusstsein bleibt der Maschine in Günthers Theorie also verwehrt. Statt dessen befindet sie sich mit ihrem Schöpfer zusammen in einem „logische[n] System“510. Turing versucht, die Frage nach dem Bewusstsein511 und dem Selbstbewusstsein nicht überzubewerten, da wir, wie auch Günther feststellt512, auch gegenüber einander schwer zu Aussagen in Bezug auf das Selbstbewusstsein kommen können. „Instead of arguing continually over this point it is usual to have the polite convention that everyone thinks.“513 Und die Fähigkeit zu denken, auch in Bezug auf sich selbst, besitze mit Einschränkungen auch die Maschine:

504 Günther 1976, S. 96. 505 Siehe Günther 1976, S. 97. 506 Günther 1976, S. 98. 507 Günther 1976, S. 98, bzw. Günther 2002, S. 213. 508 Günther 1976, S. 104f. 509 Günther 1976, S. 105. 510 Günther 1976, S. 107. 511 Siehe Turing 2013c, S. 452f. 512 Siehe Günther 2002, S. 79. 513 Turing 2013c, S. 452.

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„It may be used to help in making up its own programmes, or to predict the effect of alterations in its own structure. By observing the results of its own behaviour it can modify its own programmes so as to achieve some purpose more effectively.”514

Verschiedene Stufen von Reflexionsvorgängen, Feedback-Systeme, werden in Maschinen immer weiter ausgebaut 515 . Technische Voraussetzungen, wie Rechenleistungen und Speicherkapazitäten spielen dabei eine wichtige Rolle, denn sie sind die technische Wiederholung, der körperlichen menschlichen Grundvoraussetzungen516.

4.3.3 ,Selbstständig‘ agierende Maschinen Auf diese Weise führen Ideen im Hinblick auf die Möglichkeiten des Lernens von Maschinen zu Maschinen, die selbstständig oder auch unabhängig vom Menschen handeln und denken sollen. In diesem Zusammenhang entstehen Fragen gegenüber der Selbstständigkeit und Unabhängigkeit des Menschen und damit, inwiefern von fremd- und eigenbestimmtem Handeln und Denken des Menschen gesprochen werden kann. Mit dem Walking Head Robot hat Stelarc eine Maschine geschaffen, die, vergleichbar mit dem Prosthetic Head, unabhängig von ihm agiert. Allerdings ist im Gegensatz zum Prosthetic Head, auf dem LCD Bildschirm des Roboters nicht Stelarcs Gesicht zu sehen. Während Stelarc als Körper in den Performances mit dem Exoskeleton und der Muscle Machine beteiligt ist, stellt der Walking

514 Turing 2013c, S. 454f. 515 Hofstadter forscht auf dem Gebiet der Programmierung von Artifizieller Intelligenz und resümiert: „Obgleich ich damit einverstanden bin, daß AI auf diese Weise stratifiziert werden muß, glaube ich nicht, daß mit so wenig Schichten intelligente Programme erzeugt werden können. Zwischen der Stufe der Maschinensprache und dem Niveau, auf dem wirkliche Intelligenz erreicht ist, liegen nach meiner Überzeugung vielleicht noch einmal ein dutzend (oder mehrere Dutzend!) Schichten, wobei jede neue Schicht auf den darunter liegenden aufbaut und deren Flexibilität steigert. Wie sie aussehen werden, das können wir uns heute kaum träumen lassen...“ Hofstadter 1996, S. 322. 516 An dieser Stelle sei noch einmal die Bedeutung des von Steele eingeführten Begriffs ,bionics‘ erwähnt. Mit diesem Begriff verbindet Steele „applying biological principles in the aid of machine design.“ Steele 2009, S. 56.

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Head Robot eine Maschine dar, deren Bewegungen vorprogrammiert, aber in Reaktion auf hinzukommende Personen ablaufen. „The WALKING HEAD is a 2m diameter 6-legged autonomous walking robot. Vertically mounted on its chassis is an LCD screen imaging a computer generated human-like head. The LCD screen can rotate from side to side. The robot has a scanning ultra-sound sensor that detects the presence of a person in front of it. It sits still until someone comes into the gallery space – then it stands, selects from a set of movements from its library of preprogrammed motions and performs the choreography. It then stops and waits until it detects someone else.”517

Mit dieser Programmierung sollen die Fähigkeiten des Roboters allerdings noch nicht beendet sein. „The Walking Head robot will become an actual-virtual system in that its mechanical leg motions will actuate its facial behaviours of nods, turns blinks and its vocalizations. Other possibilities include the robot being driven by its web-based 3D model with a menu of motion icons that can be pasted together and played. The robot is pneumatically actuated. The WALKING HEAD is a work in progress.”518

Der Roboter befindet sich also noch in einem ,Entwicklungsprozess‘, der sowohl seine emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten als auch seine möglichen Bewegungsleistungen betrifft. Beides soll aufeinander abgestimmt werden. Angestrebt wird mit ihm auch die Idee, dass seine Bewegungen, vergleichbar mit dem Movatar oder dem Prosthetic Head, durch Verbindungen zwischen realer und virtueller Welt erzeugt werden. „Learning, like more primitive forms of feedback, is a process which reads differently forward and backward in time.“519 Ein Lernen beinhaltet für Wiener immer eine Form von Bezug zu einer Erfahrung, auch wenn die Maschine mit ihren vorprogrammierten Handlungen oder Choreografien sich lediglich zu wiederholen scheint. Wenn Wiener feststellt: „In the living organism as in the universe itself, exact repetition is absolutely impossible“520, könnte dieser Gedanke auch auf wiederholte Handlungen von Maschinen übertragen werden. Ob

517 http://stelarc.org/?catID=20244. 518 http://stelarc.org/?catID=20244. 519 Wiener 1954, S. 48. 520 Wiener 1954, S. 48.

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Reflexion im Menschen oder in der Maschine, in beiden Fällen wären Denken und Handeln miteinander verbunden und würden von einem erlernten Verhalten zeugen. Nicht nur Maschinen gehorchen konkreten Befehlen. Wie Wiener verdeutlicht, hat auch der Mensch sich selbst Gesetze auferlegt, denen er zu folgen sucht, um das Zusammenleben in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten521. Diese Gesetze müssen, so Wiener, einerseits der Wahrung der Gesellschaft, andererseits der Freiheit des Einzelnen derart dienen, dass sie mit Leichtigkeit befolgt werden können. „Thus the problems of law may be considered communicative and cybernetic – that is, they are problems of orderly and repeatable control of certain critical situations.“522 Sowohl in der Gesellschaft als auch in der Kybernetik ginge es damit um Weitergabe von Information, um die Ordnung aufrecht zu erhalten und gleichzeitig notwendige Kontrolle auszuüben. Mit diesen Gesetzen sind Verhaltensweisen definiert, nach denen sich der Mensch zu richten hat. Allerdings lautet ein weiterer Einwand gegenüber der Artifiziellen Intelligenz, dem Turing zu entgegnen sucht, dass nicht alle Variationen von Verhaltensweisen des Menschen durch Regeln festgelegt werden können. Er unterscheidet dafür „rules of conduct“ und „rules of behavior“523. Während erstere von Menschen gemachte Gesetze zur Regelung von Verhaltensweisen darstellen („,Stop if you see red lights,’“524), beziehen sich letztere auf direkte Reaktionen des Körpers („,if you pinch him he will squeak‘“525). Turings Argumentation legt an einem möglichen Umtauschverhältnis dieser Regeln an, von denen der Mensch ausgeht, dass sie sich in einem Mischverhältnis befinden. „For we believe that it is not only true that being regulated by laws of behaviour implies being some sort of machine [...], but that conversely being such a machine implies being regulated by such laws.“526 Dennoch bleibt auch nach Turing vor allem die Schwierigkeit, einen wissenschaftlichen Beweis für oder gegen die Existenz der ,laws of behavior‘ zu entdecken527.

521 Siehe Wiener 1954, S. 105f. 522 Wiener 1954, S. 110. 523 Turing 2013e, S. 457. 524 Turing 2013e, S. 457. 525 Turing 2013e, S. 457. 526 Turing 2013e, S. 457. 527 Siehe Turing 2013e, S. 457.

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Mit diesen Fragen ist man wie Freud es einmal ausgedrückt hat „unversehens in den Hafen der Philosophie Schopenhauers eingelaufen“528, denn sie implizieren die Möglichkeit des freien Willens. Während uns der Mensch als frei in seinen Entscheidungen erscheint, ist die Maschine determiniert. Für Turing gibt es zwei Möglichkeiten: „It may be that the feeling of free will which we all have is an illusion. Or it may be that we really have got free will, but yet there is no way of telling from our behaviour that this is so.“529 Demgegenüber scheint der Mensch sich auch die Frage stellen zu können, ob ihm, angesichts seiner Gegenüberstellung zu Maschinen oder Tieren, die Bedeutung seines Willens ,offenbar‘ wird, oder er ihn sich explizit aneignet. Ob er reine Einbildung oder faktische Möglichkeit des Menschen sein sollte, feststeht, dass sich nach diesen Theorien über den ,freien Willen‘ genauso schwer Aussagen treffen lassen wie über das Selbstbewusstsein. Auch wenn Günther die Möglichkeit der Maschine Selbstbewusstsein zu besitzen verneint530, zieht er doch ähnliche Schlüsse im Hinblick auf die Unterscheidung von ,Selbst-‘ und ,Fremdprogrammierung‘. „Wären wir fähig, eine solche Definition zu leisten, dann ließe sich [...] eine sich selbst programmierende (handelnde) Maschine konstruieren.“531 Der Vorschlag Turings, ein mechanisches Gehirn mit einem „roulette wheel or a supply of radium“532 zu bestücken, erinnert nicht nur an Stelarcs Umgang mit dem Prosthetic Head, sondern zieht die Fähigkeit des freien Willens letztlich in den Bereich des Unerreichbaren. Und dennoch wird mittels Turings Aussagen eines deutlich: Es ist in unserer Wahrnehmung von Bedeutung „that a machine which is to imitate a brain must appear to behave as if it had free will“533. Insofern die Maschine diesen Anschein gleich einem Menschen erwecken sollte, kommt es womöglich auch auf die jeweilige Einstellung an, mit der wir der Maschine begegnen.

528 Es sei allerdings angemerkt, dass diese Aussage Freuds im Zusammenhang mit ,Todes- und Sexualtrieben‘ steht. Freud 2007, S. 234. 529 Turing 2013b, S. 484. 530 Siehe 4.3.2 ,Sprache, Reflexion und Bewußtsein‘, S. 316f. 531 Günther 1979, S. 169. Günther verweist an dieser Stelle auf W. Pitts und W. S. McCulloch. 532 Turing 2013b, S. 484. 533 Turing 2013b, S. 484.

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4.3.4 Kunst, Wissenschaft, Gesellschaft und Religion Bereits anhand der Verbindung von Experiment, Mathematik und Kunst wurde auf Gemeinsamkeiten zwischen Kunst und Wissenschaft hingewiesen534. Allerdings wurde auch die Bedeutung der Religion für die Erkenntnis der Wissenschaft angesprochen und die Gesellschaft durch die Hervorhebung der Frage nach fremdbestimmtem und selbstbestimmtem Handeln durch von außen auferlegte Gesetze und mögliche eigenständige Entscheidungen thematisiert. Angesichts der Vielfalt von Bereichen, die mit dem Schaffen Stelarcs berührt werden, erscheint es notwendig, mögliche Verbindungen darzustellen, aber auch Grenzen derselben hervorzuheben. Stelarc sieht den Künstler als Wegbereiter zu einer möglichen Evolution. „The artist can become an evolutionary guide, extrapolating new trajectories; a genetic sculptor, restructuring and hypersensitizing the human body; an architect of internal body spaces; a primal surgeon, implanting dreams, transplanting desires; an evolutionary alchemist, triggering mutations, transforming the human landscape.”535

Künstler sind nach Stelarc frei in der Wahl ihres Materials und in ihrem Umgang mit demselben. So liegt es in seinem Interesse, sich in Zwischenräumen zu bewegen. „I‘m much more interested in what happens between states, between people – not so much at the boundary but between boundaries. And to question what constitutes boundaries, to undermine them altogether.“536 Aber gerade eine Verbindung von Technik und Kunst scheint auch Gefahren hinsichtlich der weiteren Nutzung von Ideen in sich zu bergen. Stelarc steht diesen Bedenken allerdings unaufgeregt gegenüber. „No I don‘t think there‘s anything inherently dangerous about these things. But of course if we manufacture technology as military armaments or military machines, of course that technology can be used for dangerous actions. [...]. But even given that some technologies do begin as military devices, that doesn‘t mean that artists can‘t undermine and subvert and reuse these technologies in creative ways, that might have much more lasting and interesting spin-offs.”537

534 Näheres hierzu siehe 4.1.2 ,Kunst als wissenschaftliches Experiment‘, S. 260ff. 535 Stelarc 1984a, S. 76. 536 Zylinksa/Hall 2002, S. 117. 537 http://www.t0.or.at/stelarc/interview01.htm.

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Angst vor militärischem Missbrauch seiner Kunst kennt Stelarc nicht. Trotzdem erscheint ein solcher Nutzen sowohl im Hinblick auf die Physik als auch für das Gebiet der Kybernetik nicht einfach abzuweisen. Hinzukommt, dass Stelarc in Bezug auf Kunst aus politischer und persönlicher Motivation feststellt: „Now, can you be something other than purely personal or purely political? In the realm of human activity one can well argue you can‘t. You‘re either being personal or political, or both, but you can‘t be neither.“538 Angesichts dessen erscheint jegliche Handlung in einem Dunstkreis aus persönlichem und politischem Interesse. Unklar bleibt in jedem Fall immer, wie Kunst interpretiert wird. Das ist so lange kein Hindernis, als sie nicht über sich hinaus verwendet oder als Inspiration genutzt werden kann. Heisenberg sieht mit der Veränderung der Physik als Wissenschaft und ihren Hervorbringungen auch die Notwendigkeit, die Rolle des Physikers und Wissenschaftlers zu verändern. Seine Aussagen machen deutlich, dass es einerseits schwierig sein kann, den Physiker als Erzeuger von militärischer Technik aktiv in das politische Geschehen einzubinden und zur Verantwortung zu ziehen. Andererseits scheint er sich aber auch nicht mehr ohne Weiteres mit der Abgabe seiner Arbeit zufriedenzugeben und sie den Händen einer anderen Gewalt überlassen zu können. Heisenberg versucht einen Mittelweg zu gehen: „Offenbar ist es die Pflicht der Physiker, ihre Regierungen über das ganz unvorstellbare Ausmaß der Zerstörung zu informieren, das in einem Krieg mit thermonuklearen Waffen folgen würde.“ 539 Damit bliebe die Wissenschaft weiterhin auf ihrem Gebiet des Experiments und der Forschung, aber nicht ohne die Aufgabe, eine aktive Form der Aufklärung im Hinblick auf die von ihr geschaffene Technik zu betreiben. Stelarcs eigene Moral erscheint nicht explizit540. Er weckt den Anschein, sich jeglicher Einordnung entziehen zu wollen, ob im politischen oder auch religiösen Sinne. Und doch wird durch seine Aussagen über seine Kunst eines deutlich: Sein Bestreben, nach Möglichkeiten zur Verbindung zwischen Menschen zu suchen, seine Offenheit gegenüber technischen Veränderungen und der Entdekkung neuer Universen, ist auf Frieden und Verständigung begründet541. In erster Linie übernimmt Stelarc in seiner Performance-Kunst die Verantwortung für

538 http://www.t0.or.at/stelarc/interview01.htm. 539 Heisenberg 2011, S. 269. 540 Zu einer Einschätzung im Hinblick auf Stelarc Suspension Performances und die Performance Ping Body im politischen Diskurs, siehe Kershaw 2003, S. 607f. 541 Siehe z.B http://www.digicult.it/digimag/article.asp?id=1641.

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sich selbst542 und kann deshalb in erster Linie als Vertreter der eigenen, persönlichen Interessen gesehen werden. Politisch wird er womöglich dann, wenn er mit dem Aufzeigen der Möglichkeiten des Austauschverhältnisses zwischen Mensch und Maschine auch andere Individuen zur individuellen Gestaltung ermutigen will und sich als Künstler, als „evolutionary guide“543 betrachtet544. Darüber hinaus überlässt Stelarc nicht unkommentiert seine Kunst einem Publikum, sondern die Theorie zu seinen Projekten und Performances nimmt eine bedeutende Stellung in seinem Schaffen ein545. Allerdings ist Stelarcs Kunst auch Sinnbild für einen modernen Umgang mit dem Religiösen, wie ihn Heisenberg in Bezug auf die Entwicklung der Religion und der Abwendung von der Vorstellung von Gott feststellt. „Für einen Teil der Menschheit ist die Abkehr von den bisherigen Religionen offenbar nur die Vorbereitung, um neue Bindungen einzugehen“546. Diesen steht Heisenberg vor allem in Bezug auf politische Bewegungen seiner Zeit skeptisch gegenüber. Auf der anderen Seite nennt er die Ersetzung der Religion durch die „andere objektive Realität“547, die mit technischen Entwicklungen der Wissenschaft in der Neuzeit verbunden ist. Auch sie deutet auf „die ewigen Gesetze, nach denen die objektive Welt abläuft“548, jedoch fehlen ihr ,Mythos‘ und ,schöpferische Kräfte‘, weshalb sie dem Menschen zu wenig Schutz im Vergleich zur Religion bietet549. Deshalb schließt Heisenberg, dass die Religion durch die Objektivität der Realität nicht ersetzt werden kann. „Vielmehr wird sich dann eine andere Sprache gebildet haben, in der wieder die Kräfte ausdrücklich benannt werden, die durch unsere Seele hindurch die Welt verwandeln.“550 Für Stelarc ist die Freiheit der Kunst ein entscheidendes Argument in der Abgrenzung zur Wissenschaft.

542 Siehe http://web.stanford.edu/dept/HPS/stelarc/a29-extended_body.html; bzw. 4.1.2 ‚Kunst als wissenschaftliches Experiment‘, S. 261. 543 Stelarc 1984a, S. 76. 544 Und so resümiert Ernst über Stelarc: „Was ihn interessiert, ist die Funktion, die Möglichkeit der Gestaltung.“ Ernst 2003, S. 204. 545 Näheres hierzu siehe 4.0.4 ,Projekt, Performance, Theorie, Experiment‘, S. 245. 546 Heisenberg 1989, S. 161. 547 Heisenberg 1989, S. 161. 548 Heisenberg 1989, S. 162. 549 Siehe Heisenberg 1989, S. 162. 550 Heisenberg 1989, S. 163.

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„Art should be an unstable interpretation of the world that opens for further appropriations and further unfolding in unexpected directions. This is not the agenda of science which tends to be somehow more utilitarian and much more methodic in its research approach. [...]. It‘s better if they will stay away from each other. What connect[sic!] artists and scientist[sic!] is just technology. But they use technology in different ways.“551

Während die Wissenschaft also bereits durch ihre kontrollierteren Methoden auf einen konkreten Zweck ausgelegt scheint, könne es sich die Kunst erlauben, immer wieder Fragen zu stellen, ganz ohne dabei einen Nutzen im Blickfeld haben zu müssen. Aus diesem Grund ist Stelarc für eine deutliche Trennung zwischen Kunst und Wissenschaft552. Im Hinblick auf die Forschung im Bereich Artifizielle Intelligenz wird es jedoch schwerer, zur Kunst eine Grenze zu ziehen553. Bereits Aussagen von Heisenberg in Bezug auf die Veränderungen in der Physik haben diese Grenzen zum Wanken gebracht554. Als Folge der Beschreibung Turings, seiner Methode des Experiments scheinen die Grenzen zwischen beiden Bereichen endgültig neu überdacht werden zu müssen. „Machines take me by surprise with great frequency. This is largely because I do not do sufficient calculation to decide what to expect them to do, or rather because, although I do a calculation, I do it in a hurried, slipshod fashion, taking risks. [...]. Naturally I am often wrong, and the result is a surprise for me for by the time the experiment is done these assumptions have been forgotten. These admissions lay me open to lectures on the subject of

551 http://www.digicult.it/digimag/article.asp?id=1641. 552 Allerdings kann dies wie mit Grand deutlich wird, auch bedeuten, dass die Kunst auch etwas zu der Methode der wissenschaftlichen Forschung beitragen kann: „Künstlerische Forschung ist vor allem eine faszinierende Möglichkeit, unhinterfragt Selbstverständliches bezüglich von Kunst und Forschung zu hinterfragen, und damit eine Qualität zu betonen, die Kunst und Forschung eigentlich inhärent ist.“ Grand 2012, S. 269. 553 Über mögliche Verbindungen zwischen Kunst und Wissenschaft – vor allem im Hinblick auf die ,Biotechnologie‘ siehe Puncer 2008, S. 469ff. Mit einem Schwerpunkt von Verbindungen zwischen Kybernetik und Performance siehe Birringer 2007, S. 22f. 554 Näheres hierzu siehe 4.1.2 ,Kunst als wissenschaftliches Experiment‘, S. 261f.

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my vicious ways, but do not throw any doubt in my credibility when I testify to the surprises I experience.”555

Turing lässt sich bei seinen Versuchen ,überraschen‘. Er erwartet kein konkretes Ergebnis, sondern überlässt sich vielmehr dem Ungewissen. Vielleicht liegt darin gerade das Geheimnis: Im Zulassen des eigenen menschlichen Unergründlichen gegenüber der Maschine kann es auch in ihr ausgelöst werden. Auch wenn dies als Wunschvorstellung Turings erscheinen mag, verweist er doch darauf, dass der Mensch am Ende selbst nicht weiß, inwieweit er sich seine Macht in Bezug auf Fähigkeiten des Bewusstseins selbst zuschreibt und inwieweit er sie tatsächlich besitzt. Einen ähnlichen Gedanken scheint auch Günther zu haben, wenn er feststellt: „Die Kybernetik indes wird erst dann ihre wahre Gestalt finden, wenn sie sich selbst als die Wissenschaft erkennt, die nach dem greift, was verborgen ist.“556

4.3.5 Natur – Kultur und die Veränderung des Mensch-Seins Mit der Untersuchung der Bereiche Erweiterung, Vernetzung und Steuerung, in denen Mensch und Maschine verschiedene Formen von Beziehungen und Austauschverhältnissen eingehen, wurden nicht nur verschiedene Ideen und Konzepte zur Erschaffung von intelligenten Maschinen dargestellt, sondern es wurde auch immer wieder deutlich, dass der Mensch zur Entwicklung von Maschinen seine eigenen Erfahrungen gegenüber sich selbst und anderen Menschen einsetzt sowie die Tatsache, dass die Projektion des Menschen in das Objekt Maschine oder die darin verborgenen Möglichkeiten auch zu einem veränderten Verständnis sich selbst gegenüber führen. Dies betrifft seinen Umgang mit seinem Körper sowie seinem Denken und führt zu der Fragestellung, an welcher Stelle sich die Grenzen von Natur und Kultur am Menschen befinden, die ihn über das MenschSein versichern. In der Kultur fasst der Mensch alle seine Mittel zur Gegenüberstellung der Natur zusammen, der er ansonsten schutzlos ausgeliefert wäre.

555 Turing 2013c, S. 455f. 556 Günther 2002, S. 284.

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„In dieser Bedürftigkeit oder Nacktheit liegt das Movens für alle spezifisch menschliche, d.h. auf Irreales gerichtete und mit künstlichen Mitteln arbeitende Tätigkeit, der letzte Grund für das Werkzeug und dasjenige, dem es dient: die Kultur.“557

Für Plessner ist der Mensch angesichts der Natur einem Ungleichgewicht ausgesetzt, das sich auch in ihm selbst durch seine „exzentrische[…] Lebensstruktur“558 widerspiegelt. Zu einer Organisation und Ordnung, um zu vermitteln, was ihm von Natur aus fehlt, gelangt der Mensch durch Arbeit 559 : „Nur weil der Mensch von Natur halb ist und (was damit wesensverknüpft ist) über sich steht, bildet Künstlichkeit das Mittel, mit sich und der Welt in‘s Gleichgewicht zu kommen.“560 Folglich besitzt der Mensch einerseits von Natur aus einen Mangel, aber gleichzeitig daneben auch die Fähigkeiten, denselben auszugleichen. Der Mensch folgt für Plessner dem „Gesetz der natürlichen Künstlichkeit“561. Nach Gehlen ist „der Mensch von Natur ein Kulturwesen.“ 562 Es ist ihm grundlegend zu eigen, sich eine „zweite Natur“ zu schaffen, deshalb gibt es „keine menschliche Gesellschaft ohne Waffen, ohne Feuer, ohne präparierte und künstliche Nahrung, ohne Obdach und ohne Formen der hergestellten Kooperation.“563 Die Existenz des Menschen ist für ihn an die Bedingung der Voraussetzungen in der Natur geknüpft, sich selbst eine Kultur zu schaffen, denn sie ist „der Inbegriff der vom Menschen tätig, arbeitend bewältigten, veränderten und verwerteten Naturbedingungen, einschließlich der bedingteren, entlasteten Fertigkeiten und Künste, die auf jener Basis erst möglich werden.“564 Angesichts der sowohl von Plessner als auch Gehlen postulierten Bedeutung für den Menschen, seine künstliche Wirklichkeit zur Kultur werden zu lassen und sie der Natur entgegenzusetzen, erscheint sowohl der Mensch als auch auch seine Lebenswelt als zum Teil natürlich und zum Teil künstlich. Der Mensch, der wie Gehlen sagt in der „zweite[n] Natur“ lebt, wird sich selbst zum „Thema, und er ist so beschaffen, daß er immerfort an sich selbst Aufgaben findet, deren

557 Plessner 1975, S. 311. 558 Plessner 1975, S. 316. 559 Siehe Plessner 1975, S. 320. 560 Plessner 1975, S. 321. 561 Plessner 1975, S. 309. 562 Gehlen 2009, S. 80. 563 Gehlen 2009, S. 38. 564 Gehlen 2009, S. 39.

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Lösung zugleich ein Fortschritt in seiner Welt ist.“565 In seiner Beschäftigung mit sich geht es dem Menschen, nach Gehlen, sowohl um sein eigenes Selbst, seinen Umgang mit anderen als auch der Welt, aber auch dem Mensch-Sein im Allgemeinen566. Wie der Mensch eine Kombination aus Natur und Kultur darstellt, ist, wie Günther feststellt, auch „[d]as Werkzeug [...] halb Natur und halb Geist.“567 Maschinen bleiben dem Menschen nicht nur als Werkzeuge äußerliches Hilfsmittel, das bestimmte Zwecke erfüllt und letztlich der Kontrolle und Steuerung des Menschen unterliegt. Sie sind sowohl innerliche als auch äußerliche körperliche Erweiterungen des Menschen und dessen Fähigkeiten und könnten ihm einmal als ein von ihm geschaffenes ,Gegenüber‘, als ,objektives Subjekt‘568 vor ihm stehen. Trotz der Gefahren, die nach Samuel Butler von der Maschine für den Menschen ausgehen, betont er die Abhängigkeit des Menschen von der Maschine. „Man‘s very soul is due to the machines; it is a machine-made thing: he thinks as he thinks, and feels as he feels, through the work that machines have wrought upon him, and their existence is quite as much as sine quâ non for his, as his for theirs.”569

In der Maschine liegt für Samuel Butler eine existenzielle Notwendigkeit des Menschen. Für Butler bleibt es allerdings von Bedeutung, die Steuerung der Maschine durch den Menschen hervorzuheben, ihre Fähigkeiten durch die Notwendigkeit im Hinblick auf seinen eigenen Nutzen zu beschränken. Und angesichts dessen stellt sich am Ende noch einmal die Frage, ob es möglich ist, einen Teil der Maschinen zu zerstören und Visionen, die mit der Maschine verbunden sind, aufzugeben. „[E]s ist Aufgabe des Menschen, die Beseelung des Stoffes als seine künftige Weltgeschichte zu wiederholen. Der Odem Gottes ist nur eine Leihgabe, und es liegt dem Menschen ob, sie an die tote Materie weiterzugeben.“570 Nach Günther besitzt nicht nur Gott, sondern auch der Mensch schöpferische Fähigkeiten, die

565 Gehlen 2009, S. 347. 566 Siehe Gehlen 2009, S. 347f. 567 Günther 2002, S. 206. 568 Günther 2002, S. 157. 569 Butler 1985, S. 207. 570 Günther 2002, S. 181.

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er nutzen muss. Dieselben kommen sowohl in der Kunst als auch in der Religion zum Ausdruck571. Bereits in der Plastik macht sich der Mensch ein Bild von sich572. Auf einer anderen Ebene sind diese Bestrebungen in der Erschaffung der Maschine wiederzufinden. Die Idee, der Wunsch des Menschen, sich selbst künstlich zu erschaffen, scheint zu den Anfängen des Mensch-Seins zu gehören573. Mittels der von Günther aufgezeigten Unterscheidung von technischem Handeln 574 in Bezug auf die ,klassische Logik‘ und die Kybernetik verdeutlicht er eine Entwicklung vom Homunkulus hin zur Idee des ,mechanical brain‘. Der Homunkulus basiert auf den Ideen der klassischen Logik, nach der „die Idee des Seins des Seienden unveränderlich vorgeschrieben“ 575 ist. Angesichts dessen kann der Mensch lediglich durch „alchimistische[...] Formeln“ den Prozess der Natur, die nach ihren Regeln den „Reduplikationsvorgang“576 vollbringt, anstoßen. Demgegenüber steht die Idee der Kybernetik, ein ,Robotgehirn‘ zu erschaffen, das selbst zur ,Reflexion‘ imstande ist577. „In der Retorte spielt die Natur mit sich selbst. In der Schöpfung des Elektronengehirns aber gibt der Mensch seine eigene Reflexion an den Gegenstand ab und lernt in diesem Spiegel seiner selbst seine Funktion in der Welt begreifen.“578

Aber kehrt mit dieser möglichen Erkenntnis über sich selbst, so kann gefragt werden, der Mensch nicht wieder zu der klassischen Idee des ,unveränderlichen Wesens des Seins des Menschen’ zurück579?

571 Näheres hierzu siehe 4.3.4 ,Kunst, Wissenschaft, Gesellschaft und Religion‘, S. 322ff. 572 Siehe Reilly 2011, S. 24. 573 „From antiquity to the present, these simulacrums of ‚flesh and blood’, so to speak, put directly before humans the questions of their difference, if any, from machines. Automata presented to all mankind what philosophy had otherwise reserved for the academies.“ Mazlish 1993, S. 31. 574 Siehe 4.2.4 ,Vermittlung von Ich und Du mittels Maschine‘, S. 298f. 575 Günther 2002, S. 198. 576 Günther 2002, S. 199. 577 Die Veränderungen von der klassischen, zweiwertigen Logik zur dreiwertigen Logik in der Kybernetik bei Günther siehe 4.2.4 ,Vermittlung von Ich und Du mittels Maschine’, S. 295ff. 578 Günther 2002, S. 200.

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Wie Günther feststellt, kann gerade diese Auseinandersetzung mit der Maschine den Menschen viel über sich selbst lehren. „Die Erkenntnis erscheint paradox, aber die Maschine bietet sich uns heute als das wirksamste Mittel zur Vergeistigung an, das dem Menschen bisher zur Verfügung gestanden hat.“580 Zu dieser Einsicht wird auch Turing durch seine Arbeit an intelligenten Maschinen geführt. „The whole thinking process is still rather mysterious to us, but I believe that the attempt to make a thinking machine will help us greatly in finding out how we think ourselves.“581 Und doch kommt unweigerlich wieder die Nähe von Kybernetik und Häresie zum Vorschein, vor allem in Erinnerung an die humoristische Einsicht Turings in seine ,teuflischen’ Abgründe582 bei dem Versuch der Erschaffung von intelligenten Maschinen. Aber wie in diesem Zusammenhang mit Günther bereits gezeigt wurde, sollten diese Tätigkeiten nicht als ein Angriff auf Gott oder eine christliche Moral gewertet werden als vielmehr als Notwendigkeit, sich veränderten Umständen in neuen Welten anpassen zu können583. Es ist lebensnotwendig für den Menschen eine Natur vorzufinden, die ihm Raum für seine Kultur bietet. Wohl auch deshalb ist er von Natur aus ,nomadisch‘ und passt dabei gleichzeitig wieder seine Kultur an die vorgefundenen Umstände an584. Diese Anpassung ist mit Clynes' und Klynes Definition des Cyborgs 585 inzwischen bei der Verinnerlichung der Technik, der Veränderung des menschlichen Organismus, um in neuen Räumen leben zu können, angekommen. Stelarcs Interesse gilt sowohl der Anpassung des Körpers an seine Technologie als auch möglichen neuen Lebensräumen 586. Mittels des Begriffs des ,Post-Humanen‘ entwirft Stelarc ein ,Bild‘587 von ,autonomen‘ Individuen.

579 Siehe Zitat weiter oben, bzw. Günther 2002, S. 198. 580 Günther 1980, S. 230. 581 Turing 2013b, S. 486. 582 Turing 2013c, S. 455f. 583 Siehe 4.2.3 ,Erweiterung der Sinne und des Denkvermögens‘, S. 290ff., bzw. Günther 1976, S. XII. 584 „Große Wanderungen in ganz neuartigen Lebensräumen erfordern dann eine Revolution der Kultur, eine völlige Umstellung der Lebenstechniken und Denkmittel, die sich bis zum Religiösen hin zu erstrecken pflegt.“ Gehlen 2009, S. 81. 585 Siehe Clynes/Klyne 2009, S. 30f. 586 Siehe Zylinska/Hall 2002, S. 122, bzw. 4.1 ‚Verinnerlichung von Technik‘, S. 248. 587 „The post-human may well be manifested in the intelligent life form of autonomous images.“ Stelarc 1998, S. 116.

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„EVOLUTION ENDS WHEN TECHNOLOGY INVADES THE BODY. Once technology provides each person with the potential to progress individually in its development, the cohesiveness of the species is no longer distinction but the body-species split.”588

Nach Stelarc ist der Begriff der Evolution nicht mehr auf die Spezies als Ganzer verbunden, sondern beinhaltet die Vorstellung der Freiheit der Modifikation individueller Körper mittels Technologie589. Allerdings ist für Stelarc mit dem Begriff des ,Post-Humanen‘ 590 ebenso wenig der Gedanke an das Ende der Menschheit verbunden wie mit seinem Begriff „the obsolete body“ 591 eine ,Abschaffung des Körpers‘ intendiert ist592. „We have a fear of the zombie and an anxiety of the cyborg, but really it‘s a fear of what we‘ve always been and what we have already become. I‘ve always thought that we‘ve been simultaneously zombies and cyborgs; we‘ve never really had a mind of our own and we‘ve never been purely biological entities.”593

Mit seinen Performances, Projekten und Theorien stellt Stelarc die Frage nach den Möglichkeiten des Mensch-Seins immer wieder neu. „What it means to be human is being constantly redefined. For me, this is not a dilemma at all.“594 Der Mensch ist nach Stelarc, um ein Wort Gehlens zu verwenden: „‚unfertig‘“595. Er besitzt einen Antrieb, sich selbst der Natur im Allgemeinen als auch seiner eige-

588 Stelarc 1998, S. 118. 589 Stelarc betont in einem Artikel die Bedeutung der körperlichen Veränderung im Hinblick auf andere Planeten. Stelarc 1991, S. 592f. 590 In einem Interview beschreibt das ,Critical Art Ensemble‘ seine eigene Vorstellung des Post-Humanen im Hinblick auf Stelarcs Schaffen. Siehe McKenzie/Schneider/CAE 2000, S. 138. 591 Siehe Zylinska/Hall 2002, S. 122. 592 Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass vor allem seine älteren Aufsätze radikaler im Hinblick auf den Begriff des Post-Humanen anklingen. So schreibt er beispiels weise: „THE BODY MUST BECOME IMMORTAL TO ADAPT. Utopian dreams become postevolutionary imperatives. THIS IS NO MERE FAUSTIAN OPTION NOR SHOULD THERE BE ANY FRANKENSTEINIAN FEAR IN TAMPERING WITH THE BODY.“ Stelarc 1991, S. 593. Siehe auch Stelarc 1998, S. 120. 593 Zylinska/Hall 2002, S. 115. 594 http://web.stanford.edu/dept/HPS/stelarc/a29-extended_body.html. 595 Gehlen 2009, S. 10.

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nen Natur zu bemächtigen596. Dabei versucht er nicht nur, sich selbst weiterzuentwickeln, sondern auch in die ihn umgebende Natur einzugreifen. Hilfestellung bietet ihm dabei seine Fähigkeit zur Ausbildung von Werkzeugen, seien diese rein medialer, wie die Sprache, oder auch technischer Art in Form unterschiedlicher Werkzeuge und Maschinen. In diesem Prozess der Anpassung an die Welt oder ihn begegnenden neuen Welten, in dem er sich selbst durch Technik zu verändern sucht, scheint er die Kultur immer mehr auszuweiten, sodass zumindest für diese Welt der Eindruck entsteht, dass mit der Maschine eine weitere Form der Kultur eingeführt wird, die eine Steigerung nicht nur der Künstlichkeit, sondern auch der Rationalität mit sich bringt597. Mit der Erschaffung einer ,Analogie‘ des Menschen in der Maschine ist keine genaue Wiederholung des Menschen verbunden. Einiges, so scheinen wir auch zu hoffen, wird die Maschine nicht leisten können, wie zum Beispiel ein Selbstbewusstsein besitzen598 oder kreativ schöpferisch zu werden599. Allerdings beinhaltet die Verbindung des Menschen mit der Maschine auch die Angst vor einem Verlust dieser Fähigkeiten. „Is it possible to have a personal relationship with someone without being immersed in nostalgia, not driven by desire and expectation, not performing with emotion? What sort of a relationship would that be? A lot of people would say it‘s not a relationship, but I would say: is it possible to try something like that?”600

So befremdlich die Aussage Stelarcs klingen mag, wurde auch deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der Maschine grundlegende Begriffe wie Selbstbewusstsein, Kreativität, Gefühl601, an denen wir unsere Maßstäbe sowohl für uns selbst als auch unsere Kultur festgemacht haben, unter einer veränderten Sicht-

596 Siehe Gehlen 2009, S. 60. 597 Siehe die Entwicklung der Idee des ,Homunkulus‘ zum ,Robotgehirn‘ bei Günther 2002, S. 198f. 598 Siehe Günther 1976, S. 98. 599 „Nur eine Fähigkeit, so wird einstimmig betont, wird man niemals konstruktiv duplizieren können! Es ist die schöpferische Tätigkeit des menschlichen Bewußtseins.“ Günther 1976, S. 103. 600 http://www.t0.or.at/stelarc/interview01.htm. 601 Siehe 4.2.4 ,Vermittlung von Ich und Du mittels Maschine‘, S. 295ff.; 4.3.5 ,Natur – Kultur und die Veränderung des Mensch-Seins‘ , S. 326ff. und 4.2.3 ,Erweiterung der Sinne und des Denkvermögens‘, S. 290ff.

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weise zu betrachten sind. Diese Veränderungen sind nicht nur in Bezug auf die Maschine von Bedeutung, sondern auch, wie Clynes zeigt, für den Menschen, wenn er sich in neuen Lebensräumen niederlassen will, in denen er eine unbekannte Umwelt vorfindet und für die er eine Verbindung mit der Maschine eingeht, um in ihr überleben zu können. Aufgrund des körperlichen Ursprungs der Gefühle spielt die Erforschung derselben auch für Clynes in der Raumfahrt eine bedeutende Rolle. „For each emotion there is a bodily experience, which we call a virtual body image, characteristic of that emotion.“602 Diese körperliche Verbindung der Gefühle ist nach Clynes an unsere natürliche Umgebung angepasst. Unter veränderten Umständen, wie der Schwerelosigkeit, sei der Mensch seiner gewohnten Begegnung mit seinem Körper beraubt und seine emotionale Welt entsprechend verändert. Clynes sieht deshalb die Notwendigkeit, auch Gefühle und ihre körperlichen Auswirkungen zu erforschen, um sie an veränderte Umstände anzupassen. Es geht ihm darum, einen Mittelweg zwischen natürlicher, unbewusster körperlicher Erfahrung und bewusster, künstlicher Beeinflussung zu finden. „Through understanding our uncionscious heritage consciously, we may be able to teach our autonomic systems to live in harmony with our old heritage, as well as with our new exploration of outer, and perforce, inner, space.“603 Die Maschine führt uns vor Augen, dass wir Menschen nicht perfekt sind und dass wir uns über unsere Fähigkeiten nicht gewiss sein können. Wir wissen nicht, welchen Einfluss die Maschinen auf unsere Gefühle und unser Leben haben werden und ob wir sie beziehungsweise sie sich selbst oder wir einander gegenseitig das Fühlen und die Kunst lehren können. Mit der Maschine sind Möglichkeiten verbunden und Gefahren, die ernst genommen werden müssen, die uns aber auch vor Angst nicht handlungsunfähig machen sollten 604 . Es scheint vieles dafür zu sprechen, dass es in unserer Natur liegt, künstlich zu sein605. Dabei erscheinen wir auf unterschiedliche Weise sowohl als ,selbst-‘ als

602 Clynes 2009, S. 40. 603 Clynes 2009, S. 42. 604 „But we need to be cautious and careful, and test every step along the way, as surely will be done. I only wish I could be alive a couple of hundred years from now just for a week or two just to see what will be done. Maybe I‘ll freeze myself.“ Clynes 2009, S. 50. 605 Siehe 4.3.5 ‚Natur – Kultur und die Veränderung des Mensch-Seins’, S. 327f., bzw. siehe Plessner 1975, S. 321 und Gehlen 2009, S. 38f.

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auch als ,fremdgesteuert’606. Von Bedeutung ist womöglich immer wieder neu, ein auf Ausgleichung beruhendes Mischverhältnis zwischen Natur und Kultur zu finden. „Technology has always been coupled with the evolutionary development of the body. Technology is what defines being human. It‘s not an antagonistic alien sort of object, it‘s part of our human nature.“607

606 Zur ,Programmierung‘ siehe Günther 1979, S. 169. Über die Notwendigkeit von Gesetzen in der Gesellschaft siehe Wiener 1954, S. 105f. Und zu unterschiedlichen Formen von Regeln siehe Turing 2013c, S. 457. Bzw. siehe 4.3.3 ‚,Selbstständig’ agierende Maschinen’, S. 316ff. 607 http://web.stanford.edu/dept/HPS/stelarc/a29-extended_body.html.

5. Performance-Kunst als Technik zur Gestaltung einer Lebensform

Auf unterschiedliche Weise haben die hier dargestellten Künstler ein Konzept und mit ihm, einen allgemeinen Rahmen, eine Form, der für ihre PerformanceKunst eine thematische Grenze bedeutet, gesetzt. Innerhalb desselben generieren sie sowohl Ideen und Theorien und übertragen dieselben immer wieder in die Praxis. Im Folgenden wird zu fragen sein, inwiefern sie dabei nicht nur eigene Techniken entwickeln, sondern auch im Überschreiten von gesellschaftlichen Normierungen und der Gegenüberstellungen der individuellen, künstlerischen Bestrebungen eigene Formen von Moral hervorbringen. Denn trotz ihrer subjektiven Sicht, dem Verfolgen individueller Bedürfnisse scheinen sie die allgemeine Bedeutung ihrer Erforschungen für den Menschen nicht auszuschließen sowie die Konsequenzen, den Nutzen und den Wert derselben nicht ohne eine Bezugnahme anderer Menschen zu reflektieren und auf diese Weise eine Ethik durch ihre Theorien und Praktiken zu verinnerlichen, die ihr Denken und Handeln bestimmt. Um Ergebnisse der unterschiedlichen Bereiche Alltag und Religion, Ich und Anderer, Mensch und Maschine zusammenzufassen, werden anhand von Schlagworten aus einzelnen Kapiteln noch einmal Schwerpunkte herausgearbeitet, die den anderen Kapiteln gegenübergestellt werden sollen. Für das erste Kapitel erscheint die Darstellung der Umsetzung einer ‚aktiven Lebensgestaltung‘ als bedeutsam, die spezifisch auf das Schaffen Linda Montanos eingeht, aber auch allgemein auf die Überführung der Kunst in die Lebenspraxis der anderen beiden Künstler Genesis P-Orridge und Stelarc verweist und damit auf ihr Schaffen erweitert werden kann. Im Hinblick auf das Kollektive in P-Orridges Leben wird auch bei den anderen beiden Künstlern das Verhältnis von ‚Ich, Du und Wir‘ zum einen vorwiegend als moralische Instanz und zum anderen mit Mensch und Maschine, Subjekt und Objekt verbunden dargestellt werden. Die unterschiedlichen Theorien und Praktiken der Künstler sollen mittels der ‚Techniken

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als ein Teil des Mensch-Seins‘ anhand der als natürlich verstandenen Gegebenheiten sowie den als kulturell angesehenen Praktiken des Menschen infrage gestellt werden, die scheinbar in Stelarcs Performance-Kunst an ihre äußerste, künstliche Grenze gelangen. Mit ihrer Konzentration auf eine künstlerisch- und religiös-konzeptionelle Bewältigung des Alltags macht Montano deutlich, dass Kunst und schon gar nicht das Leben Weltflucht bedeuten sollten. Aber auch, dass das, was für viele Menschen Gewohnheit darstellt, noch keine weiter zu folgende Selbstverständlichkeit ist, der jedes Individuum ohnmächtig gegenübersteht. Anhand Foucault wurden „Techniken des Selbst“ 1 zur „Sorge um sich“ 2 thematisiert, die das Selbst, mit Heidegger, nicht nur in Verbindung mit dem allgemeinen „Man“3 bringen, sondern auch als Möglichkeit gesehen werden können, zu einem eigenen ‚Selbst‘ und mit ihm zu einem Bewusstsein im Alltag zu gelangen. Von Bedeutung sind bei Montano in diesem Zusammenhang sowohl Entwürfe in Form von Konzepten als auch Entschlüsse, die in Verträgen münden. Für diese wurde die Definition Durkheims als „korrelative und gegenseitige Verpflichtungen“4 auf die Möglichkeit des Subjekts erweitert, mit sich selbst einen Vertrag einzugehen, und damit die Freiheit einer individuellen Wertgebung eröffnet. Die Entscheidung zu einem bestimmten Rahmen in Form von Konzepten und Verträgen, in dem die Wiederholung bewusst praktiziert werden kann, ermöglicht Montano die bewusste Programmierung oder Umprogrammierung eines vorher bestehenden Defizits5. Wenn sie dieses auch nicht vollständig beheben, stellen sie dennoch ein Bewusstsein desselben heraus und ermöglichen das Erarbeiten von Techniken zu einem verbesserten Umgang. Des Weiteren heben sie die Möglichkeit der aktiven Übernahme des alltäglichen, gewohnheitsmäßigen hervor und betonen die Lehre, die Camus aus dem Mythos des Sisyphos zieht, sie als Notwendigkeit zu akzeptieren und die eigene Last zu tragen6. Im Gegensatz zu archaischen Kulturen, in denen, wie mit Eliade deutlich wurde, zwar eine jährliche Neugeburt des Individuums ermöglicht wird, diese jedoch an die Wiederholung vorgeschriebener, göttlicher Handlungen gebunden sind, bestimmt Montano ihre Charaktere für eine periodische Neuerschaffung in der 7

1

Foucault 2007, S. 74. Siehe auch „Technologien des Selbst“; ebd., S. 287.

2

Foucault 2007, S. 290.

3

Heidegger 2006, S. 127.

4

Durkheim 2012, S. 175.

5

Siehe 2.2 ‚Wiederholung und Ausdauer‘, S. 71f.

6

Siehe Camus 2001, S. 84f und S. 159.

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Years of Living Art Performance selbst7. Auf diese Weise umgeht sie die Geschichte ihrer Schuld, wie sie, nach Eliade, die lineare Vorstellung der Zeit des Christentums impliziert und steht für die moderne künstlerische Herangehensweise der Avantgardisten, durch individuelle Wertgebung Neues zu schaffen8. In diesem Zusammenhang wurde die Bedeutung von Auf- und Abwertung in der Moderne durch Groys, in der Tradition Nietzsches „Umwertung der Werte“9, insbesondere an den Ready-Mades Duchamps hervorgehoben10. Während jedoch die Avantgardisten ihre ‚Neugeburt‘ mit dem Verweis auf ihre eigene Originalität zu verbinden suchen, konnte mit Krauss aufgezeigt werden, dass dieses Streben in den Kontext von zyklischen Strukturen und dem Mythos zu stellen ist11. Demgegenüber verknüpft Montano aktiv und bewusst individuelle Wertgebung mit religiösen Vorbildern wie Märtyrern, Heiligen und Schamanen und rührt damit an Themen, die keinen allgemeinen Platz in der Gesellschaft besitzen, sondern vor allem der Verdrängung anheimfallen: Vergänglichkeit, Verlust und Tod. Sie erinnert uns daran, dass wir diesen Tatsachen nicht entgehen, indem wir sie ignorieren. Sich selbst zu stellen, das wird immer wieder deutlich, ist auch für Montano ein wiederkehrender Kampf. Zu leiden wird nicht von Montano zelebriert. Der Buddhismus hat ihr geholfen, es als Teil, Komponente und Nebeneffekt ihrer Kunst und ihres Lebens selbst anzunehmen12. Am Beginn von P-Orridges Schaffen steht eine bewusste Entscheidung zum Kunstcharakter, ausgelöst durch die Erkenntnis über die Gewissheit des Todes13. Diese Entscheidung zur Kunst beinhaltet allerdings keine Zwänge und Grenzen außer dem Bestreben, sich selbst, die eigene Identität der Kunst hinzugeben und der Philosophie Sartres folgend, zum Schöpfer des eigenen Lebens zu werden14. Angesprochen wird auf diese Weise auch die Theorie Schopenhauers, den Wil-

7

Siehe Eliade 1998, S. 67 und S. 48. Und siehe Montano 2005, S. 156 und Montano

8

Siehe Eliade 2007, S. 176. Und siehe 2.2.6 ‚Säkularer Kontext der Moderne und

9

Siehe z.B. Nietzsche 1986, S. 24.

1981 (Characters). Rückbindung an den Mythos‘, S. 94. 10 Siehe Groys 2004, S. 63 und S. 86, bzw. 2.1.6 ‚Rahmen und Werte‘, S. 65ff. 11 Siehe Krauss 2000, S. 205 und S. 57. 12 Siehe z.B. 2.2.1 ‚Aus-Dauer und Überführung buddhistischer Praktiken in Kunst‘, S. 75ff. und 2.3.4 ‚Der religiöse Mensch‘, S. 111. 13 „art character“; Tessitore/P-Orridge 2002, S. 139. Für das Folgende siehe Ford 1999, S. 1.6. Bzw. siehe 3.1 ‚Neuerschaffung des Selbst‘, S. 149. 14 Siehe Sartre 2001, S. 972.

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len zu ergreifen und der Versuch, die Welt nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten 15 . Den nach Sartre von außen zugewiesenen Platz versucht sich POrridge auch in der Suche nach selbstständigen kreativen Individuen, die dieselben Wünsche und Ziele wie er selbst haben, zu erschaffen16. Er sieht sich nicht nur im negativen Sinne durch andere und deren Bedürfnisse und Erwartungen eingeschränkt, sondern begibt sich aktiv auf die Suche nach Gleichgesinnten. Insofern setzt diese passive Übergabe an den anderen auch die aktive Wahl dieser Personen voraus17. Sein Bestreben nach einem gemeinsamen Schaffen stößt immer wieder an die persönlichen Grenzen, sowie es an die Grenzen der anderen gelangt. Vor allem mit Jung und dessen Theorie zur Kollektivpsyche, wurde dafür infrage gestellt, inwieweit sich das Selbst immer wieder nur an kollektive Ideen bindet, um letztlich eigene Interessen zu verfolgen, aber auch mit Camus, Sartre und Nancy die Möglichkeit aufgezeigt, dass das Ich als ein Wir gesehen werden kann18. Technik ist für Stelarc nicht etwas das vom Menschen Besitz ergreift, sondern etwas, dem er sich bedient, aus dem er einen persönlichen und individuellen Nutzen ziehen kann, aber in dem er auch einen allgemeinen Nutzen für die Spezies Mensch erkennt. Wie in der Theorie des Cyborgs von Clynes und Klyne, die den menschlichen Organismus durch ein selbstregulierendes Prinzip zu erweitern sucht, hofft auch Stelarc mithilfe der Technik den Lebensraum und die menschlichen Überlebens-/Lebenschancen zu erweitern19. Dabei opfert Stelarc nicht einfach einen nutzlosen, obsoleten Körper gegenüber geistigen Ideen. Er folgt weder der Theorie Descartes, die die Bedeutung des Geistes über die des Körpers stellt, noch sieht er mit La Mettrie den Menschen als Ganzes lediglich als Automatismus20. Indem der Körper in Stelarcs Performance-Kunst zum Ort für Ideen wird, gehen Körper und Geist eine produktive Beziehung ein21. Die Erweiterung durch Technik ist nach Stelarc für den Menschen nicht etwas, das ihm

15 Siehe Schopenhauer 1986b, S. 11f. und S. 755. 16 Siehe Sartre 2001, S. 847 bzw. 3.1.3 ‚Vor-und Selbstbestimmung‘, S. 160. 17 Siehe z.B. 3.2.2 ‚Unterschiede zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft‘, S. 186. 18 Siehe Jung 1998, S. 41 und S. 68. Siehe Camus 2001, S. 334f.; Sartre 2001, S. 447 und Nancy 2012b, S. 63. 19 Siehe Clynes/Klyne 2009, S. 31. Siehe Zylinska/Hall 2002, S. 122, bzw. 4.1.5 ‚Verinnerlichung von Technik’, S. 276f. 20 Siehe Descartes 1994, S. 67; La Mettrie 1990, S. 35, bzw. 4.1.1 ‚Psychische und physische Erfahrungen‘, S. 254ff. 21 Siehe 4.1.2 ‚Kunst als wissenschaftliches Experiment‘, S. 263f.

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von außen auferlegt wird, sondern über das jeder individuell und alle Menschen gemeinsam entscheiden sollten. Statt einer Strategie, die von allen verfolgt wird, sucht er die individuelle Variation22. Auf diese Weise scheint er auch dem Aufruf von Deleuze und Guattari zu folgen, den eigenen Körper, individuell und neu mit eigenen Bedürfnissen und Intensitäten zu bedenken23. Die Folgen seiner Projekte und Performances kann Stelarc im Einzelnen nicht abschätzen. Er setzt sich den physischen sowie psychischen Gefahren derselben aus, aber nicht ohne um sie zu wissen, zumal das Ertragen von Schmerzen und ein erheblicher Kraftaufwand zu allen seinen Performances gehört24. Wenn es auch nicht der Glaube ist, der ihn dies ertragen lässt, so hat er doch das höhere Ziel, den Menschen für seine technischen Möglichkeiten zu öffnen und selbst als Beispiel für eine solche Öffnung voranzugehen25. Während in der aktiven Lebensgestaltung Montanos religiöse Theorien und Praktiken mit individueller Wertgebung zu einer Art/Life-Verbindung werden, sucht P-Orridge als Kunstcharakter eine aktive Neuerschaffung des eigenen Selbst, um es einerseits in Bezug zu selbst gewählten Ideen, Erinnerungen und Biografien und andererseits durch Kollaboration mit anderen kreativen Individuen in einen theoretischen sowie zwischenmenschlichen Kontext zu stellen. Demgegenüber gibt Stelarc einerseits seine Identität in Suspensions und MenschMaschine Interaktionen auf, um andererseits ein Zeichen für die Möglichkeit einer individuellen Erweiterung des Menschen durch die Technik zu setzen. Eine aktive Entscheidung für einen bestimmten Rahmen ihrer Kunst, der ihren Lebensbedürfnissen und Interessen entspricht, steht am Beginn jeden Schaffens der hier dargestellten Künstler. Auf unterschiedliche Weise verdeutlichen sie Widersprüche, denen der Mensch ausgesetzt ist: Er erscheint einem Alltag gegenübergestellt, der Gewohnheiten beinhaltet, die sowohl unbewusstes Handeln voraussetzen als auch eigenen individuellen Bedürfnissen entgegenstehen. Ein solches unbewusstes Ausgeliefertsein kann auch in den anderen Mitmenschen gesehen werden, die von Grund auf, von der Geburt des Menschen an durch ihre Erinnerungen, Wünsche und Bedürfnisse dem Individuum einen bestimmten Platz zuweisen. Hierzu gehört auch der Mangel des Menschen, dem nach Gehlen allerdings die Fähigkeiten zur Handlung und Kultur beigegeben sind, sich an seine

22 Siehe 4.3.4 ‚Kunst, Wissenschaft, Gesellschaft und Religion‘, S. 324 und ‚Natur – Kultur und die Veränderung des Mensch-Seins‘, S. 331. 23 Siehe Deleuze/Guattari 2002, S. 207ff. 24 Siehe Stelarc/Smith 2005, S. 215 und Stelarc/u.a. 1984, S. 16. 25 Siehe das Kapitel 4.1 ‚Erweiterung‘, S. 253ff.

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Lebensumstände durch die Entwicklung entsprechender Hilfsmittel anzupassen26. Aktive Übernahme des Lebens kann nicht absolute Kontrolle und schon gar nicht für den Einzelnen bedeuten, der in seiner Situation auch immer wieder auf andere Menschen und auf die Notwendigkeit der Entwicklung von Technik, im Sinne von Werkzeugen und Maschinen verwiesen ist. Obgleich Montano auch immer wieder Kollaborationen mit anderen Künstlern eingeht, wurde sie hier, vor allem als Einzelkünstlerin, mit ihrer selbstdefinierten, konzeptionellen Herangehensweise dargestellt. Die Bedeutung der Religion für ihre Performance-Kunst verweist auf einen ethischen und damit auf einen gesellschaftlichen Bezug, der, wenn auch das Subjekt sich in der Übung auf sich selbst konzentriert, den anderen als moralische Instanz nicht aus-, sondern immer in eine ethische Rücksichtnahme miteinschließt. Das Publikum hat sie sich ebenso verinnerlicht wie ein Streben nach einem humanistischen Verhalten, das sich in einer aus unterschiedlichen Glaubensansätzen zusammengesetzten eigenen Moral widerspiegelt27. Auf diese Weise stellt sie nicht nur ihre individuellen Entscheidungen, den Normen der Gesellschaft als eigenbestimmten Wert gegenüber, sondern verinnerlicht auch Praktiken, die im gesellschaftlichen Leben an andere gebunden sind. Dies gilt sowohl für den, auf zwischenmenschlichen Verpflichtungen basierenden Vertrag, nach Durkheim, als auch dessen Definition gemeinschaftsbildender Rituale, die für Montano dazu dienen, ihre eigenen Handlungen in einen künstlerischen und bewussten Rahmen zu stellen 28 . Aber Montano bleibt bei diesen Verinnerlichungen der anderen nicht stehen. So gibt sie einerseits ihr Wissen, ihre Erfahrung beispielsweise durch das Art/Life Institute weiter, öffnet sich durch die Weitergabe ihrer Performances und lässt dennoch erahnen, dass das auf gegenseitige Kompromisse beruhende Zusammenleben auch einen nach dem Heiligen strebenden Menschen an moralische Grenzen bringt, da Gefühle und eigene Sensibilitäten nur schwer zu begegnen, vorab einzuplanen, zu bemessen oder gar zu überwinden sind29. Immer wieder schwingt Montano sowohl während ihres Aufenthalts im Kloster als auch in ihrer Begegnung mit anderen, seien dies andere Künstler oder das Publikum, zwi-

26 Siehe Gehlen 2009, S. 20 und S. 32. 27 Siehe Juno/Montano 1991, S. 55. Und Sorkin/Montano 2005, S. 68f. 28 Siehe Durkheim 2012, S. 175; Durkheim 2007, S. 25 und S. 35, bzw. siehe 2.1.4 ‚Regeln für das Zusammenleben’, S. 60 und 2.3.2 ‚Besondere Form des Handelns und des Vorstellens‘, S. 105ff. 29 Siehe Montano/Klein 2005, S. 8, S. 11 und Montano 2005, S. 153.

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schen Selbstaufgabe durch absolute Hingabe und der Erkenntnis über die Grenzen ihrer Selbst und ihrer Fähigkeiten30 und lernt in der Folge, die Regeln ihrer Performances an dieselben anzupassen31. Mit der Erschaffung einer neuen künstlerischen Identität geht bei P-Orridge eine grundlegende Öffnung einher. Er setzt sie bewusst aus Ideen anderer Identitäten zusammen, lässt sich vom Leben und Schaffen anderer inspirieren, greift aus dem großen Archiv der Biografien von ausgewählten Individuen und deren Ideen einzelne Fragmente heraus und entwickelt sich in erster Linie im von Gysin und Burroughs inspirierten Cut-Up, sowohl eine künstlerische als auch identitätsstiftende ‚magische Methode‘ 32 . Der unbewussten Fragmenterzeugung durch den Intellekt, wie ihn Schopenhauer aufzeigt, setzt er die bewusste Fragmenterzeugung durch das Cut-Up entgegen33. Daneben entwickelt er in Performances und Ritualen Methoden, um sich über seine körperlichen Bedürfnisse und Grenzen bewusst zu werden34. Seinen Schwerpunkt hat er auf eine bestimmte Technik gelegt, mit sich und anderen – der Welt im Großen und Ganzen umzugehen, ohne dabei ein konkretes Ziel vor Augen zu haben. Dazu gehört das Wissen, dass Andere ihren Teil am eigenen Ich beitragen und in der Folge, dass das Ich immer auf Grundlage des Schaffens Anderer agiert, selbst schöpferisch tätig wird, aber auch nicht alles alleine erreichen kann. Auf diese Weise entstehen unterschiedliche Interessenkonflikte für den Einzelnen, aber auch eine ganze Gemeinschaft betreffend, die sich je mehr die Anzahl der Beteiligten ansteigt, als eine Problematik im Hinblick auf Machtstrukturen und Hierarchien herausstellen. In der Theorie Jungs ergibt sich innerhalb einer Gruppierung immer ein Machtgefüge, wird eine Person zum Propheten von den Jüngern auserkoren. Und so ist auch Plessner der Ansicht, dass eine Gemeinschaft nur auf der Führung einer Einzelperson basieren kann35. Der Wunsch nach Einheit kann dabei womöglich für eine gewisse Zeit die Unterschiede der einzelnen Individuen überdecken, indem alle gemeinsam ihre Energien auf eine

30 Siehe Sorkin/Montano 2005, S. 66; Montano 2005, S. 245; Sorkin/Montano 2005, S. 68f und Montano 2005, S. 90. 31 Siehe 2.3.6 ‚Religiöses Leben‘, S. 120f. 32 Siehe 3.1.5 ‚Bewusste und unbewusste Fragmenterzeugung‘, S. 166ff. 33 Siehe Schopenhauer 1986b, S. 177. 34 Siehe 3.1.4 ‚Suche nach den eigenen Bedürfnissen und der eigenen Identität‘, S. 162ff. 35 Siehe Jung 1998, S. 54 und Plessner 2002, S. 121. Bzw. 3.2.4 ‚Organisation und Formen der Gemeinschaft‘, S. 192ff.

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gemeinsame Lebensweise aufwenden. Das Wir aktiv und nicht nur in der Theorie mit einer großen Zahl von Individuen zu leben, hat sich im Temple ov Psychick Youth als eine nicht dauerhaft zu bewältigende Ideologie herausgestellt. Stattdessen wurde anhand der Theorie Nancys die Frage aufgeworfen, inwiefern die Gemeinschaft lediglich ihre Form in Theorien finden kann36. Vielleicht ist es die Nähe zum anderen, die verloren geht, die Tatsache, dass wir uns lediglich einer bestimmten Anzahl von Menschen wirklich und in vollständigem Maße widmen können – vielleicht sogar, wie Nancy mittels Bataille verdeutlicht, nur einem anderen Menschen37. P-Orridge wurde in seinem Leben auf der Suche nach Möglichkeiten, Identität und Kollektivität auf künstlerische Weise zu verknüpfen, immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt. Psychologisch: im Sinne neuer individueller Grenzziehungen und angesichts der Interessenlagen anderer; sozial: im Hinblick auf eine von außen auferlegte Machtstruktur, für die er sich selbst nicht entscheiden wollte; und biologisch: gezwungen zu sein, die Endlichkeit des Menschen zu akzeptieren und die Abwesenheit des geliebten Menschen in eine andere Anwesenheit zu übersetzen38. Wir bleibt auch hier immer wieder ein Gefühl, das sich im Inneren des Ich befindet. Bei Stelarc ergeben sich im Hinblick auf die Frage nach Identität und Kollektivität extreme Konstellationen. Einerseits sieht er sich selbst als „willing body“39, als Körper, der sich der Technik hingibt, um neue Wege zwischen Mensch und Maschine zu veranschaulichen. Andererseits trifft er aktiv Entscheidungen für diese Mensch/Maschine-Verbindung. Er wählt aus, generiert Ideen und entwickelt sie zu Projekten, die, wenn nicht ausführbar, angepasst oder auf eine mögliche Zukunft hin verschoben werden. Entsprechend steht diese Geist/Körper-Verbindung auch der Welt gegenüber: Auf der einen Seite steht der Körper für allgemeine Ideen, für die Spezies Mensch, andererseits geht es Stelarc um die individuelle Verbesserung und technische Veränderung jedes Einzelnen und nicht um eine Lösung für alle, über die Einzelne für die Vielen entscheiden. Allerdings beinhaltet eine solche Vorreiterrolle auch eine Macht über alle anderen, gleich, ob sie seinen Ideen folgen mögen oder nicht. Des Weiteren zieht die Gefahr einer solchen künstlerischen Erforschung auch die Frage

36 Siehe Nancy 1988, S. 52. 37 Siehe Nancy 2007b, S. 24f. 38 Siehe 3.1.6 ‚Überführung von Unbewusstem in das Bewusstsein und Grenzziehung‘, S. 173; 3.2.4 ‚Organisation und Formen der Gemeinschaft‘, S. 196ff.; 3.2.6 ‚Gemeinschaft als Idee‘ S. 199ff. und 3.3.5 ‚Kunst und Schöpfung‘, S. 230. 39 Stelarc/Smith 2005, S. 237f.

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nach möglicher Inspiration für die wissenschaftliche Forschung im Bereich des Militärs nach sich. Mit Heisenberg wurde deshalb auf die Möglichkeit der theoretischen Darlegung und Erklärung der wissenschaftlichen Forschung verwiesen40. Auch wenn es Stelarc in seiner Theorie nicht um das Aufzeigen und Erläutern von Gefahren für die Menschheit geht, liegt hierin womöglich auch der Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst, wie sie auch für Stelarc von Bedeutung ist, begründet41. Der Künstler besitzt gegenüber dem Wissenschaftler die größere Freiheit und dennoch ist auch der Künstler insbesondere der Performance-Künstler als aktiv Handelnder in erster Linie derjenige, der die Verantwortung für seine Performances trägt. Allerdings ist Stelarc auch in allem, was er tut, auf die Mitarbeit anderer angewiesen und wird auf diese Weise zum Träger der wissenschaftlichen Ideen und Forschungen anderer42. Derart gestaltet sich auch sein Verweis auf die Gesamtheit der Information und Kommunikation, für die er auf unterschiedliche Weise Empfänger und Sender sein möchte. Gleich wie viele Stimmen aus ihm oder auf ihn einsprechen mögen oder seine Bewegungen mitbestimmen, er selbst erscheint als Medium derselben43. Sowohl Montano als auch die anderen erscheinen in ihrer PerformanceKunst als moralische Instanz. Sie verinnerlicht das Publikum, die Werte und Moralvorstellungen unterschiedlicher Religionen und damit auch Normen der Gesellschaft, um andererseits durch einen selbstbestimmten Vollzug von Wertungen ihre eigenen Regeln und Normen zu definieren. Die anderen dienen ihr sowohl dazu, die Grenzen ihrer eigenen Emotionalität aufzuzeigen als auch dieselben zu erweitern, während sie sich selbst als Vermittlerin einer ethischen Lebensform in der Tradition von Schamanen und Therapeuten als PerformanceKünstlerin begreift44. Bei P-Orridge steht das Verhältnis von Ich und Anderem nicht in erster Linie in einem konkreten moralischen und ethischen Bezug, ob-

40 Siehe Heisenberg 2011, S. 269, bzw. 4.3.4 ‚Kunst, Wissenschaft, Gesellschaft und Religion‘, S. 323f. 41 Siehe http://www.digicult.it/digimag/article.asp?id=1641. 42 Dies betrifft zum Beispiel die Mithilfe anderer Personen bei seinen Suspensions. Siehe http://stelarc.org/?catID=20316. Für sein Ear on Arm ist er auf die Bereitschaft und Forschung von Ärzten angewiesen. Siehe Zylinska/Hall 2002, S. 126. Oder Tissue Culture & Art mit denen er das 1/4 Scale Ear entwickelt hat. Siehe http://stelarc.org/?catID=20240. 43 Siehe http://stelarc.org/?catID=20242. 44 Siehe Sorkin/Montano 2005, S. 66; Montano 2005, S. 245; Sorkin/Montano 2005, S. 68f. Und Montano 2005, S. 111.

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gleich er mit seinen Methoden sowohl Ideen als auch Handlungen in einem solchen Kontext etabliert. Bei P-Orridge wird das Ich zum Wir, einerseits mittels der Wahl aus einem geschichtlichen Archiv, andererseits mittels der Zusammenarbeit und Inspiration durch andere lebende Individuen. Seine Lebensform im Zeichen des Kollektiven verdeutlicht, dass mit diesem Setzen des Ich als Wir noch keine tatsächliche Umsetzung in Gemeinschafts- oder Gesellschaftsformen notwendig erreicht werden kann. Die „Krise der Unterschiede“45, wie sie Girard betont, führt übertragen auf die Lebenswelt scheinbar immer wieder zu Konflikten in Bezug auf Machtstrukturen und Hierarchien. Liebe und Intimität erscheinen als eine Möglichkeit, ein Zeichen in die Richtung einer Einheit zu setzen, wie sie Breyer P-Orridge in ihrem Projekt Breaking Sex durch den Verlust der Bedeutung der Unterschiede angestrebt haben46. Statt von einem Wir oder einer Verinnerlichung von Regeln geht Stelarc von evolutionären Möglichkeiten der Spezies Mensch als Ganzer aus. Diese konzeptionelle Voraussetzung führt dazu, dass Stelarc sowohl im Hinblick auf die Vereinigung und Vernetzung mit anderen Menschen technische Wege über das Internet zu gehen sucht als auch Beispiel für die Menschen sein möchte, sich mit Technik selbst zu verbinden und zu erweitern. Obwohl von allen drei Künstlern unterschiedliche Strategien verfolgt werden, wird deutlich, dass das Wir in erster Linie auf einer inneren Einstellung beruht, sei dies als moralische Instanz, als zum Sein gehörige Voraussetzung des Wir als Einheit oder in den evolutionären Bestrebungen des Individuums für die Spezies Mensch als Ganzer. Den Umgang mit ihrem Alltag, seine rituelle Strukturierung und Organisation durch eine Verbindung von religiösen und künstlerischen Theorien und Praktiken kann als eine Technik Montanos aufgefasst werden. Eine Technik umfasst in diesem Falle Theorien und Praktiken, für die der Mensch lediglich geistige oder spirituelle Hilfsmittel in Anspruch nimmt. Und doch wird damit auch deutlich, dass von einer Technik zu sprechen, bereits auf dieser Stufe beginnt, wenn der Mensch Wege sucht, mit sich und seiner Umwelt bewusst umzugehen, sich zu disziplinieren, um eine gewisse Kontrolle über sich auszuüben. Dabei hat Montano, gemäß der Theorie Durkheims, ihre rituelle Praxis auf ihr Leben ausgeweitet und in das Zeichen der Askese gestellt47. Aber sie folgt nicht lediglich

45 Girard 2006, S. 77. 46 Siehe http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2012/03/positive-surrender-interviewwith.html und Breyer P-Orridge/Breyer P-Orridge 2009, S. 444. 47 Siehe Durkheim 2007, S. 457f.

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der Lebensform der Mönche, wie sie mit Agamben aufgezeigt wurde, die dem Alltag im Kloster zu entgehen suchen48 und können auch nicht als protestantische Übersetzung der Berufspraxis zur „Werkheiligkeit“49 nach Weber verstanden werden, da diese letztlich zur Ansammlung von materiellen Gütern führt50. Mit beiden verbindet sie das Bestreben, eine verstandesmäßige Kontrolle über sich selbst auszuüben51. Aber ihnen gegenüber scheint sie als eigenständiger religiöser Mensch zu einer künstlerischen Definition der Askese zu finden. Ihre Entfernung von ihrem Ziel Performance Art Saint zu werden sowie die Lockerung ihrer Regeln in ihrer Performance-Kunst können als Erkenntnis und Eingeständnis gegenüber den eigenen Schwächen gesehen werden, die sie mit Humor zu akzeptieren sucht und dadurch neue Freiheiten zurückgewinnt. Für den Wert der Heiligkeit für die Moderne wurde in diesem Zusammenhang mit James die Bedeutung von Idealen hervorgehoben. Sie werden nicht mehr im Sinne eines streng zu verfolgenden Dogmas verstanden, sondern beziehen sich in ihrem Wert auf die Umstände52. Damit spitzt James die Definition des Heiligen auf die jeweilige Wertgebung zu, die mit Übergängen von ‚rein‘ und ‚unrein‘, ‚heilig‘ und ‚profan‘ das Heilige bereits in archaischen Kulturen, wie Eliade und Durkheim zeigen, zu etwas Ambivalentem machen. Diese Theorien verweisen darauf, dass die Definition des Heiligen nie abgeschlossen ist53. In Verbindung mit der Darstellung Eliades archaischer Kulturen stellt sich angesichts dessen die Frage, inwiefern diese Definition tatsächlich als neu und spezifisch modern verstanden werden kann, denn die periodische Wiedergeburt des Menschen in zyklischen Strukturen ermöglicht den in diesen Kulturen lebenden Menschen, sich immer wieder neu auf das Leben einzulassen54. Viel weniger als die Frage nach den dabei lediglich zu wiederholenden, göttlichen Handlungen, denen, nach Eliade, selbst eine Vermischung von profan und sakral anhaftet, scheint in diesem Zusammenhang der verliehene Wert derselben eine Bedeutung zu besit-

48 Siehe Agamben 2012, S. 9 und Weber 2010, S. 157. 49 Weber 2010, S. 155. 50 Siehe Weber 2010, S. 65 und S. 193. 51 Siehe Weber 2010, S. 156. 52 Siehe James 1985, S. 374ff. 53 Siehe Durkheim 2007, S. 602 und siehe Eliade 1954, S. 54. Bzw. siehe 2.3 ‚Das Heilige’, S. 108f. 54 Siehe Eliade 1998, S. 67 und S. 84.

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zen55. Vor allem mit Hinblick darauf, dass Wiederholungen immer wieder in unterschiedlichen Kontexten stehen und weder ein aktives, vollständiges Wiedererleben noch ein Übersetzen in ein anderes Medium ermöglichen, wie mit der Theorie Bergsons, aber auch im dritten Kapitel anhand Wiener und McLuhan deutlich wurde56. In ihrer performativen Praxis sucht Montano die Handlungen für die Wiederholung selbst durch Konzepte und Verträge festzulegen und zur Bewusstwerdung als Selbstprogrammierung, die körperliche Praktiken miteinschließt, zu nutzen. Und auch P-Orridges magische Methode, die er im Laufe seines Lebens weiterentwickelt, stellt eine eigene Form der Technik dar; eine solche, in die er sein Leben, seine Identität fallen gelassen hat. In dem Glauben an dieselbe hat er sie zwar über sein Leben gestellt, aber die Entscheidung für sie hat verhindert, dass sie je zu einem Dogma werden konnte, da zu ihrem eigenen Prinzip gehört, dass sie nicht der einen individuellen Wahrheit dient, sondern eine aus vielen Teilen, Cut-Ups, von Theorien und Ideen zusammengesetzte Wahrheit darstellt. Diese Technik kann als eine solche verstanden werden, die über das Individuum hinausweist und mit Moral verbunden ist, indem sie versucht, aus der menschlichen Geschichte zu lernen. Auf diese Weise scheint P-Orridge aktiv seine Freiheit, wie sie mit Sartre als Möglichkeit, Pflicht aber auch Determinismus erschienen ist, zu be- und ergreifen und andererseits die Anschauungen Schopenhauers nicht nur theoretisch zu reflektieren, sondern auch zu leben zu suchen57. P-Orridge wendet diese Techniken nicht nur in einem geistigen Sinne zur Selbsterkenntnis oder zur Weiterentwicklung beziehungsweise zur Identitätsstiftung an, sondern auch als „Cultural Engineer“58 oder ‚moderner Alchimist‘59, im Sinne Gysin und Burroughs, sucht er nach den modernsten Technologien und Werkzeugen seiner Zeit. Dies betrifft sowohl die Kunstproduktion als auch die Arbeit an seinem eigenen Körper und damit, von ihm unabhängige Werke zu

55 Siehe Eliade 2007, S. 44 und Eliade 1954, S. 438, bzw. 2.2.3 ‚Religiöse Handlungen‘, S. 84. 56 Siehe Bergson 2012, S. 99, bzw. 2.2.5 ‚Wiedererleben‘, S. 89; siehe Wiener 1954, S. 48, bzw. 4.3.3 ‚‚Selbstständig’ agierende Maschinen‘, S. 319f und McLuhan 2010, S. 49, bzw. 4.2.3 ‚Erweiterung der Sinne und des Denkvermögens’, S. 291f. 57 Siehe Sartre 2001, S. 253., bzw. 3.1.2 ‚Die Freiheit des Menschen‘,S. 153f.; siehe Schopenhauer 1986b, S. 96., bzw. 3.1.1 ‚Vermittlung von Anschauungen‘, S. 150ff. 58 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2010/10/douglas-rushkoff-and-genesis-porridge.html?zx=b40322ff019d35c7. 59 Breyer P-Orridge 2009, S. 293.

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schaffen, als auch selbst zu einem Kunstwerk zu werden. Insofern kennt POrridge keine Angst vor neuen, vom Menschen geschaffenen Techniken, um mittels Werkzeugen auf sich selbst zuzugreifen und sich selbst zu verändern. Vor allem im Hinblick auf seinen Körper lässt er diese Techniken durch chirurgische Veränderung passiv auf sich anwenden, während er sich seines Geistes immer wieder durch Vergegenwärtigung im Blick Sartres, Diskurs oder Dialog Merleau Pontys und seines Körpers mittels Intimität, wie sie in der Theorie der Erotik Batailles zum Ausdruck kommt, vergewissert 60 . Mit diesen Methoden, sowohl den körperlichen als auch geistigen, strebt er auch nach einer möglichen Einheit mit anderen. Obgleich die Erotik in dem Projekt Breaking Sex eine große Rolle für Breyer P-Orridge gespielt hat, scheinen sie der Batailleschen Erotik innewohnenden Verschwendung zu entgehen, indem sie ihr die selbst gewählte Möglichkeit der Schöpfung durch die Kunst entgegensetzen61. In der Verwendung sowohl spiritueller als auch materieller Techniken liegt auch das Schaffen Stelarcs begründet. Womöglich erlaubt die Entfernung von der Institution Religion ihm dabei, über solche moralische Grenzen zu gehen, die den Menschen als Organismus erhalten wollen. In dem Maß wie er die Grenzen des Menschen überschreiten möchte, scheint er sich aber auch derselben bewusst. Er vergegenwärtigt sie sich, indem er in seinem Schaffen bewusst an seine Grenzen geht, um sich aktiv an ihnen zu stoßen, und derart wurde auch mit Plessner und Gehlen deutlich: Alles, was der Mensch generiert, ist Teil des Menschen62 mit allen Vor- und Nachteilen, Fortschritten und Gefahren. Stelarc verfolgt nicht eine bestimmte Methode als Technik, die sich durch sein Werk zieht, sondern er bedient sich aller Techniken, die ihm für unterschiedliche Dinge förderlich scheinen: sie dienen den Erfahrungen über Psyche und Physis des Künstlers mittels Suspensions, der Erweiterung von Körper und Geist mit dem Exoskeleton und der Third Hand, einer Vernetzung von Mensch und Maschine im Movatar, der Körpermanipulation und Erregungserweiterung in Performances im Zeichen von Fractal Flesh oder Phantom Flesh, der Erschaffung von geistigen und körperlichen vom Menschen unabhängigen Objekten wie Robotern im Walking Head Robot aber auch virtuell im Form des Prosthetic Head, sowie der

60 Siehe Sartre 2001, S. 486 und Merleau-Ponty 1974, S. 406, bzw. 3.3.1 ‚Die Beziehungen zwischen Ich und Anderem und Vorstellungen von der Liebe‘, S. 206ff. Sowie Bataille 1994, S. 15, bzw. 3.3.4 ‚Sexualität und Erotik‘, S. 222ff. 61 Siehe Bataille 1994, S. 166 und siehe 3.3.5 ‚Kunst und Schöpfung‘, S. 222f. 62 Siehe Plessner 1975, S. 309 und S. 321. Siehe Gehlen 2009, S. 38f. und S. 80. Bzw. 4.3.5 ‚Natur – Kultur und die Veränderung des Mensch-Seins‘, S. 327f.

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dauerhaften Verbindung der Technik mit seinem Körper mittels des Ear on Arm. Auf diese Weise sucht er ein Zeichen zu setzen, dass das Objekt Werkzeug/Maschine zum Mensch-Sein selbst gehört. Von der Untersuchung naturwissenschaftlicher Methoden, bei der mit Heisenberg die unterschiedlichen Verhältnisse thematisiert wurden, die das Subjekt mit dem Objekt als Instrument eingeht, sowie das Subjekt versucht, einen objektiven Standpunkt gegenüber der Welt als Objekt zu erreichen, verdeutlichten die Versuche Günthers, zu einer neuen Logik zu gelangen, dass das Objekt Maschine dem Menschen als ‚objektives Subjekt‘ gegenübergestellt werden kann63. Als Konsequenz der Annahme des Objekts als Teil des Subjekts ergibt sich auch eine Akzeptanz des Objekts als mögliches Subjekt. Angesichts dessen erscheint die Theorie Gesangs, dass das Objekt vom Subjekt sowohl verinnerlicht als auch außen hinzugefügt werden kann, ohne dass der Mensch seinen Zusammenhang mit sich selbst oder dem Mensch-Sein verliert, als eine Folge unterschiedlicher Theorien, die in diesem Kapitel untersucht wurden64. Diese lassen den Exzess der Möglichkeiten in Stelarcs Projekten mit unterschiedlichen Prothesen weiterhin in einem menschlichen Kontext erscheinen. Stelarc widmet sich der Erforschung von körperlichen, maschinellen und virtuellen Bewegungen sowie der Erzeugung von Intelligenz von Maschinen durch Anpassung des Verhaltens und Kommunikation 65. Während Wiener vorschlägt, die maschinelle Steuerung an den Hebelprinzipien und Sinnen des Menschen zu orientieren, sucht Turing das Lernverhalten des Menschen und damit menschliche Formen der Intelligenz und des eigenbestimmten Handelns auf die Maschine zu übertragen 66 . Auf unterschiedliche Weise sind Lernen und Steuerung mit Körper und Geist im Menschen verbunden und sollen als Vorbild zum Erschaffen von Maschinen dienen. Die technische Herstellung der Maschine durch den Menschen führt in der Folge der Theorien Turings und Günthers auch im Objekt Maschine zu einer Form von

63 Siehe Heisenberg 1989, S. 57f, bzw. 4.1.4 ‚Das Objekt als Teil des Subjekts‘, S. 270 und siehe Günther 2002, S. 157, bzw. siehe 4.2.4 ‚Vermittlung von Ich und Du mittels Maschine‘, S. 301. 64 Siehe Gesang 2007, S. 131, bzw. siehe 4.1.3 ‚Körperprothesen‘, S. 269. 65 Siehe 4.3 ‚Steuerung‘ , S. 304ff. und darin auch 4.3.2 ‚Sprache, Reflexion und Bewusstsein‘, S. 312ff. 66 Siehe Wiener 1954, S. 32f; Turing 2013d, S. 425. Bzw. siehe 4.3.1 ‚Befehle, Feedback, Lernen‘, S. 307ff.

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eigenem Bewusstsein67. Allerdings steht damit auch die Möglichkeit von Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Steuerung des Menschen selbst infrage. Wenn McLuhan darauf hinweist, dass die Entwicklung neuer Medien mit Verlusten der Wahrnehmung und der Sinne verbunden ist, demgegenüber ihre Bedeutung für den Menschen darin gefunden werden kann, dass sie den Menschen immer wieder zu Bewusstsein führen, gilt dies auch für die Erschaffung von Maschinen68. Obgleich diese Tatsache wiederum die Frage aufwirft, welchen Wert eine solche Form des Bewusstseins besitzt, wenn sie nicht zu einer Erweiterung der Wahrnehmung führen kann. Eine Lösung kann in der Vermittlung der Theorien Turings und Günthers gesehen werden: Eine Maschine mit unendlicher Speicherkapazität könnte dem Menschen dienen, seine Wahrnehmung zu erweitern, statt mit Verlusten zu erkaufen, und zur Distribution zwischen Menschen und Maschinen verhelfen69. In der Kybernetik Wieners, Günthers und der Theorie zur Artifiziellen Intelligenz Turings verselbstständigt sich die Maschine, aber wird auch vom Menschen als Kontrollinstanz befreit. Für diese Befreiung scheint auch Stelarcs Prosthetic Head zu stehen, den er zwar nach seinem Ebenbild erschaffen hat, über dessen Aussagen er jedoch keine weitere Verantwortung übernimmt70. Dies erscheint weder als utopischer Versuch, den Menschen technisch herzustellen, um ihn lediglich nutz- und dienbar zu machen, sondern verweist letztlich darauf, dass nicht alles kontrollierbar ist – weder das Denken und Handeln des Menschen noch das der Technik. In Stelarcs Umgang mit Technik wird deutlich, dass sie nicht nur dem Menschen dient, sondern dass er immer ein Austauschverhältnis mit ihr eingeht. Mal ist es der Mensch, mal die Maschine, der die Steuerung obliegt. Er kommuniziert mit ihr als Hilfsmittel, aber auch mit der Maschine selbst. Mit seinem eigenen Ich, mit Anderen, aber auch mit der Welt tritt der Mensch in ein Verhältnis über die von ihm geschaffene Maschine, um sich immer wieder anderen Herausforderungen zu stellen, sowohl in geistigem als auch körperlichem Sinne. Und so betont auch Samuel Butler nicht nur die Gefahren der Maschine, sondern verweist darauf, dass die Maschine zum Leben und Fortbestehen des Menschen gehört und ohne sie nicht denkbar ist71. Die Evolution

67 Siehe Turing 2013c, S. 454f. und siehe Günther 1976, S. 105, bzw. 4.3.2 ‚Sprache, Reflexion und Bewusstsein’, S. 316f. 68 Siehe McLuhan 2010, S. 61. 69 Siehe Turing 2013c, S. 448f. und siehe Günther 2002, S. 180. 70 Siehe http://stelarc.org/?catID=20241. 71 Siehe Butler 1985, S. 203 und S. 207.

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des Menschen ist nicht nur organisch und damit biologisch, sondern auch mit unterschiedlichen Formen der Mechanik und der Technik verbunden72. Körper und Geist, Mechanismus und Organismus, Subjekt und Objekt, Eigen- und Fremdbestimmung gehen den jeweiligen Konzepten der Künstler entsprechend unterschiedliche Verbindungen ein. Auch wenn Montanos Umgang mit Theorie und Praxis, einen Versuch darstellt unterschiedliche therapeutische, religiöse und künstlerische Systeme miteinander zu verbinden und angesichts dessen dem vorwiegend als natürlichen Teil der menschlichen Techniken zugesprochen werden kann, dient ihr diese Vorgehensweise auch dazu, Instinkt und Natur mithilfe des Verstands zu beherrschen. Als eine Folge dieser versuchten Überwindung erscheint vor allem mittels der Praxis der Wiederholung der Mensch als Automatismus. Denn gleich wie bewusst und theoretisch Montano ihre Performances plant, stehen Wiederholung und Ausdauer auch für die unbewusste Praxis, die automatische Hingabe an einen Rahmen, der wiederum zu einer kontrollierten Programmierung führen soll. Sie verweist damit auch auf die Techniken, wie sie in der Kybernetik und zur Erschaffung von Artifiziellen Intelligenz in Orientierung an die Theorien und Praktiken der Menschen entwickelt werden. Gebrochen wird diese Verbindung von selbst gesteuerter Programmierung und Automatismus erst, wenn die Künstlerin an ihre geistigen und körperlichen Grenzen gerät und an ihrem eigenen Konzept scheitert. Vielleicht ist dieses Scheitern gerade das unhintergehbare Zeichen für das menschliche Leben, eben nicht alles leisten zu können. Es verweist uns darauf, dass jeder Mensch und jede Maschine, gleich wie sie programmiert sind, ihre Grenzen besitzen. Auch POrridge befindet sich im Hinblick auf seine selbstdefinierte Neuerschaffung und der darauf folgenden Übergabe an die Welt in einem Verhältnis von Eigen- und Fremdbestimmung. Das Subjekt wird zum Objekt für sich selbst und Andere. Seine Techniken befinden sich zwischen Natur und Kultur und verweisen bereits auf eine Form der Überzeichnung, da ihm künstlerische Methoden nicht nur zur Kunst oder zur geistigen Veränderung dienen, sondern er auch seinen Körper mittels moderner Technik verändern lässt, um auf eine mögliche zukünftige Überschreitung der Geschlechtergrenzen zu verweisen. Er ist deshalb ein passendes Mittelglied zwischen Montano und Stelarc. Die in einer spirituellen Tradition stehenden Suspensions Stelarcs, dienen ihm weder zur Selbstaufgabe im Glauben noch zu irgendeiner glaubensmäßigen Erkenntnis im Kontext einer Religion. Sie sind Übung für eine Selbstaufgabe, die eine Vorbereitung für die Öffnung der Verwendung unterschiedlicher neuer Techniken darstellt, die den Men-

72 Siehe http://web.stanford.edu/dept/HPS/stelarc/a29-extended_body.html.

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schen verändern, neuen Lebensumständen anpassen und seine Über/Lebenschancen erweitern sollen. Der Mensch soll derart aktiv an seiner Evolution teilhaben, dieselbe mitgestalten und sie nicht seiner Biologie, seiner Natur alleine überlassen. Techniken betreffen Körper und Geist und sind selbst sowohl materiell als auch geistig, organisch und mechanisch, zu dem, was der Mensch als seine Natur begreift gehörig als auch zu seiner Kultur. Immer sind sie ein Instrument des Menschen, das er mit einem bestimmten Wert verbindet, ohne dass dabei notwendig ein faktisch greifbares Ziel erreicht wird. Es kann sich dabei auch um eine Form der Erkenntnis handeln. Mit ihrer jeweils eigenen Form der Verbindung von Performance, Kunst, Theorie und Leben, die einer den Künstlern entsprechenden, persönlichen Fragestellung folgt, haben Montano, P-Orridge und Stelarc die Kunst in die Lebenswelt überführt. Allerdings steht diese nicht, wie Sloterdijk gegenüber der Verschiebung der Ethik zur Ästhetik folgert, dafür „, daß man bloß vorgestellte Schrecken vollkommen unbeschädigt überlebt.“73 Sie alle stoßen an die eigenen seelischen und körperlichen Grenzen sowie sie ihre eigene Wertgebung den Normierungen der Gesellschaft gegenüberstellen. Ihre Grenzüberschreitungen sind keine Gesetzesübertretungen. Auch wenn sie ‚innere Erfahrungen‘ erzeugen, sind diese nicht, wie in der Theorie Batailles zur Erotik, mit der Verbindung von Angst und Verlangen zur Überschreitung, die in der „Erfahrung der Sünde“ 74 kulminiert, zu verstehen. Sie können als Überschreitungen im eingeschränkten Sinne ihres Rahmens gesehen werden, innerhalb dessen sie Formen der Kontinuität zu erreichen und generieren suchen75. Auf diese Weise scheinen sie auch mittels der Kunst die reine Verschwendung und Gewalt zu umgehen, die Bataille mit seiner Theorie der Erotik verbindet, und zu einer eigenen Form von Produktivität zu finden. Entsprechend ermöglicht ihnen ihre jeweils eigene Verbindung von künstlerischer Theorie und Praxis eine ‚innere Erfahrung‘, die jenseits konkreter religiöser Praxis als bedeutsam für das Individuum verstanden werden kann 76 . Denn mit diesem ekstatischen Gefühl verbindet Bataille eine ‚Souveränität‘ des Individuums, das auch für die Wertgebung und Verinnerli-

73 Sloterdijk 2011, S. 705. 74 Bataille 1994, S. 40, bzw. siehe auch 3.3.4 ‚Sexualität und Erotik‘, S. 223. 75 Zum Streben des Individuums nach Kontinuität bei Bataille, siehe Bataille 1994, S. 17, bzw. das in der vorherigen Fußnote genannte Kapitel. 76 Siehe auch für das Folgende Bataille 1999, S. 13 und S. 83, bzw. 4.1.1 ‚Psychische und Physische Erfahrungen‘, S. 259.

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chung der Theorien im Schaffen dieser Künstler eine Rolle spielt – gleich, an welcher Grenze des Glaubens und des Unglaubens sie sich befinden. Angesichts dessen schließt diese Form der Grenzüberschreitung von Kunst und Leben eine ethische Praxis mit ein, ohne Institutionen der Religion folgen zu müssen. Über eine Wertgebung, das wird bereits bei Montano deutlich, entscheidet jeder Künstler selbst und zieht in der Folge individuelle Grenzen zur Lebensgestaltung. Die Verantwortung für ihre Kunst, ihr Leben und die damit verbundenen möglichen Folgen übernehmen die Künstler für sich selbst. Zu dieser Ethik gehört weder die Passivität eines Zuschauers noch die der Menschen im Allgemeinen. Als Künstler stehen sie neben den Grenzen der Gesellschaft angesichts ihres Status sowie ihrem eigenen individuellen Streben nach einem wenn auch nicht erreichbaren Ziel: Bei Montano ist es der Versuch, „performance art saint“ 77 zu werden, P-Orridge möchte als lebende „collective metaphor“78 zukunftsweisendes Sinnbild sein und Stelarc sucht als „evolutionary guide“79 eine Vorreiterrolle für die Beziehung von Mensch und Maschine einzunehmen. Trotzdem ist mit ihrem Schaffen nicht lediglich die passive Partizipation an ihrer Kunst verbunden. Diese Künstler erscheinen vielmehr als Exempel der Möglichkeiten jedes Menschen zu stehen, Techniken zu entwickeln und auf das eigene Leben aktiv anzuwenden. Aber damit ist weder eine institutionelle noch individuelle Verpflichtung zur Entscheidung jedes Einzelnen impliziert, selbst als Künstler tätig zu werden, denn wie Lippard feststellt: „The time may come when art is everyone‘s daily occupation, though there is no reason to think this activity will be called art.“80 Wenn Beuys mit seinem Satz „jeder Mensch ist ein Künstler“81 bereits die unterschiedliche Berufung jedes Einzelnen als Teil der Gesellschaft miteinschließt und auch Camus die Bedeutung betont, den der Begriff der Schöpfung gegenüber der Arbeit für jeden Einzelnen beinhaltet82, liegt darin die explizite Wertschätzung jedes Menschen begründet83. Die Frage, warum die Kunst immer wieder in einen derartigen Kontext gestellt wird, scheint sich durch diese Möglich-

77 Montano 2005, S. 106. 78 http://genesisporridgearchive.blogspot.de/2010/10/douglas-rushkoff-and-genesis-porridge.html?zx=b40322ff019d35c7 79 Stelarc 1984a, S. 76. 80 Lippard zitiert aus Buchloh 1999, S. 531. 81 Beuys 1985, S. 40. 82 Siehe Camus 2001, S. 310. 83 Siehe 3.2 ‚Gemeinschaft als Kunstform‘, S. 180f.

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keit der Selbst- sowie der Fremdwertschätzung zu erschließen, die darüber hinaus über jedem konkreten Zweck und Ziel erhaben erscheint. Obwohl im Laufe dieser Untersuchung einige Grenzüberschreitungen beschrieben wurden, brachten sie doch auch immer wieder Grenzen hervor, ob im eigenen Selbst, im Anderen, der Gesellschaft, der Natur oder Kultur des Menschen. Gleich wie weit dieselben verschoben werden oder aus welchen Gründen: Wahl und Entscheidung bringen sowohl den Akt des Bejahens als auch des Ausschließens mit sich. Jeder muss, wie Sloterdijk es formuliert, „Sich-Operieren“ und „Sich-Operieren-Lassen“84. Insofern ist jeder aktiv sowie passiv an seinen eigenen Handlungen sowie dem Handeln an ihm selbst beteiligt, auch wenn dies die Zustimmung zur eigenen Ohnmacht bedeutet. Einzelne können nicht alles umfassen, erkennen oder gar bei vollem Bewusstsein erdulden. Auch wenn wir die Verantwortung des Seins, Sartre folgend, mit unserer Geburt alleine tragen85, wir unsere Situation vollständig akzeptieren müssen, könnte darin auch eine Verteilung der Last des Seins im Mit-Sein anstelle der Verantwortungsübernahme eines Einzelnen oder eine Verschiebung der Verantwortung auf das Heideggersche „Man“ 86 gesehen werden 87 . Inwieweit mit einer Ausgestaltung einer eigenen Lebensform eine in Gleichzeitigkeit verlaufende Entwicklung in anderen, im Kleinen sowie im Großen und Ganzen einhergeht, die sowohl die Aufwertung Vieler als auch die Abwertung einiger Einzelner besonderer Auserwählter beinhaltet, und diese Entwicklung letztlich zu einer Verbesserung führen und in einem alldurchdringenden Gefühl der Einigkeit und Einheit gipfeln kann – bleibt so utopisch wie ungewiss. Was allerdings nicht bedeutet, dass wir es nicht weiterhin sowohl in Theorie als auch in Praxis versuchen können.

84 Sloterdijk 2011, S. 589. 85 Siehe Sartre 2001, S. 231 und S. 953. 86 Heidegger 2006, S. 127. 87 Siehe 3.2.1 ‚Ein mit dem Sein selbst verbundenes ‚Mit-Sein‘‘, S. 183f.

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—-(2012): Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Durchsicht der Übersetzung Ludwig Schmidts von Michael Schmid. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Dusinberre, Deke/Siegelaub, Seth/Buren, Daniel/Laura, Michel (1999): „Working with Shadows, Working with Words.“ In: Alberro, Alexander/Stimson, Blake (Hg.): Conceptual Art: A Critical Anthology. Massachusetts: MIT, S. 432-441. Eikels, Kai van (2013): Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie. München: Wilhelm Fink Verlag. Eliade, Mircea (1998): Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Übersetzt von Eva Moldenhauer. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel. —-(1954): Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte. Übersetzt von M. Rassem und I. Köck. Salzburg: Otto Müller Verlag. —-(2007): Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr. Übersetzt von Günter Spaltmann. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel. —-(2012): Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Übersetzt von Inge Köck. Frankfurt am Main: Suhrkamp. —-(1994): Von Gautama Buddha bis zu den Anfängen des Christentums. Übersetzt von Adelheid Müller-Lissner und Werner Müller. In: Eliade, Mircea: Geschichte der religiösen Ideen. Freiburg im Breisgau: Herder, Band 3. —-(1985): Yoga. Unsterblichkeit und Freiheit. Übersetzt von Inge Köck. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Elias, Norbert (1997): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Zweiter Band: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Elsenaar, Arthur/Scha Remko (2002): „Electric Body Manipulation as Performance Art: A Historical Perspective.“ In: Leonardo Music Journal, 12. Jg., S. 17-28. Ernst, Wolf-Dieter (2003): Performance als Schnittstelle. Theater unter Medienbedingungen. Wien: Passagen. Featherstone, Mike (2005): „Body Modification: An Introduction.“ In: Ders. (Hg.): Body Modification. London u.a.: SAGE Publications, S. 1- 13. Festa, Angelika (2000): „Introduction. Shall We Talk? Linda M. Montano Performs Autobiographical Voices.“ In: Montano, Linda M.: Performance Art-

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- Eine Ästhetik der Existenz, S. 280-286. - Gespräch mit Werner Schroeter, S. 105-115. - Michel Foucault, interviewt von Stephen Riggins, S. 155-170. - Subjekt und Macht, S. 81-104. - Subjektivität und Wahrheit, S. 74-80. - Technologien des Selbst, S. 287-317. - Was ist Aufklärung, S. 171-190. —-(2012): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übersetzt von Ulrich Köppen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. —-(1983): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt am Main: Suhrkamp. —-(1989a): Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt am Main: Suhrkamp. —-(1989b): Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Gay, Peter (2000): Die Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter. Übersetzt von Holger Fließbach. München: Goldmann. —-(2008): Die Moderne. Eine Geschichte des Aufbruchs. Übersetzt von Michael Bischoff. Frankfurt am Main: S. Fischer. Gehlen Arnold (2009): Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Wiebelsheim: Aula Verlag. Gennep, Arnold von (2005): Übergangsriten. (Les rites de passage). Übersetzt von Klaus Schomburg und Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt am Main/New York: Campus. Gemeinhardt, Peter (2010): Die Heiligen. Von den frühchristlichen Märtyrern bis zur Gegenwart. München: C. H. Beck. Gesang, Bernward (2007): Perfektionierung des Menschen. Berlin: Walter de Gruyter. Girard, René (2006): Das Heilige und die Gewalt. Übersetzt von Elisabeth Mainberger-Ruh. Düsseldorf: Patmos. Glesner, Julia (2005): Theater und Internet. Zum Verhältnis von Kultur und Technologie im Übergang zum 21. Jahrhundert. Bielefeld: Transcript. Goodall, Jane (2005): „The Will to Evolve.“ In: Smith, Marquard (Hg.) 2005: Stelarc. The Monograph. Massachusetts: MIT Press, S. 1-31. Goffman, Erwing (1986): Frame Analysis. An Essay on The Organization of Experience. Boston: Northeastern University Press. —-(1959): The Presentation of Self in Everyday Life. New York: Anchor Books.

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Kroker, Arthur/Kroker Marilouise (2005): „We Are All Stelarcs Now.“ In: Smith, Marquard (Hg.) 2005: Stelarc. The Monograph. Massachusetts: MIT Press, S. 63-85. Kroos, Christian/Herath, Damith C./Stelarc (2012): „Evoking Agency: Attenti-on model and Behavior Control in a Robotic Art Installation.“ In: Leonardo, 45. Jg., Nr. 5, S. 401-407. Kussoy, Judy/Montano, Linda M. (2005): „Linda Montano.“ In: Montano, Linda M.: Letters from Linda M. Montano. Herausgegeben von Jennie Klein. Madison Ave/New York: Routledge, S. 161-165. Landsberg, Alison (2004): Prosthetic Memory. The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture. New York/Chichester/Sussex: Columbia University Press. La Mettrie, Julien Offray de (1990): L‘homme machine - Die Maschine Mensch. Herausgegeben und übersetzt von Claudia Becker. Hamburg: Felix Meiner Verlag. Largier, Niklas (2001): Das Lob der Peitsche. Eine Kulturgeschichte der Erregung. München: C. H. Beck. Leibniz, Gottfried Wilhelm (2002): Monadologie und andere metaphysische Schriften. Herausgegeben und übersetzt von Ulrich Johannes Schneider. Hamburg: Felix Meiner Verlag. LeWitt, Sol (1999): „Paragraphs on Conceptual Art.“ In: Alberro, Alexander/Stimson, Blake (Hg.): Conceptual Art: A Critical Anthology. Massachusetts: MIT, S. 12-16. Lichty, Patrick (2000): „The Cybernetics of Performance and New Media Art.“ In: Leonardo, 33. Jg., Nr. 5, S. 351-354. Lippard, Lucy R. (2001): Six Years. The Dematerialization of the Art Object from 1966 to 1972. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press. Lippard, Lucy/Chandler, John (1999): „The Dematerialization of Art.“ In: Alberro, Alexander/Stimson, Blake (Hg.): Conceptual Art: A Critical Anthology. Massachusetts: MIT, S. 46-50. Löffler, Liebhard (1984): Der Ersatz für die obere Extremität. Die Entwicklungen von den ersten Zeugnissen bis heute. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag. Mach, Ernst (2011): Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. In: Ders.: Studienausgabe. Herausgegeben von Friedrich Stadler. Berlin: Xenomoi, Band 1.

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Massumi, Brian (2005): „The Evolutionary Alchemy of Reason.“ In: Smith, Marquard (Hg.): Stelarc. The Monograph. Massachusetts: MIT Press, S. 125-190. —-(1993): The fourth discontinuity. The Co-Evolution of Humans and Machines. New Haven/London: University Press. McCaffrey, Kathe (2009): „Marriage and Children in The Process Church.“ In: Wyllie, Timothy: Love Sex Fear Death. The Inside Story of The Process Church of the Final Judgement. Herausgegeben von Adam Parfrey. Port Townsend: Feral House, S 163-166. McCulloch, Warren S. (1988): Embodiments of Mind. Massachusetts: MIT Press. McLuhan, Marshall (2010): Understanding Media. The extension of man. London/New York: Routledge. McKenzie, Jon/Schneider, Rebecca/Critical Art Ensemble (2000): „Critical Art Ensemble Tactical Media Practitioners: An Interview.“ In: TDR, 44. Jg., Nr. 4, S 136-150. Merleau-Ponty, Maurice (1974): Phänomenologie der Wahrnehmung. Herausgegeben von C. F. Graumann und J. Linschoten. Übersetzt von Rudolf Boehm. Berlin: Walter de Gruyter. Montano, Linda (1981): Art in Everyday Life. Broadway/New York: Astro Artz & Station Hill Press1; darin: - The Chicken Show, University of Wisconsin, Madison, May 20, 1969. - Lying: Dead Chicken, Live Angel. Nazareth college, Rochester, New York, April 26, 1971. - Sitting: Dead Chicken, Live Angel. Rochester New York, May 1971. - Chicken Dance: The Streets of San Francisco. San Francisco, California, 1972. - Home Endurance March 26, 1973-April 2, 1973. 1300 Rhode Island Street, San Francisco, 1973. - Handcuff: Linda Montano and Tom Marioni. Museum of Conceptual Art, 75 Third Street, San Francisco, 1973. - The Story of my Life. San Francisco Art Institute, May, 1973. - Odd Jobs. San Francisco, 1973. - Happiness Piece. San Francisco, 1973.

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Da dieses Buch keine Seitenzahlen hat, habe ich die Aufsätze Montanos nicht nach dem Alphabet, sondern nach der Reihenfolge des Buches aufgelistet.

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- Talking about sex while under Hypnosis. Male/Female Show, U C Davis, 1975. - Three Day Blindfold/How to become a Guru. Woman‘s Building, Los Angeles, March 22, 1975. - A Tribute to Mitchell Payne March 31, 1944-August 19, 1977. Artist‘s Coalition, 424 F Street, San Diego, September 21, 1977. - A Tribute to Mitchell Payne. Laica. Los Angeles, March 1978. - Mitchell’s Death. Center for Music Experiment. UCSD, April, 1978, Participants: Linda Montano, Pauline Oliveros, Al Rossi. - Introduction. Linda Montano & Pauline Oliveros, Eating and Talking, September, 1979. - Art in Everyday Life. - 5. Characters. - 6. Living Art. - 7. Mitchell‘s Death. Montano, Linda/Ingber Lester (1981): „Interview with Lester Ingber – 1979.“ In: Montano, Linda M.: Art in Everyday Life. Broadway/New York: Astro Artz & Station Hill Press. Montano, Linda M. (2005): Letters from Linda M. Montano. Herausgegeben von Jennie Klein. Madison Ave/New York: Routledge; darin: - A chakra fairy tale, S. 17-28. - Art as spiritual practice: Enculturation/brain waves/temporal lobe seizures, S. 87-93. - Art as therapy: The reason I decided to become an Art/Life Counselor, S.111-116. - Audience and the Art of Linda Montano, S. 129-135. - Dad Art, S. 197-219. - Death, S. 220-251. - Endurance then and now, S. 123-128. - Forgiveness as spring-cleaning: Why artists now want to be saints, S. 73-80. - I plus I equals I, S. 119-122. - Little Linda (LL) becomes Performance Artist/Chicken Linda (PACL) becomes Roman Catholic Linda Mary (RCLM), S. 105-109. - Living art: Time spent artfully alone or not alone, S. 150-152. - No fear of the Catholic Church, S. 260. - Performance and hazing, S. 261-262. - Performance Statement, S. 257.

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- Teaching Performance, S. 263-268. - Teresa of Avila...a story, S. 94-104. - The Art/Life Institute presents Another 7 Years of Living Art, S. 166-168. - 7 Years of Living Art: An experience based on the seven energy centers in the body, S. 155. - 7 Years of Living Art: Preliminary Notes, S. 156-160. -14 Years of Living Art and 21 Years of Living Art, S. 153. Montano, Linda M. (2000): „Preface.“ In: Dies.: Performance Artists Talking in the Eighties. Berkeley u.a.: University of California Press, S. xi-xvi. Musil, Robert (1978): Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes Buch. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Adolf Frisé. Hamburg: Rowohlt, Band 1 und 2. Mühl, Otto (2004): „Aktionismus und Kunst.“ In: Noever, Peter (Hg.): Otto Mühl. Leben/Kunst/Werk. Aktion Utopie Malerei 1960-2004. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, S. 17-23. Mühl, Otto (1976): Das AA Modell. Neusiedl/See: AA Verlag, Band 1; darin: - Die Rolle des Künstlers, S. 215-217. - Entwicklung der Selbstdarstellung, S. 83-85. - Theorie und Praxis der Aktionsanalyse, S. 21- 66. Nadeau, Maurice (2002): Die Geschichte des Surrealismus. Hamburg: Rowohlt. Nancy, Jean-Luc (2010): Ausdehnung der Seele. Texte zu Körper, Kunst und Tanz. Übersetzt von Miriam Fischer. Zürich/Berlin: Diaphanes; darin: - Befremdliche Körper, S. 43-58. - Der Lustkörper, S. 25-30. - Von der ästhetischen Lust, S. 59-72. —-(2007a): Corpus. Übersetzt von Nils Hodyas und Timo Obergöker. Zürich/Berlin: Diaphanes. —-(2012a): Es gibt – Geschlechtsverkehr. Übersetzt von Judith Kasper. Zü-rich: Diaphanes. —-(2007b): Die herausgeforderte Gemeinschaft. Übersetzt von Esther von der Osten. Zürich/Berlin: Diaphanes. —-(1988): Die undarstellbare Gemeinschaft. Übersetzt von Gisela Febel und Jutta Legueil. Stuttgart: Edition Patricia Schwarz. —-(2012b): Singulär Plural Sein. Übersetzt von Ulrich Müller-Schöll. Zürich: Diaphanes.

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Theater Natalie Driemeyer, Jan Deck (Hg.) »Odyssee: Heimat« Identität, Migration und Globalisierung im Blick der Darstellenden Künste Juni 2017, ca. 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2012-2

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Teresa Kovacs Drama als Störung Elfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas September 2016, 314 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3562-1

David Fopp Menschlichkeit als ästhetische, pädagogische und politische Idee Philosophisch-praktische Untersuchungen zum »applied theatre« September 2016, 418 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3580-5

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Camilla Schlie, Sascha Willenbacher (Hg.) »Eure Zwecke sind nicht unsre Zwecke.« Zur Kooperationspraxis zwischen Theater und Schule im Berliner Modellprojekt ›JUMP & RUN‹ Februar 2016, 360 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2738-1

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger (Hg.)

Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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