Paulus [Reprint 2023 ed.]
 9783112696361, 9783112696354

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Der weg der Kirche Herausgegeben von

D. Dr. Ernst Sellin --------------------------- fieft 5----------------------------D. Georg Burgwart

und

Paulus von

Hans Qetzmann

Verlag Walter d e GruyterLEo. vormals G.). Göschen'sche Verlagshandlung - 7. Guttentag, Verlags­ buchhandlung - Georg Reimer - Rad J. Trübner - Veit & Comp.

Berlin

1934

Leipzig

Die Geste der Sammlung erscheinen in zwangloser Folge. Verantwortlich für ihren Inhalt sind allein ihre Verfasser. Diese Darstellung ist der „Geschichte der ölten Kirche" des Verfassers entnommen.

klrchiv-Nr. 32 01 34

Druck von Walter de Sruyter L Co., Berlin w 10

Das Christentum hat die zwölf Apostel als seine Begründer und höchsten Autoritäten in ehrfürchtigem Gedächtnis behalten; aber sie hasten im Selbstbewußtsein der Kirche als Gruppe und nicht als Einzelpersonen. Selten löst sich in der Überlieferung der Evangelien oder der Apostelgeschichte einmal ein einzelner aus dem

Kreis und tritt in den Vordergrund des Geschehens, aber auch

dann verschwindet er sofort wieder von der Szene. Nur von Petrus, dem anerkannten Haupt der kleinen Schar, wird uns öfter berichtet, und das hat zum Teil seinen Grund darin, daß seine Erzählungen die Quelle der betreffenden evangelischen Geschichten sind; aber ein

wirkliches BUd seiner Persönlichkeit gewinnen wir trotzdem nicht:

dazu reichen die wenigen Angaben nicht aus. Das Bild des Herrn und Meisters strahlt so hell, daß es den Kreis der Jünger nur in

seinem Reflexlicht sichtbar werden läßt. Als Jesu irdische Bahn vollendet und die Botschaft vom Auf­ erstandenen schon über die Grenzen Palästinas hinausgetrage» war, ist dann der Dreizehnte zu den Zwölfen hinzugetreten. Fem von

Jerusalem und der Urgemeinde berief ihn der Herr zu seinem Dienst, und — er hat mehr gearbeitet als sie alle \

So hat er denn auch

die Erinnerung an sein Wirken und den Stempel seiner Persönlich­

keit dem Gedächtnis der Kirche unverlierbar eingeprägt, und die Briefe, die er in der Not und Hast des Tages schrieb, sind zum

dauernden Eigentum der Christenheit geworden. Ihn können wir Jahre hindurch auf seinem Wege verfolgen, ihm vermögen wir sogar ins Herz zu sehen und sein Glauben, Hoffen und Lieben zu verfolgen. Und so ist es denn auch möglich, von ihm, seinem Men­ schentum und seinem Christentum zu erzählen. Paulus war in Tarsus geboren als Sohn eines mit dem römischen

Bürgerrecht2 ausgezeichneten Juden vom Stamme Benjamin3.

i. Kor. 15, 10.

2) Apg. 22, 3. 28.

3) Röm. n, 1; Philip. 3, 5.

4 Wie der Vater zu dieser Rechtsstellung gekommen ist, wissen wir

nicht: er kann Freigelassener eines vornehmen Römers gewesen

sein oder sich als freier Mann um römische Interessen verdient gemacht und die Würde eines Civis Romanus ehrenhalber er­ halten haben.

Eine bei Hieronymus

aufbewahrte Tradition,

welche die Eltern aus Gischala im nördlichen Gallläa stammen und infolge der Kriegsstürme nach Tarsus übersiedeln läßt, ist nicht unwahrscheinlich, da Paulus selbst sich einmal4 betont als „Hebräer d. h. doch wohl als «Palästinenser" bezeichnet. Jeden­ falls ist der Schluß erlaubt, daß der Knabe in einem wohlbegüterten Hause aufgewachsen ist. Neben seinem hebräischen Namen Saul führte er das vornehme römische Kognomen Paulus: ob es bloß

um des Gleichklangs willen oder in Erinnerung an den einstigen Patron der Familie gewählt war, muß auch dahingestellt bleiben. Sicher ist, daß der junge Paulus eine gute Ausbildung genoß und neben den Wissenschaften der Schule auch ein Handwerk er­

lernte: er ging bei einem Zeltmacher in die Lehrea, vielleicht schon im Gedanken an den Beruf eines Rabbi, der freUich Einnahme­ quellen aus einer Nebenbeschäftigung voraussetzte. Er scheint

früh nach Jerusalem gekommen zu sein, denn die Apostelgeschichte3 läßt ihn erzählen, er sei dort erzogen und ein Schüler des berühmten

Rabbi Gamaliel geworden, eines hochgefeierten „Tannaiten" der ersten Generation.

Daß er eifriger Pharisäer von unbedingter

Gesetzestreue gewesen sei und deshalb die neu austommende Christen­ sekte nach Kräften gehaßt und verfolgt habe, behauptet er selbst4. In der Jerusalemer Gemeinde hat man seine aktive Teilnahme

an der Hinrichtung

des Stephanus3 nicht vergessen, und die

Apostelgeschichte läßt ihn selbst berichten, wie er auch in andere

Städte gereist sei, um dort die Verfolgung der Christen fort­

zusetzen3.

So ist er auch im Auftrag des Synedrions nach

Damaskus gezogenschwerlich um etwa dort gefundene Christen «gebunden nach Jerusalem zu führen" — denn dazu fehlte dem *) Phil. 3, 5. 2) Apg. i8, 3. 3) Apg. 22, 3. 4) Phil. 3, Sf. Gal. i, 13 f. 1. Kor. 15,9; vgl. Apg. 22,3 ff. 26,10 ff. 6) Apg. 7, 58—60; vgl. 26,10. 6) Apg. 26, ii. 12. ’) Apg. 9,2 = 22, 5.

5 Synedrion die Kompetenz —, sondern um die dortigen Juden

im Namen des Synedrions zur Abwehr der neuen Gefahr zn ermuntern. Auf dieser Reise faßte ihn die Hand Gottes: am

hellen Tage erschien ihm in blendendem Lichte der auferstavdene Jesus, den er verfolgte, und berief ihn zn seinem Apostel \ Da

ist er in die Wüste gegangen, wie es sich für einen berufenen Gottes­ mann ziemte: südöstlich von Damaskus Lehnten sich die öden Steppen des arabischen Nabatäerreichs. Hier ließ er sein Erlebnis

ausreifen, dann kehrte er nach Damaskus zurück2 und hub seine Predigt von Jesus dem Messias an, zum Staunen der zunächst

mißtrauischen Christen und zum Verdruß der Juden, die sich anschickten ihn umzubringen, und einen arabischen Scheich, der dem Nabatäerkönig Aretas IV. unterstand und in Damaskus

als nabatäischer „Ethnarch" fungierte, für ihre Pläne gewannen:

man wollte ihn außerhalb der Stadt überfallen und bewachte deshalb fleißig die Tore. Das erfuhren die Christen und ließen den Paulus bei Nacht in einem Korbe über die Mauer hinab3: er

entkam ungefährdet nach Jerusalem, volle zwei Jahre nach seiner Bekehrung4. Das mag etwa im Jahre 35 n. Chr. gewesen sein. In der Hauptstadt hat er vor allem den Petrus kenuenlernen

wollen: das ist ihm gelungen, und er hat zwei Wochen bei ihm zugebracht. Auch den Jakobus hat er damals gesehen, sonst aber keinen der Apostel; auch vor der Gemeinde ist er nicht aufgetreten, also sichtlich in großer Heimlichkeit verborgen geblieben, was für den Konvertiten am Ort seiner noch in frischer Erinnerung lebenden agitatorischen Wirksamkeit sehr begreiflich ist. In diesen vierzehn

Tagen bot sich ihm die einzige Gelegenheit, authentische Kunde über die irdische Wirksamkeit und die Lehren Jesu von seinem

hervorragendsten Schüler zu erhalten: was er vorher davon wußte, kann nur zufälliger und mannigfach entstellter Nachklang, vielleicht auch eigene Erinnerung aus der letzten Jerusalemer Periode gewesen sein. Paulus hat die Hauptstadt schnell verlassen und sich in die

x) Gal. 1, 16; 1. Kor. 15, 8 f. Apg. 26, 13—16; 9, 3—6; 22, 6—10. *) Gal. 1, 17. 3) Apg. 9, 19—26. 2. Kor. 11,32 s. 4) Gal. 1,18.

6 Gebiete von Syrien nvd Kilikien begeben, ohne die jndäischen Christengemeinden aufzusuchen, jn denen nur das Gerücht von

der Bekehrung ihres einstigen Gegners drang \ Es folgen nun

dreizehn Jahre missionarischer Wirksamkeit, von denen wir keine genaueren Nachrichten besitzen. Die Berichte der Apostelgeschichte sind hier unklar und zeichnen zwar Einzelheiten mit sichtlicher Treue, während sie kein Bild vom Ganzen vermitteln. Jedenfalls hat Barnabas den Paulus aus seiner Heimat Tarsus, wohin er sich

von Jerusalem aus begeben hatte2, nach Antiochia geholt und dort

gemeinsam mit ihm ein volles Jahr gewirkt3. Beide haben in Be­ gleitung des Johannes Markus, eines Vetters des Barnabas, eine

Missionsreise nach Pisidien und Lykaonien4 *unternommen, deren Zeitpunkt nicht festgelegt werden kann, vermutlich auch noch andere Arbeit geleistet, von der uns keine Tradition erhalten ist. Sicher

ist nur durch das betonte Zeugnis des Paulus6, daß er sich in all diesen dreizehn Jahren von Jerusalem ferngehalten hat. Inzwischen war aber das Problem bedrohlich herangewachsen, das im Keime bereits die Jerusalemer Hellenistengemeinde in sich

getragen hatte, und das nun durch die Heidenmission ins Riesen­ hafte schwoll: die Frage nach der Geltung des Ritualgesetzes für die Neugewonnenen, für die bekehrten Heiden. Solange sich die Christusgläubigen innerhalb des Judentums hielten und fühlten, war die Übernahme des Ritualgesetzes für sie kein Problem: wer als Heide für Christus gewonnen wurde, ttat als Proselyt durch Beschneidung und christlich gedeutetes Tauchbad in den Kreis der „Jünger" ein. Aber wenn die Geltung des Gesetzes selbst unter

dem Eindruck der neuen Lehre bereits bei hellenistischen Juden so nachdrücklich bestritten wurde, wie es uns die Apostelgeschichte^ darstellt, ist es nicht verwunderlich, daß beim Erstarken der helle­ nistischen Heidenmission von Beschneidung und sonstigen Ritualien

abgesehen, ja auch die Beobachtung der Reinheitsvorschriften beim Essen als unnötig empfunden wurde. Je mehr das Neue im Christen­ tum zum Bewußtsein kam, um so mehr mußte das traditionell

4) Gal. i, 2i—23. 2) Apg. 9,30. 3) Apg. ii, 25—26. *) Apg. 12, 25—14,28. 6) Gal. 1,17—24. ") Apg. 6, ii—14; 7,48. 53-

7 Jüdische an Bedeutung verlieren. Paulus hat mit rücksichtslosester

Schärfe diese Folgerung für die Praxis gezogen und die „Freiheit vom Gesetz" in seinen Missionsgemeinden strenger als in der syrischen

Zentrale Antiochia durchgeführt. Der Konflikt mit den Jerusalemer Traditionalisten konnte nicht ausbleiben, und es ist nur erstaunlich, daß ein Dutzend Jahre hingingen, ehe die Gegensätze den Versuch einer Lösung erzwangen. Paulus und Barnabas sind nach Jeru­ salem gereist, haben dort mit den „Säulen" der Urgemeinde, Jakobus, Petrus und Johannes, verhandelt und die Anerkennung ihrer gesetzesfteien Heidenmisston erkämpft: getaufte Heiden brau­ chen nicht beschnitten zu werden. Die Urgemeinde ihrerseits er­ klärte, sie werde nach wie vor nur die Judenmisston pflegen. Nur

die finanzielle Unterstützung der Jerusalemer Gemeiude wird als Pflicht auch von den heidenchristlichen Tochtergemeinden aner­

kannt; sonstige Auflagen find ihnen nicht gemacht worden \ Es war ein klares und erfreuliches Ergebnis, mit dem die beiden Führer der Heidenmisfion nach Antiochia zurückkehrtenr baß es nicht die volle Lösung war, sollte bald deutlich werden. Die

antiochenische Gemeinde war offenbar in ihrer großen Mehrheit heidenchristlich: der Standpunkt der Freiheit von den Ritnalgeboten, der ja nun auch von Jerusalem aus als berechtigt anerkannt war,

herrschte in solchem Umfang, daß auch die judenchristliche Minorität sich gegebenenfalls von den Speisegeboten dispensierte, wenn es nämlich galt, mit den übrigen Brüdern gemeinsam zu essen, d. h.

das Herrenmahl zn feiern. So kam es zu einer schönen Eintracht

im Sinne des Paulus, und als eines Tages Petrus in Antiochia erschien2, schloß er sich ohne Bedenken der Ortssitte an. Es kamen aber noch andere Leute im Auftrag des Jakobus in die syrische Haupt­

stadt, und die waren nicht so tolerant. Sie mißbilligten es durchaus, daß geborene Juden irgendwie das Gesetz außer acht ließen, und

schärften den antiochenischen Judenchristen das Gewissen. Da wurde auch Petrus bedenklich und zog sich zurück, und selbst der alte

Gefährte des Paulus, Barnabas, mied nun die Tischgemeinschaft der Unreinen. Und jetzt stellte sich die Folge klar heraus: ein ge-

*) Gal. 2, i—io gegen Apg. 15.

2) Gal. 2,11—14.

8 «einsames Herrenmahl der beiden Teile war nicht mehr möglich, zwei gesonderte Gemeinschaften standen sich gegenüber. Es lag deutlich vor aller Augen, daß die Jerusalemer Übereinkunft die

Schicksalsfrage der Diasporagemeinden nicht beantwortet hatte, welcher Tell denn in gemischten Gemeinden die Lebenshaltung bestimmen solle.

Paulus hatte das Problem stillschweigend im

heidenchristlichen Sinne gelöst, jetzt kamen die Jakobusleute und

gaben mit kräftiger Stimme die umgekehrte Antwort, indem sie Anerkennung der jüdischen Speisevorschriften auch von den Heiden­

christen forderten, damit Tischgemeinschaft möglich sei. Petrus und Barnabas haben diese Forderung ab berechtigt anerkannt. Da ist Paulus in leidenschaftlichem Zorn für seine These aufgestanden und hat den Pettus vor versammelter Gemeinde gescholten. Aber die Gegenseite gab nicht nach, und Paulus hat fottab seine Wege

von denen des Petrus und auch von denen des Barnabas getrennt \ Er ging damit in eine Fülle von Haß und Kampf hinein. Wie war es zu diesem antiochenischen Streit gekommen? Ver­

mutlich dadurch, daß man in Jerusalem bald nach der Abreise des Paulus und Barnabas das sogenannte Aposteldekret beschloß und durch Rundschreiben den wichtigsten Gemeinden bekannt machte: der Text ist in einer offensichtlich überarbeiteten Form in der Apostelgeschichte2 erhalten, und die darin genannten Boten Judas

und Ellas werden die bei Paulus erwähnten Jakobusleute sein, deren Erscheinen den Kampf auslöfi. Das Dekret bestätigt den Verzicht auf vollkommene Judaisierung der Heidenchrifien, fordert aber doch von ihnen nicht nur Absage an jede Form außerehelichen

Geschlechtsverkehrs, sondern auch den ausschließlichen Gebrauch

koscheren Fleisches bei den Mahlzeiten. Denn das und nichts an­ deres besagt das umständlich formulierte Verbot von Götzenopfer­ fleisch, Blut — d. h. nicht ausgeblutetem Fleisch — und Fleisch

von erstickten — d. h. nicht regelrecht geschächteten — Tieren. Da­ mit war alles Marktfleisch ausgeschlossen, und nur der jüdische x) Apg. 15, 39. 2) Apg. 15, 23—29: die Erwähnung des Barnabas «nd Paulus entspricht nach Gal. 2,6 nicht den Tatsachen, ist also wohl spätere Redaktionsarbeit.

9 Metzger oder, wenn der den Christen nichts verkaufte, ein eigener

judenchristlicher Schächter kam für die Fleischversorgung in Betracht.

Das war also doch eine nicht unbedeutende gesetzliche Auflage, und es ist begreiflich, daß Paulus sich gegen diese Zumutung mit Leiden­ schaft zur Wehr setzte, zumal siehinterseinemRücken in den Gemeinden

verbreitet wurde: erst am Ende seiner Laufbahn1 in Jerusalem wird ihm eine direkte amtliche Mitteilung gemacht. Er kehrte sich also nicht an diese Verfügung, auch später nicht, als sie seine korin­

thische Gemeinde in Verwirrung brachte, und ging unbeirrt den ge­

raden Weg der Gesetzesfreiheit weiter. Seine Misstonsarbeit trieb er nun ins Große, er allein als der verantwortliche Führer, neben dem auch die tüchtigsten Begleiter zu bescheidenen Gehilfen herabsinken. Kleinasien und Griechenland

wird sein Gebiet — aber immer wieder erheben die alten Fragen drohend ihr Haupt. Allen seinen Schritten folgen „Judaisten", die den neubekehrten Heiden im Sinne einer Einheitspolitik die

Notwendigkeit nicht nur des koscheren Essens nach dem Apostel­ dekret, sondern sogar seinem Wortlaut zuwider, aber im Geiste des echten Jttdenchristentums die Heilsbedeutung der Beschneidung

auseinandersetzen; und immer haben diese Sendboten Fühlung mit Jemsalem und machen es den Gemeinden glaubhaft, -aß Jakobus und die Urapostel hinter ihnen stünden; und immer wieder fällt der Schatten des Petrus auf den Weg des Paulus. Sein Verhältnis zu den Uraposteln war endgültig zerstört, denn Paulus konnte die nachträgliche Korrettur des Jerusalemer Friedens

durch das Aposteldekret mit allen ihren Folgen nur als einen Wort-

bruch empfinden und wird das auch in Antiochia dem Petrus ins

Gesicht gesagt haben. Mer in seinen Briefen schweigt er darüber. Weder vom Aposieldekret noch von seinen Urhebern schreibt er auch nur eine Silbe, und abgesehen von jener einen Stelle im Galater­

brief spricht er ebensowenig von seinem Verhältnis zu den Ur­ aposteln. Ihre Autorität konnte er nicht bestreiten, aber ihre Hand­ lungsweise und ihre Gesinnung gegen ihn nicht loben. So kämpft

er sachlich gegen die von Jerusalem ausgehenden Wirkungen und

*) Apg. 21, 25.

10 schilt die Emissäre, die ihm seine Gemeinden verstören, mit hartem und härtestem Tadel. Aber über ihre Auftraggeber fällt kein Wort, nicht über Jakobus in Jerusalem, nicht über Petrus in Korinth und in Rom: es ist, als ob sie gar nicht da wären. Mer wer genauer zusieht, lernt es, zwischen den Zeilen seiner Briefe zu lesen, und er­ kennt hinter den Satansdienern und Lügenaposteln und falschen Brüdern1 die Schatten der Großen von Jerusalem. Paulus stand in seiner neuen Christenwelt einsam und hatte die schlimmsten Gegner im Rücken. über den äußeren Verlauf der Missionsarbeit des Paulus gibt uns die Apostelgeschichte ziemlich ausführliche Berichte, frellich mit größeren Lücken, als die Texte selbst ahnen lassen, aber auch so von unschätzbarem Wert. Wir erfahren von einem weit ausge­ dehnten Feldzug, der sogenannten zweiten Misstonsreise2, die ihn durch das mittlere Kleinasien und an der makedonischen Küste entlang ins Herz von Griechenland führt: in Athen gelingt es ihm nicht, Fuß zu fassen, aber in Korinth gründet er eine Gemeinde. Hier bleibt er anderthalb Jahre, bis ihn die Gegenwirkung der Juden etwa im Sommer 51 zum Rückzug nach Antiochia zwingt. Aber die korinthische Gemeinde hat trotz mancher inneren Schwierigkeiten Treue gehalten und ununterbrochen bis zum heutigen Tag bestan­ den. Die bald danach beginnende sogenannte dritte Reise3 ist zu­ nächst ein erneuter Besuch der bet der vorigen Unternehmung ge­ wonnenen kleinasiatischen Gemeinden und mündet in Ephesus, das Paulus für volle zwei Jahre zu seinem Missionszentrum macht. Don hier aus hat er auch Korinth wieder aufgesucht und schließlich, als er Ephesus verlassen mußte, eine Jnspettionsreise durch ganz Griechenland angeschlossen. Schon richtete er in dem Gefühl, seine Aufgabe im Osten gelöst zu haben, seinen Blick auf Rom und sogar darüber hinaus auf Spanien. Denn das Evangelium war bereits im Vormarsch dorthin begriffen: in Rom war ohne sein Zutun eine heidenchristliche Gemeinde vermutlich durch antiochenische Sendboten entstanden, und es erwuchs die Gefahr, daß auch sie, T) 2. Kor. 11,13—15.26; Gal. 2,4. 18,23 — 21,14.

2) Apg. 15,36—18,22.

’) Apg.

11 wie so manche andere in einen Gegensatz zu Panins hineinmanö­ vriert wurde. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Träger dieser Gegnerschaft Petrus war, der einst in Antiochia jene bittere Zurecht­ weisung hatte einstecken müssen. In Korinch ist er gewesen1 und hat Anhänger gefunden, die dem Paulus das Leben schwer gemacht

haben. Es liegt überaus nahe, anzunehmen, daß er von da nach Rom gefahren sei und seine Tendenj dort wirksam zur Geltung gebracht habe. Das hat Paulus von Korinth aus zu hindern ver­

sucht, indem er den Römern in seinem gewaltigsten Schreiben sein ganzes Programm entwickelt — vorläufig, denn er will nur erst noch in Jerusalem die pflichtmäßige Kollekte seiner Gemeinden

abliefern, dann gedenkt er selbst zu kommen. Aber es kam anders, als er hoffte, wenn auch nicht anders, als er fürchtete2. Zwar schickte er sich an, durch korrekte Gesetzlichkeit das Mißtrauen der Urgemeinde zu überwinden, aber unglücklicherweise wurde er von kleinaflatischen Juden im Tempel erkannt und sofort beschuldigt,

unter seinen Begleitern auch einen Richtjuden in den heiligen Bezirk

geführt zu haben: darauf stand für diesen der Tod. Man schleifte Paulus zum Tempel hinaus und wollte ihn totschlagen, da griff der römische Wachkommandant ein und nahm ihn fest, in der Hoffnung, einen gerade eifrig gesuchten ägyptischen Bandenführer erwischt zu haben. Er mußte zu seiner Enttäuschung erfahren, daß es fich um einen innerjüdischen Krawall aus religiösen Motiven gehandelt

hatte, und daß der Verhaftete obendrein römischer Bürger sei. Wie die Sache weiter gelaufen ist, läßt fich aus den nur scheinbar genauen Erzählungen

der Apostelgeschichte

nicht klar

ersehen.

Jedenfalls nimmt ihn der Wachkommandant in eine Art Schutz­ haft, damit die Juden ihn nicht umbringen3, und schafft ihn schließ­ lich zum Prokurator nach Cäsarea. Aber auch hier kommt es zu

keiner Entscheidung: er wird weder dem jüdischen Gericht ausge, liefert noch freigelassen noch nach römischem Recht abgeurteilt, son­ dern zwei Jahre in Haft behalten. Erst als in der Person des Festus ein neuer Prokurator erscheint und dieser ihm zumutet, fich in Jerusalem dem Synedrion zu stellen, kommt es zur Entscheidung:

*) i. Kor. i, 12; 9,5.

2) Röm. 15, ZI.

3) Apg. 2Z, 12—35; vgl. 23,10.

12 Paulus, der sich bisher stets als treuer Jude den Gerichten seines Volkes und ihren Urteilen unterworfen und sogar fünfmal' die

von ihnen dekretierte Prügelstrafe widerstandslos erduldet lehnt das Ansinnen ab und verlangt, als römischer

hatte,

Bürger vor das Kaisergericht gestellt zu werdend

Daraufhin

tut Festus seine Pflicht und sendet den verdächtigen Mann nach Rom. Er kommt dort nach einer langen und wechselvollen

Reise an, schon beim Verlassen des Schiffes auf italienischem

Boden von christlichen Brüdern begrüßt. Zunächst lebt er in Rom jwei Jahre lang in relativer Freiheit unter Polizei­

aufsicht und kann ungehindert mit der Gemeinde verkehren und predigen. Was dann gekommen ist, wissen wir nicht. Möglicher­ weise ist er freigesprochen worden und hat wieder reisen und wirken

können, hat Spanien besucht und auch den Osten wiedergesehen.

Mer das kann Legende sein —sicher ist, daß er unter Nero in Rom den Märtyrertod gestorben ist8 und an der Straße nach Ostia be­ graben wurde. Paulus ist nicht der Schöpfer der Heidenmission gewesen, und das Christentum wäre auch ohne ihn um das Mittelmeer gewandert:

aber er hat der Religion Jesu die Form gegeben, in der sie fähig war, die Welt zu erobern, ohne Schaden zu nehmen an ihrer Seele. Er hat nie zu den Füßen des Meisters gesessen und ist doch der Ein­ zige unter den Aposteln gewesen, der ihn wirklich verstanden hat. Er ist Jude mit Leib und Seele, aber der Geist der Diaspora hat

seinen Blick geweitet: so zieht er mit kühnem Wagen die Summe der Geschichte seines Volkes, indem er sie aufgehen läßt in die Ent­

faltung der Weltreligion des himmlischen Kyrios: und die Welt­ geschichte hat sein Urteil bestätigt. Wenn man die Lebensleistung des Paulus würdigen will, so

muß man noch eins bedenken: er ist ein kranker Mann gewesen, soweit wir sein Leben verfolgen können. Äußerlich vermutlich das gerade Gegevtell von der Prachtgestalt, die ihm Meister Dürer

verliehen hat, trägt er „einen Pfahl im Fleisch" und die „Narben Christi an seinem Leibe": seine Arbeit ist ein tägliches Sterben

T) 2. Kor. ii, 24.

2) Apg. 25,10 f.

3) 1. Clem. 5,7.

13 seines Leibes mit Jesus, eine dauernde Mißhandlung seines Kör­ pers, um den Aufgaben gewachsen j» sein, die sein Beruf an ihn stellt. Man hat ihn jum Epileptiker machen wollen — aus

einer einmal modernen Laune, ohne Grund: aber seine Nerven waren jerrüttet und haben ihn mit Erscheinungen geplagt, die ihm und anderen zu bitterem Leid geworden find. Aber er klagt nicht

darüber, sondern ist stolz darauf, auch so in der Schwachheit für

Christus j« wirken. Hat ihm der Herr Loch selbst einst gesagt:

„Laß dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft vollendet fich in der Schwachheit." So hat er seine Kreuzestheologie selbst ge­ lebt 1 und weiß, was es heißt, mit Christus zu sterben. Doch nun zu seiner Lehre. Wie und was Paulus den Heiden gepredigt hat, können wir nur in allgemeinen Umrissen

sagen: denn keine Quelle schildert uns den Missionar Paulus,

der unbekehrte Juden oder reine Heiden j« gewinnen sucht. Seine

Briefe wenden fich an bereits gewonnene Gemeinden und setzen alles für unsere Frage Wesentliche als bekannt voraus. Und Briefe, auch wenn fie dittiert find, geben noch keineswegs zu­ verlässig ein Bild der mündliche» Rede. Paulus selbst hat es

von seinen Gegnern einmal bescheinigt bekommen, daß er beim persönlichen Auftreten ein ganz anderer sei als in seinen Briefen2: das mag auch für seine Misfionspredigt im Vergleich mit den Dar­

legungen der Briefe gelten. Und wenn wir uns darauf befinnen, daß der Apostel immer nur zum Schreiben geschritten ist, wenn

ganz konkrete Fragen zu beantworten oder praktische Schwierig­ keiten zu überwinden waren, nie zum Zweck zusammenhängender Darlegung seiner Lehre, so sehen wir weitere Gründe für die mannig­

fache Unsicherheit und Lückenhaftigkeit unseres Wissens.

Dazu

kommt das Letzte: Paulus ist ein eigenattiger und einsame Bahnen ziehender Denker, und er ist sein eigener und eigenwMger Stüist — er redet bei aller Gelehrsamkeit auch nicht „wie die Schrift­ gelehrten", sondern mit der seltsamen Gewalt eines Propheten, dessen Blick über die Menschen vor ihm hinübergleitet und fich

*) 2. Kor. i2,7. Gal. 6,17. 2. Kor. 4,10. 1. Kor. 9, 27. IO, IO*

2) 2. Kor.

14 in den Tiefen der Ewigkeit verliert. Die Menschen werden von

ihm ergriffen, ohne ihn auch von sich aus ergreifen zu können.

Voll verstanden hat den Paulus keiner von seinen Hörern und Lesern — bis auf den heutigen Tag. Wir spüren es an seinen Briefen, wie alles in ihm arbeitet, wenn er diktiert. Er erörtert ruhig, kühl und verstandesmäßig,

dann will er eine komplizierte Deduktion vortragen: er setzt an, ver­ fängt sich im Satzgefüge, verfolgt einen Nebengedanken, bringt ein schiefes Blld, bleibt schließlich stecken. Nun hebt er nochmal an, aber wieder überstürzen die Gedanken in ihrer Fülle die mühsam nach­

hinkenden Worte und verschlingen sich erneut zu einem seltsamen Satzgebilde — der Leser ahnt, was er sagen will, aber es kommt

nicht zu Papier. Dann endlich — aber keineswegs immer —bildet sich die Form dem Inhalt gemäß. Und derselbe Mann kann mit hinreißendem Zauber der Gestaltung sein Gefühl ausströmen lassen

in die Herzen der Leser oder vor Gottes Thron, wenn er um die Seelen der wankenden Galater ringt oder den Korinthern das hohe

Lied der Liebe, den Phllippern den Hymnus von Christus dem

Kyrios singt: als ein Sprachmeisier von Gottes Gnaden, dem alle Register des menschlichen Organon gehorchen, ein einziger ge­ nialer Wildling in der sauber gezüchteten Baumschule des griechischen Literatentums der Zeit. Versuchen wir, ein Blld seiner Gedankenwelt zu skizzieren. Von

Gott weiß er aus der Lehre von Elternhaus und Schule, von Syn­ agoge und Rabbinat: und er liest von ihm im Alten Testament seine eigene Selbstoffenbarung. Er weiß als Hellenist, daß auch die Heiden bei ernsthaftem Nachdenken aus der Schöpfung auf das unsichtbare Wesen ihres Urhebers1 schließen, aus dem Sittengesetz in ihrer Brust den Willen des göttlichen Gesetzgebers2 erkennen können. Aber er ist doch stolz darauf, daß nur Israel die volle und

direkte Offenbarung und das geschriebene Gesetz im buchstäblichen Worüauterhalten hat2. Und dies Gesetz gilt es nicht bloß zu hören und zu studieren, sondern zu tun, ja im vollen Umfang zu halten4.

x) Röm. i, 20. 13. Gal. 5, 3.

2) Röm. 2,14 f.

3) Röm. 2,27.

4) Röm. 2,

15 Gott ist gerecht, das heißt er straft den Übertreter seines Gesetzes und belohnt den Gehorsamen, den Gerechten.

So offenbart sich

sein Zorn über die Heiden, die von der Wahrheit abgewichen sind: er hat sich von ihnen abgekehrt und sie „dahingegeben" in tiefste

sittliche Derkommenhett, die sich in dem gleichen Maße steigert, in dem sich die Gotteserkenntnis dieser Götzendiener verdunkelt. Aber auch der Jude hat Ursache, auf seine Taten ju sehen und sich zu prüfen, ob er in Wahrhett Gott besser gehorcht als die verach­

teten Heiden. Denn am Ende der Zeiten steht der Tag des Gerichts:

da wird Gott einem jeglichen nach seinen Werken vergelten, den Täter des Guten mit Ehre und ewigem Leben belohnen, den Un­ gehorsamen mit seinem Zorne strafen — und zwar den Juden so gut wie den Heiden ohne Unterschied der Person. Diese über das

vulgäre Selbstbewußtsein des Juden im Sinne der prophetischen Vertiefung hinausgehende Gottesvorstellung hat Paulus mit den

besten seiner jüdischen Glaubensgenossen gemein.

Aber sie wird

überlagert von einer ganz anderen Erkenntnis, die sie fattisch völlig neutralisiert, well sie die Gerechtigkeit Gottes und die Bedeutung der Sünde unter einem neuen Gesichtspuntt erfaßt. Wir finden in den Gleichnisreden Jesu bereits ei« Bild der Gerechtigkeit Gottes1, welches den heftigen Widerspruch des Talmud erregt hat: da wird die für menschliche Denkweise

charatteristische Formalgerechtigkeit zurückgewiesen und von einer freischenkenden Gnade überwunden, zum Ärger der Leute, die

so schön mit Gott rechnen können.

Paulus hat dasselbe Ver­

ständnis der göttlichen Gerechtigkeit, nur birgt er es in kompli­ zierteren Denkformen. Fest steht ihm vor allem andern der Heils­

wille Gottes als die indiskutable Grundlage aller Religion. Die

irdische Erfahrung zeigt ihm — und er kann es auch aus der Schrift belegen —, daß alle Menschen ohne Ausnahme Sünder sind, daß also schlechthin niemand, weder Heide noch Jude, das Gesetz er­ füllen kann: es gibt keine Gerechten unter den Menschenkindern.

Die Sünde trennt sie alle von Gott. Wenn also Gerechtigkeit im formalen Sinne Gottes Wesen entspräche, so käme nur Zorn und

x) Matth. 20, i—16.

16 Strafe für die Menschheit in Betracht — aber wo bliebe der Heils­

wille Gottes, der sich in den Verheißungen des Alten Testaments

offenbart und ebenso unzweifelhaft ist wie seine strafende Gerech­ tigkeit? Also muß Gott auch Sünder zu sich nehmen und dabei doch gerecht sein können. Folglich ist seine Gerechtigkeit eine

andere als die sonst so genannte menschliche Tugend: sie offenbart

sich in der Form, daß Gott aus freier Gnade den Sünder annimmt und ihn „gerecht macht", indem er ihm also die Eigenschaft als

Geschenk spendet,

die er sich nicht durch eigene Leistung er­

werben kann. Aber eine Bedingung ist dabei: der Sünder muß „glauben", das heißt in voller Erkenntnis seiner eigenen Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit sich ganz der göttlichen Gnade hingeben und ohne Zweifel gewiß sein, daß Gott ihn gerecht macht und zum

Leben führen wird.

Bedeutet das nun nicht schlechthin die Er­

setzung des Begriffs göttlicher Gerechtigkeit durch den Begriff der Barmherzigkeit? Wäre es nicht einfacher zu sagen: Gott ist nicht

im menschlichen Sinne „gerecht", denn dann würde kein Mensch dem Gericht entgehen, sondern er ist statt dessen barmherzig? Im letzten Grunde ist die Sache damit allerdings zutreffend bezeichnet:

aber Paulus würde es als schwere Blasphemie empfinden, Gott die Eigenschaft der Gerechtigkeit abzusprechen x, und so findet er einen Weg, seine tiefgreifende religiöse Erkenntnis mit einer auch formal befriedigenden Gerechtigkeitstheorie zu verbinden.

Gottes

Gerechtigkeit muß allerdings dem Sünder Strafe und Sühne auflegen: und diese Sühne ist Gott geleistet worden, indem der

unschuldige und sündlose Jesus die Sündenstrafe freiwillig trug und den Tod erlitt. Dieses Todesleiden nahm er als stellver­ tretendes Sühnopfer für die sündige Menschheit auf sich, versöhnte damit Gott, befriedigte seine Sühne heischende Gerechtigkeit und

brach dadurch der Barmherzigkeit Bahn, die nun dem Christus­ gläubigen die erforderliche Gerechtigkeit schenken kann: so ist Gott gerecht und macht gerecht2. Der Gedanke des sühnenden Sterbens

für andere, der ja im Tieropfer des alttestamentlichen Ritual-

*) Röm. 3, 5.

2) Röm. 3,23—26. 5, 8—9. Gal. 3,13.

17 gesetzes zu primitivem Ausdruck kommt, und den wir im helle­ nistischen Judentum bereits auf die Höhe des freiwilligen Opfer­ todes der makkabäischen Jünglinge für die Sünden ihres Volkes gehoben sehen, wird hier zum kosmischen Drama entfaltet, das die göttliche Gerechtigkeit mit der sündigen Menschheit versöhnt. Aber dies überweltliche und übermenschliche Geschehen ist wiederum nicht ein mit innerer Notwendigkeit ablaufender Prozeß

der göttlichen Wesenheit, wie bei dem Scholastiker Anselm, sondern

freie Gnadenhandlung Gottes.

Paulus weiß etwas davon, daß

es für Gottes Tun keine „zureichenden Gründe" gibt, die dem

Menschen eine Verhandlungsbasis bieten könnten.

Er weiß sich

durch Gottes unbegreifliche Barmherzigkeit errettet und blickt noch schaudernd in den Abgrund, in den sein unerforschlicher Wille die klirrenden Scherben der Gefäße seines Zornes schleudert*. Gott nimmt an, wen er will, und verwirft, wen er will, und schon dem Kindlein im Mutterleibs ist sein Schicksal beschieden — nach

Gottes freier Wahl. Und wie stets, wo der Prädestinations­ gedanke auf religiöse Aktivität stößt, hat er auch bei Paulus nicht lähmend gewirtt, sondern ihn in frohem Bewußtsein der göttlichen Erwählung nur immer stärker werden lassen2. Freilich, die Epi­ gonen haben Jahrhunderte lang nicht gern davon geredet. Aber auch für Paulus ist mit der Erkenntnis des prädestinierenden

Gottes noch nicht das letzte Wort gesprochen: im tiefsten Grund seiner Seele ahnt er das selige Geheimnis einer schließlich auch die

Verworfenen erlösenden, allumfassenden göttlichen Liebe, die alle unter den Ungehorsam beschlossen hat, um sich aller zu erbarmen3. Zu diesem Gott und seiner Gnade gibt es für den Menschen nur einen Weg, Jesus den Christus. Dieser Manu, der sein

kurzes Leben in Palästina zugebracht hat, wandernd und lehrend, und der schließlich den Verbrechertod am Kreuz starb, der ist vom

Tode auferstanden; ist seinen Jüngern und zuletzt auch dem Paulus erschienen: er lebt und wirkt bei und mit Gott und wird bald wieder­ kommen. Das war persönliche Kunde und Erfahrung des Paulus. *) Röm. 9, io—29.

2) Röm. 8,28—39.

3) Röm. u, 32.

18 Aber er wußte auch um das Geheimnis seiner Person.

Er war

Gottes Sohn in ganz einem andern Sinn als irgend einer unter den Menschenkindern: einst hatte er in göttlicher Gestalt bei seinem Vater geweilt1 und war Gott gleich gewesen, aber dann war er auf des Vaters Geheiß vom Himmel herabgestiegen und hatte sich den Menschen gleich gemacht, um sie zu erlösen. Denn auf der Menschheit lastete ein unentrinnbares Verhängnis: in ihrem Fleische wohnte die widergöttliche Macht eines bösen Dämons,

der Sünde, und jwang sie nach ihrem übermächtigen Willen:

mochte sich die innere Einsicht des besseren Ich noch so sehr sträuben und dem Guten justreben, es war ein vergeblicher Kampf — und

Haupt um Haupt siel dem Tode zum Opfer, zahlte nach Gottes unerbittlichem Gesetz der Sünde den Sold2.

Da kam Gottes

Sohn auf die Erde, aus Davids Geschlecht geboren3, nahm einen Fleischesleib an, wie wir ihn haben, in dem die Sünde wohnte und wirkte4, und unterstellte sich dem für alle Menschen geltenden Gesetz5. Aber an ihm zerschellte die Macht der Sünde: er tat ihr nicht ihren Willen, blieb sündlos6 und überwand sie so in seinem

Fleisch4. Trotzdem aber beugte er sich nach dem Willen des Vaters gehorsam unter sein Menschenschicksal: obwohl dem Tode als

Sündloser nicht verfallen, nahm er ihn freiwillig auf sich und starb wie ein Sünder, ja wie ein Verbrecher — und die bösen Geister dieser Welt triumphierten: sie ahnten ja nicht, was in Gottes Ab­ sicht lag7. Denn nun war das Opfer für die Menschheit geleistet, die Sünde auf ihrem eigenen Herrschaftsgebiet überwunden — nun konnte auch der Tod seine Beute nicht mehr behalten. Der

Gekreuzigte und Begrabene erstand zu neuem Leben8, sein Werk war vollendet und Gott hob ihn auf den höchsten Thron zu seiner

Rechten und schenkte ihm den Namen über alle Namen, den Namen des „Kyrios", des Herrn, vor dem sich alles beugt, was im Himmel und auf Erden und unter der Erde ist. Das ist das kosmische Erlösungsdrama, das sich zwischen Gott, Christus und den Himmels­

mächten gegen Sünde und Tod mit all ihren dämonischen Helfers-

8,3.

x) Phil. 2,6—Ii; vgl. Röm. 8,3. 2) Röm. 7. 3) Röm. I, Z. 4) Röm. 5) Gal. 4,4. 6) 2. Kor. 5,21. 7) 1. Kor. 2,8. 8) 1. Kor. 15, 3.4*

19 Helfern abspielt.

Die Erdenwelt ahnt trotz aller Weissagung nicht,

was da geschieht \ Erst mit der Offenbarung des auferstandenen Christus wird der Menschheit die Erlösung verkündet und der Weg zu ihrer An­ eignung gewiesen: denn darauf kommt es doch schließlich an, den

einzelnen Menschen in Beziehung zu diesem überweltlichen Ge­ schehen zu setzen. Wir haben schon gehört, daß Paulus den Glauben eiä das Organ bezeichnet, mit welchem der Mensch die göttliche Gnade ergreift.

Wenn er sich so ausdrückt, so formuliert er damit

den Heilsprozeß unter dem psychologischen Gesichtspunkt, er nennt die entscheidende Gesinnung der restlosen Selbsthingabe im Gegen­

satz zum Vertrauen auf eigene Leistung. Aber der Glaube ist nur die subjektive Empfindungsform, das Bewußtwerden eines objek­ tiven Vorgangs, einer positiven Veränderung, die sich am Menschen vollzieht. Der natürliche Mensch lebt unter dem Druck von Sünde

und Tod in der irdischen Sphäre derart, daß sein „Fleisch" die Dominante ist. Der Herr aber ist von göttlicher Wesenheit, das heißt, er ist Geist, Pneuma, und durchströmt jeden mit diesem Himmelsstoff, der sich ihm hingibt. Wer Christ wird, empfängt den Geist und hat somit in voller Realität teil an dem erhöhten

Herrn, sein Leib wird ein Glied Christi2, und die Gesamtheit der Christen kann als eine große Einheit bezeichnet werden, als der Leib Christi, dessen Haupt der Herr ist3. Wer Christ wird, tritt damit in diese mystische Gemeinschaft des Pneuma ein, er ist tatsächlich „in Christus" wie in einem himmlischen Fluidum.

Und dieser Geist überwindet die Sünde im Fleisch: was sich einst als siegreicher Kampf wider die Sünde in der Person des geschicht­ lichen Jesus abspielte, das wiederholt sich immer aufs neue in

jedem geistbegabten Christen: jeder Christ wird wieder ein „Christus auf Erden". Der Geist ergreift die Herrschaft im Menschen, bricht die Kraft der sinnlichen Begierden des Fleisches und ebnet den Weg zum Leben nach Gottes Willen.

x) i. Kor. 2, 8. Kol. 2,15. i. Kor. io, 17. Kol. 1,18. 24.

Der Christ wandelt „im Geist"

2) i. Kor. 6,15. 12,13.

3) Röm. 12, 5.

20 und nicht „im Fleisch": er erfüllt die Forderungen des göttlichen

Gesetzes *, was dem natürlichen Menschen in alle Ewigkeit unmög­

lich ist. Aber diese Gemeinschaft mit Christus ist auch eine Gemein­

schaft mit seinem Leiden: wie der Weg des Herrn durch Leiden hindurch zur Erhöhung führte, so erfährt auch der Christ hier auf Erden das Leiden Christi, um danach auch an seiner Herrlichkeit teilzunehmen8. Christus ist, von hier aus gesehen, der Erst­ geborene unter vielen Brüdern, die er seinem Bilde gleichmachen wird8.

Der Christ spürt seine Begnadigung hier als Empfindung

fittlicher Kraft im Kampf wider die Sünde, als Gefühl stolzer

Freiheit von ihrem dämonischen Zwang, als freudigen Befitz aller gottgefälligen Tugenden, als williges und überwindendes Er­

tragen aller Leiden in dem seligen Bewußtsein der Gemeinschaft mit seinem Herrn: aber er lebt in Hoffnung, denn die Vollendung seiner Erlösung, das heißt seine volle Befreiung vom Leibe, das selige Erfahren himmlischer Herrlichkeit, liegt in der Zukunft \

Der Prozeß der Erlösung ist also ein gottgewirkter Vorgang im Menschen, wodurch er von einem irdisch bestimmten, „fieischlichen", zu einem geistlichen, pneumatischen, Wesen nach dem Vor­ bild Jesu Christi umgewaudelt wird, ein Prozeß, der erst in der endgültigen Trennung vom Leibe mit dem Eintreten der himmli­

schen Herrlichkeit und der Verleihung des verklärten Leibes zum Abschluß kommt und Erlösung im Vollsinn des Wortes wird. Womit beginnt er und wie kann der einzelne sündige Mensch die Eingliederung in diese Heilskette erreichen? Am Anfang steht die Predigt der göttlichen Botschaft, die

Verkündigung der göttlichen Einladung an die Menschen8, sich mit Gott versöhnen, sich erlösen zu lassen6. Ihr gilt es zu glauben, bedivguvgs- und schrankenlos. Aber dieser Glaube ist nicht einfach gefühlsmäßige Stimmung, die fich in der Tiefe der Seele entfaltet,

sondern zugleich ein zum Handeln drängender Wille, der Gottes rettende Hand ergreift. Dem Entschluß muß die Tat folgen: der

Röm. 8,3—4; i3,8. 2) Röm. 8,17. 2. Kor. 4,10. 13,4. Phil. 3, io. Gal. 6,17. 3) Röm. 8, 29. 4) Röm. 8,23. 13,11. 5) Röm. 10, 17. Gal. 3,2. 6) 2. Kor. 5,20.

21 neu gewonnene Gläubige fügt sich der Gemeinde Chrisii ein, er

wird durch die Taufe jum Christen gemacht. Da vollzieht sich an ihm das Wunder eines göttlichen Mysteriums er taucht unter im Taufquell und stirbt damit, aber er stirbt keinen gewöhnlichen

menschlichen Tod, sondern den Tod Christi. Der Tod, der einst am Kreuz auf Golgatha für die Sünden der Welt geleistet ist, wird

ihm zugeeignet, wird sein Tod, den er nun für seine eigene Sünde erleidet. Er zahlt damit der Sünde den schuldigen Sold und ist dadurch von ihr frei: Gott hat ihn durch dies Wunderwirken gerecht gemacht, er hat keine Sünde mehr. Aber nicht nur negativ wird der Christ „auf Christus getauft" d. h. wörtlich „in Christus hinein­

getaucht", sondern auch positiv: er „zieht Christus an", er wird in jenen geistlichen Leib Christi eingefügt2, den die gesamte Gemeinde bildet, mit anderen Worten, es wird ihm die Himmelssubstavz

des Geistes verliehen.

Der Sünder ist im Taufbad gestorben:

der Christ, der aus dem Wasser emporsteigt ist ein neues Geschöpf2: „das Alte ist vergangen, siehe es ist neu geworden", er ist nun „in

Christus".

Und dämm kann Paulus auch sagen, daß wie dem

Untertauchenden der Tod, so dem Auftauchenden die Auferstehung

Christi zuteil werde.

Aber er formuliert das sehr deutlich im

Sinne der Zielsetzung: wir sollen nun in einem neuen Leben wandeln, und in der Kraft des Geistes können wir es auch, wir

sind der Sünde abgestorben und haben den Tod erlitten: unser neues Leben im Geist steht im Dienst der Gerechtigkeit4 und mündet in ein ewiges Leben in der Gemeinschaft des auferstandenen

Christus.

So wirkt die Taufe die Geburt des Christen als eines

neuen Wesens, das frei von den natürlichen Bindungen des irdischen Lebens durch den Geist mit dem erhöhten Herrn vereint

ist. Das erste ist der Glaube, das zweite die Taufe, das dritte der Geist: damit ist der Mensch gerechtfertigt und auf die Bahn der Erlösung gestellt. Aber auch der Wiedergeborene lebt, solange er im Fleische ist, im Glauben und nicht im Schauen6.

Glaube ist

x) Röm. 6,2—ii. 2) Gal. 3,27—28. 1. Kor. 12, 13. 3) 2. Kor. 5,17. Röm. 6,4. 4) Röm. 6,18—23. 8,9—11. 5) Gal. 2,20. 2. Kor. 5,7.

22 und bleibt die Stimmung des Christen, und dies Wort ist bei Paulus die charakteristische Bezeichnung seines Standes.

Wir haben in dieser Tauflehre ausgeprägte Sakraments­ mystik vor uns, wie sie uns zwar nicht im hellenistischen Judentum

direkt greifbar ist, wohl aber in seiner Umgebung begegnet: davon wird noch zu handeln sein. Aber schon jetzt ist es für das Verständnis des Paulus von entscheidender Bedeutung, die ethische Höhenlage

dieser Theorie festzustellen. Sie ist am Gottesbegriff des Paulus orientiert und versteht unter Erlösung die Befreiung des Menschen

von allen Mächten, die ihn hindern, Gottes Willen zu erfüllen und nach seinen Geboten zu leben, bis er schließlich auch die letzten Fesseln des Fleisches verlassen und in Gemeinschaft mit seinem Erlöser triumphieren kann. Das Heil, die Soteria, ist für Paulus nicht gegenwärtiger Besitz, sondern die im Glauben ergriffene

Verheißung der Zukunft*.

Am Beginn dieses Heilsprozesses

steht der entscheidende Akt der Rechtfertigung und die Neugeburt

durch den Geist in der Taufe: der Christ ist gerecht, ist der Sünde gestorben und frei von ihrer Macht. Wenn man bis hierher die Theorie des Paulus verfolgt hat, so wird man geneigt sein zu der

Annahme, der Christ als neues Geschöpf könne gar nicht mehr

sündigen. War früher in dem „alten Adam" die Sünde die Dominante, so ist es jetzt der Geist, und wenn die böse Macht den Menschen einst unwiderstehlich zum Sündigen zwang, so wird man noch viel mehr der göttlichen Kraft des Geistes die Leitung des Christen in unbedingte Sündlosigkeit nach dem Vorbild Christi zuzuschreiben wünschen. Wir werden sehen, daß diese Konsequenz

in späterer Zeit auch auf manchen Seiten gezogen worden ist.

Paulus hat das nicht getan. Zwar schildert er den Zustand des Christen als des gerechtfertigten, sündlosev, geisterfüllten neuen Menschen in der vorhin dargelegten Weise: er betont energisch,

daß der Christ der Sünde gestorben ist.

Aber er sagt nirgendwo,

die Sünde sei gestorben: sie ist noch da, wirkt in der unerlösten Mevschevwelt mit ungebrochener Kraft und lauert nur auf die Gelegenheit, das verlorene Gebiet wiederzugewinnen. Die Er*) Vgl. Röm. 8, 24; Eph. 2,5.8 ist die einzige Ausnahme.



23



fahrungen des Lebens, die Kämpfe um die sittliche Haltung der

Neubekehrten haben ihm deutlich genug gezeigt, daß auch in den

Christengemeinden die Sünde noch eine böse Rolle spielt.

Er sieht

mit tiefem Schmerz, daß die Korinther trotz ihres Christentums in Zank und Streit leben, und zieht vor ihren Augen daraus die Folgerung, daß sie eben noch „fleischlich" sind und als „Menschen" Tadel verdienen1.

Das kann gar nichts anderes heißen, als daß

sie trotz des ihnen in keiner Weise abgesprochenen Geistesbesitzes2 doch der Sündenmacht im Fleische nachgeben, daß sie den Kampf des Geistes gegen das Fleisch nicht in Christi Weise siegreich führen,

sondern Niederlagen zu verzeichnen haben. Nun begreifen wir aber auch, wie Paulus von der Schilderung christlicher Sünden­

freiheit und Geistigkeit als einer beseligenden Tatsache reden und

im gleichen Atem die Christen auffordern kann, die Sünde nicht bei sich herrschen zu lassen und den Leib in den Dienst Gottes zu stellen3, daß er es als eine Pflicht hinstellt, nicht nach des Fleisches Willen zu leben4.* Ja er ermahnt klar und deutlich seine Gemeinde,

sich vom Geist Gottes treiben zu lassen und durch den Geist die leiblichen, d. h. sündigen Regungen zu töten3. Die Sünde im Fleisch ist nicht tot, so wenig sie in dem Leibe des auf Erden wan­ delnden Jesus tot war: sie muß vielmehr in jedem Einzelnen durch den in ihm wohnenden Geist ebenso ertötet werden wie sie in Christi Leib überwunden wurde. So bleibt also das Chrisienleben in der

Verwirklichung durch den Einzelnen immer nur ein unvollkommenes

Abbild des in Christus erschienenen Ideals, ein Ringen um Christi Wohlgefallen6: Paulus kann selbst von sich sagen, daß er die Vollen­ dung des Christevlebens noch nicht erreicht habe, aber mit aller

Anstrengung dem Siegespreise nachjage. Wie in der Erkenntnis, so gibt es auch in der Überwindung der Sünde ein Vorwärts­

schreiten vom Kleinen zum Großen, gibt es Stufen der Voll­ kommenheit 7. Von hier aus entfaltet sich auch das Verständnis für die Lehre *) i. Kor. 3, 3—4; vgl. Röm. 8, 12—13. 2) 1. Kor. 3, 16. 6, 19, sogar 5, 5. 3) Röm. 6, 12—14. 19. i. Kor. 6, 20. 4) Röm. 8, 12. 6) Röm. 8,13—14. Gal. 5,16—17. Kol. 3,5—10. 6) 2. Kor. 5,9; vgl. 1. Kor. 11, 32. 1. Kor. 9, 23. 7) Phil. 3,12. 1. Kor. 3,1.

24 von einem Gericht, das über die Christen ergehen und sie nach

ihren Taten*1 richten wird: da müssen sie sich als vorwurfsftei

ausweisen, und ihre Herzen werde» geprüft, ob sie auch untadelhast in Reinheit vor Gott bestehen können2.

Das ist kein Wider­

spruch mit der Lehre von der Gerechtigkeit allein durch den Glauben,

sondern muß von ihr aus verstanden werden.

Die Taten des

Wiedergeborenen sollen durch den Geist gewirkt werden, nicht vom Fleische aus. Und dieses Leben im Geist ist vom andern Gesichts­

punkt aus gesehen Leben im Glauben, d. h. Leben im Glauben an den Besitz der von Gott stammenden Gerechtigkeit2: so ist das berühmte Wort des Apostels zu verstehen, daß alles, was nicht

aus dem Glauben geschieht, Sünde ist2.

Er hätte auch sagen

können: was nicht aus dem Geist geschieht, ist Sünde. Das jüngste Gericht entscheidet, ob der Christ wirklich aus dem Glauben im Geiste gerecht geworden oder im Fleisch als Sünder stecken geblieben ist. Das ist nicht kasuistischer Nomismus, ist nicht ein

Rückfall in die jüdische Berechnung der Werke, sondern ist an­ gesichts der Schwäche auch des Wiedergeborenen5 die letzte ent­ scheidende Frage nach der Dominante im Chrisienleben: Geist oder Fleisch, Glaubensleben in Christus oder Menschentum in der Welt.

Ob die Bestrafung des sündigen Christen eine absolute Ver­ werfung oder eine relative Züchtigung ist, hat Paulus nirgendwo gründlich dargelegt. Aber aus gelegentlichen Äußerungen können wir das zweite als seine Meinung erschließen: sogar der Blut­ schänder von Korinth soll bei lebendigem Leibe dem Satanas übergeben werden, der sein Fleisch vernichten wird — aber sein christlicher Geist soll am jüngsten Tage dann doch noch gerettet

werden2. Andererseits darf nicht vergessen werden, daß der Apostel den sündigen Christen mit dem Tode droht, also mit der

endgültigen Verwerfung, wie sie jedem Nichtchristen bevorsteht7. Er rechnet also mit der Möglichkeit, daß auch ein getaufter und mit dem Geist begabter Christ sich dem Fleisch und der Sünde

*) i. Kor. 3,14—15. 2. Kor. 5, 9—10. 2) 1. Kor. 1, 8. Phil, i, 10. 1. Thess. 3,13. 3) Phil. 3,9. 4) Röm. 14,23. 6) Gal. 5,17. °) 1. Kor. 3,15. s, 5.11,32. ’) Röm. 8, 13. Gal. 5,21. 6,7—8.

25 derartig wieder zuwenden kann, daß Gott ihm seine Gnade ent­

zieht und ihn der Verdammnis preisgibt. Und er weiß ja, daß Gott beruft und verstößt, wie und wen er will. Erst die Folgezeit hat das Problem der Sünde des Christen in einem klaren System zu erfassen gesucht. Außer der Taufe kennt Paulus noch ein zweites Sakrament,

das Abendmahl.

Es ist ihm nicht die einfache Tischgemeinschaft

mit dem erhöhten Herrn, wie der Urgemeinde, sondern die Er­ füllung einer vom Herrn selbst bei seinem letzten Zusammensein mit den Jüngern begründeten Stiftung.

So hat er es vom Herrn

überkommen — das kann nur durch eine Offenbarung geschehen sein — und so hat er es an die Gemeinden weitergegeben 5 daß nämlich dies Gemeindemahl zum Gedächtnis Jesu geschieht, und daß dabei der Tod des Herrn verkündet wird, bis daß er kommt. Aber es ist mehr als ein bloßes Gedächtnismahl, wie es auch sonst

vielfach in der alten Welt üblich ist.

Eher gleicht es einem Opfer­

mahl, denn die Genießenden trete« untereinander und mit dem

Erhöhten, dem die Feier gilt, in eine mystische Gemeinschaft, die

sie zu einer Einheit zusammenschließt: die eine Speise, das eine

Brot, das sie gemeinsam essen, verbindet sie und macht sie zu e i»e m Leibe, dem pneumatischen Leibe Christi2. So ist das Mysterium des Herrenmahles dem der Taufe verwandt. Doch ist die Wirkung

hier noch anschaulicher: denn Wein und Brot sind nicht gewöhnliche Speise, sondern himmlische Nahrung, sie sind Blut und Leib des erhöhten Herrn, sind Pneumasubstanz, die mit ihrer Wunder­ kraft in den Tellnehmer am Mahle eingeht und ihn so zum geist­ lichen Leib Christi macht.

Wehe ihm, wenn er diese Elemente

einer überirdischen Wesenheit unehrerbietig wie gemeine Nahrung zu sich nimmt: dann werden sie in seinem Leibe zu Gift und schaffen dem Frevler Krankheit und Tod3. Geistesbesitz ist also die charakteristische Besonderheit des

Christen: worin äußert sie sich? Die landläufige Meinung in den Gemeinden war die, daß Exaltationserscheinungen aller Art als ihre Kennzeichen zu betrachten seien. Wir begegnen da mannigx) i. Kor. ii, 2z.

2) i. Kor. io, 16—21.

3) 1. Kor. 11,27—30.

26 fachen Formen des religiösen Enthusiasmus, dem „Prophezeien" d. h. begeisterten Reden in der Verzückung, das sich zu Offenbarungs­ kundgebungen und herzbewegendemSeelenergründensteiger» konnte42. *

Bei besonders Begnadeten konnte sich dieser Enthusiasmus zur vollen Ekstase erheben, die mit apokalyptischem Schauen der Him­ melswelt verbunden war. Paulus selbst berichtet uns mit scheuem Zagen, daß er einst bis zum dritten Himmel entrückt worden sei, das Paradies geschaut und dort unsagbare Worte vernommen

habe?. Weit verbreitet war aber die Gabe des Zungenredens, der „Gloffolalie"; der vom Geist Erregte sprach bei halb oder ganz schwindendem Bewußtsein Reihen sinnloser Laute, die als Sprache

himmlischer Geisterwesen angesehen und von Kundigen gedeutet

wurden8. Paulus kennt aus eigener reichlicher Erfahrung und billigt diese Äußerungen des Geistes4, mißt ihren Wert aber nicht, wie die Menge es tut, an ihrer Seltsamkeit, sondern an ihrer Be­ deutung für die Erbauung der Gemeinde. Die augenscheinlich sehr beliebte Gloffolalie mit ihrer lärmenden Aufdringlichkeit will

er in der Versammlung nur dulden, wenn ein Dolmetsch der Wun­

dersprache vorhanden ist: sonst verweist er sie in das Kämmerlein des Einzelnen6. Der geistgewirkten Rede des Propheten dagegen gibt er einen Ehrenplatz im Gottesdienst der Christen. Selbstver­ ständlich rühmt er Wundertaten und Krankenheiümgen6 als Zeug­ nisse der Kraft des Geistes: aber er will auch die Misfionspredigt des wandernden Apostels, die Schriftauslegung des Lehrers, ja

selbst die ordnende und helfende Tätigkeit der Verwalter und Armen­

pfleger in der Gemeinde als Wirkung des Geistes gewürdigt wissen7. Und in demselben Zusammenhang, in dem er den Korinthern dies alles mitteilt und sie auffordert, nach immer höheren Geistesgaben zu streben, ruft er ihnen zu, daß weit über all diese Geisterei hinaus der Weg der Liebe gehe8. Geisteswirken in dem üblichen Sinne gibt es auch da, wo das Kymbalon der großen Göttermutter klingt

und in mancherlei Mysterien die Sprache der Engel und alle heim2) i. Kor. i2,8—ii. 14, i—3.24—25. 8) 2. Kor. 12,1—4. 3) 1. Kor. 14,2.9—11.23. 4) 1. Kor. 14,1.18.39. 6) i. Kor. 14,28. 6) 1. Kor. 12, 9.28. 7) i. Kor. 12,4—ii. 28—30. 8) 1. Kor. 13, 1—13.

27 liche Weisheit kundgetan wird. Mer wo der Geist Christi ist, da lebt als seine köstlichste Frucht* die Liebe und gibt allem geistlichen Tun und Treiben ihren Sinn, ja durchdringt nnd weiht das ganze Christenleben. Glossolalie, Prophetentum, heimliche Weisheit find doch nur Stückwerk und vergehen mit dieser Welt. Wenn die Vollen­

dung eintritt, find fie verschwunden, aber es bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei — und die größte von ihnen ist die

Liebe. So stellt Paulus sein Christentum mitten in die Religiofität

seiner Zeit und hebt es zugleich auf die einsame Höhe des Berges, auf dem Jesus von Glauben, Hoffnung und Gottesliebe predigte,

die fich am Nächsten auswirkt: Paulus hat das anderswo den Glauben genannt, der fich durch Liebe betätigt2. So will sein hohes Lied von der Liebe verstanden werden: fie ist die reinste Äu­ ßerung des Geistes, hinter der alles andere zurückbleibt und wesenlos wird. Diese Religion konnte in dem Religionsgemisch der Zeit

nur untergehen, wenn fie ihre Seele verlor.

Paulus spricht zu den Menschen seiner Welt in ihrer Sprache und in ihrer Anschauungsweise. Die Heilsbotschaft wird ihm bild­ haft in dem Schema der orientalischen Erlösungsreligionen, und

die Gestalt Christi fügt fich in traditionelle Formen eines himm­

lischen Hellandes. Die Menschheit ist unter einem Verhängnis, einer bösen Macht geknechtet: dieser Daimon ist die Sünde. Einst hat Adam im Paradies gegen Gott gesündigt, und die Tat des Ur­ vaters ist das Schicksal der ganzen Menschheit geworden. Aber bei Gott im Himmel lebt ein „zweiter Adam", der Urmenschs, der

zur Erlösung auf die Erde steigt und der Menschheit eine Lebens­ kraft beschert, die fie aus den Banden zu lösen und zu Gott zurückzuführen vermag. Diese Kraft ist himmlisches Pneuma, das in dem Menschen Wohnung nimmt, die niederen Seelenkräfte vertreibt und ihn vergottet. So könnte auch ein östlicher Mystagoge zu seinen Jüngern sprechen, und die heidnischen wie die jüdischen Hörer ver­ mochten dem Paulus auf diesen Wegen leichter zu folgen als die Menschen des 20. Jahrhunderts, die mühsam das Verständnis

solcher Gedavkengänge erarbeiten müssen. Aber wir begreifen zu-

*) Vgl. Gal. 5,22.

2) Gal. 5,6.

3) 1. Kor. 15,44—46.

28 gleich, wie diese Formung geschickt war, jene Menschen zu gewinnen, die nach Erlösung verlangten: und das war freilich die Sehnsucht

der Zeit. Das Entscheidende ist, daß bei Paulus die Form nicht über den Inhalt gesiegt hat: der blieb unversehrt und in voller Wirkung. Aber auch hier haben die Epigonen mit dem großen Apostel nicht Schritt halten können und das Christentum in mannig­

fache Gefahren geführt: die Dogmengeschichte weiß davon zu er­ zähle». Obwohl Paulus mehr wie irgendein Apostel dafür gewirkt

hat, die christliche Religion vom Judentum abzulösen, ist er doch im tiefsten Herzen seinem Volke treu geblieben und hat ihm mit leiden­

schaftlicher Liebe avgehangen.

Beide Seiten dieser Haltung hat

er theologisch zu begründen gewußt. Zunächst die Freiheit des Christen vom Gesetz. Das war ja das Problem, das in jener Jerusalemer Konvention nur halbgelöst war und ihn deshalb auf

allen seinen Wegen weiter verfolgte. Das Gesetz Mosis ist hellig und göttlichen Ursprungs1 und bringt Gottes Willen der ganzen

Menschheit zum Ausdruck. Aber es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß es bestimmt sei, den Weg zum Heile zu weisen: das geht aus der Jahrhunderte alten Erfahrung hervor, daß kein Mensch im­ stande ist, es zu erfüllen, während doch nur seine uneingeschränkte und lückenlose Befolgung dem Menschen die vor Gott erforderliche Gerechtigkeit verschaffen könnte. Das ist die Tragik in der Geschichte des Judenvolkes, daß es in falscher Einschätzung der Bedeutung des Gesetzes dem Wahnbild eines Heils durch eigene Gerechtigkeit

nachjagt. Tatsächlich hat Gott aber mit dem Gesetz einen ganz andern Zweck verfolgt: es sollte durch seine Verbote die im Fleisch schlummernde Sünde wecken und reizen, sie zur vollen Entfaltung

ihrer Macht treiben und so dem Menschen seine Ohnmacht zum Bewußtsein bringen, bis er an eigner Kraft verzweifelnd nach Rettung

von Gott ausschaut2.

Das Gesetz ist nicht Heilsmittel, sondern

hat nur vorbereitenden Wert, es ist „Zuchtmeister auf Christus hin"3, und es läßt dem Kundigen, der seine Geheimnisse zu deuten versteht, darüber auch keinerlei Zweifel: es weissagt seine eigene

x) Röm. 7, is.

2) Röm. 7, 7—25.

’) Gal. 3, 23—25.

29 Aufhebung. Mit Christi Erscheinung tritt an des Gesetzes Stelle der Glaube als wirkliches Hellsprinzip, der nicht wie das Gesetz Leistung auf Leistung fordert, sondern Hingebung der ganjen Per­ sönlichkeit an Gottes Gnadenwillen und das neue Geistesleben ist.

Bei dieser universalen Betrachtungsweise kann die Frage gar nicht mehr aufgeworfen werden, ob das Rttualgesetz etwa vom Sitten­ gesetz ju trennen sei und vielleicht allein für sich außer Kraft erklärt werden könne. Das gesamte Gesetz ist seinem Wesen nach antiquiert und hat seine Macht über den neuen Menschen eingebüßt. Seine Verheißungen steilich bleiben bestehen, aber sie gelten nicht dem

Israel nach dem Fleisch, den leiblichen Nachkommen Abrahams, sondern dem wahren „Israel Gottes", das heißt den Christen, die nach Abrahams Vorbild im Glauben lebenx: „Kinder Abrahams" und Erben der Verheißungen sind Juden und Heiden ohne Unter­ schied, sofern sie nur in den Spuren seines Glaubens wandeln.

Mit dieser Auffassung ist jede nationale Einschränkung des Christen­

tums beseitigt, jeder Vorrechtsanspruch des Judentums zurückgewiesen, aber zugleich auch das Alte Testament für die neue Well­

religion als das heilige Buch der Verheißungen und Weissagungen in Anspruch genommen. Und doch bringt Paulus es nicht übers Herz, seinem Volke jeden Vorrang schlechthin abzusprechen, wenn es auch schließlich

nur gewissermaßen Ehrenvorzüge sind2: Besitz der heiligen Schrift, der Verheißungen, des Kultes, des Sohnesnamens, der fleischlichen Abstammung Christi. Aber dem gegenüber steht die erschütternde und nicht wegzuleugnende Tatsache, daß das Volk Israel fast in seiner Gesamtheit die Gottesbotschaft des Evangeliums ablehnt.

Sollte Gott sein Volk verworfen haben3? Der Gedanke ist dem Paulus unvollziehbar, und so legt er im Römerbrief* eine Theorie

vor, die von der unbeirrbaren heißen Liebe zu seinem Volke Zeugnis ablegt, von einer Liebe, die bereit ist, auf das eigene Hell zu ver­ zichten, wenn dadurch das Volk gerettet werden könnte5.

Gott

hat, so führt Paulus aus, sein Volk einstweilen verstockt und nur

*) Gal. 3, 6—9. 6, 16. Röm. 4, i—25. 2) Röm. 3,1—2. 9,4—5. 3) Röm. 11,1. 4) Röm. 9—11. 5) Röm. 9, 3.

30 eine kleine Auswahl jum Hell gelangen lassen: dagegen ist die Fülle der Heiden ju Christus gekommen. Das wird schließlich bei Israel

Eifersucht erzeugen: es wird seine Verblendung von sich werfen und auch Christus untertan werden, und so wird am Ende Gottes

Barmherzigkeit alle umfassen und ganz Israel gerettet sein. Gott hat sie nur deshalb alle unter den Ungehorsam beschlossen, um sich ihrer aller zu erbarmen. So steht hinter der Lebensarbeit des Apostels der Heiden die unverkürzte Hoffnung auf künftiges Heil auch für das eigene Volk, dem er in der Gegenwart absagen muß. Diese grundsätzliche Stellungnahme gegenüber dem Gesetz

ist die systematische Formulierung und Begründung für die Hal­ tung des Paulus in seiner Missionspraxis und die runde Ablehnung

jeder gesetzlichen Anforderung an die Heiden. Unter diesem Gesichts­

punkt konnte er auch von den Judenchristen den Verzicht auf ihre rituellen Tischsitten verlangen, wenn es galt, die Einheit der Christen­

gemeinde zum Ausdruck zu bringen, und konnte dem Petrus in Antiochia scharf entgegentreten, der die umgekehrte Forderung zu stellen versuchte. Wenn das Gesetz keine Bedeutung als Heils­ faktor hat, dann kann seine Befolgung nicht mehr zur Gewissens­ pflicht gemacht werden, zumal Konzessionen auf diesem Gebiet leicht der wahren Einschätzung des Glaubens bei den Neubekehrten gefährlich werden können. Die Briefe des Paulus zeigen «ns, mit

welch eiserner Konsequenz er den mannigfachen Variationen der gesetzlichen Forderungen entgegengetreten ist. Auch die für die

spätere Kirche bezeichnende Unterscheidung zwischen dem anti­ quierten Ritualgesetz und dem unverändert gültigen Sittengesetz des Dekalogs war ihm unmöglich: ihm ist das Gesetz in seiner Gesamtheit, eben well es Gesetz ist, antiquiert. Gottes Willen braucht der Wiedergeborene nicht im Gesetzbuch zu lesen, sondern

der Geist treibt ihn zu allem Guten und Gott Wohlgefälligen: er braucht sich uur dieser Führung zu überlassen. Natürlich stimmen die Weisungen des Geistes mit dem Dekalog überein, aber an die

Stelle der aufs Einzelne sehenden Gesetzlichkeit des Juden tritt das freie Wirken des geistbelebten christlichen Charakters — das ist der

31 entscheidende Unterschied vom Judentum. Darum kann der Apostel

die Summe des Dekalogs nach einem Wort Jesu in dem Gebot der Nächstenliebe finden und die Liebe als des Gesetzes Erfüllung

bezeichnen \ Er ist nach dem Vorbild des Meisters aus dem Formalis­ mus zum Wesen, vom Buchstaben zum Geist durchgedrungen, die Kasuistik ist für ihn tot. Wer das von ihm gelernt hat, wird es

richtig zu würdigen wissen, wenn er gelegentlich von der „Erfüllung des Gesetzes" durch den Wiedergeborenen spricht2; er wird es an­ drerseits aber auch verstehen, daß die Nachfahren hier die Hintertür

fanden, um die Geltung des Gesetzes wieder in die Kirche hineinzubringen. Damit steht nicht in Widerspruch, daß er gelegentlich für seine Person ein Gelübde nach jüdischem Ritus tat3 und in judenchrist­

licher Umgebung fich auch persönlich den Vorschriften des Ritual­ gesetzes unterwarf und sogar bereit war, auf Anraten der Urapostel in Jerusalem ein rituelles Gelübde durchzuführen, um den miß­

trauischen Brüdern einen Beweis seiner Gesetzestreue zu geben4. Hier war keine Verwirrung des Urteils zu befürchten, und da ist er

nach seinem misfionarischen Grundsatz den Juden ein Jude gewor­ den, wie er draußen den Gesetzesfreien ein Gesetzesfreier war3, um so oder so Seelen zu gewinnen. Und er hat nicht nur die Heiden Stadt um Stadt und Land um Land für Christus gewonnen, er hat schließlich auch fich selbst in der ganzen Christenheit durchgesetzt. Zu gewaltig war der Ein­ druck seines Lebenswerkes, zu eindringlich die von Ort zu Ort weiterklingende Sprache seiner Briefe, als daß die Vorurteile und

Stimmungen der Kampfeszeit seinen Märtyrertod hätten über­ dauern können. Schon der nächsten Generation ist er der große

Heidenapostel und allgemein anerkannte Lehrer der Kirche, dessen Briefe, zu einer Sammlung vereinigt, autoritative Quellen apostoli­ scher Wahrheit find.

Seine

Persönlichkeit rückt neben die des

Petrus, und diese beiden Gestalten erscheinen nun als die Häupter x) Röm. 13,9—io. Gal. 5,14. Vgl. Matth. 22,37—40. 2) Röm. 8,4. 13,9. Gal. 5,14. 6,2. 1. Kor. 9,21. 3) Apg. 18, 18. 4) Apg. 21, 20—26. 5) 1. Kor. 9,20.

32 des Apostelkollegiums.

Schon die Apostelgeschichte jeichnet ihre

Darstellung der christlichen Anfänge unter diesem Gesichtspunkt,

und die Kunst späterer Jahrhunderte hat so gut wie die Theologie

an der weiteren Ausführung dieses Bildes gearbeitet. Und bei dieser Entwicklung gingen nicht nur die Herbheit und Schärfe seiner menschlichen Eigenart, sondern auch die letzten Tiefen seiner religiö­

sen Erkenntnis verloren, und man las des Paulus Briefe mit den Augen des Durchschnittschristen der Epigonenzeit. Aber wenn im Lauf der Geschichte ein verwandter Geist sich in diese Urkunden eines unvergleichlichen Ringens um Gott versenkte, so hat sich an

ihrer nie verlöschenden Glut eine neue Flamme entzündet, die wie jene erste von Volk zu Volk und von Jahrhundert zu Jahrhundett brannte. Durch Paulus ist Augustin der Lehrer des romanischen Katholizismus, Luther der Prediger evangelischen Glaubens für

die Germanen geworden.