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German Pages 146 [150] Year 2014
Susana Zapke, Stefan Schmidl (Hg.) Partituren der Städte
U r b a n S t u d i e s | U P Urbane Polyphonie
2014-10-31 12-01-59 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03ac381163528980|(S.
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Susana Zapke, Stefan Schmidl (Hg.)
Partituren der Städte Urbanes Bewusstsein und musikalischer Ausdruck
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Gefördert durch die Konservatorium Wien Privatuniversität der Stadt.
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Inhalt
Vorwort und Dank
Susana Zapke, Stefan Schmidl | 7 Einführung
Susana Zapke, Stefan Schmidl | 9 Partituren des Südens. Ein Versuch über Musikalien des barocken Neapel
Guido Erdmann | 19 Aaron Coplands New York ›Citys‹
Timothy D. Freeze | 39 Creating New Representations of Yugoslav National Territory. Dragotin Gostuškiʼs Symphonic Poem Beograd
Srđan Atanasovski | 59 Venezia. Fünf musikalische Annäherungen
Erich Wolfgang Partsch | 77 Istanbul. Die Stadt als Serail
Michael Hüttler | 89 Prag am Cover. Überlegungen zur Wahrnehmung von Stadtbildern für den Musikmarkt
Richard Kurdiovsky | 101 »A montanha, o sol, o mar«. Rio de Janeiro und seine symphonischen Repräsentationen
Stefan Schmidl | 117 Die Stadt als Partitur. Eine Wiener Komposition
Susana Zapke | 127 Autorinnen und Autoren | 141
Vorwort und Dank S USANA Z APKE , S TEFAN S CHMIDL
Der Begriff »Partitur« (ital. partitura, lat. partire) verweist zunächst etymologisch auf den Begriff der Teilung. Im traditionellen Sinne bedeutet Partitur die untereinander angeordnete Zusammenstellung aller Einzelstimmen einer Komposition womit sie zugleich auf eine interaktive Vernetzung sowie auf die Funktion einer Instruktion verweist. Die Transition vom subjektiv erlebten (Klang)Raum bis zur hörbaren Musik erfolgt allein durch die Objektivität einer Partitur, dessen Lesbarkeit die reelle Existenz der Musik voraussetzt. In einer affinen Definition zu Partitur ist der Begriff des Stadtplans zu verstehen. Ein Stadtplan ist ein Koordinatensystem, gleich einer Partitur, aus dem ein lebendiger, auf multipler Weise vernetzter Ort ablesbar wird. Partitur und Stadtplan verweisen auf komplexe, sich überlagernde Zeit-, Raum- und Beziehungsgeflechte, besitzen eine indikatorische Funktion und lassen unterschiedliche Lesarten offen. Sie erheben keinen holistischen Anspruch der Wirklichkeitsabbildung. Urbanscapes und Soundscapes lassen sich jeweils mittels Landschafts-Pläne und Partituren visualisieren, aber dessen erweiterte und subtilere Dimension ist erst in der Synchronizität beider Zugänge zu finden. Der vorliegende Band Partituren der Städte widmet sich den Grundmustern jener Interaktion und strebt eine dreidimensionale Partitur an, die sich sowohl auf dem Notentext selbst als auch auf dessen Projektion im Stadttext, reel und virtuell/öffentlich und privat, bezieht. Städte sind nicht nur Lebensräume, sondern auch Image, Brand und Vorstellungsbild. Die vorliegende Publikation enthält die Beiträge der interdisziplinären Tagung Partituren der Städte, die in Kooperation mit der Universität für Angewandte Kunst im April 2012 an der Konservatorium Wien Privatuniversität (KWPU) stattfand. Als erster Band der Reihe Urbane Polyphonie, die Ergebnisse des an der KWPU angesiedelten Forschungsschwerpunkts Music Mapping
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Vienna gewidmet ist, bietet Partituren der Städte mit acht ausgewählten Metropolen-Portraits exemplarische Einblicke in die Pluralität musikalischer Stadterfindungen, in Vergangenheit und Gegenwart urbaner Imaginationen.1 Sowohl die Tagung als auch die vorliegende Publikation hätten ohne die Mitwirkung der in diesem Band vertretenen Kolleginnen und Kollegen, sowie ohne die Unterstützung der Konservatorium Privatuniversität der Stadt Wien nicht realisiert werden können. Ihnen gilt daher unser großer Dank.
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Das laufende Forschungsprojekt Music Mapping Vienna (MMV) bezieht sowohl physische als auch mentale maps zur Erschließung von Klangräumen (Musik-Raum Produktion und Rezeption) in einer sich permanent transformierenden urbanen Landschaft, http://www.konservatorium-wien.ac.at/studium/forschung/laufende-forschungs projekte/#c1618.
Einführung S USANA Z APKE , S TEFAN S CHMIDL
S TADT -P ARTITUR UND M USIK -K ARTOGRAPHIE Im Zuge der zunehmenden Fokussierung auf die Stadt als zentrales Sujet wissenschaftlicher und künstlerischer Auseinandersetzungen seit den 1980er Jahren leistet die vorliegende Publikation insofern einen wichtigen Beitrag, als die Musik bei aller Intensität der geführten Debatten als integrativer Teil der urbanen Definition eine immer noch untergeordnete Rolle spielt. Aus musikgeschichtlicher Perspektive bedürfen die Transformation der Stadt und die damit zusammenhängenden historischen, kulturpolitischen, soziologischen und Umwelt bedingten Implikationen einer expliziteren Zuwendung, bei der die methodologischen Ansätze der relational musicology und der urban studies, darunter der urban musicology, verstärkt in den Vordergrund gerückt werden müssen.1 Musik und Klang bilden integrale Teile der urbanen Geschichte und der urbanen Erfahrung und spielen somit eine zentrale Rolle in der individuellen Wahrnehmung der Stadt und in der Konstruktion urbaner Räume und Identitätsprofile. Umso erstaunlicher, dass die symbiotische Verbindung von Kunst und städtischem Raum, sowohl öffentlich als auch privat, von zahlreichen Disziplinen eingehend untersucht wurde, nicht aber so aus der Perspektive der Musik.2 Im Bereich der
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Siehe zu einer neuen ›integrativen‹ Musikwissenschaft, die sowohl politische als auch moralische Instanzen berücksichtigt: Giorgina Born, »For a relational Musicology: Interdisciplinarity and Music, beyond the Practice Turn«, in: Journal of the Royal Musical Association, 135, Nr. 2 (2010), S. 205-243; Philipp V. Bohlman, »Musicology as a Political Act«, in: Journal of Musicology, 11 (1993), S. 411-436.
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Mit Ausnahme der angelsächsischen Forschung siehe hierzu die referentiellen Publikationen von Giorgina Born (Hg.), Music, Sound and Space. Transformations of Pub-
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Literaturwissenschaft führen die Pionierarbeiten von Barbara Piatti und Franco Moretti zu einer neuen Lesart literarischer Topographien ein.3 Abgeleitet vom paradigmatischen Wechsel des topographical turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften findet hier die Erschließung urbaner künstlerischer Ausdrucksformen vor dem Hintergrund des Stadtgewebes als definitorische Involvente statt. Die Karte als Visualisations- und Imaginationsmatrix operiert in diesem Zusammenhang als eine Form von Partitur, aus der die Distribution und Interaktion der einzelnen Ereignisse, seien diese reell oder imaginär, in einer räumlichen Dimension ablesbar werden.4 Das mapping-Verfahren, das mit unserer Definition der Partitur der Stadt korrespondiert, ist seitens der Musikforschung bislang nicht berücksichtigt worden. Dabei spielen insbesondere die mental maps, die zur Grundlage der cultural geography sowie zur revisionistischen Diskussionsgrundlage der Sozialgeographen der letzten Dekade dienten, eine zentrale Rolle nicht zuletzt, weil sie zu einer neuen Definition von »Raum« als kulturell und individuell vielseitig besetzbarer Begriff beigetragen haben.5 Eine mental map ist ein imaginärer Entwurf, der sich auf die eigene urbane Erfahrung und nicht nur auf die positivistisch basierten Erklärungsmuster einer Stadt bezieht, was für die musikalische Repräsentation der Stadt von zentraler Bedeutung ist. In Partituren der Städte ist das kartographische Medium zwar visuell nicht repräsentiert, dient aber als konzeptueller und methodologischer Ansatz der hier behandelten Stadtkompositionen.
lic and Private Experience, Cambridge 2013; Adam Krims, Music and Urban Geography, London 2007; Karin Bijsterveld (Hg.), Soundscapes of the Urban Past. Staged Sound as Mediated Cultural Heritage, Bielefeld 2013; Nick Cook, »Classical Music and the Politics of Space«, in: Mobile Sound. Sound, Mobile Media, Art & Culture http://mobilesound.wordpress.com/2008/05/04/nick-cook-classical-music-and-thepolitics-of-space/ (Zugriff: Januar 2014) 3
Barbara Piatti, Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien. Göttingen 2008; Franco Moretti, Atlas of the European Novel 1800-1900. London, New York 1998.
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Kartographische Verfahren haben sich nicht nur auf territorialer Ebene, sondern in der Literatur, im Film und in der Kunst bewährt, siehe: Achim Hölter, Volker Pantenburg, Susanne Stemmler (Hg.), Metropolen im Maßstab. Der Stadtplan als Matrix des Erzählens in Literatur, Film und Kunst, Bielefeld 2009.
5
Jörg Dühne, »Karte als Operations- und Imaginationsmatrix«, in: Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 49-70 (hier insbesondere Abs. 1, 2 und 3); siehe auch das referentielle Werk von Kevin Lynch, The Image of the City, Cambridge 1960.
E INFÜHRUNG
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Die einzigen Untersuchungen im Bereich der deutschsprachigen Stadtforschung aus dem Blickfeld der Musik sind die 2012 erschienenen Publikationen von Eberhard Hüppe über die urbanisierte Musik und ihre gesellschaftlichen Determinanten sowie die Monographie von Eva Krivanec zum Theater im Ersten Weltkrieg anhand eines komparatistischen Vergleichs der vier wichtigsten europäischen Metropolen: Berlin, Lissabon, Paris und Wien.6 Die Untersuchung von Hüppe geht von der Definition der Stadt als akustisches System mit einer historisch gewachsenen semantischen Bandbreite aus und betrachtet Raum als gesellschaftliche Konstruktion, die individuell in alltäglichen Wahrnehmungsmechanismen re-produziert und somit im Sinne einer Musik-Umwelt-Relation zu verstehen sei. Die Entstehung neuer Räume und Atmosphären durch Musik, Klang und Geräusch (Raumproduktion) verweisen wiederum auf verschiedene Stadien der gesellschaftlichen Transformation (Raumaneignung). Krivanecʼ Frage richtet sich nach der funktionalen Umbesetzung öffentlicher Räume im Zuge einer politischen Krise und untersucht die Kriegsmobilmachung auf den wichtigsten europäischen Bühnen im Ersten Weltkrieg, u.a. die dazu angewandten Propagandaverfahren. Die Aspekte der Spezifizität und der soziologisch gemeinten Eigenlogik der jeweiligen Städte werden weder von Hüppe noch von Krivanec explizit behandelt. Hingegen liefert das Werk von Helmuth Berking und Martina Löw Die Eigenlogik der Städte (2008) grundlegende Impulse zu einer Revidierung stadtsoziologischer Zugänge, die gerade im Bereich einer musikalischen Erzählungsform inspirierend und Bewusstseinserweiternd wirken.7 Denn die Frage nach einer empirisch basierten und systematisch erarbeiteten Differenzierung der städtischen Eigenlogik und einer damit verbundenen urbanen ›Erzählform‹ aus der Sicht der Musik, etwa betreffend der urbanen Klangtypologien als auch der Konzeption von ›Stadtmusiken‹ als Identitätsemblemen, die ab der Mitte des 19. Jh. zum charakteristischen Genre werden, ist noch ausständig. Ein solcher perspektivischer Wechsel bedarf jedoch keines ausschließlich kulturimmanenten, sondern eines ebenso integrativen sozio-politischen und anthropologischen Zuganges, der sowohl öffentlich als auch privat, real als auch imaginär, erlebbaren städtischen Klangräume, wie von Seiten der angelsächsischen Forschung längst durchgeführt. Partituren der Städte ist dieser Zugangsform Zugangsform zwar
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Eberhard Hüppe, Urbanisierte Musik. Eine Studie über gesellschaftliche Determinanten musikalischer Raumproduktion und Raumaneignung, Münster 2012; Eva Krivanec, Kriegsbühnen. Theater im Ersten Weltkrieg. Berlin, Lissabon, Paris und Wien, Bielefeld 2012.
7
Helmuth Berking, Martina Löw (Hg.), Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt, New York 2008.
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nicht ganz in der Radikalität mit der es Adam Krims deklariert, in exemplarischer Form gefolgt: »[...] the cultural studies paradigm that has now found such dominance in cultural musicology« sei zu vermeiden und daher notwendig geworden, sich »[...] a wide range of activities and circumstances that are not in themselves ›artistic‹« zu widmen.8
D IE S TADT
ALS
... T EXT
Die Wahrnehmung der Stadt als Text, wie von Michel Butor beschrieben, nimmt Bezug sowohl auf die Texte, die über eine Stadt verfasst werden, als auch auf die Texte, mit der jene Stadt beschriftet wird.9 Die Lesbarkeit einer Stadt als Text, die Textualität des Raums, kann durch weitere perspektivische Ansichten, wie etwa die der Stadt als Körper – im architektonischen und choreographischen Sinne –, als sonorer Klangkörper, sowie als musikalischer Text ergänzt werden. Zwischen dem sonoren Klangkörper und der musikalischen Projektion (Komposition) liegt eine substantielle Differenz. Während sich die Optik auf die Stadt als sonorer Klangkörper auf die tatsächlich reell existierenden Klangereignisse einer Stadt (sound studies), auch unter Berücksichtigung der damit verbundenen musikpsychologischen und psychoakustischen Aspekte bezieht, operiert die komponierte Stadtwahrnehmung auf der Ebene der Abstraktion, nämlich auf die des Imaginären. Analog zur Schreibweise literarischer Reiseberichte und Stadtromane besteht zwischen der Stadt und der vertonten Stadt eine brüchige Beziehung, die primär von Gedächtnisfragmenten, Angst, Nostalgie und Sehnsucht geprägt ist. Italo Calvino beschreibt in Le città invisibili (1972) eine imaginäre weltweite Explorationsreise, die Marco Polo im Auftrag des Kaisers der Tartaren Kublai Khan durch fünfundfünzig Städte im chinesischen Reich unternimmt: »Nessuno sa meglio di te, saggio Kublai, che non si deve mai confondere la città col discorso che la descrive. Epure tra l’una e l’altro c`è un rapporto«.10 Dieser offene Dissens zwischen der Stadt und den vielfältigen Diskursen über dieselbe, der sich in der Polarisierung von Sichtbarem und Unsichtbarem, Erinnerungen und
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Adam Krims, Music and Urban Geography (siehe Anm. 2), S. 127. Michel Butor, »La ville comme texte«, in: Répértoire 5, Paris 1985, einzige deutsche Übersetzung: Michel Butor, »Die Stadt als Text«, in: Walter Grond (Hg.), Essay, Graz, Wien 1992, S. 7-13.
10 Italo Calvino, Le città invisibili, Torino 1972, S. 28.
E INFÜHRUNG
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Phantasie, Alltag und Mythologie offenbart, bildet eine der Kernfragen der vorliegenden Publikation Partituren der Städte. Die Stadt sowohl als way of life, Stimulant und unmittelbares Wirkungsumfeld, als auch als nostalgische Projektionsfläche und virtueller Lebensraum, bildet ein zentrales Motiv der künstlerischen Wahrnehmung seit dem frühen 19. Jahrhundert, das sich zunächst in der Literatur und später in der Musik manifestiert. Aus der kritischen Reflexion über die wichtigsten europäischen urbanen Zentren als Lebensmilieu (Paris, London, Wien, Berlin) entstehen im frühen 19. Jahrhundert die ersten bukolisch-romantischen Projektionen idealer Städtebilder, aus denen prototypische Nationenbilder sich ableiten lassen. Gleichzeitig entfaltet sich jedoch das Bild eines nüchternen urbanen containers, das industriell, kulturell und urban besetzt ist (Mumford) und das mit der Nervosität und den Frenetismus des modernen urbanen Lebens korrespondiert (Simmel).11 Um die Jahrhundertwende entstehen weltweit elf neue Metropolen: Berlin, Wien, Chicago, New York, Philadelphia, Moskau, St. Petersburg, Tokio und Kalkutta. Nicht nur Architekten und Urbanisten setzen sich mit dem Phänomen der ›unbegrenzten Stadt‹ und deren planerischen Strukturierung auseinander (Wagner), es sind vor allem die Künstler, die auf die neuen Realitäten und Virtualitäten der Großstadt reagieren.12 Autoren wie etwa Charles Dickens (London), Emile Zola (Paris), Honoré de Balzac (Paris), James Joyce (Dublin) und Walter Benjamin (Paris, Berlin, Neapel, Moskau) sind nur einige Beispiele für das literarische Spektrum der Stadt und für das Aufkommen der Gattung des Stadtromans – ja im Falle von Benjamin’s Passagen-Werk und Denkbilder sogar für eine erstmalige Geschichtsphilosophie des Städtischen.13 Zeitgleich zeugen Komponisten wie etwa Michail Glinka (Madrid), Hector Berlioz (Rom) oder Gustave Charpentier (Neapel) von einem zunehmenden Interesse an peripheren, exotischen, urbanen Zentren als programmatisches und koloristisches Motiv, während Ralph Vaughan Williams (London) oder Édouard Lalo (Paris) sich den großen, modernen Metropolen mit einer real abbildenden
11 Lewis Mumford, The City in History. Its Origins, Its Transformations, and Its Prospects, San Diego, New York, London 1989, S. 564; Georg Simmel, »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: Thomas Petermann (Hg.), Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung (Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden, Band 9, 1903), S. 185-206. 12 Otto Wagner, Die Groszstadt. Eine Studie über diese, Wien 1911. 13 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Frankfurt a. Main 1982. Für weitere Stadtbeschreibungen Walter Benjamins siehe, Walter Benjamin, Denkbilder, Frankfurt am Main 1974.
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Intention widmen. Die Schichtung von Identitäts-Elementen unterschiedlicher Provenienz findet sich in Frederick Deliusʼ Nocturne für Orchester Paris. The Song of a great City (1900), in der die Klänge von Kastagnetten, Schellentrommeln und spanischen Tanzrhythmen mit Walzerreminiszenzen überlappt werden.14 Deliusʼ Schichtungsverfahren durchdringt die Spuren fremder Kulturen und spricht somit den Aspekt des Gedächtnisses der Städte sowie der Heterogenität und Simultaneität kultureller Einflüsse im urbanen Milieu an.15 Eine Verwechselung identitärer Zuordnungen ist wiederum in Glinkas Souvenir d’une nuit d’étè à Madrid, wo die aragonesische Jota als irrtümlich zugeordnetes Souvenir- und koloristisches Motiv fungiert, zu erkennen. Die koloristische, klangfarbliche Anwendung von Klangtopois bieten hingegen die ›Malagueña‹ und die ›Habanera‹ in Ravels Rhapsodie Espagnole (1907/08), ohne damit, wie von Manuel de Falla irrtümlich interpretiert, die ›wahre‹ Seele der spanischen Nation repräsentieren zu wollen.16 Die Undifferenziertheit musikalischer Identitäten in Édouard Lalos Symphonie espagnole (1875), die sich der »Zigeuner«-kultur und der andalusischen Folklore als pars pro toto einer nationalen Identität bedient, verweist auf die Distanziertheit mit der der Komponist auf die Vielfalt städtischer Morphologien eingeht. Die Grundlage für städtische Raumkonstruktionen bilden hierbei ausgewählte Souvenirs, pre-konzipierte Bilder und Embleme, die auch unabhängig von einer physischen individuellen Erfahrung das imaginäre Reservoire von Komponisten bilden. Entgegen einer Erinnerungs-SouvenirKultur wie in den Werken von Glinka und Rimskij-Korsakov können Stadtkompositionen von einem nostalgisch-eskapistischen Blick durchdrungen sein, der gerade an sozial neuralgischen Zeiten charakteristisch erscheint: Man denke etwa an das Genre der Alt-Wien-Operetten, die sich in den 1890er Jahren ausform-
14 Peter Revers, »›Mysterious City -/City of Pleasures‹. Frederick Delius: Paris. The Song of a great City«, in: Ulrich Tadday (Hg.), Frederick Delius (Musik-Konzepte 141/142). München 2008, S. 128ff 15 Vgl. Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen. Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien, Köln, Weimar 2010. Siehe hierzu auch das Konzept der Stadtlandschaft als multipler Ort, sich überlagernder Räume, Zeiten und Beziehungsgeflechte, die Orte und Subjekte in Netzwerke wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandels integrieren: Ash Amin und Stephen Graham, »The Ordinary City«, in: Transactions of the Institute of British Geographers, Vol. 22, Issue 4 (1997), S. 411-429. 16 Manuel de Falla, »Notes sur Ravel, Article paru dans la Révue Musicale en mars 1939 et traduit de l’espagnol par Roland-Manuel«, in: Marcel Marnat, Maurice Ravel, Paris 1986, 706-710.
E INFÜHRUNG
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te17 und als Reaktion auf die Verunsicherung durch die zunehmende Differenzierung der urbanen Milieus Wiens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelesen werden kann18 (generell besteht besonders zwischen der Gattung Operette und dem Städtischen eine überaus enge, wechselseitige Beziehung19). Nicht zuletzt entsteht schließlich auch das Geschlechtliche über klangliche Stadt-Imaginationen: In seinem Klavierzyklus Mujeres de Sevilla (1935) evozierte Joaquín Turina eine Diversität an »Weiblichkeiten« der andalusischen Hauptstadt, von der ›alfarera de Triana‹ über die ›macarena con garbo‹ bis hin zur ›cigarrera traviesa‹. In seinem musikalischen Diskurs rekurrierte Turina auf bislang vornehmlich in bildlicher Form artikulierte Phantasien über das ›spanische‹ Weibliche,20 übersetzte diese in klangliche Gestalt und unterstrich zudem ihren städtischen Rahmen. All diese Beispiele verweisen auf einen im Sinne Henry Lefebvres dreifach konditionierten Raum – physisch, mental und sozial, der als Kulisse der individuellen Imagination dient.21 Die zunehmende Tendenz der realen und nicht mehr der phantastischen Abbildung zeigt sich am extremsten in den futuristischen Entwürfen wie etwa in Luigi Russolo Veglio di una città von 1913. In den 20er Jahren verstärkt sich der Blick auf die Großstadt und auf die Technisierung des urbanen Lebens. Autoren wie Bertolt Brecht, Joseph Roth und Carl Zuckmayer, besonders aber auch die Vertreter der Neuen Sachlichkeit betrachten die Großstadt als Epizentrum ihrer literarischen Narrationen. Mit der Objektivierung ihres Blicks versuchen sie jenseits romantischer und expressionistischer Emotionalität die sozio-ökonomische Differenziertheit und das psychologische Gewebe der Stadt abzubilden. In der Musik spiegelt sich diese neue Form der Stadtwahrnehmung auch ex negativo
17 Siehe dazu näher: Christian Glanz, »Himmelblaue Zeiten. Alt-Wien in der Operette«, in: Wolfgang Kos, Christian Rapp (Hg.), Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war, Wien 2005, S. 228-234. 18 Moritz Csáky, Johannes Feichtinger, Peter Karoshi, Volker Munz, »Pluralitäten, Heterogenitäten, Differenzen. Zentraleuropas Paradigmen für die Moderne«, in: Moritz Csáky, Astrid Kury, Ulrich Tragatschnig (Hg.), Kultur – Identität – Differenz. Wien und Zentraleuropa in der Moderne, Innsbruck 2004, S. 17. 19 Darauf wies bereits 1937 Siegfried Kracauer in seiner Studie Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit hin; siehe dazu: Marion Linhardt, Residenzstadt und Metropole. Zu einer kulturellen Topographie des Wiener Unterhaltungstheaters (1858–1918), Tübingen 2006. 20 Siehe dazu umfassend: María López Fernández, La imagen de la mujer en la pintura española 1890-1914, Madrid 2006. 21 Henri Lefèbvre, La production de l’espace, Paris 1974.
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wie etwa in Brechts und Kurt Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1927/1930), wo eine neu gegründete utopische Stadt als Sinnbild des Untergangs der menschlichen Koexistenz fungiert. Eine Ansicht, die später von der postmodernen Debatte aufgegriffen werden sollte, in welcher die Stadt als idealer Lebensraum radikal negiert wird. In La condition postmoderne erklärt Jean François Lyotard das integrative Konzept der Städte und die Utopie der urbanen Verwirklichung einer Kultur für das Volk als gescheitertes Projekt. Die Stadt, die europäische Stadt seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, verkommt hingegen zu einem touristischen Museum, ein Gedächtnisarchiv mit zentraler Organisationsstruktur, die jegliche lebendige Pulsation und jeglichen Verformungsimpuls unterbindet. Die Stadt als monolitisch statuierter Begriff, so wie im 19. Jh. verstanden, gehöre somit in die Narrative des »grand récit«, die die postmoderne Philosophie radikal ablehnt.22 In die gleiche Richtung ist das Werk von Bruno Latour, Paris ville invisible (1998) zu verorten.23 Latour bietet einen visuelltextlichen Parcours durch selektive, gerade nicht archetypische Orte und durch Nicht-Orte der Stadt und lädt zu einer Reflexion über städtische Wahrnehmungsformen – Paris reelle, Paris virtuell – ein. Das postmoderne Stadtbild entzieht sich somit als fragmentiertes, polyedrisches und vielperspektivisches Wesen jeglichem Versuch einer umfassenden Erfassbarkeit. Die spätere Entwicklung der Megacities hat diesen Zugang nur bestätigt, indem die Simultaneität und die Dichte der Ereignisse nur fragmentiert wahrnehmbar sind. Somit ist die gegenwärtige Symphonie der Großstadt allein mittels einer Zusammensetzung aller individueller Wahrnehmungen denkbar, wie aktuell durch die online-Mapping Tools verbildlicht.24
P ARTITUREN DER S TÄDTE Zwischen der realen Klangwelt und der künstlerischen Typisierung liegen zahlreiche Filterprozesse, die – von der Imagination geleitet und teilweise mit einer distanzierten contenance entworfen – einer systematischen Untersuchung bedür-
22 Jean François Lyotard, La condition postmoderne, 1979; Peter Engelmann (Hg.), Das postmoderne Wissen, Wien 72012. 23 Bruno Latour, Emilie Hermant, Paris ville invisible. http://www.bruno-latour.fr /virtual/index.html (Zugriff Januar 2014). 24 http://strg-agency.de/2013/09/30/tokyo-city-symphony-eine-stadt-wird-zur-symphonie (Zugriff: Januar 2014). Auditive und visuelle Stadtwahrnehmungen einzelner Nutzer werden puzzelartig zu einer großen symphonischen Erzählung zusammengestellt.
E INFÜHRUNG
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fen. Die Komposition von ›Stadt-Partituren‹ unterliegt darüber hinaus verschiedenen Motivationen, Determinanten und Verfahrensweisen. Im vorliegenden Band Partituren der Städte werden sowohl die Musik als Branding einer Stadt und somit als Produkt einer sozialen Kodifizierung des Raums, als auch die identifizierbaren wechselnden Morphologien städtischer Räume durch die künstlerischen Stadtwahrnehmung exemplarisch thematisiert. Die chronologische Breite der hier behandelten Fallbeispiele umfasst beinahe zwei Jahrhunderte, vom 19. bis zum 20. Jahrhundert, und bleibt dabei keineswegs auf den europäischen Raum begrenzt: Neben Annäherungen an Neapel (Guido Erdmann), Venedig (Erich Wolfgang Partsch), Prag (Richard Kurdiovsky), Belgrad (Srđan Atanasovski), Istanbul (Michael Hüttler) und Wien (Susana Zapke) fanden so auch zwei der repräsentativsten Städte des amerikanischen Kontinents, New York (Timothy D. Freeze) und Rio de Janeiro (Stefan Schmidl), Aufnahme und Analyse. Die hier versammelten Fallstudien zeichnen sich durch unterschiedliche Forschungsinteressen und dementsprechend verschieden geartete Methodiken aus. In ihrer vielfältigen Beschäftigung mit der klanglichen Darstellung, der kompositorischen Reflexion, der audiovisuellen Vermarktung des Urbanen sollen sie nicht zuletzt die Diversität der Städte spiegeln.
Partituren des Südens Ein Versuch über Musikalien des barocken Neapel G UIDO E RDMANN
Für Gernot Gruber zum 75. Geburtstag
Bei Bildungsreisen über die italienische Halbinsel hatte sich für nordeuropäische Barockkomponisten, -musiker und Musikliebhaber Neapel als zumeist südlichste Station etabliert. Der vitalen Metropole, gelegen auf fruchtbarer Lava am Fuße des Vesuvs und verwöhnt von den klimatisch ausgleichenden Bedingungen des Mittelmeers, eilte der Ruf eines gewichtigen Zentrums der Kunst voraus, besonders für Musik und speziell für die Oper. Die Stadt im Süden war ein Muss sowohl für wohlhabende (oft adelige) Dilettanten auf musikalischer »Grand Tour« als auch für bedienstetes Musikerpersonal auf Fortbildungsreise. Im Routenverlauf war Neapel meist der Umkehrpunkt, nicht unbedingt jedoch unzweifelhafter Höhepunkt der Reise (oder als solcher zumindest immer fragwürdiger, sieht man die einigermaßen enttäuschten Berichte aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts durch). Im Neapel des Settecento verband sich für den nordeuropäischen Besucher die (musikalische) Kunstproduktion mit Eindrücken unvergleichlich südlicher Urbanität. Die Stadt am Golf gehörte neben London und Paris zu den größten, bevölkerungsreichsten Metropolen der Welt und zählte bereits am Ende des 16. Jahrhunderts um 225.000 Einwohner, dann Mitte des 17. Jahrhunderts etwa 350.000.1 Das Stadtbild muss von ungeheuerlichen Gegensätzen und Spannungen bestimmt gewesen sein: auf der einen Seite die geradezu qualvolle Enge der plebejischen Volksmassen in den populären Quartieren, die daher rührte, dass
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Die anschaulichen Schilderungen dieses Absatzes nach der Kulturtopographie von Dieter Richter, Neapel. Biographie einer Stadt, Berlin 32012, S. 31f.
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die Ansiedlung außerhalb der Stadtmauern (nicht zuletzt aus militärischen und geophysischen Sicherheitsgründen) untersagt war, und die innerhalb der Befestigungen dazu zwang, einen Großteil des alltäglichen Lebens ins Freie, in eine sozusagen unfreiwillige Öffentlichkeit zu verlagern; auf der anderen Seite die oft opulenten und durch Umbauten immer raumgreifenderen 304 Kirchen und 144 Konvente mit ihren zur Mitte des 17. Jahrhunderts fast 5000 Geistlichen sowie die luxuriösen Palazzi der höfisch-aristokratischen Schichten und dem sich absolutistisch gebärdenden Herrscher an ihrer Spitze. Eine jener Volksbelustigungen, die das Spannungsverhältnis zwischen Arm und Reich deutlich charakterisieren und im barocken Neapel in Mode kamen, waren die Cuccagna (»Schlaraffenland«) genannten spektakulären Inszenierungen: Vor dem königlichen Palast von Neapel wurde eine gewaltige, essbare Landschaft errichtet, die dann von den Volksmassen auf ein Zeichen des Königs hin erobert werden durfte, während sich die Angehörigen des Hofes auf dem Schlossbalkon am grotesken Anblick der gegeneinander um die Bissen kämpfenden Hungerleider (der lazzari) weideten.2 Der neapolitanische Barock – jene Zeitspanne von der Niederschlagung des Massianello-Aufstands (1647) bis zum Ende der Bourbonenherrschaft Karls III. (1759) – zeigt über die Kunstsparten hinweg einen Hang zu drastischer Theatralität. ›Artifizielle Produkte‹ fungierten gewiss im soziokulturellen Gefüge der ganzen Epoche als wichtige Distinktionsmittel. Nur waren sie selbst, wie auch die sie hervorbringenden Institutionen, in der barocken Urbanität Neapels in einer europaweit außergewöhnlichen Dichte und Bandbreite, Vielfalt und Fülle präsent (speziell Musikwerke). Inhaltlich und formal wird in den Barockkünsten der Neapolitaner gerne zu krasser Überzeichnung gegriffen – wohl um angesichts der starken sozialen Verwerfungen inszenatorisch wirksam und überhaupt wahrnehmbar zu sein. Andererseits lassen sich aber auch Tendenzen ausmachen, das Wilde und Überdrehte der Kunst ›klassizistisch‹ zu mäßigen, insbesondere bei der höfischen Repräsentation. Die überbordende Kunstproduktion Neapels verdankte sich nicht wenig ihrer Funktion als Hauptstadt eines eigenen (Vize)Königreichs, nötigte diese doch ihre Repräsentanten und Verwalter zu einem öffentlichkeitsorientierten und entsprechend aufwändigen Lebenswandel. Der daraus resultierende Bedarf an ›künstlerischen Markern‹ zur sozialen Abgrenzung
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Performativ gesehen, boten die Cuccagna also »eine Aufführung in der Aufführung – bunt, laut und chaotisch in der beruhigenden Sicherheit des ›Wir‹ und des ›Sie‹«; zit. nach Maria Fedi, Gianluca Stefani, »Ikonographie des Theaters im Neapel des 18. Jahrhunderts«, in: Francesco Cotticelli, Paologiovanni Maione (Hg.), Musik und Theater in Neapel im 18. Jahrhundert, 2 Bde., Kassel 2010, Bd. I, S. 355-442, hier S. 362.
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begünstigte eine Variabilität erzeugende, inhaltlich nicht selten die absonderliche Sensation suchende Kunstszene, die während der Zeit um 1700 zu den vitalsten in Europa gehörte. Es ist anzunehmen, dass sich dieser Entstehungs- und Umgebungskontext der Musik – das, was wir womöglich als südliche Urbanität imaginieren – in der schriftlich gespeicherten Kunstmusik des barocken Neapel niedergeschlagen hat. Gibt es überhaupt die im Aufsatztitel evozierten ›Partituren des Südens‹ und was kann damit gemeint sein? Transitorische Kunst – nicht nur Musik, sondern auch Tanz oder Sprache – kämpft ab einer gewissen Stufe ihres artifiziellen Anspruchs mit dem Problem ihrer Speicherung. Es stellt sich die Frage, auf welche Weise die erdachten bzw. geschöpften Gestalten so festgehalten werden können, dass ihr kohärenter und konsistenter Zusammenhang möglichst vollständig (wieder) aufgerufen werden kann. Bis auf den heutigen Tag manifestiert sich dieses Problem der Speicherung zeitgebundener Kunst in der Erzeugung bestimmter ›Texte‹. Hinsichtlich der Musik sind es vor allem die Textformen von Partitur und Einzelstimme. 3 Die Fixierung einer musikalischen ›Komposition‹ erfolgt in der Regel in Partiturform, die Fixierung ihres ›Klanges‹ in Form von (für die Wiedergabe durch Musiker bestimmten) Einzelstimmen.4 Zu überlegen ist, inwieweit mit diesen Fixierungsprozessen zugleich auch die kulturellen Bedingungen der barocken Metropole Neapel eingeschrieben wurden. Dabei interessieren die musikalischen Werktexte weniger philologisch (in ihrer Zeichenstruktur und in ihren bedeutungsgenerativen Aspekten), sondern mehr in ihrem konkreten, materiell-medialen Objektstatus. Es geht um die existenzielle Notwendigkeit und Körperlichkeit von Musikmaterialien als Trägermedien vor dem Hintergrund Neapels als südlicher Metropole und als Musikhauptstadt Europas am Beginn des 18. Jahrhunderts. Ohne formal-inhaltlich etwa nach Einflüssen ›volksmusikalischer‹ Praktiken auf die Kunstmusik zu suchen oder nach dem, was sich musikalisch als ›Neapolitanität‹ deuten lassen mag, dürften Produktivbedingungen des Südens in den Speichermedien von Musik materialiter manifest geworden sein. Diesem Zusammenhang gilt es, sich versuchsweise zu nähern.
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Auf Libretti als Worttextvorlagen für vokalmusikalische Werke (sozusagen die ›Libretti des Südens‹) wird in diesem Beitrag mit Versuchscharakter nicht eingegangen.
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Das bedeutet, dass es zwar zwischen Partitur und Einzelstimmen eine erhebliche Schnittmenge an Informationen gibt, dass aber im Barock selten Partitur und die daraus gewonnenen Einzelstimmen völlig kongruent sind.
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Das Musikleben Neapels war zur Barockzeit zentralistisch organisiert und durch die politisch Herrschenden kontrolliert, und zwar von den Spaniern (bis 1707) zunehmend über die österreichischen Vizekönige (1707-1734) bis zu Karl III. von Bourbon (1734-1759).5 Bei allen Wechseln der politischen Zuständigkeit blieb Neapel – auch nach dem desaströsen Erdbeben von 1688 – stets die bevölkerungsgrößte Metropole auf dem jeweiligen Herrschaftsgebiet und strahlte jene ungeheuer frivole Urbanität aus, die besonders die protestantischen Besucher im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts häufig schockierte. Der Ruf Neapels als lasterhafte Stadt festigte sich mit den um 1738 einsetzenden Ausgrabungen in Pompeji und Herkulaneum, wurden doch mehr und mehr Fundstücke mit frappierend erotischen Szenen geborgen. Unzweifelhaft groß war damals die Bedeutung des musikalischen Lebens in der Metropole. Die Leitung der wichtigsten musikalischen Institutionen, der Cappella Reale, des Teatro di Corte und des Teatro San Bartolomeo, stand unter der direkten Aufsicht des Regenten, hatten diese Einrichtungen zeremonielle und symbolische Funktion für den Hof. Die königliche Cappella lieferte ferner den neapolitanischen Kirchen Werke für die wichtigsten, feierlichen Anlässe des religiösen Kalenders – womit den Riten der Kirche der Stempel des Hofes aufgedrückt werden konnte.6 Neben festem Personal gehörten der Cappella vor allem zur Zeit der Österreicher etliche außerordentliche Mitglieder bzw. Anwärter an, die sich bis zu ihrer festen Anstellung unentgeltlich zur Verfügung stellen mussten. Dies verdeutlicht nicht nur einen Prestigegewinn, welcher mit einer Zugehörigkeit zur Cappella verbunden war, sondern macht vielmehr die Schlüsselfunktion der Kapelle deutlich, was direkte und indirekte Auftragsvergaben an Komponisten und Interpreten betraf. Eine Zentralfigur des neapolitanischen Musiklebens war zweifellos Alessandro Scarlatti (1660-1725), der zur gleichen Generation von universal gebildeten Kapellmeistern gehörte wie der in Wien tätige Johann Joseph Fux (ca. 16601741). Scarlatti war von 1684 bis 1702 Maestro della Real Capella gewesen, dann für einige Jahre nach Rom gegangen (1702-1707), um danach wiederum als Hofkapellmeister in Neapel zu wirken. Seine Opern beherrschten den Spielplan bis 1719. Viele Auftragswerke, die er für den Hof des Vizekönigs komponierte, wurden auch am kaiserlichen Hof in Wien wiederholt. Dies trifft zu auf
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Francesco Degrada, »Musik in Neapel während des österreichischen Vizekönigtums«, in: Barock in Neapel. Kunst zur Zeit der österreichischen Vizekönige (= Katalog zur Ausstellung des Kunsthistorischen Museums Wien und der Sopraintendenza per i Beni Artistici e Storici Neapel), Neapel 1993, S. 123-130, hier S. 123.
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Ebd.
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einer der letzten Opern Scarlattis, den Telemaco (1718; Libretto von Minutolo Capece), in dem ein derart eindrucksvoller Orchesterapparat aufgeboten wird, dass die Partitur schon in der Prolog-Kantate mit den Figuren Minerva und Neptun oft fünfzehn Notensysteme benötigt.7 Das Orchester sieht außer der Standardbesetzung (zwei Violinen, Viola, Basso continuo) zwei Hörner vor, ein »Concerto di Oubue« (zwei Oboen, Fagott) sowie einen klein besetzten Streichkörper (»Concerto di Minerva«) von zwei Violinen, Viola und Bass, von dem die mit Neptun (Tenor) gemeinsam singende Minerva (Sopran) auf der Bühne ›umspielt‹ wird (vgl. Abb. 1). Wellen des Meeres werden musikalisch abgebildet in einem Accompagnato-Rezitativ: Neptuns Gesang ist in breite Streicherakkorde eingebettet, die mit der Anweisung »Arpeggio« versehen sind (Abb. 2). Scarlattis Partitur spiegelt gewiss seinen individuell-kompositorischen Einfallsreichtum wieder, nur dokumentiert sie in ihrer Anlage und jeder kleinsten musikanalytischen Beobachtung vorausliegend, dass der Komponist für seine Oper mit den günstigen Produktionsbedingungen einer außerordentlichen Musikmetropole rechnen durfte. Dem Süden Italiens wollte am Sitz des Kaisers nicht nachstehen und ließ sich Scarlattis Partitur übermitteln, die sich bis heute in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek Wien erhalten hat.8 Scarlattis eigenschriftliche Partitur in Wien – eine ›Partitur des Südens‹ auch aus der Warte ihres heutigen Aufbewahrungsortes – zeigt Charakteristika, neben denen sich die von Wiener Hofkapellmeistern und -komponisten verfassten Opern aus genau der gleichen Zeit einigermaßen bescheiden, ja beinahe einfallslos ausnehmen. Dass neapolitanische Komponisten seit Anfang des 18. Jahrhunderts am Wiener Hoftheater vertreten waren, hing sicherlich mit der Oberhoheit des Kaisers über die südliche Metropole zusammen. Und nicht nur in Werkübernahmen drückte sich eine kulturelle Verbundenheit aus: 1717 etwa erbat man sich acht junge Männer aus neapolitanischen Konservatorien, um sie ins Personal der Wiener Hofkapelle einzugliedern, während Niccolò Piccini (1728-1800) umgekehrt über Francesco Durante (1684-1755) berichtet, dass dieser den Gradus ad Parnassum des Wiener Hofkapellmeisters Fux als Kontrapunktlehrbuch in Neapel verwendet habe. Enge Bezüge zwischen Neapel und Wien sollten allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Opernpartituren von Alessandro Scarlatti in Venedig aus-
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Vgl. schon Robert Haas, Die Musik des Barock (= Handbuch der Musikwissenschaft), Potsdam 1928, S. 209.
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Österreichische Nationalbibliothek, A-Wn Mus. Hs. 16487..
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gepfiffen wurden und überhaupt nördlich von Florenz kaum Erfolge hatten.9 Die Zweiteilung der italienischen Halbinsel zwischen Nord und Süd zur Mitte des 18. Jahrhunderts zeigt sich paradigmatisch, indem Metastasios Artaserse in der Version von Leonardo Vinci (Rom 1730) vor allem im Süden in Umlauf ist, nördlich des Appenins dagegen die Umsetzung durch Hasse (Venedig 1730).10 So sind zwischen 1700 und 1737 nur vierzehn neapolitanische Opere serie anderswo aufgeführt worden.11 Mit den Hauptstadt- und Residenzfunktionen Neapels einher ging die Förderung der damit entsprechend verbundenen Institutionen des Musiklebens. Musik und Theater zählten zu den beliebtesten Ausdrucksformen. Im Grunde sind zwei Bereiche zu unterscheiden: Der offizielle, d. h. in die Öffentlichkeit wirkende und Öffentlichkeit herstellende, Sektor des Musiktheaters, der sich auf einige, seit Jahrzehnten etablierte Zentren gründete, besonders das Teatro San Bartolomeo, an dem die zuerst im Hoftheater gegebenen Werke nachgespielt wurden, und das Teatro deʼ Fiorentini, in welchem im 17. Jahrhundert schon die spanischen Kompanien gastierten mit ihren ›cappa e spada‹ (›Mantel und Degen‹Komödien)12; andererseits ein privates Netzwerk von Adelspalästen, kirchlichen Institutionen und Schulen als Auftraggeber für teilweise experimentelle, dramatische Darbietungen.13 Zwischen beiden Bereichen gab es insofern gelegentlich Auseinandersetzungen, als erteilte Privilegien an Privatleute, etwa zum Betrieb eines öffentlichen Theaters, mit den Interessen der Herrscher und der Stadtverwaltung kollidieren konnten, von deren Seite ein argwöhnisches Interesse an der
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Lorenzo Bianconi, Il teatro d’opera in Italia. Geografia, caratteri, storia, Bologna 1993, S. 38.
10 Ebd. 11 Zit. nach Lorenzo Mattei, »Die neapolitanische Bühne und der europäische Kontext: die Opera seria«, (wie Anm. 2), Bd. I, S. 81-151, hier S. 86; Lorenzo Mattei bezieht sich mit dieser Aussage auf einen unveröffentlichten Aufsatz von Dinko Fabris. – Dass Opern aus Neapel nicht den Weg in den Norden fanden, darf nicht verwechselt werden mit der Tatsache, dass die bis zur Mitte des Jahrhunderts in Neapel ausgebildeten Komponisten immer mehr zur Mobilität veranlasst wurden und sich dann selbst in Venedig durchsetzen konnten. Reinhard Strohm gibt an, dass von den 78 Opere serie, die zwischen 1721 und 1736 in Venedig komponiert wurden, 30 von neapolitanischen Komponisten stammen. Vgl. Reinhard Strohm, Dramma per musica: Italian Opera seria of the Eightteenth Century, New Haven 1997, S. 61-80. 12 Francesco Cotticelli, »Theater und Theaterrecht«, (wie Anm. 2), Bd. I, S. 63-80, hier S. 64. 13 Ebd.
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Programmgestaltung und an der Einnahmenbeteiligung bestand. Während des hier relevanten Zeitraums wurden mehrere Theater gegründet (etwa das volkstümliche Teatro della Pace 1723 oder das elegante Teatro Nuovo sopra Montecalvario 1724), allerdings auch abgerissen: eben 1737 das (1696 und zuletzt 1724 renovierte) Teatro San Bartolomeo. Der Bau des San Bartolomeo war bereits 1621/22 veranlasst worden durch die Casa Santa degli Incurabili, jener Institution, die seit 1589 das Recht hatte, die Hälfte der Einnahmen der Theaterleute der Stadt zu fordern. Grundsätzlich aber änderten sich die Verwaltungsstrukturen ab dem Ende des 17. Jahrhunderts im barocken Neapel kaum mehr. Das Jahr 1734 war insofern bedeutsam, als Neapel mit Karl III. von Bourbon wieder einen eigenen König erhielt und Sitz eines vollwertigen Hofes und einer selbstständigen Regierung war. Entsprechend wurden Verwaltungs- und Baumaßnahmen eingeleitet, die darauf abzielten, das Königreich mit der Stadt als ihrem Zentrum durch eine eigene politische Identität von den anderen europäischen Staaten stärker abzugrenzen und durch Diplomatie und Kultur in der internationalen Landschaft erkennbar zu machen.14 Bis dahin war die staatliche Kontrolle über die Theater direktes Vorrecht der Vizekönige gewesen, die stellvertretend für die externen Monarchen (bis 1707 in Madrid, danach in Wien) über die Provinz herrschten. Die Vizekönige hatten diese Kontrollfunktion an den Uditore generale dellʼesercito delegiert, der für die öffentliche Ordnung in Neapel zuständig war und unter dessen Rechtsprechung das Theaterpersonal stand. In den letzten Jahren des Vizekönigreichs hatte sich eine Kulturpolitik durchgesetzt, die im Theater den absoluten Mittelpunkt des öffentlichen Bereichs sah. Mit der Erbauung des Teatro San Carlo war endgültig eine organisatorisch-finanzielle Beteiligung des Palastes an den Theateraktivitäten festgelegt worden. Der Bau der Spielstätte war das wichtigste öffentliche und politische Ereignis der ersten Jahre des unabhängigen Neapel, sowohl hinsichtlich des wirtschaftlichen Aufwands als auch der Schnelligkeit, mit der das neue Gebäude in Betrieb genommen wurde. Die majestätische Bühne des San Carlo war gleichsam das Emblem der Herrlichkeit des neapolitanischen Königsreichs.15 Die Spielpläne des San Carlo waren von den Geburts- und Namenstagen der neuen Herrscher bestimmt. Fixe Termine waren über Jahre hinweg der 20. Januar (Geburtstag des Vaters von Karl III., Karnevalszeit), der 4. November (Gedenktag des Heiligen Karl, Namenstag des Regenten) sowie der 18./19. Dezember (Fest
14 Anna Maria Rao, »Eine Hauptstadt der Philosophie«, (wie Anm. 2), Bd. I, S. 1-36, hier S. 6. 15 Pier Luigi Ciapparelli, »Theatergebäude und provisorische Bühnen. Bühnenbilder und Bühnentechnik«, (wie Anm. 2), Bd. I, S. 245-354, hier S. 267.
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Mariä Erwartung der Geburt Jesu; span. Maria Esperanza).16 Die Ansprüche des Palastes führten besonders am San Carlo zu überentwickelten Regie- und Bühnenkonzepten und zur Übergröße von Inszenierungen, ja zum extremen Spektakel was Bühnenbilder, Bühnenumbauten, Kostümierungen, Komparseneinsätze, Licht- und Maschineneffekte betraf. Den Komponisten wurden durch eine der größten, dauerhaft etablierten Orchesterbesetzungen Europas reichhaltige und raffinierte Instrumentierungen ermöglicht. Betont spektakuläre Effekte, sängerisch-darstellerische Fertigkeit der Interpreten, Sorgfalt bei der Instrumentierung und Geschmack für besondere Klangfarben, Meisterschaft der Komponisten wurden als die unveränderlichen Konstanten der neapolitanischen ernsten Oper bis zur Jahrhundertmitte ausgemacht.17 Diese skizzierten Produktionsbedingungen bergen für eine Auseinandersetzung mit den hieraus resultierenden ›Partituren des Südens‹ erhebliche Gefahren. Eine Beschäftigung mit dem neapolitanischen Opernrepertoire dürfte sich demnach weniger als irgendwo sonst allein auf Papiermedien (Libretti, Partituren, Einzelstimmen) beschränken, sondern müsste unbedingt performative Aspekte aufgreifen, die die körperliche Gestik, den visuell-illusionistischen Gesamteindruck oder die Wahrnehmung des Raumes betreffen.18 Informationen dazu aber speicherten nicht nur neapolitanische Partituren überwiegend nicht ab (darin übermittelte, stichwortartige Szenenbeschreibungen oder beigegebene Stiche von Bühnenbildern stellen nicht den Regelfall dar). Barocke Partituren sind schlicht kein Ort zur Übermittlung solcher außermusikalischen bzw. extrakompositorischen Ingredienzen. Unter dem ausschließlichen Blickpunkt des Mediums ›Partitur‹ könnte es sogar fraglich scheinen, dass performative Faktoren jenseits der Musikdarbietung überhaupt zu den werkimmanenten Parametern zu zählen sind. Ein wichtiger Bestandteil der Kultur Neapels waren die berühmten Konservatorien, in denen der musikalische Nachwuchs herangezogen wurde. Im Gegensatz zu den venezianischen Waisenhäusern waren die neapolitanischen Konservatorien den Jungen vorbehalten. Sie bestritten zu einem nicht unwesentlichen Teil die Aufführungen in den Kirchen, wie solche bei religiösen und weltlichen Festen, bei Prozessionen und in sozial höherstehenden Häusern, weniger in den Theatern.19 Die städtischen Konservatorien – zur Unterscheidung trugen ihre
16 Lorenzo Mattei (wie Anm. 11), S. 84. 17 Ebd., S. 106. 18 Ebd., S. 101. 19 Die vielversprechenden Schüler bekamen von den Opernkomponisten außerdem Privatunterricht, der nicht innerhalb der Konservatorien stattfand; vgl. Sergio Durante,
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Schüler jeweils Kleidung in bestimmten Farben20 – lagen meist in der Nähe bestimmter Kirchen oder Ordensgemeinschaften, von denen ihre Benennungen herrührten: Santa Maria di Loreto (1537-1806), Santʼ Onofrio a Capuana (15781797) und Santa Maria della Pietà dei Turchini (1583-1806), deren Direktor Francesco Provenzale (1624-1704) der Musikforschung als Begründer einer neapolitanischen Tonschule21 gilt, da er viele später bedeutende Schüler hervorbrachte. Unter Rechtsprechung der erzbischöflichen Kurie stand außerdem ein weiteres Konservatorium, nämlich das der Poveri di Gesù Cristo (bis 1743). In den Konservatorien wurde nur Musik unterrichtet.22 Die Einrichtungen sollten sich mit Dekret von 1739 ihrer Aufgabe als ›Handwerksschulen‹ wieder bewusster sein, die zunächst den städtischen Bedarf an Sängern und Instrumentalisten bedienen, gleichzeitig aber auch herausragende Meister stellen sollten, um Europas Aufmerksamkeit auf Neapel zu richten. Das ›didaktische System‹ der Konservatorien brachte weit mehr Musiker (Komponisten, Sänger, Instrumentalisten) hervor, als der musikbezogene Arbeitsmarkt erforderte, so dass sich ein hoher Druck um mäzenatische Gunst entwickelte.23 Die Folge waren ein harter Wettbewerb unter den Musikern, oft mit daraus resultierenden Höchstleistungen und nicht zuletzt Emigration.24 Ein Vorteil der Institutionen lag sicherlich darin, dass die in der Stadt verantwortlichen und tätigen Maestri und Musiker als Lehrer an den Konservatorien zu ihren begabten Schülern früh eine enge Beziehung aufbauen konnten. Die Maestri waren teilweise gleichzeitig für verschiedene Institutionen tätig: etwa Francesco Durante an den Konservatorien von S. Onofrio, Poveri di Gesù Cristo und S. Maria di Loreto, Nicolo Porpora (1686-1768) von 1715-1722 an S. Onof-
»Il cantante«, in: Lorenzo Bianconi, Giorgio Pestelli (Hg.), Storia dell‘ opera italiana, Turin 1987f., Bd. 4, S. 377. 20 Rot und dunkelblau für die Poveri, dunkelblau für die Pietà, weiß für Loreto und weiß/braun (oder grau) für S. Onofrio; vgl. Lucio Tufano, »Der Beruf des Musikers: Ausbildung, Markt, Bewusstsein, Darstellung«,
(wie Anm. 2), Bd. II, S. 791-832,
hier S. 801f. 21 Haas (wie Anm. 7), S. 205. 22 Francesco Cotticelli, »Theater und Theaterrecht«, (wie Anm. 2), Bd. I, S. 63-80, hier S. 72. 23 Cesare Fertonani, »Instrumentalmusik in Neapel im 18. Jahrhundert«, (wie Anm. 2), Bd. II, S. 991-1031, hier S. 1022. 24 Carl Dahlhaus, »Die italienische Instrumentalmusik als Emigrantenkultur«, in: ders. (Hg.), Die Musik des 18. Jahrhunderts (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft), Laaber 1985, S. 210-216.
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rio, Francesco Feo (1691-1761) ab 1723 ebendort und ab 1739 am Poveri die Gesù Cristo, Leonardo Vinci (um 1690-1730) 1728 am Poveri di Gesù Cristo sowie Leonardo Leo (1694-1744), der 1725 secondo maestro bzw. ab 1739 primo maestro an S. Onofrio sowie ab 1741 maestro an der Pietà die Turchini.25 Es ist nicht genau untersucht, aber anzunehmen, dass das Notieren von Musik im Zuge des Unterrichts an den Konservatorien eine Rolle spielte und wohl auch vermittelt wurde. Tatsache ist, dass die tüchtigen Schüler eigene Kompositionen aufschrieben und auch selber wiedergaben. Entsprechendes berichtet Charles Burney von seinem Besuch im Konservatorium S. Onofrio am 5. November 1770: »Heute früh ging ich in das Konservatorium S. Onofrio, um die Knaben in ihren Lehrstunden zu sehen und einige der besten unter ihnen spielen zu hören. Sie waren alle eifrig bei der Arbeit und machten ein vortreffliches Getöse (…). Doch schont man der Ohren sowohl der Lehrer als der Schüler, wenn Unterricht im Singen gegeben wird, denn dies Geschäft wird in einem ruhigen Zimmer verrichtet, allein in anderen Übungssälen ist der Lärm und das Missgetöne unbeschreiblich. Dennoch hörte ich in einem Nebenzimmer zwei Knaben miteinander spielen; der eine spielte ein Solo von Giardini auf der Violine und der andere eines von seiner eigenen Arbeit auf dem Violoncell. Das erste ward nur mittelmäßig ausgeführt, allein das zweite war schön gesetzt (!) und ward sehr gut gespielt.« 26
Burney bewertet das kompositorisch Aufgezeichnete in handwerklicher Relation zur musikalischen Wiedergabe. Schon einen Tag zuvor hatte er erfahren, dass jedenfalls die von wichtigen Lehrern hergestellten Musikhandschriften unter Schülern offenbar hohe Wertschätzung genossen. Burney schreibt: »Ich ging heute früh in die Kirche des Hl. Januarius, um die Orgel zu hören und die Kapelle zu sehen, worin die Gemälde von Domenichino sind. Hierauf führte mich ein Freund nach Don Carlo Cotimaccis Haus, welcher Kapellmeister des Konservatoriums S. Onofrio ist. Ich hörte ihn auf dem Flügel spielen, und er teilte mir eine große Menge Anekdoten, die ältere Musik betreffend, mit. Er war im Jahre 1719 ein Schüler des Ritter Scarlatti und
25 Francecso Degrada, »Musik in Neapel während des österreichischen Vizekönigtums« (wie Anm. 5), S. 125. 26 Charles Burney, Tagebuch einer musikalischen Reise, hg. v. Eberhardt Klemm (= Taschenbücher zur Musikwissenschaft 65), Wilhelmshaven 1980, 187f.
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zeigte mir die Sonaten, welche dieser große Meister ihm eigenhändig vorgeschrieben hatte.« 27
Burneys Berichte unterstützen darin, die Konservatorien Neapels als regelrechte ›Scriptorien‹, als Schreibschulen für ›Partituren des Südens‹ zu sehen. Sicherlich diente vieles Notierte didaktischen Zwecken und blieb als physischer Gegenstand ausschließlich der des Ortes. Aber schon das bloße Faktum einer schriftlichen Einübung musikalischen Speicherns und die Vermittlung der mit diesem Schreibprozessen verbundenen Valenzen liegt begründet speziell in den urbanen Voraussetzungen des barocken Neapel. Fast unbemerkt sprechen wir hierbei in erster Linie über Instrumentalmusik. Natürlich konzipierten die schon genannten maestri Instrumentalwerke von höchstem ästhetischem Anspruch28, doch konnte Instrumentalmusik sozusagen auch nebenbei entstehen und didaktische Absichten verfolgen. Dies gilt für einen Großteil der Musik für Tasteninstrumente (Sonaten, Tokkaten, Präludien, Fugen, Variationen), die zusammen mit den Partimenti (Übungen zur Komposition auf der Grundlage eines gegebenen Bassverlaufs) einen Zusatz zur eigentlichen Profession der maestri darstellten. Das Lehren von populären Streichinstrumenten in Neapel – nicht wenige Geigen- und Cellovirtuosen ragen heraus – verband sich mit einer Reihe von recht typischen Kompositionen für drei oder vier Violinen und Bass, etwa von Nicola Fiorenza (nach 1700-1764). An solchen Werken konnten sich gleich mehrere Geigenschüler zugleich bewähren bzw. miteinander messen. Andere Züge weist solche Musik von Instrumentalvirtuosen und
27 Ebd., S. 182f. – Über die Verhältnisse an den Konservatorien wurde Burney am 18. Oktober 1770 durch Piccini unterrichtet, der über diese städtischen Einrichtungen sagte, »dass sie S. Onofrio, La Pietà und Santa Maria di Loreto hießen. (…) Die Zahl der Schüler in dem ersten belaufe sich auf etwa neunzig, in dem zweiten auf hundertundzwanzig und in dem dritten auf zweihundert. Jedes habe zwei Oberkapellmeister, wovon der eine die Kompositionen der Lehrlinge durchsehe und verbessere, der zweite auf das Singen achte und Lektionen gebe. Es wären Untermeister da, welche Maestri secolari genannt würden, einer für die Violine, der andere für das Violoncell, einer für den Flügel, einer für die Oboe, einer für das Waldhorn und so weiter für die übrigen Instrumente.« (zit. nach Charles Burney, Tagebuch einer musikalischen Reise [wie Anm. 23], S. 165). 28 Cesare Fertonani (wie Anm. 23), S. 997, nennt exemplarisch die 12 Sinfonie di concerto grosso (1715) von Alessandro Scarlatti, die Concerti di violoncello (1737/38) von Leo, die Concerti à quattro von Durante oder die XII Sonate di violino e basso (1754) von Porpora.
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-lehrern auf, die mehr für ihren eigenen Bedarf und ihre musikästhetische Selbstdarstellung komponiert haben und die sich selten auf dem Gebiet der Vokalmusik betätigten. Die Ansprüche an Instrumentalmusik bestimmten sich (auch) in Neapel von ihrem Zweck und ihren Adressaten her. Durch die enge Verknüpfung der verschiedenen Musiksektoren Neapels ist auch die Instrumentalpraxis ihr organischer Bestandteil. Sie wird getragen von Komponisten bzw. Berufsmusikern, die auf allen diesen Feldern tätig sind – in erster Linie den Musikerdynastien der Stadt (Scarlatti, Fago, Prota, Sabatino, Barbella, De Majo, Orgitano). Eine charakteristische Eigenschaft der neapolitanischen Instrumentalmusik scheint ihre Beziehung zur Vokalmusik zu sein. Es gab Versuche neapolitanischer Komponisten, Strukturen und Modelle der Oper in die Instrumentalmusik zu verpflanzen: so etwa bei Pergolesi im Concerto di violino solo und in der Sinfonia a violoncello solo, in denen »ganz klare Verweise auf die Gestik und die Stimmungen des komischen Stils des Intermezzo und der Commedia musicale zu erkennen sind«.29 Die neapolitanische Instrumentalmusik ist nur in handschriftlichen Quellen überliefert (von den im Ausland veröffentlichten Editionen sei hier abgesehen). Ihres Provenienzgangs wegen erwähnt seien die 15 Bände mit Claviersonaten von Domenico Scarlatti, die sich im Besitz ihrer Majestät Maria Anna, Königin von Spanien, befanden und an den Star-Kastraten Carlo Broschi (1705-1782), genannt Farinelli, vererbt wurden und sich heute in Venedig befinden. Seltene Ausnahmen heimischer Druckerzeugnisse sind die bei Michele Luigi Muzio herausgegebenen Sonate a tre, op. II (1703), und die Sonate a quattro, op. III (1713), von Giuseppe Antonio Avitrano (1670-1756) sowie die Sonate per Cembalo von Francesco Durante, gedruckt zwischen 1747 und 1749 bei Filippo Grado. Eine signifikante Musikverlegeraktivität hat es im barocken Neapel praktisch nicht gegeben.30 Hierin liegt einer der Gründe, dass die neapolitanische Instrumentalmusik von Werken anderer Komponisten aus Nord- und Mittelitalien (etwa von Corelli, Vivaldi, Tartini, Sammartini und Boccherini) deutlich überstrahlt wird – denn deren europaweiter Erfolg wird getragen von den eifrigen Verlegern in Amsterdam, London und Paris. Auch die kirchliche Musik, insbesondere wo von der königlichen Hofmusikkapelle ausgeführt, wurde kontrolliert, und zwar durch den Cappellano maggio-
29 Cesare Fertonani, »Archetipi formali ed espressivi della musica strumentale di Pergolesi«, in: Studi Pergolesiani/Pergolesi Studies 5 (2006), S. 215-231. 30 Cesare Fertonani (wie Anm. 23), S. 996. Hier wird auch hingewiesen auf Luigi Marescalchi, der erst in den Jahren 1785-1799 ein königliches Exklusivrecht zum Drucken von Noten ausübt.
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re, ein Amt das hauptsächlich für die Beziehungen Neapels zum Heiligen Stuhl eingerichtet worden war. Zusätzlich wurden unter Karl III. über ein eigens eingerichtetes Sekretariat für Kirchenangelegenheiten (Segreteria per gli affari ecclesiastici) die Kontrollen über die königliche Kapelle verstärkt. Unter den von diesen Behörden angehäuften Akten und Vermerken können zuweilen ganze Partituren größerer Werke aufgefunden werden, etwa jüngst das Oratorium Lʼanacoreta reale S. Onofrio di Persia von Angelo Durante (um 1650-nach 1704).31 Die für Repräsentationszusammenhänge bestimmten Werke mussten formale Zensurschranken passieren, wodurch sie gewissermaßen zu offiziellen, amtlich beglaubigten ›Partituren des Südens‹ wurden. Tendenziell häufiger haben sich von umfangreicheren Werken wie Opern und Oratorien oder größer besetzten liturgischen Werken Partituren erhalten, was sicher dem physischen Volumen der sich ansammelnden Papieraufzeichnungen geschuldet ist: Einzelstimmensätze zu großen Werken beanspruchen weit mehr Aufbewahrungsraum als deren Partitur und wurden entsprechend selten vollständig aufgehoben. Auf die Bautätigkeit und den damit einhergehenden Flächenverbrauch durch die städtischen Orden und Klöster wurde schon hingewiesen. Fast die Hälfte des gesamten Grundbesitzes in Neapel gehörte der Kirche und war in Parzellen unterschiedlicher Größen über die ganze Stadt verteilt (– ein wesentlicher Grund dafür, dass eine geordnete Stadtentwicklung Neapels seitens der Regierung nahezu unmöglich war). Das kirchliche Leben Neapels war überbordend und wurde in ganz besonderer Weise zur Schau getragen. »Es waren die für Neapel typischen Inszenierungen der Volksfrömmigkeit, die für die Reisenden aus dem Norden fremd und irritierend wirkten: die großen, lautstark gefeierten Feste (San Gennaro, Piedigrotta, San Giuseppe), bei denen sich die Stadt in einen Hexenkessel zu verwandeln schien; die Umzüge der schwarz oder weiß vermummten Beerdigungsbruderschaften; die Prozessionen an den Feiertagen der Heiligen mit ihren zum Teil archaischen Riten wie der ›flagellatio‹ (Geißelung) oder der ›leccatio‹, den Kriechprozessionen, während deren man den Boden leckte.«32
Der hohe Stellenwert von (turbulent-äußerlicher) Frömmigkeit und Musik in Neapel hatte einen enormen Bedarf an liturgischer Gebrauchsmusik zur Folge, der vor allem über die Konservatorien auch bedient werden konnte.
31 Imma Ascione, »Die dokumentarischen Quellen«, (wie Anm. 2), Bd. I, S. 37-62, hier S. 55. 32 Richter (wie Anm. 1), S. 91f.
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Im Gegensatz zu den Oratorien sind viele Partituren von Messen oder Vespern, also von geistlicher Gebrauchsmusik, verloren oder wurden im 19. Jahrhundert als wertlos erachtet. Zwar ist noch eine Vielzahl an originalen Manuskripten aus ihrer barocken Entstehungszeit erhalten, doch war die ursprüngliche Menge ungleich höher. Es scheint auch so zu sein, dass sich im Bereich der Kirchenmusik in Neapel weit mehr Einzelstimmensätze erhalten haben als Partituren. Für die ausübenden Kirchenmusiker haben sorgfältig geschriebene Einzelstimmen ungleich höhere Relevanz als die entsprechenden Partituren, welche eine die Konzeption speichernde Vorstufe darstellen und das Ausziehen bzw. Ausnotieren der einzelnen Stimmen überhaupt ermöglichen. Die Bekanntheit Neapels als Musikhauptstadt Europas bedeutete nicht zwangsläufig eine entsprechende archivalische Wertschätzung der hier vorhandenen Partituren, besonders nicht hinsichtlich liturgischer Gebrauchsmusiken. Eine Zeit lang mochten Partituren und Stimmensätze aufbewahrt worden und von Nutzen gewesen sein, doch schließlich wurden sie durch neuere, wirkungsvollere Werke ersetzt und – auch physisch – verdrängt. Der Musikforscher Claudio Bacciagaluppi konnte zeigen, dass geistliche Musik aus Neapel während des österreichischen Vizekönigtums (1707-1734) in andere Teile des habsburgischen Herrschaftsgebiets transferiert wurde.33 Er exemplifiziert dies an den (nach dem Spanischen Erbfolgekrieg ab 1714) Österreichischen Niederlanden und am Königreich Böhmen. Aus dem damaligen Böhmen haben sich rund 240 Quellen mit neapolitanischer Kirchenmusik erhalten, worunter sich etwa 20 Quellen neapolitanischer Provenienz befinden; aus den habsburgischen Niederlanden existieren etwa 150 Quellen, davon entstanden ein Drittel tatsächlich in Neapel. Die heute noch erhaltenen Musikalien stammen also nur zu geringen Teilen tatsächlich aus dem Süden und die Werkverbreitung erfolgte in der Regel nicht durch Mitnahme originaler Vorlagen. Wenn in Neapel geistliche Musik eingekauft und abtransportiert wurde, dann zumeist in Form einer kopierten Partitur. Für den beabsichtigten Gebrauch wurden diese am neuen Aufführungsort durch lokale Kopisten zu Stimmen extrahiert. Als »Partituren des Südens« können jedoch auch solche, in Neapel veranlassten und erworbenen Abschriften gelten – der Grad ihrer womöglich geringeren Autorisierung spielt in unserem Zusammenhang keine Rolle. Sie entstanden im Grunde als eine textliche Transfermethode und konnten, gerade was die liturgischen Gebrauchsgattungen betraf, wenig spektakulär sein. Aus der Zeit um die Mitte des 18. Jahr-
33 Claudio Bacciagaluppi, »The Circulation of Sacred Music from Habsburg Naples (1707-1734)«, in: Tassilo Erhardt (Hg.), Sakralmusik im Habsburgerreich (15701770), Wien 2013, S. 317-326.
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hunderts haben sich im Musikarchiv der Kathedrale St. Lambert in Liège einige wenige solcher neapolitanischen Quellen erhalten, unter anderem ein mottetone von Francesco Durante sowie eine Vertonung des Psalms Lautatus sum von Giovanni Battista Pergolesi (1710-1736). Notiert sind sie nicht auf üblichem Notenpapier in Kanzleiqualität, sondern auf einem kleinen Bogen dünnen und leichten Briefpapiers, das jeweils Reste von Siegelwachs trägt – offenbar in Neapel speziell zum Verkauf gefertigte Transferkopien geistlicher Musik, an der Interesse bestand.34 Einen gezielten kulturellen Austausch allerdings, der das Herrschaftsgebiet auch musikalisch geschlossen erscheinen lassen sollte und der repräsentationspolitisch motiviert gewesen sein könnte, hat es im Bereich der Sakralmusik offenbar weniger gegeben. Die Zusammenstellungen neapolitanischer Sakralmusik, wie in Böhmen und den Niederlanden zu finden, spiegeln vielmehr individuelle Sammlerinteressen wider. Wenn auch im 18. Jahrhundert, so erreichten solche Sammlungen oft erst Jahre nach dem Erwerb oder gar nach dem Tod ihrer Sammler die Kathedralen und Klöster auf den genannten Territorien. Falls es dort überhaupt zu Aufführungen kam, erscheint es fraglich, ob sich für den unbedarften Hörer am neuen Aufführungsort überhaupt irgendetwas von der ungeheuer südlichen Urbanität Neapels mitteilte, die für den dort vor Ort bestellenden Sammler einer Musikalie gegenwärtig gewesen war.35 Es fällt auf, dass gerade solche Werke, die ganz offensichtlich eng mit lokalen Herkunfts- und Identitätskonstruktionen verbunden waren, sich zum überwiegenden Teil nur in Neapel erhalten haben und nirgendwohin verbreitet wurden – etwa Kompositionen zum Fest des Stadtpatrons San Gennaro (Heiliger Januarius)36. Der Bischof von Neapel und Benevent starb um das Jahr 305 unter Kaiser Diokletian den Märtyrertod in den Schwefelquellen von Pozzuoli. Gebeine und Reliquien – verschlossene, angeblich mit dem getrockneten ›Blut‹ des Märtyrers gefüllte Ampullen – wurden 835 nach Benevent überführt, jedoch am
34 Ebd., S. 322. 35 Grundsätzlich scheint das Interesse an neapolitanischer Kirchenmusik während der Barockzeit im Vergleich zu Rom recht gering gewesen zu sein, was auch eine Folge der unübersichtlichen Menge an entsprechenden Musikalien gewesen sein dürfte. Der Mailänder Musiksammler Gustavo Adolfo Noseda (1837-1866), der zahlreiche Werke für seine Sammlung erwarb, zeigte sich in Briefen unmittelbar nach der Vereinigung Italiens (1861) verwundert über »die kulturelle Situation Süditaliens, wo immense Kunstschätze buchstäblich weggeworfen, allgemein als Altpapier behandelt werden«; zit. nach Marina Marino, »Die Kirchenmusik im Neapel des 18. Jahrhunderts, (wie Anm. 2), Bd. II, S. 885-989, hier S. 885, Fußnote 1. 36 Wikipedia, Art. »Januarius« (http://de.wikipedia.org/wiki/Januarius; Februar 2013).
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1. Mai 1491 wieder nach Neapel zurückgebracht, nachdem 1389 erstmals das berühmte ›Blutwunder‹ bezeugt wurde. San Gennaro ist Patron des Doms und der Stadt Neapel. Am Festtag der Reliquienüberführung (1. Mai), am Festtag des Heiligen Gennaro (19. September) und am Gedächtnistag (16. Dezember) der Warnung vor dem Vesuvausbruch 1631 werden die Ampullen nach einer feierlichen Prozession im Dom in die Nähe des reliquiaren Hauptes gebracht, dort bewegt und gedreht, worauf das darin enthaltene, getrocknete ›Blut‹ sich in der Regel verflüssigt (allerdings nicht immer, was als schlechtes Omen gilt). Aus der Zeit um 1700 sind von Cristoforo Caresana (1640-1709) beinahe jährlich Partituren von Canzonen und auch Kantaten »in Festo per S. Gennaro« unikal erhalten. Caresana stammte aus Venedig, war dort musikalisch unterrichtet worden und dann nach Neapel gekommen, wo er als Organist der königlichen Kapelle wirkte sowie als Lehrer an verschiedenen Konservatorien und für das Oratorio dei Filippini. Caresana schrieb für die Philippiner zahlreiche Musiken für typisch neapolitanische Anlässe. Der lokalen Vorliebe für Dramatisierung entsprechend ist Caresanas Cantata à 7 Voci con Istrumenti per S. Gennaro aus dem Jahr 1701 (Abb. 3) die Vertonung eines lebhaften Disputs zwischen den Figuren des San Gennaro, der Idolatria sowie den Personifikationen von Religion (religione), Grausamkeit (crudeltà), Wut (furore), Beständigkeit (costanza) und Mut (fortezza). Dagegen wird in Caresanas Canzone à 4 Voci CCCT con 2 Violini per S. Gennaro (Abb. 4) aus dem Jahr 1704 einer der Gründungsmythen Neapels, der città partenopea, thematisiert. Der Beiname erinnert an die Anfänge der Stadt durch griechische Siedler im 7. Jahrhundert vor Christus unter dem Namen Partenope, d. h. einer der Sirenen aus der griechischen Mythologie, die durch ihren Gesang frühere Erinnerungen auslöscht und die Reisenden zum Bleiben bewegt. Caresanas Komposition von 1704 über die glückliche Partenope aktualisiert – in kleinerem Rahmen – jenen außerordentlichen Erfolg der gleichnamigen Oper, die 1699 im Teatro San Bartolomeo mit der Musik von Luigi Mancia (1658-nach 1708) auf das Libretto von Silvio Stampiglia gegeben worden war. Caresana dupliziert damit Bezüge zur urbanen Identität Neapels, indem Gründung (Partenope) und Aktualisierung (Fest des San Gennaro) zusammenkommen. Gewiss könnte man der Frage nachgehen, ob sich Caresanas Kompositionen für San Gennaro durch mehr venezianische als neapolitanische Stilmerkmale auszeichnen. Man könnte fragen, ob neapolitanische Codes in die Musik eingegangen sind, die wir mit dem Attribut ›südlich‹ versehen. Hier genügt es festzustellen, dass es sich um Werke handelt, die in die Urbanität Neapels gehörten und nur hier an diesem Ort in ihrer Erscheinung gefragt und denkbar waren. Schon unter dem Aspekt der geographischen Lage aller Wirkungsstätten Caresa-
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nas sind seine Partituren ›per S. Gennaro‹ solche ›des Südens‹. (Eine andere Frage wäre, ob er sie selbst so charakterisiert haben würde). Fakt ist, dass gerade die Partituren äußerst charakteristischer Werke für die barocke Metropole Neapel vor Ort bleiben. Ein Kopieren und Transportieren solcher »Partituren des Südens« konnte gerade nordeuropäischen Musikreisenden zu Anfang des 18. Jahrhunderts nicht ratsam erscheinen: zu speziell und örtlichkeitsbezogen waren ihre Verwendungsweisen; eine kulturelle Adaption ihrer Sujets und Bezugnahmen hätte an anderen Orten kaum Sinn entfalten können. Solche mit den lokalen Stadtgebräuchen unmittelbar verbundenen musikartifiziellen Aufzeichnungen aus dem barocken Neapel sind das geblieben, was sie im realphysischen, im subjektiv-biographischen und im entstehungskontextuellen Sinn immer waren: Partituren des Südens.
Abb. 1: Alessandro Scarlatti (1660-1725):Prolog-Kantate zur Oper Telemaco (1718), Recitativ des Neptun, fol. 12r
Quelle: A-Wn Mus. Hs. 16487
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Abb. 2: Alessandro Scarlatti (1660–1725): Prolog-Kantate zur Oper Telemaco (1718), Duett Minerva/Neptun, fol. 20r
Quelle: A-Wn Mus. Hs. 16487
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Abb.3: Cristoforo Caresana (1640–1709), Cantata à 7 Voci con Istrumenti per S. Gennaro (1701), Beginn der Partitur
Quelle: Biblioteca Oratoriana del Monumento Nazionale dei Girolamini di Napoli
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Abb. 4: Cristoforo Caresana (1640–1709), Canzone à 4 Voci CCCT con 2 Violini per S. Gennaro (1704), Beginn der Partitur
Quelle: Biblioteca Oratoriana del Monumento Nazionale dei Girolamini di Napoli
Aaron Coplands New York ›Citys‹ T IMOTHY D. F REEZE
Ein starker Sinn für Orte durchdringt Aaron Coplands Musik. Seine überdauernde Reputation beruht zwar größtenteils auf den bildlichen Darstellungen der weiten Landschaft der amerikanischen ›Frontier‹ und der regen Atmosphäre von lateinamerikanischen Schauplätzen, aber kein Ort war so bedeutsam für ihn wie New York City – sowohl als Mensch als auch als Komponist: Die Stadt war sein physikalisches Zuhause für ein halbes Jahrhundert und sein spirituelles während seines ganzen Lebens. Überdies stellte sie einen immer wiederkehrenden Ausgangspunkt für seine Kompositionen dar, obwohl kein Titel jemals die Verbindung ausdrücklich hervorhob. Dieser Aufsatz konzentriert sich auf drei Werke, die alle, zumindest teilweise, mit Bezug auf Coplands Heimatstadt erschaffen wurden: die Filmmusik zu The City (1939), das Konzertstück Quiet City (1940), basierend auf der Bühnenmusik des namensgebenden Schauspiels, und die viersätzige Music for a Great City (1964), die auf der Partitur des Independent-Films Something Wild (1961) beruht. Trotz ihrer ausgesprochen unterschiedlichen musikalischen Oberflächen, eint diese Kompositionen doch alle eine soziopolitische Kritik an der modernen Metropole, hier dargestellt durch New York City, die in einem dialektischen Austausch mit ihren individuellen Einwohnern steht. Monate nachdem er Copland 1926 vorgestellt worden war, verfasste der Komponist Roger Sessions eine Zurechtweisung der Selbstbeschreibung seines Amerikanischen Landsmanns: »Obwohl ich es nicht gewöhnt bin, so eine Art Brief zu schreiben, kann ich es nicht unterlassen, Dir gehörig Bescheid zu sagen […]. Du hast die Hölle, und noch Schlimmeres ver-
40 | TIMOTHY D. F REEZE dient, weil du den Titel und, lass uns sagen, die Verpflichtungen eines ›New York Komponisten‹ übernommen hast«.1
Vor allem stieß sich Sessions an Coplands Experimentieren mit dem Jazz. Nach einem Studium mit Nadia Boulanger war Copland nämlich nach Manhattan zurückkehrt und hatte danach gestrebt, Musik, die mit seiner »heimatlichen Umgebung verbunden ist«, zu schreiben.2 Wie viele seiner Zeitgenossen glaubte er, dass die ikonischen Idiome des sogenannten ›Jazz Age‹ jene Mittel bereit hielten, die »Tempo und Aktivitäten« des städtischen Amerikas und im Besonderen die »Aufgeregtheit von New York City« zu vermitteln.3 Dieser Ansatz prägte die fünfsätzige Music for the Theatre (1925), die Copland Sessions gegenüber zu seinem bislang charakteristischsten Werk erklärte. Er legte damit eine Komposition vor, die dem ›Symphonischen Jazz‹ zuzurechnen war, jenem Genre, das im Jahr zuvor mit George Gershwins Rhapsody in Blue (1924) für Furore sorgte und nun auch Coplands erstes musikalisches Porträt von New York City stimulierte.4 Zusätzlich zu der von Tin Pan Alley stammenden Verbindung von Jazz und New York differenzierte Copland sein Stadtpanorama durch die von Fanny Brice, einer Stardarstellerin in Broadways Ziegfeld Follies, inspirierte Striptease-Musik des pikant betitelten Satzes Burlesque sowie durch ein Zitat des Zeit überdauernden Hits The Sidewalks of New York (1894) in wesentlicher Weise. Sehr zur Erleichterung von Sessions kündigte Copland in seiner Rückantwort an diesen allerdings an, er habe »die ›New York Komponisten‹-Idee« fallen lassen.5 In der Tat schwand Coplands Enthusiasmus für ›Symphonischen Jazz‹, als die optimistische Fassade der ›Roaring Twenties‹ zu bröckeln begann. Seine späteren Stadtlandschaften bezogen sich zwar auf die rhythmischen Merkmale und die Klangfarben des Jazz, jedoch abstrahiert und von einem modernistischen Idiom verfremdet. In der Zwischenzeit begab sich Copland auf neue kompositorische Pfade, die bei vielen Kritikern auch als eine deutlich ›städtische‹ Äuße-
1
Andrea Olmstead (Hg.), The Correspondence of Roger Sessions, Boston 1992, S. 6667.
2 3
Aaron Copland, Music and Imagination, Cambridge 1953, S. 99. Harold Clurman, The Fervent Years: The Story of the Group Theatre and the Thirties, New York 1983, S. 6; Martha Dreiblatt, »Lack of Tradition Blocks Musical Progress Here: Personalities of Composers One Solution, Says Aaron Copland«, in: World (New York), 07.07.1929, Metropolitan Section, S. 3.
4
Vgl. Howard Pollack, Aaron Copland. The Life and Work of an Uncommon Man, New York: Henry Holt 1999, S. 129-130.
5
Olmstead, Correspondence (wie Anm. 1), S. 70.
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rung wahrgenommen wurden. So schrieb Paul Rosenfeld, dass die hochgradig dissonanten Piano Variations (1930) »nichts so sehr wie Stahlkräne, Brücken und die Gerüste von Wolkenkratzern« vermittelten6. Es waren jedoch andere, ideologische Entwicklungen, die sich als bedeutsamer für Coplands spätere musikalische Gestaltungen seiner Heimatstadt herausstellen sollten. Die Great Depression hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf Copland und sein musikalisches Schaffen. Diese Dekade der Härte, die große Teile seiner Landsleute traf, verstärkte seine progressiven Neigungen und sein politisches Engagement für den Kommunismus und die Popular Front.7 Ein Gefühl der Verantwortlichkeit gegenüber der Gesellschaft ließ in ihm das Bewusstsein reifen, dass moderne Komponisten ständig Gefahr liefen, sozial irrelevant zu werden. Daher sprach er am Ende eines autobiographischen Essays von 1939 seine zwei Absichten aus, eine selbst »auferlegte Einfachheit« im musikalischen Stil zu kultivieren und mithilfe von Gebrauchsmusik und neuer Technologien ein breiteres Publikum erreichen zu wollen.8 Diese Ideale sind besonders eindrücklich in seinen Erfolgs-Balletten aus den 1930er und 1940er verwirklicht. In ihnen wird ein szenischer Wechsel hin zu dem Wilden Westen vollzogen – als einem der letzten Orte, an dem der ›amerikanische Geist‹ vor den gesellschaftlichen und ökonomischen Umbrüchen der Modernisierung bewahrt wird. Dies widerspiegelt deutlich den ungestümen Populismus der Zeit.9 Diese Ballette, aber auch seine Darstellungen von New York City, legen nahe, dass Copland, um Zugänglichkeit zu erreichen, einen dritten, unausgesprochenen Ansatz verfolgte: nämlich Menschen zu thematisieren, die von ihrer physikalischen und kommunalen Umgebung abgewiesen werden. Wie Beth Levy argumentierte, präsentieren Coplands ›Frontier‹-Ballette die raue Landschaft als Kulisse für die Entfremdung und schließliche Selbstentdeckung individueller Charaktere:10 ein dialektischer Ansatz, der schon in seinen früheren, stadtorientierten Werken vorgezeichnet ist. So hat Larry Starr in seiner Analyse von Music
6
Arthur Berger, Aaron Copland, New York 1953, S. 53.
7
Vgl. Elizabeth B. Crist, Music for the Common Man. Aaron Copland During the Depression and War, Oxford 2005.
8
Aaron Copland, »Composer from Brooklyn. An Autobiographical Sketch«, in: Richard Kostelanetz (Hg.), Aaron Copland. A Reader, Selected Writings 1923-1972, New York 2004, S. xxvi.
9
Alex Ross, The Rest is Noise. Listening to the Twentieth Century, New York 2007, S. 294.
10 Vgl. Beth Levy, Frontier Figures: American Music and the Mythology of the American West, Berkeley 2012.
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for the Theatre den in diesem Werk auftretenden Gegensatz zwischen einer kräftig-jazzigen »äußeren Stimme« und einer lyrisch-solistischen »Stimme des einsamen Nachsinnens« eines imaginären Theaterbesuchers herausgearbeitet.11 In den Stadtlandschaften nach der Depression überlagerte Copland diese Dichotomie mit einer progressiven Kritik an den entmenschlichenden Auswirkungen großstädtischer Räume. Coplands New York ›Citys‹ basieren damit auf einer dialektischen Vorstellung der modernen Metropole, in der sich die ungebändigte Energie des Äußerlichen unauflösbar mit dem psychologischen und emotionalen Tribut verbindet, den sie dem Menschen abfordert. Copland setzte diese Vorstellung zum ersten Mal in seiner Partitur für den Dokumentarfilm The City um. Das Projekt des American City Planning Institute war eine Kooperation von Künstlern und Intellektuellen aus New York, die mit dem Fotographen Alfred Stieglitz in Verbindung standen und die Vision teilten, dass ein besseres Amerika zum Teil durch künstlerische Betrachtung der Mühsal des einfachen Menschen erreicht werden konnte.12 Der Film The City, der täglich auf der Weltausstellung von 1939 gezeigt wurde, verschmolz Kino, Polemik und Musik in ein machtvolles Plädoyer für eine neue Art städtischer Planung. Der vierteilige Film umrahmt Anklagen der modernen industriellen bzw. postindustriellen Stadt mit utopischen Visionen eines verloren gegangenen Dorflebens und einer sorgfältig organisierten Gartenstadt der Zukunft. In jedem dieser Abschnitte zoomt die kritische Linse näher heran und fokussiert die Effekte, die jeder der Stadttypen auf seine Einwohner hat. Im Teil über die postindustrielle Stadt ist es New York, das als Beispiel gezeigt wird. Gleich den Bildern der Stadt kommuniziert Coplands Musik die Kritik, dass endlose Reihen von Bürotischen und repetitiven Aufgaben den Menschen zu wenig mehr als einem Produktionsmittel der marktgetriebenen Ökonomie reduzieren. Wenn die ersten Bilder rasch von steil aufragenden, extrem ausgeleuchteten Wolkenkratzern und von Autos und Menschen wimmelnden Straßen zu gesichtslosen Massen wechseln, die oft nur als geschäftige Körper und Beine gezeigt werden, so arrangiert Copland seine Filmmusik aus Wiederholungen kleiner, ›anonymer‹ Motive.13
11 Vgl. Larry Starr, »The Voice of Solitary Contemplation. Copland’s ›Music for the Theatre‹ Viewed as a Journey of Self-Discovery«, in: American Music 20/3 (2002),S. 297-316. 12 Pollack, Aaron Copland (wie Anm. 4), S. 100-106 u. 337-339, Vgl. Alfred Williams Cochran, Style, Structure, and Tonal Organization in the Early Film Scores of Aaron Copland. Unveröffentlichte Dissertation, Catholic University of America, 1986. 13 Alle Notenbeispiele aus The City basieren auf Transkriptionen in Cochran, Style, Structure, and Tonal Organization (wie Anm. 12).
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Beispiel 1: Aaron Copland: Filmmusik zu The City (1939), »People Walking«,
(wiedergegeben nach: Cochran, Alfred Williams: Style, Structure, and Tonal Organization in the Early Film Scores of Aaron Copland. Unveröffentlichte Dissertation, Catholic University of America, 1986, S. 56)
Die intervallische und rhythmische Regelmäßigkeit des Viertonmotivs treibt die Musik mit einem mechanistischen Impuls voran, der noch von einer zusätzlichen Triller-Figur verstärkt wird. Die scheinbar unkoordinierten Auftritte ergeben ruppige Dissonanzen und häufen sich ähnlich wie die ungeordneten Menschenmassen an. Obwohl diese modernistischen Techniken, die Copland einst den Spitznamen »Brooklyn Stravinsky« einbrachten, zur Grundlage seiner späteren Darstellungen des Stadt-Äußeren geworden sind, gab er ›populäre‹ Stile als Signifikanten des Urbanen nicht endgültig auf. Eine komische Szene des Films zeigt das Verkehrschaos, das sich ergibt, wenn zahllose Stadtbewohner auf dem Weg zum Wochenendausflug der Metropole gleichzeitig entkommen wollen. Die humorvolle Ironie der inmitten von Blechkolonen und Abgasen picknickenden Städter rief in Copland einen umgangssprachlichen Ton hervor
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Beispiel 2: Aaron Copland: Filmmusik zu The City (1939), »The Open Road«
(wiedergeben nach: A.W. Cochran: Style, Structure, and Tonal Organization, S. 81)
Im Gegensatz zu den polyphonen Schilderungen der Stadt wird diese Sequenz durch einen homophonen Duktus mit hüpfender Basslinie und eingängiger Melodie untermalt. Weiters erinnern das Saxofon, Trompetensolos, gedämpfte Blechbläser und Klavier an die in Musik of the Theatre benutzte Jazzpalette. Später fand Copland diese unbeschwerte Musik geeignet, als Scherzo-ähnlicher dritter Satz des Pasticcios Music for the Movies (1942) wieder verwendet zu werden. In The City allerdings soll der ›Comic Relief‹ die Botschaft vermitteln, dass die moderne Metropole antithetisch zu menschlichem Wohl ist, selbst für diejenigen, die das Geld haben, ihr zu entfliehen. Während die Schwierigkeiten von Manhattans Büroangestellten mit Augenzwinkern behandelt werden, scheint dies nicht angemessen für die Beschwernisse in den umgebenden Stadtbezirken. Das Dilemma ihrer Einwohner erfährt in einer anderen Szene eine Darstellung, in der die Gleichgültigkeit, Feindlichkeit und sogar Gefährlichkeit der Stadt offensichtlich werden soll: Die Obdachlosen liegen in Türeingängen und unter Banken. Ein Fußgänger wird von einem Auto angefahren und verstümmelt. Und Kinder spielen im dichten Straßenverkehr, in dreckigen, verlassenen Grundstücken, und – wie der allseits präsente Streifenpolizist andeutet – in kriminellen Nachbarschaften. Anstatt aber auf diese äußerlichen Aspekte der Stadt zu reagieren, gibt Coplands Musik den inneren Emotionen ihrer Opfer eine Stimme.
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Beispiel 3: Aaron Copland: Filmmusik zu The City (1939), »Ambulance Man«
(wiedergegeben nach: A.W. Cochran: Style, Structure, and Tonal Organization, S. 267)
Unter dem klagenden, modal gefärbten Solo der Doppelrohrblattinstrumente bleibt die sich bedrohlich abzeichnende Gefahr der Stadt allzeit im metrisch verschobenen Ostinato der tiefen Streicher präsent. Sowohl die ambivalente Haltung gegenüber der modernen Metropole als auch Coplands Techniken musikalischer Repräsentation charakterisieren seine anderen New York ›Citys‹. Fast gleichzeitig zur Entstehung von The City arbeitete Copland an der Bühnenmusik für Irving Shaws Quiet City (1939). Shaw hatte das Schauspiel für das linksgerichtete Group Theatre verfasst, mit dem Copland seit der Gründung von seinem Freund Harold Clurman assoziiert war. Die progressive Auseinandersetzung des Bühnenstücks mit dem Leben in New York erinnert nicht nur an The City, sondern auch an Coplands persönliche Erfahrungen als Sohn eines jüdischen Kaufhausbesitzers und als sozial besorgter Brooklynite.14 Shaws Protagonist, Gabriel Mellon, ist der halb-jüdische Besitzer eines Warenhauses in Brooklyn und besessen vom hartnäckigen Streben nach Ansehen und finanziellem Gewinn. Das Angebot, Botschafter in Finnland zu werden, erweckt sein soziales Bewusstsein und lässt ihn erkennen, dass er sein Leben nur dem Status gewidmet hat und nicht den künstlerischen Bestrebungen seiner Jugend. In Worten, die an Bilder in The City erinnern, ruft er aus: »Als ich ein junger Mann war, war ich keine Maschine, kein Motor, keine Maske [...] Ich denke, ich muss Frieden finden.«15 Die Stille der Nacht lässt Gabe jedoch keinen Frieden finden, denn er
14 Vgl. Denise Von Glahn, The Sounds of Place. Music and the American Cultural Landscape, Boston 2003, S. 110-114. 15 Stanley V. Kleppinger, »The Structure and Genesis of Copland’s Quiet City«, in: twentieth-century music 7.1 (2011), S. 41.
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beginnt, die inneren Gedanken der Benachteiligten der Stadt wahrzunehmen. Er hört (oder imaginiert) die Sorgen von seinen entrechteten Angestellten, von Opfern antisemitischer Angriffe und von seinem Trompete spielenden Bruder David Mellnikoff. David ist Gabes Alter Ego und engagiert sich für linksgerichtete Politik und die modernen Arbeiter, die nichts weiter als »Beiprodukte der Maschine der Stadt« geworden sind.16 Durch das ganze Stück hindurch ist der Klang von Davids Solotrompete in Gabes Geist verschmolzen mit den aufgewühlten Stimmen und plötzlichen Gewissensbissen, die er wiederholt erfährt. Auch wenn Quiet City es nur bis zu den Generalproben schaffte, lebte Coplands Musik in einem einsätzigen Konzertstück weiter, das er 1940 für Trompete, Horn und Streichorchester bearbeitete. Aufgrund der Unbekanntheit von Shaws Schauspiel evoziert Coplands gleichnamiges Werk eher das städtische Leben im Allgemeinen. Wie in seinen anderen ›Citys‹ bleibt New York also eine ungenannte Inspiration und das implizite Vorbild der modernen Großstadt. Auch Quiet City ist auf diese Weise Coplands dialektischen Bezugsrahmen verpflichtet. Das aktive Stadt-Äußere ist in dem hauptsächlich leisen und langsamen Satz zwar nicht explizit thematisiert, aber das theatralische Vorbild bleibt noch spürbar in der Agitiertheit und den sehnsuchtsvollen Gesten der ausgedehnten Solos für Trompete und Englischhorn, die, laut Coplands Beschreibung, »die innere Not der Hauptperson« darstellen.17 Hinzu kommt, dass die graduelle Integration dieser eingangs stark profilierten solistischen Stimmen in das restliche Ensemble als eine akustische Metapher der ›Einfügung‹ des Einzelnen in die städtische Gemeinde fungiert. Die Entfremdung des Individuums wird in den starken Gegensätzen des fast symmetrischen Werks dargestellt.18 Durch die Nacht wird die Stadt zu einer atmosphärischen Weite. Trotz der musikalischen Stille gehen die sich langsam bewegenden, weit auseinander liegenden Streicher und Englischhorn auf ähnliche Techniken zurück wie jene, die die lebhaften Straßen in The City vorstellen: Der polyphonische Duktus ist von kleinen, immer wiederkehrenden Motiven zusammengesetzt und sogar der Hauch einer ›populären‹ Basslinie kann in den tiefen Pizzicatos geahnt werden. Endlich aber durchdringt die Atmosphäre die Stimme des Einzelnen (Z. 1).
16 Glahn, The Sounds of Place (wie Anm. 14), S. 111. 17 Aaron Copland, Vivian Perlis, Copland. 1900 Through 1942, New York 1984, S. 287. 18 Pollack, Aaron Copland (wie Anm. 4), Aaron Copland, S. 331-332.
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Beispiel 4: Aaron Copland: Quiet City (1940), Z. 1
Das Trompetensolo setzt deklamatorisch mit »nervös, mysteriös« gekennzeichneten Sechszehntelnoten ein und führt dann zu einer Blues-inspirierten, improvisatorischen Fortsetzung, die an die innere Stimme des imaginären Theaterbesuchers in Music for the Theatre erinnert. Die szenische Eröffnungsmusik von Quiet City hat eine zweite Abstammung innerhalb Coplands Gesamtwerk. Wie von einigen Forschern angemerkt, ist die ruhige Stadtmusik eng verwandt mit Coplands ikonischen Schilderungen der amerikanischen frontier.19 Diese ländlichen Darstellungen sind jedoch alles andere als kohärent. Der Anfang von Quiet City ähnelt dem, was man Coplands ›Nacht‹-Topos nennen könnte. Es ist einer der durchgehendsten, aber am wenigsten erörterten Topoi in seinem Schaffen. Wie bei den Romantikern ist die Nacht bei Copland durchtränkt von der Kraft, zwischen der äußeren Realität und dem inneren Empfinden zu vermitteln. Die nächtliche Hülle blendet die Eigenschaften der Umgebung aus: Ob Land oder Stadt, es bleibt nur eine Ahnung von Räumlichkeit, die der Schauplatz für die Gefühlswelt des entfremdeten Individuums ist. Copland symbolisiert das mit expressiven Solos, die spärlichen Ensembles gegenüber stehen – und übertitelt es oft mit ›Nocturne‹, ›Night‹ oder ›Night Thoughts‹.20
19 Vgl. Glahn, The Sounds of Place (wie Anm. 14), S. 115-116 und Wilfrid Mellers, Music in a New Found Land. Themes and Developments in the History of American Music, New York 21987, S. 87. 20 Copland besaß diese Ansicht von Nacht schon in seinen frühesten Werken. Das Lied Night (1918) vergleicht die innere Welt des poetischen Subjekts mit ländlichen Sze-
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In diesem Zusammenhang erklären sich auch die frappanten Gemeinsamkeiten von Quiet City und dem Ballett Billy the Kid (1938). Beide Stücke befassen sich mit einsamen, konfliktbeladenen Menschen, die zum Teil in entscheidenden Nachtszenen ihren Weg inmitten von gesellschaftlichen Konventionen und letztlich auch vor dem Hintergrund einer unaufhaltsamen Moderne finden müssen. In »Prairie Night« von Billy wird die dunkle Weite mit viel geteilten, langsam voran schreitenden Streichern und Doppelrohrblatt-Soli evoziert. Als Billy sich allein in die Nacht zurückzieht, verrät ein einsames Trompetensolo (ein Zitat des Lieds The Dying Cowboy) seine unruhigen Gedanken. Obwohl diese ›Volkstümlichkeit‹ grundverschieden ist vom nervösen Trompetensolo in Quiet City, taucht ein entsprechendes Sechszehntelmotiv auch in dieser nächtlichen Schlussszene von Billy auf. Das Motiv, das zuerst im rhythmischen ›Schwall‹ der Schießerei gehört wird, kehrt später in solistischen Stimmen auf dem ›weichen‹ Untergrund der Streicher zurück, um die trauernden Gedanken der Mexikanischen Frauen auszudrücken. Beispiel 5: Aaron Copland: Billy the Kid (1938), Z. 49
Die motivische Verbindung zu Quiet City ist also dort am deutlichsten, wo dem Ausdruck eine ähnliche Prämisse zugrunde liegt, wenn Gewalt und Tragödie äußerlicher Ereignisse durch die menschliche Psyche widergespiegelt wird.
nen und preist die Unermesslichkeit und emotionale Ladung der Nacht. In dem Lied Alone (1922) wird die Nacht als Metapher für Einsamkeit und Entfremdung verwendet.
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Copland machte noch eine dritte Quelle für sein deklamatorisches Trompetensolo von Quiet City geltend: jüdischen Kirchengesang.21 Diese Entlehnung wurde durch zentrale Themen der Assimilation und des Antisemitismus in Shaws Schauspiel angeregt. Zudem lädt sie zu einer näheren Betrachtung der unwahrscheinlichen Parallelen der Posthornsolos in Mahlers Dritter Symphonie (1896) ein. Mit leiser Streicherorchestrierung und Trompetensolos, die Fanfaren und lyrische Nachdenklichkeit mischen, beschwören die Trios von Mahlers drittem Satz einen starken Eindruck räumlicher und zeitlicher Weite. Darüber hinaus sind Mahlers Aufführungsanweisungen fast identisch mit jenen, die die Distanzeffekte von Davids Trompetensolos in Shaws Manuskript beschreiben.22 Ohne Zweifel kannte Copland die Dritte Symphonie: Als Student in Europa hatte er Mahlers Musik kennengelernt und trotz Vorbehalte im Druck verteidigt. Aber noch schlüssiger ist, dass er Mahler für »den assimilierten Jude par excellence« hielt.23 In diesem Licht bezeichnen die vieldeutigen Trompetensolos von Quiet City die Spannung zwischen Gabes gläubigen Vater Israel, dessen Alltag noch den jüdischen Gesang beinhaltet, und Gabe selbst, der wie Mahler seiner jüdischen Herkunft den Rücken kehrt. Auf einer abstrakteren Ebene verkörpert die Vielfalt der musikalischen Quellen der Eröffnungsmusik (eine Verschmelzung von amerikanischem Jazz, jüdischem Gesang und europäischer Musiktraditionen) die Idee der Integration, die in Shaws Stück thematisiert wird und die im Herzen von New Yorks »melting-pot«-Ethos steht. Die Idee der Integration wird auch auf einer anderen Ebene von Quiet City umgesetzt, nämlich durch die sich entwickelnde Beziehung von Solisten und Orchester.24 Die solistischen Stimmen der Trompete und des Englischhorns bleiben weit im Vordergrund, während im nächsten Abschnitt (Z. 3) ihre immer sehnsüchtigeren Linien einer schmerzhaft spärlichen Orchestrierung und klaffender Leere gegenübergestellt sind. Danach jedoch nähern sich Solos und Ensemble enger an. Nach einer arien-ähnlichen Begleitmusik, die die Solisten zu immer
21 Vgl. Glahn: The Sounds of Place (wie Anm. 14), S. 117; Pollack,
Aaron
Copland
(wie Anm. 4), S. 523. 22 Vgl. Shaws Beschreibung »Das gedämpfte Horn klingt klein und ewig weit entfernt, wie ein leichter Hauch, musikalisch, unruhig, sterbend« mit den in Mahlers Posthornepisoden verwendeten Aufführungsanweisungen: mit Dämpfer, Wie aus weiter Ferne, und ersterbend. 23 Pollack, Aaron Copland (wie Anm. 4), S. 523. 24 Kleppinger vertritt eine parallele These, jedoch anhand einer Analyse der tonalen Struktur. Siehe Kleppinger »The Structure and Genesis of Copland’s Quiet City« (wie Anm. 15).
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heißblütigeren Äußerungen anstachelt (Z. 7), übernehmen die Streicher mit einem zweitstimmigen Kontrapunkt zwischen Bratschen und Cellos die Führung (Z. 9). Wenn die Solisten wenige Takte später wieder einsetzen, werden sie als Mitglieder des Ensembles integriert. Die neugefundene Empfindlichkeit der Stimmen zu einander führt die Musik schnell auf eine neue dynamische und ausdrucksstarke Ebene (Z. 12). Als Darstellung gemeinschaftlichen Zusammenhaltes wird das Hauptmotiv in rascher Abfolge von der Trompete zum Englischhorn an die Violinen weitergegeben. Diese neue Kohärenz bringt das Werk zu seinem Höhepunkt, an dem alle Instrumente einen stark betonten Achtelton erreichen. Das allumfassende Gemeinschaftsgefühl, dessen allmähliches Entstehen so klanglich vorgeführt wird, bleibt allerdings nicht über dieses eine vereinende Ereignis bestehen. Nur die Trompete hält ihre Note in einer tiefen Stille. Das B, die implizierte Dominante, bleibt unaufgelöst - und unbeantwortet. Die Streicher zerstreuen die Energie mit dem wehmütigen Motiv von Ziffer 3, um dann für die längste Zeit des ganzen Stückes zu verstummen. Erst eine verkürzte Rekapitulation der atmosphärischen Stadtmusik des Anfangs holt die Streicher zurück, um dann systematisch über den Verlauf des nervösen, jetzt gedämpften, Trompetensolos ›ausgelöscht‹ werden. Alles, das am Ende bleibt, ist das unbehagliche Pizzicato der tiefen Streicher. Die Integration des Einzelnen war nur eine Illusion, Entfremdet-Sein ist das Schicksal des modernen Stadtmenschen. Copland wurde zunehmend misstrauisch gegenüber der wachsenden Kriminalität, aber auch gegenüber den zeitlichen Anforderungen, die ein Leben in Manhattan mit sich brachten, sodass er 1947 schweren Herzens aus der Stadt wegzog.25 Trotzdem blieb er immer noch der »passionierte New Yorker« und 1961 richtete er seine kreativen Energien wieder darauf aus, die Stadt zu musikalisieren. Die Möglichkeit bot sich durch Jack Garfein, der einen experimentellen Film, eine Adaption von Mary Ann, dem Erstlingsroman des New Yorkers Alex Karmel, fast abgeschlossen hatte: Something Wild (1961) erzählt die Geschichte von Mary Ann, einer jungen Frau aus Brooklyn, deren Vergewaltigung eine verzweifelte emotionale Reise hervorruft, in deren Zuge sie versucht, ihr psychologisches Trauma zu bewältigen und ein Zugehörigkeitsgefühl zu New York zu entwickeln. Die Stadt ist aber viel mehr als Kulisse zu ihrer Geschichte. Sie fungiert selbst als Hauptdarsteller. Tatsächlich war Garfein, als er Karmels Roman las, fasziniert von »der Idee unsichtbarer Kräfte der Stadt und wie sie sich auf eine Person auswirken«.26 Durch den ganzen Film hindurch ist New York synekdotisch in den vielen anonymen Charakteren präsent, die Mary Ann drohen,
25 Pollack, Aaron Copland (wie Anm. 4), S. 95. 26 Copland, Perlis, Copland (wie Anm. 17). S. 329.
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sie misshandeln, ignorieren oder ihr helfen. Überdies wird die Stadt auch im Vorspann und in mehreren Außenszenen explizit in der Kluft dargestellt, die sich zwischen dem emporragenden Finanzzentrum und den Massen, die in seinem Schatten wohnen und von ihm unterdrückt werden, auftut. New York wird also durch die gleiche Linse betrachtet, die schon Quiet City und besonders The City charakterisierte, dessen Kinematographie bereits den Schwarz-Weiß-Stil von Something Wild vorwegnahm. Garfeins Film ist jedoch kaum anachronistisch. Der schonungslose Realismus lässt die Nachkriegstrends des Kinos erkennen, dem Coplands Freund Elia Kazan, Regisseur der missglückten Produktion Quiet City des Group Theater, den Weg bereitete.27 Garfein wandte sich an Copland, weil er dachte, dass die Beziehung des berühmten Komponisten mit der Stadt etwas Einzigartiges zum Film beitragen könnte.28 Copland war am Anfang zögerlich, sich auf eine achte Filmmusik einzulassen, konnte jedoch durch eine Privatvorführung des fast fertigen Streifens für eine Zusammenarbeit gewonnen werden. In der Arbeit an diesem Film sah Copland das ideale Mittel, die Reihe musikalischer Portraits seiner Heimatstadt um einen wichtigen Beitrag zu erweitern (die große Gage und die garantierte absolute Selbstbestimmung bei musikalischen Entscheidungen musste auch attraktiv gewesen sein.) Something Wild scheiterte jedoch kläglich an den Kinokassen und konnte wenig Aufmerksamkeit bei Kritikern generieren. Kurz nach dem Misserfolg verwertete Copland deshalb seine Partitur als Quellenmaterial für ein Konzertstück, das er zur Erfüllung eines Auftrages des London Symphony Orchestra 1964 einreichte. Fast alle Titel der verschiedenen Entwurfsstadien verdeutlichen die ursprüngliche Verbindung zu New York City, aber Copland anerkannte die Vorbehalte des britischen Orchesters, ein einer amerikanischer Stadt gewidmetes Werk uraufzuführen, und stimmte dem allgemeineren Titel, Music for a Great City, zu. Die programmatischen Satztitel wurden von zentralen Szenen des Films abgeleitet, beschwören aber auch, jedes für sich selbst genommen, allgemeine Bilder einer Großstadt: »I. Skyline«, »II. Night Thoughts«, »III. Subway Jam« und »IV. Toward the Bridge«. Da Copland wenig neues Material für Music for a Great City komponierte, dient der Film als nützliche Deutungsquelle für die Titel und den ›lokalen Ausdruck‹ des Werkes. Wie Don Carroll argumentiert, hat er aber wenig zu der mu-
27 Mervyn Cooke, »Film Music«, in: Grove Music Online. Oxford Music Online, http://www.oxfordmusiconline.com/subscriber/article/grove/music/09647. 28 Copland, Perlis, Copland (wie Anm. 17), S. 332.
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sikalischen Struktur und dem Ausdrucksverlauf als Ganzes beizutragen.29 In der Adaptation vermischte Copland viele Passagen der Filmmusik und brachte sie in eine musikalisch kohärente Struktur, die an eine traditionelle viersätzige Sinfonie erinnert. Darüber hinaus vermied er den Ausdrucksverlauf des Films und auch dessen Happy End zu Gunsten einer ästhetischen Vision, die sich fast ausschließlich auf seine dialektische Sicht einer unterdrückenden Stadt und eines durch sie gefährdeten Individuums stützt. Copland selbst erklärte, dass das Werk »alterniert zwischen dem Heraufbeschwören des Großstadtlebens mit seinen äußeren Ereignissen und den persönlichen Reaktionen auf Erlebnisse in der Stadt«.30 Sowohl die Satztitel als auch die Auswahl der Auszüge wurden von dieser Dichotomie gesteuert. Copland wählte fast nur Musik, die ursprünglich mit Gewalt, Gefangenschaft und der Heftigkeit der Großstadt verbunden war. Die Liebes- und Pastoralmusik fanden in der Konzertadaptation daher keinen Platz. Das Resultat war seine düsterste Stadtlandschaft. Für das bedrohliche Stadt-Äußere revitalisierte Copland die Techniken seiner früheren ›Citys‹, übertrieb sie und abstrahierte sie in ein stark dissonantes Idiom. Der Ansatz reflektiert Nachkriegstendenzen nicht nur seines eigenen Kompositionsstils, sondern auch von Partituren anderer ›zwielichtiger‹ Stadt-Portraits wie Kazans filmischer New York-Paraphrase On the Waterfront (1954), dessen Musik von Coplands Vertrautem Leonard Bernstein geschrieben war.31 Noch beachtenswerter als die zum Teil völlig atonale Chromatik ist jedoch die elementare Härte, die Copland der Stadt dadurch verleiht. Der grimmige Klang wird durch verstärktes Schlagwerk unterstrichen. Alles Lyrische wird verdrängt. Music for a Great City beginnt mit einer Art Hörbild der Stadt: ein plärrender Siebenklang (Beispiel 6), der sich als Keimzelle und strukturelles Kennzeichen durch das ganze Werk hindurch zieht. Dieser ›Skyline-Akkord‹ eröffnet auch die Titelmusik von Something Wild, die Copland in der Partitur »New York Profil« nannte. Zusammen mit Panoramen der Manhattan Skyline erscheint der Zusammenklang mit beeindruckender Wucht aus der dunklen Stille. Copland sagte zu Recht, dass der »Akkord, für sich selbst genommen, einen Eindruck der
29 Vgl. Don Carroll, Copland’s Something Wild and Music for a Great City: From Cinematic to Symphonic Narrative. Unveröffentlichte Dissertation, University of Southern California, 2000. 30 Copland, Perlis, Copland (wie Anm. 17), S. 334. 31 Cooke, »Film Music« (wie Anm. 27).
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Kraft und Spannungen geben soll, die dem Leben in einer Metropole innewohnen.«32 Beispiel 6: Aaron Copland: Music for a Great City (1964), Skyline-Akkord
Tatsächlich besteht der Siebenklang aus zwei unterschiedlichen Einheiten: einem unvollständigen Nonenakkord in den Sopraninstrumenten, der auf einem Quartenakkord im Bassregister geschichtet ist. Jede Komponente für sich tendiert zu einer etwas ruhelosen Harmonie. In gezwungener Koexistenz prallen sie hart aufeinander. Fast alle Motive im Eröffnungssatz sind von den Intervallen des ›SkylineAkkords‹ abgeleitet. Dem Exordium folgt ein gedrängtes Fugato, dessen markige Themen die harmonischen Quarten und Mollterze des ›Skyline-Akkords‹ horizontal übertragen (Z. 2+4). Solche kontrapunktischen Mittel stellen eine beachtliche Intensivierung von Coplands früherem, polyphonen städtischen Topos dar und dienen in Music for a Great City der Erzeugung von Spannung. Hier löst sich die Energie in einen rhythmisch aktiven Abschnitt auf, den Copland mit Bezug auf die dichtgedrängten Straßen und hohen Wolkenkratzer der Stadt als »the jungle« beschrieben hat (Z. 4). Beide harmonische und melodische Dimensionen seines synkopierten Ostinatos beziehen sich auf die Quarten, Terzen und nun großen Sekunden des ›Skyline-Akkords‹. Selbst die einzige lyrische Auflockerung des Satzes ist im Bann der beharrlichen Präsenz des ›Skyline-Akkords‹ (Z. 8). Nicht nur basiert die aufsteigende Kaskade auf den sechs Töne des Akkords, sondern auch ihr stark profilierter, lyrischer Kontrapunkt. Im Vorspann des Films begleitet dieser emporstrebende Ausdruck den einen Moment, indem die Kamera der Stadt ›entkommt‹ und nach oben zu den freien Vögeln am Himmel schwenkt.
32 Carroll, Copland’s Something Wild and Music for a Great City (wie Anm. 28), S. 231; Copland, Perlis, Copland (wie Anm. 17), S. 328.
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Die Verwandlung von Coplands städtischem Topos wird besonders in seiner Behandlung des Jazz deutlich. Vorbei ist die Überschwänglichkeit und Ironie des ›Symphonischen Jazz‹. Das einstige Symbol urbaner Kultiviertheit wurde seit dem Anfang der Great Depression immer mehr mit antisozialem Verhalten und städtischem Verfall assoziiert.33 Im Kino war es wiederum Elia Kazan, dessen Filme wie A Streetcar Named Desire (1951) und On the Waterfront den Weg für diese Konnotation bahnten. Copland selbst kam auch früh zu solchen Ansichten. Um die vorwiegend pastoralen Stile seiner Filmmusik zu Our Town (1940) zu rechtfertigen, erklärte er in seiner Autobiographie, da »der Film frei von Gewalt war, wurden Dissonanz und Jazzrhythmen daher vermieden«.34 Something Wild bot hingegen viele Gelegenheiten für den Einsatz von Jazz, der auch Music for a Great City durchdringt. Kurz nach der lyrischen Auflockerung im ersten Satz kehrt das Exordium, das den Beginn eines Durchführungs-ähnlichen Abschnitts ankündigt, zurück (Z. 15), aber diesmal folgt dem Fugato Musik einer späteren Szene im Film (Z. 18): Mary Ann, die gerade der Gefangenschaft entkam, irrt in der Nacht die 42nd Street entlang, ohne von den Menschenmassen und blinkenden Lichtern des Theaterdistrikts Kenntnis zu nehmen. Obwohl ein solcher Rückgriff auf musikalische Stile des ›Jazz Age‹ darauf hindeutet, dass Copland die szenischen Parallelen zu Music for the Theatre bewusst waren, konnte der Effekt unterschiedlicher nicht sein. Der Charleston (der eine Melodie vermissen lässt und durch ein schwerfälliges Tempo und Artikulation heruntergedrückt wird) ist auf seinen essentiellen Rhythmus reduziert, der fast jede Stimme in seinem erstickenden Griff hält. Jazz als brachiale Gewalt: das ist nun sein Wesen in Coplands musikalischer Großstadt. Noch zentraler für Coplands Semantisierung von Jazz als solche ›altmodischen‹ Tanzrhythmen, erscheint die Anwendung polyrhythmischer Strukturen. Sie spielt eine enorme Rolle in den letzten beiden Sätzen von Music for a Great City und kann auch in dem Eröffnungssatz nachgewiesen werden. Die ›Dschungel‹-Musik, die dem initialen Exordium folgt, hat an sich wenig mit Jazz zu tun, trotzdem beschrieb Copland es als »das Jazz-orientierte Thema«,35 ohne Zweifel aufgrund seines synkopierten Ostinatos und der kompliziert ineinander greifenden Muster von sieben Schlagzeugern (Z. 4). Es ist, als ob die Passage auf die in
33 Vgl. Carroll, Copland’s Something Wild and Music for a Great City (wie Anm. 28), S. 89-93. 34 Copland, Perlis, Copland (wie Anm. 17), S. 303. 35 Vgl. Carroll, Copland’s Something Wild and Music for a Great City (wie Anm. 28), S. 89.
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Coplands Norton Lectures von 1951-52 gegebene Anmerkung zu AfroAmerikanischer Musik, inklusive Jazz, zugeschnitten wäre: »Keine Europäische Musik, die ich jemals hörte, hat im Entferntesten die rhythmischen Intensitäten erreicht, die fünf verschiedene Schlagzeuger, die jeder unabhängig voneinander sein eigenes Klangmuster hämmern, erreichen […], ein sehr komplexes metrisches Design erzeugen.«36
In dem zweiten Satz (»Night Thoughts«) und der ersten Hälfte des Finales (»Toward the Bridge«) spiegeln sich die schmerzvollen subjektiven Äußerungen der sinisteren Verstärkung des städtischen Topos wieder. Es scheint zuerst wie eine klare Abwendung von Coplands früheren Nacht-Topos. In Quiet City und Billy the Kid vermitteln die heraufbeschworene ›Weite‹ der Nacht und die selbstsicheren, jedoch einsamen Solos den Sinn, dass das Subjekt, wenn auch von der Gesellschaft entfremdet, noch nicht allen Kontakt mit der äußeren Welt verloren hat. Im Kontrast dazu stellt die klaustrophobische Innerlichkeit von Music for a Great City die Psyche im Zustand des Kollapses dar. In der Tat lieferte der originale Filmkontext für dieses Material Szenen, zumeist bei Tageslicht, in denen sich Mary Ann in unterschiedlichen Graden der Verzweiflung befindet: Vollkommen allein und teilnahmslos nach der Vergewaltigung, niedergeschlagen auf dem Weg zu einer Brücke um Selbstmord zu begehen, terrorisiert durch die Gefangenschaft und später durch die Liebeserklärung des Mannes, der ihr Leben zuvor gerettet hat. Nichtsdestotrotz gestaltete Copland die »persönlichen Reaktionen« auf die Stadt dezidiert als Erweiterungen seines Nacht-Topos. In einem frühen Entwurf der programmatischen Titel wird dies schon in den zwei potentiellen Überschriften für den zweiten Satz deutlich gemacht: »The Life Alone« und »Night-time (alone)«37. Der endgültige Titel, »Night Thoughts«, ist noch aufschlussreicher, denn dieser, zusammen mit dem Namen des Gesamtwerkes, ist nahezu wortwörtlich in einem von Copland formulierten Abriss von Shaws Quiet City enthalten: das Schauspiel gehe um einen Trompeter, der sich »the night thoughts of many different people in a great city« vorstellt.38 Darüber hinaus ist der Nacht-
36 Copland, Music and Imagination (wie Anm. 2), S. 84-85 37 Carroll, Copland’s Something Wild and Music for a Great City (wie Anm. 28), S. 286. 38 Copland, Perlis, Copland (wie Anm. 17), S. 287. Copland irrte in diesem Kommentar. Eigentlich ist es Gabe – und nicht sein Trompete spielender Bruder, der die Stimmen imaginiert. Vgl. Pollack, Aaron Copland (wie Anm. 4), S. 331.
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Topos in Coplands späteren Werken Music for a Great City stilistisch und expressiv verwandter als seine früheren Werke. Nirgendwo sonst ist dies ersichtlicher als in der quälenden Atmosphäre seines letzten vollendeten Hauptwerks, das 1972 komponierte Klavierstück »Night Thoughts«. »Night Thoughts« in Music for a Great City rekrutiert ein ganzes Kammerorchester für die Darstellung mentaler Pein. Der Satz tastet sich unsicher und schwach nach vorn. Die einfache Diatonik, klare Linienführung und Einsamkeit der Eröffnungsmelodie erinnern an frühere Inkarnationen von Coplands NachtTopos (Z. 44). Aber jedes Gramm an Hoffnung, dass die aufsteigende Melodie erzeugt, wird durch die dissonante, homorhythmische Begleitung gekontert und schließlich durch eine ausgedehnte Seufzerfigur völlig negiert. In späteren Wiederholungen stärken kontrapunktische Ausstattungen den Anstieg der Melodie (Z. 49). Doch es nützt alles nichts. Der unvermeidliche Kollaps der Melodie ist der charakteristische Kern des Satzes und dient als Basis für die drei absteigenden Konvulsionen des vernichtenden Höhepunkts (Z. 53). Nach einer Rückkehr in die betäubende Ziellosigkeit (Z. 56) endet der Satz ergebnislos auf einem Quartenakkord, der subtil an das ›Äußere‹ der Stadt erinnert. Das Entfremdet-Sein des Individuums ist noch intensiver in der ersten Hälfte des Finales Gegenstand musikalischer Darstellung. Es geht um eine Wiederverwendung der Musik, die Mary Anns Gang zu ihrem versuchten Selbstmord begleitet. Als sie sich niedergeschlagen die Treppen von ihrem Apartment herunterschleppt, weist die Melodie eine Art ›wandernde‹ Atonalität auf, die zweimal durch die zwölf chromatischen Töne innerhalb von nur 27 Tönen kreist (Z. 79). Wie Mary Anns Gefühl, dass es keinen Ausweg aus ihrem unerträglichen Zustand gibt, ist die Melodie im rigiden Kanon an den Tritonus gefesselt. Als Mary Ann den Fußgängerweg dann entlanggeht, befindet sie sich nominell inmitten der Stadt, bleibt der inneren Turbulenz jedoch unterlegen. Als ob Copland die Ähnlichkeiten zu Quiet City spürte, besetzte er die Passage mit einem Trompetensolo und sich langsam bewegenden Streichern, die aber durch den modernistischen Ansatz der Partitur verzerrt werden. Die äußere Realität vermittelt zwischen diesen Darstellungen psychologischer Verzweiflung. Das durchdringende Gefühl der Bedrohung im dritten Satz (»Subway Jam«) übersteigt die im Titel angedeutete, städtische Unbequemlichkeit von »traffic jams« und bezieht sich eher auf die andere Hälfte des Wortspiels: »jam sessions«. Wieder einmal bietet Jazz die Gelegenheit für komplexe rhythmische Schichtungen, die alle melodischen und expressiven Nuancen verdrängen. Die warmen Klangfarben der Streicher und hellen Sopranstimmen fehlen dem Satz fast vollständig. Den Kern des Klangprofils bildet hingegen das Schlagwerk, das nicht nur um ›jazzige‹ Congas und Tenortrommeln erweitert ist,
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sondern auch mit perkussiven Effekten der Blech- und Holzbläser aufwartet, die von ›knurrend‹ gestopften Posaunen angeführt werden. Gemeinsam generieren diese Instrumente eine bildhafte Illustration des auch im Titel angedeuteten ZugTopos, dessen mechanistische Bewegung allmählich an Stimmen und Schwung gewinnt. In der Tat stammt die Musik größtenteils von einer frühen Szene in einer dicht gepackten U-Bahn. Mary Ann, nach dem Übergriff unfähig jegliche Art von menschlichem Kontakt zu erdulden, sinkt in Ohnmacht. Etwas von diesem Zustand lässt sich in dem Zusammenspiel von irregulären und regulären Rhythmen erkennen. Zuerst im Gleichschritt mit der Zugbewegung, werden die angespannten Schläge der Bläser allmählich lauter und unvorhersehbarer. Zusätzlich ist die U-Bahn-Musik zweimal von kontrastierendem Material, das durch rhythmisch irreguläre Stöße charakterisiert ist, unterbrochen. Diese Passagen stammen jeweils von gewalttätigen Szenen. In der einen versucht Mary Ann vergeblich der Gefangenschaft zu entkommen. In der anderen, der Copland die Überschrift »the menace begins« gab, greift sie ihr betrunkener Kidnapper mit Faustschlägen an (Z. 71). Die metrischen Verschiebungen, die Copland hier einsetzt, ähneln einer humorvollen Sequenz in The City, als ein Fußgänger eine verkehrsreiche Straße im Zickzack überquert. Während Komödie ein legitimes Mittel war, um die ernste Botschaft des Dokumentarfilms zu übermitteln, gibt es nichts Scherzhaftes in diesem grimmigen Scherzo. Die Aussichten werden nur noch düsterer im Finale. Ohne Rücksicht auf die traditionelle Formenlehre spaltete Copland den Satz in zwei Teile. Dadurch stehen sich eindringlich die »persönlichen Reaktionen« und »Kräfte der Stadt« gegenüberstellen. Die Musik von Mary Anns verzweifeltem Gang, zuvor beschrieben, beginnt den ersten Teil. Um den Wechsel vom Inneren zum Äußeren zu realisieren, wandte sich Copland zu einer entsprechenden späteren Szene. Mary Ann, unvorhergesehen der Gefangenschaft entkommen, flüchtet die Straßen von New York City herunter. Die rasenden, flatternden Linien vermitteln das Gefühlschaos von Unglaube, Angst und verhaltener Euphorie (Z. 89). Wenn sie aber die relative Sicherheit des Theaterdistrikts erreicht, verrückt sich die Perspektive auf das energische Nachtleben mit den zuvor gehörten CharlestonRhythmen (Z. 93). Von diesen Straßen findet Mary Ann ihren Weg zum Central Park, die pastorale Kulisse ihrer Transformation, die letztlich zum Happy End führt. Doch in der neu komponierten Fortsetzung in Music for a Great City wird der Tanz von Schichten ›stumpfer‹ Rhythmen graduell überwältigt bis sich eine kulminierende Szene purer rhythmischer Brutalität ergibt (Z. 94+5). Gewaltige Achtelnotenhiebe drücken die reine Essenz der gefahrvollen Kräfte der Stadt aus (Z. 99). Eine kurze Coda ruft die aufsteigende Kaskade, die zu der Auflockerung des ersten Satzes geführt hat, hervor (Z. 100). Copland erlaubt jedoch keinen
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Hoffnungsschimmer in dieser nihilistischen Vision. Der ›Skyline-Akkord‹ kommt erschütternd wieder, diesmal begleitet von sieben Schlagzeugern, die bis zum Ende unerbittlich beschleunigen. Wie auch Quiet City kehrt dieses Portrait von New York City zu dem Ausgangspunkt zurück, bezieht aber mehr unheilverkündende Schattierungen mit ein. Die Stadt mag großartig sein, aber nur in ihrem schreckenerregendem Antagonismus zum menschlichen Gedeihen. *** »Sie kennen New York – es ist immer anders, aber immer dasselbe.«39 Als Copland 1940 diese Worte an den Komponisten Carlos Chávez verfasste, dachte er eigentlich an den zeitlichen Tribut, den seine intensive Komitee-Arbeit von ihm forderte. Er hätte doch wohl denselben Satz über seine New York ›Citys‹ schreiben können. Diese Werke, die fast seinen gesamten schöpferischen Werdegang umspannen, wiederspiegeln die unterschiedlichen kompositorischen Interessen, die ihn über die Jahrzehnte hinweg fesselten. Dennoch liegt jedem Porträt seine dialektische Auffassung der Weltstadt zugrunde. Copland war sich der Unausweichlichkeit, aber auch des Wertes urbaner Kultur und Lebendigkeit, bewusst. Gleichzeitig verabscheute er das damit scheinbar untrennbare Leiden der Benachteiligten. Seine Partituren sind unser Erbe seiner ambivalenten Faszination für die Stadt.
39 Elizabeth B. Crist, Wayne Shirley (Hg.), The Selected Correspondence of Aaron Copland, New Haven 2006, S. 135.
Creating New Representations of Yugoslav National Territory1 Dragotin Gostuški's Symphonic Poem Beograd S RĐAN A TANASOVSKI
In the following I will discuss symphonic poem Beograd (»Belgrade«) composed by Serbian author Dragutin Gostuški in 1951, and afterwards used for а musical »documentary television film« in 1969, in the context of the processes of building new representations of the state territory of socialist Yugoslavia. I will firstly discuss the particular political and social issues of territorial transformation in the early socialist Yugoslavia, reflecting on the theoretical issues of nation-state territorial authority and space representations. I will then specifically point out how the new territorial narratives of partisan warfare and rebuilding and development featured in the most poignant and all-pervading musical genre of the time, the mass song. Analysing Gostuški’s symphonic poem, I will show how the topoi established in the mass songs penetrated his symphonic idiom, positioning this work as a part and parcel of the representations of space in the socialist Yugoslavia. Finally, referring to the two versions of the ›script‹ for the documentary film from 1969, I will discuss how the cult of labour and the rising cult of enjoyment were portrayed as parallel to the narrative of partisan warfare and positioned as a part of lived experience of the new socialist urban utopia.
1
The paper was written as a part of the project Serbian Musical Identities within Local and Global Frameworks: Traditions, Changes, Challenges (no. 177004/2011–2014/) funded by the Ministry of Education and Science of Republic of Serbia.
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P RODUCING S OCIALIST Y UGOSLAVIA Territoriality, defined as a drive to govern over spatial flows in a certain bordered space, »to affect, influence, or control resources and people, by controlling area«,2 has been recognized as one of the main features of nationalism and of a nation-state.3 Ultimately, nationalism as such, in order for the people of the nation to exercise their purported sovereignty, has to achieve political independence, thus striving to create a nation-state, an instrument of power which is supposed to regulate and oversee a specific territory awarded to the nation.4 The question of the homeland is thus crucial in the discourses of the nationalism, as it concerns delineating the space which, by supposedly primordial natural laws, rightfully ›belongs‹ to a nation. Through the mechanisms of governing established by the nation-state homeland is transformed into national territory, the poetic space into the space of governing. However, in order for a nation-state to effectively regulate spatial practices in the certain geographical area, homeland must always be in the perpetual state of becoming, representations of space are needed which would portray the homeland as inherently linked to the people of the nation. Authority of the nation-state is thus exercised and reaffirmed through social practices in which the territory of the state is being experienced by the members of the nation as ›their‹ homeland. Although Yugoslavia was represented as a supranational entity in the socialist era, it can be argued that in the aftermath of the Second World War Yugoslavia’s statehood was designed to supplement and ultimately supplant historical national identities of south Slavic people, which were mostly based on ethnicity and religion.5 Yugoslavian identity openly fostered by Communist Party of Yugoslavia (Komunistička partija Jugoslavije) contained all major features of a national identity – the narrative of common (Slavic) ethnic origin, the myth of common struggle and sacrifice as the moment of the creation of the nation (Second World War partisan uprising), as well as the figure of nation-father (Josip Broz Tito) – cloaked under the rhetorically ambiguous slogan »fraternity and
2
Robert David Sack, Human Territoriality. Its Theory and History, Cambridge 1986, p. 1.
3
Jan Penrose, »Nations, states and homelands: territory and territoriality in nationalist thought«, in: Nations and Nationalism 8 (2002), pp. 277–297.
4
George W. White, Nationalism and Territory: Constructing Group Identity in Southeastern Europe, Lanham 2000, p. 19.
5
Cf. Siniša Malešević, Ideology, Legitimacy and the New State: Yugoslavia, Serbia and Croatia, London 2002, pp. 143–145.
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unity« (»bratstvo i jedinstvo«), or deemed as »patriotism«.6 However, it is important to note that while »fraternity and unity« de facto functioned as an ideology of a nation-state, it was formulated on radically different grounds compared to Croatian or Serbian nationalism, namely, as a Marxist ideology which positions its »golden age« into a future which is yet to be reached, contrasting nineteenth-century national myths which bespoke of the »golden age« positioned in the distant past.7 This different footing of Yugoslav ›nationalism‹ demanded different representations of Yugoslav territory, a veritable transmogrification of how the space was perceived, creating a space of the future instead a space of the past, utopia instead of nostalgia. I would argue that, in order to create and maintain the nation-state’s spatial web of power, narratives of a nation not only have to describe or bespeak of the certain geographical area envisaged as homeland, but have to be themselves spatial, embedded in the space, providing a kind of cognitive filter8 which invites citizens to recognize the values of their nation in the features of the landscape which surrounds them. The concept of representations of space, or conceived space (»l’espace conçu«) was proposed by Henri Lefebvre, as a part of his dialectics of the space, where he envisions social production of space as dialectical process where three aspects of space, perceived space, conceived space and lived space, are being dynamically juxtaposed. Representations of space reflect the »order« of social relations, they embed the signs, codes, and knowledge pertaining to these relations, and thus »they intervene in and modify spatial textures which are informed by effective knowledge and ideology«. As Lefebvre points out, this intervention »occurs by way of construction« – in other words by way of architecture, conceived of not as the building of a particular structure, palace or monument, but rather as a project embedded in a spatial context and a texture which call for »representations that will not vanish into the symbolic or imaginary realms«.9 Dismissing the imagery, Lefebvre points out that in order for representations of space to function as a cognitive filter, or to affect the texture of space, they have to be brought on the level of mate-
6
Cf. Marie-Janine Calic, Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, München 2010, p. 204.
7
Anthony D. Smith, Myths and Memories of the Nation, Oxford and New York 1999, pp. 65–66.
8
Cf. the concept of ›political cognition‹ developed by John Protevi; John Protevi, Political Affect: Connecting the Social and the Somatic, Minneapolis and London 2009, pp. 51–56.
9
Henri Lefebvre, The Production of Space, trans. Donald Nicholson-Smith, Oxford 1991, p. 42.
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rial immanence. However, his notion of »architecture« deserves a broad reading, as a totality of material practices which intervene in space in order to embed codes of power. Narratives of Yugoslav ›patriotism‹ were thus from their onset engaged in creating new representations of space which would impart the underpinnings of the new power order and which would transform citizen’s affective engagement within the space. In order to understand the territorial project of the socialist Yugoslavia it is important to have in mind that the Yugoslav Communist Party’s partisan warfare during the Second World War was practically resurrecting a defunct territorial and state project. First Yugoslavia, initially founded as Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes in 1919 and organized as a parliamentary monarchy (although at a time governed as king’s dictatorship), was constructed in the aftermath of the First World War in one fell swoop satisfied the ambitions of Kingdom of Serbia and its political elite, headed by Karađorđević dynasty, for territorial expansion and unification of the Serbs under one statehood, and of other South Slavs previously living in Austro-Hungary, which allegedly strived to exit this notorious »dungeon of nations«. However, soon after the unification the different agendas of rival political elites came to the fore, endangering even the adoption of the constitution in 1921.10 After vigorous political disagreements, ultimately resulting in assassination amongst the deputies in the very House of Parliament in 1928, king Aleksandar Karađorđević imposed dictatorship in the following year, abandoned the historical borders which were until then preserved in the state administration, and tried to enforce the concept of »integral Yugoslavism«, a doctrine according to which all Yugoslav people belonged to one nation, deeming all the differences between Slovenes, Croats and Serbs as »tribal«.11 However, the protests in the early 1930s, the assassination of the king in Marseilles in 1934, and constant rivalries between Serbian and Croatian political elites in the restored parliament testified of an utter failure of the doctrine. Following the rise of Axis powers, the framework of Europe as laid out by the Versailles Treaty began to crumble, and in 1939 Serbian political elite was forced to concede allowing the formation of Croatian »banovina« as a separate autonomous administrative unit. The new borders of Croatian banovina which crisscrossed the imagined homeland Yugoslav marked a final dereliction of the pro-
10 Calic, Geschichte Jugoslawiens (op. cit. in n. 6), pp. 86–87. 11 For integral Yugoslavism see Jovo Bakić, Ideologije jugoslovenstva između srpskog i hrvatskog nacionalizma 1918–1941: sociološko-istorijska studija [Ideologies of Yugoslavism between Serbian and Croatian nationalism 1918–1941: sociological and historical study], Zrenjanin 2004.
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ject of building a unified Yugoslav state. Following the occupation by the Axis powers in 1841, the territory of Yugoslavia, already fraught with unrest, was further partitioned between Axis countries: batches of land became parts of Germany, Italy, Bulgaria, Albania, and several puppet nation-states were created. Already at its Third Party Conference in 1924 (held illegally in Belgrade, as the party had been banned since 1921) Communist Party of Yugoslavia put forward a completely different vision of Yugoslavia’s statehood, where the three nations of Slovenes, Croats and Serbs would be recognized, and further recognition of Montenegrins, Macedonians and Bosnian Muslims as nations would be possible.12 Since then, the guiding principle of the Communist Party of Yugoslavia would have been not to oppose »tribal« nationalisms, but to incorporate and »overcode« them with new generative and unifying myths. The national issue, which was so pernicious for the former kingdom, was apparently to be solved by granting to the each of the recognized nations the rights for self-determination and particular national identity, and at the same time, it was to be put aside, as a matter that has purportedly been resolved.13 The chief overcoding myth was the partisan warfare against the Axis occupation led by the Communist Party, a strong guerrilla uprising which is considered one of the most virulent and successful resistance in the occupied Europe, managing to hold vast liberated territories by 1943. Party not only worked on creating the myth on partisan not only as intrepid fighters, but also as morally irreproachable.14 Partisan uprising was portrayed as an unmediated act of the »people«, and further interpreted as the source of legitimacy of the new social order, as the »people« concurrently opted for socialism. The second overcoding myth was the cult of labour, inextricably linked with the narrative of economic progress, industrial development and better life. Cult of labour was, again, interconnected with the narratives of partisan warfare: the shock workers (udarnici), heroes of labour, were seen as equivalent to the heroes of war, and labour actions were seen in comparison to actions in combat. Everyday labour was seen as a second-best opportunity – as the warfare had ended – for the »labouring people« to engage in building the common liber-
12 Aleksa Djilas, The Contested Country. Yugoslav Unity and Communist Revolution, 1919–1953, Cambridge, MA and London1991, p. 71–72. 13 Thus, as Moša Pijade, a high official of the Communist Party, stated, the Yugoslav nations have been granted the right of political self-determination, but they have exercised their right once for all by joining the Yugoslav federation during the war against Nazism. Calic, Geschichte Jugoslawiens (op. cit. in n. 6), pp. 180–181. 14 Ben Shepherd, Terror in the Balkans: German Armies and Partisan Warfare, Cambridge, 2012, p. 152.
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ated socialist society. Up to early 1960s the party leadership could have indeed believed that these myths, subsumed under the slogan of »brotherhood and unity« will eventually surpass »tribal« national myths and build the supranational identity of Yugoslav people, which will be more intensely embedded in citizens’ everyday experience. Building nationalism par excellence in everything but name, the official discourse often elided to refer to the »Yugoslav people«, abundantly employing phrases characterized by Michael Billig as a daily banal flagging of the nation,15 such as »our nation«/»our people« (»naš narod«), »nations« (»narodi«), or even »labouring people« (»radni narod«) – equated with proletariat or with workers and peasants , whereas representing Yugoslavia as a land where they had ultimately been empowered.16
L ABOUR ACTIONS AND M USICAL I MAGERY Y UGOSLAVIAN T ERRITORY
OF
In order to recuperate territory of Yugoslavia, the socialist regime needed to build the representations of space which would be based on radically different grounds and which would embody the narratives of partisan warfare and the cult of labour ushering them into the everyday affective experience. I will delve in more detail on two instances of such embodiment – the labour actions and the life in a new socialist industrial city. Voluntary youth labour actions (»dobrovoljne omladinske radne akcije«) were a practice of employing young people as volunteering workforce on the projects of infrastructural development. The labour actions were particularly important in the close aftermath of the Second World War, in the period between 1946 and 1952 with the participation of more than a million citizen, most notably in projects such as building railways BrčkoBanovići (1946) and Šamac-Sarajevo (1947), as well as commencing the construction of the district Novi Beograd in Belgrade (1948-51). After 1958 largescale labour actions organized on the national level were again installed, the largest being connected to the building of the Highway of Brotherhood and Unity (Auto-put bratstva-jedinstva). Labour actions acted as a mechanism of direct inscription of partisan war narratives into the cult of labour. The labour action and the warfare had in certain period actually coincided, as the actions were organized already in midst of the war in order to provide logistic for the frontline. The very organization of the labour actions resembled the structuring of an army,
15 Michael Billig, Banal Nationalism, London 1995, pp. 93–127. 16 Malešević, Ideology, Legitimacy and the New State (op. cit. in n. 5), pp. 148–149.
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as the volunteers were, for example, organized in brigades. Finally, the cultural life in the volunteers’ camps was imbued with the topic of partisans: the partisan songs were sung, historical lectures were held, and many stories narrated around traditional campfires, even by the very officials of the army and war heroes who would come to the site.17 Bringing together youth from all the parts of socialist Yugoslavia, imbuing them with the stories from the war and fostering the cult of physical labour as a means of taming and conquering the nature, labour actions functioned as an effective melting pot of the new socialist country and mechanism of building spatial representations of the new regime. Interestingly, slogans of the regime used during work were often written with stones or drawn with lime into the mountain slopes.18 The infrastructural and industrial development was not ideologically neutral, but inextricably linked to the proclaimed values of the new society, serving as its long-lasting symbols. The representation of space were at once erected, perused, and experienced, embedding itself in the everyday life not as an ideological discourse but as affective practice. In the years following the Second World War mass songs were the most representative feature of the new socialist Yugoslav music. Played both on radio stations and sung through numerous amateur choirs,19 mass songs were immensely popular, as well as effective in embodying the virtues of the new regime. The most prominent were partisan songs, directly connected and usually composed in the warfare, which were considered as a novel kind of folk songs, having sprung out directly from the people in the battle and being widely accepted within partisans themselves.20 Singing mass songs was also one of the most
17 Rudi Supek, Omladina na putu bratstva. Psiho-sociologija radne akcije [The youth on the path of brotherhood. Psycho-sociology of labor actions], Beograd 1963, pp. 9– 10 and p. 51. 18 Report of the comrade Rade Vlkov (1947), Archive of Yugoslavia, Belgrade, collection »Savez socijalističke omladine Jugoslavije« [League of Socialist Youth of Yugoslavia], folder 129. 19 In the years immediately after Second World War there was a veritable explosion in the number of small amateur choir societies, which were associated to cultural societies, companies, trade unions, etc. Srđan Atanasovski, »Nikola Hercigonja i proizvođenje jugoslovenske nacionalne teritorije« [Nikola Hercigonja and production of the Yugoslav national territory], in: Mirjana Veselinović-Hofman and Melita Milin (eds.), Nikola Hercigonja (1911–2000), Čovek, Delo, Vreme [Man, Oeuvre, Time], Beograd 2011, pp. 143–144. 20 Nikola Hercigonja, »O partizanskim narodnim pesmama«, in: Napisi o muzici, Beograd 1972, pp. 274–305.
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impactful cultural practices on the sites of labour actions. Songs and slogans were loudly chanted during the work itself, and particularly during the march from the camp to the working site. Importantly, many amateur choirs were organized in the camp, and usually every »brigade« had one, with the numbers singers going in average from 20 to 30. In the first shift of the labour action ŠamacSarajevo there were 155 choirs in 139 brigades,21 while at the camps in building Novi Beograd there were up to 342 choirs.22 Beside partisan songs, these choirs were also interpreting »labour songs«, the topic towards which composers mostly turned to after the war ended, celebrating the industrial and infrastructural development and endorsing the cult of labour. These songs often blatantly linked the partisan warfare narrative with advocating labour, such as in lines by Ferdo Škrljac: »the thrall has shattered his shackles; he is now on the forefront of the building«.23 Composers would usually make several versions of a song, ranging from the version for a full-scale symphonic orchestra and four-part choir, designed for official performances, to a simple version for voice and piano, guitar or accordion, which would be mass printed and widely distributed. I will point out to two specific musical topoi which appear in the labour mass songs and which allow the singers and listeners to experience these messages on the tactile, bodily level: the military/march topos and topos of »openness«. An array of labour songs was written in a form of a march, juxtaposing the verses which extoll labour with the musical layer related to military practices. These songs often had a practical purpose too, being used by the workers in their daily marches to the construction site. Musical features include narrow vocal gamut suitable for marching singers, punctuated rhythm, strong bass line, as well as instrumental accompaniment which accentuates the march-like topos. As an example one can cite the beginning of the song Pjesma mladih graditelja (»Young builders’ song«), composed by Lovro Županović verses by Grigor Vitez (example 1).
21 Materials from the labour action Šamac-Sarajevo, Archive of Yugoslavia (op. cit. in n. 18). 22 Slobodan Selinić, »Život na omladinskim radnim akcijama u Jugoslaviji 1946–1963« [Life on the youth labor actions in Yugoslavia 1946–1963], in: Archiv 8 (2007), p. 8. 23 »[…] lance skida rob. U izgradnji sad je prvi […]«. Škrljac’s song Ječi pjesma! (The song resounds!) was put to music by Marko Pavičić and published in 1948 (Zagreb: Glas rada).
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Example 1. Lovro Županović, Pjesma mladih graditelja, m. 1–6
(tempo marking: »As a march«; lines: »Through our glorious land the railway is being build, ahead, long live our labour!«)24
Compared to the march topos, topos of openness often foregrounds dissimilar music characteristics, which invoke open spaces, the workers’ facing the forces of sheer nature, and raise belief in the comprehensiveness of the industrial, infrastructural and urban development. The instrumental introduction often feature brass-section fanfares or fanfare-like melodic, the character of the song is triumphant and the vocal line is rampant (cf. Example 2, a song by Mihovil Logar with verses by Čedomir Minderović, which celebrates the concept of »zadruga« - cooperative, as a new model for organizing agriculture and associating individual producers). Example 2. Mihovil Logar: Zadrugarska, m. 9–14
(tempo marking:»Enthusiastically«; lines: »Ahead now boldly! In combat, cooperatives! Let the sweat run!«)25
24 Marcel Kasović (ed.), Drugarska se pjesma ori, Zagreb 1948, pp. 28–29. 25 Čedomir Minderović (text) and Mihovil Logar (music), Zadrugarska, Beograd 1949.
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T HE H OPES OF A S OCIALIST C ITY : B UILDING N OVI B EOGRAD The topos of openness is most clearly expressed in Nikola Hercigonja’s song Pesma graditelja Novog Beograda (»Novi Beograd’s builders’ song«), written on Gvido Tartalja’s verses and dating from 1949, which is directly linked with the voluntary youth labour action of building Novi Beograd, new district in the capital city. Hercigonja opens the full-orchestral version of the song with broad fanfare, which is then reflected in the instrument-like vocal line, while the parts of the string section are saturated with exhilarating upward passagework runs (see example 3).26
Example 3a.Nikola Hercigonja, Pesma graditelja Novog Beograda, m. 1–4
(horn and trumpet parts; tempo marking: Energico)27
26 Atanasovski, »Nikola Hercigonja« (op. cit. in n. 19), pp. 148–149. 27 Manuscript in Legacy collection of Nikola Hercigonja, RM 244, National Library of Serbia, Belgrade.
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Example 3b.Nikola Hercigonja, Pesma graditelja Novog Beograda, m. 5–12
(vocal part; lines: »To new feats, hollo, labour brigades, with the new verve into the new work combat! For the beauty of the land let us give the young strength, for its visage – the sweat from ours!«)
Example 3c.Nikola Hercigonja, Pesma graditelja Novog Beograda, m. 15–16
(vocal and string parts)
The project of constructing Novi Beograd, which commenced in 1948, was the most prominent in the array of projects of urban development, which were inex-
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tricably linked to industrialisation efforts. Industrialisation was associated with significant migrations from rural to urban areas, as more workers in the industry were needed, and almost every major city underwent important structural rebuilding in the first decade after the Second World War. Novi Beograd, projected in the area across the Sava River connecting the city centre with the old Austro-Hungarian city of Zemun, carried a strong symbolic charge as the future seat of the federation, where monumental buildings representing the new regime were to be erected. This vast barren space had been unsuitable for urban development because of its marshy lands, and the first part of the project involved a veritable transmogrification of the landscape, employing volunteers in procedures such as land drainage. During the project’s development, the question of housing and everyday life was becoming more and more apposite, in an effort to create a living image of an egalitarian society.28 Urban centres were at the same time the most important representations of the socialist society which was to be built in Yugoslavia and true hubs of the rapid and successful (if not sustainable) processes of industrialisation. As testimonies of an »economic miracle« and urban revolution, already between 1947 and 1949 the number of workers in branches such as industry and mining quadrupled, and up to 1953 cities such as Belgrade and Sarajevo had grown in size for 18%, while some industrial cities had a staggering growth of more than 50%.29 The need for new lodgings in the cities inevitably became one of the main driving forces of urban development. The members of the new labour force, migrating from the rural areas into the cities, were genuine conscripts of the new ideology, as their everyday life and culture of living revolutionized with the new social circumstances. Narratives of rebuilding, industrialization, urbanization and planned progress intertwined with the myth of Yugoslav ›nation‹ embedded into the everyday existence of the citizens, as something they could experience in their practices of labour, inhabitation, as well as leisure. Not surprisingly, Belgrade, and especially Novi Beograd, was the ultimate migration hub and flagship of these processes urbanization and industrialization, a space where sheer habitation collided with new socialist state monumentality.
28 Ivan Kucina and Milica Topalović, »From Planned to Unplanned City: New Belgrade’s Transformations«, in: Maroje Mrduljaš and Vladimir Kulić (eds.), Unfinished Modernisations. Between Utopia and Pragmatism, Zagreb 2012, p. 157; cf. Ljiljana Blagojević, Novi Beograd: osporeni modernizam [Novi Beograd: challenged modernism], Beograd 2007. 29 Calic, Geschichte Jugoslawiens (op. cit. in n. 6), pp. 196–198.
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Symphonic poem Beograd by Dragutin Gostuški (1923-1998)30 was composed in 1951, in midst of the described impetuous urban transformation. One of composer’s few orchestral works, poem was designed as a graduation piece in composition at the Belgrade Music Academy.31 Laid out in a clear-cut sonata form, the work was written at the very end of the period of an unprecedented stylistic uniformity across all generations of composers who were active in Yugoslavia, as all resorted towards rather conventional style vaguely associated with social realism.32 However, after the disagreements between Tito and Stalin and schism with the Soviet Union, artists in Yugoslavia were invited to experiment more freely with modernism. The same year the symphonic poem was composed, Gostuški travelled as one of the students of composition to Munich, to an international meeting of music students, which was the first post-war contact with Western Europe for composers of Gostuški’s generation.33 Although early 50s were the period of artists’ exploration of new liberties that were awarded to them, the control of the Communist Party over the art production was inces-
30 Composer, musicologist and art historian, Gostuški was born in Belgrade, where the also graduated history of art and composition, subsequently earning his Ph.D. at the Faculty of Philosophy. Most of Gostuški’s compositions belong to his early period, from late 1940s and early 50s, with notable exception of choral works from early 60s. Gostuški dedicated most of his carrier to scholarly work, as a researcher in the Institute of Musicology SASA, primarily writing in the fields of music theory and comparative aesthetics, while remaining active as an art and music critic. For detailed biographical data and Gostuški’s bibliography, see Katarina Tomašević, »Dragutin Gostuški, Ph.D., Musicologist and Composer (Belgrade, 3.1.1923 – Belgrade, 21.9.1998)«, in: Musicology 10 (2010), pp. 211–222. 31 Beside Beograd, Gostuški’s orchestral oeuvre encompasses pieces Scherzo (1949), Valse (1950) and Igra utroje (»Play for three«, 1952 or 1953), ballet Remi (»Draw«, 1955) and Concerto accelerato for violin (1961). 32 Ivana Medić, »The Ideology of Moderated Modernism in Serbian Music and Musicology«, in: Musicology 7 (2007), p. 284. 33 Melita Milin, Tradicionalno i novo u srpskoj muzici posle Drugog svetskog rata (1945–1965) [The traditional and the new in Serbian music after the Second World War], Beograd: Muzikološki institut SANU 1998, p. 53.
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sant.34 The resulting stylistic orientation is often dubbed »moderated modernism«, a »non-challenging form of modernism« which lacks critical distance towards the tradition that precedes it and uses stylistic emblems of avant-garde in an ostensive manner.35 Gostuški’s poem Beograd can be recognized as such crossover from socialist realism towards moderated modernism. Beside references to the topoi present in the mass songs which I will discuss, Gostuški employs cluster-like harmonies, as well as collaged appearance of form which also reveals a strong influence of western-style film music. Gostuški’s symphonic poem Beograd features both topoi of mass songs connected with labour thematic in a very prominent manner. The topos of openness is present in the very beginning of the poem, in the introduction featuring a striking solo trumpet signal accompanied by tremolo in timpani and ending with passagework upward runs in strings and flute (m. 1–17, see example 4). The trumpet signal continues to appear in the piece, while its motivic material is worked through mainly in the woodwind section. Motif of trumpet fanfares is introduced afterwards, in the first subject, and remains structurally important throughout the poem. The integral introduction material is again presented in recapitulation, this time in a pastoral setting, including harp and woodwinds in the instrumentation (m. 259 et seq.). Military topos is most arresting in the development section, where an outright Alla marcia periodically structured episode is presented, with galvanizing orchestral effects, including snare drum, woodwind and brass section, etc. (m. 217–244, see Example 5). Unmistakable reference to mass song genre is also included in this episode, with a chant-like material clearly displayed in strings and violas playing unison, followed by cantabile fanfare of three trumpets (m. 225 et seq.). Gostuški’s music portrait of the capital city of Yugoslavia thus heavily relies on the already established musical vocabulary of mass songs, promoting ideals of new social urbanism and development.
34 Ješa Denegri, Pedesete: teme srpske umetnosti (1950-1960) [The fifties: themes in Serbian art], Novi Sad 1993, p. 7. 35 Medić, »The Ideology of Moderated Modernism« (op. cit. in n. 32), pp. 279–282.
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Example 4.Dragutin Gostuški, Symphonic poem Beograd, m. 1–9
(solo trumpet, brass, timpani and strings parts)36
Example 5.Dragutin Gostuški, Symphonic poem Beograd, m. 217–222
(piccolo, flute, percussions and strings parts)
Having in mind the likeness of Gostuški’s score to the western film music of the day, it is not surprising that composer desired to use his poem as music for a ›documentary film‹ about Belgrade. Filmed for the celebration of twenty-fiveyears’ anniversary of Belgrade’s liberation, the film featured no spoken text but instead relied solely on the interaction between the music and the moving images, being more of a ›television vignette‹ than a proper documentary film. Eschewing the words, Gostuški tried to distance the film from blatant propaganda. There are two extant versions of a ›script‹ written by Gostuški in preparation of the making of the film, which are precious and revelatory material both for understating the symphonic poem itself and the desired effect which the film
36 Examples are based on manuscript in the library of Belgrade Philharmonic Orchestra.
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should have produced.37 These scripts, in fact, consist of a list of more or less detailed descriptions of scenes which are to be accompanied by the poem, explicating the imagined narrative. Introducing the project of film-making in the first, shorter version of the script, Gostuški speaks of his poem as a »rounded composition for large orchestra, written in the so called sonata form« which, »beside pure aesthetical«, »contains certain programmatic character in several wide shots«. Gostuški claims that, »by alternating dramatic, lyric and dynamic moods”, he had had »a vision of concrete images of Belgrade and, in its entirety, its historical destiny« while composing the piece. Interestingly, the musical features which were pointed out as intertextually linked with the topoi of mass song feature prominently in Gostuški script: they are being given important roles in the narrative and they are linked with specific camera effects. The »signal of a (military) trumpet« provokes rising and movement of the camera accompanied by landscape shots, »fanfares« accompany monumental visions and wider aerial views of Belgrade, while the »triumphant march« brings images of war victory emblems presented in vertiginous rhythmical alternating of single shots. The utopia of new social urbanism is, however, not laid out as a static panegyric, but is represented as a dynamic state reached at pinnacle of historic and social struggle. Historical time features prominently in Gostuški’s film script, where he refers to his symphonic poem as to a »heroic epopee«. The idea of historical progress leading to the socialist society as the pinnacle of social development was deeply rooted in the official Marxist interpretations and in the rhetoric of the Communist Party. The official historical narrative strived to subsume the »glorious moments« of belligerent resistance found in the histories of individual Yugoslav nations under the common legacy and to construe them through the lens of class struggle.38 Adapting the historical narrative to the structure of the poem, Gostuški envisioned two large musical and dramatic gradations, the first one leading to the »triumphant march« and the end of the development section, and the second one spanning the recapitulation. The first gradation sets of at the beginning of the development section, after the exposition had featured landscape images and scenes of Ottoman legacy. It opens with an image of a storm, summarizes the wars against the Ottoman Empire and the First World War, reaching the images of partisan warfare, which are then apotheosized in the
37 The scripts, entitled »Beograd. Scenario« and »Beograd. Scenario za jedan dokumentarni film u boji na muziku simfonijske poeme ›Beograd‹ D. Gostuškog«, are kept in the Dragutin Gostuški’s legacy in the Archive of the Institute of Musicology SASA in Belgrade. I have not been able to locate a copy of the film itself. 38 Cf. Malešević: Ideology, Legitimacy and the New State (op. cit. in n. 5), p. 125.
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march and the serene ending of the development. The second gradation is capsuled and ensues after the pastoral and idyllic images of landscapes, representational buildings and residential neighbourhoods featured in the recapitulation of the first and beginning of the second subject group. This time gradation starts with the image of »pre-war dessert at the terrain of today’s Novi Beograd« and again features the topos of openness, such as trumpet fanfares, upward tremolo motion in strings and timpani’s tremolo (m. 306–312). This terrain is then showed as it »flows over into construction sites, and then into monumental structures« and the apotheosis is reached with images of Novi Beograd residential skyscrapers and official buildings. Gostuški openly states that »special attention, in the key points of the film, will be paid to the current layout of Belgrade, illustrating the enormous efforts that have been made in the post-war period of construction works«. Indeed, Novi Beograd was awarded with a matchless position, with its panorama closing the film accompanied by the sounds of final fanfares – a hallmark that even superimposes the widest areal shot. However, the poem and the television vignette do more than this. In presenting the two musical gradations as historical processes, they vividly portray the laborious efforts of the Yugoslav working class and the projects of urban restructuring as analogous to the partisan warfare. The labour and the realization of the new urban utopia are seen in parallel to partisan combats and as their continuation, as an opportunity to relive the experience of the freedom fighters on the level of everyday life. Portraying idyllic images of dwelling in the new urban utopia Gostuški film is quite representative of 60s, when the cult of enjoyment gradually came to supplant and replace the cult of labour. Unlike most of the countries of the Eastern bloc, Yugoslavia was engulfed with the global discovery of the free-time, leisure and everyday enjoyment, which was no more reserved only for the handful of wealthiest citizens. The question of appropriate and comfortable dwelling was one of the most important issues at the intersection of this new cult and the deluges of city’s newcomers lured to the urban areas with the rise of industry and service sector. For many city newcomers the issue of pleasant and homelike lodging was the crucial and ultimate test of the new regime, which was promising its citizens the comforts of everyday life befitting of a successful industrial society. The questions in the official field of urbanism also turned from monumental projects towards housing, while Novi Beograd was to become the most extensive and fittest residential district.39 In his script Gostuški inextricably links
39 Cf. Tanja Damljanović and Jelica Jovanović, »Belgrade Residential Architecture 1950–1970: A Privileged Dwelling for a Privileged Society«, in: Mrduljaš and Kulić, Unfinished Modernisations (op. cit. in n. 28), pp. 294–311
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the monumental emblems of the communist-party rule with the images of everyday life. The »monumental buildings«, such as the seat of the Central Committee and the Palace of the Federation, are accompanied with residential quarters both in Novi Beograd and in the older parts of the city. This way the triumphant music of the poem is associated not only with the state monuments but also accompanies the everyday, the true battlefield of the revolution and socialism. Following Lefebvre’s clues, one may interpret utopian image as »something lived«, distinct and more effective of ideology itself, which is conceptualized as an established truth; utopia »appears as an immediate possibility«, as »the image of what is possible transferred into reality«.40 Broadcasted on state television in autumn 1969, Gostuški symphonic poem and the television vignette undoubtedly stand as representations of space of the socialist Yugoslavia. Intervening through a powerful public rostrum such as television, Gostuški’s artwork offered not only an image of the capital city in a form of »heroic epopee«, but a matrix through which the citizens of this new society could interpret their everyday life and construe their environment. In this key, the quotidian practices of dwelling and labour could be lived as a part of the socialist urban utopia, the immanent reality of the promised society.
40 Henri Lefebvre, Introduction to Modernity: Twelve Preludes, September 1959 – May 1961, trans. John Moore, London 1995, p. 91.
Venezia Fünf musikalische Annäherungen E RICH W OLFGANG P ARTSCH An der Brücke stand Jüngst ich in brauner Nacht. Fernher kam Gesang: Goldener Tropfen quoll’s Über die zitternde Fläche weg. Gondeln, Lichter, Musik – Trunken schwamm’s in die Dämmrung hinaus… Meine Seele, ein Saitenspiel, Sang sich, unsichtbar berührt, Heimlich ein Gondellied dazu, Zitternd vor bunter Seligkeit. – Hörte jemand ihr zu? … FRIEDRICH NIETZSCHE
K LANG -R EICH Die lange Geschichte der »Serenissima« ist untrennbar mit Klängen, Tönen, mit Musik verbunden: seien es vielfältige Geräusche des allgegenwärtigen Wassers, dumpfe Ruderschläge oder Gondellieder, festliche oder ausgelassene Klänge in Palazzi, bei den alten favole pastorali im Hof des Dogenpalastes oder, ganz volksnah, anlässlich des traditionsreichen Karnevals oder als neuartige Kirchenmusik in San Marco mittels von außen übernommener Cori spezzati-Technik ins Räumliche geweitet. Aber ebenso stellen die alten Ospedali als Vorläufer heutiger Konservatorien, Ottaviano di Petruccis Erfindungen für den Notendruck, das Teatro San Cassiano als erstes öffentliches Opernhaus oder die Gründung des Festival Internazionale da Musica Contemporanea bedeutsame Innovationen in der Musikgeschichte dar. Ob in Venedig geboren, zugezogen oder einfach mit wichtigen Werken uraufgeführt, haben hier im zeitlichen Längsschnitt – vor dem Hintergrund der langen Blüte der stolzen Seerepublik, aber ebenso über deren
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glanzvollen Niedergang hinweg – zahllose Musiker gewirkt, vom ersten namentlich bekannten Organisten Mistro Zucchetto über Adrian Willaert, die Gabrielis, Monteverdi, Vivaldi bis hin zu Rossini mit seinen erfolgreichen OpernPremièren im La Fenice, oder im 20. Jahrhundert etwa Strawinski, Prokof'ev, Dallapiccola, Nono, Maderna und Rihm.
U RBANER R AUM
UND IMAGINIERTER
K LANG ?
»Musik aus der Wolke – das sind Kompositionen und Hörstücke von acht Berliner und internationalen Komponisten, Klangkünstlern und Autoren, die sich auf ausgewählte und besondere Kultur-Orte in Berlin beziehen und nur an diesen Stätten, vor Ort, über Smartphone zu hören sind. Das Projekt ist ein Beitrag der Sektion Musik der Berliner Akademie der Künste zur Ausstellung Kultur:Stadt (15.3.-26.5.2013), das deren thematischen Rahmen zum Wechselverhältnis von urbanen und kulturellen Zusammenhängen auf akustische Erfahrungswelten überträgt.«1
Dieses aktuelle Projekt gibt eine zeitgenössische mögliche Antwort auf die Frage, wie denn ein Ort – noch dazu kultur-historisch dicht besetzt – akustisch erlebbar dargestellt werden kann. Dabei geht es um heikle Grenzüberschreitungen, indem ein physiogeographisch-morphologisch bestimmter Ort mit spezifischen kulturhistorischen Konnotationen, optisch dreidimensional bzw. via Wissen und Erinnerung erfahrbar, in immanent musikalische Strukturen übergeführt werden soll. Oder vereinfacht ausgedrückt: Dauerhafte räumliche Dimensionen müssen in die flüchtige Zeitkunst Musik projiziert werden, in der Verweisrelationen wie Ikon oder Index keine oder nur höchst beschränkte Gültigkeit besitzen. Ein Maler etwa kann mit seiner Darstellung der Ponte di Rialto oder der Piazza San Marco visuell auf jene Örtlichkeiten hinweisen, ein Schriftsteller durch Nennung und literarische Deskription. Die musikalische ›Aneignung‹ eines gewählten Raumes muss hingegen über Umwege führen; der einfachste ist die Wahl eines entsprechenden Schauplatzes auf der Bühne, auf dem dann Musik stattfinden kann. Doch repräsentiert diese nicht Venedig oder ›venezianische‹ Musik, sondern ist bloß mit dem Schauplatz, der bestimmte Vorstellungsbilder weckt, klanglich assoziiert. In diesem Sinne verweist beispielsweise Johann Strauß‘ Lagunenwalzer musikalisch keineswegs auf die Stadt, sondern lediglich via Titel in potpourrihaftem Zuschnitt auf die zugehörige Operette Die Nacht in Venedig.
1
http://www.wolkenmusik.de (Zugriff: August 2013).
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Eberhard Hüppe resümiert diese Form der städtischen Perzeption folgenderweise: »Städtische Räume üben atmosphärische Wirkungen aus, die sich aus mehr oder weniger vielen oder auch nur einzelnen Segmenten von Wahrnehmungen, Beobachtungen und Wissen über sie zusammensetzen. Deshalb lassen schon Städtenamen in uns Vorstellungsbilder entstehen. Daran wirken auch erinnerte auditive Eindrücke mit: ein charakteristisches Klangprofil, ein Klangkolorit, Auratisches oder eine Form musikalischer Semantik, die uns vielleicht Exotisches verheißt.«2
Sind es im Falle der Nacht in Venedig zumindest Gondelrufe oder Barkarolen, die im Medium der Musik erkennbare Relationen herstellen, muss zuweilen der Schauplatz als optische Repräsentanz genügen: Die Ruine auf der Giudecca im Schlussakt (»Il Canale Orfano«) von Ponchiellis La Gioconda (1876) ist zwar im Handlungsstrang ein folgerichtiger Schauplatz, grundsätzlich aber austauschbar – die Musik harmoniert mittels keiner ›Couleur locale‹ damit. Etwas anders erscheint die Situation in der »Ca d’Oro«, also im dritten Akt, wo Karnevalstreiben und von draußen hereinklingende Serenadenmusik entsprechende Assoziationen möglich machen. Die kulturgeschichtliche und auch landschaftliche Attraktivität Venedigs, wesentlich durch die Durchdringung urbaner und maritimer Elemente gewonnen, wurde bekanntlich häufig für das Musiktheater herangezogen: darunter in Otello (Verdi bzw. Rossini), I due Foscari (Verdi), Casanova (Lortzing), Hoffmanns Erzählungen (Offenbach), Der ferne Klang (Schreker) oder Violanta (Korngold), im Metier der Operette neben Strauß in Le Pont des Soupirs (Offenbach) und in The Gondoliers (Sullivan). Alle diese Werke vermitteln – nun abgesehen von ihrem berühmten Schauplatz – unterschiedliche musikalische Assoziationen, die sowohl von Realien als auch von subjektiver Wahrnehmung und künstlerischer Imagination gesteuert sind.3 Zumeist stehen folkloristische Mittel im Vordergrund, die gewissermaßen Ortseigenes nachzeichnen und dadurch musikalisch eine entsprechende atmosphärische Qualität schaffen: musikuntermaltes Volksleben und Barkarole als typische alte venezianische Gesangsgattung. Dies kann punktuell in einer Art szenischen Montage-Technik erfolgen – von Ponchiellis »Ca d’Oro« war gerade
2
Eberhard Hüppe, Urbanisierte Musik. Eine Studie über gesellschaftliche Determinanten musikalischer Raumproduktion und Raumaneignung (= Wissenschaftliche Schriften der WMV Münster Reihe XVIII, Bd. 2), Münster 2012, S. 185.
3
Siehe auch ebenda, S. 187.
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die Rede (Ähnliches gilt für Korngolds Violanta) – , oder etwa durch breitflächige Integration von Barkarolen-Gestik in die musikalische Faktur in Verdis I due Foscari. Wohl am berühmtesten geworden ist die Barcarole im so genannten »Giulietta-Akt« in Offenbachs Hoffmanns Erzählungen. Aus der literarischen Vorlage von E.T.A. Hoffmann von Florenz nach Venedig transferiert, wird die szenische Topologie zweifach abgesichert: durch Palast und Canal Grande. Musikalisch ertönt das berühmte Stück – natürlich »auf dem Wasser zu singen« – als Klangsignet gleich zu Beginn. Das Stück ist jedoch nicht original; Offenbach hat es aus seiner erfolglosen romantischen Oper Die Rheinnixen in den »Giulietta-Akt« einmontiert, wo es die passende ›Couleur locale‹ schafft.
ANNÄHERUNG 1: V ON S CHICHTUNGEN IN R AUM , G ESELLSCHAFT UND R AUM – E INE N ACHT IN V ENEDIG Zu Beginn der Operette treffen in südlicher Abendstimmung Selbst- und Fremdwahrnehmung komödiantisch aufeinander: Im Marktgetriebe preist der Chor der Venezianer ihre Stadt mit ihren herausragenden Örtlichkeiten – ihre Plätze, Strassen, Kanäle, Brücken usw. Ein buntes Durcheinander italienischer Rufe der Verkäuferinnen schließt sich an. In Gegenposition dazu, auch räumlich durch Tutti (Chor auf der Bühne verteilt)/Solo (am Marktstand) differenziert, erwidert der neapolitanische Makkaroni-Koch Pappacoda: »Ihr Venezianer, hört, was Pappacoda wert: Ihr habt wohl manches Schöne hier – Doch – ohne mich – was wäret Ihr!«4
Geschickt setzt der Süditaliener gegen die Stadtkultur seine eminente Makkaroni-Kunst. Mit höchst peniblen Ortsbeschreibungen wird schon in dieser ersten Szene der Versuch unternommen, lokale Authentizität zu erreichen. Auf diese Weise soll vor dem Publikum das alte Venedig des 18. Jahrhunderts in seiner plastischen Raumordnung erstehen. Die Piazza ist in diesem Sinne exemplarisch konstruiert. So heißt es zu Akt 1:
4
Sämtliche Textausschnitte nach: Johann Strauß, Kritische Gesamtausgabe. Serie I, Werkgruppe 2/10, herausgegeben von Michael Rot, Wien 2003.
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»Am Canal Grande. Prospekt: Ufer des großen Kanals mit der Dogana und der Insel San Giorgio. Wasser und Ufer praktikabel. Rückwärts am Ufer ein Flaggstock. Die Bühne bildet einen Platz, wie es deren in Venedig viele gibt. Rechts vorne steht das in romanischem Stile gehaltene Haus des Bartolomeo Delacqua. Hinter selbem ist ein Abgang, hart am Kanale steht ein zweites Haus. – Links vorne steht ein praktikabler Schwibbogen, torartig – zwei Kulissen breit, als einziger Abgang links. – Hart daran, also zwischen Schwibbogen und Kanal, der rückwärtige Teil des Palazzo Urbino in alt-maurischem Stile. […]. Der Kanal muß möglichst breit gehalten werden.«
Die Anweisungen wollen Zweifaches erreichen: Zum einen gibt ein derartiges Bühnenbild anschaulich die räumlichen Staffelungen Venedigs wieder, zum anderen sind ideale Bedingungen für die mediterran getönte Verwechslungskomödie gegeben. Im Finale I, wo drei Serenaden virtuos mit drei sozialen und räumlichen Ebenen verknüpft werden, wird dies besonders deutlich. Die Serenade – nicht typisch venezianisch, aber immerhin als ein mit Italien assoziierbares Ständchen gut platziert – durchläuft somit alle Gesellschaftsschichten (aristokratisch, bürgerlich, plebejisch) und Orte innerhalb der Stadt. Zunächst sei zum besseren Verständnis eine kurze Inhaltsangabe vorangestellt. Herzog Urbino tritt auf und bringt Barbara, der Frau des Senators Delacqua, ein Ständchen. Da kommt Caramello, der Barbier des Herzogs, in einer Gondel. Delacqua führt eine maskierte Dame im Kleid seiner Frau aus dem Hause. Natürlich ahnt er nicht, dass sie das Fischermädchen Annina ist, die von Barbara überredet worden ist, an ihrer Stelle nach Murano zu fahren. Barbara möchte sich währenddessen mit Enrico, dem Neffen Delacquas, treffen. Der Senator wird durch einen Volksaufzug und dessen Ständchen anlässlich seines Geburtstages abgelenkt, und so kann Caramello mit der Maskierten in der Gondel davonfahren. Barbara entwischt mit ihrem Enrico. Das erste aristokratische Ständchen geht im Ensemble unter und damit daneben: »Nicht so das zweite, das sich jetzt aus räumlicher Ferne und Tiefe ankündigt, langsam herannahend. Der Gondelruf des verkleideten Caramello macht akustisch die Bahn frei für die sehnsüchtige Barkarole. Sie nun hat bürgerliches Gepräge: im unmittelbaren Gefühlsausdruck, im schlichten, unverblümten Fordern ‚Komm in die Gondel!‘; im Arbeitstakt auch der sanft vorwärts bewegten Gondel.«5
5
Volker Klotz, Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. Erweiterte und aktualisierte Aufl., Kassel etc. 2004, S. 697.
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Die dritte Serenade gehört schließlich dem Volk: In etwas spröder, ungelenker Gestalt bringt es dem Senator ein Geburtstagsständchen dar, das – den Sängern gar nicht bewusst – die geplanten Entführungspläne akustisch begünstigt. Der von Anfang an bestehende ¾-Takt erleichtert die Angleichung der Serenade an einen Walzer. (Überdies ermöglicht die Übereinstimmung der Tonart mit jener des Gondellieds Caramellos am Aktschluss die Überlagerung der Themen.) (I) Es-Dur 6/8 Andante moderato (II) C-Dur 6/8 Andantino (III) C-Dur ¾ Andante mosso – Tempo di Valse moderato Während des ganzen Geschehens werden Handlung und Musik »verräumlicht«: Der Herzog singt »zärtlich zum Balkon hinauf«, Caramello nähert sich in der Gondel aus der Ferne an, die Landebene ist wiederum seitlich gestaffelt, wobei die gegenüberliegende Straße für die Kommunikation wichtig wird. Murano wird als zusätzlicher unsichtbarer Zielort der Reise eingeführt: »… nach Murano, liebes Kind Trägt die Gondel dich geschwind.«
Auch Simultaneität gewinnt im bunten Treiben an Bedeutung: Während sich der Chor – analog zum früheren Ständchen des Herzogs – zum Senator »hinauf« wendet, verschwinden zur gleichen Zeit Barbara und Enrico aus dem Tor in der unteren Ebene. Und ganz am Schluss ist der Chor schließlich »nach dem Ufer gewendet« und reist »Venedigs Nacht«, Caramellos Rufe verhallen »von rückwärts«. Eine Nacht in Venedig, Bühnenbild einer Aufführung der Seefestspiele Mörbisch
(© Seefestspiele Mörbisch)
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ANNÄHERUNG 2: I N DER P ERSPEKTIVE DES LYRISCHEN I CH – V ENEZIANISCHES G ONDELLIED G -M OLL OP . 19/6, 1830 in Venedig entstanden, sollte die Bezeichnung ursprünglich »Auf einer Gondel« lauten. Diese topographische Kennzeichnung ist durchaus bemerkenswert, stellt sie doch die Befindlichkeit des komponierenden Ich, dessen eigenen, subjektiv empfundenen Standpunkt inmitten der ruhigen Bewegung auf dem Wasser ins Zentrum der künstlerischen Gestaltung.6 Es handelt sich somit um einen instabilen Zustand des Über-das-WasserGleitens, des Schwebens und Schwankens, der an Goethes Venetianisches Epigramm Nr. 6 denken lässt: »Diese Gondel vergleich‘ ich der sanft einschaukelnden Wiege, und das Kästchen darauf scheint ein geräumiger Sarg. Recht so! Zwischen der Wieg‘ und dem Sarg wir schwanken und schweben Auf dem großen Kanal sorglos durchs Leben dahin.«7
Trifft Goethes Metaphorik den Verlauf unseres menschlichen Lebens, sichert Mendelssohn Bartholdy seine musikalische Darstellung traditionsmäßig ab: Mollsphäre, ruhige Achtel-Bewegung im 6/8-Takt (»Andante sostenuto«), kantable melodische Linienführung mit Terz- und Sextparallelen – dies alles als deutliche Signaturen der Barkarole. Zunächst ist für den Hörer nur das gleichförmige Bewegungsmuster im Bass (mit leichten Akzentuierungen des zweiten und fünften Achtels) zu vernehmen, ehe ein Motiv mottoartig aus diesem Klanggrund heraustritt. Es erscheint wie eine Figur-Grund-Konstellation: Die Periodik durchbrechend, ist es nur ein drei Takte umspannender kleinräumiger Auf- und Abstieg (d-f-es-d), wobei die Septime f durch Synkopierung und sfz besonderes Gewicht erhält. Mit dieser kleinbogenförmigen Anlage ist schon das charakteristische Schwanken oder Wogen bei einer Gondelfahrt gleichsam in Großaufnahme auf den Punkt gebracht. Überhaupt spielen melodische Bewegungsrichtungen als Zeichen akustischer Verräumlichung in diesem Stück eine wichtige Rolle. In T. 8 beginnt dann auftaktig die Kantilene als instrumentalisierter Gesang. »Ohne Worte« meint hier auch Abstraktion: Der Grundtypus der textlosen Bar-
6
Siehe auch Christa Jost, Mendelssohns Lieder ohne Worte, Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft 14, Tutzing 1988, S. 154.
7
Johann Wolfgang von Goethe, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 1 (Gedichte und Epen 1). Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Truntz, München 1981, S. 176.
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karole lässt für den Hörer Assoziationen mit Venedig unterschiedlicher Art zu. Vielleicht rufen die parallelen Terzen und Sexten in ihrer harmonischen Eintracht Erinnerungen an italienische Liebesduette oder eine Romanze wach? Vielleicht ermöglicht das Stück eine akustisch vermittelte Vergegenwärtigung selbst erlebter atmosphärischer Eindrücke? Am Schluss erklingt nochmals das zu Beginn eingeführte ›Motto‹, jedoch ohne den Anfangston d: absteigend, schwermütig. Die Position des Komponisten als lyrisches Ich nimmt auch den Hörer mit auf die Gondel, gleichsam räumlich gefangen im Stimmungsbild.
ANNÄHERUNG 3: H OMMAGE , T RISTESSE L A LUGUBRE G ONDOLA I
UND
Z UKUNFT –
»Gar oft sah er die düsteren Trauergondeln zum nahen Friedhofe vorüberfahren mit jenen, die vollbracht hatten. Eines Tages überkam ihn tiefe Schwermut, ahnungsvolles Weh –: er schrieb im Barkarolenrhythmus eine bisher unveröffentlichte, wundervolle Threnodie nieder: La lugubre Gondola.«8
Das letzte Treffen Liszts mit Wagner in Venedig 1882/83 hängt entstehungsgeschichtlich mit diesem Klavierstück zusammen, indem es durch autobiographische Vernetzung eine Art Hommage darstellt. Anders als in R.W. – Venezia, wo der Freund im Titel mit der schicksalshaften Stadt verbunden erscheint, liegt hier der Fokus auf der Gondel als Todessymbol. Das Grundzeitmaß »Andante« und der 6/8-Takt markieren fürs erste in Tempo und Taktart Eckpfeiler einer Barkarole, doch bereits die dissonante Begleitfigur mit weitem Ambitus, die den Untergrund bildet, täuscht die Erwartungshaltung des Hörers. Und in weiterer Folge geschieht dies praktisch in allen musikalischen Parametern. Die Oberstimme bringt keine Kantilene, sondern gleichsam zerrissene Tonfolgen. Nach einer kurzen melodischen Geste aufwärts verfestigt sie sich in abwärts führenden Sekunden – Ausdrucksträger für Trauer und Klage aus der alten musikalischen Rhetorik. Ebenso bleibt die Tonalität (f-Moll) in diesem kargen Tonsatz verunklart. Nach 38 Takten – durch eine Fermate gegliedert – folgt fast notengetreu eine Wiederholung des ersten Abschnitts, um einen Ganzton tiefer transponiert. Der letzte Teil, indem die Bassfiguren zugunsten irritierender Tremoli aufgegeben sind, erscheint nochmals um einen Ganzton tiefer versetzt. Damit ist der symbol-
8
August Göllerich, Franz Liszt, Berlin 1908, S. 24.
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trächtige Sekundenfall gewissermaßen in die Großform projiziert. Doch was heißt hier Form? Liszt bewegt sich in der lugubre Gondola jenseits tradierter Modelle, ja geradezu in »elegischer Formlosigkeit«9. Klage, Resignation, Auflösung sind relevante semantische Felder. Auch (und gerade) der letzte Teil mit seinen Tremoli und dem Schlussakkord e-as-c verweist in kompositorisches Neuland, in dem Heterogenes und Fragmentarisches zu Konstituenten der Formgestaltung werden. Auch die avancierte Harmonik dient der Semantik – Chromatik im alten Sinne von chroma, Farbe – Atmosphäre. Eigenes Erleben und Hommage treffen vor dem Hintergrund eines urbanen Raumes zusammen, durch die subjektive Betroffenheit des Komponisten versagt jedoch die traditionelle Musiksprache. Damit erscheinen auch die auf Barkarolen-Tradition und Venedig bezogenen Bruchstücke destruiert.
ANNÄHERUNG 4: U RBANITÄT UND AUTOBIOGRAFIE – … SOFFERTE ONDE SERENE … Die Komposition für Klavier und Tonband von 1976, in deren privaten Hintergrund Todesfälle in den Familien Nono und Maurizio Pollini, dem Widmungsträger, stehen, ist – etwas überspitzt formuliert – eine experimentelle, autobiographisch initiierte musikalische Topographie. Schon der Werktitel ist schillernd: Ein Substantiv (»onde«) steht zwischen einem Partizip (»sofferte«) und einem Adjektiv (»serene«), was in dieser ungewöhnlichen Anordnung eine Bewegung, eine Entwicklung andeutet.10 »In mein Heim auf der Giudecca in Venedig dringen fortwährend Klänge verschiedener Glocken, sie kommen mit unterschiedlicher Resonanz, unterschiedlichen Bedeutungen, Tag und Nacht. durch den Nebel und in der Sonne. Es sind Lebenszeichen über der Lagune, über dem Meer. Aufforderungen zur Arbeit, zum Nachdenken, Warnungen. Und das Leben geht dabei weiter in der durchlittenen und heiteren Notwendigkeit des ‚Gleichgewichts im tieferen Inneren‘, wie Kafka sagt.«11
9
Wolfgang Dömling, Franz Liszt und seine Zeit, Laaber 1998, S. 211.
10 Genauer dazu: Paulo de Assis, Luigi Nonos Wende. Zwischen Como una ola de fuerza y luz und … sofferte onde serene … Band 1, Hofheim 2006, S. 172ff. 11 Das Zitat Nonos in: Booklet zur CD »Luigi Nono: Como una ola fuerza y luz / … sofferte onde serene … / Contrappunto dialettico alla mente«, DDG 423 248-2, S. 8.
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Verschiedene Räume werden beleuchtet und akustisch vergegenwärtigt: das Meer, die Lagune, die Giudecca, das Haus Nonos usw. 12 Die kritisch-analytische Selbsterkundung zeigt die Stadt in ständigem Perspektivenwechsel: örtlich, aber auch in ihrer subjektiv empfundenen Klanglichkeit. Verschiedene Signale, Wassergeräusche, Glockenklänge in zeitlichen Schichtungen ergeben deiktisch ein weites, akustisches Panorama, das in seiner Heterogenität durch die Besetzung eine weitere Verräumlichung erfährt: Der live gespielte Klavierpart zeichnet Tonband-Zuspielungen nach, reagiert auf sie. Ein- und Ausschwingvorgänge werden in dialogischem Prinzip für die Interpretation des technisch Vorgegebenen genutzt. (Technisch verfremdete) reale und künstlerische Welt treffen in kreativer Auseinandersetzung aufeinander.
ANNÄHERUNG 5: M ORTE A V ENEZIA – UND W IE M AHLERS »A DAGIETTO « IN DIE L AGUNE
KAM
Die literarische Vorlage für den berühmten Film Luchino Viscontis (1971) ist die Novelle Tod in Venedig von Thomas Mann. Im Mittelpunkt steht der Schriftsteller Gustav von Aschenbach, der eine Erholungsreise nach Venedig unternimmt, von dort aber nicht mehr zurückkehrt. Als Bewunderer von Mahler hat Mann zwar die Hauptfigur Aschenbach physiognomisch dem Komponisten angenähert und auch noch weitere Allusionen ins Spiel gebracht, die Konkretisierung stammt jedoch – wie andere Fremdelemente auch – von Visconti. Neben der zentralen Künstler-Problematik hat der Regisseur einen alternden Komponisten mit homoerotischer Neigung geschaffen, der in Venedig sein eigenes Scheitern erleben muss, und zwar in einem Venedig, das von Fin-de-siècle-Morbidezza geprägt ist. Der akustische Verweis auf Mahler fungiert in der Filmmusik via Leitthema, dem berühmten »Adagietto« aus der Fünften Symphonie, das durch den Film eine Art Kultstatus errungen hat. Es begleitet fast wie ein Ostinato die ruhige Entfaltung der hochexpressiven Bilder. An einer einzigen Stelle, in einer Rückblende, erscheint das Thema gewissermaßen ›original‹: Im Zuge eines leidenschaftlichen Kunst-Gesprächs mit Alfried, einem befreundeten Dirigenten, spielt es dieser auf dem Klavier. Aus der Filmmusik herausgehoben, wird es hier zum künstlerischen Einfall. Bemerkenswert reflektiert Aschenbach dazu – mit dem metaphorisch gemeinten Verweis
12 Dazu näher Paulo de Assis (wie Anm. 10), S. 166.
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auf das Stundenglas – über die Vergänglichkeit, wodurch sich semantisch wiederum eine Brücke zur Filmmusik ergibt. Wohl aus urheberrechtlichen Gründen wurde das »Adagietto« für den Film vom Orchestra Dell’Academia Santa Cecilia unter Franco Mannino neu eingespielt. Diese mediokre Interpretation mit ihrem (von Mahler keinesfalls intendierten) verschleppten Tempo und kitschverdächtiger Agogik hat jedoch eine paradoxe Eigendynamik entwickelt: Während – topographisch völlig unabhängig – dieses Stück zum akustischen Signum der sterbenden Stadt wurde, verhalf es dem Komponisten zu erstaunlich weit gestreuter Popularität.
Istanbul Die Stadt als Serail M ICHAEL H ÜTTLER
Konstantinopel/Istanbul war stets die Projektionsfläche für Phantasien über den Orient; so auch in den Texten der europäischen Theater- und Librettidichter des 17. bis 19. Jahrhunderts. Genauer betrachtet gibt es aber kaum ein Stück dass in dieser Stadt spielt, sondern die Handlung ist meist in einem ganz speziellen Teil der Stadt verortet: dem Serail. In seiner in den künstlerischen Texten meist doppelten Bedeutung – einerseits als ›Palast‹ des Sultans und anderseits, nicht korrekt dafür aber umso beliebter, als Synonym für den ›Harem‹ – oszilliert dieser Ort zwischen Symbol für absolutes politisches Machtzentrum eines Weltreiches und gleichzeitig Zentrum der Lustfantasien. Die künstlerische Stadterfindung erreicht hier einen fulminanten Höhepunkt, denn kaum einer der Autoren war je selber an diesem Ort, der für Ausländer nur in Sonderfällen zugänglich und – als Harem – für Männer sowieso tabu war. Anhand von ausgesuchten deutschsprachigen Theatertexten und Libretti werde ich in diesem Beitrag das für Istanbul symbolhafte exotisch-orientalische Setting der Stadt untersuchen und Gedanken über das kulturelle Gedächtnis der Mitteleuropäer zur Diskussion stellen. Roland Barthes zitiert in seiner Abhandlung Literatur oder Geschichte, die sich mit der Beziehung von Geschichte und Kunstwerk befasst, den französischen Philosophen Gaston Bachelard: »Die Imagination ist verformend, die dichterische Tätigkeit besteht darin, Bilder zu entstellen.«1 Genau das stellt das passendste Motto für die Darstellung der Stadt im Libretto, insbesondere für die
1
Roland Barthes, »Literatur oder Geschichte«, in: ders. Am Nullpunkt der Literatur/Literatur oder Geschichte/Kritik und Wahrheit, Frankfurt am Main 2006 (orig.: 1960), S. 90.
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Darstellung Istanbuls, dar. Der Ort der hier dichterisch entsteht ist Großteils ein imaginärer; wohl existiert er in der Realität tatsächlich, wurde vielmals bereist, abgebildet, kartographiert und beschrieben, aber nur in den Köpfen zuerst der Autoren, dann wiederum erneut in denen der Rezipienten wird er zu jenem Bild geformt, als welches er im kulturellen Gedächtnis vorhanden ist. Im Fall von Istanbul ergibt sich eine ganz spezielle Verformung, wie sie bei kaum einer anderen Stadt vorhanden ist – eine Durchmischung von historischen und fantastischimaginierten Bildern in hoher Dichte und eine enge Verknüpfung mit einem ganz bestimmten Teil der Stadt: dem Serail, dem Palast des Sultans. Die Erwähnung des Begriffs ›Serail‹ löst im mittel- und westeuropäischen kulturellen Gedächtnis meist automatisch eine Assoziation mit Istanbul aus. Auf die Frage wo die Handlung von Wolfgang Amadeus Mozarts Singspiel Die Entführung aus dem Serail angesiedelt sei wird in 90% der Fälle die Antwort kommen: in Istanbul. Diese Vorstellung ist in den Köpfen der Rezipienten eingeschrieben, obwohl nirgendwo im Libretto eine genaue Ortsangabe gemacht wird. Die von Mozart vertonte Entführung spielt ja nicht im Serail in Istanbul, sondern, wie es in den Libretti von Christoph Friedrich Bretzner 17812 und ebenso von Johann Gottlieb Stephanie d. J. 17823 wortgleich heißt: »…auf dem Landgute des Bassa«, »…am Ufer des Meeres«. Die Handlung ist damit in einer unbestimmten orientalischen Gegend angesiedelt die man im Einflussbereich der Osmanen (Bassa) und am Meer, also im Mittelmeerraum, verorten kann. Dies im Übrigen ganz und gar nicht zur Freude der türkischen Fremdenverkehrswerbung, die immer wieder Aufführungen von Die Entführung aus dem Serail im Istanbuler Topkapi-Palast als »an den Original Schauplätzen« vermarktet, und dies offenbar so erfolgreich, dass beispielsweise selbst der musikalische Leiter einer solchen Aufführung 2006, der deutsche Dirigent Peter Tilling, davon überzeugt werden konnte, wie in seiner eigenen Biographie nachzulesen ist: »2006 leitete er eine Neuproduktion von Mozarts Die Entführung aus dem Serail beim Istanbul Musik Festival am Originalschauplatz im Topkapi Palast mit dem Borusan Philharmonic Orchestra […].«4
2
Vgl. C(hristoph) F(riedrich) Bretzner, Belmont und Constanze oder: Die Entführung aus dem Serail. Eine Operette in drey Akten von C. F. Bretzner, Leipzig 1781.
3
Vgl. (Johann Gottlieb Stephanie d.J.), Die Entführung aus dem Serail. Ein Singspiel in drey Aufzügen nach Bretznern, Wien: beym Logenmeister 1782.
4
Vgl. Peter Tilling, Biographie lang: http://peter-tilling.de/biografie-lang (Zugriff: 7.4.2012).
I STANBUL – DIE S TADT
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K ULTURHISTORISCHER H INTERGRUND – K ONSTANTINOPEL /I STANBUL ALS DAS S YMBOL FÜR DEN O RIENT Der Orient allgemein, und speziell das Osmanische Reich, wurden im 17. bis 19. Jahrhundert gerne als Antithese zum zivilisierten, aufgeklärten Europa, gezeichnet. Die Tendenz im Orient (im Osten, in Asien) die Barbaren zu sehen war keine neue Erfindung, sondern lässt sich bis ins antike Griechenland zurückverfolgen, wo schon in den Tragödien und Komödien ein stereotypes Bild der barbarischen, nicht-griechischen Welt gezeichnet wurde, angefangen von Aischylos Tragödie Die Perser (472 v. Chr.) bis zu Euripides Die Bakchen (406 v.Chr.). Konstantinopel, wie die Stadt zu Ehren des römischen Kaisers Konstantin des Großen (270-337) der seine Residenz 324 dorthin verlegt hatte im Westen bis ins 20. Jahrhundert hauptsächlich genannt wurde, weckte durch die große politische und militärische Machtkonzentration und den dadurch bedingten Reichtum schon früh die Begehrlichkeiten der Europäer, politisch, ökonomisch wie dichterisch. Größte und reichste Stadt Europas in spät-römischer Zeit unter Justinian I (482-565, r. 527-565), von den Kreuzrittern unter Führung Venedigs 1204 geplündert und zerstört, dann 1453 der große Schock für die christlichen Europäer, die Stadt wird von den islamischen Osmanen eingenommen, geht »verloren«. Als Hauptstadt des Osmanischen Reiches wird sie weiter prächtig ausgebaut, entzieht sich aber dem europäisch christlichen Einfluss. Eine »andere« Religion und eine »andere« Kultur, gefürchtet und faszinierend zugleich, bestimmen nun das Bild. Dass sich die Imagination von Istanbul als Serail in das kulturelle Gedächtnis der Mitteleuropäer eingeschrieben hat ist Großteils ein Verdienst der Theaterautoren, Librettidichter, und Schriftsteller des 17. bis 19. Jahrhunderts, denn sie waren »die unbestrittenen Besitzer der Sprache«5 wie wiederum Roland Barthes es ausdrückt. Viele erfolgreiche Dramatiker hatten zumindest ein Stück mit Setting in Istanbul oder in einem anonymen orientalischen Serail im Repertoire. Dabei wir haben es mit einem besonderen Phänomen zu tun: die Imagination ist vorherrschend, denn nur wenige Autoren waren je selbst in dieser Stadt, und falls sie es doch nach Istanbul schafften, dann aber nicht bis an jenem Ort der beschrieben wird, nämlich dem Serail, und noch weniger bis in den Harem. Im Weiteren kam es zu einer diffusen Vermischung der Begriffe Serail und Harem.
5
Roland Barthes, »Schriftsteller und Schreiber«, in: ders. Am Nullpunkt der Literatur/Literatur oder Geschichte/Kritik und Wahrheit, Frankfurt am Main 2006 (orig.: 1960), S. 101.
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Der Begriff Harem bezeichnet traditionell die Gemächer der Frauen und Kinder in einem arabischen wie auch osmanischen Haushalt. Diese konnten sich in einem Palast befinden, aber auch in jedem anderen Haushalt. Sie waren für Fremde, insbesondere Männer, nicht zugänglich. Wie alles Verborgene reizt dies die Fantasie. In der europäischen Dichtung wurden daraus vor allem Orte der Vielweiberei, der Lustfantasien und Palastintrigen. Dazu gesellte sich noch die etymologische Verwirrung, indem der Begriff Harem mit Serail, dem Palast selbst, dessen Teil er war, gleichgesetzt wurde. Während einige Autoren kein Hehl aus ihrer dichterisch-schöpferischen Arbeit machten, waren andere hingegen auffällig bemüht darauf hinzuweisen eine »wahre« Geschichte zu erzählen. Zu diesem Zwecke wurden Augenzeugenberichte, neueste Geschichtswerke, und vor allem auch Reisebeschreibungen als Quellen angegeben um dadurch historische Korrektheit vorzutäuschen. Als Beispiel sei hier einer der bekanntesten französischen Autoren des 17. Jahrhunderts erwähnt, Jean Racine, der im Vorwort zu seiner Tragödie Bajazet (1672) versucht über mehrere Ecken eine direkte Linie von einem Augenzeugen, welcher tatsächlich vor Ort in Istanbul war, bis zu ihm, dem Autor, zu ziehen. Im Vorwort zum Stück schreibt Racine: »Monsieur le Comte de Césy estoit alors Ambassadeur à Constantinople. Il fut instruit de toutes les particularitez de la mort de Bajazet; & il y a quantité de Personnes à la Cour qui se souviennent de les luy avoir entendu conter, lors qu’il fut de retour en France. Monsieur le Chevalier de Nantoüillet est du nombre de ces Personnes. Et c’est à luy que je suis redevable de cette histoire […]«6 (›Der Comte de Césy war zu jener Zeit [Anm. der Handlung] Botschafter in Konstantinopel. Er war über den Tod Bajazet’s in all seinen Einzelheiten unterrichtet; und es gibt eine Anzahl von Personen bei Hofe die sich daran erinnern ihn gehört zu haben wie er diese nach seiner Rückkehr nach Frankreich erzählt hat. Der Chevalier de Nantouillet ist eine dieser Personen, und ihm verdanke ich diese Geschichte, […].‹)
Wenn man schon nicht wie Racine behaupten konnte einen Gewährsmann zu haben, der wiederum jemanden kennt, der dabei war, welche Quellen standen den Autoren zur Verfügung? Die deutschsprachigen Dramatiker haben sich unter anderem auf folgende Reiseberichte und Schriften bezogen:
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Vgl. Jean Racine, Bajazet. Tragedie, Paris 1672, s.p.
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die Berichte von Ogier Ghiselin de Busbecq (1522-1592), Habsburger Botschafter in Konstantinopel von 1555-1562; von ihm waren bereits 1582 die sogenannten Türkischen Briefe7 zuerst auf Latein und bald darauf auch auf Deutsch erhältlich; Madeleine de Scudéry’s (1607-1701) einflussreiche Novelle Ibrahim oder Der durchleuchtige Bassa (1645 in deutscher Übersetzung erschienen und danach oftmalig nachgedruckt)8; die Schriften des Orientreisenden Jean-Baptiste Tavernier (1605-1689): Nouvelle relation de l'interieur du Serrail du grand Seigneur, 1675 9 und Beschreibung der sechs Reisen, welche Johan Baptista Tavernier, Ritter u. Freyherr von Aubonne ... in Türckey, Persien und Indien, innerhalb 40 Jahren ... verrichtet (etc.), 168110; Paul Rycauts (1629-1700) Geschichtsbücher The Present State of the Ottoman Empire, 1668; The History of the Turkish Empire, 1680; The History of the Turks, 1700;11 auf Deutsch: Die neueröffnete Ottomanische Pforte, 1694;
Ogier Ghiselin de Busbecq, Itinera Constantinopolitanum et Amasianum et de re militari contra Turcas instituenda consilium, Antwerpen 1582, deutsch: Vier Sendschreiben der türkischen Botschaft […], Nürnberg 1664 (1596).
8
Madeleine de Scudéry, Ibrahims oder Des durchleuchtigen Bassa und Der beständigen Isabellen Wunder-Geschichte, Amsterdam 1645; Nachdruck von Johann Franz, Zweybrücken 1665 und 1667.
9
Jean-Baptiste Tavernier, Nouvelle relation de l'interieur du Serrail du grand Seigneur Contenant plusieurs singularitez, qui jusqu'icy n’ont point este mises en lumiere. Paris 1675.
10 Jean-Baptiste Tavernier, Beschreibung der sechs Reisen, welche Johan Baptista Tavernier, Ritter u. Freyherr von Aubonne ... in Türckey, Persien und Indien, innerhalb 40 Jahren ... verrichtet (etc.), Genf 1681; Original: Jean-Baptiste Tavernier, Les six voyages, qu'il a fait en Turquie, en Perse, et aux Indes, pendant l'espace de quarante ans ... accompagnez d'abservations particuliers sur la qualite, la religion, le gouvernement, les coutumes et le commerce de chaque pais. Paris 1676. 11 Paul Rycout, The Present state of the Ottoman Empire, containing the maxims of the Turkish politie, the most material points of the Mahometan religion, their sects and heresies, their convents and religious votaries, their military discipline, with an exact computation of their forces both by land and sea, illustrated with divers pieces of sculpture, representing the variety of habits among the Turks, London 1668; The History of the Turkish empire from the year 1623 to the year 1677 containing the reigns of the three last emperours, viz., Sultan Morat or Amurat IV, Sultan Ibrahim, and Sultan Mahomet IV, his son, the XIII emperour now reigning, London 1680; The Histo-
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Historia oder Beschreibung Von dem jetzigen Zustand Deß Ottomannischen Reichs…, 167112; Aaron Hills (1685-1750) A full and just account of the present state of the Ottoman Empire in all its branches, 170913.
All den westlichen Reisebeschreibungen von Istanbul und seinem Serail ist jedoch eines gemeinsam - die Verfasser konnten nicht an jenen Ort vordringen, wohin sie am liebsten gelangen wollten: in den sagenumwobenen Harem, die verbotenen Frauenquartiere. Ein findiger Autor wie Aaron Hill half sich aus der Verlegenheit indem er über fünfzehn Seiten seines Reiseberichts A full and just account… beschrieb wie die Türen dieses »labyrinth of pleasure« für ihn verschlossen blieben. Diese Türen öffneten sich erst im 20. Jahrhundert, am Ende des Osmanischen Reiches. Erst nach der endgültigen Auflösung des Harems im Jahre 1909 wurde beispielsweise der Grundriss der Frauengemächer im Topkapi Palast öffentlich zugänglich gemacht.14 Die erste westliche Person die tatsächlich im Harem des Istanbuler Serails gewesen ist, war Lady Mary Wortley Montague (1689-1762), die als Begleiterin ihres Mannes Edward, des britischen Botschafters an der Pforte, von 1716 bis
ry of the Turks Beginning with the year 1679. Being a full relation of the last troubles in Hungary, with the sieges of Vienna, and Buda, and all the several battles both by sea and land, between the Christians, and the Turks, until the end of the year 1698, and 1699. In which the peace between the Turks, and the confederate Christian princes and states, was happily concluded at Carlowitz in Hungary, by the mediation of His Majesty of Great Britain, and the States General of the United Provinces, Londres 1700. 12 Paul Rycaut, Die neu eröffnete Ottomannische Pforte, bestehend in einer Beschreibung des gantzen Türckischen Staats- und Gottesdiensts aus Ricaut's in englischer Sprache verfaßten Buch und Giovanni Sagredo's ausführlichen Histori der vornehmsten Geschichten aller ottomannischen Monarchen.. Augsburg 1694-1701 (2 Bände); Historia oder Beschreibung Von dem jetzigen Zustand Deß Ottomannischen Reichs : In sich haltend/ Die Politische Staats-Regeln der Türcken ... Ihre Militarische Disciplin und Kriegs-Recht .. Frankfurt 1671. 13 Aaron Hill, A full and just account of the present state of the Ottoman Empire in all its branches... London 1709. 14 Vgl. Nina Traut, »Fantasies of the Harem in European Portraiture of the Baroque Period«, in: Michael Hüttler, Hans Ernst Weidinger (Hg.), Ottoman Empire and European Theatre. Vol.3 – Seraglios and Harems (in Druck).
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1718 in Istanbul gelebt hatte. Ihr wurde die außergewöhnliche Ehre zuteil, von Sultana Hafise eingeladen zu werden, mit ihr gemeinsam die nur für Frauen zugänglichen Bereiche im Palast zu besuchen, darunter auch das Hamam, das Bad. Lady Montague hat darüber in ihren Briefen aus dem Orient, erschienen posthum 1763 (Deutsch 1764), ausführlich berichtet.15 Dies ist der erste echte westliche Augenzeugenbericht aus dem Harem. Alles was vor diesem Datum in Europa darüber geschrieben wurde – und vieles danach – war erfunden, eine reine Männerphantasie. Nachfolgend einige Stückbeispiele, die Istanbul, das Serail oder den Harem entweder als rein imaginierten Ort oder bemüht historisch korrekt präsentieren. Charles Simon Favart: Les Trois Sultanas. Paris 1761 Charles Simon Favarts (1710-1792) französische opera-comique Soliman second ou Les trois sultanes (Premiere Paris 1761)16 war in Frankreich sowie in der Folge auch in zahlreichen Übersetzungen in vielen europäischen Ländern überaus beliebt und erfolgreich. Das Original wie auch die fremdsprachigen Adaptionen sind ein ganz besonders typisches Beispiel für die verformende Imagination in Bezug auf Istanbul. Die Handlung von Soliman II ist jeweils im Harem eines türkischen Regenten angesiedelt, wo schöne Frauen verschiedenster europäischer Nationalitäten mit den unterschiedlichsten Mitteln um die Gunst des Sultans, und damit um das Privileg Favoritin oder gar Sultanin zu werden, wetteifern. Diesen Plot gibt es in den mannigfachsten Varianten, und je nachdem ob ein französischer, deutscher oder österreichischer Dramatiker am Werke war, haben die jeweiligen Haremsdamen unterschiedliche Nationalitäten mit ihren jeweils zugeschriebenen Eigenschaften.
15 Vgl. Marie Worthley Montague, »Neununddreißigster Brief«, in: Briefe der Lady Marie Worthley Montague, während ihrer Reisen in Europa, Asia und Afrika an Personen vom Stand, Gelehrte, in verschiedenen Theilen von Europa geschrieben; welche außer anderen Merkwürdigkeiten Nachrichten von der Staatsverfassung und den Sitten der Türken enthalten; aus Quellen geschöpft, die für andere Reisende unzugänglich gewesen. Leipzig 1764, S. 184-196. 16 Charles Simon Favart, Soliman second ou Les trois sultanes, Paris 1763 (in: Théâtre de M. Favart, tome 4). Favart wiederum hat seine Geschichte von Jean-Francois Marmontel’s Erzählung Soliman II aus dessen Contes moraux (1761) übernommen.
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Anonym: Solimann der Zweite oder Die drey Sultaninnen Die erste, anonyme, deutsche Übersetzung durch kam 1765 unter dem Titel Solimann der Zweite oder die drey Sultaninnen heraus, weitere Auflagen folgten 1770 in Wien und 1777 in Münster.17 Die Übersetzung wird Karl Starke sowie Rudolf Erich Raspe zugeschrieben. Dabei handelt es sich um eine fast wörtliche Übertragung aus dem französischen des Charles Simon Favart. Hier ist das Setting, wie bei Favart »zu Constantinopel in dem Serail des Sultans« angesiedelt, auch wenn die Handlung hauptsächlich im Harem spielt. Angelehnt an das französische Original liegt der Fokus auf den philosophischen Diskursen über aufgeklärtes versus autoritäres Verhalten. In den männlichen Rollen finden sich Soliman II, »Türkischer Kaiser«, und Osmin Kislar Aga, »Obrister der Verschnittenen«. Der Harem mit all seinen Frauen wird als Ort des weiblichen Chaos dargestellt. Osmin hat hart zu kämpfen um die Ordnung aufrecht zu erhalten und klagt: »sie streben alle zugleich nach der Ehre einer Favorit-Sultanin, und sie machen so viele Cabalen, Verwirrungen, Plaudereyen; kurz es ist ein Lerm…«18 In den weiblichen Rollen finden sich Elmira, eine Spanierin - sie ist ehrgeizig und schmeichelnd, und gleichzeitig falsch und berechnend: »Soliman oder den Tod. Der Ehrgeiz ist meiner Liebe gleich.«19; die »Circasserin« Delia, sie ist eine schöne Sängerin und Tänzerin, aber ständig ängstlich und eingeschüchtert; sowie Roxelane, die Französin. Sie ist frech aber ehrlich und beharrt darauf dass die Liebe Freiheit erfordert.20 Die Figur der Roxelane ist eine Referenz an die historische Hurrem (ca.15061558), oder Roxolana, wie sie im Westen genannt wurde. Geboren als Alexandra Lisowska stammte sie ursprünglich aus der heutigen Ukraine. Als Mädchen wurde sie von Tartaren verschleppt und als Sklavin an den osmanischen Hof verkauft. Dort wurde sie die Favoritin des Sultan Süleyman I., genannt der Prächtige (1494-1566) und schließlich sogar seine offizielle Frau. Darüber hinaus wurde sie seine Beraterin und mischte sich aktiv in das politische Tagesge-
17 Anonym, Solimann der Zweyte, oder die drey Sultaninnen, ein Lustspiel in drey Handlungen. Aus dem Französischen des Herrn Favart. Übersetzt von St., s.l., s.p., 1765; Anonym, Solimann der Zewyte oder die drey Sultaninnen. Ein Lustspiel in drey Handlungen. Aus dem Französischen des Herrn Favart übersetzt, Wien 1770; Anonym, Solimann der Zewyte oder die drey Sultaninnen. Ein Lustspiel in drey Aufzügen. Aus dem Französischen des Herrn Favart übersetzt, Münster 1777. 18 Anonym, 1777, S.8. 19 Ebd., S.66. 20 Vgl. ebd., S. 87.
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schehen ein, alles bis dahin unerhörte Traditionsbrüche. Die Berichte darüber machten sie auch in Europa berühmt und zu einer Figur der Literatur. Das Stück endet mit der Auflösung des Harems durch Roxelane und ihrer Krönungszeremonie. Damit wird auf der Bühne am Ende eine Ordnung nach Europäischen Vorbild hergestellt. Franz Xaver Huber: Soliman der Zweite oder Die drey Sultaninen. Wien 179921 Ein paar Jahre später kam eine österreichische Adaption des Librettos heraus, und zwar von Franz Xaver Huber (1755-1814). Das Singspiel mit dem gleichen Namen hatte am 1. Oktober 1799 im Wiener Kärntnertortheater mit der Musik von Franz Xaver Süßmayer (1766-1803) 22 Premiere. Das Stück war äußerst erfolgreich, mit zahlreichen Aufführungen nicht nur in Wien und Baden, sondern auch in Salzburg, Prag, Bremen und Budapest. 23 Huber interessiert sich weniger für die philosophische Seite, sondern fokussiert stärker auf die fantastische Haremswelt. Bereits die erste Szene auf der Bühne ist im Harem angesiedelt und zeigt einen Streit zwischen Odalisken, den Haremsdamen, der sich nur darum dreht welche von ihnen die schönere sei und wer als Favoritin des Sultans erfolgreich sein werde. Statt der Französin Roxelane ist hier die Hauptperson jedoch eine deutsche Frau namens Marianne. Sie hat aber die gleichen Eigenschaften wie Roxelane, denn sie ist, wie Osmin, der
21 Franz Xaver Huber, Soliman der Zweite oder Die drey Sultaninen. Ein Singspiel in zwey Aufzügen. Wien 1799. 22 Franz Xaver Süßmayr war ein Freund von Wolfgang Amadeus Mozart und ab 1794 Kapellmeister am Kärntertortheater. Obwohl seine Stücke im späten 18. Jahrhundert sehr populär waren ist er heute im Besonderen dadurch in Erinnerung dass er nach dem Tode Mozarts dessen Requiem (KV 626) fertigkomponiert hatte. 23 Nach der Premiere wurde es noch 19 weitere Male am Kärntnertortheater aufgeführt, sowie
»twenty-four times in the Nationaltheater, and fifteen times in the Theater an
der Wien, and it enjoyed further performances in the Theater in der Leopoldstadt in Vienna, in Baden bei Wien, in Salzburg, Prague and Bremen. Remarkably, the performances in the theaters of Budapest, which at that time was still split into two cities, outnumbered those in the Viennese court theaters with twenty-nine performances in Ofen and thirty-eight in Pest.« Vgl. Erich Duda, »Franz Xaver Süßmayer’s Sinfonia Turchesca (Vienna 1784/87), Il Turco in Italia (Prague 1794), and Soliman der Zweite (Vienna 1799)«, in: Michael Hüttler, Hans Ernst Weidinger (Hg.), Ottoman Empire and European Theatre, Vol. 1 – The Age of Mozart and Selim III, Wien 2013, S. 545546.
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oberste Haremswächter, bitter bemerkt: »… wild, leichtsinnig, und stolz wie der Teufel. Sie spottet über alles, lebt ohne den geringsten Zwang, und fühlt kein größeres Vergnügen, als wenn sie mich vor Galle rasend machen kann.«24 Am Ende des Plots steht keine Krönungszeremonie wie bei Starke sondern in Hubers Adaption weist Marianne die Krone zurück, denn »Mich zur Herrscherin zu ernennen, Ist, was Dein Gesetz verbeut«25. Am Ende wird sie dennoch vom Mufti und dem Großvezir auf den Thron gehoben. Die Deutsche Frau wird als zurückhaltend und respektvoll präsentiert. Die politische Aktion geht ausschließlich von den Männern aus. Dies ist vermutlich eine Konzession an die politische Lage in Österreich und Deutschland jener Zeit. 1799 war die Französische Revolution bereits 10 Jahre alt und ein österreichischer Zensor würde es wahrscheinlich nicht gestattet haben, dass auf der Bühne eine Frau aus der Unterschicht selbständig und gegen das Gesetz erfolgreich den Thron besteigt. August von Kotzebue: Der Harem. Wien, 181126 Eine weitere Adaption desselben Themas wurde 1811 von August von Kotzebue (1761-1819) präsentiert. Der Dramatiker schuf ein Lustspiel das bereits im Titel eindeutig darauf hinweist, was die Besucher erwartet: Der Harem. In dieser neuerlichen Adaption ist der letzte Rest von aufklärerischer Philosophie verschwunden, der Fokus ist ausschließlich auf die Liebes-Ränke der Haremsdamen gerichtet. Die Frauen sind unentrinnbare Gefangene des Harems und seines Gartens, buchstäblich auf jeder Seite von Gittern umgeben.27 Als konservativer Populist erlaubte Kotzebue nicht dass eine bürgerliche Frau aus eigenen Antrieb erfolgreich die Macht erringt, nicht einmal dass sie – wie in Hubers Version - von Mitgliedern der regierenden Klasse auf den Thron gesetzt wird. Im Gegenteil, die Frau im Stück hat überhaupt keine politische Stellung. Obwohl selber Deutscher ist seine Hauptfigur, die Haremsdame Arabelle, keine Deutsche, auch nicht Französin wie im Original, sondern Engländerin. Der Autor wollte wohl von vornherein auf der Bühne jede Verbindung mit revolutionärem Gedankengut vermeiden. Kotzebues Stücke waren zu seiner Zeit extrem beliebt, nicht nur in Deutschland und Österreich, sondern auch in vielen nicht deutschsprachigen Ländern
24 Huber, S. 11f. 25 Huber, S. 88. 26 August von Kotzebue, Der Harem, Wien 1811. 27 »Der Schauplatz ist ein Garten, von den Gebäuden des Harems umgeben. Man erblickt an jeder Seite drey Gitterthüren, welche zu den Wohnungen von Mustapha’s Weibern führen.«, vgl. Kotzebue, Der Harem, ebd., s.p.
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Nord- Ost- und Südosteuropas. Er verfasste ungefähr 220 Stücke und war der bei weiten meistgespielte deutsche Dramatiker des frühen 19. Jahrhunderts.28 Kotzebue wusste genau was er schreiben musste um den Publikumsgeschmack zu bedienen. Ironischer Weise wurde er von einem radikalen deutschen Burschenschafter, Karl Ludwig Sand, 1819 als Vaterlandsverräter und Volksverführer ermordet. Diese Tat liefert dem österreichischen Außenminister Metternich den Vorwand für die Einschränkung der Pressefreiheit und die Überwachung der Universitäten (Karlsbader Beschlüsse, 1819). Murad Efendi: Selim der Dritte. Wien, 1872 Ein Autor der auf historisch korrekte Darstellung großen Wert gelegt hat war Murad Efendi (1836-1881). Sein Trauerspiel Selim der Dritte (1872)29 ist eines der wenigen Stücke die nicht nur im Harem spielen, sondern, wie der Autor in den Regieanweisungen penibel vermerkt »…am Bazar… im Serail …im kaiserlichen Harem … im Thronsaal des Serails«30. Der Inhalt dreht sich um den Kampf des reformorientierten Sultan Selim III gegen die konservativen Kräfte, die ihn mit Unterstützung der Janitscharen stürzen wollen. Der Verfasser, Murad Efendi, war trotz dieses schönen türkisch klingenden Namens Österreicher, geboren als Franz von Werner 1836 in Wien. Von Werner trat während des Krim Krieges 1853-56 in die Dienste der Osmanen und machte dann im osmanischen diplomatischen Dienst eine erstaunliche Karriere.31 Von Werner war akribisch bemüht in seinen Schriften und Stücken ein historisch akkurates Bild des Osmanischen Reichs zu zeichnen, mit pädagogischem Ansatz, um so verschiedensten Mythen über die türkischen Verhältnisse, mit denen er aus eigener Erfahrung bestens vertraut war, entgegenzutreten. Nicht nur die
28 »In einer Liste der gespielten Schauspielautoren des Mannheimer Hof- und Nationaltheaters für den Zeitraum von 1779 bis 1870, also für annähernd ein Jahrhundert, steht Kotzebue mit 1.870 Aufführungen an erster Stelle, weit vor Schiller mit 486 und Iffland mit 463 Vorstellungen, während Goethe erst an vierzehnter Stelle mit 181 Aufführungen erscheint.« Cf. www.augustvonkotzebue.de (Zugriff: 1.2.2011). 29 Murad Effendi, Selim der Dritte, Trauerspiel in fünf Acten, Wien 1872. 30 Vgl. Murad Efendi, ebd., s.p. 31 Als Diplomat im Außenministerium wurde er Sekretär von Groß-Vezir Mehmed Küprisli Pasha (1810-1871) und ging im politischen Machtzentrum der Osmanen, im Serail, ein und aus. Später wurde er osmanischer Konsul und Generalkonsul in Temeswar, Venedig, Dresden und Den Haag. Neben seiner diplomatischen Tätigkeit war Murad Efendi auch Dichter: er schrieb sechs Tragödien und vier Komödien, sowie mehrere Gedichtbände und eine Reihe von Essays.
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politischen Ereignisse sondern auch Bühnenbild und Kostüme sollten möglichst historisch korrekt dargestellt werden. So werden beispielsweise im Anhang seines gedruckten Textbuches von 1872 die richtigen Stoffe und das korrekte Aussehen der Kostüme beschrieben, ebenso wie Angaben über die richtige Aussprache von türkischen Wörtern und Namen gegeben. Das Stück wurde 1872 im Hofburgtheater uraufgeführt und vom Publikum sehr wohlwollend aufgenommen. Ein großer Teil des Publikumserfolges war trotzdem nicht dem volksbildnerischen Ansatz sondern dem exotisch orientalischen Setting – mit prächtigen türkischen Kostümen, aufwändig nachgebauten Basar und Palastzimmern – geschuldet, wie aus den zeitgenössischen Kritiken hervorgeht.32 *** Zusammenfassend lässt sich die These aufstellen: Es gibt kaum eine Stadt die in der Theater- und Librettidichtung häufiger vorkommt als Istanbul. Gleichzeitig aber wird dieser Ort bis ins 19. Jahrhundert hinein Großteils imaginiert dargestellt, da die meisten derjenigen die literarisch darüber berichteten niemals vor Ort waren. Das Interesse der Autoren lag selten an der Stadt als solcher, sondern fokussierte sich auf einen ganz bestimmten, weil schwer zugänglichen, daher fantastisch aufgeladenen Ort innerhalb dieser Stadt, der oft auch stellvertretend für die Stadt selbst stand: dem Serail. Innerhalb dessen wiederum liegt der Fokus auf einem weiteren, noch weniger zugänglichen, und daher noch fantastischeren Ort: dem Harem. Alle drei Einheiten – Harem, Serail, Stadt Istanbul – standen und stehen oft auch heute noch synonym zu einander. Geformt wurde das Bild der Stadt – so wie es heute im kulturellen Gedächtnis des Europäers vorhanden ist – von den Autoren des 17. bis 19. Jahrhunderts.
32 Vgl. Caroline Herfert, »›German Poet and Turkish Diplomat‹: Murad Effendi, Ottoman Consul in Temesvár, and the Tragedy Selim III.«, in: Michael Hüttler, Hans Ernst Weidinger (Hg.), Ottoman Empire and European Theatre, Vol. 1 – The Age of Mozart and Selim III, Wien 2013, S. 795- 819.
Prag am Cover Überlegungen zur Wahrnehmung von Stadtbildern für den Musikmarkt R ICHARD K URDIOVSKY
Schallplatten- und CD-Covers sind Verpackungen von Konsumgütern, die gemäß den Vorstellungen der Markwirtschaft möglichst zahlreich verkauft werden sollen. Verkauft wird ein sehr immaterielles Produkt, nämlich Musik, und nicht eigentlich das Cover, das aber im Geschäft als einziges Signal für die Konsumierenden sichtbar ist – und dementsprechend kaufentscheidend wirken kann. Das Cover dient nicht nur als schützende Verpackung, sondern vor allem als Blickfang, der schnell les- und interpretierbare Informationen zum verpackten Inhalt bieten und Assoziationen zum Produkt wecken soll (»It’s the package that sells«).1 Diese Informationen können schriftlich übermittelt werden, beispielsweise als Angaben zu Interpret/innen, Komponist/innen, Werk etc., und setzen dementsprechendes Wissens seitens der Konsumierenden voraus. Oder sie können bildlich vermittelt werden, beispielsweise um Assoziationen, Emotionen etc. hervorzurufen, die den Kauf beeinflussen sollen. Für diese Informationsvermittlungen wichtig ist die allgemeine Erkenn- und Identifizierbarkeit des musikali-
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Horst Kothgasser, Das Schallplattencover. Ein Beitrag zur kunstpädagogischen Aufarbeitung der Funktionen und Bildwelten des Mediums Schallplattencover, Dipl. art., Hochschule für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz, Linz 1988, S. 45–61; Matthias Eckart, Beziehungen zwischen Inhalt und Verpackung von Klassik-Cd’s am Beispiel Arnold Schönbergs »Verklärte Nacht«, Dipl. art., Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien, Wien 1997; Michaela Gremsl, The Image of Images: Myths on CD Covers. A Semiotic Analysis, Dipl. phil., Karl Franzens-Universität Graz, Graz 2007.
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schen Inhalts. Für die Wirkung des Konsumgutes wichtig ist der Signalcharakter nach Außen, der vor allem vom Cover ausgeht – schließlich handelt es sich nicht um Buchillustrationen, die eng mit dem Inhalt eines Produktes verbunden sind. Darüber hinaus kann oder soll die Bebilderung einer Tonträgerverpackung beim tatsächlichen Konsum der enthaltenen Musik als anregende Begleitung fungieren. Das im Folgenden präsentierte Material ist sehr subjektiv und keineswegs systematisch ausgewählt. Fragen nach den Produktionsbedingungen der Tonträgerhüllen, nach den Produktionsorten, die, gerade wo nationale Sichtweisen ins Spiel kommen, von entscheidendem Einfluss sind und die konkrete Bildauswahl wesentlich bestimmen können, und Fragen nach den Produktionszeiten, deren politische Verhältnisse die Gestaltung beeinflussen können, lassen sich mangels quellenbezogener Vorarbeiten hier nur anreißen. Es kann hier lediglich ein ausschnitthafter Blick auf das Phänomen gegeben werden, wenn Bild und Musik in einem Konsumprodukt zusammentreffen: Ausgehend von den InternetPräsentationen von Plattenlabels und von einzelnen Beispielen aus persönlichem Besitz liegt der Fokus auf Covers mit Ansichten der Stadt Prag. Bei den Typen der Darstellungen handelt es sich entweder um klassische Veduten bzw. Stadtfotografien, Abbildungen von Architekturen, die wegen ihrer unverrückbaren Ortsgebundenheit leicht als Synonym für einen bestimmten Ort gelesen werden können, und – erstaunlicherweise – um architektonische Details, die durch ihre Isolierung zwar keine eindeutigen und unmittelbaren topografischen Beziehungen herstellen, aber wohl nach wie vor einen Ort der Musik assoziieren lassen. Beim musikalischen Inhalt der betreffenden Produkte handelt es sich um Komponisten oder um Werke, die in einer Beziehung zu Prag stehen, seien die Werke für Prag geschrieben oder hier aufgeführt worden, handle es sich um tschechische Komponisten oder Interpretierende, über die sich ein nationaler Bezug zur Landeshauptstadt herstellen lässt. Was im Folgenden nur am Rand Berücksichtigung finden wird, sind nationalstaatliche oder stadtspezifische Bezüge, die über Sprache bzw. Text oder über die biografische Information des Portraits vermittelt werden. Gerade das menschliche Portrait von Komponist/innen oder Interpretierenden ist für den eigentlichen Inhalt eines Tonträgers ja ein viel wesentlicherer Informations-, Identifikations- und Assoziationsträger, der auch Aufschlüsse über den Stellenwert einer Komposition vermittelt. Im Fall einer Supraphon-CD mit Smetanas Má vlast von 19902 ist der symbolische Bezugspunkt zur Heimat und zu tschechischem Patriotismus über den Dirigenten, Rafael Kubelík, visuell und sprachlich herausgestrichen. Das Cover-Foto zeigt den dirigierenden
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Kubelík, entspricht also dem Typus des Interpreten-Portraits. Im Booklet wird – nach Bezugnahme auf die patriotisch-symbolische Bedeutung, die dem aufgeführten Werk und dem Dirigenten mit Bezug auf den Zeitpunkt der Aufführung und den der CD-Produktion beigemessen wird – über die sprachliche Vermittlung ein Bild geweckt, das sich unserem Thema nahtlos einfügt: »›Ich habe meine Heimat verlassen, um nicht mein Volk verlassen zu müssen‹. So pflegte Rafael Kubelík zu antworten, wenn er im Ausland danach gefragt wurde, warum er in der Tschechoslowakei nicht leben wolle. 41 Jahre lang trug er seine Heimat in seinem Herzen, und sie lebte in seiner Musik.«
Die Dramatik der Erzählung wird im Folgenden gesteigert, als die Rede auf Kubelíks Erkrankung im Sommer 1989 kommt; im Zug der Samtenen Revolution wendet sich die Erzählung dann ins Positive und thematisiert Kubelíks Rückkehr in seine Heimat: »Nun ist er tatsächlich zurückgekehrt. Mein Vaterland unter der Leitung von Rafael Kubelík hat das Festival Prager Frühling 1990 eröffnet. Unter dem Vyšehrader Felsenmassiv glitzerte die Moldau und in der Maisonne spiegelte sich die Hradschinsilhouette wider.« Mit diesen ein Bild (nämlich eine berühmte Stadtansicht Prags) beschreibenden Worten sind wir bei zentralen ikonografischen Bezugspunkten von »Prag am Cover« angelangt. Den Auftakt möchte ich mit einem Beispiel machen, das das bisher Gesagte quasi in Reinkultur zusammenfasst und abbildet: Bei der Deutschen Grammophon erschien 2002 eine Serie von Tonaufnahmen mit der aus Brünn gebürtigen und in der Tschechoslowakei ausgebildeten Sängerin Magdalena Kožená.3 Vom CD-Bildtypus her handelt es sich vordergründig um das InterpretierendenPortrait: Zu sehen ist eine Frau, bei der es sich offensichtlich um die in der Cover-Aufschrift genannte Interpretin handelt. Gleichzeitig werden mit dem Bildsujet lokale topografische Angaben verknüpft: Im Hintergrund ist der Altstädter Rathausturm zu erkennen, der einen örtlichen Bezug zu den übrigen Interpretierenden herstellt – wird Frau Kožená doch von der Prager Philharmonie begleitet. Darüber hinaus lassen die auf der CD enthaltenen Werke (u. a. die Arie Parto, ma tu ben mio aus Mozarts La Clemenza di Tito [K. 621]) ebenfalls einen star-
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Deutsche Grammophon CD 0289 471 3342 (2002) bzw.http://www.deutsche grammophon.com/de/cat/single?PRODUCT_NR=4713342 (Zugriff: 31. Juli 2013).
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ken, diesmal historischen Bezug zu Prag erkennen, fand die Uraufführung dieser für Leopold II. komponierten Mozart-Oper doch im September 1791 im Prager Stavovské divadlo statt. Der Bezug dieses einen Cover-Designs zur Stadt Prag ist damit ein vielfältiger und findet auf mehreren Ebenen statt: auf der Repertoire-Ebene, auf der Ebene der Interpretierenden und nicht zuletzt auf der bildlichen, die auch touristische Aspekte einschließt. Die Galerie-Seite des InternetAuftritts der Deutschen Grammophon erweitert das Spektrum nämlich auf mehr oder weniger alle topografischen Punkte Prags, die von touristischer Relevanz sind (Moldau, Teynkirche, Hradschin, Nationaltheater, St. Niklas auf der Kleinseite), ohne dabei auf dem zeitgenössischen Auge blind zu sein – wird Frau Kožená doch auch vor Frank O. Gehrys und Vlado Mileničs Tančící dům von 1994-1996 in Szene gesetzt. Wurden topografische Bild-Angaben im letzten Beispiel eingesetzt, um diverse nationale (und dabei auf Prag fokussierte) Gesichtspunkte zu unterstreichen, so illustrieren die Fotografien der nächsten CD-Serie offenbar biografische Lebensstationen – und berühren dabei auch die Stadt Prag. »The Mozart Collection«, ein 20 CDs umfassendes »Limited Edition Box Set« unter Beteiligung von Philips, Decca und Deutsche Grammophon,4 hebt am Titelbild der Serie sehr stimmig mit einer Ansicht der Stadt Salzburg als Geburtsort des Komponisten an. Die weiteren Cover-Fotos spulen diverse Lebensstationen Mozarts ab: Darunter befindet sich eine Ansicht der Prager Altstadt von der Karlsbrücke aufgenommen mit dem Altstädter Brückenturm, der Kuppel der Kreuzherrenkirche und der Salvatorkirche, also alles Gebäude, die zu Lebzeiten Mozarts bereits mehr oder weniger in der abgelichteten Form existierten – und alles passenderweise für die CD, die die Prager Symphonie Nr. 38 (KV504)5 enthält. Im Überblick der ganzen Serie wiegt aber der ästhetische Wert der Fotografien schwerer als ihr historischer Wert. So wird für die CD mit den Klavierkonzerten Nr. 20 und 236 das Parterre du Midi in Versailles abgebildet, das Mozart anlässlich seiner Aufenthalte in (und um) Paris wohl gesehen haben könnte. Die Wiener Karlskirche als Motiv der CD mit der Großen Messe in c-moll (KV427)7 ist nicht
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Deutsche Grammophon CD 0289 477 5756 6 (2005) bzw. http://www.deutsche grammophon.com/de/cat/single?PRODUCT_NR=4775756 (Zugriff: 31. Juli 2013).
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http://www.deutschegrammophon.com/de/cat/result?SearchString=4775746 (Zugriff: 31. Juli 2013).
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http://www.deutschegrammophon.com/de/cat/result?SearchString=4757050 (Zugriff: 31. Juli 2013).
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http://www.deutschegrammophon.com/de/cat/result?SearchString=4775754 (Zugriff: 31. Juli 2013).
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nur als Sakralraum ein nahe liegendes Bildthema für Sakralmusik, sondern der Kirchenbau lässt auch an Mozarts Lebenszeit in Wien denken. Für die CD mit der Haffner-Symphonie Nr. 35 (KV385) und der Linzer Symphonie Nr. 36 (KV425)8 wird dagegen ein Sujet gewählt, das weder in der dargestellten Person noch im abgebildeten Bauwerk einen Bestandteil von Mozarts Leben gespielt haben kann: Gezeigt wird das 1865 enthüllte Denkmal des Prinzen Eugen (gestorben 1736) vor dem Segmenttrakt der Neuen Burg, dem ab 1881 in Bau befindlichen Erweiterungsflügel der Wiener Hofburg. Außer dass es sich um ein in Wien befindliches Bildmotiv handelt, bestehen weder zeitliche noch thematische Beziehungen zu Mozart – diese nun offenbarte Beliebigkeit der Bildwahl findet allein in der gesamten grafischen Gestaltung der CD-Serie mit einfärbig getönten Reproduktionen eine ästhetische, aber keine inhaltliche Klammer. Doch wechseln wir zu jenen Covergestaltungen, die die Stadt Prag oder Teile von ihr dezidiert wiedergeben wollen. Zur Irritation gleich vorweg sei eine Supraphon-Produktion mit dem Titel »Wolfgang Amadeus Mozart in Prague« mit Jana Jonášová, Vlastimil Mareš und Libor Pešek von 19989 gezeigt. Vor glühend rotem Abendhimmel dominiert scherenschnittartig eine Silhouette das Bild, die zunächst nicht sofort identifizier- und lokalisierbar ist – aber immerhin lassen sich typisch städtische Architekturen ausmachen. Die abgebildeten Architekturelemente (die spezielle Ausformung der Dachlaternen als barocke Zwiebelhelme, die leicht geschwungen wirkenden Dächer mit Dachgaupen), vor allem aber die charakteristische Umrisslinie des Veitsturms am Hradschin (außerdem in Kombination mit einem Paar spitzer Türme) lässt den Ort, an dem dieses Foto entstand, allerdings bald klar werden. Wohl irgendwo in Prag muss es entstanden sein, weil es Architekturmotive zeigt, die als charakteristisch für diese Stadt gelten können, wohl vielen (auch nicht architekturhistorisch gebildeten) Touristen im Gedächtnis bleiben und damit die Assoziation mit gerade dieser Stadt ermöglichen.10 Die Lokalisierung hätte uns ja an und für sich schon der Titel der CD verraten; da aber auch das gezeigte Bild den Erwartungen an das architektonische Erscheinungsbild der Stadt entspricht, entstehen keine Zweifel an der Identifizierung des Dargestellten mit dem, was die Aufschrift am Bild vorgibt. Das
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http://www.deutschegrammophon.com/de/cat/result?SearchString=4775745 (Zugriff: 31. Juli 2013).
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Supraphon CD 3367-2 911 (1998) bzw.http://www.supraphon.com/en/catalogue /on-line-database/detail/?idtitulu=3438 (Zugriff: 31. Juli 2013).
10 Der Blick fällt auf die Dachlandschaft der St. Kastulus-Kirche (kostel svatého Haštala) in der Prager Altstadt. Beim Turmpaar handelt es sich um die beiden neugotischen Westtürme der Vollendung des Prager Veitsdoms nach dem Plan Josef Mockers.
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heißt, dass das Frontbild der CD in Kombination mit dem (nota bene in Englisch als lingua franca verfassten) Text eindeutig versteh- und identifizierbar geworden ist. Das gewonnene Verständnis bleibt zwar topografisch wenig präzise (wegen des formalen Charakters des Bildes als Scherenschnitt und wegen seines nicht leicht exakt lokalisierbaren Inhalts), aber es gestattet die atmosphärische Assoziation mit dem genius loci, der den unverwechselbaren Charakter einer bestimmten Stadt ausmacht. Die auf dem Tonträger enthaltenen Werke verstärken die Fokussierung auf Prag als einzig möglichem Bezugsort des ganzen Konsumprodukts: Die Oper Don Giovanni (KV527), deren Ouverture zu hören ist, wurde 1787 im Auftrag des Prager Impressarios Pasquale Bondini verfasst, die Arie Bella mia fiamma, addio (KV528) entstand im selben Jahr im Gartenpalais Bertramka für die Sängerin und Besitzerin dieses Hauses Josefa Dušková, ebenfalls 1787 fand die Uraufführung der Prager Symphonie in Prag statt, und das Klarinettenkonzert in A-Dur (KV622) erlebte hier 1791 seine Uraufführung. Zwar ohne exakten Erkennungswert werden an diesem Beispiel Ort, Musik und Komponist (und letztlich wohl auch Interpretierende) eng miteinander verbunden, wobei der geschriebenen Sprache die wesentliche lokale Informationsgebung zukommt. Als Objekte eindeutiger erkenn- und dementsprechend auf einen Blick fassbar sind komplette Architektureinheiten, beispielsweise ein ganzes Haus als Entität, das streng an seinen Bauplatz gebunden ist und dementsprechend eine Identifizierung mit dem Ort, an dem es sich befindet, erlaubt. Für CD-Covers, die für einen Musikträger gedacht sind, erweisen sich Gebäude mit musikalischer Nutzung sinngemäß als besonders geeignet. Eindeutig musikalisch konnotierte Orte bzw. Gebäude, die entsprechend häufig als Motive eines Covers genutzt werden, sind beispielsweise das Gräflich Nostitzsche Nationaltheater (Stavovské divadlo) am Obstmarkt (Ovocný trh), in dem Don Giovanni im Oktober 1787 uraufgeführt wurde. Als Beispiel sei hier eine Supraphon-CD genannt, die die Prager Fassung des Don Giovanni mit dem Prager Kammer Orchester unter Libor Pešek bringt.11 Dass das Ständetheater häufig als Cover-Motiv fungiert, verdankt es sicherlich seiner besonderen architektonischen Gestalt: Zum einen ist es mit seiner
11 Supraphon CD 3296-2 612 (1997) bzw.http://www.supraphon.com/en/catalogue/online-database/detail/?idtitulu=3516
(Zugriff: 31. Juli 2013). Ebenso gut eignete sich
eine Ansicht des Stavovské divadlo aber auch für das CD-Cover eines literarischen Hörbuchs, wurde dieses Theater doch 1783 mit Gotthold Ephraim Lessings Emilia Galotti eröffnet. Aus tschechischer nationalstaatlicher Sicht wiederum ist das Gebäude wegen Josef Kajetan Tyls Theaterstück Fidlačková bemerkenswert, da das Lied Kde domov můj?, die tschechische Nationalhymne, als Teil dieses Stücks hier uraufgeführt wurde.
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äußerst schlanken Tempelfront und ihren in sanftem Schwung ansetzenden einachsigen Seiten sowie wegen der einprägsamen Farbgebung sehr charakteristisch und unverwechselbar, zum anderen ist es in solchen überschaubaren Größenverhältnissen errichtet, dass es als Gesamtheit wahrnehm- und vor allem auch abbildbar ist. Die Bertramka der Familie Dušek dagegen bietet wegen ihrer vergleichsweise bescheidenen Gestalt kein so unverwechselbares Bild – zumal sich der Bau weitab der üblichen Touristenpfade im Prager Stadtteil Smíchov, einer im Barock beliebten Vorstadt mit zahlreichen Gartenpalais, befindet und sich der bildliche Wiedererkennungswert auf eine dementsprechend kleinere Konsumierendengruppe beschränkt. Immerhin dient die pittoreske Hoffassade mit der zweiarmigen Freitreppenanlage, dem Loggiengang und dem pavillonartig erhöhten Anschlussteil zum rückwärtigen Garten auf einer Einspielung von Klaviersonaten Mozarts mit Svatoslav Richter des Labels mulitSONic (Edition Prague Spring Collection, Historical Recording)12 als malerisches Covermotiv. Ein weiterer musikalischer Ort im Stadtzentrum Prags, wo ihm wesentlich größere Aufmerksamkeit zu Teil wird als der abgelegenen Bertramka, ist das nach Kronprinz Rudolf benannte Rudolfinum, heute Sitz der Tschechischen Philharmonie, das an einem zentrumsnahen Abschnitt des Moldaukais liegt. 1875–1885 nach Plänen von Josef Zítek und Josef Schulz erbaut, beherbergt es einen charakteristisch geformten Konzertsaal, dessen Anordnung der Sitzreihen in Segmentform auf die Vorstellungen Gottfried Sempers und Richard Wagners von der idealen Konzeption eines Auditoriums zurückgreift – was letztlich den segmentförmigen Schwung der Hauptfassade des Gebäudes bedingt. Auch das Rudolfinum findet als Bildmotiv auf Covers Verwendung, allerdings – möglicherweise wegen seiner ausgedehnten architektonischen Außenerscheinung – zum Beispiel in Form von Detailansichten.13 Eine Einspielung von Dvořák- und Suk-Serenaden für Streicher mit dem Suk Chamber Orchestra (Sukův komorní orchestr) bei Supraphon14 zeigt auf der Vorderseite eine dreiachsige Tempelfront, die als Schmuck einer Wand vorgelegt ist. Ein Foto des posierenden Kammerorchesters auf der Rückseite des Booklets erhellt die räumliche Situation: Bei der angesprochenen Tempelfront handelt es sich um das obere Ende einer zweiarmigen Freitreppe, die in einen, soweit man es am Foto erkennen
12 MultiSONic CD 31 0076-2 101 (1991). 13 Wie oft der Konzertsaal, dessen räumliche Konzeption wie kurz beschrieben architekturgeschichtlich besonders markant ist, als Bildmotiv für CDs tatsächlich verwendet wird, kann an dieser Stelle mangels einer systematischen Untersuchung nicht gesagt werden. 14 Supraphon CD 10 4136-2 031 (1992).
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kann, glasüberdachten Innenraum gestellt ist. Zugegebenermaßen ist Wissen nötig, um den beschriebenen Raum als Teil des Rudolfinums erkennen zu können. Darüber hinaus ist aber bemerkenswert, dass nicht der zentrale, große, mit der Aufführung von Musik verbundene Konzertsaal als Coverbild gewählt wurde, sondern der sogenannte »Kunsthof«, von dem die Freitreppe in den sogenannten »Votivraum« führt. Dabei handelt es sich um jene Räumlichkeiten im Rudolfinum, die nicht eigentlich dem Musikleben sondern den bildenden Künsten gewidmet waren und wo Prager Kunstvereine Ausstellungen veranstalteten – eine Nutzung und Bestimmung, die von Konsumenten der besagten CD, selbst wenn sie den betreffenden Innenraum identifizieren können, vorderhand sicherlich nicht assoziiert werden soll. Mit diesem Beispiel haben wir ein ikonografisches Phänomen berührt, das zur Bebilderung von CD-Covers häufig eingesetzt wird: das der bildlichen Verkürzung eines Gesamtzusammenhanges auf ein stellvertretendes Detail. Nicht die gesamte architektonische Einheit, das ganze Gebäude, wird abgebildet, sondern ein mehr oder weniger bekanntes oder optisch prägnantes (und dementsprechend wiedererkennbares) Detail. Nicht so sehr die Identifizierung eines konkreten, zum Beispiel mit Musik oder Musikaufführungen verbundenen Orts steht im Zentrum der grafischen Gestaltung. Die Intention ist offenbar, durch die Abbildung eine bestimmte Stimmung zu evozieren, die sich beim Hören der betreffenden Musik einstellen kann, oder eine bestimmte Eigenschaft der Musik zu charakterisieren. Neben institutionellen Verbindungen könnte das in unserem letzten Fall eine zeitliche Verortung der Musik sein: Antonín Dvořák und Josef Suk als Komponisten des 19. Jahrhunderts in einem synchronen Ambiente. Diese Verkürzungen geraten mitunter bis zur Beliebigkeit. Ein sehr sprechendes Beispiel ist eine Mozart-Edition von Philips, die »Complete Mozart Edition«, für die charakteristischerweise durchwegs sehr eng gefasste Bildausschnitte gewählt wurden. Weder der Zusammenhang der architektonischen Details mit dem Rest der Architektur lässt sich ablesen, noch der topografische mit der Umgebung, in der sich die Architektur befindet. Die Fotografien wirken als Abkürzungen von Architekturen, die wegen ihrer schon erwähnten Ortsgebundenheit einen Bezug zu Orten des Musiklebens vermuten lassen, aber kaum Möglichkeiten bieten, diese als solche zu erkennen. Unser mittlerweile geschultes Auge erkennt am Cover der CD »Middle Italian Operas«15 zwar das Gebälk der Vorderfront des Stavovské divadlo (rechts die angeschnittene
15 Philips CD 0289 464 9102 7 (2000) bzw. http://www.deutschegrammophon.com/ de/cat/single?sort=newest_rec&PRODUCT_NR=4649102&SearchString=middle+ital an+operas&UNBUYABLE=1&per_page=50&ADD_OTHER=1&flow_per_page=50 &presentation=flow (Zugriff: 31. Juli 2013).
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Tempelfront, links der einschwingende Fassadenteil); eine Person aber, die weder den Ort, die Stadt Prag, noch Abbildungen des betreffenden Theaters kennt, kann keine Ortsassoziation herstellen – nicht einmal eine mit dem Bautypus, der für die auf der CD enthaltene Opernmusik dient. Für »Volume 1« der Violinsonaten, Streichduos und -trios16 wird sinnigerweise das recht bekannte Prager Hauszeichen des Hauses Zu den drei Geigen (U tří housle) verwendet, also wie schon im letzten Beispiel eine Verbindung zwischen der Cover-Darstellung und dem musikalischen Inhalt der CD angestrebt. Bei beliebig herausgenommenen weiteren Covers dieser Edition aber entfällt neben dem Ortsbezug auch jeglicher Bezug auf die Musik: »Volume 4« der Symphonien17 erhält als Bildmotiv eine extrem untersichtige Aufnahme eines barocken Portals, »Volume 2« der »Dances. Marches«18 bringt die Untersicht eines Kuppelinnenraums und »Volume 2« der »Piano Music«19 zeigt ein stark angeschnittenes ionisches Kapitell mit seiner Rücklage. So nebulos die Betitelung der einzelnen CDs ausfällt (ohne genauere Spezifikation des musikalischen Inhalts), so uneindeutig und beliebig ist die Wahl der Covermotive. Was immer die Wahl der Sujets im vorliegenden Fall bedingt hat, welche Gründe und Produktionsbedingungen immer das Unternehmen Philips bzw. die beschäftigten Grafiker oder Grafikerinnen bewogen haben mögen, so fällt im Überblick aller Covers dieser Serie auf, dass es sich durchwegs um Fotografien handelt, die nur in Prag hergestellt worden sein können.20
16 Philips CD 0289 475 7349 4 (2006) bzw. http://www.deutschegrammophon.com/ de/cat/single?sort=newest_rec&PRODUCT_NR=4757349&SearchString=violin+sont as&UNBUYABLE=1&per_page=50&ADD_OTHER=1&COMP_ID=MOZWO&flo w_per_page=50&presentation=flow (Zugriff: 31. Juli 2013). 17 Philips CD 0289 475 7324 1 (2006) bzw. http://www.deutschegrammophon.com/ de/cat/result?SearchString=ADD+0289+475+7324+1 (Zugriff: 31. Juli 2013). 18 Philips CD 0289 475 7331 9 (2006) bzw. http://www.deutschegrammophon.com/ de/cat/result?SearchString=ADD+0289+475+7331+9 (Zugriff: 31. Juli 2013). 19 Philips CD 0289 464 8502 6 (2000) bzw.http://www.deutschegrammophon.com/ de/cat/single?sort=newest_rec&PRODUCT_NR=4648502&SearchString=mozart+pia no+music&UNBUYABLE=1&per_page=50&ADD_OTHER=1&flow_per_page=50 &presentation=flow (31. Juli 2013). 20 Beim erwähnten Portal handelt es sich um das der Kajetaner-Kirche (kostel Panny Marie Matky ústavičné pomoci) in der Kleinseitner Nerudova (Sporrengasse), die erwähnte Kuppel überspannt den Innenraum der St. Josef-Kirche auf der Kleinseite (kostel svatého Josefa). Das ionische Kapitel dagegen ist eine derartige klassische Form, dass es an einer Vielzahl von Gebäuden vorkommen kann.
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Ein inhaltlicher Bezug zum Ort oder ein assoziativer zur Musik ist nebensächlich geworden, ein Cover braucht halt ein Bild. Die offensichtlichste Art, um eine Stadt auf CD-Covers bildhaft in Szene zu setzen, ist die Verwendung von Stadtpanoramen und Stadtansichten.21 Dabei gibt die konkrete Topografie einer Stadt die Möglichkeiten ihrer unverwechselbaren Abbildung vor – wie der Blick vom Pincio auf die Kuppel des Petersdoms die Abbreviatur der Stadt Rom meinen kann. Im Fall von Prag ist das beispielsweise der Blick vom Letná-Plateau auf die Moldaubrücken und die Prager Altstadt – eine ikonographische Tradition, die sich bis zu den frühneuzeitlichen Stadtansichten der von Georg Braun ab 1572 in Köln herausgegebenen Civitates Orbis Terrarum zurückverfolgen lässt.22 Im Fall einer Einspielung der Slawischen Tänze von Dvořák mit der Tschechischen Philharmonie unter Karel Šejna (erschienen bei Supraphonet)23 liegt der Fokus des Bildes ganz auf dem Fluss – das geschwungene Dach des Regierungsgebäudes im Vordergrund und die Gebäude der Altstadt sind weit weniger zentral ins Bild gesetzt als die zahlreichen Moldaubrücken und das viele Grün der Bäume, die sich bis hinauf auf den Petřín (Laurenzerberg) ziehen, also alles Elemente einer Landschaftstopografie. Die Moldau als stadtprägendes Element wird ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, und mit dem Wissen, dass sie in Prag bereits große Teile Böhmens durchflossen hat, lässt sich eine Parallele zu den Slawischen Tänzen als musikalische Charakterisierung des Landes ziehen – abermals steht ein pars pro toto. In die Nähe von Stadtpanoramen rückt auch eine Reihe weiterer Bildmotive für CD-Covers, die Veduten mit für die jeweilige Stadt »ikonischen« Orten verwenden. Mit diesen »ikonischen« Orten sind hier Orte in einer Stadt gemeint, die im Gegensatz zu musikhistorisch bedeutenden Orten wie der Bertramka als Symbol oder Zeichen der Stadt eingesetzt werden und stellvertretend, quasi als Synonym die Stadt repräsentieren können. Für diese »ikonischen« Orte entwickelt sich oft eine eigene ikonografische Tradition (z.B. ein bestimmter Blick-
21 Zur visuellen Vermittlung von Städten vgl. Ferdinand Opll (Hg.), Bild und Wahrnehmung der Stadt, Linz 2004: besonders: Ralph Andraschek-Holzer, »Österreichische Stadtansichten in der frühen Neuzeit« (S. 1-25), Ferdinand Opll, »Wiener Stadtansichten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (15.-17. Jahrhundert)« (S. 157-187), Bernd Roeck, »Die Säkularisierung der Stadtvedute in der Neuzeit« (S. 189-198). 22 Zu diesen historischen Stadtansichten sind auch die großen, querformatigen Stadtpanoramen Wenzel Hollars von 1636 oder der Sadeler-Prospekt von 1606/1618 zu zählen, die als Illustrationen für Buchumschläge oder Cover mit einem Bezug zur Stadt Prag eine große ikonografische Tradition besitzen. 23 Supraphonet CD 11 1101-2 011 (1989).
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punkt oder Blickwinkel auf bestimmte Gebäude oder Stadtteile), und diese Orte müssen einen hohen Bedeutungsgehalt und symbolischen Wert haben, weil sie sonst nicht als »ikonische« Orte allgemein erkennbar wären. Für Prag sind diese charakteristischen Punkte die bereits thematisierte Moldau, Bauwerke wie die Karlsbrücke oder der Hradschin im Westen der Stadt, der sich dementsprechend gut im Gegenlicht der untergehenden Sonne bildlich inszenieren lässt. Weil sie topografisch eng beieinanderliegen, lassen sich diese drei Punkte auch gut gemeinsam auf einem Bild zusammensetzen: von der Schedel’schen Weltchronik (1493), über Friedrich Bernhard Werners barocke Stadtansichten (1740) bis zu Veduten des Vormärz von Ludwig Ernst Buquoy (1830er Jahre). Als »ikonische« Orte handelt es sich bei den genannten auch um identitätsstiftende Objekte. Allen voran gilt der Hradschin mit der unverwechselbaren Silhouette des Veitsdoms und seines herausragenden Turms mit den vier zwiebelbehelmten Ecktürmchen als Symbol des tschechischen, böhmischen Königtums. Als Nationaldenkmal verstanden konnte der Hradschin als historische Residenz der böhmischen Könige und insofern als Sinnbild landespatriotischer Kontinuität das erwachende nationale Selbstbewusstsein des tschechischen Volkes ausdrücken – wie beispielsweise auf der Apotheose Prags von Karel Špillar am Mittelrisalit des Obecní dům am Rand der Prager Altstadt,24 wo bezeichnenderweise vor allem der Umriss des Domturmes erkennbar ist und nicht die mariatheresianischen, also habsburgischen Umbauten der eigentlichen Burg. Als im Mai 1868 die Grundsteinlegung des Národní divadlo am Moldauufer gefeiert wurde, wurden in den Festreden aufschlussreiche Verbindungen zwischen diesem schon namentlich national verstandenen Gebäude und der alten Burg hergestellt. In den Národní listy vom 16. Mai dieses Jahres wurde eine gedankliche Verbindung zwischen der Grundsteinlegung des Nationaltheaters und dem Wiederaufbau des als zerstört empfundenen tschechischen Staates gezogen und der Festredner Karel Sladkovský von der Partei der Jungtschechen zitiert: »hier, am schönsten Punkt im großartigen Panorama unseres goldenen Prags […] vis à vis der stolzen Residenz unserer ruhmreichen Könige« werde sich dereinst der Schatten des neuen Theatergebäudes auf der Moldau mit dem Schatten des Hradschin berühren.25 Der ab Dezember 1918 als Sitz des Staatspräsidenten eines neuen, souveränen Staates fungierende Hradschin stellte einen Kristallisa-
24 Roman Prahl, »Umĕní, mĕsto a národ v symbolické dekoraci. Umĕlecká výzdoba Obecního domu«, in: Svatošová, Ledvinka, Mĕsto a jeho dům, Prag 2002, S. 97-116. 25 Beilage zu Národní listy vom 17. Mai 1868 (zitiert nach Michaela Marek, Kunst und Identitätspolitik. Architektur und Bildkünste im Prozess der tschechischen Nationsbildung, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 155 und Anm. 324 und 325).
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tionspunkt nationaler Hoffnungen auf Eigenstaatlichkeit und freie Selbstbestimmung dar und bildete unter Tomáš Guerrick Masaryk als erstem Staatspräsidenten tatsächlich ein reales Machtzentrum. Dieses politisch codierte Bauwerk dient gemeinsam mit dem nicht weniger stark aufgeladenen Fluss und der Karlsbrücke als Cover-Bild einer CD aus der Reihe »Prague Spring Collection. Historical Recording«, die Bohuslav Martinůs Symphonien Nr. 1, 3 und 5 in einer Einspielung der Tschechischen Philharmonie unter Karel Ančerl26 enthält. Dass die politische Symbolkraft der besprochenen Objekte noch heute wirkt, lässt der Text des Booklets erkennen, in dem es heißt, dass der Dirigent »1968 […] nach den tragischen Augustereignissen das Emigrantenschicksal wählte« – abermals kann mit dem Motiv des Hradschin die gedankliche Verbindung an den Aufstand von 1968 und den seit 1989 »wiedererstanden« Staat hergestellt werden. Zu den Bildmotiven, die als (angesichts der Touristenströme mittlerweile wohl auch globalisierter) Bestandteil des kollektiven Bild-Gedächtnisses der Stadt Prag gezählt werden können – wobei betont werden muss, dass dabei unterschiedliche Spielarten der Interpretation je nach Zeit und politischer Einstellung möglich sind –, gehört der Blick von der Karlsbrücke auf die Kleinseite. Der Betrachtungsstandpunkt liegt oberhalb der westlichsten Bögen der Karlsbrücke und fällt über die beiden Kleinseitner Brückentürme auf Turm und Kuppel der St. Niklas-Kirche und idealiter auch noch auf den Hradschin mit dem Veitsdom dahinter. Schon im Vormärz ist dieses höchst pittoreske Bildmotiv weit verbreitet wie beispielsweise in den Stahlstichserien »deutscher« Städte Gustav Georg Langes, die in hohen Auflagen zwischen 1837 und 1859 in Darmstadt erschienen.27 Dieses Bildmotiv darf in keinem Buch über Prag an prominenter Stelle fehlen und findet sich beispielsweise in der fünften, in München und Brünn erschienenen Auflage von Oskar Schürers Buch Prag. Kultur, Kunst, Geschichte von 1943, also zur Zeit der deutschen Besetzung Tschechiens als »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren«. Die Vorstellung, dass dieses Bildmotiv für die Stadt Prag ganz allgemein steht und nicht etwa für eine als »deutsch« charakterisierte Stadt Prag, wie die erwähnte Publikation Schürers argwöhnen ließe, scheint dabei so stark zu wirken, dass dieses Motiv auch eine Schallplattenhülle der Supraphon mit einer Einspielung von Smetanas Má vlast (wieder
26 MultiSONic CD 31 0023-2 012 (1990). 27 Deutsche Städte und Landschaften. Ansichten aus dem alten Deutschland (Vorwort und Bilderklärungen von Fritz Werner; Die bibliophilen Taschenbücher Nr. 372), Dortmund 1983.
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einmal mit der Tschechischen Philharmonie unter Karel Ančerl)28 zieren kann, wo es nun über den Ton-Inhalt tschechisch codiert ist. Im Sinn einer Quintessenz Böhmens bzw. Tschechiens findet sich der »ikonische« Blick auf Prag mit Fluß, Brücke und Burg sehr zahlreich auf Einspielungen tschechischer Komponisten wie auf der Teldec-Produktion von Dvořáks Klavierquintett Nr. 81 und Klavierquartett Nr. 87 mit dem Panocha-Quartett und András Schiff29 oder einer Sammlung von Symphonien und Ouvertüren von Josef Mysliveček, interpretiert vom L’Orfeo Barockorchester unter Michi Gaigg und produziert von der CPO.30 Dass bei beiden CD-Covers die romantische Vorstellung von Prag im Vordergrund steht und nicht etwa eine topografisch exakte, beweist die Wahl der (identen) Bildvorlage: Der im Vordergrund befindliche Kreuzherrenplatz ist schon auf der historischen Vorlage topografisch ungenau als vergrößerter Garten des gleichnamigen Klosters wiedergegeben und nicht als der öffentliche Brückenkopfplatz, den er realiter darstellte. Aber es geht ja um das Bild der Stadt Prag, das wir in unseren Köpfen haben (sollen), und nicht um die realiter existierende Stadt.31 Historische Ansichten eignen sich (wohl auch aus Urheberrechtsgründen) besonders für Produkte, die in großen Stückzahlen vermarktet und verkauft werden sollen. Eine Gesamtausgabe von Dvořáks Werken bei Supraphon32 schmückt die Vorder- und teilweise auch Rückseiten der Booklets mit einer vormärzlichen Ansichtenserie Prags, die die architektonischen und topografischen Höhepunkte der Stadt vorstellt. Ausser dem Ort, der Landeshauptstadt Prag, in der Dvořák lebte und arbeitete, gibt es weder zeitliche Übereinstimmungen (Dvořáks Geburtsdatum 1841 liegt wohl deutlich nach dem Entstehungszeitpunkt der angesprochenen Ansichtenserie), noch stehen die abgebildeten Plätze in inhaltlichem Zusammenhang mit Dvořáks Leben und Schaffen – es sind einfach mehr oder weniger charakteristische Ansichten der Stadt Prag (Altstädter Ring, Kleinseitner
28 Supraphon LP 151 019/20 (1965). 29 Teldec CD 0630-17142-2 (1997). 30 CPO CD 3493478 (2004). 31 Zur über die reine Abbildung hinausgehenden Bedeutungsebene: Ulrike Schuster, Die Wahrnehmung der Stadt. Betrachtungen über Bild und Image der Grazer Stadtansichten im Laufe des langen achtzehnten Jahrhunderts, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 41 (2011), S. 13-48, besonders S. 14: »Sie [die Bilder] implizieren […] eine zusätzliche symbolische Ebene, die weit über das bloße Abbilden hinausgeht, denn sie wollen nicht einfach nur zeigen, was vorhanden ist, sondern auch darstellen, was man gerne vorzeigen möchte.« 32 Supraphon CD 11 1451-2 131 bis 11 1465-2 131 (1994-2002).
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Ring, Palais Černín am Hradschin, Villa Kinsky am Petřín etc.), die den einzelnen CDs auch beliebig zugeordnet sind. Wenn wie im letzten Fall eine deutliche Beliebigkeit in der Wahl von Bildmotiven zu bemerken ist, bei der nur ganz allgemeine und sehr oberflächliche Assoziationsketten mit dem musikalischen Inhalt der Tonträger beabsichtigt sind, so zielt eine weitere Kategorie von Cover-Gestaltungen über den topographischen Aspekt hinaus. Er wird bei aller Bedeutung, die er für die Lokalisierbarkeit nach wie vor besitzt, einem atmosphärischen Wert untergeordnet, der vor allem unser Gefühl ansprechen, uns in eine Stimmung versetzen soll. Dabei wird auf den musikalischen Inhalt sehr deutlich Bezug genommen, weil es sich um sentimental-patriotisch rezipierbare Musik handelt, die sich eindeutig auf einen Ort bzw. eine geographische Einheit bezieht. Das Cover einer Einspielung von Má vlast mit der Prager Philharmonie unter Jakub Hrůša, 2010 bei Supraphon erschienen,33 zeigt ein stimmungsvoll nebelverhangenes Bild einer figurengeschmückten Brücke, die auf das Ufer zuläuft, wo Türme mit spitzen Aufsätzen und mächtige Kuppeln auszumachen sind. Das Motiv haben wir mit unserem topographisch und touristisch geschulten Auge längst als »ikonisches« erkannt: die Karlsbrücke, in Richtung Prager Altstadt gesehen, mit der Moldau, die sich als bildliche Abkürzung für die von der Musik thematisierte »Heimat« lesen lässt. Aber im Vordergrund steht nicht mehr die Wiedergabe einer konkreten Stadtsituation, über die wir genauer informiert werden sollen, sondern ein optischer Schleier ist über die eigentlich nur mehr als Silhouette sichtbare Stadt gelegt. Der Fokus ist auf einen Gefühlswert verschoben, und so lassen sich im aufsteigenden Nebel Assoziationen knüpfen an die in der Musik geschilderten Wassernymphen. Und tatsächlich ist das CD-Cover in der Lage bildlich auszudrücken, worauf im Begleittext Worte hinweisen: Von den »halcyon days of 1990 […] in the first years of freedom« und von einem »euphoric opening concert« ist die Rede, Interpreten wie Václav Neumann erhalten das Epitheton »legendary«, auf »interpretational tradition« wird Bezug genommen, die zu einem »faithful and well-considered reading of the score« führe – denn all die beschrieben Sorgfalt, ja Behutsamkeit im Umgang mit Smetanas Komposition mündet in deren Beschreibung als »this symobl of Czech music«. Diesem hohen kulturellen Gut wird durch die Entrücktheit im Nebel eine bildliche Aura verliehen. Die atmosphärische Stimmung, die das Bild vermittelt, sollen die Zuhörenden auch »fühlen«: »My Country in a manner that would make the audience feel as though they were hearing it for the first time.« Diese atmosphärischen Werte können
33 Supraphon CD 4032-2 (2010) bzw. http://www.supraphon.com/en/catalogue/on-linedatabase/detail/?idtitulu=2018788 (Zugriff: 31. Juli 2013).
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auch so gesteigert werden, dass sie den eigentlichen topografischen Bezugspunkt nur mehr schemenhaft erahnen lassen. In einer weiteren Supraphon-Einspielung von Má vlast, diesmal mit der Tschechischen Philharmonie unter Václav Smetáček,34 haben die Stimmungswerte des Bildes die Oberhand gewonnen. Der hohe Abstraktionsgrad der Fotografie lässt aus einer Stadtansicht eine kulissenhaft aufgebaute Komposition aus ineinander fließenden Farben entstehen. Zu den gerade noch erkennbaren Barockkirchen der Kleinseite tritt ein weiteres Charakteristikum in der Darstellung der Stadt Prag, auf das vor allem in der Literatur (als bekanntestes Beispiel Gustav Meyrinks Golem) oft und gerne Bezug genommen wird: das mystisch-geheimnisvolle Prag, dessen melancholische Stimmung besonders von Jakob Schikaneder in seinen abendlichen und NebelmorgenAnsichten der Stadt in zahlreichen Gemälden festgehalten wurde. Auch dessen Gemälde dienen CD-Covers, die in diese Kategorie der atmosphärischen Werte fallen, als Bildmotive. Um in den Bildern Prag zu erkennen, bedarf es entweder kunsthistorischen Wissens (dass Schikaneder zu den berühmten Malern der Prager Jahrhundertwende gehörte) oder genauer Ortskenntnisse: In nächsten Beispiel handelt es sich um Schikaneders Ansicht der Schlossstiege am Hradschin mit der Filippo Neri-Statue von Ferdinand Maximilian Brokoff und mit der Kuppel und der Turmspitze von St. Niklas auf der Kleinseite. Nun aber fällt der Bezug zur beinhalteten Musik jener Beliebigkeit zum Opfer, die wir bisher immer wieder entdeckt haben: Denn Schikaneders Bild dient zur Bebilderung für verschiedenen Komponisten (wenn sie auch Zeitgenossen waren) und vor allem für Musikgattungen ganz unterschiedlichen Charakters: im Fall Smetanas für Kammermusik (Klaviertrios, Guarneri Trio, bei Supraphon)35 und im Fall Dvořáks für Violinkonzerte mit großem Orchester (Václav Hudeček, bei panton)36. Dass die grafische Gestaltung eines CD-Covers schließlich auch eng mit der Positionierung des jeweiligen Plattenlabels, mit seinem innovativ oder traditionell ausgerichteten Auftritt am Markt zusammenhängen kann, soll ein abschließendes Beispiel vor Augen führen, das gleichzeitig den Bogen von den historischen Ansichten der Stadt Prag zur Metropole des 20. und 21. Jahrhunderts schließt. Die St. Niklas-Kirche auf der Kleinseite ist ein mittlerweile altbekanntes Motiv von Ansichten Prags, aber eine ebenso große Fläche, wie dem Sakralbau und dem Himmel darüber eingeräumt wird, nimmt der Vordergrund auf einem Cover für die Dvořák-Streichquartette Nr. 105 und 106 in einer Einspie-
34 Supraphon LP 301 729-435 (1981). 35 Supraphon CD 11 1515-2 131 (1994). 36 Panton CD 81 0855-2 031 (1989).
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lung des Melos Quartetts bei harmonia mundi37 ein. Für den ersten tschechoslowakischen Staatspräsidenten Tomáš Guerrigue Masaryk arbeitete Jože Plečnik ab November 1920 als Burgarchitekt. Auch als Architekt der jungen tschechoslowakischen Demokratie bezeichnet schuf Plečnik eine Neugestaltung des Paradies- und Wallgartens, der sich an der Südseite der Prager Burg hinzieht. Auf ehemaligem Festungsterrain mit Bastionen entwarf Plečnik eine Abfolge vielteiliger Gartenanlagen, deren integraler Bestandteil das Stadtpanorama bildet, das sich an unterschiedlichen Punkten von verschiedenen architektonischen Rahmenformen aus und in immer neuen Perspektiven bewundern lässt. Um 1925 entstand beispielsweise die Pyramide, die auf dem erwähnten CD-Cover mitsamt den benachbarten Freiflächengestaltungen zu sehen ist. Die Vedute, die als Cover-Motiv gewählt wurde: der Blick auf St. Niklas, ist klassisch und in Variationen bereits von anderen Beispielen bekannt. Der Betrachtungsstandpunkt aber erlaubt darüber hinaus die Assoziation mit der neuen, modernen tschechischen Demokratie und ihren künstlerischen Leistungen. Ob von den Produzenten intendiert oder nicht, eröffnet sich mit der Wahl des Bildmotivs dieses Covers neue Perspektiven, die unsere Gegenwart weit stärker ins Bewusstsein rücken, als auf allen bisher präsentierten Beispielen.
37 Harmonia mundi CD 901709 (1999).
»A montanha, o sol, o mar« Rio de Janeiro und seine symphonischen Repräsentationen S TEFAN S CHMIDL
»Aus Lagunen wachsen Hügel, von Wäldern überzogen, von exotischen Pflanzen dicht bewachsen und wundersam mit der Natur verschwistert, die Stadt am Fluss des Januar: Rio de Janeiro.« Mit diesen hymnischen Worten und entsprechenden Bildern evozierte Hans Domnicks filmische Dokumentation Panamericana – Traumstraße der Welt (D 1959) die brasilianische Atlantik-Metropole. Nicht weniger ekstatisch erschien die symphonische Filmmusik, die der Schönberg-Schüler Winfried Zillig dieser Passage unterlegte: irisierende Streicher in hohen Lagen ließen die Beschreibung der Stadt wie eine Epiphanie erscheinen. Gegenüber anderen Städten der in der Dokumentation vorgeführten Städte des amerikanischen Doppelkontinents, Mexico City, Caracas, La Paz, Buenos Aires und Montevideo, wurde Rio gerade durch Zilligs euphorische Musik als urbaner Ausnahmeort vorgestellt, in dessen intendierte Wahrnehmung halluzinatorische Züge eingeschrieben waren. Die exemplarische Evokation Rios in Panamericana zeigt das Gewicht der Musik im Ensemble des audiovisuellen Images Rio de Janeiros, obwohl sie diese Rolle erst relativ spät erfüllte. Denn im Gegensatz zu den Bildmedien, die sich des Sujets sehr früh annahmen, und sich hier vor allem von der markanten Silhouette Rios fasziniert zeigten (besonders in den Darstellungen Jean Baptiste Debrets, der die Küstenlandschaft der Metropole 1834 teilweise auch in exzentrischer Morphologie, etwa als liegenden Koloss, abbildete1), war die Stadt im 19. Jahrhundert noch kaum Gegenstand symphonischer Auseinandersetzung bzw.
1
Martin Warnke, Politische Landschaft. Zur Kunstgeschichte der Natur, München, Wien 1992, S. 121.
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eines solchen Repräsentationswillens: Die Programme der ersten von Brasilianern geschriebenen großformatigen Werke wie jene von Leopoldo Miguéz2 und Alexandre Levy3 gingen auf antike Mythologie (Prometheus) und europäische Literatur (Byrons Parisina, Goethes Werther) bzw. auf den jungen Mythos der Republik Brasilien zurück (wie in Miguézʼ Ave Libertas4). Und noch im Zeitalter der ersten großen Urbanisierungswelle nach dem Sturz Kaiser Pedros II. waren es die Natur und Geschichte Brasiliens, nicht seine damalige Hauptstadt, die Komponisten in ihren Werken repräsentierten. Die symphonischen Dichtungen Amazonas und Uirapuru von Heitor Villa-Lobos (1920er Jahre5) können hierfür ebenso als prominente Zeugnisse dienen wie Francisco Mignones Caramuru (1917) und Na sertão (1925). Die symphonische ›Entdeckung‹ der Stadt geschah bezeichnenderweise von ›außen‹, in Darius Milhauds Saudades do Brazil (1920), einem Zyklus von sorgfältig orchestrierten Klavierminiaturen, die auf den einjährigen Besuch des französischen Komponisten in Rio de Janeiro während des Ersten Weltkrieges zurückgehen und »in denen jedes Stück den Namen eines Viertels in Rio trägt.«6 Die in einem Zustand des berauschten Rückblicks auf seinen Aufenthalt komponierten Saudades7 lassen sich teilweise mit Beschreibungen aus Milhauds Autobiographie gegenlesen. So korrespondieren beispielsweise der ›luftige‹ tranquille-Abschnitt Corcovado mit dem Satz »Claudel und ich nahmen oft die Corcovado-Drahtseilbahn bis Paineras«8 oder der ›promenierende‹ Satz Tijuca mit der Erinnerung »Abends spazierte ich oft der Tijuca entlang. Es machte mir Freude,
2
Harry Crowl, »The Music of Richard Wagner and its influence in Brazil«, http://blog.goethe.de/wagner/uploads/TheMusicofRichardWagneranditsinfluenceinBr azil.pdf, S. 8-9 (Zugriff: Februar 2014).
3
Ebend., S. 11.
4
Ebend., S. 9.
5
Manuel Negwer, Villa-Lobos. Der Aufbruch der brasilianischen Musik, Mainz 2008, S. 97.
6 7
Darius Milhaud, Noten ohne Musik. Eine Autobiographie, München 1962, S. 92. »Aber ich kehrte als ein Fremdling in meine alte Wohnung zurück, denn meine Augen waren noch erfüllt von dem verwirrenden Licht, das der brasilianische Himmel widerspiegelt, und meine Ohren klangen noch wider von den üppigen Geräuschen des Urwalds und dem subtilen Rhythmus des Tango.« Darius Milhaud, Noten ohne Musik. Eine Autobiographie. München 1962, S. 75.
8
Darius Milhaud, Noten ohne Musik. Eine Autobiographie, München 1962, S. 60.
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zu beobachten, wie sich das Panorama von Rio mit seiner im Lichtgeglitzer deutlich silhouettierten Bucht allmählich vor mir entfaltete«.9 Zwei Aspekte von Milhauds musikalischer Evokation Rios erscheinen bemerkenswert: Einerseits die signifikante Konjunktion der Stadt mit spezifischer musikalischer (Kollektiv-)Idiomatik10, nämlich Tango und Samba, andererseits die Anlage des Werkes als imaginärer Rundgang, der sich auch kartographisch präzise nachvollziehen lässt11. Die im 18. Jahrhundert ausgebildete touristische Praxis des sukzessiven Abschreitens von Orten verband sich hier mit der barocken Suitenform und schuf ein atmosphärisches Stadtbewusstsein aus dem Geiste des »turismo«. Der Erfolg, den Milhaud mit seinen Saudades do Brazil gegenüber anderen vergleichbaren Werken ›exogener‹ Komponisten hatte (wie Ottorino Respighis Impressioni brasiliane, 1927), gab dem Konzept Recht. Die Amerikanisierung Brasiliens im Zuge des Zweiten Weltkrieges12 intensivierte die Paarung von musikalischer Idiomatik und urbanem Anblick. Filme wie That Night In Rio (1941, mit dem Song Chica Chica Boom Chic) und Saludos Amigos (1942, mit Aquarela do Brasil) konsolidierten nachhaltig die Samba als musikalisches Emblem der Stadt. Erst aber nach dem Zweiten Weltkrieg kam es wieder zu einem symphonischen Versuch, Rio de Janiero zu repräsentieren. Es war dies Antonio Carlos Jobims zusammen mit Billy Blanco konzipierte, komponierte und produzierte Platte Sinfonia do Rio de Janeiro, 1954 erschienen auf dem Label Continental.13 Die Veröffentlichung war zwar kein Verkaufserfolg,14 stellt jedoch einen interessanten Beitrag zur Gattung der Stadt-Symphonien dar, einer Reihe von Symphonien, die seit dem späten 19. Jahrhundert verfasst wurden und als deren programmatische Ausgangspunkte stets Metropolen dienten. Jobims Sinfonia do Rio de Janeiro darf darüber hinaus als Parallele zu Astor Pi-
9
Darius Milhaud, Noten ohne Musik. Eine Autobiographie, München 1962, S. 59.
10 Zum Thema musikalischer Kollektivsymbole siehe: Alexander Preisinger, Stefan Schmidl, »Musikalische Kollektivsymbole und Kontexte«, in: Talia Bachir-Loopuyt, Sara Iglesias, Anna Langenbruch, Gesa zur Nieden (Hg.), Musik – Kontext – Wissenschaft/Musiques – contextes – savoirs. Interdisziplinäre Forschungen zur Musik, Frankfurt am Main 2012, S. 135-145. 11 http://www.concentus-alius.de/cms/content/view/834/117 12 Antonio Pedro Toto, The Seduction of Brazil. The Americanization of Brazil during World War II, University of Texas Press, Austin 22009. 13 Siehe dazu umfassend die Studie: Frank M. C. Kuehn, Antonio Carlos Jobim, A Sinfonia do Rio de Janeiro e a Bossa Nova: Caminho para a construção de uma nova linguagem musical, Diss. Universidade Federal do Rio de Janeiro 2004. 14 Helena Jobim, Antonio Carlos Jobim. An Illuminated Man, Milwaukee 2011, S. 91.
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azzollas drei Jahre zuvor entstandener Sinfonía Buenos Aires angeführt werden, insofern deren Komponist sich in seinem symphonischen Stadt-Bild wie Jobim um eine Synthese aus europäischen Formtraditionen, (süd-)amerikanischer Popularmusik und Lokalkolorit bemühte. Jobim besetzte sein Werk mit Soli (populären Sängern), Chor und Orchester und strukturierte es durch ein übergeordnetes Leitthema (Beispiel 1). Beispiel 1: Antonio Carlos Jobim: Sinfonia do Rio de Janeiro (1954), RitornellThema der Stadt
Die angedeutete Rondoform, die sich durch das wiederholte Interpolieren dieses Motivs ergibt, gliedert die solcherart zyklische Sinfonia, wobei das Ritornellthema für die Stadt steht (indiziert durch die Verse, die der Chor beim zweiten Auftreten des Themas singt: »Rio de Janeiro, que eu sempre hei de amar/Rio de Janeiro, a montanha, o sol, o mar!«15 [Rio de Janeiro, das ich immer lieben werde/Rio de Janeiro: Berg, Sonne, Meer] und weiter: »Festival de beleza/natureza sem par«16 [Fest der Schönheit/Natur ohne ihresgleichen]). Der Dreischritt wird am Ende der Symphonie als elementare »três razões de beleza na vida«17 (drei Gründe der Schönheit im Leben) erläutert: Als primäre Metaphorik Rios dient damit die ›natürliche‹ Gegebenheit der Stadt. In der symbolischen Durchmessung des Stadtraumes, die durch die Programmatik der Couplets ermöglicht wird, fällt hingegen der Anspruch auf, ein ›totales‹ urbanes Panorama zu schildern, also etwa neben dem mondänen Nachtleben der ›Reichen‹ in Rio auch jenes der ›armen‹ Bohème anzusprechen18 (6. Satz, Noites do Rio) oder das Missverhältnis von schlechten Arbeitsbedingungen
15 Antonio Carlos Jobim & Billy Blanco, Sinfonia do Rio de Janeiro. Arr. Aluisio Didier. Klavierauszug, S. 1 (Digitale Ausgabe des Instituto Antonio Carlos Jobim, http://portal.jobim.org/pt/acervos-digitais). 16 Ebend., S. 1. 17 Ebend., S. 24-25. 18 Kuehn, Antonio Carlos Jobim, A Sinfonia do Rio de Janeiro e a Bossa Nova (wie Anm. 13), S. 151.
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und einer Überfülle an Vergnügungsmöglichkeiten (im 3. Satz, Matei-me no Trabalho [Die Arbeit bringt mich um]).19 Konsequenterweise räumten Jobim und Blanco in ihrer ungewöhnlichen Symphonie Zentralkategorien Rios wie dem Strand der Copacabana (der wenig später als Ort des Bossa nova zum wichtigsten Signifikanten Rios aufsteigen wird,20 hier unerwartet nüchtern als tagsüber »sempre cheia«21 [ewig überfüllt] Bezeichnung findet) ebenso Raum ein wie weniger bekannten Plätzen wie der als »recanto encantado«22 (Zauberecke) titulierten Praia do Arpoador, vor allem jedoch Orten der Unruhe23 wie dem hektischen Straßenverkehr (im 2. Satz, Coisas do dia) oder dem bereits 1904 begonnenen, durch den Morro da Babilônia getriebenen Túnel do Leme, der im 7. Satz O Mar als ›gewaltsame‹ menschliche Stadtschaffung einer ›sanften‹, durch die Natur bewirkten gegenübergestellt wird.24 Es sind schließlich auch die morros (die Hügel) Rios, namentlich die im 9. Satz (A Montanha) angeführten, an den Hügeln Mangueira und Salgueiro gelegenen gleichnamigen Favelas, die im Werk eine nicht zu leugnende sozialkritische Komponente darstellen.
19 Ebend., S. 144. 20 David Danilo Bartelt, Copacabana. Biographie eines Sehnsuchtsortes, Berlin 2013, S. 119. 21 Jobim, Blanco, Sinfonia do Rio de Janeiro (wie Anm.15), S. 7. 22 Jobim, Blanco, Sinfonia do Rio de Janeiro (wie Anm.15), S. 9. 23 Vgl. die Kategorie John Deweys, in (ders.), Kunst als Erfahrung, Frankfurt am Main 1988, S. 80, zit. nach: Elisabeth Blum, Atmosphäre. Hypothesen zum Prozess der räumlichen Wahrnehmung, Zürich 2010, S. 10. 24 Kuehn hat auf diesen charakteristischen Aspekt in Jobims Sinfonia aufmerksam gemacht: Kuehn, Antonio Carlos Jobim, A Sinfonia do Rio de Janeiro e a Bossa Nova (wie Anm. 13), S. 152.
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Antonio Carlos Jobim: Sinfonia do Rio de Janeiro (1954), Aufbau des Werkes Abertura = A moderato A (Chor) »Rio de Janeiro que eu sempre hei de amar« 1. Hino ao Sol (Solo), Samba-canção lento A (Chor) 2. Coisas do Dia (Chor); A´ dobrado movimentado A lento e delicado (Celesta) A (Chor ) »Rio de Janeiro que eu sempre hei de amar« 3. Matei-me no Trabalho (Solo) Samba a tempo 4. Zona Sul (A Trompete, dann Solo) Samba vivo 5. Arpoador (Solo) Samba-canção lento A (Oboe, Streicher) mais lento 6. Noites do Rio (Solo, Chor) Samba-canção A (gepfiffen) 7. O Mar (Solo); A´ (Streicher, Holzbläser) 8. Copacabana (Solo) Samba-canãço lento A (Chor) 9. A Montanha (Solo) Samba-canção a tempo A´ (Mundharmonika) 10. O Morro (Solo) Samba-canção lento Zwischenspiel A´ (Orchester) vor Rekapitulation von 10 (Chor) 11. Descendo o Morro (Solo) Samba ritmado A lento e grandioso (Orchester, Chor [summend]) 12. Samba do Amanhã (Solo, Chor) Canção A (Chor) »Rio de Janeiro que eu sempre hei dea mar«
In musikalischer Hinsicht rückte Jobim die Form der Samba in den Mittelpunkt seiner Gestaltung, vermied jedoch eine allzu dogmatische Anwendung von deren Schematismus. Der Einsatz von Idiomen europäischer Orchestermusik gewährleistete zudem eine Vielfältigkeit des Ausdrucks (dies lässt sich schön an der Andeutung einer impressionistischen Lautmalerei im Satz O Mar ablesen25). Die so erreichte Variabilität von Jobims Sambas korrespondiert mit der Diversität der topographischen Referenzpunkte der Symphonie (Abb.1).
25 Kuehn, Antonio Carlos Jobim, A Sinfonia do Rio de Janeiro e a Bossa Nova (wie Anm. 13), S. 152.
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Abb.1 Referenzpunkte in Antonio Carlos Jobims Sinfonia do Rio de Janeiro (1954)
1960 ließ Jobim der Sinfonia do Rio de Janeiro noch eine weitere Stadtsymphonie folgen, die Sinfonia da Alvorada (Symphonie der Morgenröte)26 über die Aufsehen erregende neue Hauptstadt Brasilia, die Präsident Juscelino Kubitschek durch den Architekten Oscar Niemeyer hatte erbauen lassen. Auch diese Symphonie sollte sich nicht als Erfolgsstück erweisen, so dass sich Jobim in der Folge auf die umgekehrte Art seines Konzepts verlegte, eine Verbindung aus dem, das bald ›música popular Brasileira‹ genannt werden sollte, und Elementen europäischer Kunstmusik zu schaffen: Letztere stellten nun nicht mehr den äußeren Rahmen, sondern beschränkten sich auf die Komponenten Harmonik, Kontrapunktik und Melodieführung. Strukturell änderte das aber wenig (man vergleiche hierfür den ›neobarocken‹ 4. Satz der Sinfonia da Alvorada (O trabalho e a
26 Siehe dazu weiterführend: Clairton Rosado, Brasília - Sinfonia do Alvorada. Estudo dos Proce-dimentos Composicionais da Obra Sinfônica de Tom Jobim, Diss. Universidade São Paulo 2008; Regine Allgayer-Kaufmann, »Brasilien 1956 bis 1961: Antônio Carlos Jobim und die Ära des Präsidenten Juscelino Kubitschek«, in: Theophil Antonicek, Andreas Lindner, Klaus Petermayr (Hg.), Der Künstler und seine Welt (Bruckner Symposium 2008), Wien 2010, S. 59-66.
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construção [Arbeit und Aufbau]) mit späteren Kompositionen wie Saudade do Brasil aus dem Album Uruba [1976]). Den entscheidenden Unterschied machte der Erfolg des geänderten Konzepts aus. Denn erst in dieser Gestalt – den symphonischen Arrangements, die Claus Ogerman und Nelson Riddle für Jobims vor allem zwischen 1965 und 1980 veröffentlichte Alben erstellten – fanden seine Evokation Rio de Janeiros (Garota de Ipanema, Samba da avaio, Corcovado, Favela, etc.) größte nationale und internationale Verbreitung und hatten damit Einfluss auf die kollektive Vorstellung der Stadt. Dass sich erst im Jahre 2000 wieder ein brasilianischer Komponist an die Form einer Stadt-Symphonie über Rio wagte, beweist diese Nachhaltigkeit. Diese zusammen mit Geraldo Carneiro und Paulo Cesar Pinheiro verfasste Sinfonia do Rio de Janeiro de São Sebastião des u.a. durch seine Zusammenarbeit mit Chico Buarque bekannt gewordenen Francis Hime (* 1939) schließt interessanterweise an Jobims Versuch von 1954 an. So findet sich auch hier eine mehrsätzige Anlage,27 ein wiederkehrendes Leitthema und die großformatige Besetzung mit Soli, Chor und Orchester samt stark vergrößertem brasilianischem Schlagwerk. Der im Gegensatz zu Jobims Werk umfangreichere Text von Himes Symphonie referenziert auf einen wesentlich erweiterten Stadtraum (Abb. 2), verzichtet aber – und das ist ein entscheidender Unterschied zu Jobim – auf eine Vorstellung musikalische Diversität der angesprochenen urbanen Sphären. Vielmehr überrascht die über weite Strecken der Komposition entfaltete Gleichförmigkeit der Samba: ein homogenes Klangbild, das wohl den carnaval carioca, den Karneval in Rio, akustisch ›abbilden‹ will und weniger symphonische Differenzierung bzw. thematisch-motivische Entwicklung im europäischen Sinn anstrebt. Im Sinne einer Stadtideologie ist die textliche Ebene von weitaus suggestiverem Nachdruck, wird nämlich die Symphonie mit der Spekulation eröffnet, ob Dante Rio de Janeiro eher als Hölle oder eher als Paradies beschrieben hätte, und schließt mit der Akzeptanz der Widersprüchlichkeit der Stadt, die Dantes drei Jenseitsreiche diesseitig in sich vereint: »O Inferno é aqui/Purgatório é aqui/Paraíso é aqui!«28 (Hier ist die Hölle, hier ist das Fegefeuer, hier ist das Paradies!).
27 Abertura/Lundu/Modinha/Choro/Samba/Cancão Brasilleira/Final. 28 http://www.francishime.com.br/letras/final.txt (Zugriff: 1. Juli 2013).
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Abb.2 Referenzpunkte in Francis Himes Sinfonia do Rio de Janeiro de São Sebastião (2000)
*** Das »Dilemma«, das der Anthropologe Roberto DaMatta in Anschluss an den schwedischen Ökonom Gunnar Myrdal als grundsätzliches Kennzeichen der brasilianischen Gesellschaft erkannt und analysiert hat,29 manifestiert sich grundlegend in ihren Ritualen, unter denen der carnaval als prägnantestes fungiert. Musik, insbesondere die Samba, ist die Trägerform dieses Rituals und dementsprechender Signifikant Brasiliens und seiner berühmtesten Stadt, Rio de Janeiro. »Von allen Kunstformen ist wohl die Musik diejenige, die Rio am besten verkörpert«30 (so das Resümee des National Geographic Traveler 2014). Umso erstaunlicher, auf welche unterschiedliche Resonanz Versuche stießen, Rio symphonisch zu evozieren. Waren Milhauds Saudades von Anfang an als ›exoti-
29 Roberto DaMatta, Carnivals, Rogues, and Heroes. An Interpretation of the Brazilian Dilemma. Translated by John Drury, University of Notre Dame Press 1991. 30 Michael Sommers, National Geographic Traveler: Rio de Janiero, Hamburg 2014. S. 46.
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scher‹ Rundgang durch die Stadt beliebt, konnte Jobim mit seiner ambitionierten, durchaus die Augen nicht vor der sozialen Realität verschließenden Sinfonia do Rio de Janeiro keineswegs Anklang finden. Dies gelang ihm erst mit der Abkehr vom Gerüst der Gattung Symphonie (obwohl diese bei Jobim ohnehin bereits sehr individuell interpretiert war). Mit der Sinfonia do Rio de Janeiro de São Sebastião schloss Hime schließlich nur indirekt an Jobims ersten StadtEntwurf an und legte ein symphonisches Werk vor, das von einer eigenartigen Diskrepanz aus musikalischer Homogenität und textlicher Diversität geprägt war. Darin – und in der Unterschiedlichkeit der anderen symphonischen Imaginationen der Stadt mag man auch eine Widerspiegelung der unauflösbaren Gegensätze der »Cidade Maravilhosa«,31 der wunderbaren Stadt, lesen.
31 So der Titel von André Filhos ›heimlicher Hymne‹ an die Stadt aus dem Jahr 1935.
Die Stadt als Partitur Eine Wiener Komposition S USANA Z APKE
D IE M USIK IM B LUT »Am Konservatorium der Stadt Wien kann man zum Beispiel Musik studieren...« kommentiert in tiefem Wienerisch der Hauptdarsteller ›Herr Nowak‹, gespielt vom legendären Schauspieler Heinz Conrad im Werbefilm Der Vorteil (1958, Regie: Kurt Steinwendner). Sein Tisch- und Trinkgenosse, ›Herrn Stangemeier‹ (Fritz Heller) hingegen erwartet von den Wienern keine Musikausbildung, sondern vielmehr eine angeborene Musikalität: »I hab ’dacht, die Musik ham’ die Wiener schon im Bluat?«. Die Szene dieses Kurzfilmes, der von der Gemeinde Wien beauftragt und als Kino-Werbung eingesetzt wurde, spielt in einem Wiener Heurigen und wird von der Melodie einer Ziehharmonika untermalt. Beide Herren unterhalten sich über das Wiener Lied, und Stangemeier bemerkt etwas kritisch, dass der Textinhalt nicht immer stimmen würde. Nowak antwortet leicht irritiert, er wisse von einem Lied, dessen Text absolut stimmen würde, und beginnt daraufhin zu singen: »I was net, i was net, i bild’ mir’s halt ein, es is’ schon ein Vorteil, a Weaner zu sein.«1 Der Harmonika-Spieler tritt wieder ins Bild und begleitet Nowaks Loblied auf ›die‹ Wiener.
1
Der Text ist von Heinz Conrad selbst verfasst, die Melodie konnte hingegen nicht identifiziert werden. Die folgende Strophe lautet: »Wir raunzen zwar manchmal, des glückt uns z’sam, die Hauptsach’ is trotzdem, ja doch, dass ma’s san’. D’rum tanzt der Salmannsdorfer und der Floridsdorfer und der Sieveringer und der Ottakringer, mit am Stossgebet, da fangt es an, Gott sei dank, dass ma’ Weana san.« Transkription aus dem Film (Zapke).
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Der Film Der Vorteil ist Bestandteil einer Kurzfilmreihe mit der Intention, Wien als protektive »prima Mutter«, wie Nowak sagt, zu repräsentieren, die in allen Belangen um ihre Zivilgesellschaft bemüht ist.2 Die Herren unterhalten sich zunächst über die Sozialleistungen der Wiener Stadt, um gleich darauf auf den Topos der Musikstadt Wien umzuschwenken, wodurch die sachliche durch die emotional geladene Stadtwahrnehmung kompensiert wird. Diese KinoWerbefilme mit einer Durchschnittsdauer von drei bis fünf Minuten hatten in erster Instanz sowohl erzieherische als auch rechtfertigende Intentionen. Die frenetischen Aktivitäten der Stadt während der intensiven ersten Wiederaufbauphase im Bereich der Stadtplanung wie auch der sozialen Dienstleistungen wurden medial propagiert. Dem Motiv von Mütter-Kinder-Krippen (!) kommt dabei nicht nur in Der Vorteil eine prominente Rolle zu. Signifikant ist in diesem Film die Kontrastwirkung zwischen dem Anspruch des sozialdemokratischen Wiens, wieder den Rang einer Weltstadt einzunehmen einerseits, und der Betonung des Wiener Phäakentums und des Wiener Schmähs andererseits. Die Modernisierungsbestrebungen der Stadt stehen den latent tradierten Werten eines idealisierten Alt-Wiens kontrapunktisch gegenüber. Der Rückgriff auf die nostalgischen Attribute der Wiener Gemütlichkeit und Fröhlichkeit, der Geselligkeit und der amüsierten Selbstironie wird im Lied Es is’ schon ein Vorteil, a Weaner zu sein programmatisch ausgelegt. Der inhärente Weltstadtanspruch der Sozialdemokratie der 50er Jahre wird paradoxerweise mit der urbanen couleur locale einer heimatlichen Sprache gekoppelt, welche eine Teil-Ingredienz der Kodifizierung Wiens als Musikstadt bildet. Dem Nachkriegsanspruch der Donaumetropole, wieder Weltstadt zu werden, wohnt der Wunsch, eine Welthauptstadt der Musik zu sein, inne. Dieser wird massenmedial über populäre (Musik-)Klischees vermittelt (Abb. 1). Das Bild des Wieners beim Heurigen, sich über Musik unterhaltend, gehört zu den tendenziösen Mystifikationen der 50er Jahre, die aus bürgerlicher Perspektive formuliert werden, um den Wienern - und in der Folge den Österreichern - ein eingekapseltes, monolitisches Identitätsgefühl zu restituieren.3
2
Die nachfolgenden Untersuchungen beruhen auf der Datenbank der Wiener Dokumentarfilme und Wochenschauberichte, die 2013 online geschaltet wurde. Das Forschungsprojekt Film. Stadt. Wien (2008) wurde vom Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft in Kooperation mit dem Österreichischen Film Museum und den Künstlern Gustav Deutsch und Hanna Schimek (D&S) durchgeführt. Siehe Filmarchiv der Media Wien: http://mediawien-film.at (Zugriff: Mai 2014).
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Zur Wiederbelebung bürgerlicher Traditionen und zum retrospektiven Charakter der Stadtpolitik bzw. zum Rückgriff auf die Vergangenheit als Legitimation für die
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Abb. 1: Screenshot Der Vorteil (1958)
© Filmarchiv der media wien, Verein für Geschichte der Stadt Wien, 2014
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In der Kurzfilmserie Und das alles für mein Geld (1961), die ebenso von der Gemeinde Wien zur Aufklärung über die Verwendung öffentlicher Gelder für den Wiederaufbau in Auftrag gegeben wurde, thematisiert der Film Asphalt, wie der Titel schon besagt, primär die Erneuerung der alten, mit Kopfsteinpflaster belegten Wiener Straßen. Die erste Szene zeigt eine Baustelle, in der drei Arbeiter den Boden teeren. Der Hauptdarsteller schaut skeptisch bis raunzig – entsprechend dem Wiener Klischee – den Arbeitern zu, während er auf seiner Braut wartet. Als sie nun neben ihm steht, murmelt er offensichtlich gereizt: »Und das für mein Geld?«. Während der gesamten Szene erklingt im Hintergrund die Ref-
Gegenwart und Zukunft siehe die grundlegende Untersuchung von Barbara Feller, »Vorwärts in die Vergangenheit. Stadtbilder und Baupolitik im austrofaschistischen Wien zwischen 1934 und 1938«, in: Wolfgang Kos und Christian Rapp (Hg.), AltWien. Die Stadt, die niemals war, Wien 2005, S. 273-279.
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rainmelodie des zwei Weltkriege zuvor geschriebenen Wienerliedes Wien, du Stadt meiner Träume (Abb. 2).4 Abb. 2: Rudolf Sieczyński, Wien, du Stadt meiner Träume, Op. 1 (Wien 1914)
4
Rudolf Sieczynski (1879-1952), Wien, du Stadt meiner Träume (1912, Op. 1, Wien 1914). Refrain: »Wien, Wien nur Du allein/Sollst stets die Stadt meiner Träume sein!/Dort, wo die alten Häuser stehn,/Dort, wo die lieblichen Mädchen gehn!/Wien, Wien, nur du allein/Sollst stets die Stadt meiner Träume sein!/Dort, wo ich glücklich und selig bin,/Ist Wien, ist Wien, mein Wien.« Das in den 50er Jahren wiederkehrende Traumstadt-Motiv wird im Spielfilm Wien, Du Stadt meiner Träume (1957, Regie: Willi Forst) in seiner vollen mythischen Kraft entfaltet; vgl.: Francesco Bono, Willi Forst, Ein filmkritisches Portrait, München 2010, S. 205-216.
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Die nächsten Aufnahmen des dichten Ringstraßenverkehrs, der zahlreichen Baustellen, der modernen schweren Baumaschinen gekoppelt mit den athletischen bloßen Oberkörpern der Straßenarbeiter, sohin das Bild einer aus der Asche herausbrechenden urbanen Landschaft (Abb. 3), deren rhythmische Pulsation an Berlin: Symphonie der Großstadt (1927) von Walter Ruthmann erinnert, folgen zwar nicht den weiten Landschaftsgebilden aus Beethovens »Pastorale« wie in Ruthmanns Berlin-Film, sondern dem lieblichen Dreivierteltakt des Wienerliedes, womit in beiden Fällen eine kontrapunktische Stadt-Verklärung intendiert wird. Die Melodie und die süßliche Stimme der Frau, die die Sinnhaftigkeit der städtischen Baumaßnahmen erläutert, bilden ein Duett, das seine sofortige therapeutische Wirkung auf den anfangs misstrauischen Verehrer erzielt. Das Wappen der Stadt Wien auf schwarzem Grund erscheint am Ende des Films gemeinsam mit einer prophetischen Off-Stimme: »Jawohl! denn auch Ihr Beitrag wird von der Stadt Wien gut verwaltet und verwendet«. Die utopische ›Stadt meiner Träume‹, in der man sich auskennt und daheim fühlt, wie es im Text explizit heißt – »da kenn ich mich aus, da bin ich zu Haus« –, korreliert hier mit dem Versprechen einer sich im Wiederaufbau befindlichen, modernen und überaus sozialen Weltstadt.5 Abb. 3: Screenshot Asphalt (1961)
© Filmarchiv der media wien, Verein für Geschichte der Stadt Wien, 2014
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Der Film Asphalt fügt sich in das Genre der »Wiederaufbaufilme« der Nachkriegszeit. Siehe hierzu die referenzielle Publikation von Sema Colpan, Lydia Nsiah und Joachim Schätz, »Verbinden, Formen, Aufbauen. Brückenbauer und die Produktivität des Kinos«, in: Sponsored Films. Strategie und Formen für eine modernisierte Gesellschaft, Zeitgeschichte, 41. Jahrgang, März/April 2014, Heft 2, S. 102-121.
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Während der Film Der Vorteil, eine Hymne an ›den‹ Wiener, den Raum eines Heurigen – gemütlich, zeitlos und statisch – wählt, lässt Asphalt – die Verklärung einer sich aus den Trümmern erhebende Stadt – eine rasche Abfolge von Bildern, die die Simultaneität und das beschleunigte Tempo der urbanen Ereignisse in kürzester Zeit erfassen soll, Revue passieren. Obwohl beide Werbefilme zwei diametral entgegen gesetzten Stadt-Images transportieren, die intime Wiener Glückseligkeit gegenüber der tosenden Phrenesie des Wiederaufbaus, amalgamiert die Musik beide Extreme durch die Leichtigkeit eines für alle Zuschauer wieder erkennbaren Musikidioms. In beiden Fällen wirkt die Musik kathartisch, nicht zuletzt weil sie explizit an jenes Konstrukt der Wiener Musikstadt sowie an eine versöhnliche, leicht ›assimilierbare‹ kollektive (Stadt-)Identität appelliert. Die Musiktradition findet Verwendung als ungebrochene Konstante gegenüber den traumatischen politischen Mutationen wie auch der urbanen Transformation. Das ›gute Alte‹ und das ›gute Neue‹ werden auf wohl temperierte Art zusammen geschlossen. Das ›ewige Wien‹ als Lemmata des Kontinuitätswunsches, wie vom Pressechef der Stadt Wien, Hans Riemer, in seiner kommunalpolitischen Skizze von 1945 postuliert, unterliegt dem Diskurs beider Filme.6 Dabei liegt die zugrundeliegende Intention beider Filme in der medialen Konstruktion kollektiver Vorstellungen. Die unparteiische Kamera führt durch die Stadt Wien in der Weise, dass eine neue Geschichte der Stadt teils als Erinnerung, teils als Fiktion letztendlich von allen Rezipienten so und nicht anders verstanden werden soll.7 Nach Ferdinand de Saussures semiologischer Theorie können derartige kollektive Vorstellungen als Zeichensysteme untersucht werden. Roland Barthes, an Saussures Theorie anschließend, verwendet jenes Zeichenmodell, um die zugrundeliegenden Mechanismen einer bürgerlichen Mystifikation en détail zu analysieren.8 Barthes’ Essays Mythologies, zwischen 1955 und 1957 verfasst, bieten in diesem Zusammenhang, und nicht nur wegen der chronologischen Koinzidenz, wichtige interpretatorische Ansatzpunkte. Der von Barthes geprägte Kulturbegriff einer ›anonymen Burgeoisie‹, die sich innovationsfeindlich zeigt und primär dem Konsum hingibt, bestimmt in hohem Maße das Alltagsleben, das wiederum davon abhängig ist,
6
Vgl. Wolfgang Kos, »Wiederaufbau und Zerstörung. 1945 bis 1975: Wie die Pragmatiker in den Gegenwind gerieten« (wie Anm. 3), S. 281.
7
Vgl. Jacques Rancière, »Die Geschichtlichkeit des Films«, in: Drehli Robnik, Thomas Hübel, Siegfried Mattl (Hg.), Das Streit-Bild. Film, Geschichte und Politik bei Jacques Rancière, Wien/Berlin 2010, S. 214 ff.
8
Roland Barthes, Mythen des Alltags, Berlin 2013, S. 9. (orig.: R. Barthes, Mythologies, Paris 1957).
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»wie die Burgeoisie die Beziehungen zwischen dem Menschen und der Welt sich vorstellt und uns darstellt. Diese »normalisierten« Formen erregen desto weniger Aufmerksamkeit, je weiter sie verbreitet sind, und leicht verliert sich ihre Herkunft im Ungewissen.«9
Ein solcher Mechanismus der normalisierten Formen und der Propagierung eines urbanen entpolitisierten Mythos treibt den Diskurs der hier exemplarisch untersuchten Werbefilme der 50er Jahre. Die Neu-Erfindung der (Kultur-)Tradition oder dessen, was als kollektives Verständnis der Geschichte verinnerlicht werden soll, betrifft nicht nur die Musik, sondern alle weiteren Elemente der medialen Komposition von der Auswahl der Kulissen bis zur Kleidung, Mimik, Duktus der Stimme sowie insbesondere der ethischen und ästhetischen Kondition der Akteure. Die auf Wien bezogene ‚imaginierte urbane Gemeinschaft’ verweist unmittelbar auf das Phänomen kultureller Konstruktionen, das ebenso beim Prozess des ›nation building‹ bestimmend wirkt.10 Das durch die audiovisuelle Werbung transportierte Stadt-Image infiltriert sich lautlos wie unbemerkt ins Bewusstsein, genauso wie es Barthes bezüglich des Mythos formuliert, »zwischen den Aktionen der politisch Engagierten und den Streitigkeiten der Intellektuellen: von den einen wie von den andern mehr oder weniger unbeachtet, verschwimmen sie in der ungeheuren Masse des Undifferenzierten, des Unbedeutenden, kurz: des Natürlichen«. 11
In den Kategorien des ›Natürlichen‹ bis geradezu ›Banalen‹, die den Figuren des etwas dümmlichen, raunzigen aber durchaus friedlichen Wieners sowohl in Der Vorteil als auch in Asphalt inne wohnen, kondensiert die intendierte Botschaft einer heilen, sich über die Werte der bürgerlichen Tradition neu definierenden mythischen Stadt. Auf dieser Ebene angelangt schwinden die Differenzen zwischen Bürgertum, ob groß oder klein, und Arbeiterschaft. Die urbane Identifikation breiter Gesellschaftsschichten erfolgt auf der Ebene der Musik mittels des Filters der Entpolitisierung und der Reinigung. Sowohl das Wiener Lied als auch der Wiener Walzer, vor allem in der Strauß’schen Fassung, erfüllen diese Determinanten auf vollkommene Weise.
9
Roland Barthes (wie Anm. 8), S. 292.
10 Vgl. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation, Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main 2005 (orig.: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983). 11 Roland Barthes (wie Anm. 8), S. 292.
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K OMPONIERTE T RADITION
ALS
W IRTSCHAFTSFAKTOR
Die vom Magistrat der Stadt Wien beauftragten Werbefilme folgen zudem einer gezielten Repositionierung Wiens als Teil des neuen, demokratischen Westens, wobei die Musik als einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren fungiert. Der Ruf einer ›Welthauptstadt der Musik‹ wird zu einer der zentralen ökonomischen Ressourcen für den internationalen Tourismus der Nachkriegszeit. Die Wiener Zeitung vom 23. September 1945 zitiert Bundespräsident Karl Renner: »Wir lieben unsere Heimat, aber wir brauchen die Fremde! Wir brauchen den Fremdenverkehr und laden alle Welt zu uns zu Gaste. Wien und Salzburg werden als Stätten der Kunst, unsere Alpen als touristische Ziele ersten Ranges die Fremden mit Freude begrüßen«.12
In diesem Lichte liefert der Dokumentarfilm Musik in Wien (1958) zur Eröffnung der Wiener Festwochen ein paradigmatisches Beispiel.13 Der touristische Parcours durch die ‚oftmals besungene und die viel geliebte Stadt’ beginnt mit einem Panoramabild über den Donaukanal, das zum Wahrzeichen – dem Stephansdom – führt. Dazu spricht der Kommentator: »Wien, ein Hauch von Musik scheint über den Dächern zu liegen«. Sieczynskis Melodie aus Wien, du Stadt meiner Träume versetzt wieder einmal die erste Film-Sequenz in eine diskrete, leicht melancholische Atmosphäre. Die nächste Einstellung bringt das Rathaus, vor welchem Bundespräsident Adolf Schärf und der Stadtrat für Kultur und Volksbildung Hans Mandl die die Wiener Festwochen eröffnen. Als Musikbett erklingt kurz Wiener symphonische Klassik. Die Inszenierung setzt fort mit dem dunklen Rathaus in der Totale. Zu den Eröffnungsklängen des Donauwalzers wird das Gebäude im Walzerrhythmus Etage für Etage beleuchtet und erstrahlt in einer grandiosen Inszenierung über der sich verdichtenden Musik von Johann Strauß: »Ein Walzer braust auf, Wien feiert sein Fest. Die Herzen von tausenden Wienern tanzen mit«, so der Kommentator. Das Image eines Volkes der Tänzer und der Geiger kontribuiert einmal mehr, wie bereits im Film Der Vorteil, zu
12 Zit. nach: Anita Schlögel, Musikwirtschaft und Stadtentwicklung in Berlin und Wien, Wiesbaden 2011, S. 131 ff. 13 Ein Jahr zuvor wurde Festliches Wien/Festwochen 1957, ein Film der Austria Wochenschau im Auftrage der Fremdenverkehrsstelle der Stadt Wien produziert. http://mediawien-film.at/film/253/ (Zugriff: Mai 2014). Die zentralen Embleme der Stadt Wien werden hier mit Richard Strauss’ Walzer aus der »Rosenkavalier«-Suite op. 59 und Beethovens »Eroica« assoziiert.
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einer mythisch geprägten Identitätsfindung. Die nächsten Szenen blicken auf die beleuchteten Gebäude des Parlaments, der Karlskirche, der Gesellschaft der Musikfreunde (Musikverein) und der 1955 wiedereröffneten Wiener Staatsoper. Der Moderator betont die wiedergefundene Leichtigkeit: »Wir feiern das schönste Fest der Bundeshauptstadt unbeschwert und sorglos«, denn letztendlich werde die Sprache der Musik von allen Menschen verstanden. Ein Hymnus an die Freude, der, so Bundespräsident Schärf, als ein Teilen des Reichtums Wiens mit der Welt verstanden sein will.14 Die Friedensbotschaft und das lapidare Motto der Festwochen ›Musik in Wien‹ werden zu zentralen Motiven der Eröffnungsreden erhoben und verweisen auf das Bild einer Stadt in der Aufbauphase, die sich als Kulturträger im Herzen Europas versteht. Der Film setzt mit Aufnahmen des Alt-Wiens fort, Maria am Gestade, Spinnerin am Kreuz, Michaelertor, und führt unmittelbar nicht zum Schubert-, sondern zum obligaten Johann Strauß-Denkmal im Stadtpark.15 In den nächsten Szenen wird der Schwerpunkt der Festwochen, das »I. Europäische Chorfest«, das vom Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien anlässlich ihres 100-jährigen Bestehens veranstaltet wurde, thematisiert. Europas Flaggen als Symbol einer neuen, besseren Zeit wehen über den ikonischen Gebäuden Wiens wie dem Musikverein und dem Künstlerhaus. Die Musikstadt Wien umschließt
14 Bundespräsident Schärf wies in der Eröffnungsrede der Wiener Festwochen auf den Triumph der Musikstadt Wien bei den Österreich-Tagen der Brüsseler Weltausstellung hin: »Es war ein Sieg und ein Triumph der Musikstadt Wien, auf den wir alle stolz sein konnten, eine Friedensbotschaft in der allein verständlichen Sprache der Musik, auf die alle mit gleicher Freude hörten«. Die »Ode an die Freude« aus der Neunten Symphonie von L. v. Beethoven bildete den Höhepunkt des Auftritts der Wiener Philharmoniker und der Wiener Sängerknaben. Siehe Artikel »Wien teilt seinen Reichtum mit der Welt«, in: Arbeiter-Zeitung. Zentralorgan der Sozialistischen Partei, Nummer 125, Wien, Sonntag, 1. Juni 1958. 15 Das Wiener Musik-Emblem Franz Schubert, das vor allem im Rahmen des Sängerbundesfestes von 1928 eine zentrale Rolle gespielt hatte und mit VorAnschlussgedanken sowie im Nationalsozialismus (Mozart vs. Schubert) politisch belastet wurde, wird hier durch Johann Strauß vertreten. Dennoch wird Schubert in den 5oer Jahren zum Motiv zahlreicher Verfilmungen etwa in Das Dreimäderlhaus (1958). Vgl. hierzu Andreas Mayer, Franz Schubert. Eine historische Phantasie, Wien 1997, S. 53ff.. Zur öffentlichen Inszenierung Schuberts Ende der 20er Jahren vgl. Susana Zapke, »Die sanfte Gewalt von Prozessionen und Paraden«, in: Elisabeth Gruber, Andreas Weigl (Hg.), Stadt und Gewalt, Wien 2015 (i. D.).
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die europäischen Staaten im Sinne eines »Bewahrens der inneren Werte und einer Dokumentation des friedlichen Willens«.16
I MAGINÄRES M USEUM Die Partitur einer Stadt als Klangkörper und als imaginäres Museum im Sinne Malraux’ konnte nicht plastischer repräsentiert werden. 17 Die urbane Polyphonie Wiens setzt sich nicht nur aus Lobgesängen über die Stadt und ihre Bewohner, sondern ebenso aus einer Selektion prominenter Musikinstitutionen, Denkmäler und Gedächtnisorte zusammen, welche die Topographie der Musikstadt als ein in sich autonom funktionierendes Beziehungsfeld erkennen lässt. Das audiovisuelle Medium operiert hier mit der Idee eines imaginären Museums, welches mit einem kollektiven Bildgedächtnis und einer Mythisierung der Stadt verknüpft wird. Imagination und Memoria dienen der Appropriation eines virtuellen Raums. Zurecht verweisen Martina Nussbaumer und Lutz Musner auf die in Vergessenheit geratene Publikation Legend of a musical city (1945), die vom Wiener Musikkritiker Max Graf im New Yorker Exil verfasst wurde, denn hier zeigt sich die Stadt Wien ebenfalls als eine selektive Aneinanderreihung von Topoi, unter denen die Musik zum zentralen brand der Stadt und zur Involvente einer allumfassenden Geisteshaltung erhoben wird.18 Im ersten Kapitel von Max Grafs Wiener Musikbiographie ist zu lesen: »Für die große Welt war Wien vor allem eine Stadt der Musik oder, besser, ›die‹ Stadt der Musik, die einzige Stadt der Welt, die undenkbar war ohne Musik«.19 Der melancholische Blick Grafs aus der Ferne gleicht der unmittelbaren Wahrnehmung der Wiener über ihre Stadt in
16 Vgl. Arbeiter-Zeitung (wie Anm. 13). 17 Vgl. André Malraux, Le Musée Imaginaire de la sculpture mondiale: La StatuaireDes Bas-reliefs aux grottes sacrées. Le Monde Chrétien, Paris 1952-1954 (dt. Das imaginäre Museum, Frankfurt am Main/New York 1987); Martin Lefebvre, Psycho. De la figure au musée imaginaire: théorie et pratique de l’acte de spectature, Montréal, Paris 1997. Das transdisziplinäre Symposium Urbane Polyphonie. Lebens(t)Raum Stadt, das im Oktober 2013 an der Konservatorium Wien Privatuniversität stattfand, befasste sich mit den polyphonen Determinanten der Stadt Wien – mit dem Kontrapunkt Real-Virtuell-Imaginär – an der Wende zum 21. Jh. 18 Max Graf, Legende einer Musikstadt, Wien 1949; Martina Nußbaumer, Musikstadt Wien: Die Konstruktion eines Images, Wien 2007; Lutz Musner, Der Geschmack von Wien. Kultur und Habitus einer Stadt, Frankfurt, New York 2009, S. 143. 19 Max Graf, Legende einer Musikstadt (wie Anm. 17), S. 9.
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den ersten Nachkriegsjahren.20 Selektive Sehnsucht und dialektischer Aufhebungsdrang sowie die subtile Kombination zwischen geistig geladenen Bildern und Gedächtnisorten in Grafs Musikbiographie bestimmen ebenso das basso continuo der audiovisuellen Narration. Die urbane Selbstwahrnehmung über die Erstellung eines imaginären Museums dient nicht nur der Vergewisserung einer ungebrochenen kulturellen Identität, sondern auch der Bewerbung einer Stadt im In- und Ausland.21 Werbefilme wie Komm nach Wien und Wien schenkt immer Freude (beide 1956) stellen weitere Versuche dar, die Tourismuswirtschaft anzukurbeln. Erste Ziele sind die Wiener Staatsoper, gefolgt von Wiener Heurigen, die jeweils mit dem Klang eines Strauß-Walzers und einer Heurigen-Zither gekoppelt sind. Hochkultur und Popularkultur bedienen das Stadt-Imaginarium gleichermaßen. Die Werbekampagnen verwenden eine temperierte Mischung zwischen Tradition und einer kontrollierten, offiziellen Gegenwart; die Adjektive »alt« und »jung«, nicht jedoch »neu«, verbinden kulturpolitische Kategorien und zielen auf ein breites Publikum. Mit dem Slogan der 1950er-Jahre, »Österreich, Dein Herz ist Wien«, wird Berührungsängsten sowie Vorurteilen gegenüber der Metropole begegnet.22 In dieser konsonanten Partitur der Stadt fehlen
20 Gegenüber Max Grafs entpolitisiertem Wien-Bild geht Stefan Zweigs nuancierte Darstellung der Stadt als Weltstadt der Kultur und nicht als Hauptstadt eines nationalen Deutschlands noch weiter. Vgl. Stefan Zweig »Das Wien von gestern« (1940), in: Richard Friedenthal (Hg.), Zeit und Welt. Gesammelte Aufsätze und Vorträge 19041940, Stockholm 1943, S. 129-150. Abdruck des Textes in: Arnold Klaffenböck (Hg.), Sehnsucht nach Alt-Wien. Texte zur Stadt, die niemals war, mit einem Vorwort von Wolfgang Kos, Wien 2005, S. 151-158. 21 Das Wiener Fremdenverkehrsförderungsgesetz (WFFG) vom 1. August 1955 »umfasst alle Maßnahmen, die geeignet sind, den für die Volkswirtschaft und die Geltung Wiens im In- und Auslande bedeutungsvollen Zustrom von Gästen zu verstärken«, Landesgesetzblatt für Wien, Jahrgang 1955, Ausgegeben am 1. August 1955. 22 Wien Tourismus. 50 Jahre und die Zukunft, 1955-2005, Wiener Tourismusverband (Hg.), Wien 2005. Online: b2b.wien.info/media/files-b2b/50-jahre wientourismus.pdf, S. 25 (Zugriff: Mai 2014). Siehe auch Lutz Musner, »Ist Wien anders? Zur Kulturgeschichte der Stadt nach 1945«, in: Peter Csendes, Ferdinand Opll (Hg.), Wien, Geschichte einer Stadt. Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien, Köln u.a. 2006, S. 739-819. Das Movens des Slogans »Österreich, Dein Herz ist Wien« ist nicht neu. Bereits zur Zeit des Austrofaschismus findet er sich etwa in einer Rede von Bundespräsident Miklas (12. September 1934): »Wien sollte zum Stolz aller Österreicher werden«, siehe: Barbara Feller, »Vorwärts in die Vergangenheit (wie Anm. 3), S. 273.
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jedoch jegliche Kontrapunkte der Moderne, die von einer Weltmusikstadt zu erwarten gewesen wären. In den Dokumentarfilmen der 5oer Jahre, die von der Stadtbaudirektion der Gemeinde Wien beauftragt wurden, wie etwa Symphonie Wien (1952) und Die Junge Stadt (1954), beide unter der Regie von Albert Quendler, wird hingegen die Politik der öffentlichen Investitionen auf einer sachlichen, von Mystifikationen befreiten Erzählform kommuniziert.23 Bezeichnend ist in diesem Fall die Vermeidung jeglichen melodischen Sentimentalismus zugunsten der expressionistisch gefärbten Filmmusik von Hanns Jelinek. Statt Wiener Walzer und Wienerlied erklingen hier die Zwölftonkompositionen des Schülers von Arnold Schönberg und Alban Berg. Die sachliche Wahrnehmung des »wirklichen Wiens« korreliert in diesem Ausnahmefall mit Musik in Zwölftontechnik und verbannt somit, wie in der Arbeiter-Zeitung formuliert, die Bilder des Wiens der Backhendlzeit, des Heurigenkitsch und der Deutschmeistergespenster.24 Während die Werbefilme der 50er- und 60er Jahre die Errungenschaften moderner Architektur wie etwa den Südbahnhof von Heinrich Hrdlicka (19551961), den Ringturm von Erich Boltenstern (1955), die Opernpassage (1955), die Leuchtreklame und die neuen Infrastrukturinvestitionen der Stadt – siehe hierzu ein visionäres Mosaik des ›Wien der Zukunft‹, umringt von Hochhäusern und durchquert von ›Highways‹ (Abb. 4) – kurz auf das progressive ›junge Wien‹ aufmerksam machen, bleibt die musikalische Ebene, wie aus den vorangegangenen Beispielen ersichtlich, auf dem Topos eines ›Alt-Wien‹ sowie auf den Wahrzeichen einer mythisch-traditionellen Wiener Musikkultur haften. Wirtschaftswunder und Gedächtnisverlust, jene Kategorien, mit denen Maderthaner und Musner die gesellschaftliche Entwicklung der 50er bis 70er Jahre charakterisieren, prägen den Kern einer medialen Geschichtserzählung, welche bewusst
23 Vgl. http://mediawien-film.at/film/122 und http://mediawien-film.at/film/107 (Zugriff: Mai 2014). 24 »...diese dichterische Einleitung allein verbannt Heurigenkitsch und Deutschmeistergespenster von der Leinwand. Die gute alte Zeit wird nur ganz kurz in ihrem Erbe gezeigt: Pawlatschen, Lichthöfe ohne Licht, unhygienische Schulzimmer«.... »Und aus allen Fugen dieses herzerquickenden Filmdokuments, zu dem Hanns Jelinek eine im besten Sinne wienerische Musik schrieb...quillt Jugend«, vgl. »Die junge Stadt. Ein Filmdokument des Wiener Stadtbauamtes«, in: Arbeiter-Zeitung, Wien 27. Jänner 1954. Der Autor bemerkt jedoch am Ende resigniert, das dieser »abendfüllende Dokumentarfilm über das künstlerische und menschliche Gesicht Wiens ... kaum mehr eingesetzt« wird.
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auf den Einsatz zeitgenössischer Musik verzichtet.25 Das Symptom des Gedächtnisverlustes und die Übermacht der Imagination und der Nostalgie zeigen sich gerade im Bereich der historisierend-verklärenden Definition einer Musikstadt Wien in den Wiederaufbaujahren. Abb. 4: Wien 1958, Mosaik Wien 4., Rainergasse 2
(© Bundesdenkmalamt Wien)
25 Wolfgang Maderthaner, Lutz Musner, »Im Schatten des Fordismus – Wien 1950 bis 1970«, in: Roman Horak, Wolfgang Maderthaner, Siegfried Mattl, Lutz Musner, Otto Penz (Hg.), Randzone. Zur Theorie und Archäologie von Massenkultur in Wien 19501970, (= Reihe Kulturwissenschaften Bd. 10), Wien 2004, S. 38-46.
Autorinnen und Autoren
Atanasovski, Srđan, graduated musicology at the Faculty of Music in Belgrade in 2009, where he is currently a PhD student and is working on dissertation entitled Music Practices and Production of the National Territory. Atanasovski holds the award of the National Office of the President of the Republic for academic achievement and social engagement in 2009, and he was also awarded by the scholarship of the Austrian Agency for International Cooperation and scholarship of Coimbra Group and the University of Graz, both in the academic year 2010/11. Since 2008 he is engaged as a music critic and guest broadcast editor on the Third Programme of Radio Belgrade and since 2011 he works at the Institute of Musicology SASA as a research assistant. He is also engaged as research fellow and coordinator of the Belgrade team of the international project City Sonic Ecology: Urban Soundscapes of Bern, Ljubljana, and Belgrade, funded by the Swiss National Science Foundation. Erdmann Guido, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität (München) sowie Künstlerisches Lehramt Musik für Gymnasien an der Hochschule für Musik und Theater München. Dissertationsprojekt bei Siegfried Mauser zu geistlichen Dialogkantaten von Christoph Graupner. 2008-2014 in Wien wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsstelle Johann-Joseph-Fux-Gesamtausgabe an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Herausgeber der Reihe Wien – Vienna – Vienne. Musik der kaiserlichen Residenzstadt (Carus-Verlag Stuttgart) sowie zahlreicher Musikeditionen. Freeze, Timothy D., Gastprofessor am College of Wooster und hat bei Indiana University und IES Abroad (Wien) unterrichtet. Er promovierte 2010 an der University of Michigan mit der Dissertation Gustav Mahler's Third Symphony: Program, Reception, and Evocations of The Popular. Seine Forschungsschwer-
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punkte sind Gustav Mahler, George Gershwin und Rezeption. Derzeit bereitet er eine kritische Ausgabe von Gershwins Klavierkonzert vor. Hüttler, Michael, Dr. phil; vor dem Studium der Theaterwissenschaft und Publizistik einige Jahre Bankangestellter. Promotion in Theaterwissenschaft an der Universität Wien, 2001-2002 Lehrbeauftragter an der Yeditepe Universität Istanbul, 2003-2004 FWF-Forschungsprojekt zum Experimentellen Theater in Österreich, 2003-2010 Lektor am Institut für Theater- Film- und Medienwissenschaft, Universität Wien. 2007-2010 Leiter des Don Juan Archiv Wien, seit 2011 Leiter des Hollitzer Wissenschaftsverlags. Mitglied der internationalen und interdisziplinären Forschungsgruppe Spectacle vivant et sciences de l’homme. Forschungsschwerpunkt: das »türkische Sujet« im europäischen Theater. Veröffentlichungen (Auswahl): (Hg.) Lorenzo Da Ponte (2007); Il corpo del teatro, hg. mit U. Birbaumer und G. Di Palma (2009); Ottoman Empire and European Theatre Vol. I – The Age of Mozart and Selim III (1756-1808), hg. mit H. E. Weidinger (2013); Co-Herausgeber von TheMA. Kurdiovsky, Richard, Architekturhistoriker am Institut für kunst- und musikhistorische Forschungen (Abteilung Kunstgeschichte) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 1997-2004 freier Mitarbeiter der Architektursammlung der Albertina Wien. 2008 Promotion zu Carl Hasenauer und Gottfried Semper. Lehrtätigkeit an der Universität Wien und der Technischen Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Wiener Hofburg im 19. Jahrhundert, zentraleuropäische Architektur und Gartenkunst vom Barock bis ins 20. Jh. und urbane Kultur in der Habsburgermonarchie. Partsch, Erich Wolfgang, Studium der Musikwissenschaft und Pädagogik in Wien. 1983 Promotion Dr. phil. Koordinator der Brucknerforschung am Institut für kunst- und musikhistorische Forschungen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Vizepräsident der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft, Redaktion der Nachrichten zur Mahler-Forschung. Lehraufträge am Institut für Germanistik der Universität Wien sowie an der Universität für Musik und darstellende Kunst. Forschungsschwerpunkte: Bruckner, Mahler, Musikkultur des Biedermeier, Musik und Natur, Musik und Bergbau. Zahlreiche Vorträge und Veröffentlichungen im In- und Ausland. Schmidl, Stefan, Univ.-Prof. für Theorie und Geschichte der Musik an der Konservatorium Privatuniversität der Stadt Wien und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für kunst- und musikhistorische Forschungen an der Österreichi-
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schen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Musik als Repräsentation und Evokation, Geschichte kollektiver Wahrnehmungen in Musik; Musik-, Medien- und Kulturgeschichte des 19., 20. und 21. Jahrhunderts. Zuletzt erschienen: Jules Massenet (2012) und (als Hg.) Die Künste der Nachkriegszeit in Österreich (2013). Zapke, Susana, Pro-Rektorin und Univ.-Prof. für Historische Musikwissenschaft an der Konservatorium Privatuniversität der Stadt Wien, assoziierte Mitarbeiterin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Studium der Musikwissenschaft und Literaturwissenschaft an den Universitäten Freiburg i. Br. und Köln, Promotion an der Universität Hamburg, Habilitation an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: Musikalische Mediävistik, intellektuelle Referenzsysteme des Fin de siècle und Imaginerie der Moderne, Musik im urbanen Raum: Bespielung und Transformation urbaner Räume, Klanglandschaften, Raumpolitik und Stadtimages. Laufende Forschungsprojekte Urbane Musik und Stadtdesign zur Zeit der frühen Habsburger, Wien 14.-15. Jahrhundert (FWF), Music Mapping Vienna. Urban Experiences in the 20th-21th Century, in Kooperation mit der Univ. für Angewandte Kunst Wien.
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Urban Studies Sabine Ammon, Eva Maria Froschauer, Julia Gill, Constanze A. Petrow, Netzwerk Architekturwissenschaft (Hg.) z.B. Humboldt-Box Zwanzig architekturwissenschaftliche Essays über ein Berliner Provisorium (mit einem Geleitwort von Kurt W. Forster) April 2014, 214 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2671-1
Simone Egger »München wird moderner« Stadt und Atmosphäre in den langen 1960er Jahren 2013, 482 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2282-9
Antje Matern Mehrwert Metropolregion Stadt-Land-Partnerschaften und Praktiken der Raumkonstruktion in der Metropolregion Hamburg 2013, 394 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,99 €, ISBN 978-3-8376-2499-1
Montag Stiftung Urbane Räume (Hg.) Neue Partner für die Quartiersentwicklung Die KALKschmiede* in Köln. Methoden – Erkenntnisse – Interviews 2013, 200 Seiten, kart., 16,99 €, ISBN 978-3-8376-2664-3
Sandra Maria Geschke Doing Urban Space Ganzheitliches Wohnen zwischen Raumbildung und Menschwerdung
Daniel Nitsch Regieren in der Sozialen Stadt Lokale Sozial- und Arbeitspolitik zwischen Aktivierung und Disziplinierung (2., korrigierte Auflage 2014)
2013, 360 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2448-9
2013, 300 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2350-5
Jörg Heiler Gelebter Raum Stadtlandschaft Taktiken für Interventionen an suburbanen Orten
Eberhard Rothfuß Exklusion im Zentrum Die brasilianische Favela zwischen Stigmatisierung und Widerständigkeit
2013, 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2198-3
2012, 290 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2016-0
Constanze Klotz Vom Versuch, Kreativität in der Stadt zu planen Die Internationale Bauausstellung IBA Hamburg
Sebastian Schweer Skateboarding Zwischen urbaner Rebellion und neoliberalem Selbstentwurf
Mai 2014, 366 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2701-5
Oktober 2014, 184 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-2780-0
Miriam Stock Der Geschmack der Gentrifizierung Arabische Imbisse in Berlin 2013, 354 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2521-9
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2014-10-28 11-58-11 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03d8380904238710|(S.
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