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German Pages VII, 367 [361] Year 2020
Hermann Schweppenhäuser Kultur, Ausdruck und Bild G E S A M M E LT E S C H R I F T E N BAND 2
Hermann Schweppenhäuser Gesammelte Schriften Herausgegeben von Thomas Friedrich, Sven Kramer und Gerhard Schweppenhäuser
Der Philosoph Hermann Schweppenhäuser (1928–2015) gehörte zum engsten Kreis um Adorno und Horkheimer. Er führte die Kritische Theorie als dialektische Philosophie weiter und verband sie mit dem Denkstil Walter Benjamins, dessen Gesammelte Schriften er gemeinsam mit Rolf Tiedemann herausgeben hat. Schweppenhäuser studierte Philosophie, Literatur- und Kunstgeschichte sowie Soziologie und war Assistent am Philosophischen Seminar der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. Von 1962 bis 1996 hatte er den Lehrstuhl für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Lüneburg inne, die 1989 zur Universität Lüneburg wurde. Daneben lehrte Schweppenhäuser seit den 1960er Jahren Philosophie an der Frankfurter Universität, zunächst als Privatdozent, später als Honorarprofessor. Sein Werk umfasst Abhandlungen zu Heidegger, Hegel und Kierkegaard und Essays zu Themen aus den Bereichen Sprach- und Kulturphilosophie sowie Sozialphilosophie, Ethik und Ästhetik. Dazu kommen philosophische Aphorismen und lyrische Texte. Band 1–4 der Gesammelten Schriften enthalten philosophische Abhandlungen, gegliedert nach Arbeitsschwerpunkten und Themengebieten des Autors. Band 5 versammelt philosophische Aphorismen und Fragmente, zum Teil aus dem handschriftlichen Nachlass, sowie lyrische Arbeiten. Band 6 dokumentiert ausgearbeitete Vorlesungsmanuskripte aus Schweppenhäusers akademischer Lehre in Lüneburg und Frankfurt sowie eine Frankfurter Vorlesungsmitschrift.
Weitere Bände: http://www.springer.com/series/14361
Hermann Schweppenhäuser Kultur, Ausdruck und Bild Gesammelte Schriften, Band 2
herausgegeben von Thomas Friedrich Hochschule Mannheim, Deutschland Sven Kramer Leuphana Universität Lüneburg, Deutschland
Gerhard Schweppenhäuser Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg und Universität Kassel, Deutschland
Gesammelte Schriften von Hermann Schweppenhäuser ISBN 978-3-476-05718-1 ISBN 978-3-476-05719-8 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Inhaltsverzeichnis
Teil I Kultur Zum Widerspruch im Begriff der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kulturindustrie und moralische Regression . . . . . . . . . . . . . . . 15 Unreglementierte Erfahrung oder Konsenszwang. Ein Gespräch mit Giorgos Sagriotis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Die Zeitungspresse als Produkt und als Produzent gesellschaftlichen Verhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Rolf Tiedemann zu Ehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Das Janusgesicht. Ein Gespräch mit Elena Tavani . . . . . . . . . . . 77
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Inhaltsverzeichnis
Teil II Ausdruck Hermann Schweppenhäuser und Rainer Koehne: Aus einer Monographie über Aspekte der Sprache . . . . . . . . . . . 91 Pression – Prägung – Expression. Zur physiognomischen Dimension des Ausdrucks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Blochs Idee des Expressionismus als objektive Ausdrucksidee . . . . 129 Bemerkungen zur Bedeutung ausdruckstheoretischer und kulturphysiognomischer Studien für eine interdisziplinäre Kulturwissenschaft. Eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Zur Physiognomie eines Physiognomikers . . . . . . . . . . . . . . . 173 Die Vorschule der profanen Erleuchtung . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Schein und Wahrheit in Benjamins Konzeption einer Dialektik im Stillstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Teil III Bild Bilder der Natur in der kritischen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . 233 Dialektischer Bildbegriff und ‚dialektisches Bild‘ in der Kritischen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Bilder und Gebilde. Objektinterpretation in der abbildenden und gestaltenden Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Wahnbilder und Wahrbilder. Sensuelle und intellektive Konstituentien der Visualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Zur empiristischen Theorie der Imagination. Vorstellen und Darstellen bei Bacon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Inhaltsverzeichnis
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Teil IV Anhang Editorische Nachbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Nachweis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
Teil I Kultur
Zum Widerspruch im Begriff der Kultur
Wer für die Erhaltung der radikal schuldigen und schäbigen Kultur plädiert, macht sich zum Helfershelfer, während, wer der Kultur sich verweigert, unmittelbar die Barbarei befördert. Adorno
Die Idee der Kultur stand, in Zeiten, da die Kultur unangefochten war, für das Verlassen der Barbarei. Barbarei hat indessen mit der Kultur sich je wieder reproduziert. Das hat früh zu der kulturkritischen These verführt, Barbarei wäre am Ende das Bessere, zumindest das Lebenskräftigere, Zähere. „Naturam expellas furca, tamen usque recurret“1 . Barbarei wurde, in einer Art von resignativer Umfälschung der Ohnmacht vor dem zwangvoll Immerwiederkehren in Respekt, unter den Namen von Natur, des unverstümmelten Urzustands, edler Wildheit und Wildnis reklamiert. Kultur galt als deren Verfall, als widernatürlich und korrupt. – Beide Vorstellungen, welche die okzidentale Geschichte begleiten und die Dialektik des Zivilisierungsprozesses illustrieren, behalten verhängnisvoll gegeneinander recht. Im Zustand der Kultur perpetuiert sich, gebrochen und vervielfältigt zugleich, der Naturzwang. Als disciplina und 1
Horaz: Episteln 1, 10, 24.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_1
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Kultur
Zucht stärkt er Kultur und beeinträchtigt sie. Was darin als Natur aufscheint – ein verlorenes Arkadien –, ist Deckbild des Ideals, das Kultur nicht erlangte, und das aufs Immergleiche, die Natur reprojiziert wird. Der status naturalis, des blinden Entstehens und Vergehens, Vertilgens und Vertilgtwerdens aber weist alle Vorstellungen vom pazifisch Gelungenen von sich ab. Kallikles, der attische Sophist, und Hobbes, der bürgerliche Naturalist, haben schärfer gesehen als Rousseau, der Naturverklärer, wenn sie in Despotie, in Macht- und Konkurrenzkampf nicht kulturelle Widernatur, sondern machtvolle Natur selbst erblickten. Den Enthusiasten entgeht nicht nur der naturalistische Aspekt der Gesellschaft, ihr Dschungelcharakter, sondern auch der sinistre, unerlöste der vorgeblich so vollkommenen Natur,2 unter dem sie in der Zivilisation allein die Widernatur erkennen. Sagen sie Natur, dann meinen sie in Wahrheit das Kulturideal, das erst noch zu verwirklichen wäre, eine – in Marx’ Worten – humanisierte Natur und naturalisierte Menschheit. Doch eben das macht sie Realisten wie Hobbes und Kallikles überlegen, welche gegebener Natur und Naturgewalt gerade in deren Vertilgung oder Beherrschung durch größere – des „Ungeheuer[s] [...] durch[s] Ungeheuer [...]: de[s] Behemoth durch den Leviathan“3 – oder durch die Deklaration eines Rechtes des Stärkeren4 huldigen. Im Stolz politischer Kultur: in der wohlkonstruierten Staatsmaschine und im Wettstreit um die Entfaltung und Entfesselung der Kräfte – im Etatismus und im Liberalismus –, triumphiert gerade der Widerpart, die – wie auch gesteigerte oder raffinierte – krude Natur. Bei ihr bleibt es im status pacis5 so gut wie unterm Dschungelrecht der freien Gesellschaft. Die Lehre vom Leviathan wie die vom Recht des Starken oder Nichtrecht des Schwachen wurzeln in der Einsicht in die Selbsttäuschung bestehender Kultur, sie würde die Natur veredeln, das Nichtvernünftige begeisten, die Obskurität durchhellen. Durch sie wieder sind die Realisten den Enthusiasten, den Humanisten überlegen – solange jedenfalls, wie die Verbesserung der Natur nur ihr besser instru2 In der Freiheitsschrift spricht Schelling von der allem endlichen Leben „anklebenden Traurigkeit“, von dem „Schleier der Schwermuth, der über die ganze Natur ausgebreitet ist“ (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämtliche Werke, Stuttgart 1856–1861, Band 4, S. 291). 3 Kuno Fischer: Francis Bacon und seine Schule, Heidelberg 1904, S. 356. 4 Siehe Platon: Politeia, 338c. 5 Der Staat: „ein ‚sterblicher Gott‘ [...], nicht im Widerstreit, sondern im Einklang mit dem Naturgesetz“ (Kuno Fischer, l. c.).
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mentiertes Fortbestehen: Kultur bloß als allseitig funktionelle Kultivierung ist. – Kultur als Utopisches, als Ideal bindet das naturqualifizierende Kultivierungswerk vorab an den Geist – den Geist als Einspruch wider die Krudität des bloß Daseienden, wider die Naturwüchsigkeit der sozialen Prozesse, die die Menschen in der Gesellschaft, in der Kultur nicht einheimisch werden lassen. Insofern ist sie ihr eigener, sie negierender und transzendierender Kritiker.6 Als utopischen haben den Geist idealistische Metaphysik, kritische Philosophie und große Theologie bewahrt zugleich und verabsolutiert. Ihnen waren die Endzwecke in der Idee, im Absoluten verbürgt. Teil daran haben die durch kontemplative Muße und heiligen Wandel Privilegierten. Sie sind dem beengenden Dasein, seinem entwürdigenden Getriebe entrückt, bleiben ausgenommen von der Reproduktion des Lebens durch körperliche Arbeit, ertötenden Dienst, schmählichen Wettbewerb. Kultur, als geistige, ist Lebensform der müßigen Klassen, die, um sie zu sichern, sich aufraffen müssen, arbeitsteilig die Ideale zu verwalten, zu propagieren, nach den jeweiligen Interessen zu modeln, und die dabei vorgeben, sie von Befleckung rein zu erhalten. Die Organisation des ökonomischen und politischen Lebens, Wissenschaften, Metiers, technische Künste werden als Zivilisation von der Kultur abgespalten. Dass diese mit jener unauflöslich verflochten bleibt, eine Art Funktion von ihr bildet: dem System der Arbeitsteilung erst sich verdankt, soll nicht in den Blick kommen und wird, um des Prestiges des Kulturwerts gegenüber inferiorer Zivilisation willen ostentativ verdeckt.7 Es indiziert sich die Grundantinomie im Kulturbegriff: dass die Kulturideale, die anmelden, das Dasein, so wie es ist, das Leben in Not und Mühsal, dürfe nicht das Endgültige und Letzte sein, eben das Unrecht, das Fried- und Glücklose des Zustands perpetuieren, worüber sie sich hinausschwingen – in den müßigen Klassen geschieht es realiter –, und gegen den sie nach unten hin abblenden. Kultur ist von der Antike an nicht zu 6
Siehe Herbert Marcuse: „Über den affirmativen Charakter der Kultur“, in: ders., Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt am Main 1965, S. 58 f. 7 Zur Ostentation des Müßiggangs, der Freiheit vom Existenzkampf siehe Thorstein Veblen: The Theory of the Leisure Class, New York 1945 (dt.: Köln 1959); zur gesellschaftlichen Funktion dieser Ostentation siehe Peter von Haselberg: Funktionalismus und Irrationalität. Studien über Thorstein Veblens „Theory of the Leisure Class“, Frankfurt am Main 1962.
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Kultur
denken ohne das sinistre Fundament der Sklaverei, auf dem sie strahlend sich erhebt. Von dem Zwang und der Unwürdigkeit täglicher Geschäfte ist befreit einzig, wen nackte Existenznot und politische Organisation nicht zu körperlicher und praktischer Arbeit verhalten. Theoretische Betrachtung, Kontemplation, Beschäftigung mit dem Guten, Wahren, Schönen um seiner willen, Muße, Gesittung, edle Gesellung – und deren Ostentation durch Besitz und Überfluss – bedürfen des ungeteilten, selbst sich gehörenden Menschen, dessen, der seiner Bestimmung, ein Selbstzweck zu sein, lebt. Müßigsein ist Ausdruck dessen, kein Makel. Es wird zum Makel erst da, wo die Arbeit geheiligt wird, tendenziell mit dem Bürgertum, das aktiv in die Geschichte drängt, und das nach dem Sieg über Feudalität, Mönchs- und Weltpriestertum die Kulturideale übernimmt, zunächst um triumphierend damit sich zu schmücken, zu bekunden, dass es jetzt der Herr ist. Muße, Kultur und Geist erlangen eine modifizierte Stellung. – Bürgerliches Denken fasst den Geist wesentlich als instrumentelle Vernunft.8 Es schmilzt noch die Ideen und Ideale um. Sie werden auf die Ressorts fürs Höhere und fürs Heil verteilt, auf die Instanzen der Sinngebung und Orientierung. Religion, Kunst, Weltanschauung müssen die Praxis legitimieren helfen, deren Kälte und Skrupellosigkeit des Segens, der Absolution bedarf. Die Ideen selber müssen praktikabel sein. Mit dem Bürgertum siegt der Geist, den es als den zivilisatorischen apostrophierte. Der instrumentellen Vernunft bedarf es zur Sicherung seiner Herrschaft, zur Etablierung der großen zivilisatorischen Institute und Unternehmungen wie des Rechtsstaats, ausgedehnter Industrie, der Entwicklung und Anwendung der Wissenschaften, rationaler Verwaltung und Technologie. Mit der Kultur legitimiert und schmückt es sich. Im kulturellen Ornament schlagen Rechtfertigungs- und Luxusfunktion gleichermaßen durch. Kultur bleibt so inkompatibel mit dem gesellschaftlichen Grundmaßstab, dem Prinzip des ‚gleich um gleich‘, wie die Bestimmtheit von Menschen, Kreaturen und Dingen in ihrem Ansichsein mit ihrem Füranderesein als gesellschaftlicher Faktoren und Agenzien, als Werten und Waren es ist. Dennoch ist das Unnützliche, Überflüssige in der Ostentation, der Prestigefunktion der Kultur deren Karikatur als der eines 8
Siehe Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt am Main 1967, S. 11 ff.
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ernstlich realisierten Kulturideals. Beweist sich das Bürgertum mit dem kulturellen Luxus, dass es zählt, dass es zur Veredlung der Menschheit beiträgt, vergisst es doch nie den Nutzen des Unnützlichen, die Investition in den Luxus, das Kalkül mit dem, was dem Kalkulieren absagt – und ginge es bloß um dessen Reklamewert. An die Stelle des alten Mäzens tritt der zeitgemäße Sponsor – der den Künsten, dem Geist ergebene Spender, der bei der großzügigen Gabe den Mehrwert überschlägt, den sie abwirft, und das Prestige berechnet, das sie einbringt. Die Kultur, die als geistige, humanisierende entbehrlich ist, wird als ostentative unentbehrlich. An der ambivalenten Stellung des Bürgers zum Künstler – am von geheimer Verachtung durchwirkten Enthusiasmus wie an der offenen, kollektiv gedeckten, Missachtung, in der Neid auf die Ungebundenen schwelt – hat sich das drastisch immer wieder belegt. Aber indem Kultur der Ostentation dient, ist sie auch etwas wie der Tribut des Lasters an die Tugend. Mit den Kulturetats, der offiziös gehorteten Kultur, mit der regulären Kulturware wird die Konterbande alles dessen eingeschmuggelt, was an den Kulturgütern die Zurichtung zum Gut und zum Wert – zum doppelsinnig teuren Besitz – dementiert: ihr gerade dadurch bis zur Konzessionslosigkeit gehender Sinn – Eigensinn –, zu entfalten oder zu bewahren, was an anderes gemahnt, als was ist. Sie wollten, in ihrer am stärksten durchgebildeten, kompromisslosesten Gestalt, den Menschen das Bild des besseren Daseins vorhalten, durchs geschundene Leben hindurch auf ein heileres deuten. – Wie die antike bleibt die bürgerliche Kultur an die Schmach des Daseins gebunden. Es reproduziert sich ihre Antinomie: umso abgründiger, je schneidender der Widerspruch zwischen Idealen und Sehnsucht der Menschen und der zunehmend hässlichen, ausgepowerten, blutigen Realität zum Bewusstsein dringt; einer Realität, die im Stande höchst entwickelter Produktivkräfte für immer zu heilen wäre.9 Statt der Sklaven sind es die wachsenden Massen der Lohnabhängigen, deren licht- und glücklose Fron, die die Bedingung abgeben, dass Wohlstand, Zivilisati9
Das „Fortschreiten der Zivilisation [...] hat die Spannung zwischen Kultur und Zivilisation nicht beseitigt. Es mag die Dichotomie sogar in dem Maße verschärft haben, wie die ungeheuren, durch den technischen Fortschritt eröffneten Möglichkeiten in zunehmendem Gegensatz zu ihrer beschränkten und verzerrten Realisierung erscheinen“. (Herbert Marcuse: Kultur und Gesellschaft II, Frankfurt am Main 1965, S. 149 f.).
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on, Kultur sich herstellen. Die sie produzieren, sind von ihrem Genuss prinzipiell nicht ausgeschlossen – Menschenrechte und Kulturideal haben es pathetisch verkündet –, doch der Genuss der Kultur bleibt auf die Reproduktion der Kräfte beschränkt, womit sie und ihre materiellen Voraussetzungen erzeugt und erhalten werden müssen. Und das ist noch der beste Fall: gesellschaftlich notwendige Arbeit, absolviert auf dem Kulturniveau, das die Kultur konstituiert und zugleich verweigert. Die Kultur des Besitzes, der Bildung, der Humanität schließt ihre Produzenten von ihrer vollen Aneignung aus. Mit der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft entwickelte sich auch der Kampf der organisierten Produzenten um den Anteil an Zivilisation und Kultur der herrschenden Gruppen – mit triftigen, in der kulturstiftenden Manifestation menschlicher Wesenskraft, nämlich der Arbeit, fundierten Argumenten wie dem, dass jener Anteil nicht geraubt, sondern nur in den zuständigen Besitz übernommen, also, umgekehrt, den eigentlichen Räubern und unrechtmäßigen Besitzern entrissen werde. Dieser Kampf ist nur der sichtbar gewordene Antagonismus im Grundwiderspruch der Kultur, der zu der Auflösung drängt, die im Kulturstand einer emanzipierten Menschheit gelegen ist – einer Kultur, die sich durch die eigene exklusive, hypostasierte Gestalt selber blockiert. Solange Kultur und Zivilisation eine Dichotomie bilden, solange die instrumentelle von der nicht-operationellen Vernunft nicht durchdrungen ist, die Mittel die Stelle der Zwecke usurpieren, solange nicht der – an den Massen gerügte – materielle Glücksanspruch mit der an den Oberen als Überspanntheit, Verzärtelung verachteten – Verfeinerung und Vergeistigung zusammengeht – solange wird Kultur immer auch ideologisch und reaktionär sein, werden wechselnde Macht- und Besitzeliten in ihrem Namen die Massen in Abhängigkeit halten, werden die Ideale die brutalen Realitäten rechtfertigen und verklären müssen. ‚Auf dem Grunde‘ der schönen, der guten Dinge wird weiter das Blut, das Grausen sein, das sie kosten.10 10
Siehe Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, Band 2, München 1960, S. 803 f. [Zur Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung: „Schuld, Schlechtes Gewissen und Verwandtes“]; siehe auch l. c., Band 3, S. 279 [Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, „Der griechische Staat“]: Wir dürfen „die herrliche Kultur mit einem bluttriefenden Sieger vergleichen, der bei seinem Triumphzuge die an seinen Wagen gefesselten Besiegten als Sklaven mitschleppt“; dazu siehe Walter Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Her-
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Nicht nur wird Kultur um den Preis der Barbarei erkauft bleiben, sie wird gerade dadurch, dass sie gegen technische und politische Zivilisation ausgespielt wird, ihren utopisch-humanitären Sinn einbüßen und, ehe sie in der Assimilation an sie verschwindet, als irr-humanitäres Alibi technisch triumphierender Inhumanität geistern, nach Art der Vollstrecker in Konzentrationslagern, die tags ihre berufliche Pflicht taten – von der Auspowerung der Opfer bis zu ihrer Tötung und noch der rationellen Verwertung der Leichen – und abends zur Erholung dem Angenehmen und Schönen sich widmeten, Musik und Konversation trieben, um über eben die Härte des Daseins sich zu erheben, die sie diesem bereiteten. So erfüllte sich hier die Kultur, indem sie sich ad absurdum führte. – Die um Kultur kämpfenden Massen selber – in der Gestalt ihrer Organisationen und Organisatoren – besorgen den Abbruch der Kultur. Von den Bildungsvereinen, die die Macht des Wissens erobern wollten, den Kulturbünden, die ihren Anteil an den Geistesschätzen forderten und mit obskuren Programmen der Lebensreform zu der Deformation ertüchtigten, die zu bekämpfen sie vorgaben, über die kulturellen Freuden von Betriebsfesten und Kameradschaftsabenden in der Volksgemeinschaft bis zu den schauerlichen Darbietungen, die Häftlinge, unter Todesdrohung, ihren Leidensgenossen in den Lagern bereiteten, oft um zur Tortur oder zur Hinrichtung aufzuspielen,11 führt ein – stetig absteigender – Weg. Und die Kultur-Restauration nach den Letzten Tagen der Menschheit – denen nach dem zweiten Weltkrieg, mit denen sowenig wie mit denen nach dem ersten jene apokalyptische Umwälzung einherging, in welcher diese Menschheit durch ihre Erneuerung von Grund auf verschwunden wäre – war nicht der Aufstieg, sondern jene Assimilation der Kultur an die aus den Trümmern wie nie entwickelte technisch-industrielle Zivilisation, die diese nicht kultivierte. Indem jetzt „die Kultur dem täglichen Leben und der Arbeit systematisch [...] einverleibt wird“, verliert sie vollends das – wie auch immer verzerrte – transzendierende Element, durch
mann Schweppenhäuser, Bd. I–VII, Frankfurt am Main 1972–1989, Band I, Frankfurt am Main 1974, S. 696. 11 Siehe Egon Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, Frankfurt am Main 1946, S. 100.
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das sie „gegenüber den gegebenen Formen der Zivilisation antagonistisch und fremd“12 , negatorisch und kritisch war. Die „leichte Assimilation von Arbeit und Entspannung, von Versagung und Vergnügen, von Kunst und Haushalt, von Psychologie und Betriebsführung“ und manche andere Legierung von Zivilisatorischem und Kulturellem ändert „die traditionelle Funktion dieser Kulturelemente [...]: sie werden affirmativ, das heißt, sie dienen dazu, die Gewalt des Bestehenden über den Geist zu befestigen.“13 Damit wird „keine Verdammung“ ausgesprochen: „weitgehender Zugang zur traditionellen Kultur und besonders zu ihren authentischen Werken ist besser als die Erhaltung kultureller Vorrechte für einen beschränkten Kreis auf der Basis von Reichtum und Geburt. Um aber den Erkenntnisgehalt dieser Werke zu bewahren, bedarf es geistiger Fähigkeiten und eines intellektuellen Bewußtseins, die den von der herrschenden Zivilisation in den fortgeschrittenen Industrieländern gewünschten Denk- und Verhaltensweisen nicht eben angemessen sind“14 , und die eine in diesen konformistisch inszenierte Kultur für alle gewiss nicht ausbildet und fördert. Mit der Abschleifung des antagonistischen Gehalts der Kultur, der Zession ihres „Erkenntnisgehalt[s], ihrer bestimmten Wahrheit[en]“ an die „subjektive, emotionale Dimension“15 , ihrer Einpassung ins Bestehende aber wird „ein lebenswichtiger Raum für die Entwicklung von Autonomie und Opposition“, „eine Zuflucht vor dem Totalitarismus“ – auch dem einer stets geschlosseneren verwalteten Welt – „zerstört“16 . Indem die pragmatische Zivilisation die Kultur „übernimmt, organisiert, kauft und verkauft“, ebnet sie „die Spannung zwischen ‚Sollen‘ und ‚Sein‘“, zwischen „Potentiellem und Aktuellem, Zukunft und Gegenwart, Freiheit und Notwendigkeit“17 ein – verriegelt sie die Perspektive einer möglichen „Welt des Friedens [...], ohne Ausbeutung, Elend und Angst“ und blockiert so sich selbst als „eine Zivilisation, die zur Kultur“18 werden möchte. – 12
Marcuse, Kultur und Gesellschaft II, l. c., S. 150 u. 151. L. c., S. 151. 14 Ibd. 15 L. c., S. 155. 16 L. c., S. 152. 17 L. c., S. 155. 18 L. c., S. 156. 13
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Sie deklariert und verkennt sich als Massenkultur – spezifische populäre Kultur in der Massengesellschaft. Von Kulturkritikern ist diese als der – verdiente – Zerfall von Kultur in sich selbst denunziert worden. Zu Recht, wo der blank ideologische Sinn dessen, was für Kultur gilt, am Tag liegt; zu Unrecht, wo, suffiçant-antizivilisatorisch, mit der Kritik versunkene Formen des Kults und der Gesellschaft beschworen werden und die politische Regression der Massen angeregt wird, wofern sie nicht überhaupt die Resignation vor den Aufgaben der Gesellschaft bewirkt, in der doch Kultur erst zu verwirklichen wäre. Kulturkritik kommt zu leicht jenen Eliten zugute, die von der Massengesellschaft ausgenommen sein sollen, die sie, wie ihr Skelett, doch stabilisieren. Sie fördert jene Verachtung des Massencharakters, die augenzwinkernd mit diesem übereingeht in der Verachtung alles kompromisslos Geistigen,19 und die im Stande gewitzter Heteronomie – einer allseits emanzipierten Unmündigkeit – darauf zählen kann, dass Einverständnis sich herstellt, sobald wir, die Eliten, euch, den Massen, den doch uns beiden gemeinsamen Grundbedarf gewähren, wofür ihr uns die Verantwortung fürs Ganze überlasst, die kein Vergnügen ist und nach der man sich nicht drängt. Das Medium solchen Einverständnisses von Manipulation und erwünschter Bestochenheit – es erinnert bisweilen an das von selber vulgären Despoten mit der durch panem et circenses leicht zufriedenzustellenden plebs – heißt Massenkultur; ein Name, der, auftrumpfend noch, artikuliert, wie Kulturelles operationalisiert wurde – drastisch belegen das barbarische Komposita wie ‚Kulturbeutel‘, ‚Kulturkammer‘, ‚Kulturaustausch‘, ‚Kulturarbeiter‘ (der ja keine agrarische oder im Zuchtwesen zuständige Berufsbezeichnung ist) –, und der die Massen verhöhnt, deren wahre emanzipatorische Interessen er so wenig schwer nimmt wie die Kultur selber. Die Gebilde, die er designiert, entspringen mitnichten einem Genius des Populären, sondern dem Geist industrieller Produktions- und Kommunikationsweise, der Kultur- und Ideologieproduktion, die den Geist standardisiert und die Kultur gebrauchsfertig und in Warenform beistellt.20 19
Siehe Theodor W. Adorno: „Kulturkritik und Gesellschaft“, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Band 10.1, Frankfurt am Main 1977, S. 26. 20 Siehe Theodor W. Adorno: „Résumé über Kulturindustrie“, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Band 10.1, Frankfurt am Main 1977, S. 337.
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Kultur
Spätestens seit Durchsetzung der Marktwirtschaft waren Künstler wie freie Geister und Gelehrte, noch die esoterischsten, unerbittliche Konkurrenten auf dem kulturellen Markt.21 Gerade der heroische Widerstand dagegen, der, wie etwa noch im George-Kreis, in eine Art von Gütezeichen sich verwandelt – Eindringen des Profanen mitten ins Fanum –, belegt, ehe Kulturindustrie die Kultur vollends usurpierte, den Sieg des Konkurrenzprinzips, der Verwertung auch des Kultur-Werts, über die Kulturidee. In einer Art von verzweifelter Identifikation mit dem Angreifer haben dann avancierteste Künstler und Geister den Warencharakter, Entfremdung und Verdinglichung zum ästhetischen principium stilisationis gemacht. Wo sie sich den Verhältnissen um keinen Preis fügen wollten, sind sie entweder untergegangen, an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden – wo sie unterdessen die ‚Subkultur‘ ausstellt und vereinnahmt – oder zu einer Art bürgerlich geteilter künstlerischer, geistiger Halbexistenz gezwungen, mit dem unvermeidlichen Risiko, von der Kulturindustrie und dem Kulturbetrieb geschluckt und sei’s assimiliert, sei’s als unverdaulich wieder ausgespien zu werden. Die inkommunikabelsten Werke werden für den Gebrauch dressiert, und sie sollen dabei noch gewinnen. Es wird an ihnen, durch sie der Ausdruck versucht, den sie nicht haben und der ihnen auf immer fremd bleiben muss. Durch hypertrophe, destruktive Inszeniererei wird die mangelnde Originalität überspielt, die an den vogelfreien Werken, die nichts und niemand mehr schützt, sich schadlos hält. Massenkultur ist auch eine der Rancune, welche der kulturpädagogische Eifer im Dienst an den unterversorgten Massen, die Prestigegier und alle die einträglichen Bemühungen nicht verdecken können, mit denen die großen Zeugnisse der Kunst und des Geistes verramscht, unter die Unterhaltungsware gemischt, zu Informationsstoff degradiert und solang gemodelt werden, bis sie als „Vehikel der Anpassung“22 den Geist aufgegeben haben. Am Ende werden die aufbereitete und die originäre Kultur nicht nur äußerlich schwer voneinander unterschieden. Kulturproduktion hebt den Schund durch kalkulierte Streuung der konzessionslosen 21
Siehe Arnold Hauser: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1975, S. 503 ff., 953 ff. Marcuse, Kultur und Gesellschaft II, l.c., S. 155. – „Jedes authentische Werk der Literatur, Kunst, Musik und Philosophie spricht eine Metasprache, die andere Tatsachen und Bedingungen übermittelt als jene, die der am Verhalten orientierten Sprache zugänglich sind – darin besteht ihre irreduzible, unübersetzbare Substanz. Es scheint, daß“ diese „sich jetzt in einem Übersetzungsprozeß auflöst“ (ibd.). 22
Zum Widerspruch im Begriff der Kultur
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Gebilde, zehrt schlau von deren Prestige und depotenziert sie zugleich auf konsumtive Standards. Im ökonomischen Reproduktions- und Verwertungsprozess insgesamt fungiert Kultur längst als effizienter Konjunkturmotor, der die schnell aufeinander folgenden Konsumwellen hochtreibt, als rühriger Arbeitsbeschaffer für den Dienstleistungssektor oder als unermüdlicher Werbeagent und Propagandist im Dienst des Industrie- und Finanzkapitals und arbeitet nach Kräften an der Transformation in die Talmikultur, die sie nicht sein will. – Mit ihrer Ausschlachtung erfährt die Kultur unterdessen die Missachtung, die vor noch nicht allzu langer Zeit von der allgemeinen Kulturheuchelei bloß verdeckt blieb. Verdient daran ist so viel, wie die mit Stolz so sich nennender Kulturnationen vorab in barbarischen Kriegen ihren Bankrott längst eingestanden. Offenbar wurde, was die Kulturen stets auch schon waren: Zwangsformationen, in denen der Aufstieg, die Geltung um den Preis von Unrecht und Leiden erkauft war und worin periodisch der Ausbruch, die Regression die nicht mehr gezügelte Destruktivität alles zusammen verwüsteten. Die Schuld trifft die Kultur so weit, wie sie trotz schreienden Zwangs und innerer wie äußerer Misere – ja kraft ihrer – schon als ihre eigene Verwirklichung sich nahm. Was heute mit so viel falscher Andacht als versunkene Kulturen beschworen wird, war solche Zwangsformation, die ihren prekären Bestand wüstestem Aberglauben, unmenschlichen Riten, der Vergötzung des Opfers und barbarischer Ostentation der Herrschaft verdankte. Gewiss sind alte Hochkulturen zugleich die Böden, worauf Recht und Wissenschaft, Philosophie und Kunst, Gesittung und humanere Lebensart erwuchsen. Und doch können Pyramiden, Tempel und Dome, können Codices und politische Institutionen, können die Male des Genius, des Fleißes und der Kunst, die noch herüberragen, nicht die Abertausende der Namenlosen verleugnen, die unter unsäglichen Opfern die Mäler errichteten – den Humus des Bodens abgaben, auf dem Humanität zu erblühen begann. Die kulturkritische Klage sollte ihnen gelten statt bloß der untergegangenen, untergehenden Kultur, die doch so wenig kultiviert war, bedenkenlos oder zu wessen höherem Ruhme immer diese Opfer den Menschen abzufordern. In der Massengesellschaft wird der Kultur heimgezahlt, was Kultur an den namenlosen Massen verbrach.
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Doch nicht durch Rache wird sie entsühnt. „Vom Fluch ihrer Vergeblichkeit kurierte die Kultur einzig, daß sie den Fluch zu Protokoll gibt.“23 Mit dem Geständnis könnte sie einzulösen beginnen, was mit dem Namen Kultur einmal versprochen war. Die im Ernst es versuchen, haben schnell Massen wie Eliten gegen sich. Der intransigente Künstler, der unbestochene Geist, der Anwalt der Nerven, der verletzlichen Natur stehen, so wie alle, die der Kulturidee einer von Ostentation und Verschleiß ebenso wie von Kulturersatz und „Massenbetrug“24, von Schacher wie von Opfer gleicherweise befreiten Gesellschaft die Treue halten, ungedeckt und allein. Negativ müssen sie ausdrücken, was affirmativ, apologetisch die Kultur wieder und wieder verfehlte und entstellte: das Glücksversprechen, Freiheit und Schönheit, Versöhnung der Menschen untereinander und mit der Natur. Zerstörerisch ist aber nicht der künstlerische, theoretische, protestierende Ausdruck der mit dieser Kultur nicht Konformen, sondern dieser Ausdruck ist der der zerstörten, zerstörerischen Kultur, der durch die Anstrengungen jener vernehmlich wird, dem Nietzsche’schen ‚Weh‘ vergleichbar, das ‚Vergeh‘ spricht.
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Theodor W. Adorno: Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt am Main 1963, S. 64. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 144. 24
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1 Jedermann sind die Auswirkungen der industriellen Produktionsweise geläufig. Sie hat das Dasein derer, die sie betreiben und die sie versorgt, von Grund auf verwandelt, und sie modifiziert das verwandelte unausgesetzt weiter. Sofern ist sie wahrhaft epochal und das Ende der sie ausmachenden Epoche nicht absehbar. Totalitär, prägt sie schließlich alles, was in ihrer räumlichen und zeitlichen, inneren und äußeren Reichweite liegt. Die totalitäre Tendenz macht vor ihrer eigenen Zweckmäßigkeit nicht halt – der einer fortgeschrittenen Ökonomie, die die rückständige verdrängt –: das rationellere Mittel im Dienst der Versorgung der Subjekte pervertiert zum Zweck, der die Subjekte anwendet und sie zum Mittel der monströsen Versorgungsmaschinerie denaturiert. Gewiss – stets hat sein Instrument auch den Menschen angewandt, der es anwandte; es war nur der verkörperte Erfinder, dessen Organe und Absichten in der Erfindung sich fortsetzten und verfeinerten, treffsicherer wurden. Aber was für Jagdwerkzeug und Pflug galt, die ruhten, wenn der Anwender ruhte, und leisteten, was er wollte, gilt schon nicht mehr für die einfachen Automaten und vollends nicht für die gigantische kombinierte Maschinerie des Industriebetriebs mit allen seinen ihm zuarbeitenden und von ihm wegarbeitenden Zweigen – den Koloss, der Tag und Nacht, jahraus jahrein sein unabhängiges Leben führt und zu des© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_2
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sen Bestand aller nur verfügbaren Ressourcen bedarf. Er schafft sie sich selber in Gestalt von Grundstoff, geistiger und physischer Betriebs- und Anwendungskraft; von Zeit und Raum, Natur, Kreatur und Mensch, die er zurichtet, zerstückelt und assimiliert. Er schafft sich die seiner Aktivität wie seinen Produkten affinen Wesen, modelt sie weit über das Grundbedürfnis hinaus nach dem Bedarf, der die Produkte konsumieren und noch schaffen muss, auch wenn er sie nicht verträgt oder garnicht braucht. Er kann noch auf die Abnehmer, die Hersteller verzichten, die Güter wieder einstampfen, die er mit soviel Aufwand schuf, oder gleich so sie fertigen, dass sie nur befristet oder garnichts taugen; er kann die Hersteller verkommen lassen und durch Automaten ersetzen – oder beides, die Hersteller als überflüssige Scheinbeschäftigte oder Unterstützungsempfänger mitschleppen, je nachdem, ob ihm von ihnen Gefahr droht oder nicht. Alles das kann er; nur eines kann er nicht: sich selber aufhalten und stillstehen oder eingrenzen. Produktivität, Effizienz wurde ihr eigenes Maß, muss alles sich unterwerfen, was ihr nicht gleicht, und kann am Ende höchstens dadurch verschwinden, dass sie an sich zehrt und wie das mythische Ungeheuer sich selbst auffrisst. Die mythische Perspektive, so triftig sie mittlerweilen ist, ist noch zu arglos. Das Monster der absoluten Produktivität, als das der perspektivische Blick den totalitären Industrialismus in Distanz bringt, kann der Perspektive spotten, die es verkleinern möchte und doch nicht vermag. Sie selbst ist auch aus ihm erzeugtes Trugbild – angstschlotternde Phantasie derer, die es im Griff hat; die an den Hals ihm wünschen, was es ihnen antut und womit es sie unabsehbar weiter bedroht. Und die Triftigkeit der Perspektive, die Wahrheit im Trugbild, verdankt sich dem verrutschenden, selber schon wankenden Stand, auf welchem sie eben noch aufgehen mag.
2 Das aber bezeichnet das eigentliche Thema – eines, das, will man es fassen, den deutlichen archimedischen Punkt einem vorenthält. Subjekt und Objekt der Erkenntnis sind zu sehr ineinander, als dass der Erkennende und Bestimmende vorweg sicher sein könnte, das zu Erkennende bestim-
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me nicht schon ihn selbst. So wähnte die ältere Kulturkritik bereits sich jenseits dessen, was sie kritisierte, während sie unmittelbar Ausdruck kultureller Ambivalenz und Zweideutigkeit war. Etwa vollstreckten Revolten gegen die heuchlerische und verderbte Zivilisation, die sich – wie Jugendstil und Jugendbewegung – aufs Ideal oder die Natur beriefen, zwangshaft das von ihnen Bekämpfte; waren Resultat des Geschmähten, das die Schmach noch verstärkte – so wenn selbsternannte Edelmenschen und Erwählte aller Couleur zu den Eliten sich aufwarfen, die an der Kultur sich rächten, indem sie zur offenen Zwangskultur sie steigerten. Das Ineinander von Kultur und Kulturkritik ist aber noch vertrackter geworden, seit Geist und Kultur von der Industrie in Regie genommen und produziert werden. Was geschah? Die Distanz zwischen Über- und Unterbau ist eingezogen, die Ideologie in die Basis gerutscht. Der klassische Industrialismus hatte die Kultur als Antisphäre sich gegenüber. In ihr konnte, was Menschen und Dingen widerfuhr, als abgehobener Ausdruck sich manifestieren; genuine theoretische, künstlerische Gestalt annehmen. In Begriff und Erkenntnis, in Ausdruck und Bild der Sache war ihr die Direktheit, die unmittelbare blinde Gewalt genommen. Ihr war der wahre Name gefunden, der die Perspektive schuf, die den Subjekten die Hoffnung gewährte, sie vermöchten die entfesselten Kräfte zu lenken und in den Dienst der Emanzipation zu zwingen. Wo geistige Produktivität, wie problematisch und prekär und in welchen Grenzen auch immer, von der industriellen deutlich geschieden war, waren auch subjektive Autonomie und Heteronomie distinkt; und der Ausdruck des Leidens, die begriffene Praxis der fortschreitenden Naturbeherrschung halfen den mittelbar und unmittelbar in sie Verstrickten zur Erhellung ihrer Heteronomie. Sie pointierten die Autonomie und konnten den Widerstand stärken. Gesamtgesellschaftlich betrachtet war theoretische und große künstlerische Kultur samt dem, was im Handeln und der Orientierung der Menschen davon durchschlug, eine Resistenzkraft wider die entfesselte Produktivkraft. Sie hat in der Phase der Konzentration von ökonomischer und administrativer Macht diese Bedeutung zunehmend eingebüßt – bei aller noch nicht vollends verschwundenen Anstrengung, kompromisslos den Ausdruck der hoffnungslosen Diskrepanz zwischen Autonomie und Heteronomie zu finden; den einzigen, bei dem – paradox – die Hoffnung überlebt.
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3 Wie geschieht die Zerstörung der Kultur durch ihre Industrialisierung, verschwindet geistige Produktivität in der industriellen Produktion des Geistigen? Das ist am kulturindustriellen Produkt, Produzenten und Konsumenten gleicherweise zu studieren. Weitgehende Analogie besteht mit den ökonomischen Gegenstands- und Funktionstypen; stellenweise werden sie überboten. Die älteren, in der Retrospektive beinah schon ehrwürdigen Kulturgüter liberalistischer Phasen, denen der Tauschwert noch äußerlich war und die ihn durch den eigenen Kultwert verbrämten, sind unverbrämt die kulturellen und geistigen Waren geworden – Gebilde, die in rationellen arbeitsteiligen Prozessen geplant, kalkuliert, gefertigt und entweder am Markt oder geradewegs unter monopolistischem Druck, mit Aufbietung der ausgepichtesten oder der plumpsten Suggestion, an den Mann gebracht werden, der sie wie die anderen Waren verbraucht. Die Kulturgüter haben den Geist aufgegeben und offenbaren als geistige Waren ihren wirklichen Wertcharakter, den Tauschwert, also das Sein durch und für anderes, welches das Sein und den Wert an sich selbst aufzehrt. Sie sind Vergegenständlichungen in technologischen Prozessen selbst schon vergegenständlichter Ressourcen und Arbeitskraft, die ihrerseits produktiv angewendete Kapitalien sind, während diese als der umgesetzte Ertrag aus dem ganzen kultur- und wertproduzierenden Vorgang figurieren. Das eine ist kraft des andern und jedes im andern scheinbar restlos und äquivalent darstellbar; scheinbar, denn wenn nicht ein Mehr im Äquivalent sich versteckte – und wäre es nur Prestige oder sogenannte Prominenz, „symbolisches Kapital“ (Bourdieu), das bloße reklamehafte in aller Munde Sein –, dann würde nichts – und die eigentliche Kulturmission am wenigsten – zur Konsolidierung dieses rationell-irrationellen Stoffwechselprozesses reizen, bei dem alle Organe soviel zu gewinnen scheinen, wie sie hergeben, herzugeben scheinen wie sie gewinnen. Allein die profitable Verwertung des Werts hält ihn in Gang und lässt ihn mit Aufbietung aller nur erfindlichen Argumente und Scheinargumente solange rechtfertigen, wie er halbwegs dirigibel bleibt und die wirkliche wie die erlogene Funktion erfüllt.
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Ihn zu fristen, gerade dazu verhilft ihm die eigene Ideologie – jener neue und qualitativ andere Schein, als die gegen den Industrialismus abgehobene Kultur es war. Das ganze ins Gigantische gewachsene System, das über jegliche von ihm unterschiedene Sphäre hinaus und durch sie hindurchwuchs – private und familiale wie gesellschaftliche und staatliche –; das die eigene ratio ihnen paralysierte und die seinige aufzwang; das zur Kapitulation oder zum Mithalten sie nötigte – es schuf oder erpresste seine eigene Legitimation, wo immer die offene ökonomische und technische Allgewalt, das Molochartige, den ökonomischen und technischen Sinn dementierte. Etwas wie die Identifikation mit dem Angreifer geschah. Wo die Subjekte nicht mehr ausweichen können, traditionelle Existenzformen und -muster dem Druck nicht standhalten, bleibt ihnen nichts als äußere und innere Adaptation. Die charakteristischen Instanzen der industriellen Gesellschaft werden interiorisiert und die interiorisierten entäußert: Selbsterzeugung des Fremden, Andern, aus dem das Selbst schon getilgt war. Die Subjekte funktionieren am Ende gegenüber sich selbst wie gegenüber einem Auswendigen: bedienen den eigenen Leib wie eine fremde Apparatur. Sie kalkulieren mit sich wie mit Rentabilitätsgrößen, setzen sich ein, wie man Geräteteile in eine Maschine einsetzt. Ein Missgeschick, einen Konflikt traktieren sie wie technische Pannen. Sie verkaufen sich; zeigen eine absurde Beflissenheit, für alle erdenklichen Situationen sich zurechtzutrimmen, um wie Apparate auf dem Prüfstand das Zeugnis ihrer Effizienz, ihrer Brauchbarkeit abzulegen. War die Triebfeder einst Ehrgeiz, Ansporn durch ein Außer- oder Überindividuelles – Gott, Ruhm, Nation oder Menschheit –, Gewissen im Sinn des religiösen oder moralischen, etwas, woran das Subjekt als an einem Nichtsubjektiven zum Subjekt gerade erstarkte – so ist sie wieder, wie im nackten Naturzustand, die Selbsterhaltung unmittelbar; der mimetisch-mechanische Impetus, ans übermächtige Bestehende sich anzupassen, um nicht sofort von ihm zerrieben zu werden. Jeder andere Ehrgeiz würde selbstmörderisch. Und eben dies hilft die gesteigerte Bereitschaft verstehen, mit der die Subjekte weit übers Maß die adaptiven Energien mobilisieren und Bravourleistungen nicht nur in der durchschnittlichen Existenz vollbringen, sondern erst recht in der gesellschaftlich fokussierten, ob im Sport, bei Wettbewerben und Schaustellungen
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aller Art, die so verzweifelt einander gleichen, weil sie doch nur der Verherrlichung des Produktivitätsgötzen dienen.
4 Der Erfolg mimetischer Anpassung ans Unausweichliche ist mit dem kaum mehr rückgängig zu machenden Zerfall der subjektiven Einheit erkauft. Wie die rationell zerlegte und vielfach kombinierte industrielle Produktivität die innere Synthesis von Produktionszweck und Produktionsmittel im durchsichtigen Nutzen des Produkts zerstört, so zersetzt die um der Verwertbarkeit willen gemodelte subjektive Produktivität die Einheit der physischen, seelischen und geistigen Vermögen. Haben die industriellen Prozesse ihre Einheit außer sich, im über ihnen regierenden Gesetz der Verwertung des Werts, so die Tätigkeiten und Leiden des Subjekts in einer von der ihrigen abgespaltenen Raison – vergegenständlicht in jenem Gesetz, dem sie nicht ausweichen können. Es waltet in ihnen wie ein Gewissen, das nicht ihres ist und das Wort- und Gewalthaber, gleich auf welcher Seite, als das moralisch verbindliche allgemeine hinzustellen nicht müde werden. Soweit es aber mit einem solchen inkompatibel bleibt, die Menschen die Kompatibilität sich einreden müssen, werden sie unweigerlich in sich gespalten. Die Theorie hat die veränderte anthropologische Konstitution als gesellschaftlich erzeugte Schizophrenie beschrieben, die nur darum als schwere Erkrankung nicht auffällt, weil der Gesamtzustand sie als die vorherrschende Normalität deckt. Die Einzelnen in ihrer quicken Lebendigkeit, der hektischen Vitalität, der erschreckend gefügigen Betriebsamkeit erscheinen als urgesund, als das Leben selbst – auf den Kredit einer zuinnerst kranken, einer ungeselligen Gesellschaft; einer nach Maßen wahrhafter Integrität desintegren und heillosen. Denn was nach geregelter Sprache Integration bloß heißt, ist in Wahrheit jene heteronome Synthesis des Ganzen, unter deren nicht beherrschter Gewalt das Einzelne in der Abgerissenheit, im inneren und äußeren Bruch stehenbleibt; die es mit der sinistren und blinden Destruktivität auflädt, die so lange Dynamik des Lebens scheint, bis sie dieses explosiv zerreißt. Heteronome Integration produziert Desintegration, die zwangshafte, erzwungene Identität, den Zerfall, dem sie steuern soll.
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5 Solcher Zerfall nimmt paradox eigene Gestalt an; täuscht Dauer und Stabilität vor. Das Hauptwerk dieser Täuschung besorgt die ideologische Industrie: die Produktion der Produktionsverhältnisse – des ganzen als solchen hinfällig gewordenen Überbaus durch die Produktivkräfte unmittelbar. „In unseren Entwürfen“, sagt Adorno, der zusammen mit Horkheimer als erster die kulturindustrielle Produktion systematisch beschrieb,1 „war von Massenkultur die Rede. Wir ersetzten den Ausdruck durch ‚Kulturindustrie‘, um von vornherein die Deutung auszuschalten, die den Anwälten der Sache“, also den Interessierten auf allen Seiten, „genehm ist: daß es sich um etwas wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur handele, um [...] Volkskunst“2 oder, wie es mittlerweilen heißt und ungescheut propagiert wird, Kunst und Kultur von allen für alle. Von Spontaneität kann aber nicht die Rede sein – heute sowenig wie in der Pionierzeit der Kulturindustrie, seit große industrielle Kapitalien in neue lohnende Branchen investiert wurden. Diese nahmen erst Teile der autonomen, ehemals protegierten oder liberalistischen Marktverhältnissen verdankten Kultur in Regie, ehe sie dazu übergingen, sie vollends nach industriellen standards und Rentabilitätskalkülen zu produzieren. Typisch waren Film und Tonfilm, das Radio in der rasch sich verselbständigenden Anbindung an die elektrische Industrie und das Bankenkapital; rasch folgten Platte und Band, Verfahren wie Rotationsdruck, farbphotographische und -kinematographische Reproduktion, dann Fernsehen und die sogenannten audiovisuellen Medien – alle in engerer und engster Verflechtung mit ihrerseits spezialisierten Industrien bis hin zur kybernetischen. Hinzu kamen die Installationen, Studios und Labors bis weit in die Bereiche hinein, die von der Industrie bloß physisch, durchs primäre wirtschaftliche Produkt erobert waren, während sie jetzt den umfassenden Angriff auf Bewusstsein und Seelen vorträgt, die sie direkt, an Ort und Stelle usurpiert. Zweck ist die Integration der Massen von oben, durch die mächtige verselbständigte Apparatur selber. Den Grad der Verselb1 Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 144 ff. 2 Theodor W. Adorno: „Résumé über Kulturindustrie“, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Band 10.1, Frankfurt am Main 1977, S. 337.
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ständigung, die alle Aufmerksamkeit und Konzentration der Beteiligten erheischt und die Kräfte absorbiert, die angeblich entfaltet werden sollen, belegt allein schon der Umstand, dass bis heute keine ernsthaft durchschlagende alternative Instanz sich entfaltete, die etwa den tatsächlichen progressiven Stand der technischen Produktivkraft zu anderen Zwecken nutzte als denen der Gängelung, der unablässigen Bedienung und Fütterung der Apparatur, die alle ihr dienenden Tätigkeiten und Überlegungen zuschleift und normiert – zu dem Ende eines überwältigenden Systems von Reizen und Informationen, der Verdoppelung der Welt, das den Respekt vor ihr einbläut. In ihm ist dann alles, was an andere Zwecke gemahnt, schon mitenthalten – registriert und durch die Zurichtung um die Substanz gebracht. Kritik – auch die eingreifendste – wird, nach dem Vorgang der Leserbriefe, von dem Kritisierten einverleibt und gereicht ihm, als gewagte Spezialität, noch zum Segen. Benjamins Emphase auf der Kultur als technisch reproduzierter hat grausam getrogen. Denn solange die auf hochindustriellem Niveau mögliche Kultur mit der keineswegs illusionären aufklärerischen Gewalt in der wirtschaftlichen und ohnmächtig politischen Verfügung bleibt – und das wusste er schließlich selber3 –, solange muss die wirkliche in das Gegenteil von Kultur umschlagen, in technisch raffinierte Barbarei.
6 Man preist die in unvorstellbarem Ausmaß verwirklichte Kommunizierbarkeit geistiger Gebilde. Aber was diesen durch die umstandslose Konsumtion, den Abruf auf Knopfdruck widerfährt, verschweigt der Enthusiasmus. Die keimfreien Einspielungen, die vom Kontext abstrahieren, aus dem die Werke die Gewalt ihrer Wirkung ziehen, denaturieren sie zu Trägern von Reizen, von Namen und sounds, denen das Etikett werbemächtiger Spezialisten und Virtuosen den künstlichen Kunstwert verleiht. Man hört nicht sowohl das Gebilde durch, sondern erliegt seinem Fetischcha3 Siehe Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ [Erste Fassung], in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I–VII, Frankfurt am Main 1972–1989, Bd. I.2, Frankfurt am Main 1974, S. 451 f.
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rakter. Gewiss: Stets erwächst auch der Rezeption die Chance, nach der das Gebilde selber verlangt – doch nur durch die zusätzliche Anstrengung, kraft eigener Imagination rückgängig zu machen, was technische Abstraktion konstituierte. Aber eben von dieser imaginativen Anstrengung will ja das Gebilde als Fetisch befreien; es lockt durch die Suggestivität hinein in die kommunikativ-technische Dimension als solche – in die, worin der Primat der Vermittlung über das zu Vermittelnde waltet und dieses den Charakter an jene verliert; in der Ubiquität der Produktion um der Reproduktion willen verschwindet. Gebilde der Massenkommunikation resultieren aus heteronomen Produktionsregeln: sie geben den Werkcharakter preis, ob durch Zurichtung der authentischen, ob durch Verfertigung der eigens erwünschten. Diese sind nicht komponiert, sondern zusammengestückt, jene müssen gewissermaßen erst dekomponiert werden. Auch authentische Werke können Montagecharakter haben. Aber dann ist es der innere Zwang der diskontinuierlichen Sache, die den Künstler zu dissoziativen Ausdruckstechniken nötigt; die Montage ist vom Gewissen gegenüber dem Auszudrückenden geboten. Von solchem Zwang kann beim gestückten kulturindustriellen Produkt primär nicht die Rede sein. Hier verhält es sich umgekehrt wie etwa beim disharmonischen Werk der Moderne. Gerade um der Botschaft von Harmonie willen, die die kulturelle Ware durch die Welt transportiert, werden die disparatesten Verfahrensarten zusammengezwungen. Das Gewissen ist nicht das denunziatorische, das die Brüche aufdeckt, sondern das missionarische, das sie wegsuggeriert – Agitation im Namen sozialer Kontrolle, mit dem Appell zur Anpassung, zum good will, zur Bereitschaft, trotz allem ein guter Mensch zu sein und die Mächte und ihre Garanten zu achten, die doch nur das Beste aller wollen. Zu diesem Ende – und in allen Staaten – werden auf Höhe progrediertester technischer standards, die doch die Botschaften von sich aus sprengen, die simpelsten Stereotypien mobilisiert. Raffinierteste Bilder sind mit stupidesten Texten synchron geschaltet. Ein aggregatives Neben- und Ineinander, das wider die Absicht das Chaos enthüllt, das es berechnend neutralisiert, resultiert im gleisnerisch-glatten Produkt, das allein durch die Pseudosynthesis vorgaukelt, das von sich aus Unzusammenhängende füge sich doch zueinander und die Welt sei in Ordnung.
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Das kommt der Erwartungshaltung ichschwacher Abnehmer entgegen, auf die es in richtiger Einschätzung abgesehen ist. Diese ist selber das Werk ausgedehnter arbeitsteiliger Branchen, die mit kommunikationswissenschaftlichen Mitteln den produzierten Befund erheben und in die Produktion wieder einspeisen. Hatte Adorno die Physiognomie der Produkte als „Gemisch aus streamlining, photographischer Härte und Präzision einerseits und individualistischen Restbeständen, Stimmung, zugerüsteter [...] Romantik“4 andrerseits charakterisiert, so wäre dem heute der Hinweis auf die Durchschlagskraft dieses Gemischs weit über den Effekt hinaus hinzuzufügen, den es im passiven Bewusstsein des kulturindustriellen Massenpublikums auslöste. Inzwischen ist auch das aktive – oder das, was dafür gilt – so hoffnungslos ihm aufgesessen, dass vollends ermessen wird, was es bedeutet, wenn die Autoren der Dialektik der Aufklärung die Aufklärung auf hochindustrieller Stufe, also die durch Kulturindustrie, Massenbetrug nannten. Betrogen werden die Massen so, dass sie den Betrug für die Erfüllung halten; dieses desto gewisser, je begeisterter sie ihn in eigener Regie betreiben. Der technisch-ökonomische Stand hat ihnen die Instrumente und Medien in die Hände gespielt. Die Mimesis an die Übergewalt des Industrialismus, vor dem Produkt reiner Reaktivität, kann jetzt als aktive autonome Leistung erscheinen, der Schein als kreativer Stolz sich verkennen. Der kulturtechnische Schleier geriet so dicht, dass er alles von ihm Unterschiedene zuhängt und der technisch-manipulativen Obsession aller Grade als das Licht, der reine Äther selber erstrahlt.
7 Das industriell verfertigte oder durch die Apparate industrieller Massenproduktion kopierte geistige Produkt hat die geistige Wunscherfüllung auf Kommando ermöglicht. Und sie ist auch danach. Der Industrialismus hat die Stellung zum Lustprinzip verändert; Lust und Bedürfnis gemodelt, um das gemodelte Lustprinzip inthronisieren zu können. Das hat elementar durchgeschlagen. Der Industrialismus in der vorbereitenden Phase der 4
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Konzentration war der unnachsichtige Prediger zugleich und der Büttel des Realitätsprinzips – der Anarchismus des Triebs hätte die Konzentrationsbewegung sabotiert. Nachdem diese durchgesetzt war, war die scheinheilige Verkündigung des Evangeliums der Lust an der Zeit – der Lust an den grenzenlos strömenden Produkten und der, die Konsumenten und Produzenten aneinander finden müssen, soll der Gesamtstatus gewährleistet bleiben. Das Lustprinzip wird zum obersten Realitätsprinzip selber. Deswegen darf es noch das Verpönteste einschließen – Genuss des Verbrechens, des Sadismus, der Schaustellung von Gewalt. So kann es überall das Drohendste abwehren: die Unlust über die faktische Ohnmacht der Gegängelten. Dem immensen Beachtungsdefizit in Massengesellschaften ist durch Freigabe des Exhibitionismus für alle gesteuert, die sich auf jeglichem Niveau tummeln und dem narzisstischen Kitzel vertausendfältigter Spiegelung ihrer Selbstproduziererei frönen dürfen; der Unfähigkeit, mit sich selbst und mit anderen etwas Rechtes anfangen zu können, durch die schlagartigen Erwartungserfüllungen aller Art, die durch Stimulationen, Effekte und so rasch wieder erlöschende wie aufblitzende Reize – nur nicht durch das, was langen Atem und Versenkung in die Sache braucht; dem Hunger der Dekonzentration durch unaufhörlich verabreichte Dosen von Parole, Reizwort, abstract und Information. In dieser Gestalt regiert das Lustprinzip: die eiserne Notwendigkeit grinst in der Maske der Verführung und Lockung. Das Ich, das von ihr gebannt ist; das heute den Bildern, Formeln, Signalen hypnotisch erliegt – trainiert, wie es ist, kann es schon morgen den ausgewechselten Zeichen des offenen Unheils gehorchen, die ihm eingehen werden wie Zeichen des Heils. Dieses ist hinreichend erprobt. Wie es der Lust, dem Geist erging, erging es allen Menschheitszwecken. Vom tyrannischen Hauptzweck, der vergesellschafteten und technisch universalisierten Naturbeherrschung, usurpiert, sind sie gebrochen und entstellt. Statt Glück und Sehnsucht nach Menschheit in der Versöhnung von Geist und Natur – die friedlose Befriedung von Sucht in aus Raum, aus Zeit, aus sich selbst Vertriebenen. Statt progredierter und erweiterter Kultur – die Regression in Barbarei auf aufgeklärtester Stufe. Statt Freiheit und Autonomie – der Trübsinn des do-it-yourself, die Ungehemmtheit von fans, die monadische Obsession von Bastlern. Statt Menschheit aus Menschen – das Gewimmel von Atomen der Selbstbehauptung, zu-
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sammengehalten im Abstoß und abgestoßen im Zusammenhalt nach Kraftlinien erbarmungsloser sozialer Physik. Statt Selbstheilung und Selbstentwaffnung des gleichzeitig blutenden und aggressiven Gesamtkörpers – seine quälerische und gequälte Integration, die tendenziell keine Menschen mehr braucht und am besten ohne sie funktionierte. Darüber muss Kulturindustrie in all ihren Sparten betrügen – den schwer lastenden Realitätstraum realitätsgerecht vorträumen, damit, was von Traum und Realität differierte, dagegen nicht aufkommt. Was ist denn die scharfgestochenste, vertausendfältigte Kopie des Jammers, der sterbenden Opfer, wenn die Opfer weiter sterben; wenn schon die nächste Kopie, die Bomben und Tanks vorführt oder die Wunder der Tiefsee oder blitzsaubere Stars, in Sekundenschnelle die erste auslöscht. Was die Apokalypse, die wahnsinnig und eitel auf Leinwand und Bildschirm sich selbst stilisiert; vor der die Hypnotisierten hocken, bis Wahnbild und Apparatur und Zuschauer zusammen tatsächlich verschwinden. Wo Realität und ihr Bild unentwirrbar ineinanderspielen, kann Moralität nicht in der Achtung vor beidem bestehen, vor der Allgewalt jener und der sie verdoppelnden Normen und Werte. Sie wäre Selbstvergötzung und Selbstdestruktion ineins. Moral muss etwas wie Traumdeutung der alphaft lastenden Realität sein; Selbstaufklärung der Aufklärung über ihre idolatrische Gestalt. Sie ist so schwierig geworden, wie die vorherrschende eingängig und scheinplausibel ist. Sie ist der kaum mehr, gerade deshalb zu mobilisierende geistige Widerstand gegen den habituellen Konformismus – oder sie widerspricht sich selbst.
Unreglementierte Erfahrung oder Konsenszwang Ein Gespräch mit Giorgos Sagriotis
Sagriotis: Herr Schweppenhäuser, Sie sind bekannt als ein Kenner der Theorie der Frankfurter Schule, und Sie haben zusammen mit Rolf Tiedemann die „Gesammelten Schriften“ von Walter Benjamin herausgegeben. Warum haben Sie sich mit der Frankfurter Schule beschäftigt? Schweppenhäuser: Mein Bekanntwerden mit der Frankfurter Schule ist weniger ein externes, als ein internes – ich will sagen, dass ich die Frankfurter Schule nicht als Gegenstand historischer, wissenschaftlicher Studien „von außen“ kennengelernt habe, sondern „von innen“, als ihr scholar, concomitant. Ich fühle mich ihr zugehörig als Angehöriger der zweiten oder – besser – der dritten Generation: also seit der Phase, in der Horkheimer und Adorno aus der amerikanischen Emigration zurückkehrten und das von den Nationalsozialisten 1933 geschlossene Institut für Sozialforschung in Frankfurt neu eröffneten. Ich war philosophischer Schüler von beiden, habe bei ihnen promoviert – über Heidegger1 – und mich habilitiert – mit einer Untersuchung über die Kierkegaard’sche Hegelkritik2 – und war ihr Assistent und Mitarbeiter bis zu meiner Wegberufung aus Frankfurt. Dieser Schule weiß ich mich verbunden bis heute. Den sogenannten Paradigmenwechsel von der angeblichen „Bewusstseinsphi1
Studien über die Heideggersche Sprachtheorie (Neuausgabe), München 1988 [jetzt in: Hermann Schweppenhäuser: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Stuttgart 2019, S. 41–133]. 2 Kierkegaards Angriff auf die Spekulation. Eine Verteidigung (Neuausgabe), München 1993. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_3
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losophie“ zur kommunikationspragmatischen Theorie, von der „alten“ zur „neuen“ Frankfurter Schule in den siebziger Jahren habe ich nicht mitvollzogen. Warum ich mich mit der Kritischen Theorie, der dialektischen Subjekt-Objektphilosophie befasst habe – und bei ihr geblieben bin? Sie schien mir von den im Nach-Hitlerdeutschland gelehrten die erhellendste, aufgeklärteste und philosophisch selbstaufgeklärteste. Sie lehrte in kritischer Fortführung der großen europäischen Philosophie, vor allem der Aufklärung und der klassischen deutschen die katastrophische Gegenwart begreifen, ihre historischen und gesellschaftlichen Gründe und Abgründe. Sie richtete den Blick auf die facies hippocratica der Welt und zeigte, wie man dem Anblick trauernd, eingedenkend, denkend und die Möglichkeiten des Besseren ermessend, standhält. Es war die nachhaltige Beeindruckung durch eine kompromisslos eindringende Denk- und Erkenntnisarbeit, eine Denkhaltung, die sich und andern nichts vormacht – durch eine Theorie, die an der Idee der Wahrheit und einer solidarischen Menschheit emphatisch festhält, zum Unterschied von einer formalen, normativ neutralen, geistig selbstgenügsamen, gegen die begriffslose, arationale Wirklichkeit abgeblendete Theorie. Hier verbindet mich vieles mit älteren und jüngeren Freunden und Schülern, allen voran Rolf Tiedemann. Ein Hauptmotiv unserer Edition des Benjamin’schen Œuvre war das der Bergung der Bruchstücke einer großen Philosophie aus den Erosionsströmen dieser Epoche, des Festhaltens, was von ihr festzuhalten war – doch nicht um es dem Zeitgeist und seinem Betrieb zu überliefern, sondern um einem solchen Werk geistig zu entsprechen, dazu zu helfen, es in seiner philosophischen Bedeutung zur Geltung zu bringen und zu fruktifizieren. Sagriotis: Was ist die heutige Bedeutung der ästhetischen Theorie der Frankfurter Schule? Was ist in der heutigen deutschen Kultur von ihr geblieben, und inwiefern gibt es eine weitere theoretische Entwicklung? Schweppenhäuser: Die Bedeutung der ästhetischen Theorie der Frankfurter Schule ist in erster Linie ihre kritische. Man hat sie – in ihrer Adorno’schen Gestalt – als eine apologetische hinstellen wollen, und zwar als eine zum Scheitern verurteilte apologetische. Auf eine prinzipienhaftverquere Art hat man behauptet, Adorno habe die Abtretung der Er-
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kenntniskompetenz an die Kunst besiegelt, was heißen soll, er habe die Inkompetenz der Theorie, Sachen in ihrer Spezifität, Singularität, dem individuum ineffabile durch Begriffe erkennend gerecht zu werden, feststellen müssen und den Ausgleich des Mankos einer Insuffizienz des Begriffs in irrationalen mimetischen ‚Erkenntnis‘weisen gesucht. Die seien den Sachen wenn nicht adäquater, so doch affiner. Und das seien eben die ästhetischen, künstlerischen. Dabei ist ein fatales Quidproquo unterlaufen: das Missverständnis der „Ästhetischen Theorie“ als selbst ästhetisch, also als rational-begrifflich und im Erkenntniswert minder. Der Grund für diese Fehleinschätzung liegt in der Verwechslung eines dialektischen (und Ausdrucks-)Begriffs des Begriffs mit einem abstrakt-klassifikatorischen, formalen Begriff des Begriffs. Adorno trat nicht die Erkenntniskompetenz an die Kunst ab, sondern bestritt die Kompetenz formalistischer identifikationslogischer Theorie gegenüber der einer sachadäquateren, -affineren: der dialektischen. In den dialektischen Begriffen – Ausdrücken der begriffenen dialektischen Sachen – waltet fraglos größere Affinität mit den komplexen, rational nicht auflösbaren Sachen. Aber deshalb ist ihre Anwendung nicht ästhetisches – statt erkennendes – Verhalten. Nur wer den dialektischen Begriff des Begriffs wie – im Extrem – der logische Empirist als Instrument von ‚Gedankenkunst‘, ‚Gedankendichtung‘, spekulatives Denken als ‚Gedankenmusik‘ abtut, kann von einer dialektischen Theorie der Kunst sagen, sie sei selber kunstartig, ästhetisch, also theorieirrelevant. Nichts aber begrifflich triftiger, kritisch distinkter als die Charakteristik des künstlerischen Produzierens und der künstlerischen Gebilde durch diese Theorie. Als geistige haben sie immer eine Relation zur Wahrheit. Diese, ihren Wahrheitsgehalt, zu eruieren, setzt sich die Kritische Theorie als philosophische zum eigentlichen Ziel, und sie hat ihn den Werken in den Begriffen abgezwungen, die sie in unbegrifflicher Gestalt manifestieren, so wie umgekehrt Sensibilität, geistige Permeabilität, mimetisches Spüren das begriffliche Instrumentarium verfeinert, mit denen ästhetische Theorie Charakter und Gehalt der Gebilde artikuliert. Ein sensibilisiertes begriffliches Instrumentarium anwenden ist nicht dasselbe wie Kunst machen – gerade auch nicht in dem in Deutschland so typischen zweideutigen Sinn des ‚Genialen‘, in dem man eine exzeptionelle Denk- und Artikulationsleistung durch heuchlerisches Lob singularisiert und so ge-
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genüber dem wissenschaftlichen Standards und theoretischen Normen desavouiert. Aber Sie fragten nach der Auswirkung. Sie ist stark – trotz der konkurrierend aktionistisch-interaktionistischen, kommunikativ-expressivistisch ambitionierten Theorien, die meinen, die ‚dialektische Starre‘, das ‚philosophisch Verrannte‘ kritisch-negativistischer ästhetischer Theorie an ihr überwinden zu sollen; eine erst kürzlich veröffentlichte, überaus eindrucksvolle spanische Studie – ihr Autor ist Vicente Gómez Ibánez – hat diesen a limine verfehlten Versuch mit schlagenden Argumenten zurückgewiesen.3 Seit Adorno gibt es überhaupt erst so etwas wie ein angemessenes theoretisches, vor allem geschichtsphilosophisches Verständnis von moderner Kunst, namentlich moderner Musik – des Kunstwerks vom epochalen Typus des „zerrütteten“, das an die Stelle des Werkes des schönen Scheins und der Harmonie trat; des allegorischen, das das symbolische ablöste, das konstellative Werk der Montage, das auf das organisch-plastische folgte. In keiner verantwortlichen Kunstpraxis wird man die Orientierung daran mehr vermissen, sie ist durch die Einsicht in die strukturellen Differenzen und den historisch-gesellschaftlichen Gehalt des Werks der Moderne definiert. Hier zeigt sich, welche ausschlaggebenden Elemente der Benjamin’schen Kunsttheorie in der Adorno’schen impliziert sind – vor allem der Aspekt der Aufdeckung der facies hippocratica, der Naturgeschichte der historischen Menschenwelt, ferner der Aspekt einer auralosen, entauratisierten Kunst, einer unter Bedingungen der technischen und industriellen Pro- und Reproduzierbarkeit möglichen oder unmöglichen. Den Fetischcharakter, den sie dabei annimmt, hat Adorno exemplarisch analysiert – die Einsicht ist unverlierbar geblieben, ob heute kulturkritisch geltend gemacht wie etwa von Postman, oder apologetisch gewendet im Sinn der hypnotischen industriellen Propaganda für die sogenannten Medien und neuen Medien, die sich fortsetzt und verstärkt in von ihr hypnotisierten Idolatrie-Wissenschaften. Hinzuweisen ist auf die Auswirkung in der Literatursoziologie, vor allem der ideologiekritischen Elemente ästhetischer Theorie, wie sie Löwenthal 3 Vicente Gómez Ibánez und Albrecht Wellmer: Teoría crítica y estética. Dos interpretaciones de Th. W. Adorno, Valencia 1994. – Siehe auch: Vicente Gómez Ibánez: „Die letzte Chance der Theologie. Über den ‚Standpunkt der Erlösung‘ in Th. W. Adornos Minima Moralia“, in: prima philosophia, 1996, 9. Jg., Heft 2, S. 165–186.
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zum Verständnis der Massenkommunikation beitrug. Von Wichtigkeit haben sich – neben der Kritik des affirmativen Charakters der Kunst – die Untersuchungen Marcuses zur Unverzichtbarkeit künstlerischer Artikulation für den authentischen Ausdruck von Grundphänomenen der condition humaine – namentlich der beschädigten, gesellschaftlich entfremdeten – und zur ästhetischen Mobilisierung utopischen Potentials durch die Mythen – die Mythen von der Art etwa der orphischen – erwiesen. Sagriotis: Sind Sie der Meinung, dass das Werk von Jürgen Habermas und das der ihm nahestehenden Ästhetiker eine organische Fortsetzung der „klassischen“ Kritischen Theorie bildet, oder handelt es sich vielleicht um einen Bruch mit ihr? Schweppenhäuser: Habermas’ frühe Arbeiten sind bedeutende Beiträge zur Kritischen Theorie, namentlich zum Aspekt methodischer Problematisierung und Sicherung kritisch-aufklärerischen, dialektischen, historisch-materialistischen Forschens und Denkens. An inhaltlichen Beiträgen sind vor allem seine historischen und hellsichtigen sozialkritischen Analysen der Politik der bürgerlichen Epoche hervorzuheben. Eine ‚organische Fortsetzung‘ Kritischer Theorie in der kommunikationspragmatisch ‚gewendeten‘ vermag ich nicht zu sehen. Übrigens ist sie ja selbstdeklarierter Bruch mit ihr, wissenschaftspolitisch ‚organisierter‘ – nicht ‚organisch entfalteter‘ – Paradigmenwechsel: Wechsel von einer angeblich ‚im Dilemma einer selbstbezüglichen, total gewordenen Vernunftkritik‘ rettungslos verfangenen ‚Enthüllungstheorie‘ und mit allen kommunikations- und relationslogischen Pathologien geschlagenen ‚monologisch isolierten‘ ‚Bewusstseinsphilosophie‘ zu einer von alledem kurierten. Es ist die sachlich – im Sinne der Sache intransigenten philosophischen Denkens – wenig zwingende und begründete Verabschiedung negativ-dialektischer Subjekt-Objektphilosophie mit ihrem den Narzissmus kränkenden Objektprimat vor dem Subjekt; die Verabschiedung zugunsten einer normengeregelten, wissenschaftlich-rationalen, konsensund verständigungsorientierten, die in vieler Hinsicht auf eben den Theorietypus hinausläuft, den durch ‚Paradigmenwechsel‘ – wenn man denn diesen wissenschaftstheoretischen, prozessphilosophisch wenig zustän-
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digen Begriff in diesen Zusammenhängen überhaupt verwenden will – seinerzeit überwunden zu haben, die verabschiedete Kritische Theorie mit größerem Recht in Anspruch nehmen könnte. ‚Paradigmenwechsel‘ ist nur ein effektvollerer Ausdruck für diese Verabschiedung, der prozessphilosophisch allenfalls Akzentuierung des seinslogischen Moments des Diskontinuierlichen im Kontinuum oder, triftiger noch, Umfiguration im konstellativen Feld der philosophischen Probleme und Grundfragen lauten müsste; wobei hier die Lösung und Antwort auf solche Grundfragen als progressiv – im Sinne der größeren Erkenntnisrelevanz und -kompetenz der kommunikationspragmatisch ‚gewendeten‘ Kritischen Theorie – im Entscheidenden zu bezweifeln ist. Sagriotis: Lassen wir die neuen Tendenzen außer Betracht. Sind wir berechtigt, von einer einheitlichen ästhetischen Theorie der „älteren“ Frankfurter Schule zu sprechen, oder sollten wir zwischen den Gedanken, zum Beispiel von Adorno und denen von Benjamin, unterscheiden und sie als wesentlich verschiedene Theorien betrachten? Schweppenhäuser: Nicht von einer einheitlichen ästhetischen Theorie, sondern von sachlich und perspektivisch sehr differenten und vielfältigen Beiträgen aus dem einheitlichen Aspekt Kritischer Theorie zur kulturellen und kultischen Stellung der Kunst in der früheren und späteren Geschichte der menschlichen Gesellschaft. Man kann von Beiträgen zur Naturgeschichte der Kunst sprechen – ihrer magischen, kultischen, ideologischen Bedeutung und Funktion und ihrer Emanzipation davon in der Moderne. Dazu sind ungemein einsichtsreiche Arbeiten von Adorno, Benjamin, Horkheimer, Marcuse geliefert worden; denken Sie etwa an die manifestartige Studie Horkheimers über „Neue Kunst und Massenkultur“4 . Denken wir an die eindringlichen Material- und technischen Werkanalysen und den daraus herausgesprengten gesellschaftlichen und geschichtsphilosophischen Gehalt namentlich der Adorno’schen Untersuchungen, die soviel Aufschluss geben über die Struktur des Kunstwerks, seine Dynamik und Kristallisation. Oder denken wir an die Beiträge zur 4
Max Horkheimer: „Neue Kunst und Massenkultur“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, hrsg. von Alfred Schmidt, Frankfurt am Main 1988, S. 419–438.
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Bestimmung der spezifischen künstlerischen Produktionsweise in ihrer Differenz zur kapitalistisch-industriell entfremdeten, der Warenproduktion statt der des Zweckmäßigen ohne Zweck – jener autonomen, die wie die Statthalterschaft einer integralen menschenwürdigen Produktion inmitten einer die Eduktion der menschlichen Wesenskräfte blockierenden und korrumpierenden Produktionswelt sich ausnimmt. Ein gemeinsamer Zug in diesen gegenständlich sehr verschiedenen Untersuchungen ist der aufklärerische – ihr das Irrationale des gesamten Feldes durchdringender und erhellender Zug, sowohl im ideologiekritischen Sinn der Analyse des ästhetischen Scheins, wie aber auch der Rettung dessen, was im Schein sich verspricht. Die Untersuchungen hierzu rechnen zu den erkenntnisund gesellschaftstheoretisch gewichtigsten der Kritischen Theorie insgesamt. Hervorzuheben ist vor allem die große Kraft sprachlich und begrifflich distinktester und sublimster Artikulation, mit der die gemeinhin der prägnanten und erhellenden Darstellung als entzogen geltenden, ja als unantastbar tabuisierten irrationalen Komplexe des Ästhetischen, des Spontanen, Imaginären, Unbewussten hier dem Begriff und der Sprache erschlossen werden. Hier haben Benjamin und Adorno Maßstäbe gesetzt, die, wenn sie gehalten werden – statt vorweg das Ressentiment minderer sprachlicher und begrifflicher Artikulations- und Darstellungsfähigkeit dagegen aufzubringen –, ein ungleich angemesseneres theoretisches Verhältnis zu den Gebilden der Kunst und den ästhetisch-irrationalen Phänomenen gewährleisten, als der methodisch gesicherte normen- und sprachgeregelte Konsens es zu erlangen vermag. Gerade die hochdifferentiellen Ausdrucks- und Darstellungsmodalitäten der Adorno’schen philosophischen Theorie haben zu der abwegigen Auffassung einer Indifferenzierung des Ästhetischen und des Theoretischen geführt. Silvia Bovenschen hat es jüngst auf den Punkt gebracht, wenn sie sagt: Adornos „zeichenkundige Empfindlichkeit“ wird „mit kulturbeflissener Manierlichkeit“5 verwechselt. „Sie wollen in ihm einen prätentiösen Statthalter fürs Aparte sehen“6 . „Die Marginalisierung zum feinsinnigen Künstlerphilosophen“7: der fa5 Silvia Bovenschen: „Hundstage“, in: Frankfurter Adorno-Blätter IV, hrsg. vom Theodor W. Adorno Archiv, Bd. IV, München 1995, S. 140. 6 Ibd. 7 Ibd.
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tale Versuch, Kritische Theorie, negative Dialektik auf den Hund zu bringen. Sagriotis: Jede ästhetische Theorie ist gewissermaßen ein Treffpunkt von Philosophie und Kunst. Außerdem steht außer Zweifel, dass die ästhetische Theorie der Frankfurter Schule ein Zentralpunkt der gesamten Kritischen Theorie ist. Hat diese Theorie die wirkliche künstlerische Produktion ihrer Zeit beeinflusst, und was ist ihre Bedeutung für den heutigen Künstler? Schweppenhäuser: Dem, dass die ästhetische Theorie eines der Zentren Kritischer Theorie ist, ist voll zuzustimmen. Das – interne wie externe – Verhältnis beider haben wir in bestimmten Punkten bereits berührt. Lassen Sie mich noch einmal auf die These von der Abtretung der Erkenntniskompetenz an den ästhetischen Mimetismus und Irrationalismus zurückkommen. Es ist eine Grundauffassung Kritischer Theorie, dass Kunst nicht weniger Erkenntnis gewährt als Wissenschaft oder Philosophie. Die Gebilde drücken Einsicht, Erkenntnis, Kritik aus – oft sogar mehr und tieferreichende als wissenschaftliche Theorie –, nur drücken sie es nicht auf dieselbe Art aus wie die Theorie. Sie gewähren Einsicht ohne Urteil, üben wortlos Kritik, klagen an ohne Sentenz. Erkenntnis vermitteln Werke nicht in der Sprache des Begriffs, sondern in der begriffs-, der wortlosen Sprache der Schrift, der Zeichen, der physiognomischen Züge (in denen sich schon die Sachen selbst ausdrücken, welchen Ausdruck große Kunstwerke dann aufnehmen); in ihnen muss gelesen, entziffert, sie müssen gedeutet werden. Farben, Gesten, tonale Gefüge, Bildgefüge, Sinngebilde sind die sprachlichen Medien, worin und wodurch ‚geurteilt‘, ‚begriffen‘ wird, nämlich auf die Logos-lose Weise, die man Charakterisieren nennt: in charakteristischen Zügen, signa, beschreiben, sich sozusagen selber schreiben oder die res schreiben lassen. Lesen heißt erkennen durch Schrift. Solches physiognomische Erkennen bedeutet eine beträchtliche, differentielle Erweiterung der Erfahrung, sie verstärkt die Erkenntniskompetenz und tritt sie nicht ab. Angesichts der bestehenden Erfahrungsverengung, ja -sabotage durch Normenregulative und Verfahrenszwang, durch den gesellschaftlichen Block auf den Subjekten insgesamt, erweist sich Kunst, das intransigente Kunstwerk als eine der wenigen Instanzen noch offener,
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unreglementierter Erfahrung des Seins der Gesellschaft und des Daseins in ihr. Die Beantwortung Ihrer Frage nach der Bedeutung der Theorie für die künstlerische Produktion heute und die Künstler selber setzt natürlich eine Recherche voraus, die den ‚Einflüssen‘ im Einzelnen nachginge. Vorausgesetzt, dass kritische ästhetische Theorie überhaupt so etwas wäre, womit künstlerische Produktion beeinflusst werden kann: eine praktische Anleitung oder ähnliches. Das ist sie natürlich nicht. Mit Rekurs auf Valérys Unbehagen bei dem etwas dubiosen Begriff des Einflusses und seinen Vorschlag in den Inspirations méditerranéennes, ‚Einfluss‘ durch den sachlicheren Begriff des ‚Gefüges‘ zu ersetzen, möchte ich das Verhältnis ästhetischer Theorie und zeitgenössischer Kunstproduktion als ein konstellatives bezeichnen, als ein zu bestimmten Konstellationen, in denen Theorie und Kunst, der kritische Theoretiker und der Künstler zueinander stehen, gefügtes. Die Produktion ist begleitet von der Reflexion darauf, von der selbstkritischen Vergewisserung der Technik und der Produktivkraft, der autonomer ästhetischer Produktion freundlichen oder feindlichen Produktionsverhältnisse, der Verfassung, in der das historisch gewordene ästhetische Material sich jetzt befindet, der Vergegenwärtigung schließlich der Aufgaben, die der gegebene Zustand stellt – dessen, was ‚nicht mehr geht‘ und was noch geht, was dazu drängt, ausgedrückt, beim wahren Namen gerufen zu werden. In der Konstellation einer ihrer selbst kritisch versicherten Kunstproduktion ist ästhetische Theorie mit ihren unbestochenen Begriffen von alledem gegenwärtig, und in ihrem Gefüge hat Adorno als Theoretiker und Philosoph der Neuen Musik, auch als Komponist, als Anreger und Programmatiker – etwa einer musique informelle –, als eingreifender Kritiker – vor allem eines aus der Dodekaphonie sich entwickelnden ‚integralen Rationalismus‘ und ‚radikalen Serialismus‘ – sehr engagiert gewirkt. Modellhaft für eine solche konstellative Fügung von Theorie und Kunstpraxis waren die jährlichen ‚Kranichsteiner Musiktage‘ mit ihrem Werkstattcharakter – Beispiel einer bedeutenden bis heute fortgeführten Tradition, für die so namhafte Interpreten und Theoretiker der Musik wie Carla Henius, Maria Lopez Vito, Metzger und Riehn, ja ganz junge Künstler – so wie Adorno es sich wünschte – wie etwa Berthold Türcke einstehen. Ähnliches gilt – mutatis mutandis – für das selbstreflexive Gefüge des Verhältnisses von
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Theorie und Malerei, Theorie und Literatur, an dem Adorno teilhatte, etwa im theoretisch-ästhetischen Korrespondieren mit Künstlern des Informel und Literaten wie Thomas Mann und Beckett. Korrespondenzen vergleichbarer Art hat es zwischen Benjamin und Brecht gegeben. Sagriotis: Heutzutage, fast fünfzig Jahre nach ihrem klassischen Ausdruck, bleibt die von Horkheimer und Adorno geübte Kritik der Kulturindustrie genauso – oder noch mehr – zeitgemäß wie damals. Hat es trotzdem in diesen Jahren eine wichtige Entwicklung gegeben, die eine neue Auslegung dieser Kritik legitimiert oder vielleicht verlangt? Schweppenhäuser: Ich bin genau Ihrer Auffassung: Die Kritik der Kulturindustrie ist aktuell geblieben, sozusagen noch aktueller geworden – in dem Maß, wie die seinerzeit in Amerika progrediertesten Standards sich in Europa ausgebreitet haben. Hinzugekommen ist der imponierende Progress der Medientechnik, der Verfeinerung der Apparatur, ist die wachsende Tendenz zur Automatik, zur ingeniösen Selbststeuerung der Produktion und der kulturellen Praxis – das gigantische Quidproquo von Mittel und Zweck. In der hochindustrialisierten Massenkultur hat das Medium den kulturellen Zweck, den Kunstzweck usurpiert. All diese herrlichen Maschinen und poietischen Instrumente, diese einem die Sprache verschlagenden Generatoren des Scheins und der Imagination – zusamt ihrem aufwändigen, die enteignete kulturelle Produktivkraft fast restlos in sich hineinziehenden, absorbierenden Betrieb – sind Selbstzweck geworden, statt den großen kulturellen und ästhetischen Menschheitszwecken auf die wie nie technisch angemessene Weise zur Realisation zu dienen; eine Realisation, von der frühere Jahrhunderte kaum zu träumen wagten. Welchen Humanzwecken? Wahrhafter Aufklärung und Selbstaufklärung, der Selbstexpression, Selbstcognition, der schöpferischen Freiheit, der Versöhnung von Subjekt und Objekt, Arbeit an der Humanisierung der Natur, Naturalisierung der Menschheit. Stattdessen haben wir „Aufklärung als Massenbetrug“, Phantasmagorie-Produktion: Blendungen über die Wirklichkeit, die unter dem Schein, verdeckt, in ihrer Krudität, ihren Schründen, ihrer Zerrissenheit daliegt. Ästhetisches Paradigma kulturindustrieller Blendung war Adorno und Horkheimer der Film – Medium visueller auditiver Überrumpelung und Hypnose. An-
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scheinend hohe Kunst realistischer Repräsentation des Seienden, erweist er sich als ausgepichte Verbreitung der Illusion darüber – oft als hochartistische Veranstaltung einer die Erwartung, den Blick schematisierenden und schablonierenden Gängelung, die den sensus aestheticus zugleich bedient und blockiert, das kalkulierte Substitut von ästhetisch durchdrungener Wirklichkeit an deren Stelle setzt. Der Film ist das Propagandainstrument par excellence. Inzwischen ist der aufgeklärte Massenbetrug zum vulgär-aufgeklärten Selbstbetrug geworden: die gegenwärtige Phase der Massenkultur, heißt es in einem der letzten Spiegel-Magazine8, die „Neue Kultur des Primitiven“, der erklärten Unkultur – ‚Trash-Culture‘ – interpretiert sich als Audruck der ‚doch noch‘ siegreichen Arbeiterklasse. „Ihr wolltet doch“, heißt es, im wirklichen Schmutzgeist dieser Phase, „daß das Proletariat an die Macht kommt. Da“ – nämlich in der Herrschaft, Geschmacksdiktatur über das Medium (gemeint ist das „volkseigene Medium“ des Fernsehens, das dazu überging, Verblödung und Barbarisierung seiner Klientel nicht mehr bloß beflissen zu spiegeln, sondern mit aller Anstrengung, allem tüftelnden Fleiß – kulturprofessionell – zu generieren) – „[d]a sind wir jetzt.“9 Der Selbstbetrug, in den der Massenbetrug überging, ist der darüber, dass als „Kreationen des Massengeschmacks“, als „kulturelle Erfindungen des modernen Proletariats“10 ausgegeben wird, was kalkulierte und gestanzte Unwert-Kultur ist, kulturbetrieblich standardisierte Ware, von der man es gar nicht mehr merkt, dass die, die sie zu generieren meinen, von ihr selbst schon in dem Maß generiert sind wie ihre Klientel, und dass die – nach einem Aprioi von der Art innerer Zensur – gefertigten Erzeugnisse fälschlich als solche genuiner populärer Kultur von den Machern wie von den Verbrauchern genommen werden. Ich erinnere mich einer Auskunft Ecos über ein Gespräch, das er mit Adorno in den sechziger Jahren führte. Es ging darum, ob die reproduktive medientechnische Kunstproduktion, die Kultur-Industrie a limine und per se dazu verhalten sei, ästhetisch und dem Wahrheitsgehalt nach Irrelevantes, Verlogenes hervorzubringen. Adorno habe darauf hingewiesen, dass er die Standards der Kulturindustrie an der Produktion der dreißiger 8
„Mieser Geschmack ist gut“, in: Der Spiegel 41/1995, S. 96–103. L. c., S. 102. 10 L. c., S. 103. 9
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und vierziger Jahren abgelesen habe, am Hollywoodfilm und den Musikkonserven und Produkten für den regredierten Hörbedarf des Radio. Sicher habe sich da vieles verändert und man müsse das heute genauer untersuchen. Er wird dabei wohl an Entwicklungen in der elektronischen Musik gedacht haben, vielleicht auch an solche Realisierungen von Kunstzwecken durch die visuellen Medien, wie Benjamin sie für möglich hielt – und sie sogar für wirklich nahm –, sobald nur Filmkunst von sensiblen und intelligenten Leuten unbeeinträchtigt, unabhängig von den WerteVerwertungsrücksichten des Kapitals oder von politischen Instanzen – aber auch von der inneren Selbstzensur – gemacht werden kann, die allesamt autonome und verantwortliche ästhetische Produktion blockieren oder verunmöglichen. Sagriotis: Das steigende Interesse an der Sprachtheorie ist eine der bedeutendsten Wendungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Sind Sie der Meinung, dass es im Werk der Frankfurter Schule eine – wenn auch nicht ausdrückliche – positiv gemeinte Theorie der Sprache gibt? Schweppenhäuser: Die Kritische Theorie ist sprachphilosophisch, vor allem sprachkritisch hochreflektiert – in entscheidenden Stücken mehr als der kommunikationstheoretische Revisionismus der neuen Frankfurter Schule, der sich als einer der ‚linguistischen Wendung‘ eigens akzentuiert. Wenn Sie mit einer ‚ausdrücklichen‘ Theorie der Sprache – ob positiv intendiert oder negativ – bei Horkheimer und Adorno, bei Benjamin und Marcuse, eine eigens explizierte meinen, so gibt es die nicht. Aber es gibt eine ganze Reihe von Beiträgen, hochbedeutenden Reflexionen, ja Traktaten (wie den Benjamin’schen von 1916) zu Grundproblemen der Sprache, die an Gewicht vieles von dem übersteigen, was von den analytisch-neupositivistischen, funktional-pragmatistischen Theorien heute in Deutschland als kanonisch gilt. Im Vordergrund stehen semantische und semiotische, Ausdrucks- und Darstellungsprobleme, Fragen des Verhältnisses von Sprache und Erkenntnis, Sprache und Wirklichkeit, namentlich auch Fragen der physiognomischen Seiten der Sprache – der Sprache als ‚Bild‘, als Text, als Ecriture. Die pragmatischkommunikative, signativ-mitteilende Funktion im „Organonmodell“ der Sprache wird durchweg sehr kritisch erörtert: in dem Maß, wie Sprach-
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pragmatik, der Gebrauch gegenüber dem Bedeuteten, den communicanda, den Sachen selbst und ihrer Artikulation verabsolutiert wird. Nicht Verständigungsprobleme stehen im Vordergrund, sondern Fragen wie die nach dem rechten, von den Sachen verlangten (nicht: verabredeten oder ihnen oktroyierten) Namen; nach dem Horchen auf die stumme Sprache der Dinge; dem Beredtwerdenlassen des Leidens; Fragen vorab des Lesens in den Ecrituren und Physiognomien des Seienden, der (in Bachofens Worten) ‚unbeweinten, unterdrückten Natur‘. Was die normenregulierte Sprache, die Sprache des Manipulismus (wie Sonnemann es nannte), der arbiträren terminologischen Neologismen an der Komplexität und Mehrdimensionalität des differentiellen Seins- und Bedeutungsuniversums sündigen, haben in erster Linie Marcuses Untersuchungen der geregelten – gemaßregelten – Sprache der eindimensionalen Welt eindrucksvoll herausgestellt. Sagriotis: Wir möchten Ihnen zum Schluss eine eigenartige Frage stellen. Heutzutage wird die Theorie der Frankfurter Schule von vielen Denkern mit der Behauptung kritisiert, sie drücke eine grundsätzlich jüdische Tradition aus, ein jüdisches Sprachspiel sozusagen, worauf sich eine wirkliche Theorie der Demokratie nur sehr schwer fundieren lasse, im Gegensatz zu der sogenannten „griechischen“ Tradition, welche Cornelius Castoriadis, sowie andere Denker wie Hannah Arendt, Jürgen Habermas und andere repräsentieren. Glauben Sie, dass eine solche Kritik eine wahre Grundlage hat? Schweppenhäuser: Es steht außer Frage, dass wesentliche Stücke der jüdischen geistigen Tradition, der rationalen wie der mystischen, Grundelemente der Kritischen Theorie bilden, wie gerade auch in ihrer sprachphilosophischen Grundorientierung, von der wir vorher sprachen. Nehmen wir nur den mythenkritischen Tenor im Aufklärungsbegriff – der radikal noch gerichtet ist gegen den Aufklärungs- und RationalitätsMythologismus selber. Oder denken Sie an das damit zusammenhängende Grundmotiv einer Kritik der Ikonolatrie, der Bildlichkeit und ihrer dialektischen Negation durch Lesbarkeit, also an die Theorie einer Brechung des Scheins durch Entziffern seiner Figuren; eben darin besteht ja das Lesen, etwas Geistiges. – Aber dasselbe gilt für die große helleni-
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sche Tradition und ihre konstitutiven Elemente im Denken Kritischer Theorie. Übersehen wir nicht, dass beispielsweise das – erkennende – Sehen von Figuren, das Sehen mit den Augen des Geistes (wie es bei Platon heißt): also das Vergegenwärtigen der Noumena, der Ideen – eidos heißt schließlich auch Gestalt – hellenisches Grundelement der Theorie ist. Es gibt noch mehr solcher Vermittlungen, ja Koinzidenzen des jüdischen und des hellenischen Geistes in dem kritischer Philosophie und Theorie (bei aller Differenz in Bezug auf das Mythische, auch an das Phono-Logische im Sinne Derridas, die hier besteht). Man denke an das metakritische, vor allem hypostasenkritische oder das krypto- (wie offen-) materialistische Element des Aristotelismus, des hellenischen wie des semitischen (und des christlich-scholastischen). Man denke an die großen moralischen Konzeptionen wie die der Gerechtigkeit bei Platon und in der Thora, wie sie in der Tradition der kritischen Philosophie – schon im Humanismus der Renaissance nannte man Platon einen ‚attisch redenden Moses‘ – bis in die spekulative und in die negativ dialektische Adornos bewahrt ist. Diese Koinzidenzen und Korrespondenzen verbieten es sachlich, von einem scharf distinkten jüdischen und hellenischen Diskurs oder ‚Sprachspiel‘ zu reden – mich erinnert das an Distinktionen, die des Denkens, der Philosophie ganz unwürdig sind; an ideologische von der Art einer arischen und einer nichtarischen Mathematik oder einer germanisch-indogermanischen und einer judäischen Physik, wie man sie in der faschistischen Weltanschauung machte. Arendt und Castoriadis treten für Konzeptionen von Theorie und Praxis sowie von Poiesis ein (ich denke an die des Imaginären, die ich für einen hochbedeutenden Beitrag zum Problem dessen halte, was bei Benjamin und Adorno ‚historische‘, ‚dialektische‘ – konstruktive und dekonstruktive – ‚Bilder‘ heißt), in denen universelle Vernunft – mit ihrer genuinen Kontemplations- und Einbildungskraft – sich ausdrückt, humana ratio communis sed non particularis, die gleiche wahrheitsgerichtete wie die im jüdischen Geist. Die Art des Verhältnisses des konzeptiv Differenten (in seiner geistigen Einheit) in solchen Distinktionen ist die des konstellativen, konfigurativen und dialektischen Verhältnisses (ein historisch Substantielles) und keines von ‚Sprachspielen‘ – ein meiner Auffassung nach hier ganz unzuständiger wissenschaftstheoretischer Begriff.
Die Zeitungspresse als Produkt und als Produzent gesellschaftlichen Verhältnisses
Die Bemühung, der dieser Kongress sich unterziehen will, wird sich der prinzipiellen theoretischen Erörterung nicht entschlagen können. Hat er mit d e u t s c h e r Tagespresse es zu tun, dann überhaupt mit d e r Presse. Und visiert er die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland, dann ein Stück gegenwärtigen gesellschaftlichen Gesamtverhältnisses. Definiert dieses die institutionellen Charaktere insgesamt, so auch die Presse: sie ist literarische Produktion und Publikation unter der Bedingung des entfalteten Kapitalismus. Solche nicht ohne Willkür fortzuwischende Komplexion schreibt der Erörterung die Richtung vor. Sie wird wenigstens nach drei Seiten geschehen müssen. Zu bestimmen ist der Niederschlag des neueren gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses in den deutschen Verhältnissen und deren Reflex in den Produktionen der Presse. Diese selbst ist als ein vom Prozess Produziertes wie den Prozess wieder Konstituierendes auf den Begriff zu bringen, und schließlich die Frage zu stellen, ob sie dem Prozess, dem sie sich verdankt und den sie entfesseln hilft, wie alles in ihm am Ende erliegt oder aber mithelfen könnte, ihm zu gebieten.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_4
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1. „Ich dencke, über [...] Zeitungen [...] müßte sich ein herrliches Collegium lesen lassen [...] Was in der Welt kan unterhaltender seyn, als die vermeintliche Geschichte der Zeit mit der wahren zu vergleichen.“ Lichtenberg
Die deutschen Verhältnisse sind die teils stockenden, verstockten, teils forcierten, fieberhitzigen einer verspäteten Nation.1 In einer verspäteten Nation krankt bürgerliche Gesellschaft am nicht gebrochenen Monarchismus und wird der Monarchismus von der bürgerlichen Gesellschaft behindert. Weil der revolutionäre Bruch mit dem Monarchismus beizeiten nicht gelang, die Nation nicht auf der fortgeschritteneren Stufe bürgerlicher Gesellschaft – republikanisch – sich konstituierte, blieb monarchische Ordnung bis in dieses Jahrhundert hinein die Form politischer Souveränität, worunter die bürgerliche Gesellschaft sich hervorbringen musste. Ihre Entfaltung war mühselig. Sie war nicht zu verhindern, wenngleich allerorten behindert. Sie schuf und bildete die ökonomische Basis der Nation. Liberalismus und Industrie waren zum Bündnis mit dem Monarchismus verhalten, der Monarchismus nahm Liberalismus und Industrie in Dienst. Diese Figuration des Ungleichzeitigen wird am charakteristischen imperialen Kapitalismus und kapitalistischen Chauvinismus des Zweiten Reiches gegriffen. Dem nationalen Antiliberalismus waren die imperialen Kräfte zugewachsen, die der bürgerlichen Entwicklung die Richtung wiesen, und diese Entwicklung mündete in nationalen Kapitalismus, welcher die Demokratie übersprang und spätestens seit der Gründerzeit die imperiale Geste hervorkehrte. Das Forcierte in beidem resultierte im Zusammenbruch von 1918. Dieser Zusammenbruch war das Ende der monarchistischen Nation nicht durch Revolution, sondern durch Krieg. Was längst an der Zeit gewesen wäre, hatte durch welthisto-
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Cf. Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart 1959.
Die Zeitungspresse als Produkt und als Produzent
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rische Mechanik sich erzwungen und behielt das Stigma des Erzwungenen. Der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland, der die Autonomie früher verwehrt war, ist sie später nicht in den Schoß gefallen. Das historisch Überfällige behält das Ungleichzeitige, Unerledigte noch, wenn es endlich fällig ward. Die Mechanik des Krieges, nicht die Teleologie bürgerlicher Gesellschaft produzierte in Deutschland die Republik. Deren historische Ansprüche abzugelten, waren die Anstrengungen gewiss heroisch. Aber sie sahen auf Schritt und Tritt von den Relikten der zerbrochenen Ordnung sich behindert. Diese Relikte waren starr und massiv, nicht selber verschwindend: sei’s in der Gestalt des spezifischen deutschen Nationalcharakters, einer Prägung, die nicht ohne weiteres mit den Institutionen zerbricht, die sie bis ins Innerste hinein besorgten; sei’s in der Hinterlassenschaft des deutschen imperialen Industrialismus, dessen Potenzen noch viel weniger mit dem nationalen Zusammenbruch erlöschen konnten, da sie einerseits die Basis des gesellschaftlichen Lebensprozesses bildeten, andererseits einen konstitutiven Teil des internationalen Industrialismus selber ausmachten. Dem ökonomischen Prozess nach war der deutsche Industrialismus längst Stück des internationalen Monopolkapitalismus, der politischen Erscheinungsweise nach hatte er jetzt die chauvinistische gegen die republikanische Armatur zu vertauschen. Aber weil es ein Austausch eher als ein reelles Ü b e r g e h e n war – dieses war historisch versäumt –, blieb das Auszutauschende den Institutionen äußerlich. Diese behielten in den neuen Formen den alten Geist oder Ungeist. Sie behielten ihn so sehr, dass weniger der Monarchismus in die erste Republik, als umgekehrt die erste Republik in den Monarchismus versprengt schien. Das historische Stigma dieser Republik ist der ohnmächtige republikanische Legalismus und der machtvolle konservative Illegalismus. Die historische Ungleichzeitigkeit deutscher Republik rächte sich desto rapider, je mehr der deutsche Industrialismus mit der internationalen monopolistischen Entwicklung gleichzeitig war. Zu Häupten der deutschen Demokraten und unter dem schwankenden Boden, worauf sie nicht fußten, vollzog sich und progredierte die kapitalistische Konzentration, die nicht danach fragt, ob die Kapitalherren Chauvinisten, Junker oder Industrieritter sind. Ohnehin war deren deutsches Bündnis mit der Staatsgewalt mehr bereits als nur ein Vorzeichen des unter
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der monopolistischen Entwicklungsphase unausbleiblichen Etatismus:2 des Bündnisses von Wirtschaft und Staatsmacht um der mehr oder weniger drastisch dirigierten wirtschaftlichen Entwicklung willen,3 bei der aber das Prinzip der Wirtschaftsweise selber unangetastet bleibt. War der wilhelminische Industrialismus das drastische Vorzeichen, wird der Hitler’sche Faschismus die offene unverbrämte Gestalt. Der revolutionäre Antagonismus zwischen Proletariat, zunehmend proletarisierten bürgerlichen und bäuerlichen Schichten und andererseits dem Kapitalismus und der politischen Exekutive lässt diesen keinen anderen Weg als den konterrevolutionären. Hitler, von Kartellen und dem Herrenclub unterstützt, von Hindenburg schließlich berufen, führt die revolutionären Massen, im dramatischen Kampf mit der liberalen und sozialistischen Avantgarde, die unterliegt, dem Etatismus zu. Dabei kommt ihm eben der deutsche Nationalcharakter zustatten, den umzustrukturieren keine entfaltete Liberalität Gelegenheit gefunden hatte. Hart fügt sich der Nationalwahn mit der Deklassierung zusammen.4 Die Deklassierung erscheint weniger als ökonomische denn als politische: ein Volk wähnt sich unter Völkern zurückgesetzt und entehrt. Und der Nationalwahn nimmt die Stoßkraft eines etatistisch organisierten Bevölkerungsblocks an: nationaler Sozialismus mobilisiert mit den Ressourcen von Kapital und Arbeitskraft den Zustand völkischer Vollbeschäftigung. Sie wird wesentlich durch Aufrüstung erreicht. Kapitalmacht und unerledigtes nationales Interesse schießen zur vehementen und aggressiven Weltpolitik zusammen, die endgültig herstellen soll, was unterm Wilhelminismus misslang: das deutsche Großreich mit – zugleich politischer und ökonomischer – monopolistischer Prätention. Zeigte der internationale Monopolismus sich fasziniert von der doppelten Leistung: der ökonomischen Krise zu gebieten und zugleich das revolutionäre Krisenpotential faschistisch zu exploitieren, so musste er feindlich in dem Augenblick reagieren, wo die faschistischetatistische Gewalt ihn selbst am Lebensnerv traf. Der Faschismus als 2
Cf. Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, Berlin 1924, S. 46 f. 3 Cf. Max Horkheimer: „Autoritärer Staat“, in: Walter Benjamin zum Gedächtnis, hrsg. vom Institut für Sozialforschung, Los Angeles 1942. 4 Cf. die einschlägigen Analysen in Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit, in Band IV der Gesamtausgabe, Frankfurt am Main 1962.
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brauchbares konterrevolutionäres Modell – bewahrt im Arsenal des Monopolismus – wurde als selber lebensgefährlicher Konkurrent zerschlagen, wie einst der imperiale Industrialismus von den konkurrierenden Mächten der Entente. Die Szene nach dem zweiten deutschen Zusammenbruch zeigt sich der nach dem ersten analog und ist doch von ihr unterschieden. Einesteils ist der bis ins Innerste getroffene Nationalwahn noch verquerer geworden: er verlor die letzte historische Chance, ist zugleich ohnmächtiger und, der Latenz, der Verdrängung wegen, gefährlicher.5 Andernteils ist deutscher Industrialismus an der etatistischen Feuerprobe gewachsen. Gerade durch ihn ist Deutschland – als zweite Demokratie – in die Reihe der respektablen kapitalistischen Nationen aufgerückt. Für den etatistischen Exzess war es abzustrafen. Wegen der dabei kühn und modellhaft dirigierten Potentiale – noch an der unauslöschlichen deutschen Schuld ist etwas der historischen Gesamttendenz bestürzend Affines – durfte es den neuen Allianzen sich gesellen. Es wurde der zugleich erfahrene und gestrafte, der legitime und illegitime Bündnispartner von Nationen, die selbst am Rande des Faschismus lavieren müssen. Seine Sonderstellung ist, was andern bevorsteht, schon hinter sich zu haben, und nunmehr i m B ü n d n i s m i t a n d e r n es vor sich zu haben. Dies macht das historische Stigma der zweiten deutschen – der diesmal geteilten – Republik aus. Ihre Probleme sind nicht sowohl die Relikte des Hitler’schen Faschismus, sondern wie diese Relikte in die internationale Tendenz sich fügen. Davon hebt deutscher Liberalismus und Sozialismus wahrhaft tragisch sich ab. Der Substanz nach unerledigt bis heute, ist er der Funktion nach der historischen Tendenz subsumiert, die die Staaten vor jene, am authentischen Liberalismus wie am emanzipatorischen Sozialismus fressenden etatistischen Aufgaben stellt, die der deutsche Faschismus probeweise und brutal für sich löste und die die westlichen Nationen – und die östlichen nicht minder – unterm Diktat ökonomischer Konzentration werden lösen müssen.
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Sonnemann spricht von der „spätkapitalistischen Industriegesellschaft ohne eigene revolutionsgeschichtliche Erinnerungen, dafür mit einer Herkunft aus Barbarei, die in der heimischen Faschismusspielart regressiv wieder heraufgeholt wurde, daher dieser Gesellschaft traumatisch ist“. (Ulrich Sonnemann: „Erkenntnis als Widerstand“, in: Theodor W. Adorno zum Gedächtnis. Eine Sammlung, hrsg. von Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1971, S. 151.)
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2. „II te faut, pour gagner ton pain de chaque soir, / [...] jouer de l’encensoir, / Chanter des Te deum auxquels tu ne crois guere“. Baudelaire, La Muse venale
Von diesen deutschen Verhältnissen inmitten des gesellschaftlichen Gesamtverhältnisses ist deutsche Presse der mehr oder weniger scharfe Reflex – etwas wie die „Sagen der Zeit“6 , ihr flüchtiger, nicht ihr theoretisch adäquater Begriff. Was darin zur prekären und doch in schlechter Unendlichkeit, alltäglich, sich wiederholenden Erscheinung kommt, ist der Widerspruch, dass, was in Deutschland – noch immer – an der Zeit wäre, zugleich der historischen Substanz nach verging. Die Herstellung bürgerlicher Freiheit, authentischer Liberalität in der substanziellen Gestalt garantierter demokratischer Freiheit, Legitimität und Legalität bleibt so ersehntes7 wie angesichts des wachsenden Dirigismus und Etatismus ohnmächtiges Desiderat. Das erste spiegelt die authentisch-liberale Presse wider, das zweite die opportunistisch-liberale, also die verkappt-etatistische Presse, deren Macht darin liegt, dass sie mit dem Weltgeist ist, der ihr zugleich die liberalistische Ohnmacht demonstriert. Umgekehrt verhält es sich mit der authentisch-liberalen. Drückt sie die Ohnmacht heroisch aus, dann zeigt die rudimentäre nationalistische und faschistische Presse diese Ohnmacht als destruktive und kranke. Die provinzielle Presse sucht zwischen den Polen sich zu behaupten, stolpert je nachdem dem konservierten nationalistischen Relikt, wo es sich noch zu formieren vermag, oder dem Dynamismus liberalistischer Opportunität nach. Dem heroischen Liberalismus korrespondiert eine wachsende linke Presse und vorab Gegenpresse, den wachsenden Einsichten gemäß, die über den Zustand 6
Georg Christoph Lichtenberg: Aphorismen, hrsg. von Max Rychner, Zürich 1947, S. 405. Autoren wie Sonnemann haben dem Desiderat den bedeutenden Ausdruck gegeben. Cf. Ulrich Sonnemann: Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten. Deutsche Reflexionen, Reinbek bei Hamburg 1963; Die Einübung des Ungehorsams in Deutschland, Reinbek bei Hamburg 1964; Institutionalismus und studentische Opposition. Thesen zur Ausbreitung des Ungehorsams in Deutschland, Frankfurt am Main 1968. 7
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und damit über die Presse und ihre Produktionsart selbst hinausdeuten. Im Ganzen ist im deutschen Zustand, wegen seiner gleichzeitigen Ungleichzeitigkeiten, wegen des historisch Unabgegoltenen und des doppelten Wetterleuchtens darin – des reaktionären wie des progressiven – das gesellschaftlich prinzipiell Unerledigte wie in einem Focus konzentriert und eben damit die Chance, dass in seinem partikularen Ausdruck etwas vom historisch Unerledigten insgesamt sich ausdrückt und so, negativ und oblique, etwas vom Anderen und Besseren. Zumindest bezeugt sich dies – ähnlich wie im 19. Jahrhundert – in der progredierten Theorie, und in der Presse nur soweit, wie sie die Theorie ernstnimmt oder überhaupt ernstnehmen kann. Denn dem Ernstnehmen sind drastisch Schranken gesetzt: Schranken im Medium selbst und Schranken politischer und ökonomischer Gewalt, welche das Medium zu dem erst machen, was es ist, und die seine Tauglichkeit für den Zustand konstituieren. Diese Tauglichkeit will besagen, dass auf die Presse in ihrer charakteristischen neueren Gestalt in der gegebenen Gesellschaft nicht verzichtet werden kann, dass sie wie andere, den Zustand fristende Institutionen im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess gebraucht und für diesen unabdingbar ist. Sie bildet einen konstitutiven Teil der gesellschaftlichen Verkehrsform, ist der entscheidende Kommunikations-Agent zwischen dem, was gesellschaftlich der Fall ist, und zwischen allen, die im gesellschaftlichen Commercium miteinander stehen. Wie die Zirkulationssphäre ist aber auch die Kommunikationssphäre – eine Erscheinungsweise jener – eine Schöpfung der Produktionssphäre und dieser gegenüber nur dem Schein nach selbständig. Die Kommunikationssphäre ist zunächst Reflex der Produktionsbedingungen einer Gesellschaftsformation und wirkt dann erst auf diese wieder zurück. Das charakteristische Produktionsprinzip der neueren und weiter gegebenen Gesellschaftsformation beruht auf der Scheidung von Produktion und Produkt, von Lohnarbeit und Kapitalbildung, also auf jener Güterproduktion, die, als Warenproduktion, Mehrwertschöpfung sein kann. Diese Trennung von Produktion und Produkt, bei der das Produkt Tauschwertcharakter annimmt und sein Gebrauchswertcharakter ab, ist und bleibt auch für die literarische Produktion charakteristisch, zunächst sofern sie Presseproduktion ist. Anders gesagt: Die literarische Produktion ist unter dem Gesetz der Warenproduktion dazu verhalten, Warenproduktion
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von der Art der Presseproduktion zu werden. Die kapitalistische Gesellschaft schafft aus sich selbst die ihr gemäße Gestalt von Literatur und Publikation in der Presse. Diese gehört zu den Institutionen, von denen man, das Wort Voltaires variierend, sagen kann, dass, wo es sie noch nicht gäbe, sie erfunden werden müssten. Wie in der warenproduzierenden Gesellschaft der Markt erheischt ist, ist in ihr ebenso der Umschlagplatz geistiger Ware erheischt,8 geistiger Ware zunächst und wesentlich in der Gestalt aller der Meinungen, der Nachrichten, der Informationen der zum Commercium miteinander Verhaltenen, die sie an Ort und Stelle brauchen – und wäre es auch aus Scheinbedürfnis. In dem Maß, wie die in bürgerlicher Gesellschaft miteinander Kommunizierenden auf die Sozialcharaktere von Produzenten und Konsumenten, von Eignern und Verkäufern, von Agenten und Zuträgern, Bediensteten und Besorgern der bestehenden Reproduktionsordnung aller erdenklichen und wirklichen Spielart reduziert sind, in eben dem Maß ist, w o r ü b e r sie kommunizieren, auf seinen schieren gesellschaftlichen Charakter, aufs Mediale und Instrumentale reduziert. Dies bedeutet, dass aus historischer literarischer Produktion als Selbstzweck literarische Produktion als Mittel,9 aus Epos, Roman, Erzählung erst Bericht – „Relationen“ heißen die ersten Zeitungen,10 – dann Information, schließlich Sensation wird.11 So wie das Lesepublikum in eines sich verwandelt, das jetzt durch das Bedürfnis nach Information, die Neugier12 auf Sensation charakterisiert ist, hat andererseits das literarische Produkt diesem Bedürfnis gemäß
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Cf. Walter Benjamin: „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“, in: ders., Schriften, hrsg. von Gershom Scholem u. Theodor W. Adorno, Band 1, Frankfurt am Main 1955, S. 418 f. 9 „Der Schriftsteller betrachtet keineswegs seine Arbeiten als Mittel. Sie sind Selbstzwecke [...]. Dem Schriftsteller“, der die Freiheit der Presse „zum materiellen Mittel herabsetzt, gebührt als Strafe dieser inneren Unfreiheit die äußere, die Zensur, oder vielmehr ist schon seine Existenz seine Strafe“ (Karl Marx: „Debatten über Preßfreiheit“, in: MEGA, Band 1, 1: Werke und Schriften bis Anfang 1844, Berlin 1932, S. 222 f.). 10 Cf. etwa: Die Relation des Jahres 1609, in Faksimiledruck hrsg. von Walter Schöne, Leipzig 1940. 11 Cf. Walter Benjamin: „Über einige Motive bei Baudelaire“, in: ders., Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Zwei Fragmente, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1969, S. 117. 12 Cf. Walter Benjamin: „Der Autor als Produzent“, in: ders., Versuche über Brecht, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1966, S. 100. (Bei der zu vergleichenden Stelle handelt es sich um ein variiertes Selbstzitat aus Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: ders., Schriften, Band 1, l. c., cf. S. 384.)
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sich verwandelt und gibt ihm, was es zum Leben und Überleben in der Tauschgesellschaft nötig hat. Wie alles Bedürfnis in ihr durch charakteristische Produktions- und Gewerbsart befriedigt sein muss, so auch das geistige Bedürfnis: durch Schriftstellerei als Gewerbsschreiberei, Tagschriftstellerei – den Journalismus. Der Journalist ist insoweit die essentielle Produktions- und Daseinsform des literarischen Produzenten unterm Kapitalismus. Er ist lohnabhängiger Arbeiter in den Produktionsstätten des Geistes – des Geistes in der dinglichen Gestalt der Ware –, also in den Zeitungsunternehmungen, den Presseverlagen. Diese sind Fabriken wie andere, geleitet von Inhabern der Produktionsmittel, konkurrenzfähigen Kapitalisten, die nach den Grundsätzen der Mehrwertproduktion rentabel und profitabel agieren müssen, wollen sie den Lebensgesetzen warenproduzierender Gesellschaft genügen. Wie andere Produzenten werden die literarischen von ihnen gekauft, wird ihre spezifische Arbeitskraft von der Produktionsmaschinerie konsumiert, wird das resultierende Produkt im doppelten Sinne genutzt: als geistige Ware dem Bedürfnis über den Markt dargebracht und als Mehrwertschaffendes dem – konstanten wie dem variablen – Kapital des Eigners zugeschlagen. Die Käuflichkeit der literarischen Arbeitskraft hat hier die charakteristische Doppelbedeutung. Sie ist einerseits käufliche, disponible Marktwertgröße, die dem Verkäufer die Existenz fristet, und andererseits Korrumpierbarkeit, Disponibilität übers Geistige, vorab über die Meinung und Gesinnung, die beim Journalisten ebenso käuflich wird wie seine eigentliche literarische Produktionskraft. Beide werden zunehmend voneinander durchwirkt: nicht werden von literarischer Produktionskraft am Ende a u c h Meinungen, Informationen, Kommentare n e b e n a n d e r e m produziert, sondern die Produktionskraft selbst wird dergestalt spezialisiert – und muss es werden –, dass sie ganz und gar nur das erheischte spezielle Produkt hervorbringt: den Geist als Ware, – weil die Warenform selbst tyrannisch die vollständige Absorption aller an sie gewandten Arbeitskraft erheischt. In welchem Ausmaß dies geschieht, bezeugt längst auch d i e literarische Produktion, die außerhalb der journalistischen noch sich vollziehen kann und die erst in der Substanz zerfressen wird, schließlich die Produzenten selber in den Warenproduktionsprozess hineinreißt, jenseits dessen sie von einem bestimmten Punkt an als dem Journalismus opponierende l i t e r a r i s c h e Produzenten nicht mehr zu überleben vermögen. Dieser
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Punkt scheint unterdessen mindestens bei einem Gros der Literaten erreicht. Wie die korrupte Gestalt des Menschen unterm Kapitalismus der Agent des Wertgesetzes, so die korrupte Gestalt des Schriftstellers der Journalist. Wie die korrupte Gestalt des Daseienden, der Dinge unter dem Kapitalismus die Ware, so die korrupte Gestalt des Geistes die Meinung, die Information, das Geistige als Instrument und Mittel und nicht zugleich und wesentlich als Zweck. Es findet dem Wertgesetz sich subsumiert, statt dass es das Wertgesetz s i c h subsumiert, es kritisiert und sich anschickt, seine Herrschaft zu brechen. Allein das Wertgesetz ist umstandslos so wenig abzuschaffen wie ein Naturgesetz. Es muss sich wie dieses erfüllen. Der Organismus der bürgerlichen Gesellschaft muss unumstößlich sich entfalten, bis der Zustand seiner Reife seinen Untergang in der Verwandlung in eine neue Gestalt anzeigt, gesetzt, dass er zuvor nicht kristallin wird, gefriert und in sich selbst sich verewigt. Es rechnet gegenwärtig zu den wichtigsten Fragen, ob bürgerliche, warenproduzierende Gesellschaft an sich selbst zugrundegeht; ob dabei eine qualitativ neue Gestalt in ihrem Schoß sich regt; ob der Untergang Verwesung des gesellschaftlichen Körpers zusamt dem zu gebärenden Körper ist; ob der gegebene Zustand bei allem Verfall und allem Anzeichen des Neuen – und mit beidem zusammen – kristalline Formation und Figuration auf unabsehbare geschichtliche Zeit wird. Alles hängt für die Hoffnung und die Verzweiflung an gegenwärtiger Stelle von der Beantwortung dieser Frage ab und von der theoretischen wie praktischen Anstrengung, mit der sie versucht wird. Die Phasen des Entfaltungsprozesses warenproduzierender Gesellschaft werden durch die Mehrwertkonzentration markiert. Diese ist Ausdruck wachsender Vergesellschaftung des Kapitals. Dieser Vergesellschaftung unterliegt auch die Presseproduktion. Sie ist unterdessen in die Phase der Monopolisierung eingetreten. Das schließt, wie in der Volkswirtschaft insgesamt, die meist mühselige Fortexistenz minder vergesellschafteter Produktionsformen – wie gleichzeitig solcher der Konsumtion und Rezeption – nicht aus. Die Gleichzeitigkeit verschieden vollkommener Vergesellschaftungsformen von Produktion und Rezeption bildet die charakteristische Plattform der Gruppen und Meinungskämpfe sowohl
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der Produktions- wie der politischen und weltanschaulichen Gruppierungen, die jene in sich spiegeln, auf dem Untergrund des Hauptantagonismus zwischen Kapital und Lohnarbeit. Von diesen vordergründig sichtbaren Antagonismen mehr, als von dem Hauptantagonismus, der gerade durch jene verschleiert wird, sind die bürgerlichen Parteien, das Sammelsurium der Verbände und wie immer organisierten Interessenten, ist vor allem die Presse das treue Erscheinungsbild. Ohne Mühe lassen die Pressen sich einteilen nach diesen Gruppierungen in der bestehenden Gesellschaft – den unmittelbar wie den mittelbar wirtschaftlichen, also politischen. Unterscheidbar werden Partei- und Verbandspressen, Honoratiorenpresse, Konsortien- oder Aktionärspresse, Mittelstandsund Bauernpresse und vorab Pressen für die Massen der unmittelbar Lohnabhängigen und alle zusammen. Es ist in der Logik des Produktionsprozesses gelegen, dass der Massenpresse, proportional der wachsend monopolistischen Produktionsart und der zunehmenden Größe der lohnabhängigen Massen, ein entscheidender, wenn nicht der entscheidende Anteil in der Presseproduktion zuwächst – vorausgesetzt, die Presseproduktion geschieht selbst nach wachsend monopolistischen Prinzipien, also nach radikal fungiblen und ressortteiligen, „parzellierenden“13 wie Schneider es nennt, im Sinne sowohl des durchrationalisierten und die Zweige assoziierenden Mammutbetriebs, wie in dem radikal verdinglichter, ab ovo gesinnungsloser literarischer Produktion. Sie hat Adorno auf den Begriff gebracht: „Längst handelt es sich nicht mehr um den bloßen Verkauf“ literarischer Arbeitskraft, sondern „[u]nterm Apriori der Verkäuflichkeit“ hat der Produzent längst „sich selber zum Ding gemacht, zur Equipierung“14. Nicht mehr nur die Produktionskraft, sondern ihr Inhaber selbst wird wie ein Apparat bedient, vor allem: bedient wie ein Apparat sich selber. Das erklärt die innere Zensur. Er ist auf den deformierten Produzenten im technischen Arbeitsprozess als den charakteristischen Konsumenten, den unmündig gehaltenen Leser, ge-
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Michael Schneider und Eckhard Siepmann: Der Spiegel oder die Nachricht als Ware. Voltaire Flugschriften 18, Frankfurt am Main 1968, S. 5 f. – Cf. überhaupt die Passagen über die Entfaltung des Presse-Monopolismus, S. 26 f. 14 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1951, Aphorismus 147, S. 444 f.
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wissermaßen zugeschnitten. Einer deformierten Rezeption und einem denaturierten Denken gibt der in der Presseproduktion progredierteste, also disponibelste Journalist die exakt kalkulierte Nahrung – die hier einzig assimilierbare Ware, den nach der Rezeptur von chaotischer Information, präfabrizierter Meinung, politischer Stereotypie gefertigten Lesestoff.15 Dieser Stoff ist Gift und unerlässliche Nahrung in einem: Gift aller möglichen Kritik und Gesinnung, also gerade unerlässliche Nahrung für die Existenz, die den bestehenden Zustand unangetastet lässt, weiter einübt und befestigt. Die Macht einer Presse, die so progrediert produziert wie der Monopolismus selber ist, wird in Deutschland durch die Springer-Presse ausgedrückt, die, wie der Konzentrationsprozess die Vergesellschaftung in der Industrie vorantreibt, so die Vergesellschaftung in der Kulturindustrie,16 hier der „Bewußtseinsindustrie“17. Wie in der ersten Republik der Hugenberg’sche Konzern dem faschistischen Etatismus zuarbeitete, so in der zweiten Republik monopolistische Formationen von der Art der Springer’schen tendenziell einem Zustand, in dem möglicher glatterer und perfekterer Diktatur die Wege geebnet wären. Bilden auch die übrigen Pressen, vorab die ökonomisch potenteren, zusamt dem an ihnen orientierten Publikum, den besseren, wenn auch nicht immer bessergestellten Leuten, ein gewisses Widerstandspotential gegen die monopolistische Presse, so sind sie tendenziell dieser ausgeliefert oder schon unterworfen, im gleichen Maß, wie der Vergesellschaftungsprozess selber progrediert. Aber die Frontenbildung ist paradox: die progressive Presseproduktion ist unablösbar von der Regression des Produzierens wie der Konsumierenden selber, während der technisch rückständigeren, soliden bis gesinnungsstrengeren Presseproduktion gerade in ihrer ökonomischen Obsoletheit, der privatkapitalistischen – oder gar genossenschaftsarti-
15 Cf. Helmut Arntzen: „Das homogene Chaos“, in: Frankfurter Rundschau Nr. 276, 28.11.1970, Beilage „Zeit und Bild“, S. IV, Spalte 5. 16 Deren Physiognomie haben Horkheimer und Adorno entfaltet in: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 144 ff. 17 Den Terminus prägte Enzensberger. Die Sache selbst ist entwickelt in: „Bewußtseins-Industrie“, in: Hans Magnus Enzensberger, Einzelheiten, Frankfurt am Main 1962, S. 8 ff. – Cf. auch die unerschrockenen und bedeutenden Analysen, denen Enzensberger die verschiedenen Medien unterzog; in: l. c., Teil 1.
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gen – Produktionsweise ein bestimmtes Maß an legitimer oder halblegitimer Fortschrittlichkeit zuwächst; so wie solider, talentierter, ja kritisch-kämpferischer Journalismus nach Art dessen in noch funktionierenden Demokratien oder dessen etwa im deutschen Vormärz, soweit er von monopolistischer Presse nicht schon wahllos eingekauft und verschluckt ist, sein Unterkommen in liberaler oder anderer Konsortienpresse, oder in privatkapitalistisch-genossenschaftlichen Mischformen, findet. Aber auch das muss im Angesicht des ökonomischen Gesamtprozesses als prekär und ephemer erscheinen, wie lange auch Windstillen, relativ befriedete Phasen, in diesem Prozess andauern mögen, und wie entscheidend gerade in der verspäteten deutschen Nation Herstellung authentisch liberaler und kritischer Publizität vonnöten bleibt.18 Nicht zu vergessen ist, dass eine der gegenwärtigen Funktionen des kapitalistischen Mehrwerts nicht bloß seine – allerdings entscheidende – variable, investive ist, sondern auch der Teil seiner konstanten, der abgezweigt wird, um Produzenten wenigstens ein gewisses Maß an autonom produktivem Überwintern zu belassen. Aber auch das hängt nicht vom guten Willen mäzenatenartiger Kapitaleigner allein, sondern wesentlich von der ökonomischen Gesamträson selber ab, die in der Regel wissenschafts-, kunst- und kritikfreundlich nur so weit ist, wie Wissenschaft, Kunst und Kritik systemerhaltend und nicht systemsprengend fungieren, wie also ihr Selbstwert auf Tauschwert, auf Fungibilität und Instrumentalität reduzierbar ist.
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Habermas sieht sie zwar im entschiedenen Streit „mit der zu manipulativen Zwecken bloß veranstalteten“: aber „die Durchsetzung der sozialstaatlich gebotenen Öffentlichkeit des politischen Machtvollzugs und Machtausgleichs gegenüber jener zu Zwecken der Akklamation bloß hergestellten ist keineswegs gewiß“ (Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied und Berlin 1968, S. 256).
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3. „Es ist der Weltdialekt. Er ist unübersetzbar und doch das einzige Verständigungsmittel zwischen den Sprachen, das wahre Volapük aller [...]. [S]prachlos vor dem Geist, ratlos vor der Tat, wissen sie dennoch Bescheid. [...] [Sie] leben gottlos [...] [u]nd leben dennoch in ewiger Furcht. In einer anderen Furcht vor einem anderen Herrn, der als der Träger der ausbeutenden Gewalt ihnen den Fuß auf den Nacken setzt“. Kraus
Um abzuschätzen, ob der Presse im gegebenen Zustand eine revolutionierende Funktion im authentisch emanzipatorischen – nicht bloß im plan fortschrittlichen – Sinne zuwachsen könnte, ist zu klären, was Presse als Medium der Kommunikation spezifisch leistet und nicht leistet. Einzugehen ist auf ihre k a t e g o r i a l e P h y s i o g n o m i e. Diese ähnelt der des Positivismus bis zur Karikatur, und gerade das Karikative macht sie zum massenhaften Gebrauch tauglich. Die durchschnittliche Presse stellt etwas wie den Typus einer depravierten Aufklärung. Aufklärung in ihrer abstrakt positivistischen, gegen sich selbst nicht kritischen Gestalt ist depravierte Reflexion selber, Vergessenheit der Reflexion, wie Habermas es nannte.19 Wie ihr der Prozess zu lauter zerstückten Fakten missrät und alle Vermittlung zur Unmittelbarkeit des Datums, wie sie die Differenz von Wesen und Erscheinung einzieht zugunsten der Erscheinung, die zum Wesentlichen selber vergötzt wird, so reduziert sich ausgebreitete Kunde – Kundschaft –, Erzählung, Darstellung im Journalismus – nach Benjamins Wort – auf Relation erst, dann auf Information, endlich auf Sensation; geht Denken in Registrieren über, Überzeugung in leeres Meinen, Sprache in Signalement und impressionisti19
„Daß wir Reflexion verleugnen, ist der Positivismus.“ (Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt am Main 1968, S. 9.)
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sche Schmockerei,20 Bild in Affiche – die die Annonce bereits ist, wovon die Presse überhaupt lebt –, Synthesis in „homogenes Chaos“21. Ist der Positivismus reduzierte Philosophie, so der Journalismus der noch einmal reduzierte, gebrauchsfertig gemachte Positivismus. Was bei diesem die antispekulative Wertfreiheit, ist im Journalismus das neutral präsentierte Chaos von Ereignissen und Fakten. Wie im Positivismus diese aus dem Kontinuum der Reflexion wie der Sache, sind sie im Journalismus aus den gesellschaftlichen und den politischen Zusammenhängen herausgeschnitten, und an die Stelle der durchflochtenen Kontinua treten präparierte und simple Systeme. Nimmt der Positivismus Dinge und Komplexionen von Dingen von der Seite ihrer wissenschaftlichen und technischen Verwertbarkeit, dann der Journalismus von der ihrer kommunikativen. Unter der Hand – seiner „Midashand“22 – verwandelt sich ihm jeder Gedanke in eine Meinung, jeder noch so komplexe Sachverhalt in eine dubios-handliche Information. Zugerichtet, „produziert“ sind sie bei beiden: bewusstlos gehorchen sie dem Modell der Verwandlung der Dinge und der Gedanken in Waren. Der – ursprünglich kritisch gemeinte – Common Sense des Positivisten kehrt in der planen Verständlichkeit des Mitgeteilten, der Banalisierung der Mitteilung wieder. Der umstandslos simple Pressesatz – meist ist auch er noch verhatscht – imitiert den Protokollsatz für die allerschlichtesten Gemüter, und der sogenannte Kommentar – Hohn auf den strengen – gleicht der ebenso übervorsichtigen, wie dezidiert unter subjektiven Kautelen vorgebrachten wissenschaftlichen Hypothese. Urteils e n t h a l t u n g figuriert gerade als M e i n u n g s ressort. Die sprachlichen Begriffe selber sind im Journalismus so ausgelaugt wie nur die Ideen im Positivismus.23 Beide bezeugen 20 Cf. Karl Kraus: „Heine und die Folgen“, in: ders., Untergang der Welt durch schwarze Magie, Wien, Leipzig 1922, S. 204 f. 21 Arntzen, Das homogene Chaos, l. c. 22 Karl Kraus: „Druck und Nachdruck“, in: ders., l. c., S. 121. 23 Die nackte Instrumentalisierung der Begriffe und Ideen haben Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt am Main 1967, „Mittel und Zwecke“, S. 33 f. und passim; und Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied und Berlin 1967, „Das eindimensionale Denken“, S. 139 ff., eindringlich beschrieben.
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den bürgerlichen Fortschritt, den allzu entschlossenen Schritt in Äquivalenz, Egalität, Identität, die allesamt unter der präparierten Oberfläche ihre tiefen Widersprüche behalten, Widersprüche, die, weil sie bewusstlos bleiben oder durch Gewaltstreich geschlichtet wurden, chaotisch sich regen und explosiv sich hervorbringen müssen. Auch das Trümmerhafte, kaleidoskopartig Zersprengte der – äußeren wie inneren – Zeitungs„Aufmachung“ – und das erscheint angesichts der zivilisatorischen Explosionen noch als das Harmloseste – ist davon ein Bild. Insgesamt kommt die – bis ins Detail dinghafte und rationale – Irrationalität und Planlosigkeit des Ganzen, der gesellschaftlichen prästabilierten Disharmonie, zum Ausdruck. Dem korrespondiert die charakteristische Apperzeptionsweise der Menschen der Moderne aufs Genaueste. Benjamin hat sie als ChocRezeption beschrieben24 und damit auf die Entsprechung von äußerer Lebensgefahr – des bedrohlichen Zustands – und der Wahrnehmung davon gedeutet. Diese Choc-Rezeption h a b i t u a l i s i e r e n die Zeitungen geistig, Illustrierte und Film optisch, die musikalische Gebrauchsware akustisch.25 – Spätestens an dieser Stelle werden die Medien, wird Presse – das P r o d u k t der Verhältnisse – erkennbar als P r o d u z e n t und Reproduzent dieser Verhältnisse. Wie diese als fertig, als gegeben und bestätigt erscheinen sollen, sollen auch die Menschen darin als die, die sie einmal sind und bloß i n ihnen werden und bleiben können, bestätigt sein und gelten. Solche Endgültigkeit spiegelt der gesamtgesellschaftliche Schein vor, und die Presse ist einer seiner entschiedensten Produzenten. Solche Endgültigkeit wird andererseits durch die abgeschnittene Erfahrung und Reflexion bei den Menschen erzeugt. Ist die Habitualisierung der Choc-Wahrnehmung nichts als die Mobilisation der seelischen Energien um des Reizschutzes willen, und gehen diese der Mobilisation von Erfahrung und Reflexion verloren, dann ist Schrumpfen der Erfahrung und der Reflexion das unausweichliche Resultat. Der Pressemechanismus aber ist davon die dingliche Objektivation: apparathaft drastisches Indiz der Verminderung der Chance, dass die Geschehnisse der Erfahrung assimiliert werden. Wäre die Beteuerung des Journalismus 24
Cf. Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, l. c., S. 121. Cf. Theodor W. Adorno: „Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens“, in: ders., Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt, Göttingen 1956, S. 9 ff. 25
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triftig, er wolle den Menschen die Undurchdringlichkeit der Geschehnisse durchsichtig und diese erfahrbar machen,26 würde er seinen Zweck gerade verfehlen. Die Absicht der Zeitung ist – w i d e r ihren Willen oder insgeheim m i t i h m –, „die Ereignisse gegen den Bereich abzudichten, in dem sie die Erfahrung des Lesers antreffen könnten. Die Grundsätze journalistischer Information (Neuigkeit, Kürze, Verständlichkeit und vor allem Zusammenhanglosigkeit [...]) tragen zu diesem Erfolge genau so bei wie der Umbruch und wie die Sprachgebarung“27. Statt dass die Subjekte in der objektiven Kontinuität ihres Daseins sich erfahren lernen und daran subjektive Kontinuität und Kraft erst gewönnen, sind sie dazu verhalten, „ein Kaleidoskop“ zu sein, „das mit Bewußtsein versehen ist“28 – bloßer Bezugspunkt von Trümmerhaftem, was ihrer isolierten Daseinsweise inmitten von atomisierter menschlicher und dinglicher Objektivität entspricht. Wenn das Erfahrungskontinuum das Lebenskontinuum selber stiftet, dieses aber so wenig gewährleistet ist, wie die Choc-Rezeption und ihre Habitualisierung an sich selbst es ausdrückt, dann ist das Leben nicht eigentliches Leben mehr – so verzweiflungswie hoffnungslos, und damit der aufsprengenden Kraft verlustig, die einzig die Dinge wenden könnte. Presse spiegelt zerstückte Positivität nicht nur wider, sie übt darin ein. Insofern vergötzt sie den Zustand nicht sowohl, als dass sie vielmehr der Götze selbst ist, oder doch ein essentieller Teil seiner Macht. Sie respektiert das gesellschaftliche Tabu und ist es zugleich. Wo immer sie den Zustand nach dessen eigenen immanenten Gesetzen begrifflich reproduziert, produziert sie ihn wieder real – im immer schwerer auflöslichen und einzig noch durch solidarische Anstrengung aller aufzubrechenden Ineinander von Ordnung und Ordnendem. 26
Den Doppelsinn solcher Beteuerung gibt etwa die verlagseigene Analyse der Bild-Zeitung im gleichen Atemzug preis, wenn sie einerseits dieser Zeitung die Aufgabe zuerkennt, „Ordnung und Zusammenhang in den Geschehnissen zu finden [...] – im Vertrauen darauf, daß BILD diese Aufgabe zum besten des Individuums löst“, andererseits aber von jener erst zu findenden „Ordnung“ sagt, dass „die BILD-Zeitung“ sie „in diese Welt bringt“ – nämlich im Einklang mit der herrschenden, die mitnichten „zum besten des Individuums“ ist. Cf. BILD-Zeitung – Qualitative Analyse 1965, Hamburg 1966, S. 191 u. 181. 27 Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, l. c., S. 117. 28 Baudelaire: Oeuvres II, Paris 1932, S. 333. – Der Passus steht in der Übersetzung Benjamins.
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Es ist ein apperzeptives gleich sehr wie ein sachliches, ökonomisches Ineinander. Ökonomisch, weil Presse journalistische Ware produziert und dies rentabel nur kann, sofern sie selbst „Absatzinstrument“ ist: Annoncenpresse. Ihre Ware ist immer zugleich „werbende Ware“, also unmittelbarer Ausdruck des doppelseitig konstitutiven Ineinander von Wirtschaft und Presse. Aus diesem Grunde, wie bereits aus dem inneren Bestimmungsgrund der Warenform selber, ist journalistische Produktion von kapitalistischer Produktionsweise inhaltlich nicht – allenfalls akzidentell – zu trennen. Zeitungen als Anzeigenblätter – solche, die es nicht wären, könnten Zeitungen unter gegebenen Verhältnissen nicht sein – stellen „eine inhaltliche Bedingung für die rentable Entwicklung des Kapitalismus dar“29 . Deshalb wird in ihnen Kritik essentiell niemals umfassende, höchstens partikulare sein. Die durch und durch begriffene „Realität von ökonomischer Macht, Arbeit und Ausbeutung kann in einer Presse unmöglich zur Sprache kommen.“30 Denn die Struktur dieser Presse beruht auf jener ökonomischen Realität und weist „ihr einen eindeutig definierten, nur um den Preis der Selbstvernichtung aufgebbaren Platz“31 in ihr zu.
29 Jörg Huffschmid: „Ökonomische Macht und Pressefreiheit“, in: Die Auferstehung der Gewalt. Springerblockade und politische Reaktion in der Bundesrepublik, hrsg. von Heinz Grossmann und Oskar Negt, Frankfurt am Main 1968, S. 35. 30 L. c., S. 39. 31 Ibd.
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4. „Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein. [...] Die Presse ist die allgemeinste Weise der Individuen, ihr geistiges Dasein mitzuteilen. [...] So gut, wie jeder schreiben und lesen lernt, muß jeder schreiben und lesen dürfen.“ Marx
„Herr Keuner begegnete Herrn Wirr, dem Kämpfer gegen die Zeitungen. ‚Ich bin ein großer Gegner der Zeitungen‘, sagte Herr Wirr, ‚ich will keine Zeitungen.‘ Herr Keuner sagte: ‚Ich bin ein größerer Gegner der Zeitungen: ich will andere Zeitungen‘.“ Brecht
Damit ist die Antinomie artikuliert, worin kritischer Wille unweigerlich sich findet, wofern er innerhalb des Mediums selber sich geltend zu machen sucht. Soll Kritik schonungslos, im Sinn ihrer eigenen Intention eingreifend sein, würde sie ins Medium, seine eigenen Konstitutionsprinzipien, einzugreifen, also die eigene ökonomische Ermöglichung aufzuheben haben; greift sie aber dieses Sinnes ein, negiert sie mit dem Medium sich selbst. – Alles andere wäre bloßes Ornament, kritische Verzierung an der blockhaft stabilisierten Apparatur, oder schlimmer, ein Stück Negation, welches der Apparat noch triumphal sich zuschlägt und davon im doppelten Sinn profitiert: in dem unsäglichen, dass gerade kritische Erkenntnis noch verwertet wird, um „Bewusstseinsindustrie“, als die sie doch denunziert ist, mittels des durchsichtiger gewordenen eigenen Gesetzes noch fungibler zu machen,32 und in dem nicht weniger unsägli-
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Den verzweifelten Ausdruck dessen artikulieren illusionslos die Analysen und die Dokumentation des SDS-Autorenkollektivs in: Der Untergang der Bild-Zeitung, o. O. und o. J. (1968); cf. insbesondere S. 107 ff.
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chen andern, dass Kritik zum Alibi des Kritisierten wird: Schaustück im schmählichen Pluralismus.33 Bei jener Antinomie hängt alles daran, ob und wie der „Autor als Produzent“ sich einzuschätzen vermag. Benjamin hatte bereits vor über dreißig Jahren sie aufs deutlichste bezeichnet und, was entscheidend ist, aus ihrer Starre eine Dialektik zu entbinden gesucht. Nichts wird der Antinomie dabei von ihrer Schärfe entzogen, und doch muss es prinzipiell bei ihr – wie bei den Grundwidersprüchen im Kapitalismus überhaupt – nicht bleiben. Das punctum saliens ist die Einsicht in die Produktionsweise – hier die literarische – unter kapitalistischen Bedingungen. Diese erzwingen den „Untergang des Schrifttums in der bürgerlichen Presse“34. Das ist gleichbedeutend damit, dass, prima vista, „die Zeitung [...] kein taugliches Produktionsinstrument in den Händen des Schriftstellers“ darstellt. Denn „[n]och gehört sie dem Kapital“35. Deshalb wird seine Produktion, je kritischer sie intendiert ist, tendenziell desto gegenrevolutionärer fungieren. „Wir stehen nämlich der Tatsache gegenüber [...], daß der bürgerliche Produktions- und Publikationsapparat erstaunliche Mengen von revolutionären Themen assimilieren, ja propagieren kann, ohne damit“ sich „und den Bestand der ihn besitzenden Klasse ernstlich in Frage zu stellen“36 . Die Antinomie bleibt unauflöslich, wenn dabei nicht wahrgenommen wird, dass gerade die entfremdete literarische – die tendenziell und die faktisch journalistische – Produktion zugleich die Möglichkeit eigener Aufhebung mitproduziert. Dadurch, dass „das Schrifttum an Breite gewinnt, was es an Tiefe verliert“, wächst der Produktion ein Publikum zu, das nicht länger durch den traditionell lesenden, sondern den Leser „[a]ls Sachverständige[n]“37 sich charakterisiert. Sachverständiger aber ist er einerseits durch seine eigene besondere Arbeit im Produktionsprozess und andererseits als potentieller Autor selbst. Im doppelten Sinn hat und „gewinnt er einen Zugang zur Autorschaft“38 : er vermag mitzureden, ja 33 Das Einverleiben kritischer Negation und ihre Neutralisierung stellt Marcuse besonders eindringlich dar in: „Zur Stellung des Denkens heute“, in: Zeugnisse. Theodor W. Adorno zum 60. Geburtstag, hrsg. von Max Horkheimer, Frankfurt am Main 1963, S. 45–49. 34 Benjamin, Der Autor als Produzent, l. c., S. 100 f. 35 L. c., S. 101. 36 L. c., S. 105. 37 L. c., S. 101. 38 Ibd.
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zu reden wie der Autor, und er ist Autor, Urheber als wie immer exploitiertes Subjekt der Produktion. Dadurch, dass er über seine Arbeit redet und schreiben kann, wird er gerade dessen inne, dass er exploitierter Urheber ist. So bildet die entfremdete literarische, die „Breiten“-Produktion, die Brücke zur Negation der Entfremdung zunächst im rebellisch werdenden Kopf, und umgekehrt wird der entfremdet produzierende Literat durch s e i n m a s s e n h a f t e s P u b l i k u m h i n d u r c h seiner selbst als Autors, als des Urhebers inne, dem sein Produkt doch nicht gehört. Das schärft seinen Sinn für den Widerspruch von Arbeit und ihrer Aneignung. Durch die lesenden Massen fällt es – als Befriedigtsein davon – an ihn zurück, als verwertete Ware bleibt es ihm entzogen. So wird er die ihn und seine Produktion verwertende Apparatur so zu benutzen lernen, dass er sie nicht mehr nur beliefert und ihr selbst sich ausliefert, sondern – mit dem Brecht’schen Terminus – zugleich sie „umfunktioniert“. „Es ist mit einem Wort die Literarisierung der Lebensverhältnisse“39 – das mähliche den Produkten „den revolutionären Gebrauchswert“ Verleihen und sie dem „modischen Verschleiß“ Entreißen,40 – welche die „Vergesellschaftung der geistigen Produktionsmittel zu fördern“41 vermöchte – und zwar im Gegensinn der sie gerade unterstützenden monopolistischen Vergesellschaftung auf der Seite des Kapitals. Allein das könnte „der sonst unlösbaren Antinomie Herr“42 werden. Es ist „der Schauplatz der hemmungslosen Erniedrigung des Wortes – die Zeitung also – auf welchem seine Rettung sich vorbereitet“43 . Benjamin hat keinen Zweifel daran gelassen, dass diese Rettung des Wortes – Kraus sprach von seiner „Entjournalisierung“, Marx davon, dass „die erste Freiheit der Presse“ darin besteht, „kein Gewerbe zu sein“44 – von der gesellschaftlichen Emanzipation selber unabtrennbar ist. Er hat sich nicht verhehlt, dass noch in der nichtemanzipierten Gesellschaft die 39
[Walter Benjamin: „Die Zeitung“, in: ders., Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I–VII, Frankfurt am Main 1972–1989, Bd. II.2, Frankfurt am Main 1977 (S. 628–629), S. 629]. 40 Benjamin, Der Autor als Produzent, l. c., S. 107. 41 L. c., S. 115. 42 L. c., S. 101. 43 Ibd. 44 Marx, Debatten über Preßfreiheit, l. c., S. 223 [im Original kursiv].
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Presse dem in Sachverständige verwandelten modernen Lesepublikum, das sie als ihr Objekt hervorbringt, zugleich als einem Subjekt nachgibt: so etwa, dass die Redaktionen „immer wieder neue Sparten seinen Fragen, Meinungen, Protesten“ eröffnen. „Mit der wahllosen Assimilation von Fakten geht [...] Hand in Hand die gleich wahllose Assimilation von Lesern, die sich im Nu zu Mitarbeitern erhoben sehen“45 . Allein diese Mitarbeiterschaft findet unter kapitalistischen Bedingungen niemals ganz zu sich selbst. Ihre Realisation vermag in der gesellschaftlichen Assoziation freier und autonomer Produzenten erst zu geschehen. Folgerichtig erblickt sie Benjamin im revolutionären Russland: in der ersten Phase nach der Umwälzung, also vor der endgültigen parteistaatlichen Monopolisierung der Presse unter Stalin. Hier schien Benjamin, wie die Produzentenschaft frei Assoziierter, so die Autorschaft und „literarische Befugnis“ „nicht mehr in der spezialisierten, sondern in der polytechnischen Ausbildung begründet“46 zu sein. Das aber bedeutet im Zustand noch nicht emanzipierter Gesellschaft – wie unterdessen wieder in sozialistischer selbst –, dass emanzipierte Autorschaft – ob literarische, ob produktive überhaupt – höchstens dem Ziel, nicht aber schon seiner Verwirklichung nach ernstlich behauptet werden kann. Mit anderen Worten: für dieses Ziel bleibt zu kämpfen. In der Brecht’schen „Umfunktionierung“, die er auf die übrigen Arten geistiger Produktion übertragen wissen wollte, erblickte Benjamin ein Instrument dieses Kampfes. Wir sehen es heute, im nachfaschistischen Deutschland, nicht rosten. Ward es auch schartig, bis zur Unkenntlichkeit stumpf und zerbrechlich – durch den Gebrauch, den Monopolistenjournalismus und Bücherschnellpresse davon machten und machen – so bleibt es doch Instrument der Emanzipation. Und wie das erniedrigte Wort tendenziell gegen seine Erniedriger sich richtet, so auch jenes Instrument, womit der geistige Produktionsapparat Aufklärung über sich selbst und damit gegen sich verbreitet. Teilweise ward es dem Apparat sogar wieder entrissen: durch die genossenschaftlichen Autorenkollektive, durch jene linken Pressen, welche durch Raubdruck das geistige Produkt sozialisieren, durch die beginnende Organisierung kritisch bewusster Li45 46
Benjamin, Der Autor als Produzent, l. c., S. 100. L. c., S. 101.
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teraten und Journalisten in solidarischen Gruppierungen, die zum juridischen, zum technischen, zum ökonomischen Eingriff ins bestehende geistige Produktionswesen entschlossen scheinen. Steht ihnen dabei das Ziel gesamtgesellschaftlicher Emanzipation vor Augen und verlieren sie sich nicht im vordergründigen Antagonismus reinen Verbandsinteresses, könnte ein Stück von der Hoffnung sich realisieren, dass mit der Rettung des erniedrigten Worts zugleich etwas vom richtigen Menschen sich herstellt.
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Einleitung Nur wenige der in Deutschland zum 100. Geburtstag – und zum 50. Todestag – Walter Benjamins – desgleichen der zum 100. Geburtstag Theodor W. Adornos – unternommenen Jubiläumsveranstaltungen und Publikationen haben die Würde und die Achtung gezeigt, die dem Andenken des vor über einem halben Jahrhundert von Grenze zu Grenze gehetzten jüdischen Philosophen, des politischen Flüchtlings Walter Benjamin, dem der Fluchtweg abgeschnitten wurde, und der dem Tode zuvorkam, den die Verfolger ihm androhten – und dem seines Freundes, des von den Nationalsozialisten 1933 von der Universität vertriebenen Philosophen Adorno – einzig würdig gewesen wäre. Dagegen haben sich Orgien des Ungeschmacks, der Indezenz und geistigen Rohheit, fatale Demonstrationen eines kultiviert-gekünstelten Vergessens ereignet, wie sie seit den achtziger Jahren die im Kulturbetrieb dominante „postmoderne intellektuelle Libertinage“ (Helmut Thielen, Lothar Baier) darzubieten sich nicht scheute. Dies wurde zurecht gerügt. Wer aber die Rüge in den Spalten der professionals erwartete, hat sie dort – mit verschwindenden Ausnahmen – nicht gefunden. Er musste die gewendeten Blätter der Journale – die mit den Leserstimmen –, die Programme der Gegenveranstaltungen durchforschen, um auf die kritischen und sachgerechten Beurteilungen zu stoßen, die die angestellten Beurteiler geisti© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_5
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ger und philosophischer Kultur so oft schuldig bleiben. So mussten sich etwa Frankfurter Veranstalter Sinn und Tendenz einer 1992 abgehaltenen Tagung in Frage stellen lassen, die nicht aus Vergesslichkeit, sondern ganz absichtlich vermied, daran zu erinnern, dass sie in der Stadt vor sich ging, in der die Kritische Theorie entstand – die Theorie, der Benjamin seit 1930 bis zu seinem Tod verbunden war –; in der, vor und nach der Nazidiktatur, das Institut wirkte, dessen Mitarbeiter er war, und die das Adorno-Archiv beherbergt, das zugleich ein großes Benjamin-Archiv birgt. „Der spekulative Denker oder der esoterische Marxist, der sich heute mit wenig Mühe kritisieren ließe“1 – ebenso wie, zehn Jahre später, im Jubiläumsjahr, Adorno, der „negativistische und Erznihilist“ –, sie sollen nicht länger „im Vordergrund stehen“, wie es in einem Feuilleton hieß – „heute“, nachdem nämlich die geistige Wetterfahne sich wieder gedreht hatte. Damit sollte aber auch derer nicht gedacht werden, die es auf sich genommen hatten, das verschollene und zumindest teilweise aus dem Bewusstsein verdrängte Werk dieser Denker zu bergen, es zu erschließen und ihm die Anerkennung erwirken zu helfen, auf die es allen Anspruch hat. Sie wurden im Gegenteil „Hagiographen“, „Gralshüter“ gescholten, solche, die dieses Werk gegen seinen öffentlichen Gebrauch abschirmten (womit sie vor allem wohl den Zirkus meinten, den sie mit ihm veranstalteten), wenn sie nicht schlicht als die verunglimpft wurden, die auf die Seite der Zensierer, der Behinderer, der Unterdrücker Benjamins, „von der Frankfurter Universität bis zum Frankfurter Institut“, gehörten (man hat das seit den Tagen des intellektuellen Links-Opportunismus für längst erledigt gehalten) oder auf die Seite derer, die, wie ein Buch aus dem Inselverlag wenn auch nur in Andeutung sich vernehmen lässt, „die Fixierung auf den Philosophen, Kunstdenker, Literaturkritiker und Kulturtheoretiker [...] eine Verarmung“ in der Auffassung Benjamins bewirkt hätten. (Ähnliches vernimmt man heute bezüglich Adornos, und man fragt sich, was da im Ernst als der eigentliche Reichtum noch übrig bleiben soll.) Ignorierung und nicht wenig von Verunglimpfung traf und trifft vorab den langjährigen, inzwischen verabschiedeten Direktor jenes Frankfur1
Literaturhaus Frankfurt: Walter Benjamin und die Kunst. Offene Tagung, 3.–5. Juli 1992, Frankfurt am Main.
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ter Archivs, der das von Adorno und Scholem begonnene Bergungswerk fortsetzte und dem – zusammen mit denen, die daran mitwirkten – es zu verdanken ist, dass das Œuvre Benjamins – und, seit dem Tode Adornos dessen eigenes hinterlassenes Werk – in einer nach den Katastrophenjahren des Faschismus und des Zweiten Krieges überhaupt zu erreichenden Vollständigkeit nunmehr, (im Jubiläumsjahr Benjamins 1992 und dem Adornos 2003) zugänglich gemacht ist. Der, dem dieser Dank vor allem geschuldet ist, feierte im Herbst des Jahres, in dem der 100. Geburtstag Benjamins gefeiert wurde, seinen 60. und in dem des Jahres, in dem Adornos 100. zelebriert wurde, seinen 70. Dies vergessen und unterschlagen heißt nichts anderes als in ganzen Teilen das verdrängen, was durch die jahrzehntelangen Anstrengungen eines philosophischen Forscherlebens überhaupt erst vor Augen kam. Das gilt in erster Linie von den etablierten Werkgestalten, die das Œuvre Benjamins und Adornos der Überlieferung gesichert haben und, wo man dem Unermüdlichen und Unersetzlichen noch es erlaubt, weiter sichern.
„Studien“ Tiedemann ist 1932 in Hamburg geboren und studierte in den Jahren 1953 bis 1960 erst an der dortigen Universität, dann in Göttingen und Berlin, schließlich in Frankfurt Philosophie, Soziologie und Germanistik bei ausgezeichneten Lehrern ihres Fachs. In Frankfurt traf er auf diejenigen von ihnen, die mehr noch waren als dieses – reale Humanisten, kritische Theoretiker, deren Denken an den Grenzen des Faches, der Theorie nicht endete. Adorno und Horkheimer förderten den Hochbegabten, betrauten ihn früh mit verantwortlichen und diffizilen Aufgaben wie der Erforschung des Benjamin’schen Nachlasses. 1959–1965 war er Mitarbeiter (Bibliothekar) des Instituts für Sozialforschung und Assistent Adornos. Aus seiner intensiven Befassung mit Benjamins in so vielen Teilen überhaupt erst zu erschließendem Werk ist seine Dissertation entstanden, 1964 haben ihn Adorno und Horkheimer promoviert. Die Studien zur Philosophie Walter Benjamins – erschienen 1965, in zweiter Auflage 1973, auf Französisch 1987 und 2002 (mit einer Vorrede Adornos und fünf Corrolarien) unter dem Titel Zwischen Mystik und Aufklärung – sind
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ein unüberholtes Werk, die erste, immer noch einzige Untersuchung, die Vielgestalt und Torsohaftigkeit der Benjamin’schen Schriften aus ihrem einheitlichen inneren Grund – als das, was davon sich manifestierte – aufzufassen und darzustellen unternimmt. Von dieser Darstellung einer letzten großen nichtformal-philosophischen Konzeption – einer an strikt Einzigartigem – der Idee einer „Rettung des Besonderen“ – entwickelten, mythos- und systemkritischen, negativen Geschichtsphilosophie – hat man zurecht gesagt, dass sie als Dissertation schon der wissenschaftliche Wurf war, zu dem Dissertationen erst qualifizieren sollen. Ehe Tiedemann ganz der Organisation und der Durchführung des Vorhabens einer kritischen Gesamtausgabe der Schriften Benjamins sich zuwandte, war er, von 1965–1968, Assistent am Philosophischen Seminar der Freien Universität in Berlin. Bis zum – frühen – Tod Adornos 1969 kam den ersten Stadien des Vorhabens die enge, freundschaftliche Zusammenarbeit mit ihm zugute, Jahre, in die auch die glänzenden, mit viel Scharfsinn und nicht selten vernichtendem Witz geführten Repliken und Polemiken fallen, mit denen Tiedemann die teils misswollenden, teils ignoranten, selten in der Sache gerechtfertigten Angriffe auf das Vorhaben zurückwies – Attacken, die wie unter Wiederholungszwang bis heute sich fortgesetzt, ja – unter wechselnden ideologischen Vorzeichen – noch verstärkt haben und schließlich verdeckt – aus dem Hinterhalt – gegen ihn geführt wurden. Die Arbeit in den Stadien nach Adornos Tod war zur Erfüllung eines – nicht unangefochten gebliebenen – Vermächtnisses geworden. Zu ihm kam das andere: das der Bekümmerung um Werk und Nachlass Adornos selber. Hier türmten sich anscheinend nicht zu bewältigende Aufgaben. Weit entfernt, in ökonomisch abgesicherter Position sie angehen zu können (bis zu seiner Ernennung zum Direktor des Adorno-Archivs 1985 lebte Tiedemann als freier Wissenschaftler und Schriftsteller in Berlin und Frankfurt und seit seiner Verabschiedung 2001 wieder teils in der Nähe Frankfurts, teils auf den Philippinen), war er auf die Förderung seiner Forschungstätigkeit vor allem durch Stiftungen angewiesen.
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Passagen-Werk Glanzpunkt seiner editorischen Arbeit in dieser Zeit – in der Tiedemann – neben den kollektiv erarbeiteten Gesamtausgaben der Werke und Briefe (eine – imponierende – detaillierte Aufstellung aller seiner Editionen gibt Tiedemann im letzten der von ihm im Auftrag des Archivs herausgegebenen Frankfurter Adorno Blätter, in Band VIII, unter dem Titel einer „bibliographischen Bilanz“) – zahlreiche Einzeleditionen vorlegte, kritisch revidierte, ingeniös aufgeschlossene und kommentierte Texte von Benjamin, Adorno und Scholem; darunter auch die zusammen mit Gretel Adorno aus den nachgelassenen Texten mühsam erst etablierte Ästhetische Theorie Adornos –, Höhepunkt ist die Etablierung dessen, was Benjamin als die vielen Arbeiten, Aufzeichnungen und „Modelle“ zu seinem unvollendet gebliebenen Passagen-Werk hinterließ. Sie gelang Tiedemann in einer Gestalt, durch die der Herausgeber die Figur hinter dem Torso spürbar, das spätere Gebäude – oder die schon antizipierte Ruine – über einem Bauplatz, der bedeckt ist mit einer Überfülle von – archäologischen und zeitgenössisch-frischen – Materialien, vorstellbar werden zu lassen vermochte. Tiedemann hatte es auf sich genommen, speziell diesen Teil der – weitgehend in Kooperation entstandenen – Werkausgabe allein, in Absonderung und absoluter Konzentration (ganz nietzschesch den strengen Geboten der ‚ehrwürdigen‘ Wort- und Philologen-‚Kunst‘ folgend, die „vor Allem Eins heischt, bei Seite gehen, sich Zeit lassen“2 ), während langer Forschungsaufenthalte vor allem in Frankreich, auch in Spanien, zu erarbeiten. Das 1982 erstmals – inzwischen in dritter Auflage, in mehreren, teils kostbar gestalteten fremdsprachlichen Ausgaben, ja in Raubdrucken – publizierte Resultat bezeugt, was philologische Passion, im Verein mit der Kraft, ja als diese Kraft vermag, das bedrohte geistige Zeugnis den zerstörerischen Mächten der Geschichte und des Vergessens zu entwinden. Was hier geborgen wurde, hat sich, in theoretischer Perspektive gesprochen, als der schon ganze Schritte weit gelangte Anlauf zu einem 2
Friedrich Nietzsche: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgi Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 3, München, Berlin/New York 1980, S 17.
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Hauptteil der materialen Geschichtsphilosophie Benjamins erwiesen: zu einer Art von gesellschaftlicher Physiognomik, einer gerade auch auf die ästhetischen und kulturellen Gebilde (als auf das Ganze in ihrer jeweiligen Art repräsentierende Monaden) sich stützende Deute- und Lesekunst, die zur Erschließung der „Urgeschichte“ der Moderne dienen sollte. Damit aber der Bestimmung des historischen Standindexes des gegenwärtigen Zeitalters selber: einer „Zeit der Hölle“.
Dialektik im Stillstand Gleichfalls in die Zeit vor 1985 fällt das Erscheinen eines weiteren Buches von Tiedemann, die Versuche zum Spätwerk Benjamins, die er unter dem Titel der – wohl eigentlich tragenden – Idee dieses Werks, Dialektik im Stillstand, publizierte. In Fortführung der Ergründungen der Studien arbeitet das Buch vorab den historisch- und theologisch-politischen Charakter der Philosophie Benjamins heraus.3 Sie ist eine Geschichte in der verräumlichten, verdinglichten Gestalt dieser Geschichte: ihrer Geschichtslosigkeit; eine Philosophie der Denunziation des Stillstandes, des „Leerlaufs des Fortschritts“ – einer „permanenten Katastrophe“. Sie ist keine der Apologie einer „dynamischen Entwicklung“, welche doch gerade deren Stillstellung – ihren „Abbruch“ provoziert. Sie ist eine „Entfaltung“ dessen, was schon ist oder war, und über das die Fortschrittsdynamik verheerend hinwegstürmt. Was in Geschichte und Gegenwart nie zur Entfaltung kam, kann eine Chance höchstens durch „Stillstellung“ des zerstörerischen Dynamismus gewinnen. Gedacht ist an die messianische Herstellung des Zerschlagenen, politisch also an solche Formen apokalyptisch-annihilierenden Eingriffs, die die viel zu lange, qual- und opfervolle, angeblich notwendige „Entwicklungsgeschichte“ der Umwälzungen abkürzen sollen. Nimmt man die Kanonisierung eines nicht länger durch Naturbeherrschung und -ausbeutung geprägten Arbeitsbegriffs – des frühsozialistischen eines travail passionné ou attractif – hinzu, so hat man die Differenz dieser Theorie von der Marx’schen, mit der sie 3
Cf. Rolf Tiedemann: Dialektik im Stillstand. Versuche zum Spätwerk Walter Benjamins, Frankfurt am Main 1983, S. 29 ff.
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die radikal ideologie- und ökonomiekritische Intention verbindet, deutlich vor Augen. Zu solcher Deutlichkeit bringen es die weiteren Analysen Tiedemanns, vor allem die den zentralen Bild-Begriff angehenden. Dessen dialektische Abklärung im Zusammenhang mit den sprach- und namens-, den allegorie- und symboltheoretischen Auffassungen Benjamins rechnen zu dem Erhellendsten, das die Benjaminexegese heute vorzuweisen hat.
„Abrechnung“ 1985 – nachdem die deutsche Universität glaubte, auf die Berufung eines Gelehrten mit der eminenten Lehr- und Forschungskapazität Tiedemanns verzichten zu können – wurde Tiedemann Direktor des von einer Hamburger Kulturstiftung gegründeten und mit der Frankfurter Stadtbibliothek vertraglich verbundenen Adorno-Archivs, wo er denn freilich – beinah zwei Jahrzehnte lang – seine Arbeitskraft ungeteilt, durch Lehraufgaben und die aufreibenden Anforderungen des Wissenschaftsbetriebs nicht zersplittert, der Fortführung seiner Forschungen und editorischen Tätigkeiten zuwenden konnte. Zu deren ersten wissenschaftlichen Resultaten gehören der Abschluss der 20-bändigen Ausgabe der Schriften Adornos 1986 und der der siebenbändigen der Benjamin’schen 1989. Im selben Jahr ließ Tiedemann eine Streitschrift erscheinen: Die Abrechnung. Walter Benjamin und sein Verleger.4 In einer Kette schlagender Beweise legte er dar, dass der gleiche Verlag, der einerseits keine Anstrengung gescheut hatte, das Werk Benjamins auf würdige Weise der Öffentlichkeit zu präsentieren, andererseits durch unlautere Manöver und Honorardrückerei die Erben des Philosophen um die vollen Erträgnisse aus dessen Produktion brachte. Ein Gremium mit der Vollmacht, über Benjamins literarisches Erbe in der gebotenen Form rechtmäßig zu verfügen, hatte seit dem Tod des nächsten Erben – Benjamins Sohn – derartigen Manövern vorbeugen sollen. Tiedemann gehörte, neben dem Verleger, diesem Gremium seit Ausscheiden Gretel Adornos an, war jedoch jahrelang bei allen wichtigen Entscheidungen, die praktisch der Verleger 4
Hamburg 1985.
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eigenmächtig traf, übergangen worden. – Es kam zum Prozess, in dem Tiedemann auf dem Wege des Vergleichs erreichte, dass die so schwer beeinträchtigte Entscheidungsvollmacht des Gremiums wiederhergestellt und den Erben erhebliche Honorarbeträge nachgezahlt wurden. – Die Schrift, die dazu beitrug, diesen moralisch-politisch skandalösen Fall zu bereinigen, hat aber noch eine weitere Bedeutung. Sie bringt Licht in die Obskurität der Verwertungspraxis und des Verwertungsinteresses an der geistigen Produktion, wie sie im verlegerischen Unternehmertum – im Kulturbetrieb insgesamt – heute vorzuherrschen scheinen.
Archiv 1 Bereits 1988 begannen die von Tiedemann gesammelten Dialektischen Studien zu erscheinen – Untersuchungen in der philosophisch-theoretischen Tradition der sogenannten „ersten Frankfurter Schule“, meist von Schülern und jüngeren Mitarbeitern Adornos und Horkheimers, die der Revisionismus der „zweiten“ verdrängt hatte. Von diesen Untersuchungen hat Tiedemann bis zum Abschluss seiner Archivtätigkeit – teils in Neuauflage und vermehrt um die beiden Bände der wissenschaftlichen Korrespondenz Adornos mit Alfred Sohn-Rethel und Elisabeth Lenk – neun Bände herausgegeben.5 Und schon 1987 war die vom Adorno-Archiv herausgegebene – das heißt von Tiedemann und seinen Archiv-Mitarbeitern erarbeitete – Korrespondenz Benjamins mit Siegfried Kracauer, dem Freund und philosophischen Mentor Adornos aus frühen Jahren, erschienen, dann, 1995, der – die geistige und menschliche Solidarität in den intensiven theoretischen Auseinandersetzungen beider Korrespondenten bezeugende – Briefwechsel Adornos mit Benjamin und 1997 der Adornos mit seinem Wiener Kompositionslehrer Alban Berg. Gleichfalls 1995 hatte die – beträchtlich erweiterte und emendierte, mustergültige – sechsbändige Ausgabe der Gesammelten Briefe Benjamins zu erscheinen begonnen, deren letzter 5 Dialektische Studien, im Auftrag des Theodor W. Adorno Archivs hrsg. von Rolf Tiedemann, 10 Bände, München 1988–2012. Der Abschlussband der Reihe – Karl Heinz Haag: Kritische Philosophie. Abhandlungen und Aufsätze – erschien 2012.
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Band 2000 herauskam.6 Es folgte die Herausgabe der sorgfältig vorbereiteten – teilweise nur mit Überwindung besonderer Schwierigkeiten bei der Recherche, der Etablierung und der Erschließung des Textmaterials in Angriff genommenen – auf dreißig Bände angelegten Nachgelassenen Schriften Adornos. Diese sollten gegliedert in vier Abteilungen – „Vorlesungen und Vorträge“, „Fragmente und Texte zu geplanten Büchern“, „Notizen und aphoristische Aufzeichnungen“, „Gespräche“ – erscheinen. Bis zur Verabschiedung Tiedemanns aus dem Direktorat ist etwa ein Drittel dieses editorischen Großprojekts realisiert worden. Die Edition begann 1993 mit der Herausgabe des Bandes I der Abteilung „Texte zu geplanten Büchern“: den Fragmenten zu dem seinerzeit mit großer Spannung erwarteten Beethoven-Buch Adornos, Philosophie der Musik, und wurde, ab demselben Jahr, fortgesetzt mit der Publikation von sieben Bänden mit für die Entfaltung und – sprachliche und begriffliche – Darstellung Adorno’schen Denkens besonders charakteristischen und repräsentativen Vorlesungen, von denen der letzte (Band 15 mit den „Fragmenten zur Vorlesung über negative Dialektik“) gerade noch bis zum druckfertigen Manuskript gediehen war wie auch der dritte – von Robert Hullot-Kentor besorgte – Band der Abteilung „Texte zu geplanten Büchern“: Current of Music. Elements of a Radio Theory.7
Archiv 2 Von der Herausgeberschaft des zweiten Bandes dieser Abteilung, „Fragmente zu Adornos Reproduktions-Theorie“8, sah Tiedemann sich zu distanzieren genötigt: „Diese Edition scheint“ nicht mehr nur, wie im Fal6 Walter Benjamin: Briefe an Siegfried Kracauer, hrsg. vom Theodor W. Adorno Archiv, Marbach am Neckar 1987; Theodor W. Adorno: Briefe und Briefwechsel, Bd. 1: Theodor W. Adorno/Walter Benjamin. Briefwechsel 1928–1940, hrsg. von Henri Lonitz, Frankfurt am Main 1994; Bd. 2: Theodor W. Adorno/Alban Berg. Briefwechsel 1925–1935, hrsg. von Henri Lonitz, Frankfurt am Main 1997; Walter Benjamin: Gesammelte Briefe, hrsg. vom Theodor W. Adorno Archiv, Bd. 1–6, Frankfurt am Main, 1995–2000. 7 Theodor W. Adorno: Nachgelassene Schriften, hrsg. vom Theodor W. Adorno Archiv, 16 Bände, Frankfurt am Main 1993–2019. 8 Theodor W. Adorno: Nachgelassene Schriften, hrsg. vom Theodor W. Adorno Archiv, Abt. 1: Fragment gebliebene Schriften, Bd. 2: Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Aufzeichnungen, ein Entwurf und zwei Schemata, hrsg. von Henri Lonitz, Frankfurt am Main 2001.
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le der von Archiv-Mitarbeitern gleichfalls 2001 edierten Korrespondenz Adornos mit Thomas Mann, eine „ganz neue Form von damnatio memoriae“ ausprobiert zu haben, sondern einen vorsätzlichen „Wechsel der philologischen Grundprinzipien der Nachgelassenen Schriften“ (auf die man doch in der Archivarbeit sich verpflichtet hatte) „anzukündigen“9 . So schrieb Tiedemann in seinem editorischen Rechenschaftsbericht 2003. „Auf den darin sich abzeichnenden editorischen Revisionismus wird [...] an anderem Ort zurückzukommen sein“10 : in einer – bedauerlicherweise – fällig gewordenen zweiten „Abrechnung“; diesmal einer mit den kontraproduktiven, illoyalen Kräften des Archivs in Sachen treuer – materialund personverpflichteter – Verwaltung literarischen Nachlasses und Bewahrung geistigen Erbes. Dieser Rechenschaftsbericht erschien im letzten Band der seit 1992 von Tiedemann redigierten und gestalteten Frankfurter Adorno Blätter – einem jahrbuchartigen Organ, das Forschungserträgnisse und brillante Untersuchungen aus dem gesamten Gebiet – auch des unedierten – Adorno’schen Œuvres, sowie Vorträge, Einlassungen, Kritiken und gründliche Berichte über den geistigen und kulturellen Stand der Aufnahme – des Verständnisses und Unverständnisses – des kritischen, dialektischen und des ästhetischen Denkens, auch der künstlerischen, musikalischen Produktion Adornos vorlegt. Nicht zufällig ist dieser letzte (der achte) Band der Blätter im Jahr des Gedenkens an Adorno an seinem hundertsten Geburtstag erschienen. Mit der so subtilen wie kantisch-nüchternen Rechenschaftslegung über die editorische und philosophisch-philologischkritische Lebensarbeit, die Tiedemann darin gibt, legt er das wohl eindringlichste Zeugnis des Gedenkens in diesem Jubiläumsjahr ab – das, das die höchste Form des Gedenkens bekundet: die des Eingedenkens. Ganz in dessen Geist ist schon die denkwürdige Marbacher Rede gehalten, die Tiedemann anlässlich der von ihm und seinen damals noch loyalen Mitarbeitern 1990 im Deutschen Literaturarchiv veranstalteten Gedächtnis-Ausstellung zu Benjamins fünfzigstem Todestag vortrug – einer Veranstaltung zeithistorisch- dokumentarisch hohen Rangs, ihrerseits 9 Rolf Tiedemann: „Die Nachlässe Adornos und Benjamins im Theodor W. Adorno Archiv. Eine bibliographische Bilanz“, in: Frankfurter Adorno Blätter, im Auftrag des Theodor W. Adorno Archivs hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. VIII, München 2003 (S. 238–251), S. 245 (Fußnote). 10 Ibd.
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dokumentiert in einem Katalogwerk, das nichts Geringeres darstellt als die Versammlung der Elemente zu einer authentischen sozialen und intellektuellen Biographie Benjamins, wenn nicht schon etwas wie deren anfängliche Gestalt ist. Jene Marbacher Rede Tiedemanns von 1990 – publiziert 1992 im ersten Band der Frankfurter Blätter – ist eines der zentralen Bestandstücke dieses Bandes. In ihr spricht er – eingedenk des unheilbaren Kulturbruchs in der deutschen Geschichte spätestens nach Auschwitz – von der tiefen Aporie, in die die erinnernde historische Arbeit der Archive und Museen unausweichlich gerät. Hören wir ihn selbst: „der Begriff des Archivierens [beinhaltet] einen Akt“ der – fatalen, neutralisierenden – „‚Historisierung‘ des Gewesenen. [...] Die Ablage geschichtlicher und kulturgeschichtlicher Dokumente [...] hat allemal etwas zu tun mit Abschieben, auch mit Verdrängen; [...] Museumsreife und der Gestus ‚Strich darunter‘ sind fast synonym. [...] Aber wenn uns auch das relativierende ‚Historisieren‘ des Geschehenen nicht erlaubt ist, so dürfen wir doch weniger noch es dem Vergessen überantworten. [...] Jene von Erinnerung endgültig entlastete Menschheit, deren Drohung seit Eichmann und Mengele über uns steht, ist konkret absehbar geworden. Kultur mag Müll sein, zugleich ist sie das kollektive Gedächtnis der Menschen, ihr letztes Refugium vor dem Vergessen.“11
Die Vergangenheit hat einen Anspruch an die Gegenwart. Und daran gemahnt gerade die Geschichtslehre des Geschichtsopfers Benjamins; daran, „daß die Toten nicht ganz vergessen werden, daß ihr Gedächtnis wachgehalten wird. Bei einigen Juden, die alle große Schriftsteller deutscher Sprache sind: zuerst wohl bei Bloch, dann bei Benjamin, bei Scholem und Adorno, finden wir dies Wort, das bis heute kein deutsches Wörterbuch zu kennen scheint: Eingedenken. Es gilt nicht dem Vergangenen als solchem, sondern den vergangenen Hoffnungen, die unerfüllt geblieben sind. In die Museen und Archive hat paradoxerweise die Vorstellung einer Zukunft sich zurückgezogen, die in der Realität keinen Rückhalt mehr zu haben 11
Rolf Tiedemann: „Auf dem Weg ins Museum? Rede zur Eröffnung einer Benjamin-Ausstellung des Theodor W. Adorno-Archivs“, in: Frankfurter Adorno Blätter I, München 1992 (S. 104–113), S. 111, 112, 113.
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scheint. Das Gedächtnis an das, was anders wäre und was noch niemals war, ist nur noch in der Erinnerung an diejenigen gegenwärtig, die in den Dokumenten ihres Bruches mit der bürgerlichen Kultur dieser doch auch zum Bewußtsein verhelfen können.“12
Wenn es heute einem mit seiner Arbeit gelang, solche Dokumente, die von ihm wie in einer Arche geborgen wurden, beredt zu machen und daraus den Gedanken an das zu entbinden, was anders wäre, so ist es Tiedemann. Der Dank dafür, der in der ihm von der Universität Hannover erwiesenen hohen Ehrung besonders nachhaltigen Ausdruck findet, ist von dem Wunsch nicht trennbar, dass dem Geehrten noch lange die Kraft bleibe, solche Arbeit zu tun und die treulos-unbefugte Kritik daran wirkungslos von ihm abprallen zu lassen.
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L. c., S. 113.
Das Janusgesicht Ein Gespräch mit Elena Tavani
Tavani: In Ihren Vergegenwärtigungen zur Unzeit haben Sie, unter anderem, die Kategorie „Emanzipation“ exploriert.1 Sie haben das Bild des „Janusgesichts“ der Emanzipation, zwischen Wunsch zur Eroberung der Herrschaft und Utopie der Abschaffung der Herrschaft als solcher, gebraucht. Als Lösung des Dilemmas schlagen Sie die „bestimmte Negation“ der Gewalt vor, die in jeder emanzipativen Bewegung liegt. Glauben Sie, dass das kritische Modell der Dialektik der Aufklärung strategisch noch eine überzeugende Kraft in den spätmodernen gesellschaftlichen Konflikten haben kann? Schweppenhäuser: Der Ton Ihrer Frage scheint mir auf „überzeugende Kraft“ zu liegen. Das träfe den Nerv. Das Dilemma, die Einsicht ins Dilemmatische muss überzeugen, das heißt d i e überzeugen, bei denen aus der Einsicht die Kraft werden soll, aus dem Dilemma gesellschaftlich herauszukommen. Hier überzeugt sein heißt soviel wie: es bei wachem Bewusstsein nicht zu ertragen, dass dem Menschen durch den Menschen stets noch – und stets mehr – Unmenschliches widerfährt. Es heißt, die Spannung ermessen, geradezu spüren zu können, die zwischen realer Möglichkeit der Humanisierung und ihrer fakti1
Hermann Schweppenhäuser: „Zur Dialektik der Emanzipation“, in: ders., Vergegenwärtigungen zur Unzeit?, Lüneburg 1986, S. 11–41.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_6
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schen Sabotage heute besteht; zwischen der längst durchschlagenden Evidenz alles Menschlichen für alle Menschen, der Selbstevidenz allen Menschenrechts und seiner uneingeschränktesten Gewährung und Unverletzlichkeit auf der einen Seite und seiner gleichzeitigen bornierten ethno- und staatspolitischen, techno-ökonomischen, blindem Zerstörungstrieb überlassenen Verhinderung auf der anderen. Wo kein Spüren dieser Spannung, kein Leiden, Beleidigtsein der Vernunft durch sie, da kann auch keine theoretische Überzeugung erwachsen und aus dieser keine Kraft, zur „qualitativen Emanzipation“ zu gelangen, aus der „Scheinemanzipation“ herauszufinden. Alle Kräfte und Gruppierungen, die heute an jener nicht interessiert sind, weil sie von dieser profitieren, haben alle Anstrengungen gemacht, das volle Bewusstsein von den Spannungen in den Menschen nicht aufkommen zu lassen, ja diese Spannungen unspürbar zu machen. Das ist ihnen mit der stets ingeniöseren Maschinerie der Bewusstseinsformierung weithin gelungen. Die scheinemanzipierte Menschheit ist dabei, in ihren Simulacren, ihrem Universum von Fetischen, ihrer Simili- und Talmikultur so heimisch zu werden, als wäre sie die echte und substantielle. Dazu distanzierte Theorie, davon distanziertes Bewusstsein, Eingedenken bleibt der einzige Ort, der Differenz von Emanzipation und Scheinemanzipation des Menschen überhaupt innezuwerden. Wenn wir Theorie, Philosophie mit dem hysterischen Eifer einer Identifikation mit dem Aggressor auch noch preisgeben – und die technifizierte Intelligenz ist dabei, den Schritt ungerührt zu vollziehen –, hat die Scheinemanzipation historisch auf unabsehbare Zeit gesiegt. Tavani: Das Thema „Rückkehr des Mythos“ erweckt ein neues philosophisches Interesse. Heute erleben wir häufig eine Remythologisierung. Der Mythos dient wieder als Möglichkeit der „Lesbarkeit der Welt“, oder auch einfach als Unterstützung einer Gründung der Identität von Gruppen und Nationalitäten. Ist es eine Niederlage für den Logos? Schweppenhäuser: Der scheinemanzipierte Zustand, die SimulacrenKultur hat sehr viel zu tun mit dem, was heute Rückkehr des Mythos genannt wird. Der Schein in jenem Zustand hat ja die Eigenschaft, den Charakter des Verblendens. Ich werde so geblendet – von allen den Phantas-
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magorien und Zauberreflexen, den Inszenierungen und Selbstexpositionen von Moderne und Postmoderne –, dass ich die Blend-Einrichtungen, den Mechanismus, die Kunst und den Betrieb, die sie in Gang setzen, nicht mehr wahrnehme. Ich handle und bewege mich aber so, als ob ich sähe, wüsste, alles durchschaute – das heißt, ich handle in Verblendung, so, wie die Gestalten im Mythos. Insofern s i n d wir heute bereits im Mythos, und es ist überflüssig, in ihn zurückzuwollen. Die Frage ist, w a r u m man überhaupt zum Mythos zurückwill. Da brauche ich beispielsweise nur an die jüngsten Debatten über die „Auschwitzlüge“ in Deutschland zu denken: man braucht den Mythos, um kein Schuldbewusstsein wegen faktischer gerichtsnotorischer Untaten, kein Eingedenken, keine Selbstkritik, die den persönlichen und den kollektiven Narzissmus kränken, entwickeln zu müssen. So wird etwa vom „Mythos Auschwitz“ statt vom systematischen deutschen Judenmord geredet, oder vom Mythos Hitler, einer im Schicksalsdämmer, im Schauer des Verhängnisses schwankenden monströsen Heldengestalt statt dem berechnenden faschistischen Realpolitiker, der den Mythos und den modernen Pseudomythos selber schon zum kalkulierten Element seiner Realpolitik machte. – Andererseits gibt es – da haben Sie völlig recht – das Interesse am Mythos als an einer entscheidend wichtigen Modifikation der „Lesbarkeit der Welt“. Wenn wir begreifen, dass Mythos das archaische Analogon von historischer Erkenntnis und Praxis ist, also an den Erkenntnis- und Praxis-Analoga des Mythischen die wichtigsten Aufschlüsse über Stand und Sein der Menschheit in ihrer Genese gewinnen können, dann können wir in eine humanisierende Stellung zu den Mythen gelangen, ohne befürchten zu müssen, in neue Barbarisierung durch sie zurückzufallen. Denken wir daran, was wir der eingedenkenden Art des „Umgangs mit dem Mythos“ – der eines Vico, eines Bachofen, eines Freud – an wahrhafter Aufklärung verdanken. Tavani: Ein Schlüsselwort der Kritischen Theorie war und ist „Aufklärung“. Foucault hat aber den erpresserischen Aspekt der Aufklärung, da wo sie auf eine Neigung zu „normativen Begründungen“ hinweist und die typische Normalisierung einer „disziplinären Gesellschaft“ erweckt, unterstrichen. Billigen Sie diese Ansichten Foucaults?
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Schweppenhäuser: Foucault hat seit Folie et déraison das größte Gespür gehabt für das zerstörerische Werk der Normalisierung und Normierung der Subjektivität und der analogen der Welt der Dinge.2 Großartig die Interpretation des Verstummens, sozialer Schizophrenie und Katatonie – all der pathologischen Verkrustungen als Resultaten von Normalisierung und Normierung des Daseins, des Lebendigen im Dasein. Die gesunde Normalität erweist sich als die Krankheit, und die Krankheit als der heimliche, verheimlichte Ort der Gesundheit. Die normalisierten Gesellschaften stellen sich dem Foucault’schen Röntgenblick als nur zu gut gelungene Formationen der Technologie der Macht dar. Die apokryphe Gesundheit harrt der Entbindung von Normativität – von deformierender Identifizierung, verdinglichender Abstraktion, wie Adorno und Sonnemann sagten. Der Dimension des Stummen bei Foucault entspricht die des Nichtidentischen bei Adorno, der um der Selbsterhaltung willen unterdrückten Natur. Für die Sprache des Unterdrückten, der Stummheit, des Schweigens gilt es ein Organ zu entwickeln. Schweigen ist Verschweigen. Dem Verschwiegenen die Sprache zu geben, sie zu vernehmen, ist der Impuls. Die „Poesie der Welt“, „Logik des Begehrens“ wird es sein, der Ausdruck dessen, was das Nichtidentische von sich aus, sponte, dem Normierungsund Identifikationszwang entronnen, sein will. Sie sind der längst in offenen Wahnsinn umgeschlagenen Aufklärung, ihrer Selbstaufklärung und rückhaltlosen Selbstkritik abzuzwingen, die von der neuen Vernunftfrömmelei als Selbstunterlaufen, Selbstverunmöglichung verpönt wird. Wie nahe Foucault der Konzeption der Dialektik der Aufklärung war, hat er in seinem letzten Interview zur Sprache gebracht, und in großartiger Offenheit hat er hinzugefügt: Vieles hätte er nicht selbst mühsam zu ergründen brauchen, hätte er die Dialektik der Aufklärung früher gekannt.3 Tavani: Sie haben erst kürzlich eine Sammlung von Studien zu einzelnen Themen der Philosophie Benjamins mit dem Titel Ein Physiognom der 2
Michel Foucault: Folie et déraison. Histoire de la folie à l’ âge classique, Paris 1961. Michel Foucault, Gérard Raulet: „Um welchen Preis sagt die Vernunft die Wahrheit? Ein Gespräch“, 1. Teil, in: Spuren. Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft, Hamburg, Heft 1/1983 (S. 22–26), S. 24. [„Wenn ich die Frankfurter Schule rechtzeitig gekannt hätte, wäre mir viel Arbeit erspart geblieben. Manchen Unsinn hätte ich nicht gesagt und viele Umwege nicht gemacht, als ich versuchte, mich nicht beirren zu lassen, während doch die Frankfurter Schule die Wege geöffnet hatte.“]. 3
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Dinge veröffentlicht.4 Wie würden Sie, seit Benjamin, den spezifischen Beitrag der „Physiognomik“ für die philosophische Deutung einschätzen? Schweppenhäuser: Die Relevanz des „Physiognomisierens“ für die philosophische Deutung zeigt sich, glaube ich, ganz gut an dem eben zu Foucault Gesagten. Wenn das Ve r s t u m m e n der Subjekte – ihre Desubjektivierung –, die Ve r s t e i n e r u n g der Dinge – ihre Entdinglichung – Ausdrücke, paradoxe Ausdrücke von Normalisierung, Verdinglichung, Denaturierung durch Beherrschen der Natur sind, dann können wir an den Gestalten des Verstummens, des Versteinerns gleichwie an Z e i c h e n der Gewalt, die objektiven historischen und gesellschaftlichen Kräfte selber ablesen, die diese Gestalten formiert haben. Sie sind die Prägespuren dieser Gewalten. Die Gewalten m a n i f e s t i e r e n sich in den Formen der Verhärtung, des Verstummens. Wir haben an den charakteristischen Zügen, dem Typischen dieser Formen Zeichen im doppelten Sinn: Prägespuren der Kräfte selber auf der einen Seite, Verweise auf das, was sie woran anrichten, auf der anderen. Es betrifft das – philosophisch zentrale – Verhältnis von Wesen und Erscheinung. Wir lesen nicht nur in den Zügen historischer und gesellschaftlicher Gewalt, wenn wir uns an die Physiognomien der Subjekte und Objekte halten – und dabei gerade an die Stellen, wo Subjekt und Objekt ineinanderstehen, die, die der kommunikative Intersubjektivismus notorisch verschleift –, sondern umgekehrt auch in den Zügen des von der objektiven Gewalt Zugerichteten und Unterdrückten. Der Konsensualismus verschleift das zur Konvention, zur Maske höflich einverständlichen Grinsens. Hier noch – und gerade hier – schließt physiognomisierendes Deuten aus den Prägungen nicht nur auf Siegel und Stempel, sondern auf das, was Siegeln und Stempeln an sich erlitt – auf die in der Denaturierung innenliegende nichtdenaturierte Natur, die, die sich selbst naturiert. Wir nehmen hier die Zeichen als n e g a t i v e Sprache, als g e h e i m e Schrift – als den bloßen Verweis auf die eigene Sprache des Verstummten und Verhärteten; als die Spur, die auf die eigene Ecriture von Subjekt und Objekt deuten, wie wir heute mit Derri4
Hermann Schweppenhäuser: Ein Physiognom der Dinge. Aspekte des Benjaminschen Denkens, Lüneburg 1992.
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da formulieren können. Es ist sehr schwer, diese Geheimschrift überhaupt zu entdecken oder: in irgendwelchen Anzeichen des Differierens von Objekthaftem inmitten subjektiver oder intersubjektiver Sinnesimmanenz das sich Andeuten einer Ecriture wahrzunehmen. Und es ist noch schwerer, sie dann zu entziffern, das heißt in die eigene Sprache zu übersetzen. Benjamin war ein Meister der Entdeckung geheimer Sprachen nicht nur, sondern auch der Übersetzung von Sprache und Schrift: der latenten Texte von Dingen, Natur, des verborgenen Menschen, in manifeste und der manifesten in unsere eigene Sprache und Schrift, so, dass jene in dieser vernehmbar und lesbar wurden. Tavani: Im „Stil“ liegt nach Manfred Frank5 die Möglichkeit, dass das „Geschehen der Sprache“ in der Philosophie ein individuelles Ereignis wird, gegen den Fetischismus der Heidegger’schen Position, nach der „die Sprache spricht“. Sie haben Aphorismen-Sammlungen geschrieben;6 stellt sich, Ihrer Meinung nach, die aphoristische Schrift, mit ihrer Tendenz zum Fragment und Paradox, auf dieselbe Ebene des Stils im Sinne Franks? Schweppenhäuser: Damit, dass „die Sprache spricht“, meinte Heidegger – sosehr seine dubiose Sprachgebarung es auch nahelegt – keine triviale Tautologie, sondern das sich selbst Bedeuten einer Sache im strengsten nominalistischen Sinn. Es soll gesagt sein, dass die Sprache S p r a c h e und nicht Mitteilung, Signifikation, Mittel und Werkzeug welcher Art und Intention auch immer sei. Die Sprache ist Sprechen im – Goethe’schen – Sinn von Bedeuten, von Ausdrücken. Sprache ist Ausdruck dessen, was ist, und was es ist – im Sinn von „dies Gesicht ist sprechend“ oder – das ist postmodern en vogue geworden – diese Architektur ist sprechend, ist redende. Stil nun ist in der Tat nichts anderes als Inbegriff alles dessen, „was redet“ an Sachen, an Werken, an Kunstwerken. Und das gilt, in diesem 5
Manfred Frank: Stil in der Philosophie, Stuttgart 1992. Hermann Schweppenhäuser: „Quipus“, in: Zeugnisse. Theodor W. Adorno zum 60. Geburtstag, hrsg. von Max Horkheimer, Frankfurt am Main 1963, S. 278–314; ders.: Verbotene Frucht. Aphorismen und Fragmente, Frankfurt am Main 1966; ders.: „Aphorismen und Fragmente“, in: Deutsche Aphorismen, hrsg. von Gerhard Fieguth, Stuttgart 1978, S. 292–296; „Dicta importuna“, in: Sabotage des Schicksals. Ulrich Sonnemann zum 70. Geburtstag, hrsg. von Gottfried Heinemann u. Wolf-Dietrich Schmied-Kowarzik, Tübingen 1982, S. 372–381. 6
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engeren und weiteren Sinn, gewiss auch in dem Frank’schen eines „Geschehens der Sprache“, das in genau eben dem Reden der Sachen besteht, das man muss vernehmen und in der eigenen Rede ihm so angemessen wie möglich artikulieren können. Adorno pflegte das so auszudrücken, dass er sagte, man muss mit der Sprache gegen die Sprache arbeiten – darin den Stil finden, dass man der ‚Rede der Sache‘ in der ‚sachlichen Rede‘, im produktiven Widerstand gegen die vorgegebenen Formen der Rede, der Artikulation, der Stilisation und mit ihnen, den Ausdruck verleiht. Der eigene Stil ist nicht eine subjektive Manier, sondern Ausdruck der subjektiven Fähigkeit, hinter die Sache zurückzutreten, um diese vortreten und sprechen zu lassen. Das übt sich am besten im Gebrauch konziser, sogenannter kleiner Formen wie der Charakteristik, des Essai – im Sinne Montaignes oder Bacons –, des scharf geränderten Fragments – im Sinne Schlegels und Lichtenbergs –, des Aphorismus. Tavani: Warburgs Motto „Der liebe Gott steckt im Detail“ wirkt zweifellos in der „mikrologischen“ Strategie Benjamins als indirekte epochale Überlegung, mehr eine Provokation des Zeitgeistes als eine Darstellung seines Verlaufs. Meinen Sie, dass eine solche deutende Strategie noch produktiv sein kann? Schweppenhäuser: Unbedingt. In Deutschland hat ihre Produktivität sich zu zeigen noch gar nicht recht begonnen, wie etwa der bedauerlich geringe Einfluss der Warburgschule – der kunstwissenschaftlich bedeutendsten in Deutschland vor Hitler – belegt; eine Folge der Hitlerei, die kulturell so vieles zerstörte, was bis heute zertrümmert liegt. Ich finde es schön, wie Sie das Warburgdictum auf Benjamins Mikrologie beziehen – den Gott im Detail auf den messianischen Funken in den Bruchstücken der „Schalen“ historischer Objektivation, die die Katastrophengeschichte bis heute anhäufte und hinterließ. Aus diesen Bruchstücken können wir, nach Benjamin, rekonstruieren, was zerbrach, im schwankenden Licht der Funken aufscheinen sehen, wie das Unzerbrochene, Integre sein soll. Die Idee der Monadologie scheint eine von höchster Aktualität. Sie ermöglicht uns ein anderes Verhältnis zur chaotischen Wirklichkeit zu finden, als das, von ihr in ihrer Totalität erschlagen, aufgesogen, zum Verschwinden gebracht zu werden. „[J]ede kleinste angeschaute Zelle Welt
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[wiegt] soviel wie der Rest aller Wirklichkeit.“7 Wir sind deren in der essentiellen Konzentration mächtig, statt dass sie in ihrer grenzenlosen Extension sich unser bemächtigt. Wir müssen nicht Opfer des Totalitätsfetischismus werden. Wir werden des Größten im Kleinsten gerecht: dem, was es in seiner Unwiederbringlichkeit ist und verspricht, wie – in der dekonstruierenden Erkenntnis – dem, was die Vormacht der Totale am individuum ineffabile anrichtet. So vertraute schon Adolf Bastian auf den „extremen Induktivismus“: in den heterogensten, weitverstreutesten Mythen, Bräuchen, Symbolen werden sich die wenigen Grundideen – Benjamin sprach von den Ideen als „gezählten“ – der einen Menschheit – etwa die von der Grundgestalt des Universums – aufdecken lassen. Man weiß, wie Warburgs Ingenium in der verwirrenden, buchstäblich, dämonisch, beängstigenden Fülle der Kunst- und Bildsymbole der Geschichte Grundmuster der Ausdrucksprägungen ausmachte, die sich seit der Archaik bis heute durchhielten und so etwas wie den Grundbestand des sozialen Gedächtnisses der Kulturmenschheit selber darstellen. Tavani: In der philosophischen Geschichte, von der kantischen Stellung an, eröffnet die Kategorie „Kritik“ eine Möglichkeit des Sich-distanzierenKönnens als Offenheit für die Freiheit des Denkens. Glauben Sie, dass dieses philosophische Bedürfnis der Distanzierung noch empfunden wird, oder dass es zumeist vom Bedürfnis einer Versicherung oder einer Definition der Zugehörigkeit (zum Sein, zur Sprache, zur Überlieferung usw.) ersetzt worden ist? Schweppenhäuser: In dem mikrologischen Verfahren wird dieses Moment der Distanzierung besonders sinnfällig: die Versenkung ins Kleinste, das den Rest der Wirklichkeit aufwiegt, i s t eben jene kritische Distanzierung von dieser, die sie desto genauer aufzufassen und zu erkennen erlaubt. Sie verhindert die falsche Identifikation mit dem Wirklichen, mit einer Totalität, von der wir Sicherheit, Unterschlupf, Zugehörigkeit vergeblich oder höchstens um den Preis der Mimikry in ihm erwarten. Hier 7 Walter Benjamin: „Gottfried Keller“, in: ders., Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I–VII, Frankfurt am Main 1972–1989, Bd. II.1, Frankfurt am Main 1977 (S. 283–295), S. 288.
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walten wiedererwachte, längst verjährte totemistische Impulse, denen wir nicht nachgeben dürfen. Der neumythische Kollektivismus, der ethnischfolkloristische der Brauchtümer und der vergötzten „Volksgeister“ hat das heute mit Erfolg wieder auszunutzen begonnen. Mit der Distanz zu solchen Zugehörigkeiten, zur falschen Identifikation – das müssen wir wissen – verlieren wir zugleich die Individualität, die wir ohnehin nur noch in ihren Rudimenten, die der spätbürgerliche Liquidationsprozess hinterließ, verteidigen und zu retten versuchen können. Tavani: In seinen Spectres de Marx hat Jacques Derrida die Notwendigkeit einer „radikalen Kritik“ mit den Mitteln der Dekonstruktion gefordert.8 Die „Spur“ wird als Anwesenheit eines Gespenstes interpretiert, insoweit es auf etwas hinweist, was noch zu verwirklichen wäre. Was meinen Sie dazu, und glauben Sie, dass man ein solches revenant physiognomisch bestimmen kann? Schweppenhäuser: Was es mit solchen Geistern wie dem Volksgeist – im Bösen wie im Guten – auf sich hat, führt Derrida in den Spectres de Marx – nach meiner Einschätzung einem der bedeutendsten Bücher der letzten Jahre – aufs Eindrucksvollste vor. Das jämmerliche Konstrukt eines kontinuierlichen Geschichtsverlaufs mit fürs momentane Bestehende glorios erreichtem Ende; der monströse Riesenfetisch des siegreichen Kapitalismus in seiner unverschämten Etablierung als Weltreligion zeigt sich in der Tat als das Riesengespenst dieser jüngsten Moderne – ein Geist, der nicht mehr umgeht, sondern wie ein globaler Alp auf die neue Welt drückt. Das fördert Derridas Dekonstruktion dieses Monsterkonstrukts großartig an den Tag. So wie er in der abendländischen Logophonie die „übersprochene“, bis zur Unkenntlichkeit „rationalisierte“ Ecriture: die Spuren und Zeichen der Sachen, des Seins selbst freilegt, so in der Dekonstruktion der neuen Welt-Ordnung die Spuren der von dieser Ordnung entstellten Welt, die Spuren der den Lebenswert zerstörenden Grundgewalt des Wert-Verwertungsprinzips. Sie hatte Marx beim Namen genannt. Und indem Derrida sie in der gesellschaftlichen Ordnung von heute verstärkt und erweitert am Werk sieht, ruft er den Namen dessen, der sie theo8
Jacques Derrida: Spectres de Marx, Paris 1993.
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retisch erstmals beschwor, selber herauf. Das ist die Beschwörung des spectre de Marx, das h e u t e umgeht, und das nicht mehr anders wird gebannt werden können, als durch die Wiederbelebung des revenant: das wäre die endliche Belebung. Für diese erblickt Derrida die sichersten Anzeichen in einer neuen, erweiterten Internationale der Bedrückten, Verhungernden, Gefolterten, innen und außen Entrechteten, Diskriminierten, Verfolgten und Heimatlosen, die auf dem Globus sich formiert. Tavani: Bei Adorno muss eine „Rettung des Scheins“ zuerst die Möglichkeit des Interpretierens – als einer immanenten Transzendenz der kontingenten und geschichtlich bestimmten Erfahrung – retten. Ist das ein Hinweis auf einen noch begehbaren Weg? Schweppenhäuser: In unserer Welt der Simulacren, der Blendwerke, des totalen fetischistischen Scheins ist es von großer Bedeutung, auf den ästhetischen Schein und seine Differenz zum verblendenden hinzuweisen, so sehr die Kunstwerke – nicht nur die harmonischen und die Gebilde des schönen Scheins, sondern noch die dissonanten, die aurazertrümmerten, die zerrütteten – auch an ihm teilhaben. Der ästhetische Schein ist manifestierender. Erscheinung ist hier immer die eines anderen, als die Erscheinung ist. In ihr erscheint das Wesentliche, der Gehalt. Unterschieden von der Erscheinung, ist er im Werk doch auf keine andere Weise als durch den Schein gegeben. Wenn es aber auf den Gehalt: den Wahrheitsgehalt, eruiert an den Sachgehalten, die ins Werk aufgenommen sind, ankommt, dann muss der „Schein gerettet“ werden – wie Adorno postuliert –, weil das Wahre selber, das in ihm erscheint, das an ihm hängt, anders nicht als durch den Schein zu haben ist. Das Kunstwerk ist ein Gemachtes, ein täuschend wahr Gebildetes, sein Wahrheitsgehalt bleibt immer ein vom Machen Unterschiedenes – ein Sein, ein Geltendes. Eben das erschließt sich durch Interpretation, nach Adorno geradezu die „Herstellung“ des Wahrheitsgehalts in den Werken. Dieses Herstellen ist natürlich nicht das arbiträre Machen, am wenigsten ominöse Sinngebung. Herstellung des Wahrheitsgehalts heißt nichts anderes als ihn begreifen, nämlich Erfassen in seiner Wahrheit oder Unwahrheit. Das aber ist etwas Kritisches, und dabei muss man sehen, dass die Kritik schon im Kunstwerk liegt oder besser: geschieht, wo sie dann der Interpret im scharf und genau distingu-
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ierenden Zusehen zu vergegenwärtigen hat. Wenn das authentische Werk – nur um solche geht es natürlich – etwa der Ausdruck des Leidens der Subjektivität an der Objektivität ist, dann besteht der Wahrheitsgehalt in der sich gewissermaßen selber schreibenden Schrift des Leidensdrucks – dem „Weh, das spricht: vergeh“ –, und diese Schrift ist Anklage, Kritik am Unwahren eines Zustands, der das Subjekt, das nicht leiden müsste, leiden macht. Das ist der Zustand unterdrückter Natur. Das Kunstwerk drückt also die Wahrheit: die ununterdrückte Natur, die noch gar nicht ist, in ihrer Unwahrheit: im Entstelltsein, der Beherrschung der Natur aus. Der ästhetische Schein ist nicht Lügenschein, sondern Erscheinen der Wahrheit in ihrem S e i n – ob im defizienten der gegebenen Wirklichkeit, ob im noch nicht Sein ihrer Erfüllung im Kommenden. Die Kunst deutet darauf vor, wenn sie die unzerstörte Natur imaginiert, auf das Naturschöne weist. Sie real herzustellen oder wiederherzustellen, ist, wie die vielen Aktivitäten der Rettung von Natur zeigen, fraglos ein gangbarer Weg.
Teil II Ausdruck
Hermann Schweppenhäuser und Rainer Koehne: Aus einer Monographie über Aspekte der Sprache
Unsere Untersuchung der Sprache ging nach zwei Seiten vor:1 als Analyse charakteristischer Bestandteile der vorgegebenen zeitgenössischen Sprache, die als Symptom der krisenhaften Verhältnisse etwas von diesen selbst sollte erkennen lassen; und als Studium der Sprechweise, des Verhaltens der Menschen der Sprache gegenüber, an dem wir etwas über ihr Denken, ihr Verhältnis zur Wirklichkeit ausmachen wollten. Im Folgenden soll an einigen Beispielen und innerhalb der Grenzen einer gruppensoziologischen Untersuchung wenigstens ein ungefährer Begriff vom sprachlichen Verhalten unserer Diskutanten vermittelt werden; die Bedeutungsanalysen der vorgegebenen etablierten Sprache sind dabei mehr oder weniger vorausgesetzt.
Sprache der Passivität Die beflissene Anpassung an die Sprache ist nur ein anderer Ausdruck für die Anpassung an die Realität, der sich die Menschen der industriellen Massengesellschaft, in der sie sich nicht mehr als Subjekte erfahren können sondern als Objekte, über die verfügt wird, resigniert überlassen. 1
Cf. Aspekte der Sprache, Band IV der Manuskripte zur „Gruppenstudie“ im Institut für Sozialforschung, Frankfurt am Main. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_7
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Ihr eigenes Geschick tritt ihnen als eine Sache gegenüber, in die sie nicht hineinzureden haben, und die sie allenfalls beiläufig kommentieren können. Die Art, wie die Teilnehmer der Diskussionen gesprochen haben, legt davon eindringlich Zeugnis ab – wobei freilich der künstliche, fiktive Charakter der Situation zu bedenken ist. Es dürfte schwer fallen, in den Protokollen auch nur einige Stellen aufzuspüren, in denen etwas von dem Ernst ist, der wirklich – und handle es sich nur darum, andere zu überzeugen – etwas will. Darüber kann auch die Heftigkeit nicht hinwegtäuschen, mit der vielfach gesprochen wird. Sie ist wie die Phantastik vieler Reden nur das Produkt der Fesselung in die Attitüde des ohnmächtig Zuschauenden, die Heftigkeit dessen, der wenigstens einmal gehörig seine Meinung sagen will, und der keine Konsequenzen zu befürchten hat. Ein anderer, unsublimierterer Ausdruck solcher Heftigkeit ist etwa das Brüllen der Zuschauer bei Sportveranstaltungen. Dass die Menschen bestimmte Formulierungen und sprachliche Figuren kritiklos benutzen, die dann gegen ihren Willen die Wahrheit über ihren Zustand verraten, offenbart ihr blindes Verhältnis zu den Geschehnissen selbst. P.: ... Das andere hier ist wieder ein übles Intrigenspiel nur zwischen dem Ami und dem Russen. Das geht uns Deutsche gar nix an, was die jetzt haben. Der Monopolismus und der Kapitalismus, die wollen uns ja ’neinschiebe, uns mit, die andere Staaten auch, net. Wenn der Russe nämlich hier vordringt bis zum Atlantik – und der bleibt ja nicht halten in Deutschland, der geht vor bis zum Atlantik – habe ich nichts zu verlieren, gelle. Ich kann nach Sibirien versetzt werden, das interessiert mich nicht. Ich habe nichts zu verlieren, persönlich. Ich habe ja nix wie einen Anzug und den hier, sonst habe ich ja nichts. Und den Nächsten schütze ich schon nicht mehr. Ich habe die Nase voll, gelle. Wa s geht mich da oben ein Rat an oder ein Direktor? Der kann ja verrecken wie ich, gelle. Kommt nicht mehr in Frage. Das interessiert mich nicht mehr. Nur noch mein eigenes Ich ... (Protokoll 58, S. 7 f.)
Hervorzuheben ist die Stelle „Ich kann nach Sibirien versetzt werden, das interessiert mich nicht“, in der das Wort ‚versetzen‘, das seiner üblichen Bedeutung nach die immerhin nicht ganz umstandlose Versetzung von Beamten bezeichnet, auf den nackten Kern dieser Bedeutung: von
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einem Punkt der Landkarte zu einem anderen verschieben, reduziert ist. Diesem an die geläufige Vorstellung von den Menschen als Schachfiguren der Politik anklingenden Satz entspricht das Bild des ersten: das „Intrigenspiel“, dessen Akteure, „der Ami“, „der Russe“ und „der Monopolismus und der Kapitalismus“, hier wie die Riesengestalten erscheinen, die man gelegentlich in Zeitungskarikaturen auf dem Globus hocken sieht. Solchem Intrigenspiel möchte der Teilnehmer sich entziehen, indem er sich gewissermaßen tot stellt, oder, wie er sagt, sich für nichts mehr interessiert als für sein eigenes Ich. Ein Bewusstsein von dem imaginären Charakter dieses Tricks, in dem er sich noch einmal zu dem passiven Etwas macht, das er sein soll, mag zu dem To n verzweifelten Affekts beitragen, den die ganze Äußerung hat. Folgerichtig schließt denn auch der Satz: „Ich kann nach Sibirien versetzt werden, das interessiert mich nicht“ eben das eigene Ich des Redenden als bloßen Körper, als „Menschenmaterial“, über das verfügt wird, aus. Es stimmt zu dieser Intention auf absolute Passivität, die etwas von der Trotzreaktion des Geächteten, Ausgeschlossenen hat, dass der Redner von seiner Ablehnung der Remilitarisierung nicht zu einer Diskussion überlenkt, wie man die Remilitarisierung etwa abwenden könnte, und auch nicht versucht, andere Teilnehmer zu überzeugen. Die Attitüde des Zuschauers tritt gerade an den Äußerungen hervor, in denen die Teilnehmer den heftigen Wunsch bekunden, dass an der Wirklichkeit etwas geändert wird. Sie wirken dann wie jemand aus dem Publikum, der in den Verlauf eines Bühnenstückes eingreifen möchte, aber in seinen Sitz gezwängt bleibt. – Ein Teilnehmer etwa kritisiert den Zustand der Demokratie: B.: ... Demokratie? Es wurde uns noch nicht richtig gezeigt, was Demokratie ist, denn das hieße Selbstbestimmung ... (Protokoll 52, S. 9)
Schwerlich könnte der Bann, unter dem die Menschen stehen, sinnfälliger in Erscheinung treten als in dieser Äußerung, die auf ihn reflektiert und zugleich die widersprüchliche Feststellung trifft: dass, „was Demokratie ist“, „uns noch nicht richtig g e z e i g t“ worden sei, und doch auch wieder „Selbstbestimmung“ heiße. Die Rede bleibt sprachlich in die Fesseln der kollektiven Passivität geschlagen: Selbstbestimmung soll gleichsam erst
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eingeführt werden – und läge doch schon beim Subjekt allein. Autonomie wird der Vorwurf, dass Autonomie nicht von außen beschert wird. Ein Handeln, das wirklich in die Realität eingreifen würde, erwarten die Menschen nicht mehr von sich selber, sondern nur noch von äußeren Instanzen, sei es einer Regierung oder einem anonymen „Man“, das nie zu einem handelnden Subjekt werden kann, weil alle Individuen, die dies „Man“ ausmachen, sich eben auf das Kollektiv verlassen wollen. Unzählige Male und in mannigfachen Versionen, wie etwa: „die sollen doch ...“ kehrt im Material der Studie die Haltung des „aber warum wird nun nichts unternommen?“ wieder. Die Realität, in die die Individuen nicht mehr handelnd eingreifen können, wird nicht als ein Geflecht lebendiger menschlicher Beziehungen erfahren, sondern tritt den Menschen als kompaktes geschlossenes Bild entgegen. Typisch ist die folgende, früher bereits zitierte Stelle:2 Pf.: Ich bin 63 Jahre alt und habe zwei Weltkriege mitbeobachten können. Ich selbst habe nicht daran teilgenommen. Nach dem ersten Weltkrieg haben wir uns in den ersten drei Jahren weiter erholt wie heute nach fünf Jahren. Beim Ausbruch des zweiten Krieges oder vor Ausbruch des zweiten Krieges in dem Naziregime war ein Terror aufgezogen, dem sich der Mensch in den Fabriken, der Kollege, nicht entgegensetzen konnte. Der Terror war so groß, daß wir kommandiert wurden zu allen möglichen Festen und Veranstaltungen. Nachdem nun die Greuel des Krieges einsetzten und die großen Bombenangriffe hier auf X. kamen, wie wir sie hier in allernächster Nähe beobachten konnten – so kann man da wirklich nicht heute von Schuld Deutschlands sprechen, denn das waren meines Erachtens nach keine strategischen Ziele, die man so ohne weiteres ... daß man ganze Landschaften dem Erdboden gleichmachte. (Protokoll 24, S. 25)
Die vorherrschenden Wendungen bekunden, dass die Realität von Bombenkrieg und totalitärem Terror als ein Spektakel im mehrfachen Sinn apperzipiert wird. Einen scharfen Schnitt zwischen den Beobachter und den Beobachteten, der ‚daran teilnimmt‘, legt die Partie „habe zwei Weltkriege mitbeobachtet. Ich selbst habe nicht daran teilgenommen“. Dann folgt die Ausdrucksweise, dass der Terror „aufgezogen“ wurde, die auf 2
Cf. V. Kapitel [des Buches Gruppenexperiment. Ein Studienbericht, bearb. von Friedrich Pollock, Frankfurt am Main 1955,] S. 358.
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die in den nationalsozialistischen Organisationen geläufige Wendung zurückgeht, dass eine ‚Kundgebung aufgezogen‘ werden sollte. Dabei erscheint der Terror selbst wie ein Stück Spektakel, und der Sprachgebrauch verrät die Nuance des Lärmens, Brüllens, monotonen Marschierens bei den Massenkundgebungen, die der folgende Satz dann auch assoziiert: Er bringt den Terror direkt in Verbindung mit „allen möglichen Festen und Veranstaltungen“, zu denen die Menschen kommandiert wurden. Das Moment des Arrangierten, Befohlenen an der angeblich spontanen nationalsozialistischen Bewegung kann sich nicht deutlicher ausdrücken als durch die Redeweise, die „Terror“ und „aufziehen“ derart verknüpft. Das zum ‚Block‘, zum Klischee erstarrte Erlebnis kommt ganz ähnlich im nächsten Satz zum Ausdruck, in dem von den „Greueln des Krieges“ die Rede ist, von denen es heißt, dass sie, wie etwas exakt Vorausberechnetes, „einsetzten“. Damit trifft der Redner, der die Wörter verbindet, wie man es, gegen allen Sinn und doch im offiziellen, dreizehn Jahre lang in Deutschland tat, genau den Sachverhalt, dass die Bombenangriffe nicht weniger ins Schema der Kriegspropaganda des „Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda“ hineinfielen als die befohlenen „Feste und Veranstaltungen“ und in der Tat als etwas erfahren werden mochten, das nun auch noch „einsetzte“ wie das schwere Blech im Orchester. – Auch von den Bombenangriffen heißt es, dass man sie „beobachten konnte“; das in diesem Zusammenhang genannte Wort „Bombenangriffe“, bei dem dem Redner gewiss nicht nach Komik zu Mute ist, erweckt gleichwohl die Reminiszenz an ähnliche Ausdrücke aus der Reklame für Vergnügungsveranstaltungen („Bombenstimmung“, „Stimmungskanone“ etwa), deren Physiognomik Karl Kraus schon in den Letzten Tagen der Menschheit 3 entwarf. Der aus manifesten und kryptischen Elementen undurchsichtig gemischte Jargon der Kriegsjahre selber lässt die erstickte Komik des Wortes mehr hervortreten als die Nuance des Grauens, die eben solcher Sprachgebrauch verweigert. Hinzuweisen bleibt schließlich darauf, dass auch die Rede von „strategischen Zielen“ und die standardisierte Wendung ‚ganze Ortschaften dem Erdboden gleichgemacht‘ in der Sprache von heute den Gegenstand erstarren lassen, ihn zum gleichgültigen, bloß konstatierten entfremden. 3
Cf. Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit, Zürich 1945, etwa Akt III, Szene 45, S. 406 f.
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Ebenso wie die Menschen das, was über sie ergeht, sprachlich als ein Stück Schaustellung wahrnehmen, reden sie von dem, was sie selber im Kollektiv tun, wie von einem Teil dieser universalen Schaustellung – und meinen es dabei keineswegs so ironisch, wie es klingt: W.: ... Wir zum Beispiel, von 33 an, die wir eine Diktatur hatten, wir waren also bestrebt, vorwärtszukommen, und wir haben es auch fertiggebracht, der Welt dann so viel aufzubieten und so viel Können zu zeigen, daß wir auf einmal die ganze Welt gegen uns hatten ... (Protokoll 104, S. 28)
Die Welt also war auf einmal gegen Deutschland, weil die Deutschen soviel Können zeigten. – Das Vorwärtskommen erscheint wie eine Tätigkeit an sich, und das Können scheint zum Zeigen da zu sein, was der für die Ostentation gebräuchliche Ausdruck ‚aufbieten‘ deutlich macht: Die Geschichte des Hitlerreiches neutralisiert sich zu einer Theatervorstellung, bei der das Publikum – das Ausland – gegen soviele Künste revoltiert, ohne dass die wirkliche Ursache davon, die Aggressivität des Hitler’schen Könnens, also die Ziele seiner Politik, noch in das Vorstellungsbild eingingen. Der Inhalt des Handelns wird zur Schaustellung eines Funktionierens, das mit den Zwecken, die ein Handelnder verfolgt, nichts mehr zu tun hat: W.: ... In einer Diktatur sagt ein Mann irgend etwas, gibt einen Befehl und das wird ausgeführt, während wir es bei einer Demokratie nicht haben. Es sind so viele Parteien da, der eine will es, der andere ist dagegen, und wir kommen letzten Endes nicht zum Ziel. (Protokoll 104, S. 28 f.)
Der Ausfall der Sprache aus den Beziehungen der Menschen zu ihrer Umgebung, deren Verdinglichung zu etwas, das eigentlich nur noch Anblick ist, macht sich auch in den Äußerungen über die Juden geltend – dazu folgendes Zitat aus vielen ähnlichen: U.: Ich habe die Meinung, daß das Judenproblem nicht als solches die jüdische Religion oder die jüdische Rasse trifft, sondern daß die Vorwürfe, die heute gegen das Judentum erhoben werden, vor allen Dingen einmal Emigranten aus dem Osten treffen, die uns heute ein wüstes Leben vorführen, ein Schacherleben vorführen, ein arbeitsscheues Leben vorführen,
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und damit das Judentum als solches erheblich schädigen. (Protokoll 86, S. 1)
Es wird nicht etwa gesagt, dass die Arbeitsscheu, die Wüstheit und das Schacherleben, die den Juden hier zugeschrieben werden, einen realen Schaden anrichteten: ihnen wird vorgeworfen, dass sie etwas „vorführen“, das man nicht mit ansehen könne. Dies geschieht ganz mit der Sprachgeste, die sonst die versteinerte, alle Diskussion rigoros abschneidende Bezeichnung ‚untragbar‘ angemessen umschreibt. – Die Juden werden, wie in der Wirklichkeit, von der Sprache noch einmal an den Pranger gestellt: die Rede des Teilnehmers ähnelt dem Hallo der Menschenmenge darum herum. Besonders in den sprechchorartigen Stößen der letzten Partie – „ein wüstes Leben vorführen, ein arbeitsscheues Leben vorführen, ein Schacherleben vorführen und damit das Judentum als solches erheblich schädigen“ – stirbt sie zu einer leeren Massivität ab, die nicht auf Verstandenwerden und Antwort angelegt ist, sondern darauf, zu treffen. Dem entspricht, dass der Sprecher dem Wort Judenproblem durch die Verbindung mit dem Prädikat „trifft“ eine Bedeutung gibt, aus der alle Beziehung auf Nachdenken, wie es die Verbindung „Juden“ und „Problem“ vortäuschen soll, eliminiert ist. Dazu passt wieder die zweimal in der Rede vorkommende Floskel „als solches“, die mit den Wörtern „Judenproblem“ und „Judentum“ verbunden wird. Sie soll die Objektivität des seine Begriffe säuberlich herauspräparierenden Redners ausdrücken, der damit seinen Vorwurf gegen die Ostjuden gewissermaßen als subjektiven, empirisch-zufälligen hinstellt: dieser betreffe gar nicht das „Judentum“, das „Judenproblem als solches“, die wie reine Ideen isoliert stehen bleiben. Zugleich wird damit sozusagen ihre Invarianz, das Unabänderliche, ausgedrückt: was „als solches“ so ist, muss so sein und alles Denken und Handeln danach sich verhalten. Dass antisemitisch argumentierende Personen die Juden eigentlich nicht als Menschen erfahren, zu denen man spricht, sondern als Objekte, auf die man die Augen heftet, wird recht deutlich in den folgenden Äußerungen eines Teilnehmers einer anderen Diskussionsgruppe: L.: ... Er soll zuerst mal ein Mensch werden, ist meine persönliche Meinung; und wenn er ein richtiger Mensch wird, und das – auch diese
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menschlichen Instinkte, die bei anderen Menschen zugrundeliegen, auch zutage fördert bzw. danach lebt, dann wird dem Juden auch kein Haar gekrümmt werden ... (Protokoll 106, S. 4) L.: Wenn ich dazu etwas sagen soll: Wenn die Juden sich dementsprechend gehalten hätten, nicht wahr, so aufgeführt hätten, dann wäre das ja alles nicht gekommen. Das ist ja vor 1933 ja schon des öfteren in Deutschland gewesen, daß man auch in Städten eine Verfolgung der Juden, eine Sabotage und dergleichen vorgenommen hat, weil sie eben tatsächlich sich nicht als Menschen, als deutsche Menschen benommen haben ... (Protokoll 106, S. 6)
Hier geht die Leugnung, dass die Juden Menschen seien, zusammen mit dem weitverbreiteten Gebrauch der Wörter ‚sich halten‘ und ‚sich aufführen‘. Sie messen das Verhalten – und wahrlich nicht bloß die Juden – gleichsam am Ideal der Vorschrift. Zurückgehen dürften sie auf die Sprache des Kasernenhofes; in ‚sich halten‘ ist etwas von dem Blick des Unteroffiziers, der einen exerzierenden Rekruten abschätzt. Bezeichnend für die Menschenverfolgungen im Dritten Reich ist die Redewendung, dass man sie „vorgenommen“ habe. Sie trifft den Sachverhalt. Das Opfer, mit dem es keine Kommunikation mehr gab, wurde nur noch als ein physisches Etwas traktiert. Der Mord wurde angeordnet, ohne Beziehung zum Opfer: die Vergasung erfolgte auf Grund von Angaben im Fragebogen.
Sprache des Rollenspiels Wie die Redenden sich der vorgegebenen Sprache überlassen, wird vollends deutlich, wenn die verlorene Subjektivität zur selbstgefälligen Geste sich steigert, wenn die Menschen an den gängigen Jargon sich anbiedern. Eines der auffälligsten Motive, das sich an den Äußerungen der Gruppendiskussionen zeigt, ist das Bedürfnis der Teilnehmer, etwas darzustellen und sich dadurch wenigstens fiktiv etwas von der Geltung und dem Ansehen zu verschaffen, dessen sie in der Realität entbehren. Wenn manche Redner ihre reale Not durch Klischees wie „wichtige Tagesfragen“ kennzeichnen, klingt es fast so, als ob sie sie verklärten. In
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diesem Ton spricht ein arbeitsloser Flüchtling davon, dass er sich in das Flüchtlingslager „begeben“ habe. Zwei charakteristische Stellen seiner Rede seien angeführt: T.: ... Wenn hier jemand Reklame macht für eine Partei, dann soll er es draußen tun. Ich hätte da wichtige Tagesfragen. Ich bin aus der Ostzone und mußte dort weg. Daraufhin habe ich mich in das Lager Ülzen [sic] begeben ... (Protokoll 30, S. 23) T.: ... Ich habe mich persönlich um Arbeit bemüht, in Essen als MaurerUmschüler ... (Protokoll 30, S. 24 f.)
Es sieht aus, als fühle er sich prominent dadurch, dass er in dieser kleinen Gruppe einer von denen ist, von denen man sonst nur in der Zeitung liest. Das ähnelt seine Redeweise der Diktion eines Berichts über Prominente an: „habe ich mich begeben“; „ich habe mich persönlich bemüht“. Hieran lässt sich eine ebenso wichtige wie fatale Funktion der Presse erkennen: Sie versieht die Menschen mit Formulierungen, die sie für ihren eigenen Gebrauch übernehmen können, um sich auf diese Weise damit auszusöhnen, dass sie in Wirklichkeit das passiv über sich ergehen lassen müssen, worüber sie unablässig informiert werden. In einem ganz wörtlichen Sinn scheinen die Menschen den Mund vollzunehmen, wenn sie die großspurigen superlativischen Begriffe aussprechen, von denen die heutige Sprache übervoll ist: nach Theodor Haecker auch „Kolosse des Mittelmäßigen [...] die kolossale Wirkungen hervorbringen“, und die in der Sprache anzuwenden die „Weise der Mediokrität“ sei.4 Das ist herauszuhören etwa aus folgender Äußerung; es handelt sich um den Ausdruck „globales Ausmaß“: R.: ... Die Auseinandersetzung heute zwischen Ost und West, das merken wir immer wieder, allein wenn man sich die Größenrelationen am Globus ansieht, die hat jetzt schon globales Ausmaß angenommen. (Protokoll 69, S. 54)
Auffallend ist, dass die Aufzählungen von solchen großspurigen Begriffen häufig in ein „usw.“ auslaufen: 4
Cf. Theodor Haecker: Tag- und Nachtbücher, München 1947, S. 126.
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N.: ... und ich bin der Ansicht, daß diese Entwicklung, auch diese furchtbare Tragik des letzten Krieges, als Auswüchse der Geschichte, als etwas Überpersönliches zu werten sind, das man ... als geschichtliche Entwicklung kennzeichnen muß, die sich nicht im rein persönlichen Bereich, sondern in überpersönlichen Mächten, in Nationen, Weltanschauungen usw. abspielt. (Protokoll 86, S. 13)
Der Bruch zwischen der wirklichen Erfahrung und ihrer begrifflichen und sprachlichen Bewältigung kann sich kaum drastischer offenbaren. Je undurchschauter, totaler die erlebte Katastrophe, umso hohler die pompösen Begriffsklischees, mit denen sie scheinbar bewältigt wird, und denen an sich richtige Begriffe zugrundeliegen. Anstelle der wenigstens versuchten Anstrengung, das für nicht mehr menschenmöglich Gehaltene zu erklären, tut es der Redner gleich als etwas „Überpersönliches“ ab. Zu solchem Zitieren großer Begriffe – die den, der sie nennt und der sich damit selber in Einklang mit den höheren Mächten dünkt, unter sich begraben wie die Ereignisse, die sie bezeichnen, ohne dass er es wahrhaben würde – stimmt die Verwendung des „usw.“, das etwas von der innersten Struktur dieser Sprache anzeigt. Sie muss die Leere solcher Prägungen wie ‚überpersönliche Mächte‘, ihren Mangel an sachlicher Überzeugungskraft durch eine Massierung von Wörtern überspielen, die der Nötigung zu eigenem Nachdenken entheben oder dem denkenden Einwand vorweg begegnen. Der Redner hat offenbar das Gefühl, dass er seine Aufzählung ohne Ende fortsetzen müsste und ersetzt diese unendliche Rede durch die abstrakte Anweisung „usw.“. Sie besagt, dass er so fortfahren könnte, wenn er nur wollte, und verleiht der nicht existenten Fortsetzung die Faszination dessen, von dem man gar nicht erst anfangen will. Zu den Möglichkeiten des bombastischen Redens gehören die Zahlen, die ähnlich wie jene vagen Begriffsklischees aus einem Abstrakten, Offengelassenen zu etwas Geheimnisvollem und Ungeheuerlichem werden.5 Bei der folgenden Stelle ist zu spüren, wie der Teilnehmer über der Lust am Aussprechen einer riesigen Zahl die Sache, die sie bezeichnen soll, fast vergisst:
5
Cf. l. c., S. 109 f.
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M.: Das kann man ja gar nicht verstehen, daß das Demokratie sein soll; ich kann das nicht verstehen, was Demokratie heißt; wenn der Amerikaner rübergekommen ist, hat hier die Weiber und Kinder erschlagen. Nur das Eine in X, wo da über dreimalhunderttausend an einem Tage tot waren. (Protokoll 60, S. 14)
Das Gemeinte wird nicht mehr gefühlt und fungiert wie das rhetorische Mittel eines Demagogen, der das Klischee für die Wehrlosen: „Weiber und Kinder“ effektvoll durch die Wendung „dreimalhunderttausend an einem Tage“ unterstützt. Diese mutet wie die Rekordzahl einer ins Negative gewendeten Reklame an. Im gleichen Tonfall hat Hitler Zahlen ausposaunt. Die häufige Verwendung der Zahl und der vordemonstrierten Kalkulation lässt noch an etwas anderes denken als an das sich und andere mit abstrakten Größen Berauschen. Das rationalistische Gegenteil, Vertrauen in die Zuverlässigkeit von Zahlen, scheint hier eine ebenso große Rolle zu spielen. Wer Zahlen nennt, verbreitet das Air der Exaktheit und verrät Sachkenntnis: Zahlen an sich gelten leicht für wahr. – Ein Beispiel für den Gestus exakter Kalkulation, hinter dem sich handgreiflicher Unsinn versteckt: S.: ... und zwar weiß ich aus eigener Erfahrung, daß ein Artikel, ob eine Leica oder eine Armbanduhr, die in deutschen Werkstätten gefertigt wurde, mit 30 % ihres Wertes von den Amerikanern ... auf Reparationen geht. 30 % gehen auf Reparationen und – bitte verstehen Sie mich nicht falsch: der amerikanische Soldat kaufte diese Leica nicht mit 30 %. Der amerikanische Soldat bezahlt in seinem PX-Laden nicht 30 %, sondern mit 100 % in seiner Wertmäßigkeit, so daß der amerikanische Staat bis dahin schon 70 % verdient. Und der amerikanische Staat gibt diese Leica nicht mit 100 % ab, sondern schlägt noch 100 % auf, so daß der amerikanische GI 170 % bezahlt. Und die frißt der Staat. Ich kann diese Behauptung allerdings nicht nachweisen ... (Protokoll 44, S. 87)
Auch dieser Teilnehmer benutzt Abfälle der Reklame, die Marke „Leica“, die als Inbegriff deutscher Wertarbeit gilt und die dem gleichen Umkreis angehörige Prägung „in deutschen Werkstätten gefertigt“, um sich damit zu schmücken. Dass ihm die Sprache zunächst mehr ein Mittel
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zur theatralischen Selbstdarstellung ist als ein Medium des Nachdenkens, scheint der Redner am Schluss selbst zu fühlen, wo er, wie aus schlechtem Gewissen wegen der angemaßten Geste der Kalkulation, diese wieder zurücknimmt.
Gestikulieren und Niederreden Das Sprechen, das sich in Wendungen und Sprachgesten gefällt, die es nicht als im Denken vermittelt, sondern als Nachahmung der Sprache Privilegierter offenbart, steigert sich an vielen Stellen unseres Materials zur Versammlungsrede oder gar zum beziehungslosen Monolog. Selten sind in den Diskussionen Stellen, an denen das Sprechen der Teilnehmer Nachdenken über schon Geäußertes verriete, wo auf die Erfahrungen oder Gedanken anderer Teilnehmer wirklich eingegangen wäre. Der vorherrschende Eindruck ist vielmehr der, dass es ihnen darum geht, einen Standpunkt um jeden Preis zu behaupten.6 Sie wollen nicht recht behalten, weil ihnen an einer Sache gelegen ist, sondern benutzen jede Sache unterschiedslos als Mittel des Rechthabenwollens. Dieses Verhalten drückt den Widerspruch aus, dass sie eben durch das unbedingte Sich-in-Szene-Setzen der Sachlichkeit verlustig gehen, die sie brauchten, um ihren Äußerungen Gewicht zu geben. Die um so heftigere Geste muss sie ersetzen. Lautheit und Sturheit zeugen von der Angst vor einer sachlichen Gegenfrage: sei sie von der Wirklichkeit aufgedrängt, von anderen Teilnehmern gestellt oder in ihnen selbst lebendig. Die Volksgemeinschaft, in der die Menschen zur lauten Kundgabe von Meinungen, Überzeugungen, Gelöbnissen, die nicht die ihren waren, en bloc gezwungen wurden, zeigt ihre Kehrseite: Der in Wahrheit in ihr verstummte einzelne, in die ungewohnte Diskussionssituation versetzt, kann unter den Bedingungen der Freiheit nicht anders als monologisch, kommunikationslos sich behaupten. Als Sprecher sind seinem Bewusstsein der Diktator und die Parteiredner fest eingegraben. Wenn er selber jetzt frei sprechen darf, scheint er es nicht anders zu können, als mit diesen Vor6
Dies steht nur in scheinbarem Widerspruch zu dem, was oben (S. 446 ff. [in dem Band Gruppenexperiment. Ein Studienbericht, l. c.,]) über die Phase der Konformität gesagt wurde, denn in den meisten Fällen ist das Thema probandum durch die konformistische Grundhaltung vorgezeichnet.
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bildern vor Augen. Dass die anderen sich mit dem Aufnehmen begnügen müssen, dünkt selbstverständlich; und jeder Einzelne macht diese Voraussetzung. Das in der Volksgemeinschaft gestorbene Gespräch braucht lange, um wieder zum Leben zu erwachen; die Bedingungen in der Massengesellschaft sind nicht günstig dafür. In unseren Gruppen zeigten sich nicht wenig Ansätze – bei den Frauen mehr als bei den Männern. Oft genug jedoch nahmen die Reden bei aller Harmlosigkeit unbewusst eine demagogische Färbung an. Sie ließen dem Sinne nach keine Antwort zu. Sprache aber entfaltet sich als denkende Rede und Gegenrede. Diese werden von der tönenden Rede zugedeckt. Sprechen ist bloß die fahrige Gestikulation mit Sprache. Damit ist ein weiterer Zug des Sprechens bezeichnet, der für den entscheidenden an der „Sprache des Dritten Reiches“ gelten kann. Mehr noch als von den „typischen Naziwörtern“ war diese bestimmt vom totalitären, großmäuligen Gestus, vom Kommandieren, das noch der Sprache befiehlt, die wie die Menschen sich zu fügen hatte, und die unterm Kommando der „Wort-Gewalt“, wie einmal entlarvend-buchstabentreu das Umspringen der Nationalsozialisten mit der Sprache genannt worden ist, zu jener zugleich offiziellen und desorganisierten erstarrte, der heute noch Sprechen und Denken sich beugen. – Dem tönenden Vokabular nach ist die Sprache der Nationalsozialisten gar kein so fest umrissenes Phänomen, und der Einwand, man hätte schon vor dem Nationalsozialismus so geredet, ist ebenso richtig wie falsch. Weder der Nationalsozialismus noch seine Sprache waren einfach da wie aus der Pistole geschossen. Die meisten der als typisch empfundenen „Naziwörter“ gab es längst, und was sie zu nationalsozialistischen Vokabeln machte, war, dass sie unter dem Nationalsozialismus gewissermaßen nach Hause fanden und den Primat erlangten. Die Spuren solchen Denkens und Sprechens bezeugen den Nationalsozialismus da noch, wo seine politische Gewalt längst gebrochen ist. Gerade im Sprechen der Menschen, das gegen alle Sprache, die Verständigung und Gegenrede will, d i e selbstgefällig imitiert, die aus den Lautsprechern der Massenkundgebungen dröhnte, erhält sich als barbarischer Impuls, als primitive Sehnsucht, was die schrankenlos gewaltsame Politik der Nationalsozialisten einmal vormachte: die Welt nach dem eigenen engen Bilde zu modeln. Dass die Sprache jener inzwischen halb anrüchig ward, macht sie nur um so reizvoller. Ist in unseren Diskussio-
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nen erst eines der wie obszön versteckten oder getuschelten Wörter (der „Führer“, das „Blut“, „Säuberung“ etc.) herausgesagt und der Bann gebrochen, so stellen die großen Parolen, die berauschenden Phrasen assoziativ sich ein und werden hemmungslos und mit einer deutlichen Nuance von Lust und Aggressivität hervorgesprudelt. Der Name des „Führers“ übrigens scheint wie ein magisches Tabu mit besonderen Kräften gemieden zu werden. An die Oberfläche drängen sich jene rigorosen Aussagen, die ganze Menschengruppen ausnahmslos brandmarken oder erhöhen und dem Individuum sein Recht nicht widerfahren lassen. – Dazu einige charakteristische Belege: S.: ... Die Herren (die amerikanischen Besatzungssoldaten) haben jetzt erst mal kennengelernt, was Kultur heißt und auch Wohnungseinrichtung – das kennen die in Amerika ja gar nicht ... (Protokoll 102, S. 13) K.: ... Und bewiesen hat der Amerikaner uns, wie er hier das Deutschland besetzt hat, daß er genau so brutal und genau so ein großer Spitzbub und Stänker sein kann wie der Russe ... (Protokoll 102, S. 18) E.: ... Und soviel mir bekannt ist, ist der Neger ein blutdürstiger Mensch, und der hat hier viel Verheerungen angerichtet. (Protokoll 60, S. 19) M.: ... Das Schlimmste ist der Franzose mit! ... Das Schlimmste ist der Franzose; der hält überall – wo er kann, wirft er was in den Weg. (Protokoll 60, S. 39) P.: ... Also der Franzose ist der größte Sadist, den ich überhaupt kennengelernt habe. Den kann man ungefähr so hinstellen: Der kann seinen eigenen Bruder durch den Wolf gedreht sehen, lebend, das interessiert ihn erst, net, wenn ihm persönlich nix passiert. Das ist ein großer Feigling, ihm persönlich darf nix passieren ... (Protokoll 58, S. 27) H.: ... Wo, weshalb verfolgt man den Juden, warum ist er in das KZ gekommen, warum ausgerechnet der Jude? Was ist an diesem Menschen, daß er – und da wollen wir uns doch klar darüber sein – nicht nur in Deutschland gehaßt wurde und vielleicht wird, sondern in der ganzen Welt? Es muß doch irgendetwas an diesem Menschen sein, was andere Menschen
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aufstachelt, aufreizt ... Also meine persönliche Meinung ist ja: das ist der Geschäftssinn und die über aus große Raffinesse dieses Menschen, die vielleicht gar nicht mal in böser Absicht in ihm liegt, aber die nun einmal drin ist und die vielleicht jeden anderen Menschen irgendwie vor den Kopf stößt. Dieser Mensch hat geschäftlichen Erfolg. Er macht das mit der größten Raffinesse, mit einer unheimlichen Schläue und kommt zum Ziele, während andere, die auf angeblich ehrliche Weise ihr Geld verdienen wollen, nicht wahr, immer pleite gehen. (Protokoll 69, S. 19 f.) H.: ... Ja, es ist doch seltsam ... daß der Jude bis heute noch niemals fertig bekommen hat, einen richtigen Staat zu gründen. Er sitzt kleckerweise in den anderen Staaten rum und wird natürlich von diesen Staaten als Parasit betrachtet ... und der Jude, der darf überall hinkommen und darf sich die besten Happen praktisch herauspicken und das nimmt man ihm wahrscheinlich übel. (Protokoll 69, S. 11 f.) U.: ... Der Deutsche ist ein guter Techniker, der Jude ist ein guter Händler. Darf man ihm deswegen einen Vorwurf daraus machen? ... (Protokoll 69, S. 20) U.: ... Und da hat unser Adolf Hitler sehr recht gehabt, wie er sagte, nicht wahr, daß der Deutsche der beste Soldat der Welt ist ... (Protokoll 104, S. 42)
Wieder werden alle die von einer totalitären Propaganda eingebläuten Parolen laut. Die projektive Rede vom ‚Hass des Auslandes‘; die vom ‚Volk ohne Raum‘; die erlösungssüchtige von der rettenden ‚Führerpersönlichkeit‘: T.: ... und jetzt kommen wir zum Zentrum der ganzen Frage, die sie jetzt berührt haben, Frau W.: Nämlich alle sind in der Sehnsucht verhaftet, es möge eine Persönlichkeit erstehen, die uns da heraushilft, und zwar über unser Volk hinaus, ganz Europa und die ganze Welt. Die Voraussetzungen wären überall am wenigsten jetzt gegeben als in Deutschland ... Wenn sich jetzt keine Persönlichkeit findet, dann geht das deutsche Volk und mit dem deutschen Volk sehr schnell die anderen Nationen den Weg zum totalen Bolschewismus. Das sehen wir in der heutigen Zeit an Hand der Wahlergebnisse ... aber diejenigen, die nicht zur Wahl gegangen sind, diejenigen, die nur zum Ausgleich zu den Parteien gegangen sind, die als
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mittlere Parteien gelten ... das wären alles Menschen gewesen, die eigentlich sich danach sehnen, sich um etwas gruppieren zu können, was bereits den Rationalismus, den geistigen Bolschewismus und den in uns steckenden und den in den Amerikanern steckenden Bolschewismus überwindet. In Deutschland selbst ist der geeignetste Boden für diese führende Persönlichkeit. (Protokoll 66, S. 31 f.) R.: ... Man muß doch berücksichtigen, daß die Volksintelligie (!) des deutschen Volkes ja direkt in dem Schrei nach dem Führer besteht. (Protokoll 33, S. 7)
– die Zauberformel von der „Volksgemeinschaft“ –: S.: Das ist, meiner Meinung nach, das Parteisystem abzuschaffen, denn das deutsche Volk braucht eine Volksgemeinschaft. Denn nur durch eine Volksgemeinschaft kann das deutsche Volk wieder hochkommen; und durch das Parteisystem, das verhindert ja auf allen Wegen eine Volksgemeinschaft, und wie wir sie früher hatten. Diktatur und Demokratie: durch Demokratie ist so was nicht zustande gekommen, und Hitler hat sich gesagt: keine Partei, und das bindet die Volksgemeinschaft. (Protokoll 104, S. 31 f.)
– alle werden sie zu Kristallisationspunkten dogmatischer Monologe, um derentwillen scheinhaft argumentiert wird, zum sprachlichen Vehikel der Aggression gegen die „Siegermächte“, von denen man nichts annehmen will. Wer sich an dies Sprechen als unmittelbaren Ausdruck der Redenden selbst hielte und es nicht als vom Reden der Nationalsozialisten mitbestimmt erkennte, dem würde in den Diskussionen fortwährend der Typ Mensch begegnen, der auf anderes Denken, andere Eigenart nicht eingehen kann, der von vornherein „dagegen“ ist, der nicht in sich geht und die Schuld vorweg beim „Fremden“ sucht. Er vergäße, was die Sprache der Nationalsozialisten in den Menschen erst freigesetzt, wo nicht gar konstituiert hat, und dass sie unter anderem Einfluss anders sprächen. Sie sind noch nicht deshalb Nationalsozialisten, weil ihnen deren Sprachgesten imponierten. Freilich können sie bei der Nachahmung derart sich steigern, dass es schwerfällt, noch zu unterscheiden. – Mit dem Gestus aggressiven Niederredens, der nicht mehr die Sache meint, sondern nur
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noch einschüchtern soll, klagt ein Teilnehmer das Ausland der ungerechtfertigten Demontage an: O.: ... Aber man hat angefangen, Deutschland auszuräubern, total, alle Patente, die Millionen und Milliarden wert sind, hat man aus Deutschland herausgeschleppt, alles hat man abmontiert und demontiert und fortgeschafft – ob es der Russe war oder der Franzose oder Engländer – alles hat man gerissen. Jetzt ist in Deutschland nichts mehr wie eine leere Staubwolke! ... (Protokoll 60, S. 8)
Hier ist das Sprechen einzige wilde Geste. Die immateriellen Patente werden, nur um die verbrecherische Tätigkeit des Demontierens anschaulich zu machen – was die Anklagegeste erst effektvoll macht – zu Bergen handgreiflichen Materials, dessen ‚Abtransport‘ zu bezeichnen die denunzierenden Synonyme nicht reichen. So gut wie diese werden unermessliche Zahlen aus der Luft gegriffen, die das Sich-nicht-genugtun-Können sinnfällig machen. Das Bild von der leeren Staubwolke, das die nazistische Hinterlassenschaft eines verödeten Europa eher bezeichnet als das keineswegs demontierte Deutschland, fungiert hier ähnlich projektiv wie solche Passagen in Reden Hitlers, in denen etwa Verschwörerei aufs Ausland abgewälzt wird. Indem die Sprecher nichts mehr an sich heranlassen, nicht mehr diskutieren wollen, begeben sich ihre Behauptungen der eigenen Substanz, des Inhalts, der sich erst im Hinausgehen über die einzelne sprachliche Formel zur möglichen Diskussion konstituiert: sie regredieren zur ‚Behauptung‘ im Sinne gewissermaßen brachialer Gewalt. Viele Reden in den Gruppensitzungen scheinen so angelegt – und hier glauben wir, dass sie in der Tat ein Moment der Wirklichkeit widerspiegeln –, als ob sich durch die bloße körperliche Anstrengung, zu der Sprechen wird, eine These in Kraft setzen ließe. Der bündige logische Schluss aus Prämissen wird ersetzt durch eine Zermürbungstaktik, die den Zuhörer und möglichen Redegegner durch einen lauten und konfusen Wortschwall zur Kapitulation zwingen möchte. – Eine Rede, die eine einzige Verirrung in Anakoluthe ist und zugleich deren gewaltsame Vertuschung, und die schließlich abrupt das thema probandum statuiert, sei hier angeführt:
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H.: Ich komme noch einmal auf die Ausführung des Herrn T. zurück – daß den Deutschen immer die Schuld gegeben wird an dem letzten Krieg. Die wahre Wurzel, wie mein Vorredner oft schon sagte, liegt in dem Versailler Vertrag. Wenn man ein Volk mit der Pistole vor der Brust vergewaltigt – wie es im Jahre 1921 geschehen ist in Versailles – einem Volk – einem übervölkerten Land die Lebensmöglichkeiten raubt und brutal alles das nimmt – daß das Volk zur Auswanderung gezwungen wird und gar keine Möglichkeit hat sich auszubreiten – indem man ihm die Kolonien wegnahm, dann Völkern gab, die sie überhaupt nicht verwalten können – wie es heute die Franzosen – die sich ja selbst in ihren Kolonialgebieten aufgeben müssen – weil sie zu blutarm sind, diese Gebiete überhaupt noch zu behaupten. Wir Deutschen – das fehlt den Amerikanern, das Verständnis für die europäische Politik – wir Deutschen sind in einer unangenehmen Lage, wir werden auf der einen Seite von den Romanen bedroht und auf der anderen Seite von den Slawen – eingeengt mit ca. 70 Millionen Menschen auf einen geringen Raum. Das ist natürlich eine politische Notwendigkeit unsererseits und läßt sich nicht aufrecht erhalten – so auch heute. Die Fehler unserer Regierung – diese enfants terribles, wie die Ausländer über unsere deutschen Politiker sagen – stimmt ja. Der Deutsche hat ja etwas Ungeduldiges an sich – er wartet nicht, bis sich die Sache reif entwickelt und macht dann wie der Elefant im Porzellanladen. Aber dafür ist das Volk nicht verantwortlich zu machen. Es wäre Sache dieser heute wieder neuen Sieger, wie sie sich nennen – im Grunde genommen sind es eigentlich die Verlierer – der wahre Sieger wird jemand anders sein – dem Volk Möglichkeiten zu geben sich auszubreiten. Denn einmal kommt es ja sowieso wieder – daß wir – wir sind ja heute schon übervölkert – haben 12 Millionen Flüchtlinge, die man mit dem Knüppel aus dem Sudetenland, aus Schlesien, aus Posen und Pommerellen und aus Österreich, vertrieben hat – und damit die Sache des Bolschewismus unterstützt hat – was die Amerikaner untätig zusahen – und heute vor einer Tatsache stehen, das ist ein Zeichen, daß er die wahre politische Lage Europas – was zu entschuldigen ist, überhaupt im Jahre 1945 nicht beherrschte. Und die Schuld – wenn er sagt, Hitler hat den Krieg gewollt oder angestif tet – dann ist der wahre Grund des zweiten Weltkrieges in dem Versailler Vertrag zu finden. (Protokoll 30, S. 3 f.)
Der hastige, in Kraftaufwand und Atempause eingeteilte Monolog haspelt von aggressivem Klischee zu Klischee assoziativ sich fort. Zu richtigen Sätzen kann es in Ermangelung spontanen Denkens nicht kommen. Fast
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scheint es, als habe sich das Verhältnis von Thema und Argumentation auf die Weise umgekehrt, dass nicht die Argumentationsweise aufs Thema zugeschnitten ist, sondern dieses, die Vorstellung einer Explosion des Bevölkerungs-Überdrucks, auf jene. Das Thema aber ist schon von der Art, wie sein Gegenstand im totalitären Hirn sich darstellt: der projektiv entstellte; und die gewaltsame Parole, das explodierende Sprechen ist nur selber ein anderer Ausdruck davon. Äußerungen in dieser Sprache als persönliche Meinung, als substantielles Urteil zu bewerten, wäre fragwürdig und ebenso ungerecht wie die Neigung, solchem Sprechen seine Mängel moralisierend anzukreiden: es ist nur ein Ausschnitt des weiter reichenden Zerfalls von Denken und Sprache.
Sprache und Sprechen Charakterisisch für die Sprache der Gruppendiskussionen ist, dass sie einer Art Einheitssprache nahekommt, die keine intakte Sprache ist und die sich wie ein zähes Medium vor die Gedanken schiebt. Sprache und Denken erweisen sich als nicht im Sprechen vermittelt. Sprechen, und damit Denken selbst, gibt an die Sprache sich ab. Richtiges Sprechen wäre nicht schon das bloße Aufgreifen der vorgegebenen Sprache, oder deren sogenannte „Beherrschung“, sondern jenes Verhalten einer spontanen Rezeptivität, das der Sprache abzwingt, was die Sprache will: die denkende Behauptung in ihr und zugleich gegen sie; der Ausdruck des Erfahrenen und Gefühlten, der in den Fesseln der Sprache lösende Befreiung von ihr verspricht. Ist aus solcher vermittelten Einheit von Sprache und Denken, Sprache und Leben, die Sprache einmal herausgefallen und gibt sie sich wie selbständig und für sich gesetzt, dann hat darin sich schon enthüllt, dass das Denken sein Medium und sich selbst an die Sprache verlor – damit aber auch die Sprache. Verabsolutierte Sprache aber ist gerade die, die in den Diskussionen gesprochen wird. Sie bleibt dem Denken fremd gegenüber und unterdrückt es oder lässt es – streng genommen – nicht mehr erst aufkommen. Die Gruppendiskussionen machen es handgreiflich, dass Sprechen gegen die geronnene Sprache sich nicht durchsetzen kann. Die selbstmächtige
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Ausdruck
Sprache selber ist schon tot: sie bleibt hingenommene und bloß nachgesprochene. Sprechen ist der fragwürdige Ausdruck von Subjekten, die es nur noch dem Namen nach sind: die leere und zugleich auftrumpfende Geste der gebrochenen Subjektivität. Die Allmacht der selber schon zerstörten Sprache, die die Ohnmacht des Sprechens diktiert, ist die des objektiven Geistes: die Inhumanität der Verhältnisse hat zu einer Sprache sich verfestigt, die vorweg festsetzt, was und wie weit gedacht und wahrgenommen werden darf. Schon mit der Sprache aber werden die Verhältnisse so wie sie sind kritiklos oder resigniert hingenommen. Fürs sprachliche Verhalten hat die Maxime des gesellschaftlichen sich durchgesetzt: widerstandslose und eben darum vergebliche Anpassung. Wenn einmal die aus Zeitung, Lautsprecher, Reklame unaufhörlich tönende Sprache die Menschen nicht erst mehr zur Besinnung kommen lässt, wird sie lieber gleich übernommen, und wer selber spricht, kann kaum mehr anders als das unablässig Gehörte und Gelesene reproduzieren. Ein approbierter, verfestigter Wortschatz hat sich gebildet, an den sich das Sprechen durchweg hält. Er setzt sich aus dem der Instanzen und Agenturen zusammen, die die Realität bestimmen und spiegeln. Verwaltung, Technik, Kommerz steuern so gut dazu bei wie die nationalsozialistischen Sprachrudimente, die des „Barras“ beider Kriege und die Massenkommunikationsmittel, die ihn zugleich weithin etablieren. In der Sprache, die solcher Wortschatz konstituiert, bleiben die Menschen gleichsam eingeschlossen und wie fensterlose Monaden, die austapeziert sind mit sprachlichen Klischees und durcheinandergewürfelten Wahrnehmungsfragmenten. Die Sprache verhilft den Menschen nicht mehr dazu, sich ein Bild von der Realität zu verschaffen – die doch schon die beim Wort genommene Sprache selbst enthüllt. Als Verordnung, Befehl, Reklame ist es die Sprache, die kommandiert. Phrasenhaft und ein Reservoir der zugerichteten Klischees, nimmt sie den Menschen das Denken ab. Durchsetzt von Verwaltungs- und technischen Kategorien, von wissenschaftlicher Terminologie, verdinglicht sie das Leben selber. Euphemistisch, mit Zynismen und versteinerten Witzen angefüllt, lässt sie vorweg Bedenken und menschliche Regung nicht aufkommen. Inbegriff sachlichen SichEinstellens zum Leben hat sie dieses: das Inkommensurable, Leiden und Hoffnung selber entthront.
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Während die Menschen der Sprache sich überlassen, wird der Anschein der Selbständigkeit, des Nachdenkens gewahrt. Gerade das Nachsprechen und „Reden wie“ soll noch aus der Ohnmacht etwas machen – es offenbart sie darin nur um so drastischer. Je unsicherer das Denken, desto anspruchsvoller und bombastischer die Wörter und Sätze, desto apodiktischer der Ton; je bewusster die Ohnmacht, desto stärker das Bedürfnis nach Geltung, das an der etablierten Sprache sich schadlos hält. Man könnte das Sprechen heute durch die Bedeutung charakterisieren, die die Wendung „etwas zu sagen haben“ angenommen hat. Sie konnte einmal das legitimste Bedürfnis des autonomen Denkens bezeichnen: e t w a s zu sagen haben. Der Akzent ist vom „etwas“ auf das „sagen“ gerückt, und heute zählt der, der etwas zu s a g e n hat, als einer, der schon sprechen kann, nur weil er es darf. So werden der Experte, der Politiker, der Journalist bewusst oder unbewusst imitiert. Sprechen ist die Unmündigkeit, die den Mund vollnimmt.7 Erst dies lässt die etablierte Sprache ganz zu der verwildern, als die sie in unserer Untersuchung auf allen sozialen Stufen recht uniform sich darstellt. Solcher Einheitsjargon übt die Menschen nur ein in der eigenen Heteronomie. Die Aktivität der Sprachgeste darf über das Stigma der Passivität, mit dem sie geschlagen ist, nicht hinwegtäuschen: ihr eigenes Sprechen erhält die Menschen weiter empfänglich für jede Art Demagogie und totalitärer Agitation.
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Vgl. Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1951, S. 182 f.
Pression – Prägung – Expression Zur physiognomischen Dimension des Ausdrucks
I Der Bedeutung der Expressionen sich zu versichern, scheint nicht eben schwierig. Sie absorbieren die Aufmerksamkeit, die kein Signat hinter dem Signum vermisst, sie signalisieren sich selbst und sind darin so determiniert, so demonstrativ, dass eine ältere Autorität der „Ausdruckskunde“, besorgt um die Unverfälschtheit des Ausdrucksphänomens, die strikt distinguierende Abtrennung des Darstellungsmomentes postulierte – der Darstellung als eines berechnend Widersacherischen, das die Manifestation der lebensrhythmisch-pulsierenden Seele korrumpiere.1 So ist die Unübersehbarkeit des Ausdruckshaften, seine den Beurteilungsort besetzende oder überrollende Aufdringlichkeit, ist es der Effekt, mit dem es den eigenen Grund überblendet – die physiognomisch-revelative Rückseite der pathognomisch-okkupierenden Front, die écriture der Passion, in der 1
Siehe Ludwig Klages: Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, München 1968, S. 124. – Siehe dagegen Theodor W. Adorno zum Verhältnis von Ausdruck und Darstellung: „Ausdruck und Stringenz“ der Darstellung „sind keine dichotomischen Möglichkeiten. Sie bedürfen einander, keines ist ohne das andere.“ Das dem Denken „integrale Ausdrucksmoment, unbegrifflich-mimetisch, wird nur durch Darstellung – die Sprache – objektiviert. [...] Wirft das Ausdrucksmoment als mehr sich auf, so artet es in Weltanschauung aus; wo“ Denken „des Ausdrucksmoments und der Pflicht zur Darstellung sich begibt, wird“ es „der Wissenschaft angeglichen.“ (Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 6, Frankfurt am Main 1973, S. 29.)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_8
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Ausdruck
diese sich malt, zum Male wird; mit dem es den Niederschlag, die Prägung am Ausdruck verdeckt, die mit der Gravur, den Rändern des Drucks auf das transsubjektiv Prägende deutet, auf etwas draußen, das den Ausdruck, dies innerste ídion des Subjekts, als ein zugleich von ihm Differentes, ihm Anderes und Fremdes erweist.2 Er zeigt diese Kehrseite, sobald man seiner eigenen Suggestion sich entzieht, zur sympathetisch-ansteckenden Nähe mit dem mimetischen Zwang zum identifikatorischen Verschwinden in dem Nahen die Distanz gewinnt und jenen Abstand schafft, den das Lesen gegenüber dem Schriftzug erheischt. In dem Maß, wie der Ausdruck von der Seite seiner Prägung hervortritt – des Gerändert- und „Ausgedruckt“-Seins, wie die Etymologie des Wortes tatsächlich lehrt3 – in dem Maß tritt das Appellative, Auf-den-LeibRückende – das „Expressionistische“ des Ausdrucks – zurück. Ausdrücke entschwinden dann der isolierenden fühlenden Wahnehmung ähnlich, wie singuläre emblematische Prägungen in Form von vervielfältigter kurrenter Münze aus der Dimension vergegenwärtigender Erinnerung in die der veräußernden und das Gepräge abschleifenden Tauschakte eingehen. Ihre Bedeutung geht auf im Gebrauch. Der Ausdruckswert zeigt sich in der Gestalt des Prägwertes als ein transsubjektiv Funktionales, und in der Funktionalität gerade kommt das am Ausdruck heraus, was er mit der Expressivität überblendet – das ganz und gar Unursprüngliche, Resultative, das sensu stricto Gedruckte, Gepresste, die Form als das In-Form-gebracht-Sein, hier also, bei der Münze, die formatio nachgiebiger Materie, wie sehr diese auch von sich aus nach einer andern Gestalt streben mag, als sie durch die prägende Richtung der an ihr geschehenden Pressur es muss. So zeigt sich im Falle des Subjekts dessen Formiertsein, wovon der Ausdruck nichts anderes als die Vermerkung der Linien und Marken, auch der Amplituden seiner Vibration und emotiven Schwingungen ist – der Messungen des gesellschaftlichen Drucks, der es presst und formiert. 2 Als „extériorité“, mit Foucault zu reden: „ein anonymes Feld, dessen Konfiguration den möglichen Ort der Subjekte definiert“ (Michel Foucault: L’archéologie du savoir, Paris 1969). Dazu Bernhard Waldenfels: „Ein Subjekt [...] ist nie völlig bei sich, im Gegenteil, das Außen dringt bis in das Arcanum des Selbst vor, das stets auch ein anderes ist.“ (Bernhard Waldenfels: „Michel Foucault“, in: Philosophen des 20. Jahrhunderts. Eine Einführung, hrsg. von Margot Fleischer, Darmstadt 1990, S. 202.) 3 Siehe Jakob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. I, München 1984, Sp. 847.
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Es lässt sich sagen, der Ausdruck sei Ausdruck malgré lui, seine Subjektivität, Expressivität nicht lautere, schiere, sondern objektiv, dinglich höchst Vermitteltes. Keine expressio, in der das expressum nicht die Kehrseite eines impressum wäre. So weiß man es auch in der jüngeren Psychologie.4 Was der Ausdruck ausdrückt, ist nicht sowohl Subjektivität, als was dem Subjekt objektiv widerfährt. Eben das zeigt sich an seiner dinglichsten Gestalt, der der Ausdrucksmünze, der expressiven Konvention, deren kommunikativ geläufigster Modus jener Ausdruck ist, der Wort heißt. Es zeigt sich auch an jenen Modi, wie Warburg sie im Auge hatte, wenn er von dem schon inflationären Gebrauch der künstlerischen Ausdrucks- und Pathosformeln im 17. Jahrhundert als von barockem Ausdrucksvolapük sprach,5 dem übrigens das von Benjamin an der dichterischen Rhetorik der Zeit hervorgehobene Phänomen des allegorischen Schwulstes korrespondiert, einer ganz konventionellen Ausdrucksform, mit der, wie mit jenem Volapük, es dem Benjamin’schen Diktum gemäß sich verhält, wonach die Allegorie nicht sowohl „Konvention des Ausdrucks sondern Ausdruck der Konvention“6 ist. Mit beidem deuteten diese Kunsttheoretiker auf den im Prägwert nahezu verschwundenen Ausdruckswert künstlerischer Artikulation und ließen so ex negativo die Ausdrucksbedeutung der Sprache des Kunstwerks hervortreten – die manifestierende, redenmachende Erkenntniskraft von Kunst, die dem, was stumm und verschlossen ist, zu seinem Ausdruck zu verhelfen vermag, so, dass dieser allgemein vernommen werden kann. Damit kommt, über den sensus aestheticus communis, der Ausdruckswert nicht anders als vermittelt durch die Eingängigkeit, die die ästhetischen Gestalten für diesen Sinn haben, zur Geltung – in der Gestalt einer eindringlichen Erkenntnisart, vielleicht der eindringlichsten, die das konkrete Dasein von Wesen und Dingen, ihre Ex- und Intérieurs, ih4
Siehe Horst und Ingrid Vogel: „Projektive Verfahren und ihre Anwendung“, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Band 5: Binet und die Folgen. Testverfahren. Differenzielle Psychologie. Persönlichkeitsforschung, hrsg. von Gerhard Strube, Zürich 1977, S. 416. 5 Siehe Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt am Main 1992, S. 340. 6 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I–VII, Frankfurt am Main 1972–1989, Bd. I, Frankfurt am Main 1974, S. 351.
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Ausdruck
re Sphären und Auren, Formationen und Deformationen erfahren und begreifen lässt. Gerade das sympathetisch gerichtete Subjekt wird weit davon entfernt sein, die Zeugenschaft großer Kunst, ihre Kraft, etwas beim ureigenen Namen zu rufen, deshalb abzuweisen, weil ihre Werke das ídion, das Ureigene des Seienden darstellen: in Modi kommun redender Figuren und Formen repräsentant machen. Wer demgegenüber auf dem unvermittelten Ausdruckswert des Kunstwerks besteht, es in die Echtheitskapsel gebannt wissen will, ähnelt im Verhalten dem rabiaten verhetzten Kleinbürger, der vor Zeugnissen vorgeblich entarteter Kunst steht und den Ausdruck auf den Bildern als ansteckend fürchtet, und der die Umgebung vom Ansteckenden gereinigt sehen will – den Mord erst in effigie, schließlich an den Unreinen und Unechten selber befürwortet. Es ist der stellvertretende Mord, begangen zur Besiegelung der Echtheit derer, die ihren eigenen – in der Darstellung gespiegelten – Ausdruck nicht vertragen, den, der ihnen auf den verhassten Bildern die Signatur des entstellten und verzweifelten Lebens darweist, das auch ihr eigenes ist.7 Der vollkommenste Ausdruck eines Innern und seiner Bedeutung, sagt Dilthey, werde nur in der Sprache gefunden8 – in einem gleichzeitig so vollständig Kurrenten und Externen, dass wir über der Mitteilungsfunktion des manifestierenden Ausdruckscharakters kaum mehr innewerden, der uns an den Kunstwerken – da, wo sie welche sind – niemals entgeht. In erster Linie durch ihre kommunikative Funktion aber wird die Sprache anfällig für die Zerstörung ihres Ausdrucks- und Bedeutungscharakters. Wo die Mitteilungs-Intention über die dominiert, der Sache zum angemessensten Ausdruck zu verhelfen, ist der Instrumentalismus der Sprache Herr geworden. In der Gestalt des „Manipulismus“ hat ihn Sonnemann bloßgestellt: Der Humanismus „beginnt als Besinnung auf die Sprache, und der erste Stoß, der seinem bewahrenden Umsturz zu führen bleibt, muß das manipulistische Vokabular, die sich selbst aufhebenden Begriffe
7 Siehe Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 212 f. 8 Cit. Wilhelm Dilthey, in: Giorgio Tonelli, Bernhard Fichtner u. Robert Kirchhoff: Artikel „Ausdruck“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, hrsg. von Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Basel 1971, Sp. 659.
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treffen“: Wortgebilde wie „die Traditionsbegründung, die Stilprogrammierung, die öffentliche Meinungssteuerung, die Kulturpolitik“ oder – das Thema betreffend – die Ausdrucksschulung „zeichnen [...] ja Weisen des Menschen vor, sich zu den Dingen zu verhalten“, und aus all diesen Termini „spricht die tiefste Verkennung der in“ sie „verarbeiteten Begriffe [...]. Bedenkt man das Horizonthafte, Tragende ihres Wesens, so können die Tradition, der Stil, die Öffentlichkeit und ihre Meinung, die Kultur“ und der Ausdruck „nicht umgekehrt Gegenstand menschlicher Unternehmungslust sein“ – es wäre denn um den Preis der Zerrüttung dessen, worauf sie sich manipulistisch erstreckt.9
II So wird Etymologie der älteren und der modernen lingualen Bedeutung von Ausdruck aufs Eminenteste lehrreich. Der sprachliche Ausdruck im engsten Sinn ist nämlich nur noch die von expressio gänzlich freie significatio. Ausdrücke dieses Sinnes sind die Worte als Zeichen von Begriffen, Vorstellungen, Ideen, eingeschlossen die arbiträren Unbegriffe; zu Maß und Siegel der Stellvertretung des Signaten durchs Zeichen gibt es kein innersachliches, kein mimetisches Band zwischen beiden, zum Unterschied von der oratio, die als ein sprachliches corpus von den Regungen des Sprechenden vibriert, wie auch dessen, wovon der spricht, und das ihn ergriff – den Regungen, die an der Rede nicht sowohl ihr Zeichen, als ihren Ausdruck haben. Der Ausdruck als Zeichen – das sprachliche Element, verbum, pars orationis in modo significando – zeigt sich in Hinsicht auf seinen repräsentativen Charakter als einer späteren Phase im Rationalisierungsprozess zugehörig als das sprachliche Totum, die leibhafte Rede, die in ihrer pathognomischen Expressivität zum mimetischen Repräsentanten des in ihr Ausgedrückten wird, während das Element keine abbildende Repräsentation kennt. Es kennt sie sowenig wie schon das magisch beschwörende Wort: der archaische Beleg für den sprachlichen
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Ulrich Sonnemann: „Die Menschenwissenschaften und die Spontaneität“, in: ders., Tunnelstiche. Reden, Aufzeichnungen und Essays, Frankfurt am Main 1987, S. 27.
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Ausdruck
Manipulismus, den der frühesten „ersten Technik“, die nach Benjamin die Magie war.10 Freilich ist die ausdrucksvolle Rede seit Zeiten entwickelter Rhetorik Kunstrede so gut, wie die analytischen Präparate der verba und partes orationis – als ausdrucksloser Ausdrücke – Kunstprodukte der ars grammatica sind, das mimetische Band also zwischen Auszudrückendem und Ausdruck in der Rede berechnete Zutat, ein Stück wohlerwogener Ausdruckskunst. Doch darin ist sie Rückgriff auf prärationale Ausdrucksschichten – in Dienst genommene Mimesis, ohne welche die Kunst ein leeres Spiel bliebe. Mit diesem Rückgriff mobilisiert sie – cassirersch gesprochen – die alte bildliche Ausdrucksgestalt der Symbolform, in welcher grundsätzlich den Subjekten ihre Welt präsent und gegeben ist, also der die historisch den Darstellungsgestalten und den diesen folgenden Bedeutungsgestalten voraufgeht. Damit soll gesagt sein, dass dem Symboltypus des sprachlichen Repräsentanten, der dem von ihm Repräsentierten unähnlich ist, noch ein Rest der Ähnlichkeit beider in der expressiven oratio einbeschrieben und in der sprachlichen Schicht des Namens lokalisierbar ist – des vollkommenen Bildes des Genannten, hier: des integral, des geistig-sinnlich Vernommenen. Demgegenüber verschwand ein solcher Rest am Ende zusammen mit der Sprachlichkeit der Sprache selber – nämlich dem, dass sie etwas sagt – aus der spätesten, der abstraktiven Bedeutungsform, wie die strikte Unähnlichkeit des signum und des Signaten in der Wissenschaft bezeugt, deren Form- und Zeichenideal zur intensionalen Selbstbedeutung gravitiert, die wie das purifizierte Wort von keinem sprachlichen Erdenrest mehr, so von keiner extensionalen Verhaftung mit alledem alteriert werden soll, was der Auflösung in restlose Identität widersteht. Die Ausdrucksleere der idealen Zeichen, in ihrer reinen Gravur, wird ungewollt zur Karikatur: zum Ausdruckslosen, Unausdrückbaren als Ausdruck – Mal der Hybris, durch das der Manipulismus sich selbst vergötzt.
10 Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Zweite Fassung, in: ders., Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I–VII, Frankfurt am Main 1972–1989, Band 7, Frankfurt am Main 1989, S. 359.
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III Die Fixierung der Ausdrucksbedeutung auf Authentizität, subjektive Echtheit ist um den hohen Preis der Abspaltung der Gravur erkauft, die dem Ausdruck die ihm konstitutive Beziehung auf die objektive Dimension abschneidet – ein Vorgang, der in der Entwicklung der subjektivistischen Ästhetik im 18. Jahrhundert sich unverdeckt zeigt. So, wenn der Ausdruck neoplatonisch als leuchtende Manifestation des Schönen und Wahren in Geist, Seele und Gestalt des Subjekts ausgespielt wurde gegen die Mimesis, die Darstellung des Wirklichen in dessen charakteristischen Zügen, die von der Schönheit so sich entferne, wie die Nachahmung des Ektyps von der ewigen Wahrheit des Urbilds.11 Ausdruck ist „Sprache des Herzens“, und die gibt – so Sulzer – nicht acht „auf die Beschaffenheit des Gegenstandes“12 , also auf die Signatur der Dinge sowenig wie auf die eigene des Subjekts, dessen Empfindsamkeit zugleich höchst merkwürdig sich als Unempfindlichkeit gegen sich selber zeigt, als blinder Fleck, dem entgeht, was das Subjekt objektiv, in seiner äußern und innern Geprägtheit ist – etwas, das so vor ihm wohltätig verborgen bleibt. Am Ende dieses Vorgangs der Trennung sind „Expressivität“ und „Ausdrücke“ heillos auseinandergefallen. Ausdruck – das sind die sprachlichen – verbalen und nichtverbalen – Signa einerseits, die pathognomisch vibrierenden Auren, die affektiven Dunstkreise der Wesen andererseits. Die gemeinsame Symbolstruktur bewirkt nicht länger – wie noch in den objektiv gerichteten ästhetischen und naturphilosophischen Entwürfen Leibnizens, Goethes, Schellings und Hegels – die Auffassung der Zusammengehörigkeit beider und damit die Würdigung des Ausdrucksphäno-
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Siehe Tonelli, Fichtner u. Kirchhoff, l.c., Sp. 654. Johan Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2, Leipzig 1774, S. 681. – Siehe dagegen den Dichter der Moderne, „der die Mühe hat, die fortwährende Aufgabe, [...] sich durch das auszudrücken, was vollends anders ist“ als das Innere, das Selbst; „in einer reinen Übersetzung, von Gleichwerten, die draußen stehen bleiben, draußen Seele sind, unsentimental abgerückt, und einem draußen bedeuten.“ (Rainer Maria Rilke an Mathilde Vollmoeller, 03.04.1910, in: „Paris tut not“. Rainer Maria Rilke Mathilde Vollmoeller Briefwechsel, hrsg. von Barbara Glauert-Hesse, Göttingen 2001, S. 76.) Die Formulierung: sich durch das ausdrücken, was anders ist, trifft genau das objektiv Bedingende des Ausdrucks, gegen das der rein subjektive Ausdruck abgeblendet ist. 12
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mens als subjektiv-objektiven, als eines in der Einheit gebrochenen, das auf eine gebrochene Seinsverfassung des Daseins selber verweist. Gebrochenheit, Reflexivität sind wesenslogische Kategorien. Und vermöge ihres Symbolcharakters sind Ausdrucksphänomene – stets, so Wellek, solche von etwas für anderes und andere13 – wesenslogische, physischmetaphysische par excellence, solche, die in ihrer Natur nicht erfasst werden, wenn ihre Mehrgliedrigkeit und Zweidimensionalität, die kategoriale Duplizitätsstruktur ignoriert wird. Ausdrücke sind Charaktere des Wesens, das erscheinen muss, sind singulär sich darstellendes Allgemeines, außen werdendes Innen, sind Niederschlag von Bewegung und Kraft – Spur des Erzitterns der Materie, gezeichnetes Tönen wie die Chladni’schen Figuren. Alles das sind sie so, dass die eine wesentliche Sache immer zugleich sie und ihr anderes ist, die eine Sache in der Figuration ihrer vielen Züge, und dass da kein eines wäre, fielen die es charakterisierenden Züge fort; doch wären auch die Züge für sich nichts, wären sie nicht die eines Einen, des von ihnen Charakterisierten und sie selber Charakterisierenden, also geprägter Substanz. Die Prägung ist das Substantiierende, die Substanz das Geprägte. Das Eine ist eines nach seinen zwei Seiten. Das Externe, die äußeren Züge sind der Modus, wie das Innere sich darstellt, das Innere ist das Äußere als dessen Halt, das Skelett. Das Innen ist, was an seinen Grenzen außen ist, das Außen das eines Innern, ohne das es kein Äußeres wäre. Es ist duplex und die Duplizität die Art, wie ein seiendes simplex da ist. In der Gebrochenheit zeugt es vom Ungebrochenen, von dem, das in ihm auseinanderbrach. Die Ränder des Bruchs, die Differenz im Einen, sind die Zeichnung, das Lineament, das ermessen lässt, was zerbrach. Das Gebrochene bedeutet das Eine so, wie die Wunde das Heilsein. Hier ist das Ausdrucksphänomen einheimisch. Wegen der Amphibolie, des Changierens der kategorialen Konstituentien ineinander, der drastischen Dialektik blieb sein Studium verdächtig, unsicher und zweifelhaft. Verspottete Lichtenberg – zurecht – die „transzendente Ventriloquenz“ der Physiognomik vom Schlage der Lavater’schen,14 so klagt bis in un13 Siehe Günther W. Mühle und Albert Wellek: „Ausdruck, Darstellung, Gestaltung“, in: Studium generale V (1952), S. 110 ff. 14 Georg Christoph Lichtenberg: „Über Physiognomik“, in: ders., Schriften und Briefe, hrsg. von Wolfgang Promies, Bd. 3, München 1972, S. 257.
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sere Tage die Psychologie – angewiesen auf den plastischen Deutungserweis ihrer sie konstituierenden res, der anima invisibilis et immaterialis – über den Druck der Beweislast, unter dem sie steht, wenn sie vom Ausdrucksphänomen anders als von messbaren eindimensionalen Befunden handelt, nämlich von solchen, deren sachliche Entsprechungen woanders aufgespürt werden müssen als im Bannkreis der Subjektivität. Wer dem sich ernstlich widmet, muss vom Verdacht magischer Ähnlichkeits- und Identitätsstipulationen sich reinigen, wenn er dem Wahrheitsdesiderat zu genügen trachtet: schlicht der adaequatio von Sache und ihrer Bedeutung nachforscht und sich zu versichern strebt, wovon der Ausdruck der Ausdruck ist, und dieses von dessen Signatur sich will darweisen lassen.
IV Die Beziehung auf die Wahrheitsfrage zeigt sich gerade hier als höchst belangreich: es geht nicht nur um Wahrheit des Ausdrucks, sondern darum, ob und dass Ausdruck zu einem Wahrheitsmodus selber werden kann. Wo Wahrheit, die Einheit von Geist und Wirklichem, nicht ist, wird Ausdruck zu ihrem Zeichen. Ausdruck bezeugt dann die Wahrheit negativ. Kaum einer hat das in dieser Zeit mit größerem Nachdruck geltend gemacht als Adorno, der die Idee der Philosophie dort behauptete, wo die positivistische Resignation zusammen mit ungehemmtestem Wahnglauben sich ausbreiteten. Ausdrücke – so sein Gedanke – indizieren Natur in ihrer Entfremdung, sind beredt gewordenes Leiden15 und darin Signatur des historischen Standes – der Entfernung von der Versöhnung oder der Nähe zu ihr. Im Prozess der Bewusstwerdung des Seins, der Natur über sich selbst, da, wo Bewusstsein als nichts anderes sich zeigt denn als bewusst gewordenes Sein und der Begriff als der Ausdruck des Begriffenen, war, wie vorab in der Tradition naturalistischer Metaphysik, der pathognomischgestische wie der physiognomisch-figurale Ausdruckscharakter – waren Passion und écriture des Seienden schon zur Artikulation gelangt. 15
„Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.“ (Adorno, Negative Dialektik, l. c., S. 29).
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Gedacht sei des Terminus exprimere an ausschlaggebenden Stellen spinozistischer Metaphysik – da etwa, wo die unabsehbare Fülle der singularia in ihrer hyletisch-aisthetischen und formell-noetischen Bestimmtheit und Buntheit, in ihrem Glanz und ihrer Hinfälligkeit in die innere Beziehung zu dem gesetzt werden, was sie auf immer von sich ausschließen müsste, zur ewigen Substanz und natura Dei. Sie erweisen sich als deren Ausdrücke, Affektionen, Modifikationen. „Res particulares nihil sunt, nisi Dei attributorum affectiones, sive modi, quibus Dei attributa certo, et determinato modo exprimuntur.“16 Vergleichbar den scharfgezeichneten Wellen, jetzt wie ein erstarrter Bleiguss und im nächsten Augenblick zerronnen, formlos zusammengefallen und ins Meer zerlaufen, das in ihnen selber sich auffaltete. Als modus ist das Einzelne Negation des Ganzen, Begrenzung des Unbegrenzten, und worin es abgegrenzt ist, das ist zugleich überwältigend präsent, so, dass vielmehr das Bestimmte nichtig erscheint. Ens a se ist in der Weise des ens per aliud und ens per aliud im ens a se aufgehoben. Soweit das einzelne Naturat im Nexus von Zug und Stoß, von Druck und Gegendruck der übrigen Naturate, von denen es abhängt, wie sie von ihm, sich behauptet, drückt es Natura selbst, die Substanz in ihrer ektypischen Vorkommensweise aus: esse essentiae als existent. An allem Existierenden ist es als Signatur, dass es nicht als Archetypos ist, und die signa sind die Affekte. Wo ein Affekt, da ein deficiens. Kein Trieb nach etwas ohne dessen Vermissung. Kein Schmerz, der nicht die Quälbarkeit des Leibes selber ausdrückte – die Defizienz des versehrbaren verletzlichen Stofflichen, das seinerseits der Ausdruck des Verlangens nach Unverletzlichkeit, Integrität ist. So begleitet der Ausdruck das Existierende als die Passion und die Signatur mangelnden Seins17 – als Erleiden der Abgegrenztheit vom Absoluten und als Mal, als Zeichnung der Linien der Bestimmtheit und Prägung, die scharfgezogene Grenzen sind zwischen 16
Spinoza: Ethica, pars 1, prop. XXV, coroll. (Werke, hrsg. von Konrad Blumenstock, Bd. 2, Darmstadt 1967, S. 128). 17 Siehe die unvergleichliche Stelle in Tiecks historischem Roman: „Die Kleine“ – Eveline de Beauvais – „warf sich mit einem Tränenstrom in die Arme des Eintretenden“ – des im Religionskrieg Gejagten – „und konnte es nicht müde werden, ihm Hände und Wangen zu küssen; es schien, als wäre es ihr Bedürfnis, sich einmal ganz im Ausdruck und der Darstellung ihrer Liebe zu sättigen. Hat der Mensch, dachte der Herr von Beauvais bei sich selbst, doch nichts anders, als diese armen Zeichen, oder die Tat, Schmerzen zu lindern, Nahrung zu reichen, die Blöße zu kleiden, dem Frierenden Wärme zu geben: vielleicht daß in Zukunft Geist in Geist übergeht.“ (Ludwig Tieck: Der Aufruhr in den Cevennen, Reinbek 1987, S. 173; Hervorh. v. Verf.)
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dem, was sie in sich einschließen: eindrücken und einpressen, und dem, wovon sie ausschließen, schmerzlich abschneiden. Das Streben des ens per aliud nach esse a se ist bei Spinoza scharf in seiner realhistorischen Modalität gesehen. Die Brueghel’sche Allegorie, die darstellt, wie die großen Fische die kleinen fressen, und so, dass die großen kleine für größere, die kleinen große für noch kleinere sind, ist die künstlerische Modifikation des politischen Ausdrucks, der seinerseits die zeitliche Signatur der ungerührten Ewigkeit ist – mythisch immer gleicher Natur, die in fataler Notwendigkeit in ihren Naturaten ewig sich hervorbringen und wieder verschlingen muss, und die an deren ewigem Untergang den eigenen ewigen Bestand, ihr regnum hat. Darin zeigt sich die Metaphysik des Absoluten selbst als Ausdruck – dessen ur- und vorgeschichtlicher Herrschaft. Natura sive Deus: die Identifikation schreit nur desto lauter die Unversöhntheit beider hinaus.
V Darauf kommt Metaphysik von sich aus – in der Gestalt des atheistischen Naturalismus, des Schopenhauer’schen, für den dem Konfessionalismus bereits der spinozistische einzustehen hatte. Die Welt ist die Sichtbarkeit des Noumenon, doch was da sichtbar wird und sich manifestiert, ist kein Heiles und Heiliges, keines das den Namen des Göttlichen und Integren verdiente. Es ist der blinde, ewig urgente, der unersättliche Trieb nach Sein, der so maßlos ist, dass er immerfort, was er in Existenz setzt, daraus wieder vertreiben: vernichten muss, um Raum und Stoff zu haben, die niemals auslangen. In der Unendlichkeit dieses Drängens ist kein Heil – dies kann nur in der Erlösung von der Welt liegen. Im Nein zu ihr, wie es aus der mitleidenden Identifikation mit den Leidenden erwächst, die die Welt, ein blutiges Gebär- und Schlacht-, ein Beinhaus bewohnen müssen. Vielleicht geht an der Schopenhauer’schen Philosophie – das haben die gründlichen, von Alfred Schmidt durchgeführten Untersuchungen ihres naturalistisch-materialistischen Grundzugs deutlich werden lassen – der amphibolisch-dialektische Sinn von Ausdruck am schlagendsten auf: an den Objektivationen und Individuationen des Noumenon die Signatur, die Physiognomie und am sympathetisch-innigen sich selbst Vernehmen
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des Leidens im Mitleiden die Pathognomie, die Klage darüber; moralische Reaktion auf die Abwesenheit des Heils in der Welt, auf die Unseligkeit des Noumenon. Erkenntnis wird zur Klage übers Erkannte. Dies desto zwingender, je präziser in ihrer Geprägtheit die seienden Gestalten reden: „Die Theile des Leibes“ „entsprechen“ „den Hauptbegehrungen“ „vollkommen“, „durch welche der Wille sich manifestirt“, sie sind „der sichtbare Ausdruck derselben [...]: Zähne, Schlund und Darmkanal sind der objektivirte Hunger; die Genitalien der objektivirte Geschlechtstrieb; die greifenden Hände, die raschen Füße entsprechen dem [...] Streben des Willens, welches sie darstellen“18 – Funktionen und Instrumente der Durchsetzung und Selbstbehauptung im Dasein, die den Untergang der den Raum und den Lebensstoff sich streitig machenden Individuen doch bloß fristen; Ausdruck der in der gnadenlosen Ewigkeit Verlassenen, der ihre Solidarisierung zu Lebzeiten unwiderstehlich postuliert. „Wie die allgemeine menschliche Form“, fährt Schopenhauer fort, „dem allgemeinen menschlichen Willen, so entspricht dem individuell modificirten Willen, dem Charakter des Einzelnen, die individuelle Korporisation, welche daher durchaus und in allen Theilen charakteristisch und ausdrucksvoll ist“19 , also auch schöne, geistdurchdrungene, deshalb umso rührendere eirenische und nicht bloß kriegerische, das Usurpative, die Selbstbehauptung ausprägende Bildung aufweisen können. Formen: die Urbilder, und Charaktere: die Ektypen sind in den genera und species einerseits, in den Individuen andererseits korporisiert, die Materialisationen ausdrucksvoll: in ihnen ist ein ‚Ausdruckssinn‘ vernehmlich, an der Gestaltbildung fassbar geworden – das, was über Wert und Bedeutung des Korporisierten begründet urteilen, das aussprechen lässt: ‚Dies ist ein Aufgeblühtes‘ (nachdem die Knospe explodierte), ‚dies ein Abgehungertes‘ (dem Nahrung und Pflege werden muss), ‚dies ein Schönes, Gelungenes‘ (eines, dem alles ward, physisch und moralisch, um zu seiner Wohlgestalt zu gelangen), ‚dies ein Bedrängtes, Gezüchtigtes, Gequältes‘ (das die Quäler verklagt), ‚dies ein seinem Namen, seinem Begriff Gemäßes oder noch nicht, nicht mehr Gemäßes oder Ungemäßes‘ u.s.f. 18
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Zweites Buch, § 20 (Werke in zehn Bänden, hrsg. von Arthur Hübscher, Zürcher Ausgabe, Bd. 1, Zürich 1977, S. 153). 19 Ibd.
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VI Dieses Sinnes zeigt sich das Urteil des Bewusstseins, zeigt sich Geist als nichts anderes denn als das Sein, als Natur in ihrem Widertönen, ihrem Vernommensein, der Begriff sich als Ausdruck des Begriffenen, in welchem dieses selber nach jenem tastet. Darin aber zur Manifestation seiner Differenz von der Wahrheit, zu der, die zur Überwindung des Mangels im Manifestierten treibt. Noch sind Echo und Stimme getrennt, ist der Leib entgeistet, der Geist entleibt. Noch ist das Individuum Person: die Maske, durch die es als Natur sich vernehmlich machen muss. Die Maske ist das kulturelle Urphänomen des Ausdrucks – das wodurch spricht, was anders nicht vernommen wird: „Natur in ihrer Entfremdung“20 . Kultur aber ist die Anstrengung, mit der Natur zu versöhnen. Bis dahin ist sie durch die Male und Stigmata beherrschter Natur definiert. Aus ihrer Beherrschung kann ihre Versöhnung nicht erwachsen, die vielleicht aus der Beherrschung des Verhältnisses zu ihr einmal hervorgeht. So wie die Maske das Antlitz verdeckt, das durch sie erst beredt wird, so offenbart der Ausdruck, was unsichtbar das Seiende presst und modelt – in der passio, unter dem Leidensdruck, der auf der zarten Membran des Lebendigen liegt, und der darauf sich abmalt. Mit den Linien der Zeichnung ist bedeutet, was es wäre, wenn es nicht litte. „Weh spricht: Vergeh!“21 Das ist die unvergleichlich präzise, die unüberhörbare Sprache des Ausdrucks. Die Wunde, die Male von Peitsche und Joch – auch des inneren –, Markierung und Brandmal, das Stigma, die Grimasse – die Verzerrung offenbart das Wesen; das Wesen der Gesellschaft, das in der Gewalt besteht und das negativ das der wahren indiziert. „Ausdruck ist der schmerzliche Widerhall einer Übermacht, Gewalt, die laut wird in der Klage“22. So der Kernsatz der Ausdruckstheorie in der Dialektik der Aufklärung, die den Ausdruck zum Kriterium der Kultur erhebt; dessen, was sie ist, indem sie es nicht ist, und nicht ist, indem sie es ist. Die Verfassung der Welt ist die nach einer langen und wechseln20
Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, l. c., S. 54 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Dritter Teil, „Das andere Tanzlied“, 3 (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Girorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, Bd. 4, S. 286). 22 Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, l. c., S. 215. 21
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Ausdruck
den Geschichte der Herrschaft, des offenen und des geheimen Grauens, die in der Gegengeschichte von Trauer und Liebe, von Widerstand und Solidarität, von Verfolgung und Opfer, Geist und Idee, Schönheit und Kunst: im Ausdruck der selber zwieschlächtigen Kultur sich widerspiegelt. „Seligkeit wäre ausdruckslos“23, die unausdenkliche Wahrheit, integritas, die Ausdruck und Wunde negativ bedeuten, und die Ideen und Schönheit versprechen. Dass sie sie wären, ist der affirmative Trug der Kultur. Das Symbol soll schon das Symbolisierte sein. Die Gebilde fungieren als Idole, Ausdruck wird Idolatrie. Das Kultisch- und Kommunwerden, die arbeitsteilige Codifizierung der Ausdrücke neutralisiert ihr Stigmatisches, macht das Wundmal vergessen, oder das Wundmal figuriert, wie bei den Tätowierungen aller Spielarten, als Siegeszeichen, als Mal des Ruhmes durch Qual und durch Quälen – auch durch Selbstquälen. Die Linien, die der Schrecken zeichnet, werden ästhetisiert, die Form, die Stilisation sind die Anästhesie gegen den Schrecken. Sie machen seinen Ausdruck geläufig, münzen die Urprägung aus. Doch können sie ihn dabei, wie in großer Kunst, noch verstärken, die Urprägung durch Stereotypie erleuchten. Lässt Stilisation sie dahinter wie im Dunkel verschwinden, provoziert sie leicht die Hervorrufung des ‚Echten‘ unter der Stilschicht, ähnlich der des Mimen vor den Vorhang, weil man den Menschen hinter der Maske sehen will. Doch der von Form und Darstellung befreite Ausdruck ist, wie Valéry sagte, bloß der banale. Das Umspringen des Ausdrucks vom ‚Unechten‘ ins Echte ist der ins Unförmige, Dégoutante, der Empfänglichkeit Unerträgliche, ins Hässliche, Schrille und Grelle; es zeigt den kitschigen, der den Rücksprung aus dem ästhetischen Sublimat ins gesellschaftliche Trauma verrät. Das den Nerven Unausstehliche, der ölige, der harte, der giftige Glanz, das winselnde, heulende, dröhnende Elend sind sein Siegel der Authentizität – das einer Gesellschaft Dehumanisierter, die, wie verlassene Kinder nach der Mutter, nach Menschheit schreien. War der Ausdruck in dieser Dimension nie so falsch wie heute, ist er nie wahrer durch die Art gewesen, das Falsche ungeschminkt zu manifestieren: den Druck des Allgemeinen aufs Einzelne, der es zur Explosion disponiert. In den Formen und Unformen, den Stigmen 23
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, hrsg. von Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1970, S. 169.
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und Masken heutiger Kultur – auch den ‚menschlichen‘ – die Dispositive jener Explosion agnoszieren, heißt seitenverkehrt in den Zügen lesen, die einen Stand ohne Pressur und Pressionen bedeuten. Der theoretischen Erkenntnis das Ausdrucksmoment sichern, am Ausdrucksmoment aber die Lineatur der Objektivation sichtbar machen – sie darstellen –, ist angesichts der Denaturierung von Sprache und Begriff zu Instrumenten der Demarkation und Suggestion eines der dringlichsten Desiderate des Humanismus.
Blochs Idee des Expressionismus als objektive Ausdrucksidee
Rolf Tiedemann gewidmet in Verbundenheit und mit allen guten Wünschen zum 24. September 1997
Bloch hat die Idee des Expressionismus an der vor 1914 aufgekommenen, erst neopathetisch, später expressionistisch1 genannten Kunstrichtung – und zwar an ihrer bildnerisch-malerischen Sektion, speziell der internationalen Künstler-Gruppe des Blauen Reiter – vergegenwärtigt und explizit gemacht.2 Er tat es unter wenigstens drei Hauptaspek1
„Das Urgedicht [...] war nichts als ein modulierter [...] Schrei, aus Lust oder Schmerz, aus Trauer oder Verzagung, aus Erinnerung oder Beschwörung gewonnen, aber immer aus dem Überschwang einer Empfindung.“ (Stefan Zweig: „Das neue Pathos“, in: ders., Emile Verhaeren, Frankfurt am Main 1984 [Gesammelte Werke in Einzelbänden, hrsg. von Knut Beck, S. 131–141, Zitat: S. 131.) „Dieses neue lyrische Pathos will in unserer Zeit wieder lebendig werden.“ (L. c., S. 136) – „This phrase [...] was a real rival to the newly coined term ‚expressionismus‘“ (Eberhard Roters: „The painter’s nights“, in: Carol S. Eliel: The apocalyptic landscapes of Ludwig Meidner, Los Angeles u. München 1989, S. 90). – Zum Terminus siehe Donald E. Gordon: „On the Word ‚Expressionism‘“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Bd. 29 (Jg. 1966), S. 368–385, und Ron Manheim: „Expressionismus. Zur Entstehung eines kunsthistorischen Stil- und Periodenbegriffs“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. 49 (Jg. 1986), H. 1, S. 3–91. 2 Blochs Untersuchungen zum Expressionismus finden sich vor allem in: Geist der Utopie, Erste Fassung (1918), in: ders., Gesamtausgabe in 16 Bänden, Frankfurt am Main 1977 [im Folgenden nachgewiesen als Gesamtausgabe mit Angabe des Bandes], Bd. 16 und Geist der Utopie. Bearbeitete Neuauflage der zweiten Fassung von 1923, in: Gesamtausgabe Bd. 3; Spuren, in: Gesamtausgabe Bd. 1; Thomas Münzer als Theologe der Revolution, in: Gesamtausgabe Bd. 2; Erbschaft dieser Zeit, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_9
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Ausdruck
ten: kunst- und geschichtsphilosophisch – die kulturepochale, nicht bloß fachlich-kunsthistorische Bedeutung des Expressionismus herausstellend (s. Abschnitt I); ausdrucks- und symboltheoretisch – die Expressivität selbst in ihrem Verhältnis zum subjektiv und objektiv Auszudrückenden erhellend (s. Abschnitte I und III); und erkenntnispraktisch-applikativ – selber ‚expressionistisch philosophierend und schreibend‘, detektorischspurenlesend und das Gelesene expressiv artikulierend und darstellend (s. Abschnitt III). Der Expressionismus war und blieb Bloch ein historisch essentiellAktuales, ja prozess-geschichtlich Unabgegoltenes. Die Erbschaft des Expressionismus war im Jahrzehnt nach dem Krieg – noch in denen nach dem Zweiten Weltkrieg – ernstlich nicht angetreten; und verspielt und verjubelt, nämlich von den Faschisten und ihrer Propaganda, war sie schon gar nicht. Akut schien er ihm im post- und im gegenrevolutionären Monolithicum der Kalten-Kriegs-Zeit. – Am Expressionismus hat er – mit Worringer, mit maßgeblichen Theoretikern der Kultursymbolik und -physiognomik – die konstitutiven Züge und Leistungen des historischen Menschen als eines Ausdrucks-Wesens3 , als des animal symbolicus4 , in: Gesamtausgabe Bd. 4; Das Prinzip Hoffnung, in: Gesamtausgabe Bd. 5; Experimentum Mundi, in: Gesamtausgabe Bd. 15. 3 Das „Stilbedürfnis“, scil. das „kunstwollende“ Ausdrucks- und Darstellungsbedürfnis des Menschen ist unabtrennbar vom „Weltgefühl“ – dem „psychischen Zustand, in dem die Menschheit jeweils sich dem Kosmos gegenüber, den Erscheinungen der Außengewalt gegenüber befindet. Dieser Zustand [...] findet seinen äußerlichen Niederschlag im Kunstwerk, nämlich im Stil desselben“. An der „Stilentwicklung der Kunst lassen sich die Abstufungen des Weltgefühls ebenso ablesen, wie an der Theogonie der Völker.“ Gerade der abstrakte, geometrisierende, der farb- und formautonome expressionistische Stil ist „Folge einer großen inneren Beunruhigung des Menschen durch die Außenwelt.“ (Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, München u. Zürich 1987, 14. Aufl., S. 46, 47 u. 49.) 4 Die „Denker, die den Menschen als animal rationale definierten, haben das Wesen nicht empirisch zu bestimmen versucht [...] Der Begriff ‚Vernunft‘ ist viel zu eng, um die Formen des menschlichen Kulturlebens in allen ihrem Reichtum und ihrem Gehalt zu umgreifen [...] alle diese Formen sind symbolische Formen. Anstatt den Menschen als ein animal rationale zu verstehen, sollten wir ihn [...] als ein animal symbolicum definieren. Damit geben wir seiner besonderen Eigenart Ausdruck und zeigen den neuen Weg, den nur der Mensch zu gehen vermag – den Weg zur Zivilisation, zur Humanität“ (Ernst Cassirer: Was ist der Mensch? Versuch einer Philosophie der menschlichen Kultur, Stuttgart 1960, S. 40). „Der Mensch lebt in einem symbolischen [...] Universum [...] Statt mit den Dingen selbst umzugehen, unterhält sich der Mensch in gewissem Sinne dauernd mit sich selbst“ – mit sich in seiner objektivierten Form von „Sprache, Mythos, Kunst und Religion“ (l. c., S. 39). „Die menschliche Kultur als Ganzes kann als der Prozeß der Selbstbefreiung des Menschen verstanden werden“ (l. c., S. 289). – Bloch hat diesen Prozess als den der „Selbstbegegnung des Menschen“ im Anderen, seiner Aufdeckung „im Lineament der geheimen Menschengestalt“, der Entzifferung
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identifizieren helfen; seine kulturellen, aus Nöten und Mängeln erfolgenden Schöpfungen und opera als Objektivationen seiner subjektiven Wesenskräfte gedeutet, Manifestationen und Materialisationen seines bedürftigen Seins und seiner wünschend-sehnend transzendierenden Seele – seines Selbst, dem er stets noch in seinen Masken, dinglich fremd und verrätselt, doch mehr und mehr apokalyptisch sich eröffnend und, unverhüllt in seiner ganz zu sich und heim gekommenen Integrität, am erhofften utopischen Ende begegnen wird und begegnet. Umgekehrt hat Bloch am Expressionismus die „Begegnung des Subjekts mit dem Objekt“ studiert; in ihr die, am Leiden des Subjekts an der Fremdheit, der Dinglichkeit, an den Sachen erwachsende Kraft erfasst, mit der das Subjekt dem Sein und Wesen des Objekts, der Dinge gerecht zu werden und ihnen, durch seine expressiven Werke und Bilder, zum eigenen Ausdruck zu verhelfen vermag.5 – Und das tat er auch – außer in theoretisch distanzierter Ergründung – in poietisch-experimentierender Wahlverwandtschaft mit den Künstlern des Expressionismus und seinen Visionären: in den eigenen philosophisch-literarischen Ausdrucksleistungen.6
„des Namenszuges des unmittelbaren Menschenwesens“ dargestellt (Geist der Utopie, Gesamtausgabe Bd. 3, S. 40). In der ersten Fassung des Werkes nennt er ihn ‚Objektivierungsprozeß‘, bei dem es um „Herausschlagen unseres Hauptes und schließlich Aufrührung der mythischen Energien und Gegenstände des Endes, des Anfangs und des Endes“ geht (Gesamtausgabe Bd. 16, S. 337) – in dezidiert eschatologisch-apokalyptischer Akzentuierung, derjenigen, mit der Bloch die genuin expressionistischen Ausdrucks- und Symbolgestalten charakterisiert: in ihnen gelange „das Korn der Selbstbegegnung zum furchtbaren Erntefest der Apokalypse“, scil. des endlich offenbar gewordenen – „erlösten“, integralen – Menschen (Gesamtausgabe Bd. 3, S. 346). 5 Andererseits geht es um den Prozess der Manifestation des Seins und Wesens der Dinge. Zeigt sich Kandinsky als ‚intensiver Expressionist‘, so Marc als der ‚zugleich allerobjektivste Künstler des Begriffs von der Sache‘; cf. Geist der Utopie, Gesamtausgabe Bd. 16, S. 44. In seiner Kunst soll „die Welt selbst zum Reden“ gebracht werden (Franz Marc, in: Walter Hess: Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, Reinbek 1975, S. 79), Blochisch: das „Wesensbild der Sache“ selber gefunden und manifestiert werden (Das Prinzip Hoffnung, Gesamtausgabe Bd. 5, S. 249). Es sollen die „Weltwege“ gefunden und nachgegangen werden, auf denen und „vermittelst derer“ beides geschieht: „das Inwendige auswendig und das Auswendige wie das Inwendige“ wird (Geist der Utopie, Gesamtausgabe Bd. 3, S. 289). 6 Zu Blochs Expressionismus siehe Jörg Drews, „Expressionismus in der Philosophie“; Walter Jens: „Auch Philosophie gehört zur Literatur“; Günter Bartsch, „Chiffre und Anruf“; Hans Mayer, „Der Redner Ernst Bloch“; ders., „Ernst Bloch, Utopie Literatur“; Renate Kübler, „Die Metapher als Argument“, alle in: Ernst Blochs Wirkung. Ein Arbeitsbuch zum 90. Geburtstag, Frankfurt am Main 1975.
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Ausdruck
I „Ausdruck ist der schmerzliche Widerhall einer Übermacht, Gewalt, die laut wird in der Klage“7 Der Ton brennt aus uns heraus ... als ein Feuer, in dem nicht die schwingende Luft, sondern wir selber anfangen zu zittern. Bloch Wir glauben an das, was in Marc brannte. Bloch
Ich beginne mit einer Erörterung des Ausdrucksbegriffs, der Bedeutungsstruktur von expressio. Was die Expressivität, das Expressive des Expressionismus überhaupt sei, was seine Idee ausmacht, und wie sie in Werken durchschlägt, künstlerisch realisiert ist oder nicht, ermisst sich an ihrer semantischen, strukturellen Bestimmtheit. Und analog wird deutlich der eigene denkerische, rhetorische Expressionismus Blochs erst am Konzept von Expressivität – der Ausdrucks-Idee – wie Blochs Philosophie historisch-systematisch sie fasst.8
7 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 54. 8 Dazu vor allem: Das Prinzip Hoffnung, Gesamtausgabe Bd. 5, Zweiter Teil, Kap. 10 (Nacktes Streben und Wünschen, nicht gesättigt), S. 49–52; Kap. 11 (Der Mensch als [...] Triebwesen), S. 52 f.; Kap. 13 (Die geschichtliche Begrenztheit aller Grundtriebe), S. 77–84 (Gemütsbewegung und Selbstzustand, Appetitus der Erwartungsaffekte, vorzüglich der Hoffnung); Kap. 14 (Verstecke und alte Wunscherfüllung im Nachttraum, ausfabelnde und antizipierende in den Tagesphantasien), S. 121–128 (Nochmals als die Erwartungsaffekte [Angst, Furcht, Schreck, Verzweiflung, Hoffnung, Zuversicht] und der Wachtraum); Fünfter Teil, Kap. 51 (Überschreitung und intensitätsreichste Menschwelt in der Musik), S. 1244 ff. (Die Nymphe Syrinx), S. 1248–1258 (Menschlicher Ausdruck als unabtrennbar von Musik), S. 1258–1270 (Sphärenharmonie [...], Tonmalerei, nochmals Naturwerk [...]); Kap. 54 (Der letzte Wunschinhalt und das höchste Gut), S. 1551 f. (Trieb und Speise); S. 1566–1577 ([...] Subjektivität, Objektivität der Güter, der Werte und des höchsten Guts).
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„Ausdruck“ gilt als etwas ganz und gar Subjektives, als das UreigenstSubjektive selbst. Dem wird auch die Wendung, Ausdruck sei nichts als Selbstausdruck, gegeben, was heißen soll: was sich im Ausdruck ausdrückt, ist das Subjekt selbst. Ausdruck sei seine genuine, volladäquate Bekundungsweise – das idem seines Idion, es in der ganzen Fülle seiner gegebenen wie defizienten unverwechselbaren Individualität. Doch ist gerade darin die Verwechselbarkeit versteckt. Das Idion, Selbst ist zugleich das Andere, die Differenz, das Fremde, das im Unterschiedensein Objektive des Subjekts selbst. Bei genauem Hinsehen zeigt sich der ‚Etwas‘-, der ‚Objekt‘-, der ‚dingliche‘ Charakter dieses Subjektiven, Rein-Persönlichen. Denn: ‚im Ausdruck drückt sich das Subjekt selbst aus‘ heißt, dass es als etwas das Etwas; als ‚Objekt‘ ‚sich‘, ein Objektives ausdrückt. Es drückt seine Subjektivität als objektive Bestimmtheit aus.9 Das bedeutet im Wesentlichen, dass es sich als affektives Wesen ausdrückt. Die Affektivität des Subjekts ist der Ort, an dem jene Verwechslung, jener Wechsel: des Idion ins Fremde, des Subjekts ins Objekt, des Gefühlten, Nichtdinglichen ins Exteriore, Dinghafte statthat und vor sich geht. Hier changiert das Subjektive ins Objektive, das Objektive ins Subjektive: und zwar selber objektiv: dynamisch-strukturell. Die Gefühle, Affekte erweisen sich als intentional – sie sind gerichtet auf etwas, was nicht das Gefühl selbst ist, sondern das im Gefühl Gefühls-Andere: das Gefühlte. Es verhält sich zum Fühlen so, wie das Vermisste, Ersehnte zum Vermissen, wie das Entbehrte, Ergänzende, Sättigende zum Entbehren, Ermangeln, zum Hunger. Es hat oder erstrebt es so, wie der Trieb ein Triebobjekt, Triebziel hat; das, zu dem es ihn treibt, auf das er hintendiert. – Dies Hintreiben auf ein anderes als der Trieb ist, hat zugleich auch die umgekehrte Richtung: es wird von diesem andern, dem Triebziel, Triebobjekt gezogen, angezogen, also gerichtet. Einerseits treibt, drängt, intendiert der Trieb, der Affekt, andererseits wird er getrieben und gedrängt: das
9 Dazu siehe Verf.: „Zur Dialektik der Subjektivität bei Adorno“, in: Zeitschrift für kritische Theorie, Jg. 3, Heft 4 (1997), S. 5–27 (Anm. 17 und 36).
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Intendieren des Subjekts zeigt sich als Tendieren des Objekts.10 Das Drängende, Aktive erweist sich als das Gedrängtwerden, Passive, als Mangel und Hunger des Seins, und das per se nicht aktiv treibende, passive Triebobjekt zeigt sich aktiv durch die Anziehungs-, die Sättigungskraft, die es auf das Triebsubjekt ausübt. So kommt die ‚Objektivität‘ in die ‚Subjektivität‘ hinein: wird das Subjekt ‚geprägt‘ vom Objekt, Ding; macht das Objekt auf es, in es einen Ein-Druck: impressum. Und wenn das Subjekt nun in seinem Affekt, in dem Gefühl, das es von etwas hat, sich äußert, dann ist das die Ver-Äußerung, das nach außen Bringen des Eingedrückten, und das ist der Ausdruck: expressum. „So regiert [...] in der Affektwelt Liebe zu etwas, Hoffnung auf etwas, Freude an etwas“, Leiden durch etwas. Es gäbe „gar keine Verabscheuungen oder Begehrungen ohne das äußere Etwas, das sie hervorruft [...]. Die Affekte bleiben nicht auf das bloße Erleben ihres Erlebnisses beschränkt“. Ihr Inhalt tritt „als deutlich erregender äußerer Gegenstand konkret hervor“.11 In der Tradition materialistischen Denkens ist das – am eindrucksvollsten vielleicht – gefasst in Spinozas Affektenlehre. „Corpus humanum pati potest multas mutationes, et nihilo-minus retinere objectorum impressiones, seu vestigia et consequenter easdem rerum imagines.“ So in der Ethik12 ; und, in stärkster Akzentuierung des ‚tendere – intendere‘ des Objekts, im Tractatus brevis: „Erkenntnis [...] entsteht durch eine unmittelbare Offenbarung des Objekts selbst an den Verstand“.13 „Nicht wir sind es, die etwas von einer Sache bejahen oder verneinen, sondern die Sache selbst ist es, die
10 In der „funktionsanalytischen“ Behandlung und Bestimmung solcher Gestalten der „SubjektObjekt-Begegnung“, des „Kommunizierens von subjektivem Intendieren und objektivem Tendieren“ im Subjekt und des „Wechselwirkens“ zwischen objektiver Tendenz (dem „Intendieren“ in den Dingen) und subjektiver Intention (dem „Tendieren“ im Subjekt) – speziell in den „ErwartungsAffekten“ – erblickt Bloch das eigentliche Programm seiner Philosophie; sie setzt da an, wo „das Intendieren“ noch „nicht in seinem allemal antizipierenden Klang gehört, die objektive Tendenz“ noch „nicht in ihrer antizipierenden Mächtigkeit erkannt“ wird (Das Prinzip Hoffnung, Gesamtausgabe Bd. 5, S. 4; siehe auch S. 12). 11 L. c., S. 78 [Hervorhebungen: H. S.]. 12 Spinoza: Ethica III (De origine et natura affectuum), postulatum II; in: Opera, hrsg. von Konrad Blumenstock, Bd. 2, Darmstadt 1967, S. 260. 13 Spinoza: Tractatus brevis de Deo, de homine et ejus felicitate II, cap. 22,1; hrsg. von Carl Gebhardt, Hamburg 1959.
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etwas von sich in uns bejaht oder verneint.“14 Die Ethik interpretiert jene Selbst-Manifestationen der Objekte und „materiellen Vorgänge“ als ‚im Attribut des Denkens erfahrene [...] Spiegelungen‘ ; darin sind sie der „ideelle Ausdruck“ „des Körpers selbst“ und seiner Affectionen im Subjekt, und in ihm ‚in bestimmten (konkreten, materiellen) Einzelvorstellungen zur Darstellung gebracht‘.15 Ausdruck ist etwas wie Weitergabe des Außendrucks, der „auf dem Subjekt lastet“16 , und zeigt immer den Grad der Stärke des Schmerzlichen oder des Lustvollen des ‚Draußen‘, der Objektivität an, die auf das Subjekt drückt – den Grad dieses empfundenen und ausgedrückten Drucks vom Schmerzensschrei bis zum Jubelruf, vom zärtlichen Flüstern bis zum nuancierten Satz, zur sublimen musikalischen oder sprachlichen Artikulation. Grad und Art solchen Ausdrucks, solcher Artikulation zeigen sich bestimmt von Grad und Art dessen, was ‚drückt‘, was den Ein-Druck macht: ein Rauschendes, Tönendes, ein Vibrierendes, die Membran Erschütterndes – ob das zitternde Klingen der Memnonsäule; das in den Chladnifiguren sich malende Tönen der gestrichenen Scheibe; ob der in Noten, in Chiffren, in Worten erklingende sinnlich-geistige Wohllaut; vor allem auch „Vor-Laut“ des „Noch-Nie-Erhörten“ – analog den in Malerei, Architektonik und Schrift „vor-scheinenden“ Linien und Figuren des „Noch-Nicht-Gesehenen“, noch apokalyptisch Verborgenen. Auch das Noch-Nicht-Entborgene, das utopisch Gespürte vermag zu beeindrucken, ein ‚futurisches Vernehmen‘ den Grad, die Qualität unseres Ausdrucks zu bestimmen; vermag das ‚Prägende‘, ‚Siegelnde‘: die Imprimerie in dieser Exprimatio zu sein.17 Deutlich werden Zweigliedrigkeit, Interrelativität und -dependenz (Komplementarität) der Glieder, auch die Amphibolie des Ausdrucksphänomens.
14
L. c., II, cap. 16,5 (s. auch cap. 15,5). S. Spinoza, Ethica III, post. II; Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 2, Berlin 1922, S. 121. 16 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1973, S. 29. 17 Dazu s. Verf., „Pression – Prägung – Expression. Zur physiognomischen Dimension des Ausdrucks“, in diesem Band, S. 113–127. 15
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Ausdruck
Der Kategorialität nach handelt es sich dabei um Bestimmungen von der Art der wesenslogischen bei Hegel; in Blochs Kategorienlehre figurieren sie als „manifestierende Kategorien“, solche, die die Charakteristik von „Gestalten“ als „Auszugs-Figuren“ prägen,18 auch als „kommunizierende Kategorien“, namentlich als „Epochen- und Sphären“-bestimmende und als „Gebiete“ ‚gründende, ausspannende‘ wie das „Ästhetische“ und die „Natur“19. In ‚Erstreckungen‘, heraus aus dem KraftpunkthaftKonzentrierten; im Extensivwerden des Intensiven; im Entfalten, Ausfalten des dicht Zusammengefalteten, Entrollen des dicht Geknoteten, Verknäuelten; in Exodus, Aus-Druck, Expression manifestiert sich ein Inneres, Intenses; kommt ein Wesentliches zur Erscheinung – und dieses, nachdem, umgekehrt, ein Äußeres, Extenses im Innern, im Wesen sich sammelte; ihm sich einschrieb, einprägte und zur Keimgestalt figurierte; zum Ausstrahlungspunkt, focus konzentrierte. In der Expression kommt das von zwei Seiten geschehende innere Prägegeschehen ‚zum Ausdruck‘, ‚zur Darstellung‘, zur Aufschließung des Eingeschlossenen – zu dem also auch, was wir ein Werk nennen, ein vom Ausdruckssubjekt, vom Künstler Gebildetes, Gefügtes, Komponiertes, „Gebautes“ und Struiertes;20 eines, das schon im Innern des Künstlers, wie auch in der inneren Komplexion des Sujets, der Sache, vom Äußeren, vom Ding, vom Sujet und dessen eigener innerer Komplexion und ‚Signatur‘ – durch den Ein-Druck, die Impression, die es machte – ‚signiert‘ war und geprägt wird. Das ist etwas wie die schöpferische Nach-Prägung – postpressio – der Vor-Prägung – praepressio – eines irgend Auszudrückenden und Darzustellenden, kraft aisthetischer Affektion und Imagination.
18
Experimentum Mundi, Gesamtausgabe Bd. 15, S. 150 ff. L. c., S. 172 ff., insbesondere S. 196–205 (Allegorischer Vorschein in der Kunst), S. 206–212 (Symbolischer Vorschein in Metareligion) und S. 212–230 (Objekthaft Chiffriertes in der Gebietskategorie Natur). 20 Zu den architektonischen Grund- und „Bau-Archetypen“ – den „ägyptoiden“ und den „gotisierenden“, denen mit „reiner Ornamentik“ – siehe l. c., S. 203 f. sowie, erstmals im Geist der Utopie, Gesamtausgabe Bd. 16, S. 17–52 (Die Erzeugung des Ornaments). 19
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II Kunstwerke „ziehen subjektive, ... auch objektive Traumstraßen aus dem Gewordenen zu dem Gelungenen, zur symbolhaft umkreisten Gelungenheit“21 Immerblau streut deine Stimme Über den Weg Wo du erzählst, wird Himmel. Else Lasker-Schüler Wir rufen was nicht ist. Wir bauen ins Blaue hinein. Bloch
Bloch hat in der Musik die „menschliche Expression“ par excellence gesehen. Sie ist, in ihren vielfältigen Formen des Tönens und Lautens, der Affekt des Vermissens in der Gestalt des Rufs, des sehnenden Rufens nach dem Vermissten – „Pathos der Vermissung“22. Das je Vermisste prägt, bestimmt die Art, Gestalt des Rufens – die musikalischen, die musischen Charaktere. „Musik, [...] diese mehrstimmige [...] Kunst“ ist die „durchgeformte Exprimatio“23, die ‚Ausprägung eines Rufs‘24, des ‚wortlosen‘, ‚wortüberbietenden‘ „Rufs ins Entbehrte“25 – des nahe und nächst Entbehrten,26 wie des im Fernen und Fernsten: des utopisch Ersehnten. Wenn wir uns rufen: „nennen“ können beim ureigensten Namen, so durch „die Musik“, die „eine einzige subjektive Theurgie“ ist,27 wie es im Geist der 21
Das Prinzip Hoffnung, Gesamtausgabe Bd. 5, S. 14. L. c., S. 1245. 23 L. c., S. 1257; durchgeformt „in dem und statt des gefühligen oder auch beschreibenden Espressivo“ (Hervorh.: H. S.). 24 L. c., S. 1254. 25 L. c., S. 1244 (im Original kursiv). 26 Also jenes dem Subjekt Äußeren und Äußerlichen, das es zuinnerst bestimmt und prägt. Im Tönen, „Tonverhältnis“ ist „ein objektiver Faktor, der die Einfühlung unweigerlich so oder so bestimmt“. „Klangbewegung und ihre psychische Energie [...] machen Musik außer zu ihrem eigenen Ausdruck zu dem der Zeit und Gesellschaft, worin sie entsteht [...] Die gesellschaftlichen Tendenzen selber haben sich im Klangmaterial reflektiert und ausgesagt“ (l. c., S. 1248, 1249). 27 Geist der Utopie, Gesamtausgabe Bd. 16, S. 234. 22
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Utopie heißt. Dieser ureigenste Name – „unser Haupt“28 – ist wortlos, sprachlos: „über alle Namen hinausliegend“, „am Ende überhaupt nicht mehr der Ausdruck in der Musik, sondern die Musik selber als Ausdruck.“29 Sie ist ein – relativ zur Wortsprache – nicht-sprachlicher, doch darum nicht nichtsprachlich überhaupt. Denn es gibt Sprachen, deren Ausdruck anders artikuliert ist, als durch Wörter. So der musikalische: er ist der einer „Sprache sui generis“ – einer, die „die Gesamtheit ihres Meinens, Bedeutens, Abbildens und dessen, was sie auf so unsichtige, doch im doppelten Wortsinn ergreifende Weise abbildet“30. Im ‚mächtigen Ausdruck‘ dieser, der musikalischen Sprache ist große „noch unbekannte Poesis a se [vorgebildet]“, und diese große Sprache und Poesie tritt realisiert, ganz und „einzig aus“ Figuren „absoluter Musik“ hervor.31 Genau damit ist der kriterielle Punkt getroffen, das gebiets-mäßige, figurensignative Definiens, das den Expressionismus im Bloch’schen Sinne – im Sinn seiner Ausdrucks-Idee – charakterisiert. Expressionistische Kunst ist konzeptiv von der Musik aus erfasst; Expressionismus als Kunst „absoluter Sprache“ musikalisch, durch den musikalischen Ausdruck, konstituiert. Was an solcher Sprache tönend redet: dafür steht Musik ein, und was an ihr durch Linien, Grapheme, Zeichen einerseits, durch Farben, Intensitätsgrade des Dunklen und Hellen redet: dafür stehen Graphik, Schrift, Malerei ein. Expressionistische Kunst ist musikalische: Kunst des Vibrato wie des Vibrierens, des an- und abschwellenden Tönens und Rufens, wie des die Wellen und Linien der ‚in sich erzitternden – und oszillierenden – Materie‘32 Aufzeichnens, Malens und Schreibens. Das graphischmalerische Analogon der „absoluten Musik“ – also jenes nur noch aus sich selbst und sich selber nennenden Tönens – ist „absolute Malerei“ im Sinne der Expressionisten des „Blauen Reiter“, namentlich Kandinskys, der unter dem Absoluten die ‚radikale Abstraktion‘ verstand: die Loslösung von der ‚Gegenständlichkeit‘, und unter dem künstlerischen Verfahren solchen Abstrahierens die ‚ungegenständliche Kunst‘. Der Abstraktismus 28
Ibd. Das Prinzip Hoffnung, Gesamtausgabe Bd. 5, S. 1256 [Kursivierung Ausdruck in der Musik: H. S.]. 30 Ibd. 31 Ibd. 32 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Leipzig 1949, S. 256 (§§ 299, 300). 29
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diesen Sinnes ist freilich bis aufs Äußerste missverstanden worden: denn die Abwendung, Ablösung von der Gegenständlichkeit ist nicht die von den Gegenständen, sondern vielmehr gerade die konkreteste: „sachliche“ Hinwendung zu diesen;33 zu dem was sie – so Marc – ‚im innersten Wesen‘, was sie ‚wirklich‘34 , in den Phasen ihrer Genese, ihren schöpferischen Stadien – so Klee – eigentlich sind.35 Der absolut-abstraktive musikalische Expressionismus eines Schönberg36 ist Ausdruck der gleichen Lösung von der Gegenständlichkeit der Gegenstände, das ist ihrer Geronnenheit, Härte, 33
Siehe Kandinsky zu André Level: „Von abstrakter Kunst spreche ich nur sehr ungern, ich ziehe den Begriff konkrete Kunst vor“ (cit. Nina Kandinsky: Kandinsky und ich, München 1976, S. 162). – Cf. Adorno: „Nennt man den Zwang zur stimmigen Konstruktion“, die die expressionistische Kunstübung ist, „Sachlichkeit, so ist Sachlichkeit keine bloße Gegenbewegung zum Expressionismus“, sondern „der Expressionismus“ selber, scil. „in seinem Anderssein“ (Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 12, Frankfurt am Main 1975, S. 53). 34 Siehe Marc, cit. Hess, Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, l. c., S. 79. 35 Klee polemisiert gegen den Naturalismus, der in den Dingen bloß ihre Faktizität, ihre Erstarrung in „Form-Enden“ abbildet und darin „das Wesen des natürlichen Schöpfungsprozesses“ und seiner genetischen Formationen – den Weg „vom Vorbildlichen zum Urbildlichen“, dorthin, „wo das Urgesetz die Entwicklung speist [...] wo das Zentralorgan aller zeit-räumlichen Bewegtheit, hieße es nun Hirn oder Herz der Schöpfung, alle Funktionen (Formationen und Figurationen) veranlasst“ – völlig verkennt (cit. Carola Giedion-Welcker: Paul Klee in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1969, S. 75). 36 „Kandinskys Freund Thomas von Hartmann, der russische Komponist, und der Maler-Musiker Arnold Schönberg aus Wien trugen dazu bei, daß die Musik in einem ausgewogenen Verhältnis neben der Malerei im Almanach“ – scil. Der Blaue Reiter, erst- und letztmalig erschienen 1912 in München – „vertreten war“ (Nina Kandinsky, l. c., S. 63). Gemäß der Kandinsky’schen „Idee der großen Synthese“ (l. c., S. 63) und des „Princip[s] des Internationalen“ (Wassily Kandinsky, Franz Marc: Der Blaue Reiter, München 1912; zitiert nach dem maschinenschriftlichen Vorwort der Redaktion von 1911, in: Nina Kandinsky, l. c., S. 67), wonach „das ganze Werk, Kunst genannt, [...] keine Grenzen und Völker, sondern die Menschheit“ (ibd.) kennt; jetzt, da die „Epoche des Grossen Geistigen“ und seines „Erwachen[s]“ (l. c. S. 65) begonnen hat, sind schon die beiden großen Münchner Exhibitionen gleichen Namens – die der Redaktion des Almanachs von 1911 und 1912, die Matthias Walden in Teilen im Berliner Sturm 1912 und 1913 wiederholte – nach der Idee der gemeinsamen expressiven Intentionen in den verschiedenen Künsten, Darstellungs- und Expositionsformen konzipiert. So waren dort Werke – Bilder, Zeichnungen, Aquarelle, Druckgraphiken – von Kandinsky, Marc, Campendonk, Macke, Münter, Schönberg, Delaunay (1911) und Arp, Braque, Kirchner, Klee, Malewitsch, Nolde, Pechstein, Picasso und vielen anderen (1912) ausgestellt. Und im Almanach selbst figurierten „Abbildungen von Cézanne, Delaunay, Picasso, Rousseau und Matisse, [...] Beispiele aus der Primitiv- und Volkskunst, [...] Blätter, die Kinder und Geisteskranke gezeichnet hatten“ und Reproduktionen von Werken „aus Ostasien und Ägypten, sowie mittelalterliche Holzschnitte“ (l. c., S. 64) – in selber genuin ästhetischem, frappantem Arrangement. „Von Schönberg, Berg und Webern waren Kompositionsbeiträge eingelegt, und Kandinsky publizierte darin“ (ibd.) Abhandlungen über Formfragen und Bühnenkomposition, Marc und Macke schrieben über „geistige Güter“ und „Masken“, „Schönberg wägte Text und Musik gegeneinander ab“, und Hartmann formulierte programmatisch, dass und inwiefern „in der Kunst im allgemeinen
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Abgeschlossenheit – der Verdinglichung der Dinge, wie der des absolutabstraktiven graphischen und malerischen eines Kandinsky, Marc und Klee, die die essentielle Dinglichkeit des Dinges, die Gegenständlichkeit des Gegenstands statt seiner abbildlichen Palpabilität und ‚Oberflächlichkeit‘, seiner photographischen oder kinematographischen Abbildlichkeit zu gewinnen suchen. Die expressionistische Lösung von der Gegenständlichkeit, das „Streben nach Gegenstandslosigkeit“37 ist gerade kein bilderfeindliches, sondern dem Bild, „Wesensbild der Sache“38 und seiner Entwicklung zugeneigtes. Es „fand im ‚Blauen Reiter‘ der Marc, Kandinsky wohl ein Museumssturm statt, doch [...] kein Bildersturm.“39 Musikalische Expressivität in der Bedeutung des ‚Redens und Rufens‘ von Tönen, gleichwie des „Klingens der Farben“40; des formativen Niederschlags von ‚musikalischen Kräften‘ in denen der Malerei und von malerischen in der Musik41 bezeugen Äußerungen wie die vor allem Kandinskys, deren sprachlicher Ausdruck den malerischen und den musikalischen in gleichsam selber tönenden und farblich brennenden Worten fasst: Musik, Wagner’sche Musik „schien mir [...] eine vollkommene Verwirklichung dieses Moskau“ an einem Abend des Jahres 1895 „zu sein. Die Geigen, die tiefen Baßtöne und ganz besonders die Blasinstrumente verkörperten [...] die ganze Kraft der Vorabendstunde. Ich sah alle meine Farben im Geiste, sie standen vor meinen Augen. Wilde, fast tolle Linien zeichneten sich vor mir ab [...] Wagner [hatte] musikalisch ‚meine Stunde‘ gemalt“42. Ein anderes farbflammendes Klangbild malt ihm – und im besonderen in der Musik jedes Mittel, welches aus der inneren Notwendigkeit entsprungen ist, richtig“ ist (l. c., S. 64 f.). 37 Experimentum Mundi, Gesamtausgabe Bd. 15, S. 205. 38 Das Prinzip Hoffnung, Gesamtausgabe Bd. 5, S. 249. – Siehe Klee: „Der Gegenstand erweitert sich über seine Erscheinung hinaus durch unser Wissen um sein Inneres, daß das Ding mehr ist, als seine Außenseite zu erkennen gibt“ (cit. Hess, Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, l. c., S. 82). Und: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“ (cit. GiedionWelcker, l. c., S. 64). 39 Experimentum Mundi, Gesamtausgabe Bd. 15, S. 205. 40 Kandinsky sagt in Rückblicke (Bern 1977): „Die Palette“ mit ihrem ‚zufälligen‘ und ‚rätselhaften Spiel‘ der Farben ist „selbst ein ‚Werk‘ und oft schöner als irgendein Werk“, „sie soll für die Freuden, die sie bietet, gepriesen sein. Es schien mir manchmal, daß der Pinsel, der [...] Stücke von diesen lebenden Farbenwesen riß, bei diesem Reißen einen musikalischen Klang hervorrief. Ich hörte manchmal ein Zischen der sich mischenden Farben“ (cit. Nina Kandinsky, l. c., S. 32 f.). 41 Nina Kandinsky, l. c., S. 37. 42 L. c., S. 36.
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in der Rückerinnerung – ein späterer Moskauer Abend: buchstäbliche Präfiguration in der Abendlandschaft solcher paradigmatischer ‚abstrakter‘ Schöpfungen wie der „Impression III“, der „Improvisationen III“ und „19“, der Vignetten und Umschlagentwürfe zum „Blauen Reiter“ oder „Allerheiligen I“ und „II“ von 1911; des „Jüngsten Gerichts“ oder der „Improvisation 26“ von 1912; oder der „Studie“ und „Impression 26“ von 1913 und anderer.43 „Die Sonne schmelzt ganz Moskau zu einem Fleck zusammen, der wie eine tolle Tuba das ganze Innere, die ganze Seele in Vibration versetzt [...]. Das ist [...] der Schlußakkord der Symphonie, die jede Farbe zum höchsten Leben bringt, die ganz Moskau wie das fff eines Riesenorchesters klingen läßt [...]. Rosa, lila, gelbe, weiße, blaue, pistaziengrüne, flammenrote Häuser, Kirchen – jede ein selbständiges Lied – der rasend grüne Rasen, die tiefer brummenden Bäume oder der mit tausend Stimmen singende Schnee oder das Allegretto der kahlen Äste, der rote steife, schweigsame Ring der Kremlmauer und darüber [...] wie ein Triumphgeschrei, wie ein sich vergessendes Halleluja der weiße, lange, zierlich ernste Strich des Iwan Weliky-Glockenturms. Und auf seinem hohen, [...] in ewiger Sehnsucht zum Himmel ausgestreckten Halse der goldene Knopf der Kuppel, die zwischen den goldenen und bunten Sternen der andern Kuppeln die Moskauer Sonne ist. Diese Stunde zu malen, dachte ich mir als das unmöglichste und höchste Glück eines Künstlers.“44 In der zeitgenössischen großen expressionistischen Lyrik – Ausdruck des ‚Dichtens‘, der Poiesis mit dem Wort, die der Poiesis mit Tönen, ob musikalischen, ob farbig-malerischen, in der innersten Synthese absoluter Kunst (Synästhesie) gesellt ist, dem „teuren Heimathaus“ der „Dichter aller Künste“ 45 – ist solche musikalisch-malerisch-dichterische (orphische) Ausdrucks-Synthesis immer wieder beschworen; so bei Else LaskerSchüler. „Die Wolken drohten wild wie schwarze Posaunen“46. – „Ein weißer Stern singt ein Totenlied / In der Julinacht“47 . – „Elfenbein ist 43
Siehe Anette und Luc Vezin: Kandinsky und der Blaue Reiter, Paris 1991, passim. Kandinsky, Rückblicke, cit. Nina Kandinsky, l. c., S. 15. 45 Else Lasker-Schüler: „Ich räume auf! Meine Anklage gegen meine Verleger“, in: dies., Der Prinz von Theben und andere Prosa, München 1986, S. 313. 46 Else Lasker-Schüler: „Elegie“ (Styx, 1902), in: dies., Gedichte 1902–1943, München 1986, S. 68. 47 Else Lasker-Schüler: „Mutter“ (Die gesammelten Gedichte, 1917), ibd., S. 273. 44
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ihre Haut; immer singt ihr Gesicht“48 . Der Synthesis absoluter Kunst liegt schärfste Analysis – Auflösung in einem weit über den zerlegenden, differenzierenden hinausgehenden Sinn zugrunde: Auflösung als AbLösung, Absprengung, ja Atomisierung in der Bedeutung der Destruktion, der Zerstörung der Gestalten, nämlich dieser in ihrer oberflächenstarren, versteinten, kapselartigen Dingform. Es ist die Analysis des Sprengens um des freizulegenden Wesens-Kerns willen. Und solche Freilegung ist dessen Manifestation: Offenbarung – ein Zeigen, Offenlegen in dem genauen Sinn solcher Bildschöpfungen wie der Marc’schen „Tierschicksale“ von 1913, ein Bild mit der Beischrift „Die Bäume zeigen ihre Ringe, die Tiere ihre Adern“49 oder der Meidner’schen „Apokalyptischen Landschaft“ von 1912/13, in der die Eingeweide der zerborstenen Erde bloßgelegt werden.50 Es zeigt sich der apokalyptisch-eschatologische Aspekt der absoluten ‚abstrakten‘ Kunst – ihr Apokalyptisches im Doppelsinn: des Untergangs in der Zersprengung, Auflösung des Gegebenen und Alten, und der Offenlegung, Hervorsprengung des Andern, Neuen. „The notion of the cathartic and regenerative apocalypse, creation through destruction“: „one of the underlying concepts of German Expressionist Art“51 . „The apocalypse“ – sie zeigt sich, so Marc, der Neuen Kunst in „eigenwilligen, feurigen Zeichen einer neuen Zeit“, „Feuerzeichen von Wegsuchenden“52 – „was necessary for the emergence of a new pure world“53. Der absolute Abstraktismus manifestiert das „noch nicht Erschienene“, und wäre es auch – und vor allem, wie Bloch geltend macht (denn wieviel ist im Gegenwärtigen, Lebend-Überlebten archaisch) aus archaischer Verkapselung, darin es (so wie im erstickenden Jetzt) in seiner unerfüllten Zukunft schlummert. Er betreibt „utopische Enthüllung“54 . Von Anbeginn an ist dies für Bloch, den Bloch des Geistes der Utopie von 48 Else Lasker-Schüler: „Kete Parsenow“ (Gesichte. Essays und andere Geschichten, Leipzig, 1913), in: dies., Der Prinz von Theben, l. c., S. 273. 49 Siehe die Abbildung in Eliel, l. c., S. 50. 50 Siehe die Abbildung l. c., S. 85 – Zur mimetisch-offenbarenden Farbgebung Meidners siehe l. c., S. 74: „Ash has color scale of its own: rusty brown, ocher yellow, black, dark grey, light grey, chalky, pale. This is the palette of death and graves, of the underlying earth. It is the foundation of all his apocalyptic landscapes.“ 51 L. c., S. 17. 52 Marc, cit. Hess, l. c., S. 81. 53 Eliel, l. c., S. 48. 54 Erbschaft dieser Zeit, Gesamtausgabe Bd. 4, S. 260.
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1918, durch Marc, durch Kandinsky bezeugt. Dessen „Apokalyptischer Reiter“ von 1911 „furiously cleans the world with arrow and sword“55, und der blaue selber tat nichts anderes als „to fill an apocalyptic role, carrying ‚a message of exorcism, healing and salvation to the world‘“56. „His idea of the link between apocalypse and creative act“ erläutert Kandinsky in den „Rückblicken“: „Each art work arises technically just as the cosmos arose – through catastrophes like the chaotic instrumental roar at the end of a symphony that is called the music of the spheres ... A great destruction with an objective effect is also a song of praise, complete and separate in its sound, just like a hymn to new creation, which follows the destruction.“57 Complete and separate: in der Synthesis des in der Analysis Zersprengten – der ‚abgelösten‘, absolviert-absoluten „technischen“, nämlich künstlerisch-buchstäblichen Elemente von Farbe, Linie, Form und Figur. Es sind die konkreten Konstituentien58 der gegenstandslosen Neuen Kunst. Davon, ob das Vibrieren, das sich Ausprägen des Objektiven im Subjekt stärker, intensiver ist oder schwächer; ob Proportionalität oder Disproportionalität in der Subjekt-Objekt-Relation besteht – die ‚Impres55
Eliel, l. c., S. 50. – Vgl. die „Entwürfe mit Reiter“ (1911), den „Hl. Georg I“ und „II“ (1911), auch Bilder wie „Schütze“ (1912); reproduziert in: Vezin, Kandinsky und der Blaue Reiter, l. c., S. 126, 135; S. 74, 125; S. 144. 56 Kandinsky, cit. Eliel, l. c., S. 50. 57 Ibd. 58 In den Grundkonstituentien Farbe, Ton, Linie sind die amphibolischen Charaktere von Ausdruck überhaupt – gewissermaßen urphänomenal – objektiviert. Es sind die quantitativ-qualitativ, extensiv-intensiv bestimmten Zeichen und Grade, in denen sich das expressive Grundphänomen: das Vibrieren und Oszillieren ‚malt‘, darstellt. Nach der extensiv-materiellen Seite zeigt sich Vibration im „Erzittern der Materie“, nach der intensiv-psychischen als dieses Erzittern „in sich selbst“. Und das ist die Erschütterung, aus der die Schöpfungen des Expressionismus entstehen, und die, die sie im Betrachter, im Zuhörenden, im Vernehmenden auslösen – buchstäblich wie Schallwellen die Luft, die Membran erzittern machen; wie seismische Wellen die Erde zugleich erbeben lassen und in den Linien der Aufbrüche, der Brüche sichtbar machen. Das kosmische objektive Geschehen selber, wie Kandinsky, wie Marc und Klee immer wieder bedeuten, kommt im Subjekt, im Werk, im Rezipienten zum Beben: es ‚wiederholt‘ – aber ‚schöpferisch‘, poietisch – das Beben, leitet es weiter ins erschütterte Subjekt. – Vibrato und Espressivo, Grundcharaktere der ästhetischen Expression, hat Adorno an zentralen Stellen seiner Analyse neuer – und „moderner“ – Musik schlagend herausgearbeitet: ihr Gründen in physikalisch-physiologischen Sachverhalten wie der Interferenz von Wellen, der Erschütterung, des physischen wie psychischen Zitterns und Zuckens aufgezeigt (siehe etwa: Philosophie der neuen Musik, l. c., S. 44–47, und: „Über Jazz“, in: Theodor W. Adorno, Musikalische Schriften, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 17, Frankfurt am Main 1982, S. 74–108; siehe insbes. S. 76, 91 f., 99 f., 101 f., 105 f.).
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sion‘ oder das impressionierte Erzittern, Vibrieren der ‚Expression‘ im Künstler überwiegt; ob sich das Sujet oder das Subjekt als stärker im Prägen und Formen erweist – davon hängt ab, ob das Werk mehr ein impressionistisches oder ein expressionistisches (im Sinne der Kunst-Stile) ist. Das Moment des entschiedenen Formierens des Subjekts kann so weit gehen, dass das, womit formiert wird, so weit vom Eigenformiertsein des Subjekts abgelöst: abgezogen und absolutiert wird, dass wir von einem genuin-schöpferischen Formprimat, von einer von der traditionellen ‚gegenständlichen Kunst‘ emanzipierten ‚gegenstandslosen‘ sinnvoll reden können – der Kunst der verabsolutierten Form, die sich als der ganze und eigentliche Inhalt der Werke erweist; also als der Kunst des sensu eminentiori Konkreten, des wahren, wie immer auch utopischen, des metaphysischen und, wie Kandinsky sagt, „geistigen“ Gehalts der Welt.59 Mit den großen Inauguratoren dieser absoluten Formkunst, vorab denen des Blauen Reiter – samt den ihnen affinen französischen, russischen und österreichischen, doch auch den namenlosen, teils schon historischen, teils gegenwärtigen nicht-professionellen, nicht-berufenen, doch vom Formwillen, vom Wollen einer reinen, „weit über den bekannten Ausdruck hinaus“60 verstiegenen, Sucht- und Sehnsucht-ornamentierenden Ausdrucks- und Kunst-Schrift getriebenen Gefangenen-, Internierten-, Primitiven- und Kinder-Künstlern61 – hat Bloch von Anbeginn an die tiefste geistmenschliche, menschengeistliche – eine Art franziskanischer – Solidarität gespürt und den ihm paradigmatischen Expressionismus des Blauen Reiter – den der „geheimen Zielerregungen“, in denen das „menschliche Innere und das Innere der Welt zusammenrücken“62 ; eines sich ‚erbarmenden Neigens‘ über Tiere und Dinge,63 eines ‚philanthropischen Irrationalismus‘64 (eines, in dem die sensitivste Menschenvernunft: das rational nicht verknöcherte Vernehmen regsam ist); eines der ‚geheimen Menschengestalt‘, des 59
Siehe Wassily Kandinsky: „Über die Formfrage“, in: ders. und Franz Marc: Der Blaue Reiter, dokumentarische Neuausgabe, München/Zürich 1979, sowie Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, insbesondere in der Malerei, Neuausgabe, Bern 1952. 60 Erbschaft dieser Zeit, Gesamtausgabe Bd. 4, S. 261. 61 L. c., S. 62. 62 Geist der Utopie, Gesamtausgabe Bd. 3, S. 47. 63 Erbschaft dieser Zeit, Gesamtausgabe Bd. 4, S 260. 64 Ders., Geist der Utopie, Gesamtausgabe Bd. 3, S 38.
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„wetterleuchtenden Wir-Problems“65 –, er hat diesen Expressionismus noch in dem der Brücke und ihres Umkreises (bei allem Vorbehalt gegen den „schlechten Expressionismus“ darin, den eines „gegenstandslosen Unsinn-Himmels“ und eines ‚Menschheits-Mißbrauchs‘ von Kameraderie und Menschelei66 ) mit der größten Entschiedenheit verteidigt. Verteidigt gegen eine Nachkriegs-Front von Expressionismusgegnern, die sich erstreckte von Hausenstein bis Hitler, von Lukács bis Stalin.67 Zurückgewiesen, als desubstantiierendes, formal-klassensoziologisches, Ideologie-Verdächtigungs-Räsonnement, ja-Geschwätz gebrandmarkt, werden die Verleumdungen des Expressionismus als ‚Fluchtideologie‘, ‚scheinrevolutionäres kleinbürgerliches Aufbegehren mit groß-imperialer Humanitätsgestik‘ und vor allem als ‚Ausdruck kapitalistischer Fäulnis‘, als Dekadenzphänomen des ‚Kranken und Zersetzenden‘68 . Der authentische Expressionismus ist im modischen, stilkonventionell geronnenen verkannt, mit dem Expressionismus des Kunstgewerbes, der Schrei-Ornamentik von Propagandagesten, Reklameschrift, der Affektund Erlebnis-Stereotypie des Geballten, Gesteilten, Gestuften zusammengeworfen und verwechselt. Solche Verwechslung, die Bloch den Kritikern des Expressionismus vorhalten kann, war aber gerade den faschistischen unter ihnen im getrübten, idolatrisch betrogenen ästhetischen Bewusstsein tatsächlich unterlaufen: im frühen Hitlerismus69 und Vorfeld der ‚Machtergreifung‘ – und auch danach noch – eine 65
Ibd. Erbschaft dieser Zeit, Gesamtausgabe Bd. 4, S. 259, 273. – Zum modischen ZeitgeistExpressionismus siehe die vehement-polemische dramatische Arbeit von Karl Kraus: „Literatur, eine ‚Magische Operette‘“, in: ders., Dramen, Werke, Bd. 14, hrsg. von Heinrich Fischer, München/Wien 1967, S. 7–73. 67 Siehe Erbschaft dieser Zeit, Gesamtausgabe Bd. 4, S. 256 f. – Siehe die drei Repliken und Polemiken von 1937, 1938 und noch von 1940: S. 255–263 (Der Expressionismus, jetzt erblickt), S. 264–275 (Diskussionen über Expressionismus; hier namentlich über den literarischen mit den Stalinorthodoxen Leschnitzer, Kurella, Lukács) und S. 275–278 (Das Problem des Expressionismus nochmals). 68 Siehe l. c., S. 267–271. 69 Bloch verweist auf den „Nazi“, der sich, vor allem „in der Anfangszeit, expressionistische Literaturreste beibog oder Thing-Spiel-Industrie daraus machte“; l. c., S. 257. Siehe auch ibd. Arbeiten wie „Rauhnacht in Stadt und Land“, S. 52 ff., „Sachsen ohne Wald“, S. 49 ff., „Inventar des revolutionären Scheins“, 70 ff. u. a. – Siehe ferner Blochs Analysen des „Neuen Tanzes als ehemals expressionistischen“ und dessen vollständige Desavouierung im „außer Rand und Band geratenen Stumpfsinn“ der „Jazztänze seit 1930“ mit dem „ihm entsprechenden Gejaule“, sowie in der 66
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stilistisch-formative Faktizität. So jene gestischen Ausdrucksstereotypen, hier besonders des Zackigen, Stählernen, Blitz-, Spritz- und Schlagartigen; die szenisch-choreographischen Formfiguren der rhythmisch stampfenden und brüllenden, maschinenhaft rituell sich bewegenden Menschenmassen, -kaders und -gruppen; so auch die kitschbarocke Runen- und Totenkopfemblematik,70 mit welcher die Faschisten, selbst wenn sie inzwischen als die Kritiker und Verfolger des Expressionismus der Entartung – womöglich ganz ‚expressionistisch‘ – sich gerierten (man denke an die bizarre, eckige, zugleich schlag- und duckbereite BrüllGestik des Rhetorikers Hitler), noch lange Zeit Eindruck zu machen verstanden. Ihnen wie den stalinistischen Kritikern gegenüber drang Bloch bis zuletzt auf die wirkliche politische und gesellschaftliche Bedeutung des Expressionismus: seinen kosmischen und kosmopolitischen Revolutionarismus,71 seinen utopischen Anarchismus und apokalyptischen Utopismus, seinen Humanismus der Natur und Naturalismus des Menschen. Er war die große Kunst der Erweckung und Erschütterung, der Appellation und des prophetischen Rufs, der Evokation des Unerhörten und Nochniegesehenen. ‚aufrührerisch verwilderten‘ Körperbewegung, angedreht von neu-dionysischer Ideologie, die „zum Tanz der Mörder rief“, „für den am Ende selbst die Negerplastik nur ein Umweg zur blonden Bestie [...] zum nahen Blutsee des Faschismus“ war. Der „Expressionismus im Tanzbild“ ist hier der des „dämonischen Massenrauschs“, des atavistischen „kollektiven Ausbruchs“, der kein Ausdruck; keine „enthusiastische“, sondern eine ‚blutrünstig-dumpfe‘ Manifestation ist. Excessionismus ist nicht Expressionismus (Das Prinzip Hoffnung, Gesamtausgabe Bd. 5, S. 457, 462 und 1163). 70 Benjamin, der Geschichtsphilosoph des Barock, erblickte im zeitgenössischen Stil- und ModeExpressionismus nur versprengtes Barock – eine Art Schwundstufe des authentischen. 71 Bis 1922, bis zum Verbot der abstrakten Kunst durch die Bolschewiki, war Kandinsky (der nach Kriegsausbruch nach Moskau zurückgekehrt war) nach der Oktober-Revolution nacheinander künstlerisches Mitglied im revolutionären Volksaufklärungs-Kommissariat, Professor an den Moskauer Staatlichen Kunstwerkstätten, Reorganisator der russischen Museen und, seit 1921, Universitätsprofessor in Moskau (siehe Nina Kandinsky, l. c., S. 83–88). – Bis 1933, bis zur Auflösung des Bauhauses, erzwungen durch die Nationalsozialisten, war er – seit seiner Berufung nach Weimar durch Gropius 1922 und der Bildung der Gruppe der Blauen Vier (zusammen mit Klee, Feininger und Jawlenski), der Verlegung des Bauhauses nach Dessau 1925 und schließlich dem, wiederum unter nationalsozialistischem Druck erfolgten, Ausweichen der Bauhaus-Meister nach Berlin 1932 – Lehrer an dieser von Anfang an von Nationalisten und Faschisten gehassten Institution der Weimarer Republik. Kandinskys Entlassung in Berlin erfolgte unter dem Nazi-Verdikt: „Kandinsky muß raus, weil er uns als Geist gefährlich ist“ (cit. l. c., S. 150). – Diese beiden politischen Verdikte über Kandinsky’schen Expressionismus – das Moskauer und das Berliner Verbot – besagen alles über dessen wahren politischen Gehalt und umgekehrt über den menschheitsfeindlichen, antiinternationalistischen der parteipolitischen Machthaber.
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III ‚Alles transparent Geformte erlangt Bauhorizont wie Ornament seiner Entelechie: eine Spur, ein Zeichen des Makanthropos, ein Siegel seiner geheimen Figur‘72 Endlich ... Semantik der Sachen, der Weltsache selber. Bloch The human figures, who are left behind, living, dead, or halfdead ... it is uncertain whether they are the last of the living, waiting to be buried – or the first of the dead, awaiting resurrection. Eliel/Roters73
Blochs philosophische Theorie des Expressionismus erhellt diesen als Expressionismus des Subjekts wie als Expressionismus des Dings. Der subjektive wird uns vor Augen gebracht zum einen als der des künstlerischen Ausdrucks: das ist der Expressionismus – weniger eine neue Kunstrichtung, als die epochale Neue Kunst selber; der Expressionismus der Poiesis – und, zum andern, als der generellere des historischen, handelnden und leidenden, des arbeitenden Menschen; der kulturpraktische74 Expressionismus. Dessen Bedürfnis- und Wunschgestaltungen, den individuellen und kollektiven Werkformen, Massencharakteren und Charaktermasken, der ganzen Mannigfaltigkeit der projektiv-fetischistischen Subjekt-Materialisationen und wie Subjekte agierenden Fetische hat Bloch von Anfang seines Philosophierens an seinen ganzen detektorischhermeneutischen Spürsinn zugewandt. An ihnen hat er seine Dechiffrierund Deutekraft geübt, seiner Lesekunst und Entschlüsselung der Texte erster und zweiter Natur werden die frappantesten Aufhellungen, 72
Geist der Utopie, Gesamtausgabe Bd. 3, S. 47. The Apocalyptic Landscapes of Ludwig Meidner, l. c., S. 84. 74 Siehe die Einteilung der Sachkomplexe zu Beginn des vorliegenden Textes, hier in die der Abschnitte I und III, S. 129 f. 73
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Ausdruck
Lichtungen im Dickicht und enigmatischen Dunkel der Zeichen und Symbolgefüge verdankt. Blochs Zeichen- und Spurenkunde macht in der – in den systematischen Hauptschriften entwickelten – Lehre von den Realsymbolen und Realchiffren einen beträchtlichen, wenn nicht den beträchtlichsten Teil der Bloch’schen Philosophie aus. Er könnte als die Lehre von den Vergegenständlichungen, der Objektivation des Subjektiven, und von der vis genetrix, der Subjektivität des Objektiven, Gegenständlichen, bezeichnet werden – ob in ihrer latenten, gärend-treibenden, ob in ihrer manifesten, verdinglichten, der interioren Intensität gewissermaßen entfremdeten Form. Lehre von den Prozessfiguren könnte sie heißen – von den natur- und kulturgeschichtlich heraufkommenden, sich verwandelnden, wieder verschwindenden Gestalten und Charakteren, die nie nur in der Signatur, in Umriss und Lineament verschwimmende, sondern in den Metamorphosen hinreichend deutlich geprägte, struierte Figuren von längerer oder kürzerer Dauer sind. Studiert hat sie Bloch vor allem an den bedeutungsschwangeren Vergegenständlichungen des menschlichen Tuns und Verhaltens in der Zivilisation: an Mimik und Gestikulation, an Wortsprache und wortloser Sprache, an der Physiognomik der Züge, der Signa, der Schrift wie der Pathognomik des Affekthandelns und -leidens, der dramates, narrationes, praesentationes. In diesen theoretischen Eruierungen Blochs zeigt sich die ausdrucks-ästhetische Dominante seiner Prozessphilosophie so deutlich, wie sich die kulturphilosophische in den ästhetischen Intentionen und Reflexionen der führenden Expressionisten zeigt. Sie schießen – gleich charakteristisch für die expressionistische Philosophie Blochs wie für die kosmosophisch-gnostische Kunst des Blauen Reiter – zusammen. So heißt es (wie Vezin treffend akzentuiert:) „lapidar und poetisch“ in der Abhandlung Die Masken, die August Macke im Blauen Reiter-Almanach veröffentlichte: „Ein sonniger Tag, ein trüber Tag, ein Perserspeer, ein Weihgefäß, ein Heidenidol und Immortellenkranz“ – alle sind sie, in ihren verschiedenen Formen, nur Ausdruck des einen inneren Lebens. „Die Freuden, die Leiden des Menschen, der Völker stehen hinter den Inschriften, den Bildern, den Tempeln, den Domen und Masken, hinter den musikalischen Werken, den Schaustücken und Tänzen. Wo sie
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nicht dahinter stehen, wo Formen leer, grundlos gemacht werden, da ist auch nicht Kunst.“75 In eben dem Geist hat Bloch die Gehäuse und Häute, die Etuis und Verkleidungen, die Ornamentierungen und Selbstinszenierungen des historischen gesellschaftlichen Menschen studiert: von den Bauhüllen und -zelten, den Wohn-, den physischen (und psychischen) Verhaltens-Masken bis zu den Schmink-Lagen, dem face-styling, den Stigmatisierungen und dem tattoo. Alle Formationen und Stilisationen solcher Art sind nichts anderes als Exteriorisationen der „Kulturseele“, ihre physische, epochenspezifische Materialisation. In charakteristischen Prägungen drücken sich die innersten „Apriorien und Archetypen“ dieser – namentlich kollektiven76 – Kulturseele aus – ähnlich wie die entelechetischen Formen in der „Weltseele“ der Naturphilosophie. So die großen – „durchgreifenden“ – apriorischen „Werktypen“ des „ägyptischen Todeskristalls“ und des „gotischen Lebensbaums“ – den Bloch großartig noch aufragen sieht in der Gestalt lebendiger Türme wie des Marc’schen Turms der Blauen Pferde –; aber auch die zeitspezifischen wie die hedonischen des Rokokostils, oder des Werkarchetyps der technischen Moderne, deren „Werkwesen“ unter dem „Apriori der Maschinen-Ware“ steht und die dem Gestaltungsprinzip der „Abwaschbarkeit“77 gehorcht. Badewanne, Dusche, Wasserklosett (heute: die selbst vor den alten, den siechen, den toten Menschenleibern nicht mehr haltmachenden ‚Entsorgungs‘- und ‚Recycling‘-Maschinen), die betonierten, gekachelten Ess- und Schlaf-, Gebär- und Schlachtzellen sind hier die leittypischen Bau- und „Wohn“Gestalten. – Vorab an den gesellschaftlichen Menschen-Bildern und Mensch-Entwürfen hat Bloch die Bau-Gestalt des Menschen selber, sein „verstecktes Gesicht“ studiert und gesucht – an ihren Linien und Zügen den einmal offenbar werdenden, den „menschlichen Menschen“ entziffern wollen: sein „Wir-Gesicht“, die solidarische Menschheits-Förmigkeit, auf welche – defizienz- und entfremdungsinduziert – die monadischisolierte des gesellschaftlich gewordenen Subjekts zwingend hinzudeuten scheint. „Vorgeschienen“ haben mag sie in der sozialen „Christförmigkeit“ der Urkommune, aufgeschienen sein mag darin und in andern 75
Macke, cit. Vezin, Kandinsky und der Blaue Reiter, l. c., S. 159. Siehe etwa „Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter“ (Clemens Brentano). 77 Geist der Utopie, Gesamtausgabe Bd. 16, S. 21. 76
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geschichtlichen „Sozialutopien“ der Grundriss des „Neuen Jerusalem“, eschatologische Charta und Bauplatz des „Messianischen Reiches“, „Reichs der Freiheit“ selber.78 Intensiv wie dem Expressionismus des Subjekts hat Bloch dem des Objekts sich zugewandt: dem Studium und der Charakteristik des „Selbst-Ausdrucks“ der Dinge, der kosmischen und natürlichen wie der historisch-sozialen. Dabei hat er Studium und Analyse gerade der Selbst-Expressivität erster und zweiter Natur – vor allem in den Naturund Geschichtszeit-Gestalten und in den Kultur- und Naturlandschaftsbildern79 mit ihrer hochmannigfaltigen und reichqualifizierenden Entelechie-Archetypik – in Eruierungs- und Darstellungsformen manifestiert, die weit über die methodisch-rationalen hinaus – besser: durch sie hindurch – in den methodischen Sachgrund selber hinunter getrieben sind. In diesem Gebiet detektorischer Investigation ist es, wo Blochs Philosophie des Expressionismus sich als expressionistische Philosophie zeigt. Seine Ergründungs- und Denkgestik, die begriffliche und sprachliche Artikulation, die Darstellung des Denkens und der Ausdruck des Gedachten – sie werden selber expressionistisch.80 Bloch lässt hier die Erkenntnis der Sachen von der Anmessung des ‚expressiven‘ Subjekts – des Künstler-Denkers, gnostischen Poieten – an die ‚Expression‘ der Dinge profitieren – und umgekehrt die erkannten Sachen davon, dass die expressiv-poietische Gnostik sie ausdrücken, sagen und künden lässt, was sie von sich aus sagen und sein wollen. So lässt er uns der Zeit ins Antlitz ihrer wechselnden Züge blicken: ins ‚morgenländisch blühende‘, in das der ‚Maibaumzeit des Menschheitsfrühlings‘, ins Antlitz von ‚Pestzeit‘ – neronisch-römischer und nazigermanischer –, ins ‚leichenstarre‘ aber auch ‚apokalyptisch flammende‘ Antlitz von Endzeiten, und er lässt sie uns aus ihrem Antlitz entgegen78 In Thomas Münzer als Theologe der Revolution spricht Bloch vom utopisch ausstehenden „Universalreich Christi“, sogar – ganz in Münzer’schem Geist – als von einer „über die Welt hin explosiven Wiederkehr des Himmlischen Jerusalem“ (Gesamtausgabe Bd. 2, S. 173). 79 Siehe vor allem Ernst Bloch: „Geographica“ (= Verfremdungen II), in: ders., Literarische Aufsätze, Gesamtausgabe Bd. 9, S. 401 ff. 80 Scil. „ausdruckshaft“ im sprachlichen Sinn poetisch-tropischer Rhetorik, im musikalischen Sinn von Ton, Ruf, Gebet und im graphisch-malerischen Sinn von Ornament, Lineatur, Vision (vorab eschatologischer); zu „Blochs genuinem Expressionismus“ siehe Hans Mayer: „Ernst Bloch, Utopie, Literatur“, in: Ernst Blochs Wirkung, l. c., S. 237–250 (S. 247).
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blicken, anflammen, anhauchen – sei’s aurorisch miterröten, mitglühen, oder aber medusisch erstarren und versteinen. – In der Zeit der Arbeit – und Umarbeit – am Geist der Utopie gibt Bloch die hochexpressive Charakteristik der ‚Münzer-Zeit‘. Da „springt ein Quell von Feuer empor“81 – ein Quell; also eine vulkanische Eruption von Feuer, kein jäh aufflammendes, jäh erloschenes Strohfeuer ist bedeutet: die revolutionäre Flamme aus dem Grund, nicht die pseudorevolutionäre aus Strohballen, gar Strohköpfen. „Wir kommen um“, rufen die unterliegenden Bauern und Knechte, „überrascht uns die Nacht fern der Herberge.“ Weit weg von Heimat und Heil müssten wir sterben, im Elend, in der Fremde. Das ist die Welt des Unfried, des Regiments der Schinder und Schaber, der Wucherer und Zinser, die den Tempel beschmutzen, den heiligen, und den Naturboden schänden. Im „falschen Rasen, in der falschen Ruhe des Fleisches“ der geschändeten Erde wollen wir nicht ‚erlöschen‘, ‚wir ziehen weiter‘, „roh und dunkel fahren wir dahin“, im Drang, „die Fackel des Leids auf alle Dächer und sperrenden Gehöfte zu werfen“82 . – Münzer hat „alten ketzerischen Subjektivismus vor den Toren einer neuen Zeit entfesselt – und von hier schlug Erregung weiter, brach vor in der spanischen Mystik, im Espressivo des Barock, schien [...] durch in [...] den seelisch-religiösen Aufwühlungen der Romantik“. Münzer setzte „mit dem Spiritualismus“ zugleich „den Halt gegen all dies grenzenlos Expressive in dessen Kern selber, in gelebte, begriffene praxis Christianismi und in ein apokalyptisches Eingedenken.“83 Prägnant ist von Bloch die objektive Expressivität in der subjektiven getroffen. Expressionismus dieses Sinnes ist ekstatisch zugleich und inständig. Genau um dieses Momentes willen steht ihm der Expressionismus des Blauen Reiter höher im Rang als der der Brücke: die Brücke überbrückt, der Reiter schnellt empor und reißt die Tiefe über dem Abgrund auf – die blaue, die engel- und georgsblaue, die Gott-blaue, wie Kandinsky sie malte, Lasker-Schüler sie sang; die über dem Abgrund, aus dem Dampf und Geifer des apokalyptischen Drachens dringen. „Niemals [...] wäre über uns die Welt so dunkel, stünde nicht absoluter Sturm, zentrales Licht“ wie auf einem El Grecobild „allerunmittelbarst bevor [...]; nur noch hinter einer dünnen, knisternden Mauer ist der innerste Na81
Thomas Münzer als Theologe der Revolution, Gesamtausgabe Bd. 2, S. 182. L. c., S. 183. 83 L. c., S. 207 f. 82
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me verborgen: Prinzessin Sabbat“84. An den Zügen dieses Namens liest – wie Heinrich Heine,85 wie Else Lasker-Schüler – Bloch die Züge apokalyptischer Geschichtszeit ab. Gerade an deren Verzeichnung, chaotischen Verworrenheit treten sie „bis zur Kenntlichkeit“ hervor. Ekstatischer Klang, „Hochklang“ und „Inständigkeit“ werden vernehmlich auch durchs Antlitz der kosmischen Natur hindurch – durch die persona der unpersönlichen. Das Spüren, Vernehmen des Innestehens, Ineinander-Stehens von ‚Nah und Fern‘, ‚Erdgrün und Hausbraun‘, von Fernblau und Sonnenglut stellt Bloch an der Physiognomie „taohaft“ befriedeter Natur dar – an der schweizerischer, süddeutscher Landschaften. Es zeigen sich an ihnen und in ihnen – und die Bloch’sche Sprache zeigt auf und macht erklingen – die Figuren des Einklangs von Innen und Außen, des Einstehens des Tages im Haus. Wie sein Licht, die Wärme eingefügt, hergelagert ist ins Haus, so das Wohnliche, Einheimische des Hauses86 in die Wiesenpolster, die Talmulden, die Bachbetten, die moosigen Lager bei Busch und Baum. Es ist der Einstand von Blau und Grün, von Gelb-Rot-Braun und Blau, wie ihn malerisch Münter und Kandinsky in den Murnauer Bildern ausdrückten, wie ihn – als Tao-Archetyp – Volkslied und Volkskunst bis in die Gegenwart bewahrten. – Wie der ‚Tag im Haus‘ das ‚bäuerliche Tao‘ ausdrückt, so das Haus im Tag, die Höhle im Tag den archaischen ‚Cavernen-Archetyp‘. Bloch hat ihn an den Hades-, den limbushaften Naturphysiognomien südeuropäischer Landschaften abgelesen und im Naturbild etwa der stygischen Sumpfkaverne im Dämmern des anbrechenden Tages beklemmend nachgemalt. Den Anblick erlebte der Berichtende an einem anbrechenden Sommermorgen, an der süditalienischen Mittelmeerküste. „Im Raum war die Stimmung eines“ dumpfen „Zimmers [...]. Eine lange Wolkenbank lag über dem Meer [...], sehr flach, machte den Raum noch niederer und gleichsam gepolstert.“ „Der Zeuge wurde zum Glied eines namenlosen Organismus; er fühlte sich wie im Inneren eines Tierleibes, eines Welt-Tier-Körpers mit Jupiter“ – sol – „als seinem Innenauge. Hier gab es nur Interieur und keine Schauseite, nur [...] Eingeweide, aber keine Bewohner [...]. 84
L. c., S. 228. Siehe Heinrich Heine: „Prinzessin Sabbat“, in: Heines Werke in fünf Bänden, Bd. 1: Gedichte, Berlin u. Weimar 1981, S. 291–296. 86 Spuren, Gesamtausgabe Bd. 1, S. 162 f. (Das Haus des Tags). 85
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Man fühlte sich von den Säften eines Totems genährt, durchströmt, gebannt“87 . Es war das Bild einer urzeitlichen Frühe, die uns „auslöscht und keines Menschen Freund ist“. Und es war das Bewusstsein von etwas ‚äußerst Trübem‘, „sozusagen kopfloses Bewußtsein, schlechthin atavistisch determiniert.“88 Die Natur zeigt kein Subjekt-Gesicht, und wenn überhaupt, ein Ungesicht, ein chthonisch zerlaufendes, ganz menschenfernes. – Wenn dann das trübe Jupiterauge – „einziger Stern an der milchigen Haut“; ein Ekzem – durchs Höhlendämmer bricht, der Tag brennend sich erhebt, zeigt sich die Landschaft kraterartig, „höher gewölbt“ und wie ‚ausgestrahlt‘89: mit infernalischen Zügen eher als mit paradiesischen. Oder Bloch liest die Züge in der Physiognomie der Stadtlandschaft – den Ausdruck des jüngsten „Natur-Geschichtlichen“, naturwüchsiger Kulturgesellschaft, neolithischer Moderne. ‚Die Steine unter sich‘. Das Bild ist musivische „Montage eines“ großstädtischen „Februarabends. – Vor der Türe geht es schneidend her. Menschenleer die Straße im Frost, die Steine sind unter sich. Passen gut in die Kälte, auch die kreischenden Schienen. [...] die Bäume noch einmal so kahl [...]. Je neuer die Straßen, desto besser verstehen sie, doppelt kalt zu wirken. Der Atem raucht darin als fremde Fahne“90 – Standarte der Entfremdung, aufgepflanzt im Riesensteinbruch der Großstadt. „Eisviolinen oben spielen einen neuen Ton an“, einen klirrenden, „die Wolken sind Blumentiere aus dem Meeresgrund“, so, wie Klee sie gemalt hat. „Der Tod ist von türkisgrüner Helle.“ Solches „Ineinander eines [...] Abends ist Montage, Nahes trennend, Fernstes zusammenbringend, wie das auf Bildern von der Art Max Ernsts oder auch Chiricos so sehr gesteigert ist. Das Verspellte in den Dingen liegt durchaus objektiv vor“. So haben es auch die Bilder Chagalls erfasst, auf denen die Dinge und Figuren umeinanderwirbeln oder ineinander verschachtelt sind. „Der Sinn dafür ist erst jetzt erwacht, durch das soziale Erdbeben vermittelt“91 . 87
L. c., 164. L. c., S. 165. 89 L. c., S. 164 f. 90 L. c., S. 165 (Montagen eines Februarabends). 91 L. c., S. 167 – Zum Bildtypus des Zerrütteten, der verrutschten Perspektiven und des IneinanderVerschachteltseins der Dimensionen, im Sinn auch ihres Ineinander-Hineinragens, -Stehens und Interpenetrierens siehe etwa Delaunays ‚Marsfeld (roter Turm)‘ oder Meidners ‚Eckhaus‘, Boccionis 88
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Es hat früh schon die Züge im Antlitz dieses – des zwanzigsten – Jahrhunderts zerrüttet. ‚Zerstückelt‘92 wirken sie, verrutscht, verzerrt wie die grimassierenden Züge von Gequälten, Verstümmelten, Zerschnittenen auf kubistischen, fauvistischen, auf Ensor-Monk-Nolde’schen Portraits – Fratzenbildungen wie die Rüttelfiguren eines sozialen Kaleidoskops. Sie zeigen sich im zersplitterten Menschengesicht – Feininger, die Futuristen haben es festgehalten – ebenso wie im teigigen, äschernen, erdigen „Ohnekopf“ Natur,93 deren Konturen durchaus mit denen der naturwüchsigen Gesellschaft verschwimmen; des „Ohnekopf“, wie ihn die Maler der apokalyptischen Land- und Stadtlandschaften fixierten. Fixierten mitten im Beben: die seismischen Wellen haben zuerst das hochreagible Sensorium der expressionistischen Künstler erreicht. In der Vibration, dem Oszillieren, der Interferenz der Sprengwellen, die ihre Schöpfungen – die Marc’schen wie die Kandinsky’schen, die Schönberg’schen wie die Macke’schen, die Meidner’schen wie die Klee’schen; die Lasker’schen wie die Kraus’schen – zurückwerfen: erst protokollieren, dann reflektieren;94 in ihnen bilden sich die Figuren des apokalyptischen Schalls, der berstenden Gefüge und Lineamente, der Lautschrift des richtenden und des verheißenden Worts. Gelesen, gespürt und vernommen hat Bloch diese Zeichen mit der gleichen Sensibilität für die Dinge der gewesenen, der seienden, der kommenden Welt wie die expressionistischen Künstler, und das Vernommene hat er dargestellt als ihr gnostischer Confrater.
‚Strenghts of a Street‘ und ‚The Street enters the House‘ oder den architektonischen Passagen-Typus, die „rues-galeries“, die das Interieur zum Exterieur, die Straße zum Zimmer, zum Bazar machen (dazu Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, in: ders., Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I–VII, Frankfurt am Main 1972–1989, Band V, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1982, S. 83–109 [Passagen, magasins de nouveauté, calicots] und passim; die Abbildungen der Gemälde siehe Eliel, l. c., S. 45, 20, 37, 82). 92 Spuren, Gesamtausgabe Bd. 1, S. 166; „Eiskalt [...] die Polarnacht“, ihr „Gebiß frißt die Wolken (die Blumentiere aus dem Meergrund) und das Weib im Monde auf.“ 93 Bloch, Experimentum Mundi, Gesamtausgabe Bd. 15, S. 214 ff. 94 Adorno sprach vom Expressionismus als Kunst „seismographischer Aufzeichnung“, den Schönberg’schen Expressionismus charakterisierte er als „protokollarische Musik“; die Seismographie ist dabei grundsätzlich ‚Pathographie‘. Siehe ders., Philosophie der neuen Musik, l. c., S. 47.
Bemerkungen zur Bedeutung ausdruckstheoretischer und kulturphysiognomischer Studien für eine interdisziplinäre Kulturwissenschaft Eine Skizze Karl Clausberg zum 65. Geburtstag in herzlicher Verbundenheit
Ich beginne mit (I) einigen epistemologischen Anmerkungen zum Status einer „naturwüchsigen“ und einer reflektierten Physiognomik, um dann (II) an charakteristischen Exempeln beider (III) ihre historische Bezogenheit aufeinander (oder ihre wechselweise Exklusion voneinander) kurz zu erörtern.
I Die Befassung mit Ausdrucksphänomenen (physischer, psychischer, noetischer – naturaler und culturaler Art) hat einen höchst unsicheren epistemischen Status. Ausdrucksforschung und Ausdrucksdeutung schwanken zwischen dem Rang einer Wissenschaft, einer (philosophisch begründeten) Theorie und dem bloßer „Volksweisheit“; einer Verkündung und Geltendmachung natürlich-verständigen bloßen Meinens; vager Konjekturen und von Bekundungen des gegenteiligen Doxa-Extrems schwärmerischen, prophetisch-orakelnden Meinens und Vermeinens. Auf lange geschichtliche Strecken laufen „naturwüchsige“ physiognomische ‚Popu© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_10
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larwissenschaft‘ einerseits, andererseits Ausdruckskunde und -theorie als Ausdruckslehre, theoretisch-philosophisch reflektiert und legitimiert: also als Wissenschaft nicht natürlicher, sondern rationaler Einstellung auf den universalen Welt-Horizont parallel, gelegentlich sich tangierend und überkreuzend, nebeneinander her. Darüber belehren die großen historischen Konflikte älterer und vor allem neuerer Perioden vielleicht drastischer, als die jeweils irrationalen oder rationalen Grunddogmen und doxai, die Glaubens- oder Wissens-Axiome und Grundbegriffe, die Termini selber. Lassen Sie mich einige dieser Konflikte zwischen Wähnen und Wissen hinsichtlich von Ausdrucksphänomenen und ihrer Deutung nennen – Konflikten also zwischen rationalen Beobachtungshaltungen und orakelnden, ‚schwärmenden‘ oder schlicht ignoranten Deutungs- und Interpretationshaltungen: (A) So den Konflikt zwischen Platonikern und Sophisten hinsichtlich der Redezeichen: ihr Vorwurf verführenden und korrumpierenden Missbrauchs von Sprache und Wörtern, die in ihrem rationalen und substanziellen Bedeutungsgehalt (lógos- und Ideengehalt) verkannt oder willkürlich verfälscht wurden in Manipulation der Rede über Sachen und Bedeutungen durch ‚sophistische‘, rhetorische semantische Tricks: die sophistische ‚rhetorische‘ Bedeutungsfälschung muss im Namen des órthos lógos – des rechten Namens – von allen klardenkenden und verantwortlich die Sprache gebrauchenden Subjekten (am meisten den professionellen Sprechern und Rednern, namentlich den ‚Agitatoren‘) bekämpft werden. Es handelt sich um einen der ältesten Konflikte der Physiognomiker und Semiotiker, der wie kaum einer höchst aktuell geblieben ist. Denken Sie an den semantischen und rhetorischen Ausdrucksschwindel in Politik und Wirtschaft von heute. (B) Ein anderer epochaler Konflikt ist der zwischen den „visionären“ Physiognomikern und Zeichendeutern von der Art der Rosencruciani und ‚verwilderten Brunisten‘ mit dem Verfechter und Inauguratoren der streng und akribisch „beobachtenden Vernunft“, also des philosophischen Empirismus (wie Hegel ihn nannte), des großen Diagnostikers und Charakteristikers Bacon, der sich hundert Jahre später wiederholt
Bedeutung ausdruckstheoretischer und kulturphysiognomischer Studien
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(oder fortsetzt) im Konflikt zwischen „Geistersehern“ wie Swedenborg und dem Aufklärer Kant. – Dieser Konflikt hat viele Varianten bis heute und hat zum Gegenstand die optischen Zeichen; oder die Zeichen stummer Sprachen; der Sprachart der „Schriftzeichen an der Wand“ (etwa des Belsazar’schen Palastes); oder der Körpergesten, auch der Tischrückerei; oder heute der Sprachart der anonymen Texte von genetischen „Codes“ (deren Autor kein Mensch kennt). (C) Was den Konflikt der Bild- und Schriftzeichendeuter in unserer Epoche – neben dem der Redezeichendeuter – angeht, so haben wir ihn in der charakteristischen Gestalt zwischen den Irrationalisten mit ihrer Auffassung von den Bildern als Ausdruck von Seelen (Klages), auch Kulturseelen (Spengler u. a.), oder als Werken im Sinne von GenieSymptomen (Croce) auf der einen Seite, und den behavioristischen und feldtheoretischen Symbol- und Darstellungstheoretikern auf der anderen – den extrem nominalistischen Behavioristen von der darwinistischpawlowschen Art bis zu den gnoseologisch-kulturphysiognomischen ‚Verhaltens‘-Theoretikern von der Art der Uexküll, Cassirer, William Stern, vor allem der Wiener (Riegl- und Freud- bzw. Bühler-)Schule und der Hamburger (Warburg-)Schule; jenen sind die Bilder eruptive Geniewerke, diesen wohlkalkulierte: komponierte, gefügte, formierte Synthese-Gebilde, gestaltet aus vielen heterogenen und homogenen Elementen: Schöpfungen der Darstellung und Repräsentation – Monaden und Kunst-(Kultur-)Symbole. (D) In diesem Konflikt stehen wir heute hinsichtlich der Bildsemiotik ähnlich wie hinsichtlich der Sprachsemiotik, der Physiognomik der sensuellen und der noetischen Ausdrucksgestalten, Ausdrucksbilder und Ausdruckssymbole – Zeichen also der „Evidenzen und der Bedeutungen“ (wie Husserl sie nennt). Zugleich aber ist auch erst in dieser neuzeitlichen und modernen Epoche die Berührung und Überschneidung der Konfliktlinien zwischen Zeichen‚schwärmerei‘ und -‚orakelei‘ einerseits und strenger beobachtender Forschung und Deutung andererseits deutlich geworden: im interdisziplinären Arbeiten an der Integration der Ausdrucksforschungen und -gebiete – was selber ein adäquater Episteme-Ausdruck der bestehenden desintegralen-integralen Ausdrucksphänomene ist oder einem
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solchen sich nähert. Die Ausdruckswissenschaft und Ausdruckstheorie ist also gerade in dieser Zeit auf dem Wege dazu, ein integraler Teil einer integrierten Kulturwissenschaft zu werden: das heißt einer, die (wie Bernhard Waldenfelds kürzlich hier ausführte) Kultur selbst als einen Synthesebestand aus Natürlichkeit (‚Subjektivität‘, Innerlichkeit) und Künstlichkeit (‚Objektivität‘ der Bewegung und des Verhaltens der Subjekte und Objekte in der räumlichen und zeitlichen Extension; des Seins „en situation“, in situ) in der Vermittlung, der wechselweisen Durchdringung, scil. Gestaltung durch einander, also in der differenten Einheit dessen, was wir einen Kulturzustand nennen, begreift und analysiert und mit fördert.
II Nachdem dessen Konturen einigermaßen deutlich geworden sein mögen, lassen Sie mich an Beispielen sowohl der Popularphysiognomik wie der epistemisch-theoretischen Physiognomik die Hauptcharaktere der Ausdrucksphänomene ihrer Erforschung und ihrer Deutung ein wenig näher vor Augen bringen: vor die sinnlichen und die geistigen Augen – eher die geistigen, denn die Theoretiker müssen mehr auf die intellektive Imagination in der Einbildungskraft bei ihren Zuhörern vertrauen, als dies bei den Bildwissenschaftlern mit ihrem stets reichen sinnlichen Anschauungsmaterial nötig wäre. (A) Zunächst Exempel der Allerweltsphysiognomik: Ausdrucksphänomene – so ihr Hauptsatz – sind zu deutende Zeichen. Was aber die Deutung von Zeichen so enorm schwierig macht, ist, dass der Zusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem (der Bedeutung) selber höchst unsicher ist. Denn die Bedeutung, das was das Zeichen bezeichnet, ist kein palpabel Dingliches, mit Messungs- und Begrenzungsverfahren distinkt zu Greifendes: sie ist ihrerseits Zeichen eines Dings, einer Sache. Ein Zeichen bezeichnet eine Bedeutung, und eine Bedeutung bezeichnet eine Sache, und die ist angesichts dieses doppelten Modus einer Verschiebung, „Verschrägung“, eines oblique-Seins (also seiner Reflexivität, Brechung), Brechung, die, wie das optische Phänomen lehrt: die bedeutete, bezeich
[Im Rahmen der Vortragsreihe „Beiträge zur Kulturtheorie“ an der Universität Lüneburg im Sommersemester 2000.]
Bedeutung ausdruckstheoretischer und kulturphysiognomischer Studien
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nete Sache tatsächlich bricht, herausbricht (aus dem Spektrum), abknickt, abbiegt (– den Stock im Wasser, das Licht an der Wand –), selbst eine ‚gebrochene‘. Die Phänomene sind Brüche, „Quotienten“ – wie Schelling sagte – des ungebrochenen Seins, des „Absoluten“, der Indifferenz (etwa des „Weiß“ der Chromatik). (Die Wissenschaft davon nennt Hegel „Logik der Reflexion, des Wesens“.) Wir können also niemals ‚richtig‘, modo adaequato deuten: denn es gibt kein Äquivalent, keine ‚Symmetrie‘ von Zeichen und Bedeutung, von Bedeutung und bedeuteter Sache (nicht einmal beim Spiegel, der seine Abbilder seitenverkehrt darbietet). Deshalb ist das Deute-Geschäft so unendlich schwierig und von beiden Seiten belastet: von der des gebrochenen Phänomens und der des ihm sich nähernden konjicierenden („kalibrierenden“) Verfahrens, das ihm gerecht zu werden sucht. Das Zeichen ist der Sache bloß supponiert (suppositio intellectus, terminorum pro re: so seit Occam). – Davon zeugt nun zunächst die Popularphysiognomik mit ihren vielen falschen Schlüssen, den Schlüssen vom Zeichen (Bild, Zeichenfigur) auf den Zeichenproduzenten, den Sach- (oder Person- oder auch impersonalen) Grund des Zeichens: des Symptoms (der Spur), des Codezeichens (Signals), des Symbols auf deren jeweiligen auctor, Urheber, Verursacher (auch das „Es“ etwa in dem Syntagma „es regnet“ oder in dem existentialen ontischen „es gibt“). So schließen wir etwa: A ist verwachsen, krumm und schief: also ist der „Baum“ an dem „diese Frucht“ wuchs, selbst ein Krüppelwesen, ein Misswuchs-Generator – und man muss diese Pflanze ausreuten aus dem Bestand der geradewachsenden Bäume, die gute Frucht tragen. So schließt der Züchter vom Äußeren auf das Innere, von der ‚Frucht‘ aufs Wesen, die Qualität, den Charakter des ‚Stamms‘, dem sie entspross. Dass dieser Charakter, das Innere, aber nicht das starre, bleibende, im Wechsel der Zustände sich nicht verändernde Wesen – die Substanz der Sache – ist, sondern Folge von Kraftwirkungen, die von Außen erfolgen, akzidentell, ‚zufällig‘ geschehen, kommt dem Physiognomisten nicht in den Sinn, oder er leugnet es (als ‚materialistisch profan‘ oder ‚pedester‘, oder, wie etwa aus religiösen Gründen, Lavater, der auf seine Art begabte theologische Physiognomist aus philanthropischer Berufung) ab. „Wir bedanken uns für seine ‚transzendente Ventriloquenz‘“, ruft Lichtenberg aus und empfiehlt, Gesichtsdeutern von der Art Lavaters den Gegenbeweis: dass nämlich ein verwegen aussehender, unschöner, physisch
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missratener Mann kein anständiger Kerl unter der hässlichen Schale sein könne – vermittels einer schallenden Ohrfeige zu führen. Denn rational ist er nicht zu überzeugen. Hegel, der mit Nachdruck für das Erkenntnisund Deuteverfahren der streng und genau „beobachtenden Vernunft“ eintritt, pflichtet Lichtenberg bei und schlägt eine proportionierte Variante des Gegenbeweises im Falle eines phrenologischen ‚Schwärmers‘ – eines Schädelform-Deuters von der Art Galls – vor (also eines, der an der Schädelform abzulesen glaubt, wes Geistes der Träger des Kopfes ist); dass man nämlich diesem Phrenologen, der den Geist, das Bewegende und eigentlich Belebende des spontanen und dergestalt unendlich reagiblen Wesens Mensch „auf einen Knochen zurückführen will“, kräftig auf den Kopf haut (doch aber nicht so weit geht, wie der Philosoph der unbedingten geistigen Autonomie und absoluten Spontaneität – nämlich Fichte –, der postulierte, die Juden von der Judenheit – ihrem angeblich schlechten Wesen – dadurch zu emanzipieren, dass man ihnen den Kopf abschlägt und einen andern aufsetzt; womit etwas vom Heillosen wissenschaftlicher, aufgeklärter Vernunft vorweggenommen ist, das in solchen Vorhaben kulminiert wie der Auswechselung von nicht erwünschtem „Gen-Material“ durch erwünschtes, das den brauchbaren, neu „montierten“, neuen, angeblich „konstruierten“ Menschen garantiere). (B) Soviel vom Schluss vom Außen aufs Innere; eine andere Art des deutenden Schließens ist die vom Innern aufs Äußere. Eine seiner prominentesten Formen ist der physiko-theologische Schluss, den sogar der strenge Kant innerhalb bestimmter Grenzen zulässt (aus guten analogischen Gründen, wie sie die Hauptstütze einer vertretbaren Physiognomik abgeben können). Der Schöpfer der Welt ist gut, weise, vernünftig wägend und voraussehend: der Allgerechte; daher, wenn Gott ist – und das steht außer Zweifel –, ist auch seine Schöpfung – die notwendige Folge seines Seins – gut, wohlgeordnet und zweckmäßig erschaffen. – Es ist der Schluss der (deistischen) Rationalisten von der zentralen Geist- und Kraft-Monade auf Beschaffenheit und die unendliche Fülle und Relation aller übrigen peripheren Monaden in der Welt (die aus ihnen ‚zusammengesetzt‘ ist): sie sind so qualifiziert, dass die Grade oder Stufen ihrer Wohlschaffenheit dergestalt proportioniert sind, dass Harmonie, Ausgewogenheit sich ergibt (in jeder einzelnen von ihnen und in deren Ver-
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hältnis zu allen andern), dass man von ihrer vollintegralen Anordnung sprechen muss: die Schöpfung Gottes als eine wohlgeordnete Welt spiegelt den Schöpfer und seinen Geist – wenn auch in jeder Monade jeweils perspektivisch wider. – „Du begehst einen skandalösen Fehlschluss vom allwaltenden göttlichen Geist auf eine von ihm durchwaltete und gestaltete natürliche Welt, die die beste aller möglichen sei. Wie aber ist das vereinbar mit der Erdbebenkatastrophe von Lissabon (1755)?“ fragt der empörte Voltaire den optimistischen Deisten, „vereinbar mit all dem Widersinnigen, Bösen, Gemeinen und Hässlichen in der Welt?“ – „Zeugt das nicht vielmehr von einem bösen Dämon, ja Teufel?“ gibt Schopenhauer zu bedenken; „Von einer Kraft, einer Gewalt, Übergewalt! ja – ohne Zweifel –, doch keiner vernünftigen, nach moralischen, vernünftigen Ideen providentiellen“, wie Hegel überzeugt ist – und vor ihm Vico –, der im Weltprozess die vorhersehende vorordnende Kraft des Geistes Gottes walten und sich manifestieren sieht. Diese Kraft ist „Weltseele“, „Weltgeist“ (eine Art Kollektiv- oder Universalsubjekt) – so der den Charakter deutende Namen Gottes bei diesen rationalen und metaphysischen Physiognomisten, also solchen der Natur und Geschichte „beobachtenden“, erspürenden Vernunft, die sicher sind, die Vernunft im Beobachteten, vor allem im historisch Erfahrenen; im Erinnerten, in den Weltaltern des Mythos, der Kultur und Zivilisation aufweisen zu können. – Die Materialisten nennen sie „Idealisten“ im verächtlichen Sinn, so wie die Physiologen, die natur- und geschichtswissenschaftlichen Forscher von den Idealisten und Noologen verächtlich „die Materialisten“ genannt werden. – Wir sehen an dieser Stelle deutlich, dass eine epistemisch und theoretisch haltbare Physiognomik und Deutewissenschaft eine sein muss, die der Vermittlung von Geist und Materie, von Materie und Formkraft, von Subjektivismus und Objektivismus nachgehen muss (die von der Sache geforderte Aufgabe, wie sie einer spekulativ-empirischen Philosophie und einer den spekulativen Problemen offenen empirischen Wissenschaft gestellt ist). (C) Soviel zu den Schlüssen von Innen aufs Äußere, die die von Außen aufs Innen nach sich ziehen: sie führen zu stets diffizileren und subtileren Conjecturen, Interpolationen („Kalibrierungen“) zwischen Geist und Materie – zu den im strengen (nicht im sophistischen) Sinn dialekti-
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schen Schlüssen –, den charakteristischen Formen der Analogieschlüsse, nach denen sowohl Popularphysiognomik wie namentlich epistemisch legitimierte Deutungswissenschaft verfährt; mehr unbewusst (sinnlichnon-intelligendo) jene, mehr bewusst (logisch-intelligendo) diese. Zu ihren großen Entdeckern zählen im Altertum Aristoteles (Topik/Sophistik) im Organon, in der Neuzeit die Inauguratoren einer Neuen Wissenschaft, Schöpfer eines Novum Organon wie namentlich Vico und Bacon. Sie haben sie erforscht und entdeckt (in den Natur- und Kulturdimensionen der geschichtlichen Welt) und sie auf den Begriff gebracht: das Erforschte also auch triftig gedeutet. Davon einige charakteristische Beispiele: poietischer (tropischer, rhetorischer) und logischer Deuteschlüsse und Formen. – Die Sprache redet in ihren Worten (begrifflich: das heißt in Bedeutungen), und die Sprache zeigt und zeichnet (malt: in Bildern, Gesten, Schriftzügen etc.): sie spricht in Rede- oder Begriffszeichen, die vernommen, das heißt in ihrem Vernunftsinn, ihrer Logizität aufgenommen, verstanden sein wollen. Daher „logische“ Zeichen. Die Zeichen der stummen Sprachen wollen gesehen, gelesen: als Sinn-„Bilder“, Denk-„Bilder“ aufgefasst werden. Beide Sprachzeichen haben einen verschiedenen Sinn-„Einschlag“ oder -„grad“: Bildsinn-Zeichen haben logisch einen definitorischen: begrenzenden, limitierenden, terminierenden Charakter, sind also in der anschaulichen (optisch-taktilen, auch imaginativen) Raum- und Zeitdimension wirksame Zeichen (und haben Anzeige-, Verweisungs-, Perspektiv-, Aspekt-Charakter); während Begriffssinn-Zeichen mehr einen gradativ-intern-differenzierenden oder genetisch-herleitenden: herausleitenden, eduktiv-deduktiven Charakter aufweisen. Begriffs-Zeichen und Bild-Zeichen liegen wie auf einer Skala zwischen reiner begriffsloser Anschaulichkeit am einen Ende und reiner bildlicher Begrifflichkeit am andern Ende – also als Minima und Maxima: reine Sensualität, Sinnlichkeit ist Maximum an Anschaulichkeit und zugleich Minimum an Begrifflichkeit. Nun müssen aber empirische Begriffe immer mit anschaulichem Gehalt erfüllt sein, sollen sie nicht „leere“ bleiben, und Anschauungen dürfen nicht begriffslose (scil. unbegriffene, ‚ungelesene‘) bleiben – wie Kant lehrte –, wenn sie nicht „blinde“ sein sollen (bloße „ungedeutete“ oder nichts (anderes als sich selbst) bedeutende Farbflecken oder Tongeräusche; ‚Rauschen‘, auch leerer Begriffsnebel,
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‚Begriffsgespenster‘). Tatsächlich aber steht logisches „Formales“ mit Anschaulichem („Sinnlich-Materialem“) in bestimmter Proportion: Bilder, Anschauungen sind mehr oder weniger deutlich geformt, strukturiert, sequenziert; und Formen, Strukturen, Figuren mehr oder weniger spürbar materiell, bildlich figürlich (ornamental). Die Proportionalität in der Korrelation des bildlichen und des ‚logischen‘ Zeichenelements findet einen eigenen Ausdruck in der Metapher – einem zu einem Ausdruck geeigneten sprachlichen Erfassen des Verhältnisses von verschiedenen Sachen (wie Aristoteles in der Rhetorik sagt), einem also in Bildbegriffen oder Begriffsbildern. Ihrer räumlichen Skalenstruktur entspricht eine interne temporale: die eines Prozessverlaufs (Geschichtsverlaufs). Zufolge der Hauptthese der alten Physiognomiker weisen topische und tropische, logische und rhetorische Ausdrücke und Zeichen wesentlich – gradatim gefasste – interne Struktur auf, nach der der Physiognomiker der Neuen und Neuesten Scientia haben sie extensiv-raumzeitliche Struktur: die ‚historische‘ der Metaphern, in ihrer Vermittlung mit spatialen (vgl. die „strukturalistische“ Synchronie und Diachronie). So arbeitete Vico die synekdochische Fügungs- und GestaltungsStruktur der frühesten Menschensprachen, ihrer Wortbilder und Bildbegriffe heraus – und mit ihr die der „Erschaffung“ des Menschen und seiner selbst (homo non intelligendo fit omnia und intelligendo fit omnia) und erkennt in ihr eine einzige „Poesie“, die nach bestimmten Regeln laut- und zeichenbildlicher Fügung „dichtet“, „fügt“ und dabei wesentlich nach assoziativen, agglutinierenden: Substanzen und Eigenschaften, primäre und sekundäre Qualitäten verknüpfenden Fügungsarten (Verknoten, Konstellieren, Reimen, ‚Fugieren‘) sich richtete; etwa wird eine Sache, Person, Kraft durch einen Teil, eine partielle Qualität der ganzen Sache dargestellt oder ‚symbolisiert‘: das stürmisch-bewegte oder ruhigglatte Element Wasser in seiner Eigenschaft der Bewegtheit oder ‚Stille‘ (Meeresstille steht für Okeanos, den Meeresgott, oder den alcyonische Tage bescherenden Wettergott; cf. die spinozistischen „Modi“ der einen Substanz). Der Blitz steht für das Element Feuer und Donnerschall, die Attribute des Blitzeschleuderers und Erzdonnerers Zeus sind – Namen aus der Sprache der Menschen der Wälder, Höhlen und Fluren, die hier Laut wird und Bild. Die Muster-Synekdoche stellt nach Vico die Kopfoder Haupt-Metapher, eine Schöpfung der Menschen der frühen silves-
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trischen und Feldkulturen: von dem durch Büsche schreitenden oder reitenden Menschen wird nur der Kopf gesehen, der für die ganze Gestalt – zuerst den hinter und in dem Gestrüpp sich bewegenden, gehenden oder reitenden Überragenden, dann den Häuptling, schließlich – typenhaft allgemein – den König, das Staatsoberhaupt, symbolisiert: der Teil steht fürs Ganze, umgekehrt gilt der Einzelne als Repräsentant des ganzen Stammes, des Totems, und sinkt am Ende herab zum dienenden Glied am Volkskörper der Nation. Die andere Leitmetapher, die für den heroischen Abschnitt der Urzeit steht, ist die Metonymie, die semantisch zur Synekdoche in analogischer Proportion steht. Sie deutet sich an in den Götternamen und gestaltet sich in weitläufigen Zügen und semiotischen Versetzungen signifikant in den Namen der (Schlüssel-)Personen und Dinge aus (siehe Wappen, Embleme; Namen der Helden, der Sterne, zu denen sie als Götter – und zu Göttern – versetzt wurden). Sie sind formiert nach dem Inhärenzschema der Kausalität. Sie sind Schemata überhaupt der wirkmächtigen Dingsprachen, der „signaturae rerum“ (Erkennungs-, Prestigezeichen der Dinge; Marken- und Firmenzeichen, von der Art der „Mercedessterne“, die über Vehikeln und Gebäuden strahlen); Dingsprachen, in denen die Bewegung des Konkreszierens, des Wachsens, der Entfaltung selber nachgeahmt wird, so wie im Werkzeug das Wirken und Werk: deren Virtualität. – Metonymien sind nach Vico: die Bezeichnungen von Sachen und Personen, Subjekten und Objekten durch Wirkungen, die aus ihnen als ihren Ursachen, Ursprüngen, Gründen hervorgehen; z. B. „die bleiche Armut“, „das heulende Elend“, der „Sohn des Vaters“, die „Erscheinung eines Wesens“. Das Wesen ist der Grund, der zur Erscheinung kommt, und am Schein erkennen, „greifen“ wir das Wesen: am schönen Schein die Schönheit, die Integrität der Idee (Plotin), des Absoluten; am Sohn den Vater, am Erzeugnis den Erzeuger, am Heulen und Zähneklappern die im Elend verzweifelte, wehklagende Person: an den Notständen die gesellschaftliche Misere. „Ausdruck ist der schmerzliche Widerhall einer Übermacht, Gewalt, die laut wird in der Klage“ – heißt es in der Dialektik der Aufklärung –, der Klage, die zur Anklage wird. – Fürwahr: Wort- und Begriffsbilder von großer physiognomischer Prägnanz, wie sie charakteristisch ist für die archaisch-mythischen Epochen und noch die, in denen der Mythos überlebte oder künstlich am Leben erhalten wird.
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III Diese Kraft zur physiognomischen Prägung begrifflicher und bildlicher Zeichen ist in den kurrenten „Alltags“- und Wissenschaftssprachen weithin verloren. Wir creieren Modelle, Schemata, Formeln, Neologismen als Ausdruckssymbole – Ausdrücke und Signaturen des Ausdruckslosen, Verdinglichten, dessen, woraus das Leben entwich. In den Ausdrücken hat das formale Zeichenelement das materiale Bildelement überwältigt und über es sich zur Dominanz gebracht. Der Ausdruck – das lebendige physiognomische Mienen- und pathognomische Gestenspiel – ist der Konstruktion, der Machination (als den signifizierenden, charakterisierenden Tätigkeiten und Bewegungen) gewichen – das Bild dem nackten Schema, der bewegende Affekt, die Emotion den Stereotypen gefrorener Sentiments; von „Konvention als Ausdruck“ sprach Benjamin (siehe etwa das ‚keep smiling‘ oder schon das von Warburg registrierte Affekten-„Volapük des Barock“). Vor diesen Leer-Formen haben die Prägung, Fassung der Gehalte, die Durchbildung, Durchgestaltung, Durchkomposition der subjektiven und objektiven Qualitäten, also die stets noch gegen den Überdruck des konventionellen und institutionellen Nivellements sich manifestierenden Expressionen auf hohem Kompositions- und Formniveau (siehe Klages, Valéry; Croces Ästhetik der Expression; die ikonographischen Programme der Wiener und der Hamburger Schule) resignieren, in Enklaven wie das symbolistische ‚l’art pour l’art‘ sich retirieren müssen. Bis zum reinen Bild- und Ausdrucksverlust – dem Maximum der Zeichenformalität und damit dem absoluten Minimum der Zeichenexpressivität – freilich ist die Rationalisierung von Ausdruck und Expression nicht gelangt, konnte sie prinzipiell auch nicht gelangen. Noch die puristischsten Formalismen, die neutralsten, gegen Besonderheit, singuläre Eigenheit indifferentesten Konventionen haben „abstrakten“, residualen Ausdruckswert, – den negativen Ausdruckswert der Abstraktion, der „Skelettierung“ – den physiognomischen Wert abgegriffener, im Umlauf abgeschliffener Münzen (mit dem Charakteristikum eines bis zur Unkenntlichkeit ermäßigten Reliefs; dem „Gesichtsverlust“): das zeigt nicht nur das Studium des nivellierenden Tauschverkehrs, sondern aller möglichen, dem Äquivalenztausch anscheinend entrückten Riten, etwa
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auch der „wertneutralen“ und wissenschaftlichen Diskurse. Sie haben die wie immer schemenhafte Struktur- und Prozess-Anschaulichkeit, die ‚Bildlichkeit‘, Vorbildlichkeit regulärer Verläufe, der immanenten und transzendenten Regularität, überhaupt der Methodik, die das Etwas, die methodisierte Sache niemals ganz zu eskamotieren vermag; – was vor allem, etwa am ethnischen, kulturalen Material, von den strukturalistischen Wissenschaften aufgewiesen wird, namentlich denen, die dabei phänomenologisch-dialektischer Verfahren sich bedienen. Dann gelingt es ihnen, den kristallinen, den Schalen- und Krustencharakter der „Sachen“ im Wirkungsfeld (Kräftespielfeld) der Ausdrucks-, Manifestationsund Signifikations-Bewegungen und ihrer Figurierungs- und morphotischen Gestaltungsenergien zur Darstellung zu bringen, die ‚Züge‘ also, die indices, Spiegelungen, Echos der ‚abstrakten‘, formellen Expressionsphänomene einerseits und ihre ‚Metamorphosen‘, strukturellen Veränderungen und Verwandlungen andererseits. Forschungen im Struktur- und Prozessfeld sind es auch, welche das Kräftespiel vor den Blick bringen, das in den Prägungen, den Signaturen sich niederschlägt, welche die Charakteristik interner Felder (und Netze) und ihrer Dynamik definieren, umschreiben. So die Züge und Metamorphosen im Muskel- und Nervenfeld (-geflecht, -netz) des Gesichts, der Haut und des gesamten Leibes (Symptomatik, Pantomimik etc.; s. neuerlich etwa Clausbergs Messerschmidt-Interpretationen und seinen Aufweis von „Grimasken“) – markanten Spuren der inneren Dramatik konfligierender Strebungen und Affekte, veröffentlicht sozusagen auf der Bühne des Gesichts und Leibs (s. Engel, Piderit), oder anschaulich gemacht in jenem Projektionsraum der Magischen Laterne, den Lichtenberg hyperbolisch den „Kürbis der phrenologischen Ausdrucksmaschine“ nannte, welche die Abbildungen der Hirnfunktionen in präzis spezifizierten Arealen und Orten zu liefern vorgab; Orten, die den guten und bösen „Häusern“ der Horoskopsteller verdächtig ähneln, und Abbildern, die den Globus des menschlichen Kopfs zu dem Himmelsglobus in Analogie setzten. Noch in den organischen Aus- und Einstülpungen, den virtuellen und den konkreten Wölbungs-, Elevations-, lateralperspektivischen Kurven- und Kugel-Morphosen der Hirnfunktionen gewinnen wir seit den bildwissenschaftlichen Forschungen von der Art der Clausberg’schen sehr viel klarere Vorstellungsbilder, als die gewohnten bloß
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‚eindimensional‘ scharfen oder überhaupt nur gemutmaßten. Sie bilden ab die Tätigkeiten und Werke (opera und poietischen Fügungen) in den Organen des Leibes, überhaupt den Werkzeugen, die (wie die Hand) abbildlich zeugen von den Funktionen und Leistungen, vom Wirken und dem durch es Bewirkten (s. die in der Chirologie präzisierte Chiromantie); die Hand, das „Werkzeug der Werkzeuge“, steht seit Aristoteles als Symbol für die tätige, organisierende gestaltbildende „Seele“ und, in erweiterter Perspektive als Zeichen des Liebeswerks der Philanthropie, des solidarischen Handelns, welches die Kräfte und Vermögen aller zu wirklichen Menschen sich emanzipierenden Subjekte entbinden und konsolidieren hilft. Die „helfende Hand“, der „rettende Griff“: evidente Synekdochen des Werks der Aufklärung und der Emanzipation. Zentralorgan der schöpferischen Arbeit, der humangenetischen, noetischen wie imaginativ-phantastischen, Werkhand der Produktion: der Eduktion der Gestalten heraus aus der Materie; Spürhand auch des in der moralischen und theologischen Symbolformation wirksamen „esprit de finesse“, des aktivisch-passiven, erleidend-tätigen, maieutisch-formenden Entbindens der natur-, der kultur-präformierten Typen- und Mustergestalten aus der Geschichtsmatrix als der Formdisposition aller konkreten Ursprünge. So war Sokrates der Maieutiker bei der Geburt der noetischen Archetypen im Menschen, so Michelangelo der Eduktor der plastischen aus dem Urblock des Marmors. Demeter, Ceres, Gaia – die unausschöpflich Frucht tragenden Göttinnen; Proserpina, Minerva: die Kopfentbundene, Aphrodite: die Meerentstiegene galten einmal als die abgründig-höchsten Numina des Materiegrundes; Diotima, ihrer Kulte kundig, selber Priesterin der Liebesgöttin und Lehrerin des Sokrates – der Liebesgöttin und des ihr affinen Nebengottes, des androgynen Dionysos – in ihren und den Kulten ihrer beiden Kinder – (der Kinder der Liebe zur Weisheit, des Enthusiasmus und des Rauschs: des philosophischen und des kosmogonischen Eros) leben fort in der Epiphanie der Kultur, kehrten und kehren wieder in denen ihrer Phasen, da es den Irdischen, den Erdgeborenen um die Herstellung oder die Wiederherstellung substanzieller Freiheit (ihres materiellen und geistigen Glücks), die „Vergöttlichung des Leibs, Verleibung des Göttlichen“, um die Naturalisierung ihrer Humanität, die Humanisierung ihrer Natur zu tun war.
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Eine der reifsten: zugleich streng empirisch-wissenschaftlich gerichteten und spekulativ-kritisch reflektierten Theorien (Feldtheorien) des menschlichen Ausdrucks, der sinnlich-geistigen (psychophysischen und noetischen, symbolformativen und -transformativen, deutungs- und konjekturbedürftigen) Ausdrucks-Disposition des homo symbolicus des „anthropologischen Humanismus“ unseres Jahrhunderts ist – neben der Cassirer’schen die Bühler’sche: die Theorie des Organon-Modells des Ausdrucks von Karl Bühler, an den ich hier mit Nachdruck erinnern möchte (und der in unsern, der Ausdruckstheorie gewidmeten Seminaren in paradigmatischer Perspektive diskutiert wird – dank der Anregung Karl Clausbergs, des ‚Enkelschülers‘ der Wiener Schule). Es ist das triadische Funktionsmodell des substantiierten und spezifizierten Zeichens: des Bild- und Bedeutungszeichens (Zeichensystems) der Sprache. Dies zeigt am sachadäquatesten den differenziellen, teilintegrativen Charakter einer Theorie des integralen Ausdrucks: jeder der drei fundamentalen Sprachund Ausdruckscharaktere ergänzt („komplementär“) die beiden andern: (A) Der Ausdruckscharakter der Bedeutungen den Darstellungscharakter (kein Symbol ohne Ausdruckswert) und den Signifikations- oder Appellcharakter (kein Signal, kein Code, kein Zeichen, das nicht auch signative, „codierte“ Verweisungs-Charaktere aufwiese und benötigte: ob solche der demonstratio ad oculos oder der Deixis am Phantasma sich erschließende); (B) der Darstellungscharakter den Ausdruck im Symptom der Selbstmanifestation von Sachen und Wesen und im Signal (der Spurenund Indiziensymptomatik – im Sinn ihrer Verstecktheit, Indikativität des Pathischen und Obskuren, aber auch des ‚Normal-Typischen‘ im Sinne historischer und gesellschaftlicher Charakterprägungen –; Hippokrates und Galen waren die klassischen Meister im Lesen solcher Symptome; cf. die Spurenlesekunst der „Archäologen“ der Moderne: Derrida, Foucault; Bloch, Kracauer, Benjamin); (C) schließlich der Symptomcharakter die Symbolcharaktere als – kulturelle – Manifestationen (vor allem der religiösen in ihren Heils- und Erlösungs-, Exodus- und Exilgestalten; „Symbole“ heißen auch die Glaubensartikel – die codifizierten und kanonisierten religiösen Bekenntnisse, „Offenbarungen“, in welchen die Sehnsuchts- und Wunschbilder des obersten Menschheitsinteresses – die moralisch-utopischen Antizipationen eines Reiches Gottes in der teuflisch-infernalischen Welt; eines messianischen Reiches der resti-
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tutio der gefallenen und korrumpierten Schöpfung in integrum; eines Neuen Jerusalem; der Kosmopoliteia eines universellen Weltreichs des Friedens, der Gerechtigkeit und der versöhnten Natur – aufs visionäranschaulichste präfiguriert sind) und die Signal-Zeichen (was in jeglicher Funktion repräsentierenden Bedeutens von Codezeichen sich zeigt: etwa denen der Informations- und Steuerungs-Signale der sogenannten Genome). Bühler spricht (mit dem Lautphysiognomen Heinz Werner) von den drei „Grundausdrucks-Gesichtern“ der Sprache (also des „redenden“ und „abbildenden“ Grundmediums des Ausdrucks): dem Symptom-Gesicht (dem gezeichneten), dem Signalgesicht (des Weisers und Zeigers) und dem Symbolgesicht des Ausdrucks: nämlich dem der Masken, die das „natürliche“ Gesicht verdecken, entstellen oder schminken, stilisieren und „künstlich“ hervorheben; die den Charakter der Person, ihre ‚Rolle‘ im großen Welttheater repräsentieren: offenbarend darstellen; der Masken auch in der Modifikation der Häute, Kleider, Gehäuse, Wohn-Kapseln und Lebens-Etuis bis zu den großen und flattrig-weiten Kulturhüllen der Städte und Länder, in welchen die Menschen mehr oder weniger ungezwungen stecken und die ihren zivilisatorischen – autonomen oder empirischen – Zwangscharakter offenbaren. Dies integrale triadische Modell ist selber einer der symbolischrepräsentativen und symptomatisch-treuen Ausdrücke der Kultur der Gegenwart und ihrer Physiognomie. Wer Ausdruckstheorie und -wissenschaft in ihrem Sinne treibt, nimmt selber Teil an der integralen – zumindest integral intendierten – (multi- und ‚interdisziplinären‘) wissenschaftlichen Kultur der Gegenwart, arbeitet daran mit, dass sie eine Kultur ist oder wenigstens werde: dass sie ihren Begriff erfüllt und ihre drei Grundideen oder Zwecke realisieren hilft, wie sie in den Grundworten: Theoria, Praxis, Poiesis präfigurierend und final-formativ ausgedrückt sind.
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Literaturhinweise Platon, Gorgias, in: Platonis Opera, hrsg. von Henricus Stephanus, Bd. I, S. 447–527 [Platon: Sämtliche Werke, Berlin o. J. (hrsg. von Erich Loewenthal), Bd. 1, S. 301–409; übers. von Julius Deuschle]. Platon, Euthyphron, in: Platonis Opera, l. c., S. 2–16 [Platon: Sämtliche Werke, l. c., Bd. 1, S. 277–299; übers. von Friedrich Schleiermacher]. Platon, Kratylos, in: Platonis Opera, l. c., 383–440 [Platon: Sämtliche Werke, l. c., Bd. 1, S. 541–616; übers. von Julius Deuschle]. Platon, Sophistes, in: Platonis Opera, l. c., 216–268 [Platon: Sämtliche Werke, l. c., Bd. 2, S. 665–740; übers. von Friedrich Schleiermacher]. Aristoteles, Topik, in: Aristotelis Opera, hrsg. von Immanuel Bekker, Berlin 1831, Bd. I, S. 100–164 [Aristoteles: Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 2, übers. von Eugen Rolfes, Hamburg 1995]. Aristoteles, Sophistische Widerlegungen, in: Aristotelis Opera, l. c., S. 164–184 [Aristoteles: Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 2]. Aristoteles, Redekunst, in: Aristotelis Opera, l. c., Bd. II, S. 1354–1420 [Aristoteles: Rhetorik, übers. von Franz G. Sieveke, München 1995]. Aristoteles, Über die Dichtkunst, in: Aristotelis Opera, l. c., Bd. II, S. 1447–1462 [Aristoteles: Poetik, griechisch/deutsch übers. u. hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1999]. Frances A. Yates: The Art of Memory [1966], dt.: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, übers. von Angelika Schweikhart, Weinheim 1989. Frances A. Yates: The Occult Philosophy in the Elisabethan-Age [1979], dt.: Die okkulte Philosophie im Elisabethanischen Zeitalter, übers. von Adelheid Falbe, Amsterdam 1991. Georg Christoph Lichtenberg: Über Physiognomik; Wider die Physiognomen; in: ders., Schriften und Briefe, hrsg. von Wolfgang Promies, München 1994, Bd. III, S. 256–295. Cusanus, De coniecturis, in: Nikolaus von Kues, Philosophisch-theologische Werke, hrsg. von Karl Bormann, Hamburg 2002, Bd. 2. Johann C. Lavater: Von der Physiognomik und Hundert physiognomische Regeln, Leipzig 1772. Wibke Larink: Physiognomik – Das Gesicht als deutbares Bild im Wandel wissenschaftlicher Perspektiven, Magisterdissertation, Lüneburg 2003.
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Immanuel Kant, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. II, Berlin 1912, S. 315–373. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VII, Berlin 1917, S. 117–333. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: ders., Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, hrsg. von Hermann Glockner, Bd. II, Stuttgart 1927 („Vernunft“, S. 182–334; „Der Geist“, S. 335–516). Francis Bacon: Novum organum scientiarum (Instauratio magna, II) [Francis Bacon: Neues Organon, lateinisch-deutsch, hrsg. von Wolfgang Krohn, übers. von Rudolf Hoffmann, 2 Teilbände, Hamburg 1990]. Giambattista Vico: Die neue Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker [1924], nach der Ausgabe von 1744 übersetzt und eingeleitet von Erich Auerbach. Berlin; New York 2000. – Vollst. Ausgabe in 2 Bd. hrsg. u. übers. von Vittorio Hösle u. Christoph Jermann, Hamburg 1990. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1946. Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung, Paderborn 1997. Karl Bühler: Die Erscheinungsweisen der Farben (Handbuch der Psychologie, I: Die Struktur der Wahrnehmungen, 1. Heft), Jena 1922. Karl Bühler: Die Krise der Psychologie (1927), in: ders., Werke, hrsg. von Achim Eschbach u. Jens Kapitzky, Bd. 4, Weilerswist 2000. Karl Bühler: Ausdruckstheorien (1933). Das System an der Geschichte aufgezeigt, eingel. von Albert Wellek, Stuttgart 1968. Karl Bühler: Sprachtheorie, Jena 1934. Walter Benjamin, „Probleme der Sprachsoziologie“, in: ders., Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I–VII, Frankfurt am Main 1972–1989, Bd. III, hrsg. von Hella Tiedemann-Bartles, Frankfurt am Main 1972, 452–479. Elize Bisanz: Malerei als écriture, Wiesbaden 2002. Ernst Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs [1921–1938], Darmstadt 1983. Ludwig Klages: Vom kosmologischen Eros, München 1922. Ludwig Klages: Zur Ausdruckslehre und Charakterkunde, Heidelberg 1927.
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Karl Clausberg: Neuronale Kunstgeschichte. Selbstdarstellung als Gestaltungsprinzip, Wien, New York 1999. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947.
Zur Physiognomie eines Physiognomikers
[W]underbare Initialen, auf denen er alsogleich ein ganzes Gerüst der Vermutungen aufzurichten begann. Hugo (Les Misérables)
1 Auf den Namen der Vexierbilder1 verfiel Adorno, als er nach einem Begriff suchte, der zwei der charakteristischsten Werke des Freundes in der ersten Ausgabe seiner Schriften zu repräsentieren imstande wäre. Unter Gattungen war das Aphorismenbuch Einbahnstraße und das Memoirenwerk Berliner Kindheit um neunzehnhundert zu bringen, die dergleichen Rubrizierungen auf ähnliche Art sich entziehen wie die Figur, die in einem Vexierbild versteckt ist. Statt der Gattung war der eigentliche Name zu treffen, den der klassifikatorische Begriff verstellt, und der des Vexierbildes scheint in der Tat von allen am ehesten für den eigentümlichen Charakter dieser Bücher einstehen zu können. 1
Cf. Walter Benjamin: Schriften, Bd. I und II, hrsg. von Theodor W. Adorno und Gretel Adorno unter Mitwirkung von Friedrich Podszus, Frankfurt am Main 1955, Bd. I, S. 513.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_11
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Es hängt zutiefst mit dem selber schwer zu fassenden spekulativen Nominalismus Benjamins zusammen, dass seine nach den Forderungen des Material- wie des Formgesetzes am kompromisslosesten intendierten Schriften eigene Gattungen begründen. Die Elemente, aus denen sie komponiert sind, selbst schon geprägte begriffliche Gestalten, Materien und Bilder, treten zu Figuren zusammen, die ein ordnendes Zentrum haben, jenen Namen, den es stets noch zu finden gilt und der die geheime Kraftquelle bildet, nach der die Elemente unter einem andern Zwang zur Gestalt sich gruppieren als unter dem klassifikatorischen. Die Gestalt ist hier Konstellation, das Gesetz ihrer Fügung ihr nicht äußerlich. Die Titel, unter denen die Werke vorgestellt werden, gleichen akzidentellen Anspielungen auf die Substanz. Im Bildraum, in den sie die Sache rücken, liegt jenes andere Bild sicher versteckt, das erst gesucht werden muss. Und nur wer die Topographie des ersten bis in die Details hinein durchgeht, wird das zweite enträtseln – ähnlich wie man, nach dialektischer Lehre, des Gesetzes oder der Kraft nur an ihren Äußerungen gewahr wird. Was dergestalt für den Namen des Werks gilt, gilt erst recht für seine einzelnen Teile, die, gegeneinander abgesetzt, vielmehr Ganze in einem Ganzen sind. Ihr vexatorisches Gepräge hat nicht am wenigsten damit zu tun, dass sie der Festlegung auf die organische Funktionalität des Teilhaften widerstreben und die Diskontinuierlichkeit des Kontinuierlichen mit Entschiedenheit akzentuieren. Dass das Werk Ganzes aus Ganzen und nicht aus Teilen sei, ist eines der Formgesetze der Benjamin’schen Produktion. Dies Formgesetz macht sich nicht – wie eine hypostasierte Idee – für sich geltend, sondern ist die Art, wie der besondere Gehalt als besonderer gefasst sein will. So weit geht Benjamins Mimesis ans zu enträtselnde Ding, dass die Gestalt, in der das Erkannte präsentiert wird, zuerst gar nicht das durch Erkenntnis Enträtselte, sondern sein Rätselhaftes selber vor Augen stellt – so als ob das ineffabile, die Figur durch Entschlüsselung gerade verlöre, was an ihr aufgefasst sein will, soll sie nämlich als das erkannt werden, das sie gar nicht wäre, wenn sie bloß erkannt wird.2 2 Es hat mit den Dingen in der zweiten Natur eine ähnlich dämonisch-ambiguitäre Bewandtnis wie mit denen in der ersten, mythischen. Wie sie beim erkennenden Zugriff unter der Hand verschwinden und nur dem Dialektiker – dem einzigen unter den Erkennenden, der des amphibolischen Unwesens erster und zweiter Natur Herr wird – in der verwandelten Gestalt erkennbar bleiben, so verschwindet der Dämon Rumpelstilzchen von der Erde in dem Augenblick, da er durch seinen Namen erkannt ist, um den unterirdischen Kräften wieder sich zuzugesellen, die ihn in anderen,
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In der beharrlichen Mühe der Reproduktion des Erkenntnisgegenstandes durch Sprache und Begriff waltet primär nicht zerspaltende Analysis, der Zugriff, der die Sache an ihrer präparierten Gestalt zu haben meint, sondern mimetisches Zuwarten, die reglose Geduld, die vor der Sache verharrt, bis sie dem anscheinend absichtslos Zuschauenden absichtslos wie ihresgleichen sich gibt. Nach diesem Modus ist sie dann geprägt. Wie ein Stück Landschaft, in der ein photographischer Apparat aufgestellt wurde, hinter den der Operateur weit und lange zurücktritt, wandert das Ding durch das tote, groß geöffnete und durch kein Blinzeln bewegte Auge – ihm entspricht der Basiliskenblick auf Seiten des Dings – in die camera obscura ein, die das Objekt erst dem hingegebenen Studium überliefert. Und die Sprache, die das Studierte artikuliert, ähnelt dem Wachs, in das das Objekt bis in die feinsten Verästelungen den Stempel seines eigentlichen Wesens drückte. Das aber ist dieser Erkenntnis nicht nur genug, es ist mehr, als Erkenntnis überhaupt sich erwarten darf. Wo ihr das Wesen sich an der ganzen ausgebreiteten Erscheinung gibt, wird der Analysis, die nach dem Kern fahndet, dieser mit der Zerstückelung der Schale genommen, unter der sie ihn sucht. Goethe’scher zarter Empirie verwandt, sucht Benjamin’sche die Idee nicht hinter der Gestalt, sondern in ihr, und beiden ist das genaue Auffassen schon das Erkennen, weil jegliches unzartere Anfassen als das tangere es ist, nach dem der Takt heißt, die Erkenntnis durch das Erkennen hintertreibt. Freilich: Benjamin hat ihren Umkreis bedeutend erweitert. Richtete sich der Blick der Goethe’schen Empirie auf die Bildungen des organischen Triebs, war Benjamins Blick von denen des Kunsttriebs – in dessen weitestem, Vico’schen, Sinn – gefesselt. Sprach Adorno davon, dass Benjamin Geschichtliches wie Natur anzuschauen vermöge,3 dann hat er das Charakteristische jenes Blicks wie seiner Objekte getroffen: der Manifestationen der Kräfte und Gesetze, die unerschöpflichen Gestalten aufs neue freigeben. Die grenzenlose Fülle der Märchen bezeugt das proteische Wesen erster Natur so, wie das fetischistisch-trughafte der zweiten die nie zur Ruhe kommende Begriffsbildung der wissenschaftlichen Systeme, deren jedes zum Narren der andern wird. 3 Cf. „Charakteristik Walter Benjamins“, in: Prismen, Frankfurt am Main 1955 (S. 283–301), S. 288 f. – Die subtil rekonstruierende Entfaltung dieser tragenden Idee Benjamin’schen Philosophierens leistet Tiedemanns bedeutende Monographie Studien zur Philosophie Walter Benjamins, Frankfurt am Main 1965.
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man seit der Aufklärung als die spezifisch historisch wirksamen entziffern lernte. Wie spekulative Physik die naturierende Natur an den Naturaten griff, so Benjamin – die historische Erkenntnis vor der rasch offenbarten Affinität mit dem physikalischen Positivismus bewahrend – die historia faciens an den facta, den Besonderungen zweiter Natur, an deren gestochener Physiognomie er die unterirdische – wie die messianische – Triebkraft enträtselte. In seiner materialen Versenkung halten spekulative und materialistische Intention eigentümlich einander die Waage, ohne dass er doch letzte Rechenschaft davon gab, und auf abseitig-genuine Weise, ganz den Sachen zugewandt und „wie wenn die Konvention keine Macht über ihn hätte“4 , ist er auf eigenen Wegen zu der dialektischen Physiognomik gelangt, wie Marx sie an der gesellschaftlichen Ökonomie entwickelt hatte. Über ein Jahrhundert hinweg korrespondieren – heuristisch – die Marxische gesellschaftliche „Elementarform der Ware“, deren insistente Betrachtung Stück um Stück die in ihr wie in einem Knotenpunkt verwickelten Tendenzen und Formen des kapitalistischen Universums freilegt, und jene Benjamin’sche „Zelle“ miteinander, die, eindringlich angeschaut, den Rest der Wirklichkeit aufwiegt. Und wie der klassische historische Materialist an den Verfallszeichen des riesigen Kapitalorganismus die Unausbleiblichkeit der Revolution abliest, so der Theoretiker der materialen Versenkung an den Rissen im Monumentalbau der Profanität das unmerkliche Nahen messianischer Zeit.5 Das unmerkliche: Wenn Benjamin die Lehre des dialektischen Materialismus als fertiges Instrument der Erkenntnis von der Tradition nicht übernahm, dann war er auch vor dem Erbe bewahrt, das ihn in der depravierten Gestalt eines geschichtsökonomischen Automatismus überlieferte, und vor dem dialektischen Progressismus Hegels, der, gereinigt von Metaphysik, aber kruder, im bürgerlichen Fortschrittsglauben auferstand,6 war er vorweg gefeit. So kommt es dem historischen Materialismus zugute, dass die materiale Versenkung in die zweite Natur, die ‚materialistische Inspirati4
Adorno, Charakteristik Walter Benjamins, l. c., S. 283. Wer den Satz sagt: Der Marxismus ist eine Kryptotheologie, trifft nur dann etwas Wahres, wenn er den anderen: die Theologie ist ein Kryptomaterialismus, nicht unterschlägt. 6 Cf. Max Horkheimer: „Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung. Öffentliche Antrittsvorlesung bei Übernahme des Lehrstuhls für Sozialphilosophie und der Leitung des Instituts für Sozialforschung am 24. Januar 1931“, in: Frankfurter Universitätsreden 1931, XXXVII, Frankfurt am Main, S. 5. 5
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on‘7 , wie Benjamin einmal die Erkenntnis bezeichnete, die hoffen darf, noch eine zu sein, zu einem historischen Zeitpunkt sich zur Geltung bringen konnte, da jene große Lehre von der Entschleierung der ideologisch sich verkennenden Realgeschichte sei’s selber zur Ideologie entartete, sei’s dem instrumentellen Denken Platz machte oder, um nicht vollends vor ihm zurückweichen zu müssen, damit sich verquickte. Mit dem Innehalten inmitten der Dynamik, der Denkbewegung, die sie nicht nachahmt, um das Denken nicht bei der Bewegung zu verlieren, ist bekundet, dass Theorie sich nicht auf dialektischen Flügeln über die Abgründe hinwegtragen lassen darf, die stets noch in der geschichtlichen Landschaft der Moderne klaffen. Und wenn Benjamin an ihrem Bild die Kontur des Diskontinuierlichen heraushebt und die Bruchlosigkeit der Kontinua Lügen straft, dann bewahrt er das Erbe der mit dem genuinen Marxismus verknüpften Intentionen, das ihm untergründig, durch den Kontakt mit der historischen Triebkraft zufiel, ehe er es schließlich doch mit Bewusstsein antrat, besser als die, die sie im System eines nach ehernen Gesetzen erfolgenden Geschichtsablaufs bewahrt sehen. Gerade sein spekulativer Nominalismus beschützt ihn davor, die materialistische Intention an einen ontologischen Materialismus zu verlieren, in dem der alte Realismus unter dem Namen unverbrüchlicher Gesetzlichkeit der Materie wiederersteht. „[I]ch“ bin „bestrebt [...], die Richtung meines Denkens auf diejenigen Gegenstände zu lenken, in denen jeweils die Wahrheit am dichtesten vorkommt.“8 Mit diesen Worten charakterisiert Benjamin das erkennende Beharren bei den concreta der zweiten Natur, und eben darum, dass der Instinkt seines Denkens ihn zu den Materien, zur Enträtselung ihrer Physiognomie und nicht zu den „‚ewigen Ideen‘“, den „‚zeitlosen Werte[n]‘“9 trieb, konnte er es auch für beglaubigt nehmen, historischer Materialist zu sein: dass es der ideologischen Taufe nicht bedurfte, die ihn als solchen bestätigt hätte. „[U]m mich früh und deutlich gegen die abscheuliche 7
Cf. Walter Benjamin: „Der Sürrealismus“, in: ders., Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I–VII, Frankfurt am Main 1972–1989 (im Folgenden zit. als GS, Bandund Seitenzahl), Bd. II (S. 295–310), S. 297. 8 Walter Benjamin: Briefe, hrsg. von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, Bd. 2, Frankfurt am Main 1966, S. 523 [An Max Rychner, 7. März 1931]. 9 Ibd.
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Öde“ des „offiziellen und inoffiziellen“ Wissenschafts-„Betriebs abzugrenzen, hat es nicht marxistischer Gedankengänge bedurft – die ich vielmehr erst sehr spät kennengelernt habe – sondern das danke ich der metaphysischen Grundrichtung meiner Forschung.“10 So brauchte es auch des Credos nicht, das er in den Augen warnender Freunde, die Verrat an seinem Tiefsten fürchteten,11 sich selber schuldig geworden sein sollte, wie eben auch gegenüber der politischen Partei, die ihm freilich die Loyalität hätte aufzwingen müssen, die die Folge jedes expliciten Bekenntnisses ist, zu der jedoch einst zu stoßen er vom Gang der Dinge nicht einmal ausschloss.12 Dieser war ihm der Strom, dem man zuzeiten sich nicht entgegenstellen kann, dann am wenigsten, wenn der Fascismus auch in Deutschland sich zu formieren beginnt und die Depossedierung viele lehrt, dass die Klasse, der sie entstammten, sie nicht retten würde, namentlich dann nicht, wenn sie aus ihr desertierten. Ihn hatten die Umstände zu sehen gezwungen, dass wer der Ressourcen beraubt und von der Verfügung über die geistigen Produktionsmittel ausgeschlossen wird – und das bedeutet hier die Entscheidung in der Lebensfrage des Literaten, der die Literatur nicht zum nackten Gewerbe zu machen vermag –, nur auf der Seite aller von den Produktionsmitteln abgeschnittenen Produzenten das Recht auf ein menschenwürdiges Dasein und auf unkorrumpierte geistige Produktion zu erlangen hoffen kann.13 Wie die großen, aus der Existenz, die sie verändern helfen wollten, rücksichtslos ausgetriebenen Emigranten des letzten Jahrhunderts hat er, unter den nämlichen unsäglichen Opfern, gerade in diese Existenz sich erkennend versenkt, und würde nach einem weiteren Siegel – vielleicht dem unverbrüchlichsten – gesucht, das die Triftigkeit seiner Erkenntnis bekräftigt, dann wäre es in dem Druck der Bedingungen selber auszumachen, die unauslöschlich diese Erkenntnis prägten – prägten im Doppelsinn des Vorgangs, dass nämlich Prägung und Prägendes im Druckbild sich enthüllen, ihre eigene Schrift sich ausdeuten lassen müs10 Ibd. – Zum Verständnis der Spezifität des Benjamin’schen „historischen Materialismus“ cf. die erhellende Studie Tiedemanns in seinem „Nachwort“ zu: Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, Frankfurt am Main 1969, S. 167–191. 11 Cf. etwa Benjamin, Briefe, l. c., Bd. 2, S. 525 ff. 12 Cf. l. c., Bd. 1, S. 425. 13 Cf. vor allem den Brief vom 6. Mai 1934, l. c., Bd. 2, S. 603–697.
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sen. Es wird jedem Intellektuellen, dem die Bedingungen günstiger waren – von den geistigen Konformisten zu schweigen – unfasslich bleiben, dass eine Produktion wie die Benjamins – und der großen Emigranten dieses Jahrhunderts – desto wahrhaftiger, desto subtiler sie geriet, je unwahrhaftiger, je obstinater die Ordnung war, der sie abgetrotzt wurde.
2 So schrieb er die konzentrierten Stücke der Berliner Kindheit, als ihn das Absinken seiner Mittel weit unter die Grenze, die ihn in Deutschland noch eben hätte leben lassen, in die karge ibizenkische Einsamkeit gezwungen hatte, ehe diese – nach prekärem Aufenthalt im inzwischen faschistischen Deutschland – mit der trostloseren Pariser Emigration vertauschen musste. Nicht beschwören die Stücke, wie es nur zu verständlich gewesen wäre, die Kindheit als das verlorene Paradies: allen phantasmagorischen Spuk der verklärenden Erinnerung bannend, schlagen sie aus dieser gerade heraus, was in der vergangenen Zeit schon auf die kommende deutet. Mit der Kraft, wie sie nur das Eingedenken verleiht, fördern sie die eigentümliche Verschränkung der zeitlichen Gestalten herauf – zeigen, wie an der aktuellen Zeit, die nie eigentlich als solche gelebt wird, verheerend die Antizipation der zukünftigen zehrt, und wie die Antizipation von eben den Zwängen der Aktualität – der sedimentierten Geschichte selber – korrumpiert ist, denen doch der Vorgriff auf das Andere, Neue, die „Utopie des wolkenlosen Tages“14 sich entwinden will. Längst waren wir, was wir jetzt ganz erst sind, und in der gewesenen Präsenz, die je sich als das nur jetzt schäumende Leben15 verkennt, war schon jene Zukunft 14
Adorno, Charakteristik Walter Benjamins, l. c., S. 285. Der Topos des Schäumens denunziert das Leben als das, was es gerade nicht sein soll, als Schaum auf dem Getränk, den der Trinker fortbläst. Der Schaum rechnet zur Sippschaft der Schleier, die das Abgedeckte drapieren, es nicht sowohl verstecken als stilisieren. An diesen Stilisationen hatte die Benjamin’sche Wissenschaft einen ihrer originären Gegenstände. Sie verrieten ihm – paradigmatisch war ihm die Aura –, dass die Essenz im Akzidens verkannt wird, ohne dass aber das Widerspiel beider dabei begriffen würde. So kann dann in der Kultur immer wieder der Gegenschlag gegen ihr Scheinhaftes unter Berufung aufs Echte, aufs Wesen geführt werden, weil der, der ihn führt, des Wesentlichen, das in der Kultur der Schein ist, nicht inneward. Und so kommt es, dass die Berufung aufs Wesen den bekämpften Scheingestalten als weitere sich anreiht, dass nichts drastischer sich als ornamental erweist denn das Kernige, das Leben oder jene Jugend, wie sie zuletzt noch –
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verdichtet, die nur ein Stück weiter aufgeblätterter Geschichte war: Immergleiches unter dem stets noch zu knappen Schleier der Modernität. Das Rätselhafte an den Texten, die Eingedenken, nicht Erinnerung artikulieren, ist das Rätselhafte der Zeiterfahrung selbst, das traumartige auf der Stelle Treten, das das Vorbeigetragenwerden der Szenerien mit Progression, einem eigenen irreversiblen Wesen der Zeit verwechselt. So vermeiden diese Texte stilistisch – durch Zurücknahme des „Stils“, des Arrangements der Sache nach ihr äußerlichen Mustern16 – jeglichen Anschein dynamischer Progression. Sie lassen den Duktus des Artikulierens von der Sache sich vorgeben, der Sache, wie sie unter dem Blick stationärer Konzentration sich regt. Und wenn sie ein Zeitkontinuum artikulieren – dies stellt das Paradigma der Benjamin’schen Schriftstellerei –, dann geben sie es als Zeitraum. In ihr überwiegen – neben der harten Fügung17 – und inzwischen wieder, freilich unter anderen Namen – der Jugendstil als Substanz proklamierte. Dass alles das nicht die vermeintliche, wohl aber die Substanz bürgerlicher Kultur im Sinne ihres denunzierten Wesens – Unwesens – ist, haben, im großen Zuge der Kritik am Fetischismustrug, die unvergleichlichen Charakteristiken des Aura-, des Ornament-, des Fassadenphänomens vor Augen gebracht, wie Benjamin in der paradoxen Versenkung ins Äußere sie traf. – Die Geisteswissenschaft geht in die Tiefe, die Benjamin an der Oberfläche ihr demonstriert. 16 Eben dies macht die Leuchtkraft des Benjamin’schen Ausdrucks aus, die Randschärfe seiner Prägungen, die ihn gerade als einen der großen Stilisten der Epoche erweisen. Ein bedeutender Stilist ist der, der die konventionellen Sprachmuster zusamt den kategorialen Organisationsschematen nach den Aspekten sich umzustrukturieren zwingt, die genuine Einsicht der Sache abzwang, und der dabei die Sprache dennoch nicht vergewaltigt. Jeglicher authentische Fortschritt bewahrt die authentische Tradition, so auch immer die sprachliche. Der große Stilist setzt nicht ein System auf welche Art immer gesuchter Bezeichnungen an die Stelle der Sprache (die ihm bei denen verbürgt ist, die sie wirklich meistern), sondern prägt an den alten Namen und Schematen die verborgenen Signifikanzen aus, sprengt aus dem Sinnkontinuum die eigentlich bedeutenden Elemente heraus kraft einer geschichtlichen Erfahrung, die gerade der erhabenste sprachliche Schein oft genug abschneidet. So kann er noch, wenn er archaisiert – und weit über den Ironisierenden hinaus – progressiv sein, progressiver als alle sprachlichen Neutöner zusammen, wie gerade Benjamin, wenn er den Duktus klassischer Stilisten bloß zu imitieren scheint und doch an keiner Stelle dem Pasticcio verfällt. Denn das Imitieren – analog der materialen Versenkung ins Detail – erwirbt sich hier immer zugleich die Kraft, dem akribisch verfolgten Duktus die Stellen abzumerken, an denen die Entscheidung, wie er fortzusetzen wäre, fiel, und aus solcher Einsicht ihm unmerklich selber eine Richtung zu geben, der er, vom eigenen Stilgesetz genötigt, nicht hätte folgen können. Diese Unmerklichkeit aber manifestiert sich, im Ganzen höchst merklich, dann als qualitativ anderer Stil. Wie man im Medium hoher, emphatisch konzipierter Sprache sein muss, um derer erst ganz sicher zu werden, in der man sich ausdrückt, machen die tiefsinnigen und esoterischen Meditationen deutlich, die Benjamin dem Sprachproblem zeit seines Lebens widmete. 17 Es ist die Figur, die zum Verweilen hinter jedem Satz zwingt, damit dessen ganze Sinnfülle in das Verständnis jedes folgenden eingebracht werden kann. Spätestens seit Flaubert – und bei diesem am bewusstesten kalkuliert – ist der apperceptive Schock vom Lesen unabtrennbar geworden: die stets irritierte Erwartung des Lesenden, er könne bruchlos zu dem je nächsten Satz übergehen,
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Denk- und Stilfiguren, wie sie am Bild langsam und unerschöpflich sich ausbreitender Wellen erfahren sind, oder an dem unmerklich einen Baum verbreiternder Jahresringe, dem ineinander überfließender Schalen, dem eines lautlos tosenden Katarakts, an dem das Strömen als Erstarrung erscheint, oder am Bilde der Wirbel im Wasser, das in ihnen sich selbst einsaugt, seine ganze äußere Masse immerfort innerlich macht, nur um sogleich wieder äußerlich zu werden und der Wirbelgestalt fähig zu bleiben. Sie artikuliert das räumliche Innestehen der Zeit, zeigt sich in keinem Stücke dem Zeitschein selber willfährig, der mit der linearen Progression über jenes Innestehen betrügt. So fasst überhaupt der Benjamin’sche Gedanke die Reihe der Taten als aufgebrochene Zustände des Seins, die Kette der Geschehnisse an der Trümmergestalt der Ruinen, die sie zurückließen und die zuverlässiger sie manifestieren als der Saus und Braus, der über den Plan der Geschichte hinstob. Er depotenziert den Daseinsschwall, das temporale Spektakel auf seine eigentliche Radix herunter, den verborgenen Kraftpunkt, der dem unsichtbaren Atom der neuen Physik ähnelt, das die Explosibilität der ganzen sichtbaren Welt birgt, oder der Helix der neuen Biologie, die auf gedrängtestem Spatium ganze unausgefaltete Generationen in sich konzentriert. Dergestalt schreitet der Benjamin’sche Gedanke zurück, wenn er fortschreitet. Er sinkt in den Standpunkt hinein und „vertritt“ ihn nicht: scharrt die Stelle nicht aus, die Aufschluss verspricht. Wie im eigenen Bild der chinesische Maler verschwindet, soll Subjektivität hinter die Sache zurücktreten. Und wie der Melancholiker über dem Totenschädel sinniert, an dem ihm mehr über das Leben aufgeht als an diesem selber, brütet der Benjamin’sche Gedanke über dem factum, zu dem sich das facere und das fieri zusammenzogen, wie über Stein gewordenen Allegorien. So ist ihm denn umgekehrt an der Allegorie – der vergessenen barocken, die den expansiven bürgerlichen Geist als dessen eigenes Rätsel während der Schriftsteller Abgründe zwischen die Sätze legte, die seinen Leser zwingen, alles Rüstzeug aus dem Geschriebenen zu holen, um die gähnende Leere alles Ungeschriebenen nicht sowohl zu überbrücken, als überhaupt erst zu füllen. Proust hat diese Aktivierung des Lesers als bedeutende ästhetische Errungenschaft gepriesen (cf. Marcel Poust: Journées de lecture, „Apropos du style de Flaubert“; deutsch: „Über den ‚Stil‘ Flauberts“, in: ders., Tage des Lesens, Frankfurt am Main 1963 [S. 67–93], S. 85). Sie würdigt den Leser als Subjekt, während der dynamische Stil ohne Rücksicht wie eine Flut ihn fortreißt, atemlos macht und am Ende gegen jegliche ästhetische Qualität abgestumpft hat.
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vor ihm selbst versteckt – die Verschränkung von Zeit und Raum, Geschichte und Ewigem, Zivilisation und Mythos selber aufgegangen. Die fließende Zeit wird im Enteilen mit festem Zugriff gestellt, bei ihren wehenden Schleiern ergriffen und zu dem Geständnis gezwungen, dass sie der Raum ist, der über sich weglügen wollte – über die diskontinuierliche Härte des Stofflichen, das schroffe unversöhnliche Gegeneinanderstehen, das nicht im Überfliegen vereinigt, nicht vom Zeitstrom aufgesogen und in ihm homogenisiert, sondern im mühseligen Überklettern, durch gähnende Leeren hindurch und von Abgrund zu Abgrund überhaupt erst ermessen wird. Das rauschende, selbstherrliche Wesen der Zeit verhutzelt unterm sondierenden Blick des Subjekts, der sie ihm als die intrikate Ordnung des Raums zubringt – der rätselvollen Konstellation der Diskreta, die in maßlosem Abstand wie in drangvollster Enge, nach Linien der Verwerfung und der Verschiebung, zueinander gefügt sind. Mag an diesem zerklüfteten Kontinuum abgelesen werden, was immer der Blick, der ihm standhält, entdeckt: die Spur emphatischen Fortschreitens wird er in ihm nicht erspähen. Dass sie darin überhaupt gesucht wird, ist anderer Kraft geschuldet als der profanen Dynamis, und wird sie darin gefunden, dann ist je noch eine Hoffnung dabei, mit der Erfüllung sich zu verwechseln, die von andern Maßen wäre. An der Hoffnung, die in der Welt ist, ist stets etwas, das nicht von dieser Welt ist. Dies Etwas, ein unsäglich Minimales, ist aber gerade das verborgene Äußerste: das im Rauschen aller Teleologie Untergegangene, im Taktschlag des Fortschritts Unterschlagene.18 Die profane Ordnung ist derart ein Incognito messianischer: „[d]as Profane [...] keine Kategorie des Reichs, aber eine [...] seines leisesten Nahens“19 . Die undenkliche Wirkung des Reichs auf das teleologische Kontinuum 18 Das hindert diesen nicht, die heiligsten Namen – Gott, messianisches Reich, Friede – unablässig zur eigenen Selbstanpreisung zu verwerten, Namen, die Benjamin desto kompromissloser in seine Gedanken einzusetzen überzeugt war, je direkter, durch keinen zeitläufigen theologischen Gebrauch gemindert, er sie zitierte. Solche Zitierung steht so unabgesetzt schroff gegen den profanen – und profanisierten theologischen – Gedanken wie, einer seiner exponiertesten Theorien zufolge, insgesamt die Profanität, der Block des Ewigvergänglichen gegen das Unausdenkliche des Gottesreichs. Zwischen ihnen gibt es keine ‚Vermittlung‘ – eine Kategorie, die ähnlich wie beim Schelling der Weltalter-Philosophie einzig im materialistischen Saeculum ihren Sinn hat –, wohl aber eine „Beziehung“ (GS II, S. 203) – ein Ausdruck, der gerade mit dem Desolaten einer Unvermittelbarkeit auf das Falsche des Trostes deuten will, der mit dem ‚Hineinmediieren‘ des Absoluten in das Profane, wie der christliche Unchrist Kierkegaard es ausdrückte, dem Profanen die Würde erborgen möchte, die der Idee eines messianischen Reiches vorbehalten bleibt. 19 GS II, S. 204.
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der Profanität besteht darin, dass diese im Wegstreben von jenem es anzieht. Und alles, was im profanen Kontinuum diesem selbst widerstrebt – Sperrigkeit und Gewalt der Materien, die Katastrophen, soweit sie das Kontinuum der Geschichte aufsprengen, die revolutionären Intermittenzen samt den Brüchen und Leerstellen des Fortschritts –, sind Hinweise auf jene Wirkung, wenn nicht schon die apokalyptischen Breschen selber, die sie im Riesenleib des Weltalters hinterließ, dessen schon seit seiner frühesten Frühe geschehendes Ende – die mit ihm gesetzte Vergänglichkeit – wieder und wieder versprengtes Licht vom ewigen Tage streift. Scheint materiale Versenkung ans Abseitige, ans Abgedrängte und Nächtige sich zu verlieren; verharrt sie bei den Kontingenzen und üben die Brüche die größere Anziehungskraft auf sie aus20 als alle die trügerisch glatten Kontinua zusammen; liest sie unablässig die Chronologie als die zerklüftete Topographie, die sie in Wahrheit ist, dann um der Zeichen willen, die an den Kontingenzen auf abgründigere Necessitäten deuten, als die sind, nach denen die gegen sich verblendete Ordnung sie stilisiert.21 Sie muss auf die intrikate Figur starren, damit ihr das Figurierte nicht unter dem Blick zerrinnt, und sie fixiert, wie der Bleiguss den zischenden Sturz, die ornamentierte Oberfläche, an der der forttreibende Strom sich selber zurücklässt. An den Strukturen und Schichten, den Zyklopenbrocken der Epochen, die gegeneinander geschmettert daliegen, am ganzen zusammengeschüttelten Sein geht ihr die Genesis selbst auf und damit das, was verfehlt an ihr ist. Die Schöpfung – der gnostische alter deus – einmal sich selbst überlassen, ist je noch missglückt. Im Gerinnen des 20 Es ist die – buchstäbliche – Anziehungskraft des Schrecklichen, das unter dem Boden sich öffnet, den die Katastrophe aufreißt, – die Kraft, die der Mythos ambiguitär im Medusenblick symbolisierte, die versteinernde des Entsetzlichen, das den Entsetzten nicht freigibt. Mit ihr will die mythische Ordnung die ihr sich entringende profane, die nur der Mythos mit vor dem eigenen Entsetzen verschlossenen Augen ist, mythisch besiegeln. Wer aber wie der, den der Angelus Novus symbolisiert, mit offen gehaltenem Blick, in stetem Zurückweichen, von dem Entsetzlichen sich löst, dem wächst im gleich steten Maß die Kraft zu, durch die jetzt er etwas über das Mythische – wie über die Profanität – vermag: die Kraft, die ihn die profane Ordnung als den Schauplatz erkennen lässt, auf dem, was geschieht, katastrophal entweder im unaufhörlich erneuerten Grauen dem Mythos zurückerobert oder aber im apokalyptischen Ende dem messianischen Reich erst erobert werden soll. 21 Necessitäten, wie sie der Mythos in den Namen des Schicksals und des Verhängnisses verschloss und verdunkelte, und wie sie die Ratio zu erhellen hoffte, wenn sie sie unter den aufgeklärten des Prinzips, der Kausalität, mechanischer und organischer Progression installierte, so aber nur die chthonische Nacht zum universell ausgebreiteten Grau des All-Tags verdünnte.
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Werdens zum Sein geht Genesis immerfort an sich selbst zugrund, gibt sie die στάσις preis, die sie als δύναμις nicht sein kann. So ist sie das Negativ der ewigen Ruhe, die sie nicht findet; gibt den Grund ab, in den das unausdenkliche Positiv, mit schwer nur zu entziffernden Spuren, sich eindrücken kann.
3 Müßig wäre es, an Benjamins Texten das Subjektive vom Objektiven prinzipiell trennen zu wollen: ähnlich wie in der Monadologie ist das eine stets durch das andre mitrepräsentiert. Um des Subjekts wie um des Objekts willen hat Benjamin – Häretiker der Wissenschaft und Erkenntnistheorie, wie Gnostiker und Mystiker solche der Theologie waren – dem Dogma von der Subjekt-Objekt-Spaltung sich nicht gebeugt. So ist ihm Psychologie auch nicht die Domäne des Innern – sie ist überhaupt keine Domäne, sondern eine objektive gestische Topographie, Lehre vom Niederschlag der Objektivität in der subjektiven Reaktion, die ihrerseits nicht primär spontane Behauptung gegen das Objektive, sondern dessen Erschaffung in mimetischer Anverwandlung ist. Entscheidend für die Betrachtung werden die Grenzlinien, auf denen das Objektive ins Subjektive nicht sowohl umschlägt, als dass dort jedes im andern innesteht: die dinglichen Ränder der Person und die elektrisch-aktiven des Dings. Diese Linien sind nicht abstrakt-dürrer Strich, sie haben eine Breitendimension: die des Niemandslands zwischen Nicht-Ich und Ich. Dies macht seine Erforschung zur Physiognomik: zur Spurenlehre von den Wirkungen, welche das Nicht-Ich im Ich22 und das Ich im Nicht-Ich hinterlässt – wie etwa die Züge im Gesicht eines Menschen, die Umrisse seines Schädels immer zugleich seinen Charakter und die prägenden Kräfte natürlicher und gesellschaftlicher Physik ausdrücken und dabei den Charakter als das am Subjekt selber dinghaft Gewordene und an den Kräften das Subjektarti22 Und zwar in der Vertikalen, der innersubjektiven Penetration des Archaisch-Bewusstlosen und zivilisatorischer Bewusstheit, ebenso wie in der Horizontalen, der subjektiv-objektiven Interdependenz. Dies bringt die Benjamin’sche Physiognomik auf die Seite der psychoanalytischen und der materialistischen Hermeneutik und grenzt sie gegen die geisteswissenschaftliche und subjektivhistorisierende ab.
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ge, die Elastizität erweisen. Wer sich der physiognomischen Dimension in den Benjamin’schen Texten nicht versichert hat, bleibt hilflos vor ihnen wie vor einem fremdsprachlichen, der zwar redet, aber nicht für den, der die Sprache nicht kennt. So muss ihn verblüffen, dass das – paradigmatische – Stück aus der Berliner Kindheit, das Benjamin, wahrhaft vexatorisch, Loggien überschrieb23 und das der Leser arglos für einen Exkurs über ein architektonisches Specificum zu nehmen sich anschickt, vielmehr „das genaueste Porträt“ enthalten soll, „das mir von mir selbst zu machen gegeben ist“24 : also nicht die Charakteristik von einem Ding, Loggia geheißen, sondern von einer Person, und wieder nicht von einer beliebigen, sondern von der eigenen. Der Leser findet einem doppelten Quidproquo sich gegenüber: dem, wobei die Charakteristik des Dings für das Porträt der Person, und einem, wobei das Porträt für die Biographie steht. Denn das Porträt ist hier, im eigentümlichen Sinne Benjamins, abbreviierte Biographie, eine, die nicht dadurch zur genauesten wird, dass sie die Entwicklung der Person in der Zeit auseinanderlegt, sondern sie im Punkt konzentriert, als das Knäuel fasst, das am organologischen Leitfaden nicht zu entwirren ist. „[H]undert Orte aus einer Stelle zu saugen“25 und ihre Konfiguration zu bestimmen, oder aber die Orte auf der Schnur linearer Progression aufzureihen und zur Kette der ‚Entwicklung‘ zu schmieden: das macht den Unterschied zwischen Physiognomik und schematisierender Teleologie. – Nun hängt aber dem Begriff des Porträts ein metaphorischer Sinn an, den die strikt physiognomische Intention abweisen müsste. Sie weist in der Tat ihn ab. Die Metapher des Selbstporträts, das der Schriftsteller ja nicht malt, wäre dann eine, wenn er, ehe er denn mit Worten malt, sich nicht Rechenschaft über den Schriftcharakter des Bilds gegeben hätte. Die literarische μετάβασις εἰς ἄλλο γένος – nämlich die ins
[Im Handexemplar des Autors ist an dieser Stelle notiert:] Fn: Hier koinzidieren dieser Essay und die Kernidee der B.schen „Biographie“ Palmiers [Jean-Michel Palmier: Walter Benjamin. Leben und Werk, Frankfurt am Main 2009]
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Cf. GS IV S. 294–296; cf. die Fassung letzter Hand GS VII, S. 386–388. Benjamin, Briefe, l. c., Bd. 2, S. 589 [an Gerhard Scholem, 31. Juli 1933; Hervorh.: H. S.]. – Er erwog, es deswegen an den Anfang des Buches zu stellen; cf. l. c., S. 591 [an Gretel Adorno, undatiert]. 25 GS VI, S. 607. 24
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Bildliche – vag vermöge eines Allerweltssymbolismus, zeigt ihren genauen Umriss, die Differenz der genera und ihre Penetration, erst, wenn die Verschränkung von Begriff und Bild selber durchsichtig wurde. Sie wurzelt im Dingcharakter des Begriffs, dem Innestehn der Sache im Namen, wie im Begriffscharakter des Dings, dem Innestehn des Namens in der Sache, letztlich im Figuriertsein des concretum – darin, dass die naturata selbst eine Art Zeichen, Schriftzeichen sind, welche die naturierende Natur schrieb und der Physiognomiker zu dechiffrieren sucht. Denken bildet sie nach, und die Sprache, die diesem bildenden Denken behutsam folgt, ist selber das Denkbild. Das Denkbild, als Sprache, ist nur ein Beispiel von Sprache, ein anderes Beispiel die Allegorie, weitere sind Gestik und Mimik, die Sprache – als langue, als écriture – ist die der Spuren und Linien, bei der der Ausdruck dem Auszudrückenden nach Art der Gesten folgt, die im Stoff ihres Ausdrucks das Auszudrückende zeichnen – malen und schreiben zugleich –, das seinerseits sich in den Ausdruck drückt – unvordenkliches Wirken und Erleiden, Erleiden und Wirken der Mimesis. Denken ist ihr sublimierteste Form; Sprache der Worte und Begriffe der Niederschlag bei dieser Sublimation; diese selbst das Drängen der mimetischen Materien zum Namen: dem, den alter deus – der geschichtliche Mensch – da finden und artikulieren muss, wo deus erschaffend ihn einsprach.26 Wenn Physiognomik in der materialen Ver26 Gott sagt die Namen – freilich in der höchsten, der schöpferischen Form des „Wort[es]“ („In Gott ist der Name schöpferisch, weil er Wort ist“; GS II, S. 148). Was aber oder wer sagt den Namen Gott? Dass Gott Der ohne Namen sei, verschiebt die Schwierigkeit, die ebensowenig sich auflöst, wenn, wo immer „Gott“ gesagt werden soll, der Name Gott ausgelassen wird. Denn er wird ja gedacht, gesetzt, wenn man sich entschließt, ihn nicht zu setzen: er steht emphatisch da, gerade wenn er nicht dasteht. Es ist dies buchstäblich die bestimmte Negation, und der Name Gottes insoweit nichts anderes als die Essenz aller Namen: die Substanz als absolute. Diese aber anders zu fassen, als der gesamte Gang der Philosophie sie zu fassen zwingt, nämlich idealistisch, ist die Aufgabe, von deren Lösung Anstrengungen wie die des historischen Materialismus, oder häretischer Mystik, überhaupt jeglicher spekulativer Physiognomik, eine erste Ahnung geben. Mindestens lassen sie das Problem fassen: dass Gott ein Name ist; was die Frage bedeutet: was spricht ihn wem zu? Die eigentliche innere Anstrengung der Benjamin’schen Spekulation scheint der Versuch, darauf eine Antwort zu finden. Sie ließe tentativ so sich umreißen: Das unvordenkliche Seiende, die mimetische Materie spricht den Namen Gott selbst sich zu, durch die Sprache des Menschen, worin Gott der höchste Name ist, als das von der mimetischen Materie Unterschiedene in der distinkten Einheit damit. Die Distinktion ist die Geschichte, der Riss zwischen Substanz, Materie – der namenlosen, zum Namen strebenden – und Gott – dem Namen, der im Geist des Menschen und seiner Sprache aufging, die ihn wieder verwischt –, ein Riss, der sich zu schließen strebt im vergöttlichten Sein, im daseienden Göttlichen: der Utopie des Reichs. – Freilich: Benjamin war nicht Bloch. Als der Kierkegaard unter den spekulativen Materialisten insistiert er auf den Brüchen und Distinktionen,
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senkung den Lineaturen der concreta folgt, dann dem, was diese von sich bekunden wollen; und wenn sie das Vernommene ins Denkbild fasst, also den Namen sprachlich – nämlich in der Sprache der Worte und Begriffe – wiedergibt, dann hat sie dem concretum selber das Seine gegeben statt wie die Sprache, die am Namen sich nicht misst, es genommen, die Sache entstellt oder zerstört und noch der Möglichkeit beraubt, im Namen des Entstellten27 und des Wiederhergestellten begriffen zu werden. An jenen wie an diesen Namen: an den Begriffen, die die Sachen und nicht ihre Zurichtung fassen – den Zeichen des integren Standes und des Bruchs mit ihm28 –, hat eine Sprache erst ihre Kraft; eine Kraft, wie Würde und Prägnanz der Benjamin’schen sie bezeugen. Die Einsicht ins räumliche Einstehen der Zeit gibt das Fundament eines Stilisationsprinzips ab, das durch Vermeiden dynamischer Artikulationsmuster zugunsten tektonischer jener Einsicht unmittelbar gerecht wird. Indem die Artikulation das εἶδος-Artige des sprachlichen Begriffs seinem Angelegtsein auf die grammatische dynamische Synthesis – dem geschichtlichen Mal am tendenziell transgeschichtlichen Namen selber – abzuzwingen vermag, gelingt der Benjamin’schen Wortchymie das Sublimat des scharfgerandeten, leuchtenden „Bildes“ – des plastischen, originären Gedankens, des „Denkbilds“29. So – und freilich nur so – kann der innersten Paradoxie des universalen mimetischen Corpus, dem die Hegelianer unter ihnen teleologische Kontinuität unterlegen. Von Kierkegaard wieder trennt ihn subtile Gnosis: Gott will sich selbst. So wird aus der mimetischen Materie der Mensch, der Gott nicht will. Dieser tritt aber im Menschen in den alter deus, dem die historische Schöpfung missglückt, und in den auseinander, den im Menschen die messianische Idee bezeugt: eine Kraft, die eine andere Schöpfung verspricht, als die vollkommenste profane je sein wird. Sie wäre es physisch, nie moralisch. Jene „Ablösung des Schöpfers“ vom alter deus „ist ein moralischer Akt“ (Manuskript 803, Benjamin-Archiv, Frankfurt am Main). 27 Etwa im Namen der Verdinglichung, der Alienation, der Unwelt, der Hölle. Es sind Namen, weil sie das ‚Substantielle‘ der Profanität fassen – limitative, die positiv die Ewigkeit des Endes und eben damit negativ, apokalyptisch, das Abwesende, die Apokatastase ausdrücken; mit dem Unwesen, der ‚vollendeten Negativität‘, das Wesen. 28 Drücken die limitativen Namen den Bruch mit der Messianität universell aus, dann die Ideen die je spezifisch gebrochene Stellung der Profanität zum Reich. Die Ideen sind insoweit historische Namen – Namen wie Mythos, Rechtsordnung, Zivilisation, Nihilismus, Moderne. Sie indizieren sich am Typisch-Konkreten, wie am Trauerspiel, der Tragödie, den Allegorien, am Kitsch, den epochalen politischen Taten und Untaten, an der ganzen Fülle der schon geprägten – nicht der erst wissenschaftlich aufbereiteten Faktizität, welcher vielmehr selbst erst der spezifische historische Name entlockt werden muss, den sie bewusstlos in sich versteckt hält. 29 Hier in dem Sinn, wie George das Wort auf Mallarmé anwendet, – dem einer „Dialektik im Stillstand“. Diese Benjamin’sche Prägung (dazu cf. Verf., „Schein und Wahrheit in Benjamins Kon-
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denn der Schriftsteller mit Worten malen: kann der Loggien-Text Porträt sein. Er ist es im Sinn der Momentaufnahme, bei der auf das Porträtierte das Licht als Blitzlicht fällt,30 die dunkelsten Ecken ausleuchtet, Vorderwie Hintergründe mit der nämlichen Intensität hervorhebt – mit dem verwirrenden Effekt, dass man nicht weiß, ob die Person, ob die Umgebung getroffen sein sollte, und jene für so dinglich nimmt wie die Dinge für lebendig auf unheimliche Art. Auf diese Verwirrung ist abgezielt. Im Sinn einer apperzeptiven Katharsis soll sie dem Leser des Porträts wie dem Betrachter einer Momentaufnahme gerade verdeutlichen, dass bestimmtes Dasein das Einstehn zweiter Natur in der Person, Person die gestisch manifestierte Raumzeit ist. Dergestalt geben die „Loggien“ ein gestisches Porträt. Ein gestisches – aber keines, das die Gesten dramatisch, an Handlungen offenbarte. Es ist topo-, nicht kinematographisch – aber es gibt kein Spiegelbild des Porträtierten. Es gibt seine Gesten – aber nicht am Ausdruck des Leibes. Es fixiert auf eine bestimmte Art den empirischen Charakter selber: das Gesetz der charakteristischen Handlungen und Erfahrungen eines Subjekts, nicht diese Handlungen und Erfahrungen im Einzelnen. Wie aber soll der empirische Charakter anders greifbar werden als eben an diesen Handlungen, die ihn in Raum und Zeit materialisieren? Diese Frage gebietet der kritische Idealismus, dem das unaufgebbare Theorem vom empirischen Charakter verdankt wird. Folgt die Antwort ihm streng, zeption einer Dialektik im Stillstand“, in diesem Band, S. 219 f.) artikuliert den ganzen plastischen Zwang selber mustergültig, dem die strenge sprachliche Artikulation insgesamt unterliegt, im Gegensatz zur musikalischen, die berufen scheint, das Räumliche temporal zu denunzieren, so wie die sprachliche – jedenfalls die des Physiognomikers – die Zeit räumlich. Die Baudelaire’schen ‚correspondances‘ bezeugen Benjamin, dass neben dem physiognomischen der lyrische Ausdruck – vielleicht der angespannteste und reflektierteste von allen – am ehesten den Spatiencharakter der Zeit fassen lässt, dass überhaupt die lyrische und die esoterische Sprache – bei Mallarmé und bei Valéry im Einstand – das eigentliche Muster der Wortsprache – zumindest ihrer paradiesischen Spur in der postadamitischen Weltzeit – abgeben, die von sich aus nichts als Name sein will. 30 Das Blitzlicht der Photographie ist das technisch-säkularisierte apokalyptische, wie es auf den Bildern des Manierismus grell über den Prospekt herabzuckt, wie es die Choc-Kunst der Moderne verzerrend über die Szenerie herunterbrechen lässt, um durch Beleuchten – dem eine Erleuchtung im Betrachter folgen soll – die Unnatur des Natürlichen hervortreten zu lassen. Sind die illuminierten Figuren geblendet, dann weil sie verblendet sind. Das Künstliche der in die Szene fahrenden Lichtblitze zeigt offen, wie bei den denkenden Künstlern und Operateuren, oder versteckt, wie bei den bewusstlosen, dass sie aus anderer Ordnung leuchten, als die beleuchtete ist: aus der erst zu machenden, kommenden oder, wo sie technisch begann, zu bewältigenden.
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muss sie auf der Darstellbarkeit jenes Gesetzes – des Namens der Person, der ihre Handlungen dechiffrieren lässt – durch seine Äußerungen beharren: die Photographie der Essenz, statt der Akzidentien, wäre absurd. – Ist darum der Physiognomiker, der sie tatsächlich gibt,31 etwas wie der auf den Spiritisten heruntergekommene Idealist – nämlich einer, der seine Intelligenzen in Astralleibern materialisieren und die Materialisationen porträtieren zu können überzeugt ist? Worauf der Okkultist doppelsinnig herunterkam, ist die Materie, die der strenge Idealist, mit Gründen, zum Individuationsprinzip, einer subjektiven Regel der Konstitution der Materie, verflüchtigte. Die spiritistische Dummheit ist es, der Subtilität jener transzendentalen Gründe nicht mächtig zu werden, aber der unbetrogene Instinkt in dieser Dummheit der, der spürt, Materie lasse sich nicht wegdemonstrieren. Indem der Spiritist das Niveau verlässt, kommt er auf den Grund zu stehen, während der strenge Idealist, der es hält, ihn verliert. Werden beide aus einer gewissen Distanz betrachtet, beginnen die autonomen Intelligenzen Kants mit den Astralleibern der Geisterseher, die er bekämpfte, zu verschmelzen, und die gleiche Distanz lässt die – paradoxe – Kehrseite dieser Paradoxie hervortreten. Kant bekämpfte an den Geistern gerade die Materialität – zuletzt das Ansichsein, das lückenlos ins Subjekt aufgelöst werden soll. So wird dieses selber gespensterähnlich: zu dem ‚Geist‘, an dem die zu Formalität verdünnte Materialität ähnlich schemenartig bleibt wie die Phosphoreszenz am Gespenst. Das Recht des Spiritisten gegen den Transzendentalisten ist das planmaterialistisch-positivistische der Sichtbarkeit, der Faktizität, auf dem er jedoch abergläubisch – mehr abergläubisch jedenfalls, als es der Faktengläubige selber ist – besteht, wodurch dieses Recht das Unrecht wird, das er der Rationalität antut. Aber ist deren Legitimation durch die historische Subjekt-Objekt-Spaltung beglaubigt, die der rationalistische Idealist nicht erfindet und deren eigene Logik ihn bis zur absoluten Selbstbehauptung übers Irrationale und Nicht-Ich treibt, dann mindert dies das Unrecht des Okkultismus soweit wieder zu ei31 Nämlich absurd etwa auf die Art, wie surrealistische Bilder absurd sind, die denn den Surrealisten als Wahlverwandten des Allegorikers und des Physiognomikers zeigen. Benjamin hat die Affinität nicht nur in seinen ingeniösen Studien über den Surrealismus auf den Begriff gebracht, sondern, durch das Montageprinzip wichtiger seiner Arbeiten, selber manifestiert, von denen die wichtigste das Passagenwerk hat werden sollen.
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nem Recht, wie Nicht-Ich und Irrationalität – der materielle Grund – dem Rationalisierungsprozess von sich aus widerstreben. Die Okkultisten sind materialistische Karikaturen von der Art, wie Hexen und Teufel Verzerrungen der vorchristlichen Aphroditen und Satyrn waren: dämonisch entstelltes Überleben erster Natur in der zweiten. Über die mystischen coincidentiae oppositorum – die des Geistigen und Stofflichen selber – und die pantheistischen Identifizierungen von deus und natura haben sich die Konturen der Entstellung zu entzerren begonnen und im spekulativen Naturalismus der Panlogisten schließlich zum grandiosen Bilde eines rationalen Pandämoniums abgeklärt: dessen des ‚universellen Systems‘. Alle die amphibolischen Gestalten aus Stoff und Form, aus Qual und Ruhe, Fleisch und Geist, ἐνέργεια und ἔργον, Negation und Position, Trieb und Sublimation sind zu Gestalten des Geistes geworden, und ihr geistiger Schein ist die materielle Phosphoreszenz selber, die sie so an sich haben wie Heiligenbilder die Aura – die Aura, deren Darstellung des nämlichen Stofflichen bedarf, über das die Darstellung hinausheben soll. Der Geist des spekulativen Idealismus ist materieller Schein. Ihn kann endlich der historische Materialist – der eigentliche Anwalt der unabgegoltenen und entstellten Rechte der Materie –, jetzt nämlich, da ihre dämonische Verzerrung mystisch und spekulativ rekapituliert ist,32 von der Materie wegbringen, um aus der Leuchtkraft ihres eigenen Lichts die Kraft zur Vertretung ihrer Ansprüche zu ziehen: in der Helle der so erst sich bewährenden Aufklärung, die das Licht des Verstandes allein noch nicht verbreiten kann. Zog die Verstandesaufklärung unabweislich, wie das Licht die Motten, den Schwarm der Spiritisten herbei, die ihren Mangel nicht ausglichen, sondern die bis zur Karikatur ihn indizierten – der Karikatur einer spätzeitlichen Dämonologie, jenes Okkultismus, der pseudowissenschaftlich der unabtrennbare – bunte – Schatten positivistischer Wissenschaft selbst ist und im Grau der Ära des Scientivismus das willkommene Dekor eines in allen Farben schillernden Irrationalismus und Exotismus abgibt –, so brauchte der historische Materialist nur zum Physiognomiker sich zu bilden, um an den Charakteren erster und zweiter Natur die Masken zu finden, die den Charakter ausmachen und verstecken zugleich. Dass die Person die Maske ist, durch die sie spricht, 32
Ihr Historiograph ist Ernst Bloch.
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hat den Idealisten zu der Trennung verleitet, die den Charakter der Maske enthebt. Der Spiritist, der ihn zu rematerialisieren sucht, bringt es aber nur zur Fratze seiner intelligiblen Gespenster. Dass es derer so wenig bedarf, um die Materialisation, wie der Hypostasierung des Charakters und der Person, um die Spiritualisierung zu bezeugen – dies demonstriert der Physiognomiker an den natürlichen und den historischen Charaktermasken, den menschlichen und dinglichen Geschöpfen selber, in denen erste und zweite Natur, Stoff und Geist in wechselweiser Penetration und Erzeugung zum je spezifischen Einstand kamen. Der Begriff der Charaktermaske aus der materialistischen ‚Naturgeschichte der gesellschaftlichen Ökonomie‘ liefert der Antwort auf die Frage, ob der empirische Charakter selber zu greifen wäre, den konstitutiven Grund zu ihrer Bejahung. Die Materialisation des empirischen Charakters – und damit die Bedingung für sein Porträt – bewerkstelligt die zweite Natur, die ihn selbst – im umgekehrten Sinn des idealistischen Theorems – schon zu der Manifestation macht, die seine Handlung erst sein soll. Wird die Person als Charaktermaske begriffen, als der Knotenpunkt der gesellschaftlichen und historischen Kraftlinien, die zum Subjekt sich verwickeln, wird auch begreiflich, wie die Momentaufnahme von dinglich historischen Charakteren – wie der Loggien – zum Porträt eines Menschen – Benjamins selber – werden kann: kraft der Sprache zum Denkbild, auf dem Kindheit und Erwachsensein so zusammengezogen und ineinandergeschoben sind, dass dieses in jener und jene in diesem erkennbar durchschlägt. Sichtbar wird dies an den Rändern der Figuration selber, den lokalen und temporalen Bedingungen, in die das Kind unausweichlich versetzt ist; die in es wie in die Matrix sich prägen, welche mit dem Kind, ja als dieses selbst, mitwächst und jene Figuration unaufhörlich als die sich überlagernden Erinnerungen des Erwachsenen – damit ihn selbst – reproduziert. Weil das Subjekt abgründig die Art ist, wie die ihm vorgegebene Konstellation des Objektiven assimiliert wird, wird es ablesbar an dieser und an der Art, wie sie als erinnerte in ihm durchschlägt. Die erinnerte objektive Konstellation ist die eigentliche historische Physiognomie, ihr durch die Sprache manifestierter Name, und das nackt Photographische daran – die empirische Phänomenalität, die authentischen Einzelzüge der Physiognomie – sind die Zeichen, an denen der Name buchstabiert wird.
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4 Kraft des lokalen wie des historischen Airs, von dem der Wortsinn von „Loggia“ zehrt, konstruiert Benjamin das eigene Porträt: so werden die Loggien zum Namen seiner Existenz. Nichts hat, wie er formuliert, seine Erinnerung an die Kindheit „inniger“ gekräftigt, „als der Blick in Höfe, von deren dunklen Loggien eine [...] für mich die Wiege war, in die die Stadt den neuen Bürger legte“33 . Solches Kräftigen der Erinnerung – Herstellen der eigentlichen Lebenskraft – ist der assimilatorische Prozess selber: der mimetische Kontakt zwischen Objekt und Subjekt, die osmotische Penetration, durch welche dieses an jenem wächst. Sie geschieht in der „Wiege“, aber nicht in der, die eine natürliche, sondern in der, die eine historische Nachbildung des Mutterschoßes ist: in der steinernen Loggia. Damit ist – mit der grandiosen Verkürzung, wie sie nur der authentischen literarischen Prägung gelingt – auf die historische Geburt des Subjekts selber gedeutet: die Wiedergeburt in der zweiten Natur, die die eigentliche Geburt des Menschen ist. Der natürlichen tut Benjamin keine Erwähnung, wie alles, was die Kindheit kräftigt, hier nicht in den familienbiologischen Verrichtungen und deren Subjekten aufgesucht wird, sondern in den Dingen und ihren Zuständen – nicht sowohl im Haus als in den Höfen, im Drinnen nicht, sondern im Draußen. Innigkeit ist kein Attribut des Subjekts – nach Art etwa der pseudokonkreten ‚Befindlichkeit‘ –: sie widerfährt ihm, und widerfährt ihm vom nährenden Objekt. Die Höfe selber sind jene zum Raum erweiterte Zelle, die die Wiege ist. Und in der Dimension dieses Raums werden die historischen Begriffsvaleurs von „Loggia“ und „Hof“ virulent. Sie erweisen die Entfremdung des Subjekts als dessen Eigenstes, seine geschichtliche Natur als die ihm natürliche und die Kraft dessen, der hier sich porträtiert, als die, solcher Entfremdung standzuhalten, sie darzuleben und ihr den Ausdruck zu finden.34 Keine Mutter hat das Kind in die 33
GS IV, S. 294 und GS VII, S. 386. Das Subjekt, das alles dieses nicht erträgt und vermag, findet sich von solchen Schriftstellern repräsentiert, die, ob literarisch, ob theoretisch – etwa nach Art des betulichen, heimatfrommen, muckerhaften Existenzialismus –, unablässig die Wiege, die Familienzelle, die Mütterlichkeit, den spießbürgerlichen Animalismus als Attribute der Lebenswärme vorspiegeln und die Herzen ihrer frierenden Leser wärmen wollen. 34
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Wiege gelegt, sondern „die Stadt“, und was in die Wiege gelegt ward, ist ein „Bürger“: das Wesen als vorab politisch definiertes. Ermisst man, dass „der Bürger“ verloren ist zu einer Zeit schon, da er noch blüht –, dann zeigt sich das ganze Bild als frappante Allegorie des Findelkindes; eine, auf dem die Loggia buchstäblich jene Loggia del Bigallo vorstellen könnte, die, erbaut im Florenz des Trecento, der Niederlegung von Findelkindern diente, und auf dem die „Höfe“ solchen ähneln, wie sie die patrizischen Paläste waren, die diese Loggia umstanden, und vollends den Fürstenhöfen des Barock, in deren Theater die Logen eingebaut waren, Lauben, in denen die Zuschauer am Anblick des Spektakels sich erkräftigten, das auf der Bühne das theatrum mundi vertrat. Sagt Benjamin, dass ihm „die Luft der Höfe [...] auf immer berauschend blieb“35, dann lässt die Wendung fast nur noch soweit an die Hinterhöfe von Bürgerhäusern denken, wie in diesen „alles“ dem Kind „zum Wink“36 , zum Hinweis darauf wurde, was ihm den Hof zum königlichen verzaubert und es selbst in den Prinzen, der die Alleenplätze vor dem Haus als „entlegenere Provinzen“37 dieses Hofes betrachtet. Was die Wendung eigentlich vergegenwärtigt, ist etwas von der historischen Luft der Höfe selber, jener des Barock der Allegorien, denen Benjamin später ihr Geheimnis entlockte; der, die schon in seiner Kindheit die natürliche Luft penetrierte, welche die Hinterhöfe erfüllte. Es war die Luft, „in der die Bilder und Allegorien stehen, die über meinem Denken herrschen wie die Karyatiden auf der Loggienhöhe über die Höfe des Berliner Westens“38 . Dass die Bilder und Allegorien ‚in der Luft stehen‘, ist wie eine eschatologische Wendung zu lesen: sie stehen so in der Luft, wie dem Chiliasten die Kometen und feurigen Zeichen im Himmelsraum. Und dass sie, wie er sagt, „über meinem Denken herrschen“, charakterisiert dieses Denken wie jene Zeichen als weit über den Horizont eines subjektiv-scientivischen Sinns von Denken und Zeichen hinaus – nämlich bis in den historischapokalyptischen Zeit-Raum selber hinein verschoben. Fasst man die Wen35
GS IV, S. 294 und GS VII, S. 386. Ibd. – Dass das Findelkind ein Prinz ist – das in unterer Ordnung, im Stande des Incognito erscheinende Wesen höherer Ordnung –, ist ein altes Motiv, das bis hinab auf den Findling Moses leitet. 37 GS IV, S. 295 und GS VII, S. 387. 38 GS IV, S. 294 und GS VII, S. 386. 36
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dung wie eine auf, die besagt, dass ein Denken ‚unter einem Motto steht‘, oder so, dass bestimmte Bilder und Allegorien39 wie Devisen oder irgend präparierte ‚Leitbilder‘ es beherrschen, dann verfehlt man ihren Sinn. Nicht Steuerung des Denkens oder des Lebens durch ideologische Signale, durch Wertmarken in blank funktionalistischer Bedeutung – auch nicht durch obskure kosmische Infiltration, allenfalls dessen, was im pannaturalistischen Sinn ihr ungedeutet zugrund liegen mag – ist gemeint, sondern dies, dass die Bilder und Allegorien so über einem Leben stehen wie Sternhaufen über der Erde; dass sie, wie diese mit der Erde, mit dem Denkenden eine objektive Konstellation bilden, innerhalb deren das Denken zu der Aufgabe wird, die gesamte Konstellation zu enträtseln und damit die Herrschaft, die sie geheimnisvoll über alles das ausübt, wovon sie die Konstellation ist. Das Denken steht nicht unter den Zeichen wie die Existenz unter ‚ewigen Werten‘ oder einem ‚obersten Sein‘, sondern so, wie der aufklärerische Materialist unter dem historischen Fetischtrug, dessen objektive Gewalt er durch das kritische und befreiende Dévoilement zu brechen sucht. Die Konstellation von Loggia, Hof, Stadtbürger, der Luft, worin die Zeichen stehen, ist Trugbild von der materiellen Beschaffenheit und Gewalt jenes Fetischtrugs; ist nicht leeres Schemen subjektiver Phantasie, sondern objektiver Schein: Widerschein des konkret Historischen selber, der dieses indiziert. So indiziert der Wiegencharakter der Loggia das in sie gelegte natürliche Wesen als politisches; Natur als Geschichte; das Kind als das Findelkind; die Geburt des bestimmten Individuums als die eines anonymen Sozialcharakters; die Anonymität den unter der bürgerlichen Charaktermaske stets lebendigen Wunsch des Subjekts, der Einzige, der Erste, Prinz zu sein; schließlich das Harun-al-Raschid-Incognito der Monade ihren Stand der Entfremdung inmitten der Gesellschaft, in der sie unerkannt, unverstanden und heimatlos ist. Bleibt eine ganze, in alle Richtungen der Selbstentfremdung sich verlaufende Literatur in ihrer mehr oder weniger beredten Klage über dies Unerkanntsein und die Heimatlosigkeit blind, dann stecken die wenigen konzentrierten Stücke der Benjamin’schen dieser Literatur ein Licht 39
Die Wendung „die Bilder und Allegorien, die über meinem Denken herrschen“ hat die Form des universellen, nicht des partikularen Urteils.
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auf. Nicht nur erwächst aus der Desolatheit, die in der dinglichen Dechiffrierung des Menschlichen und des Persönlichen liegt, Erkenntnis – sie gewährt auch Trost; hält unter der Asche der Alienation die Glut der Hoffnung. Es sind die Loggien dem sich Erinnernden vorab „des Trostes wegen“ „noch nah“, „der in ihrer Unbewohnbarkeit für den liegt, der selber nicht mehr recht zum Wohnen kommt“40 . Scheint solcher Trost aus Rancune geboren, der billige dessen, der weiß, dass die Städte unbewohnbar geworden sind, und damit sich abfindet, so ist er in Wahrheit der epochale, der einer ganzen Generation gerade aus ihrer „großen Armut“41 erwuchs. Es ist die Generation, die, nach 1918, „unter freiem Himmel in einer Landschaft“ steht, „in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper“42 . Ihr wird es zum Stachel, „von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren“; „vom hergebrachten, feierlichen, edlen, mit allen Opfergaben der Vergangenheit geschmückten Menschenbilde“ abzurücken und „sich dem nackten Zeitgenossen“ zuzuwenden, „der schreiend wie ein Neugeborenes in den schmutzigen Windeln dieser Epoche liegt“43. „In der Tür steht die Wirtschaftskrise, hinter ihr ein Schatten, der kommende Krieg. Festhalten ist heut Sache der wenigen Mächtigen geworden“, um, „wenn es sein muß“44 , die Kultur zu überleben: wie heute wieder – aber so, dass es zu einer überhaupt erst führt. Wie in der versinkenden alle Hoffnung eitel, der Trost trügerisch war, das war auch an den „Loggien abzulesen“, dem Stein gewordenen vergeblichen Versuch, die Muße, die Ruhe, den Sabbat zu bereiten und „das Familienleben ins Grüne vorzuschieben“. „Nichts lehrte der Zustand dieser eines überm anderen befindlichen Gevierte, als wieviel beschwerliche Geschäfte jeder Tag dem folgenden vererbte“45 : die Loggien wie erst recht die Balkone und ‚Nischen‘ der Wohnmaschinen heute sind die Ornamente 40
GS IV, S. 296 und GS VII, S. 387 („nahe“ statt „nah“ in GS IV). GS II, S. 215. 42 „Erfahrung und Armut“, in: GS II, S. 214. 43 GS II, S. 215 und S. 216 [Hervorhebung: H. S.]. 44 GS II, S. 219. 45 GS IV, S. 295; in GS VII ist der ganze Passus gestrichen (s. S. 387). 41
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der ‚Freizeit‘ am riesigen Arbeitshaus der Gesellschaft, in der die Lebenszeit mit der Arbeitszeit – und der Rekreationszeit für diese – schließlich zusammenfällt. Im Bild der Arbeitshölle – des Daseins das zur Arbeit verdammt ist, obwohl die Maschinen es davon zu befreien vermöchten – sind die Züge verschwunden, die am Bürgerhaus davon zeugten, dass die Arbeitshölle noch nicht universell war; dass sie an die Grenzen eines Limbus stieß – der bürgerlichen Lebenskultur, die aber mit dem Paradies sich verwechselte. Fern davon, erlöst zu sein, sind die Bewohner des Limbus auch nicht verdammt: wie die Bürger im geschichtlichen Zwischenreich, das ihr Fortschritt in ein Paradies jedoch nicht verwandeln konnte, sondern dem Inferno stets näher brachte – der Hölle, in der die Bürger, in wachsenden Scharen, als Depossedierte, als Entmächtigte, als schuldige und unschuldige Opfer der saekularen Katastrophen und durchs Verdikt der eigenen Geschichte Verdammte verschwinden. Diesen Limbus-Charakter trifft beklemmend Benjamins LoggienAllegorie. Das „Gesetz des Ortes“46 erfüllte sich in der Immergleichheit bürgerlichen Alltags, den die Träume der Bewohner und die exotischen und künstlerischen Stützen dieser Träume – die staubigen Palmen, die düsteren Ampeln, die Bronzen, die Chinavasen – nur desto unbarmherziger hervortreten ließen. Die Altertümer, an denen die Bewohner abwesend ihr Bewusstsein hatten, warfen noch auf ihr Äußeres den Schein zurück, der sie fahl machte, fahl wie die Abgeschiedenen im Orkus. „[D]er Zeitverlauf selbst“ gewann in den Loggien „etwas Altertümliches“, und die Stunden „stauten“ sich in ihrer „Abgeschiedenheit“. „Nie konnte ich“ die Tageszeiten „hier erwarten; immer erwarteten sie mich bereits. Sie waren schon lange da, ja gleichsam aus der Mode, wenn ich sie endlich dort aufstöberte“47. An der raumhaft erstarrten Zeit indiziert sich Geschichte als der lastende Block einer ungeschichtlichen Vorwelt der immer noch mythischen. Aber was räumlich ist, rückt in die Perspektive – eine verlässlichere als die, welche die unräumliche Zeit mit der Abfolge der Moden vorspiegelt. Die geronnene Zeit, der lastende gefangennehmende Block, gibt sich selber 46
GS IV S. 295 und GS VII, S. 387. GS VII, S. 387 („[...] so paßten sie zu dem, was er Altertümliches an sich selbst hatte [...]“ statt: „[...] so gewann auf diesen Loggien der Zeitverlauf selbst etwas Altertümliches“ in GS IV, S. 295; „[...] der Vormittag [...]“ statt „[...] die ferneren Tageszeiten [...]“ in GS IV, S. 295). 47
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gefangen. Als Raumzeit enteilt sie nicht mehr. Kleiner und kleiner wird sie, aus der Entfernung betrachtet; die Perspektive gibt Macht über sie. Sie geht dem Loggienbewohner auf, wenn er aus dem Kreis der Höfe heraustrat und auf der Tangente sich bewegt, die in Gestalt der Eisenbahngeleise diesen Kreis streift. „[W]enn ich [...] an schwülen Sommernachmittagen aus dem Abteil auf sie heruntersah, schien sich der Sommer in sie eingesperrt und von der Landschaft losgesagt zu haben“48 . Die säkulare technische Konstruktion wird zum Vehikel, dem zu Naturzeit, zu Vorzeit gestauten Säkulum den lastenden Bann zu nehmen. In der technisch ermöglichten Perspektive, auf konstruierter Fluchtbahn, muss die Raumzeit dem stetig sich vorbeibewegenden Blick ihr Geheimnis preisgeben. Es ist das der Gruft, der Nekropole, zu der diesem Blick die Loggien, die Häuser, die Höfe, der ganze davon gebildete Ortskreis sich entfärben und schrumpfen. Ehe aber der Anblick sich im Nichts verliert,49 hält Benjamin ihn auf dem – jetzt ausdrücklichen und dem Text nicht erst zu entlockenden – Sinnbild fest, das, gleichzeitig Vexierbild, die eigene historische Physiognomie in sich versteckt. Auf diesem Sinnbild steht in der Mitte „Berlin – der Stadtgott selber“, der unerbittlich über sein steinernes Reich herrscht, so „daß nichts Flüchtiges sich neben ihm behauptet. In seinem Schutze finden Ort und Zeit zu sich und zueinander. Beide lagern sich hier zu seinen Füßen. Das Kind jedoch, das einmal mit im Bunde gewesen war, hält sich, von dieser Gruppe eingefaßt, auf seiner Loggia wie in einem längst ihm zugedachten Mausoleum auf“50 . Das Mausoleum ist das Bild im Bild. Die Loggia, am Beginn des Textes die historische Wiege, ist, an seinem Ende, als Totenwohnung begriffen, die Burg, worin ein König als Leiche wohnt. So wird bürgerliche Geburt selber als Totgeburt dechiffrierbar – aber, wie bei jenem Kind, als eine mit dem Königszeichen der Resurrektion. Abgründig und doch unübersehbar will die Stelle bedeuten, dass der Bürger der nicht lebende Mensch ist – homo absconditus. Als homo absconditus ist er actu die Leiche, potentia der König eines Menschentums, das erst im Reich, im messianisch umgewälzten Dasein, zum Leben wird und den Menschen König unter Königen, 48
Ibd. Die ihn ermöglichende Technik, die sich aufs festhaltende und enträtselnde Blicken nicht versteht und blind übers Anzublickende hinweggleitet, schafft nur neue Verblendung. 50 GS IV, S. 296 und GS VII, S. 388 [Hervorhebung: H. S.]. 49
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nämlich autonom unter Autonomen, sein lässt. Das dem Neugeborenen zugedachte – und dem Erwachsenen im Eingedenken sich erklärende – Mausoleum ist das – mythische – Negativ dieses Menschenkönigtums, sein Leben als Toter die Existenz, die vollendeter Negativität standhält und die im Standhalten etwas von der unermessenen Würde zeigt, wie sie an einem Menschen – Benjamin selbst – die einer Menschheit vorwegnehmen kann.
Die Vorschule der profanen Erleuchtung
1 Die Arbeiten und Aufzeichnungen, die Benjamin der Charakteristik des narkotischen Rauschs gewidmet hat, rechnen, trotz des fragmentarischen Charakters,1 zu dem Authentischsten, das darüber zu Papier gebracht wurde. Was er der gesamten Sphäre an Einsichten entriss, wird einer doppelten Blickrichtung verdankt: der eines Beteiligten, der sich dem Rausch überlässt und der gleichzeitig in der Passion die Kraft mobilisiert, das, was ihm dabei widerfährt, zum Sprechen zu bringen, erkennend sich ihm entgegenzusetzen. Hat er in einer inspirierten Arbeit von den frühen Surrealisten gesagt, dass die „Lockerung des Ich durch den Rausch [...] zugleich die fruchtbare, lebendige Erfahrung“ ist, „die diese Menschen aus dem Bannkreis des Rauschs heraustreten ließ“2 , dann charakterisiert das die eigenen Erfahrungen namentlich mit dem Haschisch. Er hat dieser und 1
Nach Auskunft Gershom Scholems trug Benjamin sich mit dem Gedanken, ein Buch über Aspekte des Rauschs zu schreiben, primär wohl über geschichtsphilosophische und spekulative, mit der Absicht, in den Kern dessen einzudringen, was er als „Erleuchtung“, als „profane Erleuchtung“, als „Entrückung“ und „Versenkung“ mit gleich theologischer wie materialistischer Intensität immer wieder thematisiert hat. Ungeachtet dessen, dass das Buch Plan blieb, lassen die im Kraftfeld seiner Idee entstandenen Gedanken, die Aufzeichnungen und Notizen nicht weniges von der Tiefgründigkeit der Benjamin’schen Intentionen ermessen. – Cf. auch Walter Benjamin: Briefe, hrsg. von Gershom Scholem u. Theodor W. Adorno, Bd. 2, Frankfurt am Main 1966, S. 556. 2 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I–VII, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_12
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anderer Drogen in größeren Zeitabständen während der zwanziger bis in die dreißiger Jahre sich bedient, soweit es die Aufzeichnungen bezeugen überwiegend unter Bedingungen des kontrollierten Experiments, in Gegenwart befreundeter Berliner Ärzte – Joëls und Fränkels zumal, namhafter Fachkundiger –, auch eines philosophisch Wahlverwandten wie Ernst Bloch; seltener wohl in der Isolation des Baudelairien, der nach nichts anderem trachtet, als seine künstlichen Paradiese sich zu bereiten und in die geheime „Gemeinschaft Wissender aufgenommen“3 zu sein, wie es die „Geschichte eines Haschisch-Rausches“4 einmal ausdrückt. Aber wer in diesen Experimenten, von denen die nachgelassenen Versuchs-Protokolle und die Notizen handeln,5 heroische Veranstaltungen des Typs riskanter wissenschaftlicher Selbstversuche erblicken wollte, bei denen der Proband fatal Gesundheit und Leben als freiwilliges Opfer auf dem Altar der Fortschrittsreligion darbringt, würde das Charakteristische daran übersehen. Die Benjamin’schen Haschisch-Versuche ereignen sich zwar nicht jenseits der intellektuellen Dimension, doch aber ohne das dubiose szientifische Pathos, und sowenig sie andererseits um der irrationalistischen Flucht aus der Intellektualität willen veranstaltet werden, spielen sie doch in der Dimension von „Erleuchtung“ – der von ihm „profan“6 genannten – sich ab, wie sie gerade der narkotische Rausch gewähren kann. Seine Experimente fügen sich sehr genau seinen spezifischen Erkenntnis-Intentionen ein, wie sie die exponiertesten philosophischen Arbeiten artikulierten, wie sie zumal das ungewöhnliche Passagen-Werk zum Ausdruck bringen sollte, dessen schürfende Partien in der blitzlichtartigen Erhellung der Sache vielem gleichen, was die Rausch-Aufzeichnungen und Versuchsprotokolle in ihren diskontinuierlichen, so überaus prägnant, gleichsam schmerzendscharf formulierten Stücken festhalten. Die heute geläufigen narkotischen Praktiken als eskapistische haben in Benjamin kaum einen Fürsprecher. Frankfurt am Main 1972–1989, Bd. II, S. 297 [Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden mit der Sigle GS sowie Band- und Seitenzahl nachgewiesen]. 3 GS IV, S. 732. 4 GS IV, S. 729. 5 Die von Tilmann Rexroth erstmals edierten Aufzeichnungen (cf. Walter Benjamin: Über Haschisch. Novellistisches, Berichte, Materialien, hrsg. von Tilmann Rexroth, Frankfurt am Main 1972, Editorische Notiz, S. 145 ff.) finden sich jetzt in GS VI, S. 558–618 (cf. dort auch: Anmerkungen, S. 819–825). 6 GS II, S. 307.
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Er, der sich gewiss nicht falsch moralisierend darüber betrog, „wie tief gewisse Kräfte des Rausches der Vernunft und ihrem Freiheitskampfe verschworen“7 sein können, sah doch genau, dass in der Epoche des Zerfalls und der Selbstzerstörung bürgerlicher Gesellschaft wie „die [...] geläufigeren Produktivkräfte der Natur so auch“ die „entlegeneren“, die Kräfte des Rauschs, „pervertiert und geschändet“8 sind. Sie treiben inzwischen das Subjekt vollends in sich zurück, besiegeln die Selbstentfremdung, die Deformation, welche die industrielle Produktionsweise und anderes an Menschen und Dingen vollbrachte. Solche Deformation hat Benjamin in der präfaschistischen und der faschistischen Ära zum Medium der Erfahrung zu machen vermocht, zu welcher auch die Selbstaufklärung über die Rauschcharaktere rechnet. Wie die mikrologischen Ergründungen seines Philosophierens insgesamt, fördern die Rauscherfahrungen die überraschendsten Funde ans Licht.
2 Was die Benjamin’schen Beobachtungen den meisten zeitgenössischen voraushaben, sind Kraft des Eindringens und unverwechselbare Prägung. Niemals bleibt es beim bloßen Befund des Überspültwerdens von der Imagination, die das Subjekt des Rauschs von heute in den fatalen Stereotypien der Ichlosigkeit darzustellen liebt, oder, fataler – weil es die Nähe zu psychotechnizistischer Menschenmanipulation bekundet –, mit Worten wie Bewusstseinserweiterung oder Sensibilisierung mehr anpreist als charakterisiert. Die sogenannte Sensibilisierung ist nicht Selbstzweck sondern Medium, etwas wie der Hebel, den Benjamin an den brüchigsten Stellen des Gefüges ansetzt, zu dem die apperzeptiven Vermögen, das Ineinander von Sensorium und Intellekt, von Subjekt und Objekt kulturell längst versteinert sind. An der Figuration der auseinandergefallenen Brocken liest er ab, wie Subjekt und Objekt von sich aus zueinanderstreben und was kultureller Zwang an ihnen verdarb. Das eine vermag er so be7
Brief an Max Horkheimer, Paris, 7. Februar 1938 [in: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe, Bd. VI: 1938–1940, hrsg. von Christoph Gödde u. Henri Lonitz, Frankfurt am Main 2000, S. 21–25, S. 23]. 8 Ibd.
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hutsam zu artikulieren wie das andere scharf, in genauer Anmessung ans Schrundige und Zerbrochene: beide Male wurde das Wort über die Sache der Sache selbst entlockt. Benjamin schreibt in der Tat so, wie er einmal im Rausch sagt, dass er schreiben möchte: dass das Geschriebene „so aus Sachen kommt, wie der Wein aus Trauben“9 . Bei den Rauschimaginationen bleibt er nicht, wie bei etwas Naturwüchsigem, stehen, sie sollen „einen rein filtrierten intellektualen Ertrag [...] ermöglichen“10 . Das Filtrat ist nichts anderes als die konzentrierte Sache selbst, und ist es nicht ohne den, der sie zu der eigenen Essenz zu bringen versteht. Dergestalt gibt Benjamin die Essenz der Rauscherfahrung, die mehr zugleich ist: das nämliche, was in dieser Erfahrung den Inhalt bildet und worauf Licht noch jenseits der Erleuchtung des Rauschs fällt – auf den Erfahrungskreis der Nüchternheit und des Denkens, das selber als „ein eminentes Narkotikum“ sich erweist, und auf das anscheinend dem Rauschzustand Entgegengesetzteste: das monadenhaft-gewisse Selbstsein, ‚jene fürchterlichste Droge‘11 von allen. „[W]as man am nächsten Tage niederschreibt, ist mehr als eine Aufzählung von Sekunden-Erlebnissen; der Rausch setzt sich in der Nacht mit schönen prismatischen Rändern gegen die Alltagserfahrung ab“, die er doch auch penetriert; „er bildet eine Art Figur, [...] er schrumpft“ und hinterlässt „eine Blumenform“12. Um solcher Figuren willen, in denen das Erfahrene selbst sich niederschlug, suchte Benjamin die Rauscherfahrung. Bleibt der, der um diesen Ertrag sich bringt und im experimentell veranstalteten Rausch gleichwie in bloßer Faktizität versinkt, der Rausch-Positivist, dann ist Benjamin sein dialektischer Theoretiker, der, der nach Hegels Wort in den Sachen sein muss, um über den Sachen zu sein. Fraglos ist die Rauscherfahrung der spekulativen verwandt, der, die die Trennwände zwischen Subjekt und Objekt niederlegen, die Blenden der Ding- und der Ich-Fixierungen inmitten des Ganzen durchschlagen will. Wie seit alters der narkotische Rausch gegen den physischen Schmerz, gegen die Verfestigung des Subjekts unter den versteinernden Zwängen seiner kasten- und arbeitsteiligen Funktionalisierung aufgeboten wird – 9
GS VI, S. 596 [im Orig. kursiv]. GS VI, S. 587. 11 Cf. GS II, S. 307 u. S. 308. 12 GS VI, S. 584. 10
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wenigstens um halluzinatorisch und imaginativ Remedur zu schaffen –, so noch spekulatives Denken gegen die instrumentelle Vernunft, um zu heilen, was diese der Natur und dem Subjekt an Leiden bereitete. In der spekulativen Versöhnung von Subjekt und Objekt sollte die Heilung vollbracht sein: sie war es vermittels des Begriffs so idealistisch und imaginär, wie vermittels der Droge die Erlösung im Rausch substitutiv und illusionär bleibt. Aber wie spekulatives Denken in materialistischer Dialektik sich ernüchterte, fand nicht unähnlich der narkotische Rausch in der Gestalt der „profanen Erleuchtung“ zu sich selbst – jener von Benjamin in den eigenen Rauschversuchen erprobten „materialistischen, anthropologischen Inspiration, zu der Haschisch, Opium und was immer sonst die Vorschule abgeben können“13 . Deshalb können sie es, weil sie mit den Objekten und Dingen mimetisch den Kontakt schließen. Wenn materialistische Dialektik – vorab in der Gestalt der Kritik der politischen Ökonomie – an der Dinglichkeit, der daseienden Welt der projektiven Objektivation, des Fetischismus inneward, so jene „materialistische Inspiration“ des magischen Wesens am dinglichen Universum, das mit den Objekten das Subjekt selber unterm Bann hält. Aber wie der Speer die Wunde heilt, die er schlug, ist es die narkotische profane Erleuchtung, welche über die Profanität sehend macht und in ihr an die schlummernden Potentiale rührt, die sie erniedrigte Profanität nicht bleiben ließe.
3 Benjamin weiß, dass es nicht Eskapismus ist, der ihn die Vorschule profaner Erleuchtung aufsuchen heißt, nicht „der subalterne Wunsch“, der „Traurigkeit zu entgehen“14 , wie er durch den Mund des epischen Subjekts in der Myslowitz-Erzählung sagt, in die er einen seiner Rauschversuche kunstreich – hoffmannesk – transformiert hat. Warum er, wie in Marseille, die Droge nimmt, das geschieht, um ganz sich „unter die magische Hand zu ducken, mit der die Stadt mich leise am Genick genommen hatte“15 . Unter der Führung dieser Hand gibt die Ducken13
GS II, S. 297. GS IV, S. 732. 15 Ibd. 14
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de, die Stadt, dem Gefügigen erst ihre wahre Physiognomie preis, lehrt sie den Adepten sie, und was in ihr ist, anders sehen als den etwa, der sie, insensibel wie der Sonntagsjäger die Natur, die vor ihm davonstiebt, mit hallenden stampfenden Schritten selbstherrlich durchquert. Die Dinge fangen an zu sprechen, weil der Rausch „zart“ und höflich gegen sie macht,16 weil „der Ekel schwindet“17 – also die mit der Verhärtung libidinöser, mimetischer Impulse zur rationalen Ichinstanz teuer erkaufte Idiosynkrasie gegenüber dem Materiellen, dem zu Schmutz und Hässlichkeit Depravierten. Die lösende Rausch-Imagination erweitert die banale Merkwelt zum „absolut königlich[en]“ Raum, zur Zeit, worin dem Haschischesser selbst „die Ewigkeit“ nicht zu lange währt. „Und auf dem Hintergrunde [...] der absoluten Dauer und der unermeßlichen Raumwelt, verweilt nun ein wundervoller, seliger Humor desto lieber bei den Kontingenzen“18 jener Merkwelt: sie verlieren den Signal-, den Instrumentalcharakter, zu dem ihr dingliches Wesen unter dem zweckrationalen Blick gefror. Die ‚enorme Sensibilität, die Haschisch hervorruft‘, bewerkstelligt die Anverwandlung ans dingliche Wesen, jenes Erleiden des Stofflichen, das materialistische Anthropologie als das menschliche Konstitutivum der Passion begriff und das gerade der Sensibilität zum „Leiden zu werden“19 droht, wenn die dinglich-ichliche Kommunikation, die sie ob mystisch-narkotisch, ob real in der erfahrenen Deformation artikuliert, nicht verstanden wird. Der profan Erleuchtete steht exterritorial inmitten der nüchternen Welt, die ihn verachtet, nicht weil er über ihr schwebt, sondern weil er tief in sie versenkt ist und Kumpanei mit den Dingen hält, die dem Nüchternen, dem Dinge und Menschen parieren sollen, so suspekt und verwerflich ist wie nur dem Bürger der Umgang mit den Verworfenen, den Geächteten und Unterdrückten. Es ist diese Indignation der Nüchternen, welche die große Vereinigung aller profan Erleuchteten stiftet, der Lesenden, der Denkenden, der Wartenden, der Flaneurs und der Opiumesser, der Träumer, der Berauschten, der poètes maudits. Und ihre Desperation, das Unverstandensein, zu dem sie durch die Nüchternen verhalten sind, ist nur die Kehrseite ihres Einverständnis16
GS VI, S. 580 u. cf. S. 583. GS VI, S. 580. 18 GS VI, S. 581. 19 GS VI, S. 589. 17
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ses mit dem Geschundenen und dem Geschändeten. Mit Recht wittert der Realitätsgerechte in der Absence der profanen Erleuchtung die geheime Präsenz der Kräfte der Insurrektion, des Aufstands alles Deformierten, das seine unverstümmelte Form gewinnen will. Wer zärtlich „gegen die Dinge“ und – wie die esoterischen Poeten – „vor allem die Worte“20 ist, steht für die humanisierte Natur und eben damit für den naturalisierten, den richtigen Menschen ein, von dem der falsche, in Denaturiertheit und Inhumanität eingelebte das Schlimmste befürchten muss: die Wendung der Dinge. Die Affinität der imaginativen Rauschproduktion zur artistischen hat Benjamin überaus deutlich hervortreten lassen. Nicht bloß hat das der Versuchsbeobachter an der sublimen Wort-Chemie des aus dem Rausch Redenden festgehalten. „[D]er Haschischrausch“ nimmt „eine Art von Verflüchtigung der Vorstellungen in Wortaromen“ vor, bei der „die eigentliche Vorstellungssubstanz im Wort [...] vollkommen verdunstet“21 – gleichsam ins Aroma des Namens sich umsetzt wie etwa bei den vom Verkehrswert, vom bloßen Zeichencharakter befreiten Worten in einem Mallarmé’schen Gedicht. Benjamin selber hat die Verwandtschaft – aber auch die spezifische Differenz – im eigenen Erinnerungsprotokoll über den Rausch in Marseille charakteristisch formuliert, die „Rätsel des Rauschglücks“ in der Lust wiedererkannt, „einen Knäuel abzurollen“, und beide, diese wie die Rauschlust, mit der „Schaffenslust“ identifiziert. Als untergründiger Schematismus, der alle drei miteinander vermittelt, erweist sich das Ariadne-Motiv, das planvolle theseische Durchfinden durchs minoische Labyrinth. „Wir gehen“ – im Labyrinth der Rauschwie der Schaffenswelt – „vorwärts: wir entdecken dabei aber nicht nur die Windungen der Höhle, in die wir uns vorwagen, sondern genießen dieses Entdeckerglück nur auf dem Grunde jener anderen rhythmischen Seligkeit, die da im Abspulen eines Knäuels besteht. Eine solche Gewißheit vom kunstreich gewundenen Knäuel, das wir abspulen – ist das nicht das Glück jeder, zumindest prosaförmigen, Produktivität? Und im Haschisch sind wir genießende Prosawesen höchster Potenz. De la poésie lyrique – pas pour un sou“22 . Haschisch und geduldig-beseligendes 20
GS VI, S. 598 [im Orig. kursiv]. Ibd. [im Orig. kursiv]. 22 GS VI, S. 584. 21
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Entwirren, das zutiefst weiß, dass es auf der Spur bleibt, gewähren, was Lyrik bloß will, beschwören muss; und dass sie es, anders als jene, vorenthält, macht hier die Differenz. Der Schwung, das sich darüber Erheben unterscheidet sie von der prosaischen Produktivität, der buchstäblich in der labyrinthischen Sache bleibenden und doch von ihr nicht besiegten. Dass sie wie die ‚Rausch-Arbeit‘ – analog der analytischen ‚Traumarbeit‘ – dem theseischen Entrinnen aus dem Labyrinth entspricht und nicht dem dädalisch-ikarischen, ist wahrhaft materialistisch inspiriert. Denn der dädalische Aufschwung gleicht dem idealistischen selber. Dädalus, der glücklich in Sizilien landet, ist die Allegorie idealistischen Triumphs, an dem auch die typische Lyrik teilhat, Ikarus, der ins Meer stürzt, das Bild idealistischen Scheiterns. Es zeugt von der Tiefgründigkeit der Benjamin’schen meditativen Erfahrung, dass sie Rausch- und Schaffenslust gerade nicht als Überschwänglichkeit, als den leeren Sonnenflug verkennt wie idealistischer Schöpferkultus und noch der Jugendstil es tun, dessen Solness-Gestalten wie Ikarus aus der schwindelnden Höhe herabstürzen. In einer erhellenden Notiz hat der Beobachter während eines anderen Versuchs – Fränkel – die eigentümliche Verschränkung von idealistischer und materialistischer Intention skizziert: dies, dass sich Ausdruck und Begriff immer vor die Sache schieben; das tiefe Ungenügen an aller Artikulation, die das innerste Wesen der Sache zu greifen verweigert, das aber gerade unversehens und in Nebensächlichem sich schenkt, als ob es sich der Ausdrucks-Resignation erbarme, sofern diese nur offen sich einbekennt und aus der Not der Artikulation nicht die Tugend forsch zupackender Kategorisierung macht. „Es ist für den Haschischrausch ein ebenso gewöhnlicher wie charakteristischer Vorgang, daß das Sprechen mit einer Art von Resignation verbunden ist, daß der Berauschte schon darauf verzichtet hat, auszusprechen, was ihn wirklich bewegt, daß er sich bemüht, etwas Beiläufiges, Unernstes an der Stelle des Eigentlichen aber Unsagbaren zum Ausdruck zu bringen [...], daß – dies ist das Merkwürdige und der Aufklärung sehr Bedürftige – das [...] gewissermaßen auf Abbruch Geäußerte weit merkwürdiger und tiefer sein mag als das, was dem ‚Gemeinten‘ entsprechen würde“23. Diese Bemerkung zeichnet sehr treu etwas vom eingefleischten Mechanismus traditioneller Theoriebil23
GS VI, S. 601 [im Orig. kursiv].
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dung nach, Erwartung und unausbleibliche Resignation der geläufigen Erkenntnishaltung, die die Dichotomie von Eigentlichem und Uneigentlichem immer schon dogmatisch voraussetzt, statt der Dialektik von Wesen und Erscheinung dadurch sich zu versichern, dass sie der Sache sich überlässt und das Erkenntnissubjekt zu dem Mund macht, durch den sie sich ausdrückt. Jener eingefleischte Mechanismus reproduziert sich im Rausch, der einerseits gerade daran seinen idealistischen Charakter gesteht, andererseits aber vermöge der mimetischen Lockerung gewissermaßen materialistisch umkippt und das, was in der Rauscherfahrung artikuliert wird, das „auf Abbruch Geäußerte“24 , das Nebensächliche und Akzidentelle, als das – primär gar nicht intendierte – Tiefere und eigentlich Substantielle hervortreten lässt. „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.“25 Im Abhub glimmt düster das Absolute – jenes Andere, das – wie Adorno sagt – an der „vollendete[n] Negativität“26 spiegelschriftlich erscheint. Sprach Benjamin philosophisch davon, dass das Ewige eher die Rüsche an einem Kleid ist27 denn ein irgend behauptetes und dubioses Erstes, Transzendentes, Eigentliches, dann vermag das gerade die Rauscherfahrung zu bestätigen, wenn in ihr der Zusammenhang der KolportageSphäre „mit den tiefsten theologischen“ Intentionen aufgeht. Tief scheint das Absolute in die Profanität gesunken. Aber nur in ihr und durch sie ist es das Absolute. „[D]ie tiefsten Wahrheiten [...] besitzen die gewaltige Kraft [...], selbst im verantwortungslosen Träumer sich auf ihre Weise zu spiegeln“28: sich zu reflektieren im Sinne der Dialektik von Wesen und Erscheinung, wonach jenes in dieser sich versteckt und diese mit dem Ungenügenden, bloß Erscheinung zu sein, auf das Wesentliche deutet, das in ihr erscheint. Benjamin hat diese Dialektik als eine im Stillstand ausgelegt, im Innersten sich gesträubt, vom dialektischen Progressionsmechanismus über die historischen Aporien, die gesellschaftlichen Antagonismen, die Schründe der Raum-Zeit sich hinwegtragen zu lassen. Allein daher die aus der Perspektive eines problematischen Progressismus retardierenden, 24
GS VI, S. 601 [im Orig. kursiv]. Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, in: ders.: Sämtliche Werke, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. von Ernst Beutler, Zürich 2 1962, Band 5, S. 294 (Erster Akt, Anmutige Gegend). 26 Theodor W. Adorno: Minima Moralia, Frankfurt am Main 1951, S. 481 (Aph. 153). 27 Cf. Rolf Tiedemann: Studien zur Philosophie Walter Benjamins, Frankfurt am Main 1965, S. 130. 28 GS VI, S. 565 f. 25
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‚regressiven‘ Veranstaltungen der Versenkung, stationärer Konzentration und unzeitgemäßer Erleuchtungspraxis wie der in der Rauscherfahrung. Aber gerade das Beharren bei der kristallinen Figur, das Eindringen in den Punkt, das sich Abarbeiten am gefrorenen „Bild“, der versteinten Struktur wird des Dynamismus inne, des Gewimmels unterm mikrologischen Blick: dechiffriert an ihren Niederschlägen Geschichte und Prozess – den Prozess, den es nicht vorweg dogmatisch voraussetzte und dem es als blindem gesellschaftlichen Dynamismus am wenigsten verfällt.
4 Die materiale Versenkung ist nicht Kultus der Dinglichkeit, sondern dessen Entzauberung. „Der Gedanke rückt der Sache auf den Leib, als wollte er in Tasten, Riechen, Schmecken sich verwandeln. Kraft solcher zweiten Sinnlichkeit hofft“ Benjamin, „in die Goldadern einzudringen, die kein klassifikatorisches Verfahren erreicht, ohne doch darüber dem Zufall der blinden Anschauung sich zu überantworten“29 . Jenen Empirismus hat Benjamin um die Rausch-Experimente noch erweitert. Zum Tasten, Riechen, Schmecken tritt das Sehen hinzu, das visuelle Abtasten des narkotisch illuminierten Dingbilds – scheinbar rauschblinde Schau, in Wahrheit erkennende Hellsicht. Ihr wird die leuchtende Oberfläche – die buchstäbliche Aura – und die übergenau gezeichnete Fassade – das Ornament – zur Wahrheit über den Kern. Schwerlich ist das Fetischgeheimnis des Dinglichen präziser erfahren als in den Anstrengungen des Benjamin’schen Gedankens, den die illuminative Praxis unterstützen, gewissermaßen mit Leuchtkraft versehen soll – ähnlich wie in der Chirurgie bestimmte Sonden mit einer Lichtquelle versehen werden. „Es gibt keine nachhaltigere Legitimation des crocks als das Bewußtsein, mit seiner Hilfe auf einmal, in jene versteckteste, im allgemeinen unzugänglichste Oberflächenwelt einzudringen, welche das Ornament darstellt“30 .
[Im Handexemplar des Autors ist an dieser Stelle notiert:] Cf. Ekstase, μύειν; Sehen bei geschl. Augen
29
Theodor W. Adorno: Über Walter Benjamin, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1970, S. 28. 30 GS VI, S. 603 (zur Bedeutung von „crock“ cf. S. 824, Anm.).
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Das Ornament wird zum Paradigma des Strukturellen, Geronnenen von Dinglichkeit überhaupt, sein Studium wirft Licht darauf, wie es zum Gerinnen kommt: auf die Verdinglichung. Pointiert sagt Benjamin, was bei diesem Studium sich zuträgt: „Der Opiumraucher oder Haschischesser erfährt die Kraft des Blickes, hundert Orte aus einer Stelle zu saugen“31 – das Eindringen nicht in den Kern sondern die Schale, an deren sorgsamer Zerlegung man den Kern hat. So evident wie paradox ist das in einer andern Rauscherfahrung gefasst: „Ich war [...] weniger versunken, aber tiefer drinnen“32 – prägnante Formel für die profane Erleuchtung. Die Polyvalenz des Dinglichen, sein Leben unter der Kruste, mit welcher der Verdinglichungsprozess es überzieht, geht auf an der „Mehrsinnigkeit des Ornaments“, des „Urphänomen[s]“ „vielfältige[r] Interpretierbarkeit“33 . Nicht der Standpunkt-Perspektivismus, das was subjektive Willkür und Einfühlung den Dingen antun können, ist gemeint, sondern die objektive „Vielzahl von Seiten, Inhalten, Bedeutungen“34 selber, die den Dingen einwohnen. „Ich vertiefte mich innig in das Pflaster vor mir [...]. Man redet oft davon: Steine für Brot. Hier diese Steine waren das Brot meiner Phantasie, die plötzlich heißhungrig darauf geworden war, das Gleiche aller Orte und Länder zu kosten“35 – das unerlöste Immergleiche der daseienden Realität, über welcher die phantasmagorischen Schleier hin und her schwanken, durch die hindurch das Immergleiche selber zu schwanken: sich zu bewegen, „fortzuschreiten“ scheint. Die Phantasmagorien – ideologische Stilisationen der Realität, die mit der Realität sich verwechseln – sind jener Rausch der Nüchternheit selber, der Idealismus der Weltauslegung, der hartnäckig seine konstitutive Produktion im Konstitutum verkennt, das er für die Welt an sich nimmt, und der dessen den Rausch profaner Erleuchtung bezichtigt. Aber dieser wird gerade der Differenz zwischen phantasmagorischer Produktion und jener imaginativen gewahr, die „die Dinge aus ihrer gewohnten Welt“, der phantasmagorisch konstituierten und stilisierten, ‚lockert und lockt‘36 . Der narkoti31
GS VI, S. 607. GS VI, S. 560. 33 GS VI, S. 603, S. 604. 34 GS VI, S. 604. 35 GS VI, S. 585. 36 Cf. GS VI, S. 564. 32
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sche Rausch, der den Blick auf die Dinglichkeit der Dinge freigibt – den konstitutiven Schematismus, der sie formiert und dem sie von sich aus sich entziehen wollen –, denunziert die schematisierende instrumentelle Rationalität als Rausch. Benjamin greift das in überaus eindringlichen Rausch-Variationen über das Aura-Motiv, die sich untergründig-bruchlos mit seinen theoretischen Reflexionen über das Auraphänomen verbinden. Die echte Aura ist „das Ornament“. Sie erscheint „an allen Dingen“ und „[n]icht nur an bestimmten, wie die Leute sich einbilden“. Die phantasmagorische Ding-Konstitution wird des Stilisierten, des Ornamentalen: der Aura nicht inne, die sie allem konstitutiv Verwandelten beigibt. Sie schiebt sie der Sphäre des Illusionären zu, in welcher der Schein eigens, arbeitsteilig produziert wird – künstlerisch-künstlich. Der auratische Schimmer, der gemeiniglich dafür gilt, ist die noch einmal verdinglichte Verdinglichung, die Steigerung des universellen Fetischtrugs, der der gesamten konstitutiven Produktion unhintertreiblich bereits anhaftet. Ihn konstatiert der Blick der profanen Erleuchtung, welcher die Aura an jeglichem Ding gewahrt: das Auratische überhaupt als die Verdinglichung des Dings durchschaut, indem er diese an seiner Stilisierung, der „ornamentale[n] Umzirkung“ greift, „in der das Ding oder Wesen fest wie in einem Futteral eingesenkt liegt“37. Daher muss auch der Verlust der Aura, wie ihn Benjamin vorab in der Reproduktions-Arbeit diagnostiziert, nicht den Verlust des Dings bedeuten. Benjamin ist davon durchdrungen, dass mindestens die aufgeklärt-materialistische Kunst-Produktion das Wesen freigibt, das im Futteral eingesenkt liegt – Bild für sein Lagern unter der künstlichen Kruste, dem Warencharakter. Das Futteral, das ihn metaphorisch bedeutet, selbst ist Fabrikat und trifft die Verdinglichung der Aura, die Waren-Kontur, die das Ding umzirkt so wie der feste Strich die Gestalt, das εἶδος – die hypostasierte ‚Form‘ der Philosophie, die lange vor der kapitalistischen Definition von Ding und Mensch als Tauschwert, der Abgrenzung von Mein und Dein den Dinglichkeitscharakter des Dings schuf und verklärte ineins. Wo aber als künstlich hervortritt, was ewige Natur sein soll, wo, wie beim späten van Gogh etwa, „an allen Dingen [...] die Aura mit gemalt ist“38 , in der pastos und drastisch markierten 37 38
GS VI, S. 588. Ibd.
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Ornamentierung, in der die Dinge vibrieren zugleich und erstarren, gewissermaßen peinlich sich aufdrängt, dort wird sie weggeleugnet, wird die die herrschende Verdinglichung denunzierende Darstellung als manieristisch, als Wahnsinnsproduktion verschrien. Die Welt insgesamt ist so künstlich, wie sie angeblich nicht sein soll. Das spricht die Inspiration der Kunst und des Rauschs aus. Der „Schachtelzustand“, in dem sich der Narkotisierte weiß, die „einsame Kammer“, in die den Menschen „die Bilder“39 einschließen – die ihn drohend umstellenden Produkte seiner eigenen Produktion –, sagen die Wahrheit über das Gehäuse der Welt: den transzendentalen Projektionsraum, in den projizierendes Subjekt wie die objektiven projecta gebannt sind. Der Berauschte sieht die Dinge wie „durch Glas“40 . Dadurch werden sie selber gläsern, leuchtend wie auf den Scheiben der laterna magica. Aber dies Gläserne und Erstarrte denunziert die natürlichen Dinge als künstliche und tote. Von den „toten und gegenwärtigen Gegenstände[n]“ weiß umgekehrt die untrügliche Ahnung in der Rausch-Erleuchtung, dass sie „eine Sehnsucht erwecken“ können, „wie man sie sonst nur beim Anblick eines Menschen, den man liebt, kennt“41 . Betrügt sich das Bewusstsein der Verdinglichung über die Totenstarre des Daseienden, nimmt es seine mechanischen Reflexe für die Regungen des Lebens, so zieht die Sehnsucht im leidend Erleuchteten ihn zu dem Leben, das sich im Erloschenen und Toten zuinnerst noch regt, zum Ding unter der Verdinglichung, das wie der Ungeliebte der erlösenden Liebe harrt. Der Tod ist nur der unter dem Bann fort währende Schlaf und „jedes Bild [...] ein Schlaf für sich“42 . Das ist von den unerlösten Dingen gesagt, die wie die unterm Zauberbann schlafenden Märchengestalten die Augen nicht aufschlagen. Das „Sesam öffne dich“, das die profane Erleuchtung spricht, schließt die starren Bilder auf – Stellvertreter für die Sache, die unter der Kruste der Dinglichkeit nicht hervorkann –, so wie der Gegenzauber Dornröschen dem Prinzen erweckt. Wenn es an einer Stelle heißt: „Wichtige Gedanken müssen lange in Schlaf versetzt werden“43 , dann ist abgründig beides gemeint – der Schlaf der Welt, ihr 39
GS VI, S. 596 [im Orig. kursiv]. GS VI, S. 569. 41 GS VI, S. 607 [im Orig. kursiv]. 42 GS VI, S. 616. 43 GS VI, S. 602. 40
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daseiender Inhalt als Traumproduktion, an die aufklärend nicht gerührt werden soll, und das heilende Einschlafen instrumenteller Rationalität, des Kontroll-Ich, im Rausch, der es im Traum über sich sehend macht: den ‚wichtigen Gedanken‘ hervorbringt, der relevant ist, weil er schlafend sich selber spricht statt von der kontrollierenden Wachheit gesprochen zu werden, die, was sich sagen will – die Selbstaufklärung – nur wieder entstellt.
5 Hilft Rauscherfahrung zur Einsicht ins Wesen der Dinglichkeit als der ins Unwesen von Verdinglichung, so wirft sie Licht vor allem aufs darin verstrickte Subjekt selber. Dies Licht ist vielleicht schwerer noch zu ertragen als das, das in der narkotischen Illumination aufs Objekt fällt. Denn gerade das Rausch-Ich lässt das reelle als verstümmeltes hervortreten. Die Heterogenität im angeblich homogenen Person-Kern belegt sich drastisch, sobald das Real-Ich durch den Rausch gelockert wird. Was sich zeigt, ist eine durchgängige Ambiguität und Ambivalenz der das Real-Ich kennzeichnenden Identitätscharaktere. Namentlich Egoität und Sozialität geben ihre innere Dialektik preis, machen an dem vorgeblich gleichrangig vom Ich- wie vom Du-Konstitutivum fundierten Sozialcharakter der Person zweifeln. Die Beziehung aufs Du enthüllt sich im Rausch als Reaktionsbildung auf die Angst, allein gelassen zu sein, etwas, das das reduzierte Ich nicht verträgt. Gleichzeitig ist das reduzierte Ich das noch empfindlichere, ich-süchtigere Ich, das die „Anwesenheit der andern“, die es doch schützen sollen, „als leise sich verschiebende Relieffiguren am Sockel des eigenen Thrones“44 braucht. Das im Rausch aufblitzende Urbild des Throns denunziert Ichlichkeit als den Despotismus, der die ersehnten anderen zu Sockelfiguren entwest. Die Teilnehmer verlieren „ihre Individualität“, sind „sozusagen nur noch gattungsmäßig [...] vorhanden“, und die Rauscherfahrung registriert scharf die Heteronomie dieses Gattungscharakters: es ist an den anderen „etwas Geducktes, Sklavenhaftes“45 . Die 44 45
GS VI, S. 562. GS VI, S. 575 [im Orig. kursiv].
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Brauchbarkeit des Du gesteht ihren Doppelsinn, den der Dinglichkeit fürs Ich und den wohlwollender Duldung, die dem Ich nur das andere Ich gewähren könnte. Aber das andere Ich stößt wegen der gleichen Ambivalenz der Ichlichkeit mit dem ersten zusammen. Die angebliche Harmonie aller erweist sich als „ungute Gleichzeitigkeit“ aller, als Disharmonie „des Bedürfnisses allein zu sein und dessen mit den andern zusammenbleiben zu wollen“46 wie in der Kantischen ungeselligen Geselligkeit oder bei den Stachelschweinen der Schopenhauer’schen Parabel. Gerade der Rausch – entgegen der landläufigen Ansicht von der dionysischen Union, die er stifte – markiert das Menschenfeindliche in der Geselligkeit, das aus der grenzenlosen Enttäuschung darüber resultiert, dass die andern gar keine Menschen sind. Diese Enttäuschung zeigt sich dem „grenzenlosen Wohlwollen“ aber verschwistert, das den andern vorweg und automatisch „mit tausend Freuden“ alles zutraut und glaubt. Die Rauschsolidarität spiegelt die humane Kommunion aller mit allen auf der Basis der Misanthropie vor. Wie Schopenhauer schon sah, überspielt sie zugleich und bestätigt den grenzenlosen Egoismus. Das grenzenlose Wohlwollen liebt den andern als Schweigenden. Das heißt, dass es ihn hasst, sobald er spricht, als Ego gegen das Ego sich geltend macht: „Er enttäuscht uns schmerzlich durch sein Abgleiten vom größten Gegenstande aller Aufmerksamkeit: uns selber“47. Wird die Egoität im Rausch als „Höhle“48 erfahren, die Kommunikation als Angst, aus der Höhle herausgezerrt zu werden, dann drückt das Rauschbild nur die monadologische Vereinzelung des Subjekts in der wirklichen Gesellschaft aus, das nicht nach links und nach rechts blicken darf, wenn es sich selbst erhalten will. Dass es bei seiner Verkapselung das Selbst verliert, das es erhalten will, nimmt gerade die Rauscherfahrung zu Protokoll, die im narkotisch bereiteten Wahn des Wahns innewird, zu dem das vom andern und von sich selbst abgeschnittene Subjekt der Selbsterhaltung in der Massengesellschaft gravitiert. Wichtig an dieser Stelle der Hinweis, dass einzig die Bereitschaft des Subjekts – das denn einmal narkotisch mit sich experimentiert –, seine Entschlossenheit zur gesteigerten Konzentration dem narkotischen Wahn das subjektiv wie das objektiv Wahnhafte abzwingt, während die geläufi46
GS VI, S. 562. GS VI, S. 564. 48 GS VI, S. 561. 47
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gere Flucht in den narkotischen Wahn ohne diese Bereitschaft – daher das „[G]efährliche“49 an dieser Gestalt der profanen Erleuchtung – den Wahn nicht durchschlägt sondern bestätigt, also zu den substitutiven Praktiken sich fügt, die, wie längst die Ideologie insgesamt unterm Spätkapitalismus, gar nichts mehr substituieren, sondern das ausgebrannte Subjekt der Entfremdung nur noch mehr ausbrennen. Erst der Rauschversenkung im Rausch – paradoxes Modell theoretischer Insistenz – geht mit dem Trughaften das Zerrinnende, die Dissoziation des Subjekts und seiner Verhaltensweisen auf, die die beängstigende Anthropomorphose des Subjekts der Selbsterhaltung charakterisiert. „Die Entäußerung der Persönlichkeit [...] befähigt zu einer Expansion der Parteinahme, wie man sie einem göttlichen Wesen zuschreiben müßte oder zu einer Parteilosigkeit, wie sie vielleicht dem Tier eigen ist“50 . Diese Beobachtung an der Versuchsperson trifft sehr großartig die Partizipation des ichlosen Ich, die in dem Maße abstrakt, beziehungslos wird, in dem sie an allem teilnimmt; also die indifferente Zuschauerhaltung, wie sie das Ich vordem, die eigene Passivität zusammen mit dem Anspruch absoluter Verfügung verklärend, zur Imago vom teilnahmslos-kalten Gott-Zuschauer beim Welt-Theater stilisierte, der nur die Marionettenschnüre zieht, und wie sie gerade mit stumpfsinniger Teilnahmslosigkeit zusammengeht. Dem entspricht, dass dem Rausch-Ich – genau wie dem statistischen Durchschnittssubjekt, dem der Prozess, der die Menschen in die disponible Ware Arbeitskraft verwandelte und dabei ihnen die Resistenz- und die Distinktionskraft entzog – aller Unterschied „zwischen Bedeutung und Bedeutungslosigkeit, Banalem und Wichtigem“51 schwindet. Das in der Rauscherfahrung stets wieder durchschlagende Zweifelsbewusstsein signalisiert den universellen Relativismus im gesellschaftlichen System, in dem die alte Skepsis mit der Auflösung eines jeglichen Substantiellen in ein Funktionelles selber totalitär wurde. Aber was dem auf Funktionen reduzierten gesellschaftlichen Subjekt, eben infolge seines Funktionierens, davon zu sehen verwehrt ist, das blitzt dem narkotisch und theoretisch inspirierten noch einmal auf. Es erfährt am Skeptizismus jenes negative Moment, das diesen total zu werden hindert: in der ‚sich vollbringenden Skepsis‘ – wie Hegel 49
GS II, S. 297. GS VI, S. 578 [im Orig. kursiv]. 51 Ibd. [im Orig. kursiv]. 50
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es nannte – zur Aufhebung gelangen lässt, und am Relativismus die bestimmte Negation, das, was die Dialektik vorm Zerfließen in alles und jedes bewahrt. Während nämlich dem entfremdeten Subjekt die Distinktion zwischen Banalem und Wichtigem gleichgültig wird, sein affektives Unbeteiligtsein die „wertfreie“ Neutralität des Ganzen – vom blankpolierten Seienden bis zu Deformation und Mord – widerspiegelt, leidet das sensibilisierte an der Relativität bis zur Pein. „Teil und Gegenteil“, „Bedeutung und Bedeutungslosigkeit“52 präsentieren sich ihm mit der gleichen Schärfe, mit schmerzender Distinktion. Das Recht der Sache selber, die mit ihrem Anspruch, das zu sein, was sie ist, gegen abstrakte Subsumption protestiert, gleichsam für einen substantiellen Pluralismus plädiert, illustriert sich an einer Äußerung, die das Rauschprotokoll festhält: „Es stimmt, was Sie sagen, aber ich habe recht“53 . Was anmutet wie der marklose Witz eines, der im Pluralismus dem Konkurrenten, tendenziell seinem Todfeind, kompromisslerisch dessen Standpunkt konzediert, während er den eigenen herausstreicht, ist in der Rauscherfahrung – wie in der theoretisch-kritischen – Ausdruck unabdingbaren Ernstes dessen, dass es mit dem, was einmal ist und sich zur Gestalt brachte, unversöhnlich steht. Nur der Gesichtspunkt, dass das Unversöhnliche unterirdisch vermittelt ist, aus dem einen Prozess in ungeschlichteter Vielheit sich heraussetzte, wird dem gerecht. So stellen denn dem Sensibilisierten „Verwandtschaften und Identitäten in einer tieferen Sphäre“54 sich her – dem kontemplativen Erleben einer coincidentia oppositorum ähnlich, doch davon unterschieden durch das ‚beglückende Kontinuitätsgefühl‘55 , wie es allein der mimetische Kontakt dem materialistisch Inspirierten gewährt. Heißhungrig will die profan erleuchtete Phantasie das Gleiche aller Orte und Länder kosten, mit der stummen Gewalt der Materie, der sie sich gleichmacht, die nationellen und rationalen Schranken durchbrechen, die sie künstlich zertrennen und ihr doch nicht verstellen können, wohin es von sich aus sie treibt.
52
Ibd. [im Orig. kursiv]. GS VI, S. 579 [im Orig. kursiv]. 54 Ibd. [im Orig. kursiv]. 55 Cf. ibd. 53
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„Immer noch dieselbe Welt – und doch hat man Geduld“56. So spricht die profane Erleuchtung, die unter der Kruste der neuen die alte, die stets noch unentbundene, die wahrhaft neue Welt sich regen fühlt. Ihre Geduld gleicht der uralten derer, die einer Geburt harren; die darauf vertrauen können, dass das Neue im Schoß des Alten kräftig genug vorgebildet liegt, um den Geburtssprung zu bestehen. „Tun“ wäre dieser Geduld nur „Mittel zum Träumen“, während ihr „Betrachtung“ ein Mittel ist, „[w]achzubleiben“57. Reflektorische Praxis – will das sagen – markiert den Fluchtweg, der von den Vorgängen wegführt, reflektierte aber kann in sie eingreifen, wie der Harrende bei der Geburt, der mimetisch korrespondiert mit dem, was sich gebären will.
56 57
GS VI, S. 617. GS VI, S. 616.
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Nam est quidem cuiusque corporis pars indissolubilior, quae a natura concreta et counita est, quam quae hominum manu et arte coniuncta atque compacta est. Alberti (De re aedificatoria)
1 Zu Benjamins schriftstellerischen Techniken rechnet die Vexation, das Verstecken der Intention – ihre Auslöschung – in den durchgearbeiteten Materien; etwas wie das planvolle Verwischen der Spuren denkerischer Arbeit. Dies ist nicht nur Technik – will sagen, solche Technik sucht sich aufs innigste dem zu assimilieren, um dessentwillen die Technik aufgeboten wird: im Vertrauen darauf, die Sache selbst werde sich geben, wofern nur der Denkende rückhaltlos ihr sich ergibt. Planvolle Veranstaltung des Subjekts und Erkenntnis- und Darstellungsobjekt klaffen nicht auseinander wie üblicherweise Methode und Inhalt. Sondern die Differenz zwischen Stoffen, sinnbeladenen Materien und der Anstrengung, sie in ihrer Komplexion zu vergegenwärtigen, zeigt sich hier so, dass die Mate© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_13
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rien durch ihre Präsentation als die erst dastehen, die sie sind. Sie haben die Augen aufgeschlagen, sprechen von sich aus, statt dass sie bloß widertönten, was unzarte methodische Veranstaltung ihnen vorsprach. Die Benjamin’sche Technik hat zuwegegebracht, was von Erkenntnis erheischt wäre: die Sache in ihrem Leben, das Ding von der eigenen Aura unabgeschnitten zur Erfahrung zu bringen. Der Erkennende hat es mit dem Vermögen belehnt, „den Blick aufzuschlagen“1 . Das Verfahren gemahnt die scientistisch verkümmerte Erkenntnis an die sachnähere ästhetische. Mit dieser teilt es das Resultat: das Ding in seiner Aura steht so vor Augen wie das künstlerisch Durchdrungene – die Werkgestalt, an der, nach Valérys Wort, keine Spur mehr seine Hervorbringung verrät. Kraft dessen, was sie scheinen, geht an ihnen auf, was sie sind.
2 Der Aurabegriff ist ein Schlüsselbegriff nicht nur des Benjamin’schen Verfahrens, sondern der objektiv-sachlichen Dimension, in die dieses Verfahren vordringt. Es macht ernst mit dem, was Hegel zufolge am erscheinenden Wesen als wesentliche Erscheinung gegriffen sein will – mit der Verschränkung immanenter und transzendenter Momente zur Dingfigur. An der inhomogenen Konkreszenz – dem Zusammenwachsen, der Verknotung beider – hat er die Dinglichkeit des Dings bestimmt. Wirkliches ist ihm Bewirktes in der Objektivation des Wirkenden, ob des natürlich, ob des historisch wirkenden, ob der mythischen, ob der messianischen Kraft. Es ist Wirkliches im Wortsinne des Gewirkten, Ineinandergewirkten – der Textur; also dessen, das die Probe hält durch Entwirrbarkeit, das aufzuknüpfen, zu entziffern, zu lesen bleibt, statt als Opakes hingenommen oder operationalistisch verdoppelt zu werden. Das Natürliche ist wie das Historische eine Schrift,2 und beides weist den Erkennenden auf den vom manifesten Text distinkten latenten Code an. Natürliches, My1 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I–VII, Frankfurt am Main 1972–1989 (text- und seitenidentische Taschenbuchausgabe in 14 Teilbänden: Frankfurt am Main 1991; im Folgenden zitiert als GS mit Band- und Seitenzahl); GS I, S. 647. 2 Cf. Verf., „Infernalische Aspekte der Moderne“, in: ders., Ein Physiognom der Dinge. Aspekte des Benjaminschen Denkens, Lüneburg 1992 (S. 153–170), S. 153 f.
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thisches, Historisches als ein solches darstellen heißt, nach einem Code es buchstabieren, der dem Buchstaben selbst entwunden sein will. Die Sprache der Darstellung bildet den Niederschlag eben dieser Anstrengung. Wie diese Darstellungssprache und die enigmatische des Dings einander entgegen, einander zu arbeiten, macht das wohl fesselndste Stück in der Vergegenwärtigung Benjamin’scher Erkenntnisarbeit aus – fesselnd, weil der Punkt, wo die Erkenntnis in Darstellung überzuspringen scheint, schon der Punkt ist, wo die Darstellung in Erkenntnis übergesprungen war; weil man bei der Sprache verharrt, damit einem die Sache nicht entgehe, und bei der Sache, solang das Wort sie erleuchtet. In der Verwiesenheit des Erkennens und Darstellens aufeinander liegt der unverwechselbare Benjamin’sche Stil beschlossen. Wie jeder entschiedene besteht er in der Aufzehrung, der Fortarbeitung dingfremder Stilisation – auch der konventionellen Signifikationssprachen, unter denen die Ausdruckssprache der Sachen verstummt. Um diese vernehmbar zu machen, wird scharfsinnig und resistent wider die nivellierende Sprachentwicklung die Sprache der Logoi, der „alten Worte“ rekrutiert, an welcher Erkenntnis ihren „Prüfstein“3 findet – die Stellung der Sache zu ihrem ureigenen Namen ermessen lässt, wie die Logoi historisch sie indizieren. Erst in der von den Logoi markierten Perspektive beginnen die Sachen als benannte sich zu regen, als die, die sie sein wollen unter ihrem Namen.4
3 Ohne die Vergegenwärtigung des Begriffes von Konkretion, der dem Werk Benjamins einbeschrieben ist5 und den es doch nie voll expliziert, wiewohl immerfort darstellend bewährt; ohne dass man sich vor Augen 3
GS II, S. 941. Dazu cf. „Name Logos Ausdruck“, in: Hermann Schweppenhäuser: Gesammelte Schriften, Bd. 1: Sprache, Literatur und Kunst, Berlin 2019, S. 159–174, S. 167 ff. 5 Im Sinn der – gelegentlich Wilhelm Lehmanns gebrauchten – Adorno’schen Formulierung wonach „das Eigentümliche solcher Erfahrungen wie“ auch Benjamins Schriften sie bereithalten ist, „daß sie, im Gegensatz zu der heute verbreiteten Denkgewohnheit, keine These aufstellen, niemandem eine Gesinnung aufdrängen wollen, vielmehr sich um Konkretion im wörtlichsten Sinn, das Ineinandergewachsensein der Momente“ einer Sache, „eines Problems bemühen. Mit anderen Worten, um Gerechtigkeit.“ Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 11: Noten zur Literatur, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1974, S. 665 [Hervorh.: H. S.]. 4
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hält: dass die Texte nicht lockere Erörterungen über Dinge sondern deren hartgefügte Charakteristiken sind, wird man hilflos bleiben vor ihrer Faktur. Vonnöten ist beständige Konzentration auf das Ineinanderstehen von Ausdruck und Sache, die Konkordanz von Inkonkordantem. Aber das zeigt erst etwas von der Oberflächenstruktur. Die Konkordanz wiederholt sich – in der Tiefe der Komplexion – in jedem der Konkordierenden, wie im Ausdruck, so in der Sache. Ist diese immer schon die Konkordanz ihrer, will sagen, dessen, was sie ist, mit dem, was sie ausdrückt, also nicht ist; so der Ausdruck immer schon die von expressio und expressum. Sie liegen, dieses mit jener, und die ganze Konkordanz mit der anderen, der sachlichen, ineinander verschachtelt; die Komplexion wird gelegentlich – und näherungsweise – mit dem Terminus „Monade“6 belehnt, mit dem einer „kleinste[n] angeschaute[n] Zelle Welt“, die den „Rest aller Wirklichkeit“7 aufwiegt. Jene steht für diese ein – nie kann es diese für jene. Denn fahrig ist der Griff nach der Totale; wie der, der das Beste verschüttet. So lag es nahe, den Begriff der Dialektik, den die Verwechslung mit chimärischer Prozessualität und Temporalität entwertet, monadologisch zurechtzurücken: in dem einer Dialektik im Stillstand.8 „Die Stauung im realen Lebensfluß, der Augenblick, da sein Ablauf zum Stehen kommt, macht sich als Rückflut fühlbar: das Staunen ist diese Rückflut. Die Dialektik im Stillstand ist sein eigentlicher Gegenstand. Es ist der Fels, von dem herab der Blick in jenen Strom der Dinge sich senkt“9 . Die Metaphorik der Stelle will den Stillstand im Fluss selber bedeuten, nicht die dem Fließen äußerliche Veranstaltung des Stauens; genauer: diese Veranstaltung hat ihr fundamentum in re – im über den Prozess Staunenden, von dem dieser selbst Stück ist, nämlich das am Prozess, worin dieser zum Stehen kommt und das Wesentliche in seinem eigenen Erscheinen sich findet.
6
GS I, S. 228, S. 703. GS II, S. 288. 8 Dazu vor allem die „Versuche zum Spätwerk Walter Benjamins“, die Rolf Tiedemann 1983 unter dem Titel Dialektik im Stillstand publizierte. – Cf. auch Verf.: „Praesentia Praeteritorum. Zu Benjamins Geschichtsbegriff“, in: ders., Ein Physiognom der Dinge. Aspekte des Benjaminschen Denkens, Lüneburg 1992 (S. 127–145), S. 140–142. 9 GS II, S. 531. 7
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4 Getroffen wird der Fortschritt als Trugbild, die Verwechslung der Zeit mit dem Sein, ein historischer Sinn, der auf den Kredit der Irreversibilität organischer Prozesse das Historische behauptet, das ihm in deren infiniter Wiederholung gerade zergeht. Das Neue ist nur das dynamisch erneuerte Alte – Progression die ewige Wiederkunft des Gleichen. Dies Gleiche verbirgt den Doppelcharakter des Konkreszierten, an dem das Dialektische nie nur im äußerlichen-reflexiven Ineinandersein des Neuen und Alten sich manifestiert. Vielmehr trägt das Neue das Alte in einer bis zum Springen geladenen Latenz in sich weiter – die nie aktualisierte Jetztzeit früher und frühester Historie. Gerade das Oberflächenphänomen par excellence, die Mode, die immerfort das Jüngstvergangene als das hoffnungslos Veraltete zudeckt, lebt aus der Tiefe des nie abgegoltenen historischen Versprechens: so die romanisierende der bürgerlichen Revolutionszeit, die vom republikanischen Rom als dem Kraftpunkt zehrt, aus dem die historische Zeit, je an dem Nu noch laborierend, in dem sie selbst sich aufheben will, in erfüllte übergehen könnte – und wäre es im spätesten Jetzt, das so spät nie sein kann, als dass es von dem frühesten nicht einzuholen wäre, das doch die Überwindung der Geschichte in unüberholbarer Aktualität schon versprach. Mode, die derart Geschichte zitiert, spiegelt ihr Niegewesenes als Gewesenes vor. Und indem sie das Aktuellste sein soll, gesteht sie das Niegewesene als je noch zu Aktualisierendes ein. Darin ist sie dem Wiederholungszwang verwandt, durch den das Immergleiche reproduziert werden muss – aber allein deshalb, weil mit jeder Repetition die endliche Erledigung des Unerledigten erwartet wird und die Erwartung sich wieder nicht erfüllte. Mode, Wiederholungszwang, Geschichte sind Figuren der Vergeblichkeit, die gerade mit dem Perennieren bedeuten wollen, dass sie vergeblich nicht seien. Die unablässig in ihnen pochende Insistenz ist die auf dem Endenwollen, darauf, dass zum Stehen komme, was stets wieder zerrinnt. Das an Geschichte, was wider Geschichte ist, Erlösung von ihr verspricht, soll als das Mächtigere sich erweisen. Es wird absehbar im revolutionären Augenblick. Ihn bedeuten die Moden scheinbar, mit Scheinkraft – die apokalyptischen Aktionen in
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reiner Essenz. Die Scheinkraft aber konstituiert den Bildraum, worin die Aktionen als apokalyptische identifizierbar werden.
5 Der Einstandscharakter substantieller Dinglichkeit erheischt stationäre Reflexions- und Vergegenwärtigungsweisen: so das Eingedenken in die Erfahrung, das diese des Grenzenlosen entmächtigt, so das Entziffern der Bild-, der Gestaltcharaktere, an denen die Dynamis in der Stasis sich niederschlägt, ehe sie diese wieder in sich auflöst. ‚Bild‘ hat bei Benjamin nie den Sinn von ‚Abbild‘, sondern stets den eines Modus von Kristallisation, von Stilisiertsein. Konstitutiv ist die Form einer „unsinnlichen Ähnlichkeit“10 von Figur und Figuriertem, und wer ihr Verhältnis in der Deutung von Emblemen und Hieroglyphen, von Ornamenten und Allegorien nicht erfuhr; wer an den Tänzen, der Mimik und Gestik, an den Elementen der Schrift und an Bildern als Gefügen nicht deutend wie an Emblemen sich versuchte, darf nicht hoffen, der Dinge selbst als Figurationen gewahr zu werden – dessen, was sein, was bedeuten und nicht zerrinnen, als gleichgültig Objektives im Riesenbehältnis der Zeit versinken soll. Das sich selbst Limitieren und Substantiieren des Wirklichen, das Außenwerden des Innen, das Einstehen des Werdens im Sein, die Verräumlichung der Zeit: diese Formuliertheit des Dings ist der Grund für sein Formulierbarwerden in der Erkenntnis. Dem wollen Benjamins „Denkbilder“ und „dialektische Bilder“ Rechnung tragen: Korrespondenzen allesamt von bewusstloser Formuliertheit mit bewusster, im gleich behutsamen und zupackenden mimetisch-begrifflichen Ausdruck. In ihnen hat der darstellende Ausdruck dem Sich-Ausdrücken des Wirklichen zugearbeitet, und beide sind bei dem Mittleren von Form und Materie angelangt, worin vom Subjekt einsteht, was es selber objektiv ist, und vom Objekt, was es subjektiv: ein sich Ausdrücken- und Seinwollendes, ist. Wandeln wir, Hegel zufolge, unter den Gestalten und Bildern als unter lauter aufzulösenden Rätseln,11 dann ist das Benjamin’sche Denken wie kaum eines solcher Auflösung zugewandt. Es lässt als die Anstren10 11
GS II, S. 207. Cf. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik, hrsg. von Friedrich Bassenge, Berlin 1955, S. 317.
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gung sich charakterisieren, die Physiognomie des Wirklichen unter der Maske des Objektiven zu ertasten, um der Kräfte gewahr zu werden, die beides prägten: die Züge wie was sie verdeckt. Das ist anders nicht zu bemeistern als mit Aufbietung der ungeläufigsten Praktiken, der Mobilisierung aller Sensorien und Techniken – auch der unzeitgemäßesten wie der stationären Konzentration, der selbst sich verdinglichenden Anverwandlung ans Ding, mystischer Überantwortung ans abseitige Leben von Abhub und Spur, Zeichen und Lineament, ja der narkotischen Inspiration.12 So fiel ihm zu, was dem wissenschaftlichen Beutefang stets noch durchs arbeitsteilig geknüpfte Riesennetz schlüpft – selbst eine epochale Ornamentfigur, die über sich noch nicht sehend wurde.
6 In alledem rückt der Aurabegriff an zentrale Stelle – zentral gerade unter ideologiekritischem Aspekt und nicht nur unter dem der Rettung des Verschütteten und in sich Verstummten, wie Habermas es will, nach dem die Benjamin’sche Intention der Rettung die ideologiekritische tendenziell ausschlösse.13 Benjamins Wissenschaft von den dialektischen Bildern, den Figurationen, Allegorien und Auren ist umgekehrt von der ideologiekritischen Intention unabtrennbar und verleiht der rettenden erst ihr Gewicht. – Der Schein ist wesentliche Prägung. Zur Lüge wird er, wenn das Prägende, expressio, verkannt und die Prägung, expressum, allein für das Substantielle genommen wird. Rettende Kritik gräbt das Prägende unterm Geprägten hervor, den Wahrheitsgehalt unter dem Sachgehalt. Dadurch ist es den Sachgehalt als Wahrheitsgehalt zu verkennen unmöglich geworden. Eben darauf will Ideologiekritik hinaus. Gerettet wird der Wahrheitsgehalt durch Deutung des Sachgehalts als des notwendigen Scheinens – Erscheinens des Wahren als der eigenen Oberflächenmanifestation. So ist der ‚Überbau‘ notwendiges Erscheinen des ‚Unterbaus‘, das was von diesem darin sich ‚ausdrückt‘. So ist der ästhetische Schein, 12
Dazu cf. Verf.: „Die Vorschule der profanen Erleuchtung“ [in diesem Band, S. 199–216]. Cf. Jürgen Habermas: „Bewußtmachende oder rettende Kritik – die Aktualität von Walter Benjamin“, in: Zur Aktualität Walter Benjamins. Aus Anlaß des 80. Geburtstags von Walter Benjamin hrsg. von Siegfried Unseld, Frankfurt am Main 1972 (S. 173–223), S. 185 ff.
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das Schöne, wesentlicher. Die Wahrheit ist in der Kunst nie anders gegeben denn als Schein. Außer der Kunst ist sie scheinlos, ausdruckslos: die Kunst ist die Wahrheit in ihrer Unwahrheit – so, wie das Schöne als Versprechen, nicht als Erfüllung ist. Erfüllung ist nicht mehr schön; das Unerfülltbleiben das Satanische, die beständige Lockung. So ist auch die Hoffnung einzig den Hoffnungslosen gegeben, nie den Erwartenden, chimärisch Vertrauenden. Chimärische Erwartung, Schönheit, noetische Hypostasen indizieren das Wahre negativ. Den Schein destruieren wollen da, wo er das Wahre negativ indiziert, räumte mit dem Schein die Indikation fort: mitnichten bliebe die nackte Wahrheit zurück, die niemand doch und nichts unter der Hülle verbarg und die kein Gegenstand des Zugriffs und des Versteckens ist. Sie ist woanders, als wo das opake Sein und der schillernde Schein, das Mythische und das Fortschrittshistorische ist – diese „irrende[n] Totalität[en]“14, die zum Schein repräsentieren müssen, was Wahrheit in der absoluten Immanenz nicht sein kann. Mit dem Wahrheitsschein von Mythos und Geschichte ist bedeutet, dass Mythos und Geschichte das Wahre nicht sind. Diesen Schein durchstreichen heißt, Mythos und Geschichte als wahr bekräftigen – ihn retten, an ihm das Eingedenken in die Wahrheit finden.
7 An Ideologie indiziert sich beides: wovon sie der Schein, die phantasmagorische Präsenz ist, und dessen Nähe oder Ferne zum Stande der Wahrheit. Daher wendet Benjamin alle Aufmerksamkeit an ihre Texturen. Gerade an den Oberflächen studiert er den Kern, der nicht unvermittelt darunter liegt – als der unverbrauchte, invariante Sinn, der vielmehr selber der täuschendste, zäheste Schein ist. „Die wahre Deutung erfaßt die äußerste Oberfläche der Dinge, ihre reinste Sinnlichkeit; Deutung ist Überwindung des Sinnes.“15 So hat Benjamin früh formuliert und es in stets erneuerter Wendung bewährt: durchs Studium sinnfremder Materien wie der Zeichnungen und Schriften Wahnsinniger, des Kitschs und 14 15
GS I, S. 832. GS II, S. 618.
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der Ornamente, der Syntax von Kinderspielen und Kinderworten, den Figuren des Abhubs und der Interieurs, der labyrinthischen und der manieristischen Artefakte – jener sinnüberladenen, an denen der Sinn so mächtig nach außen schlug, dass er im Wuchern gerade die Intentionalität widerlegte. Die Grenzfälle aber decouvrieren die normalen. Die apokryphe Grammatik der Extreme, der exterritorialen Befunde, wie sie in deren Stilisation durchschlägt, wird zum Schlüssel zu der geläufigen – den Stilisationsprinzipien der regulären Ding- und Merkwelt, die sie unter dem Objektivitätsschleier versteckt. Dem Blick, der am Irregulären und Kuriosen sich schulte, enthüllt sich die selbstgerechte vernünftige Ordnung als eine andere Art der Verrückung. Hier mag die sogenannte materialistische Wendung Benjamins als das sich verdeutlichen, was sie in Wirklichkeit war: Übergang von ästhetischen, mythologischen, metaphysischen Materien zu solchen von der philosophischen Reflexion gemiedenen und verachteten, wenn nicht vorweg ihr entgehenden – und nicht als per se theoretischer Bruch. Der Bruch, der da vollzogen worden sein soll, geschah woanders: im Beziehen einer politischen Position durch ein denkendes Subjekt, das dadurch sein Denken nicht preisgab. Er markiert Benjamins Übergehen aus der hoffnungslos werdenden Isolation und öffentlichen Ohnmacht des verantwortlich geistig Produzierenden auf die Seite der gleich ohnmächtigen anderen Produzierenden, die als Kollektiv autonom und mächtig werden sollen. Mit ihnen sucht er die Solidarität, weil er die Rettung des Worts16 für vereinbar hält mit der Rettung des materiellen Glücksversprechens im Angesicht einer korrumpierenden und entmenschenden Produktion, und weil beides in der Richtung aufs zurechtgerückte säkulare Dasein selber verschränkt ist – auf die Stellung seiner nächsten Nähe zum messianischen Stand. Eben das verbietet den Bruch mit der metaphysischen, der theologischen Grundrichtung des Denkens. Auf dessen kritische Fundamente hat ihn nicht erst das Studium des historischen Materialismus bringen müssen, weil er von Anbeginn an da sie aufsuchte, wo die Materien am dichtesten vorkommen und die Dichte von sich aus zur Wahrheit drängt. Jenes Studium hat ihm die eigenste Intention bekräftigt – die gemeinsame Absicht, historischer Komplexion die Wahrheit zu entreißen. 16
Cf. GS II, S. 688.
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8 So gerade den Kunstwerken, die unter historisch veränderten Bedingungen wahr bleiben sollen und es nicht können: unter Bedingungen ihrer massenweisen technischen Reproduzierbarkeit. Dabei zeigt sich, dass nichts an Einsicht gewonnen wird ohne den Rekurs auf metaphysische Schlüsselkategorien; dass diese die historisch-materialistischen erst tragen. Das gilt vorab für die epochale Bestimmung der Kunst als auraloser. Mitnichten ist sie identisch mit ihrer Bestimmung als krud scheinloser, depotenziert-praktizistischer, als eines Abbildrealismus’. Brecht hat scharf gesehen, wenngleich weniger scharf und unmissverständlich formuliert, dass hier einer zwar „gegen mystik“17 hält, aber mit mystischen Mitteln. Hinter dem Verdikt steht die Ahnung – die ihn mit Benjamin gerade verbindet –, dass Massenkunst am wenigsten etwas sei wie die restlose Auflösung ästhetischer Substanz in Funktion; in das, was Adorno entkunstete Kunst nannte. Benjamin sah eine authentische Metamorphose der Substanz darin, dass das historische Subjekt der Rezeption – wie der Produktion – jetzt das politische Massensubjekt sei; nicht das scheinautonom demokratische, sondern jenes historisch berufene, das die klassenlose Gesellschaft herstellen soll. Es traf auf Bedingungen, unter denen der technologische Massencharakter der Reproduktion in eine genuine Produktionsart selber verwandelt werden kann. Wie aber kann er das? Benjamin macht an Zwischenformen wie der surrealistischen Montage deutlich, dass sie mit dem Schock, den sie der ästhetischen Perzeption versetzt, das Apperzeptions-Kontinuum der Subjekte selber aufsprengt. Den Schockierten blitzt eine Figuration von Obsoleszenz und Modernität auf, in der die Obsoletheit des Modernen und die Aktualität des Veralteten zum Bewusstsein dringt; darin etwas vom historisch Unabgegoltenen wie von der Überschätzung, dem Lähmenden der Modernität per se. Montage – das Zerstücken und Umfigurieren des Zerstückten – aber ist eine Technik, die der Technik im Kapitalismus affin ist. Vermöge der Affinität kann jene Technik an dieser etwas hervorheben und von ihr abspalten, was gegen den technisch verhängten Schleier wendbar wird. Wider die Technik mobilisierte Technik, die deren Gegen-Mythisches, 17
Bertolt Brecht: Arbeitsjournal, 1. Bd., hrsg. von Werner Hecht, Frankfurt am Main 1973, S. 16.
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Gegen-Historisches, ja Messianisches aus ihr – dem epochalen Moloch – selber hervorholt, wird vollends augenfällig an der entwickeltsten Reproduktionstechnik, der filmischen. Auf unerwartete Art bringt sie zum Sprechen, was noch avanciertester vorfilmischer Montage stumm und verschlossen blieb – verschlossen, weil es kraft der traditionellen Aura wesenhaft Fernes, schlechthin entrückt war, so nah immer es vor Augen stehen mochte. Die entfaltete Reproduktionstechnik hat die traditionelle Aura durch Wegzehren der wesenhaften Ferne aufgehoben und die spezifische Aura des unentrückten Dings freigelegt. Der vermittels ihrer instrumentierte optische Sinn hat die Schwelle zum haptischen übertreten. Die Kamera rückt den Dingen auf den Leib. Optisch vermittelte Taktilität wird zum Medium ihrer Erfahrbarkeit, damit zugleich der mimetische Kontakt mit den Dingen geschlossen und in der Greifbarkeit die Begreifbarkeit, das vor Augen Bleiben bewahrt. Aura ist nicht länger die wesentlich optische, sie ging in die wesentlich taktile über. Der Lichtkreis verschob sich in den Dunstkreis, und was aus der Ferne strahlte, beginnt in der Nähe zu atmen.
9 Zertrümmerung der Aura ist nicht absolute, sondern bestimmte Negation. Benjamins Reflexionen machen die Entbindbarkeit einer materialistischen Ästhetik aus der idealistischen vermittels des Aurabegriffs absehbar. Der historische Funktionswandel der ästhetischen Produktion selber indiziert eine Gewichtsverschiebung in der Apperzeption. In ihr weicht der visuelle Gestaltprimat – zusamt seinen geistigen Auren – vor dem haptisch-taktilen zurück. Dieser deutet auf die idealistisch verdrängte Tiefenschicht, in der die Erfahrung der Dinge mimetisch, durch Anschmiegen, angeeignet sein will. Das taktile Sensorium war durch das herrschaftlich-optische ähnlich unterdrückt, wie seit je die Materie durch den Geist gemodelt. So war auch das auratische Bild der Sache entrückt, das diese nicht sowohl sein durfte, als repräsentieren musste. Ins Zentrum der neuen Ästhetik rückt eine der Psychoanalyse analoge Analyse: eine, die den Gestaltprimat – den der Stilisation – ähnlich auf das darin Verdrängte durchforscht, wie Psychoanalyse die Verhaltensformen der Rationalisie-
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rung, des Wahns auf die darin umgefälschte, entstellte Reaktionsart des Soma. Es ist eine instrumentell vermittelte mikrologische Analyse, der das schemenhaft, eidetisch, im figürlichen Umriss Gegebene – das apperzeptive Präjudiziertsein aller Dinge und Vorgänge – unterworfen wird. Zu ihren Armaturen zählen das Mikro-, das Teleskop, die die Raummuster auflösen, die Zeitlupe, der Zeitraffer, die die temporalen Muster zersetzen, die sie kombinierende Kamera, die das Raum-Zeit-Kontinuum selber aufsprengt. Sie lassen ins Sichtbare hinein-, hinter es zurücktasten und wenden das Unsichtbare gewissermaßen um. Das essentiell Verborgene – der dunkle Grund, auf dem sich die Gestalten als sichtbare abhoben und der sie auratisch machte – findet historisch, durch entfaltete Technik, sich dementiert: ist das nach außen gewandte, erkennbar gewordene Innen, das mit der Wendung die phantasmagorische Aura verlor. Diese hat solang auf den Kredit des Wesenhaften scheinen können – und scheinen müssen –, wie ihr eigener dunkler Grund die Sache entrückte und vom Betrachter distanziert hielt. Die Aura war eine strenge Funktion der vortechnischen Technik – am frühesten der rituellen, also des Standes der Naturbewältigung, auf dem Natur nicht anders erfahrbar war denn als Übermacht, die, zu Transzendenz stilisiert, die gleich scheuen wie schlauen Praktiken ihrer Beschwörung, Anbetung und Beschwichtigung aus der Distanz ermöglicht. Am Ende weichen die Praktiken des Magiers – über Stufen der zunehmend ins Innere des Übermächtigen eindringenden Arbeit und der sie reflektierenden halbreligiös-halbsäkularen, ästhetischen Auren – denen des Operateurs, der den zugleich technischerleuchteten und sympathetisch-mimetischen Kontakt mit den Materien – jene in innere Nähe gewendete äußere Ferne – zulässt, den Benjamin einmal mit dem Namen des ‚materialistisch inspirierten‘18 belegt. Seine Techniken sind nicht weniger künstlich und künstlerisch, als die rituellen und ästhetischen Veranstaltungen technisch waren. Sie sind es sosehr, dass gerade die Steigerung apparatbedingter Künstlichkeit das Optimum eines „apparatfreien Aspekt[s] der Wirklichkeit“19 gewährleistet. Die künstliche Anstrengung, die alle Kraft ans Scheinbarmachen wendet, ist im resultierenden Scheinfreien, das auratische Ding im Ding aufgeho18 19
Cf. GS II, S. 297. GS I, S. 496 [im Orig. kursiv].
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ben, das kein Perspektivismus mehr zwielichtig, keine Präfiguration mehr verdeckt lässt. Seine Auralosigkeit ist seine produktiv negierte Aura selber. Die filmische Technik war Benjamin Paradigma der epochalen, mit der er durch die eigene literarische und denkerische sich tief verbunden wusste und kraft derer das Zeitalter lernt, sich selbst ins Gesicht zu blicken: um darin nicht länger sein Trug-, sondern das Wahrbild aufzufangen.
Teil III Bild
Bilder der Natur in der kritischen Theorie
Was in der Zeiten Bildersaal Jemals ist trefflich gewesen: Dies wird immer einer einmal Wieder auffrischen und lesen. Goethe
I Die Menschen sind in eben dem Maß frei, sich in Kunstwerken wiederzuerkennen, wie sie der allgemeinen Nivellierung widerstanden haben. [...] Erfahrung, wie sie das Kunstwerk verkörpert, ist nicht weniger gültig als die organisierte, welche die Gesellschaft zur Naturbeherrschung einsetzt. Obgleich ihr Kriterium allein in ihr selbst liegt, ist Kunst nicht weniger Erkenntnis als die Wissenschaft. Horkheimer Dialektik offenbart jedes Bild als Schrift. Horkheimer/Adorno © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_14
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Bei der Fixierung des Themas durch die Veranstaltungsleiter sträubte sich seinerzeit etwas in mir, als ich gebeten wurde, zum „Bild der Natur in der kritischen Theorie“ zu sprechen. Da kritische Theorie eine philosophische ist, hätte ich mich aufgefordert fühlen müssen, über den Begriff, oder die Idee der Natur in dieser Theorie zu Ihnen zu sprechen. Wenn ich dann doch meinem Sträuben nicht nachgab und es bei der dem Konzept der Vortragsreihe mehr konvenierenden Formulierung „Bild der Natur“ beließ, dann deshalb, weil dies in der philosophischen Eigenart kritischer Theorie – im Sinne der Horkheimer’schen, Adorno’schen, Benjamin’schen, Marcuse’schen – schließlich wohlbegründet ist. Das heißt, es ist sachlich und methodisch nicht untriftig, vom Naturbild der kritischen Theorie zu sprechen, und es dort auch aufzuweisen. Denn kritische Theorie ist Theorie nicht nur der Logizität, Diskursivität ihrer Begriffe nach: ihres terminologischen und kategorialen Urteils- und Darstellungsmediums, sondern auch eine der Intituivität ihrer Begriffe nach: der Anschaulichkeit, Vorstellungskräftigkeit, „Bildlichkeit“ und Figuralität, des Eidetischen und Physiognomischen ihrer Theoreme und des in ihnen Begriffenen und Ausgedrückten. In ihrem kategorialen Fundus gibt es – neben den abstraktiven Klassifikations-, Form- und Ordnungsbegriffen – auch solche der intuitiven Synthesis und Gestalterfassung, genannt: ‚Denkbilder‘, ‚dialektische Bilder‘, ‚Geschichtsphysiognomien‘, ‚Prozessgestalten oder -figuren‘, ‚Konstellationen‘, ‚harte oder harmonische Fügungen‘ und ähnliche. Es sind Begriffe in der Bedeutung und Funktion von Schematen oder Modellen – ‚Prototypen‘ in ihrer Mittelstellung zwischen conceptus genuinus und den ektypischen ‚Charakteren‘ – oder nach Art ‚intellektueller Anschauung‘; ‚Kategorien‘, die zugleich den Status des Logischen und des – sensuellen wie imaginären – Imaginativen haben, wie etwa die Bloch’schen „Gebiets-“ oder „Sphärenbegriffe“ von der Art der ‚utopischen Ideen‘ und ‚Realsymbole‘, oder wie die ‚Portraitcharaktere‘ Vicos von der Art der ‚Ideale‘ oder mythischen ‚Idealtypen‘. Dies hängt mit der Grundthematik kritischer Theorie, der der Rationalität unmittelbar zusammen, das heißt mit deren Dialektik, also der Historizität, Temporalität, ‚Materialität‘: der empirisch anschaulichen Rationalität in deren handgreiflichen Vernünftigkeit und Unvernünftigkeit selber –; hängt zu-
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sammen mit einem der Basistheoreme dieser Theorie: nämlich dem von der Rationalität des Bildes und der Irrationalität des Begriffs. Bilder sind zwar stets Schein, phänomenal, ein unseren – äußeren und inneren – Sinnen Erscheinendes, mehr oder minder festumrissen sich Darstellendes; aber sie sind in dieser ihrer Phänomenalität zugleich „lesbar“, das heißt sie sind „Schrift“1 , sie stellen sich dar in entzifferbaren Zeichen und Charakteren, in Malen, die wir wie beim Buchstabieren eines Textes ihren – gerade auch scheinbaren, schwankenden – Bedeutungen nach, ihrem – wie auch klaren oder umwölkten – Sinn gemäß, und das heißt, ganz rational und vernünftig-kritisch auffassen. Das Theorem von der Lesbarkeit der Bilder, der Deutung, Deutbarkeit dessen, was anschaulich, ‚wirklich‘, faktisch ist, also des ‚begreifenden‘ Aufschließens des Wesens, des Seins der Sachen, der erscheinenden und sich zeigenden Dinge ist zum einen theoretisch-methodisches Element dieser Philosophie – die, nach der Definition Adornos, die Idee, die Aufgabe der Deutung erfüllt;2 der Deutung dessen, was Wissenschaft als tatsächlich erforscht und feststellt; und es ist zum andern auch Inhalt, Sache, Resultat dieser Philosophie: sofern sie das Moment der Erkenntnis und der Bestimmung des Wahren auch und – sogar vorzüglich – mit dem Element des anschaulich, bildlich, physisch, werk- und wirkhaft Sich-Zeigens in eigenen theoretischen Bildprägungen eng verknüpft. Bilder als lesbare haben Erkenntniskraft und sind ein Vernunftausdruck – ein Ausdruck auch beschädigter, erkrankter Vernunft.3 Sie sind und haben, was man „ästhetische Rationalität“ nannte und betreffen den sensus communis aestheticus. Sie wird von Horkheimer und Adorno sowie von Benjamin als antithetisches Erkenntnisattribut und Erkenntnispotential geltend gemacht gegenüber dem andern Typus von Rationalität, der „instrumentellen Rationalität“; 1
Siehe Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 36; zum Schrift- und „Sprachcharakter der Kunst“ bei Marcuse siehe Herbert Marcuse: Nachgelassene Schriften, Bd. 2: Kunst und Befreiung, hrsg. von Peter-Erwin Jansen, Lüneburg 2000, S. 31 (Einleitung [Gerhard Schweppenhäuser: „Kunst als Erkenntnis und Erinnerung. Herbert Marcuses Ästhetik der ‚großen Weigerung‘“, S. 13–40]). 2 Siehe Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1973, S. 334. 3 Siehe Max Horkheimer: Kritische Theorie. Eine Dokumentation, hrsg. von Alfred Schmidt, Bd. 2, Frankfurt am Main 1968, S. 315 und 318 f.
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das ist die eigentliche Logik und Vernunft der Naturbeherrschung, des disziplinierenden, reduktiven, identifizierenden und vereinheitlichenden Zwangs, den das Subjekt über die Dinge und Wesen, über sich selbst und seinesgleichen – einerseits definitorisch, klassifikatorisch, andererseits faktisch ‚diskriminierend‘, bannend und festschreibend, ‚brandmarkend‘ ausübt. In diesen beiden Grundarten der Rationalität: der ästhetischkontemplativen, „objektiven Vernunft“ und der wissenschaftlich technischen, „instrumentellen“ oder „subjektiven Vernunft“ – wie Horkheimer4 sie terminologisch fasste –, kommen zwei objektive Aspekte des Seins, der Natur – als des Gegenstands der Vernunft – selber zum Ausdruck; zwei Grundarten des Verhältnisses des Subjekts zur Natur, zum Seienden, zur Objektivität. Und durch diese Arten und in ihnen manifestieren sich zwei Aspekte oder immanente Grunddispositionen von Natur und Sein (zu denen ja auch das Subjekt gehört) selber – nämlich das, was wir ‚ursprüngliche Natur‘: die genuine, wachsende, auch die ‚erste Natur‘ und das, was wir ‚die zweite‘ nennen: die gemachte, gesetzte, die künstliche, also die Kultur; etwas wie eine Gegen-Natur in der Natur mit der Tendenz, von dieser sich zu emanzipieren. Sie wird auch die ‚zweite Natur des Menschen‘ genannt, in dem die erste gewachsene, ‚angelegte‘ entweder ganz ersetzt oder substituiert ist durch Zucht, Anbau, Gewöhnung; durch den ‚erworbenen‘, eingeimpften, nach Gesichtspunkten der Perfektionierung oder der Mängelkompensation formierten Charakter: durch die Seins-, die Sinnes- und Denkungsart in ihrer kulturell und zivilisatorisch von der genuinen abweichenden Beschaffenheit, die bis zur deformatio, Fesselung und Entstellung – zur Denaturierung der ersten Natur geht. Beide Aspekte der Natur sind manifestiert in den ‚Werken‘, den Objektivationen der Natur – ihren Ausdrücken, die entweder darstellen das freie ungezwungene Wachstum, frei sich entfaltende Sein und Seinlassen, das zwanglose Spielen der Naturwerke und -kräfte, also die Natur der Dinge und Wesen, der Kreaturen in ihrer eigenen Organizität, Plastizität (bei Lebewesen ihrer dignitas entis und Selbstbestimmtheit, Selbststeuerung 4
Siehe Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, hrsg. von Alfred Schmidt, Frankfurt am Main 1967, S. 13–174.
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und -regulation; bei Dingen ihrem Eigenwert): in dem Sinn stellt Natur selbst Bilder; oder aber in den Werken zweiter Potenz, den Kulturaten, welche zeigen – oder welche sind – ihre Entstellung, Denaturierung, Entfremdung, Versteinerung; „Masken der Natur“5 . Eben diese Charaktere – die des Gepräges erster wie zweiter Natur – werden an den „Naturbildern“ – Exprimaten der Natura – identifizierbar und können in dieser ihrer Identifizierbarkeit, Buchstabierbarkeit dargestellt, schöpferisch wiederholt werden: in den Bildern, die wir machen; den Bildern der Natur, die wir uns von dieser machen. Diese Wiederholungen sind Reproduktionen, eine Art Rückspiegelungen, Reflexionen der Züge erster wie zweiter Natur. Insofern sind sie mit dem Wiederholungscharakter des Begriffs – dem intelligiblen Echo des empirisch Konkreten – identisch, das heißt teil-identisch oder in Analogie; während Begriffe (als signifikative Wiederholungen durch Abstraktion, die Abstraktion von der ersten und zweiten Natur sind. Deshalb sind aber Begriffe, als Medien und Instrumente der Abstraktion, auch selber Natur: zweite Natur, künstliche, technische – so, wie Bilder Medien und Ausdrücke mimetischer erster Natur sind. Solche Voraussetzungen in der Philosophie kritischer Theorie erlauben es nicht nur, sie gebieten es sogar, vom Naturbild oder von Naturbildern dieser Theorie zu handeln. Lassen Sie mich dies im Folgenden an einigen charakteristischen Exempeln von Naturbildern der kritischen Theorie vor Augen führen, und zwar von Naturbildern sowohl als Gegenständen der Erforschung, der Deutung und ihrer Prägung durch diese Theorie, wie auch als Repräsentationen von Naturaspekten selber. Lassen Sie sie mich also nicht bloß in methodischer Perspektive erörtern, sondern – buchstäblich: spekulativ-dialektisch – sie betrachten. Denn Bilder sind ein zu Betrachtendes, imaginativ und empirisch Vorzustellendes, zu Intelligierendes – im Einklang mit den ästhetisch-spekulativen Grundintentionen der kritischen Theorie, jenen poietischen, gemäß denen hier im Begriff der Aisthesis und Poiesis das praktische und das theoretische Element zusammengehen, so, dass Adorno prononciert sagen konnte: Zu Zeiten sei Theorie – die dialektisch-kritische – die einzig dem objektiven Vernunft-
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Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, l. c., S. 299 und 298.
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verhalten anstehende und legitime Praxis.6 Und dies hatte seine – sehr gewogene – Bedeutung nicht nur für die damaligen politischen Auseinandersetzungen und Kämpfe um eine bessere und humanere Ordnung der Gesellschaft, sondern namentlich für die kulturellen, auf die sie schließlich hinausliefen: die Auseinandersetzungen über die Frage nach dem, was Kultur in der spätkapitalistischen Moderne sei, was sie nicht sei, was in den sozialen Hegemonialkämpfen der Gegenwart Kultur – „Kunst, Wissenschaft, Religion“ – überhaupt noch bedeutet. Um hier nur den einen Punkt hervorzuheben, der dabei den kritischen Theoretikern stets wieder als relevant sich erwies: so war es der einer Befriedung des gesellschaftlichen Kriegszustandes; einer Heilung der Zerrissenheit erster und zweiter Natur, vor allem der Verletzungen, die zweite Natur im Regress auf die erste der ersten und so, vermittelt, auch sich selber zufügte; einer Heilung der ärgsten Traumata, wie sie bei den in der Gegenwart entwickelten Praktiken der Menschenprägung, der mentalen und physischen Ausrichtung der Subjekte, ihrer Dressur und ihrer von den Dressierten schließlich selber gewünschten – und ersehnten – Disziplinierung und Befähigung zu Anpassung, zur automatenhaften Selbstverfügung und Selbstausbeutung unweigerlich entstehen müssen, und die, stets drastischer, die Narben der Entstellung, die Brandzeichen, die Lötstellen des Umbaus und die Verzerrungen durch die anthropoiden Technikmasken zu sehen geben, in denen sich die Züge entstellter, geschändeter Natur zu verewigen drohen. So war und blieb es ihnen Hauptdesiderat gegenwärtiger Kultur – oder dessen, was die Katastrophen dieses Jahrhunderts von ihr übrigließen –, zu leisten, was sie „Eingedenken der Natur im Subjekt“7 nannten: die „Aufklärung“, die „mehr“ ist „als Aufklärung“, nämlich „Natur, die in ihrer Entfremdung sich vernehmbar“ 8 macht. In der „Selbsterkenntnis des Geistes als mit sich entzweiter Natur ruft [...] Natur sich selber an [...] als Blindes, Verstümmeltes. Naturverfallenheit besteht in der Naturbeherrschung, ohne die Geist nicht existiert. Durch die Bescheidung“ aber, „in der dieser als Herrschaft sich bekennt und in Natur zurücknimmt, zergeht 6 Siehe Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1966, S. 13 ff.; siehe auch ders., Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt am Main 1971, S. 150. 7 Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, l. c., S. 55. 8 L. c., S. 54 [Hervorh.: H. S.].
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ihm der herrschaftliche Anspruch, der ihn gerade der Natur versklavt“9 . – In jenem Eingedenken: der „Selbstbesinnung eben des Denkens, das in der Form der Wissenschaft an die blinde ökonomische [und ökologische] Tendenz gefesselt bleibt“10 , erschlösse erst der Kultur sich die eigene, von ihr verkannte Wahrheit, und sie begänne als das sich zu realisieren und zu bewahrheiten, was den Namen einer Kultur verdiente. Sie wäre nicht länger der Naturbeherrschung – noch in ihren raffiniertesten fortgeschrittensten Formen – geschuldet, sondern verdankte sich der Beherrschung des Verhältnisses der Menschen zur Natur – einer, die beiden zum Segen gereichte, weil sie die zur Heilung und Selbstheilung zerstörter wie zerstörerischer Natur unabdingbare Pflege, Schonung und Sublimation in sich schlösse; Sublimation auch in der Gestalt so distanzierter wie fühlsamer Betrachtung, ästhetisch-sensibler Erfahrung der Natur – nach der Einsicht von Aufklärern wie Freud die eigentliche ‚Kulturarbeit‘ –; also auch der ‚lesenden Betrachtung‘ der Bilder der Natur: eines hingegebenen und schöpferischen Lesens und Studiums im Buch von Natur und Welt und ihren „Texten“11 . „Die Philosophie“, formulierte Horkheimer, „ist mit der Kunst darin einig, daß sie vermittels der Sprache“ – der logisch-topischen wie der poetisch tropischen – „das Leiden reflektiert und damit in die Sphäre der Erfahrung und Erinnerung überführt. Wenn der Natur die Gelegenheit gegeben wird, sich im Reiche des Geistes zu spiegeln, erlangt sie eine gewisse Ruhe, indem sie ihr eigenes Bild betrachtet. Dieser Prozeß macht das Herz aller Kultur aus“12 . Betrachten wir einige solcher Bilder, in denen Natur vermittels ästhetischer und theoretischer Reflexion: im künstlerischen und philosophischen Widerschein sich selbst anschaut und zu begreifen trachtet.
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Ibid. L. c., S. 55. 11 In „jüdische[r] Religion [...] wird das Recht des Bildes“ gerettet „in der treuen Durchführung seines Verbots. Solche Durchführung, ‚bestimmte Negation‘, ist nicht durch die Souveränität des abstrakten Begriffs gegen die verführerische Anschauung gefeit“. Sie „verwirft die unvollkommenen Vorstellungen des Absoluten, die Götzen, nicht wie der Rigorismus, indem sie ihnen die Idee entgegenhält, der sie nicht genügen können. Dialektik offenbart vielmehr jedes Bild als Schrift. Sie lehrt aus seinen Zügen das Eingeständnis seiner Falschheit lesen, das ihnen die Macht entreißt und sie der Wahrheit zueignet. Damit wird die Sprache mehr als ein bloßes Zeichensystem“ und das Bild braucht nicht „zum Abbild [zu] resignieren“ (l. c., S. 36 f. und S. 29). 12 Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, l. c., S. 167. 10
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II Die [ästhetisch] veranstaltete Entfremdung enthüllt so viel vom Leben, wie nur ohne Theorie sich enthüllen lässt, weil das Wesen die Entfremdung selber ist. Adorno
Es zeigt sich zunächst das grandiose kosmische Naturbild einer Sonnenfinsternis der Vernunft, in welchem, neben den charakteristischen Zügen einer entfremdeten Natur – denen des ‚stählernen Gehäuses der Hörigkeit‘ einer ‚verwalteten Welt‘, in der wir längst leben –, in nuce das philosophische kritische Forschungsprogramm selber zum Ausdruck kommt, nämlich zu dem Titel erhoben ist, den Horkheimer über sein rationalitätskritisches Hauptwerk setzte.13 Die „Eclipse of Reason“ manifestiert sich ihm zufolge in zahlreichen Symptomen einer erkrankten, ja todkranken Spätkultur und Zivilisation. Sie unbestochenen Blickes aufzunehmen und diagnostisch zu deuten hatte Horkheimer schon Jahrzehnte vor der Veröffentlichung der „Eclipse“: in einem bedeutenden Aphorismenwerk unternommen, dem er den dem Naturbild der Eklipsis, der Sonnenfinsternis, sinnbild-verwandten Titel Dämmerung gegeben hatte,14 diesen ein weiteres Mal versiegelnd mit einem poetischen Symbol, das er, in Gestalt eines Sechszeilers aus der Feder des spätromantischen, den großen europäischen Weltschmerz-Lyrikern Byron und Leopardi affinen Poeten Niembsch von Strehlenau, als Motto vor das Buch setzte. Im Relief dieses poetischen Siegels sind die Grundzüge jener Zeit-Symptomatik scharf ausgeprägt: „Woher der düstre Unmut unserer Zeit, / Der Groll, die Eile, die Zerrissenheit? – / Das Sterben in der Dämmerung ist schuld / An dieser freudenarmen Ungeduld; / Herb ist’s, das langersehnte Licht
13 Max Horkheimer: Eclipse of Reason, New York 1947; dt.: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, l. c. 14 Siehe Heinrich Regius (= Max Horkheimer): Dämmerung. Notizen in Deutschland, Zürich 1934 (Neudruck: Frankfurt am Main 1974, hrsg. von Werner Brede).
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nicht schauen, / Zu Grabe gehn in seinem Morgengrauen.“15 – So wie im düstern nebligen Herbst und dunklen Winter die Helle des heiteren, hellen (Sommer-)Tages, das Licht, in dem er kulminiert, fern ist, so in den historischen Jahreszeiten – ja schon in den frühen und späten Zeiten eines jeden einzelnen Tages selber, den Jahres- und Tageszeiten der Verdunkelung, wo Licht und Erleuchtung ausbleiben. Die Menschen in finstern Zeiten, Epochen des Obskurantismus, der Gegenaufklärung – hier, im Gedicht, in der Restaurationsepoche zwischen Großer, Juli- und 48er-Revolution – müssen das Licht, Kraft und Wohltat der lumières, der Vernunft-Sonne entbehren: noch ehe der Tag angebrochen, das Licht durchgebrochen ist, das Leben der Vernunft, des Geistes sich regte, müssen sie dies lichtlose Leben schon wieder verlassen, im Dämmer „zu Grabe gehn“. Sehr großartig hat den Naturaspekt der Eklipsis – der Verfinsterung des Lebens und des Geistes – ein anderer bedeutender Dichter der Vormärzzeit, Adalbert Stifter, in seiner Schilderung der Sonnenfinsternis im Juli des Jahres 1842 vor Augen gebracht.16 Sie liest sich wie ein überwältigendes Gleichnis der Entfremdung zweiter Natur von der ersten, des Zustandes der Entfernung von Natur und Selbst, der im erstorbenen, versteinerten Leben in der modernen Industriekultur terminiert; will sagen, sie deutet auf die Analogie von Natur und Gesellschaft, weist allegorisch auf den geschichtlichen Aspekt der Natur und damit auf den naturwüchsigen Charakter der bisherigen geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft – auf deren ‚Vorgeschichte‘, ‚Naturgeschichte‘ hin, also die Geschichte, die noch längst keine der Freiheit ist. – Wir lesen bei Stifter: „Die Sonne“, die, an jenem Julitag von den Beobachtern „mit den dämpfenden Gläsern“ angeschaut, „als rote oder grüne Kugel rein und schön umzirkelt in dem Raume“ schwebt (so wie Klee später sie malte), empfing „– gleichsam wie von einem unsichtbaren Engel [...] den sanften Todeskuß“17. Jetzt „wuchs das unsichtbare Dunkel immer 15
L. c., S. 223. Adalbert Stifter: „Die Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842“, in: ders., Sämtliche Werke in fünf Einzelbänden, mit einem Nachwort von Fritz Krökel sowie Anmerkungen von Karl Pörnbacher, Bd. 5: Die Mappe meines Urgroßvaters. Schilderungen. Briefe, München 1954, S. 501–512. 17 L. c., S. 505. 16
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mehr und mehr in das schöne Licht der Sonne ein –“, „indessen oben der Balsam des Lebens, das Licht, heimlich“18 wegsiechte. Es war, „als schliche Finsternis, oder vielmehr ein bleigraues Licht“ – also ein paradox dunkles Licht,19 das Newton’sche lumen obscurum, die Goethe’sche Trübe: ein Erleidnis des Lichts – „wie ein böses Tier heran“20 . „Seltsam war es, daß dieses unheimliche, klumpenhafte tiefschwarze vorrückende Ding, das langsam die Sonne wegfraß, unser Mond sein sollte, der schöne sanfte Mond“21 – sozusagen in Gestalt der Nachtseite seiner selbst, in dem Sinne, in dem die Romantik von der Nachtseite, der tag- und lichtabgewandten Seite der Natur sprach, oder wie Freud von der Ichabgewandten Seite des Es, des Unbewusstseins, also von der, die von der Zivilisation im Dunkel gehalten wird, die vor den Augen versteckte Seite des Elends, des Grauens, der ungesehenen, ungesühnten Taten und Untaten, der ausbrechenden menschlichen Bestialität, auf die Stifter mit dem die Sonne auffressenden Mond hindeutet.22 – „Die Landschaft“ 18
L. c., S. 506. Gleichsam das passive Gegenstück zur Tat des Lichts („Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden.“ Johann Wolfgang Goethe: Schriften zur Farbenlehre, in: ders., Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. von Ernst Beutler, Zürich 1949, Bd. 16: Naturwissenschaftliche Schriften, Erster Teil, S. 9); vergleichend auf den Geist bezogen: die Verfinsterung der Vernunft ist Manifestation ihres eigenen Unvernünftigen, Widervernünftigen: Rationalität in ihrer Irrationalität – ein Genuines, Eigenes, nicht einfach die Abwesenheit, der Mangel der Vernunft, so wie Dämmer, Dunkel und Nacht nicht einfach Schwund oder das Residuum, die Abwesenheit des Tages sind, sondern ein Medium, ein ‚Negativ-Substanzielles‘: qualifizierte Phase in der konkreten Darstellung eines Material-Temporalen. 20 Stifter, l. c., S. 506. 21 Ibd. 22 Zu erinnern ist auch an Nietzsches Einsicht in die Geschichte als Grauen – Kehrseite der Triumphgeschichte. Was immer die Tat der Kultur war, die der Natur sich entrang: „Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab [...]. [...] wieviel Blut und Grausen ist auf dem Grund aller ‚guten Dinge‘“ (Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, Bd. 2, München 1960, S. 802 und 804 [Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, zweite Abhandlung: „Schuld, ‚schlechtes Gewissen‘ und Verwandtes“]). In der Naturgeschichte des Willens, „der Gier zum Dasein“, ist alles was leben will, vorweg in eine ‚entsetzliche Konstellation der Dinge‘ gebracht (Nietzsche, Werke in drei Bänden, l. c., Bd. 3, S. 278 [Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern: „Der griechische Staat“]). „Jeder Augenblick frißt den vorhergehenden, jede Geburt ist der Tod unzähliger Wesen, Zeugen, Leben und Morden ist eins. Deshalb dürfen wir auch die herrliche Kultur mit einem bluttriefenden Sieger vergleichen, der bei seinem Triumphzuge die an seinen Wagen gefesselten Besiegten als Sklaven mitschleppt.“ (L. c., S. 279) Diese Allegorie der Kultur lieh ihre Ausdruckskraft dem naturgeschichtlichen Kultur- und Geschichtsbild der kritischen Theorie, am prägnantesten wohl bei Benjamin, der die Allegorie in der siebenten seiner Thesen Über den Begriff der Geschichte variierte (siehe Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann 19
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wurde, unter dem von ihm weggezehrten Licht, „immer starrer“23 ; sie gemahnt so an die erstarrende Urlandschaft der Melancholie, die „allegorische“, die, wie Benjamin dartat, untrennbar mit dem Naturbild des Barock verschmolz – die Landschaft der Ruinen und der Vergängnis als einer, die die Geschichtlichkeit der Natur,24 ihren Charakter als Leidens- und Marterlaboratorium, als Schädelstätte offenbart und geschichtliches Leben als Quälgeister- und Gespenstertreiben auf und an diesen Stätten denunziert. Als eine „Landschaft“ stellt die Welt in der Verfinsterung sich dar, wie der Hades eine ist: belebt von Schattengestalten – als welche die Menschen der Beobachtung jetzt erscheinen –, die sich „leer und inhaltslos“, mit „aschgrau“ gewordenen Gesichtern, „gegen das Gemäuer“25 lehnen. „[E]rschütternd“, schreibt Stifter, „war dieses allmähliche Sterben mitten in der [...] Frische des Morgens.“26 Das hadeshafte Hindämmern „war ein lastend unheimliches Entfremden unserer Natur“ 27 – also ein tötendes Losreißen des Lebendigen vom Leben und von dem Lebendigen, das als ein Fremdes, Entfremdetes übrigbleibt: ein Scheinleben, seiner Wesenskräfte beraubt, seines ureignen Wesens: seiner Natur enteignet – Scheinleben oder Scheintod, das Nicht-lebennicht-sterben-können in dieser Welt, wie Stifters jüngerer Landsmann Ferdinand Kürnberger diesen halbschlächtigen Zustand empfand, dem er durch den Gang ins Exil, in die ‚Neue Welt‘ zu entrinnen hoffte (wie vor ihm schon Lenau) – hinaus aus dem „Leben, das nicht mehr lebt“. Der von Stifter, wie von andern Dichtern und Philosophen des Vormärz, in dieser Bedeutung gebrauchte Ausdruck „Entfremdung“ ward zum signifikanten kritischen Grundbegriff der Gesellschaftstheorie des 19. und noch des 20. Jahrhunderts. – Stifter fährt fort in seiner Schilderung: „die Stadt sank zu unsern Füßen immer tiefer, wie ein wesenloses Schattenspiel
Schweppenhäuser, Bd. I–VII, Frankfurt am Main 1972–1989, Bd. I, Frankfurt am Main 1977, S. 696). 23 Stifter, l. c., S. 507. 24 Siehe Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, l. c., S. 343; siehe auch Theodor W. Adorno: „Die Idee der Naturgeschichte“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1973, S. 345–365. 25 Stifter, l. c., S. 507. 26 Ibd. 27 Ibd. [Hervorh.: H. S.]
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hinab“28 – ähnlich wie das Paris in der Vision seines eigenen Trümmerfeldes, seiner eignen zukünftigen historischen Ruine,29 in der die Gespenster der dann nicht mehr Lebenden erscheinen wie in der Nekyia des heimatlosen Odysseus – in dieser Verwandtschaft grandioses Bild von der Art jener mythischen, in denen die Figuren und Bilder urgeschichtlicher und geschichtlicher Natur nicht sowohl vermittelt, als ineinander geschoben erscheinen, im Sinn einer Theorie des Mythos als des Schemas zwischen kosmischer und geschichtlich-gesellschaftlicher Natur, nächtigem Ursein und gelichtetem Vernunftsein. – Jenes „Schattenspiel“, zu dem unter der Verfinsterung das Weltleben sich entweste, stellte dem entsetzten Blick sich dar, „als sähe man es in einem schwarzen Spiegel“30, und Stifters Text, der es verzeichnet, erscheint – darin litérature oder écriture noire – als die Spiegelschrift jenes Textes, in dem Naturgeschichte selber die steinernen, schrundigen, skeletthaft entfleischten, entblößten Züge eines monde maudit schrieb und festhielt, die in richtiger Lektüre sich aufs Genaueste als die erweisen, die das Erlösungsbedürftige, den Notschrei nach der Errettung dieses monde maudit spiegelverkehrt artikulieren und ausdrücken; und die dieses gleichwie in gleichzeitig-ungleichzeitiger Gemäßheit mit dem späteren berühmten Texte tun, der den Beschluss des Adorno’schen Aphorismenwerkes bildet,31 das – genau besehen – den ebenfalls naturbildlichen Titel „Reflexionen [scil. Spiegelungen] aus dem [scil. in seiner inneren und äußeren Natur] beschädigten Leben“ trägt. Es sind die „Minima Moralia“ überschriebenen Reflexionen: Zeugnisse einer „traurigen Wissenschaft“32 , nämlich der von magna, gar maxima denaturata, die zu keiner „fröhlichen“ Anlass mehr geben – auch dem verstörten, angeblich naturfrommen Stifter nicht, der bei dem „traurigen Anblick“ der Eklipse, die doch gerade auch die berechenbare naturgesetzliche, mathematisch-astrophysikalische Seite des Naturphäno28
Stifter, l. c., S. 507. Siehe Walter Benjamin: Das Passagen-Werk (Aufzeichnungen:) Antikisches Paris, Katakomben, démolitions, Untergang von Paris, in: ders., Gesammelte Schriften, l. c., Bd. V, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1982, S. 133–155; siehe etwa S. 151: „Le vieux Paris n’est plus. La forme d’une ville / Change plus vite, hélas! que le coeur d’un mortel.“ (Baudelaire). 30 Stifter, l. c., S. 507. 31 Siehe Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1951, S. 480 f. („Zum Ende“). 32 L. c., S. 7. 29
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mens zeigt – „deckend stand nun Scheibe auf Scheibe“ –, das ‚wahrhaft Herzzermalmende‘33 dieses Augenblicks nicht zu ignorieren, geschweige durch die einleuchtend wissenschaftliche Erklärung zu beruhigen vermag. „[D]as allmähliche Erblassen und Hinschwinden der Natur“34 – gerade auch in der astronomischen Abstraktion35 –, das die, die an dem Naturereignis gleichsam beobachtend-experimentierend teilnahmen, selber „gedrückt und verödet“ werden lässt und das „unsere eigenen Gestalten“ zu „schwarzen, hohlen Gespenstern, die keine Tiefe haben“, also nicht mehr die Plastizität des Lebendigen, zu Schemen entwest und in einen „furchtbaren“, kalten Raum der kosmischen Ewigkeit verbannt, in dem die ganze „Ohnmacht eines riesenhaften Körpers: unserer Erde“36 offenbar wurde und sogar ‚die Tiere sich entsetzten‘37 , und in dem die göttlichen Naturgesetze aufgehoben, wie ‚gelüftet‘ schienen von dem „glänzende[n] Kleid“ der Gottheit, ‚das sie sonst bedeckt‘; – so dass in dieser „plötzliche[n] Änderung“ der Welt durch die Eklipse „gleichsam eine Störung“ dieser Gesetze „geschieht, wo wir“ die Gottheit „dann plötzlich [...] mit Erschrecken“ – in ihrem eigenen Abgrund – „dastehen sehen“38 . Es ist, als sollten wir Deus sive Natura selber in ihrer Verfinsterung, Finsternis kennenlernen – so wie sie sind hinter dem Schleier der majestätischen oder auch „sanften“ Gesetze, wie Stifter an andern Stellen sie nannte (im Stande also ihres dévoilement), ähnlich auch wie Luria, wie Böhme und Schelling geltend machten: die Gottheit kennenlernen als Zimzum des En-soph, die Gottheit in ihrem eigenen Exil – ihrer Selbstverneinung, durch die sie der Schöpfung, der Natur ihren Platz einräumte –, in der Nacht, im Ungrund ihrer äußersten Selbstkontraktion und Verschlossenheit,39 und – analog – den Geist in seinem eigenen Ungeist – 33
Stifter, l. c., S. 507. L. c., S. 508. 35 Der „Abstraktion“, von der Benjamin – höchst bildkräftig – als von einer „Eiswüste“ sprach; cit. Adorno, Negative Dialektik, l. c., S. 6. 36 Stifter, l. c., S. 508. 37 L. c., S. 509. 38 L. c., S. 511. 39 Zu „Zimzum“ und „En-soph“ siehe Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt am Main 1980, S. 285–288, S. 234–238; siehe auch „der verborgene Gott“, S. 12–14 und S. 353 ff. 34
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dem „Urbösen“ –, das Licht in seiner eignen Obskurität, als die es sich in allem falschen Schein, in Phantasmagorie, dem Feuer der Blendwerke und im Glutbrand der tropischen Wüstensonne40 kundgibt; die Vernunft aufgefasst in ihrer Widervernunft, ihrer Negativität und „Dialektik“, die gleicherweise eine der Natur und der Geschichte, des Geistes ist. So sprach Schelling – im Sinne der Bildlichkeit dieses Geistes und der Natur – ingeniös von den klassischen hellenischen Mythen als von der „Geschichte des menschlichen Geistes“ und der „Geschichte der Natur“, die eine schematisiert in der Odyssee, die andere in der Ilias. Die „Geschichte des menschlichen Geistes“ hat Adorno an dieser Odyssee, in der sie allegorisch entfaltet ist, als die geschichtliche Bildung des Selbst, der Selbst-Gewinnung des Subjekts im Konflikt mit den verführerischen und zwingenden Gewalten der Natur, der Selbsterhaltung gegenüber diesen Gewalten – die auch im Innern des Subjekts am Werke sind – und schließlich auch des immer wieder eintretenden Selbst-Verlustes in diesem Kampf, des wieder sich Verlierens an Chaos und den Sog der Naturmacht, studiert und interpretiert,41 mit dem Ergebnis der Diagnose des Terminierens dieses Selbstbehauptungs-Prozesses in einer Epoche der „verwilderten Selbstbehauptung“42 – jener „Selbstbehauptung ohne Selbst“43 , in der das Subjekt die Substantialität, das Substantielle die Subjektivität verlor, die ihnen ausgetrieben und durch universelle Fungibilität und Disponibilität ersetzt wurden, so dass es gar nichts anderes mehr zu behaupten gab als die nackte, an die absolute Funktionale der Daseinsmaschinerie angepasste und von ihr gemodelte Überlebens-Existenz.
40
Siehe Horkheimer u. Adorno, Dialektik der Aufklärung, l. c., S. 259 („Für Voltaire“). Siehe l. c., S. 58–99: „Exkurs I: Odysseus oder Mythos und Aufklärung“; cf. die „Frühe Fassung“ des Exkurses in: Frankfurter Adorno Blätter V, München 1997, S. 37–88. 42 Adorno, Negative Dialektik, l. c., S. 283. 43 Theodor W. Adorno: „Theorie der Halbbildung“, in: ders., Gesammelte Schriften, l. c., Bd. 8, Frankfurt am Main 1972, S. 115. 41
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III Engadinlandschaft. – Zur „Ausdruckslosigkeit“ der Murmeltiere „paßt die der Landschaft. Sie atmet keine mittlere Humanität aus. Das verleiht ihr das Pathos der Distanz [...]. Zugleich ähneln die Moränen [...] Industriehalden, Schutthaufen des Bergbaus. Beides, die Narben der Zivilisation und das Unberührte jenseits der Baumgrenze, steht konträr zur Vorstellung von Natur als einem tröstlich, wärmend dem Menschen Zubestimmten; es verrät schon, wie es im Kosmos aussieht. Die gängige imago von Natur ist begrenzt, bürgerlich eng [...]. Wo die Herrschaft über Natur die beseelte und trugvolle imago zerstört, scheint sie der transzendenten Trauer des Raumes sich zu nähern.“ Adorno
Horkheimer hat diese Naturgeschichte der Selbstbehauptung in einem anderen, nicht mythisch, sondern anthropologisch-zoologisch geprägten Naturbild dargetan, in einem Kapitel der Dialektik der Aufklärung – es ist das Schlussstück des letzten Teiles des Werkes, der bedeutende Entwürfe zu einer ‚dialektischen Anthropologie‘44 zusammenstellt, und steht unter dem Titel „Genese der Dummheit“45 . Diese erweist sich als nichts anderes als die Kehrseite der Entwicklung der Intelligenz: der Vernunft und das heißt des Lichtes des Lebens und des Geistes. Emblem, Leitsymbol ist die Schnecke, das an ihr demonstrierte Naturbild das des stets wieder gehemmten, ja retroversen Ganges des geistigen Fortschreitens aus der Natur in die Kultur – deren Tendenz zum Rückschritt in urgeschichtliche Barbarei: jene, in der Naturgrauen, der Schrecken der Naturgewalten ein angstvoll-listiges Abwehrverhalten des Urmenschen erzwang, wie es etwa das reaktive Verhalten der personificatio der rerum naturalium, der deificatio der virum naturae in der Etablierung 44 45
Dialektik der Aufklärung, l. c., S. 12. Siehe l. c., S. 308–310.
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der numina divina illustriert. Deren Gunst – als die von mächtigen angeblichen Personen – hofft das archaische Subjekt durch Kommunikation, durch Gebet und Opfer zu gewinnen, durch das prärationale Gebaren naturwüchsigen – „blutigen“ – Tauschhandelns, in dem der unblutige – „logische“ – Äquivalententausch präfiguriert ist. Das Subjekt entwickelt, im Commerzium, in der animistisch präparierten Kommunikation mit Natur: cognitiv, magisch-praktisch, religiös-kultisch das charakteristisch instrumentelle manipulative Verhalten der Naturbeherrschung – also der Herrschaft über das, was das Subjekt beherrscht und nicht länger beherrschen soll – nach Maßgabe seiner eigenen prekären, von der Überlebensnotwendigkeit diktierten, ‚naturgegebenen‘ Nutzungs- und Gebrauchszwecke. Dabei lässt die Entwicklung dieses Verhaltens von Anbeginn an zugleich die andere Seite der Stellung des Subjekts zur Natur hervortreten: die des sympathetischen, dem Seienden vertrauend zugewandten, ja Dankbarkeit gegen es und die Natur zeigenden Kontaktes mit ihr, wie sie – namentlich in den mimetischen Impulsen und identifikatorischen Akten – die innersten Intentionen und Strebungen des Natürlichen selber: die nach unbeschnittenem Selbstsein, nach Schonung und Pflege, ja nach Liebe und Hingabe: also besänftigender, pazifizierender Durchdringung mit dem scheinbar und wirklich Entgegenstehenden, der „bösen Natur“ – nach Ausgleich des physisch-metaphysischen Urzwists und kosmischen Grundwiderstreites im urtypisch mit der Menschwerdung ersehnten paradiesischen Frieden offenbart; nach dem Zustand der Eintracht unter Menschen und Kreatur, wie ihn die großen Propheten beschworen; der Eintracht kraft der innersten Identität all des vielfältigen Lebendigen in der Idee der Kreatürlichkeit selber – der des Erschaffenseins um des unverletzten Seins und Darlebens der Erschaffenen willen. Manipulative Magie und listig-durchtriebene Opferhaltung gegenüber der Natur in der Gestalt göttlicher Mächte einerseits, Hingabe und Dank, Erleuchtung und Liebe andererseits, wie sie beide aus dem Urschrecken, dem mysterium tremendum, dem „Mana“ des ungeschiedenen Daseins erwachsen, sind zwei Seiten des Verhaltens zur Natur, zwei Arten der naturwüchsigen Intelligenz, die zugleich deren Verhinderung, sind Potentiale, Versprechen der Vernunft, die immer auch ihre Nichtverwirklichung, ihre Nichterfüllung bedeuten und ausdrücken können oder – neben der Blockierung oder der Verhinderung der Entwicklung des Angelegten –
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ihre in der Aktualisierung perverse Transformation: die der Hingabe, der Mimesis etwa in Abstoßung und Verhärtung durch Zucht und Berührungsverbot; durch die Neuformung der natürlichen Antriebe zur Selbsterhaltung und naturwürdigen Selbstbehauptung in die Impulse der List und Täuschung, des hinterhältigen und des offenen Kalküls bis zu ihrer spätzeitlichen Ausformung zur optimalen Tausch- und Rechenintelligenz, die dem Subjekt den Profit, den Mehrwert, Übermacht um jeden Preis über alles Beherrschte und Ausgebeutete und noch die Überwältigung der im Wettbewerb um den Mehrwert mit ihm konkurrierenden Subjekte auf Dauer sichern soll. „Das Wahrzeichen“ dieser im Ursprung ambivalenten „Intelligenz“, schreibt Horkheimer, „ist das Fühlhorn der Schnecke“ – des Wesens „‚mit dem tastenden Gesicht‘“, mit dem es vermutlich „auch riecht“46 , wittert. „Das Fühlhorn wird vor dem Hindernis sogleich in die schützende Hut des Körpers zurückgezogen, es wird mit dem Ganzen wieder eins und wagt als Selbstständiges erst zaghaft wieder sich hervor. Wenn die Gefahr noch da ist, verschwindet es aufs neue, und der Abstand bis zur Wiederholung vergrößert sich.“47 Man denke bei dem „tastenden Gesicht“ nicht nur an den Taststrahl oder Tastarm, mit dem das Wesen an die Dinge rührt, sondern vor allem auch an den Sehstrahl, der gewissermaßen ‚anstrahlt‘ – das erst ‚anstrahlen‘ muss –, was er sieht, erkennt. Auch die Lichtphysik beruht auf objektiven, sinnlich-materiellen Korrelationen: gesehen werden kann nur das ‚Sehbare‘, Sichtbare, und sichtbar wird etwas nur, wenn es beleuchtet wird. Visio und visibile sind naturaliter aufeinander bezogen. – Und dies gilt auch geistig; was ich erkennen will, muss ich auf irgendeine Art seiner Erkennbarkeit, Wissbarkeit beziehen können: das heißt hier, mein geistiger Leuchtstrahl, der etwas erleuchtet, muss selbst auch ‚erleuchtet‘ sein: ich kann erkennen nur, wenn ich auf bestimmte Art schon weiß ; schon weiß in der Memoria, dem inneren Wissen, was ich dann auch draußen erkenne, und was ohne das Auffassen des Externen – ein seinerseits hochsubtiles Respondieren auf sein MichAnsprechen (oder, wie bei der Visibilität, Mich-Anblicken) – und seine Bewahrung in der Memoria nicht wäre. An solchen Interrelationen geht 46 47
L. c., S. 308. Ibid.
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auf, was wir geistige und physische Ähnlichkeit, sinnliche und imaginative Mimesis und ‚cognitive Projektion‘ nennen. Mimesis und Projektion sind bei der ‚Konstruktion der Objektivität‘ konstitutiv – und durchaus auch konstitutiv verfälschend – beteiligt.48 In diesem Sinne fungiert optische Sensibilität verbunden mit der taktilen, der ‚spürenden‘ Sensibilität, die das Wirkliche sowohl mimetisch erspüren wie noetisch imaginieren und konstituieren, in der diffizilen Komplexion erfahrenden Erkennens. Horkheimer fährt in seiner Schilderung der „Genese der Dummheit“ fort: „Das geistige Leben ist in den Anfängen unendlich zart. Der Sinn der Schnecke ist auf den Muskel angewiesen, und Muskeln werden schlaff mit der Beeinträchtigung ihres Spiels. Den Körper lähmt die physische Verletzung, den Geist der Schrecken. Beides ist im Ursprung gar nicht zu trennen.“49 Die Mächte und Kräfte, die rings um das werdende, seine Identität und Orientierung suchende Wesen walten und wirken, traumatisieren es physisch und geistig. Was physisch eine Verwundung, ist geistig der lähmende Schrecken, den die Naturgewalten – auch und gerade in ihrer gesellschaftlichen, kollektiven Form – einjagen. „Die entfalteteren“ – geselligeren – „Tiere verdanken sich selbst der größeren Freiheit, ihr Dasein bezeugt, daß einstmals Fühler nach neuen Richtungen ausgestreckt waren und nicht zurückgeschlagen wurden. Jede ihrer Arten ist das Denkmal ungezählter anderer, deren Versuch zu werden schon im Beginn vereitelt wurde; die dem Schrecken schon erlagen, als nur ein Fühler sich in der Richtung ihres Werdens regte. Die Unterdrückung der Möglichkeiten durch unmittelbaren Widerstand der umgebenden Natur ist nach innen fortgesetzt, durch die Verkümmerung der Organe durch den Schrecken. In jedem Blick der Neugier eines Tieres dämmert eine neue Gestalt des Lebendigen, die aus der geprägten Art, der das individuelle Wesen angehört, hervorgehen könnte. Nicht bloß die Prägung hält es in der Hut des alten Seins zurück, die Gewalt, die jenem Blick begegnet, ist die jahrmillionenalte, die es seit je auf seine Stufe bannte und in stets erneutem Widerstand die ersten Schritte, sie zu überschreiten, hemmt. Solcher erste tastende Blick ist immer leicht zu brechen, hinter ihm steht der gute Wille, die fragile Hoffnung, aber keine konstante [nachhaltige] Energie. Das 48 Siehe dazu die These V der „Elemente des Antisemitismus“, Dialektik der Aufklärung, l. c., S. 212–220. 49 L. c., S. 308.
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Tier wird in der Richtung, aus der es endgültig verscheucht ist, scheu und dumm. [...] Dummheit ist ein Wundmal [...]. Jede partielle Dummheit eines Menschen bezeichnet eine Stelle, wo das Spiel der Muskeln beim Erwachen gehemmt anstatt gefördert wurde. Mit der Hemmung setzte ursprünglich die vergebliche Wiederholung der unorganisierten und täppischen Versuche ein. Die endlosen Fragen des Kindes sind“50 – wie noch die nach Arnauld hyperbolisch übertriebenen, übertreibenden des Metaphysikers (metaphysischen Physikers) Descartes51 – „je schon Zeichen eines geheimen Schmerzes, einer ersten Frage, auf die es keine Antwort fand und die es nicht in rechter Form zu stellen weiß. Die Wiederholung gleicht halb dem spielerischen Willen, [...] halb gehorcht sie hoffnungslosem Zwang [...]. Sind die Wiederholungen beim Kind erlahmt, oder war die Hemmung zu brutal, so kann die Aufmerksamkeit nach einer anderen Richtung gehen, das Kind ist an Erfahrung reicher, wie es heißt, doch leicht bleibt an der Stelle, an der die Lust getroffen wurde, eine unmerkliche Narbe zurück, eine kleine Verhärtung, an der die Oberfläche stumpf ist. Solche Narben bilden Deformationen. Sie können Charaktere machen, hart und tüchtig, sie können dumm machen – im Sinn [...] der Blindheit und Ohnmacht, wenn sie bloß stagnieren, im Sinn der Bosheit, des Trotzes und Fanatismus, wenn sie nach innen den Krebs erzeugen. Der gute Wille wird zum bösen durch erlittene Gewalt. [...] Wie die Arten der Tierreiche, so bezeichnen die geistigen Stufen innerhalb der Menschengattung, ja die blinden Stellen in demselben Individuum Stationen, auf denen die Hoffnung zum Stillstand kam, und die in ihrer Versteinerung bezeugen, daß alles Lebendige unter einem Bann steht.“52 Das Leben unterm Bann, den ihr gesellschaftliches Schicksal über die Menschen und ihr Naturverhältnis verhängte, zeichnet Horkheimer im gleichsam menschenleeren Bilde einer gigantischen Maschine – einer wie von gnostisch-kosmologischer Phantastik ausgeheckten dämonischsatanischen Machination –, der „ausgetüftelte[n] Maschinerie moderner Industriegesellschaft“: aberwitzige Zurichtung und Vorrichtung einer „Na50
Dialektik der Aufklärung, l. c., S. 308 ff. [Hervorhebung: H. S.]. Siehe die „Vierten Einwände“ gegen Descartes’Meditationen über die Grundlagen der Philosophie; übers. und hrsg. von Artur Buchenau, Hamburg 1994, S. 165. 52 Dialektik der Aufklärung, l. c., S. 309 f. 51
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tur, die sich zerfleischt“ 53 , ersonnen, konstruiert und gesteuert, aber nicht von einem mythisch-gnostischen Satan, sondern von der entwickelten instrumentellen Intelligenz des Menschen, des „alter deus“ und UnweltSchöpfers, wie er sich in der Neuzeit, und, in höchster Potenz, in der imperialistischen und globalistischen Moderne offenbart – von der „subjektiven Vernunft“, die, als höchste geistige Instanz, in der Höchstleistung jenes sensibelsten Gesamtorgans: des Hirns, gleichsam vergottet ist, nach dem eine ganze weltgeschichtliche Epoche heißen kann: die der Dominanz des homo sapiens et faber über die übrigen Lebewesen. „Das Gehirnorgan“ – sensorium centrale et commune – ist in der Tat „handfest genug, um eine reguläre Epoche der Erdgeschichte zu bilden. Die Menschengattung einschließlich ihrer Maschinen, Chemikalien, Organisationskräfte – und warum sollte man diese nicht zu ihr zählen wie die Zähne zum Bären“ oder zum Haifisch, „da sie doch dem gleichen Zweck dienen“, dem der Selbstbehauptung und Durchsetzung gegenüber den eigenen wie den anderen Artgenossen, „und nur besser funktionieren“54 . Die Menschgattung „ist in dieser Epoche le dernier cri der Anpassung. Die Menschen haben ihre unmittelbaren Vorgänger nicht nur überholt, sondern schon so gründlich ausgerottet wie wohl kaum je eine modernere species die andere“55 . Ist aber diese „Menschengattung“ vielleicht ein „Seitensprung der Naturgeschichte, eine Neben- und Fehlbildung durch Hypertrophie des Gehirnorgans“56? Ist sie Evolutionsprodukt, in dem Natur und ihre ganze bisherige Evolution sich gegen sich selber wendet und zumindest auf diesem Globus und mit ihm zusammen sich selbst liquidiert und zerstört? Stellte sich der in Gang gekommene Welt-Betrieb, der gefeierte „Globalismus“ dann als nichts anderes als das riesige ideologische Deckbild jener Selbstzerstörung heraus? „Es gibt kein Medium mehr“, schrieb Horkheimer, „das diesen Widerspruch zum Ausdruck brächte. Er vollzieht sich mit dem sturen Ernst der Welt, aus der die Kunst, der Gedanke, die Negativität entschwunden ist. Die Menschen sind einander und der Natur so radikal entfremdet, daß sie nur noch wissen, wozu sie sich brauchen und was sie sich an53
Dialektik der Aufklärung, l. c., S. 304 [Hervorhebung: H. S.]. L. c., S. 264 [Hervorhebung: H. S.]. 55 Ibd. 56 Ibd. 54
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tun. Jeder ist ein Faktor, das Subjekt oder Objekt irgendeiner Praxis, etwas mit dem man rechnet oder nicht mehr rechnen muß. In dieser vom Schein befreiten Welt“ sind „die Menschen nach Verlust der Reflexion wieder zu den klügsten Tieren“ geworden, „die den Rest des Universums unterjochen, wenn sie nicht gerade sich selbst zerreißen“57 . – Die ‚vom Schein befreite Welt‘ ist die, aus der die Kunst, der philosophische Gedanke, die Religion, die kritische Negation verschwand, die diesen Schein als das Erscheinen ihres Wesens hervorbrachten, und der ‚Bann‘, unter dem sie steht, ist genau das, was an die Stelle der Reflexion, der Kritik, des apokalyptisch-offenbarenden künstlerischen und mystisch-religiösen Ausdrucks trat. ‚Bann‘, Suggestion und Hypnose des Bestehenden, die faktizistisch-pragmatistische Ideologie und Kulturindustrie haben diese Stelle transzendierender Reflexion usurpiert – angeblich in ‚Befreiung‘ der in Obskurität Befangenen durch radikale Aufklärung – durch die, die mit dem Denken im Sinn der objektiven Vernunft aufräumt, und doch nicht radikal genug ist, sich über sich selbst aufzuklären. Als noch die geistige und künstlerische Avantgarde der Moderne – die verfemte und gehasste ‚Neue Kunst‘ und negative, ‚nihilistische‘ Literatur und Philosophie – etwas von dieser Stelle besetzt gehalten hatte, ehe sie vom Kulturbetrieb eingemeindet und neutralisiert: also in ihrer eigentlichen – negativ ästhetischen – Substantialität vollends verdrängt war, ermöglichte sie es dem Subjekt, die kalte unbarmherzige Wirklichkeit, „die gesellschaftliche Funktion“, die die Subjekte zurichtete und definierte, „zu transzendieren“ und aus jener reflexiven „Distanz“ zu betrachten, in welcher „sich die Elemente der Wirklichkeit in Bilder“ umsetzen.58 Es sind die Bilder, Symbole und Ideen der nämlichen charakterisierenden, die Wirklichkeit denunzierenden Kraft und Art, die sie mit denen kritischer Philosophie und Theorie teilt und „die den Systemen konventioneller Begriffe fremd gegenüberstehen“59 . Als „vom Zusammenhang der materiellen Praxis abgelösten Objektivationen des Geistes wohnen“ ihnen beiden: den künstlerischen wie den spekulativen, „Prinzipien inne, welche die Welt, in der sie entstanden sind, als entfremdet und falsch 57
L. c., S. 304 [Hervorhebung: H. S.]. Max Horkheimer: „Neue Kunst und Massenkultur“, in: ders., Kritische Theorie, hrsg. von Alfred Schmidt, Bd. 2, Frankfurt am Main 1968, S. 315. [Hervorh.: H. S.]. 59 Ibd. 58
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erscheinen lassen“60 . Im Hass und in der Trauer über diese Welt; im kühlen beobachtenden poetischen Moralismus; in der hingebenden Versenkung in die ephemeren natürlichen wie die denaturierten Zustände und Verhältnisse; in allen den Ausdrucksweisen, die – im höchsten moralischästhetischen Sinne – selbstlos und ‚interesselos‘ der Welt zum Selbstausdruck, zur Selbstdarstellung und differenzierten Selbstabbildung allererst verhelfen, „wecken“ diese Ausdrücke und Bilder „die Erinnerung an eine Freiheit“ und eine Sehnsucht nach ihr, „vor der die herrschenden Maßstäbe“ – und gerade auch die der ‚radikal‘ aufklärerisch mit allem ‚aufräumenden‘ Befreiung – „borniert und barbarisch wirken“61 . Doch eben dadurch geraten die bornierten Verhältnisse in eine Perspektive, in der die Vision – und der Begriff – einer neuen Welt, einer neuen Gesellschaft sich bilden und zwingend und unabweisbar werden. Dies „‚vermöge der Imagination‘“, so drückt Horkheimer in den Worten Jean Marie Guyaus es aus, die eben die Gesellschaft provoziert, „‚in welcher wir wirklich leben‘“62. Diese Imagination drückt zugleich den Widerstand aus, den die bestehende Gesellschaft und ihr zerstörerisches Naturverhältnis einer möglichen besseren – einer ‚humanisierten Natur und naturalisierten Menschheit‘ – entgegensetzt, und eben den kritischen, der das Einverständnis mit jener Gesellschaft aufgekündigt hat, die ihrer Veränderung sich verweigert und sie stets noch nachhaltig blockiert.
60
Ibd. Ibd.; siehe auch: „Die Revolte der Natur“ (scil. jene urtypisch faschistische, die unter der Maske der Befreiung und Befriedung der Natur im Kampf ums Dasein diesen Kampf ums Dasein affirmiert und nur noch blutiger zu führen sich anschickte), in: Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, l.c., S. 93–123. 62 Cit. Horkheimer, Neue Kunst und Massenkultur, l. c., S. 314. 61
Dialektischer Bildbegriff und ‚dialektisches Bild‘ in der Kritischen Theorie
I Das Problem des anschauenden Denkens, denkender Anschauung Mit einer Themenstellung ist – genau besehen – eine Problemstellung vorgenommen. Ein Problem ist eine Art Rätselfrage, die sich aufdrängt; die dem gestellt wird, der über etwas staunt, verwundert ist, und der in der Auflösung der Frage den Übergang vom Staunen zum Erkennen erfährt – kurz: der philosophiert. Denn am Anfang der Philosophie steht das Staunen.1 Das Problem, das sich stellt mit der Themenstellung dieses Beitrags – ‚dialektischer Bildbegriff und dialektisches Bild in der Kritischen Theorie‘ – ist kein geringeres als das philosophische des Verhältnisses von Begriff und Bild; von cognitio intellectiva und cognitio sensitiva und deren Dialektik – nämlich der Korrelativität und der Komplementarität beider in der Einheit oder der Ähnlichkeit dieser beiden Unterschiedenen, ja Gegensätzlichen. Über dieses dialektische Verhältnis erhalten wir nicht in allen jüngeren philosophischen Theorien befriedigende Auskunft. Doch nicht deswegen gilt manchen die Kritische Theorie als obsolet – als et1
Siehe etwa Platon: „Gar sehr ist das der Zustand eines Freundes der Weisheit, die Verwunderung; ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen, und wer gesagt hat, Iris sei die Tochter des Thaumas, scheint die Abstammung nicht übel getroffen zu haben.“ (Sämtliche Werke, Heidelberg o. J., Bd. 2, S. 582; Theaitetos 155c–156b, übers. von Friedrich Schleiermacher).
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_15
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was aus dem „vergangenen Jahrhundert“, das mit diesem verging, und höchstens noch von historischem Interesse ist. Zeigen lässt sich demgegenüber, dass Kritische Theorie mitnichten obsolet ist; und dass philosophische Probleme (wie gerade das dialektischer, historischer Bildlichkeit und Begrifflichkeit) als womöglich noch weitaus akuter inmitten unserer angeblich posthistorischen, „postdialektischen“ Ära sich darstellen, als der Zeitgeist wahrhaben will. Nicht nur bleibt stets noch zu lernen von dialektischer Erörterungsart und von dem dialektischen Gebrauch von Begriff und Bild, wie die maßgeblichen Autoren Kritischer Theorie2 ihn übten und applizierten im Sinn und im Horizont der Vergegenwärtigung bestimmter philosophischer Problemlagen; darüberhinaus sind deren weitere Abklärung in der Aufnahme und Fortsetzung kritischer interdisziplinärer Diskurse von ihr zu erwarten. So, wie Staunen konstitutiv für Philosphieren, und Philosophieren für Erkennen ist, so ist für das Erfassen und Begreifen von Sachen und Sachverhalten konstitutiv das Anschauen und das Denken (Urteilen in Begriffen), in dem und durch das Philosophieren, the¯oreín sich vollziehen: also in jenen zwei Weisen des Begreifens, Auffassens des Wirklichen, des Objektiven durch das Subjekt, die tief in diesem Subjekt verankert sind und wurzeln: in seinem Anschauungsvermögen und seinem Denkvermögen, der vis imaginationis (der sinnlichen wie der geistigen) und der vis iudicandi (Beurteilungskraft). Kant nannte sie die beiden heterogenen Stämme des menschlichen Bewusstseins, die trotz ihrer (und in ihrer) Heterogenität im menschlichen Wesen vereinigt und wirksam sind.3 Zwar sucht die eine Kraft die andere stets wieder zu bewältigen oder einzuschränken; Sensualität über Intellektivität (und umgekehrt) zu dominieren. Doch stets wieder muss das integrale Denken (Anschauung und Begreifen vereinigende Denken) daran mahnen und es deutlich machen: 2 Hier ist vor allem an die Namen Max Horkheimer und Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno und Walter Benjamin gedacht. 3 Kant spricht von der Einbildungskraft (dem „tiefsten Konzept der transzendentalen Erkenntnistheorie“: Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 6, Frankfurt am Main 1973, S. 229) als der möglichen „Wurzel“, aus der „das Ungleichartige“ – „Verstand und Sinnlichkeit“, welche sich „von selbst zur Bewirkung unserer Erkenntnis“ „verschwistern“, so, „als wenn eine von der andern, oder beide von einem gemeinschaftlichen Stamme ihren Ursprung hätten“ – „entsprossen sein könnte“. (Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VII, Berlin 1917, S. 177.)
Dialektischer Bildbegriff und ‚dialektisches Bild‘ in der Kritischen Theorie
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dass und wie beide voneinander abhängen, einander komplettieren; muss der sensuelle und der intellektive „Verstand“ sich von der spekulativen „Vernunft“ die dialektische Komplementarität beider zum Bewusstsein, auf den angemessenen Begriff ihrer selbst bringen lassen. Angesichts der semantischen Konfusion, die durch Überbeanspruchung der Bildlichkeit der Sprache, des lógos, der das Grundmedium der Philosophie ist, und durch Überakzentuierung der Logizität, der klassifikatorischen Begrifflichkeit der Sprache (und – dies ist hervorzuheben – der Sprachen); damit aber auch der Beeinträchtigung, ja Zerstörung der logischen und der imaginativen Kompetenz selber (die nicht zufällig einem dezidierten Dialektiker – Søren Kierkegaard) als grundstörend auffiel, zeigte sich – und zeigt sich weiter – das Vernunftpostulat dialektischen und kritischen (vorab sprachkritischen) Begreifens als dringend geboten, um nämlich den Umfang und die wirkliche Leistung von cognitiver Kompetenz und ihrer Beeinträchtigung und Wiederherstellung ermessen zu können: ermessen in Bestimmung und Kritik des Denkund Anschauungs- (Darstellungs-)Vermögens (der Kraft der Darstellung des Erkannten in Bild und Begriff). Sie nimmt ein anderer dialektischer Philosoph des 19. Jahrhunderts (der dialektische Denker par excellence: Hegel) vor – übrigens in der selber und in sich dialektischen Konstellation der Auseinandersetzung zwischen „existenziellem“ und „spekulativem“ dialektischen Denken. Dessen Bestimmung hat Hegel prägnant in Sätzen wie dem ausgesprochen: dass „Philosophie die denkende Betrachtung der Dinge“4 ist. Mit der existenz-dialektischen Kritik Kierkegaards an der angeblich so konfusen, begriffsverwirrenden Hegel’schen Spekulation5 ist immerhin die der Konfusion zugrundeliegende Konfundiertheit von Anschauen und Denken, die semiotische und die semantische Seite des Philosophierens und der Cognition ins Blickfeld gebracht, und dem näher zusehenden Blick geht die Dialektizität dieser Konfundiertheit auf. An ihr kann dann ermessen werden, wo und warum sie in die beklag4
Siehe Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: ders., Sämtliche Werke, hrsg. von Georg Lasson u. Johannes Hoffmeister, Band V, Hamburg 1949, S. 31 (Einl., § 2). 5 „Zu unserer Zeit [sind] Begriffsbestimmungen und dergleichen so verwirrt, daß es fast unmöglich ist, sich vor Konfusion zu schützen.“ (Søren Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, Erster Teil, in: ders., Gesammelte Werke, Band 6, übers. von Hermann Gottsched u. Christoph Schrempf, Jena 1925, S. 262, Anm.).
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te semantische Konfusion umschlägt – also in die Missgestalten und Unfiguren, in denen das interkonstitutive Verhältnis von Bildlichkeit und Begrifflichkeit signifikant gestört ist. Was ist für die Produkte der Begriffsverwirrer, wie sie Kierkegaard vor Augen hat oder zu haben überzeugt ist, charakteristisch? Ihre Art zu denken und zu begreifen werde durch die Redensart: ‚den Mund voll Mehl haben und gleichzeitig blasen wollen‘6 veranschaulicht. Beides zusammen gehe aber nicht, nur wo es prätendiert wird (nach Kierkegaard bei den spekulativen Begriffsverwirrern und semantischen Falschmünzern), zeige sich in der semantischen Unfigur so etwas wie die Substitution eines Quidproquo: einer dialektischen Scheinrede für eine Wahrrede, die sie sein soll, aber sein nicht könne; einer Unterschiebung des Virtuellen, Möglichen fürs wahrhaft Wirkliche, Reale – ein semantischer Missbrauch, der freilich weniger den Hegelianern des 19., als den Virtualisten, den Als-ob-Philosophen des 20. Jahrhunderts vorzuhalten ist. Bei ihnen findet sich Wahrsein durch Wahrscheinen ersetzt – doch so, dass allein das Wahrscheinliche als das Wahre gelte und das Wahre eben anders nicht zu haben wäre denn als das Wahre in seinem Wahrscheinen; das heißt aber: als das Zweideutige von ‚wahr‘ und ‚scheinhaft‘ in der Eindeutigkeit des Wahrscheinlichen.7 Das Bild, der Schein ersetze den Begriff (das logisch Wahre). Doch ist dies nicht sowohl zu verurteilen, als in seiner seltsamen (zweideutigen) Konfundiertheit zu beurteilen, nämlich in der kategorialen Strukturiertheit dieses als Konfusion erscheinenden Konfundiertseins, also in der Komplementarität von Bild und Begriff: der Feststellung einer ausschließenden Widersprüchlichkeit der Prädikate ‚wahr‘ und ‚scheinbar‘ (durch die hier – einerseits – die Konfusion der Begriffe ermessen wird): der Zweideutigkeit in der Figur der Eindeutigkeit eines Dritten, das die beiden vereinigt: eben dem Wahrscheinlichen (to eikós)8 , das – andererseits – die Konfusion als dialektische Konfundiertheit erweist. Diese Figur ist in ihrem Gefüge ähnlich der Unfigur eines Zugleichseins und -geltens von 6
Siehe ibd. „‚Zweideutigkeit‘“, heißt es in einem Brief Adornos an Benjamin, ist „ein Begriff, der selber der Theorie höchst bedürftig“ ist. (Adorno an Benjamin, 2. August 1935, in: Walter Benjamin: Briefe, Bd. 2 1929–1940, hrsg. von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, Frankfurt am Main 1966, S. 675.) 8 Des hómoion eínai te aletheia (Aristoteles: Rhetorik 1355a 14). 7
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Simile und Original (‚Echtem‘) in der Einheit eines ‚Ähnlichen‘ – also in einem dem Echten bloß Ähnlichen und nicht mit ihm Identischen; das Simile (etwa das Schmuckstück, das Gold vortäuscht), hat nicht den gleichen Wert wie das echt goldene. Dennoch ist es nicht wertlos (also von einer den Wert ausschließend negierenden Eigenschaft), sondern ein vergleichsweise Wertvolles und Wertloses, also von einer Wertigkeit eigener Art: einer limitierten, einerseits von Vollwertigkeit, andererseits von Minder- oder Unwertigkeit begrenzten, bestimmten Wertigkeit. Es ist bestimmt als Wertähnliches: eine dritte Eigenschaft, in der reine ausschließliche Wertigkeit einerseits und reine ausschließliche Wertlosigkeit, also Identität und Verschiedenheit der beiden identischen positiven und negativen Wertigkeiten selber in Einheit sind, einer Einheit, einem Dritten neben den beiden verschiedenen anderen: jenem tertium nämlich, das es gibt, und das die dialektische analogische Denkart geltend macht, während es die identitätslogische als ‚unmöglich‘ und nichtexistent leugnet in dem sogenannten logischen Grundprinzip des tertium non datur. Das Simile – das Ähnliche –, als die limitierte Bestimmtheit und Einheit des Echten (das es vortäuscht) und Unechten (das es ist), ist eine Art von Ersatz-Einheit für die reine Identitätseinheit. Es ist nur vergleichsweise echt, das heißt in der Proportionalität von ‚echt‘ und ‚unecht‘ so beschaffen, dass der Quotient aus ‚echt‘ und ‚unecht‘ größer ist als der aus ‚echt‘ und ‚echt‘ (im Identitätsfall) – größer nämlich in Relation auf den Nenner, kleiner bezüglich des Zählers des Quotienten, die im Identitätsfall, der ungebrochenen Ganzzahl gleich groß sind: in der abstrakten Identität von Zeichen (Zahlzeichen) und Namen (Bedeutungszeichen; Gepräge des Gegenstandswesens); dies ist die geläufige Gestalt-Figuralität der Identität (Begriffs- und Bild-Identität), die in der symmetrischen Proportionalität – 1:1, 1/1 – sich charakterisiert, während die Ähnlichkeits-Figur (Begriffs- und Bildanalogie) durch Disproportionalität, Gebrochenheit, an der Quotienten-Gestalt sich greift (sinnfällig wird das etwa an der Bestimmtheit alles Endlichen als eines Quotienten der Unendlichkeit; als eines Bruchstücks des Ewigen, wie der spekulative Schelling sie fasste9 ). 9
Zu den Ausdrücken der Verhältnisse des Endlichen und des Unendlichen in „Quotienten“ und „Potenzen“ siehe Schellings Ideen zu einer Philosophie der Natur, System des transzendentalen Idealismus, Aphorismen über die Naturphilosophie u. a., in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Werke, hrsg. von Manfred Schröter, 1978 f., Bände I bis III; etwa: „In den besonderen Dingen [...], welche
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Spekulatives Denken zeigt sich als Denken in und vermittels von Analogien, Ähnlichen als Einheiten des Identischen und Nichtidentischen; Denken, das die Identitäten (begriffliche wie bildliche) sei’s als defiziente, „abstrakte“ Identitäten, denen man die Dialektik nachrechnen und erst noch bewusst machen, oder die sie implicite enthalten, und die man nur explicit machen, in analogischen Begriffen und Bildern aufweisen und darstellen muss. In beiden Modi werden die Dinge intentione obliqua, als ‚gebrochene‘ erfasst, also das je Unmittelbare, reine Seiende auf vermittelte (‚unreine‘, wie der logische Purist sagt) Weise. Das Erkennen und Wissen der Dinge durch Begriffe und Bilder, in Begriffen und Bildern geschieht ‚vermittelt‘: vermittels eines Dritten, eines tertium medium (eines Schemas, eines speculum, interface etc.), das mit den beiden Heterogenen, mit einem jeden von beiden etwas gemeinsam haben muss (beim Spiegel die anscheinende Ebenbildlichkeit des Bildes und des Spiegelbildes), so dass es ohne dies jeweils Gemeinsame die Vermittlung nicht leisten könnte. Dies Mittlere erweist sich im Falle des Denkens überhaupt, und sensu eminentiori des spekulativen, der ‚Logik‘ (Erkenntnis der Dinge im Logos, Sprachmedium, ‚Sprachspiegel‘) als die Sprache, und zwar die Wortsprache; im Falle anderer Arten der Vermittlung, nämlich innerhalb der Bildsphäre, der Sphäre der Anschauung (sozusagen der Bildwelt, Welt der Sinne im Unterschied der logischen, der Begriffswelt, der Sphäre von Sinn und Bedeutung) erweist sich als dies Medium das der nicht-verbalen Sprachen (reine Ausdrucks-, Gesten-, ‚Bild‘-, Schriftsprachen im Sinne der Schrift als écriture: Engrammierung; als Figuration von den Ideen die bloßen Abbilder sind, erscheinen (die Einheit, wodurch diese in sich selbst und real sind, mit der, wodurch sie im Absoluten und ideal sind) nicht als Eines, sondern in der Natur als der bloß relativ-realen Seite ist die erste im Übergewicht, so daß sie im Gegensatz gegen die andere Seite, wo das Ideale hüllenlos, unverstellt in ein anderes hervortritt, als das Negative, die letztere dagegen als das Positive und das Princip von jener erscheint, da doch beide nur die relativen Erscheinungsweisen des absolut Idealen und in ihm schlechthin eins sind. Nach dieser Ansicht ist die Natur, nicht nur in ihrem Ansich, wo sie der ganze absolute Akt der Subjekt-Objektivierung selbst ist, sondern auch der Erscheinung nach, wo sie sich als relativ-reale oder objektive Seite desselben darstellt, dem Wesen nach eins, und keine innerliche Verschiedenheit in ihr, in allen Dingen Ein Leben, die gleiche Macht zu seyn, dieselbe Legierung durch die Ideen. Es ist keine reine Leiblichkeit in ihr, sondern überall Seele in Leib symbolisch umgewandelt, und für die Erscheinung nur ein Übergewicht des einen oder andern [...] die Theile, in welche (die Eine Wissenschaft der Natur) der Verstand zersplittert, sind nur Zweige einer absoluten (speculativen) Erkenntniss“ (Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums. Werke, Band III, S. 425 f. [11. Vorlesung]). Vgl. die Fassung des Verhältnisses von Unendlichem und Endlichem in den Begriffen „Fragment“ und „Ganzes“ bei Schlegel.
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von Zügen, lesbaren Chiffren, Kryptogrammen; der Geheimcode wäre in diesem Sinne etwas wie der ‚schwarze Spiegel‘). Zunächst und primär sind Denken (als betrachtendes) und die Betrachtung (als denkende) gleicherweise aufs Medium der Wortsprache angewiesen. Das heißt, am Wort als Medium denkender Betrachtung muss es ebenso ein begriffliches wie ein bildliches Potential geben, vermöge dessen denkende Betrachtung sich aktualisiert als Erkennen der Dinge – und zwar als angemessenes (‚zutreffendes‘) Erkennen und Beurteilen der Dinge, angemessen an und zutreffend auf die anschaulich körperliche und die sinnhaft noetische Beschaffentheit der Dinge selber. Hat das Wort aufweisbar dies einerseits bildliche, andererseits begriffliche Potential, vermittels dessen eine adäquate Erkenntnis der Dinge zu realisieren ist? Schon die spekulativen Grammatiker des Hochmittelalters10 haben diese anschaulich-logische Ambivalenz der Sprache einsichtig machen können: an ihrer Distinktion zwischen „Sprachgestalt“ und „Sprachgehalt“. Ihnen war deutlich, dass es eine begriffliche und eine ‚bildliche‘ Seite des Wortes (des Grundelementes der Sprache) gibt: seine Bedeutung und seine jeweilige kategorial ausgeformte Gestalt.11 Begriffe sind Bedeutungen (scil. die der begriffenen Sachen), Bilder dagegen (als bloße ‚begriffslose‘ Abbildungen etwa) erst noch zu deutende „Gesichter“, Anblicke der Sachen; ‚geben‘ Perspektiven der Sache (Lagen, in denen die Sache steht, ‚sichtbar‘ wird) und geben erst, nachdem sie als ihre Aspekte, ‚Abschattungen‘ (und ‚Beleuchtungen‘) bewusst gemacht – also reflektiert – sind, etwas für die Erkenntnis der Sachen in Bildern und durch Bilder her: sie lassen sie als Chiffren sozusagen dechiffrieren. Bedeutungen also zeigen sich zum einen als unmittelbar einleuchtende, intuitiv identifizierte Sinngefüge, ‚Sinngestalten‘, zum andern als durch successive Deutungsschritte, durch ‚Spurenlesen‘ gewonnene, in ihren Zügen zusammenschießende Bedeutungskomposite oder -komplexionen. Durch diese Ambivalenz des Erkannten als Bedeuteten und als Gedeuteten, als des Logisch-Begrifflichen 10
Siehe etwa die Grammatica Speculativa des Duns Scotus (recte: Thomas von Erfurt), die Heidegger in phänomenologischer Perspektive zum Ausgangspunkt wichtiger sprachphilosophischer Betrachtungen wählte; siehe Martin Heidegger: Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, Tübingen 1916; dazu siehe Verf., Studien über die Heidegger’sche Sprachtheorie, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 1, Berlin 2019, S. 47–72 (Sprachgehalt und Sprachgestalt: der verselbständigte Sinn). 11 Siehe dazu etwa l. c., S. 56–68.
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(Sinnhaften) und als des Physiognomischen (Anschauungs- und Schrifthaften) des Wortes wird das betrachtende Denken den betrachteten begriffenen Sachen selber gerecht: Das Wort erweist sich als Schematismus zwischen anschaulich-körperlicher und geistig-sinnhaft bestimmter Sache selbst. Beim Ausdrucks-Schrifthaften: dem Physiognomischen des Bedeutens ist namentlich auch an die syntagmatische Figur des Orakels (einer bestimmten Rätselart) zu denken, an dessen von dem dialektischen Urdenker Heraklit so überaus prägnant erfasste Struktur; Heraklit nämlich sagt, dass der Anax (der Herr des Orakels in Delphi) in den Orakeln weder etwas ausspricht, noch etwas verschweigt (oúte légei, oúte krýptai); weder etwas sehen lässt, noch etwas verbirgt, sondern dass er in ihnen und mit ihnen semaínei,12 das heißt: bedeutet, also deutend auf Bedeutendes verweist. Und das meint implicite: Den Sinn musst du, Orakelleser, selber treffen, richtig zu erfassen suchen; um der zu erlangenden Eindeutigkeit willen das Risiko der Mehrdeutigkeit eingehen. – Allgemein vertraut ist dieses Risiko bei Bilddeutungen: es kann so sehr anwachsen, dass sich als die eigentliche Bedeutungs- und Deute-Form beim „Bilderrätsel“-Lösen die orakelmäßige erweist, das heißt, dass das Bild selber das Orakel, das eindeutig Vieldeutige ist, das man bei der Bilddeutung sozusagen in Kauf nimmt. Polyvalenz des Bedeutens ist aber formallogisch in Aussagesätzen (propositiones) nicht zu tolerieren, weil nur eindeutige logische Bedeutungswerte eine Aussage – „risikolos“ – wahrheitsfähig und (im scientifischen Sinn) erkenntnisrelevant machen – wogegen, was logisch ein Manko (wie die Mehrdeutigkeit) ist, im analogischen, dialektischen Denken (das immer zugleich ein spekulativ-anschauliches ist) einen erwünschten Bedeutungswert darstellt.13 Dies wird sogleich deutlich, wenn man die logisch-rationale Redeweise vergleicht mit der poetisch-ästhetischen und der oratio, die (im Sinn substantiellen „ästhetischen Scheins“) nicht polyvalent, ‚schillernd‘, farbig nuanciert genug sein kann, und im bildlich bildhaften Potential der Begriffe jedenfalls ausreichend, um diesen 12
Heraklit: hó ánax, tó manteión esti tó en Delpho¯us, oúte légei oúte krýptai allá s¯emaínai. (Walter Kranz: Vorsokratische Denker. Auswahl aus dem Überlieferten, Berlin 1959, S. 78 [Heraklit, Fragment 93].) 13 Zur Differenz des logischen und des analogischen Denkens siehe die luzide Abhandlung von Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung, Paderborn 1997; S. 25–48 (2. Kap.: Logisches und analogisches Denken).
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Begriffen Affinität und ‚Angemessenheit‘ an die nuancierten Sach- und Sprachverhalte selber zu verleihen. Die ratio des Denkens fordert Eindeutigkeit (der Begriffe), die oratio, die ‚Bilderrede‘ braucht Mehrdeutigkeit, Metaphorik, „différances“ der Begriffe. Es zeigt sich demnach an diesen Sachverhalten der Ambivalenz, der Polyvalenz; an der Struktur des Konfundiertseins von Bild und Begriff eine tiefgewurzelte Analogie zwischen cognitio sensitiva und cognitio intellectiva selber, also deren Ähnlichkeit, und der logische Status dieser Ähnlichkeit als der einer gebrochenen, sogar mehrfach gebrochenen Art von Gleichheit: gebrochen nämlich in die Anteile des Gleichseins und die des Ungleichseins in dieser nichtidentischen Identität. Es ist die der „Verwandtschaft“, einer vergleichsweisen Identität – einer logischen Grundform, die Wittgenstein – der ‚reflektierteste unter den Positivisten‘14 – in der analytischen Philosophie geltend machte, damit dem (dieser selbst verborgenen) analogischen Charakter, ihrer ‚dialektischen Valenz‘ Rechnung tragend – jener suo modo wohlbegründeten Mehrdeutigkeit analogischer Charaktere, die im modernen Logik-Diskurs für die im weitesten Sinne ästhetische Denkart gilt: für eine um Seinsart und Beschaffenheit von „Nichtidentisch-Identischem“ bemühte, die Strukturen des Verwandtschaftlichen (wie es in Familien, Stämmen, pluralen Formationen aller Art, auch ‚Systemen‘ von Dingen sich darstellt) aufweisende, die klassifikatorisch-identifizierende Denkart korrigierende und differenzierende; die, welche ‚Verwandtschaft‘ als die charakteristische Bestimmtheit der Glieder, Elemente jener pluralen Formationen und ‚Systeme‘ dartut. Danach sind alle diese Elemente solcher ‚Familien‘ (Wittgenstein hatte sie u. a. an den einzelnen Sprachen exemplifiziert) gleich in ihrer Eigenschaft der Familienzugehörigkeit und ungleich, different (bis zur Inkommensurabilität) als die einzelnen Familienangehörigen, Stammesglieder oder ‚Systemelemente‘; different in ihrer bis zur Ausschließung gehenden absoluten Individualität, der Unteilbarkeit sensu stricto, nämlich jener ‚Unanteilnahme‘, ‚Unanteilhabe‘, wie sie den emphatisch Einzelnen, den „Einzigen“ etwa im Sinne Kierkegaards oder der Stirner’schen IndividualitätsIdeologie kennzeichnet (der – wie der Kierkegaard’sche – nicht mehr mit 14
Theodor W. Adorno, Hans Albert et al.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied/Berlin 1969, S. 9 (Einleitung).
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dem „Christentum“ in Kommensurabilität ist, sondern nur noch mit dessen Verfallsform der „Christenheit“). Die Kategorie der Ähnlichkeit – der zwischen Kompatibilität und Inkompatibilität des Ähnlichen; seiner Konformität mit Stamm und Familie und seiner Unvereinbarkeit mit ihm – lässt einen diagnostischen Blick nicht bloß auf die Medien des Begriffs und des Bildes, sondern auf die im Medium und durch es Vermittelten selber zu: auf das im Anschauen Angeschaute, im Begriff Begriffene, im betrachtenden Denken Erkannte selber – auf das also, was sie denn nun „an sich“, intentione recta sind (oder nicht sind ), oder was sie sein könnten; sie erlaubt einen Blick auf ihre Wirklichkeit, ihre Möglichkeit, auf ihr Nicht- und Defizientsein, ihre Gebrochenheit, die Negativität; damit aber einen Blick darauf, was Bilder, Begriffe als Erkenntnis- und als Darstellungsmittel von dem wirklichen Sein und Nicht-Sein erfassen und ausdrücken können (oder eben nicht können). In den Blick kommen Funktionsfähigkeit und -tüchtigkeit (oder -untüchtigkeit) von Bildern und Begriffen, von dialektischen Begriffen und Bildern selber (hier, dem Thema gemäß, am Beispiel derer der Kritischen Theorie).15
II Dialektisch-analogische Mischfiguren Wollen wir uns dessen versichern, was Vergegenwärtigen der Dinge in Begriffen und Bildern für die Relevanz (oder Irrelevanz) der Erkenntnis der Dinge bedeutet, können wir nun die Frage nach ihr: das Problem der cognitiven Kompetenz „intellektuellen Anschauens“ und „anschauenden Denkens“ in folgenden zwei Fragen ausdrücken: einmal, was heißt „ich mache mir ein Bild, eine Vorstellung von etwas?“ und zum andern: Was heißt „ich mache mir einen Begriff von etwas“? – in Zerlegung der eigentlichen Frage: „Was gewinne ich in beiden Fällen dabei“, scil. hinsichtlich der Erkenntnis; einer besseren, genaueren, einer ernstlich triftigen Erkenntnis der Sache, „von der ich ein Bild, einen Begriff erlangen will?“ Den Erkenntnisgewinn, der zu erwarten steht, hat Kant in der klassischen Formulierung bezeichnet, in der er postulierte: dass Anschauungen (scil. das Bild von der Sache) ‚sichtige‘, soll heißen nicht-„blinde“, nicht blind 15
Dazu siehe Gabriel, l. c., S. 43–46.
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bleibende sein, und Begriffe (von der Sache) konkrete, ‚volle‘, das heißt nicht „leere“ (inhaltslose) sein müssen,16 wenn anders sie triftige Erfahrung und Erkenntnis der Sache gewährleisten sollen. In beiden Fällen sind Vorzüge und Nachteile sowohl des anschauenden Erkennens (durch Bilder) wie auch des begreifenden Erkennens (durch Begriffe) aufgewiesen: wenn meine Anschauungen „blind“, meine Bilder, imagines ‚unsichtig‘, ‚untief‘ und meine Begriffe „leer“, inhalts- und ‚gedankenarm‘ sind, dann gewähren sie keine der Sache angemessene Erkenntnis – angemessen nämlich an den physisch-sensuellen und den noetisch-sinnhaften Charakter (die Bedeutung, den Seinsstatus) der Sache selber. In andern Worten: das Erkenntnismanko des Bildes ist seine bloße ‚bewusstlos-oberflächliche‘ Anschaulichkeit, die „Bildlosigkeit des Bildes“ (wie Adorno es formulierte17 ), jene Bildlichkeit, die vor lauter „Bildsein“ kein eigentliches Sehen, keine Sicht, keine Einsicht gewährt (also etwa gerade auch jene evidentia verwehrt, die sonst nur der ‚logischen – unmittelbaren – Anschaulichkeit‘ in der cognitio intuitiva zufällt, und die vergleichsweise den Modellcharakter für die eigentlich ‚spekulative intellektuelle Anschauung‘ haben könnte, den sie für den Spinozisten Schelling tatsächlich ja auch hatte). Dem Manko des Bildes also korrespondiert ein Plus, ja Surplus des Begriffs – und umgekehrt, so zeigt die Überlegung, korrespondiert dem Manko des Begriffs (ungeachtet zunächst des zum Keimen zu bringenden ‚Samens der Intuitivität‘ in seinem Innnersten) jenes Plus an Anschaulichkeit, an Bildlichkeit, wie sie zunächst nur das Bild in seiner Farbigkeit, seinen nuancierten Abschattungen, seiner reichen Perspektivik, seinen Reflexen und all seinen Rückspiegelungen zeigt und darweist (wenn man es nur genau und mit ästhetischem: ‚künstlerischem Verstand‘ anschaut); das Manko, Debet des Begriffs ist also das Plus, Credit des Bildes; das Plus des Bildes das Manko des Begriffs. Will ich demnach angemessene Erkenntnis der Sache, muss ich Debet und Credit des einen mit Credit 16
„Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen.“ „Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, neu hrsg. von Theodor Valentiner, Leipzig 1913, S. 107 [Die transcendentale Logik. Einleitung. I]). 17 Siehe Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1951, S. 262 f. und 265 f. (Aph. 92: „Bilderbuch ohne Bilder“ und Aph. 93: „Intention und Abbild“).
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und Debet des andern ausgleichen: ich muss mich der Komplementarität von Bild und Begriff versichern, um einen solchen Ausgleich zugunsten angemessener und ernstlich kompetenter Erkenntnis vornehmen zu können. (Man sieht sogleich: dieser Ausgleich ist kein einfach und rein quantitativer: keine abstrakte Tauschwertung, sondern ein qualifiziertquantitativer: ein dialektisch-analogisches Wechseln [Vertauschen eines quid pro quo], in dem die Qualifikation der Sache bewahrt bleibt und – ökonomisch geredet – im „gerechten Tausch“ auch bewahrt und erhärtet bleiben muss.) Betrachten wir das Gefüge dialektischer Komplementarität noch etwas genauer. In der von Bild und Begriff sind beide zugleich Verschiedene, Heterogene und einander Ergänzende. Ein Ganzes ist eines aus Teilen; etwas das ein anderes ergänzt, ist also gleicherweise ein Teil dieses Ganzen und ein Anti-Teil dieses Ganzen: etwas, das ihm (so wie der Gegenpol dem Pol) widersteht. Die Teilhaftigkeit der Teile dieses Ganzen ist also gekennzeichnet durch Gleichheit und Ungleichheit – in eins – und die Ganzheit des Ganzen durch Homogenität und Heterogenität. Es zeigt sich die charakteristische Figuration eines Ganzen, Einen, das konstituiert ist durch Verschiedenheit, Gegensätzlichkeit seiner Teile (und, vermöge dieser, seiner Ganzheit selbst). Kant hat sie paradigmatisch gezeichnet in seinen „kosmologischen Antinomien der reinen Vernunft“18 . – Das Gefüge, die Zusammensetzung dieser Figur (die Synthesis, das Syntagma) als einer sensu stricto problematischen, scil. einer Rätselfigur der Vernunft, erweist sich dem näheren Zusehen zugleich als ihre Auflösung (lýsis, Dekomposition) in die heterogenen Teile oder Bedeutungs- und semiotischen Elemente, deren Beschaffenheit, Qualität (Positivität, Negativität) die typische Gestaltetheit: die morphé der Figur erklärt, das heißt: erkennen und sehen lässt; sie lässt sie erkennen (rational-begrifflich) als Contradictio (Spruch und Widerspruch; Thesis-Antithesis), und sie lässt sie sehen (anschaulich-figural, etwa in der rhetorischen Figur) als Paradoxie, also als die Konstellation, in der die thetische Gestalt die antithetische vom Ort verdrängt: wo die These ist und gilt, kann die Antithese nicht sein und gelten, also nicht statthaben, stattfinden (und umgekehrt). Und 18
Siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, l. c., S. 394–403 (Die transzendentale Dialektik. Antithetik der reinen Vernunft. Zweite Antinomie).
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doch lässt die Figur (die paradoxale, die logisch unmögliche Figur) in ihrer dialektischen Gestalt beide einander exkludierenden ‚Teile‘ oder ‚Gegenteile‘ zugleich (zu gleicher Zeit und am gleichen Ort) vorkommen und Platz finden (Platz im räumlichen Spatium wie im temporalen: im Zeit-Raum19 ). Sie lässt sie in eins sein, ohne dass sie einander verdrängten, ‚absolut negierten‘. Die Figur lässt sie vielmehr einander limitieren, also auf eine positive Art negieren: „bestimmt negieren“, wie Hegel es formulierte – in besonderer und ausdrücklicher Hervorhebung des für alle dialektische Theorie fundamentalen spinozistischen Satzes, dass „omnis determinatio negatio“ ist20 (nämlich Ausschaltung alles dessen, was sie nicht ist). Die bestimmte Negation (als logischer Terminier-Modus wie als Modus empirischer Spezifikation) erweist sich als eine Art Mischverfahren, und die Erkenntnisse, wie die Erkenntnismodi, zeigen sich als eine Art Mischgestalten – also Figuren mit einem (gradual-intensiv und einem räumlich-extensiv bestimmten) limitativen Begriffs- und BildAnteil.21 Die Proportion dieser Anteile entscheidet über Defizienz oder cognitive Integrität von Erkenntnis und Erfahrung, entscheidet vor allem über minderen und volleren Erkenntniswert der die Erkenntnis der Sache ermöglichenden Erkenntnisdispositionen und -vermögen des Subjekts selber. Diese ‚Mischgestalten‘ bilden (ähnlich wie die Teile ein Ganzes bilden) die Glieder von Reihen: „dynamisch“-sequentiellen und „mathematisch“strukturellen Reihen. Diese Reihen sind die begrifflichen und bildlichen Repräsentanten der Proportionalität der anteiligen LimesWerte (Maxima und Minima, der Grenzpunkte, Termini) der jeweiligen Reihe;22 sie geben mit ihrer Proportionalität: dem (‚physisch19
Scil. als „Moment“, das den räumlich-zeitlichen Doppelsinn aufweist; typisch im terminologischen Gebrauch Hegel’schen Denkens. 20 Siehe die Darstellung der spinozistischen Philosophie; Georg Wilhlem Friedrich Hegel, Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, Berlin 1832–1845, Band XV: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, hrsg. von Carl Michelet, S. 336–350; siehe auch Band VI (Enzyklopädie. Die Logik). 21 „Mischung“ nicht bloß im Sinne äußerlich „mechanischer“, sondern vor allem „chemischer“, innerlicher, und „organischer“, interkonstitutiver Mischung, Verschränkung, Durchdringung der Teile. – Siehe auch Heraklit: kaí ho kykeón dístatai me kinoúmenos (Kranz, l. c., S. 70, Fragment 125). 22 „Reihen“ im Sinne etwa der Stufenfolge der Hegel’schen Phänomenologie des Geistes (als einer „Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins“) oder der „idealen“ und „realen“ Reihe der spekulativen „Identitätsphilosophie“ oder der „Reihe [...] der moralische[n] Bildung“ der Menschheit
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metaphysischen‘) Quotienten Auskunft über ihren minderen oder volleren Erkenntniswert (wie auch ‚Seinswert‘ des Erkannten). Ein einfaches Exempel aus einer strukturellen, ‚synchronen‘ Reihe (hier: der Skala des Spectrum) mag das veranschaulichen: die Farbe Orange. Sie ist eine Mischung aus ‚Rot‘ und ‚Gelb‘, eine bestimmte (interpenetrative)23 Art der Verschränkung der Anteile von Rotfarbigkeit und Gelbfarbigkeit an der Orange-Farbe. Das Resultat der Mischung: die Farbe Orange ist die Stelle auf der Skala (im Kontinuum der Reihe), an welcher der Zufluss der Rotanteile ins Gelbe und der der Gelbanteile ins Rote einander begrenzt haben: jetzt und hier ist genügend Rot ins Gelb eingeflossen, genügend Gelb ins Rot, so, dass die Durchmischung beider die neue, einleuchtend klare und distinkte Farbqualität Orange aus der Reihe gewissermaßen herausspringen lässt. Rot und Gelb sind in dem Sinne vergleichbar geworden, dass sie als miteinander und mit der neuen Farbe Orange ähnlich sich erweisen. Als Farben sind sie also Gleiche, und als terminierte, qualifizierte Farben (chromatisch: „farbiges Licht“) sind sie Ungleiche, insgesamt also Ähnliche: Distinkte oder Diskrete im Kontinuum (der ‚Familie‘ der Farben), das sich zwischen den Grenzwerten des Lichts und des schwarzen Dunkels erstreckt; somit sich begrifflich-kategorial und sinnlichbildlich-konkretanschaulich als hinreichend Bestimmtes erweist – als gewissermaßen beidseitig „gesättigtes“ und damit als empirisch erkenntnisrelevantes: Das analysierte Phänomen erlaubt triftige theoretische (vom spekulativen Philosophen Hegel anerkannte, ja gestützte) Aussagen wie die der Goethe’schen „Farbenlehre“, etwa die: dass die Farben „Taten und Leiden“ „des Lichts“24 sind – Taten des Lichts, das die (siehe Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. von Ernst Beutler, Zürich 1949, Band 7, S. 439), oder einer Reihe kulturmorphologischer Archetypen und Mythen (wie etwa der Spengler’schen Kulturmorphologie); vgl. auch den linguistischen Systembegriff de Saussures: „Die Sprache [ist] ein System, dessen Glieder sich alle gegenseitig bedingen, und in dem Geltung und Wert des einen nur aus dem gleichzeitigen Vorhandensein des andern sich ergeben.“ (Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967, S. 136 f.) 23 Hegel (im theoretischen Austausch mit Goethe) bestand auf dem „qualitative[n]“ Charakter solcher Mischgestalten zum Unterschied von bloß „quantitativen“ oder als quantitativ verkannten; siehe Hegel an Goethe, 2.8.1821 und 15.9.1822, in: Briefe von und an Hegel, Band II, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1953, S. 275–278 u. 341–344; Zitat: S. 342. 24 Johann Wolfgang Goethe: Schriften zur Farbenlehre, in: ders., Gedenkausgabe, l. c., Band 16, Vorwort, S. 9; solche theoretischen Sätze klingen lehrhaft-nüchtern und poetisch gleicherweise und stehen als charakteristische Beispiele von Aussagen aus dem Geist poietischen Denkens und
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nächtliche Schwärze (stufenweise) durchdringt; und Leiden des Lichts, das die Durchdringung als Trübung erleidet: nämlich als Abnahme und Schwächung des Helligkeitsgrades infolge des Trübwerdens. So wird aus strahlendleuchtendem Weiß Gelb: getrübtes Weiß, und aus finsterster Schwärze Blau durch Aufhellung; Gelb durchdringt aufgehellte Schwärze. Es zeigt sich, was Goethe ein Urphänomen nannte: der leuchtende blaue Himmel über der Erde, über welcher die Sonne steht (in der Konstellation, die im schwarzen Weltall von drei Kugeln gebildet ist: der Sonnenkugel, der Erdkugel und der Augen-Kugel, die – sehend-strahlend – beider Wölbung „nachahmt“). – Das Urphänomen, der Archetyp, der ‚Urschein‘ erweist sich als ein ganz und gar Vermitteltes, will sagen: ist nichts weniger als ein Unmittelbares, ein im ideologischen Sinn „urhaft Reines“, ganz Abstraktes.25 Der Archetypos, die Platonische Idee selber erweist sich als ein Vermitteltes sozusagen von Ur-Anfang an26 – als ‚Mischung‘ nämlich aus Figur und Logos; das heißt konkret: aus Bildlichkeit (ganz materiellzeitlicher) und Geist, (historischem, „naturgeschichtlichem“) Sinn. Als ein zuhöchst (und zutiefst) Vermitteltes ist „die Idee“ auch bei Hegel gefasst: nämlich als subjektiv-objektiv ineinander Verschränktes: als das „Absolute“, aber in der Gestalt der „Subjekt gewordenen Substanz“ 27 . So will auch im Goethe-Hegel’schen Einverständnis das „Urphänomen“ als „Idee“ sich aufgefasst wissen, wie es das Goethe’sche Billett ausdrückt, welches das Zauberglas aus Karlsbad begleitete, das Goethe Hegel zum philosophisch-epistemischer Poiesis, wie er aus der Quelle der „produktiven Einbildungskraft“ entspringt. 25 Siehe dazu Hegels polemische Kritik der Prätention des „Urigen“, scil. der ungegründeten Ansprüche, die mit einem ‚reinanschaulichen‘ Denken in der Philosophie, namentlich der Jacobi’schen erhoben werden; siehe Werke, l. c., Band I (Jacobische Philosophie, S. 52–115). 26 In eben dem Sinn, in dem Benjamin die „Ideen“ als historisch gebundene, zeit-entsprungene (und nicht zeitlos ewige) auffasst; siehe die Erörterungen des Ideen-Komplexes in Benjamins Denken, in Adornos frühem, dem „Trauerspielbuch“ Benjamins gewidmetem Seminar von 1932, abgedruckt nach den Protokollniederschriften, in: Frankfurter Adorno Blätter IV, München 1995, S. 52–77 (insbes. 66–71). 27 „Die Idee ist das Wahre an und für sich, die absolute Einheit des Begriffs und der Objektivität. Ihr ideeller Inhalt ist kein anderer als der Begriff in seinen Bestimmungen; ihr reeller Inhalt ist nur seine Darstellung, die er sich in der Form äußerlichen Daseins gibt und diese Gestalt in seiner Idealität eingeschlossen“ (Hegel, Enzyklopädie, l. c., S. 186 [Wissenschaft der Logik, Die Lehre vom Begriff. Die Idee, § 213]); siehe auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: ders., sämtliche Werke, l. c., Band II, S. 19: „Es kommt [...] alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.“
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Geschenk machte – das Billett, auf dem ‚das Urphänomen der Idee‘ sich empfiehlt.28 Auf Basis solcher Evidenzen (sehender und denkender Einblicke in die Struktur analogisch-dialektischer Mischgestalten, Limitationen) lässt sich der dialektische Begriff selber zureichend bestimmen: als Figur einer Reihung – einer solchen, welche die Begriffs- und Bildpotenzen und ihre Quotienten (die Mischfiguren der Reihe) in progressiver und regressiver Form hintereinander ordnet (als Stufenfolge, als Auf- und Abstieg, Pround Regress vor’s – sinnliche wie vor’s geistige – Auge führt). So zeigt sich der dialektische Begriff in der Darstellung des dialektischen Denkens selber: als Ausdruck einer fortgeschritteneren, reicheren – entwickelteren – Potenz des Denkens, als es die des ‚reinen‘ abstraktiven „Verstandesdenkens“ ist, das als um die (in ihm noch unentwickelte) Anschaulichkeit (intellektuelle Anschauung), die Eidetik und Imaginationskraft (die phantasia) soviel ärmere und drastisch reduzierte erscheint. Die Proportion von Bildlichkeit, Eidetik, und Begrifflichkeit, Logizität, erweist sich als eine der Anschauungs- und intellektuellen Potenzen (das heißt „Vermögen“ des Menschen) selber.29 Wächst die eine Potenz über die andere an, nähern sie sich auch den Grenzwerten mehr und mehr an: einer reinen Anschaulichkeit, Bildlichkeit einerseits, einer reinen Begrifflichkeit andrerseits, – also beidseits disproportional ‚verzerrten‘, ‚denaturierten‘ Formen (in denen aber die unverzerrte Gestalt sozusagen durchschimmert und kenntlich bleibt). Denn die Limes-Termini sind selber ja nicht nur limitierte, sondern zugleich auch limitierende: Das Maximum an Bildlichkeit ist – auf bestimmte Weise – immer auch ein Minimum an Begrifflichkeit, und das Maximum an Begrifflichkeit ein Minimum an Bildlichkeit. 28 „Goethe hatte ein böhmisches Trinkglas“, an welchem „das Urphänomen“ demonstriert werden konnte, „im Sommer 1821“ Hegel „mit der Widmung“ geschenkt: „Dem Absoluten empfiehlt sich das Urphänomen“ (Kuno Fischer: Hegels Leben, Werke und Lehre, Teil II, Heidelberg 1911, S. 607. – Siehe auch: Briefe von und an Hegel, l. c., Band II, S. 249–251 [Hegel an Goethe, 24.2.1821]). 29 Namentlich Schelling hat die Lehre von den geistigen Instanzen, als Stufen zwischen dem Limes des Absoluten und seinen sinnlich-hyletischen Repräsentanten, entwickelt. – In der modernen analytischen Psychologie ist ein deutliches Bewusstsein von den seelischen Potenzen zwischen dem Limes des Bewussten und des Unbewussten entwickelt; sie ist überzeugt, sie an den ‚archetypischen‘ Inhalten der „Seele“ demonstrieren zu können: als Mischgestalten aus „äußerster Abstraktion und reinster Anschauungsformalität“; siehe Carl Gustav Jung: Archetyp und Unbewusstes, Augsburg 2000, etwa S. 47 ff. („Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychischen“).
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Genau dies nun ist in einem der Grundtheoreme Kritischer Theorie fixiert und ausgedrückt, nämlich in der Hauptthese der „Dialektik der Aufklärung“, wonach ‚schon der Mythos Aufklärung‘ ist, und ‚die Aufklärung wieder in Mythos um- und zurückschlägt‘.30 Soll heißen: schon der ‚Mythos‘ (eine archaische, auf Anschaulichkeit, Bildwissen und Bildkult, auf Poesie – poetische und narrative Darstellung – eingeschränkte ‚Denkform‘)31 ist ‚Aufklärung‘: nämlich Ratio in Residualform (welche den Reichtum, Überfluss der Tropen, das proteische Ineinander, Verschwommene der archaischen Begriffe [Wortbegriffe] und Bilder nicht ausschließt); Tendenz zur Rationalisierung, Hierarchisierung, Klassifizierung, Vereinheitlichung der bunten, vieldeutigen, in ihren Gestalten selber verschwimmenden und sich verwandelnden, vieldeutigen Welt). Und ‚Aufklärung‘ (vollendete, ‚total‘ gewordene Rationalisierung) schlägt in ‚Mythos‘ (dieses Maximum an Irrationalität) wieder zurück: das heißt, sie in ihren Instanzen regrediert auf archaische Stufen (also etwa: versinkt in erneuerter alter Barbarei, in den Zustand sowohl theoretischer wie praktischer [bild- und wortgläubiger, ‚magischer‘] Zerrüttung). Aufklärung erweist sich „als radikal gewordene mythische Angst“32 vor dem Unbewältigten, Irrationalen, dem „Draußen“ und „Fremden“ schlechthin, und – in dieser Angst – erneuerter archaischer Schrecken.33 Die im Verlauf der historischen Entwicklung des menschlichen Bewusstseins und des menschlichen Seins sich zeigende Dialektik ist in dem dialektischen Grundbegriff eines Fortschritts, der an keiner Stelle nicht zugleich auch ein Rückschritt wäre, prägnant ausgedrückt, das heißt: denkend aufgefasst 30
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 10: „Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.“ 31 Im Sinne der Scienza nuova Vicos und der Instauratio magna Bacons, wie er maßgeblich im deutschen geschichtsphilosophischen Denken, namentlich dem Herders, durchschlug. – Siehe auch den Mythos-Begriff in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen; zum Begriff des Mythos bei Horkheimer siehe Alfred Schmidt: „Aufklärung und Mythos im Werk Max Horkheimers“, in: Max Horkheimer heute: Werk und Wirkung, hrsg. von Alfred Schmidt u. Norbert Altwicker, Frankfurt am Main 1986, S. 180–243, und bei Adorno siehe Rolf Tiedemann: „Begriff, Bild, Name. Über Adornos Utopie der Erkenntnis“, in: Frankfurter Adorno Blätter II, München 1993, S. 92–111, sowie Tiedemanns Ausführungen über die zentrale Kategorie des Mythischen in der Adorno’schen Philosophie in den (der Thematik der Mythologie und des Mythos gewidmeten) Frankfurter Adorno Blättern V, München 1999. 32 Dialektik der Aufklärung, l. c., S. 27. 33 Siehe l. c., S. 11 (Anmerkung).
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und figürlich dargestellt und insoweit „abgebildet“.34 – Kritische Theorie rechnet – in Begriff und Bild – dem Fortschritt, der Aufklärung sozusagen den stets höher werdenden Preis vor, den sie kosten, und der in den regressiven, irrationalen Folgen des Fortschreitens sich manifestiert: als die destruktive Schrift, Eintragung auf der ‚Preiscourante der Naturbeherrschung‘, die wie ein Menetekel dieser Herrschaft selber ist. – In solcher Leuchtschrift im Dunkel ist der Zustand entfremdeter Natur und menschlicher Selbstentfremdung in einem anderen Begriffsbild bedeutet – dem Horkheimers aus seinem Frühwerk, das den – programmatischen – Titel Dämmerung 35 trägt – also die Epoche charakterisieren soll, in der archaische Finsternis und Licht der Aufklärung miteinander ringen, und die Verfinsterung der Vernunft (Eclipse of Reason)36 sich durchzusetzen scheint: in der die Menschen die Welt schon wieder verlassen müssen, noch ehe sie den Tag – den Tag der Freiheit, der Emanzipation – haben anbrechen sehen. Es findet in grandiosen Bildern („Denkbildern“, „dialektischen Bildern“) begrifflich sich ausgedrückt, was ähnlich von 34
Einer der Hauptteile der Dialektik der Aufklärung, der Odysseus-Exkurs (siehe l. c., S. 58–99) gibt in scharfsinniger analytischer Durchdringung der mythischen Bilder, archaisch naturgeschichtlichen „Allegorien“ des Homerischen Epos die charakteristischen Mischgestalten des Rationalen und Irrationalen, der Tendenzen der Konsolidierung des Subjekts als eines „Selbst“, des bewussten „Ich“ und seiner Auflösung, seinem Unterliegen den „Mächten“ des Außer- und Unbewussten, wie sie an den Figurationen der gegenstrebigen Potenzen in den mythischen Charakteren und Typen fassbar werden. – Hinzuweisen ist auch auf die bedeutenden symbolischen Paradigmen der in zentralen Motiven der Forschungsweise der Kritischen Theorie verwandten ikonologischen Kultur- und Kunstpsychologie Warburgs und des Warburgkreises; etwa auf das Paradigma einer ‚Zwischenfigur‘ zwischen Mythos und Aufklärung, das heißt einer sowohl mythischen wie aufgeklärten kultursymbolischen Gestalt in den Wissensformen der Astrologie und Astronomie, in denen ‚Dämonenfurcht‘ und magische Beschwörung einerseits und Orientierungsfunktion und rationale (mathematische) Stern-Konstellierungen andererseits ineinander verschränkt sind und, je nach affektivem Anlass, gesondert und für sich und gegeneinander wirksam werden. Warburg spricht von dieser intermediären Instanz im geistigen Entwicklungsprozess der Gattung als von einem (von zwei Seiten gefährdeten) „Denkraum der Andacht und Besonnenheit“, dämonisch bzw. chaotisch begrenzten „Besinnungsraum“ (der eigentlichen metaphysischen Stufe des Bewusstseins), also einer Dimension zwischen dem magischen Bewusstsein und dem völlig aufgeklärten wissenschaftlichen (welches wieder in die Phase mythischer Angst und des drohenden Versinkens im Chaos des prärationalen Ungeordneten ‚umschlägt‘); siehe Aby Warburg: Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten, in: ders., Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hrsg. von Dieter Wuttke, Baden-Baden 1980, S. 199–304; und ders., Schlangenritual. Ein Reisebericht, hrsg. von Ulrich Raulff, Berlin 1988 (Band 7 der Reihe ‚Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek‘). 35 Siehe Heinrich Regius (= Max Horkheimer): Dämmerung. Notizen aus Deutschland, Zürich 1934. 36 So der Titel eines späteren Werkes von Max Horkheimer; siehe ders.: Eclipse of Reason, New York 1947 (dt.: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt am Main 1967). – Siehe auch Verf.: „Bilder der Natur in der kritischen Theorie“ [in diesem Band, S. 233–254].
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Aufklärern wie Kant oder Freud ausgedrückt worden ist – so, wenn bei Kant der Insel der Rationalität gedacht ist, die davon bedroht ist, vom Ozean der Irrationalität überschwemmt zu werden;37 oder Freud davon sprach, dass, wo im Seelen- und Triebleben des Subjekts (auch und gerade des kollektiven) Es ist, Ich werden soll38 und noch dort zu stärken ist, wo es in seiner Form als Über-Ich vom Es bedrängt und unterdrückt bleibt. Der verabsolutierte Begriff, der die Erkenntnis der Sache als anschaulicher, sinnlich oder imaginativ sich darstellender verwehrt, und die verabsolutierte Sensualität, Imaginativität, die die Erkenntnis der Sache in ihrer Begrifflichkeit (ihrem Sinn, ihrer Idee) verweigert, fordern jeweils nicht nur die komplementäre Ergänzung, sondern ein Ideal der Erkenntnis, das Ideal des Begriffs überhaupt. Es ist indiziert im Ausdruck des Tendierens der cognitio zu einem Optimum wissenden Begreifens, das aus dem Manko des gegen die Anschauung indifferenten Begriffs und der gegen den Begriff abgeblendeten Anschauung selber resultiert. Dies Ideal des Begriffs ist – wie Adorno geltend machte – die ‚Utopie des Namens‘39 , des Namens, der den Begriff an die Sache, die res (die impersonale wie die personale) unauflöslich bindet, so, dass mit dem Namen zugleich auch die Sache aufgerufen (‚angesprochen‘)40 ist und der Begriff (logos) selber die Konkretion, Anschaulichkeit, corporeitas der Sache verbürgt – das optimale Erkennen also in unzertrennlich logisch-anschauenden Begriffen (‚Anschauungsbegriffen‘, wie die analytische Psychologie die authentischen – das heißt: nicht bloß semiotisch aufgefassten – Symbole und Archetypen nennt41 ); Begriffstypen der innigen Kommunikation von ‚Begriff‘ (der Idee, der Seele der Sache) und angeschauter, ‚objektivier37
Von diesem Ozean im Sinne vor allem des „Indifferentismus“, der „Mutter und des Chaos der Nacht“ (siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, l. c., S. 14), in dem die rationalen Wissenschaften gleichwie „in dem Schlunde einer alles vertilgenden Barbarei gänzlich verschlungen“ zu werden drohen (siehe l. c., S. 27). 38 Siehe Sigmund Freud: Das Ich und das Es, in: ders., Gesammelte Werke, Frankfurt am Main 1968, Band XIII, S. 235–290, und ders.: Massenpsychologie und Ich-Analyse, l. c., S. 71–162, sowie ders.: Das Unbehagen in der Kultur, l. c., Band XIV, S. 419–506. 39 Dazu siehe Tiedemann, Begriff, Bild, Name, l. c., S. 98. 40 In der buchstäblichen Bedeutung der Inkarnation des Logos und der Stoffwerdung des Worts. 41 Siehe Carl Gustav Jung: „Zur Phänomenologie des Geistes im Märchen“, in: ders., Archetyp und Unbewusstes, l. c., S. 206–250; den utopischen Geist des Archetypischen hat Jung jedoch, wie Bloch gegen ihn geltend machen konnte (siehe etwa Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt am Main 1973, S. 346–348 [„Imago als Schein aus der ‚Tiefe‘“]), keineswegs zureichend zu explizieren vermocht.
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ter‘ (gegenständlich dargestellter, ‚wirklicher‘) ‚Sache‘. Es ist (oder würde sein) die Kommunikation, in der keines das andere mehr dominiert und beschränkt, sondern eines mit dem andern unverbrüchlich koexistiert. Mit der Distinktion von Bildbegriff und Begriffsbild vor Augen lässt sich jetzt einigermaßen plausibel sagen, was – zum einen – der typische dialektische Gebrauch des Begriffes Bild in der Kritischen Theorie, und – zum anderen – Invention und Konstruktion von dialektischen Bildern in dieser Theorie sind: ob und wie ihr Begriffsgebrauch und ihre BildAuffassung und -Konstruktion in der postulierten Gemäßheit mit der methodisch-sachlichen Devise erfolgen: dass ein dialektisch-gewogener Bildbegriff einer (interdisziplinär) fortgeschrittenen Bildwissenschaft mehr und besser konvenieren könnte als ein klassifikatorisch-abstrakter, und dass eine triftige Metapher, ein anschaulich redendes Gleichnis, eine prägnante Allegorie zu erweiterter und vertiefter Erkenntnis komplexer, namentlich historischer, „urgeschichtlich-ursprünglicher“ Sachverhalte verhelfen können (vom cognitiven Wert und ‚Mehrwert‘ erhellenden und scharfsinnigen Witzes [acumen, diracitas] und ‚exakter Phantasie‘42 , der analogischer Denkweise in Kunstwerken gerade des obersten Rangs43 verdankt wird, zu schweigen). – Je nach Erkenntnisrelevanz und -wertigkeit finden wir in Kritischer Theorie einen mehr negativkritischen oder mehr affirmativ-kriteriellen Begriffs- und Bildgebrauch. Das soll an charakteristischen weiteren Beispielen im Folgenden verdeutlicht werden.
III Zum dialektischen Bildbegriff Wird beim „notorisch äquivoken“ Bildbegriff die Bedeutung von ‚Bild‘ als Abbild akzentuiert, finden wir ihn in durchwegs negativkritischer Verwendung. So rangiert namentlich bei Adorno die Bild42 Von Adorno als sichere Erkenntnis-Instanz – vor allem und gerade auch in aestheticis, der Domäne künstlerischer Produktion als entfesselt phantastischer – stets wieder geltend gemacht; siehe etwa: Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 7, Frankfurt am Main 1973, S. 259 f., 256, 127, 211, passim. 43 Zur Erkenntnisrelevanz gerade auch ästhetischer Produktion siehe Max Horkheimer: „Neue Kunst und Massenkultur“, in: ders., Kritische Theorie. Eine Dokumentation, hrsg. von Alfred Schmidt, Band 2, Frankfurt am Main 1968, S. 313–332; und: ders., Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, l. c., S. 153–174 (Zum Begriff der Philosophie).
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bedeutung ‚Abbildlichkeit des Bildes‘ als eine der Verschleierung, ja der Verdeckung: Abbilder von etwas enthalten das Original vor: die Wirklichkeit des Abgebildeten (die letztlich seine Unabbildbarkeit – im Sinne etwa des mosaischen Bilderverbots44 – ist). Gleichwie ein Vorhang hängt das Abbild vorm Bild, dem Bild im Sinne des Urbilds, das selbst gar kein ‚Bild‘, sondern Ausdruck – Selbstausdruck – des – seienden und genetischen – ens reale, des realissimum selber ist, den die ‚Abbilder‘ (bloße ‚Abzüge‘ der res45 ) und vollends die ‚Nachbilder‘ (bloße Kopien, ‚Abklatsch‘, oder ‚Idole‘: noch ärgere Verzerrungen und Entstellungen der res und des Bildes) ganz und gar verfehlen: so wie der Vorhang, auf den wir starren, zum Ersatz dessen dienen muss, was hinter ihm verborgen ist. Diese Grunddistinktion von („intentionsloser“) res und ihrem (intendierten, intentionellen) Bild-Ersatz gilt in Kritischer Theorie, zusammen mit der von Wesen und Erscheinung, (vor allem in zentralen Untersuchungen Benjamins und Adornos ‚Negativer Dialektik‘) durchgehends, gewissermaßen als negativ-methodische Denk- und Anschauungskonstante46 thematisch durch- und durchgearbeitet an der Dialektik von Geltung und Genesis und an der von Realität und ihrer theoretischen Darstellung; hier vor allem bei Horkheimer, der auf Grundlegung Kritischer Theorie als eines ‚entfalteten, entwickelten Existenzial-Urteils‘ 47 abzielte. Der negativkritische Bildbegriff fungiert vor allem als ästhetisch-kritischer in der Analyse der Defizienzgestalten des ‚Realismus‘ und seiner Steigerung und Verabsolutierung im ‚Naturalismus‘ der Kunst (sei’s der Wortkunst, sei’s der Bildkunst, eingeschlossen die photographische und die kinematographische). Die Abbilder als Ausdruck dieses Realismus48 drücken eigentlich nichts mehr aus, sie ‚sprechen‘ nicht mehr, sind bloß noch verdoppelnde (sozusagen selbstgenügsame Simulakren) und decken die 44
In Analogie gedacht zum Schweigegebot hinsichtlich des Unaussprechlichen, Unnennbaren. „Abzüge“ im Sinne von ‚Abstraktionen‘ – also von der res und nicht der res; in diesem Sinn kritisierte Adorno an der Abstraktion, dass sie als Denken der Essenz „im Netz der abstrakt gewordenen Beziehungen der Menschen untereinander und zu den Sachen“ nur noch der defiziente Ausdruck einer „entschwindenden“, wenn nicht schon verlorenen „Fähigkeit“ ist; der Fähigkeit, inhaltliche und substantielle Begriffe von den Sachen zu bilden; siehe Minima Moralia, l. c., S. 263. 46 Siehe Anm. 42. 47 Max Horkheimer: „Traditionelle und kritische Theorie“, in: ders., Kritische Theorie, Band 2, l. c. (S. 137–191), S. 175. 48 Siehe Adorno, Ästhetische Theorie, l. c., etwa S. 341–343, 380–386; siehe auch: Minima Moralia, l. c., S. 262–268. 45
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diffizile ‚Tiefenstruktur‘, die Komplexion des Realitätsgefüges zu. Prononciert ausgedrückt ist das in dem Terminus „Deckbild“49, mit dem das Abdichten der Sache, die Blockade ihrer Erkenntnis durch ihr bloßes Abbild – analog den ‚abstrakten‘ Deckbegriffen – getroffen werden soll. – In bedeutungsanalogischer Nähe zum Ab- und Deckbild stehen ‚Ebenbildlichkeit‘ und ‚Spiegelbildlichkeit‘ und ihr Begriff. Von der täuschenden und verfälschenden Bild- und Begriffsfunktion beider profitiert die in der Moderne verbreitete und sie stützende Creatitivitäts-Ideologie, das heißt die Auffassung von der Rückspiegelung des Schöpfer-Attributs Gottes (der aber in der säkularen Weltzeit gleichzeitig atheistisch negiert ist) im Hervorbringungsvermögen des homo fabricator – also des „Genies“ des Geschöpfs – charakteristisches „Natura-sive-Deus-Attribut“, wie noch postrenaissancistische klassische und romantische Philosophie es reklamierten.50 Selbststeigerung und Selbstüberhöhung (die „idealistische Hybris“ des bürgerlichen Subjekts) zeigen sich im Missbrauch eines Terminus, der allein in der Sphäre von Metaphysik und Theologie eine cognitiv adäquate Erkenntnisrelevanz besitzt, und der mit Metaphysik und Theologie selber steht und fällt. Herausgenommen aus dieser Sphäre tendiert der Terminus und sein Gebrauch zu Wahnbegrifflichkeit und Wahnbildlichkeit (oder, baconisch, zur „Idolatrie“); ist also deshalb gefährlich (die Vernunft kränkend, ja krankmachend), weil er die Distinktion von Wahrbild und Wahnbild von den Dingen außer Kraft setzt (die Distinktion, die doch in re fundiert ist; was namentlich an dem fürs hochtechnische Zeitalter typischen Quidproquo von „wirklich“ und „virtuell“ – das ja „möglich“ bedeutet –, also an der Substitution eines „als-ob-Seins“ für ein reales „So- und Dass-Sein“ sich gesteht). – Was die Täuschung durch Spiegelbilder – angeblich die treuesten, volladäquaten Bilder – angeht, so greift sie sich schnell an figürlichen Merkmalen wie der Seitenverkehrtheit, ‚Verrücktheit‘ von rechts und links, von oben und unten (wie etwa beim Hohlspiegel), von klein und groß (beim 49 Die Deckbild-Funktion von ästhetischen und intelligiblen Ideen analysierte Adorno vorab am Ideologie-Phänomen; siehe die Reflexionen über Kunst als Ideologie in: Ästhetische Theorie, l. c., etwa S. 78–86, oder über die Pseudokonkretion der ‚Wesensbilder‘ in der Phänomenologie in: Theodor W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien, Stuttgart 1956, etwa S. 44 f., 124 f., 182 f., 203, 226 u. 228. 50 Das Quidproquo von Kunst und Religion bildet einen Hauptpunkt der Benjamin’schen Kritik der Romantik.
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Zerrspiegel) als an jener Art von Reflexivität, die nicht selber als Reflexion sich reflektiert hat, nicht kritisch sich begreift und der daher die Nichtidentität – das Projektive – der Spiegelbilder entgeht (die sie ja als angeblich projektiv nicht verzerrte, identische nicht haben dürfen). Es ist diese reflexive Spiegelbildlichkeit, welche die eigentliche Fatalität des (usuellen, unkritischen) Ideologiebegriffs ausmacht, sofern die ideologietypischen Widerspiegelungsphänomene (etwa die Spiegelung der ‚Basis‘ im ‚Überbau‘, des Seins im Bewusstsein) alles andere als adäquat erfasste und begriffene Bilder gewährleisten. Denn in Wirklichkeit (im gesellschaftlichen, stets noch ‚naturgeschichtlichen‘ Sein) sind die authentischen ideologischen Rückspiegelungen solche von einem ‚rauen‘, ‚trüben‘ und ‚finsteren‘ – wenn nicht ‚schwarzen‘ Spiegel, der die Seitenverkehrtheit, die ‚Versetztheit‘, die ‚Verrücktheit‘ des Bildes selber spiegelt (und nicht mehr verdeckt): der also den gesellschaftlichen Schein denunziert und mit der Denunziation das unverrückte, das zurechtgestellte – das geheilte Sein – in spiegelschriftlicher Verkehrtheit sehen51 : ermessen und antizipieren lässt. – Nahe dem Bild-Sinn, wie er den Ideologiebegriff prägt: ‚Bildlichkeit‘ als verfälschende Widerspiegelung, ist der Sinn von Bild im ‚Vorbild‘-Begriff, der im Denken der Kritischen Theorie überwiegend negativ-kritisch akzentuiert ist, in allen Fällen nämlich, wo die Leitbild-Funktion des Vorbildlichen getroffen werden soll: scil. die autoritätshörige und -süchtige Unterwerfung des Geistes, des zur Gefolgschaft, zum kritiklosen Gehorsam allzu schnell bereiten Massen-Ich, zur Unterwerfung unter die hypnotische Führerautorität. Die Leitbildfunktion des Vorbildes findet sich in späteren sozial- und kulturkritischen Werken Adornos schon in ihren Titeln („Ohne Leitbild“, „Erziehung zur Mündigkeit“52 ) moralisch-programmatisch denunziert: ‚Lasse Dich nicht gängeln; werde mündig.‘ Doch ist auch der Vorbild-Begriff auf signifikante Weise äquivok: wie im Begriff Vor-Urteil, Vor-Begriff ist im Begriff Vor-Bild auf die in allem Erkennen unumgängliche Antizipation eines zu Erkennenden in begrifflichen und bildlichen (‚apriorischen‘) 51
Scil. am ‚schwärzesten‘ Zustand der zerrütteten Welt ihre ‚Erlösungsbedürftigkeit‘, die Heilsnotwendigkeit ‚ablesen‘ lässt; siehe Adorno, Minima Moralia, l. c., etwa S. 480 f. (Aph. 153: „Zum Ende“). 52 Siehe Theodor W. Adorno: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tieemann, Band 10.1, Frankfurt am Main 1977, S. 289–453.
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Vorstellungen gedeutet, welche, in je kanonisch-maßgebender Funktion, die noch erfahrungsleere Form der Erkenntnis beistellen, die dann, ‚aposteriorisch‘ transformiert, empirisch sozusagen ‚erfüllt‘ werden muss, um als triftige Erkenntnis zu gelten; es sind die ‚Voraus-Begriffe‘, ‚VorausBilder‘ allen Erkennens, die empirisch gewichtet, ‚verifiziert‘, „bewährt“ werden müssen, um zu adäquaten oder sach-affinen Begriffen und Bildern der Erkenntnis zu werden. Wegen der transzendental-empirischen Ambivalenz dieser – prinzipiellen – „Antizipationen“ heißen sie in Kants Darlegung der Prinzipien der Erkenntnis „Grundsätze der Analogie der Erfahrung“53 , und in genau diesem Sinn sind die Begriffe ‚Vorbild‘ und ‚Vorbegriff‘ in Kritischer Theorie in positiv-kriteriellem und negativkritischem Gebrauch. Zu denken ist vor allem an die in die verborgensten Schichten des Subjekts eindringenden analytisch-sozialpsychologischen Studies in Prejudice54 und insbesondere an die dort und namentlich dann in der Dialektik der Aufklärung entwickelte Theorie der Projektion, die in deren Widerspiel mit der Mimesis die dialektische Struktur aller Begrifflichkeit in ihrer Beziehung aufs zu Begreifende, zu Erkennende offenlegt, dem das Subjekt immer zugleich aktivisch-projektiv und passivisch-mimetisch sich nähern muss, will es dem Cogitandum gerecht werden.55 Je voreingenommener, gegen seine Erfahrung abweisender und spröder, das Subjekt ans Objekt herangeht, desto mehr verfällt es falscher, „pathischer Projektion“ – einer zum Wahn-Bild, zur fixen Idee vom Objekt missratenen. Die ‚fixe Idee‘ – etwa auch Baudelaires ‚Spleen‘56 – erweist sich als das erkenntnistheoretische Gegenstück zur Idee (der begrifflichen Gestalt des órthos lógos, dessen bildliche das ‚Ideal‘ ist). In der Idee ist der integrale Begriff als der utopische Vorbegriff 53 Siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, l. c., S. 214 ff. (Die Analytik der Grundsätze. Analogien der Erfahrung). 54 Siehe Max Horkheimer und Samuel H. Flowerman (Hrsg.): Studies in Prejudice, New York 1949/50; siehe vor allem die Bände The Authoritarian Personality und Prophets of Deceit. A Study of the Techniques of the American Agitator. – Siehe auch Max Horkheimer (Hrsg.): Studien über Autorität und Familie, Paris 1936 (2. Aufl. Lüneburg 1986). 55 Siehe Dialektik der Aufklärung, l. c., „Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung“, vor allem: Abschnitte V, S. 212–220 und VI, S. 220–235. Im Letzteren ist die Theorie der Projektion entwickelt; Einsichten vor allem in die Mechanismen „pathischer Projektion“ werden gewährt und am Paradigma des dialektischen „Bildes vom Juden“ (S. 234) demonstriert. 56 Zum Verhältnis von ‚Spleen‘ und Idee siehe Adorno, Ästhetische Theorie, l. c., S. 144, 174 u. 418.
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des Seienden, wie es sein soll und sein kann, artikuliert – die Utopie als noch ausstehende, nicht vollbrachte (nach Hegel freilich soll sie geistig – im System – vollbringbar und – im absolut-idealistischen Sinne – bereits vollbracht sein). Hier war Kant der dialektischere Denker: Die Idee ist Ausdruck des nichtseienden Seins (noch nicht seienden Seins), das ohne sie, anders nicht eintreffen würde, als durch ihre praktische Realisation. Die praktisch-kritische Wendung des historischen Dialektikers Marx gegen das vollendete Sein des Absoluten in der Idee, wie Hegel sie fasste, findet sich bei Kant vorweggenommen: durch den Einspruch wider das (metaphysische) Absolute im Namen der Idee, kraft deren erst es zu ‚realisieren‘ wäre. Die Utopie des intelligiblen Seins bleibt unaufgebbar der ‚falschen‘ Realität, dem „unwahren Ganzen“57 des – historisch gegebenen, historisch modifikablen – mundus sensibilis kontrastiert. Aus diesem Kontrast – der Zerrissenheit von Noumenon und Phainomenon, Wesen und Erscheinung – resultiert ein Grundtypus des Bildbegriffs, an dem Kritische Theorie in all ihren Versionen als einem sowohl kritisch-negativen wie kriteriell-positiven unangefochten und unanfechtbar58 festgehalten hat: dem Bild-Begriff des Scheins, der Erscheinung, apparition – geradezu als an dem Paradigma eines dialektischen Begriffs (und eben auch eines dialektischen Bildes). In ihm ist die Einsicht artikuliert, dass bei dem als fundamental erfahrenen Getrenntsein des Wesens und des Scheins (der Dinge) konsequenterweise nicht stehen geblieben werden kann: Wie soll von Wesen – dem essentiellem Sein, von substantia – auch nur die Rede sein können, wenn es das von Schein und Akzidenz Geschiedene, das schlechthin Verborgene, ‚Innerste‘ – der aller Nachforschung entzogene ‚Kern‘ der Dinge, ihr reines ‚Ansich‘ bliebe, es also niemals ‚erschiene‘ und an seiner ‚Erscheinung‘, seiner wie auch obliquen Manifestation zu greifen wäre. „Das Wesen muß erscheinen“59 : Das heißt nichts anderes als dieses, dass, wenn es nicht erscheint, es zweifelhaft bleiben müsste, ob etwas wie Wesen, esse essentiae (oder Unwesen, Substanti57
„[J]enes Ganze, das nicht das Wahre, sondern das Unwahre, der absolute Gegensatz zur Gerechtigkeit ist.“ Theodor W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Band 5, Frankfurt am Main 1971 (S. 247–382), S. 277 („Aspekte“). 58 Siehe etwa Adorno, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, l. c., S. 18. 59 Hegel, Encyclopädie, l. c., I. Die Wissenschaft der Logik, S. 136 (Die Lehre vom Wesen, § 131).
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elles oder Akzidentelles, Integres oder Defizientes, Korruptes) überhaupt sei und alles dieses nicht gänzlich chimärisch wäre. Im Schein indizieren sich Wesen und Sein; „[a]m farbigen Abglanz haben wir das Leben“60 , die Welt, wie Goethe – auch hier hegelisch – durch den Mund Fausts es formuliert. Solcher Glanz, solche Farbigkeit61 macht das Wesentliche der ‚wirklichen‘ Dinge, das Leben des mundus sensibilis, aus; er ist ‚Abglanz‘: Abstrahlen vom Urbild, die sinnliche Repräsentation des Nous, des Logos und Sinns – sein mundanes, „natürliches“ und historisches, PräsentSein im je nachdem glänzenden, blendenden funkelnden, verglimmenden, trübenden, im Obscuren erlöschenden Schein. Ist aber die Idee Bild, Urbild – also der Urschein, Urglanz allen Ab-Scheins, Ab-Glanzes, Abbildes, so ist sie nicht Sein, Ursein, das Wahre selbst. Das heißt aber: Die Idee ist nicht das Wahre, sondern sie bedeutet es;62 sie bedeutet es so, wie das Bild das von ihm Abgebildete bedeutet (und nicht ist). In diesem Betracht ist das Bild bedeutender Schein, sinnliches Bedeuten. Bedeutungen sind schwankend, ‚vieldeutig‘, – aspektreich: ein Ausdruck der Vielfalt der Sinne und der verschiedenen Grade ihrer ‚Wahrnehmungsintensität‘.63 Nach deren Maßgabe schwanken die Bedeutungen (die das Sein, Wahrsein bloß repräsentieren, stellvertreten und nicht selber sind). Als „Ausdrucksbedeutungen“ haben aber die stellvertretenden: die symbolischen zugleich präsentischen, Seins-Sinn. Ausdrücke manifestieren, offenbaren ein Inneres, Verborgenes, Geheimes. Exakt darin besteht der Schein als „substantieller“, ästhetischer: dieser ist nicht sowohl täuschender, „Illu60 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, in: ders., Gedenkausgabe, l. c., Band 5, S. 294 (Erster Akt, Anmutige Gegend). 61 Im Sinne der „Färbungen und Beleuchtungen“, welche, als „bildliche Ausdrücke“ der „strenge Logiker der Erkenntnis“ (Gottlob Frege, siehe „Sinn und Bedeutung“), um der „Erleichterung der Vermittlung der Erkenntnis“, ja ihrer „Ermöglichung“ willen, methodisch zugestehen muss; siehe Gabriel, Logik und Rhetorik der Erkenntnis, l. c., S. 23. 62 Dazu siehe Walter Benjamin: „Erkenntniskritische Vorrede“ zum Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders., Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I–VII, Frankfurt am Main 1972–1989, Bd. I, Frankfurt am Main 1974, S. 211, 214 f. 217 f. u. 226. 63 Zur ‚Einheit der Sinne in ihrer Mannigfaltigkeit‘ siehe Verf.: „Vorstellendes und vernehmendes Bewusstsein. Zu Sonnemanns psychohistorischer Variante einer ars civilis sensuum“, in: Existenz, Negativität und Kritik bei Ulrich Sonnemann, hrsg. von Claus-Volker Klenke et al., Würzburg 1999, S. 107–118 [wieder abgedruckt in: Hermann Schweppenhäuser, Denkende Anschauung – anschauendes Denken. Kritisch-ästhetische Studien über die Komplementarität sensitiver und intellektiver Relationen, Berlin, Münster 2009 (Ästhetik und Kulturphilosophie, hrsg. von Thomas Friedrich u. Gerhard Schweppenhäuser, Bd. 7), S. 115–128].
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sion“, sondern offenlegender, ‚aufzeigender‘, apophantischer Schein. Er zeigt am Symptom die passio, ‚Krankheit‘: als am Erleiden, an dem er die Defizienz, das Manko an ‚Gesundheit‘ indiziert: Desintegrität, aufgezehrte, vergangene Spontaneität – er malt, umreißt die Figur, die Grundfigur ästhetischer Produktion: „rezeptive Spontaneität“ und das Bild des Werkes: einer Gestaltbildung durch nachgiebige formatio der Materie, die ihrerseits das Maß, das der Form das Maß gebende, das ihr Korrespondierende ist. Kunstwerke – als „Gebilde“ – sind Ausdrücke solcher Korrespondenzen von Form und Gehalt, emphatisch: von „Wahrheitsgehalt“ und „Sachgehalt“64 – sei’s im Modus gestörter Kommunikation von Form und Materie oder ungestörter; zweier Grundgestalten der Stellung und der Auflösung des Kunstwerks als eines „Rätsels“65. Das Rätselhafte von Kunst – der (utopisch) einleuchtende und zugleich wirklichkeitsenthobene Wahrscheincharakter des ästhetischen Scheins: ihr divinatorisches dem Wirklichen ‚Vor-Ahmen‘ ist hermeneutischer Ausdruck des Rätselhaften der Existenz selber und seiner ‚Auflösbarkeit‘ im Lichte des „Vorscheinens“ – so Bloch – und im Aufglimmen der „messianischen Funken“ – so Benjamin – inmitten der beschädigten, zertrümmerten Seinssphären, die in ihrem ‚geteilten‘, reduzierten Glanz auf den vollen gesammelten des messianischen Lichts selber verweisen so, wie die mundanen Trümmer und Brocken – so Adorno – zwingend auf die in integrum restituierte Welt deuten. Dieser mystisch-ästhetische Bild-Sinn von Schein und Erscheinung erweist den Schein als ernstlich erkenntnisrelevanten: Er nötigt zur eigenen kriteriellen Distinktion in den täuschenden, betrügerischen Schein, wie er in langer Tradition – der des Skeptizismus – geltend gemacht und stets wieder ausgespielt wurde gegen den apophantischen Schein, den verum und esse indizierenden – den „dogmatischen metaphysischen“ –, der aber in Wahrheit nur der „gesetzte“ skeptische ist, während der trügende skeptische, in seiner Radikalität ebenso dogmatische, in Wahrheit nur der nicht komplette: der Schein der unvollendeten Skepsis ist: der Schein als Erscheinen des Seins und nicht seines Vortäuschens. Es ist der 64
Siehe Walter Benjamin: „Goethes Wahlverwandtschaften“, in: ders., Gesammelte Schriften, l. c., Bd. I.1, Frankfurt am Main 1974 (S. 123–201), S. 126; siehe auch S. 146 ff. 65 Zum „Rätselcharakter“ des Kunstwerks siehe Adorno, Ästhetische Theorie, l. c., S. 182 ff., 188 f. u. 192.
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Sein und Wesen manifestierende Schein, wie ihn die „sich vollbringende Skepsis“ (in welcher der metaphysische Dogmatismus und der physischsinnliche Relativismus vermittelt, im dialektischen Sinne ‚versöhnt‘ sind) statuiert: Ausdruck eben der dialektischen Denkart, die im Scheinen das sichere Indiz des Seins und des Wahren kritisch auszumitteln und zu erkennen auffordert. Denn de facto ist aller Schein per se täuschend: Er supponiert ein Scheinen für ein – wie immer ‚gebrochenes‘, reflektiertes – Sein. Doch er tut es scharf distinktiv, das heißt indikatorisch, manifestativ und übers Indizierte nur ikonisch betrügend. Und Insoweit ist alle Kunst auch ‚Ideologie‘66; so, wie ‚sich vollbringende Skepsis‘ – dialektische Philosophie – ‚Wahrheit‘, aber ‚Wahrheit auch in ihrer eigenen Unwahrheit‘ ist: nämlich im unhintertreiblichen phänomenalistischen (kantisch: „dialektischen“), sensuellen und phantasmagorischen Schein alles wesentlich (und unwesenhaft) Seienden real-distinktiv sich versichern kann. – In Benjamins Version Kritischer Theorie findet sich der ambivalente, ‚dialektische‘ Sachverhalt in charakteristischer Variante analysiert und abgehandelt. Er bereichert den Diskurs des „Wahr-Scheinens“ um den dialektischen „Aura“-Begriff des Scheins, des Bildscheins und der Bilderscheinung. Die Aura eines Dinges (ob eines sakralen, eines profanen, ob eines ästhetischen – eines Kunstwerks –) ist sein eigentümlicher genuiner Wesens-Schein, mit der wichtigen differentiellen Nuance: dass das Wesen in der Aura am wenigsten ungebrochen sich zeigt; soll heißen, dass die Sache (in ihrer Komplexion, ihrem „Gespinst“67 ) in einer unaufhebbaren Getrenntheit vom Subjekt, dem sie auratisch: in ihrer (‚atmenden‘, strahlenden, glänzenden) Hülle68 nahe ist, unnahbar bleibt. Die Sache, oder Person, sie mag „so nah“ sein, wie auch immer dem Anblickenden, dem in ihr das „Wesen schauenden“ dünken mag: sie verharrt 66 Siehe Adorno, l. c., S. 203; dazu vgl. Verf.: „Aspekte eines aufgeklärten Kunstbegriffs“, in: Frankfurter Adorno Blätter II, München 1993, S. 112–128 [überarbeitete Fassung unter dem Titel „Schein, Bild, Ausdruck. Aspekte der Adorno’schen Theorie der Kunst und des Kunstwerks“ in: Hermann Schweppenhäuser, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Berlin 2019, S. 347–366]. 67 Siehe Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: ders., Gesammelte Schriften, l. c., Bd. I.2, Frankfurt am Main 1974 (S. 431–469), S. 440: „Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“ 68 Wie Mignon in ihrem weißen Kleide, das man ihr lassen, in dem sie „scheinen“ soll, bis dass sie „werde“ (Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 553 f., Mignons Lied); siehe die „Exquien Mignons“ (l. c. S. 615–619).
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schlechthin in „Ferne“. Als selber „Intentionslose“ (von keiner Intention einholbar, weder von der begreifenden noch von der vorstellenden) kommt sie in ihrer phänomenalen Nähe immer nur gebrochen zu Bewusstsein und Erkenntnis. „So [in der Verkleidung, im Grab: auf dem Katafalk, in dem Sarghaus] laßt mich scheinen, bis ich werde [zu wahrem Sein erst auferstehe]; / Zieht mir das weiße Kleid nicht aus“ 69 , bittet auf das rührendste Mignon, die sehnend Entrückte. Ohne die Hülle – fließend, webend um die schöne, die integre Gestalt – ist das Wesen nicht zu gewahren: nicht die nackte Wahrheit ist die ganze; Wahrheit, Schönheit ist sie in ihrer Hülle, durch die sie scheint, und nicht anders erscheint als durch sie, die sie erscheinen erst macht.70 Dieser Schein: der zarteste und der in seinen ephemeren, flüchtigen Zeichnungen zugleich bestimmteste und präziseste Schleier vor dem Wesen ist die Aura des Seienden, der Sache: ihres fluiden Bildes, das die moderne Tiefenpsychologie gleichsetzt mit einem Seienden eigenen energetischen ‚Lebens‘, dem von „Bilderseelen“71; ein Terminus, welcher das, was im Sinnbezirk streng in69
L. c., S. 553 (Mignons Lied). Siehe Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, l. c., S. 195. 71 Zu verweisen ist auf die Klages’sche Lehre von den ‚Bilderseelen‘: den anschaulichen „wirklichen“ Korrelaten zu den ‚geistigen‘ Produkten des Denkens, Erkennens und dessen (hypostasierten) intentionierten noetischen Setzungen; den in den ‚Seinsbegriffen‘ (der Ontologie, der Metaphysik) verdinglichten ‚Geist-Seienden‘. Das außergeistig Begegnende: das eigentliche „Wirkliche“ ist nie das erkannte, zu erkennende sondern einzig das zu Erlebende, und die Gestalt, der Modus, in der das Lebendige, die Sache, erlebt wird, ist die erscheinende Bildwirklichkeit: die beseelte (nicht verdinglichte, ‚vergeistigte‘) Wirklichkeit wird in den als „Wesen“ erscheinenden raumzeitlichen, im beständigen inneren seelischen Bewusstseinsstrom auftauchenden und sich wandelnden Bildern vergegenwärtigt (jenem ominösen ‚Bewusstseinsstrom‘ des modernen Anti- und Irrationalismus, in dem, nach der Bemerkung Adornos, ‚alle Differenzen von Subjekt und Objekt sich auflösen‘); siehe Ludwig Klages: Der Geist als Widersacher der Seele, Leipzig 1921, S. 99 ff. Adornos Charakteristik des „Bewußtseinsstroms“ lautet im Zusammenhang der erkenntniskritischen Reflexion: „Die reine Gegebenheit [...,] das Gegebene lässt sich nur ‚haben‘, nicht halten. Als Erinnerung und gar in Worten ist es nicht mehr es selbst; ein Abstraktum, in dessen Bereich man das unmittelbare Leben verwiesen hat, nur um es mit der Technik desto besser manipulieren zu können. Nicht länger vermögen die kategorialen Formen Subjekt und Objekt zu fixieren: beide versinken im ‚Bewußtseinsstrom‘ als im wahren Lethe der Moderne.“ (Theodor W. Adorno: „George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel“, in: ders., Prismen. Kulturktitik und Gesellschaft, Gesammelte Schriften Bd. 10.1, l. c., S. 199. – Zu der Jung’schen Version von ‚Bilderseelen‘ des Lebens – nämlich des historisch-archaischen, „ewig“ Lebendigen, den ‚Archetypen‘: angeblich selber zeitlosen geschichtlichen Urbildern, wie sie im kollektiven Unbewusstsein auftauchen und von intellektual-rational unverstelltem und unverfälschtem Ursein der Seele und des Lebens künden sollen, siehe die Abhandlungen „Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten“, „Über den Archetypus mit besonderer Berücksichtigung des Animabegriffs“ u. a., in: Jung, Archtyp und Unbewusstes, l. c., S. 77 ff., 126 ff.; Jung hat vom „Archetyp“ geltend gemacht, dass, „weil das kollektive Unbewusste ein [...] in der Hirn- und 70
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tendierter metaphysischer Theologie symbolische Stellvertretung (nämlich Kraft des Symbols, das Intentionslose, Ungreifbare als das schlechthin aller Intention Entrückte zu repräsentieren) heißt, „wissenschaftlich“ (scil. psychologisch, psycho-physiologisch) vorstellig machen zu können überzeugt ist. Diesen Symbol-Sinn von Bildschein und Bildlichkeit hat Adorno in Auseinandersetzung mit Benjamin produktiv und in dezidierter kritischtheoretischer Einstellung aufgenommen und die „Aura“ als den Ausdruck einer unerwiderten Korrespondenz interpretiert, mit glücklicher Nutzung des Bildsinns, der Bedeutung des Bildes als facies, Anblick, An-Sicht. Wenn Benjamin nämlich selber formuliert, dass „in der Aura das Ding die Augen aufschlägt“72, hat er dann damit nicht gesagt, das ‚es uns anblickt, wenn wir es anblicken‘, also vom Auraphänomen uns ‚ansprechen‘ ließen? Wir müssen nur dieses Uns-Anblicken des Dings als erst noch unerwiderte, dringlich von uns erheischte Respons auf den Anblick des Dings (der nichts anderes ist als sein Anspruch an uns, wahrgenommen zu werden von der Seite seiner ureigenen, intangiblen Wirklichkeit, seines vor seiner Verdinglichung und Entwesung zu beschützenden „Ansich“ ) zu deuten und zu erspüren wissen. Solches respondierende Auffassen des Dings durch seine Aura (Goethe nannte es „zarte Empirie“73 ) ist das vom Dinge selber intendierte Erkanntseinwollen des Dings; in erkenntniskritischer Bedeutung: des Dings in seinem ureigenen Anders- und Eigensein; des Dings als des „Nichtidentischen“ – dessen also, das seine Identität beansprucht, die mit der ihm angeschafften klassifikatorischen, abstraktiven nicht verwechselt werden darf.74 – Wird das authentische „auratische Bild“, das Bild der – erSympathicus-Struktur sich ausdrückender Niederschlag des Weltgeschehens sei“, es „eine Art von zeitlosem gewissermaßen ewigem Weltbild“ bedeute, „das unserm momentanen Bewusstseinsweltbild gegenübergestellt ist“ (Carl Gustav Jung: Seelenprobleme der Gegenwart, Zürich 1931, S. 326). 72 Zur Kontroverse über den Aurabegriff siehe Adorno, Ästhetische Theorie, l. c., S. 408 und 409; siehe auch S. 258, 318, 460 f. 73 Eine, der Theorie selber zum auratischen Schein wird, der greiflich-begreiflich das Ding einhüllt und so seine theoretische Wahrheit verbürgt; siehe Johann Wolfgang Goethe: Aphorismen und Fragmente [Beobachten und Denken], in: ders., Gedenkausgabe, l. c., Band 17, S. 723: „Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird.“ 74 Zum Begriff des Nichtidentischen als der „eigenen Identität der Sache gegen ihre Identifikationen“ siehe Adorno, Negative Dialektik, l. c., S. 162 u. 163.
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scheinenden und im Erscheinen verlöschenden – „apparition“75 in seiner versteckten Korrelativitäts- und Komplementaritäts-Struktur (das heißt in seinem dialektischen Charakter) verkannt, dann kippt es – wie die kulturindustriell produzierten ‚Stimmungs‘- und Genrebilder – um in das phantasmagorisch-pseudomagisch kalkulierte Erzeugnis des Bildschwindels, der dem Unwesentlichen, dem Unwesen selber ‚Wesenhaftigkeit‘ anlügt, und der den Bildkonsumenten mit dem Versprechen des Pseudoglücks des Kitschs und des Glanzes der seichten Tiefe lockt. Adorno hat dies am Talmi-Glanz von Jugendstilbildern und vor allem an den mit wahrhaft Kraus’scher Verve à l’ordre du jour zitierten und präparierten kitschigen Wortbildern und halbsakralen falschen Tönen des „Jargons der Eigentlichkeit“ offengelegt,76 dem Talmi-Glanz, den Existenz- und zuvor schon Lebensphilosophie in hilfloser (aber gerade deshalb desto massenwirksamerer) Konkurrenz mit der wirklichen Bildkraft von Poiesis und Ding- und Wesen-dolmetschender, Unwesen-denunzierender Kunst aufboten – der Kunst, die der Masse der Kulturkonsumenten bis heute im Innersten verhasst bleibt. Mit dem Bildsinn von ‚Modell‘ wird die in seiner kritischen Verwendung bei Adorno sich zeigende positiv-kriterielle Bedeutung des Bildscheins in der (gerade auch den phantasmagorischen Bild-Abusus treffenden) Funktion eines ‚Vorbildhaften‘ besonders deutlich. Der Bildbegriff des Modellhaften in den Verfahren der Erkenntnisgewinnung durch optimal sachadäquate Begriffe (zu denen eben auch die „vagen“, das heißt die eindeutig zwei- oder mehrdeutigen zählen77 ), wird in der Kritischen Theorie in aller Regel so gefasst und verwendet, dass er verspricht, den Erkenntnisbemühungen eine um so deutlichere Bewährung zu sichern, je mehr er methodisch-experimentell angelegt und verstanden wird: dass die kritisch-theoretische Erkenntnisbemühung im Sinn hypothetisch-heuristischen Verfahrens so vorgeht, dass eine Art von historisch-materialen „Prototypen konstruiert“ werden, in denen das 75
„Prototypisch für die Kunstwerke ist das Phänomen des Feuerwerks“ (Adorno, Ästhetische Theorie, l. c., S. 125; siehe l. c., S. 126.) 76 Siehe Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Band 6, Frankfurt am Main 1973, S. 413–523. 77 Siehe oben, Anm. 7; dazu siehe Benjamins Bemerkung, dass „Die Schilderung des Verwirrten [...] nicht dasselbe [ist] wie eine verwirrte Schilderung.“ (Walter Benjamin: Zentralpark, in: ders., Gesammelte Schriften, l. c., Bd. I.2, Frankfurt am Main 1974 [S. 655–690], S. 666.)
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Typische, Besondere und Einzelne, das es zu erforschen und zu ‚erhärten‘ gilt, planartig (wie die Landschaft auf einer ‚Landkarte‘, das Sternbild auf der „Sternkarte“78 intuiert und vorkonstruiert), „programmatisch“ abgebildet ist, um dann im Erkenntnis-Experiment, dem – sinngenerierenden – Gruppieren der Elemente der Konstellation konstruktionsmäßig ‚nachgebildet‘ zu werden. In diesem Sinn nennen Adorno und Horkheimer – und Benjamin in der Diskussion mit ihnen – ihre „Fragmente“ (und „Essays“ ) dialektischer Erkenntnisbemühung (etwa die in der „Dialektik der Aufklärung“ versammelten79 ) „Einsatzstellen für künftige Anstrengungen des Begriffs“ und Adorno (in der „Negativen Dialektik“ und vorher in der Auseinandersetzung der dreißiger Jahre mit Benjamin) „Modelle“ solcher Anstrengung.80 Das Modell des zu Erkennenden ist das vorweggenommene Erkannte in der Bildgestalt, das heißt in der Form einer Aufforderung, das Vorgebildete, Intuierte, Bildgestaltige zu begreifen: in seiner Begriffs-Gestalt (als der philosophisch-cognitiv optimalen) zu bewähren. Das Adorno’sche (von Benjamin teils inspirierte, teils in Auseinandersetzung mit ihm als triftig-dialektisches erst entwickelte) Verfahren „konstellativen Denkens“ begriff sich unzweideutig als ein dem „Experimentieren“ analoges, nämlich „empirisch-kritisches Philosophieren“: als die Realisation der Idee des Deutens (des die Sachen „lesenden“ Begreifens), nach vorhergegangener wissenschaftlicher Erforschung der Sachen (in Realisation der genuinen Idee der Wissenschaft, die die von ihr „erbohrten“ und gesicherten Befunde beistellt).81 78 Zur „Bestimmung des dialektischen Bildes als ‚Konstellation‘“ siehe den Brief Benjamins an Gretel Adorno vom 16. August 1935, worin er jene „Bestimmung“, wie Adorno sie in seinem Brief an Benjamin vom 2. August 1935 im Zusammenhang mit beider Erörterung des dialektischen Bildes als Traumbild traf (siehe Benjamin, Briefe Bd. 2, l. c., S. 674, 675), mit Zustimmung (bis auf einen Differenzpunkt) aufnahm: „Unveräußerlich (scheinen) mir gleichwohl gewisse Elemente dieser Konstellation [...] nämlich die Traumgestalten. Das dialektische Bild malt“ ganz gewiss „den Traum nicht nach [...] wohl aber scheint es mir, die Instanzen“, die Einbruchsstelle des Erwachens zu enthalten, „ja aus diesen Stellen seine Figur wie ein Sternbild aus den leuchtenden Punkten erst herzustellen.“ (Briefe Bd. 2, l. c., S. 688) 79 „Aufzeichnungen und Entwürfe“ (siehe l. c., S. 245–310), „die Probleme kommender Arbeit umreißen“; siehe auch Adorno, Minima Moralia, l. c., S. 14: Alle Aufzeichnungen „wollen Einsatzstellen markieren oder Modelle abgeben für kommende Anstrengung des Begriffs“. 80 Siehe Adorno, Negative Dialektik, l. c., S. 8: „Der dritte Teil [des Werkes] führt Modelle negativer Dialektik aus.“ Sie „erörtern, nicht unähnlich der sogenannten exemplarischen Methode, Schlüsselbegriffe philosophischer Disziplinen, um in diese zentral einzugreifen“. (Siehe S. 207–398.) 81 Siehe Theodor W. Adorno: „Die Aktualität der Philosophie“, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 1: Philosophische Frühschriften, Frankfurt am Main 1973,
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IV Zum Begriff des dialektischen Bildes Die Idee nun des gedeuteten Erforschten (also der empirisch- und spekulativ-experimentell, anschaulich-begrifflich gewonnenen Erkenntnis), der emphatische Erfahrungserkenntnis-Begriff der Kritischen Theorie lässt deutlich die Dialektik des Bildbegriffs hervortreten und mit ihr die Dialektik des Bildes selber. Wie produktiv – in origineller Hervorbringung sowohl, wie auch in kritisch rezeptiver, reproduktiver Anwendung – Kritische Theorie in Aufnahme und Durchführung der Thematik einer „Dialektik des Bildes“ unter dem Aspekt „dialektischer Bilder“ sich erwies, sei zum Beschluss der Betrachtung in den wesentlichen Punkten erörtert. – Was sind dialektische Bilder? Nach welchen Kriterien sind sie es (zum Unterschied von nicht dialektischen: solchen, in deren Begriff die Komplexion, die Komplementarität und innere Widersprüchlichkeit der in ihnen Bild gewordenen Sachverhalte nicht zureichend gedacht und in den einzelnen S. 325–344; ders.: „Die Idee der Naturgeschichte“, l. c., S. 345–365; ders. „Thesen über die Sprache des Philosophen“, l. c., S. 366–371; siehe ders., Negative Dialektik, l. c., S. 161–166; 167–175; siehe auch Verf., „Denken in Konstellation – Konstellatives Denken“, in: Philosophen des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Margit Fleischer, Darmstadt 1992, S. 204–215. – Von Interesse ist, dass in der Auseinandersetzung über die „Theorie des dialektischen Bildes“ mit dessen Benjamin’scher Bestimmung „als eines Bewußtseinsinhaltes“ (wie Adorno geltend macht) „eine Simplifizierung“ eintrete, die „den Wahrheitsgehalt selber angreift“, Adorno angesichts solcher ‚Psychologisierung‘ und ‚Versinnlichung‘ des dialektischen Bildes, die Benjamin unterlaufe, auf dem intellektuellen Primat in der Korrelativität des bildlichen und des noetischen Elementes dialektischer Bilder insistiert, und an „die Ursprungsgewalt des Begriffs“ erinnert (wie sie doch dem Benjamin des Trauerspielbuchs und der frühen Passagenentwürfe als ungezweifelt „theologische“ galt, nun aber psychologistisch ignoriert werde). Er mahnt sie sozusagen bei dem an, der sie als konstitutiv bei der Vergegenwärtigung und Konstruktion geschichtlicher Bilder und Ideen doch gerade geltend gemacht hatte und justament jetzt, bei Vergegenwärtigung und Konstruktion dialektischer Bilder der hochkapitalistischen Moderne (mit ihren höllischen Gegenaspekten zu ihren phantasmagorischen eines neuen goldenen Zeitalters), sie vernachlässige, ja preisgebe (siehe Briefe 2, l. c., S. 272 f.). – Die „Ursprungsgewalt des Begriffs“ ist von Adorno verstanden als die konstitutive kritischen Denkens namentlich in dessen Erkenntnis stiftender Leistung als „Konstruktion“, und der Konstruktionsbegriff Kritischer Theorie (hier: der Theorie der dialektischen Bilder) ist – wie schon bei Schelling – in direkter Anlehnung an den Kantischen gebildet. „Dem ersten“, heißt es bei Kant, „der den gleichschenkligen Triangel demonstrierte [...,] ging ein Licht auf; denn er fand, daß er nicht dem, was er in der Figur sah, oder auch dem bloßen Begriffe derselben nachspüren [...] sondern durch das, was er nach Begriffen selbst [...] hineindachte und darstellte (durch Construction), hervorbringen müsse“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, l. c., S. 25); „Die Vernunft muss mit ihren Prinzipien [...] in einer Hand, und mit dem Experiment [...] in der anderen, an die Natur gehen [...] um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen lässt, [...] sondern eines [...] Richters“, eines Urteilenden nach Ideen (l. c., S. 26).
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Bild- und Begriffselementen des Bild-Compositum – als dessen dialektische Konstituentien und Momente – vergessen oder unterschlagen sind)? Dialektische Bilder sind, um es in axiomatisch vereinfachter Formulierung (der seinerzeit selbst erst noch „gesuchten“ und unter den Autoren der „Kritischen Theorie“ bis zuletzt umstritten gebliebenen Definition82 ) zu sagen: dialektische Bilder sind Perzeptionen, bildliche Vorstellungen besonderer Art: Ihre Quelle ist die – vornehmlich reproduktive – Einbildungskraft des – individuellen wie des kollektiven – Subjekts. Es sind dessen Erinnerungs- und Gedächtnisinhalte im Status ihrer Bewusstseinshomogenität oder -heterogenität. Sie entstammen entweder der Region des Bewusstseins des Ich oder seinem Unbewussten; sind die intersubjektiv ‚geteilten‘ bewussten und unbewussten Erinnerungen und Gedächtnisspuren, die in der Form zwingender Bilder im Subjekt aufsteigen – als Traumbilder, archaische (mythische) ‚Archetypen‘, die ihm gleichsam ‚widerfahren‘, jedenfalls eher ‚zufallen‘, denn als kontrollierte, Ich-affin gemachte, ‚zensurierte‘ die Bewusstseinsschwelle passieren. – Worauf es bei ihrer Vergegenwärtigung ankommt, ist: zu sehen, dass sie entweder ‚bewusstlose‘, das heißt unvergeistigte (‚dinghaft‘ materielle, naturgeschichtlich objektive und insofern dem Subjekt buchstäblich widerfahrende: ungerufen und provokant bei ihm sich einstellende) Imagines der mémoire involontaire (also ‚harten‘, dem Verfließen im Bewusstseinsstrom resistierende „données immédiates de la conscience“83 ) sein können – oder bewusste Imaginationen (das heißt zu Bewusstsein und Begriff gebrachte Imagines, die in ihrer Schmerzhaftigkeit, Chochaftigkeit realisiert oder apperzipiert und das heißt gegebenenfalls auch ‚stilisiert‘ wurden, nämlich verfälscht oder verklärt – erinnert nach 82
Über die Diskussion der Theorie des dialektischen Bildes, wie sie zwischen Horkheimer, Benjamin und Adorno im Zeitraum zwischen 1925 bis 1940 (Benjamins Todesjahr) unter wachsenden, von den zeitgeschichtlichen Umständen diktierten Bedingungen stattfand, orientieren vor allem die zwischen den Diskutanten geführten Korrespondenzen; siehe die Briefwechsel zwischen Benjamin, Horkheimer und Adorno; einen ausgezeichneten Überblick über die Stationen und den Verlauf der Auseinandersetzungen gibt namentlich der große Kommentar Rolf Tiedemanns zur Entstehungsgeschichte des Passagen-Werkes; siehe Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, l. c., Bd. V, Frankfurt am Main 1982, hrsg. von Rolf Tiedemann, insbesondere S. 1081–1205 (Zeugnisse zur Entstehungsgeschichte) und S. 9–41 (Einleitung des Herausgebers); siehe auch den Kommentar zu Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, in: Benjamin, Gesammelte Schriften I, l. c., S. 509–690. 83 Siehe Henri Bergson: Essay sur les données immédiates de la conscience, Paris 1889; s. auch ders., Matière et mémoire, Paris 1896.
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der Art der mémoire volontaire). Dialektische Bilder sind also einerseits „Tatsachen“ des Bewusstseins, „Gegebenheiten“ im Bewusstsein (seien es mit diesem Bewusstsein inkompatible, ‚unversöhnliche‘ „Fremdgegebenheiten“ ; seien es mit ihm zu ‚verflößende‘, ‚gleichartige‘, „immanente“ Gegebenheiten des Bewusstseins, und handle es sich bei den letzteren um das Bewusstsein des „psychologischen“, „psychologisch verstellten“ oder „verzauberten“84 , oder aber des kritischen, dialektischer Einsicht und konstruktiver Artikulation fähigen Subjekts). Auf dialektischer Konstruktion des Traums – oder der Erinnerung –: des authentischen objektiven „Geschichts-Bildes“ insistierte Adorno von vorneherein; so, wie Benjamin auf dem widerständigen, chochaft-verfremdenden Bild -Element in der als ‚Bewusstseinstatsache‘ gegebenen dialektischen Bild-Konstellation bestand; als auf einem Element, das von dieser Konstellation unablösbar sei. Hinsichtlich der methodischen Figur der „Konstellation“ von bildlichen und begrifflichen Elementen, denen bei der Konstruktion von authentischen dialektischen Bildern spezifisch Rechnung zu tragen sei, haben Adorno und Benjamin über einen vorläufigen definitiven Begriff des dialektischen Bildes sich verständigen können.85 Das kommt, sachlich durchschlagend, zum Ausdruck vor allem in den letzten überlieferten Aufzeichnungen Benjamins, den sogenannten „Geschichtsphilosophischen Thesen“86 , die Adorno und Horkheimer als dessen (sie theoretisch zutiefst verpflichtendes) Vermächtnis betrachteten,87 und die ein bedeutendes Stück weit jenen in wechselweiser Verständigung erarbeiteten (oder doch intendierten) gemeinsamen Begriff des dialektischen Bildes bekräftigten, demzufolge dieses jedenfalls ein zu konstruierendes sein muss, wenn es anders kein historisch unauthentisches, lediglich psychologisch-relevantes – rein halluzinatives, der objektiv-geschichtlichen und gesellschaftlichen Signatur ermangelndes oder sie bis zur Unkenntnlichkeit verdeckendes –: ein bloßer Bildfetisch bleiben soll. Dass Geschichtsbilder zu konstruierende sind, schließt nicht aus, ja erfordert es, dass sie wie Traumbilder dem Träumenden widerfahren, in 84
Siehe Benjamin, Briefe 2, l. c., S. 674 (Adorno an Benjamin, 2. August 1935). Siehe l. c., S. 688 (Benjamin an Gretel Adorno, 16. August 1935). 86 Siehe Walter Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Gesammelte Schriften, l. c., Bd. I.2, Frankfurt am Main 1974, S. 691–704. 87 Siehe l. c., Bd. I.3, S. 1223 f. 85
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ihn einfallen, und dass sie das ‚blitzartig‘ tun. Geschichtsbilder blitzen auf, beleuchten grell, ‚schlagartig‘ ein zeitliches Nu, das, ausgebreitet bis in die feinsten Verästelungen, als räumliches Tableau, als ‚Geschichtslandschaft‘ aufscheint – als das „verfremdete“ situative Feld, in dem die res des Subjekts (des individuellen wie des kollektiven) agitur: zu seinem Heil oder seinem Unheil, wie es im Licht, in der Farbe (der der Trauer über die Ruinen der Geschichte oder der prophetischen utopischer Verheißung) jener aufblitzenden Bilder vom konkreten geschichtlichen Subjekt bis in die innersten Zellen innerviert wird. Diese Innervation hat eine passiv-rezeptive und eine spontan-aktive Seite, die beide im historisch entscheidenden Augenblick des Innervierens zusammengehen: in der Empfänglichkeit für das widerfahrende aufblitzende Bild, und in seiner Verarbeitung, das heißt aber seiner Konstruktion durchs historisch betroffene, von der Objektivität angerührte, affizierte Subjekt, das – als historisch (nicht außer- oder überzeitlich) existentes; als an den historischen Verläufen (in die es je hineingezogen ist) zutiefst interessiertes – zu dieser Konstruktion des geschichtlichen Bildes prädisponiert ist. Diese Konstruktion ist nur der Ausdruck der spontanen Erfassung und Interpretation des geschichtlichen Bildes: des Lesens der in ihm vorgegebenen, vordenklichunvordenklich aufgezeichneten Schrift, die – gerade als bildliche – entziffert sein will, wenn das historische Subjekt an ihren Zügen und Linien, die zurück in die Zeit oder voraus in sie oder hinaus über sie weisen und deuten, Orientierung und in der Strömung der Zeit Stand finden und halten soll. Charakteristisches Zeichen der Authentizität historischer, dialektischer Bilder (Bilder, welche im Nu des Aufscheinens die Geschichte, die Zeit selber stillstellen: deren Dialektik im Stillstand 88 gleichwie zum insistenteren, eindringlicheren Studium und der Anschauung darbieten und präsentieren) ist das Aufblitzen in prekären historischen Lagen, in Situationen der Lebensgefahr fürs einzelne wie fürs kollektive Subjekt; ein Aufblitzen (das der Geistesgegenwart), in dessen Helle Licht zugleich auf die Chancen der Rettung aus der Gefahr und auf das Grauen rettungslosen Untergangs, des Versinkens im Grab des Vergessens, der Vergängnis 88 Siehe die Entwicklung dieses Begriffs in: Walter Benjamin, „Was ist das epische Theater? ‹1› Eine Studie zu Brecht“; in: ders., Gesammelte Schriften, l. c., Bd. II.2, Frankfurt am Main 1977 (S. 519–531), S. 530, 531; siehe auch ders., „Die Dialektik im Stillstande“, in: l. c., Band I.3, S. 1236.
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fällt. Das Authentische ist das Chochafte dieser Bilder, und Paradoxie ihre Signatur. Paradoxie: das dialektische Zugleichsein des Inkompatiblen bis zu dessen wechselseitiger Verdrängung und Negation; der Negation sozusagen in actu: als anschaulich-‚greifbarer‘ Figuration. Benjamin war Meister im Erfassen und der Bestimmung, der prägnanten Artikulation solcher Figuren der Paradoxie, der Bilder der Dialektik im Stillstand, die, genau betrachtet, alle „dialektischen Bilder“ sind: denn sofern solche je fixierte, ins sprachliche oder ins sensuelle Medium und Muster gebrachte: geformte (in ihrem temporalen, genetischen Bewegt- und Veränderlichsein erstarrte) gleichsam „gebannte“89 sind und so eben dem ‚Leben‘, dem Werden und seinen Modi des Vergehens und Entstehens entzogen, vermögen sie dies Leben nur noch in der Weise ‚symbolischer‘ Repräsentation zu vergegenwärtigen: in der quasi-ewigen Gegenwart des präsenten Bildes von der Zeit, der Historie, des Werdens und der Vergängnis. Doch nur in ihren präzisesten, den eindringlichsten Zügen, Zeichen und ‚Winken‘ vermögen es diese Bilder, deren statisch-linearer Charakter eben die Paradoxie einer Bild-Figuration bewirkt, welche in ihren statischen Zügen das Dynamische, das Genetische, das Temporale der historischenCharaktere ‚täuschend‘, aber an diesem falsum das verum indizierend, substituiert – im Sinne des manifestierenden ästhetischen oder theoretischen Scheins, den die ‚gestalteten‘ Bilder haben zum Unterschied von den ‚täuschenden‘, illusionären. Denn sie bewegen wirklich, sie rühren auf, „affizieren“ im buchstäblichen Sinn (in den großen Affekten von der Art der eroici furori Brunos oder der Klage über die Vergängnis alles Irdischen, der Totenklage, oder der großen Passionen, in denen das Leiden der Subjekte umschlägt in die leidenschaftlichen: die revolutionären Kräfte90 es abzuschaffen), während diese Bilder – analog dem Aristo89 Siehe etwa Benjamins schlagende ‚Definition‘ des Kunstwerks: „Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption.“ (Walter Benjamin: Einbahnstraße, in: ders., Gesammelte Schriften, l. c., Bd. IV.1, hrsg. von Tillmann Rexroth, Frankfurt am Main 1972 (S. 83–148), S. 107 („Die Technik des Schriftstellers in dreizehn Thesen“). 90 Benjamin sah im „Rausch“, einem der großen Affekte (einer Art hochentzündlicher, nachhaltiger Selbstaffektion) des kollektiven Subjekts, die Regung der Kräfte revolutionären Umbruchs und der Glückssteigerung – Affektbezeugungen wie die antiken kosmischen Rausch- und Mysterienbilder, aber auch die kollektiven – destruktiven – Glücksbilder des Futurismus und des Surrealismus, die Bilder der kriegerischen Passion, der im modernen technischen Krieg sich zeigenden pervertierten Berauschung – dem Krieg, in dessen „Vernichtungsnächten“ „ein Gefühl“ „den Gliederbau der Menschheit [...] erschütterte“, „das dem Glück der Epilektiker gleichsah“. Dessen Zuckungen in
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telischen kino¯un akíneton – in ungerührter Ruhe verharren: so wie das Bild an der Wand mit seinen bewegten, den Betrachter hineinreißenden Motiven, von dem Warburg sagte: „Da hängst Du nun und tust mir nichts“91 . Gerade darin ist das Paradoxe der dialektischen Bild-Figur demonstriert, das Widersinnige sinnfällig gemacht: der historische Augenblick als das stehende Nu, welches als nichts anderes sich erweist denn als der untrügliche Index des aeternum: der unendlich strömenden und verströmenden geschichtlichen Zeit selber: der Zeit als Sein, das ist aber der eigentlich vorgeschichtlich mythischen;92 der Anzeiger ihrer lastenden Immergleichheit, die das Novum blockiert und das „ganz Andere“ den Mauerwall ihres Horizontes nicht durchbrechen lässt; Novum und ‚Reich‘, konkret historisch: die ‚klassenlose Gesellschaft‘, die von keiner sich selber vollendenden Zeit und Geschichte, sondern – in äußerster Paradoxie – einzig von deren Abbruch zu erwarten stünde.93 Über solches Paradoxe und historische skándalon vermögen die recht gelesenen dialektischen Bilder zu belehren: die im rechten historischen Nu geistesgegenwärtig (in der vollen Präsenz und Empfänglichkeit des Geistes, des ‚subjektiven‘ wie ‚objektiven‘) „konstruierten“, respektive „dekonstruierten“. – Der legitime Deuter der geschichtlichen Bilder ist nach Benjamin der wahrhafte Geschichtsschreiber. Es ist der, welcher die Schrift der Geschichte (so wie der wahrhafte Naturforscher die Schrift der Natur) zu lesen, zu entziffern und zu buchstabieren und die in dieser Schrift ausgedrückte und vernehmlich gewordene Sprache zu dolmetschen vermag, will sagen: den Sinn oder das Unsinnige der Geschichte zum Bewusstsein und zum Begriff: zu eidie „des Rausches der Zeugung“ zurückzuverwandeln: darin erblickte Benjamin die welthistorische Aufgabe, die der proletarischen Revolution im Kampf um die Emanzipation der Menschheit zugefallen war; siehe Walter Benjamin: Einbahnstraße, l. c., S. 146–148 („Zum Planetarium“); siehe auch Benjamins Aufzeichnungen zum narkotischen Rausch und seinen Bildern, in: Walter Benjamin: „Protokolle zu Drogenversuchen“, in: ders., Gesammelte Schriften, l. c., Bd. VI, Frankfurt am Main 1985, S. 558–618, und Walter Benjamin: Über Haschisch. Novellistisches, Berichte, Materialien, hrsg. von Tillmann Rexroth, eingeleitet vom Verf., Frankfurt am Main 1972. 91 Cit. Ernst Hans Gombrich: „Aby Warburg zum Gedenken“, in: Aby M. Warburg, Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hrsg. von Dieter Wuttke, Baden-Baden 1992 (S. 465–477), S. 468. 92 Dazu siehe Theodor W. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, Frankfurt am Main 1962; vor allem die Abschnitte II (S. 46–86), III (S. 87–123) und VI (S. 195–219). 93 Siehe Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, l. c., S. 702 und 703 (Thesen XV, XVII), S. 1243 („Der Messias bricht die Geschichte ab; der Messias tritt nicht am Ende einer Entwicklung auf.“). Siehe auch ders.: „Theologisch-politisches Fragment“, in: ders., Gesammelte Schriften, l. c., Bd. II, Frankfurt am Main 1977, S. 203–204.
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nem (der konkreten Geschichte angemessenen) „Geschichtsbewusstsein“ in den Subjekten, die es angeht, überhaupt erst zu bringen; die Subjekte selber in den geschichtlichen Bildern und Texturen sich erkennen, beurteilen zu lassen als die, die sie in Wirklichkeit sind (die massenweise von dem „Weltgericht“, das die Geschichte sei, Abgeurteilten und mit ewiger Vergessenheit und Verdammnis Bestraften94 ), und die sie (in Gemäßheit mit der leidgeborenen Idee ihrer emanzipierten Menschheit) sein müssten und sein könnten: der Geschichte Ausgelieferte oder aber sie in ihren Verläufen Bestimmende und Mitbestimmende. Darüber vermag das authentische Geschichtsbild, die dialektische Geschichts-„Konstruktion“ des ‚wahren Historiographen‘ namentlich den Subjekten akuter Unterdrückung (sie sind – wie Benjamin sagt – die „legitimen Erben aller in der bisherigen Geschichte Unterdrückten“95 ) die Augen zu öffnen, ja sie dazu zu verhalten, in praktischer Analogie zum theoretisch-betrachtenden, insistent-kritisch anschauenden Habitus die im dialektischen GeschichtsBild gebundenen Potentiale der Empörung in die Kraft verändernder „Eingriffe“ – der gezielten, „scheinbar brutalen“ Zugriffe der helfenden, in der akuten Gefahr „rettenden“ Hand96 umzulenken. Das zwiefache (durchs ‚intentionslose‘ Widerfahren und durch die ‚Konstruktion in historisch-eschatologischer Endabsicht‘) Konstituiertsein der historischen Bilder teilen sie mit den archetypisch verstandenen dialektischen Bildern, wie sie im (individuellen und im kollektiven) Traum aufsteigen: emergieren aus der Nacht des Unbewussten oder dem Dämmer und Brüten des Halbbewussten (wie es für die Halluzinationen und ‚Tagträumereien‘, auch die surrealistischen rèveries97 namentlich des ‚Kollektiv-Ich‘ und seine es bedienenden „Brüte“- und Phantasmagoriestätten, voran das Kino, charakteristisch ist). Als bewusstlos (oder 94 Siehe Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Band 1: Die Vernunft in der Geschichte, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1980, S. 34 f., 48 f. u. 80. 95 Siehe Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, l. c., S. 700 (These XII), S. 1237 (Problem der Tradition II). 96 Siehe Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, l. c., S. 184 f.; siehe auch ders., Einbahnstraße, l. c., S. 89 („Alle entscheidenden Schläger werden mit der linken Hand geführt werden.“). Siehe ferner ders., Über den Begriff der Geschichte, Gesammelte Schriften I, l. c., S. 1232 (der rettende „Griff nach der Notbremse“, der „die Revolutionen“ vielleicht eher sind, als es der von den „Lokomotiven der Weltgeschichte“ gezogene Zug ist, in dem das „reisende Menschengeschlecht“ sitzt). 97 Siehe oben, Anm. 90.
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triebgesteuert) ‚zufallende‘, ‚eingegebene‘ müssen sie verschriftlicht, versprachlicht werden, sollen sie als sprechende (fatadike, weissagende, auf welche ‚offenbarende‘ Art immer redende) Bilder fungieren können. Die unauflösliche Verknüpftheit von Örtlichkeit und Bildlichkeit des Traums und des seelischen ‚Archetyps‘ – der ‚Bilderseelen‘, wie Klages, der „Blutleuchten“, wie Schuler sie glaubten, nennen zu dürfen98 – hat Freud (in charakteristischer, historisch-materialistischer Differenz zu seinem abtrünnigen, psycho-spiritualistisch orientierten Schüler Jung) in seiner „Traumdeutung“ wohl am eindringlichsten vor Augen gebracht: Der begriffene (gedeutete) Traum dankt sein Begriffensein (seine Bedeutung, den Traum-Sinn) der Wörtlichkeit oder Schriftlichkeit, in welcher die (plastische, prägnante) Bildlichkeit des Traums sprechend werden kann. Traumbilder sind, genau wie die geschichtlichen, dialektische: Bilder der Gebrochenheit, des paradox gefügten Ungefügen, das die historischen Konstellationen des Widerstreits, der Inkompatibilitäten selber ‚abbildet‘ – abbildet im Sinne des – reflektierten – Zurückspiegelns. Historisches Sein ist paradoxes: werdendes Sein: Nicht-mehr-, Noch-nicht-Sein, ist werdendes und gewordenes (nie ungewordenes, unvergängliches) Sein: ein durch Nichtsein gebrochenes Sein, Sein des Einstehens des Seins ins Nichtsein, des Nichtseins ins Sein: eine Figur der Verschränkung beider in der Präsenz, im je sich „kristallisierenden“ Nu des hic-et-nunc (das heißt der konkreten historischen Situation). In dieser Verschränkung indiziert sich klar und deutlich der limitative Charakter der ausschlaggebenden Momente (temporalen und spatialen Elemente) der geschichtlichen Zeit als „Jetztzeit“ 99 : als ‚höchster Aktualität des Vergangenseins‘, aber auch des ‚historischen Futurum‘: des Noch-nicht, das gerade in seiner Begrenzung durch das Nicht-mehr, durch die paradox ‚stehende‘ (tote, geronnene) Präsenz, die Jetztzeit entgrenzt und die stehende Zeit ‚in Gang bringt‘, lebendig macht und in jenes Futurum drängt und treibt, in dem die temporale, spatiale, die historische Limitation des Seins selber enden könnte: die Geschichte abbricht und die 98 Siehe oben, Anm. 71; zu den in der Spätzeit der dekadenten Moderne nach- oder abglänzenden antiken „Blutleuchten“ siehe Alfred Schuler: Fragmente und Vorträge, aus dem Nachlass hrsg. mit einer Einführung von Ludwig Klages, Berlin 1940; etwa den Vortrag „Vom Wesen der ewigen Stadt“. 99 Siehe Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, l. c., S. 695 (These V, VI), S. 701 (These XIV), S. 702 (These XVI), S. 1243.
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zeit- und seinsintegrale Seins-Zeit und das-erfüllte-Zeitsein, den kairós der messianischen (Benjamin), der Reichs-„Zeit“ (Bloch)100 absehbar macht. Die davor sich zeigenden real-historischen Figuren der Limitation weisen dem Leser, dem Deuter der authentischen Geschichtsbilder die Arten des Verschränktseins der konstellativen (temporalen und spatialen) Elemente der Figuration, der Formation und Prägung (die der „geprägten Formen, die lebend sich entwickeln“, oder aber ‚seelenlos‘ sich kristallisieren und in ‚montierten‘ Fügungen Tod und Entfremdung dieser Lebensformen bezeugen) und diese in ihrer ontologisch-historischen Distinktheit dar: führen das Verschränktsein beider Charaktere in der historischen und natürlich-physiologischen Sache selbst, der Sachen überhaupt als wesentlich naturgeschichtlicher vor Augen. Jene Elemente der figuratio und formatio (als der konstruktiven Agentien im Bild-Feld, Bild-Raum der Konstellationen) zeigen auf nichts anderes als die je spezifischen (und spezifizierenden) Grundformen, Grundmuster, nach welchen die dialektischen Bilder ihren ureigenen Bild-(Gestaltungs-) und Begriffs-(Erkenntnis-)Stoff: Geschichte und Natur (und deren Verschränkung in der Naturgeschichte) fassen, das heißt prägen und zum ‚Ausdruck‘ bringen. Es ist hier insbesondere des spatialen – auch zeiträumlichen – BildTypus des Ineinanderstehens zu gedenken, wie ihn die Autoren der Kritischen Theorie an den Kulturphänomenen der Maske und der Praefigurationen vergegenwärtigten. – Die Maskenfigur zeigt die Verschränkung von zweierlei Bildlichkeit: der der ‚Maskierung‘ (der Tätowierung, totemistischen Prägung, der Ornamentierung und anderer Leib-‚Inskriptionen‘) mit der des ‚Gesichts‘; des ‚Davor‘ und des ‚Dahinter‘ der Maske – stets so, dass das eine für das andere steht. Die Maske verdeckt zugleich und offenbart das Gesicht. So die „soziale Charaktermaske“ den gesellschaft100 Eschatologische Zeitspekulationen wie diese bilden einen gemeinsamen Kern im Denken Benjamins und Ernst Blochs, die 1919 in der Schweiz einander kennengelernt hatten. Bloch arbeitete seit dieser Zeit „an seinem Hauptwerk, einem System des theoretischen Messianismus“ (wie Benjamin seinem Freund Scholem berichtete; siehe Gershom Scholem: Walter Benjamin. Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt am Main 1976, S. 102); Bloch habe ihn, „als sie über ein zu bearbeitendes Gesamtsystem der Philosophie sprachen, als den ins Auge zu nehmenden Spezialisten für ‚Kategorienlehre‘ vorgesehen“. Zwar ist es zu einer solcherart intendierten Zusammenarbeit beider nie gekommen, was jedoch gelegentliches, zeitweise häufiges intensives Symphilosophieren keineswegs ausschloss (siehe l. c., passim). – Siehe die in diesem Zusammenhang charakteristische Aussage Benjamins: „Die Erlösung ist der Limes des Fortschritts“ (Gesammelte Schriften I.3, l. c., S. 1235).
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lichen Standort des Subjekts: sein historisch wahres Gesicht, mit dem das individuelle Substrat des gesellschaftlichen Subjekts: das ‚unverfälschte‘ Antlitz der Person verdeckt wird – der Person, von der aber gerade gesellschaftlich und kulturell gilt, dass sie durch die Charaktermaske definiert wird: durch die bloße Personanz nämlich: das Hindurchklingen, Hindurchscheinen, den Schein der Individualität also. In ungezählten geistreich-‚demaskierenden‘ Varianten findet sich der Formtypus der Masken-Bildlichkeit (in ihrem weitesten Sinne) charakterisiert und analysiert,101 so vor allem an den „Fetischcharakteren“, den (temporalen) Schwellen- und (spatialen) „Passagen“-Figuren. – Am „Warenfetisch“ hatte Horkheimer früh,102 in den seit der Mitte der zwanziger Jahre stets intensiver geführten gemeinsamen Auseinandersetzungen über das Problem der dialektischen Bilder und ihres kritischen Erkenntniswertes, die Grundfigur (in einem gewissen Sinn das ‚Urphänomen‘) des dialektischen Bildes erfasst und sie heuristisch-methodisch für die Analyse-Verfahren Kritischer Theorie (vor allem ihre ideologiekritischen Forschungen) geltend gemacht. Die Ware (im Sinne der klassischen Marx’schen Analysen des „Fetischcharakters der Ware“103) ist der interpretative Leittypus einer epochentypischen Erscheinungsform alles des in dieser Epoche in einem realen und substanziellen Sinne Daseienden – dinglichen, creatürlichen, ‚künstlichen‘ wie ‚natürlichen‘ Seienden; aller der res (ob der subjekthaft, ob der objekthaft konkreten) in ihrer allgemeinen und totalen Formiertheit als Dinge – der Dinge in ihrer epochenspezifischen Dinglichkeit, nämlich ihres funktionalen Geprägtseins als Tauschgegenständlichkeit; in ihrer Auffassung und Produktion, ihrer Konstruktion und Konsumation, ihrer gesamten Konzeption als austauschbarer, als brauchbarer und zu brauchender, werthaltiger und verwertbarer, im ökonomischen Kreislauf restlos sich erschöpfender – als „Posten“ also im ökonomisch-industriellen Universum der modernen kapitalistischen Welt; einer, die die Signatur der Verdinglichung des Dings, der res trägt. – Diese Signatur zeigt sich am 101 Siehe Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, l. c., S. 299: „Kunst, Sitte, sublime Liebe sind Masken der Natur, in denen sie verwandelt wiederkehrt und als ihr eigener Gegensatz zum Ausdruck wird. Durch ihre Masken gewinnt sie die Sprache; in ihrer Verzerrung erscheint ihr Wesen.“ 102 Siehe oben, Anm. 82. 103 Siehe Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, hrsg. von Friedrich Engels, Berlin 1955, Erster Band, S. 76–89 („Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“).
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signifikantesten am dinglichen Grundelement dieses Universums: an der Ware. – Sie ist geronnene Arbeit und gewinnt im Status ihres Produkt(Produziert-)Seins, also als Resultat abgeschlossener Arbeit eine Art gespenstischen Eigenlebens – eines dem Leben und Sein des produzierenden Subjekts, wie dem der Arbeits-Materie und des Arbeits-Mediums ganz und gar entfremdeten (verwandt dem Scheinleben, der ‚Pseudokonkretion‘104, wie sie die durch Abstraktion vom konkreten komplexen Ganzen gewonnenen geistigen Hypostasen aller Art auszeichnen). ‚Die Ware ist ein Fetisch-artig Seiendes‘, heißt nichts anderes, als dass an ihr, diesem objektiv materiellen Ding, „gegenständlichen Produkt der Arbeit“ ganz ungegenständliche Eigentümlichkeiten, quasi ‚metaphysische‘ Züge und Regungen sich beobachten lassen; Marx nannte sie ihre „theologischen Mucken“105 . Mit diesem ihrem „Fetischcharakter“ verdeckt, verschleiert, maskiert sie ihren genuinen Sach- und Ding-Charakter: den Arbeitswert des Warendings, seinen „Gebrauchswert“ durch seinen „Tauschwert“ – durch den Wert-, den Geldschleier, unter dem in der Welt der unheiligen harten Tatsachen die Ware ihre mystifikatorische Gespenster-Aktivität, eine trickreiche Magie faulen Zaubers vorführt und entwickelt – etwa in der Form einer „Einfühlung des Dings“ in seinen Benutzer,106 den Kunden (realgesellschaftliche Komplementärform des „geisteswissenschaftlichen“ Verstehens als einer „Einfühlung des Subjekts in das Objekt“). In diesem Sinn stellt das käufliche Subjekt, „die Ware Arbeitskraft“: das verwertba104 Siehe Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, l. c., etwa S. 44 f., 203 f. u. 228 f. – Zur Moderne als dem Status der Gesellschaft „im Stande der industriellen kapitalistischen Produktionsweise“ siehe die gemeinsame Verständigung Benjamins und Adornos über deren Totalitätscharakter (siehe Benjamin, Gesammelte Schriften Bd. V, l. c., S. 676). In ihm fassen die Züge der „Moderne“ und „Modernität“ sich zusammen: „die ‚Einheit‘ der Moderne“ liegt „im Warencharakter“ (Adorno an Benjamin, 02.08.1935; cit. l. c., S. 1131). – „Schlechter Grundbestand der Gesellschaft“ ist der Tausch. „In dessen universalem Vollzug [...] wird objektiv abstrahiert; wird abgesehen von der qualitativen Beschaffenheit der Produzierenden und Konsumierenden, vom Modus der Produktion, sogar vom Bedürfnis [...]. Noch die in Kundenschaft verkehrte Menschheit [...] ist über alle naive Vorstellung hinaus gesellschaftlich präformiert [...]. Die Abstraktheit des Tauschwerts ist a priori mit der Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere, der Gesellschaft über ihre Zwangsmitglieder verbündet [...]. Durch die Reduktion der Menschen auf Agenten und Träger des Warentauschs hindurch realisiert sich die Herrschaft von Menschen über Menschen.“ (Adorno et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, l. c., S. 21). 105 Marx, Das Kapital, l. c., S. 76 (Sobald der Tisch, „ein ordinäres sinnliches Ding“, „als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich-übersinnliches Ding [...] und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen [...]“). 106 Siehe Benjamin, Gesammelte Schriften Bd. V, l. c., S. 435 f., 439, 475 u. 488.
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re, ausbeutbare Menschending etwas wie das soziale Urbild des Menschen – des vergesellschafteten – in der „verwalteten Welt“107. – An deren Vorstadium, dem „Zeitalter des Hochkapitalismus“108, hat Benjamin die ikonischen Zeichen der anderen kulturprägenden Maskenformation studiert, deren charakteristischste Gestalt er im Phänomen der „Passage“ aufzufinden überzeugt war. Dessen Physiognomik hat er sein – Fragment gebliebenes – magnum opus gewidmet; die Konzeption dieses Werkes, seinen Grundriss hat Rolf Tiedemann, in minutiöser Rekonstruktion seiner intendierten Gestalt, am hinterlassenen Torso sichtbar gemacht.109 Die „Passage“ ist als dialektisches Grundbild (Gebilde) begriffen, und das ihr gewidmete Werk sollte die vielfach variable und verschlungene, selber ‚passagère‘ (dem Form- und Figurentypus samt seiner gebrochenen Lineatur affinste) Darstellung des Phänomens sein – eines das 19. Jahrhundert (Zeitalter des Fortschritts) im bildlichen Selbstausdruck als durch und durch dialektisch sich auslegenden Phänomens. Es zeigt sich als Figur des Ineinander-Einstehens, der wechselweisen Repräsentation zweier Repräsentanten durch einander – vorab des Einstehens des Interioren im Exterioren; das Hineinreichen, das Vordringen des Öffentlichen ins Private – eine hochtypische Art des mouvement social in der klassischen Epoche der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Dialektik der Politisierung und Entpolitisierung. Architektonisch ist die Passage – als überdachte Straße – ineins Haus und Zimmer, wie auch Straße und Haus. Dieses Ineinander charakterisiert die öffentlich-private Daseinsweise von Subjekten (und Objekten), Menschen und Dingen im Zeitalter rapid sich entwickelnder Industrie. Es ist die einer öffentlichpolitisch limitierten Privatheit, Eigenheit und einer durch Eigenheit, Eigentümlichkeit und Eigensinn limitierten „begrenzten“ (bornierten) Öffentlichkeit. Eine weitere Grundform dialektischer Bildlichkeit ist die der Verschränkung temporaler Charaktere nach dem Muster der Präfiguration, 107 Stehender, die moderne kapitalistische Gesellschaft grundcharakterisierender Terminus in der späteren Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos; siehe deren sozialphilosophische Hauptschriften, passim. 108 Siehe oben, Anm. 82 (am Ende). 109 Siehe Rolf Tiedemann: „Einleitung des Herausgebers“, in: Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften Bd. V, l. c., S. 9–41.
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einem Muster der Konstellierung in sich dialektischer Bild- und Sinnelemente, das die Hauptkriterien historischer Bildlichkeit sensu stricto aufweist. Präfigurationsmuster zeigen sich in ‚Spurenbildern‘, in Bildern, figuriert aus Verweisungszeichen, dergestalt, dass die Spurenkonstellation, das Komposit aus deiktischen und indexikalischen Zeichen, eine Art „Voraus“-Bild des eigentlichen Sinn-Bildes stellt, Figur des bedeuteten Bild-Sinns; eine Antizipation dessen, worauf die Spuren, die (noch so vagen) Zeichen deuten. So deuten nach Benjamin etwa die Erinnerungsbilder der Kindheit vor auf die realen Erfahrungen und Erfahrungsgehalte des dem Erwachsenen vorbehaltenen geschichtlichen Lebens; sie ‚deuten vor‘ nach Art des in der hermeneutischen Struktur ähnlichen ‚voraussagenden Deutens‘ von Sternkonstellationen, wie die alten Horoskopisten antizipativ sie lasen: mit dem konzentrierten Blick auf die mutmaßliche innere Verknüpfung von Sternbild und in diesem potentiâ präfigurierten Lebensschicksal: der im Lebensverlauf dessen, dem das Horoskop die Nativität ‚stellt‘, aktuierten Sternbild-Bedeutung.110 Was die auf externen und weitgespannten ‚corréspondances‘ beruhenden inneren analogischen Verknüpfungen von solchen ‚Korrespondenten‘ wie der in Präfigurationen höchst aufschlussreich relierten – in Präfigurationen von der Art der ‚Erinnerungsbilder‘ der Kindheit – betrifft, so hat Benjamin deren temporale (Schachtelungs-, Schichtungs- und Schwellen-)Struktur in dem in mehreren Versionen überlieferten Werk mit dem Titel „Berliner Kindheit um 1900“111 in überaus subtiler Bild-Physiognomik entfaltet – einer physiognomischen Kunst, die bei ihm einhergeht mit einer minutiös arbeitenden Bild-Prägekraft, die in der sprachlichen Darstellung 110 Zur konjekturalen Deute-Struktur der in der – astronomisch-kosmologischen und der astrologisch-dämonologischen – Gestalt (das heißt getrennten oder Misch-Gestalt) historisch aufgetretenen Sterndeutung und deren ‚analogischen Erkenntnisleistungen‘ innerhalb des Erklärungshorizontes prärationaler (mythischer, magisch-animistischer) Interpretationsverfahren siehe die klassische Abhandlung Franz Bolls: Sternglaube und Sterndeutung. Die Geschichte und das Wesen der Astrologie (Unter Mitwirkung von Carl Bezold dargestellt), Leipzig, Berlin 1918. Warburg nannte sie „meisterhaft“. Auch Benjamin – in seinen metaphysisch-geschichtsphilosophischen Studien zu den frühen, bis in die Neuzeit fortwirkenden und signifikant sich bezeugenden astralmythischen Divinations- und Erkenntnisweisen – orientierte sich an ihr. Er spürte diesen in bedeutenden Abhandlungen selber nach, so vor allem denen „Über das mimetische Vermögen“ und „Lehre vom Ähnlichen“; siehe Gesammelte Schriften II.1, l. c., S. 210–213 und S. 204–210. 111 Siehe Walter Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, in: ders., Gesammelte Schriften II.1, S. 235–304; siehe dass., „Fassung letzter Hand“, in: ders., Gesammelte Schriften, l. c., Bd. VII, S. 385–432.
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der intuierten Ort- und Zeitphysiognomien die Antlitze und Anblicke zu vergegenwärtigen vermag, in denen Geschichte (locus und tempus) der kindlichen Erfahrung sich zukehrte.112 Benjamin hat in diesen Bildern der ‚Berliner Kindheit‘, in denen eine unwiderbringliche Zeit als definitiv verlorene fassbar wird, die historischreale Verlorenheit des in den temps perdu später eingedenkenden Emigranten selber abgelesen. Die ‚horoskopischen‘ Bilder unwiederbringlicher Kindheit präfigurieren die tatsächliche Katastrophe des Untergangs des melancholisch Eingedenkenden in der Katastrophenzeit des 20. Jahrhunderts mit seinen horriblen Verfolgungs- und Vernichtungsschicksalen (solchen Schicksalen freilich, von denen der Freund Benjamins, Brecht, selber gehetzter Emigrant, sagte, dass sie und die, die sie verhängen, „Namen, Anschrift und Gesicht“ haben, also haftbar zu machen sind113). Wie solche exempla docent, fungieren Geschichtsbilder gleichwie sicher eintreffende Weissagungen, gewähren Erkenntnisgewinn, der gezogen ist aus (geschichts-)kundig und 112 „[Ich] rief die Bilder, die im Exil das Heimweh am stärksten zu wecken pflegen – die der Kindheit – mit Absicht in mir hervor.“ Dabei „suchte [ich das Gefühl der Sehnsucht] durch die Einsicht, nicht in die zufällige biographische sondern in die notwendige gesellschaftliche Unwiederbringlichkeit des Vergangenen in Schranken zu halten.“ „[Ich habe] mich bemüht, der Bilder habhaft zu werden, in denen die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt.“ Sie sind „vielleicht befähigt, in ihrem Innern spätere geschichtliche Erfahrung zu präformieren“. (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften Bd. VII, l.c., S. 385 [Vorwort]). In seinem Brief vom 16. August 1935 an Gretel Adorno will er diesen Bildtypus des Erinnerungsbildes streng unterschieden wissen von dem des ‚objektiven, dialektischen‘ Geschichtsbildes. „Formen, wie die ‚Berliner Kindheit‘ sie mir darbietet, darf [das Passagen-Werk] an keiner einzigen Stelle [...] in Anspruch nehmen [...]. Die Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, die im Blick des auf seiner Schwelle spielenden Kindes sich spiegelt, hat darin ein ganz anderes Gesicht, als in den Zeichen, welche sie auf der Karte der Geschichte eingraben.“ (Benjamin, Briefe 2, l. c., S. 688) Und doch haben die physiognomischen Reflexe des Kindheitsbildes etwas von diesen strengen Geschichtszeichen: weil sie präfigurativ auf die Katastrophengeschichte des alten und des neuen Jahrhunderts unwidersprechlich deuten. So bestand denn Adorno – als anonymer Herausgeber der ersten Buchausgabe der Berliner Kindheit um neunzehnhundert (Frankfurt am Main 1950) im Nachwort – „zu Recht darauf, daß über den Benjaminschen Erinnerungsbildern bereits ‚der Schatten des Hitlerschen Reichs‘ liegt: ‚Die Luft um die Schauplätze, welche in Benjamins Darstellung zu erwachen sich anschicken, ist tödlich. Auf sie fällt der Blick des Verurteilten, und als verurteilte gewahrt er sie.‘“ (Rolf Tiedemann: „Nachwort“, in: Walter Benjamin, Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Gießener Fassung, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 2000 [S. 113–126], S. 126.) 113 Siehe Bertolt Brecht: Kriegsfibel, hrsg. von Ruth Berlau, Berlin 1955, S. 23. In ihrem Vorwort schreibt Ruth Berlau: „Dieses Buch will die Kunst lehren, Bilder zu lesen. Denn es ist dem Nichtgeschulten ebenso schwer, ein Bild zu lesen wie irgendwelche Hieroglyphen. Die grobe Unwissenheit über gesellschaftliche Zusammenhänge, die der Kapitalismus sorgsam und brutal aufrechterhält, macht die Tausende von Fotos in den Illustrierten zu wahren Hieroglyphentafeln, unentzifferbar dem nichtsahnenden Leser“ (S. 1).
Dialektischer Bildbegriff und ‚dialektisches Bild‘ in der Kritischen Theorie
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spekulativ-divinatorisch gelesenen Bildern, konstellativen Figurationen. Das deutende Lesen dieser Bilder zeigt sich als eine gewichtige Art des Denkens selber: Es ist Eingedenken; grüblerisch ins Bild versunkenes Lesen – ins Bild, das sich so in seinem eigentlichen geistigen Wesen als „Meditationsbild“ erweist. Ein solches dezidiertes Bild – der ‚Angelus novus‘ von Klee – diente Benjamin als Muster, als Vorbild für seine „Denkbilder“, seine dialektischen Bilder, seine „Allegorien“; hier: für seine Allegorie des ‚Engels der Geschichte‘114 – das vielleicht schlagendste Geschichtsbild, das das Benjamin’sche Bilddenken beschäftigte und inspirierte. Es lässt die bisherige Geschichte als Vor-Geschichte lesen und verstehen115 – als Leidens- und Katastrophengeschichte – und gerade an dem Katastrophencharakter des fort- und fortschreitenden historischen Geschehens (den Trümmer- und Ruinenbergen, die es aufhäuft) lässt es – negativ und „spiegelschriftlich verkehrt“116 – die Konturen einer besseren – der messianisch integren Welt – ermessen. Sie absehbar zu machen (absehbar im Sinne realer wie intellektualer: imaginärer und utopischer Visualität) – also: begründet hoffen und erwarten zu können – dies definiert die cognitive und intellektive Leistung des Bilddenkens Kritischer Theorie, durch welche diese von den Erkenntnisleistungen pragmatistischen und kommunikationstheoretischen Symboldenkens sich deutlich und der philosophisch-theoretischen Substanz nach signifikant unterscheidet.
114 Dazu siehe Gershom Scholem: Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleine Beiträge, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1983, S. 44–72, insbesondere S. 45–47. 115 Die allegorische – sprachliche – Gestalt, in die Benjamin das Bild des Engels – durch seine Exegese – brachte, findet sich in der These IX des Textes „Über den Begriff der Geschichte“; siehe Gesammelte Schriften Bd. I.2, l. c., S. 697 f. 116 Wie Adorno das Benjamin’sche allegorische Geschichtsbild weiterlesend dachte, bezeugt der letzte Aphorismus der „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“, siehe „Zum Ende“, Minima Moralia, l. c., S. 480 f.; siehe auch oben, Anm. 51.
Bilder und Gebilde Objektinterpretation in der abbildenden und gestaltenden Kunst
Thema der folgenden Ausführungen sind Interpretation und Verständnis von Werken der bildenden Kunst in dem charakteristischen Doppelsinn von Bildern und von Gebilden – von Objekten, von denen die, die Bilder heißen, mehr das rezeptive abbildende Moment – und die, die Gebilde heißen, mehr das aktive spontane, das bildende gestalterische Moment aufweisen. Die einen sind Figuren, die sich bilden, die anderen Figuren, die wir bilden – entweder, etwa, wie ein Schattenriss, eine Silhouette, auf der Wand oder dem Boden sich bilden, wenn ein Körper beleuchtet wird und auf der andern Seite als schwarzer Umriss sich zeigt, oder: wir sind es, die einen Umriss, eine Figur zeichnen – entweder einen Schattenriss nachbilden, oder einen Umriss frei aus dem Kopf zeichnen; nach geometrischen mathematischen Vorstellungen, ‚Ideen‘ oder ‚rein aus der Phantasie‘: dann erfinden wir die Gestalt, zeichnen oder malen sie aus der Erinnerung an eine wirkliche, oder aber aus der Imagination, in freier eigener Gestaltung. ‚Bilder‘ und ‚Gebilde‘: wir sehen auf den zweiten Blick, dass das nur auf den ersten zwei scharf unterschiedene Klassen von Figuren sind. Tatsächlich sind die scheinbar bloßen Abbilder (oder Nachbilder) auch gestaltete Gebilde (nämlich von optischen Strahlen, von physischen oder chemischen Kräften – Kraftlinien – gebildete Figuren); ebenso wie die scheinbar bloßen Gebilde, die von uns gemachten Figuren auch immer etwas abbilden, nachmachen (etwa geometrische Idealfiguren oder Strukturen, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_16
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oder erinnerte Figuren) – denn unsere Imagination, Phantasie, Einbildung ist nie figurenlos, strukturlos, formlos und bildet stets alle Arten von ‚Mustern‘: ähnlich wie beim Drehen das Kaleidoskop. Das sind also ‚künstliche‘ und ‚natürliche‘ Figuren – ‚Nach-Bilder‘ und ‚Vorbilder‘ – Bilder und Gebilde des inneren Auges und solche der körperlichen Augen – ‚mentale‘ und ‚physiologische‘ Bilder; – und zwar entweder unmittelbare, in den Sinnen und in der Phantasie direkt entstehende oder ‚fingierte‘ Bilder – oder solche in „zweiter Potenz“: d. h. in Dinggestalt gebrachte geistige und sinnliche Bilder; zu Bild-Objekten geformte, die uns dann wie andere Dinge, Objekte gegenüber stehen (oder „hängen“: Wandbilder, Tafelbilder, Projektionen); oder „zu Füßen liegen“: Mosaiken, ganze strukturierte, umgrenzte Felder – Orientierungsbilder, ganze Welt- oder Umweltbilder, Horizont- oder Umfangsbilder (Panoramen), in denen wir uns zielgerichtet bewegen (so wie die Kinder im ‚Hickelkreis‘). – Diese Bilder in zweiter Potenz – die eigentlichen Bildwerke – das sind unsere ‚Interpretationsobjekte‘. Eines zeigt sich sogleich ganz deutlich: dass wir die Interpretation, das Verständnis, die angemessene Betrachtung verfehlen, wenn wir uns jenes ‚doppelten Objekt-Charakters‘ der zu interpretierenden Bilder nicht bewusst sind: nämlich dass Bilder entweder sinnliche oder mentale sind, und dass sie entweder mimetisch-reflexhaft-reproduktive oder konzeptivspontan-produktive gegenständliche Erzeugnisse sind – Erzeugnisse in Form von Organleistungen und -funktionen und in Form von ‚dargestellten‘, objektivierten Organleistungen und -funktionen: gegenständliche Werke der Visualität und der Imagination, zu der auch das ‚Denken‘ und die ‚Cognition‘ gehört (Video, ergo cogito – ergo sum. Cogito, ergo video – ergo sum [= ergo est res cogitans]).1 Wir haben hier in Lüneburg das Glück, einen Kunstwissenschaftler zu haben, der den organischphysiologischen Aspekt der Visualität und der Imagination und ihre technische – organtechnische und apparative – Darstellbarkeit zu einem seiner Hauptforschungsgegenstände gemacht und in der Erforschung der Kunst- und der ‚Natur‘-(Organ-)bildlichkeit hervorragende Resultate
1
Siehe René Descartes: Principia Philosophiae, I. a [Die Prinzipien der Philosophie, übers. Von Artur Buchenau, Hamburg 1967, S. 2 f.].
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vorgelegt hat: Karl Clausberg.2 Er wird Ihnen in der zweiten Hälfte des Abends davon berichten. Dass die Betrachter und Interpreten von Bildern und Gebilden der Kunst nicht immer dieses ihres Objekt-Charakters voll bewusst sind (und dieses Bewusstsein gilt es sehr gründlich zu schulen), zeigen uns charakteristische Interpretations- und Rezeptionslagen in der Kultur der Moderne. Eigentümlich an solchen Rezeptionslagen ist – oder war – das Polare in der Auffassung der Bilder – eine Folge des nicht konsequent vergegenwärtigten ‚doppelten Objektcharakters‘ von Bildern, Kunstbildern. Ich meine einerseits den schon von Friedrich Theodor Vischer ironisierten Stil der Kunstbetrachtung, deren typischen Vertreter er „Deutobald Allegoriowitsch Mystifizinsky“ nannte3 ; und die mitnichten außer Kurs ist, sondern mit der Durchsetzung der sogenannten Abstrakten (auch Konstruktivistischen, Kubistischen, Suprematistischen) Moderne in diesem Jahrhundert eher noch angewachsen ist. Dieser irregeleitete Symbolismus soll die im Publikum verstärkt sich regende Frage beantworten helfen: ‚Was soll das eigentlich bedeuten‘ (vorgebracht etwa vor einem Bild von Kandinsky oder Tatlin oder Malewitsch oder Yves Klein). (‚Dieses Bild bedeutet das und das, deutet auf dies oder das hin‘ – die ‚Schwärze des Nichts‘, ‚des Abgrunds‘, ‚des Todes‘ etc.). Solcher Symbolmanie (sie bedient das Bedürfnis nach Religions-, Sinn-Ersatz, den die Kunst liefern soll, nachdem Religion und Metaphysik verabschiedet sind) haben die Künstler selber längst die Absage erteilt: so Arnold Schönberg, der expressionistische „Musiker-Maler“: ‚Ob das ein Baum sein soll da auf dem Bild? – ein für allemal: „Ich male keinen Baum, sondern ein Bild“‘. D. h. die ‚Bedeutung‘, ‚das Was des Gemalten‘ ist das Bild; liegt im Bild, – im Bildgefüge selber – darin, dass dieses ‚Was‘ ein Gebildetes, ein Gemaltes, ein Gefügtes: Komponiertes, Struiertes ist. Es kommt aufs Fügen 2
Siehe Karl Clausberg: Neuronale Kunstgeschichte, Wien/New York 1999. Diese satirische Benennung gab Friedrich Theodor Vischer – zur Geißelung des allegorisierenden Symbol-Abusus – dem fiktiven Autor seines Faust. Der Tragödie dritter Teil (Meersburg, bei F. W. Hendel, 1936. Neudruck der Ausgabe letzter Hand von 1886). Der „treu im Geiste des zweiten Teils des Goetheschen Faust [...] von Deutobald Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky“ gedichtete dritte Teil steht unter dem Motto: „Und, allegorisch wie die Lumpen sind, / Sie werden nur um desto mehr behagen.“ (Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, Vierter Akt, Hochgebirg, in: ders., Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. von Ernst Beutler, Zürich 1949, Band 5, S. 469: „Und allegorisch, wie die Lumpe sind, / Sie werden nur um desto mehr behagen.“) 3
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an, die Fügung, die Fuge, nicht auf ein „Abmalen“ des Baums. – Klee – ein anderer Meister der Moderne – sagte: „Ich male nicht das Sichtbare [das macht die Photo-, die Film-Kamera besser], sondern ich mache durch Malen sichtbar.“4 Das nämlich, was man sonst und ohne eine solche Anstrengung des Künstlers niemals sieht oder zu sehen bekommt. Kunst ist Sehenlassen und Sehenmachen des Ungesehenen. – In einer bei Karl Clausberg durchgeführten Untersuchung ist das, worauf es hier bei der Bildinterpretation ankommt, treffend so ausgedrückt: „Die Künstler [wenn sie welche sind] malen nie nur das Gesehene, sondern immer auch das Sehen“ – d. h. die hochreflektierte, ingeniöse, originäre Sehart, die mehr aussagt über das Gesehene als das ‚normal‘ Gesehene selber; oder die vielmehr das Gesehene erst aufschließt. Was wir sehen hängt von den Konventionen, den Arten, auch der Mechanik ab, wie wir sehen; wie man sieht in den einzelnen Epochen und Abschnitten der Bewusstseinsentwicklung und der Kulturgeschichte der Menschheit. (‚Erst seitdem Renoir die Pariserin gemalt hat, wissen wir was die Pariserin ist‘, sagte Marcel Proust). In der byzantinischen Tradition wird Christus als ein strahlender Sieger und Weltenherrscher gemalt: ein Osterblick auf die Welt; in der römischen Tradition als Crucifixus, als elend zu Tode gemarterter Verbrecher: der Karfreitagsblick auf die Erde, das Jammertal, das Opfer braucht. – Man sieht, wie dem Einfluss der „Allegoriowitsch Mystifizinskys“ auf das kunstfremde Verstehen von Kunst begegnet werden kann. Polar entgegengesetzt ist die – freilich oft nicht minder kunstfremde – Interpretationsrichtung der Semiotiker und Informatiker. Sie setzt dem Kunstwerk als Symbol das Kunstwerk als nacktes kahles Zeichen entgegen. Wird die tatsächliche Symbolstruktur des Werks von den Mystifizinskys schwelgerisch und mit viel Geheimniskrämerei und Ursprungs-Geraune, oder schlicht: durch blühenden Wahn entstellt; dann die semiotische und informatorische Feld- und Kontextstruktur zum kahlen „deutungslosen“ ‚Point Zéro‘-Umfeld; einer Kahlschlagfläche, voller Bombenkrater und zerbröselter Zeichenelemente, Phonem-, Lexem-, Colorem-Brocken, aus deren Chaos eine beliebige neue ‚Ordnung‘ gemacht: herbeimanipuliert werden soll; welche, ist zufällig, der operationalistischen Willkür 4
Siehe Carola Giedion-Welcker: Paul Klee in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1969, S. 64.
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und Freiheit überlassen. ‚Kunstwerke sind das Ergebnis des Herumwürfelns mit dem ‚ABC‘: den Punkten, Linien, Flächen und Farben‘; wie die Aleatoriker es formuliert haben. Diese operationalistische Kunstinterpretation (und -produktion) betrügt über den eigentlichen Kontextcharakter, das Formationsniveau, die Korrelations-‚ die ‚Feld-Dichte‘ des Werk-Gefüges – und damit über den hermeneutisch entscheidenden Punkt: dass im Kunstwerk der Inhalt eine Funktion der Formbestimmung, die Form eine Funktion des eigentlichen Gehalts ist. Nicht jeder Stoff ist kunstfähig, und Formen sind nicht etwas, das wie Schablonen für die Kunstproduktion fix und fertig bereitsteht (wo und wenn sie das tun, haben wir nicht eigentlich Kunstproduktion, sondern -reproduktion nach vorgegebenen Mustern); der Kunstcharakter der Reproduktionskunst aber erfordert spezifische, weitergehende Untersuchung und Abklärung;5 oder wir treffen auf das, was Warburg ‚Ausdrucksvolapük‘ nannte: wohlfeile Münze, an der die ursprüngliche Ausdrucks- und Affekt-Prägung abgegriffen ist – etwa an den barocken Pathos-Gesten solcher ModeMalerei von Mord- und Greuelszenen wie der Antonio Tempestas.6 Ein weiteres Desiderat entspringt aus diesen Überlegungen: möglichste Klarheit darüber zu gewinnen, was mit Bildern und Gebilden der Kunst bezweckt, wie es um die Mittel, die Medien, die Instrumente bestellt ist, durch welche der Kunstzweck erreicht werden soll. Der ernsthafte Betrachter der Werke muss etwas darüber wissen, warum und zu welchem Ende Menschen mit der Hervorbringung von Kunstwerken überhaupt sich abmühen. Zu denken ist zuvörderst an eine charakteristisch andere Ausgangslage in der Rezeption und Interpretation (auch der Produktion und der Hervorbringungsart) von Kunst: die für die Neuzeit typische, auf einem beträchtlich eingeschränkten, in seiner Bedeutung verengten und ‚halbierten‘ Begriff und Sinn von ‚Kunst‘ und ‚Ästhetik‘ beruhende Einstellung zu ihr.
5
Siehe Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: ders., Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I–VII, Frankfurt am Main 1972–1989, Bd. VII.1, Frankfurt am Main 1989, S. 350–384. 6 Siehe Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Hamburg 1992, S. 340.
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‚Kunst‘ hieß einmal sehr viel mehr als: ‚schöne Kunst‘, und Ästhetik war nicht eingeschränkt auf Wahrnehmung und Lehre des Schönen und des ‚Ästhetischen‘ als dessen Hauptattribut. Künste waren mitnichten nur die ‚beaux arts‘, als Künste figurierten und galten solche wie die ‚Baukunst‘, die ‚Heilkunst‘, die ‚Rechenkunst‘, die ‚Kriegskunst‘, die ‚mechanischen Künste‘ allerart. Ihre Produkte waren gewürdigt und geschätzt als ergötzliche, unterhaltsame Kunstspiele, Kunststücke, Spielwerke und Divertissements (in diesem Sinne sprechen wir noch heute von Garten-, Parkanlagen, von architektonischen Ensembles, von kulinarischen Gerichten als von ‚Kunstwerken‘: Wasserkünsten, Zauberkünsten u. a.). Gemeint ist dabei das Geschmackvolle, das Sinnige, das Überraschende, Erfinderische, Zauberhafte der jeweiligen Produktion – das SpielerischGeschickte, handwerklich-technisch Beherrschte daran; gemeint zuletzt das freie, einfallsreich Hervorgebrachte, kunstreich Verfertigte und Hergestellte im Unterschied zum bloß Gewachsenen, zum ‚rohen‘, unverfeinert Natürlichen. Dabei haben wir aber durchaus den Hintergedanken: vermöchten wir etwas von diesem Natürlichen, Gewachsenen auf die Art hervorzubringen, wie die Natur kraft ihres Wachstums, ihrer unerschöpflichen Gestaltenbildung und ihres Formenreichtums es vermag, nähmen wir keinen Anstand es Kunst 7 zu nennen, mit schöpferischer Produktivität, geistiger Erfindung: kurz mit Kultur-Produktion es zu vergleichen, ja an solcher in ihrem hohen Kunstwert es zu messen. Ja, wir werden schließlich, was wir als der ‚Kunst‘ entgegengesetzt – ruda natura – ansahen, plötzlich erkennen als etwas der ‚Natur‘ – mehr oder weniger gut – Nachgemachtes. So finden wir uns schließlich an dem Punkt angelangt, auf dem große Künstler längst schon standen, als sie dessen innegeworden waren, was Kunst in Wahrheit – in ihrem Verhältnis zur Natur – sei. „Wenn wir“, so hatte Dürer es ausgedrückt, „der Natur ihre Kunst entreißen können und zu unsern Werken gebrauchen und anwenden, dann wird unsere Kunst ohne Fehl sein, gute Kunst, wahre Kunst“8 . Ähnlich 7 Siehe etwa das Bildwerk des Naturforschers Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur, München, New York 1998 (Neudruck der Ausgabe Leipzig, Wien 1904) oder des Photographen Karl Blossfeldts über die in der Flora vorweggenommenen ornamentalen und architektonischen Stilformen (Urformen der Kunst, Berlin 1928). 8 Siehe Albrecht Dürer: „Ästhetischer Excurs“, in: Albrecht Dürers schriftlicher Nachlass, hrsg. von Ernst Heidrich, Berlin 1908, S. 277; siehe auch Erwin Panofsky: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers, München 1977, S. 325.
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hatte Leonardo sich geäußert. Der Bild-Künstler ist eine Art Nachschöpfer der natürlichen Werke des Schöpfers selber – ein alter Deus. Was er hervorbringt, fabriziert, herstellt, ist eine der göttlichen analoge ‚Kreation‘. Kunst, Kultur: das ist die Schöpfung des Menschen, und – wie philosophische Anthropologie später bündig es ausdrückte: Kultur ist die Natur des Menschen.9 Deutlich ist hier nun eine wesentliche Beziehung von Kunst und Kultur zur Religion und zur Mythologie sichtbar geworden. Sie wird noch offenkundiger, wenn wir – neben den eigentlich künstlerischen Creationen – an die Kultur in der Form der Kulte denken. Denn an diesen Kulten wird greifbar, was ein Hauptzweck der Kunst und der Künste von sehr früh an in der Geschichte gewesen ist: nämlich Formen, Gegenstände, Bilder, Handlungen des Kultes und der Riten zu erfinden und zu gestalten und damit buchstäblich bestimmte Leistungen zu erbringen und Aufgaben zu erfüllen (die ohne diese Formen und Gegenstände nicht zu bewerkstelligen gewesen wären: was nichts anderes heißt, als dass Kunst und Künste so wie die Künstler zu Kult- und Kulturzwecken von der Gesellschaft gebraucht wurden.) Was für Leistungen waren zu erbringen? Etwa Beschwörungen (von Geistern, Dämonen, Göttern), oder Bannungen (z. B. von bösen Geistern), oder Mysterienspiele, Passions-, theatralische Spiele, Maskenspiele erdichten, inszenieren, zur Katharsis einsetzen, Triumphzüge, Festzüge aller Art arrangieren und die zugehörigen liturgischen rhetorischen Poesien und Rezitative erfinden und liturgisch gestalten, oder Bilder von etwas Verehrungs-, Anbetungswürdigem, das sakrale oder majestätische Kraft „ausstrahlt“, zu schaffen. In Gestalt solcher opera – Kunstwerke, Bildwerke – haben die Künstler die Gesellschaft, die Stände, den Staat mit Kultwerten versorgt. Wenn diese Bildwerke das Verehrungswürdige ausstellten, den Ruhm des Helden öffentlich machten 9
Der Mensch ist „von Natur auf Kultivierung angelegt und angewiesen“; er ist „von Natur künstlich“. (Helmuth Plessner: Philosophische Anthropologie, Frankfurt am Main 1970, S. 236; cf. ders.: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 1975, 310). – Siehe auch Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 46: „G e n i e ist das Talent [...], die angeborne Gemüthsanlage [...], durch welche die Natur der Kunst die Regel giebt“ (in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von der KöniglichPreußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. V, Berlin 1913, S. 307); und: ders., Über Pädagogik: „[U]nsere Bestimmung als Mensch ist [...], aus dem rohen Naturzustande als Tier herauszutreten. Vollkommene Kunst wird wieder zur Natur.“ (In: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. IX, S. 492.)
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und darstellten, die Herrschenden und die Prominenten in Standbildern und Portraiten, ‚Contrafacten‘ ausführten – dann haben die Künstler mit ihnen den erstrebten Ausstellungswert realisiert, also dem Repräsentationszweck der Kunst genügt. Und wenn sie in symbolischen und allegorischen Bildwerken aller Art charakteristische Ideal- und Wunschbilder, „poetisch-mythische Überhöhungen“ historisch-charakteristischer Züge zur Gestalt brachten – dann haben sie damit die kulturelle Leistung erbracht, die man im kultursoziologischen Jargon etwa von heute ‚nationale oder ethnische Identitäts-Beschaffung‘ nennt. Und so begreifen wir eine der Hauptprämissen kulturellen Verständnisses und des Verständnisses von Kunst und Kunstwerken: dass sie nämlich kultische, religiöse, mythologische Funktion erfüllen – und folglich auch die Gesellschaft mit Kulturwerten – „Kultwerten“ – dann – und gerade dann – zu versorgen haben, wenn in ihr Aufklärung, Entmythologisierung und Profanisierung fortgeschritten und die kulturellen Instanzen „entauratisiert“ sind. Dann wird Kunst als Religionsersatz, als synthetischer Mythos (denken Sie an die Kunst in den faschistischen Staaten) gebraucht, und die Künstler müssen die archaischen Rollen von Schamanen, Magiern, Zauberern, Raunern und Beschwörern neu einstudieren. Sie müssen vor allem den Individuen, den einzelnen privaten Subjekten der ‚Konsumgesellschaft‘ zur Stillung ihres ‚Sinnbedürfnisses‘, zu ihrem ‚täglichen Symbol- und Emotionsbedarf‘ verhelfen. – Die Bedeutung, der Sinn von Kunst zeigt sich als drastisch verengt, und als Kunst gilt weitgehend nur noch das, was diese Funktion des Sinn- und ‚höheren Werte‘-Ersatzes in einer nüchternen, entzauberten und kalkulierenden Welt erfüllt. Dem entspricht bis zu einem bestimmten Grade die Bedeutungsverengung des Sinnes und Begriffs von Ästhetik selber, die wir uns vergegenwärtigen müssen, wollen wir Bedeutung und Zweck des Kunstwerks in der Neuzeit, in der Moderne verstehen. Ästhetik ist die Lehre von den sinnlichen Wahrnehmungen und Empfindungen überhaupt. Aber ‚ästhetisch‘ bezieht sich in der Neuzeit mehr und mehr – nämlich im Maße der Entfaltung der Subjektivität des Subjekts – nur auf ganz bestimmte Empfindungen – die von ‚schön und hässlich‘, ‚angenehm, zuträglich‘ und ‚unangenehm, abträglich‘, freundlich und feindlich, ‚lustempfindlich- oder schmerzempfindlich‘. – Und die ästhetische Kunst ist die, die diese Emp-
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findungen, den ‚Geschmack‘, die Gefühle, die ‚Stimmungen‘ anspricht, generieren, substanziieren hilft. Sie ist es, die die ästhetischen Werte produziert; die ‚feinen‘, verfeinerten, sublimeren Kunstwerte, und als solche im ‚Schmeckenden‘, Empfindenden unterliegt sie den Werturteilen, die hier ‚sinnlich‘, emotiv und bildlich, nicht begrifflich ausgedrückt werden, und die der – seit Kant – herausgestellten Antinomie und Dialektik der Geschmacksurteile10 unterliegen. Über Geschmack lässt sich nicht streiten – der ist stets ganz ‚subjektiv‘ und eine ununterdrückbare, idiosynkratische Reaktionsweise, und doch geraten die Subjekte fortwährend darüber in Streit: das heißt, es wird sehr wohl darüber gestritten; das heißt aber auch, aus Gründen, in Begriffen darauf insistiert, gesucht geltend zu machen, warum etwas schön, etwas hässlich ist, weshalb, aus welchen Gründen es ‚akzeptiert‘ oder ‚verworfen‘ werden kann: das ‚Schrille‘, ‚Grelle‘, ‚Unharmonische‘ etwa mache nämlich Schmerzen, beschädige die Sinne, das Sanfte, Weiche tue ihnen wohl usf., und man habe dabei das natürliche Recht der Selbsterhaltung, das ‚Naturrecht‘, das Hässliche, Schmerzende zu meiden, das ‚Schöne, Wahre, Gute‘ zu suchen und zu pflegen etc. Mit andern Worten: die Kunst vermag den Allgemeinsinn, den sensus communis aestheticus in uns zu wecken und zu fördern. Auf die auf die Ästhetik der Empfindungen, der Gefühlswerte eingeschränkte Bedeutung von Kunst – ihren Subjektivismus – ist also zu achten, wollen wir die Kunstwerke der Neuzeit; den Ästhetizismus, das moderne ‚l’art pour l’art‘ verstehen. Dieser Subjektivismus muss nicht nur ein individueller sein – er kann sein und ist in der gegenwärtigen Massenkultur ein kollektiver. Vieles an der Massenkunst von heute bedient den sensus communis in der Art der Stimulation und der Versorgung mit Reizen und ‚Räuschen‘ durch die Massenmedien, die ihr Publikum freilich mehr hysterisieren als sensibilisieren; vor allem aber uns in unserer Empfindungsweise, Erlebnisweise, in der Emotionalisierung und vor allem auch in der wertenden Urteilsweise nach technisch-industriellen Standards uniformieren und zurechttrimmen wollen, das heißt eine ‚Geschmacksdiktatur‘ ausüben.
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Geschmack ist das Vermögen der ästhetischen Urteilskraft: siehe Kant, Kritik der Urteilskraft, l. c., S. 241 ff.; cf. ibd., „Dialektik der ästhetischen Urteilskraft“, S. 337–354.
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Sind wir uns solcher kultur- und epochenspezifischen Voraussetzungen hinreichend bewusst, werden wir auch dem – erschließenden wie dem kritischen – Verständnis der Kunstproduktion, der Bildwerke in den verschiedenen Phasen der Kulturentwicklung besser gerecht.
Wahnbilder und Wahrbilder Sensuelle und intellektive Konstituentien der Visualität
Erörtert werden soll – zunächst – das Verhältnis von Sein und Schein am Beispiel der visuellen Sinnesleistungen und die radikal-skeptische Herkunft und Fassung des Problems (I, II), sodann auf seine Bearbeitung im Sinn der sich vollbringenden Skepsis (III) und schließlich auf die relationstheoretische Behandlung des Visualitätsproblems ausführlicher eingegangen werden (IV). Dabei soll vor allem die Differenz von illusionistischem und manifestierendem Schein, von Trugbildern und Wahrbildern in den Blick kommen.
I Quidproquo von optischer und logischer Visualität Von allen Sinnen und sensuellen Charakteren dürfte der visuelle, dürften Visualität und visio am stärksten korreliert sein mit Ideologizität, sie scheinen geschlagen mit ihrem Gegensinn: die Helle und Klarheit, die der Sinn schafft, mit der Obskurität solcher Helle und Klarheit selber. Dies im Sinne des Wortes von Newton, dass nihil obscurius luce. Die Klarheit des Blicks, des Auges, die Durchsichtigkeit, das durch und durch Geklärt-, Erklärtsein, welche dem sensus interior, der vis imaginationis – dem tertius oculus1 verdankt werden, verdecken oculus primus und 1
„Oculus imaginationis“, wie Robert Fludd in seiner De technica Microcosmi historia es nannte (Robert Fludd: Tomi Secundi Tractatus Primi, Sectio Secunda, De technica Microcosmi historia in
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_17
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secundus sogleich wieder und macht das dritte, die Einbildungskraft, wieder verworren, lügenhaft falsch, trügerisch. Videre, die sinnlich-sinnhafte Grundpotenz des Subjekts, lässt es sowohl sehen, wie sie es sehen macht, und in dieser Doppeldeutigkeit der Visualität – sinnlich-materieller Empfänglichkeit und formativer Aktivität – nistet sowohl das logisch Klare (Wahr- oder Unwahrhafte) wie das anschaulich Klare (Umrissene oder Verschwommene, Trügerische), nisten Ideen-, wie Idol-Charaktere des Videre: des Sehens und des Erkennens; des Sehens als Versehen, des Erkennens als Verkennen. Visualität ist geschlagen mit Amphibolie:2 dem reflexiven ‚Geworfenwerden‘ von Schein in Sein, Bild in Begriff, Innen in Außen, Hell in Dunkel. Sie ist An-ihr-selbst-umschlagen: Übergehen von Erhellen, Erleuchten in Unerhellt-, Verworren- und Dunkelbleiben. Solches Umschlagen ist ein Verwechseln, schafft ein Quidproquo; Deutlichkeit, verum wechseln in den Status von falsum, Trug – das in der visio Erscheinende gibt sich als von imaginatio gemacht; das Produzierte wird im Produzieren, im Erscheinen als sich-Hervorbringen verkannt. Dieses Trugwesen, Verwechselungswesen scheint genuine Erscheinungsweise des Sehsubjekts, des optischen wie des intellektiven Sehorgans; also der seienden Visualität selber. Ist, hat nun dies Verwechslungswesen zugleich die Kraft, sich zu durchschauen? Hat das Sehen das Vermögen, sich selbst zu sehen?3 Oder ist eine unübersteigliche Grenze dazwischen? Bleibt es eingesperrt ins undurchlässig-durchlässige Gefängnis, in den Kasten aus durchsichtigen, aber panzerglasharten Wänden, der uns über unsere „Anschauens- und Vorgestelltwerden“-Kondition; unser zugleich Subjekt- und Objektsein drastisch belehrt – also über jene eigentümliche Grundbeschaffenheit, infolge derer stets das eine das andere verdeckt? Bin ich ich, in und an mir, ist mein Objektsein verdeckt, bin ich für andere, außer mir, empiriPortiones VII. divisa, Oppenheim [ca. 1620], S. 47: Tractatus Primi. Sectionis II. Portio III. De animæ memorativæ scientia, quæa vulgo ars memoriæ vocatur.). 2 Kantisch die „Verwechslung des reinen Verstandesobjects mit der Erscheinung“; Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Theodor Valentiner, Leipzig 1913, S. 298 (B 326). 3 Aristoteles verweist auf das Aporetische: „Wenn nämlich Sehen das Wahrnehmen mit dem Gesichtssinn ist, gesehen aber wird Farbe oder das, was sie hat, so würde, wenn man das Sehende sähe, das erste Sehende Farbe haben. Offenbar also ist das Wahrnehmen mit dem Gesichtssinn nicht Eines“; Aristoteles: Über die Seele III, 2, 425 b (ders., Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 6: Physik; Über die Seele, Hamburg 1995, S. 64).
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sches Wesen, dann mein Subjektsein. Können sie füreinander durchlässig werden oder müssen füranderes-Sein und an-sich-Sein getrennt bleiben? (Hier hat Hegel der tieferen Einsicht weitergeholfen. Er zeigte, dass Ansichsein schon Ansich-füruns-Sein ist,4 das Innere zugleich auch sein Außen – das explizit gewordene Implizite.) Es zeigt sich das Problem eines notwendigerweise, begründeterweise falschen Bewusstseins: das einer „ideologischen“ formatio von Idee und Logos, will sagen vom sich von sich aus zeigenden und wahren (unverstellten) Sein. Eben damit zeigt sich die Frage nach der Visualität als die ihrer – vertilglichen oder unvertilglichen – Ideologizität.
II Skeptische Aufdeckung der Relationalität des Sichtbaren Der Zweifel an der Diakrisis der Visualität führt zu ihrer Vergegenwärtigung durch Kritik, die Kritik zur Vermeidung des falschen Scheins und zur Vergewisserung über den manifestierenden. – Das war der historische Gang der Skepsis – charakteristischerweise eine spätere Phase des Platonismus (der Akademie unter Arkesilaos, Karneades) selber –, die in den ersten konsequenten Argumenten (zusammengefasst in den Tropen des Aenesidemus und Sextus) den bloßen Vorstellungs- und Erscheinungscharakter des in unseren Aussagen und Beurteilungen gemeinten Seins – das Scheinhafte, also Trughaft-Unwahre – herausstellte. Was wir wahrnehmen, nehmen wir durch ein Medium wahr: durch „Luft, Licht, Feuchte[s]“, und „nichts in seiner reinen Gestalt an und für sich“.5 Das Medium ist die Schicht, der Schirm zwischen uns und dem Ding, von dem wir gerade so viel wahrnehmen, wie der Schirm von ihm durchlässt – er mag so durchlässig sein wie irgend möglich; etwa wie das ganze Sehfeld, das Licht, in dem wir stehen, oder die Schalldimension, die Luft, die uns umgibt. In keinem Fall erblicken oder vernehmen wir das 4
Das „Absolute“ ist „an und für sich schon bei uns“ und will es sein; Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. II, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Leipzig 1949, S. 64. 5 Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, hrsg. von Klaus Reich, Hamburg 1990, Buch IX, Kap. XI, S. 204.
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Ding außerhalb seines Bestimmtseins durch und in Licht- oder Schallvibration. Die Eigenschaften der Dinge (dessen also, was sie als Dinge definiert) sind nur Relationen eines Dinges zum anderen, durch deren Kenntnis uns das „eigentliche Wesen“ der „Dinge“6 nicht aufgeschlossen wird; überdies ändern sich diese Relationen ständig, von einem Augenblick zum andern schlagen sie um: etwa von rechts in links, von oben in unten, von groß in klein – je nach „Ansehung“ der „Lage zu dem entsprechenden Gegenstück“7 . Die „Verhältnismäßigkeit [...] besagt, daß nichts an und für sich genommen wird, sondern immer nur in Beziehung auf ein anderes, weshalb es denn unerkennbar ist“8 . Was in Relation steht oder sich bewegt, wird von Perspektiven verdeckt, ja es verschwindet in der Perspektive; zeigt, dass es nicht ist, was es doch eben noch war. Die Relationalität, Relativität der Dinge ist ihr Nicht-Sein – ihre Negation. Wir werden uns unseres – auf die Sinne und die Mittler zwischen ihnen und den Dingen, und zwischen ihren Bildern und uns gestützten – Urteils enthalten müssen,9 wenn dieses Urteil beansprucht, eines über die Dinge in ihrer Unmittelbarkeit, ihr Sein an sich zu sein. Wir müssen uns des Urteils enthalten, weil wir judikativ immer das NichtZutreffende treffen. Wir verfehlen es durch Logos und Begriff sowohl, wie durch das sinnliche Wahrnehmen. Wahrnehmen ist per se Falschnehmen: sich über etwas betrügen. In Begriffen, d. h. Relationsbestimmungen judizieren, heißt ‚unrecht – auf unrechte Weise – sprechen‘, a limine objektive Gerechtigkeit: Gerecht- und Wahrsein verfehlen. So die skeptischen Tropen.
III Sein und Scheinsein, Wahrsein und Wahrscheinen Sofern aber Skepsis kritische Prüfung ist, der fundamentale Zweifel nicht nur verzweifeltes Resultat des Prüfens, sondern dieses selbst, ist gerade mit der radikalen Skepsis – als dem fixierten starren Resultat – zur Vergegenwärtigung seiner Genese aufgefordert, also zum Innewerden der Skepsis 6
L. c., S. 205. Ibd. 8 L. c., S. 206. 9 L. c., S, 199 f. 7
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als eines kritischen Tuns. Hegel hat dies Bewusstsein der Skepsis von sich die sich vollbringende Skepsis genannt. Skepsis ist dann erst die Wahrheit über die Unwahrheit, den Trug, wenn sie ihre Kritik noch kritisch erfasst, wenn sie selbstkritisch wird. Das hat sie im und mit dem cartesischen Zweifel ein Stück weit geleistet; ein Weiteres bei Kant: im Aufweis der konstituierenden Gründe für die Seinsmodalität von Anschauung (Anschaulichkeit und Vorstelligkeit von etwas überhaupt) und die von Begriff (Begriffenheit, Erkanntheit des Etwas überhaupt) unter dem Titel von Ermöglichung und Wirklichkeit der Erfahrung überhaupt. Die Konstitutivität von Anschaulichkeit und Begriffensein des Wirklichen erwies sich ihm als die Kehrseite der prinzipiellen Unerfahrbarkeit des wirklichen Seins dieses Wirklichen. Die sehr weit avancierte kritische Prüfung der ‚idealistischen‘ Skepsis – der des percipi-Seins oder des Gesetztseins des esse – war noch nicht am Ende ihres sich selbst Vollbringens. Sie hatte das Konstituiertwerden der passio und der konstruktiven actio alles erfahrenen Wirklichen selber (also deren eigenes wirkliches Sein) ihres Gewordenseins, Konstituiertseins durch andere Subjekte zu überführen, als das der „transzendentalen Synthesis der Apperzeption“ – nämlich durch die schaffende Substanz, natura naturans, das Gattungssubjekt: die societas humana, humanitas in processu. Die skeptische Aufdeckung des Relationismus des Seienden, welche die kritische Einsicht ins wahre Sein als die in seine bloße Erscheinungsweise fixierte, hat Skepsis, hat sich selbst als wieder einsetzende, fortgehende kritische Prüfung reaktivieren lassen – jetzt als finale, nicht mehr finite sich auf den Weg des Vollbringens gebracht. Das heißt methodisch: Sie hat den Relationismus nicht als dem Absoluten äußerlich bleibend stehen lassen, sondern als den des Absoluten selber begreifen gelernt. Sie hat das bloß erscheinende, vorgestellte Sein – die Welt als Vorstellung und Phantasma, als Reflex und Schleier über der wirklichen – begriffen als das wirkliche Erscheinen der Welt; als das sich zeigende, manifestierende Weltwesen. So auf Schopenhauer’scher, Hegel’scher Stufe und zunächst unangesehen der Frage: wieweit die deutschidealistische, die Hegel’sche Ent-Ideologisierung reiche – die Behauptung des Ansichseins gerade des Für-andere-Seins –; ob sie überhaupt Entideologisierung, oder vielleicht bloß mangelhafte, vielleicht Re-Ideologisierung ist? Läuft nicht etwa die von Hegel gemeinte ‚Vergeistigung des Wirklichen‘, die postulierte ‚Ver-
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klärung des Endlichen‘, also die Geltendmachung gerade seiner spekulativen Empirie auf dogmatisch-metaphysischen, ‚visionären‘ Visualismus hinaus? Und wenn dem so ist, wäre nicht die im prozessualen, dynamischen Relationismus vollbrachte Skepsis stets noch die, genau um die Strecke kritischen Weges unvollbrachte, auf welchem statt des konsequent kritischen Fortgangs die ideologische Hypostase erfolgte: der Stillstand der prozessierenden Diakrisis in einem verabsolutierten Moment der Relationalität, eines Relates also, das den Schein des Absoluten verbreitet und über dessen Sein betrügt. Das bedeutete dann für eine Analyse des Visualitätsproblems – wie überhaupt für eine der Formen und des Inhalts der Anschauung, der Sensualität (der der äußeren wie der inneren Sinne) –; bedeutete für eine Klärung der Grundmodalität des logischen und sinnlichen Klarseins selber das Erfordernis einer Erklärung des Klaren – sowohl seinem Sein, seinem Geworden- oder Erzeugtsein wie seinem Gelten nach. Sie wird eine Relationsanalyse – Erhellung der Relationalität – sein müssen, eine des statischen und dynamischen Reliertseins und -werdens (der Formen und Muster der Synthesis, Figuration und Sequenz) und der in der Relation konfigurierten, zu- und gegeneinander sich verhaltenden Relata. Aus der Stellung der Relata zueinander lässt sich das Wahrheitsverhältnis – Adäquation oder Affinität10 – oder das trügerische Verhältnis – der bloße Symbolismus; der Fetischismus des quidproquo; die substitutive Verwechselung statt konstitutiver Interdependenz –, und, bei der Visualität, der Wahr- oder der Wahnbild-Charakter abschätzen.
IV Relations- und Konfigurationsanalysen der Visualität Was sind die ausschlaggebenden Relate und Relationen in der Visualität? Es sind videre (videns), visus und visibile: also das Sehende (Auge; binoculus, tertius oculus); das Gesehene (Bild, das Erblickte; Erkannte) und das Licht (ohne das weder gesehen noch erblickt und erkannt
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Siehe Theodor W. Adorno: Drei Studien zu Hegel, Frankfurt am Main 1963, S. 54 (Aspekte).
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wird11). Oder auch: das Organ, Werkzeug, der Sehapparat; das durch ihn Fabrizierte, Bild, Gebild; das dieses (in seiner Bearbeitung, Formation) Ermöglichende, Effizierende: das Medium, die Materie – Licht. Die drei in ihrer Triade, ihrer stehenden Figur (Strukturalität, Simultaneität) und in ihrer Elastizit (der plastischen Modifizier- und Transformierbarkeit; ihrer Organizität): sie zeigen in und an diesem Stehen und diesem SichBewegen der Relate Sein und Seinscheinen, Wahrsein und Wahrscheinen ihrer selbst; zeigen es im Sinn des spinozistischen Satzes, wonach sanè sicut lux seipsam, et tenebras manifestat, sic veritas norma sui, et falsi.12
Oculus Sehen ist Sehen eines Gesehenen mittels Licht. Das bedeutet, Sehen ist nicht leeres Blicken, der starre von nichts gerichtete Blickstrahl, nicht das in einem homogenen Lichtnebel Verschwimmen. Sehen ist gerichtetes, richtendes (orientierendes, judizierendes) Sehen, Visieren eines Etwas – der bearbeitete bloße Lichtreiz, das in der perceptio Perzipierte, die zur Apperzeption umgearbeitete bloße Perzeption. Die Formantien sind Raum und Zeit, Schemata und Kategorien des Vorgestellten. Das Formatum greifen wir am abgemessenen und umzirkten Sehgebilde: dem optischen, imaginativen, schematischen Bild. Das Bild verrät, je nach dem, etwas vom formierenden Subjekt des Sehens: dem Augenorgan mitsamt seinem Steurer, dem intellectus agens, dem judizierenden und dem ‚hervorbringenden‘ Geist. Es ist der sensus interior selber, in seiner Einheit der intellektiven, imaginativen, reproduktiv-memorativen Funktionen – der der ratio: der vernehmend-konstruktiven Vernunft. Sie fasste Aristoteles bereits als das Organ der dianoetiké (der intelligiblen Produkte), der phantastiké (des common sense und seiner commun-einleuchtenden ‚Universalien‘ und Abstraktionen) und der mnemoneutiké (der Gedächtnisbilder und auch Traumbilder und der visuellen Reproduktionen von Gewesenem im Modus der Präsenz – Leistung einer für alle Erkenntnis konstitutiven Kraft: scil. etwas so vorzustellen, als sei das Vorgestellte den 11
Siehe etwa Aristoteles, Über die Seele II, 7, l. c., S. 45 ff. Ethica II, prop. XLIII, schol. (Spinoza: Opera, hrsg. von Konrad Blumenstock, Bd. 2, Darmstadt 1967 [S. 84–557], S. 230). 12
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äußeren Sinnen präsent).13 – Die Gebilde der Einbildungskraft verraten auch etwas über den Grad der Helle, also des dunkleren oder lichteren Mediums, in dem das Sehen sich vollzieht und das Gesehene gleichsam als solches realisiert ist; zeigen hohe Durchsichtigkeit noch der komplexesten eidetischen und kreativ-intelligiblen Gebilde wie volldurchgebildeter Kunstwerke oder hochrangiger geistiger Ordnungen der Moralität und der Gerechtigkeit; man denke etwa an die Visualität von unauslöschlichen Visionen wie der prophetischen, utopisch verheißenden, versprechenden. Sie haben allesamt etwas vom Licht, vom Glanz jenes metaterrestrischen, metaastralen obersten agathón, jenes Meta-Helios, den Platon eídos eidón nannte. – Mit der Frage nach dem Subjekt des Sehens ist noch etwas anderes verbunden: das Problem einer hierarchischen Ordnung der Sinne – etwa mit dem Höchstrang des optischen und des intelligiblen Sinns und den – angeblich – absteigend-niederen Sinnen des unanschaulichen Gehörs und der am Ende aller Distanz zum Vernommenen beraubten Geruchs-, Geschmacks- und Tast- (Spür-)Sinne. So handelt Sonnemann in der Negativen Anthropologie von der „Okulartyrannis“14, in welcher der sensus opticus-rationalis die Stelle des Vernehmens-Primates usurpierte und die übrigen Vernehmensweisen (die doch gerade einen wachsenden Grad der identifikatorischen Affinität mit dem zu Vernehmenden: dem Vernunft-Anderen gewährleisten) mit den fatalsten Folgen fürs Vernehmen – und Sehen selber – dominierte und blockierte. Die Blockade des Hörens, des Schmeckens und Tastens – das ehestens Berkeley als unabdingbar fürs perspektivische, plastische Sehen (ein visuelles Tasten und Greifen) erfasste – macht einen republikanischen Umsturz der Sinnenhierarchie15 absehbar, in dem die absolute Souveränität des Okulus, der 13
Siehe Aristoteles, Über die Seele III, 3, 7–9, l. c., S. 68–73, 79–83; siehe auch Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Absicht, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VII, Berlin 1917. 14 Siehe vor allem die späteren und letzten Beiträge zur Negativen Anthropologie in Ulrich Sonnemann: Tunnelstiche, Frankfurt am Main 1987 („Das Versagen der Bilder und die denkbare Wiederkehr des Gehörs“, S. 261–321) und ders.: Müllberge des Vergessens, Stuttgart; Weimar 1995 (vor allem: „Das Akustische an Geschichte“, S. 167 ff.). 15 Siehe Verf.: „Vorstellendes und vernehmendes Bewusstsein. Zu Sonnemanns psychohistorischer Variante einer ars civilis sensuum“, in: Existenz, Negativität und Kritik bei Ulrich Sonnemann, hrsg. von Claus-Volker Klenke et al., Würzburg 1999, S. 107–118 (Wiederabdruck in: Hermann Schweppenhäuser, Denkende Anschauung – anschauendes Denken. Kritisch-ästhetische Studien über die Komplementarität sensitiver und intellektiver Relationen, Berlin, Münster 2009, S. 115–128).
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Opsis übergeht an die des ganzen Volks der Sinne, dessen Wille die volonté générale des vernünftigerweise von allen Gewollten wäre – also der vernehmenden und allgemein vernommenen Vernunft, Menschenvernunft selber. – Die Idee eines „Menschenrechts des Auges“ – wie Werner Hofmann es nannte –, des Ohrs, des Geschmacks, des – sinnlichen wie geistigen – Gespürs ist freilich weit entfernt, in den mechanischen Manipulationen von Synästhesie des Schlages etwa der McLuhan’schen Audiovisualität auch nur approximativ realisiert zu sein. Sie müsste die Einheit der Sinne in der vernehmenden Vernunft ausdrücken, während sie bloß das Aggregat von künstlichen ‚Sinnesqualitäten‘ und getrimmten Vernehmens-Funktionen ist, die einander nicht integrieren sondern sich dissoziativ kumulieren. – Das ‚mediengesteuerte‘ Sehen und Vernehmen ist keines, seine Installierung und Propagation Ausdruck wohl der am ärgsten grassierenden Ideologie des Sehens und seiner Denaturierung heute.16
Figura Das Gesehene ist Gesehenes eines Sehens vermittels von Licht. Das bedeutet vor allem, dass die Bilder gemacht, die Visualia hervorgebracht sind und, auf der anderen Seite der Relation, den Produktions-Charakter des Sehens, der fabricatio visibilium et imaginum – der Seh-Apparate also des Auges, des optisch-physiologisch von Natur ingeniös ausgestatteten Organs, wie des oculus imaginationis et intellectionis (der ratio, die – wie jenes nach optischen Regeln – nach logischen arbeitet und fungiert; etwa denen des Schließens, das ein ‚Rechnen mit Umfängen‘, ein Inkludieren und Exkludieren, ein Präzisieren und Definieren der – logischen und geometrischen – Orte und Felder sowie der Figuren ist, die sie darin bilden). Und die Einbildungskraft arbeitet nicht allein „derivativ“, sondern auch „originär“17 – nicht nur nach Regeln der Subsumtion und Klassifikation, sondern der Spezifikation und Individuation; sie deduziert das Besondere und Einzelne nicht bloß, sie baut es induktiv auf; sie wiederholt es nicht als Exemplar, sie generiert es als Exemplum, als archetypum und mirum, als ens sui generis, dessen jedes vom andern generisch different bleibt: wie 16 17
Siehe die Arbeiten von Baudrillard und Virilio. Siehe Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht, l. c., S. 167.
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in der Kunst die Werk-Monas von der Art, wie Goethe vom vollkommen durchgefügten Gebilde sagt, dass es eine neue Gattung begründet und eine alte abschließt. Wodurch ist es aber sui generis vollendet, abgeschlossen? Durch seine Form: die optimal kalibrierte18 – die also, in der und durch die äußerste Anmessung, Affinität der formatio an den Gehalt – den ‚Sachgehalt‘ und den ‚Wahrheitsgehalt‘ des Gebildes – und des Gehalts – des ‚ästhetischen Materials‘ – an die formatio erlangt ist. Es ist die Affinität von Form und Materie, wie sie im Bild des Gewindes sich zeigt, in welches – potentiâ – die Schraube passt; der Schraube, welche den Spiralgang der Mutter – actu – vollzieht. Oder die im Gebilde, im Seh-Werk dann erreicht ist, wenn – wie beim Keimblatt Ausstülpung und Einstülpung der gleichen bloßen Fläche – die Plastik des Grundes von Berg und Tal, die genaueste Entsprechung von Tiefe und Höhe, von Innen und Außen hervorgetrieben sind. Bilder, Gebilde, das Gesehene des Sehens erweisen sich hier als vom Grundmuster der Reversibilität, wonach das eine ins andere umspringt, so, dass an jeder Seite die Kehrseite ausgemacht werden kann – am Grund die Folge, an der Folge der Grund, am Evolut das Involut; so wie am Benjamin’schen Denkbild des gerollten und eingestülpten Strumpfs die „Tasche“ am „Mitgebrachten“ und das „Mitgebrachte“ an der „Tasche“ unfehlbar, durchs bloße Entrollen des Strumpfes (wie der Buchstabe, Sinn und Bedeutung von der Schriftrolle) abzulesen ist.19 Derartige Gebilde und Bilder des Sehens, die das Gesehene in den ‚Kalibrier‘-Formen darstellen (denen, die Maß zugleich geben und nehmen, die messen zugleich und ‚werten‘), können solche der Repräsentanz genannt werden: des mehr oder minder treuen Vertretens des Abgebildeten im Bild, des Bedeuteten im Symbol, dessen, was oder wer schreibt, in der Schreibspur, im Geschriebenen, in Schrift und Text. Die Textur repräsentiert den Textor; die Maske das wahre Gesicht, den Charakter des Subjekts; das Etui, die Kapsel, das Kleid, das Gehäuse den davon Eingeschlossenen, seinen Einwohner – das Gen die Kopie. – Hierin aber liegen die bestbegründeten Wahrbilder, die also, die nach den intel18
Ein (metaphorischer) Terminus der Negativen Anthropologie. Siehe Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert (Fassung letzter Hand), in: ders., Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I–VII, Frankfurt am Main 1972–1989, Bd. VII.1, Frankfurt am Main 1989, S. 416 f. 19
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lektuellen Regeln, Prinzipien der Inhärenz, der Konsequenz, der Koexistenz und Interdependenz der Relate gefasst und aufgefasst sind. Sie werden zu Trugbildern, wenn das Maß von Identischsein und Affinsein zum – je nachdem – positiven oder negativen Wertsein (vor allem in den Kulturgesellschaften) gemacht wird – etwa die Kopier-Identität von Mensch und Ding als die sozial und politisch erstrebenswerteste, idealtypische propagiert und durchgesetzt wird. Das Licht, in dem und durch das die Entsprechungen und Korrespondenzen der analogen Relate sich erhellen, ist das des starken Erleuchtens und Einleuchtens, des Illuminativen und Illustrativen – das Licht der Evidenz des sich von sich selbst her Zeigenden: ob des apriorisch-logisch einleuchtenden, ob des aposteriorisch an den natürlichen und den geschichtlichen Figuren und Sequenzen aufgehenden Lichts, wie es auch in den ‚dialektischen Denkbildern‘ oder den ‚konkreten Allegorien‘ aufging, etwa – nach Benjamin – der Ruine oder der Leiche (als der vollkommen dinglichen Form des animal sociale). Es ist aufklärendes Licht und insoweit wahrheitverbreitendes, den Obskurantismus vertreibendes. Jedoch wird es ideologisches, trügerischer Schein, wenn es das zu Erkennende, das videndum und cogitandum verschleiert oder (ob durch technische, ob durch mentale Verdunklung) überblendet, so dass man vor lauter Licht gar nichts mehr sieht.
Lumen Visus – visibile – lumen: Die Überlegung ist beim dritten Relat, dem eigentlichen Mittler zwischen visus und visibile, Sehen und Bild angelangt – beim Licht, einem Elementaren, Medium (so, wie Wasser Medium für den Fisch: das Lebenselement ist). Es kann in einem Maße potenziert, konzentriert sein, dass es das Wesen, das in ihm als in seinem Elemente lebt, in seinem Sein vernichtet. Wir denken sogleich an die strahlenden Elemente, die Medien, die in ihrer elementaren Zerlegung, dem ‚Zerfall‘ kaum mehr vorstellbare Energien freigeben, und die (analog dem imaginativ Unvorstellbaren) grenzenlos zerstörerische Gewalt ausüben und verbreiten (wie in der physischen so in der moralischen Welt). Es gibt auch die geistige Strahl- und Sprengkraft – im guten wie im schlimmen Sinn.
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Den schlimmen bemerken wir in der Überblendung, im Dunkelwerden durch Überstrahlen – so auch an hypostasierter Aufklärung und schon daran, wie sie historisch das Mittelalter überblendet, seinen Geist in toto als den Obskurantismus einer barbarisch-finsteren Epoche desavouiert. Fontenelle etwa behauptet im Brustton fortschrittlicher Selbstgerechtigkeit: „Il s’est répandu depuis un temps un esprit philosophique presque tout nouveau – une lumière qui n’avait guère éclairé nos ancêtres“20 . Weit entfernt, kein „neuer“, fortgeschrittener gewesen zu sein, hatte solcher Geist die Vorfahren nicht nur nicht, sondern so völlig erleuchtet, dass sie in seinem Licht nicht nur die Lichtlehren der Intellektivität und Intelligibilität durchsichtig und einleuchtend zu fassen vermochten, sondern schon Grundprinzipien der Lichtphysik, der Optik fanden und formulierten, die zu ignorieren oder zu missachten mehr die Obskurität des esprit tout nouveau verrät, als die des von ihm denunzierten alten. Noch in den neuplatonischen Lichtmetaphysiken, ihren mystischen Varianten zeigt sich zumindest das sachlich gesehene und gespürte Problem einer nicht bloß metaphorischen Substantialität, Materialität von Licht und Geist, die spiritualistisch, enthusiastisch-schwärmerisch zwar hypostasiert wird, doch aber, wie in der substantiellen Scheinhaftigkeit vor allem des Kunstwerks den sachlichen, unideologischen Charakter bewährt und bewahrt. Weit sachadäquater, real-substantieller noch zeigt sich die Licht-Physik der Hochscholastik, die der Grosseteste, Witelo, Roger Bacon, die im Licht die ‚forma prima corporalis‘ erkennen, „quam quidam corporeitatem vocant“21 : ‚reine sphärisch sich ausdehnende Wirklichkeit‘. – Bonaventura spricht von „lux“ als der „forma nobilissima inter corporalia“22. Das nobile, es ist das Geistartige an dieser corporeitas – das, was dazu verführt, Licht rein ideell, spirituell aufzufassen, es als einen Charakter materieller Substantialität zu neutralisieren, wenn nicht zu eskamotieren. (Es zeigt sich bis tief ins Zeitalter der Novae Scientiae, nicht drastischer bei Des20
Zit. nach Dictionnaire des sciences philosophiques, Band 2, Paris 1845, Art. „Fontenelle“ (S. 443–447), S. 446. – Cf. Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 9, Neufchastel 1765, Art. „Lumière“, S. 717–724. 21 Robert Grosseteste: De luce, cit. Bernhard Geyer (Hrsg.): Die patristische und scholastische Philosophie (Friedrich Ueberwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie, Zeiter Teil), Basel; Stuttgart 1956, S. 373; „lux multiplicatione sui infinita in omnem partem aequaliter facta m a t e r i a m u n d i q u e a e q u a l i t e r i n f o r m a m s p h a e r i c a m e x t e n d i t“ (ibid.). 22 Bonaventura, Sentenzen-Kommentare, cit. Geyer, l. c., S. 388.
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cartes als noch beim naturphilosophischen Hegel). Wenn die Lichtphysiker des Hochmittelalters von der aktuosen, wirkliche Helle23 schaffenden Strahlkraft des Lichts redeten, antizipierten sie die Bestimmung des Lichts in der modernen Physik. Nach ihr ist es radial; korpuskular wie undular wirkende und sich fortpflanzende Energie, deren Massenäquivalente (wie immer disproportional) identifizierbar sind. Es ist photonische Energie in allen Fällen der Visibilität, elektromagnetische in denen der Invisibilität; bei diesen erweist sich das phänomenal, seh- und hörfrequentiell zugängliche – vorstellige – Seinsbereich als deckphänomenales, das das energetische Ansichsein den Blicken entzieht. Aber doch nicht als prinzipiell Unverborgenes. Denn von der Wahrheit des Ansichseins zeigt sich gerade auch hier, dass sie Wahrscheinen ist. Nicht Trug (weder Wahrheitsillusion, noch Selbsttäuschung über den angeblich ewig verschlossenen Zugang zu Ansichsein und Wahrheit): Sie ist Wahrscheinlichkeit, nämlich die Wahrheit in der Näherungsgestalt des eikós24 ; des eínai t¯e aleth¯e´ 25; des veri simile – Wahrscheinlichkeit nicht nur im Sinne der Statistik, sondern durchaus im physisch-metaphysischen des Durchscheinens durch die Ritzen der physikalischen (und biologischen) Unschärfe-Verhältnisse zwischen Sehen und Vernehmen und topischem, dynamischem Sein. Gerade die Unschärfe-Relation scheint das sicherste Zeichen, das Signal, gegeben der Kalibrier-Energie im menschlichen Intellekt, das Vernehmen des Subjekts immer noch trennschärfer zu machen. Es scheint uns zuzuwinken, der wahre Sinn von Theorie und aufgeklärter Wissenschaft selber sei einer des Aufdeckens, des hell sehenden (nämlich intelligenten) Erfassens dessen was ist und nur scheinbar nicht ist, und dieses in affinen Bildern und Gebilden zu bewähren. 23
Cf. die soziologische Betrachtung Siegfried Kracauers: „Die eigentliche Macht des Lichts [...] ist seine Gegenwart. Es entfremdet die“ Subjekte der Massengesellschaft „ihres gewohnten Fleisches“ durchaus auch – wenn nicht nur – im religiösen Sinn, „es wirft [ihnen] ein Kostüm über, das sie verwandelt. Durch seine geheimen Kräfte wird der Glanz [kulturindustriell der ‚glamour‘] Gehalt, die Zerstreuung Rausch [etwa auch ‚mystischer‘]. Wenn [der Bediener der elektrischen Apparatur] es ausknipst, scheint freilich der Achtstundentag gleich wieder herein.“ (Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Eine Schrift vom Ende der Weimarer Republik, Allensbach u. Bonn 1959, S. 92). 24 Und das visuelle Korrelat der eikasía: s. Platon, etwa De Republica VII [Politieia, in: Platon, Werke in acht Bänden, Bd. 4, Darmstadt 1990, S. 554–637], Tim. 29 b, d. [Timaios, in: Platon, Werke in acht Bänden, Bd. 7, Darmstadt 1990, S. 35 ff.]. 25 Siehe Aristoteles, etwa Rhetorik 1355 a 14 [übers. von Franz Sieveke, München 1995, S. 9 f.].
Zur empiristischen Theorie der Imagination Vorstellen und Darstellen bei Bacon
Dem, was ich geschaut, gehört (vernommen), gelernt habe, gebe ich den Vorrang. Heraklit, TO BIBLION
I Die gegenwärtigen bild- und perceptionstheoretischen Erörterungen sind längst nicht mehr separate, spezialistische. Sie erfolgen in interdisziplinärer Perspektivik, und das heißt vor allem: sie sind nicht länger blockiert durch hermeneutischen Idealismus und gnostischen, gnoseologischen Solipsismus, aber auch nicht durch physischen und physiologischen wissenschaftlichen Spezialismus. Die gnoseologische Erörterung sieht sich auf die sensualistisch-physiologische verwiesen, die spezialwissenschaftliche auf die Perspektive einer theoretisch-praktischen Einheit der Natur. Der Physiker, Physiologe kann den noetisch-psychischen Sinnesimplikaten seiner materiellen Befunde nicht länger ausweichen; der Noetiker, Semantiker, der Sinn-Theoretiker nicht den materiellen Sinnesimplikaten von Sinn und Bedeutung. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_18
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Spannung und Perspektivenerweiterung in den zeitgenössischen Debatten zeigen sich mehr und mehr an deren trans- und interdisziplinären Organisation; ja längst bereits an ihren Ausgangsfragestellungen, die auf die interaktiv, interdisziplinär erarbeitete Anwort angelegt sind. So bei solchen komplexen Grundfragen wie der nach dem substantiellen Status von inneren im Unterschied zu äußeren Bildern, ihrer Virtualität oder Realität, ihrem Wahrschein oder Täuschungsschein; oder bei der Frage nach dem Unterschied transzendental-apparativer, sinnes-apparativer und maschinen-apparativer Vorstellungs- und Bildproduktion; oder bei der Frage: Wieviel Vorstellung brauchen Darstellung und Ausdruck, um referentielle Zuverlässigkeit und Adäquation zu gewährleisten – und umgekehrt: Wie weit reicht die Identität oder Analogie zwischen darstellendem Medium, Organ, Sinnes-Instrument auf der einen und vorgestelltem, imaginiertem, abgebildetem, projiziertem Sein und Wesen auf der anderen Seite? Oder schließlich: Aus welchem Stoff sind Imaginationen und Bilder und: Wie bildlich, nämlich anschaulich sind unsere Begriffe; wie stofflich, materiell, ‚organisch‘ ist unser Denken, der Geist? Ich habe das Glück, zusammen mit einem kunstwissenschaftlichen Multiperspektivisten und Aperspektivisten, Simultanëisten und Diachroniker seit einigen Semestern Bildtheorie, Ikonologie treiben zu können – mit Karl Clausberg, dessen methodische Grundauffassung mit der von Kunsttheorie als reiner Orakel-Auslegungs- und Deute-Disziplin brach, und der eine bildstruktur- und bildproduktionsanalytische Kunstwissenschaft postuliert und – mit frappanten Forschungsergebnissen – auch betreibt. Ich erinnere bloß an seine Interpretation von Bildwerken als Organprojektionen und die weitreichenden Einsichten in die multi-, a- und contraperspektiven Bildkompositionen mit ihren detektorischen und von Grund auf innovierenden Seh-Errungenschaften, wie sie die solange verkannten graphischen und malerischen, musivischen und architektonischen opera diesseits und jenseits klassischer Stilnormen und Seh-Konventionen zeigen – zeigen aber nur dem, der selber den offenen Blick dafür hat, oder, der ihn sich öffnen lässt. Genau nun, meine Damen und Herren, dies Moment des offenen – öffnenden, detektorischen – Sehens des Kunstforschers einerseits und des in anderen als den konventionellen Strukturen und Perspektiven bildenden, gleichsam experimentierenden Künstlers andererseits ermutigt
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mich, an einen der großen innovativen Denker um 1600 zu erinnern, aus der Zeit also, in der – nach Clausberg und Breidbach – die Geschichte des instrumentierten, experimentellen Vorstellens und Darstellens; des technisch versachlichten Bildes und Gebildes; des mediierten, apparatevermittelten, organisierten Gedachten und Gedächtnisses im eigentlich technischen Sinn und Kunst-Sinn begann. Und zwar will ich an das große Gründerpendant, das empiristische Seitenstück zum Rationalisten Descartes, an Bacon erinnern.
II Bacon war Inaugurator der offenen Philosophie, des Typus investigativen, experimentellen Denkens statt eines magistralen, systematischgeschlossenen, prinzipien-dogmatischen – eines erhellenden statt eines aufs Neue obscurierenden. Die Normen, die Prinzipien stehen nicht von vornherein fest, so dass wir von ihnen als von sicherem – gar von beschworenem, geweihtem – Grund ausgehen könnten. Sie müssen stets erst noch gefunden, entdeckt werden – durch Forschung und Observation und nicht divinatorisch, in antizipatorisch-arbiträrer Setzung oder durch bloße Ratiocination.1 Alles hängt hier von gründlicher, unabgelenkter, aufdeckender Beobachtung ab, vom genauen Hinsehen, und zwar nicht nur mit den Augen des isolierten Ich, meinen Augen – video, ergo res videns et intelligens est –, sondern mit vielen Augen videmus, ergo res videntes et intelligentes sunt –, den vielen Augen der aufmerksamen und forschenden Menschen in ihrer ganzen Anzahl in Räumen und Zeiten.2 Philosophie der Forschung wird die Prinzipien und Gründe erst am Ende des Erkenntnisprozesses kennen, als durchschaute (und nicht als phanta-
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„Syllogismus ad principia scientiarum non adhibetur, [...] cum sit subtilitati naturae longe impar.“ (Francis Bacon: Novum Organon, liber primus, aph. XIII; in: Neues Organon, Teilbd. 1, hrsg. von Wolfgang Krohn, Hamburg 1990, S. 84 ff.) 2 „Neque pro nihilo aestimandum, quod per longinquas navigationes et peregrinationes [...] plurima in natura patuerint et reperta sint, quae novam philosophiae lucem immittere possint. [...] Authores vero quod attinet, summae pusillanimitatis est authoribus infinita tribuere, authori autem authorum atque adeo onnis authoritatis, Tempori, jus suum denegare. Recte enim Veritas Temporis filia dicitur, non Authoritas.“ (Op. cit., aph. LXXXIV; in: l. c., S. 180.)
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sierte)3 – und dieses Ende ist offen, nicht selber prinzipiell festzulegen. Es ist die Forschung, die den voreiligen theoretischen und cognitiven Antizipationen entgegenwirkt; die die stilisierenden Vorgriffe auf die Sache verhindern und rückgängig machen will; die die konstruierten Fetische und fetischisierten Konstrukte dekonstruieren will, die doch als bloße Substitute für das Sein und die Sachen figurieren. – Damit habe ich die – immer wieder verharmloste oder verkannte – Grundtendenz dieser Philosophie der Experienz vom Ende der Renaissance und am Beginn der technologisch-experimentellen Moderne bezeichnet. Diese Philosophie hat den Horizont des Vorstellens neu ausgemessen. Sie hat die Kräfte und Vermögen der Vorstellung und der Imagination des neuzeitlichen Menschen selber zu ermessen gesucht und deren Leistungen: des Wahrnehmens, des Erkennens, des Sehens qualifiziert und präzisiert. Sie hat ihnen – und zwar als den der Materie, dem leiblichen Menschen wesenseigenen Kräften und effizienten Bewegungen – die Funktionen der Orientierung in Raum und Zeit, des Durchschauens der natürlichen und der historischen, der physischen und der psychischnoetischen Ding-Komplexionen beschrieben und die Regeln aufgezeigt, nach denen sie erfolgen können. Und Bacon hat über Potenzen wie Grenzen der Mediatisierung, der Tradierung, der Darstellung und Fixierung des Vorgestellten und Imaginierten, des Percipierten und Appercipierten aufs gründlichste nachgedacht. So über die Thesaurierung der Gedanken und Bilder vermöge der artes memoriae et traditivae, der Gedächtnisund Überlieferungstechniken, über die Verfügbarkeit und den produktiven Gebrauch der Gedanken und Bilder durch die Menschen auf ihrem langen und mühseligen Bildungs- und Humanisierungsweg. Diesen neu ermessenen Horizont des Vorstellens und Darstellens; die Leit- und Visionskraft der empiristischen Vorstellungs-Idee (als „visionären Realismus“4 charakterisiert Charles Whitney Bacons Philosophie) samt den typischen Charakteren experienziellen Perzipierens, Sehens und Einsehens (des Perzipierens also, welches das bloße abstrakte Konzipieren 3 „Philosophische Prinzipien gehören sachlich gesehen an das Ende des Forschungsprozesses. Am Anfang sind sie nicht Prinzipien, sondern [...] ‚Antizipationen‘, hypothetische Unterstellungen.“ (Wolfgang Krohn: Einleitung, l. c., S. XXII f.) 4 Charles Whitney: Francis Bacon and Modernity, New Haven, London 1986; dt.: Francis Bacon. Die Begründung der Moderne, Frankfurt am Main 1989, S. 28.
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und Stilisieren als ein Verzerren und Blenden, Überblenden des Reellen denunziert); diesen empiristischen Horizont von Vorstellen und Darstellen lassen Sie mich kurz charakterisieren und auf seine innovierende und fruktifizierende Einwirkung gerade auf neue und neueste Auffassungen von der Substanzialität der Bilder – oder ihrer Wesenlosigkeit und Nichtigkeit als bloßer Idole – hinweisen.
III Vorstellen, Percipieren ist, nach Kant, die Bewusstseinsleistung des „Vorstellig-Machens“ der Dinge im Subjekt – die eigentliche Leistung der Objektivation, des Objektivierens und objektiven Erfassens von etwas in der Bedeutung, dass es uns vor Augen kommt; als etwas, als Sache unseren Sinnen – den äußeren wie dem inneren – bemerklich wird,5 auch in der Bedeutung, dass wir uns ‚dabei etwas vorstellen können‘ und es uns ‚einsichtig, verständlich wird‘: in der deutlichen und klaren Distinktion und Differenz eines Objekts von einem anderen und vom Subjekt. Vorstellen ist die Art eines Subjekts, Objekte zu haben.6 Dem äußeren Sinn wie dem inneren stellt das Perzipierte als Sache, Objekt sich dar: als wahrgenommene also, als gefühlte, gespürte, und als geistige, gedachte. Nach Bacon tut sie das als ‚selbsterzeugte‘, ist sie selbst sich darstellende Sache,7 zum Unterschied von der reintranszendental erzeugten. Dem konsequenten Empiristen ist die Sache, die im Subjekt sich einprägt, aktiv, dem Transzendentalisten das Subjekt, das die Sache in ihrer Sachlichkeit konstituiert, ausprägt. Das geistige Objekt verdankt sich der noetischen Kraft des Vorstellens, der Intentionalität des Denkens, so, wie sich das physische Objekt der Intentionalität der Sinne und der Affekte verdankt: buchstäblich der Innervation – der neuroni5 Siehe Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, erste Aufl. (1781), S. 370 f. (in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. IV, Berlin 1911, S. 232 f.). 6 Das Objekt ist „überhaupt nur für das Subjekt da[...], als dessen Vorstellung“ (Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Erstes Buch, § 4, in: ders., Werke in zehn Bänden, hrsg. von Arthur Hübscher, Zürcher Ausgabe, Bd. 1, Zürich 1977, S. 38). 7 „Die Sinne [eröffnen] das Natürliche“ (Francis Bacon: De dignitate et augmentis scientiarum, dt. hrsg. von Johann Hermann Pfingsten [1783]; Nachdruck Darmstadt 1966, 1. Buch, S. 45.)
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schen (photonischen, akustischen, elektronischen) Materialisation. Auch die noetischen Objektivationen sind Innervation, d. h. neuronische Materialisation – nur unendlich subtiler und feiner; wie schon auf ihre Erkenntnisweise Epikur und Demokrit von den Gedanken und Bildern im Kopf wussten.8 Gedanken, Begriffe, innere Bilder sind Leistungen der „Hirn- und Herz-Materie“ – prinzipiell, besser strukturell so, wie die Leistungen der heute neurologisch weitaus eingehender erforschten Gehirnund Körpermaterie und ihrer spezifischen materiellen Attributivität. Demokrit wird von Bacon hoch geschätzt; in seinen und den verwandten „naturphilosophischen“ Erklärungen der Imagination als weitaus triftiger gewürdigt9 als die Theoretiker vor allem neuplatonischer und hermetischer Provenienz – diese Apologeten der Imagination (Lullianer zumeist, Brunisten, der Rosicruciani von der Art Fludds), der Apologeten der Imagination als purer Schöpferkraft; als einer absolut hervorbringenden, d. h. von keiner stofflich hemmenden, korrumpierenden, sinnlich-passiven Rezeptionslimitation beeinträchtigten, also gottgleichen Kreativität. Die rezeptive Limitation – die durch die Sinne – ist es, die nach Bacon, umgekehrt, die originale Imagination und Erkenntnis gewährleis8 „[D]ie Seele“ hat sich „aus [...] glatten und runden Atomhaufen gebildet [...]; sie und die Vernunft sind eins.“ (Demokritos, in: Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, hrsg. von Klaus Reich, Hamburg 1990, Bd. 2, Buch IX, S. 182.) – Es gibt „Abdrücke von gleicher Gestalt wie die festen Körper, die aber an Feinheit die von uns wahrgenommenen Dinge weit überragen. [...] Diese Abdrücke aber nennen wir Bilder (Idole).“ (Epikuros, in: l. c., Buch X, S. 244) „Man muß es [...] für richtig halten, daß es etwas von den Außendingen auf uns Einströmendes ist, was uns die Gestalten sehen [...] läßt. Denn nimmer würden die Außendinge ihre natürliche Farbe und Gestalt durch das“ dazwischenliegende „Medium [...] oder durch irgendwelche Art von Strahlen oder [...] Strömungen, die von uns aus zu ihnen stattfinden, so deutlich ausgeprägt übermitteln, wie es dann geschieht, wenn von den Dingen aus gewisse Abdrücke in uns Eingang finden, die [...] mit großer Schnelligkeit in uns eindringen und eben dadurch die Vorstellung eines einheitlichen, in sich fest geschlossenen Gegenstandes erzeugen und die Übereinstimmung mit dem zugrunde liegenden Gegenstand aufrechterhalten gemäß der von diesem ausgehenden [...] Nachhilfe, die ihren Grund hat in dem Schwingen der Atome in dem durch seine Tiefendimension dazu befähigten festen Körper.“ (L. c., S. 245 f.) „Trug und Irrtum aber liegen immer nur in dem Hinzugedachten“ (l. c., S. 246). – Die Erneuerung dieser Lehre durch P. Gassendi und seine materialistische Polemik gegen den idealistischen Subjektivismus Descartes’ s. in den „Fünften Einwänden“ wider dessen Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (dt. hrsg. von Artur Buchenau, Hamburg 1994, S. 232–319). 9 „[D]ie Naturphilosophie eines Demokrit und anderer, die weder an Geist noch Vernunft in der Konstitution der Dinge glaubten, [scheint mir] in den Einzelheiten der physikalischen Ursachen wirklichkeitsnäher und besser fundiert zu sein, als die eines Aristoteles und eines Plato“. (The Works of Francis Bacon, hrsg. von James Spedding et al., New York 1968, vol. III, p. 358, cit. Whitney, l. c., S. 72.)
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te; die also, welche die ungehemmte, die phantastische und fiktionalrealitäts-substitutive Imagination gerade versagt. Hier kommt der spezifisch experienziell-indukive Verfahrensmodus der Bacon’schen Nova Scientia ins Spiel. Wie gewinnen wir klare, einleuchtende, unverstellte und unverblendete Erkenntnis von den Dingen – den natürlichen und den historischen, den gewachsenen und den gemachten? Es ist das Wie, auf das es hier ankommt. Von dem Was ist seit der Gegenaufklärung und seit dem Positivismus – und bis heute – immer wieder behauptet worden, es sei unzulänglich erfasst, das Verfahren irrelevant, eine Art Hohn auf strenge, positive, faktizitätsrelevante wissenschaftliche Erkenntnis. Bei genauem Hinsehen lässt sich das aber sowenig aufrechterhalten wie die Grundeinwände des magistralen Denkens gegen das experimentelle, was die richtigstellenden Erörterungen des theoretischen Wertes der baconschen natur- wie traditionsphilosophischen Induktion durch Rossi, Farrington, Whitney, Krohn, vor allem Mary Hesse10 überzeugend dartun. Wie muss verfahren werden, soll unser Vorstellen – imaginatives und intellectuales – den Charakter des Klarsehens, der deutlichen Einsicht, der treu auffassenden Erkenntnis bewähren und garantieren? Hauptregel ist: Das Subjekt muss sich soweit als möglich zurücknehmen und die Sache so nahe als möglich hervor- und herantreten lassen. Es muss in gewisser Weise zum Spiegel der Sache werden,11 darin diese sich unverzerrt, unentstellt wiederfinden kann, oder zum Seismographen, der noch die feinsten Echowellen, das nachhallende Vibrieren der bewussten Sache selbst auffängt und nachschreibt. Die ungetrübte Erkenntnis der „reinen Naturen“ und das heißt nach Bacon der „Formen“ der Dinge, „die das Ding selbst ausmachen“ und die vom physischen Ding nicht geistig-separat bestehen, sondern von ihm wie „die Erscheinung von der Wirklichkeit“ sich unterscheidet „oder wie das Äußere vom Inneren“12 – solche Erkenntnis ist 10
Siehe Mary B. Hesse: „Francis Bacon’s Philosophy of Science“, in: Essential Articles for the Study of Francis Bacon, hrsg. von Brian Vickers, Hamden (Conn.) 1968; und dies.: Models and Analogies in Science, Notre Dame 1966. 11 Bacon’sche Aufklärung sucht nach einem „ebenbürtigen Spiegel der Natur“ (cit. Whitney, l. c., S. 75). – Gegründet sollte „im menschlichen Geist“ ein „Tempel“ werden „nach dem Muster der Welt“, „die Wissenschaft ein Abbild der wirklichen Welt sein“ und an diesem Abbild „nichts fehlen, auch nicht das Mindeste, denn Alles was da ist, dachte Bacon, hat ein Recht gewußt zu werden“. (Kuno Fischer: Francis Bacon und seine Schule, Heidelberg 1904, S. 326.) 12 „Datae autem naturam Formam, sive differentiam veram, sive naturam naturantem, sive fontem emanationis [...] invenire, opus et intentio est humanae Scientiae.“ (Novum Organum, liber se-
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weitgehend Einwirkung des Erkannten aufs Erkennen und den Erkennenden.13 Darum aber nicht reine receptio oder Erleidnis des (durch Leib und Sinne) empfänglichen, empfindlichen Subjekts. Es muss, gerade um der Genauigkeit etwa des Sehens willen, der Bild prägung, die die Sache im Sehend-Wahrnehmenden bewirkt (ihrer Ein-Bildung ins Sensorium), also einem Vermögen der Sache, ein Vermögen der abbildenden, nachbildenden, präzisierenden Rezeption entsprechen, wenn denn das Sehen ein unverstelltes Gesehenes, ein treues Bild der Sache gewähren soll.
IV Hier muss also eine Analogie walten: eine Ähnlichkeit – bei und trotz aller Verschiedenheit – zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Spontaneität und Rezeptivität; zwischen Blicken und Erblicktem, videre und visum, Figurieren und Figur. Diese Analogie zeigt sich als eine doppelseitige (man hat auch von doppelter Referenzialität, ja Tripelreferenz im analogischen Vorstellen und Darstellen gesprochen). Sie besteht einerseits zwischen der Subjektivität des Objekts, der Prägekraft des Dings14 und der des Subjekts, seinem mimetischen reproduktiven Vermögen, und andererseits zwischen dem eigentlichen Ding-Charakter des Objekts und dem des Subjekts, das ja selbst ein durch und durch dinghaft Geprägtes, cundus, aph. I; in: Neues Organon, Teilbd. 2, l. c., S. 278.) – „Forma rei [est] ipsissima res; neque [differt] res a Forma, aliter quam differunt apparens et existens, aut exterius et interius“ (op. cit., aph. XIII; l. c., S. 330.). – „Nos [...] quum de Formis loquimur, nil aliud intelligimus quam leges illas et determinationes actus puri, quae naturam aliquam simplicem ordinant et constituunt“ (op. cit., aph. XVII; l. c., S. 352). 13 „Homines [...] adhuc parvam in Experientia moram fecerunt, et eam leviter perstrinxerunt“ (op. cit., liber primus, aph. CXII.). – „[M]e videant [...] in hac re plane protopirum [...] veram viam constanter ingressum et ingenium rebus submittentem, haec ipsa aliquatenus [...] provexisse“ (op. cit., aph. CXIII; l. c., S. 234 und S. 236). 14 Bacon, im Sinne „seine[r] materialistische[n] Umwertung der Magie in ‚natürliche‘ Vorgänge“, nimmt „keinen Anstand, den Körpern eine Art von Vorstellungsvermögen zuzuschreiben, den Magneten die Nähe des Eisens ‚bemerken‘ zu lassen und die ‚Sympathie‘ und ‚Antipathie der ‚spiritus‘“ – im Sinne etwa der eingewurzelten Lehre von den Galen’schen psychischen und animalischen spiritus – „zur Ursache der Naturvorgänge zu erheben [...]. Damit harmoniert es denn auch sehr gut, wenn Baco sogar in seiner [...] Theorie der W ä r m e noch die astrologische ‚Wärme‘ eines Metalls, Sternbildes usw. [...] mit der physikalischen Wärme in eine Reihe stellt“ (Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Erstes Buch: Geschichte des Materialismus bis auf Kant [1873], hrsg. von Otto A. Ellissen, Leipzig o. J., S. 267).
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ein stofflich, leibhaft Prägbares ist. Solche Identität bei deutlicher Verschiedenheit des Gleichen ist eine durch ein Mittleres, das die Ungleichen gemeinsam haben (so wie etwa auch das interface). Und dies gemeinsame Mittlere macht ihre Verwandtschaft aus. Die Analogie der Dinge, der Subjekte wie Objekte, ist ihre Verwandtschaft, die Natureigenschaft, die sie in und bei ihrer Verschiedenheit gemeinsam haben. Daher, so Bacon, seien die Dinge auf das hin anzusehen, womit sie Analogien haben – „Familienähnlichkeit“, wie Wittgenstein von den Sprachen sagte – und worin sie analog sind. Und eben darin wird ihre Natur, ihr Wesen (so weit nämlich bei der Analogie die Identifizierung von etwas gehen kann) als ihr eigenes, als die Bezeugung ihrer Selbstmanifestation erfasst. Analogien, Ähnlichkeiten in der Welt suchen – nach jenen (vermittelten) Identitäten und Verwandtschaften forschen, die den Suchenden die wahre Natur der Sachen entdecken, sehen lassen –, darin bestehe der Hauptantrieb der Nova Scientia. Das aufdeckende, entdeckende, den Idolen-Schleier zerreißende Sehen und Sehenlassen ist buchstäblich das apokalyptische, nämlich die wahre Natur offenbarende: die Vision des Geweissagten im Lichte der Spiegelung prophetischer Wahr-Rede.15 Analogien soll man finden, nicht erfinden; der Natur ist das Wort zu lassen,16 dagegen dem allegorischen, rhetorischen Witz – einer unbeschränkten Einbildungskraft, bloßer Erfindung des Geistes, zügelloser ‚Inspiration‘17 – aufs höchste zu misstrauen. Sie überblenden das Seiende und obskurieren es so aufs Neue, statt es zu erhellen und im eigenen
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Bacons „philosophia prima“ will, „was je als bloße Analogie erscheint“, als „die natürliche Grundlage der Bilder und Tropen“, der Ähnlichkeiten in der natürlichen und geschichtlichen Welt, „deutlich und rational begreifbar werden“ lassen. Die allseitig durchmusterten „heterogenen Fakten“, die „Art“ ihrer „wechselseitigen“ wissenschaftlichen „Erhellung“ („[W]as in dem einen dunkel ist, ist in dem anderen sichtbarer, ja es kommt vor, daß in einem Bereich etwas entdeckt wird, was in einem anderen überhaupt nicht gesehen wird. Daher stellt eine Wissenschaft jeweils eine große Hilfe zur Entfaltung und Unterstützung einer anderen dar. Ohne diesen wechselseitigen Austausch wären die Axiome der Wissenschaften [...] weder vollständig noch wahr“, heißt es im Valerius Terminus; cit. Whitney, l. c., S. 78) sollen in der „induktiven Wissenschaft Bacons“ (Whitney, ibd.) zur „Apokalypse oder getreuen Vision“ der wahren Welt gelangen (Whitney, l. c., S. 79). – Als überaus beredtes Beispiel analogischer Identität des Verschiedenen nennt der Valerius Terminus „das Trillern in der Musik das gleiche, wie das Spiel der Lichter auf dem Wasser“ (cit. Whitney, l. c., S. 78), erfasst also die Identität der Vibration im akustischen tremulus und im optischen Flimmern. 16 Whitney, l. c., S. 130. 17 L. c., S. 131.
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Licht strahlen18 zu lassen. Sie finden, gelingt aber nur, wenn man sie naturae parendo, der Natur gehorchend, das heißt: auf sie hörend und weder sie überhörend noch überschreiend, sucht. Wir werden der Natur niemals den Vorteil, das Gute klarer Einsichten und unserer Natur, ja ihr selbst nützlicher (treuer, genauer) Porträts abgewinnen, wenn wir nicht ihre Strahlen, ihr Echo wie im ungetrübtesten Spiegel auffangen. „Natura [...] non nisi parendo vincitur“19 . Es ist der Sieg des Empfangenden, dem freiwillig, von sich aus, gegeben wird. Die Bacon’sche Naturerkenntnis ist – in diesem Sinn – Hingabe des Erkennenden an die Natur, dem die Erkannte freiwillig sich zurückgibt. „[E]t quod in contemplatione instar causae est, id in operatione instar regulae est“20 : Erst in einem zweiten, dem eigentlich praktischen Schritt wird das ausgenutzt – und zurecht kritisiert; doch das darf den ersten nicht übersehen und diese Dialektik der Naturerkenntnis ignorieren lassen.21 Will ich das „unverfälschte Sein“ der Dinge erkennen, muss ich nach Analogien, Ähnlichkeiten, Verwandtschaften unter ihnen suchen – d. h. nach ihren Identitäten, die durch ein gemeinsames Mittleres miteinander gleich sind. Das Mittlere ist das Medium, das bedeutet: das aktiv und passiv Vermittelnde. – Was ist dieses Medium in der Erkenntnis, in der visio und imaginatio, der evidentia und intellectio? Es ist das Licht. Ste18 Der philosophisch ungezügelte Geist ist die „makellos polierte Oberfläche“ nicht, „um die wahren natürlichen Strahlen der wirklichen Dinge aufzunehmen“; zu sehr ist der Zugang zum „Verstand von den finstersten Idolen besetzt und blockiert“ (siehe Francis Bacon: Temporis Partus Masculus, übers. von Benjamin Farrington, in: Centaurus, Vol. 1 [1951], S. 193–205 [Zitat nicht ermittelt]). 19 Novum Organum, l. c., aph. III; l. c., S. 80. 20 Ibd. 21 Jener praktische Schritt ist der hinaus aus dem Zustand „maßloser Hilflosigkeit und Armseligkeit der menschlichen Gattung“ – des Menschen und der Natur nach ihrem Fall – und hinein in den der ‚Vereinigung des Menschen mit den Dingen‘; (Bacon, Temporis Partus Masculus, l. c., S. 201 [„the immeasurable helplessness and poverty of the human race“, „to unite [...] with things themselves in a chaste, holy, and legal wedlock“]). – „Das wahre Ziel des“ angewandten „Wissens ist [...] die Hoheit und die Macht des Menschen, die er im Urzustand der Schöpfung hatte, wiederherzustellen“ (Francis Bacon: Valerius Terminus. Von der Interpretation der Natur, hrsg. von Franz Träger, Würzburg 1984, S. 43.) – Er wird erlangt dadurch, „ut dotetur vita humana novis inventis et copiis“ (Novum Organum, l. c., aph. LXXXI; l. c., S. 172). – Und „inventa beant, et beneficium deferunt absque alicujus injuria aut tristitia. Etiam inventa quasi novae creationis sunt, et divinorum operum imitamenta“ (op. cit., aph. CXXIX; l. c., S. 268). – Die vernünftige Praxis ist die Überlistung der Natur zum – großen – Zwecke ihrer Humanisierung – die Gegengabe für ihre Naturalisierung des Menschen. Die Täuschung über diese Wechselwirkung – den ungebrochnen Fortschritt in der Geschichte – geht erst am Ende der bürgerlichen Gesellschaft auf, an ihrem neuzeitlichen Anfang ist sie Ausdruck und Postulat progressiver Wahrheit; der, die an der Zeit war.
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hen die Dinge nicht im Licht, scheinen, leuchten sie nicht, dann sehen, erkennen wir sie nicht. Wie verum index sui et falsi, so lumen index sui et obscuri.22 Ohne Licht leuchtet nichts, leuchtet nichts ein – ohne Licht auch des Geistes wird nichts evident. Licht ist einmal das passive Medium, das Element, in dem die Dinge als klare und distinkte erscheinen können: Wahrschein,23 zum anderen der aktive Vermittler, der Agent, der macht, dass etwas als klar und distinkt einleuchtet. Leuchten ist aktiv: Strahlen, gleichsam Taststreifen aussenden,24 und Leuchten ist passiv: Widerscheinen, Reflex.25 Ohne das aktiv-passive Mediieren des Lichts gäbe es keine Bilder, ohne die Bilder von den Sachen wären die Sachen nicht zu identifizieren – weder in ihrer selbstreflektierten, noch ihrer reflektierten Identität und Verschiedenheit zu erfassen.
22 „Sanè sicut lux seipsam et tenebris manifestat, sic veritas norma sui, et falsi“ (Spinoza: Ethica II, prop. XLIII, schol.; in: ders., Opera / Werke hrsg. von Konrad Blumenstock, 2. Bd., Darmstadt 1967, S. 230). 23 „Quidquid clare et distincte percipimus, verum est.“ (Spinoza: Renati des Cartes Principiorum philosophiae pars I, prop. XIV [Benedicti de Spinoza: Principae Philosophiae Cartesianae More Geometrico Demonstrata, in: ders., Opera Philosophica omnia, hrsg. von August Friedrich Gfrörer, Stuttgart 1830, S. 19]). 24 „Spätestens seit der Optik Euklids wird das Sehen als Blicken“ (der Subjekte wie der Dinge) „gedacht und das Blicken als eine Strahlung“ (wie noch nach Berkeley ein Betasten der Dinge auf Distanz), „die kegelförmig vom Auge bis zum gesehenen Gegenstand reicht“ (Thomas Macho: „Ist mir bekannt, daß ich sehe? Wittgensteins Frage nach dem inneren Sehen“, in: Video ergo sum. Repräsentation nach innen und außen zwischen Kunst- und Neurowissenschaften, hrsg. von Olaf Breidbach u. Karl Clausberg, Hamburg 1999; Bd. 4 der Interface-Reihe, hrsg. von Klaus Peter Dencker im Auftrag der Kulturbehörde Hamburg, Red.: Ute Nagel, S. 99–111; Zitat: S. 103). – Nach Goethe noch ist das Gesehene, die Farben der Dinge „Taten des Lichts, Taten und Leiden“ (Johann Wolfgang Goethe: Schriften zur Farbenlehre, in: ders., Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. von Ernst Beutler, Zürich 1949, Bd. 16, S. 9). 25 Ist Spiegelung; „Spiegelung“, die – seit Kepler – die „Strahlung“ ersetzt. Das „Sende-“ wird vom „Empfangsmodell des Sehens abgelöst“. „Keplers Optik [...] setzt Bewußtsein als Instanz der Spiegelung, der Reflexion“ (Macho, l. c., S. 106). – Speculari: Auffassen des Absoluten in seinen Manifestationen, Revelationen; des Wesens in seinen Erscheinungen – seinen Reflexen (Hegel). – Dies ist im Geist baconischer Naturphilosophie, die sich „in Demut und Ehrfurcht“ den Dingen nähert, ins „Buch der Schöpfung“ meditierend sich versenkt (cit. Whitney, l. c., S. 125), um darin die „göttliche[...] Signatur der Dinge“ zu entziffern (cit. l. c., S. 99). „Ich [...] verweile unabgelenkt [...] inmitten der Tatsachen der Natur und distanziere meinen Verstand nur insoweit, als es nötig ist, um die Bilder und Strahlen der natürlichen Gegenstände in einem Punkt zusammentreffen zu lassen“ (cit. l. c., S. 125), d. h. im Fokus des ‚Absoluten‘ – in konzentrierter Reflexion – aufzufassen.
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V Davon hatte Bacon das genaueste Bewusstsein, und darin gründete seine heuristische Methodik. Ihr Grundsatz ist: investigatio, inventio, inductio non ex analogia hominis (nämlich wie bei Paracelsus, Fludd oder Bruno), sondern ex analogia universi sive rerum naturalium ipsarum.26 Gedacht bei der zu vermeidenden analogia hominis ist an die vermessenen phantastischen Annahmen menschlicher Gottes- oder SchöpferEbenbildlichkeit und an die wilde anthropomorphische Projektion – nicht jedoch an inductio und inventio des historischen Menschen. In dessen Erkundungsversuchen und Versuchen der Exposition und Darstellung des Erkundeten werden, im Gegenteil, viele fruchtbare und erhellende Analogien gefunden – und zwar namentlich in den mythischen, religiösen, künstlerischen Gleichnissen (und „Vergleichnissen“) der Alten; Bacon hat sie in De sapientia veterum und in De dignitate et augmentis scientiarum gründlich gewürdigt. Er hat dort herausgestellt, dass – und inwieweit – die Gleichnisse, in denen die Menschen sich aussprachen (die der Frühzeit und in ihrer Nachfolge die philosophischen und theologischen Poeten und Künstler), nicht selber Analogien sind – seiende, natürliche; die einzigen also mit theoretischem Erkenntniswert –, sondern solche stecken in den Gleichnissen und Metaphern darin und müssen aus den allegorischen Verkleidungen erst herausgeschält werden.27 Wir müssen sie an ihnen selbst sich offenbaren lassen: zum interpres, Übersetzer des Kunst-Textes in den der Natur uns machen. Dann sehen wir sogleich den fruchtbaren Erkenntniswert, den auch das Verfahren via analogiae hominis haben kann.
26 „[C]onvertenda plane est opera ad inquirendas et notandas rerum similitudines et analoga, tam in integralibus quam partibus. Illae enim sunt quae naturam uniunt, et constituere scientias incipiunt. Verum in his omnino est adhibenda cautio gravis et severa; ut accipiantur pro Instantiis Conformibus et Proportionatis, illae quae denotant Similitudines (ut ab initio diximus) Physicas; id est, reales et substantiales et immersas in natura, non fortuitas et ad speciem; multo minus superstitiosas aut curiosas, quales naturales magiae scriptores (homines levissimi [...]) ubique ostentant; magna cum vanitate et desipientia, inanes similitudines et sympthias rerum describentes atque etiam quandoque affingentes.“ (Bacon, Novum Organum, liber secundus, l. c., aph. XXVII; l. c., S. 404 ff.). 27 „[I]n jenen Jahrhunderten [war] alles voll allmächtiger Fabeln, Parabeln, Räzeln und Gleichnißen [...] Ja sogar die Sinnsprüche der alten Weisen bezeichneten fast immer durch Gleichniße die Sache.“ (De dignitate, l. c., 2. Buch, 13. Kap., S. 235.)
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Baconische Wissenschaft ist nicht nur descriptio, analysis naturae und Entzifferung der Naturschrift, sondern auch Mythographie, Kultur- und Historiographie: Deutewissenschaft von den Kulturgebilden, Kulturphysiognomik, wie Benjamin, Auerbach oder Cassirer sie nannten oder auffassten. Dem mythographischen Verfahren Bacons fallen die bedeutendsten Einsichten zu – solche wie wir sie erst bei Vico schätzen und doch in wesentlichen Stücken seinem Vorgänger – dem nach Whitney von Vico eifrig studierten Bacon – verdanken. Dieser jedenfalls hat den hohen heuristischen Wert der Mythographie prinzipiell erfasst und ihr wichtige kulturhistorische Einsichten abgewonnen. Zu erinnern ist hier vor allem an die in den Mythen präfigurierte Bild-, Schrift- und Sprachtypologie. So vermag er die Echo-Narciss-Mythe als die versteckte Spiegel-Analogie zwischen Bild und Abbild, Strahl und Reflex, Ton und Echo, Laut und Nachhall – zwischen Archetyp und Ektyp zu erfassen.28 Und in der Pan-Syrinx-Mythe erkennt er die Analogie zwischen Kunstwerk, Opus, Text einerseits und poetisch-phantastisch verschleiernder Zauberspiegelung andererseits.29 Die Syringe, die Flöte, auf der Pan seine liebeskranken sehnsüchtigen Melodien spielt, ist aus dem Schilfrohr geschnitten, in das die vor dem Verfolger fliehende Nymphe Syrinx von Artemis verwandelt wurde.30 Und solchen Mythen wie denen von der Sphinx – historischen Zeugnissen „parabolischer Poesie“ – entlockt er die Orakel- und Rätselanalogie, die ein in seiner wahren und unzweideutigen 28
Dass dem Pan, dessen Insignie „die Flöte aus sieben Röhren“ ist, die „die Übereinstimmung und Einigkeit der Dinge oder die Harmonie mit der Uneinigkeit vermischt“, ‚deutlich anzeigt‘, „keine Liebesgeschichten zugeeignet werden, außer der Vermählung Echos“, ist, bei dem ‚Selbstgenuß der Welt und aller Dinge in ihr‘, „gar kein Wunder“: hier kann nicht „Liebe außer vielleicht die Liebe der Rede“ stattfinden. Dies aber „ist die Nymphe Echo“, keine „wirkliche Sache, sondern ein Ton [...]. Unter den Reden oder Stimmen aber wird Vorzugsweise allein das Echo zur Vermählung des Alls genommen: denn dies ist erst die wahre Philosophie, welche die Stimmen des Weltalls selbsten aufs getreueste wiedergibt, und gleichsam nach Diktiren der Welt (dictante mundo) geschrieben worden ist; und nichts anders ist als deren Bildniß und Wiederschein“ [wie, beim Narciss, das treue Spiegelbild im Wasser; zur Narciss-Mythe siehe Bacon: De sapientia veterum, XXVI], „die auch nichts von dem eigenen hinzuthut, sondern nur wiederhohlt und zurückschallt“ (l. c., S. 250 und S. 257). 29 Ist Echo ‚unter den Reden oder Stimmen‘ die wahrhafteste, die der Philosophie, geschrieben dictante mundo, so „Syringa“ der ‚genauere‘, voller und selbstlautende (nicht bloß nachlautende) „Ton“: „nemlich Worte, und Stimmen, [die] durch ein gewißes Maas, entweder poetisches oder oratorisches, und gleichsam durch Melodie geordnet werden“ (ibd.). 30 Zur Syrinx-Mythe siehe Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon, Leipzig 1770 (Nachdruck, Darmstadt 1967), Sp. 2276.
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Bild
Natur und Beschaffenheit undurchschautes Seiendes in seiner ganzen rätselstellenden Auflöse- und Deutebedürftigkeit mit Aenigma und Sphinx teilt.31
VI So zeichnet sich, gerade an den mythologischen und poetologischen Untersuchungen Bacons eine – triadische – Bildtypologie von heuristisch stets noch produktivem Wert ab: die Trias von Spiegelbild Phantasiebild Rätselbild mit den Sein- (oder Schein-) Charakteren der Spiegelbildlichkeit oder reproduktiven Treue Phantastik und Fiktivität Verschlüsselung oder des Kryptogrammatischen also mit der Real- (oder Irreal-) Bestimmtheit von natürlichen wie von künstlichen Dingen selber – je nachdem, ob sie entweder in ihrem Sein oder Wesen offenliegen oder verzerrt, stilisiert, geschönt oder verhässlicht oder aber schlicht ‚erfunden‘ sind oder in ihrem Sein und Wesen verschlüsselt, verschlossen, höchstens in Spuren angedeutet sind. Dieser Trias von Bildern und Charakteren entspricht – per analogiam entis et imaginationis vel intellectionis – eine Trias der Medien und Werkzeuge, der Organe und Produktionsapparate (samt ihren Produkten), deren Skelett vor allem in den encyclopädischen und methodischen Teilen der „Magna instauratio“ mehr oder minder deutlich sich abbildet.32 31
Siehe Bacon, De dignitate, 1. c., S. 235: „Daher [...] die Räzel des Sphinx“. Siehe vor allem De dignitate, l. c., 4. Buch, 3. Kap. (Wissenschaft von der Substanz und den Kräften der Seele und von dem Gebrauch und den Gegenständen der Kräfte); 5. Buch, 1. Kap. 32
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I Mit den Medien von Farbe und Licht, den logisch-mathematischen Apparaten von Perspektive und Ratiocination, von Projektion und Proportionierung schaffen der – inventorisch-experientielle – Bild - und Verstandes-Künstler klare, durchsichtige – ‚plastische‘ –: erleuchtete Werke einerseits; ergründende, durch Eindringen Licht verbreitende: erleuchtende Werke andererseits opera der Mal- und Zeichenkunst der Tonkunst (der musikalischen und der redenden) oder der charakterisierenden deskriptiven Schreib-, Schrift- und Figurenkunst. Diese Kunstarten und ihre Produktionen stehen selber in AnalogieVerhältnissen zueinander; so spricht Bacon sehr ingeniös vom „VibrationsPhänomen“, das Musik, Malerei und (Ornament-)Schreibkunst gemeinsam haben: als Tremolo in der Musik, als Flimmern und Lichtzittern in der Malerei und als Wellen-Lineatur in Ornamentik (und Kurvenschriften).33 II Vermittels der Phantasie und des Fingierens, der Stilisation, der Kombinatorik und Montage – samt den Projektions-, Kombinations-, Simulations- und computierenden Werkzeugen und -Apparaten – schaffen Visions- und Bau- (Konstruktions-)Künstler (Eintheilung der Logik in die Künste, zu erfinden, zu beurtheilen, zu behalten, und vorzutragen; siehe jeweils: 2. Kap. – ars inveniendi –, 4. Kap. – ars iudicandi; darin: Widerlegung und Eintheilung der Bilder –, 5. Kap. – ars memorativa –, 6. Buch – ars traditiva; darin: 1. Kap. über Charakteristik, Grammatik; 2. Kap. über Rhetorik; 3. Kap. über Beredsamkeit). – Siehe die Lehre von den Idolen in Bacon, Novum Organum, l. c., 1. Teilbd., Aph. 38–68. 33 Siehe oben, Anm. 15. – Zur Analogie der Vibration der künstlerischen Medien mit den physikalischen Vibrationen siehe – interessanterweise – Kant: Meditationum quarundam de igne succincta delineatio (1755, in: Immanuel Kant: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I, Berlin 1910, S. 369–384); die Körperelemente haben zwischen sich eine mit der Materie der Wärme einerseits und des Lichts andererseits ‚identische, elastische Materie‘, durch deren Vermittlung sie sich gegenseitig anziehen und deren – eigene – vibratorische Bewegung das Licht und die Wärme sind. – Siehe auch Hegel zum ‚Urphänomen‘ des „inneren Erzitterns des Körpers in ihm selbst – des Klangs“ (Georg Wilhlem Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Leipzig 1949, §§ 299–302, S. 256–258).
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Bild
surrealistische, irrealistische spielerisch-phantastische utopisierende Werke34 der Bild-, der Ton-, der Schrift- und Gebärdenkunst. III Und mit den Mitteln von Spurenlege- und Lesekunst, also den Medien und Apparaten der Codierung, der Verrätselung und Verschlüsselung, der Verfremdung (sowie den entsprechenden der Decodierung, Entschlüsselung und Enträtselung) schaffen die Künstler der Schrift, der Sprache der Zeichen – die semiotischen und parabolischen –; die Emblematiker und Allegoriker, die orakelnden und die die Täuschbarkeit der Sinne aufzeigenden und nutzenden Künstler35 Vexier- und Rätselbilder; Symbole und Aenigmata; auch magische Werke – solche der Weiß- wie der Schwarzkunst –; der Alchymie der Farben, Töne und Stoffe36 und nicht nur in der Schrift- und Wortkunst, sondern, wegen der Sprach-, der Schriftanalogie von Musik, von Malerei und den gestischen Künsten, auch in diesen Künsten. Und alle haben das memorative, das traditive Element gemeinsam: weder können wir imaginativ noch intellectualiter vorstellen ohne wiederholende Reminiszenz des Vorgestellten; noch können wir erinnern und erinnerlich machen ohne die perceptiv-apperceptive Konstitution des Erinnerten. Dies hat Kant – in baconischer Blickrichtung – vielleicht am konsequentesten an den reproduktiven und schematisierenden Leistungen der syntheti34 Wie Bacon selbst mit seiner Nova-Atlantis-Utopie und ihren phantastischen Forschungs-, Erfindungs- und Produktionsstätten wie etwa dem „Haus der Blendwerke, wo wir“ ganz wie in der modernen Kunst- und Kulturindustrie „alle möglichen Gaukeleien, Trugbilder, Vorspiegelungen und Sinnestäuschungen“ auf die sinn- (und unsinns-)reichste Weise hervorbringen (Francis Bacon: Neu-Atlantis, in: Der utopische Staat, hrsg. von Klaus J. Heinrich, Reinbek bei Hamburg 1960, S. 171–215; Zitat: S. 212 f.). 35 Wie etwa die manieristischen und barocken, oder heute etwa Magritte und Escher. 36 Wie im – modernen – Symbolismus etwa die Werke von Rimbaud, Baudelaire, Huysmans oder Debussys oder Kandinskys.
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schen Apperzeption, insbesondere der darin tätigen imaginatio originaria und imaginatio derivativa, verdeutlicht.37 „Die zwei großen Leichentücher, die alles in Vergessenheit begraben, sind Sintfluten und Erdbeben“38 – geologische und politische. Sie verschlingen ganze Populationen. Durch sie reißen Erinnerung und Traditionsfolge ab, sie sind, mit den Lebenden, hinunter, vergessen. Aus den baconischen Analysen der Künste, der Tradier- und Gedächtniskünste können wir bis heute viel lernen: so auch dies, dass die Bilderfluten in unserer Epoche, die unaufhörlichen und über die Ufer und Dämme steigenden Bild-Ströme diejenigen wegzuschwemmen drohen, für die doch die Bilder gemacht werden: das Tradier- und Erinnerungsmittel Bild löscht den Tradierzweck aus. Eine sehend gewordene, aufgeklärte Menschheit droht unterzugehen in einer gedächtnislos werdenden. Sie droht in der technisch entfesselten Bildflut zu ertrinken. Wir sollen die logischen, die imaginativen Gedächtniskünste mit Verstand gebrauchen, mahnt uns baconische Erfahrungswissenschaft. Und zu humanem Nutzen – doch ohne dass dessen Idee in die ruchlose Maxime zügellosen Fortschritts: schwerster humaner Beschädigung sich verkehrte. Mir scheint diese Mahnung akut wie nie.
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„Die Einbildungskraft (facultas imaginandi), als ein Vermögen der Anschauungen auch ohne Gegenwart des Gegenstandes, ist entweder p r o d u c t i v, d. i. ein Vermögen der ursprünglichen Darstellung des letzteren (exhibitio originaria) [...]; oder r e p r o d u c t i v, der abgeleiteten (exhibitio derivativa), welche eine vorher gehabte empirische Anschauung ins Gemüth zurückbringt.“ Sie ist „entweder d i c h t e n d [...], oder blos z u r ü c k r u f e n d“ (Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, I, 1, § 28, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VII, Berlin 1917, S. 117–333, Zitat: S. 167.) 38 Francis Bacon: „Of Vicissitude of Things“, in: ders., Essays oder praktische und moralische Ratschläge [1625]; übers. von Elisabeth Schücking, hrsg. von Levin L. Schücking, Stuttgart 1993, S. 190–197 („Über die Wandelbarkeit der Dinge“).
Teil IV Anhang
Editorische Nachbemerkungen
Als Grundlage für die Edition der in diesem Band der Gesammelten Schriften Hermann Schweppenhäusers versammelten Texte wurden die letzten zu Lebezeiten publizierten Fassungen herangezogen und mit früheren verglichen. Für die hier vorgelegte Leseausgabe wurden die Texte im Hinblick auf Zitate, Zitatnachweise und Rechtschreibung kritisch revidiert. Offensichtliche Fehler wurden berichtigt; alle Zitate wurden überprüft und, wo nötig, korrigiert. Die Form der Zitatnachweise wurde vereinheitlicht. In allen Fällen, in denen vom Autor annotierte Druckexemplare überliefert sind, wurden diese zum Vergleich herangezogen und in die vermerkten Korrekturen und Ergänzungen aufgenommen. Die Abhandlungen wurden für den vorliegenden Band in thematische Abschnitte zusammengestellt; innerhalb dieser Abschnitte sind sie unter dem Aspekt ihres inhaltlichen Zusammenhangs gruppiert. Der Essay „Zum Widerspruch im Begriff der Kultur“ ist von Hermann Schweppenhäuser in verschiedenen Fassungen zur Veröffentlichung freigegeben worden. Unter dem Titel „Aspekte der Kulturkritik“ hat der Autor 1991 zwei frühere Aufsätze, die 1972 in seiner Essaysammlung Tractanda. Beiträge zur kritischen Theorie der Kultur und Gesellschaft im Suhrkamp Verlag publiziert worden waren, überarbeitet und zu einem Beitrag
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_19
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für den Sammelband Kultur und Kulturwissenschaft vereinigt. Dieser Beitrag wurde mit folgender Vorbemerkung eröffnet: Er habe, sagt Freud 1930 in der Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“, das Vorurteil von sich abhalten müssen, unsere Kultur sei das Kostbarste, was wir besitzen oder erwerben könnten. Es verstellt uns den Blick ins Dilemmatische ihrer bisherigen geschichtlichen Gestalt. Sicherlich war einst der entscheidende kulturelle Schritt die Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die gemeinschaftliche und der Fortgang im Recht. Doch ebenso sicher zwang dieser Schritt dem Einzelnen ein schwer oder kaum zu ertragendes Triebschicksal auf. Der Kulturmensch, heißt es bei Freud, hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht. Entweder Triebverzicht und Arbeitszwang – aber in der Kultur – oder uneingeschränktes Triebleben und Müßigkeit – aber im gesellschaftlichen Chaos. Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut und – hier zeigt sich Freuds Nähe zur Geschichtsphilosophie des absoluten Idealismus – das Glück nicht im Plan der Schöpfung gelegen. Damit drückt Freud in nuce die bisherige Naturgeschichte der Gesellschaft, die der Idealismus verklärt, und ihr leidvoll verfehltes Resultat aus. Er hütet sich davor, die Kultur zu idealisieren, denn er weiß, dass gerade von der vergötzten Kultur die Feindseligkeit gegen Kultur – der Ausbruch, der periodisch alles mühsam Erreichte verwüstet – nicht zu trennen ist. Der Rückfall, die barbarische Regression ist solange das Erzeugnis der Kultur, wie sich der kulturelle Irrtum einer „Herrschaft des Ich über sein Es“ – den subjektiven fond des Humanum so gut wie den objektiven Naturgrund selber – behauptet. Kulturkonstitutive Irrtümer wie diesen schonungslos zu kritisieren, ist aber nicht Kulturfeindschaft – es ist Bestandteil der Kultur, die erst eine werden soll. In diesem Sinne verstehen sich die folgenden Kapitel, deren eines das Widersprüchliche im Kulturbegriff und deren anderes Aspekte des nie endenden Konflikts der Individuen, ihrer tiefsten Interessen und deren Artikulation durch die Kunst mit der Gesellschaft thematisiert.
In einer Fußnote, die am Schluss dieses Vorspanns angezeigt wurde, verwies Schweppenhäuser auf die Erstveröffentlichung der beiden „Kapitel“: Zugrunde liegen bearbeitete und teilweise erweiterte Fassungen zweier Arbeiten, die in einer Sammlung von „Beiträgen zur kritischen Theorie der
Editorische Nachbemerkungen
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Kultur und Gesellschaft“ veröffentlicht wurden; siehe H. Schweppenhäuser, Tractanda. Beiträge zur kritischen Theorie der Kultur und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1972.
Textgrundlage im vorliegenden Band ist das erste der beiden „Kapitel“ in der Fassung aus dem Band Kultur und Kulturwissenschaft von 1991. Der Aufsatz „Kulturindustrie und moralische Regression“ geht auf einen Vortrag zurück, den der Autor am 24. Juni 1981 im Rahmen der Vortragsreihe Zur Archäologie der ethischen Erfahrung gehalten hat. Die Vortragsreihe war vom Fernstudienzentrum der Hochschule Lüneburg in Verbindung mit dem Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik veranstaltet worden. Schweppenhäuser hat den Aufsatz 1986 in seinen Sammelband Vergegenwärtigungen zur Unzeit? Gesammelte Aufsätze und Vorträge aufgenommen. Eine bearbeitete und teilweise erweiterte Fassung, in die spätere Ergänzungen aus seinem Handexemplar von 1986 eingefügt wurden, erschien 2017 in: „Kulturindustrie“. Theoretische und empirische Annäherungen an einen populären Begriff, hrsg. von Martin Niederauer u. Gerhard Schweppenhäuser, Wiesbaden 2018 (so im Impressum vermerkt; tatsächlich erschienen: 2017). Die vorliegende Fassung des Aufsatzes enthält sämtliche Ergänzungen aus dem Handexemplar des Autors. Unter dem Titel „Interview mit Hermann Schweppenhäuser“ veröffentlichte die Zeitschrift Planodion 1996 ein Gespräch, das Giorgos Sagriotis mit Hermann Schweppenhäuser im September 1995 geführt hat. 1998 erschien in der Zeitschrift kritische Theorie die deutsche Übersetzung unter dem Titel „Unreglementierte Erfahrung oder Konsenszwang“. Für die Fassung im vorliegenden Band wurden die Nachweise in den Fußnoten ergänzt. „Die Zeitungspresse als Produkt und als Produzent gesellschaftlichen Verhältnisses“ war Schweppenhäusers Vortrag auf dem Kongress Die Tabus der deutschen Presse, der am 5. und 6. Dezember 1970 in München von der Humanistischen Union, dem Verband deutscher Schriftsteller und der Deutschen Journalisten-Union veranstaltet wurde. Der Vortrag war dort unter dem Arbeitstitel „Vergötzte Ordnung. – Das System wird nicht in
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Anhang
Frage gestellt“ angekündigt worden. Er wurde im darauffolgenden Jahr in der Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation unter dem Originaltitel publiziert. Eine gekürzte Fassung erschien im gleichen Jahr unter dem Titel „Vergötzte Ordnung. Die Zeitungspresse als Produkt und als Produzent gesellschaftlichen Verhältnisses“ als Beitrag zu dem Sammelband Die Tabus der bundesdeutschen Presse. Für die Festschrift für Rolf Tiedemann anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Hannover, die 2006 erschien, schrieb Hermann Schweppenhäuser „Rolf Tiedemann zu Ehren“. Die Nachweise in der vorliegenden Textfassung wurden von den Herausgebern nachgetragen. Unter dem Titel „Il volto di Giani“ veröffentlichte die Zeitschrift Almanacchi Nuovi 1996 für ein Gespräch, das Elena Tavani mit Hermann Schweppenhäuser im August 1995 geführt hat. Die deutsche Übersetzung erscheint erstmals im vorliegenden Band. Mit seinem Kollegen Rainer Koehne veröffentlichte Hermann Schweppenhäuser in dem Buch Gruppenexperiment des Instituts für Sozialforschung 1955 Auszüge aus ihrer gemeinsam verfassten Monographie über „Aspekte der Sprache“. Für den Widerabdruck im vorliegenden Band wurde die Interpunktion in einer Hinsicht überarbeitet: Textstellen, bei denen es sich nicht um direkte Zitate aus den im Text angegebenen Protokollen handelt, wurden in einfachen Anführungszeichen gesetzt. „Pression – Prägung – Expression. Zur physiognomischen Dimension des Ausdrucks“ ist Schweppenhäusers Beitrag zur Festschrift zum 60. Geburtstag seines Frankfurter Kollegen Alfred Schmidt. Textgrundlage im vorliegenden Band ist der vom Autor überarbeitete Wiederabdruck in Hermann Schweppenhäuser: Denkende Anschauung – anschauendes Denken. Kritisch-ästhetische Studien über die Komplementarität sensitiver und intellektiver Relationen aus dem Jahre 2009. In der Erstveröffentlichung hat der Autor angemerkt: „Dem Text liegt ein Vortrag zugrunde, der am 02.12.1988 anläßlich des zehnjährigen Bestehens der Interdiszi-
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plinären Arbeitsgruppe für Philosophische Grundlagenprobleme an der Universität-Gesamthochschule Kassel gehalten wurde.“ Die Abhandlung über „Blochs Idee des Expressionismus als objektive Ausdrucksidee“ ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den Schweppenhäuser am 21. März 1997 im Bertolt-Brecht-Haus am Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin gehalten hat. 1998 wurde er im VorSchein, der Zeitschrift der Ernst-Bloch-Assoziation, publiziert. 2009 nahm Schweppenhäuser den überarbeiteten Text in sein Buch Denkende Anschauung – anschauendes Denken auf. „Bemerkungen zur Bedeutung ausdruckstheoretischer und kulturphysiognomischer Studien für eine interdisziplinäre Kulturwissenschaft. Eine Skizze“ ging aus einem Vortrag hervor, den Schweppenhäuser am 12. Juli 2000 in der Vortragsreihe „Beiträge zur Kulturtheorie“ an der Universität Lüneburg gehalten hat. 2007 wurde der Text in der Zeitschrift für kritische Theorie publiziert. Zwei Jahre später nahm Schweppenhäuser ihn in sein Buch Denkende Anschauung – anschauendes Denken auf. „Physiognomie eines Physiognomikers“ wurde zuerst in einem Gedenkband veröffentlicht, der 1972 unter dem Titel Walter Benjamin zu ehren. Sonderausgabe aus Anlaß des 80. Geburtstages von Walter Benjamin am 15. Juli 1972 erschien und im selben Jahr, unter dem Titel Zur Aktualität Walter Benjamins. Aus Anlaß des 80. Geburtstages von Walter Benjamin, als 150. Band der Reihe „suhrkamp taschenbücher“ eine zweite Auflage erlebte. Schweppenhäuser nahm den Text 1992 in seine Sammlung Ein Physiognom der Dinge. Aspekte des Benjaminschen Denkens auf. Unter dem Titel „Die Vorschule der profanen Erleuchtung: Erstveröffentlichung“ verfasste Schweppenhäuser die Einleitung zu der Sammlung mit Aufzeichnungen Benjamins Über Haschisch, die 1972 als Band 21 der Reihe „suhrkamp taschenbücher“ erschien (im dem Jahr, in dem die Publikation der Gesammelten Schriften Walter Benjamins begann). Schweppenhäuser nahm den Text 1992 in seine Sammlung Ein Physiognom der Dinge. Aspekte des Benjaminschen Denkens auf.
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„Schein und Wahrheit in Benjamins Konzeption einer Dialektik im Stillstand“ war ursprünglich ein Vortrag, den der Autor am 26. Juni 1973 im literaturwissenschaftlichen Seminar der Universität Hamburg gehalten hat. Der Text wurde zuerst, in einer italienischen Übersetzung von Fabrizio Desideri, in der Zeitschrift Metaphorein veröffentlicht. Schweppenhäuser nahm die deutsche Fassung 1992 in seine Sammlung Ein Physiognom der Dinge. Aspekte des Benjaminschen Denkens auf. Der Aufsatz „Bilder der Natur in der kritischen Theorie“ ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den Schweppenhäuser am 13. Januar 2001 an der Universität Lüneburg gehalten hat. Der Text erschien 2001 in der Zeitschrift für kritische Theorie; Schweppenhäuser nahm ihn 2009 in sein Buch Denkende Anschauung – anschauendes Denken auf. Der Abhandlung „Dialektischer Bildbegriff und ‚dialektisches Bild‘ in der Kritischen Theorie“ liegt ein Vortrag zugrunde, den Schweppenhäuser am 6. Oktober 2001 in der Philosophischen Gesellschaft, Bad Homburg, gehalten hat. 2003 erschien in der Zeitschrift für kritische Theorie eine gekürzte Fassung; die vollständige Fassung wurde 2004 in dem Sammelband Repraesentatio Mundi veröffentlicht. Schweppenhäuser nahm den Text 2009 in sein Buch Denkende Anschauung – anschauendes Denken auf. „Bilder und Gebilde. Zur Objektinterpretation in der abbildenden und gestaltenden Kunst“ ist erstmals 2009 in Schweppenhäusers Buch Denkende Anschauung – anschauendes Denken erschienen. Grundlage war ein Vortrag, den er am 3. Mai 1999 in der Veranstaltungsreihe „Einführung in Methoden der Kulturforschung“ an der Universität Lüneburg gehalten hat. „Wahnbilder und Wahrbilder. Sensuelle und intellektive Konstituentien der Visualität“ war ursprünglich ein Vortrag, gehalten an der Universität Hannover am 22. Juni 1998. Der Text ist Schweppenhäusers Beitrag zur Festschrift zum 60. Geburtstag von Heinz Paetzold, die 2001 erschien. Am 10. Juli 2008 trug er eine bearbeitete Fassung als Festvorlesung anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig vor. 2011 erschien diese Festvorlesung in
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der Sammlung von Vorträgen anlässlich der Ehrenpromotion Schweppenhäusers an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. – 2009 hatte Schweppenhäuser den Text in sein Buch Denkende Anschauung – anschauendes Denken aufgenommen. „Zur empiristischen Theorie der Imagination. Vorstellen und Darstellen bei Bacon“ war der Titel von Schweppenhäusers Vortrag auf dem vierten Symposion der INTERFACE-Reihe, das vom 6. bis zum 8. November 1997 in Hamburg stattfand. Im Grußwort der Hamburger Kultursenatorin Christina Weiss wird zu dieser Reihe u. a. Folgendes bemerkt: „Ausgangspunkt war unsere Auffassung, daß durch die Digitalisierung und Globalisierung nicht nur neue Ausdrucksmittel an Gewicht zunehmen werden, sondern auch ihre Einflüsse auf das Wahrnehmungsverhalten, auf das Denken und die Ausdrucksfähigkeiten erhebliche Folgen haben könnten.“ Das Grußwort findet sich in: Video, ergo sum. Repräsentation nach innen und außen zwischen Kunst- und Neurowissenschaften, den Olaf Breidbach und Schweppenhäusers Lüneburger Kollege Karl Clausberg herausgegeben haben (Hamburg 1999, S. 4). In diesem Band erschien Schweppenhäusers Text zuerst; 2009 nahm er ihn in sein Buch Denkende Anschauung – anschauendes Denken auf.
Nachweis der Erstveröffentlichungen
Zum Widerspruch im Begriff der Kultur In: Tractanda. Beiträge zur kritischen Theorie der Kultur und Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972, S. 91–101. Dort ist in den „Anmerkungen und Nachweisen“ vermerkt: „Das Manuskript des Vortrags vor dem Asta-Forum der Abteilung Lüneburg der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen am 15.05.1969, das dem Text zugrunde liegt, findet sich abgedruckt in: S. Zeitschrift an der PHN, Abt. Lüneburg, Ausgabe 0, Oktober 1969, S. 21 ff.“. Eine bearbeitete und teilweise erweiterte Fassung erschien in: Kultur und Kulturwissenschaft, hrsg. von Dieter Sturma (Kultur Medien Kommunikation. Lüneburger Beiträge zur Kulturwissenschaft, hrsg. von Werner Faulstich, Jens Flemming, Otfried Hoppe, Peter Stein u. Dieter Sturma, Bd. 1), Lüneburg 1991, S. 42–51. Kulturindustrie und moralische Regression In: Vergegenwärtigungen zur Unzeit? Gesammelte Aufsätze und Vorträge, Lüneburg: zu Klampen, 1986, S. 81–95. Wiederabdruck in: „Kulturindustrie“: Theoretische und empirische Annäherungen an einen populären Begriff, hrsg. von Martin Niederauer u. Gerhard Schweppenhäuser, Wiesbaden: Springer VS, 2018, S. 51–62.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_20
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Unreglementierte Erfahrung oder Konsenszwang. Ein Gespräch mit Giorgos Sagriotis Interview in: Planodion. Logotechniko Periodiko, Heft 23, Athen 1996, S. 418–428. Deutsche Erstveröffentlichung in: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 6 (1998), S. 101–114. Die Zeitungspresse als Produkt und Produzent gesellschaftlichen Verhältnisses In: Ästhetik und Kommunikation. Beiträge zur politischen Erziehung, 2. Jg. (1971), Heft 3, S. 40–48. Eine gekürzte Fassung erschien unter dem Titel „Vergötzte Ordnung. Die Zeitungspresse als Produkt und Produzent gesellschaftlichen Verhältnisses“ in: Die Tabus der bundesdeutschen Presse, hrsg. von Eckart Spoo, München: Hanser, 1971, S. 35–46. Rolf Tiedemann zu Ehren In: Philologie und Scham und andere Texte von über und für Rolf Tiedemann, hrsg. von Elisabeth Lenk u. Gesa Lolling, Wetzlar: Büchse der Pandora, 2006, S. 7–15. Das Janusgesicht. Ein Gespräch mit Elena Tavani Erstveröffentlichung im vorliegenden Band. Das Gespräch erschien zuerst in italienischer Sprache unter dem Titel „Il volto di Giani“ in: Almanacchi Nuovi. Rivista di filosofia e questioni sociali, I/1996, S. 95–104. Aus einer Monographie über „Aspekte der Sprache“ (mit Rainer E. Koehne) In: Gruppenexperiment. Ein Studienbericht. Bearbeitet von Friedrich Pollock. Mit einem Geleitwort von Franz Böhm, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, 1955, S. 530–547 (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. Im Auftrag des Instituts für Sozialforschung herausgeben von Theodor W. Adorno und Walter Dirks, Band 2).
Nachweis der Erstveröffentlichungen
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Pression, Prägung, Expression. Zur physiologischen Dimension des Ausdrucks In: Die Unnatürlichkeit der Natur. Über die Sozialität der Natur und die Natürlichkeit des Sozialen, hrsg. von Matthias Lutz-Bachmann u. Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt am Main: Nexus, 1991, S. 133–145. Überarbeiteter Wiederabdruck in: Denkende Anschauung – anschauendes Denken. Kritisch-ästhetische Studien über die Komplementarität sensitiver und intellektiver Relationen, Münster, Berlin: LIT, 2009, S. 131–142. Blochs Idee des Expressionismus als objektive Ausdrucksidee In: VorSchein. Blätter der Ernst-Bloch-Assoziation, Heft 16, 1998, Bodenheim: Philo, S. 14–44. Überarbeiteter Wiederabdruck in: Denkende Anschauung – anschauendes Denken. Kritisch-ästhetische Studien über die Komplementarität sensitiver und intellektiver Relationen, Münster, Berlin: LIT, 2009, S. 143–167. Bemerkungen zur Bedeutung ausdruckstheoretischer und kulturphysiognomischer Studien für eine interdisziplinäre Kulturwissenschaft. Eine Skizze In: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 24–25 (2007), S. 7–21. Wiederabdruck in: Denkende Anschauung – anschauendes Denken. Kritischästhetische Studien über die Komplementarität sensitiver und intellektiver Relationen, Münster, Berlin: LIT, 2009, S. 182–195. Zur Physiognomie eines Physiognomikers In: Walter Benjamin zu ehren. Sonderausgabe aus Anlass des 80. Geburtstages von Walter Benjamin am 15. Juli 1972, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972, S. 125–157, und in: Zur Aktualität Walter Benjamins. Aus Anlaß des 80. Geburtstags Walter Benjamins herausgegeben von Siegfried Unseld, Frankfurt am Main: Suhrkamp (st 150), 1972, S. 139–171 (jeweils mit dem Untertitel „Walter Benjamin zum Gedächtnis anläßlich der 80. Wiederkehr seines Geburtstags“). Wiederabdruck in: Hermann Schweppenhäuser, Ein Physiognom der Dinge. Aspekte des Benjaminschen Denkens, Lüneburg: zu Klampen, 1992, S. 34–63.
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Anhang
Die Vorschule der profanen Erleuchtung In: Walter Benjamin, Über Haschisch. Novellistisches, Berichte, Materialien, hrsg. von Tillman Rexroth, Frankfurt am Main: Suhrkamp (st 21), 1972 (6. Aufl. 1987), S. 7–30. Wiederabdruck in: Hermann Schweppenhäuser, Ein Physiognom der Dinge. Aspekte des Benjaminschen Denkens, Lüneburg: zu Klampen, 1992, S. 104–123. Eine englische Übersetzung erschien unter dem Titel „Propaedeutics of Profane Illumination“ in: On Walter Benjamin. Critical Essays and Recollections, hrsg. von Gary Smith, Cambridge, MA, u. London 1988, S. 33–50 (übers. von Lloyd Spencer, Stephan Jost u. Gary Smith). Schein und Wahrheit in Benjamins Konzeption einer Dialektik im Stillstand In: Metaphorein. Quaderni internazionali di critica e di sociologia della cultura, Jg. 3 (1979), H. 8, S. 165–173 (italienische Übersetzung von Fabrizio Desideri). Deutsche Erstveröffentlichung in: Hermann Schweppenhäuser, Ein Physiognom der Dinge. Aspekte des Benjaminschen Denkens, Lüneburg: zu Klampen, 1992, S. 20–34. Bilder der Natur in der kritischen Theorie In: Zeitschrift für kritische Theorie, 7. Jg., Heft 13 (2001), S. 7–24. Überarbeiteter Wiederabdruck in: Denkende Anschauung – anschauendes Denken. Kritisch-ästhetische Studien über die Komplementarität sensitiver und intellektiver Relationen, Münster, Berlin: LIT, 2009, S. 39–56. Dialektischer Bildbegriff und „dialektisches Bild“ in der Kritischen Theorie In: Zeitschrift für kritische Theorie, 9. Jg., Heft 16 (2003), S. 7–46. Überarbeiteter Wiederabdruck in: Denkende Anschauung – anschauendes Denken. Kritisch-ästhetische Studien über die Komplementarität sensitiver und intellektiver Relationen, Münster, Berlin: LIT, 2009, S. 57–98.
Nachweis der Erstveröffentlichungen
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Bilder und Gebilde. Zur Objektinterpretation in der abbildenden und gestaltenden Kunst In: Denkende Anschauung – anschauendes Denken. Kritisch-ästhetische Studien über die Komplementarität sensitiver und intellektiver Relationen, Münster, Berlin: LIT, 2009, S. 31–38. Wahnbilder und Wahrbilder. Sensuelle und intellektive Konstituentien der Visualität In: Symbolisches Flanieren. Kulturphilosophische Streifzüge. Festschrift für Heinz Paetzold zum 60. Geburtstag, hrsg. von Roger Behrens u. a., Hannover: Wehrhahn, 2001, S. 158–169. Überarbeitete Wiederabdrucke in: Denkende Anschauung – anschauendes Denken. Kritisch-ästhetische Studien über die Komplementarität sensitiver und intellektiver Relationen, Münster, Berlin: LIT, 2009, S. 20–30, sowie in: Hermann Schweppenhäuser, Wahnbilder und Wahrbilder. Sensuelle und intellektive Konstituentien der Visualität. Vorträge zur Ehrenpromotion, erschienen im Institut für Buchkunst, Leipzig 2011, S. 21–36. Zur empiristischen Theorie der Imagination. Vorstellen und Darstellen bei Bacon In: Video, ergo sum. Repräsentation nach innen und außen zwischen Kunstund Neurowissenschaften, hrsg. von Olaf Breidbach u. Karl Clausberg, Hamburg: Verlag Hans-Bredow-Institut (4. Band der INTERFACEReihe, hrsg. von Klaus Peter Dencker im Auftrag der Kulturbehörde Hamburg), 1999, S. 112–120. Überarbeiteter Wiederabdruck in: Denkende Anschauung – anschauendes Denken. Kritisch-ästhetische Studien über die Komplementarität sensitiver und intellektiver Relationen, Münster, Berlin: LIT, 2009, S. 100–114.
Nachwort Christoph Türcke
In seinem Abiturzeugnis stand: „Hermann Schweppenhäuser will Bibliothekar werden.“ Bücher hatten dem Frankfurter Gymnasiasten eine Zuflucht in den Zeiten der Hitlerjugend geboten. Lesen schaffte Distanz zu den Zumutungen des nationalsozialistischen Alltags. Der Heranwachsende lernte in der Literatur zu leben und bemerkte, dass sie sich nur denen, die das tun, wirklich mitteilt. Und so wie zur Literatur, so verhielt er sich später zu allen kulturellen Gebilden, mit denen er zu tun bekam. Sich mit etwas beschäftigen hieß für ihn immer: sich in etwas versenken. Für einen angehenden Bibliothekar versenkte er sich freilich zu lange und zu tief ins jeweilige Schriftstück oder Bild. Und so kam es, dass er, nachdem er sich in den letzten Kriegstagen auf abenteuerliche Weise dem Volkssturm entzogen und nach dem Krieg zum ersten Jahrgang gehört hatte, der wieder ein reguläres Abitur machen konnte, sich zum Sommersemester 1948 an der Universität Frankfurt für „Kulturwissenschaften“ einschrieb und unter diesem Titel ein breit angelegtes Studium der Philosophie, Literatur, Psychologie, Pädagogik und Kunstgeschichte begann. Wer sich wie Schweppenhäuser in diese Fächer versenkte, dem gingen sie gewissermaßen von selbst ineinander über. Wie sollte man den Verwicklungen eines Romans von Dostojewski folgen, ohne dabei auf alle zentralen Probleme der Moralphilosophie zu stoßen? Wie sich in die Betrachtung eines Renaissancegemäldes vertiefen, ohne ins Wechselspiel von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Anwesendem und Abwesendem, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Friedrich, S. Kramer, G. Schweppenhäuser (Hrsg.), Hermann Schweppenhäuser: Kultur, Ausdruck und Bild, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05719-8_21
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von Erscheinung und Wesen zu geraten, also mitten ins Hauptthema der Metaphysik und Erkenntnistheorie? Dass der gedankliche Zusammenhang von Philosophie, Literatur und Kunst einmal durch eine europaweite Universitätsreform in Module zerhackt werden würde, war für den Studenten Schweppenhäuser noch unvorstellbar. Er genoss das Glück, nach den schweren Kriegsjahren diesen Zusammenhang intensiv studieren, man darf vielleicht sogar sagen, erleben zu dürfen. Allerdings hatte er in den ersten Semestern Lehrer – etwa Hans-Georg Gadamer, Gerhard Krüger, Wolfgang Cramer, Helmuth Plessner, Heinrich Weinstock, Franz Schultz –, die solches Erleben als eine Art Ruhekissen anpriesen. Ihr Tenor war: Jetzt, wo der Nazi-Spuk vorbei ist, können wir endlich dort weitermachen, wo wir vor dem Krieg aufgehört haben: in der philosophischen Ergründung des Seins und des Seienden, in der Auslegung der großen Dichter und Denker, in der Interpretation und Pflege der reichen abendländischen Kultur. Dann aber erschienen zwei Professoren, die anders sprachen. Wie? Ihr wollt weitermachen, als sei der Nationalsozialismus nur ein Spuk gewesen? Seid ihr bei Sinnen? Kann es einen deutlicheren Beweis für das Misslingen der abendländischen Kultur, ja der Kultur überhaupt geben als Auschwitz? Kultur ist seither nur noch eine riesige Konkursmasse. Wer sie studiert, als sei nichts geschehen, hat nichts begriffen. Nur die gesellschaftskritische Durchdringung dieser Konkursmasse kann ihre Trümmer noch einmal in Hoffnungszeichen wenden: in Zeichen dafür, dass Kultur nicht um ihrer selbst willen da ist. Nichts wäre verfehlter als die Wiederherstellung ihrer alten Pracht. Entweder ist Kultur Vorbote und Platzhalter wahrhaft menschlicher Verhältnisse, wo sich jeder nach seinen Fähigkeiten entwickeln kann und jedem nach seinen Bedürfnissen gegeben wird, oder sie ist Müll. Die beiden, die so sprachen, hießen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Sie waren vor den Nazis gerade noch rechtzeitig in die USA entronnen und kehrten 1948/49 an ihre alte Frankfurter Universität zurück. Die kritische Theorie, die sie aus dem Exil mitbrachten, war für Schweppenhäuser so etwas wie ein Damaskus-Erlebnis. „Kulturwissenschaften“ wurden nun für ihn eine Lebensaufgabe ganz anderer Art: verantwortlicher Umgang mit dem Widerspruch im Begriff der Kultur. Der programmatische Text hierzu eröffnet den vorliegenden zweiten Band von
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Schweppenhäusers Gesammelten Schriften. Immer wieder hat er – im persönlichen Gespräch, in Lehrveranstaltungen, in Vorträgen und Aufsätzen – ein Bild herbeizitiert, das diesen Widerspruch aufs Eindrücklichste kondensiert: Nietzsches Vergleich der Kultur „mit einem bluttriefenden Sieger“, „der bei seinem Triumphzuge die an seinen Wagen gefesselten Besiegten als Sklaven mitschleppt“ (siehe oben, S. 8, Fußnote 10 u. S. 242, Fußnote 22). Solange kulturelle Gebilde als Siegesmale fungieren – und dafür erachtet Schweppenhäuser „barbarische Komposita wie ‚Kulturbeutel‘, ‚Kulturkammer‘, ‚Kulturaustausch‘, ‚Kulturarbeiter‘“ (S. 11) geradezu als sprichwörtlich –, solange hintertreiben sie den humanen Grundimpuls der Kultur. Das gilt schon für antike Pyramiden und Tempel, die ebenso Zeugnisse sublimierender Formkraft wie brutaler Sklaverei sind, und findet im fortgeschrittenen Kapitalismus seine Entsprechung in der Kulturindustrie, die kulturelle Gebilde vorab als Waren produziert: unter dem Gesichtspunkt ihrer größtmöglichen Verbreitung, optimalen Verkäuflichkeit und leichten Verdaulichkeit, gewissermaßen als Schmieröl des Betriebs. „In der Massengesellschaft wird der Kultur heimgezahlt, was Kultur an den namenlosen Massen verbrach.“ (S. 13) Wer das offen ausspricht, hat „schnell Massen wie Eliten gegen sich. Der intransigente Künstler, der unbestochene Geist, der Anwalt der Nerven, der verletzlichen Natur“: sie haben keine Lobby, sie stehen „ungedeckt und allein“ (S. 14). Das war für Schweppenhäuser nicht nur logische Folgerung, sondern auch persönliche Erfahrung. Kritische Theorie macht einsam. Ihre kurze Hochkonjunktur im Zuge der weltweiten Jugendprotestbewegung in den 1960er Jahren war ihr Ausnahmezustand. Ein Jahrzehnt später war sie bereits wieder auf ein Nischendasein zurückgefallen, nicht unähnlich dem ihrer Frühzeit im US-amerikanischen Exil, nur nunmehr ohne institutionellen Rückhalt. Das Frankfurter Institut für Sozialforschung war indessen auf eine kommunikationstheoretisch modifizierte Gesellschaftstheorie umgeschwenkt. Sie wollte „anschlussfähiger“ sein als die kritische Theorie, ohne je eine triftige Antwort auf die Frage zu geben: anschlussfähig woran? Alles, was Hermann Schweppenhäuser nach seiner Habilitationsschrift Kierkegaards Angriff auf die Spekulation (vorgesehen für Band 4 der Gesammelten Schriften) verfasste, entstand in seinem „Lüneburger Exil“. An der Pädagogischen Hochschule Lüneburg hatte er 1962 eine Philoso-
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phieprofessur übernommen. Sie war als eine Art Zwischenstation gedacht, die ihn auf die Übernahme der Nachfolge Adornos in Frankfurt vorbereiten sollte. Aber es kam anders. In Frankfurt wurde ihm lediglich eine Honorarprofessur zuteil, die ihn im Dreiwochenrhythmus zu Lehrveranstaltungen und intensiver Magistranden- und Doktorandenbetreuung anreisen ließ. Ansonsten verbrachte er sein ganzes weiteres akademisches Leben in Lüneburg, wo er 35 Jahre lang als der philosophische Geist der Lüneburger Pädagogenausbildung wirkte. Seine Vorlesungen waren Events. Studierende gaben sich dort mit interessierten Lüneburger Bürgern ein Stelldichein. Eine Handvoll junger kritischer Kollegen scharte sich um ihn. Während die kritische Theorie in Frankfurt abgewickelt wurde, hatte sie im Lüneburger Exil eine Nachblüte. Und es war, rückblickend betrachtet, eine zusätzliche Option für ein Exildasein, als Schweppenhäuser 1972 neben seiner Lehrtätigkeit noch eine andere Aufgabe übernahm: gemeinsam mit Rolf Tiedemann die Gesammelten Schriften des Exilanten Walter Benjamins herauszugeben. Dass das ein 25-jähriges Mammutprojekt werden würde, war anfangs nicht absehbar. Während seiner Studienzeit war Schweppenhäuser von Adorno an Benjamin herangeführt worden und hatte dessen Schriften, von denen damals nur ein Bruchteil zugänglich war, als Vermächtnis eines der größten Bilddenker des 20. Jahrhunderts kennengelernt. Der bildgesättigte Gedanke, auch bei den abstraktesten philosophischen Sachverhalten: das war sein Wahrzeichen. Schweppenhäuser, der mehr als Adorno aus der bildenden Kunst schöpfte, wurde zu einem postumen Wahlverwandten Benjamins. Dies sind, grob skizziert, die Zusammenhänge, denen das Arrangement des zweiten Bands von Schweppenhäusers Gesammelten Schriften Rechnung trägt. Erst wenn man bereit ist, Kultur als Konkursmasse einer langen, bis in die mythische Frühzeit zurückreichende Unterdrückungsgeschichte zu begreifen, kann man ihr beistehen. Dabei, so war Schweppenhäuser überzeugt, kommt man um die Begriffe Regression und Verfall nicht herum. Nicht, dass früher alles besser gewesen wäre. Wohl aber hat es sporadisch immer wieder, bis in die Gegenwart hinein, kulturelle Highlights gegeben: große Literatur, Philosophie, künstlerische Materialgestaltung. Sie sind keineswegs ganz ohne Fehl, ohne Zwielicht, ohne Verwicklung in Schuldzusammenhänge geblieben – und haben dennoch Maßstäbe gesetzt. Man muss kein Platoniker sein, aber ein Gespür für
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das geistige Format von Platon und Aristoteles entwickeln; kein Christ, kein Marxist werden, aber den geistigen Rang von Augustinus und Marx ermessen. Nicht jeder muss Michelangelo, Goethe und Beethoven als Nonplusultra empfinden; aber ohne eine Empfindung für das Beispielhafte ihrer Ausdruckskraft ist der kompromittierten Kultur schwerlich zu helfen. Schweppenhäuser nannte maßstabsetzende kulturelle Gebilde „kanonisch“. Damit meinte er weder „andächtig zu verehren“ noch „prominent“. Verkannte er doch nie, dass Prominenz auch hochgejubelte, überschätzte Gebilde genießen. Die Maßstäblichkeit von Heideggers Philosophie und Jüngers Prosa etwa war für ihn nie mehr als deutsche Ideologie, gerade weil er eine besondere Affinität zu den systematisch Unterschätzten, den zu Unrecht Vergessenen hatte: Hamann neben Kant, Seume neben Goethe, und vor allem: Benjamin. Dass Benjamin heutzutage nicht mehr zu den Vergessenen gehört, ist in hohem Maße der großen Werkausgabe zu danken, die Schweppenhäuser gemeinsam mit Tiedemann auf den Weg brachte. Auch davon ist der vorliegende Band ein Resonanzkörper. Dem Dankestext „Rolf Tiedemann zu Ehren“ an den langjährigen Weggefährten merkt man kaum an, dass er vom Mitherausgeber stammt, so sehr lässt dieser den eigenen Beitrag zur gemeinsamen Arbeit zurücktreten – typisch für Schweppenhäusers vornehme Zurückhaltung und Bescheidenheit, die erst recht gegenüber Benjamin selbst gilt. Dieser ist sozusagen die Spinne im Netz des vorliegenden Bandes. Nicht nur hat er Nietzsches Bild von der im Triumphzug der Herrschenden mitgeschleiften Kultur zu einem Angelpunkt seiner „Geschichtsphilosophischen Thesen“ gemacht, die sich bei Schweppenhäuser kulturkritisch verzweigen. Er hat auch dem Schweppenhäuser’schen Ausdrucksbegriff Pate gestanden. „Keine expressio, in der das expressum nicht die Kehrseite eines impressum wäre“, heißt es programmatisch in „Pression – Prägung – Expression“ (S. 115). Mit andern Worten: Ausdruck drückt immer schon Empfangenes, Erlittenes aus. Er ist nie ein Erstes – und nie bloß mental. Stets hat er eine physiologisch-physiognomische Seite, die ausgeblendet wird, wenn Kommunikation nur noch als „symbolisch vermittelte Interaktion“, als Austausch von Zeichen firmiert, wie es – der aus Schweppenhäusers Sicht ebenfalls überschätzte – Jürgen Habermas vorschlug, um die kritische Theorie „kommunikativer“ zu machen. Faktisch zog er ihr damit
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nur den materialistischen Stachel. Communicatio ist nicht bloß Übermittlung von Information, sondern stets prägungs- und verletzungsverarbeitende Selbst- und Sachmitteilung. Herrschaftsfreie Kommunikation, die diesen Namen verdient, wäre nicht bloß ungehemmter Informationsfluss, sondern wechselseitige Mitteilung von Eigenschaften und -arten: umfassendes ungegängeltes Füreinander-Einstehen, also genau die von Adorno angepeilte Versöhnung, zu der sie der Gegenbegriff sein sollte. Schlagend zeigt Schweppenhäuser diese Versöhnungsdrift an Benjamins Haschischexperimenten, in denen sich dieser nicht nur als „Rausch-Positivist“ der „Lockerung des Ich“ überlässt, sondern die Rauscherfahrung als „Vorschule der profanen Erleuchtung“ (S. 202 u. 199) fruchtbar zu machen versucht: als Vorgeschmack einer Entgrenzung, ohne die es zu einem solidarischen Zusammenschluss der Leidenden gegen ihre Lebensbedingungen nicht kommen könnte. Da ist der Rausch als Erfahrung zugleich Bild eines noch Unerfahrenen. Und das Bildkonzept, das sich hier abzeichnet, ist bei Schweppenhäuser im Laufe der Jahre immer mehr zu einer Art Denkherd geworden. Phänomene nicht mehr auf ihren Begriff zu bringen, sondern durch Begriffe auf ihre Physiognomie: das ist eine Art Hauptimpuls seines Spätwerks. Von ihm stimuliert hat er einerseits in mehreren Studien („Bilder der Natur in der kritischen Theorie“ [S. 233–254], „Dialektischer Bildbegriff und ‚dialektisches Bild‘ in der Kritischen Theorie“ [S. 255–301]) den Bildextrakt des Horkheimer’schen und Adorno’schen Denkens mustergültig herausgearbeitet. Andrerseits hat er sich, inspiriert durch jahrelange Zusammenarbeit mit dem Kunsttheoretiker Karl Clausberg, zur vermächtnishaften Skizze einer Wahrnehmungstheorie vorgetastet, die er anlässlich seiner Ehrenpromotion an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst unter dem Titel „Wahnbilder und Wahrbilder“ (S. 313–325) vortrug. Nihil obscurius luce (nichts ist dunkler als das Licht) heißt es bei Newton – ein Diktum, das Schweppenhäuser besonders liebte und im Gespräch immer wieder erwähnte. Das Klarste, schlechterdings Evidente ist auch ein unerklärliches „Urphänomen“, um es mit Newtons Antipoden Goethe zu sagen. Und das Auge, das als camera obscura mit Netzhaut-Rückwand das Gesehene sowohl auf den Kopf gestellt abbildet als auch durch innere Wendekraft auf die Füße stellt, ist ein Organ, worin
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Dunkelheit und Erleuchtung, Blendung und Einsicht ständig im Begriff stehen, ineinander umzuschlagen, zumal wenn das physische Sehen sich zugleich als Boden des Erkennens und Reflektierens erweist. Sich im Irrgarten der Visualität, in den Wahn-, Schatten- und Götzenbildern, die sie produziert, nicht zu verheddern, erachteten schon Platon und Bacon (S. 327 ff.) als philosophische Großaufgabe. Im Zeitalter der elektronisch erzeugten Flut optischer Reize ist daraus eine Herkulesaufgabe geworden. Die Wahnbildkammern des Internet zeigen eine mythische Verstrickung in eine neue Indifferenz von Evidenzbasiertheit und Verblendung, Wissenschaft und Fake an, die Horkheimers und Adornos berühmter These, dass „Aufklärung in Mythologie zurückschlägt“, täglich Bestätigung verschafft. Die Aufklärung, die selbst hiergegen noch einmal aufkommen will, muss von vornherein bildtheoretisch ansetzen. Beim Bilddenker Hermann Schweppenhäuser findet sie Pfade vorgezeichnet, deren Befestigung dringlicher denn je wäre.