Parlamentarische Kontrolle der internationalen Streitkräfteintegration [1 ed.] 9783428513499, 9783428113491

Die vom Bundesverfassungsgericht als "Parlamentsarmee" titulierte Bundeswehr ist mittlerweile zu einer "A

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German Pages 323 Year 2005

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Parlamentarische Kontrolle der internationalen Streitkräfteintegration [1 ed.]
 9783428513499, 9783428113491

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Schriften zum Völkerrecht Band 156

Parlamentarische Kontrolle der internationalen Streitkräfteintegration Von

Roman Schmidt-Radefeldt

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ROMAN SCHMIDT-RADEFELDT

Parlamentarische Kontrolle der internationalen Streitkräfteintegration

Schriften zum Völkerrecht Band 156

Parlamentarische Kontrolle der internationalen Streitkräfteintegration

Von

Roman Schmidt-Radefeldt

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristenfakultät der Universität Leipzig hat diese Arbeit im Sommersemester 2004 als Habilitationsschrift angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 3-428-11349-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Uxori et fìlio carissimis

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Juristenfakultät der Universität Leipzig im Sommersemester 2004 als Habilitationsschrift angenommen. Literatur und Rechtsprechung sowie politische und gesetzgeberische Entwicklungen sind bis Juni 2004 berücksichtigt. Mein besonderer Dank gilt meinem akademischen Lehrer Prof. em. Dr. Rudolf Geiger für seinen wissenschaftlichen Rat sowie für den kreativen Freiraum, ohne den diese Arbeit neben meinen Verpflichtungen als wissenschaftlicher Assistent an seinem Leipziger Lehrstuhl nicht in so kurzer Zeit hätte fertiggestellt werden können. Spektabilis Prof. Dr. Martin Oldiges, der den Fortgang der Arbeit mit großem Interesse begleitet hat, danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Ebenso gilt mein Dank Prof. Dr. Ulrich Fastenrath (TU Dresden) in seiner Eigenschaft als auswärtiger Gutachter. Danken möchte ich auch den zahlreichen Vertretern aus Wissenschaft und Praxis für anregende Diskussionen und Hinweise. Genannt seien dabei insbesondere: mein Doktorvater RiBVerfG a.D. Prof. em. Dr. Helmut Steinberger (Heidelberg); Prof. Dr. Joachim Wieland (Frankfurt); Prof. De Georg Nolte (Göttingen); Prof. Dr. Wolff Heintschel von Heinegg (Frankfurt [Oder]); Prof. Dr. Torsten Stein (Saarbrücken); RiBVerwG Prof. Dr. Ondolf Rojahn (Leipzig); Prof. Dr. Richard L. Williamson Jr. (Miami); Verteidigungsminister der Niederlande a.D. Dr. Willem van Eekelen; Prof. Dr. Wolf gang Zeh (Direktor beim Deutschen Bundestag); Dr. Paul Barnett (Deutscher Bundestag); Armin Laschet MdEP; Floris de Gou (Parlamentarische Versammlung der WEU); Simon Lunn (Generalsekretär NATO-PV); Dr. Hans Born (Geneva Center for the Control of Armed Forces); MinRat PD a.D. Dr. Eckard Busch (Büro des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestags); MinRat a.D. Dr. Dieter Fleck (BMVg); MinRat PD Dr. Christof Gramm (BMVg); MinRat Detlef P. Peterson (BMVg); LRDir. Peter Dreist (LwFüKdo); RDir. Gerhard Stöhr (OSH Dresden); Generalleutnant Henrik H Ekmann (ehem. KG des Multinationalen Korps Nordost, Stettin) sowie VLR Dr. Ingo Winkelmann und Leg.Rat I. Klasse Gunnar Denecke (Auswärtiges Amt Berlin). Widmen möchte ich die Arbeit meiner Frau Susanne und unserem Sohn David Constantin. Leipzig, im Sommer 2004

Roman Schmidt-Radefeldt

Inhaltsverzeichnis Einleitung Staatliche Streitkräfte zwischen Demokratisierung und Internationalisierung I. Staat und Streitkräfte

21 21

II. Entwicklung der internationalen militärischen Integration

25

III. Streitkräftekontrolle im Spannungsfeld zwischen Internationalisierung und Parlamentarisierung

32

IV. Gang der Erörterung

35

1. Teil Parlamentarische Legitimationsvermittlung im internationalen militärischen Integrationsprozess

38

1. Kapitel Parlamentarische Kontrolle als Grundlage demokratischer Legitimation

38

2. Kapitel Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt in multinationalen Führungsstrukturen I. Der Oberbefehl zwischen Demokratisierung und Internationalisierung

42 42

II. Rechtfertigung von Substanzminderungen nationaler Befehlsgewalt im Rahmen internationaler Organisationen

47

1. Rechtliche Ausdifferenzierungen der internationalen Befehlsgewalt in der Praxis

47

a) Befugnisse von NATO-Kommandeuren

49

b) Befugnisse von UN-Kommandeuren

51

c) Kommandogewalt in multinationalen Verbänden

53

10

nsverzeichnis 2. Übertragung von nationaler Befehlsgewalt auf Kommandeure internationaler Verbände

54

a) Faktische Integrationsautomatismen

55

b) Pershing-Entscheidung des BVerfG

56

c) Relativierende Einschätzung der NATO-Integrationsmechanismen

57

d) Rechtscharakter des transfer of authority

58

e) Fehlende parlamentarische Zustimmung zur Hoheitsrechtsübertragung ....

61

f) Neue Aufgaben der NATO im Spiegel der AWACS-Rechtsprechung des BVerfG

63

3. Beschränkungen nationaler Befehlsgewalt im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme

64

a) Verteidigungsbündnisse als kollektive Sicherheitssysteme

64

b) Rechtsformen multinationaler Verbände

66

ΙΠ. Wahrung der nationalen Befehls- und Legitimationskette in integrierten Führungsstrukturen 1. Anweisung auf Zusammenarbeit

70 72

a) Befehlsgewalt und Anordnungsgewalt

73

b) Gesetzliche Grundlage

74

c) Rechtliche Bewertung

75

2. Eingliederung ausländischer Hoheitsträger in den deutschen Befehlsweg a) Einbeziehung ausländischer Hoheitsträger auf gesetzlicher Grundlage —

79 81

aa) Unterstellungsverhältnisse

82

bb) Ausübung von Hoheitsgewalt

83

b) Einbeziehung ausländischer Hoheitsträger auf der Grundlage einer institutionalisierten Bündelung nationaler Befehlsgewalt

85

aa) Entscheidungsstrukturen in multinationalen Kollegialorganen

86

bb) Demokratische Legitimation von Kollegialentscheidungen

87

c) Loyalitätsdilemma 3. Multinationale Befehlsinstitute

89 92

a) Substanzminderung nationaler Befehlsgewalt durch die „integrierte Weisungs- und Kontrollbefugnis"

92

b) Befehlsdurchgriff

95

c) Ansätze einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung

96

aa) Hoheitsrechtsübertragung auf andere Staaten

98

bb) Kondominiale Hoheitsgewalt

100

cc) Zwischenstaatliche Hoheitsgewalt

101

IV. Zusammenfassende Betrachtungen

103

Inhaltsverzeichnis

11

3. Kapitel Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt und militärischen Einsatzgewalt I. Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt II. Parlamentarische Vertragsgewalt im internationalen militärischen Integrationsprozess 1. Zustimmung zu militärischen Bündnisverträgen

105 105

109 112

a) Streitkräfteintegration

113

b) Streitkräftestationierung

115

2. Steuerung von Vertragsentwicklungen

116

a) Vertragserweiterung

116

b) Vertragskündigung

118

c) UN-Friedenssicherung

119

d) NATO Streitkräfteintegration

121

e) NATO-Nachriistung

123

f) Strategisches NATO-Konzept

125

g) Neue Sicherheitsstrategie

128

h) Stellungnahme

130

3. Kompensation von integrationsbedingten parlamentarischen Steuerungsdefiziten

134

a) Allgemeine parlamentarische Kontrolle

135

b) Informationelle Kontrolle

136

c) Schlichte Parlamentsbeschlüsse

138

ΠΙ. Parlamentarische Einsatzgewalt in internationalen Bündnisstrukturen 1. Kompetenzverteilung beim Streitkräfteeinsatz: Ein europäischer Verfassungsvergleich

140 142

a) Skandinavien

145

b) Österreich

146

c) Türkei

147

d) Benelux

147

e) Polen

148

f) Frankreich

148

g) Großbritannien

149

h) Spanien

150

i) Italien

150

nsverzeichnis

12

2. Der konstitutive Parlamentsvorbehalt im System der funktionalen Gewaltenteilung 151 a) Funktionale Kompetenzverteilung

154

b) Ausnahmetatbestände

156

c) Problemfälle

160

aa) Einsätze von geringer Bedeutung

160

bb) Geheimhaltungsbedürftige Operationen

162

cc) Unterstützende Einsätze

163

d) Schlussfolgerungen

166

3. Parlamentarische Steuerung von entwicklungsoffenen Streitkräfteeinsätzen ... a) Befristung des Einsatzmandats

167 169

b) Informationelle Kontrolle

171

c) Rückruf der Streitkräfte

174

d) Ergebnis

178

4. Parlamentarische Mitwirkung an Einsatzentscheidungen in internationalen Bündnisstrukturen 179 a) Bündnisfall und Verteidigungsfall b) Bündnisverteidigung und Parlamentsvorbehalt aa) NATO-Vertrag

179 182 182

bb) Brüsseler Vertrag

184

cc) EU-Verfassungsvertrag

186

c) UN-Friedenssicherung

186

d) Krisenmanagement

188

e) Schnelle Eingreiftruppen

189

0 Ausblick

192

IV. Zusammenfassende Betrachtungen

193

4. Kapitel Parlamentarische Streitkräftekontrolle durch spezifische Instrumente der Wehrverfassung

196

I. Parlamentarische Ausschüsse

197

1. Verteidigungsausschuss

197

2. Delegation parlamentarischer Befugnisse des Plenums auf Bundestagsausschüsse 199 a) Staatspraxis

201

b) Prozedurale Anforderungen

201

nsverzeichnis c) Materielle Grenzen

13 203

3. Entsendeausschuss und konstitutiver Parlamentsvorbehalt II. Budgetäre Streitkräftekontrolle

204 205

1. Der Haushaltsvorbehalt als parlamentarisches Steuerungsmittel der Streitkräfteorganisation 207 2. Wahrung der budgetären Streitkräftekontrolle im internationalen militärischen Integrationsprozess 210 a) Rechtsgrundlage multinationaler Haushalte

211

b) Parlamentarische Kontrolle multinationaler Haushalte

212

III. Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages

213

1. Wahrung der Rechtsschutzfunktion für deutsche Soldaten in integrierten Streitkräften 215 2. Beschränkung der Kontrollfunktion in integrierten Streitkräfteformationen

218

3. Rechtfertigung von Einschränkungen der Kontrollgewalt des Wehrbeauftragten

222

IV. Zusammenfassende Betrachtungen

223

Resümee

226

2. Teil Ansätze einer Internationalisierung der parlamentarischen Streitkräftekontrolle

229

5. Kapitel Demokratisierung der internationalen militärischen Integration I. Demokratische Struktursicherung auf nationaler und internationaler Ebene II. Die demokratische Dimension internationaler Organisationen

229 230 231

III. Notwendigkeit einer demokratischen Legitimation und Kontrolle der ESVP auf europäischer Ebene 233 6. Kapitel Möglichkeiten und Grenzen einer interparlamentarischen Legitimation des militärischen Integrationsprozesses I. Die Parlamentarische Versammlung der NATO 1. Rechtliche Grundlagen

238 240 240

nsverzeichnis 2. Kontrolltätigkeit

242

3. Rückbindung an die nationalen Parlamente

244

4. Demokratische Abstützung des Transformationsprozesses der NATO

244

II. Die Parlamentarische Versammlung der WEU

246

1. Grundlagen der parlamentarischen Tätigkeit

246

2. Kontrollkompetenzen

249

3. Rückbindung an die nationalen Parlamente

251

4. Demokratische Abstützung des militärischen Integrationsprozesses in Europa

253

III. Resümee - Der Legitimationsbeitrag interparlamentarischer Versammlungen

257

7. Kapitel Die parlamentarische Kontrolle der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik durch das Europäische Parlament

259

I. Parlamentarische Mitverantwortung im Bereich der auswärtigen Gewalt der Europäischen Union 260 1. Zustimmung zum EU-Beitritt

260

2. Zustimmung zu internationalen verteidigungspolitischen Verträgen der EU

261

3. Zustimmung zum Streitkräfteeinsatz bei EU-Militäroperationen

264

II. Informationelle parlamentarische Kontrolle

266

1. Rechtsgrundlagen

266

2. Praxis

269

a) Auffächerung der parlamentarischen Informationsrechte

269

b) Zugang zu sensiblen Informationen

271

3. Vorschläge zur Verstärkung der informationellen Kontrollinstrumente ΠΙ. Budgetäre parlamentarische Kontrolle

273 274

1. Die budgetäre Kontrolle im Bereich der GASP

275

2. Finanzierung von EU-Militäreinsätzen

278

3. Parlamentarische Legitimation des EU-Militärhaushalts

279

IV. Resümee - Defizite und Perspektiven der demokratischen Legitimation durch das Europäische Parlament 280 1. Legitimationsdefizite

280

2. Legitimationsperspektiven

283

Inhaltsverzeichnis

15

8. Kapitel Die parlamentarische Dimension der europäischen Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur I. Nationale und europäische Streitkräftekontrolle II. Interparlamentarische und europaparlamentarische Legitimation der ESVP 1. Institutionelle Optionen

286 286 289 290

2. Übernahme des demokratischen acquis der WEU-Versammlung durch das Europäische Parlament 292 3. Ausblick

294

Literaturverzeichnis

295

Stichwortregister

319

Abkürzungsverzeichnis ABl.EG/EU

Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften/der Europäischen Union

BBG

Bundesbeamtengesetz

BGBl

Bundesgesetzblatt

BHO

Bundeshaushaltsordnung

BK

Bonner Kommentar zum Grundgesetz

BminVg

Bundesminister der Verteidigung

BMVg

Bundesministerium der Verteidigung

BRRG

Beamtenrechtsrahmengesetz

BT-Drs.

Bundestagsdrucksache

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerwG

Bundesverwaltungsgericht

CINCEUR

Commander in-Chief Europe

CJTF

Combined Joint Task Forces

DDO

Dienstältester Deutscher Offizier

D/F-Brigade

Deutsch-Französische Brigade

D/NL-Korps

I. Deutsch-Niederländisches Korps

DPKOUN

Department of Peace-keeping Operations

DSACEUR

Deputy Supreme Allied Commander Europe

EEA

Einheitliche Europäische Akte

EG

Europäische Gemeinschaft

EGKS

Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EGV

Vertrag über die Europäische Gemeinschaft

EP

Europäisches Parlament

EPZ

Europäische Politische Zusammenarbeit

ES V I

Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität

ESVP

Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik

ES VU

Europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion

EU

Europäische Union

EuGH

Europäischer Gerichtshof

EUV

Europäischer Unionsvertrag

EVG

Europäische Verteidigungsgemeinschaft

EvStL

Evangelisches Staatsrechtslexikon

FS

Festschrift

GASP

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

Abkürzungsverzeichnis GG

17

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

GO-BReg.

Geschäftsordnung der Bundesregierung

GO-Btag

Geschäftsordnung des Bundestags

GO-EP

Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments

GO-NPV

Geschäftsordnung der Parlamentarischen Versammlung der NATO

GO-WEU-V

Geschäftsordnung der Versammlung der Westeuropäischen Union

HBdStR

Handbuch des Staatsrechts

HbdVerfR

Handbuch des Verfassungsrechts

H.M.

Herrschende Meinung

HQ

Headquarter - Hauptquartier

ICJ Rep.

Reports of the International Court of Justice

IFOR / SFOR

Implementation Force / Stabilization Force

IGH

Internationaler Gerichtshof

IIV

Interinstitutionelle Vereinbarung

ILM

International Legal Materials

IPU

Interparlamentarische Union

KFOR

Kosovo Force

KtgtFhr

Kontingentführer

MC

Military Council (Militärausschuss der NATO)

MNK-NO

Multinationales Korps Nordost = Deutsch-Dänisch-Polnisches Korps

MoU

Memorandum of Understanding

NATO

North Atlantic Treaty Organization

NATO-PV

Parlamentarische Versammlung der NATO

NATO-V

Nordatlantikvertrag

NRF

NATO Response Force

NTS

NATO-Truppenstatut

OSZE

Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

PFP

Partnerschaft für den Frieden

PSK

Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee

RoE

Rules of Engagement (Einsatzregeln)

RV

Reichsverfassung (von 1848 bzw. 1871)

SACEUR

Supreme Allied Commander Europe

SAS

Standby Arrangements System

SG

Soldatengesetz

SHAPE

Supreme Headquarters Allied Powers Europe

SHIRBRIG

UN-Standby High Readiness Brigade

SKAufG

Streitkräfteaufenthaltsgesetz

SoFA

Status of Forces Agreement

Sten. Ber.

Stenographischer Bericht

SWP

Stiftung Wissenschaft und Politik

ToA

Transfer of Authority

2 Schmidt-Radefeldt

18 UNO

Abkürzungsverzeichnis United Nations Organization

UNTS

United Nations Treaty Series

UzwGBw

VN VorgV WbeauftrG WBO WDO WEU WEU-V WRV

Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges und die Ausübung besonderer Befugnisse durch Soldaten der Bundeswehr und verbündeter Streitkräfte sowie zivile Wachpersonen Vereinte Nationen Vorgesetztenverordnung Wehrbeauftragtengesetz Wehrbeschwerdeordnung Wehrdisziplinarordnung Westeuropäische Union Versammlung der Westeuropäischen Union Weimarer Reichsverfassung (1918)

WStG

Wehrstrafgesetz

WTO

Welthandelsorganisation

WVRK

Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge

ZDv

Zentrale Dienstvorschrift der Bundeswehr

Zeitschriftenverzeichnis AFDI

Annuaire Français de Droit International

AJIL

American Journal of International Law

AöR

Archiv für öffentliches Recht

Aus Politik und Zeitgeschichte Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament" AVR

Archiv für Völkerrecht

BayVBl.

Bayerische Verwaltungsblätter

Brit.YB Int'l.L.

British Yearbook of International Law

Bull.BReg.

Bulletin der Bundesregierung

Der Staat

Der Staat

Die Friedenswarte

Die Friedenswarte

DÖV

Die öffentliche Verwaltung

DVB1

Deutsches Verwaltungsblatt

EA

Europa-Archiv

EJIL

European Journal of International Law

EuGRZ

Europäische Grundrechtezeitschrift

EuR

Europarecht

Europäische Sicherheit

Europäische Sicherheit

EWS

Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht

GYIL

German Yearbook of International Law

Harv. L. R.

Harvard Law Journal

HuV-I

Humanitäres Völkerrecht - Informationsschriften

ICLQ

International and Comparative Law Quarterly

ILM

International Legal Materials

Int'l. Affairs

International Affairs

JöR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts

Jura

Juristische Ausbildung

JuS

Juristische Schulung

JZ

Juristenzeitung

KritJ

Kritische Justiz

KritV

Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft

NJ

Neue Justiz

NJInt'lL

Nordic Journal of International Law

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

NZWehrR

Neue Zeitschrift für Wehrrecht

2*

20 ÖMZ RdC Rev. pol. et pari. RGDIP StWStPr. Truppenpraxis / Wehrausb. ÜB VW Verw. Arch. VMB1. VN VVDStRL ZaöRV / HJIL ZG ZParl ZRP

Zeitschriftenverzeichnis Österreichische Militärzeitschrift Recueil des Cours Revue politique et parlementaire Revue générale du droit international public Staatswissenschaften und Staatspraxis Truppenpraxis / Wehrausbildung Unterrichtsblätter - Zeitschrift für Ausbildung, Fortbildung und Verwaltungspraxis für die Bundeswehrverwaltung Verwaltungsarchiv Veröffentlichungen im Ministerialblatt des Bundesministeriums der Verteidigung Vereinte Nationen Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht/Heidelberg Journal of Int.'l Law Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Parlamentsfragen Zeitschrift für Rechtspolitik

Die Herren der Waffen können auch die Herren über den Bestand oder den Untergang der Verfassung eines Staates sein. Aristoteles, Politela Ich begrüße es, dass das Zeitalter der nationalen Wehrmachten zu Ende zu gehen und dass die Wehrhoheit mehr und mehr auf übernationale Instanzen überzugehen scheint. Carlo Schmid im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates

Einleitung

Staatliche Streitkräfte zwischen Demokratisierung und Internationalisierung I. Staat und Streitkräfte Das Verhältnis von politischer Führung, militärischer Macht und demokratischer Kontrolle gehört zu den wichtigen Fragen jeder Verfassungsgebung. 1 Schon Aristoteles wusste, dass die Herren der Waffen auch die Herren über den Bestand oder den Untergang der Verfassung eines Staates sein können.2 Nach der im deutschen Staatsrechtsdenken (Heller, Smend) verwurzelten Vorstellung eines sich nach innen und außen selbst behauptenden Staates war die Verfügungsmacht über die eigenen Streitkräfte als „Recht der Armatur" (ius armarum et belli) der augenfälligste Ausdruck staatlicher Gewalt.3 Mit der Entwicklung von stehenden Heeren entstand als Kernbereich staatlicher Machtentfaltung das Rechtsinstitut des traditionell dem Fürsten zustehenden militärischen Oberbefehls, 4 der als ureigene Domäne des Monarchen über Jahrhunderte nach innen gegen Mediatisierungs- und Kontrollbestrebungen abgeschirmt wurde. 5 Nach außen haben sich Staaten insbesondere im 19. Jahrhundert als Markenzeichen klassischer Nationalstaatspolitik zu Militärbündnissen zusammengeschlossen,6 ohne dabei jedoch die Souveränität 1 Vgl. nur Busch, in: SchneiderI Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht, § 51, RdNr. 2; Heydte, DVB1. 1967, S. 701; v. Unruh, VVDStRL 1968, S. 157 ff. 2 Aristoteles, Politela, IX, 1329a. 3 Pütter, Anleitung zum Teutschen Staatsrechte (1793), S. 315. 4 Vgl. Stern, Staatsrecht Bd. II, S. 869 f.; Ipsen, BK (Zweitbearb.), Art. 115b, RdNr. 4 ff. Lorenz v. Stein titulierte den Monarchen als „das persönliche Haupt des gesamten Heereswesens, in dem alle Momente des Letzten zur entgültigen Entscheidung zusammenlaufen" (Stein, Lehre vom Heereswesen, S. 115). 5 Ipsen, BK (Zweitbearb.), Art. 115b, RdNr. 5 m. w. N. Vgl. insoweit Art. 63 Abs. 1 RV von 1871; Art. 47 WRV. 6 Z. B. „Zweibund" vom 7. 10. 1879 und „Dreibund" vom 20. 5. 1882. Koalitionsarmeen waren auch ein besonderes Charakteristikum der Völkerschlacht von Leipzig (1813).

22

Einleitung

der Bündnispartner durch gemeinsame Institutionen oder eine Internationalisierung der Befehlsgewalt zu beschneiden. Die erfolgreiche Abschottung der militärischen Macht gegen eine Parlamentarisierung im Inneren und eine Internationalisierung von außen sicherte der staatlichen Exekutive über Jahrhunderte das Entscheidungsmonopol im militärischen Bereich. Während der zivile Bereich politischer Tätigkeit wie selbstverständlich das Ziel parlamentarisch-demokratischer Emanzipationsbestrebungen war, erschien die Forderung nach einer Kontrolle des Militärs als zentralem staatlichen Machtträger nur allzu oft als „antipatriotisches" Verlangen. Insbesondere der preußische Konstitutionalismus forcierte die Ausklammerung alles Militärischen von parlamentarischen Kontrollbestrebungen und schuf Verfassungsmechanismen, welche das Heer gewissermaßen „außerhalb" der staatlichen Verfassungsordnung ansiedelten.7 Ausdruck fand diese Sonderstellung nicht zuletzt darin, dass die Soldaten ihren Eid nicht auf die Verfassung, sondern auf den jeweiligen Landesherren leisteten, dem sie in einer gefolgschaftsrechtlichen Treuebeziehung verbunden waren. 8 Erst die Streitkräfte des demokratischen und offenen Verfassungsstaats 9 im 20. Jahrhundert wurden von den Phänomenen der Demokratisierung und Internationalisierung wahrhaft geprägt. Das bedeutet freilich nicht, dass ein Parlament die militärische Führung über die Armee erstrebt oder erhalten hätte; vielmehr sollte erreicht werden, was in der deutschen Verfassungsgeschichte bislang nicht gelungen war - die Armee vollständig und wirksam einer parlamentarischen Kontrolle zu unterwerfen. 10 Um zu verhindern, dass die Streitkräfte als bewaffneter Machtfaktor zum „Staat im Staate" mutieren oder allein der Exekutive anheimfallen, wurde die Wehrhoheit des Staates, d. h. die Ausübung staatlicher Verfügungsgewalt über die Streitkräfte, verfassungsrechtlich organisiert, reglementiert und in die verfassungsmäßige Ordnung des Staates eingebunden.11 Die deutsche „Wehrverfassung" 12 war dabei nicht zuletzt auch „Ausdruck eines ,verfassungspsycholo7

Berg, Der Verteidigungsausschuss, S. 22. » Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 870. 9 Der Begriff des „offenen" Verfassungsstaates geht zurück auf Vogel, Verfassungsentscheidung (1962); umfassend dazu Hobe, Der offene Verfassungsstaat. 10

Maurer, Wehrbeauftragter und Parlament, S. 9. n BVerfGE 90, 286 (382); Raap, Deutsches Wehrrecht, S. 2; überblicksartig Bahr, Die Verfassungsmäßigkeit des Einsatzes, RdNr. 206 ff.; Raap, JuS 1996, S. 980 ff.; Spanger, Wehrverfassung, S. 26 ff. 12 Die mit dem Terminus technicus „Wehrverfassung" suggerierte begrifflich-thematische Abspaltung des Wehrwesens von der „Verfassung" als umfassend normativer Grundordnung eines Staates lässt sich indes im deutschen Grundgesetz nicht erkennen. Um die Verfassungsgebundenheit des Wehrwesens zu betonen, entschieden sich die Verfassungsväter für einen gesetzessystematischen „Bruch" mit den Vorgängerverfassungen: Während die Reichsverfassung von 1871 die wehrrechtsrelevanten Vorschriften in einem gesonderten Abschnitt mit dem Titel „Reichskriegswesen" (Art. 57 ff.) zusammenfasste, die Weimarer Reichsverfassung von 1919 sie gar per Verweis ins einfachgesetzliche Recht auslagerte, sind die wehrrechts-

Einleitung

gischen Nachholbedürfnisses 4 des deutschen Parlaments gegenüber seiner eigenen Geschichte" (Berg) 13 und sollte die Zäsur zu preußischen Traditionen des Militarismus dokumentieren. 14 Die wehrverfassungsrechtlichen Vorschriften des Grundgesetzes ordnen die Streitkräfte der vollziehenden Gewalt zu, indem sie einen dem Parlament rechenschaftspflichtigen Minister an die Spitze der militärischen Befehlshierarchie setzen. 15 Die Verlagerung der Organzuständigkeit vom Staatsoberhaupt auf die Regierung bindet die Streitkräfte in das parlamentarische Regierungssystem ein und verringert dadurch den Abstand zwischen Parlament und Streitkräften. 16 Die verfassungsrechtlich etablierte „Befehls- und Kommandogewalt" (Art. 65a GG) bricht mit dem traditionell-preußischen, auf die monarchische Staatsform zugeschnittenen Begriff des „Oberbefehls" 17 und dekonzentriert diesen nach der Kompetenzsystematik des Grundgesetzes auf verschiedene Funktionsbereiche. 18 Weiterhin wird die Unterwerfung der Streitkräfte unter den Primat der Politik 19 nicht nur institutionell ( - durch Einrichtung eines Verteidigungsausschusses nach Art. 45a GG und das Amt eines Wehrbeauftragten nach Art. 45b GG -), sondern auch kompetenziell ( - durch den budgetrechtlichen Haushaltsvorbehalt nach Art. 87a I Satz 2 GG - ) abgesichert. Nach dieser Vorschrift wird zudem die Organisationsgewalt über die Grundstrukturen der Streitkräfte in den Kompetenzbereich der Legislative verlagert. Eine über die traditionelle Kriegserklärung hinausgehende Zustimmungskompetenz des Parlaments zu jedem Auslandseinsatz der Streitkräfte hat die Bundeswehr nicht zuletzt zu einem „Parlamentsheer" 20 im relevanten Vorschriften des Grundgesetzes nicht nur vollständig im Verfassungstext integriert, sondern jeweils auch den einzelnen Sachzusammenhängen (Abschnitten) des Grundgesetzes zugeordnet. Statt einer „Wehrverfassung" entstand dadurch ein ubiquitäres und rechtssystematisch unüberschaubares Konglomerat wehrrechtlicher Vorschriften. 13 Berg, Der Verteidigungsausschuß, S. 65; ebenso Quaritsch, VVDStRL 1968, S. 213. 14 Vgl. zu den Begrifflichkeiten der grundgesetzlichen Wehrverfassung in historischer Perspektive Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, S. 65; Erhardt, Befehls- und Kommandogewalt, S. 14 ff.; Quaritsch, VVDStRL 1968, S. 207. 15 Der Bundes Verteidigungsminister darf wegen der Inkompatibilitätsregelung in Art. 66 GG zudem kein Soldat sein [dazu näher Quaritsch, VVDStRL 1968, 244 f.; Deiseroth, in: Umbach! Clemens (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 38], während der preußische Kriegsminister traditionell auch Soldat war. 16 So Klein, M / D , Art. 45b, RdNr. 3; Busch, BK, Art. 45b, RdNr. 16. 17 Oldiges, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 65a, RdNr. 13; zur historischen Entwicklung Erhardt, Befehls- und Kommandogewalt, S. 39 ff. (vgl. § 83 der RV von 1848; Art. 63 der RV von 1871; Art. 47 WRV von 1919). ι» Düng, M / D , GG-Kommantar, Art. 65a RdNr. 7; Erhardt, Befehls- und Kommandogewalt, S. 60 f.; Dau, in: FS Ipsen, S. 606. Dazu gehören neben der Kommandogewalt des Verteidigungsministers (Art. 65a GG) insbesondere die dem Staatsoberhaupt verbliebenen Representations- und Ernennungsrechte (Art. 60 Abs. 1 GG). 19 Vgl. dazu Oldiges, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 15; Raap, JuS 1996, S. 981; Gerster, Kontrollmöglichkeiten, in: Brecht/Klein (Hrsg.), 1994, S. 41; Bähr, Die Verfassungsmäßigkeit, RdNr. 206 ff.

24

Einleitung

Sinne eines „demokratischen Waffenträgers in einem demokratischen Staat" 21 ausgestaltet und die Entscheidung über Krieg und Frieden vollständig parlamentarisiert. Vor diesem Hintergrund geht es in den verfassungsrechtlich fest verankerten westlichen Demokratien längst nicht mehr darum, die Streitkräfte an demokratisch geführte Zügel der Politik zu nehmen. Vielmehr gilt es, den verfassungsrechtlich gewollten gestalterischen und kontrollierenden Einfluss des Parlaments auf Aufbau und Verwendung der Streitkräfte auch in Hinblick auf die (internationalen) militärischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sicherzustellen. Die „integrationsoffenen" europäischen Verfassungen sehen dabei die Möglichkeit zu internationaler militärischer Kooperation in gemeinsam geschaffenen Organisationsstrukturen vor 2 2 und wollen den Einsatz staatlicher Streitkräfte verfassungsrechtlich in die globalen Friedenssicherungsmechanismen einbinden.23 Im Gegensatz zu anderen Verfassungen enthält sich aber das Grundgesetz einer expliziten inhaltlichen Aussage über den militärischen Aktionsrahmen deutscher Streitkräfte, sondern begrenzt diesen lediglich strukturell. 24 Als zentrale verfassungsrechtliche Integrationsnorm im Streitkräftebereich ermächtigt Art. 24 Abs. 2 GG zur Einordnung in ein auf strikte Friedenswahrung verpflichtetes System der gegenseitigen kollektiven Sicherheit und erweitert den zulässigen Handlungsrahmen deutscher Streitkräfte (im Sinne einer entwicklungsoffenen Verweisung 25) auf alle mit einem solchen System typischerweise verbundenen militärischen Aufgaben. 26

20 Der Begriff geht zurück auf BVerfGE 90, 286 (382). 21 So Schüle, JZ 1955,466. 22 Vgl. Art. 23 I, 24 I und I I GG; Art. 34 belg. Verf.; Art. 20 dän. Verf.; Art. 93 fin. Verf.; Art. 11 ital. Verf.; Art. 92 niederl. Verf.; Art. 9 österr. Verf.; Art. 7 port. Verf.; Art. 93 span. Verf. 23 Kirchhof, Verteidigungsauftrag, in: FS Bernhardt, S. 797; ebenso Kriele, ZRP 1994, S. 104; Wild, DÖV 2000, S. 623. 24 Das Grundgesetz erteilt den Streitkräften durch Art. 87a II GG einen Verteidigungsauftrag und verbietet ihnen gem. Art. 26 GG einen Angriffskrieg. Deutlicher insoweit Art. 275 Abs. 5 port. Verf., wonach Streitkräfte die Aufgabe haben, die internationalen Verpflichtungen Portugals im militärischen Bereich zu erfüllen und an humanitären und friedenserhaltenden Missionen der internationalen Organisationen, denen Portugal angehört, teilzunehmen; ebenso Art. 79 III österr. Verf. (i. V. m. § 1 des Streitkräfteentsendegesetzes), das die Entsendung erlaubt zur solidarischen Teilnahme an Maßnahmen der Friedenssicherung einschließlich der Förderung der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Schutz der Menschenrechte im Rahmen einer internationalen Organisation oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder in Durchführung von Beschlüssen der Europäischen Union im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik oder Maßnahmen der humanitären Hilfe und der Katastrophenhilfe oder Maßnahmen der Such- und Rettungsdienste sowie zur Durchführung von Übungen und Ausbildungsmaßnahmen im Bereich der militärischen Landesverteidigung. 25 Hillgruber, in: Umbach I Clemens (Hrsg.), GG, Art. 87a, RdNr. 30 f. 26 So BVerfGE 90, 286 (351). Vgl. zur Verfassungsmäßigkeit von Auslandsentsendungen der Bundeswehr für viele Schultz, Auslandsentsendung, S. 291 ff.; Bähr, in: NZWehrR 1994,

Einleitung

I I . Entwicklung der internationalen militärischen Integration In kaum einem anderen Staat war die Aufstellung und Konstitutionalisierung von Streitkräften (als Ausdruck der wiedergewonnenen Souveränität) so eng mit ihrer Internationalisierung verflochten wie in Deutschland.27 Der deutsche Verteidigungsbeitrag nach dem 2. Weltkrieg war für das misstrauische Frankreich nur unter der (auf Jean Monnet zurückgehenden) Kautel akzeptabel, dass der erste in Deutschland rekrutierte Soldat ein europäischer Soldat sein müsse. Es lag daher nahe, in Anlehnung an die 1950 gegründete Montanunion den Weg der supranationalen Integration zu wählen und eine Institution zu schaffen, die sowohl kollektive Sicherheit (vor Deutschland) im Inneren als auch kollektive Verteidigung (gegen die UdSSR) nach außen zu gewährleisten vermochte. Der vom damaligen französischen Ministerpräsidenten René Pleven 1950 lancierte Plan 28 sah vor, eine aus verschiedenen europäischen Nationen gebildete Armee des geeinten Europas unter einheitlicher politischer und militärischer Autorität zu schaffen, in welche die neu zu schaffenden westdeutschen Streitkräfte einbezogen werden sollten. Nach dem Scheitern des Vertrags über die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 19 wurde auf der Londoner „Neun-Mächte-Konferenz" (1954) der Beitritt Deutschlands zu dem bereits 1949 gegründeten Nordatlantikpakt 30 und zum 1948 gegründeten Brüsseler Vertrag 31 verhandelt. Am 23. 10. 1954 wurden die Pariser Verträge zusammen mit dem Beitritt Deutschlands zum NATO-Vertrag sowie zum modifizierten Brüsseler (WEU-)'Vertrag unterzeichnet und traten am 6. 5. 1955 in Kraft. Angesichts der fehlenden militärischen Beistandsautomatik des NATO-Vertrages war eine Kopplung des NATO-Beitritts Deutschlands mit dem Brüsseler Vertrag notwendig, um dem verständlichen Sicherheitsbedürfnis der europäischen Vertragspartner vor einer Wiederbewaffnung Deutschlands Rechnung zu tragen. Das dem Nordatlantikpakt parallel geschaltete Brüsseler Vertragswerk musste also in Hinblick auf Deutschland die sicherheitspolitische Begrenzungs- und Kontrollfunktion übernehmen, die ursprünglich der EVG zugedacht war. 32 Im Jahre 1990 stimmte dann die Sowjetunion, die ihr historisch begründetes Sicherheitsbedürfnis vor Deutschland durch den zerfallenden Warschauer Pakt nicht mehr gewährS. 97 ff.; Raap, JuS 1996, S. 982 f.; systematisierend Wild, DÖV 2000, S. 622 f.; Brenner/ Hahn, JuS 2001, S. 729 ff. 27 Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 87a, RdNr. 18. 28 „Pleven-Plan" vom 24. 10. 1950, dt. Übers, in: Europa-Archiv 1950, S. 3518. 29 Der EVG-Vertrag vom 27. 5. 1952 (BGBl. II 1954, S. 343 ff.) wurde von den Regierungsvertretern Frankreichs, Deutschlands, Italiens und der Beneluxstaaten unterzeichnet. Der Grund für das ablehnende Votum der französische Nationalversammlung vom 30. 8. 1954 lag darin, dass die sich aus dem EVG-Vertrag abzeichnenden Konsequenzen die militärischen Kapazitäten Frankreichs überstiegen hätten und im Ergebnis einer Opferung der Armee gleichgekommen wären. 30 Nordatlantikvertrag 31

vom 4.4. 1949, BGBl. 1955 II, S. 289.

Nichtamtliche Bezeichnung für den Vertrag zwischen Belgien, Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland vom 17. März 1948. 32 Ipsen, Rechtsgrundlagen, S. 61; Meier-Dörnberg, NATO und EVG, in: MaierI Wiggershaus, 1993, S. 213.

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Einleitung leistet sah, der NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands zu. 33 Gleichzeitig sollte die Integration deutscher Streitkräfte gemäss der Londoner Erklärung der NATO vom 10. 7. 199034 in Form von multinationalen Verbänden vertieft werden.

Da die Bundeswehr nicht gleichzeitig mit der Gründung des Staates zu dessen Schutze, sondern erst unter den Kautelen des Ost-West-Konflikts als „internationale Vertragsarmee" (Rühl) geschaffen wurde, erschien sie - wie Isensee zu recht feststellt - in ihrer Geburtsstunde weniger als Instrument territorialer Selbstbehauptung, sondern als „Wehrbeitrag" für das Bündnis.35 Deutsche Truppen sollten primär nicht nationalen, sondern vor allem gemeineuropäischen (Verteidigungs-)zwecken dienen.36 Die Wiederbewaffnung Westdeutschlands war historisch so eng mit der Integration in die westliche Bündnisstruktur verbunden, dass Teile der deutschen Militärhoheit aus der Hand der Besatzungsmächte unmittelbar auf internationale Einrichtungen übergingen und - wie Badura zutreffend ausführt gewissermaßen „nur eine juristische Sekunde der Bundesrepublik zugerechnet werden konnten." 37 Im Unterschied zu allen anderen europäischen Armeen war die Bundeswehr somit stets eine internationale politische Größe, die nie zur alleinigen Disposition nationaler Entscheidungen stand. Dementsprechend waren deutsche Streitkräfte von Anfang an und in vollem Umfang abhängig von den operativen Führungsstrukturen des Bündnisses mit der Folge, dass militärische Aktionen westdeutscher Streitkräfte in eigener Regie aufgrund ihrer fehlenden militärischen Spitzengliederung nicht durchführbar waren: 38 Alle westdeutschen Korps waren (mit Ausnahme der Heimatschutzverbände) als geschlossene Großverbände in das stufenartig miteinander verzahnte Dispositiv von Korpsgefechtsstreifen der jeweiligen NATO-Heeresgruppen eingegliedert, 39 wobei die Bundeswehr - eingedenk der historisch begründeten Furcht vor einer parlamentsfernen militärischen Führungszentrale - weder über einen eigenen Generalstab noch über ein eigenes Oberkommando ihrer Teilstreitkräfte verfügte. 40

33 Art. 6 des „Zwei-Plus-Vier-Vertrags" garantierte das Recht des vereinten Deutschlands, Bündnissen mit allen sich daraus ergebenen Rechten und Pflichten anzugehören. 54 Bull.BReg. Nr. 90 vom 10. 7. 1990, 777. 3 5 Isensee, in: Wellershoff (Hrsg.), Frieden ohne Macht, S. 66. Art. 79 Abs. 1 S. 2 GG schuf ein erleichterndes Verfassungsprivileg für den Abschluss von Bündnisverträgen, die auf dem Grundsatz gegenseitiger (militärischer) Beistandspflichten beruhen (Maunz, M / D , GG-Kommentar, Art. 79, RdNr. 11; Lücke, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 79, RdNr. 13 f.). 36 Rühl, Bundeswehr-Reform, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 43/2000, S. 3. 37 Badura, VVDStRL 1965,40. 38 So Millotat, ÖMZ 1998, 392; Heydte, DVB1. 1967, 701; Sauder, Souveränität, S. 265. 39 Das I. Korps als Nothern Army Group (NORTHAG) und das II. und ΙΠ. Korps als Central Army Group (CENTAG). 40 Vgl. dazu Sauder, Souveränität und Integration, S. 265 m. w. N. Zur Organisation und Führung der Streitkräfte im Kalten Krieg vgl. Heydte, DVB1. 1967, S. 701 ff.

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Der Aufbau eigenständiger nationaler Kommandobehörden und die Entwicklung militärischer Fähigkeiten mit dem erklärten Ziel, das Gesamtsystem „Streitkräfte" zu einem schnell verfügbaren, flexiblen und hochwirksamen Instrument deutscher Außen- und Sicherheitspolitik weiterzuentwickeln, 41 vollzog sich im Laufe der 1990er Jahre vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden sicherheitspolitischen Wandels des Aufgabenspektrums der NATO und der Entwicklung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur. 42 Als nationales und erstmals teilstreitkraftübergreifendes Führungsinstrument unterhalb der ministeriellen Ebene wurde das Einsatzführungskommando in Potsdam in Dienst gestellt und mit der Führung der deutschen Einsatzkontingente im Ausland betraut. Das in die Perspektive eines europäischen operational Headquarter gestellte Einsatzführungskommando untersteht dem Generalinspekteur der Bundeswehr, der erstmalig seit dem „Blankeneser Erlass" 43 wieder Führungsverantwortung für deutsche Streitkräfte im Ausland wahrnehmen kann. 44 Die Großverbände der Bundeswehr, darunter das auf künftig fünf Divisionen verkleinerte deutsche Heer, 45 agieren dabei vornehmlich im Hintergrund als Leitverbände für Ausbildung und Bereitstellung von Einsatzkontingenten, die für den Auslandseinsatz bedarfsgerecht zusammengestellt und in wechselnden Zusammensetzungen einem operational Headquarter unterstellt werden. 46 Die Verteidigungspolitischen Richtlinien für den Geschäftsbereich des BMVg vom 21. 5. 2003 streichen überdies heraus, dass nicht mehr die herkömmliche Form der Landes- und Bündnisverteidigung, sondern eine „multinationale Sicherheitsvorsorge" im Zentrum deutscher Verteidigungspolitik steht und dabei eine ubiquitäre Konfliktverhütung und Krisenbewältigung, einschließlich den Kampf gegen den internationalen Terrorismus umfasst. Bewaffnete und geographisch nicht mehr eingrenzbare Einsätze der Bundeswehr sollen (mit Ausnahme von Evakuierungsoperationen) nur noch gemeinsam mit Verbündeten im Rahmen von UN, NATO und EU stattfinden: 47 Multinationalität wird damit als militärpolitisches Grundkonzept festgeschrieben. Die Geschichte der Bundeswehr macht insoweit deutlich, dass sowohl ihre Gründung als auch die Erweiterung der militärischen Handlungsspielräume Deutschlands in den 1990er Jahren demokratisch und international flankiert wurden.

Vgl. Heise, Europäische Sicherheit 2001,15. Vgl. zuletzt zur ESVP Wogau (Hrsg.), Auf dem Weg zur Europäischen Verteidigung, 2003; Hoyer/ Kaldrack (Hrsg.), und Erhardt (Hrsg.), beide 2002; Fröhlich, Das Projekt der GESVP, in: ZEI2002, S. 1 ff. 42

43 „Erlaß zur Umgliederung des militärischen Bereichs im Bundesverteidigungsministerium" vom 21. 3.1970 (BT-Drs. 11 /7573, S. 30 f.). 44 Dazu Dau, Generalinspekteur, in: FS Ipsen, S. 610 ff. 45 Die nationale Korpsebene wurde abgeschafft; die Divisionen unterstehen außerhalb von Einsätzen dem Heeresführungskommando. 46 Ζ. B. dem Hauptquartier eines multinationalen Korps. 47 Vgl. „Verteidigungspolitische Richtlinien", Nr. 11, 42 ff., 54 ff. (abrufbar unter www. bundeswehr.de).

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Im Gegensatz zur klassischen Kooperationsstmtegie des 19. Jahrhunderts, die unter Vermeidung gemeinsamer Kampfhandlungen und Verzicht auf eine integrative Durchmischung in der Führungsspitze allenfalls eine „Parallelkriegsführung" ermöglichte, 48 zielt die militärische Integration - verstanden als rechtlich geregelte, institutionalisierte Verflechtung in überstaatlichen Strukturen 49 - auf Dezentralisierung und Einhegung staatlicher Macht. Dabei soll die rechtliche und militärische Begrenzung der Verfügungsgewalt über die eigenen Streitkräfte letztlich die Gewaltanwendung in den Beziehungen zwischen den Integrationspartnern ausschließen („arms and control effect"). 50 Militärpolitisch greifen verschiedene Integrationsfelder ineinander: 51 Auf der globalen Ebene bildet der Friedenssicherungsmechanismus der Vereinten Nationen ein Dach für den Sanktionsmechanismus {peace enforcement) nach Kapitel VII UN-Charta 52 sowie für die unter politischer Kontrolle des UN-Generalsekretärs agierenden UN-Friedenstruppen. Deren Aufgabenspektrum und Einsatzmandat hat sich vom traditionellen peacekeeping (nach Kapitel V I der Charta) zum robusten Krisenmanagement der zweiten und dritten Generation weiterentwickelt. 53 Auf der transatlantischen Ebene agiert das Verteidigungsbündnis der NATO seit den 1990er Jahren auf der Grundlage einer gewandelten Strategie, 54 wobei die Allianz im Bereich des Krisenmanagements faktisch als Regionalorganisation der 48 Moritz, NZWehrR 1965, S. 54. 49 So Lang, in: ZRP 2000, 269; Dau, in: Truppenpraxis / Wehrausb. 1999, 219; Schröder, Int. Integration, S. 20 f. so Sauder, Souveränität, S. 98 ff. 51 Vgl. überblicksartig Hochleitner (Hrsg.), Das Europäische Sicherheitssystem; Kühne, Friedenssicherung. 52 Nach der bislang nicht verwirklichten Vorstellung der Charta sollen Staaten nach Maßgabe von Sonderabkommen (gem. Art. 43 UN-Charta) dem Sicherheitsrat zur Inanspruchnahme für Zwangsmaßnahmen nach Art. 42 UN-Charta Truppen zur Verfügung stellen (vgl. dazu Doehring, Völkerrecht, RdNr. 464; Ipsen, Völkerrecht, § 60, RdNr. 18; Frowein, in: Simma (Hrsg.), UN-Charta, Art. 43, RdNr. 9; Riedel, ZRP 1991, S. 5). Da der Abschluss von Sonderabkommen keine notwendige Voraussetzung für die Durchführung von Zwangsmaßnahmen ist, konnten Staaten bislang (nur) zur kooperativen Durchsetzung der Sicherheitsratsresolutionen ermächtigt werden. 53 Dies hat zur Folge, dass die Grenzen zwischen Friedenssicherung und Friedenserzwingung zunehmend verschwimmen; vgl. zu den Friedenstruppen Bothe, Streitkräfte, S. 105 ff.; Saalfeld, NZWehrR 1994, 148; Schröder, JuS 1995, 399 ff.; Hildenbrand, Krisenreaktionsfähigkeit, S. 59 ff.; Kühne, Blauhelmeinsätze, in: Fastenrath (Hrsg.), S. 101 f.; Hufnagel, UN-Friedensoperationen; Gareis, in: „Aus Politik und Zeitgeschichte" 2002, S. 19 ff.; Griep, VN 2002, S. 61 ff.; Vöneky / Wolf rum, ZaöRV 2002, S. 570 ff.; Eisele, Blauhelme, in: Schorlemer (Hrsg.), 2003, S. 27 ff. 54 Vgl. Strategieerklärung von Rom vom 8.11. 1991 (BullBReg. Nr. 128 vom 13. 11. 1991, 1033); strategisches Konzept von Washington vom 23./24. 4. 1999. Zur Entwicklung der NATO vgl. zuletzt Theiler, Die NATO im Umbruch.

Einleitung U N 5 5 , bei Durchführung von Operationen mit Kampf- oder Interventionscharakter aber eher als eine (von UN-Kommandostrukturen unabhängige) Staatenkoalition („coalition of the willing") unter Führung der USA in Erscheinung tritt oder sich lediglich auf Unterstützungsaufgaben beschränkt. 56 Dabei zeichnet sich eine Transformation der NATO als dem einstigen Symbol transatlantischer Sicherheit in ein Reservoir temporärer und partieller Koalitionen ab, das wahlweise zur politischen Legitimation militärischer Interventionen (Stichwort: NATO Response Force), zur begrenzten Unterstützung der USA i m Kampf gegen den internationalen Terrorismus (ζ. B. Afghanistan) oder als Stabilisierungsfaktor in Krisengebieten (Bosnien, Afghanistan) dient. A u f der europäischen Ebene war die durch den modifizierten Brüsseler Vertrag entstandene Verteidigungsorganisation der Westeuropäischen Union ( W E U ) 5 7 von Anfang an in ihren Entwicklungsmöglichkeiten begrenzt, ehe sie mit der „Petersberger-Erklärung" von 1992 eine militärische Vitalisierung in Richtung Krisenmanagement einleitete. 5 8 Der Ausbau der operativen Fähigkeiten der W E U ging Hand in Hand mit der Einbindung der Organisation in die Europäische Union: zunächst als lockere institutionelle Kooperation i m Rahmen des Maastrichter Vertrages, 59 55 Im Abschlusskommuniqué des Ministerrats von Brüssel 1994 (Bull.BReg. Nr. 3 vom 17. 1. 1994, 20 f.) heißt es dazu: „We confirm today the preparedness of our Alliance to support , on a case-by-case basis and in accordance with our own procedures, peacekeeping operations under the authority of the UN security Council, which has the primary responsability for international peace and security. " Zwar hat sich die NATO einer formalen Inanspruchnahme durch den Sicherheitsrat stets verweigert, um der Berichtspflicht zu entgehen (dazu ausführlich Deiseroth, in: Umbach I Clemens (Hrsg.), GG, Art. 24, RdNr. 273 f.); der Sicherheitsrat hat indes deutlich gemacht, daß er die NATO als regionale Abmachung i. S. d. Art. 52 UN-Charta ansehe (vgl. insoweit zum Verhältnis NATO /UNO sowie der Frage einer „funktionellen Inanspruchnahme" Nolte, ZaöRV 1994, 113; Niewerth ! Rehr-Zimmermann, HuV-I 1994, 193; Donner, HuV-I 1997, 65; Deiseroth, Friedenswarte 2000, 128; Stein, NZWehrR 2000, 11; Lüder, NZWehrR 2001, 115).

56 Zumach, in: Reinecke (Hrsg.), NATO, S. 51. 57

Dazu umfassend Varwick, Sicherheit und Integration in Europa. Die Bezeichnung „Westeuropäische Union" findet sich in Art. VIII des Brüsseler Vertrages, wonach das Organ des Rates die Bezeichnung „Rat der Westeuropäischen Union" führt. 58 Petersberger Erklärung der WEU-Außen- und Verteidigungsminister vom 19. Juni 1992, Bull.BReg. Nr. 68 vom 23. 6. 1992, S. 649. Zu den „Petersberg-Aufgaben" zählen humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben, Kampfeinsätze einschließlich Maßnahmen zur Herbeiführung des Friedens. 59

Art. J. 4 Abs. 2 des EU-Vertrag bestimmte: Die Union ersucht die WEU, die integraler Bestandteil der Entwicklung der EU ist, die Entscheidungen und Aktionen der Union, die verteidigungspolitische Bezüge haben, auszuarbeiten und durchzuführen. Der Vertrag wurde ergänzt durch eine in die Schlussakte aufgenommene „Erklärung zur Westeuropäischen Union mit der die Regierungskonferenz von zwei Erklärungen der WEU-Mitgliedstaaten (BullBReg, Nr. 142 v. 17. 12. 1991, S. 1162) Kenntnis nimmt. Darin erklärt sich die WEU bereit, auf Ersuchen der EU Beschlüsse und Aktionen der Union mit verteidigungspolitischen Implikationen zu erarbeiten und durchzuführen. Dabei wurde eine doppelte Zielsetzung der WEU beschlossen: ihren stufenweisen Ausbau zur Verteidigungskomponente der EU sowie ihre Stärkung als europäischer Pfeiler der NATO.

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dann durch Inkorporation der „Petersberg-Aufgaben" in den Vertragstext von Amsterdam (Art. 17 Abs. 2 E U V ) 6 0 und schließlich durch eine vollständige Integration i m Rahmen des Vertrags von Nizza. 6 1 Der Europäische Rat hat die militärische Komponente der E U seit 1999 i m Rahmen einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) institutionell verfestigt. 6 2 Indes erlauben die derzeitigen Führungskapazitäten der E U bislang nur Operationen begrenzten Umfangs, 6 3 wobei (zunächst noch) auf NATO-Kapazitäten (CJTF-Konzept 6 4 ) zurückgegriffen werden w i r d . 6 5 Gleichwohl weisen die Wege in Richtung einer eigenständigen

60 Gem. Art. 17 Abs. 1 UA 2 EUV ist die WEU integraler Bestandteil der Entwicklung der EU und eröffnet der Union Zugang zu operativen Kapazitäten. Aus dem Passus des „Ersuchens" (in der Maastrichter-Fassung) wurde eine „Inanspruchnahme" der WEU durch die EU (Art. 17 Abs. 3 EUV). Die Erklärung des WEU-Ministerrates schließt neben der Verpflichtung, einer Inanspruchnahme der EU Folge zu leisten, auch die Rezeption des Art. 17 Abs. 3 UA 2 EUV ein, der die Unterordnung der WEU unter die Leitlinienkompetenz des Europäischen Rates nach Art. 13 EUV festschreibt. 61 Auch nach Nizza ist eine Vergemeinschaftung der ESVP nicht vorgesehen. Die Übernahme sämtlicher Funktionen und Gremien der WEU in die EU bedeutet das operative Ende der WEU, welche als „Rumpforganisation" (Ζ. B. mit Blick auf die Rüstungskontrolle) weiterexistieren wird. 62 Schlussfolgerungen des Rates vom 22. Januar 2001, AB1.EG L 27/4 v. 30. 01. 2001 (2001 /79/GASP) zur Einsetzung des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees (Art. 25 EUV), eines EU-Militärausschusses und eines EU-Militärstabes; dazu überblicksartig Fröhlich, Das Projekt der GESVP, ZEI2002, S. 6 f.; Cremen Militärische Emanzipationsversuche der EU, in: Cremer/Lutz (Hrsg.), 2000, S. 21 ff.; Krück, in: Schwarze (Hrsg.), EUKommentar, Art. 11 - 28 EUV, RdNr. 53 f. 63 Mittlerweile hat die EU die Führung von zwei Operationen übernommen - seit April 2003 die vormals NATO-geführte Task Force Fox (Allied Harmony) zum Schutz der OSZEund EU-Monitore in Mazedonien (EU-Operation Concordia) und im Sommer 2003 im Auftrag des UN-Sicherheitsrates (Res. 1484) die Operation Artemis in der Demokratischen Republik Kongo zum Schutz der Stadt Bunia (vgl. Gemeinsame Aktion 2003/423/ GASP des Rates vom 5. 6. 2003; Abl.EU Nr. L 143/50 vom 11.6. 2003). Für 2004 steht die Übernahme der SFOR-Mission in Bosnien-Herzegovina an. Vgl. zu den EU-Operationen Seidelmann, in: Integration 2002, S. 113 ff.; Fröhlich, in: ZEI 2002, S. 1 ff.; Baumgartner, Streitmacht, in: Reiterl Rummel I Schmidt (2002), S. 16 ff. 64 Das vom Berliner NATO-Rat 1996 zum Abschluss gebrachte Konzept der „Alliierten Streitkräftekommandos" (Combined Joint Task Forces, CJTF) ermöglicht es der EU, mit Zustimmung des NATO-Rats auf NATO-Mittel zurückzugreifen (sog. „Berlin-Plus-Regelung"). Durch die Verschmelzung von Elementen unter dem „doppelten Hut" WEU /NATO (sog. „idouble-hatting") wurde zu diesem Zweck ein im voraus definiertes Kommandopotential innerhalb der NATO-Militärstruktur geschaffen, das aus eigenständigen (trennbaren aber nicht getrennten), mobilen und multinationalen Streitkräftekommandos besteht und aus mehreren Truppenteilen (teilstreitkraftübergreifend) von NATO-Staaten (und Nichtmitgliedern) aufgabengerecht zusammengestellt wird (vgl. dazu näher Palin, Multinational Military Forces, S. 73 f.; Krambeer, in: Europäische Sicherheit 2000, S. 52 ff.). 65 Nach Aufgabe der türkischen Blockadehaltung war der Weg frei für eine Vertragsvereinbarung über den Rückgriff der EU auf NATO-Einrichtungen (Transport, Kommunikation, Kommandostrukturen) für den Fall, dass sich die NATO als ganzes an der geplanten Operation nicht beteiligen will; vgl. EU-NATO Abkommen vom 14. März 2003 (NAΊΟ-Press

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Europäischen Verteidigungsunion: Politische Ambitionen zur Herausbildung von NATO-unabhängigen Planungs- und Führungskapazitäten sind unübersehbar; nicht zuletzt sollen neben den EU-Krisenreaktionsstreitkräften in Korpsgröße ab 2007 auch mobile EU-Kampfverbände (in einer Größenordnung von 1500 Mann) aufgestellt werden. 66 Der EU -Verfassungsvertrag 61 erweitert das „Petersberg-Spektrum" in Richtung der internationalen TerTorismusbekämpfung 68 und gestaltet die ESVP „à la carte" aus, ohne sie allerdings zu vergemeinschaften. So begründen Mitgliedstaaten, die anspruchsvolle Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und dabei festere Verpflichtungen eingegangen sind, eine strukturierte Zusammenarbeit; 69 sie können sich überdies auch an der neu eingerichteten engeren Zusammenarbeit im Bereich der kollektiven Verteidigung beteiligen.70 Militärische EU-Krisenoperationen werden vom Ministerrat (weiterhin) einstimmig beschlossen; dieser kann eine Gruppe von Mitgliedstaaten mit der Durchführung beauftragen. 71 Die ubiquitäre Verlagerung sicherheitspolitischer Aufgabenfelder von der Verteidigung hin zu einem tendenziell „tatbestandsoffenen" militärischen Krisenmanagement einschließlich der Terrorismusbekämpfung erfordert neben Neustrukturierungen der Streitkräfte auch eine Intensivierung der militärischen Kooperation, der durch eine verstärkte Aufstellung multinationaler Eingreifverbände Rechnung getragen wird. 7 2 Multinationalität als völkervertraglich formalisiertes Ordnungsmodell zur Verwirklichung eines politischen Konzepts und zur Erfüllung eines gemeinsamen militärischen Auftrags bezeichnet dabei weder eine eigenständige rechtliche Kategorie noch eine qualitativ verstärkte Form der Integration, sondern beschreibt unterschiedlich intensive Formen militärischer Zusammenarbeit.73 Release 022/2003 v. 14. 3. 2003). Die Kongo-Operation Artemis war indes die erste EUOperation ohne Abstützung auf NATO-Strukturen. 66 Vgl. FAZ vom 11. 2. 2004. 67 Verfassungsvertragsentwurf Endfassung vom 6. 8. 2004 - CIG 87/04. 68 In Art. ΠΙ-210 Abs. 1 heißt es: Mit allen diesen Mitteln kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet. 69 Art. 1-41 Abs. 6 i. V. m. Art. ΙΠ-312. 70

Art. 1-41 Abs. 7 des EU-Verfassungsvertrags, der insoweit die Formulierung aus dem Art. V Brüsseler Vertrag aufgreift. Zur Zukunft der ESVP vgl. Röper/Issel, ZRP 2003, S. 401; Klein u. a. (Hrsg.), Vers une Politique (2003); Gerteiser, Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik, S. 153 ff. 71 Art. 1-41 Abs. 5 i. V. m. Art. ΙΠ-310 EU-Verfassungsvertrag. 72 Dazu VadiMeyers, in: Europäische Sicherheit 1996, S. 33 ff.; Palin, Multinational military forces, S. 5 ff.; einen Überblick über die einzelnen Verbände gibt Fleck, in: Geiger (Hrsg.), S. 164-166. 73 Vgl. zum Begriff Dau, Truppenpraxis/Wehrausb. 1999, 219; Millotat, Wege des deutschen Heeres, in: FS Dau, S. 151 ff.; Lang, in: Europäische Sicherheit 2001, S. 41 ff. Im

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In der Praxis beschränkt sich die multinationale Durchmischung von Militärverbänden auf Führungs- und Unterstützungselemente, während die national homogenen Truppenkontingente bis zu ihrem Einsatz im Rahmen eines kollektiven Sicherheits- bzw. Verteidigungssystems an ihren nationalen Heimatstandorten verbleiben. 74 Der internationale militärische Integrationsprozess vollzieht sich somit in einem vielschichtigen Mehrebenensystem, wobei nationale und internationale ebenso wie militärische und politische Ordnungsebenen ineinander greifen. 75 Infolge der ausschließlich intergouvernemental ausgestalteten Kooperations- und Entscheidungsmechanismen auf der internationalen Ebene haben sich die Staaten zwar den souveränen Zugriff auf ihre Streitkräfte erhalten, gleichzeitig aber die politische Steuerung internationaler Einsätze dem prinzipiellen Willen zum politischen Konsens unterworfen. 76

III. Streitkräftekontrolle im Spannungsfeld zwischen Internationalisierung und Parlamentarisierung Auslandseinsätze staatlicher Streitkräfte geraten in dem Maße unter politischen und verfassungsrechtlichen Legitimationszwang, wie sie sich von ihrer traditionellen Verteidigungsaufgabe hin zu neuen strategischen Herausforderungen verlagern. Wenn globale Kriseneinsätze mit weitgefasstem Mandat als raison d'être staatlicher Streitkräfte die traditionelle Funktion der Landesverteidigung ablösen,77 bemilitärischen Sprachgebrauch liegt „Multinationalität" vor, wenn zur Führung von Truppenkörpern regelmäßige Kontakte aus den verschiedenen nationalen Hierarchieebenen der beteiligten nationalen Elemente unerlässlich sind. 74 Clerc , in: Martin (Hrsg.), Eurokorps, S. 303; Siedschlag, Horst, in: Truppenpraxis/ Wehrausb. 1999, S. 819; Stupka, Multinationale Streitkräfte, S. 120 f. 75 Auf politischer Ebene weisen die durch die Gründungsverträge geschaffenen (militärpolitischen) Leitungsorgane die typisch intergouvernementalen Ordnungsstrukturen und Handlungsmuster einer Konferenz von Regierungsmitgliedern auf. Die insoweit nachgeordneten militärischen Gremien setzen die politischen Beschlüsse um, während die eigentliche multinationale Zusammenführung nationaler Streitkräftekontingente unter einheitlich-integriertem Befehl auf der (nachgeordneten) Führungsebene von internationalen Kommandobehörden und Hauptquartieren erfolgt. 7 6 Dieser entfaltet - idealiter in Form eines UN-Sicherheitsratsmandats - eine legitimationssteigernde Wirkung, ohne jedoch conditio sine qua non für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Auslandseinsätzen deutscher Streitkräfte zu sein; (vgl. insoweit Stein/ Kröninger, Jura 1995, S. 260; Sauer, ZaöRV 2002, S. 322 f.; Tomuschat, BK, Art. 24, RdNr. 124; Randelzhofer, M / D , Art. 24 II, RdNr. 48; Hillgruber, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 87a, RdNr. 25). 77 So explizt die Verteidigungspolitischen Richtlinien des BMVg vom 21. 5. 2003. Grundlegend zum verfassungsrechtlichen Verteidigungsauftrag und dessen Sinnvariabilität Depenheuer, DVB1. 1997, S. 686; kritisch insoweit Hillgruber, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 87a, RdNr. 52, der darauf hinweist, dass die Bundeswehr nicht als beliebig verwendbares

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darf es - zumal in einer medial geprägten Demokratie - verstärkter Ansätze einer demokratischen Legitimation militärischer Handlungsoptionen. Dabei vermag insbesondere die parlamentarische Einbindung der Streitkräfte - mehr noch als ihr internationales Mandat - die notwendige vertrauensbegründende Komponente für den weltweiten Einsatz des Militärs herzustellen. Auch der Erfolg der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) wird nicht allein von einer Stärkung der vielgescholtenen militärischen Fähigkeiten Europas abhängen, sondern auch von der Unterstützung durch die europäische Öffentlichkeit. Paradoxerweise stellt aber gerade die internationale Einbindung staatlicher Streitkräfte und die mit ihr verbundene „Hochzonung" staatlich-hoheitlicher Regelungsbefugnisse auf die internationale Rechtsebene die parlamentarische Streitkräftekontrolle - wenn nicht gar das Demokratieprinzip schlechthin - vor bislang unbewältigte Herausforderungen. Beklagt wird dabei der Verlust an staatlich-demokratischer Kontrolle infolge einer zunehmenden „Auswanderung" relevanter Entscheidungen aus dem traditionellen Raum der Demokratie - dem Staat - hin zu internationalen Organisationen, Konferenzen, Gremien und Foren der vereinigten Exekutiven. In der Folge finden sich Institutionen, in denen demokratische Politik nach klassischer Auffassung zentriert war, am Rande des politischen Geschehens wieder; sie können allenfalls noch billigen, was anderenorts entschieden bzw. vorentschieden wurde. 78 Das Parlament als Ort der politischen Auseinandersetzung und Grundsatzentscheidung droht dabei zum „Akklamationsorgan" oder zur „Ratifikationsinstanz" zu degenerieren. 79 Angesichts neuer Formen der internationalen Rechtsetzung bemerkte Tomuschat bereits in den 1970er Jahren mit Blick auf die parlamentarische Mitwirkung im Bereich der auswärtigen Gewalt, dass „die progressive Fortschreibung der großen Strukturprinzipien der heutigen und künftigen Weltordnung in den vor den Augen des Juristen zerfließenden Formen des soft-law völlig aus dem parlamentarischen Mitverantwortungsbereich herausfällt". 80 Die institutionelle Verflechtung von nationalem und internationalem Recht ordnet auch die staatlichen Streitkräfte einem System von komplexen Entscheidungsstrukturen, vielfältigen Entscheidungsträgern und faktischen Handlungszwängen zu, dem die Tendenz innewohnt, sich einer eindeutigen Zuweisung von Verantwortlichkeiten und damit auch einer effektiven nationalen Kontrolle und Einflussnahme zu entziehen. 81 Die internationale Streitkräfteintegration stärkt innenpolitisch die Stellung der Exekutive gegenüber der Legislative und verschärft die ohnehin bestehenden Instrument deutscher Außenpolitik zur verfassungsrechtlich ungebundenen Verfügung der Bundesexekutive geschaffen worden sei; kritisch auch Feldmeyer, „Zum Abbruch freigegeben", FAZ vom 13. 12. 2002, S. 12. 78 Volkmann, AöR 2002, S. 595; Dahrendorf, Die Krisen der Demokratie, S. 16 f.; Stein, AJIL 2001, S. 490 m. w. N.; Krajewski, AVR 2003, S. 425. 79 So Müller, Amerika, S. 226; Papier, in: FAZ v. 31. 1. 2003. so Tomuschat, VVDStRL 1878, S. 30 ff. 8i Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, S. 172; Epping, in: Ipsen, Völkerecht, § 31, RdNr. 33. 3 Schmidt-Radefeldt

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strukturellen parlamentarischen Steuerungsdefizite im Bereich der auswärtigen Gewalt. Sowohl die Regierungen als auch das Militär vermögen auf internationaler Ebene effektiver zu kooperieren und den Integrationsprozess nachhaltiger zu gestalten als die nationalen Parlamente, deren Sichtweise überwiegend national determiniert ist. 82 Objekt der nationalen parlamentarischen Kontrolle bleibt dabei in erster Linie die nationale Regierung (und damit auch das nationale Militär), nicht dagegen internationale Organe oder die über den nationalen Anteil hinausgehenden integrierten Streitkräftekonfigurationen (internationale Kommandobehörden, Militärausschüsse oder multinationale Korps). Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben die Befürchtung einer Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen im Sinne eines schwindenden Einflusses der nationalen Parlamente vor allem im europäischen Integrationsprozess laut werden lassen.83 Zu oft treten Parlamente als bloße „Ratifikationsinstanz" (Hans-Jürgen Papier) in Erscheinung und machen die Volksvertreter gleichsam zu Konsumenten eines von den Regierungen ausgehandelten Ergebnisses, nicht aber zu Mitgestaltern eines Prozesses. Zudem entzieht die kooperative Erfüllung und Verlagerung staatlicher Aufgaben auf ein überstaatliches Mehrebenensystem aus faktischen und rechtlichen Zwängen der Wahrnehmung staatlicher Funktionen langfristig ihre verfassungsrechtlichen Bindung. 84 Im militärischen Bereich ist eine wirkungsvolle und effiziente parlamentarische Streitkräftekontrolle auf die möglichst lückenlose nationale Rückbindung der integrierten Anteile staatlicher Streitkräfte angewiesen. Je schwächer diese Bindung, desto größer die potentiellen Kontrollverluste auf der nationalen Ebene. Internationalisierung und demokratische Konstitutionalisierung von Streitkräften stehen daher in einem kaum auflösbaren Spannungsverhältnis85 und verhalten sich tendenziell nach dem Prinzip der „kommunizierenden Röhren": Die mit der Internationalisierung von Streitkräften unbestreitbar verbundenen Vorteile erweiterter militärischer Handlungsmöglichkeiten bewirken gleichzeitig eine potenzielle Schwächung der nationalen parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten. Indem die Verfassung gem. Art. 24 I I GG zur militärischen Integration der Bundesrepublik Deutschland ermächtigt, rechtfertigt sie zwar auch die integrationsbedingten Beschränkungen der parlamentarischen Kontrollrechte; 86 jedoch duldet sie nicht die systematische Aushöhlung und Schwächung der demokratischen Legitimation staatlicher Streitkräfte. Langfristig gilt es daher, das Kompetenzübergewicht der 82 Hilf/Schorkopf, Europäisches Parlament, in: Drexl (Hrsg.), 1999, S. 126. 83 Schröder, EuR 2002, S. 309; Volkmann, AöR 2002, S. 595 f.; Lang, Mitwirkungsrechte, S. 273 m.N.; Kamann, Mitwirkungsrechte, S. 47 ff.; zuletzt Ruffert, DVB1. 2002, S. 1149 f.; grundlegend Held, Democracy and the global order; Stein, AJIL 2001,489 ff. 84 Walter, DVB1. 2000, S. 7. 85 So auch Schindler, Völkerrecht und Demokratie, in: FS Seidl-Hohenveldern, S. 618 f. 86 Klein, M / D , Art. 45b, RdNr. 30; ihm folgend Dollinger, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 45b, RdNr. 16.

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Exekutive im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik abzubauen, parlamentarische Beteiligungs- und Kontrollverfahren für Entscheidungen mit internationalem Bezug zu stärken und ergänzende Legitimationsansätze auf überstaatlicher Ebene fruchtbar zu machen.

IV. Gang der Erörterung Die Kontrolle des internationalen militärischen Integrationsprozesses durch nationale Parlamente steht im Vordergrund des primär verfassungsrechtlichen und ansatzweise auch verfassungsvergleichenden ersten Teils dieser Arbeit. Begriff und Funktion der „parlamentarischen Kontrolle" in einem umfassenden Sinn beinhalten dabei auch die verfassungsrechtliche Mitverantwortung und Steuerungsfähigkeit des Parlaments als Grundlage der demokratischen Legitimation staatlicher Tätigkeit (dazu 1. Kapitel). Im Zuge des internationalen militärischen Integrationsprozesses, so die hier vertretene These, wird die wehrverfassungsrechtlich verankerte Legitimation staatlicher Streitkräfte jedoch zunehmend in Frage gestellt. Parlamentarische Kontrolldefizite sollen anhand jener Legitimationsformen aufgezeigt werden, die den vom Demokratieprinzip geforderten Zurechnungszusammenhang zwischen Repräsentanten und Repräsentierten herstellen: 87 • Gegenstand der (organisatorisch-personellen demokratischen Legitimation, die bis in die Organisation der Streitkräfte durchschlägt, ist eine ununterbrochene, auf das Volk zurückführbare Legitimationskette für alle mit der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben betrauten Amtswalter. Das Parlament tritt dabei nicht als Legitimationsspender, sondern (nur) als Legitimationsm/tt/er in Erscheinung. Die demokratische Rückkopplung setzt allerdings voraus, dass die Legitimationskette nicht durch das Dazwischentreten eines nicht bzw. nicht hinreichend demokratisch legitimierten Organs bzw. Amtswalters unterbrochen wird. Die lückenlose demokratische Legitimationskette, die in der Befehls- und Kommandogewalt des parlamentarisch verantwortlichen Verteidigungsministers (Art. 65a GG) gipfelt, wird indes durch multinationale Befehls- und Führungsstrukturen in Frage gestellt. Vor diesem Hintergrund sollen die wehrrechtlich unterschiedlich ausgestalteten Über- und Unterordnungsverhältnisse in integrierten Führungsstrukturen untersucht werden (dazu 2. Kapitel). • Die funktionell-institutionelle demokratische Legitimation trägt dem Gedanken Rechnung, dass der Verfassungsgeber die gesetzgebende und vollziehende Gewalt als funktionell eigene Organe konstituiert und ihre Kompetenzbereiche 87 Zur Entwicklung dieser Legitimationsformen durch Literatur und Rechtsprechung vgl. BVerfGE 47, 253; 83, 60 (72); 83, 60 (72 f.); 93, 37 (67); Böckenförde, HBdStR I, § 22, RdNr. 8 ff.; Maurer, Staatsrecht I, § 7, RdNr. 26 ff.

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in einem Wechselspiel von checks and balances verfassungsrechtlich austariert hat. 88 Als Ausdruck parlamentarischer Mitwirkung an der politischen Leitungsgewalt des Staates weist das Grundgesetz dem Bundestag im Bereich der auswärtigen Gewalt gem. Art. 59 Abs. 2 GG die Zustimmungskompetenz zu internationalen (Bündnis-)Verträgen („Vertragsgewalt") sowie nach ungeschriebenem Verfassungsrecht eine konstitutive Zustimmungskompetenz zum Auslandseinsatz der Bundeswehr („militärische Einsatzgewalt") zu. Untersucht werden soll in diesem Zusammenhang, inwieweit die parlamentarische Mitwirkung an der Vertrags- und Einsatzgewalt im Zuge des internationalen militärischen Integrationsprozesses zurückgedrängt wird und einen demokratischen Legitimationsverlust der exekutiven Kompetenzen nach sich zieht (dazu 3. Kapitel). • Schließlich soll die Ausübung der Staatsgewalt auch ihrem Inhalt nach durch das Volk kontrolliert werden (sog. sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation). Die Wehrverfassung des Grundgesetzes hat zur Sicherung der demokratischen Verantwortlichkeit der Bundeswehr spezifische Instrumente der parlamentarischen Streitkräftekontrolle (ζ. B. die Wehrbeauftragtenkontrolle) eingeführt, deren Effizienz sich im internationalen Integrationsprozess jedoch zunehmend bewähren muss (dazu 4. Kapitel). Erweist sich die demokratische Legitimation integrierter Streitkräfte sowohl in personeller, funktioneller als auch inhaltlicher Hinsicht zum Teil als defizitär, so werden ergänzende Legitimationsansätze auf europäischer bzw. internationaler Ebene notwendig. Möglichkeiten und Grenzen einer internationalen parlamentarischen Kontrolle des militärischen Integrationsprozesses sind Gegenstand des zweiten Teils dieser Untersuchung. Dieser Integrationsprozess, so die Prämisse, befindet sich in einem Übergangsstadium zwischen klassischer Bündniskooperation und supranationalen Integrationsformen. Er bedarf bereits heute einer demokratischparlamentarischen Abstützung auf überstaatlicher Ebene (dazu 5. Kapitel). Der vornehmlich exekutiv dominierte militärische Integrationsprozess der ESVP sollte daher durch eine parlamentarische Dimension abgestützt und demokratisch legitimiert werden. Nicht von ungefähr hat das BVerfG in seiner Maastricht-Entscheidung den demokratischen Zurechnungszusammenhang zum Handeln europäischer Organe über zwei Legitimationsstränge hergestellt: Neben die Funktion der nationalen Parlamente tritt in dem Maße, wie die europäischen Nationen zusammenwachsen, „auch die Vermittlung demokratischer Legitimation durch das von Bürgern der Mitgliedstaaten gewählte Europäische Parlament". 89 Die Einsicht in die Pluralität von Legitimationsbausteinen führt von einem auf Ergänzung verschiedener Komponenten beruhenden Legitimationsniveau90 hin zu 88

Zur Gewaltenteilung vgl. näher Maurer, Staatsrecht I, § 12, RdNr. 20 f. S9 BVerfGE 89, 155 (185 f.). 90 In diesem Sinne schon BVerfGE 83, 60 (72); vgl. dazu Schmidt-Aßmann, AöR 1991, S. 366.

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einer Vernetzung der Legitimationsbausteine im Rahmen einer „Mehrebenendemokratie" (Hänsch).91 Voraussetzung dafür ist neben der Festigung demokratischer Strukturen auf der internationalen Rechtsebene vor allem die Erkenntnis, dass Demokratie und Internationalisierung keine gegenläufigen Phänomene sind. Vielmehr verkörpern die für die staatliche Gesellschaftsform gebildeten Ideen von Demokratie und Rechtsstaat einen generellen Anspruch, der jeglicher Organisationsform zivilisierter Vergesellschaftung gegenüber erhoben werden kann. 92 Auf mehreren Rechtsebenen haben sich in diesem Zusammenhang bereits die Grundbausteine einer künftigen europäisch-parlamentarischen Streitkräftekontrolle herausgebildet; sie sollen eine genuin überstaatliche demokratische Legitimation des militärischen Integrationsprozesses ermöglichen. • Zu den überstaatlichen parlamentarischen Vertretungskörperschaften zählen die sog. interparlamentarischen (transnationalen) Versammlungen, deren Beitrag zur demokratischen Abstützung des militärischen Integrationsprozesses - an die Kontrollfunktionen nationaler Parlamente anknüpfend - aufgezeigt werden soll (dazu 6. Kapitel). • Daneben gewährleistet das Europäische Parlament bereits heute eine genuin europäische Kontrolle der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (dazu 7. Kapitel). • Die parlamentarische Dimension der europäischen Sicherheitsarchitektur, abschließend skizziert wird, setzt sich demzufolge aus Elementen einer nationalen, transnationalen und europäischen Legitimation zusammen (8. Kapitel).

91 Hänsch, Das EP als Akteur im EU-Reformprozess, in: StWStPr. 1998, S. 413. 92 Badura, VVDStRL 1965, S. 38.

die

Der Krieg ist zu wichtig, um ihn den Generälen zu überlassen. Georges Clemenceau E' principali fondamenti che abbino tutti li stati sono le buone legge e le buone arme. Niccolò Macchiavelli, Il Principe

1. Teil

Parlamentarische Legitimationsvermittlung im internationalen militärischen Integrationsprozess 1. K a p i t e l

Parlamentarische Kontrolle als Grundlage demokratischer Legitimation Der Begriff der „Kontrolle" 1 ist unauflöslich mit staatlicher Herrschaftsausübung verbunden. Als Element des Gewaltenteilungsgrundsatzes und der Machtbegrenzung bilden Kontrolle und Verantwortung den Anknüpfungspunkt einer demokratischen Verfassungsordnung, 2 die das Verhältnis zwischen Kontrolleur und Kontrolliertem regelt. 3 Die Überprüfung exekutiven Handelns durch Gerichte oder Rechnungshöfe 4 lässt den Kontrollvorgang dabei als Vergleich eines „Soll-Wertes" mit einem „Ist-Wert" am Maßstab des Gesetzes bzw. der Wirtschaftlichkeit erscheinen. Demgegenüber hat das Grundgesetz dem Bundestag die Aufgabe der „parlamentarischen Kontrolle " weder expressis verbis zugewiesen5 noch inhaltlich bestimmt. Die dem Parlament ausdrücklich zustehenden (Kontroll-) Kompetenzen6 lassen sich daher allenfalls als Bestandteile einer nur unvollständig 1 Altfrz. contre-rôle = „Gegen-Rolle" i. S. v. „Gegenaufzeichnung". Bei der Marine besaßen die Schiffskapitäne eine Mannschaftsrolle (Personalregister), während die „Gegenrolle" in den Händen der (Hafen-)Behörden verblieb. Vgl. zum historischen Hintergrund Steffani, Formen, Verfahrungen und Wirkungen der parlamentarischen Kontrolle, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht, § 49, RdNr. 2. 2 Grundlegend BVerfGE 67,100 (130); Scheunen Kontrolle, S. 8 ff.

3 Hoffmann, Zur Legitimität der Kontrolle, in: Brecht/Klein (Hrsg.), 1994, S. 11. Dazu etwa Ernst, Aufgaben und Erfahrungen des Bundesrechnungshofes, in: Brecht/ Klein (Hrsg.), 1994, S. 91 ff. 5 Der Begriff der „Kontrolle" verwendet das Grundgesetz allein in Art. 45b. Dazu umfassend Gerster, Kontrollmöglichkeiten von Bundestag und Bundesrat, in: Brecht/Klein (Hrsg.), 1994, S.41 ff. 6 Vgl. Art. 43 I, 44, 45a; 45c; 63, 67, 76 Abs. 1; 77 Abs. 1; 110 Abs. 2; 114 Abs. 1; 115a und b Abs. 3 GG. 4

1. Kap.: Parlamentarische Kontrolle als Grundlage demokratischer Legitimation

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umschriebenen „demokratischen Gesamtleitung, Willensbildung und Kontrolle" (Hesse) begreifen 7 und im Wesentlichen drei Grundfunktionen zuordnen: Gesetzgebung sowie Zustimmung zu wichtigen politischen Akten (Legislativfunktion), die nachgängige und begleitende Kontrolle der Regierung (Kontrollfunktion) sowie die Mitwirkung an der Zusammensetzung anderer Verfassungsorgane (Kreationsfunktion). 8 Die vielfach vorgenommene Gegenüberstellung der parlamentarischen Rechtsetzungsfunktion und der Kontrollfunktion als systemische Kategorien lässt sich indes nicht konsequent durchhalten. Vielmehr erscheint die parlamentarische Tätigkeit als Kontrolle in einem umfassenden Sinn. 9 Auch die Vorstellung, „Kontrolle" bedeute als parlamentarische „Sonderfunktion" nur die Teilhabe an fremden, nicht aber die Wahrnehmung eigener Entscheidungskompetenzen,10 erscheint weder verfassungsrechtlich geboten, noch trennscharf möglich. 11 Inhaltlich besteht parlamentarische Kontrolle daher in dem Vergleich künftigen, gegenwärtigen und vergangenen Verhaltens anderer Organe mit den vom Parlament zulässigerweise heranzuziehenden Kontrollmaßstäben; sie findet in jedem Entscheidungsprozess statt, an dem (auch) das Parlament beteiligt ist. 12 Zu den bereits von John Stuart Mill beschriebenen parlamentarischen Kontrollaufgaben 13 gehören neben dem Haushaltsrecht und dem Misstrauensvotum in erster Linie das Frage- und Interpellationsrecht sowie das Recht, durch Einsetzung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse Missstände aufzuklären. 14 So verschieden die erwähnten Kontrollmittel nach Art und Wirkung sein mögen, lassen sie doch ein wesentliches Charakteristikum der parlamentarischen Kontrolle deutlich werden: das Parlament kann die Regierung durch Anfragen oder Untersuchungen bloßstellen, durch Verweigerung der geforderten Mittel lahmlegen oder durch das konstruktive Misstrauensvotum zum Rücktritt zwingen; neben diesen im Kern 7 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNr. 572; Scheuner, Kontrolle, S. 24; Krebs, Kontrolle, S. 120. s Maurer, Staatsrecht I, § 13, RdNr. 119 ff. 9 So Achterberg, Parlamentsrecht, § 18, S. 408. 10 In diesem Sinne etwa BVerfGE 49, 89 (125).

h Krebs, Kontrolle, S. 124 f. 12 Karpen, Defizite, in: Geiger (Hrsg.), 2003, S. 237. 13 Mill, Considerations on Representative Government, 1861, Kap. V - Von dem angemessenen Wirkungskreis der Repräsentativkörperschaften; zitiert bei Badura, HBdStR I, § 23, RdNr. 11: „Die wahre Aufgabe einer Repräsentativversammlung besteht nicht darin, das Geschäft der Regierung selbst zu verrichten, wozu sie ganz ungeeignet ist, sondern darin, die Regierung zu überwachen und zu kontrollieren; ihre Tätigkeit mit dem vollen Licht der Öffentlichkeit zu beleuchten, sie zu nötigen, ihre Handlungen, soweit sie bedenklich erscheinen können, zu erklären und zu rechtfertigen, zu rügen, was sich als verwerflich herausstellt, und wenn die Männer, welche die Regierung bilden, ihr Amt missbrauchen ( . . . ) sie aus dem Amte zu entfernen und ( . . . ) ihre Nachfolger zu ernennen."

14 Zur Bedeutung parlamentarischer Untersuchungskommissionen bei der Aufklärung von Kriegsverbrechen vgl. die Beiträge von Ku, Hoekema und Winslow, in: Born/Hänggi (Hrsg.), 2004, S. 33 ff.; 73 ff. und 91 ff.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

„destruktiven" Elementen kann das Parlament im Bereich der Exekutive aber kaum „positiv" gestaltend oder anordnend tätig werden. 15 Der Begriff der „Kontrolle" erweitert sich aber skalenartig, wenn nicht nur der Vorgang, sondern auch die Zielsetzung der Kontrolle ins Blickfeld rückt. Dabei wandelt sich die Vorstellung von Kontrolle als nachträglicher Überprüfung zur vorgängigen Beeinflussung des Kontrollobjektes im Sinne von begleitender Steuerung und Leitung} 6 In diesem Sinne hat Friesenhahn einprägsam formuliert, dass die Staatsleitung der Regierung und dem Parlament gewissermaßen „zur gesamten Hand" 17 (wenn auch nicht zu gleichen Teilen) zuständen, wobei die jeweiligen verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsbereiche ineinander verschränkt seien. Steffani definiert „Kontrolle" dem entsprechend als den parlamentarischen Prozess des Überprüfens und Bestimmens (bzw. Beeinflussens) der Verhaltensweisen von Regierung und Verwaltung unter Einschluss unmittelbarer oder mittelbarer Sanktionsfähigkeit im Wege von vier Phasen: Informationsgewinnung, Informationsverarbeitung, Informationsbewertung (Würdigung und Kritik) und abschließender politischer Stellungnahme bzw. rechtsverbindlicher Entscheidung.18 Insbesondere bei Fachausschüssen mit ihrer Sachkompetenz und Nähe zur Regierungsarbeit lässt sich eine nicht nur „nachlaufende, sondern vielmehr begleitende und mitsteuernde parlamentarische Kontrolle der Ministerien" 19 diagnostizieren. „Mitwirkung" soll freilich nicht bedeuten, dass das Parlament exekutive Befugnisse in vollem Umfang an sich reißt: Eine Kontrolltätigkeit in Form des „Mitregierens" ist nicht intendiert, weil sie die Kontrolle als eigenständige Aufgabe letztlich überwinden würde. 20 Jedoch darf sich die parlamentarische Kontrolle nicht nur auf informatorische und sanktionierende Aufgaben beschränken oder sich in der bloß nachfolgenden (Miss-)Billigung des Regierungshandelns erschöpfen; 21 nur eine umfassend-begleitende und steuernde „Kontrolle" vermag die Mitverantwortung des 15

Maurer, Wehrbeauftragter und Parlament, S. 10. 16 Krebs, Kontrolle, S. 6; Karpen, Defizite, in: Geiger (Hrsg.), 2003, S. 237 f.; Rath, Entscheidungspotenziale, S. 149. Das Grundgesetz räumt dem Parlament Formen der „Mitentscheidung" ein, die sich in der Praxis weder von der Kontrolltätigkeit trennen noch in der Theorie begrifflich abspalten lassen. Dies zeigt sich deutlich an der sachlichen Kopplung der Vertrauensfrage mit der Zustimmung zum Auslandseinsatz der Streitkräfte (Afghanistan) in der Bundestagssitzung vom 16. 11. 2001. 17 Friesenhahn, VVDStRL 1958, S. 38; ihm folgend Stern, Staatsrecht I, S. 756; Scheuner, Kontrolle, S. 31. 18 Steffani, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht, § 49, RdNr. 11. ι 9 Zeh, Das Ausschußsystem im Bundestag, in: Schneider ! Zeh, Parlamentsrecht, § 39, RdNr. 11. 20 So schon Friesenhahn, VVDStRL 1958, S. 39; Berg, Der Verteidigungsausschuß, S. 94 f. „Kontrolle" setzt eine gewisse „oppositionelle Spannung" im Verfassungsprozess voraus, wobei insbesondere das Aufzeigen von Dissens oder die Möglichkeit, Entscheidungsträger zu einer erhöhten Sachaufklärung und Rechtfertigung zu zwingen, staatsleitende Funktion entfalten können. 21 Dürig/Klein,

M / D , Art. 45a, RdNr. 30 f.

1. Kap.: Parlamentarische Kontrolle als Grundlage demokratischer Legitimation

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Parlaments zu begründen und die demokratische Legitimation exekutiven Handelns hinreichend zu vermitteln. In seinem Principe (Kap. XII) hat schon Machiavelli vor fast 500 Jahren gute Gesetze und ein gutes Heer als wesentliche Grundlagen eines festgefügten Staates bezeichnet - in der Begriffswelt des demokratischen Verfassungsstaates also demokratische Gesetze und parlamentarisch kontrollierte Streitkräfte.

2. Kapitel

Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt in multinationalen Führungsstrukturen I. Der Oberbefehl zwischen Demokratisierung und Internationalisierung Die Frage nach dem Oberbefehl über die Streitkräfte war stets die militärische Gretchenfrage. Schon Machiavelli verlangte, dass immer nur einer an der Spitze eines Heeres stehen dürfe. 1 Der Aufbau stehender Heere im 16. und 17. Jahrhundert führte zu einer Konstitutionalisierung des Militärwesens und unterwarf auch die militärische Führung dem Wechselspiel der jeweiligen Staats- und Regierungsformen. Während Inhaberschaft und Ausübung der Militärgewalt im absolutistischen Zeitalter in der Person des Monarchen zusammenfielen, 2 geriet die Kommandogewalt im preußisch geprägten Konstitutionalismus in das Spannungsfeld zwischen dem fortbestehenden Oberbefehl des Königs und der Gegenzeichnungspflicht durch den verantwortlichen Minister bzw. den Reichskanzler.3 Als Ausdruck eines personalisierten, gefolgschaftsrechtlich begründeten Verhältnisses zwischen Monarch und Heer entwickelte sich die Kommandogewalt zum parlamentsfreien Bereich eines auch verfassungsrechtlich unbestimmten „Oberbefehls". 4 Dieser entzog sich auf der Grundlage einer Kabinettsordre von 1861 dem Erfordernis der ministeriellen Gegenzeichnungspflicht, während die auf den Militär-Etat bezogenen Bestimmungen weiterhin der parlamentarischen Kontrolle unterlagen.5 Diese Verfassungslage charakterisierte Lorenz v. Stein mit dem präg1

Machiavelli, Gedanken über Politik und Staatsführung, S. 174. 2 Ipsen, BK, Art. 115b; RdNr. 58; Oldiges, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 9. 3 Vgl. Art. 46 Preuß. Verf. v. 1850: Der König fuhrt den Oberbefehl über die Armee; Art. 44 S. 2 Preuß. Verf. v. 1850: Alle Regierungsakte des Königs bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung eines Ministers, der dadurch die Verantwortung übernimmt; ausführlich dazu Busch, Oberbefehl, S. 7 ff.; Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 2. 4

So Dürig, M / D , Art. 65a, RdNr. 2. Neben der obersten Ressortspitze der Armee umfasste der Oberbefehl auch die obersten Repräsentationsrechte, das Recht zur Ernennung der Offiziere, zum Erlass von Militärverordnungen sowie die Befugnisse einer letzten Beschwerdeinstanz. 5 Die „Allerhöchste Kabinettsordre" vom 18. 1. 1861 nahm die aufgrund der Kommandogewalt des Königs erlassenen „Armeebefehle" von der (in Art. 44 S. 2 Preuß. Verf. v. 1850 niedergelegten) Gegenzeichnungspflicht aus; vgl. näher Ipsen, BK, Art. 115b, RdNr. 9 und 11; Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 2 m. w. N.

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

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nanten Ausdruck, wonach „das Heerwesen unter dem Gesetz, die Armee unter dem Befehl" stand. 6 Insbesondere der inhaltlich kaum abgrenzbare Begriff des „Oberbefehls" umfasste Kompetenzen aus allen drei Staatsgewalten und lief auf eine komplexe militärische Allzuständigkeit heraus, die weniger wegen ihrer Machtfülle, als vielmehr aufgrund ihrer Systemwidrigkeit in einem parlamentarischen Regierungssystem bedenklich erschien. Die Weimarer Verfassung von 1919 wies zwar in Anlehnung an die preußische Tradition dem Reichspräsidenten den „Oberbefehl" zu, unterwarf jedoch alle militärischen Anordnungen ausnahmslos der Gegenzeichnungspflicht. 7 Die dadurch eingeleitete „Parlamentarisierung des Oberbefehls" war angesichts der dominierenden Stellung des Reichspräsidenten aber nur ein „Scheinerfolg" (Oldiges) 8 und kam in der Weimarer Staatspraxis infolge des Betreibens der Militärs nicht zur Entfaltung. 9 Die i m Dritten Reich auftauchende Formel der „Befehls- und Kommandogewalt" vereinigte Inhaberschaft und Ausübung des Oberbefehls sowie Militär- und Verwaltungsbefugnisse wieder in einer Person. 10 Die i m Grundgesetz von 1949 verankerte „Befehls- und Kommandogewalt" (Art. 65a GG) bricht nicht nur sprachlich, sondern auch sachlich mit der preußischen Verfassungstradition des „Oberbefehls"; vielmehr wird die oberste militärische Führung konsequent in das parlamentarische Regierungssystem eingebunden 6

Stein, Die Lehre vom Heerwesen, S. 13. Art. 50 WRV bestimmte insoweit: „Alle Anordnungen und Verfügungen des Reichspräsidenten, auch solche auf dem Gebiete der Wehrmacht, bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister. Durch die Gegenzeichnung wird die Verantwortung übernommen. " Reichskanzler und Reichsminister wiederum bedurften beide gem. Art. 54 WRV des Vertrauens des Reichstages. Der Reichswehrminister, dem die Ausübung des Oberbefehls durch Wehrgesetz vom 23. 3. 1921 (RGBl. S. 329) übertragen wurde, war dem Reichstag sowohl für eigene Maßnahmen, als auch für den in Art. 47 WRV verankerten präsidialen Oberbefehl verantwortlich, der dadurch indirekt unter parlamentarische Kontrolle geriet. 7

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Die verfassungsrechtlichen checks and balances der WRV ließen eine wirksame Kontrolle kaum zu, denn wie sollte ein dem Reichstag verantwortlicher Reichwehrminister mittels Gegenzeichnung einen (parlamentarisch nicht verantwortlichen) Reichspräsidenten kontrollieren, der als Oberbefehlshaber der Wehrmacht sein eigener militärischer Vorgesetzter (§ 8 I I des Wehrgesetzes von 1921) war und dessen Vertrauen er bedurfte? (Näher Oldiges, Wehrrecht, RdNr. 11; Berg, Der Verteidigungsausschuß, S. 26; Deiseroth, in: Umbach/ Clemens, GG, Art. 65a, RdNr. 8). 9 So auch Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 8, der in der wehrverfassungsrechtlichen Praxis der Weimarer Republik eine „schleichende Entparlamentarisierung" erkennt. Auf Betreiben General von Seeckts wurde nämlich die verfassungsrechtlich vom Reichswehrminister (nach Maßgabe des Reichspräsidenten) wahrzunehmende Verantwortlichkeit für die bewaffnete Macht in eine „Befehlsgewalt des Reichswehrministers" einerseits und eine sog. „Kommandogewalt des Chefs der Heeresleitung" andererseits aufgeteilt und die parlamentarische Gegenzeichnung extra-konstitutionell unterlaufen (dazu näher Busch, Oberbefehl, S. 70 ff.). 10 Vgl. Erlaß vom 21. 4. 1936; dazu Ipsen, BK, Art. 115b, RdNr. 25 f.; Busch, Oberbefehl, S. 87 ff.; Deiseroth, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 65a, RdNr. 9.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

und einem parlamentarisch verantwortlichen Kabinettsmitglied übertragen. Dadurch wird Art. 65a GG zur Hauptstütze des Primats der Politik in der Wehrverfassung. Ebenso sollte vor dem Hintergrund der Weimarer Erfahrungen verhindert werden, dass sich ein Teil der militärischen Führungsbefugnisse „extra-konstitutioneir verselbständigt und eine Aufspaltung in einen parlamentarisch zu verantwortenden Befehlsbereich und einen parlamentsfreien Teil der Streitkräfteführung nach sich zieht. 11 Neben der Parlamentarisierung der Kommandogewalt wurde gleichzeitig ihre Einbindung in die regierungsinterne politische Gesamtkoordination erreicht, so dass die parlamentarische Kontrolle der militärischen Führung nicht allein als ratio legis erscheint. 12 Vielmehr macht Schröder in diesem Zusammenhang deutlich, dass die Verlagerung der Exekutivgewalt über die Armee auf ein Regierungsmitglied nicht allein das Parlament zum „Gewinner" 13 der Grundgesetzregelung in Art. 65a gemacht hat - auch die Regierung profitierte davon, weil die Aufspaltung des Oberbefehls in der Weimarer Verfassung nicht nur zu Lasten des Parlaments, sondern auch der Ressortleitung ging. 14 Als Teil der vollziehenden Gewalt i. S. d. Art. 20 III GG stellen die Streitkräfte der Bundeswehr keine vierte (Sonder-)Gewalt im System der Gewaltenteilung dar, 15 sondern unterliegen als „Wehrgewalt" durchweg der parlamentarischen Kontrolle. Dreh- und Angelpunkt der parlamentarischen Verantwortlichkeit für die (integrierten) deutschen Streitkräfte ist die Person des Verteidigungsministers. Er allein kann als Mitglied der Regierung gem. Art. 43 I GG vom Parlament zitiert und dadurch kontrolliert werden. Im europäischen Verfassungsvergleich ist der parlamentarisch verantwortliche zivile Verteidigungsminister (oder Präsident) als Oberbefehlshaber der Streitkräfte Garant für die Kontrolle des Militärs durch die Politik. In der Schweiz, die im Gegensatz zu den meisten NATO-Staaten in Friedenszeiten keinen obersten Befehlshaber besitzt, wird dieser im Falle einer größeren Mobilmachung sogar direkt vom Parlament gewählt.16 Die parlamentarische Verantwortung für die Streitkräfte übernehmen kann der Verteidigungsminister aber nur dann, wenn diese ihm gegenüber verantwortlich sind - wenn er also ein ausschließliches Führungsrecht besitzt. Zu diesem Zweck sichert eine lückenlose Kette von Befehl und Gehorsam über mehrere Hierarchieebenen hinweg die Befehls· und Kommandogewalt des Ministers über die Streitkräfte in ihrer Gesamtheit.17 h Stern, Staatsrecht II, S. 871; Oldiges, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 13; Schröder, M / K / S , GG, Art. 65a, RdNr. 6. 12 Α. A. Dürig, in: M / D , GG, Art. 65a, RdNr. 14. 13 So aber Dürig, in: M / D , GG, Art. 65a, RdNr. 4. 14 Schröder, M / K / S , GG, Art. 65a, RdNr. 7. 15 Vgl. für viele Dürig, M / D , Art. 65a, RdNr. 12. 16 Vgl. Born, Die demokratische Rechenschaftspflicht, in: Wogau (Hrsg.), 2003, S. 240. Dies hängt damit zusammen, dass das Bundesheer gem. Art. 19 der schweizerischen Verfassung aus „Truppen der Kantone" besteht, wobei jeder Kanton einen eigenen Oberbefehlshaber hat.

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

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Ausgehend von der Befehls- und Kommandogewalt des Ministers und seiner Verantwortlichkeit gegenüber dem Parlament lassen sich alle mit der Wahrnehmung staatlicher Angelegenheiten betrauten Amtswalter der Bundeswehr im organisatorisch-personellen Sinne demokratisch legitimieren. 18 Als staatliche Hoheitsgewalt bleibt die Ausübung der Befehlsgewalt über die Streitkräfte grundsätzlich an deutsche Hoheitsträger gebunden und damit national verfasst. 19 Ohne Belang ist dabei, ob deutsche Truppen im Inland oder Ausland stationiert sind oder im internationalen Rahmen eingesetzt werden. Gleiches gilt auch für ein gemischtnationales Korps mit deutschen Elementen oder die deutschen Anteile integrierter Stäbe - in beiden Fällen wird deutsche Hoheitsgewalt im Rahmen des Art. 65a GG ausgeübt.20 Die internationale Einbindung deutscher Streitkräfte stellt daher die Befehls- und Kommandogewalt nicht grundsätzlich in Frage, modifiziert jedoch ihre Ausübung.21 Die Auswirkungen der militärischen Integration auf die Befehls- und Kommandogewalt des Verteidigungsministers sind kontrovers diskutiert worden. Der Einsatz deutscher Truppen im Rahmen des Krisenmanagements von UNO und NATO nach der weltpolitischen Wende hat neue verfassungsrechtliche Perspektiven eröffnet. 22 In diesem Zusammenhang wurden den internationalen Befehlshabern für den Einsatz standardisierte Befehlsbefugnisse übertragen, welche die strikte Zuweisung der Befehls- und Kommandogewalt an den Verteidigungsminister um diesen Führungsbestandteil substantiell minderten und der parlamentarischen Kontrolle (potentiell) entzogen. 23 Die Kontrolle des Bundestages erstreckt sich zwar weiterhin auf den Einsatz als solchen, verliert jedoch dann an Effizienz, wenn es um konkrete Maßnahmen der militärischen Führung geht, für die der deutsche Verteidigungsminister nicht mehr verantwortlich zeichnen kann. 24 Lerche konstatiert in diesem Zusammenhang eine „relative Herauslösung des Verteidigungsministers aus dem innerstaatlichen Interdependenzsystem zwischen Exekutive und kontrollierendem Parlament". 25

17 Schröder, in: M / K / S , GG, Art. 65a, RdNr. 10; Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 11. is Oldiges, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 20; Dürig, in: M / D , GG, Art. 65a, RdNr. 22. 19 Erhardt, Befehls- und Kommandogewalt, S. 85 ff.; Wassenberg, Eurokorps, S. 167; Stein, Rechtsfragen, in: Tomuschat (Hrsg.), Rechtsprobleme, S. 60; Lüder, NZWehrR 2001, S. 111. Zum Begriff des Hoheitsrechts vgl. Randelzhof er, M / D , GG, Art. 24 I, RdNr. 33; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 24, RdNr. 19. 20 Kirchhof NZWehrR 1998, S. 154. 21 22 23 24 25

Oldiges, Wehrrecht, in: Achterberg/Püttner, Bes.VerwR, § 23, RdNr. 45 m. w. N. In diesem Zusammenhang prägend BVerfGE 90, 286 (308 ff.) - „AWACS". Oldiges, Wehn-echt, in: Achterberg/Püttner, Bes.VerwR., § 23, RdNr. 46. So Schröder, in: M / K / S , GG, Art. 65a, RdNr. 9. Lerche, Stichwort: Bundeswehr, Wehrverfassung, in: EvStL (3. Aufl. 1987), Sp. 385.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

Nun darf der Verteidigungsminister seine Befehls- und Kommandogewalt aus eigenem Recht zwar weder aufspalten noch an Dritte abgeben oder delegieren, 26 wohl aber im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben beschränken und übertragen. 27 Jede Übertragung von Hoheitsrechten auf nichtdeutsche Hoheitsträger kommt dabei grundsätzlich einer Abweichung vom Demokratieprinzip bzw. einem Eingriff in die verfassungsrechtlich festgelegte Kompetenzordnung gleich und kann daher nur „durch Gesetz" (Art. 24 I GG) erfolgen. 28 Der Gesetzesvorbehalt dient dabei als „verfassungsorganisatorische Kompensation" im Sinne eines „gesetzgeberischen Ausgleichs für die Verselbständigung überstaatlicher Regelungsgewalt". 29 Liegt keine gesetzliche „Übertragung" von Hoheitsrechten vor, können Substanzminderungen der Befehlsgewalt auch als „Beschränkung" von Hoheitsgewalt im Rahmen eines kollektiven Sicherheitssystems (Art. 24 I I GG) verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, sofern solche Beschränkungen im vertraglich konsentierten Integrationsprogramm dieses Systems vorgesehen sind. (I.) Die mit der Unterstellung deutscher Soldaten für den Einsatz in internationalen Organisationen einhergehende Substanzminderung nationaler Befehlsbefugnisse, die den Verantwortungsbereich des Verteidigungsministers gegenüber dem Parlament schmälert, ist Ausgangspunkt der Untersuchung zur organisatorisch-personellen demokratischen Legitimation integrierter Streitkräfte. Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Substanzminderungen nationaler Befehlsgewalt soll zunächst mit Blick auf die standardisierten (integrierten) Unterstellungsverhältnisse von NATO und UNO im Rahmen des Art. 24 GG diskutiert werden: Zum einen geht es um die Frage, inwieweit der als transfer of authority (ToA) bezeichnete Übergang der Befehlsgewalt auf internationale Kommandobehörden/Befehlshaber für den Einsatz in internationalen Organisationen eine „Übertragung" oder „Beschränkung" von Hoheitsgewalt i. S. d. Art. 241 oder I I GG darstellt. Zum anderen ist umstritten, inwieweit die Institution, in der internationale Befehlshaber agieren, Adressat einer verfassungsrechtlich zulässigen Übertragung bzw. Beschränkung von Hoheitsgewalt i. S. d. Art. 24 GG sein kann. 26 Quaritsch, VVDStRL 1968, S. 233; v. Unruh, VVDStRL 1968, S. 185 f.; Ipsen, BK, Art. 115b, RdNr. 47; Schröder, in: M / K / S , GG, Art. 65a, RdNr. 10; Deiseroth, in: Umbach/ Clemens, GG, Art. 65a, RdNr. 40; Hernekamp, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 65a., RdNr. 25. 27 Hernekamp, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 65a, RdNr. 28; Stein, Rechtsfragen, in: Tomuschat (Hrsg.), Rechtsprobleme, S. 61. 28 So zumindest das traditionelle Verfassungsverständnis, vgl. BVerfGE 37, 271 (280); 51, 1 (28, 36); Tomuschat, BK, Art. 24, RdNr. 34 m.w.N.; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 24, RdNr. 28; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 140; Fastenrath, Kompetenzverteilung, S. 123; Grewe, AöR 1987, 539). Neuerdings wird in diesem Zusammenhang vertreten, dass Art. 24 I GG nicht die Grundlage für einen Eingriff in die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung darstelle, sondern fremde Hoheitsgewalt als legitimes Phänomen offener Staatlichkeit akzeptiere (so Classen, in: M / K / S , GG, Art. 24 I, RdNr. 2; Randelzhof er, M / D , GG, Art. 24, RdNr. 10; Enders, in: FS Böckenförde, S. 34). 29 Rojahn, JZ 1979, S. 123.

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

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(II.) In diesem Zusammenhang sind insbesondere gemischtnationale Armeeverbände als Gefahr für die Einbindung des Parlamentsheeres in die demokratischrechtsstaatliche Verfassungsordnung angesehen worden. 30 Ins verfassungsrechtliche Visier geraten dabei die integrierten Stäbe der Hauptquartiere multinationaler Korps, in denen ausländische Offiziere und Befehlshaber im täglichen Dienstbetrieb turnusmäßig als „Vorgesetze" deutscher Soldaten fungieren. Da die internationale Streitkräfteintegration von dem Konsens der Bündnispartner getragen ist, in Verteidigungsangelegenheiten keine Hoheitsrechte zu übertragen, 31 wurde das für die Praxis unerlässliche Über- und Unterordnungsverhältnis durch rechtliche Konstruktionen herbeigeführt, die sich in einer „verfassungsrechtlichen Grauzone" zwischen nationaler und gemischter Hoheitsgewalt bewegen.32 Unter dem Blickwinkel der parlamentarisch-demokratischen Legitimation geht es dabei um die Frage, inwieweit ausländische Befehlshaber durch Eingliederung in eine lückenlose (deutsche) Befehlskette deutsche Hoheitsgewalt ausüben und dadurch gleichzeitig dem Zugriff und der Kontrolle des Verteidigungsministers unterliegen. In diesem Zusammenhang werden drei verschiedene „Spielarten" des Über- und Unterordnungsverhältnisses in multinationalen Führungsstrukturen daraufhin untersucht, ob den ausländischen Befehlshabern Hoheitsrechte übertragen wurden oder ob der deutsche Verteidigungsminister infolge der Eingliederung selbst die Verantwortung für die Anordnungen ausländischer Offiziere übernehmen kann und diese dadurch im organisatorisch-personellen Sinne demokratisch legitimiert. Diese Rechtskonstruktionen - so die hier vertretene These - dienen allein der Aufrechterhaltung des Legitimationskettentheorems; sie können die organisatorischpersonelle demokratische Legitimation der multinationalen Befehlsgewalt indes qualitativ kaum mehr hinreichend gewährleisten.

II. Rechtfertigung von Substanzminderungen nationaler Befehlsgewalt im Rahmen internationaler Organisationen 1. Rechtliche Ausdifferenzierungen der internationalen Befehlsgewalt in der Praxis Die militärische Unterstellung deutscher Soldaten unter die Befehlsgewalt ausländischer Befehlshaber zieht eine Substanzminderung nationaler Befehlsgewalt nach sich. Als „Unterstellung" bezeichnet man dabei das Verhältnis zwischen dem Soldaten und seinem militärischen Vorgesetzten,33 wobei es sich bei der Zuord30 Wieland, Die Beteiligung der Bundeswehr, in: FS Böckenförde, S. 225; Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 158 ff. (163). 31 So Fleck, Befehls- und Kommandogewalt, in: Geiger (Hrsg.), 2000, Diskussionsbeitrag S. 181. 3 2 So auch Classen, in: Μ / Κ / S, GG, Art. 241, RdNr. 69.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

nung eines deutschen Soldaten zu einem ausländischen Vorgesetzten, etwa dem Leiter einer NATO-Kommandobehörde, um eine integrierte Unterstellung handelt, die alle Angelegenheiten des Soldaten mit Ausnahme der persönlichen - insbesondere disziplinaren - Angelegenheiten umfasst. 3 4 Das an den einzelnen Befugnissen internationaler Befehlshaber festzumachende Ausmaß der Substanzminderung wurde i m Rahmen der NATO bereits in den 1950er Jahren durch abgestufte Formen der Befehlsgewalt standardisiert. NATO-Dokument M C 5 7 / 3 3 5 sieht dabei unterschiedliche Formen der Führung (command and control ) von integrierten Streitkräften vor, die j e nach Festlegung in bestimmten Phasen ausgeübt werden sollen. 3 6 Umfang und Tragweite dieser Unterstellungsregelungen und Befugnisse fanden durch die zentrale Dienstvorschrift 1 /50 der Bundeswehr Eingang in das deutsche Wehrrecht. 37 Die i m NATO-Dokument M C 5 7 / 3 festgelegten Befugnisse werden in der Dienstvorschrift 1 / 5 0 als „NATO-Unterstellungsverhältnisse" aufgeführt; 3 8 sie stellen Abstufungen der sog. „Unterstellung für den Einsatz" 3 9 dar. Die Unterstellung für den Einsatz ist abzugrenzen von der „truppendienstlichen Unterstellung", die alle Aufgaben eines Vorgesetzten zur Herstellung der Einsatz33 Vgl. ZDv 1/50 (1996) „Grundbegriffe der militärischen Organisation", Nr. 201; abgedr. bei Schnell/Ebert, Disziplinarrecht etc., Β 19. 34 Vgl. ZDv 1/50 Nr. 209. 35 MC 57/3 „Overall Organization of the Integrated NATO Forces ". 36 Zur begrifflichen Klärung vgl. Alberts/Hayes, Command Arrangements, S. 5 f. 37 ZDv 1/50 „Grundbegriffe zur militärischen Organisation, Unterstellungsverhältnisse, dienstliche Anweisungen" (12/1958), VMB1. 1962, S. 490 (Neufassung 1996, abgedr. bei Schnell/Ebert, Disziplinarrecht, Β 19). 38 Operational command (OPCOM) bezeichnet die einem militärischen Führer übertragene Befugnis, unterstellten Führern Aufgaben zuzuweisen oder Aufträge zu erteilen, Truppenteile zu dislozieren, die Unterstellung von Kräften neu zu regeln, sowie operational control und/oder tactical control je nach Notwendigkeit selbst auszuüben oder zu übertragen. Operational command schließt nicht ohne weiteres truppendienstliche oder logistische Zuständigkeiten mit ein (Nr. 211 ZDv 1/50). Operational control bezeichnet die einem militärischen Führer übertragene Befugnis, ihm unterstellte Kräfte so zu führen, dass er bestimmte Aufträge oder Aufgaben erfüllen kann, die im Allgemeinen nach Art, Zeit und Raum begrenzt sind, sowie die betreffenden Truppenteile zu dislozieren, und tactical control über diese Truppenteile selbst auszuüben oder zu übertragen. Operational control umfasst weder die Befugnis, den gesonderten Einsatz von Teilen dieser Truppenteile anzuordnen, noch sind truppendienstliche oder logistische Befugnisse ohne weiteres darin eingeschlossen (Nr. 212 ZDv 1/50). Tactical command bezeichnet die einem militärischen Führer übertragene Befugnis, den ihm unterstellten Kräften Aufgaben zur Erfüllung des ihm von einer übergeordneten Führungsebene erteilten Auftrags zuzuweisen (Nr. 213 ZDv 1/50). Tactical control bezeichnet die ins einzelne gehende und im allgemeinen örtliche Führung von Bewegungen oder taktischen Maßnahmen, die zur Erfüllung der erteilten Aufträge oder übertragenen Aufgaben erforderlich sind (Nr. 214 ZDv 1/50). 39 Vgl. ZDv 1/50 Nr. 203: „Die Unterstellung für den Einsatz ist die Unterstellung für Vorbereitung und Durchführung von Einsatzaufgaben. Der Einsatz liegt vor, wenn Streitkräfte insgesamt, Teile davon oder einzelne Soldaten ihren vom Grundgesetz vorgegebenen Auftrag erfüllen."

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

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bereitschaft (aber nicht den Einsatz selbst) umfasst. 40 Beide Unterstellungen zusammen bilden die „Unterstellung in jeder Hinsicht". 41 Die Unterscheidungen entsprechen insoweit der Aufspaltung der militärischen Führung in verschiedene Teilbereiche (Führungsgrundgebiete), darunter den Bereich „Personal" (Gl), den Bereich „Nachrichtenwesen" (G2), den Bereich „Einsatz, Organisation, Ausbildung" (G3) sowie den Bereich „Logistik" (G4). 42 Die Befugnisse internationaler Befehlshaber bewegen sich in unterschiedlicher Ausprägung im Bereich des Führungsgrundgebiets G3, 43 wobei die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den NATO-Befehlshabern und den nationalen Befehlshabern des mitgliedstaatlichen Streitkräfteverbandes einer speziellen Regelung vorbehalten ist. 44 Die Zuständigkeit über die persönlichen und disziplinaren Angelegenheiten verbleibt nach gängiger Einsatzpraxis durchweg in nationaler Verantwortung. 45

a) Befugnisse von Ν ΑΤΟ -Kommandeuren Nach dem Willen des NATO-Dokuments MC 57/3 soll dem NATO-Oberbefehlshaber SACEUR spätestens für den Einsatzfall operational command über die assignierten Truppen übertragen werden. 46 Die Assignierung, die als Zuordnungskategorie von der Unterstellung streng zu trennen ist, begründet per se noch keinerlei Befehlsgewalt, sondern besagt lediglich, dass die assignierten Streitkräfte im Rahmen der operativen Planung von den alliierten Kommandobehörden als für den Einsatz prinzipiell verfügbare Kräfte verbindlich in Rechnung gestellt werden 40 Vgl. ZDv 1 / 50 Nr. 202: „Die truppendienstliche Unterstellung ist das grundlegende Unterstellungsverhältnis in den Streitkräften. Sie leitet sich aus der Organisation der Streitkräfte ab und umfasst alle Aufgaben eines Vorgesetzten, deren Erledigung die Herstellung und Erhaltung der Einsatzbereitschaft des ihm anvertrauten Personals und Materials dient. Hierzu gehören im wesentlichen, soweit nicht andere Unterstellungsverhältnisse (ζ. B. im besonderen Aufgabenbereich oder fachdienstlich) angeordnet sind: die persönlichen - insbesondere disziplinaren - Angelegenheiten, die Ausbildung, die Versorgung sowie sonstige fachliche Angelegenheiten. Die truppendienstliche Unterstellung umfasst nicht die Unterstellung für den Einsatz (Nr. 203)." 41

Diese umfassende Befehlsgewalt wird im NATO-Sprachgebrauch als „full command " bezeichnet. 42 Wilk/Stauf, Wehrrecht von A-Z (1999), Stichwort „Führung"; ZDv 1/50 Nr. 116. 43 Ipsen, Rechtsgrundlagen, S. 211; Kirchhof Bundeswehr, HBdStR Bd. III, § 78, RdNr. 22; Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 113. 44

MC-36/2 des NATO-Militärausschusses ,J)ivision of Responsibilities in Wartime between the National Commanders and the Major and Subordinate Allied Commanders", zitiert bei ZDv 1/50 Nr. 123 sowie bei de Maizière, Landesverteidigung, S. 24. 4 5 Randelzhofer, M / D , Art. 24 Abs. II, RdNr. 49; Dau, NZWehrR 1989, S. 185 f.; Stein, Rechtsfragen, in: Tomuschat (Hrsg.), Rechtsprobleme, S. 60. 4 6 Dies hindert die Staaten nicht, schon bereits in Friedenszeiten unterschiedlich abgestufte Teilbereiche der Befehlsgewalt (insb. Kontrollbefugnisse wie tactical oder operational control) zu übertragen. 4 Schmidt-Radefeldt

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

können.47 Allein mit der Assignierung verknüpft sind jedoch einige Planungsbefugnisse von SACEUR, die ihm Einfluss auf die Dislozierung (Verlegeplanung), Organisation und Ausbildung der Streitkräfte verschaffen 4 8 Diese als coordinating authority 49 bezeichnete Kompetenz ist jedoch keine mit der Ausübung von Befehlsgewalt verbundene „Unterstellung für den Einsatz". 50 Vor Auslösung der operativen Befehlslage steht den alliierten Kommandostäben keine Befehlsgewalt gegenüber assignierten Streitkräften zu; sie bleiben auf die operative Planung beschränkt. 51 Dementsprechend kann die Assignierung als institutionelle Zuordnung eine Übertragung von Befugnissen auf SACEUR nur vorbereiten, wobei der „Rechtserfolg" - d. h. die Übertragung von Befehlsbefugnissen in Form von operational command - an den Eintritt einer Bedingung geknüpft ist, die gemeinhin als transfer of authority (To A) bezeichnet wird. 52 Mit operational command erhält der NATO-Befehlshaber die Befugnis, den unterstellten Truppenteilen militärische Befehle und Aufträge in Hinblick auf Verlegung, Aufmarsch und Einsatz zu erteilen und je nach Notwendigkeit auch die ins einzelne gehende örtliche Führung von Bewegungen und notwendigen taktischen Maßnahmen auszuüben. Dies schließt nicht nur eine Umverteilungsbefugnis der vorhandenen Kräfte (redistribution authority ),53 sondern auch die (Delegations-) Kompetenz ein, die jeweils abgestuften Formen der Befehlsbefugnis an nachgeordnete Befehlshaber zu übertragen. Die Substanzminderung nationaler Befehlsgewalt liegt darin begründet, dass eine Dislozierung der unterstellten staatlichen Streitkräfte nur noch mit Einverständnis des NATO-Befehlshabers möglich ist. Während besondere Absprachen getroffen werden können, um die Befehlsbefugnisse im 47

Ipsen, BK, Art. 115b, RdNr. 140 f. NATO-assigned Forces sind solche „which nations agree to place under the operational command or operational control at a specific stage , state or measure prescribed in ( . . . ) special agreements"; zitiert bei Fleck, Befehls- und Kommandogewalt, in: Geiger (Hrsg.), 2000, S. 170, Anm. 22. 48 Neuber/Teichmann, in: Truppenpraxis/Wehrausb. 1996, S. 30; Fleck, Befehls- und Kommandogewalt, in: Geiger (Hrsg.), 2000, S. 170; Geiger, Rahmenbedingungen, S. 119 ff. 49 Gemäss ZDv 1 / 50 Nr. 215 „die einem militärischen Führer erteilte Befugnis, bestimmte Aufgaben oder Tätigkeiten zu koordinieren, an denen Streitkräfte mehrere Staaten oder Kommandobereiche, mehrere Teilstreitkräfte oder mehrere Truppenteile derselben Teilstreitkraft beteiligt sind. Der Betreffende ist befugt, eine Beratung zwischen den beteiligten Stellen oder ihren Vertretern zu fordern, hat jedoch nicht die Befugnis, eine Einigung zu erzwingen. Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den beteiligten Stellen soll er versuchen, in Besprechungen grundsätzliche Übereinstimmung zu erreichen. Gelingt ihm das nicht, legt er die Angelegenheit der zuständigen nationalen Stelle vor." so Ipsen, BK, Art. 115b, RdNr. 139; Wieland, DVB1. 1991, S. 1178; Bartke, Verteidigungsauftrag, S. 166. 51 Zu den Kompetenzen i.e. Ipsen, BK, Art. 115b, RdNr. 137 ff. 52 Ipsen, Rechtsgrundlagen, S. 156 ff.; ders., BK, Art. 115b, RdNr. 140; Dau in: Truppenpraxis/Wehrausb. 1999, S. 220. 53 MC 319, zitiert bei Neuber/Teichmann, Truppenpraxis/Wehrausb. 1996, S. 30. Weitere logistische Zuständigkeiten fallen jedoch nicht ohne weiteres in die Befugnis des operational command (so ZDv 1 / 50 Nr. 211).

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Einzelfall zu verringern, 54 ist eine über operational command hinausgehende truppendienstliche Unterstellung nicht möglich. Der im internationalen Rahmen gebräuchliche Begriff command (Befehlsgewalt) fällt insoweit inhaltlich hinter den verfassungsrechtlichen Begriff der Befehls- und Kommandogewalt (Art. 65a GG) zurück, da ein NATO-Befehlshaber nur einen Teilbereich der vollen Befehlsgewalt (fiill command) eines nationalen Oberbefehlshabers erhält. 55 Bei NATO-Streitkräfteoperationen im erweiterten Aufgabenspektrum wird es in der Regel als ausreichend angesehen, den NATO-Kommandeuren für den Einsatz (nur) operational control zu übertragen. 56 Unter permanenter Befehlsgewalt von SACEUR stehen dagegen die integrierten Stäbe der NATO-Kommandobehörden sowie die sog. NATO Command Forces. 51

b) Befugnisse von UN-Kommandeuren NATO-Begrifflichkeiten und -Definitionen sind außerhalb des Bündnisses nicht verbindlich. Für Friedenseinsätze unter Führung der Vereinten Nationen sind bislang noch keine verbindlichen (Standard)regeln aufgestellt und definiert worden. 58 Vertreter des UN-Generalsekretärs haben im Auslandseinsatzverfahren vor dem BVerfG dargelegt, dass es in Zusammenhang mit der Truppenstellerpraxis keine eindeutigen Definitionen gebe, dass aber bei der Übertragung von Kompetenzen auf UN-Kommandeure die NATO-Definition von operational control genutzt worden sei. 59 Allein bei der vertraglichen Ausgestaltung des ständigen UN-Krisenreaktionsverbandes SHIRBRIG wurde eine Übertragung von operational control als generelle Befehlsform explizit vereinbart, 60 während die ad hoc eingesetzten UN54

Neuber/Teichmann, Truppenpraxis/Wehrausb. 1996, S. 30. 55 So einhellig Ipsen, Rechtsgrundlagen, S. 177; ders., BK Art. 115b, RdNr. 142 f.; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 24, RdNr. 44; Walz, NZWehrR 1986, S. 94; Fleck, Befehls- und Kommandogewalt, in: Geiger (Hrsg.), 2000, S. 170. 56 Schröder, M / K / S , GG, Art. 65a, RdNr. 9; Vad, HuV-I 1997, S. 78 in Hinblick auf den IFOR/SFOR-Einsatz; Lüder, NZWehrR 2001, S. 116; Krieger, ZaöRV 2002, S. 680. 57 Fleck, Befehls- und Kommandogewalt, in: Geiger (Hrsg.), 2000, S. 170; Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 118, 121; Walz, NZWehrR 1986, S. 95; Geiger, Rahmenbedingungen, S. 123; Gerber, Die Bundeswehr, S. 67 f. Dazu zählen insb. Einheiten der integrierten Luftverteidigung und Luftraumüberwachung, die Flotte der Frühwarnund Aufklärungsflugzeuge (NATO Airborne Early Warning and Control Force - AWACS) sowie die ständigen Einsatzflotten. 58 Fleck, Befehls- und Kommandogewalt, in: Geiger (Hrsg.), S. 177; Saalfeld, NZWehrR 1994, S. 148. 59 Dau/Wöhrmann (Hrsg.), Der Auslandseinsatz - Dokumentation, S. 740 ff. Dies erfolgte z. B. bei UNSOM I I (Nr. 9 der Guidelines for Governments contributing troops to the United Nations operations in Somalia vom 26. 3. 1993), worauf BVerfGE 90, 286 (312) explizit Bezug nimmt. Zur Praxis der Übertragung von Befehlsgewalt bei UN-Missionen vgl. Hillen, Blue Helmets, S. 93 ff.; Siekmann, National Contingents, S. 111. *

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Friedenstruppen keine einheitlichen Unterstellungsregelungen verwenden. Eine allgemeine Regelung wurde in Art. 7 des Standardabkommens für Truppensteiler aus dem Jahre 1991 aufgenommen: During the period of their assignement to the United Nations peace-keeping operation, the personnel made available by the Participating State shall remain in their national service but shall be under the command of the United Nations, vested in the Secretary-General, under the authority of the Security Council. Accordingly, the Secretary-General of the United Nations shall have full authority over the deployment, organization, conduct and direction of the United Nations peace-keeping operation, including the personnel maide available by the Participating State.61 Die Regelung wird ergänzt durch die generelle Verpflichtung der truppenstellenden Nationen, dem internationalen Charakter einer UN-Friedensoperation Rechnung zu tragen und sich entgegengesetzter nationaler Anweisungen zu enthalten. 62 Aus den veränderten Rahmenbedingungen für multinationale UN-Einsätze (robustes peace-keeping ) hat sich ein organisatorisch sowie rechtlich erweiterter Handlungsbedarf ergeben und den Ruf nach umfassenderen Unterstellungsverhältnissen laut werden lassen. 63 Ausgenommen bleiben aber in jedem Fall die Disziplinarund Strafgewalt, 64 weil UN-Friedenstruppen entsprechende truppendienstliche 60 Art. 7 des Memorandum of Understandig (MoU-SHIRBRIG) vom 26. 2. 1998 (www. shirbrig.dk) legt fest: The Participants intend to contribute units under the operational control of the Brigade Commander. Annex Β führt aus: All elements assigned to the Brigade will remain under full national command. The Participants will assign elements to the Brigade for operational deployments under the OPERATIONAL CONTROL (OPCON) of the Brigade Commander (COMSHIRBRIG). For operational deployments , COMSHIRBRIG will assume OPCON upon transfer of authority (TOA). TO A will be specified on a case-by-case basis by the Participants. When deployed, the SHIRBRIG will be under the direction of the United Nations Secretary General or his Special Representative. The SHIRBRIG, as an integral formation, will be under OPCON of the Force Commander upon its arrival in the mission area unless TOA is otherwise specified. Zur SHIRBRIG vgl. Eisele, Die Vereinten Nationen, S. 69; Hildenbrand, Krisenreaktionsfähigkeit, S. 81 ff. 61 Model Agreement between the United Nations and Member States contributing personnel and equipment to United Nations Peace-Keeping Operations, UN-Doc: A/46/185 vom 23. Mai 1991, abgedr. bei Bothe/Dörschel, UN Peacekeeping, S. 75 ff. 62 Art. 9 des „Model Agreement" sieht eine Art „Einmischungsverbot" vor und bestimmt: The functions of the United Nations peace-keeping operation are exclusively international and the personnel made available by the Participating State shall regulate their conduct with the interests of the United Nations only in view. Except on national administration matters, they shall not seek or accept instructions in respect of the performance of their duties from the authority external to the United Nations, nor shall the Government of the Participating State give such instructions to them. 63 Vgl. Saalfeld, NZWehrR 1994, S. 148 f. 64 Hillen, Blue Helmets, S. 94. Risse, in: Koch (Hrsg.), Blauhelme, S. 54; Hoffmann, Bundeswehr und UN-Friedenssicherung, S. 82. Art. 8 der Standardvereinbarung bestimmt hinsichtlich der Disziplinargewalt: The Head of Mission shall have general responsibility for the good order and discipline of the United Nations peace-keeping operation. Responsibility for disciplinary action with respect to military personnel made available by the Participating State shall rest with the officer designated by the Government of the Participating State for

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

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Komponenten, die eine weitergehende Unterstellung überhaupt erst ermöglichen würden, gar nicht vorsehen. 65 Die dem Entsendestaat verbleibende Disziplinarund Strafgewalt erscheint jedoch insoweit „internationalisiert", als sie letztlich der Durchsetzung internationaler Anordnungen dienen soll und daher von den Truppenstellernationen im „Innenverhältnis" mit Blick auf die Interessen der Vereinten Nationen auszuüben ist. 66

c) Kommandogewalt in multinationalen Verbänden Nach dem Willen der zentralen Dienstvorschrift gilt die „integrierte Unterstellung" auch außerhalb der NATO für die in multinationalen Kommandobehörden, Dienststellen und Verbänden eingesetzten Soldaten.67 Zu unterscheiden ist zwischen integrierten Stäben und nationalen Truppenverbänden: Während die multinationalen Hauptquartiere (einschließlich der integrierten Stabs- und Versorgungsbataillone68) auch außerhalb von Einsätzen der Befehlsgewalt des zuständigen Kommandierenden Generals unterstehen, verbleiben die. dem Korps (vertraglich) zugeordneten Truppenteile unter nationalem Kommando an ihren Heimatstandorten; 69 für den Einsatz des Hauptquartiers wird operational command bzw. -control übertragen, 70 wobei das Disziplinar- und Personalwesen in nationaler Verantwortung verbleiben. 71 Da die multinationalen Verbände nach dem Willen der that purpose. Die Truppen des Kontingents bleiben also auch für unerlaubte Handlungen, die sie in ihrer Eigenschaft als „internationales Personal" der UN-Friedenstruppe begangen haben, der Rechtsordnung ihres Heimatstaates unterworfen. Hinsichtlich der Strafgewalt sieht die Vereinbarung vor: Questions relating to allegations of criminal offences and civil liability of personnel provided by the Participating State shall be settled in accordance with the procedures provided for in the Status Agreement (Art. 24). The Participating State agrees to exercise jurisdiction with respect to crimes or offences which may be committed by its military personnel serving with the United Nations peace-keeping operation (Art. 25). 65 Bothe, in: Simma (Hrsg.), UN-Charta. Kommentar, nach Art. 38, RdNr. 63. 66 So Bothe, Streitkräfte, S. 42; Dewast, RGDIP 1977, S. 1027 f.; Risse, Einsatz, S. 92 und 143 m. w.N. Von der staatlichen Disziplinargewalt als einer internationalen Verpflichtung spricht auch Strasser, ZaöRV 1974, 701. 67 ZDv 1/50 Nr. 209. 68 Vgl. zur institutionellen Organisation eines multinationalen Hauptquartiers z. B. Art. 41 MNK-NO Konvention; grundlegend Palin, Multinational Military Forces, S. 35 ff. 69 Vgl. Art. 2 Abs. 1 der D/NL-Korpskonvention; Art. 2.2 Bericht von La Rochelle (Eurokorps). Dies gilt nicht für die D/F-Brigade, die dem Eurokorps als einziger Verband auch außerhalb des Einsatzes unterstellt ist; vgl. Neubauer, D/F-Brigade, in: Martin (Hrsg.), Eurokorps, S. 331; Stein, Rechtsfragen, in: Tomuschat (Hrsg.), Rechtsprobleme, S. 55. 70 Dau, in: Truppenpraxis/Wehrausb. 1999, S. 221; Bundesregierung (Hrsg.), Multinationale Streitkräftestrukturen, S. 15. 71 Vgl. für die Deutsch-Französische Brigade Dau, NZWehrR 1989, S. 185 (unter Hinweis auf die Denkschrift der Bundesregierung zu den Protokollen des Elysée-Vertrags). Gem. Art. 6 Abs. 2 des Verwaltungsabkommens für die D/F-Brigade vom 2. 11. 1989 werden truppendienstliche Angelegenheiten in nationaler Verantwortung belassen. Art. 3 Abs. 1 des

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

Korpsstaaten nur im Rahmen einer internationalen Organisation eingesetzt werden sollen, ist für den Einsatz eine Unterstellung aller Korpstruppen unter das Kommando von NATO oder EU erforderlich. 72 Der Kommandierende General eines multinationalen Korps ist daher im Einsatz auch in die Kommandostruktur der internationalen Organisation eingebunden, wobei er die Anweisungen der NATOBefehlshaber gegenüber den ihm unterstellten Korpstruppen vollzieht. 73

2. Übertragung von nationaler Befehlsgewalt auf Kommandeure internationaler Verbände In Zusammenhang mit den standardisierten Unterstellungsverhältnissen der NATO ist die Ansicht geäußert worden, nur die Übertragung von full command sei als Gegenstand einer Hoheitsrechtsübertragung relevant, nicht aber die abgestuften Formen der Befehlsgewalt. 74 Diese Auffassung lässt sich jedoch mit guten Gründen in Zweifel ziehen.75 Da Befehls- und Kommandobefugnisse zu den übertragungsfähigen (bzw. beschränkbaren) Hoheitsrechten gehören, kann der Übergang operativer Führungsbefugnisse auf internationale Kommandostellen oder Befehlshaber sehr wohl im Rahmen von Art. 24 GG relevant sein. 76 Die Phänomene der „Übertragung" und „Beschränkung" von Hoheitsgewalt schließen sich auch nicht gegenseitig aus, sondern stehen ergänzend nebeneinander.77 Der Begriff „Beschränkung" i. S. d. Art. 24 I I GG meint die Übernahme der Handlungsund Unterlassungspflichten, die im Vertragswerk eines Systems kollektiver Sicherheit aus-

Verwaltungsabkommens stellt klar, dass hinsichtlich der Rechtsstellung der Soldaten nur nationale Vorschriften angewandt werden dürfen. 72 Wassenberg, Eurokorps, S. 207 m. w. N. (Anm. 814). 7 3 Vgl. Art. 3 der MNK-NO-Konvention i. V. m. Art. 6 Abs. 2 der MNK-NO-OrganisationsVereinbarung: Directives for preparation and employment of the Corps, when put at the disposal of NATO, shall be issued by the competent NATO Commander, as directed by SACEUR. Ähnlich Art. 7 und 9 der D/NL-Organisationsvereinbarung: Nach Entscheidung durch die zuständigen NATO /WEU-Gremien und nach transfer of authority durch die zuständigen nationalen Stellen ist der Kommandierende General in die Befehlshierarchie (Chain of Command) gemäß den einschlägigen NATO /WEU-Vorschriften (...) eingebunden. 74

In diesem Sinne Dau, in: Truppenpraxis/Wehrausb. 1999, S. 221. Kritisch insoweit auch Oeter und Fastenrath, in: Geiger (Hrsg.) 2000, Diskussionsbeiträge zu Fleck, S. 181 und 182. ™ BVerfGE 68, 1 (93); Dau, NZWehrR 1989, S. 181; Wieland, NZWehrR 1999, S. 141; ders., in: FS Böckenförde, S. 219 ff.; unentschieden in Hinblick auf Abs. 1 oder 2 Oldiges, Wehrrecht, in: Achterberg/Püttner, Bes.VerwR, § 23, Rz. 46. 75

77

Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 24, RdNr. 89; Classen, in: M / K / S , GG, Art. 24, RdNr. 90; Randelzhofer, in: M / D , GG, Art. 24 II, RdNr. 1 ff. („Komplementärverhältnis"); Tomuschat, BK, Art. 24, RdNr. 33; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 24, RdNr. 51; für eine dogmatische Trennung zwischen Übertragung und Beschränkung insoweit a.A. Doehring, HBdStR Bd. VII, § 177, RdNr. 9.

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

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drücklich enthalten oder unausgesprochen angelegt sind. 78 Hingegen entfalten Rechtsakte, die auf übertragenen Hoheitsrechten beruhen, ohne gesonderten staatlichen Umsetzungsakt Rechtswirkungen im innerstaatlichen Bereich. 79 Abgesehen von mitgliedstaatlichen Mitwirkungsbefugnissen in den Organen einer zwischenstaatlichen Einrichtung sollen die nationalen Staatsorgane in keiner Weise am Zustandekommen dieser Wirkung beteiligt sein. 80 Art. 24 I GG ermöglicht es daher, die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland derart zu öffnen, dass der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland für ihren Hoheitsbereich zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb dieses Hoheitsbereichs Raum gelassen wird. 81 Damit erscheint die „Übertragung" weniger als ein transferre im Sinne von Zession oder Verzicht auf die ausschließliche Ausübung hoheitlicher Gewalt, sondern eher als ein conferre im Sinne einer Schaffung von Zuständigkeiten und Zuordnung von Funktionsbereichen.82 Die verfassungsrechtliche Qualifizierung der integrierten Unterstellungsverhältnisse i m Rahmen von NATO und U N O ist keineswegs unumstritten. In der wissenschaftlichen Diskussion über die Frage, ob es i m Rahmen der NATO-Integration zur Übertragung von Hoheitsrechten gekommen ist, haben sich von Anbeginn gewisse „Bewertungsumschwünge" vollzogen, welche die sicherheits- und wehrpolitische Bewusstseinslage der jeweiligen Zeitläufte widerspiegeln.

a) Faktische

Integrationsautomatismen

Die Integration Deutschlands i n die NATO erweckte anfangs die Befürchtung, die Befehls- und Kommandogewalt des Verteidigungsministers sei durch den Übertragung von operational command auf internationale Kommandobehörden (transfer of authority) erheblich eingeschränkt oder gemindert worden. 8 3 Dürig sprach etwa von einer „Kompetenzverkürzung durch Befugnisse der NATO", von „wesentlichen Kompetenzbeschneidungen" und konstatierte „gewaltige Abstriche in der nationalen Kommandogewalt", so dass die Kommandogewalt des Bundes-

78 Tomuschat, BK, Art. 24, RdNr. 148; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 24, RdNr. 89; Randelzhofer, M / D , GG, Art. 24, RdNr. 32 ff. 79 Classen, in: M / K / S , Art. 24, RdNr. 5; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 24, RdNr. 20. so BVerfGE 22, 293 (296); 68,1 (91); Tomuschat, BK, Art. 24, RdNr. 9. 81 BVerfGE 73, 229 (374) - Solange I I unter Verweis auf E 37, 271 (280) - Solange I; 58, 1 (28) - Eurocontrol I; ebenso Tomuschat, BK, Art. 24, RdNr. 16; Classen, M / Κ / S, GG, Art. 24 Abs. 1, RdNr. 12; Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 24, RdNr. 18; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 140; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 24, RdNr. 20. 82 Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 23, RdNr. 83; Art. 24, RdNr. 19; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 24, RdNr. 4; Cremer, ZaöRV 2000, S. 131, Anm. 147. 83 So die Einschätzungen von Busch, Oberbefehl, S. 161; Martens, Wehrverfassung, S. 171; Lepper, Die verfassungsrechtliche Stellung, S. 170; Rusnack, Der NATO-Oberbefehl, S. 76 ff.; Badura, VVDStRL 1965, S. 51.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

kanzlers im Verteidigungsfall „praktisch illusorisch" werden könnte. 84 Paulus zufolge werde der nationale Oberbefehlshaber im Verteidigungsfall zu einer „entmachteten Randfigur". 85 In der Tat hatte der weitgehend automatisierte Abwehrmechanismus den genauen Zeitpunkt des transfer of authority in einen mehrstufigen (geheimen) Alarmplan (NATO Precautionary Alert System) eingebaut.86 Da die Einzelheiten dieses Planes der Öffentlichkeit unzugänglich waren, blieb stets unklar, welche Angriffsakte einer solchen Abwehrautomatik zugrunde gelegt wurden und inwieweit die nationalen Einflussmöglichkeiten einem internationalen Dirigismus zum Opfer gefallen waren. Menzel stellte in diesem Zusammenhang fest, dass sich die demokratische Legitimierung und die militärische Effektivität integrierter Verteidigung offenbar nach dem Gesetz kommunizierender Röhren verhalten. 87 Überdies hätte sich im Falle eines Angriffs infolge der bewusst stark ausgestalteten Rolle von SACEUR die komplizierte Abwehrmaschinerie der Allianz vom technischen Organisationsablauf her nur auf sein Geheiß in Bewegung gesetzt, ohne dass den Mitgliedstaaten faktisch noch eine effektive Einwirkungsmöglichkeit auf das Geschehen verblieben wäre. Dieser Automatismus hatte im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Beurteilung der NATO-Integration den Eindruck hervorgerufen, mit dem NATO-Kommandoweg seien Hoheitsrechte übertragen worden. 88

b) Pershing-Entscheidung

des BVerfG

Mitte der 1980er Jahre erhielt der Gedanke, die Befehls- und Kommandostrukturen der NATO als Fall des Art. 24 I GG aufzufassen, durch das Pershing-Urteil des BVerfG neuen Auftrieb. In diesem Urteil hatte das BVerfG die Rechtswirkung der deutschen Zustimmung zum Einsatz der auf deutschem Boden stationierten und in die Kommandostruktur der NATO integrierten amerikanischen Mittelstreckenraketen als Übertragung von Hoheitsrechten qualifiziert. Dabei wurde die Entscheidungsgewalt über den Einsatz dieser Waffen dem amerikanischen Präsidenten als einem „besonderen Organ des Bündnisses" zugerechnet.89 Überdies

84 Dürig, M / D , Art. 65a, RdNr. 26. 85 Paulus, Die militärische Spitzengliederung im Verfassungsleben von Bonn und Weimar (1958), S. 133; zitiert bei Ipsen, BK, Art. 115b, RdNr. 130. 86 MC 67/4, NATO Precautionary Alert System, dazu näher Ipsen, Rechtsgrundlagen, S. 49; Bartke, Verteidigungsauftrag, S. 167; Tolusch, Verpflichtungen, S. 26; Wieland, DVB1. 1991, S. 1178; Deiseroth, in: Clemens/Umbach (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 122. 87 Menzel, EA 16 (1963), S. 605. 88 In diesem Sinne Kühne, Friedenssicherung, S. 182; Seidl-Hohenveldern/Loibl, Int. Org., RdNr. 2305; Badura, VVDStRL 1965, S. 51. 89 BVerfGE 68, 1 (91 ff.). Dabei wird die NATO gleichzeitig als „zwischenstaatliche Einrichtung" i. S. d. Art. 241 GG gesehen (zust. Wolfrum, HBdStR Bd. VII, § 176, RdNr. 15); bis zur „Pershing"-Entscheidung wurde dies jedenfalls von der h.M. verneint (vgl.

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

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hat das Gericht von den klassischen Merkmalen Abstand genommen, die bislang als „Wesensmerkmale" einer Übertragung von Hoheitsrechten angesehen wurden: 90 Dies gilt zum einen für die Dauer und Festigkeit der in Rede stehenden Rechte. Nach Auffassung des Gerichts setzt Art. 24 I GG nicht voraus, dass die Zurücknahme deutscher Hoheitsgewalt zugunsten der zwischenstaatlichen Einrichtung unwiderruflich ist; weiter stehe der rechtlich nur schwach ausgestaltete Integrationsmechanismus der NATO (ζ. B. offene Beistandsverpflichtung nach Art. 5 NATO-Vertrag, empfehlende Wirkung der Beschlüsse, freie Widerruflichkeit der Assignierung) der Annahme einer Hoheitsrechtsübertragung nicht entgegen. Abstand genommen wird auch vom Erfordernis einer unmittelbaren Durchgriffsbefugnis der zwischenstaatlichen Einrichtung. Es komme nicht darauf an, ob nach Auslösung der operativen Befehlslage ein unmittelbarer Befehlsdurchgriff gegenüber deutschen Streitkräften gegeben sei. 91 Konsequent zu Ende gedacht beruht die Befehlsgewalt der NATO-Kommandobehörden gegenüber den unterstellten Streitkräften nach dieser Auffassung auf einer Übertragung von Hoheitsrechten i. S. d. Art. 24 I GG, die mit der gesetzlichen Zustimmung zum NATO-Vertrag als Teil des vertraglichen Integrationsprogramms vollzogen wäre. 92 Bis heute qualifizieren daher Teile der Literatur den Übergang von abgestuften Formen der Befehlsgewalt - insbesondere von operational command - als Übertragung von Hoheitsrechten.93

c) Relativierende

Einschätzung der ΝΑΤΟ -Integrationsmechanismen

Diese Auffassung, die das BVerfG in der ähnlich gelagerten Chemiewaffen-Entscheidung aus dem Jahre 1987 bestätigt hatte,94 ist bei einem Großteil der Literatur auf Widerstand gestoßen. Die Rechtsprechung, so die Kritik, reduziere die Übertragung von Hoheitsrechten auf die bloße Zurücknahme eines Herrschaftsrechts zugunsten fremder Hoheitsgewalt und erweitere gleichzeitig den AnwendungsTomuschat, BK, Art. 24, RdNr. 113 m.N.; Ipsen, JöR 1971, S. 51; Kirchhof § 78, RdNr. 22). 90 Zum folgenden BVerfGE 68,1 (93-95). 91

HBdStR Bd. III,

So auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG. Art. 24, RdNr. 4a. Für den Einsatz nuklearer Waffen ist zwar im Rahmen der NATO ein Konsultationsverfahren (im Verteidigungsplanungsausschuss) vorgesehen, dessen Ergebnis aber für den amerikanischen Präsidenten nicht bindend wäre (vgl. Gerber, Die Bundeswehr, S. 43 f.; Tolusch, Verpflichtungen, S. 27 ff.). 92 So Nolte, ZaöRV 1994, S. 115. 93 Wolfrum, HBdStR Bd. VII, § 176, RdNr. 15; Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 24, RdNr. 3c; Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 24, RdNr. 58; Badura, VVDStRL 23 (1966), S. 51 f.; Wieland, DVB1. 1991, S. 1178; Bothe, Krit.J 1993, S. 74 f.; ders., Antragsschrift v. 14. 7. 1993 im AWACS-Verfahren, in: Dau (Hrsg.), Auslandseinsatz, S. 618 f. 94 BVerfGE 77, 170 (232).

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

bereich von Art. 24 I GG um die rein faktischen Auswirkungen „schlicht-hoheitlichenu Handelns einer zwischenstaatlichen Einrichtung oder eines fremden Staates, dem aufgrund eines Bündnisvertrages die Ausübung von Hoheitsgewalt auf dem Gebiet der Bundesrepublik gestattet worden sei. 95 Dadurch aber gebe die Rechtsprechung die vormals klare Abgrenzung zu den herkömmlichen Souveränitätsbeschränkungen eines Bündnisvertrages auf. 96 Unterstützung ihrer Position finden die Kritiker vor allem in einer auf Ipsen zurückgehenden grundlegenden rechtlichen Analyse der NATO-Integrationsmechanismen aus den 1960er Jahren, die davon ausgeht, dass zumindest in Friedenszeiten eine nahezu vollständige nationale Befehlsgewalt über die assignierten NATO-Truppen erhalten bleibt und durch den NATO-Vertrag keine Hoheitsrechte übertragen wurden. 97 Durchgriffsbefugnisse seien dabei weder im NATO-Vertrag selbst, noch im Sekundärrecht enthalten. Rechtsgrundlage für den Übergang der beschränkten Weisungsgewalt in Form von operational command sei vielmehr eine Empfehlung des Militärausschusses, die keine Rechtspflicht zur Unterstellung nationaler Verbände beinhaltet.98 Der Übergang der operativen Befehlsgewalt werde durch einen eigenständigen Akt vollzogen (transfer of authority), der gem. Art. 11 NATO-Vertrag allein der nationalen Entscheidungsgewalt unterliege und vom deutschen NATO-Botschafter auf Anweisung der Regierung vorgenommen werde. 99

d) Rechtscharakter des transfer of authority Das Institut des transfer of authority (ToA) ist mit deutschen Rechtsbegriffen nicht einfach zu fassen. Ipsen zufolge bewirkt der Übergang der Befehls- und Kommandogewalt ebenso wenig eine „RechtsÜbertragung" wie eine „Rechtsewschränkung" mit längerer Befristung, sondern ist ein „ Verleihen" oder „Anvertrauen" von Befugnissen. 100 Dies entspricht der im Rahmen von Art. 115b GG vertretenen „Mandats"-Lösung, wonach der Bundeskanzler im Verteidigungsfall uneingeschränkter Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt wird, dem Verteidigungsminister jedoch kraft Organisationskompetenz die Kommandogewalt über die Streitkräfte zur Ausübung (aber unter Vorbehalt der jederzeitigen eigenen Wahrnehmung) überträgt. 101 95

Geiger, Grundgesetz und Völkerecht, S. 140; Rauser, Übertragung , S. 108; König, Übertragung, S. 54. 9 6 Eckertz, EuGRZ 1985, S. 868; Rauschning, JuS 1985, S. 866 f. 9 ? Ipsen, Rechtsgrundlagen, S. 210; ders., BK, Art. 115b, RdNr. 148 ff.; ihm folgend Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 3; Randelzhof er, M / D , Art. 24 Abs. I, RdNr. 187; Kirchhof, HBdStR III, § 78, RdNr. 22; Hernekamp, in: Münch/Kunig, GG, Art. 65a, RdNr. 28; Stern, Staatsrecht, S. 875. 98 Ipsen, BK, Art. 115b, RdNr. 150; ders., Rechtsgrundlagen, S. 206. 99

Ipsen, BK, Art. 115b, RdNr. 146 ff.; Riedel, NZWehrR 1989, S. 52. Ipsen, Rechtsgrundlagen, S. 209; ebenso Rojahn, in: Münch/Kunig mentar, Art. 24, RdNr. 44. 100

(Hrsg.), GG-Kom-

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

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Bei der Frage, ob der transfer of authority einer Hoheitsrechtswòeriragwng gleichkommt, wurde stets darauf hingewiesen, dass die Übertragung von Befehlsgewalt durch einseitigen Akt des Verteidigungsministers jederzeit wieder rückgängig gemacht und damit die nationale Befehlsgewalt wieder voll hergestellt werden könne. 102 Eine Rücknahme des transfer of authority verstoße dabei auch nicht gegen die schwach ausgestalteten Beistandsverpflichtungen, zumal Art. 11 NATO-V jede Vertragserfüllung - auch während des Einsatzes - unter Verfassungsvorbehalt stellt. 103 Wenngleich die „Rücknahmeoption" gerade bei den Verteidigungsszenarien des Kalten Krieges faktisch kaum praktikabel erscheinen mochte, so wurde sie doch stets als das rechtliche Hauptargument dafür angesehen, dass mit dem Übergang der Befehlsgewalt auf die NATO-Kommandeure keine Hoheitsrechte übertragen werden. 104 In der Tat entfalten zwischenstaatliche Hoheitsakte nur dann unmittelbare Geltung, wenn sie durch nationale Akte nicht wieder in Frage gestellt werden können. Die Übertragung muss zwar nicht endgültig/unwiderruflich, 105 aber doch von einer gewissen „Dauer und Festigkeit" sein. 106 Das jederzeitige Rückgängigmachen der Rechtsübertragung kann Hoheitsrechte mit „Durchgriffswirkung" kaum begründen. 107 Das Kriterium der „Rückholbarkeit" von Befehlsgewalt spricht vielmehr dafür, dass Teile der Befehls- und Kommandogewalt eben nicht auf nationaler Ebene erloschen und auf zwischenstaatlich-integrierter Ebene wieder neu entstanden sind. Auch rechtsvergleichend wird deutlich, dass die organisatorische Unterordnung der ins Ausland entsandten Streitkräfte gegenüber ihren Vorgesetzen im Inland für die Dauer ihrer Tätigkeit allenfalls „ruht", nicht jedoch auf ausländische Kommandeure oder Institutionen „übertragen" wird. 1 0 8

ιοί Vgl. insoweit Ipsen, BK, Art. 115b, RdNr. 120 ff.; Hernekamp, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 115b, RdNr. 12; Robbers, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 115b, RdNr. 9; Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 115b, RdNr. 7. 102 Ipsen, Rechtsgrundlagen, S. 208; ders., JöR 21 (1972), S. 51; Kirchhof, HBdStR Bd. III, § 78, Rz. 22; Rojahn, in: Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 24, Rz. 44; Stein, NZWehrR 1998, S. 149; Fleck, Befehls- und Kommandogewalt, in: Geiger (Hrsg.), 2000, S. 170; Krieger, ZaöRV 2002, S. 680. 103 Kirchhof, Bundeswehr, HBdStR Bd. III, § 78, Rz. 22. 104 Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 24, RdNr. 44; Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 3; Frank, AK, hinter Art. 87, RdNr. 68; Randelzhofer, M / D , GG, Art. 24, RdNr. 187; Ipsen, Rechtsgrundlagen, S. 208; Wassenberg, Eurokorps, S. 171. los BVerfGE 68, 1 (93); ebenso Badura, VVDStRL 1966, S. 35; Wieland, DVB1. 1991, S.1178. 106 Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 24, RdNr. 34; ders., JZ 1979, S. 123; Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 24, RdNr. 18. 107 Classen, M / K / S , Art. 24, RdNr. 5; a.A. Nolte, ZaöRV 1994, S. 115. los So explizit § 4 Abs. 3 des österreichische Bundesverfassungsgesetzes über Kooperation und Solidarität bei der Entsendung von Einheiten und Einzelpersonen in das Ausland (KSEBVG), BGBl. I Nr. 38/1997.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimations Vermittlung im Integrationsprozess

Gegen das Konzept der Hoheitsrechtsübertragung spricht weiterhin die Handhabung der (internationalen) Befehlsgewalt in der Einsatzpraxis. Die einzelnen Aufträge und Anordnungen eines internationalen Kommandeurs greifen nämlich nicht direkt in das nationale Streitkräftekontingent durch, sondern werden vielmehr von einem nationalen Führungsoffizier, dem sog. Nationalen Befehlshaber 109 in Befehle nach nationalem Recht „umgesetzt". 110 Ein Recht des internationalen Befehlshabers, seine Aufträge als Befehle unmittelbar gegenüber dem nationalen Kontingent durchzusetzen, gibt es gerade nicht. 111 So geht die Praxis davon aus, das der zuständige deutsche Befehlshaber, der in Personalunion die Funktion des Nationalen Befehlshabers im Einsatzgebiet 112 wahrnimmt, jeden NATO/UN-Auftrag, der durch deutsche Kontingente ausgeführt werden soll, vorab rechtlich prüft. 113 Das nationale Kontingent untersteht ihm dabei im nationalen Befehls weg; er selbst ist eingebunden in die internationale Kommandostruktur. Der Nationale Befehlshaber wird damit zum „Kreuzungspunkt" zwischen nationalem und internationalem Befehlsweg und fungiert gleichsam als „Transformator" von internationalen Anordnungen in das nationale Befehlsrecht. Diese Praxis ähnelt aber eher dem völkerrechtlichen „Umsetzungskonzept" als dem supranationalen „Durchgriffskonzept". Widersprechen die Anordnungen eines internationalen Befehlshabers im Konfliktfall den Weisungen der nationalen Stellen, muss und wird der (nationale) Anordnungsempfänger immer die letztere befolgen. So hat der ehemalige amerikanische SACEUR Wesley Clark in seinen Erinnerungen an den Kosovokrieg („ Waging Modern War") deutlich gemacht, dass die untergebenen Befehlshaber anderer Nationen seinen Anordnungen nur insoweit Folge leisteten, wie ihnen dies nach nationalen Vorgaben gestattet war. Hätten die internationalen Kommandeure indes echte Hoheitsbefugnisse übertragen bekommen, so dürften sie diese - zumindest nach deutschem Verfassungsverständnis - auch gegen den Willen der nationalen Behörden gegenüber den nationalen Rechtsunterworfenen direkt zur Anwendung bringen. Rechtsvergleichend wird dagegen deutlich, dass andere Staaten für 109 Vgl. ZDv 1/50, Nr. 123. Von den Nationalen Befehlshabern, die in integrierten NATOStäben im Ausland Dienst leisten, sind zu unterscheiden die sog. Nationalen Militärischen Vertreter oder Repräsentanten, die bei integrierten Stäben im Ausland (NATO-Kommandobehörden, Hauptquartiere) eingesetzt werden. Die Einrichtung eines solchen nationalen Vertreters kann zur Unterstützung des Kontingentführers aufgrund der politischen Sensibilität des Auslandseinsatzes notwendig werden. Nationale Repräsentanten vertreten die nationalen Interessen bei (integrierten) Hauptquartieren und Kommandobehörden und fungieren als Verbindungsoffiziere zwischen dem jeweiligen Befehlshaber des Hauptquartiers und dem nationalen Verteidigungsministerium, ohne dabei in die multinationale Kommandostruktur einbezogen zu sein (vgl. BMVg [Hrsg.]), Handbuch, RdNr. 408). no Zimmer, Einsätze, S. 92; Krieger, ZaöRV 2002, S. 680. m Wassenberg, Eurokorps, S. 171. 112 BMVg (Hrsg.), Handbuch, RdNr. 407; ZDv 1/50, Nr. 123, 135 (NatBefh i.E.); dazu Ipsen, Rechtsgrundlagen, S. 178; Schwenck, NZWehrR 1964, 97 ff. 113 Donner, HuV-1 1997, S. 67.

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

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den Konfliktfall eindeutige Regelungen getroffen haben. So sieht das österreichische Streitkräfteentsendegesetz vor, dass die Bundesregierung Österreichs bestimmen kann, ob und wieweit die entsandten Personen hinsichtlich ihrer Verwendung im Ausland die Weisungen der Organe einer internationalen Organisation oder ausländischer Kommandeure zu befolgen haben. Widersprechen einander die unmittelbar erteilten Weisungen des in Betracht kommenden internationalen oder ausländischen Organs und die Weisungen eines zuständigen österreichischen Organs, so haben die entsendeten Personen die letzteren zu befolgen. Sie haben jedoch das zuständige österreichische Organ unverzüglich von einer widersprechenden Weisung des internationalen oder ausländischen Organs in Kenntnis zu setzen. Das zuständige österreichische Organ hat unverzüglich an das Organ, das die widersprechende Weisung erteilt hat, zum Zweck der Beseitigung des Widerspruchs heranzutreten. 114

e) Fehlende parlamentarische Zustimmung zur Hoheitsrechtsübertragung Gegen eine Übertragung von Hoheitsrechten durch den transfer of authority spricht nicht zuletzt die mangelnde Eignung und Tragfähigkeit des Zustimmungsgesetzes zum NATO-Vertrag als eines Gesetzes zur Übertragung von Hoheitsrechten i. S. d. Art. 24 Abs. 1 GG. 1 1 5 Im Gegensatz zur EVG hat bei der Gründung der NATO offenbar nicht die Absicht bestanden, eine supranationale Einrichtung zu schaffen. 116 Art. 24 I GG stellt darauf ab, ob die Übertragung „durch" Gesetz erfolgt ist oder nicht. Ob und in welchem Umfang Hoheitsrechte übertragen werden, muss sich daher aus der Entscheidung des Gesetzgebers selbst ergeben. Dies erscheint im Fall der gesetzlichen Zustimmung zum NATO-Vertrag aber kaum möglich, da die Basisdokumente zur militärischen Integration, die der Übertragung von Befehlsgewalt auf die NATO-Kommandobehörden zugrunde liegen, 117 (bewusst) nicht in das Zustimmungsgesetz aufgenommen und daher nicht Teil des Ratifikationsverfahrens wurden. 118 Die parlamentarische Zustimmung zum NATO-Vertrag 114 § 4 Abs. 7 österr. KSE-BVG. 115 Das Übertragungsgesetz nach Art. 241 GG und das Zustimmungsgesetz nach Art. 59 I I GG können insoweit uno actu ergehen (Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 24, RdNr. 75). 116 Tomuschat, BK, Art. 24, RdNr. 161.

117 Die innerstaatliche „Transformation" des NATO-Dokuments MC 57 erfolgte auf ministeriellem Wege über die ZDv 1/50 Grundbegriffe zur militärischen Organisation, Unterstellungsverhältnisse, Dienstliche Anweisungen vom Dezember 1958 (abgedr. in: VMB1. 1962, 490; Neufassung von Mai 1996, abgedr. bei Schnell/Ebert (Hrsg.), Disziplinarecht, Β 19). h 8 Vgl. die Auffassungen von Bundesregierung und Auswärtigem Ausschuss, BT-Drs. II/1200, S. 2; dazu im Einzelnen Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 133 ff..

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1. Teil: Parlamentarische Legitimations Vermittlung im Integrationsprozess

erschöpft sich vielmehr in Art. 2 des Ratifikationsgesetzes von 1955, der besagt: Dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Nordatlantikvertrag vom 4. April 1949 in der Fassung vom 15. Oktober 1951 wird zugestimmt. Der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts, die Londoner Schlussakte mit dem entsprechenden Durchführungsbeschluss des NATO-Rates hätten dem Bundestag bei der Verabschiedung des NATO-Vertrags „hinreichend deutlich vor Augen gestanden",119 vermag den Anforderungen an die Bestimmtheit eines Übertragungsgesetzes indes kaum zu genügen 120 und ist in der Literatur zu Recht auf starke Kritik gestoßen.121 Zwar können, wie das BVerfG im „Maastricht"-Urteil hervorgehoben hat, an die Bestimmtheit und Dichte völkerrechtlicher Vertragsregelungen nicht die gleichen Anforderungen gestellt werden, wie an einen gewöhnlichen Parlamentsvorbehalt. Entscheidend sei aber doch, „dass die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland und die daraus sich ergebenen Rechte und Pflichten insbesondere auch das rechtsverbindliche unmittelbare Tatigwerden (...) im innerstaatlichen Rechtsraum - für den Gesetzgeber voraussehbar im Vertrag umschrieben und durch ihn im Zustimmungsgesetz hinreichend bestimmbar normiert worden sind. " 122 Obgleich die demokratische Legitimation von Umfang und Reichweite des Übertragungsaktes, aus dem das BVerfG seine Bestimmtheitserfordernisse ableitet, bei der Streitkräfteintegration nicht weniger geboten erscheint als in der Wirtschafts- und Währungspolitik, 123 hat es das BVerfG offenbar versäumt, die Anforderungen des Art. 24 I GG auch an den NATO-Vertrag und das deutsche Zustimmungsgesetz zu stellen. 124 Die Zustimmung zur Stationierung und zur Einräumung der Einsatzgewalt war nicht vom NATO-Gründungsvertrag selbst oder von einem Akt der Allianz, sondern allein vom Aufenthaltsvertrag gedeckt gewesen. Diesen Vertrag hatte das BVerfG in seiner Pershing-Entscheidung jedoch lediglich in einen engen rechtlichen und politischen Zusammenhang mit dem NATO-Vertrag gesetzt. 125 Ob aber allein der (nicht zu bestreitende) enge politische Zusammenhang beider Verträge zur Anwendbarkeit von Art. 241 GG führen kann, muss bezweifelt werden. 126 Hätte man wirklich Hoheitsrechte auf die NATO übertragen wollen, so 119 BVerfGE 68, 1 (100 f.). ι 2 0 Ebenso Deiseroth, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 65a, RdNr. 133; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 24, RdNr. 6, wonach „vage Ermächtigungen", die eine ausdrückliche Übertragung nicht vorsehen, als gesetzliche Grundlage schwerlich genügen können; a.A. Rusnak, NATO-Oberbefehl, S. 83. 121 Vgl. Eckertz, EuGRZ 1985, S. 169; Rauschning, JuS 1985, S. 867; Bryde, Jura 1986, S. 368 f.; Walz, NZWehrR 1986, S. 96. 122 BVerfGE 89,155 (187 f.). 123 So Wieland, in: FS Böckenförde, S. 234. 124 Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 135. 125 BVerfGE 68, 1 (97); vgl. Bleckmann, DVB1. 1984, S. 13; zust. Tomuschat, BK, Art. 24, RdNr. 165; kritisch insoweit Sondervotum Mahrenholz (E 68, 1 (125 f.); ablehnend Classen, M / K / S , GG, Art. 241, RdNr. 64; Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 24, RdNr. 15.

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

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wäre - analog zur Bündnisklausel in Art. 80a GG - eine gesetzgeberische Entscheidung (nicht zuletzt in Form einer Ergänzung der Art. 65a bzw. 115b GG) naheliegend gewesen, die den Übergang der in Art. 65a GG normierten Befugnisse auf NATO-Kommandobehörden sowie den Umfang der Übertragung regelt. Offenbar lag es aber gar nicht in der Absicht des Bundestags, mit dem Beitrittsgesetz zum NATO-Vertrag Hoheitsrechte zu übertragen. Der Ausschuss für Rechtswesen und Verfassungsrecht stellte in diesem Zusammenhang lediglich fest, dass die Verträge „einstweilen nur die Verpflichtung begründen, eine nationale Armee aufzustellen." 127 Da der Übergang der operativen Befehlsgewalt unbestrittenermaßen eine eigenständige nationale Entscheidung voraussetzt, wäre es widersinnig anzunehmen, durch das Beitrittsgesetz zum NATO-Vertrag sei eine Hoheitsrechtsübertragung „antizipiert" worden, die durch eine ablehnende Entscheidung der Exekutive, den transfer of authority auszulösen, jederzeit wieder blockiert werden könne. 128

f) Neue Aufgaben der NATO im Spiegel der ASM ACS-Re cht sprechung des BVerfG Der zwischen Friedens- und Kriegszeiten differenzierende Integrationsmechanismus des Kalten Krieges lässt sich auf das neue Aufgabenspektrum der NATO 1 2 9 (sog. „Nicht Artikel 5-Aufgaben") kaum übertragen. Auch die Annahme, dass dem Verteidigungsminister in „Friedenszeiten" eine ungeschmälerte Befehls- und Kommandogewalt verbleibt, trifft nicht mehr zu, seit die NATO als globaler Krisenmanager auch außerhalb des Bündnisfalles zum Einsatz kommt und dadurch eine verfassungsrechtliche Neubewertung erfordert. Entscheidenden Anstoß gab die AWACS-Entscheidung des BVerfG aus dem Jahre 1994, in der Art. 24 II GG als Grundlage für die Eingliederung deutscher Truppen in integrierte militärische Verbände der NATO bzw. UNO herangezogen und die Übertragung von operational control als Phänomen bloßer „Beschränkung" von Hoheitsrechten qualifiziert wurde. 1 3 0 Mit der (vertragsförmigen) Einordnung in ein System kollektiver Sicherheit, 126 Insoweit auch Classen, M / Κ / S, GG, Art. 24, RdNr. 64; Randelzhofer, Art. 24, RdNr. 187; Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 24, RdNr. 15.

M / D , GG,

127 Besonderer Bericht des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht (16. Ausschuss), Verhandlung des Deutschen BTag, 2. WP, 69. Sitzung, Prot., S. 3645, zitiert bei Ipsen, Rechtsgrundlagen, S. 206 Anm. 68, der mit Blick auf das NATO-Mitglied Island darauf hinweist, dass die rechtliche Einschätzung des Ausschusses in Bezug auf die Verpflichtung zur Streitkräfteaufstellung fehlging. 128 Ipsen, Rechtsgrundlagen, S. 207; ders., BK, Art. 115b, RdNr. 150. 129 Dazu eingehend Nolte , ZaöRV 1994, S. 664 ff. 130 BVerfGE 90, 286 (355). Α. A. Bothe (in: Simma (Hrsg.), UN-Charta, Kommentar, nach Art. 38, RdNr. 62 f.) mit dem Argument, dass die Soldaten nicht als Organ der Mitgliedstaaten, sondern als Organ der UNO handelten, welches die „ausschließliche Befehlsgewalt" über die staatlichen Truppenkontingente ausübe.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimations Vermittlung im Integrationsprozess

so das BVerfG, willige der Bund in Beschränkungen seiner Hoheitsrechte ein, die typischerweise mit der Zugehörigkeit zu einem solchen System verbunden, zur Sicherung der (militärischen) Funktionsfähigkeit notwendig und daher vom Sinn und Zweck der Norm gedeckt sind. Eine Übertragung von Hoheitsrechten sei damit nicht verbunden, da truppeninterne Weisungs- und Befehlsrechte nur innerhalb des Systems kollektiver Sicherheit verlagert, aber keine Durchgriffsmöglichkeiten geschaffen würden. 131 Damit aber öffnet sich im Hinblick auf die demokratisch-parlamentarische Legitimation von Substanzminderungen nationaler Befehlsbefugnisse eine Rechtfertigungsperspektive nach Art. 24 II GG.

3. Beschränkungen nationaler Befehlsgewalt im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme a) Verteidigungsbündnisse

als kollektive

Sicherheitssysteme

Die vom BVerfG angenommene Beschränkung von Hoheitsgewalt bei Einsätzen im Rahmen von internationalen Organisationen wirft die Frage nach dem verfassungsrechtlichen Ordnungsrahmen für diese „Beschränkung" auf. Das AWACSUrteil hat die jahrelang umstrittene Qualifizierung der Allianz 1 3 2 (und wohl auch der W E U 1 3 3 ) als Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit gem. Art. 24 I I G G 1 3 4 im positiven Sinne entschieden und damit letztlich auch die perspektivi131 So auch die ganz überwiegende Auffassung in der Literatur, vgl. Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 24, RdNr. 62; Classen, M / K / S , GG, Art. 24 Abs. II, RdNr. 90; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 24, RdNr. 89, 92; Kirchhof, HBdStR Bd. III, § 78, RdNr. 22; Mosler, HBdStR Bd. VII, § 175, RdNr. 22; Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 24, RdNr. 74 f. 132 Im juristischen Fachschrifttum bildete sich zunächst die Auffassung heraus, bei der NATO handele es sich allein um ein kollektives Verteidigungsbündnis (vgl. z. B. F osthoff, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, S. 335 f.; Ipsen, Rechtsgrundlagen, S. 203, ders.; BK, Art. 115b; RdNr. 149; Eichen, NZWehrR 1984, S. 221; Walz, NZWehrR 1986, S. 95); diese Ansicht löste sich dann aber im Zuge des weltpolitischen Wandels auf (vgl. nur Blumenwitz, NZWehrR 1988, S. 138; Kirchhof, HBdStR III, § 78, RdNr. 21; Tomuschat, BK, Art. 24, RdNr. 136; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 24, RdNr. 91). 133 Nach der Neubestimmung ihrer Aufgaben durch die Petersberg-Erklärung von 1992 ließ sich auch die WEU als kollektives Sicherheitssystem i. S. d. Art. 24 II qualifizieren; vgl. Nolte, ZaöRV 1994, S. 114; Arndt, NJW 1994, S. 2198; Heun, JZ 1994, S. 1069; Kirchhof, NZWehrR 1998, S. 153; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 24, RdNr. 88. Die Entscheidung des BVerfG 90, 286 (366) hatte eine explizite Qualifizierung der WEU (noch) unterlassen, da der Prozess ihrer operativen Neubelebung völkerrechtlich noch nicht ausreichend abgesichert erschien. 134

Seit den 50er Jahren hatte sich die Auffassung durchgesetzt, Systeme kollektiver Sicherheit umfassten Verteidigungsbündnisse wie die NATO nicht, weil erstere sich nicht gegen einen Feind richteten, sondern den potentiellen Angreifer mit einschlössen (vgl. Ipsen, Rechtsgrundlagen, S. 203; ders., BK, Art. 115b, Rz. 149; Eichen, NZWehrr 1984, S. 221 ff.; Walz, NZWehrR 1986, S. 95; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 361; Riedel, Einsatz, S. 118 f.; Doehring, HBdStR Bd. V I I § 177, RdNr. 4 ff.; Wolfrum, HBdStR Bd. V I I § 176,

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

65

sehen Verkürzungen des Kalten Krieges in Richtung einer strategischen Transformation der Allianz aufgelöst. Diese bündnispolitische „Metamorphose" spiegelte insoweit den Paradigmenwechsel des Epochenjahrs 1989/90 wieder und diente nicht zuletzt dem atlantischen Interesse an der Erhaltung des Bündnisses unter fundamental und global veränderten Bedingungen.135 Ein System kollektiver Sicherheit ist nach Auffassung des BVerfG dadurch gekennzeichnet, dass es „durch ein friedenssicherndes Regelwerk und den Aufbau einer eigenen Organisation für jedes Mitglied einen Status völkerrechtlicher Gebundenheit (begründet), der wechselseitig zur Wahrung des Friedens verpflichtet und Sicherheit gewährt." Dagegen sei es unerheblich, ob ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit „ausschließlich oder vornehmlich unter den Mitgliedstaaten Frieden garantieren oder bei Angriffen von außen zum kollektiven Beistand verpflichten soll". Auch Bündnisse kollektiver Selbstverteidigung könnten Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit sein, „wenn und soweit sie strikt auf die Friedenswahrung verpflichtet sind." 1 3 6 Die Rechtsauffassung des BVerfG hat sowohl Zustimmung als auch Ablehnung gefunden: 137 Von den Kritikern wird angemerkt, dass die NATO nicht die tradierten konstitutiven Begriffsmerkmale eines völkerrechtlichen „Systems kollektiver Sicherheit" erfülle, weil sie nicht unter Einschluss des potentiellen Aggressors auf Universalität angelegt sei und intern (abgesehen von Art. 4 NATO-Vertrag) keine Konfliktregelungsmechanismen vorsehe. 138 Überdies verwische die Auffassung des BVerfG den in der Literatur immer wieder betonten „strukturellen Unterschied" zwischen beiden Systemarten, 139 was im Einzelfall zu schwierigen AbRdNr. 1, 17; Wieland, DVB1. 1991, S. 1177 f.). Von anderen wurde bezweifelt, ob im Völkerrecht überhaupt ein allgemein anerkannter Begriff der kollektiven Sicherheit existiere; es wurde eingewandt, dass auch Bündnisse kollektiver Selbstverteidigung der Friedenswahrung dienten und deshalb „Systeme kollektiver Sicherheit" sein könnten, zumal wenn sie eine „Binnenstruktur" der Friedenswahrung aufwiesen (vgl. Tomuschat, BK, Art. 24, RdNr. 181; Maunz, in: M / D , GG-Kommentar, Art. 24, Rz. 13 ff.). 135 Köck/Fischer, Int. Org., S. 399; Rühl, Kollektive Sicherheit, in: Kaiser/Schwarz (Hrsg.), 1995, S. 428. 136 BVerfGE 90, 286 (349 f.) und Leitsatz 5a. 137 Dem BVerfG folgen Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 24, RdNr. 63; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG-Kommentar, Art. 24, RdNr. 88; Nolte, ZaöRV 1994, S. 111 ff.; Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 24, RdNr. 4a - kritisch hingegen Lutz, NJ 1994, S. 505; Zöckler, EJIL 1995, S. 278 ff.; Schroeder, JuS 1995, S. 402; ablehnend Bothe/Martenczuk, VN 1999, S. 128; Deiseroth, Die Friedenswarte 2000, S. 120 f.; ders., in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 24, RdNr. 285 ff. sowie Art. 65a, RdNr. 144. 138 Vgl. ausführlich zur Kritik am BVerfG Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 24, RdNr. 285 ff. 139 Wolfrum, HBdStR Bd. VII, § 176, RdNr. 17; Doehring, HBdStR Bd. VII, § 177, RdNr. 9; a.A. Randelzhofer, M / D , GG, Art. 24 II, RdNr. 1 ff., der ein „Komplementärverhältnis" annimmt; ebenso Tomuschat, BK, Art. 24, RdNr. 33 m. w. N. für die im Gutachterverfahren „Der Kampf um den Wehrbeitrag" (Dokumentation) vielfach vertretene gleichzeitige Anwendung von Art. 241 und II. 5 Schmidt-Radefeldt

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

grenzungs- und Wertungsproblemen führen könne. 140 Die Gegenansicht verweist indes auf den „offenen Tatbestand" des Art. 24 I I GG, der zu dem Verteidigungsauftrag des Grundgesetzes aus dem Jahre 1956 in keinem Gegensatz stehe. Mit dem Begriff der Verteidigung sei den Streitkräften die Gesamtaufgabe militärischer Friedenssicherung übertragen worden, ohne dass der verfassungsändernde Gesetzgeber die Teilnahme der Bundeswehr an Operationen im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit bewusst ausschließen wollte. 141 Mehr denn je erweist sich die NATO heute als ein anpassungsfähiges System, dessen Verteidigungskomponente nach dem 11. September wieder hervorsticht, ohne dabei die in den 1990er Jahren ausgebildete Friedenssicherungskomponente auszublenden. Aus Sicht der Praxis überzeugt daher weniger die prinzipielle Abgrenzung zwischen den Systemarten der kollektiven Sicherheit und Verteidigung, sondern vielmehr die Wandlungsfähigkeit und Multifunktionalität der Allianz, die (vor allem bei der Terrorismusbekämpfung) gleichermaßen Elemente des Krisenmanagements, der kollektiven Verteidigung und der globalen Friedenssicherung konzeptionell in sich vereinigt. Mit Blick auf die sich abzeichnende strategische Akzentverschiebung des Bündnisses (Stichwort: NATO Response Force) in Richtung eines militärischen Interventionismus bleibt indes abzuwarten, ob die Anforderungen an die strikte Friedenswahrung des Bündnisses konsequent aufrechterhalten werden. 142

b) Rechtsformen multinationaler

Verbände

Mutinationale Verbände sind als Adressaten einer Hoheitsrechtsübertragung oder -beschränkung i. S. d. Art. 24 I und II GG nur schwer einzuordnen. Fast einhellig ablehnend zeigt sich diesbezüglich das wissenschaftliche Schrifttum, das weder institutionell verfestigte Strukturen eines „kollektiven Sicherheitssystems" noch Elemente einer „zwischenstaatlichen Einrichtung" zu erkennen vermag. 143 Multinationale Verbände mögen zwar zur Friedenssicherung zwischen den Korpsstaaten beitragen, verfügen jedoch selber nicht über das „friedenssichernde Regel140 Classen, M / Κ / S , GG, Art. 24 Abs. 2, RdNr. 80. 141 Hillgruber, in: Umbach/ Clemens (Hrsg.), GG, Art. 87a, RdNr. 29, auch unter Berufung auf die Stellungnahme der Bundesregierung im Gutachterverfahren „Der Kampf um den Wehrbeitrag" (Dokumentation), S. 5 (6, 30). 1 42 Vgl. zuletzt Kamp, Die NATO nach dem Prager Gipfel (Arbeitspapier). 143 Oldiges, Wehrrecht, in: Achterberg/Püttner, Bes.VerwR. § 23, RdNr. 46; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 24, RdNr. 89 („kein Fall des Art. 24 I oder II"); Fleck, Befehlsund Kommandogewalt, in: Geiger (Hrsg.), 2000, S. 172; Wassenberg, Eurokorps, S. 169 und 172; Dau, NZWehrR 1989, S. 181; Kirchhof, NZWehrR 1998, S. 154; Wieland, NZWehrR 1999, S. 140; Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 152; insbesondere der Begriff der „zwischenstaatlichen Einrichtung" wird konsequent nur auf internationale Organisationen bezogen, die über eine hinreichende Organisationsstruktur verfügen, um supranational Hoheitsrechte auszuüben; a.A. offenbar Fastenrath, in: Geiger (Hrsg.), 2000, Diskussionsbeitrag zu Fleck, S. 182, wonach eine zwischenstaatliche Einrichtung auch ein multinationaler Verband sein könne; tendenziell offener auch Lang, ZRP 2000, S. 272.

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

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werk" eines kollektiven Sicherheitssystems mit einer entsprechend eigenen Organisation. 144 Die klassischen Merkmale einer internationalen Organisation - nämlich ein durch Staaten auf der Ebene der Gleichheit durch völkerrechtliche Willenseinigung geschaffenes Gebilde, das auf Dauer angelegt ist, auf der Ebene des Völkerrechts wie des Staatsrechts funktional beschränkte Rechtsfähigkeit zur Verfolgung eines gemeinsamen Ziels besitzt, einen von den beteiligten Staaten unabhängigen Willen bilden kann und mindestens über ein Organ verfügt, das berechtigt ist, diesen Willen nach außen zu vertreten 145 - treffen auf multinationale oder gar binationale Verbände kaum zu. 1 4 6 Anders als die NATO-Kommandobehörden, denen das vom Bundestag ratifizierte Pariser Hauptquartier-Protokoll beschränkte Völkerrechtsfähigkeit verschafft, 147 wurde den multinationalen Korps nicht einmal eigene Rechtspersönlichkeit zuerkannt, weil dies eine Autonomie bedeutet hätte, die politisch nicht gewollt war. 148 Auch wenn die Rechtsfähigkeit vielleicht kein unabdingbares Charaktermerkmal einer zwischenstaatlichen Einrichtung ist, 1 4 9 muss doch die eigenständige Handlungsfähigkeit durch mindestens ein Organ vorausgesetzt werden. Multinationale Verbände können jedoch keinen eigenen politischen Willen bilden, sondern erscheinen eher als rechtlich unselbständige staatliche Vollzugsorgane. 150 Ob sie überhaupt einer eigenen Rechtsform bedürfen, wird zum Teil sogar bezweifelt. 151 Zur Charakterisierung multinationaler Verbände greift Stein insoweit auf etablierte völkerrechtliche Kooperationsformen verwal144 Wieland, NZWehrR 1999, S. 140 unter Bezugnahme auf die Voraussetzung in BVerfG 90, 286 (349). 145

So Seidl-Hohenveldern/Loibl,

Internationale Organisationen, RdNr. 0105.

146

Ein System kollektiver Sicherheit setzt zumindest die Beteiligung von „mehr als zwei oder drei Staaten" voraus (so Classen, M / Κ / S, Art. 24 II, RdNr. 83). 147 Protokoll über den Status internationaler militärischer Hauptquartiere („HQ-Protokoll") vom 28. August 1952, UNTS 200, S. 340, BGBl. 1969 II, S. 2000. Das Protokoll verleiht den Hauptquartieren Rechts- und Geschäftsfähigkeit nach innerstaatlichem Recht (Art. 10), sie können im Rahmen von Schadensersatzprozessen nach Maßgabe des NTS vor den Gerichten des Sitzstaates klagen und verklagt werden (Art. 11) sowie völkerrechtliche Verträge mit den Sitzstaaten abschließen (Art. 16 Abs. 2). Die MNK-NO-Konvention bestimmt, dass das Pariser Protokoll für das Stettiner Hauptquartier des MNK-NO nicht zugrundegelegt wurde, jedoch zur Auslegung herangezogen werden kann (Art. 6, 19 MNKNO-Konvention). 148 Vgl. Denkschrift zur D / NL-Korps-Konvention (BRats-Drs. 67/98, S. 54, Erl. zu Art. 8); Fleck (Hrsg.), Handbook, S. 38; ders., Befehls- und Kommandogewalt, in: Geiger (Hrsg.), 2000, Diskussionsbeitrag, S. 183; Stein, NZWehrR 1998, S. 147; kritisch Peterson, Verfassungsrechtliche Fragen, S. 38, in Hinblick auf die Probleme, die infolge fehlender Rechtspersönlichkeit auftreten können. So besitzt das Hauptquartier des D/NL-Korps nicht die Befugnis, als aktiv- und passiv legitimierte Vertragspartei am Rechtsleben teilzunehmen (vgl. Art. 8 der Korps-Konvention). Nach dem Straßburger Eurokorps-Übereinkommen soll das Eurokorps hingegen Rechtspersönlichkeit erhalten; für das MNK-NO wurde die Anwendbarkeit des Pariser HQ-Protokolls vereinbart. 149 So Classen, Μ / Κ / D , Art. 241, RdNr. 20. 150 Dau, NZWehrR 1989, S. 181; Kirchhof, NZWehrR 1998, S. 154,159. 151 Stein, NZWehrR 1998, S. 147 f.; Lang, ZRP 2000, S. 272. 5*

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Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

tungsrechtlicher Art wie z. B. „plurinationale Verwaltungseinrichtungen" oder „internationale Verwaltungsunionen" zurück. 152 Diese erfüllen auf der Grundlage multilateraler Abkommen und mit begrenzten Mitgliedschaften und Organen eng umschriebene staatliche (Verwaltungs-)Aufgaben, ohne dabei notwendigerweise auf souveräne Befugnisse und Durchgriffsrechte angewiesen zu sein. Die Aufgabenstellung europäischer Korps zielt auf Krisenmanagementeinsätze und kollektive Verteidigung im Rahmen von UNO, NATO oder (W)EU. 1 5 3 Ein Rückgriff auf Art. 24 I I GG ergäbe sich daher für die Einsatzperspektive unter der Ägide eines kollektiven Sicherheitssystems.154 (Dagegen wäre Art. 24 II GG kaum in Ansatz zu bringen, wenn ein Korps unmittelbar von den Entsendestaaten, d. h. außerhalb kollektiver Sicherheitssysteme eingesetzt würde 155 ). Mit der Unterstellung eines multinationalen Korps unter das Kommando der NATO oder der UNO werden hingegen die Befugnisse eines (ausländischen) Korps-Kommandeurs im Rahmen der (verfestigten) Kommandostrukturen eines kollektiven Sicherheitssystems ausgeübt und sind daher - im Einklang mit der Verfassungsrechtsprechung als „Beschränkung deutscher Hoheitsgewalt" zu werten. 156 Unter dem Dach eines Bündnisses ließen sich daher ohne rechtliche Probleme auch multinationale Korps ι

einsetzen. Diese „Einsatzperspektive" hat sich in den letzten Jahren in der Tat deutlich verstärkt und zu einer immer engeren (institutionellen) Heranführung der multinationalen Korps an die kollektiven Sicherheitssysteme der UNO bzw. NATO geführt. So stellte das Hauptquartier des Eurokorps den Kern der KFOR-Truppen im Kosovo und der ISAF in Afghanistan; das Hauptquartier des D/NL-Korps ist als Multinational Rapidly Déployable Headquarter SACEUR unterstellt worden 158 und wird 2005 die Aufgaben des „Land Component Command" für die NATO Res152 Stein, NZWehrR 1998, S. 151; ihm folgend Lang, ZRP 2000, S. 272. Beispiele für Verwaltungseinrichtungen wären die Europäische Raumfahrtagentur und die europäische Flugsicherungsorganisation EUROCONTROL; zu den Verwaltungsunionen zählte etwa die internationale Fluss- und Schiffereikommission. Zu den Verwaltungsunionen vgl. näher Verdross/ Simma, Universelles Völkerrecht, RdNr. 949 ff. sowie Wolfrum, Int. Administrative Unions, in: Bernhardt (Hrsg.), EPIL Bd. II, S. 1041. 1 53 Vgl. Art. 3.2 Rochelle-Bericht für das Eurokorps, das den Kern der 60.000 Mann starken EU-Krisenreaktionsstreitkräfte bildet; Art. 3 D / NL-Korpskonvention in der Perspektive eines NATO-Multinational Rapidly Déployable Headquarter; Art. 3 MNK-NO-Konvention in der Perspektive eines NATO-HQ, das wegen der Mitgliedschaft Dänemarks für die EU (derzeit) nicht zur Verfügung steht. 154 So auch Wieland, NZWehrR 1999, S. 140. 155 Wassenberg (Eurokorps, S. 164, 193 f.) erörtert in diesem Zusammenhang einen Eurokorps-Einsatz im „Alleingang"; an der rechtlichen Zulässigkeit zweifelnd Heintschel v. Heinegg, Rechtsprobleme, in: Tomuschat (Hrsg.), 1997, S. 113 sowie Nolte, ZaöRV 1994, S. 115 f. 156 BVerfGE 90, 286 (364 f.). 157 So auch Kirchhof, NZWehrR 1998, S. 153. 158 NATO/SHAPE-Press Release vom 23. 9. 2002.

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt ponse Force übernehmen. Als Adressat von Hoheitsrechtsübertragungen oder -beschränkungen bietet sich in zunehmendem Maße auch die Europäische Union an, welche i m Rahmen der ESVP eine eigenständige militärische Komponente ausbildet und sich zu einem System kollektiver Sicherheit entwickelt. 1 5 9 Auch wenn die Regelungen zur ESVP in Art. 17 ff. des E U V partiell (noch) den Charakter von Ziel vorgaben für die Zukunft aufweisen, 1 6 0 enthalten sie doch insgesamt eine Reihe von institutionellen und prozeduralen Vorschriften, die als „Regelwerk" der EUinternen Friedenssicherung und damit als Bausteine eines kollektiven Sicherheitssystems angesehen werden können. 1 6 1 Dem entspricht das klare Bekenntnis der Präambel, wonach die Mitgliedstaaten entschlossen sind, die Identität und Unabhängigkeit Europas zu stärken, um Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und in der Welt zu fördern} 62 Für Krisenoperationen der E U zeichnen sich überdies praktikable EU-Kommandostrukturen a b , 1 6 3 in die sich die europäischen Korps einbinden lassen. Offen für eine solche Option zeigt sich zudem Art. 17 159

Fleck, Befehls- und Kommandogewalt, in: Geiger (Hrsg.), 2000, S. 176; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 24, RdNr. 88; Wieland, NZWehrR 1999, S. 140; Thym, DVB1. 2000, S. 681; zur Entwicklung der ESVP zuletzt Epping, NZWehrR 2002, S. 106; Fröhlich, Das Projekt der GESVP, in: ZEI 2002, S. 1 ff.; Seidelmann, in: Integration 2002, S. 111 ff. 160 Art. 17 I EUV (ebenso wie Art. 1-41 Abs. 2 des EU-Verfassungsvertrag) spricht von der „schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik". 161 So auch Röben, ZaöRV 2003, S. 590. Art. 19 und 20 EUV statuieren dabei eine Koordinations- und Unterrichtungspflicht der EU-Mitgliedstaaten untereinander; Art. 23 EUV regelt die Beschlussfassung; Art. 25 EUV errichtet die entsprechenden Organe, deren Regelwerk in den Schlussfolgerungen des Rates detailliert ausgeführt ist. 162 Leicht in Vergessenheit gerät, dass das vornehmliche Ziel der europäischen Einigung nach dem 2. Weltkrieg die Bewahrung des Friedens unter den Mitgliedstaaten gewesen ist. Diesem Zweck diente die Vergemeinschaftung der kriegswichtigen Kohle- und Stahlindustrie - der Friedensgedanke steht in der Präambel zum EGKS-Vertrag vom 18. 4. 1951 an erster Stelle. 163

Vgl. im Einzelnen die Gemeinsame Aktion des Rates vom 27. 01. 2003 über die militärische Operation der EU in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien, AB1.EU vom 11.2. 2003 Nr. L 34, S. 26 ff. Danach bestimmt der Rat als oberstes politisches Gremium den Operation Commander der EU, den EU-Force Commander, den Einsatzplan, die Einsatzregeln und das EU-Operation Headquarter zunächst selbst. Angesichts der Notwendigkeit eines Rückgriffs der EU auf Planungskapazitäten und Fähigkeiten der NATO wird diese ersucht, der Ernennung des DSACEUR zum EU-Operation Commander sowie der Bestimmung des NATO-Hauptquartiers ins Möns (SHAPE) zum Operational Headquarter der EU zuzustimmen. Danach übernimmt das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK) die politische Kontrolle und strategische Leitung der EU-geführten Operationen und fasst nach Art. 25 Abs. 3 EU-Vertrag die entsprechenden Beschlüsse; dabei kann es die Vorgaben des Rates zur Befehlskette, zum Einsatzplan oder zu den Einsatzregeln abändern, erstattet aber dem Rat regelmäßig Bericht. Der EU-Militärausschuss überwacht die ordnungsgemäße Durchführung der militärischen Operation unter der Verantwortung des Operation Commander und hält zu diesem engen Kontakt. Im Einsatzgebiet wird die Führung der Operation durch den EU-Force Commander übernommen; vgl. grundlegend zur militärischen Einsatzführung der EU Wiesmann, in: Reiter u. a. (Hrsg.), 2002, S. 233 ff., der sich i. E. aber gegen die Etablierung fest institutionalisierter EU-Kommandostrukturen ausspricht.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

Abs. 4 EUV, der eine „engere (militärische) Zusammenarbeit zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten" vorsieht; 164 gleiches gilt für den EU-Verfassungsvertrag, wonach die Mitgliedstaaten, die untereinander multinationale Streitkräfte bilden, diese auch fiir die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik zur Verfügung stellen (können). 165 Als verfassungsrechtliche Grundlage für die Beschränkung von Hoheitsrechten im Rahmen der ESVP müsste allerdings - anders als bei der Übertragung - auf Art. 24 II GG zurückgegriffen werden, da Art. 23 I GG keine spezielle verfassungsrechtliche Grundlage für die Beschränkung von Hoheitsrechten enthält. 166 Im Ergebnis lässt sich die Substanzminderung nationaler Befehlsgewalt im Rahmen der kollektiven Sicherheitssysteme von NATO oder UN als „Beschränkung" von Hoheitsrechten gem. Art. 24 I I GG auffassen, die als Teil des entsprechenden Integrationsprogramms auch parlamentarisch konsentiert ist. Schwierigkeiten ergeben sich jedoch im Hinblick auf die multinational integrierten Führungsstäbe der europäischen Armeeverbände, in denen ausländische Befehlshaber auch außerhalb von Einsätzen gegenüber deutschen Soldaten weisungsbefugt sind. Die Führungsstrukturen in den gemischtnationalen Verbänden sollen im folgenden Abschnitt untersucht werden.

I I I . Wahrung der nationalen Befehls- und Legitimationskette in integrierten Führungsstrukturen In multinational integrierten Stäben ist die Zusammenarbeit zwischen den Streitkräften verschiedener Staaten naturgemäß sehr viel intensiver als zwischen den Kontingenten einer internationalen Friedenstruppe. Bei gemeinsamer Planung und Führung kann sich eine gemeinsame militärische Denkweise und Kultur am besten entwickeln; hier treffen die unterschiedlichen Mentalitäten und Arbeitsgewohnheiten der beteiligten Nationalitäten unmittelbar aufeinander, wenn sich etwa - wie am Standort des Deutsch-Französischen Brigade in Müllheim - deutsche und französische Stabssoldaten die gleiche Stube teilen. 167 Für die effektive Zusammenarbeit im Rahmen eines multinationalen Stabs werden ausländischen Befehlshabern keine standardisierten Befehlsbefugnisse im Sinne eines operational command oder -control übertragen, weil sich diese als Unterstellungsverhältnisse für den Einsatz (nur) auf die Führung von Truppenteilen beziehen. Die „unterstellungsfreie" Zusammenarbeit in integrierten Stäben erfordert für den täglichen Dienstbetrieb (d. h. außerhalb von Übungen und Einsätzen) andere und vielfälti164

Geiger, EUV / EGV-Kommentar, Art. 17, RdNr. 14; unter explizitem Hinweis auf das Eurokorps Thym, DVB1. 2000, S. 679. 165 Art. 1-41 EU-Verfassungsvertrag. 166 Thym, DVB1. 2000, S. 681; a.A. Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 24, RdNr. 63, der die GASP wegen ihrer Einbindung in die EU der Spezialregelung des Art. 23 GG zuordnet. 167 Dazu Clerc, Gestaltete Multinationalität, in: Martin (Hrsg.), Eurokorps, S. 309.

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

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gere Anordnungsbefugnisse, die sich kaum als abgestufte Befehlsformen standardisieren und definieren lassen. Eine generelle Übertragung umfassender Befehlsbefugnisse auf ausländische Kommandeure im Sinne eines full command ist aber aus politischen Gründen nicht gewollt. Stattdessen sollen persönliche und disziplinare Angelegenheiten in nationaler Verantwortung verbleiben und ausländischen Befehlshabern keine „echten" Befehlsbefugnisse mit Durchgriffscharakter eingeräumt werden, die einer Übertragung von Hoheitsrechten gleichkämen. Für die truppendienstlichen Belange des in integrierten Stäben eingesetzten Personals wird der Disziplinarvorgesetzte in seiner Eigenschaft als sog. Dienstältester Deutscher Offizier (DDO) 1 6 8 nicht in das internationale Uber- und Unterordnungsverhältnis eingebunden sondern verbleibt in der jeweiligen nationalen Zuständigkeit. 169 Für alle befehlsrechtlichen Angelegenheiten hingegen mussten Integrationsfiguren gefunden werden, welche die nationale Befehlsgewalt auch in multinationalen Führungsstrukturen bewahren, ohne dass dabei zugleich auf das unverzichtbare Ordnungsprinzips der militärischen Über- und Unterordnung verzichtet wird. Dabei haben sich in der Praxis drei „Spielarten" des integrierten Zusammenwirkens zwischen nationalen Soldaten und ausländischen Vorgesetzten herausgebildet, die im Hinblick auf die organisatorisch-personelle demokratische Legitimation ausländischer Befehlsgewalt problematisch erscheinen: (1) Nach einer bereits in integrierten NATO-Stäben praktizierten Rechtsfigur werden Soldaten von ihren nationalen Vorgesetzten zur Zusammenarbeit mit dem jeweils vorgesetzten ausländischen Offizier angewiesen. Das Modell der Anweisung auf Zusammenarbeit basiert dabei auf der im deutschen Wehrrecht bestehenden Unterscheidung zwischen Befehls- und Anordnungsgewalt. Es soll den deutschen Vorgesetzten ermöglichen, auch für „ausländische" Anordnungen die Verantwortung zu übernehmen und diese dadurch im organisatorisch-personellen Sinn demokratisch zu legitimieren. (2) Die Rechtfigur der „Anweisung auf Zusammenarbeit" ist im Rahmen der in den 1990er Jahren aufgestellten europäischen Armeeverbände 170 durch neue Integrationsmechanismen weiterentwickelt worden. Einerseits sollten effektive multinationale militärische Führungsstrukturen zwischen Offizieren und Kommandeuren unterschiedlicher Nationalität hergestellt werden; gleichzeitig musste aber gewährleistet bleiben, dass die Befehlsgewalt nicht in gemischter Form ausgeübt wird, sondern sich in einer lückenlosen Legitimations- und Befehlskette auf den deutschen Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt zurückführen lässt. Die Einbindung ausländische Hoheitsträger ist nämlich mit Blick auf die organisatorisch-personelle demokratische Legitimation deutscher Hoheitsgewalt nur zulässig, 168 Senior National Officer, vgl. ZDv 1/50, Nr. 129. 169 Im D/NL-Korps sind der Kommandierende General und sein Stellvertreter für truppendienstliche Aufgaben in den nationalen Befehlsweg eingebunden (Art. 11 Abs. 2 und 12 Abs. 2 der Organisationsvereinbarung). no Eurokorps (1993); D/NL-Korps (1995); MNK-NO (1999).

1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

soweit ausländische Hoheitsträger nicht aus eigener Machtvollkommenheit, sondern nach deutschem Recht bzw. unter deutscher Anleitung und Aufsicht handeln. 171 Dementsprechend soll die demokratische Legitimation der Befehlsgewalt in multinationalen Korps durch eine auf Einstimmigkeit angelegte und grundsätzlich unter Rückrufvorbehalt gestellte vertragliche Bündelung der beteiligten nationalen Befehlsgewalten hergestellt werden, womit ein in die Befehlskette eingeschalteter ausländischer Offizier gegenüber nachgeordneten deutschen Soldaten deutsche Hoheitsgewalt ausüben würde. 172 (3) In der Grauzone zwischen nationaler und überstaatlicher Hoheitsgewalt bewegen sich schließlich die genuin multinationalen Befehlsinstitute.

1. Anweisung auf Zusammenarbeit Gemäß der zentralen Dienstvorschrift 1/50 werden militärische Führer bzw. Kommandobehörden /Dienststellen/Einrichtungen durch Befehl auf Zusammenarbeit angewiesen, die in keinem Unterstellungsverhältnis zueinander stehen und in besonderer Weise zusammenarbeiten sollen. Zusammenarbeit verpflichtet zu gegenseitiger Unterrichtung, Beratung und Unterstützung in allen Angelegenheiten, deren gemeinsame Erledigung der militärische Dienst erfordert. 173 Vom Wortlaut der Dienstvorschrift her regelt die Anweisung auf Zusammenarbeit unmittelbar nur das Verhältnis der militärischen Führer zueinander, nicht aber das Verhältnis zu den weiter nachgeordneten nationalen Soldaten. 174 Da die betreffenden Führer in keinem Unterstellungsverhältnis zueinander stehen, lassen sich aus der Rechtsfigur der Anweisung auf Zusammenarbeit auch keine in den anderen nationalen Anteil hineinwirkenden Weisungsbefugnisse herleiten. In multinational integrierten Stäben muss sichergestellt werden, dass die Soldaten auf der Grundlage nationaler Gesetze verpflichtet werden, auch den Anordnungen von Offizieren des jeweils anderen nationalen Anteils Folge zu leisten. Unter Heranziehung der Zweckbestimmung einer vom Wortlaut her (nur) für die Truppenführer vorgesehenen Anweisung wurden die jeweils deutschen und französischen Anteile der D / F-Brigade in einem Grundsatzbefehl auf Zusammenarbeit angewiesen.175 Die Anweisung auf Zusammenarbeit ist keine nationale bzw. multinationale Unterstellungsregelung, sondern eine „nationale organisatorische Regelung" der militärischen Integrac i Gramm, DVB1. 1999, S. 1242. 172 Kritisch insoweit Oldiges, Wehrrecht, in: Achterberg/Püttner, Bes.VerwR., § 23, RdNr. 46. 173 Nr. 208 der ZDv 1/50 der Bundeswehr, abgedr. bei Schnell/Ebert, Diszplinarrecht, Β 19. 174 Dau, NZWehrR 1989, S. 185. 175 Grundsatzbefehl des Stv. Kommandeurs vom 6. 11. 1989, Az. 16-02-05. Bei den Bündnispartnern werden vergleichbare Modelle praktiziert (dazu Vad, HuV-I, 1997, S. 79).

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

tion, 1 7 6 die in der Praxis regelmäßig durch eine Dienstpostenbeschreibung vollzogen wird. Während der transfer of authority im „Außenverhältnis" die Übertragung von Befehlsbefugnissen auf einen internationalen Befehlshaber für den Einsatz begründet, betrifft die Anweisung auf Zusammenarbeit die entsprechende Regelung im „Innenverhältnis" zwischen einem Soldaten und seinem nationalen Vorgesetzten. Beide Rechtsfiguren sind darauf gerichtet, ein Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen einem deutschen Soldaten und einem ausländischen Befehlshaber herbeizuführen; 177 beide Rechtsfiguren sind gleichermaßen rücknehmbar und inhaltlich begrenzt, 178 denn sie entspringen letztlich dem Willen, eine Übertragung von Hoheitsgewalt auf ausländische Befehlshaber zu vermeiden.

a) Befehlsgewalt und Anordnungsgewalt Die Anweisung auf Zusammenarbeit begründet kein formelles Vorgesetztenverhältnis. Insoweit hat der Satz Geltung, dass nur ein deutscher Soldat „Vorgesetzter" im Rechtssinne sein könne. 179 Der Bundesverteidigungsminister kann das Vorgesetztenverhältnis zwar durch Rechtsverordnung (sog. Vorgesetztenverordnung) 180 regeln, was ihn jedoch nicht ermächtigt, im Verordnungswege Hoheitsgewalt an ausländische bzw. integrierte Dienststellen zu übertragen. 181 Mangels Vorgesetzteneigenschaft können die ausländischen Befehlshaber auch keine „Befehle" strictu sensu erteilen, auch wenn die auf Zusammenarbeit angewiesenen deutschen militärischen Führer im Rahmen der internationalen Kommandostruktur {chain of command) den ausländischen Kommandeuren nachgeordnet sind. 182 Die abstrakte Befehlskompetenz ist im deutschen Wehrrecht nicht hierarchisch an den jeweils höheren Dienstgrad geknüpft (vgl. § 1 Abs. 5 S. 2 Soldatengesetz - SG), sondern wird in der VorgV rein funktional geregelt. 183 Wer dabei nicht Vorgesetzter im Sinne dieser Verordnung ist, kann auch keine Befehle im Rechtssinne erteilen. Dies ergibt sich aus der Legaldefinition in § 2 Nr. 2 WStG (i.V.m. § 1 Abs. 5 SG), wonach ein Befehl eine Anweisung zu einem bestimmten Verhalten (ist), die ein militärischer Vorgesetzter einem Untergebenen schriftlich, mündlich oder in anderer Weise allgemein oder für den Einzelfall mit dem Anspruch auf Gehorsam erteilt. Eine Anweisung, die diese tatbestandlichen Voraussetzungen nicht erfüllt, 176 Schnell/Ebert, Disziplinarrecht, Β 19, Kapitel 2, II. 177 Wieland, NZWehrR 1999, S. 136. 178 Kirchhof NZWehrR 1998, S. 153. 179 Vgl. ζ. B. Walz, NZWehrR 1986, S. 97; Dau, NZWehrR 1989, S. 185. 180 Verordnung über die Regelung des militärischen Vorgesetzten (VorgV) vom 4. Juni 1956, BGBl. III 51-1. 181 Scherer/Alff, SG-Kommentar, zu § 1, RdNr. 37; ähnlich, Raap, Deutsches Wehrrecht, S. 42 mit dem Verweis auf Art. 24 Abs. 1 GG. 182 Sohm, NZWehrR 1996, S. 92; Dau, in: Truppenpraxis/Wehrausb. 1999, S. 221. 183 Raap, Deutsches Wehrrecht, S. 42; Wipfeider/Schwenck, Wehrrecht, RdNr. 607.

1. Teil: Parlamentarische Legitimations Vermittlung im Integrationsprozess

ist kein „Befehl" im Rechtssinne. Das gilt insbesondere für solche Anordnungen, die ein Soldat einem anderen Soldaten erteilt, ohne dessen „Vorgesetzter" (im Rechtssinne) zu sein; hier fehlt es an der allgemeinen (abstrakten) Zuständigkeit als formelle Voraussetzung für die Wirksamkeit eines Befehls. 184 Aus der Sicht des ausländischen Kommandeurs bedeutet dies, dass seine Befugnisse keine Befehlsgewalt im Rechtssinne beinhalten, sondern dass er lediglich „dienstliche Anordnungen" erteilen kann. 185 Anordnungsbefugt sind diejenigen Offiziere, denen aufgrund ihrer Dienststellung bzw. ihres Aufgabenbereichs Soldaten des jeweils anderen nationalen Anteils nachgeordnet sind.

b) Gesetzliche Grundlage Die rechtliche Verpflichtung des auf Zusammenarbeit angewiesenen deutschen Soldaten, den Anordnungen des ausländischen Kommandeurs Folge zu leisten, ergibt sich - mangels Durchgriffsmöglichkeit - nicht aus der („ausländischen") Anordnung selbst, sondern aus der allgemeinen soldatischen Pflicht zum „treuen Dienen" (§ 7 SG), die durch die Anweisung auf Zusammenarbeit befehlsrechtlich konkretisiert wird. 1 8 6 Neben dem Prinzip von Befehl und Gehorsam stärkt nämlich auch die Treuepflicht jene Legitimationskette, die das Handeln der Soldaten an die parlamentarische Verantwortung des Ministers als ihrem obersten Dienstherren rückkoppelt. Als Kernpflicht, in der alle Einzelpflichten des Soldatengesetzes wurzeln, 187 umfasst § 7 SG vor allem auch die Pflicht, den Anordnungen ausländischer Kommandeure Folge zu leisten. 188 Da der internationale Befehlshaber mangels Übertragung von Hoheitsrechten keine Durchgriffsbefugnis erhält, erwächst die Pflicht, seinen Anordnungen Folge zu leisten, nicht aus internationaler, sondern aus nationaler Quelle. 189

ι» 4 Wipfelder / Schwenck, Wehrrecht, Rz. 606. 185 ZDv 1 / 50 Nr. 311. Die Dienstverordnung unterscheidet dabei begrifflich zwischen Anordnungen und Anweisungen. Als Oberbegriff kann die „Anweisung" in Form eines Befehls, einer (dienstlichen) Anordnung, Weisung oder Richtlinie ergehen (ZDv 1/50 Nr. 301). Eine „Anweisung" kann daher die rechtliche Form eines „Befehls im Rechtssinne" haben; eine „dienstliche Anordnung" dagegen ist niemals ein „Befehl" im Rechtssinne. 186 Raap, Deutsches Wehrrecht, S. 42; Dau, in; NZWehrR 1989, S. 186; Wassenberg, Eurokorps, S. 168; Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 150 f. 187 Scherer/Alff, SG-Kommentar, § 7, Rz. 1. Nach st. Rechtspr. der Wehrdienstsenate gehe es im Kern um die Pflicht, nach besten Kräften zu handeln, um den Auftrag der Streitkräfte zu verwirklichen und alles zu unterlassen, was diesen Auftrag beeinträchtigen würde (vgl. BVerwGE 43,48; 53, 146; 73,187; 76, 66). 188 Scherer/Alff, SG-Kommentar, § 1, RdNr. 47 und § 7, RdNr. 10; Dau, NZWehrR 1989, S. 186; Fleck, Befehls- und Kommandogewalt, in: Geiger (Hrsg.), 2000, S. 172. 189 Die Anordnungsgewalt des ausländischen Befehlshabers begründet also keine „internationale Gehorsamspflicht".

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

Nach dem Modell der „Anweisung auf Zusammenarbeit" soll der „Ungehorsam" eines deutschen Soldaten gegenüber einem ausländischen Befehlshaber in Wahrheit ein „Ungehorsam" gegenüber demjenigen deutschen Vorgesetzten sein, der den Soldaten zur Zusammenarbeit mit dem ausländischen Offizier angewiesen hat. Der Ungehorsam auf internationaler Ebene wird also auf die Pflichten im nationalen Recht projiziert und dadurch von einem „internationalen" in einen „nationalen Ungehorsam" transformiert. 190 Eine schuldhafte Nichtbefolgung der (zulässigen) „Anordnung" eines ausländischen Befehlshabers soll sich schließlich nach nationalem Recht richten. Dementsprechend hat sie für den auf Zusammenarbeit angewiesenen deutschen Soldaten nur disziplinarrechtliche, 191 jedoch keine wehrstrafrechtlichen 192 Konsequenzen, weil letztere tatbestandlich einen „Befehl" im Rechtssinne voraussetzen. Dies gilt auch im innerstaatlichen Verhältnis gegenüber dem deutschen Vorgesetzten, der den Soldaten auf Zusammenarbeit angewiesen hat. Diese „Anweisung auf Zusammenarbeit" ergeht zwar (innerstaatlich) in der Rechtsform eines Befehls; 193 ein Befehl aber ist gem. § 2 II WStG eine „Anweisung zu einem bestimmten Verhalten," und setzt - nicht zuletzt vor dem Hintergrund des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebotes (Art. 103 I I GG) - Konkretheit und Vorhersehbarkeit voraus. Der allgemeine Befehl, sich den Anordnungen ausländischer Kommandeure zu fügen, verliert mit Rücksicht auf die mangelnde Vorhersehbarkeit und fehlende Konkretisierbarkeit dieser Anordnung jenes Maß an Bestimmtheit, die als Grundlage für eine Kriminalstrafe genügen würde. 194

c) Rechtliche Bewertung Die fehlende inhaltliche Konkretisierbarkeit der Weisungen eines ausländischen Vorgesetzten hat zur Kritik am „Behelfscharakter" (Oeter) 195 der ganzen Rechtskonstruktion geführt, die letztlich auf eine juristische Fiktion (Wieland) hinauslaufe. 196 Die Konstruktion „kranke in der Praxis an allen Ecken und Enden" (Kirchhof), weil man Verbände in der Größenordnung eines Korps (ca. 50.000 Soldaten) auf derart unsicherer Rechtsgrundlage schwerlich effektiv führen könne. 197 Die konkrete Folgepflicht eines deutschen Soldaten gegenüber den Anordnungen 190 Schweck, NZWehrR 1964, S. 98. 191 §§ 7, 23 I SG i. V. m. §§ 7,18 ff. WDO. 192 Die militärischen Straftatbestände des „Ungehorsams" (§19 WStG) bzw. der „Gehorsamsverweigerung" (§ 20 WStG) knüpfen an die Nichtausführung eines Befehls i. S. d. § 2 Nr. 2 WStG an. 193 ZDv 1/50, Nr. 211. 194 So auch Schwenck, NZWehrR 1964, S. 101. 195 Oeter, in: Geiger (Hrsg.), 2000, Diskussionsbeitrag zu Fleck, S. 181. 196 Wieland, Die Beteiligung, in: FS Böckenförde, S. 231. 197 Kirchhof, NZWehrR 1998, S. 157. Zu den Problemen in der Praxis vgl. etwa Dau, NZWehrR 1989, S. 186; Tharoor, in: Dau (Hrsg.), Auslandseinsatz, S. 746 f.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

ausländischer Befehlshaber ergebe sich nämlich erst aus dem Zusammenwirken der konkreten „ausländischen" Anordnung mit dem allgemeinen Befehl zur Zusammenarbeit. Dabei muss sich der deutsche Vorgesetzte, der eine Anweisung auf Zusammenarbeit erteilt, den Anordnungsm/za/r des ausländischen Kameraden gewissermaßen für eine „logische Sekunde" zu eigen machen. Im Gegensatz zu dem Befehl eines deutschen Vorgesetzten führe die „Anweisung auf Zusammenarbeit" zu einem „kombinierten" Befehl, der sich aus dem nationalen Grundbefehl auf Zusammenarbeit und seiner inhaltlichen Konkretisierung durch die Anordnung des ausländischen Befehlshabers zusammensetzt. Dieser aber ist dem deutschen Verteidigungsminister gegenüber nicht verantwortlich. Das konkrete Hierarchiegefüge aus Befehl und Gehorsam werde daher, so die Kritik, unter Rückgriff auf § 7 SG auf eine diffuse Erfüllung allgemeiner dienstlicher Treuepflichten reduziert. 198 Dabei solle der deutsche Untergebene aber freilich nicht im Wortsinne mit seinem ausländischen „Vorgesetzten" zusammenarbeiten, sondern dessen Anordnungen exakt befolgen, ihm also gehorchen. 199 Mit dem Befehl auf Zusammenarbeit trete der deutsche Vorgesetzte einen Teil seiner Befugnisse ab; er nehme - um die Wortwahl des BVerfG zur Übertragung von Hoheitsrechten aufzugreifen 2 0 0 - den ausschließlichen Herrschaftsanspruch deutscher Staatsorgane zugunsten hoheitlicher Anordnungen eines ausländischen Offiziers zurück, und lasse der unmittelbaren Geltung ausländischer Hoheitsgewalt Raum. 201 Insoweit wird die Auffassung vertreten, dass eine Anweisung auf Zusammenarbeit innerhalb gemischtnationaler Verbände eine Weisungsgewalt ausländischer Vorgesetzter gegenüber deutschen Soldaten ohne vorherige Hoheitsrechtsübertragung nicht zu begründen vermag. 202 In der Tat suggeriert die „Anweisung auf Zusammenarbeit" einen Anschein von „Kooperation", wo doch eigentlich die Herstellung eines militärischen Über-Unterordnungsverhältnisses beabsichtigt ist. Indes ist - anders als beim Kooperationsverhältnis zwischen EuGH und BVerfG 203 - die Frage der Letztentscheidungskompetenz klar: Während sich das BVerfG ein „Veto" gegenüber kompetenz- bzw. vertragswidrigem Gemeinschaftsrecht („ausbrechende Hoheitsakte") vorbehalten hat, 2 0 4 bleiben alle nach nationalem Recht bestehenden Befehlsbefugnisse, ins198 Kirchhof, NZWehrR 1998, S. 157. 199 Wassenberg, Eurokorps, S. 168. 200 Vgl. ζ. B. BVerfGE 37, 271 (280); 58,1 (28); 68, 1 (90). 2 °i So mit Blick auf die D/F-Brigade Deiseroth, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 65a, Rdnr. 151. 202 Meinungsführend insoweit Wieland, NZWehrR 1999, S. 136; ders., Die Beteiligung, in: FS Böckenförde, S. 231; kritisch auch Huber, M / K / S , GG, Art. 19 IV, RdNr. 538, Anm. 463.

203 Vgl. dazu BVerfGE 89, 155 -„Maastricht"; zuletzt BVerfG, EuGRZ 2000, 328 „Marktorganisation für Bananen"; zum Kooperationsverhältnis näher Limbach, EuGRZ 2000, S. 418 ff. 204 BVerfGE 89, 155 (188): Würden die europäischen Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die vom Vertrag, wie er dem deut-

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

besondere der full command des Verteidigungsministers (und damit die Letztentscheidungsbefugnis), durch eine „Anweisung auf Zusammenarbeit" unberührt. 205 Ein Recht des ausländischen Offiziers, seine Anordnungen unmittelbar und womöglich gegen den Willen des nationalen Vorgesetzten durchzusetzen, existiert nicht. 206 Anders als bei supranationalem Recht existiert auch keine Suprematie (Anwendungsvorrang) der ausländischen Anordnung. 207 Dies lässt darauf schließen, dass die „Anweisung auf Zusammenarbeit" nicht den nationalen Rechtsraum unmittelbar für ausländische Rechtsakte öffnet, sondern eher nach dem Vorbild eines „Generaltransformators" den ausländischen Anordnungen im innerstaatlichen Rechtsraum Anerkennung verschafft. Die Frage der demokratischen Legitimation „ausländischer" Anordnungen ist damit aber noch nicht vollständig geklärt. Das Problem liegt insbesondere darin, dass die Rechtsfigur der „Anweisung auf Zusammenarbeit" die Befehls- und Kommandogewalt des Verteidigungsministers gewissermaßen „mediatisiert", indem sie die ministerielle Verantwortung (und mit ihr die parlamentarische Kontrolle) auf eine generelle und für den Soldaten inhaltlich zunächst noch unbestimmte „Anweisung" des deutschen Vorgesetzten reduziert. Die konkretisierenden Anordnungen des ausländischen Befehlshabers werden parlamentarisch nicht legitimiert, denn der deutsche Verteidigungsminister kann keine Verantwortung für einen Befehlsinhalt übernehmen, der an einen ausländischen Hoheitsträger „delegiert" und von diesem erst später konkretisiert wird. 2 0 8 Die organisatorisch-personelle Legitimationskette wird durch die Anweisung auf Zusammenarbeit zwar formell nicht durchbrochen, wohl aber materiell im Hinblick auf den Befehlsm/ια/ί „aufgeweicht". Um aber hinreichende organisatorisch-personelle Legitimation zu vermitteln, müsste eine Befehlskette nicht nur in formeller, sondern auch in materieller Hinsicht lückenlos auf den Verteidigungsminister rückführbar sein. Nun sind aber Rechtsfiguren, bei denen ein Rechtsträger einen anderen Rechtsträger (ζ. B. der Bund die Länder oder das Parlament die Exekutive) zur inhaltlichen Ausgestaltung einer bestimmten Vorgabe ermächtigt, in der deutschen Rechtsordnung nicht unbekannt. Auch die Vorstellung eines durch das Parlament vertraglich konsentierten „Integrationsprogramms", das Gegenstand des folgenden Kapitels über die demokratische Legitimation der auswärtigen sehen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt, nicht mehr gedeckt wäre, so wären die hieraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. 205 Wassenberg, Eurokorps, S. 171; Krieger, ZaöRV 2002, S. 681. 206 Vad/Meyers, Multinationals, in: Europäische Sicherheit 1996, S. 38. Davon geht der Grundsatzbefehl zur D/F-Brigade (vom 6. 11. 1989) aus, da bei Nichtausführung von Anordnungen der unmittelbare Vorgesetzte des Anordnungsempfängers benachrichtigt werden muss. 207 Zum Vorrang zwischenstaatlicher Hoheitsrechte vor nationalem Recht vgl. Classen, M / K / S , GG, Art. 241, RdNr. 35 m. w.N. 208 in diese Richtung Fastenrath, in: Geiger (Hrsg.), 2000, Diskussionsbeitrag zum Beitrag von Fleck, S. 182.

Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

Gewalt sein soll, beruht auf dem Gedanken, dass das Parlament mit dem Zustimmungsgesetz zu einem Bündnisvertrag den Integrationsra/imerc vorgibt und die konkrete inhaltliche Ausgestaltung der Exekutive überlässt. 209 Zu gewährleisten ist dann allerdings, dass der so ermächtigte ausländische Offizier sich im Rahmen der Vorgaben und Intentionen des deutschen Offiziers hält, der den Soldaten zur Zusammenarbeit mit ihm angewiesen hat. Im Gegensatz zu den standardisierten Formen abgestufter Befehlsgewalt, die internationalen Befehlshabern übertragen wird, bleibt nun aber die „Anweisung auf Zusammenarbeit" inhaltlich offen. Anordnungen ausländischer Hoheitsträger müssen sich daher (nur) im Rahmen der nationalen Gesetze bewegen und mit dem Integrationsgedanken der Bündnispartner grundsätzlich in Einklang stehen. Dies erfordert zum einen eine enge inhaltliche Abstimmung über die Grundsätze der Stabsarbeit, der Einsatzplanung und -durchführung. Zum anderen muss zwischen den Partnern vertraglich vereinbart werden, dass Anordnungen ausländischer Offiziere an die Soldaten des anderen Anteils deren nationale Rechtsordnung zu beachten haben. Solche „salvatorischen Klauseln" für nationale Rechte (Huber), 210 die in den Vertragsgrundlagen multinationaler Verbände vorgesehen sind, 211 erinnern an den Verfassungsvorbehalt in Art. 11 NATO-Vertrag - sie sollen sicherstellen, dass der Dienstbetrieb nach Maßgabe nationaler Gesetze vollzogen wird. Dementsprechend dürfen die Anordnungen des ausländischen Offiziers nicht gegen Gesetze, Rechtsverordnungen oder Dienstvorschriften (der jeweiligen nationalen Rechtsordnung) verstoßen. 212 Die im Grundsatzbefehl für die D/F-Brigade aufgelisteten Kriterien, nach denen ausländische Anordnungen unverbindlich sind, entsprechen im wesentlichen den „Verbindlichkeitskriterien" für deutsche Befehle gem. § 22 I WStG. Eine Abweichung zur Regelung im deutschen Wehrstrafgesetz liegt jedoch darin, dass Anordnungen auch dann unverbindlich sind, wenn sie gegen deutsche Rechts- und Dienstvorschriften verstoßen und damit nur (schlicht) rechtswidrig sind. Wollte man - wie im deutschen Befehlsrecht - eine Verbindlichkeit auch (schlicht) rechtswidriger Anordnungen annehmen,213 so würde dies Schwierigkeiten bei der Feststellung disziplinar- und schadensersatzrechtlicher Verantwortlichkeiten nach sich ziehen. 214 Im Ergebnis nähert sich die deutsche Position der französischen Rege-

209 Vgl. dazu unten, 3. Kapitel, II. 2. d). 210 Huber, M / K / S , GG, Art. 19IV, RdNr. 538. 211 So Art. 3 Abs. 2 der Verwaltungsvereinbarung vom 2. 11. 1989 und Nr. 3 des Grundsatzbefehls für die D/F-Brigade. 212 Der Grundsatzbefehl für die D/F-Brigade sieht unter Nr. 4 vor, dass eine Anordnung unverbindlich ist, wenn die Menschenwürde verletzt wird, kein dienstlicher Zweck gegeben ist, ein Verstoß gegen Gesetze, Rechtsverordnungen oder Dienstvorschriften vorliegt ( - wobei auf die jeweils nationale Rechtsordnung abgestellt wird, die es zu beachten gilt - ) oder aus besonderen Gründen Unzumutbarkeit vorliegt. 213 Näher dazu Raap, Deutsches Wehrrecht, S. 42 f.

. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

lung an, die in Bezug auf die Befolgungspflicht (schlicht) rechtswidriger Befehle 21 S

weniger streng ist. Eine derart enge Bindung des ausländischen Hoheitsträgers an die nationalen Gesetze und Vorschriften legt den Schluss nahe, dass der ausländische Hoheitsträger eigentlich gar nicht mehr außerhalb der nationalen Befehlskette steht, sondern bereits in diese einbezogen ist und damit im Grunde nicht mehr fremde, sondern nationale Hoheitsgewalt ausübt. Auf dieser Überlegung beruht das im Rahmen der multinationalen Korps praktizierte Prinzip der Eingliederung ausländischer Hoheitsträger.

2. Eingliederung ausländischer Hoheitsträger in den deutschen Befehlsweg Die Eingliederung ausländischer Soldaten in die deutsche Befehls- und Kommandostruktur bei gleichzeitigem Verzicht auf die Übertragung von Hoheitsrechten gehört zu den heute gängigen Gestaltungsprinzipien multinationaler militärischer Integration. Dem liegt die maßgeblich durch Ferdinand Kirchhof geprägte Auffassung zugrunde, dass die Befehlsbefugnis eines Kommandierenden Generals kein Thema völkerrechtlicher Übertragungsakte i. S. d. Art. 241 GG, sondern (nur) des einfachen Dienstrechts sei. Der Kommandierende General eines multinationalen Armeeverbandes besitze nicht das ius belli zur eigenverantwortlichen Betätigung nach seinem Willen, sondern übe staatlich-militärische Befugnisse unter Aufsicht und nach dem Willen der Korps-Staaten aus; er befehle nicht Krieg und Frieden in Ausübung eigener Hoheitsgewalt, sondern setze im Rahmen eines Soldatenverhältnisses als Vorgesetzter eines Verbandes den militärischen Apparat nach fremdem Recht ein. 2 1 6 Kirchhof hat deutlich gemacht, dass sowohl die deutsche Verfassungstradition, das Grundgesetz als auch das einfache Dienstrecht fremde Staatsangehörige in deutschen Dienstverhältnissen und die Unterstellung deutscher Beamten unter fremde Weisungsgewalt anerkennen. 217 Historisch beleuchtet er dazu die im 19. Jahrhundert begründete deutsche Tradition der Kontingentheere, die nach der Paulskirchenverfassung vom 28. 3. 1849 aus Truppen der Einzelstaaten218 und nach der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 214 Ein ausländischer Weisungsgeber könnte sonst einen deutschen Hoheitsträger auf Tätigkeiten verpflichten, die ggf. haftungsrechtliche Folgen für Deutschland nach sich ziehen würden. 215 Während die französischen Soldaten alle offenkundig rechtswidrigen Befehle verweigern müssen und alle sonstigen rechtswidrigen Befehle nicht befolgen brauchen, dürfen in Deutschland nur jene Befehle verweigert werden, deren Befolgung eine Straftat darstellen würde; ansonsten gilt eine allgemeine Vermutung für die Rechtsmäßigkeit eines Befehls. 2 16 Kirchhof NZWehrR 1998, S. 157 ff. 2 17 Kirchhof NZWehrR 1998, S. 159.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

16. 4. 1867 aus landesherrlichen Kontingenten 219 bestanden, dabei jedoch gleichzeitig dem Oberbefehl der Reichs- und Bundesgewalt unterstellt waren. Gleiches galt für die Deutsche Reichsverfassung vom 16. 4. 1871. 220 Die Konstellation der Eingliederung fremder Hoheitsträger in die deutsche Staatsgewalt untersucht Kirchhof anhand der Tätigkeit von deutschen Beamten für ausländische Dienstherren. 221 Das deutsche Dienstrecht erkenne die Tätigkeit deutscher Beamter unter ausländischem Weisungsrecht an und verlange nicht, dass Vorgesetzte deutscher Beamter die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. 222 Unionsbürger könnten (unter Einschränkung von Art. 39 IV EGV) deutsche Beamte werden 223 , und sogar das deutsche Wehrrecht gehe von der Irrelevanz der Staatsangehörigkeit im Soldatenverhältnis aus. 224 Dementsprechend könne auch ein ausländischer Kommandeur staatliche Befugnisse nach Weisungen Dritter im Rahmen des einfachen Dienstrechts wahrnehmen, wofür im deutschen Recht dienstrechtliche Institute der Ernennung, Versetzung, Dienstpostenübertragung oder Planstelleneinweisung zur Verfügung stünden.225 Im Prinzip ist zur Eingliederung eines ausländischen Offiziers in die nationale Befehlskette keine Übertragung von Hoheitsrechten nötig. Die rechtliche Form des Eingliederungsaktes erscheint aber insoweit nicht beliebig, als gewährleistet werden muss, dass die Weisungen des eingegliederten Offiziers im Ergebnis dem deut218 Die Paulskirchen Verfassung von 1849 bestimmte: Der Reichsgewalt steht die gesammte bewaffnete Macht Deutschlands zur Verfügung (§ 11). Das Reichsheer besteht aus der gesammten, zum Zwecke des Krieges bestimmten Landsmacht der einzelnen deutschen Staaten (§ 12 Abs. 1 S. 1). Den Regierungen der einzelnen Staaten bleibt die Ernennung der Befehlshaber und Offiziere ihrer Truppen (...) überlassen. Für die größeren militärischen Ganzen, zu denen Truppen mehrerer Staaten vereinigt sind, ernennt die Reichsgewalt die gemeinschaftlichen Befehlshaber. Für den Krieg ernennt die Reichsgewalt die commandirenden Generale der selbständigen Corps, sowie das Personale der Hauptquartiere (§ 17). Der Kaiser hat die Verfügung über die bewaffnete Macht (§ 83); abgedruckt bei Boldt (Hrsg.), Reich und Länder, Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte, S. 391 ff. 219 Vgl. Art. 63 f. und 66 der Norddt. Bundesverfassung von 1867. 220 Art. 63 der RV von 1871 bestimmte: Die gesamte Landmacht des Reichs wird ein einheitliches Heer bilden, welches in Krieg und Frieden unter dem Befehle des Kaisers steht. (... ) Der Kaiser hat die Pflicht und das Recht, dafür Sorge zu tragen, dass innerhalb des Deutschen Heeres alle Truppentheile vollzählig und kriegstüchtig vorhanden sind (...); abgedruckt bei Boldt (Hrsg.), Reich und Länder, Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte, S. 475 f. 221 Vgl. dazu die Regelungen über die Abordnung deutscher Beamter in öffentliche Einrichtungen des Auslands sowie an über- oder zwischenstaatlich Dienststellen (§§ 17, 123 und 133b I des BRRG und § 27 BBG). 222 Vgl. § 7 Abs. 1 BBG; § 4 Abs. 1 BRRG. Auch Art. 33 GG fordert nicht die deutsche Staatsangehörigkeit für Beamte. 223 Zur Europäisierung des öffentlichen Dienstes vgl. Oppermann, Europarecht, RdNr. 1533 ff. 22 4 Vgl. dazu Art. 12a I GG, § 1 WehrpflG; § 37 SG. 22 5 Kirchhof, NZWehrR 1998, S. 160.

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

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sehen Verteidigungsminister zugerechnet werden können. 226 Dabei gilt es, den Status des ausländischen Hoheitsträgers durch Eingliederung in die nationale Befehlskette soweit zu „neutralisieren", dass die von ihm ausgeübte Hoheitsgewalt letztlich nicht als fremde, sondern als nationale Hoheitsgewalt erscheint. Ein Eingliederungsakt in Gesetzesform erscheint zumindest dann angezeigt, wenn ausländischen Hoheitsträgern innerhalb des deutschen Hoheitsvollzuges weitgehende autonome Handlungs- und Entscheidungsspielräume eingeräumt werden oder besonders grundrechtssensible Bereiche betroffen sind [dazu a)]. Erfolgt die Eingliederung ausländischer Hoheitsträger dagegen nicht durch Gesetz, sondern beruht allein auf einer Zustimmung des deutschen Verteidigungsministers (die in der Aufstellung des multinationalen Verbandes zum Ausdruck kommt), so muss durch spezielle Weisungsorgane gewährleistet sein, dass der ausländische Befehlshaber durchweg unter nationaler Kontrolle des Bundesverteidigungsministers und damit auch des Parlaments steht [dazu b)].

a) Einbeziehung ausländischer Hoheitsträger auf gesetzlicher Grundlage Eine direkte Einbeziehung ausländischer Soldaten in eine deutsche Befehlskette auf gesetzlicher Grundlage wird ζ. B. beim Wachdienst in multinationalen Hauptquartieren praktiziert. Die mit der militärischen Bewachung von Liegenschaften verbundenen (polizeiähnlichen) hoheitlichen Zwangsbefugnisse der Wachsoldaten gegenüber der Allgemeinheit macht die Wache zu einem militärisch und auch grundrechtlich besonders sensiblen Aufgabenfeld. Aus diesen Gründen ist eine besonders klare Befehlsstruktur und Anordnungsbefugnis gegenüber den ausführenden Wachsoldaten notwendig. Der Konflikt zwischen wachdienstlicher und anderweitiger (truppendienstlicher) Unterstellung wird im deutschen Wehrrecht durch eine vollständige rechtliche Herauslösung der Wachsoldaten aus den übrigen Vorgesetzten- und Unterstellungsverhältnissen gelöst. Dadurch wird gewährleistet, dass der Wachsoldat allein auf seinen unmittelbaren Wachvorgesetzten hört. 227 Nationale Rechtsgrundlage zur Abwehr von Störungen und Angriffen nicht kombattanter Art auf Einrichtungen der Bundeswehr ist das Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges und die Ausübung besonderer Befugnisse durch Soldaten der Bundeswehr und verbündeter Streitkräfte sowie ziviler Wachpersonen (UZwGBw). 228 Da die einseitige Erfüllung von Wach- und Sicherheitsaufgaben jedoch der Forderung nach vertiefter Integration zuwiderliefe, wurde in Art. 10 der D/NL-Korpskonvention statuiert, dass binational genutzte Einrichtungen oder 226 Insoweit zweifelnd Wieland, NZWehrR 1999, S. 138. 227 Fleck, Befehls- und Kommandogewalt, in: Geiger (Hrsg.), 2000, Diskussionsbeitrag, S. 179. Gem. § 3 VorgV weicht die Unterstellung eines Soldaten „in besonderem Aufgabenbereich" (Wache) von der truppendienstlichen Unterstellung ab. 228 UZwGBw vom 12. 7. 1965, BGBl. 1965 I, S. 796. 6 Schmidt-Radefeldt

1. Teil: Parlamentarische Legitimations Vermittlung im Integrationsprozess

Liegenschaften durch binationale Wachen bewacht werden, soweit die Wachsoldaten des Entsendestaates die gleichen Befugnisse wie die Wachsoldaten des Aufnahmestaates haben. Binationale Wachen unterstehen im Wachdienst ausschließlich den Wachvorgesetzten des Aufnahmestaats. Da die im UZwGBw enthaltenen Eingriffsbefugnisse gem. § 1 dieses Gesetzes nicht auf Soldaten verbündeter Streitkräfte übertragen werden konnten, 229 hat der Bundestag zusammen mit der Ratifikation der Korpskonvention eine Änderung des UZwGBw beschlossen,230 dessen § 1 I I jetzt lautet: Soldaten verbündeter Streitkräfte, die im Einzelfall mit der Wahrnehmung militärischer Wach- oder Sicherheitsaufgaben betraut werden können, unterstehen vom Bundesminister der Verteidigung bestimmten und diesem für die Wahrnehmung des Wach- und Sicherheitsdienstes verantwortlichen Vorgesetzten; sie können dann die Befugnisse nach diesem Gesetz ausüben.

Die Gesetzesänderung ermöglicht es, in Deutschland auch ausländischen Soldaten die erforderlichen Zwangsbefugnisse im Wach- oder Sicherheitsdienst zu übertragen und zusammen mit den Bundeswehrsoldaten an diesen Aufgaben zu beteiligen. Legitimierend wirkt sich überdies der Umstand aus, dass die Übertragung von Wachaufgaben dem Vorbehalt verbürgter Gegenseitigkeit unterliegt231

aa) Unterstellungsverhältnisse Zur Vermeidung befehlsrechtlicher Konfliktsituationen in grundrechtssensiblen Bereichen bestimmt Art. 10 Abs. 2 D/NL-Korpskonvention, dass binationale Wachen im Wachdienst ausschließlich den Wachvorgesetzten des Aufnahmestaates unterstehen. Insbesondere das Wort „ausschließlich" deutet klar auf eine Suspendierung anderweitiger nationaler Unterstellungsverhältnisse hin. Indes ist eine vollständige rechtliche Herauslösung der Wachsoldaten aus den übrigen (insbesondere truppendienstlichen) Unterstellungsverhältnissen nach Vorbild der deutschen Rechtslage im binationalen Verband grundsätzlich nicht realisierbar, weil jeder Vertragsstaat an einem Fortbestehen der truppendienstlichen Unterstellung interessiert ist. Um den full command des deutschen Verteidigungsministers zu gewährleisten, muss die (nationale) truppendienstliche Unterstellung des in den Niederlanden eingesetzten deutschen Soldaten erhalten bleiben. Gleiches gilt für das Recht des Verteidigungsministers, Soldaten der Bundeswehr aus dem gemein229 Denkschrift zum Vertragsgesetz über das D/NL-Korps, BRats-Drs. 67/89, S. 7. Nach der herrschenden Auffassung konnten fehlende hoheitliche Eingriffsbefugnisse auch nicht durch einen Rückgriff auf die Vorschriften über die private Nothilfe geschaffen werden (dazu Kirchhof NJW 1978, S. 969). 230 BGBl. 1998 I, S. 2405. 231 Vgl. Fernschreiben des BMVg zur ZDv 14/9 (AusfBest - UzwGBw); zitiert in NZWehrR 2002, S. 181, Anm. 30.

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

samen Wachdienst in den Niederlanden jederzeit zurückzurufen. 232 Nach der 1998 in Kraft getretenen Neufassung der deutschen Wachdienstvorschrift haben ausschließlich Wachvorgesetzte eine Befehls-/Weisungsbefugnis gegenüber Wachpersonen in Bezug auf den Wachdienst. Sonstige Befehle und Weisungen sollen, um die Erfüllung des Wachauftrages nicht zu beeinträchtigen, nur in Absprache mit Wachvorgesetzten erteilt werden. 233 Nach dieser Regelung besteht die Befehlsbefugnis von truppendienstlichen Vorgesetzen grundsätzlich weiter; ihre Ausübung soll allerdings nicht zur Beeinträchtigung des Wachauftrages oder zur Herbeiführung einer Konfliktsituation angesichts einander widersprechender Befehle führen. Zu diesem Zweck werden Wachsoldaten nicht mehr vollständig, sondern nur noch zeitlich und funktional aus ihren nationalen Unterstellungsverhältnissen herausgelöst. 234 Umgekehrt wird auch die Unterstellung des Wachsoldaten unter den Wachvorgesetzten des Aufnahmestaates durch Art. 10 Abs. 2 der D / N L KorpsKonvention funktional begrenzt. Die Unterstellung gilt danach nicht für das Aufgabenfeld des „Wachdienstes" schlechthin, sondern nur funktional „für die Zeit der konkreten Ausübung des Wachdienstes." Dies kommt im deutschen Vertragstext mit der Wendung „im Wachdienst" nur unzureichend zum Ausdruck, während es im englischen Vertragstext insoweit deutlicher heißt: For the execution of their guard duties binational guards are exclusively subordinated to the competent superior guard authorities of the receiving State.

bb) Ausübung von Hoheitsgewalt Für die gemeinsame (binationale) Wache ist sichergestellt, dass es in Deutschland nur deutsche, in den Niederlanden nur niederländische Wachvorgesetzte (wachhabende Offiziere) gibt. Ein ausländischer Wachsoldat unterliegt insoweit ausschließlich der Weisungsbefugnis des Aufenthaltsstaates, die in Deutschland durch einen vom Bundesverteidigungsminister bestimmten und ihm verantwortlichen Wachvorgesetzten ausgeübt wird. Der auf deutschem Territorium eingesetzte niederländische Soldat wird daher nicht als Organ seiner eigenen Streitkräfte, sondern allein nach Weisung eines deutschen Wachvorgesetzten tätig. Das Handeln ist als Ausübung (abgeleiteter) deutscher Hoheitsgewalt zu qualifizieren. 235 Mit Blick auf die im Wachdienst ausgeübte Polizei- und Zwangsgewalt wird dadurch gewährleistet, dass bei der Bewachung binationaler Einrichtungen in Deutschland 232 Fleck, Befehls- und Kommandogewalt, in: Geiger (Hrsg.), 2000, S. 175. 233 ZDv 10/6 „Der Wachdienst in der Bundeswehr" Nr. 211. Mit Blick auf die binationalen Korps spricht diese Vorschrift bereits alternativ von Befehlen /Weisungen, um klarzumachen, dass deutsche Wachsoldaten in den Niederlanden keine „Befehle" (im Rechtssinne) von niederländischen Wachvorgesetzten erteilt bekommen, sondern ausschließlich „Weisungen". 234 Denkschrift zum Vertragsgesetz über die Ratifizierung der D / N L Korpskonvention, BT-Drs. 13/10117, S. 7. 235 BT-Drs. 13/10117, S. 7. 6*

1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

ausschließlich deutsche Hoheitsgewalt und bei der Bewachung binationaler Einrichtungen in den Niederlanden ausschließlich niederländische Hoheitsgewalt ausgeübt wird. 2 3 6 Dabei wurde ausgeschlossen, dass der auf deutschem Territorium diensttuende niederländische Wachsoldat Zuständigkeiten eines wachhabenden Offiziers übertragen bekommt, weil anderenfalls im Wachdienst befindliche niederländische Soldaten zu „Vorgesetzten im Rechtssinne" von deutscher Soldaten im Wachdienst geworden wären. 237 Diese „wachinterne" Regelung schließt jedoch nicht aus, dass der niederländische Wachsoldat, der ja (abgeleitete) deutsche Hoheitsgewalt ausübt, die gleichen Befugnisse wie sein deutscher Kamerad besitzt und deshalb gegenüber allen anderen nicht zur Wache gehörenden deutschen Soldaten auch weisungsbefugt ist. 2 3 8 Das dazu erforderliche Über- und Unterordnungsverhältnis lässt sich jedoch nicht aus dem Recht der D / NL-Korpskonvention, sondern allenfalls aus dem geänderten UZwGBw ableiten. Macht sich der Wachsoldat - was in der Praxis allerdings selten vorkommt - einer Wehrstraftat im Wachdienst schuldig, fällt die strafrechtliche Ahndung in die Zuständigkeit des nationalen Wehrstraforgans. Eine vorläufige Festnahme von Angehörigen militärischer Wachen, gleich welcher Nation, dürfte nach deutschem Recht nur durch den jeweiligen Wachvorgesetzten erfolgen (§17 Abs. 3 WDO), weil angesichts der ohnehin geringen Wachstärken ansonsten unkontrollierbare Beeinträchtigungen in der Aufgabenwahrnehmung zu befürchten sind. 239 Ungehorsam eines deutschen Wachsoldaten gegenüber einem niederländischen Wachvorgesetzten bei einer binationalen Wache in Holland wäre jedoch keine Wehrstraftat i. S. d. § 19 WStG, sondern nur ein disziplinarisches Dienstvergehen, da der niederländische Offizier keine „Befehle" im Rechtssinne erteilt.

In der Internationalisierung des deutschen Wehrrechts ist die Änderung des UZwGBw ein bedeutender Schritt. Erstmals nehmen Angehörige verbündeter Streitkräfte im Wege der „Organleihe" (Stein) auf einfachgesetzlicher Grundlage deutsche Hoheitsrechte wahr, ohne dass zuvor eine Hoheitsrechtsübertragung nach Maßgabe von Art. 24 I GG stattgefunden hat. 2 4 0 Die parlamentarische Beteiligung in Gesetzesform erscheint dabei vor allem wegen der Wahrnehmung grundrechtssensibler Tätigkeiten durch ausländische Hoheitsträger notwendig. Mit Blick auf Art. 33 IV GG ist aber auch die gleichzeitige Eingliederung des ausländischen 236 Fleck, Befehls- und Kommandogewalt, in: Geiger (Hrsg.), 2000, S. 175 sowie Diskussionsbeitrag S. 179. 237 Peterson, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Fragestellungen, S. 59. 238 Dies ergibt sich daraus, dass gem. § 3 VorgV jeder Wachsoldat zugleich „Vorgesetzter mit besonderem Aufgabenbereich" gegenüber allen anderen (Nicht-Wach)soldaten ist. § 3 VorgV lautet: „Ein Soldat, dem nach seiner Dienststellung ein besonderer Aufgabenbereich zugewiesen ist, hat im Dienst die Befugnis, anderen Soldaten Befehle zu erteilen, die zur Erfüllung seiner Aufgabe notwendig sind. Wenn sich dies aus seinem Aufgabenbereich ergibt, hat er Befehlsbefugnis auch gegenüber Soldaten, die sich nicht im Dienst befinden. " Dadurch ist auch der niederländische Wachsoldat gem. § 1 Abs. 5 SG Vorgesetzter im Rechtssinne, da er befugt ist, einem Soldaten Befehle zu erteilen. 239

Peterson, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Fragestellungen, S. 61. 40 Dau, in: Truppenpraxis/ Wehrausbildung 1999, S. 221.

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2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

Wachsoldaten in die deutsche Befehlskette und seine Unterstellung unter einen deutschen Wachvorgesetzten angezeigt.

b) Einbeziehung ausländischer Hoheitsträger auf der Grundlage einer institutionalisierten Bündelung nationaler Befehlsgewalt Anknüpfend an das Regelungskonzept der binationalen Wache wurde für das Multinationale Korps Nordost durch „Bündelung von Befehlsgewalt" sichergestellt, dass der Kommandierende General in die nationalen Befehlsketten der drei Korpsstaaten einbezogen ist und die nationalen Kontingente entsprechend nationalem Recht einsetzt. Die Denkschrift zum Multinationalen Korps Nordost geht davon aus, dass weder durch die Stettiner Korpskonvention noch durch die Organisationsvereinbarung militärische Kommandogewalt in der Weise auf einen ausländischen Kommandierenden General übertragen wurde, dass dieser ohne Zustimmung entsprechender nationaler Stellen Regelungen treffen könnte, die für die jeweiligen nationalen Streitkräftekontingente (innerstaatlich) verbindlich sind. 241 Während der Wachsoldat auf seine unmittelbaren Wachvorgesetzten hört, wird der Kommandierende General als ranghöchster Offizier des Korps anderweitig in die nationale Befehlskette eingebunden. Dazu erhält er seine Weisungen von einem multinationalen Korps-Ausschuss, der seine Verantwortung gemeinsam ausübt, nationale Weisungen als Teil nationaler Befehlsgewalt bündelt und an den Kommandierenden General zur Ausführung weitergibt. 242 Gem. Art. 6 der Organisationsvereinbarung zum MNK-NO erfasst die institutionalisierte Weisungsbefugnis des Korps-Ausschusses gegenüber dem Korps ganz generell den Bereich von tasks and missions of the Corps as stated in the Convention and the Agreement. Ein solches multinational besetztes und turnusmäßig auf der Ebene von Heeresinspekteuren zusammentretendes Weisungs- und Kontrollgremium ist kein Novum. Dem NATO-Militärausschuss strukturell nachgebildet, gewährleistet das Kollegialorgan eine externe militärpolitische Kontrolle des Korps und erleichtert die nationale Rückbindung an die jeweiligen Ministerien. Dem Primat der Politik entsprechend werden in einem solchen Ausschuss Entscheidungen der Verteidigungsminister vorbereitet, politische Vorgaben in militärische Weisungen umgesetzt und eine konsensual abgestimmte Kontrolle der Stabsebene gewährleistet. 243 Der gem. Art. 5 der Organisationsvereinbarung zum MNK-NO eingesetzte KorpsAusschuss (Corps-Committee ) dient der Abstimmung und Koordination zwischen den Mitgliedstaaten und setzt sich paritätisch aus je einem Vertreter der Verteidigungsministerien zusammen (Art. 5 Abs. 3 der Organisationsvereinbarung zum 241

Vgl. Denkschrift zum Stettiner Korps-Übereinkommen (Korps-Konvention), BT-Drs. 14/1103, S. 15. 242 Dau, in: Truppenpraxis / Wehrausb. 1999, S. 222. 243 Wassenberg, Eurokorps, S. 204.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

MNK-NO). Gegenüber dem Korpsstab und dem Kommandierenden General hat der Korps-Ausschuss als vorgesetzte Dienststelle 244 eine umfassende Weisungsund Kontrollbefugnis, die sich auf alle Aufgaben des Korps erstreckt, sofern nicht die Kompetenz der NATO-Kommandobehörden berührt ist. 2 4 5 Im Rahmen des Eurokorps hat ein aus zwei Repräsentanten pro Teilnehmerstaat 246 zusammengesetztes Gemeinsames Komitee den Auftrag, die Entscheidungen der Regierungen vorzubereiten, diese (militärisch) umzusetzen und mittels Weisung an den Kommandierenden General des Eurokorps durchzuführen. 247 Entschieden wird - wie auf gouvernementaler Ebene üblich - nach dem Konsensprinzip, so dass bei allen relevanten Fragen Einstimmigkeit zwischen den Korps-Nationen hergestellt werden muss. 248

aa) Entscheidungsstrukturen in multinationalen Kollegialorganen Die Bündelung nationaler Befehlsgewalt der Teilnehmerstaaten des Korps soll die Weisungen des Kommandierenden Generals an die ihm unterstellten Soldaten „nationalisieren". In dem paritätisch besetzten Korps-Ausschuss ist dabei die Überstimmung einer Nation durch die anderen Korps-Staaten ausgeschlossen, so dass Weisungen immer einvernehmlich im Konsens erteilt werden. 249 Art. 65a GG schließt insoweit nicht aus, dass im Rahmen eines multinationalen Korps die anderen Entsendestaaten zeitgleich in einer parallelen Hierarchie ebenfalls ihre nationale Befehlsgewalt ausüben.250 Jedoch dürfen die Befugnisse des deutschen Ministers durch die „gemeinsame Weisung" nicht aufgegeben, beschränkt oder mediatisiert werden. Die Einstimmigkeit im Korps-Ausschuss stellt in diesem Zusammenhang sicher, dass Weisungen an das Korps, die vom Kommandierenden General ausgeführt werden, für den jeweiligen Empfänger zugleich nationale Weisungen sind und von den nationalen Streitkräftekontingenten als nationale Weisungen angesehen werden. 251 Nicht praktiziert werden daher Entscheidungsprozesse nach dem Mehrheitsprinzip, bei denen die beteiligten Staaten den deutschen Verteidigungsminister im Korps-Ausschuss überstimmen könnten; nicht vorgesehen ist ein System des wechselnden Vorsitzes oder gar die Möglichkeit, bei Meinungsverschiedenheiten einer dritten Stelle die Letztentscheidung einzuräumen. Ein sol244 Hasenkamp, in: Truppenpraxis/Wehrausb. 1998, S. 704. 245 Art. 5 Abs. 2 der Organisationsvereinbarung zum MNK-NO. 246 Abgesandt werden die politischen Direktoren der Außenämter sowie die Generalstabschefs bzw. der Generalinspekteur der Bundeswehr. 247 Art. 2.1. und 2.2.1. Rochelle-Bericht. 248 Wassenberg, Eurokorps, S. 204; Geiger, Rahmenbedingungen, S. 139. 249 Kirchhof, NZWehrR 1998, S. 160. 250 Kirchhof, NZWehrR 1998, S. 154. 251 Vgl. Denkschrift zum Stettiner Korps-Übereinkommen (Korps-Konvention), BT-Drs. 14/1103, S. 15; Fleck, Befehls- und Kommandogewalt, in: Geiger (2000), S. 174.

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

ches Prozedere schließt die Stettiner Korpskonvention explizit aus, wenn sie in Art. 19 festschreibt, dass jede Streitigkeit durch Verhandlungen zwischen den Vertragsparteien beigelegt und nicht an Dritte verwiesen wird.

bb) Demokratische Legitimation von Kollegialentscheidungen Trotz Einstimmigkeitsprinzip leiden die Entscheidungsstrukturen multinationaler Kollegialorgane, bei denen die Entscheidungsmacht - im Gegensatz zu (monokratischen) Staatsorganen - in den Händen mehrerer Entscheidungsträger unterschiedlicher Nationalität liegt, an einem prinzipiellen, kaum vermeidbaren demokratischen Legitimationsdefizit. 252 In multinationalen Kollegialorganen sind zwar sämtliche entscheidungsberechtigte Mitglieder für sich genommen demokratisch legitimiert; sie führen ihre Legitimation jedoch nicht auf ein und dasselbe Legitimationssubjekt - nämlich den nationalen Souverän 253 - zurück. Jeder nationale Vertreter kann sich zwar auf das Staatsvolk als Legitimationssubjekt berufen; mit Blick auf Art. 20 I I GG stellen die einzelnen europäischen Völker jedoch verschiedene Legitimationssubjekte dar. 254 Aus Sicht des Grundgesetzes sind die ausländischen Mitglieder des Kollegialorgans nicht ausreichend demokratisch legitimiert, weil das Votum eines ausländischen Mitglieds für sich genommen nicht parlamentarisch verantwortet werden kann. Dank dem Einstimmigkeitsprinzip kommen Entscheidungen an die nachgeordneten nationalen Organe nur mit der Stimme des nationalen Vertreters im Korps-Ausschuss zustande, so dass sichergestellt wird, dass jede positive Entscheidung auch durch den nationalen Vertreter demokratisch legitimiert ist. Die Rückführung von Kollegialentscheidungen auf den Willen des nationalen Souveräns ist jedoch nur dann vollständig gewährleistet, wenn die nationalen Mitglieder von Kollegialorganen über die Möglichkeit verfügen, sowohl Entscheidungen zu verhindern, als auch diese herbeizufuhren. Das'bedeutet, dass die Mitwirkung ausländischer Mitglieder an der Entscheidung des Kollegialorgans die Möglichkeit der demokratisch legitimierten nationalen Mitglieder nicht beeinträchtigen darf, im Konfliktfall ihre Auffassung durchzusetzen. Das Demokratieprinzip gebietet also nicht nur eine negative Entscheidungsbefugnis im Sinne einer Vetoposition - Böckenförde spricht in diesem Zusammenhang von „Entscheidungsverhinderungsbefugnis" 255 - , sondern darüber hinaus auch eine positive Entscheidungsbefugnis. 256 Der Grundsatz, dass alle (Staats-)gewalt (und auch jede Form suprana252 Grundlegend dazu Brosius-Gersdorf, Deutsche Bundesbank und Demokratieprinzip, S. 76 ff. (84 f.) über Kollegialorgane als „Problemfall demokratischer Legitimation". 2 53 Gem. Art. 20 Π GG also das Deutsche Volk, vgl. BVerfGE 83, 37 (50 f.); Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 20, RdNr. 27 f. 254

So Brosius-Gersdorf, Deutsche Bundesbank, S. 85. 55 Böckenförde, HBdStR Bd. I, § 22, RdNr. 19. 2 56 Brosius-Gersdorf, EuR 1999, S. 137. 2

1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

tionaler Gewalt) vom Volke auszugehen hat, ist insoweit nicht als „Behinderungs-", sondern als „Mitwirkungsgrundsatz" gemeint, der das aktive Handeln aller Staatsorgane bestimmen muss. Dazu ist das Einstimmigkeitsprinzip zwar eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung, da nicht sichergestellt werden kann, dass die nationalen Vertreter eines Kollegialorgans Entscheidungen unabhängig von dem Willen der ausländischen Mitglieder zustande bringen können, sie also stets über die erforderliche positive Entscheidungsbefugnis verfügen. Vor diesem Hintergrund erscheint die demokratische Legitimation der multinationalen Korps-Ausschüsse im Hinblick auf die positive Entscheidungsbefugnis defizitär, während sie im Sinne einer (negativen) Entscheidungsverhinderungsbefugnis demokratischen Ansprüchen genügt. Gleichwohl ist die institutionalisierte Form der Bündelung nationaler Hoheitsgewalt nicht allein deswegen verfassungswidrig. Die Korpskonventionen sehen nämlich keineswegs vor, dass der Korps-Ausschuss rechtlich die einzig zulässige Form der Ausübung von Weisungsgewalt gegenüber den nationalen Anteilen des Korps sein soll. Das bedeutet in der Praxis, dass der Verteidigungsminister die nationalen Anteile jederzeit in seinem Sinne anweisen könnte, ohne dass dafür im Korps-Ausschusses Einstimmigkeit erzielt werden müsste. Nationale Weisungen „am Korps-Ausschuss vorbei" bleiben damit rechtlich weiterhin möglich, selbst wenn sie dem Integrationsgedanken abträglich sind. Auch der Kommandierende General, der ja nach Vorstellung des Bündelungskonzepts idealiter als multinationaler „Katalysator" gegenüber den nationalen Anteilen im Korps fungiert, ist prinzipiell dem Kollegialorgan verantwortlich; 2 5 7 er verliert jedoch weder seine nationale truppendienstliche Unterstellung, noch wird er zum „Organ" oder „Sprachrohr" des multinationalen KorpsAusschusses. Ein solcher Ausschuss soll die militärische Integration innerhalb des Korps erleichtern und multinational abgestimmte Weisungen ermöglichen, ohne dabei jedoch supranationale Entscheidungsgewalt auszuüben. Die Entsendestaaten haben die (nationale) Weisungsgebundenheit ihrer multinational integrierten Soldaten insoweit nicht zugunsten eines Kollegialorgans aufgegeben. Solange es möglich bleibt, den nationalen Anteilen des Korps unabhängig vom Korps-Ausschuss auf „direktem" Wege Weisungen zu erteilen, lässt sich das strukturelle Legitimationsdefizit kollegialer Entscheidungsstrukturen (in Bezug auf die positive Entscheidungsbefugnis der nationalen Vertreter) gewissermaßen „umgehen" - nicht aber beseitigen. Einmal mehr wird hier der Grundsatz der nationalen Letztverantwortung bemüht: Ähnlich wie beim transfer of authority muss letztlich die (rechtliche) Reversibilität des Integrationsprozesses legitimationsstiftende Wirkung entfalten. Lässt sich nun aber das Legitimationsdefizit multinationaler Kollegialorgane allein auf Kosten des Integrationsgedankens („am Korps-Ausschuss vorbei") beheben, so erscheint ein Legitimationsdilemma unausweichlich: Denn die Einglie257 Wassenberg, Eurokorps, S. 208 m. w. N. (Anm. 819).

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

derung ausländischer Kommandeure in eine lückenlose nationale Befehlskette beruht ja gerade darauf, dass der Kommandierende General ausschließlich gebündelte Weisungen des Korps-Ausschusses empfängt; seine Weisungen an die nachgeordneten nationalen Anteile müssen sich m.a.W. zweifelsfrei auf den gemeinsamen Korps-Ausschuss (und den nationalen Vertreter) zurückführen lassen. Ist dies nicht möglich, so sind die Weisungen eines ausländischen Kommandeurs aus Sicht der deutschen Anteile keine (gebündelten) deutschen Weisungen, sondern eben ausländische Weisungen. In solchen Fällen käme es dann auf ergänzende nationale Weisungen an, 2 5 8 wobei auf das Konzept der „Anweisung auf Zusammenarbeit" zurückgegriffen werden kann. Die Bündelung nationaler Befehlsgewalt durch ein multinationales Kollegialorgan erscheint damit zwar als notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für die demokratische Legitimation von multinationalen Befehlsstrukturen. Das aufgezeigte Legitimationsdilemma lässt Defizite des Bündelungskonzeptes deutlich werden, die sich im Ergebnis kaum vermeiden lassen.

c) Loyalitätsdilemma Die Eingliederung eines ausländischen Hoheitsträgers in den deutschen Befehlsweg bewirkt, dass er im Rahmen und für die Dauer seiner Dienststellung neben seinem eigenen (ausländischen) Soldatenverhältnis, das durch die Eingliederung nicht suspendiert wird, zugleich der deutschen Befehlsgewalt verpflichtet wird. Dies beinhaltet für ihn vor allem die Pflicht, Weisungen nur im Einvernehmen mit dem deutschen Verteidigungsminister bzw. dem Korps-Ausschuss zu erteilen. 259 Die Rechtsmacht des ausländischen Hoheitsträgers, deutschen Soldaten Anweisungen zu erteilen, ergibt sich daher aus seinem heimatlichen Amtsstatus in Verbindung mit der Zustimmung des Bundesverteidigungsministers zu seiner Eingliederung in die nationale Befehlskette. Hierin gleicht die Eingliederungskonzeption der strukturell zweistufigen „Anweisung auf Zusammenarbeit", bei der sich die Anordnungsgewalt eines ausländischen Hoheitsträgers gegenüber nationalen Untergebenen ebenfalls aus zwei Komponenten zusammensetzt. Aus der Sicht des ausländischen Hoheitsträgers wird indes kein neues Soldatenverhältnis, sondern nur ein an den Dienstposten gebundenes Über- und Unterordnungsverhältnis im Verhältnis zu deutschen Hoheitsträgern begründet. Die daraus resultierende Pflicht eines ausländischen Hoheitsträgers zur Beachtung mehrerer Rechtsordnungen - neben dem eigenen Soldatenverhältnis auch noch das Recht des Staates, in dessen nationalen Befehlsweg er eingegliedert ist - erscheint aus der Perspektive der nationalen Rechtsordnung weder ungewöhnlich noch verfassungswidrig. 2 6 0

258 Fleck, Befehls- und Kommandogewalt, in: Geiger (2000), S. 175. 259 Kirchhof, NZWehrR 1998, S. 160.

0 1 .

Teil: Parlamentarische Legitimations Vermittlung im Integrationsprozess

Die internationale Integration von Streitkräften zeichnet sich besonders dadurch aus, dass sie unter Aufrechterhaltung klarer Befehlsverhältnisse gleichsam die Möglichkeit zur Einbindung militärischer Funktionsträger in verschiedene Befehlswege, Rechtsebenen und Rechtsordnungen eröffnet. Die Integration nationaler Funktionsträger in andere (internationale) Befehlswege lässt sich daher mit George Scelles Lehre von der „funktionellen Verdoppelung" (dédoublement fonctionnel) beschreiben, die im Grundsatz besagt, dass staatliche Organe die doppelte Aufgabe erfüllen müssen, dem staatlichen Recht zu dienen und dabei zugleich das Völkerrecht zu berücksichtigen. 261 „Prominentestes" Beispiel einer militärisch-funktionellen Verdoppelung ist der NATO-Oberbefehlshaber für den Kommandobereich Europa (Supreme Allied Commander Europe , SACEUR), der traditionell als amerikanischer General in Personalunion sowohl in die NATO-Befehlshierarchie als auch in die US-amerikanische Befehlshierarchie eingebunden ist: 2 6 2 Als NATOBefehlshaber ist er den Weisungen des NATO-Militärausschusses unterworfen; als Oberkommandierender der US-Streitkräfte in Europa (Commander in-Chief Europe CINCEUR) ist er letztlich dem U.S.-Präsidenten (als Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte) verantwortlich. Die Lehre vom dédoublement fonctionnel kann indes nur die Ersetzung fehlender (eigener) Organe und damit die Doppelstellung militärischer Funktionsträger erklären, 263 nicht jedoch die aus der (militärischen) Doppel(unter)stellung resultierenden potentiellen Loyalitätskonflikte zwischen den Rechtsordnungen lösen. Im Falle widersprechender Weisungen lassen sich etwaige Loyalitätskonflikte eines (in den nationalen Befehlsweg eingegliederten) ausländischen Hoheitsträgers kaum durch eine Vorrangregel - etwa nach Vorbild des Europäischen Beamtenstatuts 2 6 4 - lösen: Für den ausländischen Partnerstaat wäre es nämlich nicht hinnehmbar, dass ein Offizier im Konfliktfall nicht mehr den eigenen Vorgesetzten gegenüber verantwortlich sein soll; andererseits ist ein prinzipieller Loyalitätsvorrang 260 Dazu näher Kirchhof NZWehrR 1998, S. 160 f. Der mehrgliedrige Staatsaufbau bringt es mit sich, dass nicht nur die Landesverwaltung (bei der Ausführung von Bundesgesetzen) sondern auch bestimmte Hoheitsträger (in Doppelfunktion) sowohl Bundes- als auch Landesrecht berücksichtigen müssen. 261 Scelle , Précis de droit des gens, S. 42; ders., in: FS Wehberg, S. 324 ff., zitiert bei Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, § 46; Rauser Übertragung, S. 190. Nach dieser Lehre sei ein Vollzug völkerrechtlicher Normen auch dadurch möglich, dass staatliche Organe ihre Funktion verdoppeln, je nachdem, ob sie in Erledigung rein staatlicher Kompetenzen tätig werden, oder Befugnisse internationalen Ursprungs wahrnähmen. Die entsprechenden Organe handelten also, wenn notwendig, gleichzeitig als Organe der staatlichen und der internationalen Rechtsordnung. 262 BVerfGE 68, 1 (93); Rauser, Übertragung, S. 189; Gerber, Die Bundeswehr, S. 32; Tolusch, Verpflichtungen, S. 28. 263 So Rauser, Übertragung, S. 191. 264 § 11 Abs. 1 des Statuts fordert von nationalen Beamten, die zur Europäischen Gemeinschaft entsandt wurden, ohne jedoch dabei aus ihrem nationalen Dienstverhältnis bzw. aus der Personalhoheit ihres Heimatstaates entlassen worden zu sein, einen absoluten Vorrang der Loyalität zur Gemeinschaft; vgl. dazu Oppermann, Europarecht, § 9, RdNr. 795.

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

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eines Offiziers gegenüber seinem jeweiligen Heimatstaat mit dem Gedanken der militärischen Integration im Allgemeinen und dem Eingliederungskonzept im Besonderen nur schwerlich vereinbar. 265 Eine Beeinträchtigung der demokratischen Verantwortlichkeit eines Offiziers gegenüber seinem Verteidigungsminister erscheint damit in beiden Fällen unausweichlich. Aus diesen Gründen würde eine einfache Vorrangregel alleine nicht weiterführen, sondern müsste im Grunde durch ein einheitliches Dienstrecht für gemischtnationale Verbände ergänzt werden. 266 Ein solches „Sonderdienstrecht" wäre jedoch mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG nicht unproblematisch. Im Ergebnis lässt sich daher bezweifeln, ob ein dienstrechtlicher Eingliederungsakt unterhalb der verfassungsrechtlichen Kautelen des Art. 241 GG für die Internationalisierung der Befehls- und Kommandogewalt der richtige Weg ist. Mit nationalen dienstrechtlichen Zuweisungsakten werden zwar die innerstaatlichen Voraussetzungen für die Eingliederung ausländischer Vorgesetzter in die deutsche Befehls- und Kommandostruktur geschaffen; ausgespart bleiben indes die völkerrechtlichen Voraussetzungen für eine Zustimmung des Partnerstaates, die gewährleisten soll, dass ein (ausländischer) Offizier auch im Konfliktfall dem deutschen Verteidigungsminister gegenüber verantwortlich bleibt. Die dargelegten Schwächen des Eingliederungskonzeptes erinnern insoweit an die Pershing-Entscheidung des BVerfG. Hier hatte das Gericht in Ermangelung eines geeigneten Adressaten für eine Hoheitsrechtsübertragung nach Art. 24 I GG kurzerhand den amerikanischen Präsidenten „(jedenfalls aus verfassungsrechtlicher Sicht als besonderes Organ des Bündnisses" bezeichnet und die Auffassung vertreten, dass die nukleare Freigabeentscheidung der NATO zuzurechnen sei. Wie seinerzeit im Grundlagenvertragsurteil 267 versuchte das Gericht, internationale Vorgänge in Übereinstimmung mit dem nationalen Recht zu bringen, ohne sich dabei zu fragen, inwieweit das Auslegungsergebnis dem anderen Partner entgegengehalten werden kann. 268 Ähnliches zeigt sich nun auch bei multinationalen Befehlsstrukturen. Diese werden für die Praxis durch bestimmte Konstruktionen rechtlich abgesichert, weil der Weg über Art. 24 I GG aus politischen („keine Übertragung von Hoheitsgewalt im Verteidigungsbereich") oder verfassungsrechtlichen Gründen („keine Übertragung von Hoheitsrechten auf andere Staaten") versperrt ist. Inwieweit aber solche juristischen Konstruktionen im Konfliktfall mit dem Rechtsverständnis bzw. dem politischen Willen der Partnerstaaten konform gehen, bleibt offen.

265 Wieland, NZWehrR 1999, S. 141. 266 in diese Richtung Kirchhof, NZWehrR 1998, S. 160. 267 BVerfGE 1, 351. 268 Kritisch insoweit Bryde, Jura 1986, S. 368. Im Nachrüstungsfall lässt sich jedenfalls völkerrechtlich nicht begründen, dass das Bündnis selbst über die atomare Entscheidungsgewalt verfügt.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimations Vermittlung im Integrationsprozess 3. Multinationale Befehlsinstitute

Unter dem Blickwinkel des Demokratieprinzips besonders fragwürdig sind „multinationale Befehlsinstitute", wie sie i m Deutsch-Niederländischen Korps als Ausdruck einer vertieften Integration praktiziert werden.

a) Substanzminderung nationaler Befehlsgewalt durch die „integrierte Weisungs- und Kontrollbefugnis" Das Befehlsinstitut der „integrierten Weisungs- und Kontrollbefugnis" (integrated directing and control authority) 269 unterscheidet sich von anderen Rechtsfiguren und Integrationsmechanismen wie der „Anweisung auf Zusammenarbeit" oder der Bündelung nationaler Befehlsgewalt insoweit, als hier in der Tat „multinationale" Befehlsgewalt ausgeübt wird. Art. 6 der D/NL-Korpskonvention bestimmt: (1) Der Kommandierende General wird hinsichtlich der Ausführung der dem Korps erteilten Aufgaben mit einer integrierten Weisungs- und Kontrollbefugnis ausgestattet. Sie umfasst die Berechtigung, den ihm integriert unterstellten Soldaten und zivilen Mitarbeitern des Korps dienstliche Anweisungen zu erteilen. Sie umfasst die Planung, Vorbereitung und Ausführung von Aufgaben und Aufträgen des Korps einschließlich Ausbildung und Übungen sowie logistische Befugnisse. (2) Nationale Rechte und persönliche Verpflichtungen, insbesondere im Hinblick auf disziplinäre Angelegenheiten und Beschwerden, fallen nicht unter die integrierte Weisungsund Kontrollbefugnis. Die „integrierte Weisungs- und Kontrollbefugnis" versetzt den Kommandierenden General in die Lage, integrierten Soldaten und zivilen Mitarbeitern dienstliche Anordnungen zu erteilen. Die weitreichenden Kompetenzen des Kommandierenden Generals sind dabei katalogartig in Anlage Β zur Organisationsvereinbarung des D / N L - K o r p s 2 7 0 für die verschiedenen Bereiche aufgelistet. 2 7 1 Die darüber 269

Dieses Befehlsinstitut ist im wissenschaftlichen Schrifttum erst ansatzweise diskutiert worden; vgl. etwa Dau, Truppenpraxis/Wehrausb. 1999, S. 222; Fleck, in: Geiger (Hrsg.), 2000, S. 173; Stein, NZWehrR 1998, S. 149; Wieland, NZWehrR 1999, S. 135. 270 Anlage Β zur Organisationsvereinbarung für das D/NL-Korps ist abgedr. in: BRatsDrs. 67/98, S. 99-102. 271 Dazu zählen vor allem: • Unmittelbar bindendes Anordnungsrecht gegenüber allen unterstellten Soldaten und zivilen Mitarbeitern (Art. 6 Abs. 1 D / N L Korps-Konvention). Dabei kann der Kommandierende General entsprechende „Prioritäten" setzen und diese „Befugnis im erforderlichen Umfang an unterstellte Kommandeure delegieren" (Art. 7 Abs. 4 D/NL-Organisations Vereinbarung). • Festlegung der Aufgaben der im Korpsstab eingesetzten Soldaten (Art. 13 Abs. 4 D/NL-Organisationsvereinbarung). Gewährleistung und Überwachung der Ausbildung des zum Korps gehörenden Personals im integrierten Rahmen (Art. 20 Abs. 1 D / N L Organisationsvereinbarung).

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

hinausgehende Anwendung nationalen Rechts wird durch Art. 16 der Organisationsvereinbarung für das D/NL-Korps gewährleistet. Art. 6 Abs. 2 der D / N L Korpskonvention macht explizit deutlich, dass die integrierte Weisungs- und Kontrollbefugnis nicht die persönlichen und disziplinaren Angelegenheiten der Soldaten umfasst 272 und daher nicht mit einer umfassenden truppendienstlichen Unterstellung gleichgesetzt werden kann. Insbesondere die deutsche Seite hat im Zuge der Vertragsverhandlungen darauf bestanden, die aus Art. 65a GG folgende Befehls- und Kommandogewalt des Bundesverteidigungsministers (also full command) unangetastet zu lassen, während auf niederländischer Seite eine echte truppendienstliche Unterstellung durch Königliches Dekret möglich gewesen wäre. 273 Die materiellen Kompetenzen, die von Art. 6 der D / NL-Korpskonvention umfasst sind, lassen eine eindeutige Zuordnung und Gleichsetzung der „integrierten Weisungs- und Kontrollbefugnis" mit den standardisierten Befehlsabstufungen des command and control nicht ohne weiteres zu: Während die „integrierte Weisungsund Kontrollbefugnis" in den Bereichen Einsatzplanung, Ausbildung / Übung sowie der Durchführung von Einsätzen dem operational command eines NATOBefehlshabers entspricht, gehen die in gemeinsame Verantwortung überführten logistischen Zuständigkeiten, welche von operational command nicht ohne weiteres erfasst werden, darüber hinaus. 274 Dabei besteht ein kompetenzrechtliches • Verantwortung für Planung, Vorbereitung und Durchführung von Übungen der binationalen Elemente und der Truppenteile des Korps (Art. 21 D/NL-Organisationsvereinbarung). • Sicherstellung der operationeilen und materiellen Einsatzbereitstellung des Korps und seiner Elemente (Art. 7 Abs. 4 und 19 D/NL-Organisationsvereinbarung). • Volle Rechtsstellung auf dem Gebiet der Logistik. Die Logistik, traditionell eine nationale Domäne, wird in Art. 24 Abs. 1 Organisationsvereinbarung explizit nicht nur als eine nationale, sondern auch als eine gemeinsame Aufgabe qualifiziert. Um die Einsatzfähigkeit der dem Korps unterstellten nationalen und binationalen Elemente zu gewährleisten, ist der Kommandierende General mit der gleichen Befugnis wie ein nationaler Kommandierender General ausgestattet (Art. 24 Abs. 2 Organisationsvereinbarung). Die Entscheidung über Angelegenheiten der nationalen Logistik treffen die zuständigen nationalen Stellen auf der Grundlage seiner Beurteilungen und Vorschläge, wobei der Kommandierende General vorab beteiligt wird und seine Forderungen und Prioritäten einbringen kann (Art. 24 Abs. 3 Organisations Vereinbarung). • Das Recht, die Beschaffung von Dienstleistungen und Gütern zu Lasten eines binationalen Haushalts anzufordern (Art. 8 Abs. 1 Korps-Konvention) sowie Verantwortung für Aufstellung und Umsetzung dieses Haushaltes (Art. 34 Organisationsvereinbarung mit Anlage B). 272 Gem. Art. 16 Abs. 4 der Organisationsvereinbarung wird die truppendienstliche Führung in Bezug auf die persönlichen - insbesondere disziplinaren - Angelegenheiten einschließlich der Bearbeitung von Beschwerden nach Maßgabe der nationalen Rechtsvorschriften von den zuständigen nationalen Vorgesetzten wahrgenommen. 273

Fleck, NZWehrR 1998, S. 141. Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 111, unter Berufung auf de Maizière, Landesverteidigung, S. 13; Fleck, NZWehrR 1998, S. 141. 274

1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

„Minus" gegenüber der vollen Befehlsgewalt, aber gleichzeitig ein „Mehr" gegenüber den standardisierten NATO-Befehlsbefugnissen. 275 Nach Einschätzung der Denkschrift zur D / NL-Korpskonvention soll die „integrierte Weisungs- und Kontrollbefugnis", die als multinationales Unterstellungsverhältnis erstmals in einem völkerrechtlichen Primärtext rechtsverbindlich verankert ist, deutlich über die geltenden NATO-Unterstellungsverhältnisse (wobei explizit auf operational command abgehoben wird) hinausgehen.276 Innerhalb seines Aufgabengebietes besitzt der Kommandierende General des D/NL-Korps in wichtigen Bereichen damit die gleichen Kompetenzen wie der Kommandeur eines entsprechenden nationalen Großverbandes. 277 Aus eben diesen Gründen wurde in der englischen Version der Korps-Konvention bewusst nicht die traditionelle Bezeichnung „ Commanding Generalsondern „Commander of the Corps" gewählt, was in der deutschen Übersetzung („Kommandierender General") allerdings nur unzureichend zum Ausdruck kommt. Stein und Dau vertreten indes die Auffassung, dass dem Kommandierenden General bei kursorischer Betrachtung des Kompetenzkatalogs in Anlage Β zur Organisationsvereinbarung letztlich doch nur jene Befugnisse zugewiesen seien, die einem Befehlshaber auch schon auf der Grundlage von operational command zuständen. Sie sehen in dem Institut der „integrierten Weisungs- und Kontrollbefugnis" daher primär das Bemühen um vertiefte Integration zweier verbündeter Streitkräfte, die allein mit herkömmlichen NATO-Begriffen eben nicht umzusetzen gewesen sei. 278 Diese Einschätzung verkennt allerdings den weiten autonomen Gestaltungsspielraum des Kommandierenden Generals, der am deutlichsten in der Ermächtigung nach Art. 7 Abs. 4 D/NL-Organisationsvereinbarung zum Ausdruck kommt - nämlich Prioritäten zu setzen und Befugnisse auf nachgeordnete Kommandeure delegieren zu dürfen. 279, 2 8 0 275

Wieland, NZWehrR 1999, S. 135; Peterson, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Fragen, S. 12. 276 Denkschrift zum Abkommen über die Rahmenbedingungen des D/NL-Korps, BRatsDrs. 67/98, S. 54. Die NATO-Begrifflichkeiten werden deshalb im Vertragswerk zum D/NL-Korps überhaupt nicht mehr verwendet. 277 So die Einschätzung des ehem. Rechtsberaters des D/NL-Korps Peterson, (in: Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Fragestellungen, S. 12). 278 Stein, NZWehrR 1998, S. 149; Dau, in: Truppenpraxis/Wehrausb. 1999, S. 222; ihnen folgend Geiger, Rahmenbedingungen, S. 151 if., der bei Art. 6 D/NL-Korpskonvention nur eine „quantitative", nicht aber „qualitative" Ausweitung der Befugnisse (gegenüber operational command) festzustellen vermag. 279 280

Vgl. insoweit auch Wieland, NZWehrR 1999, S. 139; Millotat, in: FS Dau, S. 155.

Der Begriff der „Delegation" ist im wehrrechtlichen Zusammenhang insoweit ein Novum. Die deutsche Rechtsordnung kennt unterschiedliche Rechtsinstitute für vergleichbare Situationen, wie ζ. B. das anwaltliche Mandat, die zivilrechtliche Beauftragung/Bevollmächtigung oder die verwaltungsrechtliche Beleihung mit Hoheitsaufgaben. Die Rechtfigur der „Delegation" ist dem deutschen Recht hingegen weitgehend fremd, zumindest wenn sie (ausländische) Einzelpersonen und keine Organe betrifft. Allein das Staatsrecht kennt eine Übertragung von Zuständigkeiten eines Staatsorgans auf ein anderes Organ, ζ. B. bei der

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

b) Befehlsdurchgriff Die „integrierte Weisungs- und Kontrollbefugnis" macht deutlich, dass es die Vertragsstaaten aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen für nicht ausreichend erachtet haben, den Anordnungen des Kommandierenden Generals erst durch Umsetzung mittels ständiger oder einzelfallbezogener Weisungen Verbindlichkeit für die Soldaten und Zivilbediensteten der anderen Nation zu verleihen. Gem. Art. 7 Abs. 4 der D / NL-Organisationsvereinbarung ist der General berechtigt, den binationalen und nationalen Elementen des Korps (selber) Weisungen zu erteilen und entsprechende Prioritäten zu setzten. Dabei sieht Art. 10 Abs. 1 der D / NL-Organisationsvereinbarung aus Reziprozitätsgründen eine Dienstpostenrotai/on zwischen beiden Vertragsstaaten vor. Die „integrierte Weisungs- und Kontrollbefugnis" unterscheidet sich von der „Anweisung auf Zusammenarbeit" darin, dass die dienstlichen Weisungen des Kommandierenden Generals gem. Art. 6 Abs. 1 D / N L Korpskonvention unmittelbar verbindlich sind, da sie keiner vorausgehenden allgemeinen oder einzelfallbezogenen nationalen Verbindlichkeitserklärung ( - etwa in Form einer nationalen Anweisung - ) mehr bedürfen. Eine solche Verbindlichkeitserklärung ist auch nicht in der „Allgemeinen Weisung" (General Directive) für das Korps zu erblicken, die gem. Art. 3 der D / NL-Organisationsvereinbarung von den jeweiligen Vorgesetzten des Kommandierenden Generals (dem Inspekteur des Heeres auf der deutschen und dem Bevelhebber der Landstrijdkrachten auf niederländischer Seite) erlassen wurde, um die Einzelheiten der Durchführung von Ausbildung, Führungsunterstützung und Logistik zu regeln. Überdies legt die „Allgemeine Weisung" Befugnisse und Zuständigkeiten nur des Stellvertretenden Kommandierenden Generals und des Chef des Stabes fest, während die Befugnisse des Kommandierenden Generals von der Weisung gar nicht berührt werden. 281 Vielmehr ergibt ein Vergleich zwischen dem Kommandierenden General und den (anderen) militärischen Vorgesetzten innerhalb des Korps-(Stabes), dass ihren Befugnissen strukturell unterschiedliche Rechtsfiguren („integrierte Weisungs- und Kontrollbefugnis" für den Kommandierenden General - „Anweisung auf Zusammenarbeit" für alle übrigen vorgesetzten Offiziere) zugrunde liegen. Gem. Art. 16 Abs. 5 der D/NL-Organisationsvereinbarung haben militärische Vorgesetzte innerhalb der binationalen Elemente des Korps (nur) eine dienstliche Anordnungsbefugnis gegenüber Angehörigen der anderen Vertragspartei. 282 Die Ausübung dieser Anordnungsbefugnis wird in innerstaatlichen Bestimmungen niedergelegt, um das betreffende Personal zur Ausführung der Anordnungen zu verpflichten. Als „ Transformationsakt" dient Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen gesetzgebender Körperschaften auf Verwaltungsorgane (Art. 80 GG spricht in diesem Zusammenhang von „Ermächtigung"). 281 Vgl. Art. 12 Abs. 4 der D/NL-Organisationsvereinbarung hinsichtlich des Stellvertr. Kommandierenden Generals bzw. Art. 13 Abs. 3 der D / NL-Organisationsvereinbarung hinsichtlich des Chef des Stabes, während ein entsprechender Absatz in Art. 11, der die Verantwortlichkeiten des Kommandierenden Generals regelt, gerade fehlt. 282 Gemeint ist die allgemein übliche Anordnungsbefugnis für ausländische Befehlshaber nach Nr. 311 der ZDv 1/50.

6 1 .

Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

insoweit die „Allgemeine Weisung" für das Korps, in der unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Art. 16 Abs. 5 der D / NL-Organisationsvereinbarung festgelegt wird, dass militärisches und ziviles Personal in den binationalen Elementen des Korps verpflichtet sei, Anordnungen ihrer Vorgesetzten unabhängig von deren Nationalität zu befolgen; ausgenommen der Kommandierende General, der bereits gem. Art. 6 der D/NL-Korpskonvention weisungsberechtigt ist.

Die integrierte Weisungs- und Kontrollbefugnis verschafft also allein dem Kommandierenden General (nicht dagegen den anderen Vorgesetzten) ein vertraglich abgesichertes unmittelbar bindendes Anordnungsrecht gegenüber allen Soldaten des Korps. Die deutsche Rechtsordnung verzichtet darauf, bei jedem einzelnen Rechtsakt zu entscheiden, ob er im innerstaatlichen Rechtsraum gelten soll. Im Gegensatz zu den traditionellen NATO-Unterstellungsverhältnissen bedarf es auch im Einzelfall keines nationalen Akts der Befehlsübertragung (transfer of authority). Im Vergleich zur „Anweisung auf Zusammenarbeit" ist bei der „integrierten Weisungs- und Kontrollbefugnis" somit von einem Befehlsdurchgriff auf der Grundlage von Art. 6 der D / NL Korpskonvention auszugehen.

c) Ansätze einer verfassungsrechtlichen

Rechtfertigung

Auch der Kommandierende General in Münster entscheidet wie alle Militärs nicht nach eigenem Gutdünken, sondern führt - dem Primat der Politik folgend Weisungen von Vorgesetzten aus. Art. 7 der Organisationsvereinbarung für das D / N L Korps spezifiziert dabei vier Kategorien von (externen) Weisungen an den Kommandierenden General: • Art. 7 Abs. 1 der D / NL-Organisationsvereinbarung bezieht sich auf Weisungen von NATO-Befehlshabern für den Fall, dass das Korps im Rahmen des Bündnisses eingesetzt werden soll. • Weisungen bezüglich der in Art. 3 der D / NL-Korpskonvention festgelegten generellen Aufgaben des Korps werden dem Kommandierenden General gem. Art. 7 Abs. 2 der D / NL-Organisationsvereinbarung nach gegenseitiger Beratung und Abstimmung durch die jeweils zuständigen nationalen Stellen erteilt. Da die Vertragsstaaten ihre Weisungen zwar aufeinander „abstimmen", gleichwohl auf eine „Bündelung" bewusst verzichten, bleibt unklar, von wem der General seiner Weisungen erhält und welcher Spielraum ihm zur Umsetzung der Weisungen verbleibt. Die für das Stettiner Korps gefundene Lösung der institutionalisierten Bündelung nationaler Hoheitsgewalt greift im Falle des D / N L Korps jedenfalls nicht, da ein kollegiales Weisungsorgan in Form eines KorpsAusschusses in Münster nicht existiert. • Art. 7 Abs. 3 der D/NL-Organisationsvereinbarung bestimmt weiter, dass Weisungen, die ausschließlich nationalen Zwecken dienen, von den zuständigen Stellen über den Kommandierenden General an die nationalen Elemente geleitet

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

werden sollen. Der General fungiert in diesem Zusammenhang tatsächlich als „Sprachrohr" im jeweils nationalen Befehlsweg. • Art. 7 Abs. 4 der D / NL-Organisationsvereinbarung stellt klar, dass der Kommandierende General mit einer „integrierten Kontroll- und Weisungsbefugnis" ausgestattet ist, die ihn befähigt, die volle Verantwortung für die Durchführung aller Weisungen zu übernehmen. Ist die Ausführung nationaler oder binationaler Aufgaben gefährdet, so hat der Kommandierende General den jeweils zuständigen höheren Stellen zu berichten. Wenn nötig, würden die nationalen Vorgesetzten - der Inspekteur des Heeres und der Bevelhebber der Landstrijdkrachten nach gegenseitiger Beratung Anweisungen geben. Anhand der letzten Kategorie wird deutlich, dass der Kommandierende General keine gebündelten Weisungen nach unten weitergeben soll, sondern externe Anordnungen vielmehr in „Eigenregie", d. h. im Wege seiner „integrierten Weisungsund Kontrollbefugnis" gegenüber den Soldaten seines Korps umsetzt und ausführt. Die militärischen Vorgesetzten des Kommandierenden Generals nehmen dabei zwar im Ansatz die Funktion eines Korps-Ausschusses wahr - nämlich Weisungen zu erteilen und Kontrolle auszuüben;283 anders als im Stettiner Korps werden jedoch Weisungen nicht durchweg „gebündelt" nach unten weitergegeben, sondern es soll nur „im Notfall" eingegriffen werden. Dem Kommandierenden General bleibt dabei ein wesentlich größerer Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum als beim Bündelungskonzept. Eine Eingliederung des Kommandierenden Generals in die nationalen Befehlsketten lässt sich also auch im D/NL-Korps feststellen; sie ist jedoch mangels Bündelung nationaler Hoheitsgewalt sehr viel schwächer ausgestaltet als im MNK-NO. Dementsprechend wächst infolge des Befehlsdurchgriffs der Gestaltungsspielraum des Kommandierenden Generals. Es muss daher bezweifelt werden, dass die Konzeption einer dienstrechtlichen Einbindung des ausländischen Befehlshabers in die deutsche Befehlskette unterhalb der Schwelle von Hoheitsübertragungen überhaupt noch tragfähig und sinnvoll sein kann, wenn Durchgriffsbefugnisse gegenüber den deutschen Anteilen möglich sind, während eine hinreichend institutionalisierte Kontrolle des ausländischen Befehlshabers durch Korps-Ausschüsse entfällt. Im Folgenden sollen daher Ansätze einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung für die Substanzminderung nationaler Befehlsgewalt im Bereich von Hoheitsrechtsübertragungen gesucht werden.

283 Dies kommt in Art. 7 Abs. 6 der D/NL-Organisationsvereinbarung zum Ausdruck, wonach die beiden Heeresinspekteuren mit Blick auf die binationalen Elemente im Korps eine gemeinsame Kontrolle in den Bereichen Planung, Struktur und Anforderungsprofil üben.

7 Schmidt-Radefeldt

aus-

1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

aa) Hoheitsrechtsübertragung auf andere Staaten In der Praxis ist die Möglichkeit, einem ausländischen Kommandeur Hoheitsrechte zu übertragen, stets ausgeschlossen worden, weil der Kommandeur (bzw. ein multinationaler Verband) kein verfassungsrechtlich zulässiger Adressat einer Hoheitsrechtsübertragung ist. Demgegenüber sind in der Literatur immer wieder Stimmen laut geworden, die den traditionellen Adressatenkreis von Hoheitsrechtsübertragungen erweitern wollen. 284 Die Frage der Hoheitsrechtsübertragung auf andere Staaten ist vor allem in Zusammenhang mit der „Pershing"-Entscheidung diskutiert worden, in der sich ein Anklang von Analogiefähigkeit des Art. 24 I GG findet: Nach Auffassung des BVerfG ist „die Übertragung von Hoheitsrechten nicht schlechthin auf die Vereinigten Staaten von Amerika erfolgt. Wäre dies der Fall, so griffe Art. 24 I GG jedenfalls nicht unmittelbar ein." 2 8 5 Teile der Literatur haben daraus die prinzipielle Zulässigkeit einer Hoheitsrechtsübertragung auf andere Staaten abgeleitet.286 Die Pershing-Entscheidung betraf jedoch im Grunde genommen nur eine „Horizontalverlagerung" von Hoheitsmacht im Rahmen eines Staatenbündnisses, das vom BVerfG als „zwischenstaatliche Einrichtung" qualifiziert wurde; dabei stützte sich die Argumentation des Gerichts letztlich auf die besondere, in der spezifischen Logik der Abschreckung wurzelnde Konstruktion des amerikanischen Präsidenten als eines „besonderen Organs des NATO-Bündnisses", 287 ohne dass daraus (etwa mit Blick auf ein multinationales Korps) allgemeingültige Folgerungen gezogen werden können. 288 Nach herrschender Auffassung, die aus Art. 24 Abs. 1 GG (und neuerdings auch Abs. la) eine Sperrwirkung zugunsten zwischenstaatlicher/grenznachbarschaftlicher Einrichtungen gegenüber anderen Adressaten von Hoheitsrechtsübertragungen ableitet, wird daher auch der unmittelbare Durchgriff ausländischer Stellen auf Rechtssubjekte in der Bundesrepublik Deutschland nahezu einhellig für unzulässig 284 Ruffert, Die Verwaltung, 2001, S. 481 f.; Gramm, DVB1. 1999, S. 1242 f.; Classen, M / Κ / S , GG, Art. 24, RdNr. 65 ff.; in diese Richtung auch Fleck, Befehls- und Kommandogewalt, in: Geiger (Hrsg.), Diskussionsbeitrag, S. 184. Umfassend zur Frage der Übertragung von Hoheitsgewalt auf auswärtige Staaten Rauser, Übertragung, S. 110 ff. sowie Baldus, in: Die Verwaltung 1999, S. 499 ff.; zu Formen grenzüberschreitender Zusammenarbeit auch Cremer, ZaöRV 2000, S. 103 ff. 285 BVerfGE 68, 1 (91), Hervorhebungen nicht im Original. 286 Classen, M / K / S , GG, Art. 24 I, RdNr. 64; Rauser, Übertragung, S. 186. Rauser will dabei die Ermöglichung faktischer Grundrechtseingriffe als Fall einer Übertragung von Hoheitsrechten im Sinne des Art. 241 GG anerkennen (ibid, S. 75 ff., 108 f.). 287 BVerfGE 68, 1 (92); kritisch insoweit Bryde, Jura 1986, S. 368; Tomuschat, BK, Art. 24, RdNr. 161 a.E.; Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 24, RdNr. 35. Gehandelt habe dabei ersichtlich der US-Präsident als Staatsorgan der USA, der weder durch den NATO-Vertag noch durch eine sonstige Regelung i. S. d. Art. 24 I GG mit entsprechenden Rechten oder Befugnissen ausgestattet worden sei, um als „Organ des Bündnisses" handeln zu können. 288 Unzulässig hält eine solche „Horizontalverlagerung" insoweit auch Gramm, DVB1. 1999, S. 1239.

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

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gehalten.289 Dahinter steht die Befürchtung, dass die demokratischen Errungenschaften bei einer Übertragung von Hoheitsrechten auf fremde Staaten (im Gegensatz zu internationalen Organisationen) nicht durch Beteiligungsrechte an den Entscheidungsstrukturen des Adressaten der Übertragung kompensiert würden. 290 Gegenteilige Begründungsansätze haben indes versucht, unter Rekurs auf das Verfassungsprinzip offener Staatlichkeit (Vogel) 291 die verfassungsrechtlich angeordnete Sperrwirkung zu durchbrechen 292 oder Art. 241 GG in der Weise restriktiv zu interpretieren, dass er nur bei einem „gewissen Ausmaß" an übertragenen Kompetenzen anwendbar werde. Beide Ansätze überzeugen aber ebenso wenig wie der „Erst-Recht-Schluss" (a maiore ad minus), der in Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Gebietswechseln gezogen wird 2 9 3 - bei einer Abtretung wird das Gebiet vollständig dem anderen Staat einverleibt, wobei die betroffene Bevölkerung i.d.R. demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten im neuen Staatswesen erhält, die ihr im Fall einer Übertragung einzelner Hoheitsrechte jedoch verwehrt bleibt. 294 Für die grenzüberschreitende Polizeitätigkeit wurde rechtfertigend argumentiert, dass es dort weniger um eine Öffnung der deutschen Rechtsordnung für ausländische Hoheitsgewalt, als vielmehr um die bloße Duldung einzelner Akte an den Rändern des Staatsgebiets gehe. 295 Das militärische Über- und Unterordnungsverhältnis im Rahmen der „integrierten Weisungs- und Kontrollbefugnis" beruht jedoch im Kern nicht auf der Duldung fremder Staatsgewalt im Bundesgebiet, sondern auf dem unmittelbaren Durchgriff von Hoheitsgewalt in den deutschen sowie niederländischen Rechtsraum. Mit der „integrierten Weisungs- und Kontrollbefugnis" wollten sich die Vertragsstaaten nicht gegenseitig zu Adressaten von Hoheitsrechten machen, sondern vielmehr die Befehlsgewalt in integrierter Form ausüben.296 289 Mosler, HBdStR Bd. VII, § 175, RdNr. 39; Randelzhofer, M / D , GG, Art. 24 I, RdNr. 53; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 24, RdNr. 5; Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 24, RdNr. 3; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 24, RdNr. 18; Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 24, RdNr. 19; Pernice, in: Dreier (Hrg.), GG, Art. 24, RdNr. 24; Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 24, RdNr. 33; Gramm, DVB1. 1999, S. 1238, der von einer „Grundentscheidung der geschriebenen Verfassung gegen die Übertragung von Hoheitsmacht auf auswärtige Staaten" ausgeht. 290 Tomuschat, BK, Art. 24, RdNr. 44; Baldus, in: Die Verwaltung 1999, S. 499 f.; Cremer, ZaöRV 2000, S. 129. 291 Begriffsprägend Vogel, Die Verfassungsentscheidung; grundlegend auch Hobe, Der offene Verfassungsstaat. 292 So aber Classen, M / Κ / S, GG, Art. 24, RdNr. 66 (m. w. N.). 293 Rauser, Übertragung, S. 256 ff. 294 Classen, M / K / S , GG, Art. 241, RdNr. 65; Baldus, Die Verwaltung 1999, 501. 295 Cremer, ZaöRV 2000, S. 133 f. Das Recht der „Nacheile" für ausländische Polizisten nach Art. 40 ff. Schengener-Abkommen unterfällt nunmehr Art. 23 I GG. 296 Dafür spricht auch das in Art. 3 der Organisationsvereinbarung zum D/NL-Korps niedergelegte umfassende Organisationsprinzip der „vertieften Integration", in dem es heißt: Die Vertragsparteien sind bemüht, ein hohes Maß an vertiefter Integration (...) zu erreichen. " 7*

10

1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

bb) Kondominiale Hoheitsgewalt Die Auffassung des ehemaligen Rechtsberaters des D/NL-Korps Peterson, wonach der Kommandierende General rechtlich und tatsächlich zugleich als deutscher und niederländischer General anzusehen sei, 297 geht über die Lehre vom dédoublement fonctionnel offenbar noch hinaus. Als „Diener zweier Herren" (Kirchhof) 298 würde der Kommandierende General nicht nur zur Beachtung mehrerer Rechtsordnungen angehalten sein, sondern durch seine „integrierte Weisungsund Kontrollbefugnis" gewissermaßen kondominiale Hoheitsgewalt, 299 also eine den Vertragsstaaten „gesamthänderisch" zustehende Hoheitsgewalt 300 ausüben. Wieland lehnt eine solche Konstruktion mit dem Argument ab, die bei kondominialer Hoheitsgewalt erforderliche Einstimmigkeit würde die Aktionsmöglichkeiten eines multinationalen Korps übermäßig beschränken. 301 Zugegebenermaßen wäre das Befehlssystem eines Korps blockiert, wenn angesichts eines Zwangs zu schnellem Handeln nicht sofort Einvernehmen zwischen den nationalen Vorgesetzten erzielt werden könnte. Ein solcher Zwang bestünde aber nur für den (unwahrscheinlichen) Fall, dass das Deutsch-Niederländische Korps im Alleingang eingesetzt wird. In der Praxis ist das Münsteraner Hauptquartier (als Rapid Déployable Multinational Headquarter) jedoch der NATO unterstellt. Soweit der Kommandierende General damit auch institutionell in die Befehlsstruktur der NATO eingebunden ist, ließen sich die entsprechenden Substanzminderungen nationaler Befehlsgewalt nach Art. 24 Abs. 2 GG respektive Abs. 1 rechtfertigen. 302 Bedenklicher stimmt indes das Defizit an demokratischer Legitimation von „gemischter" (kondominialer) Hoheitsgewalt. Um der Entstehung eines Raums kontrollfreier Befehlsgewalt vorzubeugen, verbleibt der Kommandierende General in seinem nationalen Soldatenverhältnis und unterliegt der truppendienstlichen Bindung und der Personalhoheit seines Heimatstaates. Wenn aber die rechtlichen Bindungen eines ausländischen Hoheitsträgers an seinen Heimatstaat größer sind als an den Partnerstaat, in dessen Namen er die „integrierte Weisungs- und Kontrollbefugnis" ausübt, bleibt für die Annahme einer echten kondominialen Befehlsgewalt im Grunde kein Raum. Abgesehen davon würde auch die kondominiale Befehlsgewalt das bereits erwähnte „Loyalitätsdilemma" nicht auflösen, sondern eher noch verstärken.

297 298

Peterson, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Fragestellungen, S. 11. Kirchhof, NZWehrR 1998, S. 160.

299

Den Begriff verwendet in diesem Zusammenhang Wieland, NZWehrR 1999, S. 141. Zur kondominialen Hoheitsgewalt Ipsen, Völkerrecht, § 5, RdNr. 26. Das völkerrechtliche Kondominium bezeichnet dabei eigentlich die gemeinsame Verfügungsgewalt von mindestens zwei Staaten über ein Gebiet (gemeinsame Gebietshoheit); dazu auch Seidl-Hohenveldern/Stein, Volkerrecht, RdNr. 1132 mit Beispielen aus der Staatspraxis. soi Wieland, NZWehrR 1999, S. 141. 300

302

Vgl. zum Streit um die Qualifikation der NATO oben unter II. 3. a).

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

101

cc) Zwischenstaatliche Hoheitsgewalt Schließlich bleibt die Möglichkeit, die „integrierte Weisungs- und Kontrollbefugnis" als eine Form zwischenstaatlicher Hoheitsgewalt aufzufassen und über Art. 24 I GG parlamentarisch zu legitimieren. Naheliegend wäre es daher, für die Schaffung einer „zwischenstaatlichen Einrichtung" nach den Vorgaben des Grundgesetzes zu plädieren und den Kommandierenden General darin einzubinden. Eine solche Einrichtung könnte mit wenig bürokratischem Apparat - womöglich mit einem supranationalen Korps-Ausschuss - unter den Beschlussfassungskompetenzen der jeweiligen Verteidigungsminister ausgestattet werden, um als „politische Institution" mit eigener Willensgestaltung dem Primat der Politik über das Militär 303

zu genügen. Eine Überlegung wert wäre die Annahme, dass mit dem D / NL-Korps eine solche zwischenstaatliche Einrichtung schon existiert: Das erforderliche Übertragungsgesetz nach Art. 24 I GG, mit dem das Parlament der Ausübung zwischenstaatlicher Hoheitsgewalt in Form der „integrierten Weisungs- und Kontrollbefugnis" billigt, könnte dabei in dem Zustimmungsgesetz zur Korpskonvention liegen. Weiterhin ließe sich die institutionalisierte Verwaltungskooperation eines multinationalen Armeeverbandes mit wenig Interpretationsaufwand unter einen erweiterten Begriff der „zwischenstaatlichen Einrichtung" subsumieren. In diesem Sinne plädierte unlängst Ruffert für eine generell erweiterte Perspektive des bislang auf internationale Organisationen bezogenen Art. 24 Abs. 1 GG. Diese Verfassungsnorm wolle die Öffnung deutscher Staatlichkeit nach außen ermöglichen und stehe insoweit einer Übertragung von Hoheitsrechten an „kooperative Netzwerke im Vorfeld der Supranationalität" oder auch an staatliche Organe im Rahmen von bioder multilateralen Kooperationsstrukturen nicht entgegen.304 Eine Kompensation für den hoheitlichen Zugriff ausländischer Stellen ließe sich dann - analog zu den grenznachbarschaftlichen Einrichtungen 305 - in der Beteiligung deutscher Stellen an der zwischenstaatlichen Einrichtung erblicken. Diese Mitwirkung würde ein hinreichendes Legitimationsniveau vermitteln, sofern zu Beginn der Kooperation eine hinreichende Bestimmung des Kooperationszwecfo erfolgt. 306 Eine dauerhaft institutionalisierte Form der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit müsste im Sinne einer „strukturellen Kongruenz" 307 zudem gewisse Mindestanforderungen der Rechtsstaatlichkeit auch in Hinblick auf nationalen Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 303 In diese Richtung Wieland, NZWehrR 1999, S. 141. 304 Ruffert, Die Verwaltung 2001, S. 481 f. unter Hinweis auf die im Völkerrecht zu beobachtenden Zunahme an institutionalisierten Kooperationsformen („Regime") im Vorfeld der Supranationalität. 305 Vgl. dazu umfassend Beck, Die Übertragung, S. 102 ff. 306 Ruffert, Die Verwaltung 2001, S. 480. Dies steht beim D/NL-Korps mit seiner klar umgrenzten Aufgabenperspektive außer Frage. 307 Vgl. dazu in Hinblick auf zwischenstaatliche Einrichtungen Tomuschat, BK, Art. 24, RdNr. 52 ff.

1 0 1 . Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

GG) erfüllen. 308 In diesem Zusammenhang sehen Art. 6 Abs. 2 der D/NL-Korpskonvention und 16 Abs. 4 der D / NL-Organisationsvereinbarung vor, dass die truppendienstliche Führung einschließlich der Bearbeitung von Beschwerden nach Maßgabe der nationalen Rechtsordnung und allein von den zuständigen nationalen Vorgesetzten wahrgenommen werden soll. Alle Dienstposten bleiben dazu truppendienstlich in rein nationaler Verantwortung 309 und garantieren den deutschen Soldaten die Möglichkeit, sich gegenüber rechtsverletzenden Maßnahmen eines ausländischen Vorgesetzten mit einer Beschwerde an einen deutschen Disziplinarvorgesetzten 310 zu wenden, über die schließlich deutsche Truppendienstgerichte (§ 17 WBO) entscheiden.311 Die nationale truppendienstliche Abstützung und (gerichtliche) Kontrolle der „integrierten Weisungs- und Kontrollbefugnis" zeigt jedoch ganz eindeutig, dass beide Vertragsstaaten im militärischen Bereich eben gerade keine Hoheitsrechte übertragen und die daraus erwachsenen Konsequenzen ziehen wollten. Es würde in der Tat wenig Sinn machen, supranationale Anordnungen durch nationale truppendienstliche Vorgesetzte bzw. Truppendienstgerichte kontrollieren zu lassen mit der Folge, dass letztlich ein deutsches Gericht die Weisung eines ausländischen Generals aufheben oder für rechtswidrig erklärt. Eine einheitliche und konsequente Anwendung von supranationalem Befehlsrecht erfordert nämlich letztlich auch ein multinationales Truppendienst- und Beschwerderecht, eine rechtsstaatliche Abstützung durch eine überstaatliche gerichtliche Kontrollinstanz sowie eine parlamentarische Legitimation aus überstaatlicher Quelle? 12 Ein Wille zur Supranationalität ist in der D/NL-Korpskonvention indes nicht erkennbar. Aus diesen Gründen wäre es mit einer erweiternden Subsumtion des Korps unter dem Begriff einer „zwischenstaatlichen Einrichtung" i. S. d. Art. 24 I GG allein nicht getan, weil eine solche Auslegung dem vielfach erklärten Willen der Parteien zuwiderliefe, keine Hoheitsrechte übertragen zu wollen. Die „integrierte Weisungs- und Kontrollbefugnis" erscheint daher im Ergebnis als ein multinationales Befehlsinstitut sui generis in der Grauzone von staatlicher und zwischenstaatlicher Gewalt. Die Eingliederung des Kommandierenden Generals in die nationale Befehls- und Legitimationskette ist dabei zu schwach ausgestaltet, um eine hinreichende organisatorisch-personelle demokratische Legitimation auf nationaler Ebene zu gewährleisten. Das Befehlsinstitut ermöglicht zwar den für supranationale Hoheitsgewalt charakteristischen „Befehlsdurchgriff", bleibt aber in einer Weise national „eingehegt", dass sich zwischenstaatliche Hoheitsgewalt im nationalen Rechtsraum nicht entfalten kann. Dies gilt insbesondere für die Tat308 Insoweit BVerfGE 58, 1 (41); in Hinblick auf gemischtnationale Armeeverbände Classen, M / K / S , GG, Art. 241, RdNr. 69. 309 Vgl. Art. 11 Abs. 2 und 12 Abs. 3 der D/NL-Organisationsvereinbarung. 310 § 5 1 WBO i. V. m. §§ 25 IWDO.

su Huber, M / K / S , GG, Art. 19IV, RdNr. 538. 3 i2 Vgl. dazu unten Teil 2.

2. Kap.: Demokratische Legitimation von militärischer Befehlsgewalt

10

sache, dass Anordnungen auf der Grundlage des multinationalen Befehlsinstituts durch Instrumente der nationalen disziplinarrechtlichen und gerichtlichen Kontrolle voll überprüfbar bleiben. Solche Mechanismen der nachträglichen (richterlichen) Kontrolle können zwar die multinationale Befehlsgewalt rechtsstaatlich „abfedern"; sie genügen jedoch nicht mehr den Anforderungen des Demokratieprinzips an eine hinreichende organisatorisch-personelle demokratische Legitimation dieser Befehlsgewalt.

IV. Zusammenfassende Betrachtungen Die militärische Kooperationen in multinationalen Armeeverbänden bleibt zwar durch nationale Instanzen rechtsstaatlich kontrollierbar, weist aber gleichwohl demokratische Defizite auf. 313 Problematisch erscheinen dabei vor allem Rechtsmechanismen zur Einbeziehung ausländischer Befehlshaber in die nationale Befehls- und Legitimationskette, die den Anforderungen an eine hinreichende organisatorisch-personelle demokratische Legitimation nicht mehr vollauf genügen. Die formale Befehls- und Legitimationskette, die in der parlamentarischen Verantwortlichkeit des nationalen Verteidigungsministers gegenüber dem nationalen Parlament wurzelt, erscheint dabei zumindest inhaltlich um so lückenhafter, je größer sich der eigene Weisungs- und Gestaltungsspielraum eines ausländischen Befehlshabers erweist: Während ein ausländischer Wachsoldat auf gesetzlicher Grundlage unter der Weisungsgewalt eines deutschen Wachvorgesetzten unproblematisch deutsche Hoheitsgewalt ausüben kann, weil er dabei strikter Kontrolle durch deutsche Hoheitsträger unterliegt, erscheint es aus Sicht des Demokratieprinzips bereits problematisch, wenn ein ausländischer Kommandeur unter Aufsicht eines multinationalen Korps-Ausschusses gebündelte nationale Weisungen nach unten weitergibt, obwohl er keineswegs als dessen Sprachrohr fungiert. Überdies leiden multinationale Kollegialorgane an einem prinzipiellen, kaum vermeidbaren Legitimationsdefizit, das sich nur auf Kosten des Integrationsgedankens umgehen lässt. Die Vorstellung einer (auch inhaltlich) lückenlosen Befehls- und Legitimationskette gerät ebenso ins Schwanken, wenn ein ausländischer Offizier in integrierten Führungsstäben einem auf „Zusammenarbeit angewiesenen" nationalen Soldaten dienstliche Anordnungen erteilen darf, für die der nationale Offizier bzw. der Verteidigungsminister inhaltlich keine Verantwortung mehr übernehmen kann. Die (personelle) demokratische Legitimation ausländischer Befehlsgewalt durch eine nationale Befehlskette trägt schließlich nicht mehr bei multinationalen Befehlsinstituten wie der „integrierten Weisungs- und Kontrollbefugnis", bei der ein ausländischer General direkt, d. h. ohne nationalen Umsetzungsakt, auf die nationalen Anteile im Korps durchgreifen kann, ohne dass im Rahmen dieser Befehlskette spezielle Organe der (nationalen) Kontrolle bestünden. Der Rückgriff auf all313 In diese Richtung auch Huber, M / K / S , Art. 19 IV, RdNr. 538, Anm. 463.

1 0 1 . Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

gemeine (nachträgliche) rechtsstaatliche bzw. truppendienstliche Kontrollmechanismen vermag die Eingliederung in die nationale Befehlskette nicht zu kompensieren, so dass die personelle demokratische Legitimation multinationaler Befehlsgewalt im Ergebnis nicht mehr hinreichend gewährleistet ist. Den untersuchten Rechtskonstruktionen liegt der erklärte Wille der Korpsstaaten zugrunde, im Bereich integrierter Führungsstrukturen und Einsatzverbände keine Hoheitsgewalt zu übertragen. Ein solcher Schritt erscheint aber für die Zukunft unerlässlich, um die multinationalen Armeeverbände aus der Grauzone „multinationaler" Hoheitsgewalt herauszuheben und eine durchgängige überstaatliche Kontrolle sicherzustellen.

3. Kapitel

Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt und militärischen Einsatzgewalt I. Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt Die Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt ist Gegenstand zahlreicher rechtswissenschaftlicher Untersuchungen.1 Besonderes Augenmerk galt dabei stets dem verteidigungspolitischen Sektor, der sich - wie kaum ein anderer Bereich der auswärtigen Politik - zur Polarisierung eignet: Auf der einen Seite ist die exekutive Handlungsfähigkeit und Flexibilität nirgendwo so ausschlaggebend wie auf militärischem Gebiet; auf der anderen Seite erfordern fundamentale Entscheidungen über Krieg oder Frieden in besonderer Weise eine parlamentarisch-demokratische Abstützung. In der wissenschaftlichen Kontroverse um die Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt haben sich zwei wirkmächtige Positionen herauskristallisiert, die sich als tendenziell „exekutivfreundlich" und eher „parlamentsfreundlich" charakterisieren lassen.2 Das BVerfG hat die entwicklungsgeschichtlich im angelsächsischen Staatsdenken wurzelnde Idee der Funktionsgerechtigkeit zum Ausgangspunkt und Argumentationstopos einer kompetenziellen „Vorhand" der Regierung im Bereich der auswärtigen Gewalt gemacht.3 Dabei setze der Grundsatz von der demokratischen Verantwortlichkeit 1

Vgl. für viele Baade, Das Verhältnis von Parlament und Regierung, S. 115 ff.; Fastenrath, Kompetenzverteilung; Grewe, VVDStRL 1954, S. 130 ff.; ders., AöR 1987, S. 527; Menzel, VVDStRL 1954, S. 179 ff.; Friesenhahn, VVDStRL 1958, S. 37; Kokott, DVB1. 1996, S. 938 ff.; Wolfrum, VVDStRL 1997, S. 44 ff. Der im Grundgesetz nicht verankerte, aber im wissenschaftlichen Schrifttum wohl schon seit 1892 (Haenel, Deutsches Staatesrecht) verwendete Begriff der „auswärtigen Gewalt" bezeichnet dabei keine eigenständige Typologie von Staatsaufgaben, sondern umschreibt das verfassungsrechtliche Kompetenzgefüge im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten. 2 Der „exekutivfreundlichen" Auffassung stehen ζ. B. nahe: Grewe, VVDStRL 1954, S. 129 (130); Badura, Staatsrecht, RdNr. 116; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 129 ff. Eine „parlamentsfreundliche" Tendenz vertreten: Menzel, VVDStRL 12 (1954), S. 179 ff; Friesenhahn, VVDStRL 1958, S. 9 (37 f, 70); Baade, Das Verhältnis, S. 118 ff; Stern, Staatsrecht, S. 499; Wolfrum, VVDStRL 1997, S. 38 (44); Kadelbach/Guntermann, AöR 126 (2001), S. 563 (568 ff). 3 Ansätze finden sich bereits bei John Locke (1632- 1704) in seinem Second Treatise on Government sowie im 19. Jahrhundert bei John Stuart Mill (1806-1873), der in seinen Considerations on Representative Government von 1861 [Kap. V („Von dem angemessenen Wirkungskreis der Repräsentativkörperschaften"), zitiert bei: Badura, HBdStR I, § 23, RdNr. 11] eine klassische Rechtfertigung des parlamentarischen Regierungssystems gegeben hat. Die

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1. Teil: Parlamentarische Legitimations Vermittlung im Integrationsprozess

der Regierung gegenüber dem Parlament notwendigerweise einen Kernbereich exekutivischer Eigenverantwortung voraus.4 Gewaltenteilung bedeute nicht allein, politische Macht und Verantwortung zu verteilen, die Machtträger zu kontrollieren und die Staatsgewalt insgesamt zu mäßigen; sie solle auch gewährleisten, „dass staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen". 5 Im Urteil Rudolf Hess begründet das Gericht seine seit dem „Grundlagenvertragsurteil" 6 traditionell geübte Zurückhaltung bei der Kontrolle des außenpolitischen Handlungsspielraums der Exekutive: „Die Weite des Ermessens im auswärtigen Bereich hat ihren Grund darin, dass die Gestaltung auswärtiger Verhältnisse und Geschehensabläufe nicht allein vom Willen der Bundesrepublik bestimmt werden kann, sondern vielfach von Umständen abhängig ist, die sich ihrer Bestimmung entziehen."7 Der Handlungskompetenz der Regierung stehen Vorschriften wie Art. 23, 24, 59 II und 115a GG entgegen, denen zu entnehmen ist, dass die staatsleitenden Entscheidungen der Außenpolitik - einschließlich der in Art. 59 II GG geregelten „Vertragsgewalt" - vom Bundestag in Form eines Gesetzes mitgestaltet und mitgetragen werden müssen.8 Eine wirkmächtige Strömung im wissenschaftlichen Schrifttum hat vor diesem Hintergrund schon früh die Theorie der sog. „kombinierten Gewalt" (Menzel)9 entwickelt, wonach die auswärtige Gewalt nicht wesensmäßig dem Bereich der Regierung und Verwaltung gehört, sondern im Sinne kooperativer Befugnisse von Regierung und Parlament gemeinsam ausgeübt wird. Diese läßt sich mit Ernst Friesenhahn als „gesamthänderisch", mit Werner Heun als „Staatsleitung" mit Walter Krebs als „Kompetenzgeflecht" oder mit Mössle als „arbeitsteilig" bezeichnen.10 Das Grundgesetz sieht in diesem Zusammenhang eine differenzierte Aufgabenverteilung vor, die vor allem aus Ausnahmen und Durchbrechungen des Gewaltenteilungsprinzips besteht.11 Akte der auswärtigen Gewalt wahre Aufgabe einer Repräsentativversammlung bestehe nicht darin, das Geschäft der Regierung selbst zu verrichten, wozu sie ganz ungeeignet ist, sondern darin, die Regierung zu überwachen und zu kontrollieren. 4 BVerfGE 67, 100 (139); 68, 1 (87 f.). 5 St. Rechtspr. BVerfGE 67, 100 (139); 68, 1 (86). Die grundsätzliche Zuordnung der Akte des auswärtigen Verkehrs zum Kompetenzbereich der Exekutive beruhe auf der Annahme, „dass institutionell und auf Dauer typischerweise allein die Regierung in hinreichendem Maße über die personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten verfügt, auf wechselnde äußere Lagen zügig und sachgerecht zu reagieren und so die staatliche Aufgabe, die auswärtigen Angelegenheiten verantwortlich wahrzunehmen, bestmöglich zu erfüllen". 6 BVerfGE 36, 1 (14). 7 BVerfGE 55, 349 (365). s Baade, Das Verhältnis, S. 77 ff.; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 59, RdNr. 22; Wolf rum, VVDStRL 1997, 44. 9 Menzel, VVDStRL 1954, S. 194 ff. 10 Nachweise bei Baer, in: Der Staat 2001, S. 540. n Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 59, RdNr. 16; Bryde, Jura 1986, S. 366.

. Kap.: Demokratische Legitimation

ärie

egewalt

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- sofern man diesbezüglich überhaupt von einer eigenständigen Staatsfunktion ausgehen will - lassen sich daher auch nicht von vornherein einem bestimmten Funktionsträger zuordnen, sondern bilden vielmehr einen Querschnitt durch die verschiedenen Staatsfunktionen. 12 In diesem Sinne scheint auch die Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 59 I I GG einen gewissen sprachlichen Wandel zu vollziehen: War anfangs noch von einem „Übergriff" der Legislative in den Bereich der Exekutive die Rede,13 so wurde dem Parlament später ein „Mitwirkungsrecht" im Bereich der Exekutive zugestanden,14 was zuletzt in dem Diktum gipfelte, dass Regierung und Legislative im Bereich der auswärtigen Gewalt „zusammenwirken." 15 Die internationale Einbindung des Staates trägt mit dazu bei, herkömmliche Positionen der innerstaatlichen Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt zu relativieren. 16 Das Völkerrecht ist nämlich immer weniger von rechtlich verbindlichen Vertragsabreden geprägt, an denen das Parlament durch Ratifikation teilhaben kann, sondern es hat in den letzten Jahrzehnten weniger „schwerfällige", in Hinblick auf die Rechtsfolgen aber auch weniger eindeutige Handlungsformen hervorgebracht. 17 Die Formenvielfalt geht einher mit einem inhaltlichen Strukturwandel: Indem das moderne Völkerrecht die Rechtsstellung des einzelnen zunehmend deutlich berührt und ehemals nationale Regelungsbereiche internationalisiert, zieht es die Distinktionskraft der traditionellen Unterscheidung zwischen Innen· und Außenpolitik grundsätzlich in Zweifel. 18 Das gesteigerte Hineinwirken des Völkerrechts in den nationalen Rechtsraum verlangt unter Legitimationsgesichtspunkten eine Weiterentwicklung, Vorverlagerung und Ausdifferenzierung der parlamentarischen Steuerung und Mitverantwortung von wesentlichen außenpolitischen Entscheidungen der Exekutive. In diesem Sinne ist in der letzten Zeit vielfach ein Trend zur „Parlamentarisierung der auswärtigen Gewalt" diagnostiziert worden, 19 der an dieser Stelle mit Blick auf die „Wehrgewalt" überprüft werden soll. Grundlage der Analyse sind drei außerordentlich bedeutsame Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht zur Kompetenzverteilung im Bereich der Wehrverfassung: Den Auftakt bildete am 18. Dezember 1984 das Urteil betreffend die Aufstellung US-amerikanischer nuklearer Pershing-2-Mittelstreckenraketen und Cruisemissile-Marschflugkörper 12

Fastenrath, Kompetenzverteilung, S. 79. 13 BVerfGE 1, 351 (369). 14 BVerfGE 90, 286 (357). 15 BVerfGE 104, 151. 16 Für einen Wandel des tradierten Verständnisses plädiert u. a. Wolf rum, VVDStRL 1997, S. 43 ff. 17 Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 59, RdNr. 40; Schindler, in: FS Seidl-Hohenveldern, S. 618; Eckertz, EuGRZ 1985, S. 166; Tomuschat, VVDStRL 1978, 32.

is Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 32, RdNr. 18; Sauer, ZaöRV 2002, S. 336. 19 In diesem Sinne zuletzt Kokott, DVB1. 1997, 937; Wolfrum, DVB1. 1997, S. 53.

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Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

infolge des so genannten NATO-Doppelbeschlusses.20 Die darin entwickelten Gedanken sind durch zwei weitere Urteile aufgegriffen, wenn auch nicht immer konsequent fortentwickelt worden - in der Entscheidung vom 12. Juli 1994 über die Zulässigkeit der Adria-, AWACS- und Somalia-Einsätze der Bundeswehr 21 sowie in der Entscheidung vom 22. November 2001 zum neuen strategischen Konzept der NATO. 22 In allen drei Fällen wurde im Rahmen eines Organstreitverfahrens darüber gestritten, ob die Bundesregierung im auswärtigen Verkehr handeln durfte, ohne die verfassungsmäßig vorgeschriebene Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften nach Art. 59 I I GG einholen zu müssen. Das BVerfG hat in seinen Urteilen die verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung im Bereich der militärischen Integration der Bundesrepublik Deutschland wesentlich geprägt. Beleuchtet werden sollen dabei zwei Bereiche, in denen das Parlament in funktionell-institutioneller Hinsicht an den äußeren Staatsgeschäften legitimierend mitwirken kann: 1. Mit der Zustimmung zu internationalen bündnispolitischen Verträgen verantwortet das Parlament die Grundsatzentscheidung für die militärische Integration staatlicher Streitkräfte. Die parlamentarische Beteiligung an der Vertragsgewalt (treaty-making-power) ist jedoch in den einzelnen Phasen der Konkretisierung und Fortentwicklung der Bündnisverträge unterschiedlich stark ausgeprägt, weil diese Entwicklungsprozesse weitgehend durch Vorgänge auf der internationalen Ebene determiniert werden. Dabei gilt es zu untersuchen, ob sich die funktionell-institutionelle Mitverantwortung des Parlaments allein auf den formalen Zustimmungsakt beschränkt oder ob das Parlament auch das weitere „Vertragsschicksal" zu steuern (und dadurch demokratisch zu legitimieren) vermag. Angesichts möglicher Steuerungsdefizite bei der parlamentarischen Vertragsgewalt stehen dann geeignete Kompensationsmöglichkeiten in Rede. 2. Als außenpolitische Gestaltungsfreiheit europäischer Staaten hat sich das ius ad bellum weitgehend auf die überstaatliche Ebene verlagert und ist mit den internationalen Entscheidungsprozessen verflochten. Ob und inwieweit das Parlament an der Entscheidung über Krieg und Frieden - respektive an der Entscheidung über den Streitkräfteeinsatz („Einsatzgewalt") - teilhat, ist neben der Vertragsgewalt ein weiterer Gradmesser für die parlamentarische Steuerung und Mitverantwortung im Bereich der auswärtigen Gewalt. Das Grundgesetz sichert die parlamentarische Entscheidungskompetenz zum einen in Zusammenhang mit der Feststellung des Verteidigungsfalles (Art. 115a GG), der insbesondere wegen seiner Verschränkung mit dem NATO-Bündnisfall Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gewesen ist. 23 Mit dem Ende des Kalten Krieges ist die existentielle Frage von Krieg und 20 BVerfGE 68, 1; zum Doppelbeschluss vgl. Abdruck der Erklärung der Außen- und Verteidigungsminister vom 12. 12. 1979 BullBReg. 1979, 1409. 2 1 BVerfGE 90, 286. 22 Urteil vom 22. November 2001, 2 BvE 6/99 = DVB1. 2002, 116. 23 Vgl. für viele grundlegend Kersting, Bündnisfall und Verteidigungsfall; Ipsen, DÖV 1971, S. 583 ff.

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Frieden der eher akzidentiellen Frage nach Beteiligung an einem Streitkräfteeinsatz im internationalen Rahmen gewichen, wobei die Einsatzentscheidung in den Gremien von NATO oder UNO sowie in den nationalen Hauptstädten getroffen wird. Problematisch geworden sind aber nicht nur die rechtlichen Entscheidungsgrundlagen, sondern vor allem auch die Frage nach der parlamentarischen Legitimation solcher Einsätze. Der verfassungsgerichtlich vorgeprägte konstitutive Parlamentsbeschluss gewährleistet eine vergleichsweise weitgehende Mitwirkung des Bundestages an der Auslandsentsendung deutscher Streitkräfte. Mit Blick auf die funktionell-institutionelle demokratische Legitimation ergeben sich strukturell ähnliche Fragestellungen wie bei der Vertragsgewalt - inwieweit nämlich die parlamentarische Mitverantwortung für den Streitkräfteeinsatz über die bloße Zustimmung zur Einsatzentscheidung hinausgeht und welche Möglichkeiten dem Parlament verbleiben, nachfolgende Einsatzentwicklungen zu steuern bzw. ihnen korrigierend entgegenzuwirken. Die durch das Verfassungsgerichtsurteil von 1994 (AWACS-Urteil) in groben Zügen vorgegebene innerstaatliche Kompetenzverteilung bei der Einsatzgewalt, die insbesondere für den Bereich eil- oder geheimhaltungsbedürftiger Einsatzentscheidungen einer (gesetzgeberischen) Feinjustierung bedarf, bewegt sich im Spannungsfeld zwischen exekutiver Handlungsfähigkeit, militärischer Effizienz, Bündnistreue und demokratischer Legitimation. Notwendig wird dabei nicht nur ein „horizontrales" (staatsorganisationsrechtliches) Austarieren der exekutiven und legislativen Mitwirkungsrechte bei Auslandseinsätzen, wie es ansatzweise im sog. Parlamentsbeteiligungsgesetz geschehen ist, 24 sondern auch ein „vertikales" Abgleichen des Parlamentsvorbehalts mit den völkerrechtlichen Bündnisverpflichtungen und Entscheidungsprozessen im Mehrebenensystem.

II. Parlamentarische Vertragsgewalt im internationalen militärischen Integrationsprozess Mit der internationalen militärischen Integration trifft der Staat eine grundsätzliche und weitreichende außenpolitische Entscheidung. Kernstück und gleichzeitig wirksamstes Instrument der parlamentarischen Gestaltung der auswärtigen Beziehungen ist dabei die „Vertragsgewalt" („treaty-making-power"). 25 War der völker24 Gesetz über die Parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland; Gesetzentwurf vom 23. 3. 2004, BT-Drs. 15/2742; vgl. dazu die Öffentliche Anhörung in der 25. Sitzung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages am 17. 6. 2004 (Sten.Prot. G 25). Zum Stand der wissenschaftlichen Diskussion über das Parlamentsbeteiligungsgesetz vgl. Pofalla, ZRP 2004, S. 221 ff.; Burkiczak, ZRP 2003, S. 84 ff.; Nowrot, NZWehrR 2003, S. 76 f.; Wiefelspütz, NZWehrR 2003, S. 134 f.; Hoßfeld, „Im Zweifel für den Bundestag", in: „Das Parlament" vom 10. /16. Juni 2003, S. 2; Dreist, ZG 2004, S. 39 ff.; ders., KritV 2004, S. 79 ff. 25 Fastenrath, Kompetenzverteilung, S. 230 f.; Jarass, in: Jarass/ Pie roth, GG, Art. 59, RdNr. 9; Wolfrum, VVDStRL 56 (1997), S. 38, 45 ff.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

rechtliche Vertragsschluss in der europäischen Rechtsgeschichte vornehmlich dem Monarchen überlassen, wurde er durch Einschaltung der legislativen Organe demokratisiert. 26 Der Gesetzesvorbehalt für den Abschluss verteidigungspolitisch relevanter Verträge, der als unverzichtbarer „Sondervorbehalt der Legislative" nicht delegierbar ist, 27 wird verfassungsrechtlich durch Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG und völkerrechtlich durch vertragliche Ratifikationsvorbehalte abgesichert.28 Der Bundestag übernimmt mit seiner Zustimmung zum Vertrag die politische Mitverantwortung für die auf der Völkerrechtsebene eintretenden Rechtsfolgen. 29 Das Erfordernis des Zustimmungsgesetzes soll insoweit verhindern, dass die parlamentarische Kontrolle durch langfristige und einseitig oft nicht mehr zu lösende völkerrechtliche Bindungen eines Vertrages unterlaufen werden. 30 In der Rechtsprechung des BVerfG spiegeln sich die unterschiedlichen Funktionen des Art. 59 I I GG wieder, wobei die demokratische „Kontrollfunktion" erst in Zusammenhang mit der Judikatur zum Gesetzesvorbehalt und der „Wesentlichkeitstheorie" in den Vordergrund rückt. 31 Grundsätzlich besteht diese Kontrollfunktion darin, den Abschluss des Vertrages zu ermöglichen bzw. zu verhindern. Dabei verpflichtet das Zustimmungsgesetz die Exekutive nicht, den Vertrag auch tatsächlich abzuschließen oder seinen Inhalt in vollem Umfang rechtsverbindlich zu machen; das Gesetz eröffnet lediglich Handlungsspielräume, ohne jedoch die Regierung im Ausmaß ihrer Nutzung zu binden. 32 Ebenso bleibt die parlamentarische Mitwirkung nach Art. 59 I I GG - anders als der Vorentwurf von Herrenchiemsee33 - gegenständlich auf bestimmte Arten völkerrechtlicher Verträge und inhaltlich auf die bloße Zustimmung begrenzt. Daran wird deutlich, dass die demokratische Mitbestimmung bei der völkerrechtlichen Rechtsetzung nicht in gleichem Maße verwirklicht werden kann wie bei der innerstaatlichen Gesetzgebung. Jede Form von Internationalisierung führt daher zu einer gewissen Verminderung parlamentarisch-demokratischer Mitwirkung. 34 26

Vgl. zur geschichtlichen Entwicklung der Demokratisierung des völkerrechtlichen Vertragsschlusses Schindler, Volkerrecht und Demokratie, in: FS Seidl-Hohenveldern, S. 615. 27 BVerfGE 1, 372 (395). 28 Ζ. B. in Art. 14 NATO-V; Art. 14 Brüsseler Vertrag. 2 9 BVerfG, DVB1. 2002, S. 120; Rojahn, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 59, RdNr. 30; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 59, RdNr. 47. 30 BVerfGE 68, 1 (88); 90, 298 (357); Grewe, HBdStR Bd. III, § 77, RdNr. 59. 31 Weber, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 59 II, RdNr. 35. 32 Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 171. 33 Art. 81 Abs. 2 des Herrenchiemsee-Entwurfes sprach schlicht von zustimmungsbedürftigen „Staatsverträgen". Eine gegenständliche Beschränkung der zustimmungspflichtigen Verträge enthielt auch die Paulskirchenverfassung von 1849 (§§ 77 i. V. m. 102): „HandelsSchijfahrts- und Auslieferungsverträge, sowie überhaupt völkerrechtliche Verträge, insofern sie das Reich belastenAuf die Gegenstände der Reichsgesetzgebung bezog sich die Zustimmungspflichtigkeit der Verträge nach Art. 11 der RV von 1871 sowie nach Art. 45 III WRV von 1919. 34 Schindler, in: FS Seidl-Hohenveldern, S. 611.

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Militärische Bündnisverträge sind inhaltlich weitgehend rudimentär ausgestaltet; sie zeichnen sich durch einen offenen und anpassungsfähigen (evolutiven) Charakter aus, der auf dynamische Fortentwicklung angelegt ist. 35 Um den Bündniszweck zu erreichen, muss die Regierung Vertragskonkretisierungen vornehmen können, deren Inhalt und Rechtsformen sich von vornherein nicht vollständig bestimmen lassen. Als Legitimationsfaktor für die Konkretisierung entwicklungsoffener Vertragsbestimmungen bemüht das BVerfG das in den Vorschriften des Vertrages angelegte Integrationsprogramm, 36 dessen legitimatorische Kraft indes mit zunehmender Fortentwicklung des Vertrages schwindet. Im Rahmen des vertraglich konsentierten Integrationsprogramms fällt jede nachfolgende, den Vertragsinhalt vollziehende, konkretisierende oder fortentwickelnde bündnispolitische Maßnahme in die Kompetenz der Exekutive und bedarf keiner gesonderten Zustimmung in Gesetzesform; auch nicht im Sinne einer „Nachbesserung" der gesetzlichen Ermächtigung. 37 Die Bestimmung der Reichweite eines Integrationsprogramms erfolgt aus einer ex ante Sicht des Gesetzgebers. Dem Parlament müssen dazu die potentiellen Entwicklungsmöglichkeiten des Vertrages zum Zeitpunkt der Ratifikation in ihren wesentlichen Grundzügen vor Augen gestanden haben. Auf der anderen Seite begründet die förmliche Vertragsänderung neue, d. h. nicht mehr im Integrationsprogramm angelegte völkerrechtliche Pflichten; sie bedarf - ungeachtet der Ratifikation des Ausgangs Vertrages - einer erneuten parlamentarischen Zustimmung, weil nur so die Kontrollfunktion der gesetzgeberischen Körperschaften über den Vertrag als Ganzen gewahrt bleiben kann. 38 In diesem Abschnitt soll entlang einzelner Stadien der vertraglichen Fortentwicklung analysiert werden, wie die parlamentarische Vertragsgewalt des Deutschen Bundestages von Verfassung wegen funktionell ausgestaltet ist. Ausgangspunkt der parlamentarischen Vertragsgewalt ist dabei der Zustimmungsakt zu militärischen Bündnisverträgen nach Art. 59 I I GG (dazu 1.). Die parlamentarische Steuerungsfähigkeit von Vertragskonkretisierungen und Vertragsentwicklungen erweist sich jedoch infolge einer restriktiven Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 59 I I GG als ausgesprochen begrenzt (dazu 2.). Überdies lassen sich die integrationsbedingten parlamentarischen Steuerungsdefizite nur bedingt kompensieren (dazu 3.). Insoweit wird die These vertreten, dass die parlamentarisch-demokrati35 Ress, Verfassungsrechtliche Auswirkungen, in: FS Zeidler, S. 1778; BVerfGE 90, 286 (361). 36 BVerfGE 68,1 (100). 37 BVerfGE 68, 1 (100); BVerfGE 90, 286 (362); Meyring, Entwicklung zustimmungsbedürftiger völkerrechtlicher Verträge, S. 173 ff.; Kempen, in: M / K / S , GG, Art. 59 Abs. 2, RdNr. 51. 38 So i.E. Maunz, M / D , Art. 59, RdNr. 46; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 59, RdNr. 44; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 59, RdNr. 11; Bernhardt, HBdStR Bd. VII, § 174, RdNr. 15; vgl. zur uneinheitlichen Staatspraxis Fastenrath, Inhaltsänderungen, in: Geiger (Hrsg.), 2000, S. 102 ff.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

sehe Legitimation der Vertragsgewalt mit Blick auf dynamische Vertragsentwicklungen nicht mehr ausreichend gewährleistet ist. 1. Zustimmung zu militärischen Bündnisverträgen Die parlamentarische Zustimmung zu einem völkerrechtlichen Vertrag ist Ausgangspunkt der parlamentarischen Vertragsgewalt. Der Zustimmungsvorbehalt nach Art. 59 II GG verstärkt zwar tendenziell die Demokratisierung der Willensbildung im auswärtigen Bereich; gleichwohl bleibt die parlamentarische Zustimmung weitgehend abstrakt: Initiative, Verhandlung und Gestaltung des Vertrages sind Sache der Regierung: Dies reduziert die Zustimmung des Parlaments auf eine en bloc- Annahme bzw. Ablehnung des Vertrages. 39 Die bloße Existenz gesetzlicher Zustimmungsvorbehalte ist aber für sich genommen nur ein begrenzter Gradmesser für den parlamentarischen Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung internationaler Abkommen. Entscheidend ist vielmehr der Zeitpunkt, zu dem das Parlament seinen Einfluss ausüben kann. 40 Der Bundestag untersagt sich selbst in § 82 Abs. 2 seiner Geschäftsordnung, nachträgliche Änderungen an einem ihm vorgelegten, bereits paraphierten Vertragstext vorzunehmen. 41 Ratio legis dürfte sein, dass durch den Vertrag begründete völkerrechtliche Rechte und Pflichten nicht einseitig durch die Legislative geändert werden sollen, weil Änderungsanträge den Handlungs- und Gestaltungsspielraum der Exekutive übermäßig einengen würden. 42 Derweil verbietet die Geschäftsordnung keine Änderungsanträge zu den Regeln der Zustimmungsgesetzes selbst; gerade hierbei könnte das Parlament Ausund Durchführungsbestimmungen aufnehmen, die ihm einen weitergehenden Einfluss auf die (künftige) Vertragsanwendung sichern. Auch erscheint es in Einzelfällen nicht ausgeschlossen, dass Mitglieder einflussreicher Parlamentsausschüsse als Beobachter, Sprecher oder sogar Unterhändler zu Vertragskonsultationen beigezogen werden und dadurch frühzeitig Einfluss auf Inhalt und Charakter der Verträge nehmen können. Nationale Parlamente haben überdies gewisse Möglichkeiten, den vertraglichen Inhalt durch entsprechend klare Vertragsinterpretation 43 zu qualifizieren. 44 Schließlich haben Parlamente die Möglichkeit, sich aktiv 39 BVerfGE 68, 1 (68); Grewe, AöR 1987, S. 531; Schindler, in: FS Seidl-Hohenveldern, S. 616. 40 Hilf/Schorkopf, in: Drexl (Hrsg.), 1999, S. 132. 41 Gleiches gilt übrigens für das Europäische Parlament im Verfahren der Zustimmung zu einem internationalen Abkommen im Bereich des Gemeinschaftsrechts. Art. 86 Abs. 2 GOEP führt insoweit aus: Das Parlament äußerst sich anschließend (nach der Konsultation) in einer einzigen Abstimmung zu diesem Dokument, wobei keine Änderungsanträge eingereicht werden können. 42

So Meyring, Die Entwicklung, S. 426. Für eine Änderung der Geschäftsordnung plädieren hingegen Bernhardt, HBdStR Bd. VII, § 174, RdNr. 15; Weber, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 59 II, RdNr. 63. 43 Dabei handelt es sich nicht um eine „authentische" Interpretation der Vertragsparteien i. S. d. Art. 31 III Buchst, a) der WVRK; zur Rolle des Parlamente bei der Vertragsinterpreta-

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in die Ausfiihrung des Vertrags einzuschalten. Eine im Zustimmungsgesetz verankerte Verpflichtung der Exekutive zur regelmäßigen Berichterstattung über die Anwendung des Vertrages in der Praxis liefert Informationen, die zur effektiven parlamentarischen Kontrolle der künftigen Vertragsanwendung notwendig sind. Auch kann sich der Gesetzgeber für bestimmte vertragsrelevante Akte der Exekutive unabhängig von deren Rechtsform die erneute parlamentarische Zustimmung vorbehalten. 45 a) Streitkräfteintegration Die Mitgliedschaft Deutschlands in internationalen sicherheitspolitischen Organisationen beruht auf dem Beitritt zu völkerrechtlichen Verträgen, welche im Sinne von Art. 59 II 1 GG die „politischen Beziehungen" des Bundes regeln 46 und daher vom Bundestag durch Zustimmungsgesetz ratifiziert werden. 47 Rechtsgrundlage der in den 1990er Jahren aufgestellten multinationalen Armee verbände, die eine Streitkräfteintegration auf Korpsebene ermöglichen, sind zwar keine völkerrechtlichen Verträge, sondern (nur) Regierungsübereinkommen (Korps-Konventionen des Deutsch-Niederländischen Korps 48 sowie des Multinationalen Korps-Nordost 49); diese wurden aber vom Bundestag ratifiziert. Organisation und Arbeitsweitionen vgl. auch Meyring, Die Entwicklung, S. 434 f.; Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 75. 44 So nahm etwa der einflussreiche Senatsausschuss für Auswärtige Angelegenheiten des U.S.-Kongresses mit seinem Bericht vom 6. Juni 1949 entscheidenden Anteil an der Auslegung des ΝΑΤΟ-Vertrages - vgl. Report of the Senate Committee on Foreign Relations vom 6. 6. 1949, in: American Foreign Policy, 1950-1955, Basic Doc., vol. I, Dep. of State Pubi. 6446(1957), S. 835. 45 Vgl. Meyring, Die Entwicklung, S. 431 ff. mit Beispielen aus der Praxis. 46 Politische Verträge i. S. d. Art. 59 I I GG sind solche, die nach Inhalt und Zweck wesentlich und unmittelbar Stellung und Gewicht der Bundesrepublik Deutschland innerhalb der Staatengemeinschaft betreffen - BVerfGE 1, 372 (382); Geiger, Grundgesetz und Volkerrecht, S. 135 f.; Randelzhofer, M / D , Art. 24 II, RdNr. 24; Stern, Staatsrecht I, S. 547; Tomuschat, BK, Art. 24, RdNr. 148. 47 Vgl. UN-Charta vom 26. 6. 1945, BGBl. 1973 II, 431; NATO-Vertrag vom 4. 4. 1949, BGBl. 1955 II, 289; Brüsseler Vertrag vom 17. 3. 1948 mit Änderungsprotokoll vom 23. 10. 1954, BGBl. 1955 II, 258. 48

Abkommen (niederl.: Korps-,, Verdrag"; engl.: Corps-„Convention", im Folgenden: D./ NL. Korps-Konvention) zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Königreiches der Niederlande über die Rahmenbedingungen für das I. (Deutsch-Niederländische) Korps und dem Korps zugeordnete Truppenteile, Einrichtungen und Dienststellen vom 6. 10. 1997; BGBl. 1998 II, S. 2438-2444; (= BR-Drs. 67/98, S. 39-45, = BT-Drs. 13/10117, S. 39-45). 49 Übereinkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung des Königreiches Dänemark und der Regierung der Republik Polen über das Multinationale Korps Nordost" vom 5. 9. 1998, (BGBl. 1999 II, 675). Das Stettiner Korps-Übereinkommen wird im englischen Originaltext als „ Convention in der amtl. deutschen Übersetzung als „Übereinkommen" bezeichnet. 8 Schmidt-Radefeldt

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

se der Korps sind dagegen auf Ministerebene als Ressortvereinbarung (sog. Organisationsvereinbarungen für die K o r p s 5 0 ) niedergelegt und i m Rahmen des Ratifizierungsprozesses den Parlamenten (lediglich) zur Kenntnis gebracht worden, wobei gegen Inhalt und Regelungen keine Einwände erhoben wurden. 5 1 Allein dem Eurokorps schien bislang der „ M a k e l " einer fehlenden gesetzlichen Grundlage anzuhaften. 52 Das mittlerweile fünf Nationen umfassende Korps ging aus der deutsch-französischen Freundschaft hervor und umfasst i m Kern vor allem die Deutsch-Französische Brigade, die ihrerseits durch einen Beschluss des DeutschFranzösischen Sicherheitsrats 53 auf der Grundlage von Art. 4 des 1. Protokolls zum Elysée-Vertrag ins Leben gerufen worden war. 5 4 Hingegen erfolgte der Beschluss über die Aufstellung des Eurokorps 1995 auf der Grundlage des Gemeinsamen Berichts von La Rochelle 55 der Verteidigungsminister, welcher infolge einer bewusst unterbliebenen verfassungsrechtlichen Ratifikation sowie aufgrund eines fehlenden (anderweitigen) Rechtsbindungswillens allenfalls völkerrechtlichen „ soft-law "-Kategorien zugeordnet werden kann. 5 6 Während Versuche des Schrifttums, gleichwohl eine tragfähige völkerrechtliche Ermächtigungsgrundlage zu „konstruieren", 5 7 wenig überzeugen konnten, soll das sog. Straßburger Abkommen

50 Vereinbarung (niederl: „Akkoord" - engl.: „Agreement") zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Königreichs der Niederlande über die Organisation und Arbeitsweise des /. (Deutsch-Niederländischen) Korps und des Verbindungskommandos der Luftstreitkräfte vom 6. 10. 1997, BR-Drs. 67/98, S. 79-96. 51 Peterson, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Fragestellungen, S. 26. 52 In diesem Sinne Nolte, ZaöRV 1994, S. 117; Stein, Rechtsfragen, in: Tomuschat (Hrsg.), Rechtsprobleme, S. 55. Offen gelassen wird die Beteiligung des Bundestages an der Aufstellung des Europäischen Korps auch von Rechenberg, in: Wiss. Dienst des Deutschen Bundestags, Reg.Nr. WF 111-115(92 (15. 2. 1993). Zum Eurokorps vgl. Bull.BReg. Nr. 133, 1218 vom 9. 12. 1992. 53 Der deutsch-französische Sicherheitsrat, der die klassische Struktur einer internationalen Organisation aufweist, wurde 1988 als intergouvernementales militärisches Kooperationsforum beider Staaten durch ein Zusatzprotokoll zum Elysée-Vertrag ν. 22. 1. 1963 über die deutsch-französische Zusammenarbeit gegründet, dem der Bundestag seinerseits gem. Art. 59 I I GG zugestimmt hat (BGBl. 1988 II, S. 1150, Text des Protokolls BT-Drs 11/3258). 54 Die verfassungsrechtliche Zustimmung des Deutschen Bundestages zu diesem Protokoll erstreckte sich dabei auch auf die im Protokoll avisierte Aufstellung (künftiger) gemischter Militäreinheiten und verschafft der D/F-Brigade damit eine - wenn auch sehr allgemein gehaltene - gesetzliche Legitimationsgrundlage (so i.E. Stein, Rechtsfragen, in: Tomuschat (Hrsg.), Rechtsprobleme, S. 54). Organisation und Betrieb der Brigade werden durch eine Verwaltungsvereinbarung vom 2. 11. 1988 zwischen beiden Verteidigungsministern festgelegt. Zu den rechtlichen Rahmenbedingungen der Brigade Dau, NZWehrR 1989, S. 177 ff.

55 Abgedr. bei Martin (Hrsg.), Eurokorps, S. 574-592. 56 Ipsen, Völkerrecht, § 10, RdNr. 17. Wengler (JZ 1995, S. 22) beschreibt eine zunehmende Kategorie sog. „nicht-rechtlicher Verträge", die - anders als „konkludente Verträge - ausdrücklich mit der Maßgabe geschlossen werden, dass sie nicht als völkerrechtliche Verträge zu verstehen seien, ohne damit als völkerrechtlich unzulässig gelten zu wollen. 57 Dabei wird teilweise Art. 4 des 1. Protokolls zum Elysée-Vertrag herangezogen (vgl. Koenig, in: Tomuschat (Hrsg.), Rechtsprobleme, S. 83); kritisch insoweit Wassenberg, Euro-

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eine explizite und rechtsverbindliche Integrationsgrundlage für alle (künftigen) Mitgliedstaaten des Eurokorps schaffen.

b) Streitkräftestationierung Auch im Hinblick auf die Stationierung ausländischer Truppen hat das nationale Parlament ein gesetzliches Mitspracherecht. So ist Rechtsgrundlage (ius ad praesentiam) für den Aufenthalt ausländischer NATO-Truppen in Deutschland der Aufenthaltsvertrag von 1954;58 die Rechtsstellung der NATO-Streitkräfte (ius in preasentia) ist dagegen im NATO-Truppenstatut (NTS) von 1951 geregelt, das als völkerrechtlicher Vertrag vom Deutschen Bundestag ratifiziert worden ist. 59 Das Statut enthält überwiegend Rahmenbedingungen und bedarf zusätzlicher ministerieller Vereinbarungen, aus denen sich konkrete Rechte und Pflichten ergeben. 60 Die verstärkte Militärkooperation der NATO mit den Staaten der „Partnerschaft für den Frieden" (PfP) seit Mitte der 90er Jahre hatte eine Regelung erforderlich gemacht, um die Rechtsstellung der betroffenen Streitkräfte umfassend zu regeln. Für alle Staaten, die nicht dem NATO-Truppenstatut angehören, wurde mit dem multinationalen Truppenstatut zwischen den NATO-Mitgliedstaaten und den Staaten der „Partnerschaft für den Frieden" (PfP) eine völkervertragliche Basis für deren Streitkräfteaufenthalt geschaffen. 61 Um bilaterale Vereinbarungen über den Aufenthalt von Partnerstreitkräften bereits vor In-Kraft-Treten des multilateralen PfP-Truppenstatuts möglich zu machen, wurde 1995 das Streitkräfteaufenthaltsgesetz 62 verabschiedet. Das Gesetz ermächtigt die Bundesregierung, Vereinbarungen mit ausländischen Staaten über Einreise und vorübergehenden Aufenthalt ihrer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland durch Rechtsverordnung ohne parlamentarische Zustimmung in Kraft zu setzten.63 Um die demokratische Legitimation des Streitkräfteaufenthalts über die parlamentarische „Rahmenermächtigung" korps, S. 143 f. mit dem Hinweis auf den binationalen Charakter dieses Protokolls, das als Rechtsgrundlage für die drei später beigetretenen Eurokorpsstaaten (Belgien, Spanien und Luxemburg) nicht trage. Wassenberg versucht stattdessen nachzuweisen, dass sich der Rochelle-Bericht im Laufe der Zeit durch ein beträchtliches Anwachsen ministerieller und korpsinterner Regelungen „normativ verfestigt" habe und von den jeweils beigetretenen Staaten wie selbstverständlich übernommen wurde. 58 Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland vom 23. 10. 1954; BGBl. I I 1955, S. 253. 59 Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages vom 19. Juni 1951 über die Rechtsstellung ihrer Truppen (NATO-Truppenstatut); BGBl. 1961 II, S. 1183-1190. 60 Fleck, ZaöRV 1996, S. 392; Sennekamp, NJW 1983, S. 2733. 61 PfP-Statusabkommen vom 19. 6. 1995, abgedr. im NATO-Handbook, S. 108 ff. 62 Gesetz über die Rechtsstellung ausländischer Streitkräfte bei vorübergehenden Aufenthalten in der Bundesrepublik Deutschland vom 27. 7. 1995 - SkAufG, BGBl. 1995 II, S. 554. 63 Heth, NZWehrR 1996, S. 1 ff.; Fleck, ZaöRV 1996, S. 389 ff. 8*

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

hinaus zu verstärken, wurde auf „Demokratieklauseln" sowie auf den Reziprozitätsgrundsatz zurückgegriffen: als Partner solcher Vereinbarungen kommen nur Staaten in Betracht, die zum einen Mindestanforderungen an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erfüllen und zum anderen auch der Bundeswehr Aufenthaltsrechte einräumen. 64

2. Steuerung von Vertragsentwicklungen a) Vertragserweiterung Neben der formellen Zustimmungskompetenz haben Parlamente die Möglichkeit, Vertragsentwicklungen auch nach Abschluss des Ratifikationsverfahrens zu steuern. Zu den bedeutsamen Entscheidungen eines Bündnisses gehört dabei der Beitritt neuer Mitgliedstaaten.65 Die NATO verstand sich von Anfang an als Wertegemeinschaft, die an jeden Beitrittskandidaten dezidierte Anforderungen stellt. 66 Während die ersten Erweiterungsrunden in den 1950er Jahren 67 vor allem Ausdruck amerikanischer „Containment-Politik" gegenüber dem Warschauer Pakt gewesen sind, die neben geostrategischen Vorteilen (insb. Türkei und Deutschland) auch eine Einbindung des wiederbewaffneten Deutschlands in die westliche Gemeinschaft verfolgten, war die Aufnahme der mittelosteuropäischen Reformstaaten Teil einer umfassenden Bündnisreform als Reaktion auf die geostrategischen Veränderungen nach 1990.68 Dabei bildete der Jubiläumsgipfel im Jahre 1999 das politische Signal für den Beginn einer neuen Epoche gemeinsam mit den ehemali64

Dabei gelten die in der Charta von Paris von 1990 (Bulletin BReg. Nr. 137 vom 24. 11. 1990, S. 1409) niedergelegten Verpflichtungen; vgl. amtl. Begründung zu Art. 2 SkAufG, BT-Drs. 13/730, S. 10. 65 Darauf weist bereits das BVerfG in seiner Entscheidung zum NATO-Konzept hin. 66 Die Brüsseler Erklärung der Staats- und Regierungschefs vom 11.1. 1994 stellt dabei Anforderungen an die Stabilität, Demokratie, Einhaltung der Menschenrechte und an die parlamentarisch-demokratische Kontrolle der Streitkräfte in den jeweiligen Beitrittsstaaten. Auf die „atlantische Weitegemeinschaft" rekurrieren auch die Präambel und die sog. „Demokratieformer des Art. 2 NATO-Vertrag: Beide sind nicht nur Ausdruck einer westlichen Lebensform, sondern erkennen der Allianz eine Ordnungsfunktion zu, die einer Übertragung westeuropäischer Integrationsziele auf den atlantischen Bereich gleichkommt (Ipsen, Rechtsgrundlagen, S. 13). 67 Türkei und Griechenland (1952); Deutschland (1955). Ein Aufnahmeantrag der Sowjetunion (!) aus dem Jahre 1954 wurde abgelehnt. 68 Die NATO hatte bereits 1996 beschlossen, eine umfassende Strukturreform ins Werk zu setzen, die neben der Herausbildung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität vor allem der Kooperation mit den Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts sichtbaren Ausdruck verleihen sollte. Der Anpassungsprozess der NATO in den 90er Jahren ist begleitet von einer kaum mehr überschaubaren Flut an wissenschaftlicher Literatur: ζ. B. Reinecke (Hrsg.), Die neue NATO, Varwick/Woyke, NATO 2000, Höfler, ÖMZ 1998, 247 ff.; Lutz, RuP 1999, S. 217; Wittmann, in: Europäische Sicherheit 1999, S. 12; Theiler, Die NATO im Umbruch.

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gen Warschauer Paktstaaten. Das zeitgleich verabschiedete strategische Konzept von Washington sieht die Erweiterung um neue Mitglieder explizit als Teil des Sicherheitsansatzes des Bündnisses vor. 69 Art. 10 NATO-Vertrag, der den Beitritt zur Allianz regelt, sieht neben dem einstimmigen Beschluss der Parteien keine weitere parlamentarische Mitwirkung vor. 70 Als förmliche Vertragsänderung unterliegen die Beitrittsprotokolle einem Ratifizierungsvorbehalt, der auch dem Deutschen Bundestag ein gewisses Mitentscheidungsrecht im strategischen Bereich sichert. Das französische Parlament, das nur schwer in die Allzuständigkeit der Regierung im auswärtigen Bereich einzudringen vermag, sicherte sich seinen Einfluss auf die Vertragserweiterung, indem es die Ermächtigung zur Ratifikation des NATO-Vertrags unter der Bedingung erteilte, dass die Regierung ihr Einverständnis zur künftigen Aufnahme neuer Staaten nur nach erneuter Zustimmung des Parlaments geben werde. 71 Bereits im Vorfeld eines Vertragsbeitritts können die Parlamente durch Formulierung entsprechender inhaltlicher Vorgaben über den Zustimmungsakt hinaus auf die Beitrittsverhandlungen Einfluss nehmen. So hat der amerikanische Senat eine Reihe von politischen Bedingungen formuliert, die bei der Einladung weiterer Staaten zum Bündnisbeitritt von der amerikanischen Regierung zu beachten seien;72 diese Kriterien sind z.T. auch in das strategische NATO Konzept von Washington (1999) eingeflossen. 73 Die auf dem Prager NATO-Gipfel 2002 beschlossene (und im Mai 2004 vollzogene) „robuste Erweiterung" der NATO um weitere sieben Neumitglieder 74 macht indes deutlich, dass Beitrittskriterien „aufweichbar" sind, 75 sofern mit der Erweiterung neue strategische Ziele verfolgt werden. 76 69 Teil III, Ziff. 39. 70

Eine entsprechende Erweiterungsklausel findet sich in Art. X I des Brüsseler Vertrags. Kaum erweiterungsfähig erscheinen indes die multinationalen europäischen Korps; vgl. zu langfristigen Zielstrukturen europäischer Landstreitkräfte aber Groß, Politische und geostrategische Aspekte, in: Erhardt (Hrsg.), 2002, S. 268 ff. 71 Nachweis bei Meyring, Die Entwicklung, S. 386, Anm. 91. 72 Der US-Präsident wurde in der Senatsresolution vom 6. 5. 1998 (zitiert bei Weisser, Sicherheit, S. 139) aufgefordert, dem Senat vor der Aufnahme weiterer Beitrittsverhandlungen im einzelnen zu berichten, ob und wie künftige NATO-Mitgliedstaaten in der Lage sein würden, den Prinzipien des NATO-Vertrages zu entsprechen bzw. zur kollektiven Sicherheit aller Allianzmitglieder beizutragen und ob sie in ihrer militärischen Leistungsfähigkeit die Kriterien eines NATO-Beitritts erfüllen bzw. selber die Kosten ihres Beitritts einschließlich der Modernisierung ihrer Streitkräfte nach NATO-Standards aufbringen können. 7 3 Vgl. Teil III, Ziff. 39 des strategischen Konzepts. 74 Die drei baltischen Staaten, Slowenien, Slowakei, Rumänien und Bulgarien. Kandidatenstaaten für die nächste Erweiterungsrunde (ab 2007) sind Albanien und Mazedonien. 7 5 Nach dem 11.9. 2001 waren Zweifel an der Beitrittsreife der Kandidaten - gemessen an jenen Kriterien, die noch bei der letzten Erweiterungsrunde im Jahre 1999 angelegt wurden - praktisch verstummt. 7 6 Zum strategischen Wandel der NATO seit dem 11.9. 2001 vgl. Theiler, Die NATO im Umbruch, S. 270 ff.

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b) Vertragskündigung Auch die Vertragsbeendigung, welche die militärische Integration aufkündigt, gehört zu den grundlegenden militärstrategischen Entscheidungen, die jedoch angesichts der bisherigen Staatenpraxis weitgehend akademisch anmutet.77 Die Bündnisverträge von NATO und WEU sehen explizite Beendigungsregelungen vor, von denen nach bestimmten Zeiträumen Gebrauch gemacht werden kann; 78 gleiches gilt für die Integration im Rahmen der europäischen Korps. 79 Im Gegensatz zu den völkervertraglichen Ratifikationsvorbehalten unterliegen Vertragskündigungen nach überwiegender Auffassung im Schrifttum regelmäßig nicht der Mitwirkung gesetzgebender Körperschaften. 80 Die Kündigungsbefugnis (treatytermination-power ) sei nämlich nicht das Korrelat zum parlamentarischen Zustimmungsrecht (treaty-making-power), sondern Gegenstück zu der exekutiven Befugnis, den vom Parlament genehmigten Vertrag durch Austausch bzw. Hinterlegung der Ratifikations- oder Beitrittsurkunde in Kraft zu setzen. Wenn die Regierung durch einseitigen Akt allein über das Inkrafttreten des Vertrages verfügen dürfe, müsse ihr auch das Recht zustehen, den Vertrag ohne Mitwirkung des Parlaments zu kündigen.81 Dementsprechend hat auch das BVerfG in seinem „Pershing"-Urteil festgestellt, dass einseitige völkerrechtliche Willenserklärungen im Rahmen von zwei- oder mehrseitigen Verträgen grundsätzlich keiner legislativen Zustimmung mehr bedürften und Art. 59 I I GG insoweit auch nicht analog angewandt werden könne. 82 Die herrschende Auffassung beruht indes auf einer verkürzten Sichtweise der völkerrechtlichen Verpflichtungen im internationalen Rechtsverkehr und orientiert sich zu sehr an einem „formalen" Vertragsbegriff, welcher der parlamentarischen Kontrollfunktion des Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG nicht gerecht wird. 83 Die Kündigung 77 So Steinkamm/Schössler (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 49. Selbst Frankreich hat im Jahre 1966 bewusst nur die militärische, nicht aber die politische Organisation der NATO verlassen, vgl. „Memorandum zur Allianz" vom 11. März 1966 (abgedr. in: EA 1966, D 227). 7 » Art. 13 NATO-V (20 Jahre); Art. X I I Brüsseler Vertrag (50 Jahre). Zu den rechtlichen Auswirkungen eines NATO-Austritts Deutschlands auf NATO-Truppenstatut und Aufenthaltsvertrag vgl. Wolfrum, HBdStR Bd. VII, § 176, RdNr. 36-38. 7 9 Art. 40 Abs. 5 und 6 der D/NL-Korpskonvention; Art. 21 Abs. 5 MNK-NO-Konvention (jeweils ein Jahr).

so Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 59, RdNr. 47; Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 59, RdNr. 46; Kempen, in: M / K / S , GG, Art. 59 Abs. 2, RdNr. 61; Fastenrath, Kompetenzverteilung, S. 238 f.; dies entspricht insoweit der früheren Staatspraxis nach Art. 11 der RV von 1871 und Art. 45 der WRV. 81 Treviranus, Außenpolitik, S. 57. 82 BVerfGE 68,1 (83 ff.). 83 So die Minderauffassung, vgl. Friesenhahn, VVDStRL 1958, S. 70; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 59, RdNr. 40; Kokott, in: FS Doehring, S. 51; Wolfrum, VVDStRL 1997, S. 38, 50; Weber, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 59 II, RdNr. 66.

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eines völkerrechtlichen Bündnisvertrages und der damit verbundene Rückzug aus der militärischen Integrationsgemeinschaft hätte kaum weniger weitreichende (politische) Folgen als die Eingehung einer vertraglichen Bindung. 84 Der Verweis auf die allgemeinen Kontrollinstrumente erscheint daher - auch im Vergleich zu anderen europäischen Verfassungen 85 - als zu weitgehende Verkürzung der parlamentarischen Steuerung von Vertragskündigungen. c) UN-Friedenssicherung Zu den wichtigsten Aspekten des militärischen Integrationsprozesses gehört die Gestellung von nationalen Streitkräftekontingenten für gemeinsame Operationen. Bei der Integration von nationalen Streitkräftekontingenten im Rahmen der UNO lassen sich zwei Arten von Vereinbarungen unterscheiden: Die (in der UN-Charta selbst nicht vorgesehenen) sog. Truppenstellervereinbarungen für UN-Friedensmissionen sowie die Sonderabkommen nach Art. 43 UN-Charta, die bis heute noch nicht abgeschlossen werden konnten. Die als Notenwechsel (Exchange of Letters) geschlossenen Truppenstellervereinbarungen (Kontingentverträge) 86 betreffen den Umfang des nationalen Beitrags für UN-Friedensmissionen. In der Praxis werden sie - anders als in Österreich 87 als Regierungsabkommen 88 geschlossen, bei denen als vertragsschließende Partei die Bundesregierung genannt wird. 89 Die parlamentarische Legitimation solcher Truppenstellervereinbarungen vollzieht sich im Rahmen der Einordnung Deutschlands in das kollektive Sicherheitssystem der Vereinten Nationen, wobei Art. 24 II GG mit der Formulierung des „Einordnens" die sich aus der Eingliederung in ein solches System ergebenen rechtlichen Bindungen in einer „entwicklungsoffe84 Weber, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 59 II, RdNr. 66. 85 Die Verfassungen Dänemarks und der Niederlande sehen die Möglichkeit einer parlamentarischen Zustimmungspflicht bei Vertragskündigungen vor: Art. 19 (1) a.E. dän. Verf. bestimmt insoweit: Ebenso kann der König zwischenstaatliche Verträge, die mit Zustimmung des Folketing geschlossen wurden, nicht ohne Zustimmung des Folketing kündigen. Art. 91 (1) der niederl. Verfassung geht nicht nur von einer generellen Zustimmungspflichtigkeit der Vertragskündigung aus, sondern stellt darüber hinaus die zustimmungs/re/en Fälle unter Gesetzesvorbehalt. 86 Dazu näher Rudolph, in: Wolfrum (Hrsg.), Handbuch VN, Nr. 25, Rz. 14; Bothe, in: Simma (Hrsg.), UN-Kommentar, nach Art. 38, RdNr. 61. 87 In Österreich werden die Abkommen regelmäßig als formelle, im Gesetzblatt veröffentlichte Verträge geschlossen, vgl. Strasser, ZaöRV 1974, 709. 88 Regierungsabkommen gehören wie die Ressortabkommen zu den Verwaltungsabkommen i. S. d. Art. 59 Abs. I I S. 2 GG, also Abkommen, die weder die politischen Beziehungen des Bundes regeln, noch der Vollziehung durch ein Bundesgesetz bedürfen - und nicht etwa inhaltlich einen Akt der Verwaltung zum Gegenstand haben. 89 Ipsen, Staatsrecht, RdNr. 1099; Rojahn, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 59, RdNr. 52 ff. Die Vereinbarungen werden nach Unterzeichnung durch die Bundesregierung und Notifikation an die UNO völkerrechtlich verbindlich.

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nen Verweisung" betont. 90 Der Gesetzgeber stimme, so das Bundesverfassungsgericht, mit der vertragsförmigen Einordnung in ein System kollektiver Sicherheit auch der Bereitstellung von Bundeswehrkontingenten auf der Grundlage von Truppenstellervereinbarungen zu, wenn die damit verbundenen Beschränkungen von Hoheitsrechten „in der Satzung bereits angelegt" sind. 91 Bei der Beurteilung dieser rechtlich verbindlichen Vereinbarungen am Maßstab des Art. 59 II GG orientierte sich das Gericht an einem eingeschränkten Verständnis der politischen Verträge 92 und lehnte es in der Konsequenz ab, Truppenstellerabkommen unter Art. 59 Abs. 2 GG zu subsumieren.93 Hintergrund dieser Argumentation, der sich die überwiegende Mehrheit des Schrifttums angeschlossen hat, 94 ist die Einschätzung, dass die politisch relevante Entscheidung allein im Beitritt zu den Vereinten Nationen und der darin implizierten generellen Zustimmung zu einer Beteiligung an friedenssichernden Maßnahmen liegt, jedoch nicht in der konkreten Truppenentsendung. 95 Im Gegensatz zu den Truppenstellervereinbarungen wird für den Abschluss von Sonderabkommen, die es dem UN-Sicherheitsrat ermöglichen sollen, mitgliedstaatliche Truppen für Zwangsmaßnahmen im Rahmen von Kapitel V I I der UN-Charta verbindlich in Anspruch zu nehmen, ein erneutes Zustimmungsgesetz nach Art. 59 II GG gefordert. 96 Art. 43 Abs. 3 S. 2 UN-Charta macht deutlich, dass diese Abkommen „von den Unterzeichnerstaaten nach Maßgabe ihres Verfassungsrechts ratifiziert" werden. Daraus wird geschlossen, dass der Abschluss solcher Abkommen kein „unpolitischer Vollzug einer bereits in der Charta getroffenen Entscheidung" und damit nicht von der parlamentarischen Zustimmung zum UN-Beitritt gedeckt ist. 97 Worin allerdings der „politische" Charakter eines Son90 Hillgruber, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 87a, RdNr. 30 f.; vgl. auch Wolfrum, Diskussionsbeitrag, in: Frowein/Stein (Hrsg.), Rechtliche Aspekte, S. 70 f. 91 BVerfGE 90, 286 (351 ff., 355); zust. Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 24, RdNr. 92. 92 Nach BVerfGE 1, 372 (382) sind politische Verträge i. S. d. Art. 59 I I GG nur solche, „welche die Existenz des Staates, seine territoriale Integrität, seine Unabhängigkeit, seine Stellung oder sein maßgebliches Gewicht in der Staatengemeinschaft" wesentlich und unmittelbar betreffen. 93 BVerfGE 90, 286 (378 f.). 94 Rojahn, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 59, RdNr. 51; Art. 24, RdNr. 92; Hoffmann, Bundeswehr, S. 250; Härchens, Der Einsatz, S. 124; Zimmer, Einsatz, S. 107 f.; Oeter, NZWehrR 2000, 92; kritisch dagegen Vòneky/ Wolf rum, ZaöRV 2002, S. 599. Nur vereinzelt wurde der möglicherweise „hochpolitische Charakter" der Truppenstellervereinbarungen in die Diskussion gebracht, vgl. Burmester, NZWehrR 1993, 138; Rudolf, Diskussionsbeitrag, in: Frowein/Stein (Hrsg.), Aspekte, S. 79. 95 Warum freilich diese so wichtig sein soll, dass sie einen gesonderten Parlaments vorbehält rechtfertigt, gehört zu den dogmatisch fragwürdigen Aspekten dieser Auffassung. 96 Tomuschat, BK, Art. 24, RdNr. 158; Wolfrum, HBdStR VIII, § 192, RdNr. 53; Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Art. 24, RdNr. 232. 97 Tomuschat, BK, Art. 24, RdNr. 158.

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derabkommens im Gegensatz zu (bloßen) Truppenstellervereinbarungen bestehen soll, bleibt unklar. Eine verfassungsrechtliche Differenzierung zwischen Sonderabkommen und Truppenstellervereinbarungen am Maßstab von Art. 59 Abs. 2 GG erscheint angesichts der Verwischung von Friedenserzwingung nach Kapitel V I I UN-Charta und dem „robustem peacekeeping " ohnehin fraglich. Der in Art. 43 UN-Charta niedergelegte Ratifikationsvorbehalt für Sonderabkommen lässt sich daher - im Unterschied zu den Truppenstellervereinbarungen - allein mit der Truppengestellungspflicht der Unterzeichnerstaaten 98 begründen, die sich aus verfassungsrechtlicher Sicht als Übertragung von Hoheitsrechten i. S. d. Art. 24 Abs. 1 GG darstellt."

d) NATO-Streitkräfteintegration Bald nach Inkrafttreten des NATO-Vertrages wurde offensichtlich, dass die effektive Verteidigung Westeuropas ohne die Errichtung einer integrierten Streitmacht unter zentralem Kommando nicht möglich sein würde. Die grundlegende Entscheidung für eine militärische Integration wurde auf der Londoner Neunmächtekonferenz von 1954 jedoch nicht durch eine (zeitraubende) Änderung des NATO-Vertrags, sondern in der entsprechenden Schlussakte festgehalten. Konkrete integrationsrelevante Regelungen enthielt die ohne deutsche Mitwirkung zustande gekommene Entschließung des NATO-Rates zur Durchführung von Abschnitt IV der Schlussakte der Londoner Konferenz 100 einschließlich der entsprechenden 98 Der von den Mitgliedstaaten gebilligte Bericht des UN-Generalstabs „General principles governing the organization of the armed forces made available to the Security Council by Member Nations of the United Nations " (UN.Doc. SCOR 2 n d year, Special Suppl. No. 1, veröfftl. in: UNYB 1946-47, S. 424-443) hat deutlich gemacht, das die Sonderabkommen dem Sicherheitsrat einen verbindlichen Rückgriff auf die Streitkräfte der Mitgliedstaaten unter Kommandogewalt der UN ermöglichen sollen. Dazu heißt es im Bericht: All Member Nations shall have the opportunity as well as the obligation to place armed forces (...) at the disposal of the Security Council (Art. 9). The Armed Forces which Member Nations of the United Nations agree to make available to the Security Council shall be under the exclusive command of the respective contributing Nations, except when operating under the Security Council (Art. 36). 99 So auch Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 24, RdNr. 9. ιοο Beschluss des NATO-Rates vom 22. 10. 1954, Int. Quelle: Department of State Publication 5659, p. 32 (abgedr. bei Berber, Völkerrecht (Dokumente), Bd. 1, S. 789 ff.). Dort heißt es unter Nr. 4 und 6, • „dass alle im Bereich des Alliierten Oberkommandos Europa stationierten Streitkräfte der Mitgliedstaaten der Befehlsgewalt des Alliierten Oberbefehlshabers Europa oder der einer anderen zuständigen Ν ΑΤΟ -Kommandobehörde zu unterstellen sind und der Leitung der militärischen Stellen der NATO unterliegen. " • „dass alle Dislozierungen in Übereinstimmung mit der NATO-Strategie erfolgen werden; der Alliierte Oberbefehlshaber Europa die Stationierung der Streitkräfte in Übereinstimmung mit den operativen Plänen von NATO nach Beratung und Vereinbarung mit den beteiligten Stellen festlegt; im Bereich des Alliierten Oberkommandos Europa

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Dokumente des NATO-Militärausschusses. 101 Eine Ratifikation der Londoner Schlussakte war nach Auffassung der Bundesregierung indes nicht erforderlich, 102 da alle in London zustande gekommenen Vereinbarungen und Erklärungen Gegenstand der kurz darauf ratifizierten Pariser Verträge vom 23. 10. 1954 gewesen und durch diese „konsumiert" worden seien. Der Auswärtige Ausschuss des Bundestages schloss sich mehrheitlich dieser Auffassung an. 1 0 3 Die Pariser Verträge, die auch den deutschen NATO-Beitritt beinhalteten, geben allerdings keinen Aufschluss über die Integration deutscher Streitkräfte in der NATO; vielmehr wurden die integrationsrelevanten Regelungen in einem Konglomerat von Schriftstücken der Regierungsbegründung zum Zustimmungsgesetz als Anlage beigefügt. 104 Der Abgeordnete Arndt vertrat seinerzeit der Auffassung, dass ein solches Ratifikationsverfahren Art. 59 Abs. 2 GG verletzt. Er argumentierte, dass bei einem sachlich einheitlichen Vertragswerk sämtliche für sein Verständnis, seine Auslegung und Anwendung bedeutsamen Schriftstücke Gegenstand der gesetzgeberischen Zustimmung nach Art. 59 I I GG werden müssten, ohne dass es darauf ankommen könne, ob eine einzelne Erklärung für sich genommen der Form des Art. 59 I I GG bedarf oder nicht. Die Gesetzesvorlagen der Bundesregierung würden dagegen solche Erklärungen vielfach nur „zur Kenntnis" mitteilen, ohne sie den gesetzgebenden Körperschaften zur Zustimmung zu unterbreiten. Das gelte insbesondere für die nicht einmal im authentischen Wortlaut bekannt gegebene Londoner Schlussakte. 105 Ungeachtet der damaligen Kontroverse im Bundestag befand jedoch das Bundesverfassungsgericht, dass dem Gesetzgeber das Programm der militärischen Integration bei der Verabschiedung des Gesetzes über den Beitritt zum NATO-Vertrag im Jahre 1955 hinreichend deutlich vor Augen gestanden habe.106 Dabei habe der Wortlaut der Schlussakte zur Londoner Neun-Mächte-Konferenz vom 28. 9. 1954, dem Bundestag ebenso vorgelegen, wie die Entschließung des NATO-Rates zur Durchführung der Schlussakte. Auch sei in der Begründung der Bundesregierung zum NATO-Beitritt von einer „integrierten Streitmacht" sowie von einer „eindem Alliierten Oberbefehlshaber Europa unterstellte Streitkräfte innerhalb dieses Bereichs nicht umdisloziert oder operativ eingesetzt werden (dürfen) ohne die Zustimmung des Alliierten Oberbefehlshaber Europa, der politische Richtlinien des Nordatlantikrates zugrunde liegen müssen, die von Fall zu Fall auf üblichem Wege erteilt werden. " 101 Das NATO-Dokument MC 57/3 des Militärausschusses „Overall Organization of the Integrated NATO Forces " bildet die Rechtsgrundlage für die Unterstellung nationaler Verbände unter ein NATO-Kommando. 102 Vgl. BT-Drs. 11/1200, S. 2 f. 103 Vgl. BT-Drs. II/1200, 2. 104 BT-Drs. II/1000, S. 50 und 11/1061, S. 61 ff.; dazu näher Deiseroth, in: Umbach/ Clemens (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 137. 105 Abg. Arndt (als Berichterstatter der Minderheitsauffassung im Bundestagsausschuss für Rechtswesen und Verfassungsrecht), BT-Drs. II/12000, S. 32. 106 BVerfGE 68, 1 (101) - Pershings.

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heitlichen Organisation" durch Integration und gemeinsame Kommandostellen die Rede gewesen.107 Die Auffassung des BVerfG, die sich mit der Kontroverse im Bundestag nicht einmal ansatzweise auseinandergesetzt hat, vermag insoweit nicht zu überzeugen. Allein das bloße „Wissen" der Verfassungsorgane um die Existenz der Londoner Schlussakte und seiner Durchführungsbeschlüsse wird der Bedeutung dieser „Basisdokumente" für die militärische NATO-Integration kaum gerecht. Die Tragfähigkeit des Zustimmungsgesetzes zum NATO-Vertrag für die nachfolgende Streitkräfteintegration erscheint daher im Ergebnis als nicht ausreichend.

e) NATO-Nachrüstung Die Truppenstationierung verbündeter Streitkräfte auf eigenem Territorium gehört zu den selbstverständlichen Praktiken im Rahmen militärischer Bündnisse.108 In der Pershing-Entscheidung des BVerfG aus dem Jahre 1984 ging es um die Zustimmung der Bundesregierung zur Stationierung von NATO-Nuklear-Streitkräften auf deutschem Territorium sowie um die Entscheidungsstrukturen für ihren Einsatz; die Zustimmung war ohne Mitwirkung des Parlaments erfolgt und betraf eine strategische Entscheidung von großer Reichweite, die nach Auffassung der Regierung die Verträge des Bündnissystems lediglich in vorhersehbarer Weise vollzog, nach Auffassung der Antragsteller jedoch dem Parlament hätte vorgelegt werden müssen. Das Verfassungsgericht versagte dem Parlament - in Einklang mit der Staatspraxis und Literatur 109 - eine über Art. 59 I I GG hinausgehende Mitwirkung bei der staatlichen Willensbildung im auswärtig-militärischen Bereich. In seiner Begründung führte das Gericht aus, die Befugnisse des Bundestages ließen sich nicht selbständig aus dem Demokratieprinzip oder aus der Bedeutung und Tragweite einer Entscheidung für das Staatsganze erweitern. Die Mitentscheidungsbefugnis des Parlaments aus Art. 59 I I GG sei auf einseitige völkerrechtliche Willenserklärungen weder unmittelbar noch analog anwendbar. 110 Dabei sah das Gericht die Zustimmungserklärung der Bundesregierung zur Raketenstationierung im Gegensatz zu Stimmen im Schrifttum 111 - nicht als selbständige Vertragsabschlusserklärung an. Eine wesentliche Änderung des Integrationsprogramms konnte das Gericht nicht erkennen. Die streitbefangene Einwilligung der Regierung zur Stationierung der neuen Waffensysteme müsse in engem Zusammenhang 107 Vgl. BT-Drs. II/1061, S. 47 sowie BT-Drs. II/1200, S. 50. los So bereits BVerfGE 68, 1 (96). 109 Zustimmend insoweit das wissenschaftliche Schrifttum: vgl. Bleckmann, DVB1. 1984, 10; Rauschning, JuS 1985, 864. no BVerfGE 86, 1 (84). m Vgl. Bryde, Jura 1986, 365. Immerhin lässt das Völkerrecht für einen Vertrag die formlose Willenseinigung zweier Völkerrechtssubjekte genügen (Art. 11 WVRK), wobei der Begriff „Zustimmung" ein irgendwie geartetes Handeln der anderen Seite voraussetzt.

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mit dem Aufenthaltsvertrag von 1955 gesehen werden, der die vertragliche Rechtsgrundlage für die Stationierung ausländischer NATO-Streitkräfte auf deutschem Territorium bildet. 112 Das Gericht prüfte gewissermaßen ex ante, ob dem Gesetzgeber die Möglichkeit einer nachfolgenden Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden hinreichend bewusst gewesen ist. In der Tat waren bereits bei Abschluss der Bündnisverträge Nuklearwaffen der Verbündeten im Bundesgebiet stationiert und die Letztentscheidung des amerikanischen Präsidenten gleichermaßen respektiert gewesen. Dem Gesetzgeber, so das Gericht, sei dies bei der Verabschiedung des Zustimmungsgesetzes nicht nur bekannt gewesen,113 sondern das Parlament habe auch keine Vorbehalte hinsichtlich Art oder Umfang der maßgeblichen Bewaffnung von Streitkräften oder hinsichtlich möglicher Einsatzbefugnisse der NATO gemacht. Richter Mahrenholz bezweifelte, ob die nur vage formulierte Beistandsklausel des NATO-Vertrages überhaupt ein vertragliches „Integrationsprogramm" vorsieht: so enthalte der Vertrag im Gegensatz zu Art. VIII Brüsseler Vertrag nicht einmal die ausdrückliche Bekundung einer Integrationsflfo/c/zi. 114 Jedoch bekennt sich der NATO-Vertrag in der Präambel zu einem integrativen und grundsätzlich entwicklungsoffenen Sicherheits- und Friedensauftrag, 115 was es dem Gericht erlaubte, zur Kennzeichnung des „Integrationsprogramms" auf die „grundsätzliche Zielrichtung des Bündnissystems als eines Verteidigungsbündnisses" abstellen.116 Die Subsumtion der streitbefangenen Maßnahmen unter das so verstandene Integrationsprogramm leuchtete auch insoweit ein, als es sich bei der Stationierungsentscheidung um eine dem Verteidigungszweck dienliche punktuelle strategische Maßnahme handelte, die den Vertrag lediglich vollzog, ihn aber nicht abänderte oder gar den Charakter der Allianz generell in Frage stellte. Das Argument, dass es sich bei der Stationierungsentscheidung um einen für die Bundesrepublik in seiner Gesamtheit wesentlichen Akt handelt, konnte das Gericht schließlich nicht von der Notwendigkeit einer Ausdehnung parlamentarischer Mitwirkungsbefugnisse überzeugen. Es verwahrte sich - in Anlehnung an die „Kalkar-Entscheidung 117 - gegen die Annahme eines aus dem Demokratieprinzip herzuleitenden Gewaltmonismus in Form

112 BVerfGE 68, 1 (107) mit Blick auf den Vertrag vom 23. 10. 1954 über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland vom 24. 3. 1955 (BGBl. 1955 II, 253). 113 BVerfGE 68, 1 (101 f.) unter Verweis auf BT-Drs. 11/12000, S. 49 sowie auf die Äußerungen des Bundeskanzlers Adenauer in der 70. Sitzung des 2. Deutschen Bundestages am 25. 2. 1955 (Sten.Bericht, S. 3736). 114 BVerfGE 68, 1 (115) - dissenting opinion, Hervorh. im Original. h 5 Danach zeigen sich die Vertragsparteien entschlossen, „ihre Bemühungen für die gemeinsame Verteidigung und für die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit zu vereinigen. " 116 BVerfGE 68, 1 (102). i n BVerfGE 49, 89 (124 ff.).

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eines allumfassenden Parlamentsvorbehalts und relativierte die sog. „Wesentlichkeitstheorie" 118 für den Bereich militärstrategischer Entscheidungen.

f) Strategisches NATO-Konzept Ging es bei der Stationierung von Atomwaffen um eine einseitig veTtvagskonkretisierende Maßnahme, die sich mit dem vertraglichen Integrationsprogramm eines Verteidigungsbündnisses noch leicht in Einklang bringen ließ, so wurde die parlamentarische Legitimationsgrundlage des Bündnisvertrages mit der AWACS-Entscheidung des BVerfG von 1994 weitaus stärker strapaziert. Der Entscheidung zugrunde lagen Einsätze der Bundeswehr, die im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der UN-Charta und in Zusammenhang mit einem militärstrategischen Transformationsprozess der NATO standen. Dabei hatte das strategische NATO-Konzept von Rom119 in Fortschreibung des Sicherheits- und Friedensauftrages der Allianz die Krisenbewältigung im Rahmen der Vereinten Nationen als neue Dimension des Bündnisses ins Auge gefasst, ohne diese jedoch näher zu konturieren. In der AWACS-Entscheidung hatten die vier die Entscheidung nicht tragenden Richter daher die Befürchtung geäußert, der NATO-Vertrag werde „auf Räder gesetzt (Ress) 120 und eine parlamentarisch nicht mehr wirksam kontrollierbare Vertragsfortbildung auf den Weg gebracht. In Einklang mit Teilen des wissenschaftlichen Schrifttums 121 hielten die abweichenden Richter eine Zustimmung des Gesetzgebers für erforderlich, soweit die Bundesregierung durch ihr Verhalten - also die Teilnahme an Überwachungsaktionen im ehemaligen Jugoslawien - an einer dynamischen und rechtlich nicht eindeutig als Vertrag zu qualifizierenden Erweitung des ursprünglichen Konzepts des NATO-Vertrages mitwirke und dadurch Mitwirkungsrechte des Bundestages unterlaufen würden. Auch die abweichenden Richter gestanden zu, dass es weder zu einer expliziten noch zu einer konkludenten Vertragsänderung gekommen sei. Doch habe die Bundesregierung durch ihr Zusammenwirken mit den Partnern die Gefahr heraufbeschworen, dass dessen Inhalt außerhalb der traditionellen Verfahrensweisen verbindlich modifiziert und so der Mitwirkung des Parlaments nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG entzogen werde. Zwar greife das Mitwirkungsrecht des Parlaments mangels einer völkerrechtlichen Bindung nicht; doch wenn die Vertragspartner im Gefolge wiederholt dokumentierter Einigungen einverständlich handelten und dadurch einen Prozess der Fortbildung des vertraglichen Aufgabenkonzepts in Gang 118 st. Rechtspr. BVerfGE 40, 237 (248 ff.); 47, 46 (78 f.); 49, 89 (126 f.); 57, 259 (320 f.); 58, 257 (268 f.). Nach dieser Theorie müssen alle wesentlichen Grundentscheidungen vom Parlament getroffen werden. 119 Bull.BReg. Nr. 128 vom 13. 11. 1991, 1033 ff. 120 BVerfGE 90, 286 [373] - das wörtliche Zitat Ress, Verfassungsrechtliche Auswirkungen, in: FS Zeidler, S. 179 zuschreibend. 121 Wolfrum,

ZaöRV 1993, 576 (591 ff.); Walter, Vereinte Nationen, S. 170.

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Teil: Parlamentarische Legitimations Vermittlung im Integrationsprozess

setzten, in dessen Verlauf sich dieses fortschreitend und undurchschaubar zu einer rechtsverbindlichen Absprache verdichte, sei der Gesetzgeber „einzubinden". 122 Damit wollen die vier dissentierenden Richter jene Erklärungen, die sich gewissermaßen in einer völkerrechtlichen „Grauzone" bewegten, gleichsam „präventiv" dem Zustimmungserfordernis nach Art. 59 II GG unterstellen, um zu verhindern, dass das „weiche" Völkerrecht dem parlamentarischen Verantwortungsbereich entzogen werde. 123 Der Auffassung der vier abweichenden Richter zufolge hätte die Bundesregierung das strategische NATO-Konzept von Rom zur Zustimmung vorlegen müssen, auch wenn es nicht in das Gewand eines völkerrechtlichen Änderungsvertrages gekleidet sei. Demgegenüber sahen die das Urteil tragenden Richter Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG mangels eines völkerrechtlichen Vertragsschlusses nicht als verletzt an und stellten gleichzeitig fest, dass die strategischen Überlegungen der NATO-Partner noch nicht den für eine vertragliche Form erforderlichen „Verdichtungsgrad" erreicht hätten; auch habe keiner der beteiligten Staaten ein entsprechendes Vertragsabschlußverfahren eingeleitet. 124 Entgegen der herrschenden Literaturmeinung 125 qualifiziert das BVerfG also eine Vereinbarung nicht als (objektive) Vertragsänderung, solange die Parteien versichern, innerhalb des bestehenden Vertrags bleiben zu wollen. Der Vorrang einer subjektiven Einschätzung vor objektiven Kriterien birgt indes die Gefahr, dass der funktionelle Vorrang der Exekutive zementiert und die Mitwirkung des Parlaments an der dynamischen Fortentwicklung eines Vertrages zunehmend in den Hintergrund gedrängt wird. Diese Entwicklung wird bei der Entscheidung des BVerfG zum strategischen NATO-Konzept vom 22. 11. 2001 ganz deutlich. 126 Mit dem strategischen Konzept von Washington hat die NATO nicht nur ihr Einsatzgebiet, sondern auch ihre Ziele neu definiert. Dabei wurden die Absichtserklärungen zur „Krisenbewältigung" aus dem strategischen Konzept von Rom (1991) 127 zu einem konkreten tatbestandlich ausformulierten Sicherheitsansatz der Krisenreaktionseinsätze (sog. „nicht Artikel 5-Einsätze") verfestigt. In Zusammenhang mit den neuen Einsatzaufgaben erkennt das strategische NATO-Konzept zwar im Grundsatz die „primäre" Verantwortung des Sicherheitsrates für die Wahrung des Weltfriedens an; jedoch will die NATO ihr Handeln 122 BVerfGE 90, 286 [375 f.]. 123 So auch Stein/Kröninger, Jura 1995, S. 259. 124 BVerfGE 90, 286 (363, 365 ff.). 125 Ress, Verfassungsrechtliche Auswirkungen, in: FS Zeidler, S. 179; Ipsen, Völkerecht, S. 121 f.; Kempen, M / K / S , Art. 59 II, RdNr. 51. 126 BVerfGE 104, 151 = DVB1. 2002, 116. 127 Die in diesem Zusammenhang maßgeblichen Aussagen werden dabei nicht mehr - wie noch 1991 - als Teil der sicherheitspolitischen Analyse, sondern als Teil des Sicherheitskonzeptes der Allianz (Teil II) behandelt. Während das Konzept von 1991 lediglich den politischen, auf die Zukunft gerichteten Willen der Mitgliedstaaten zum Ausdruck brachte, in Richtung „Krisenbewältigung" voranzuschreiten, wird der Begriff der „Kxisenreaktionseinsätze " im Washingtoner Konzept tatbestandlich konkret ausformuliert.

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nicht mehr von einem ausdrücklichen UNO-Mandat abhängig machen, sondern nur (noch) „in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht" agieren. 128 Im Ergebnis zielt bereits die strategische Neuorientierung der Allianz von 1999 weniger auf ein durch die Grenzen von Art. 6 NATO-Vertrag definiertes Verteidigungsbündnis, sondern vielmehr auf ein mobiles Krisenreaktionssystem mit weltweitem Aktionskreis ab. Diese „Metamorphose" ist spätestens seit dem Prager NATO-Gipfel vom November 2002, der als Reaktion auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts die ΝΑίΓΟ -Response Force ins Leben rief, unübersehbar geworden.

Angesichts der traditionell zurückhaltenden militärischen Rolle Deutschlands hat die Möglichkeit einer beträchtlichen Zunahme von Streitkräfteeinsätzen zu einer vergleichsweise überspitzten (rechtlichen) Aufladung der Diskussion über das strategische Konzept geführt. Von Teilen der Literatur ist in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit einer Zustimmung des Bundesgesetzgebers nach Art. 59 II GG hingewiesen worden. Dabei wurde argumentiert, dass der Aufgabenkatalog der NATO, dem der Bundestag gem. Art. 59 I I (i.V.m. Art. 24 I I GG) zugestimmt hat, nur die mit einem System kollektiver Sicherheit typischerweise verbundenen Aufgaben umfassen dürfe, was ζ. B. bei Krisenreaktionseinsätzen ohne Sicherheitsratsmandat nicht der Fall sei. Die in Washington getroffene Vereinbarung sei insoweit nicht mehr als lediglich interpretative Fortbildung des ΝΑΤΟ -Vertragsrechts zu werten. Das Konzept von 1999 sei - im Gegensatz zu früheren strategischen Erklärungen - keine bloße politische Absichtserklärung, sondern gerade im Hinblick auf Krisenbewältigung wesentlich verdichtet; die Parteien würden dabei ihren Willen zum Ausdruck bringen, die Zielsetzung des NATO-Vertrages ausdrücklich um Krisenreaktionseinsätze zu erweitern. 129 Das BVerfG gelangte in seiner Entscheidung zum NATO-Konzept vom 22. 11. 2001 indes zu der Auffassung, dass sich die strategische Neuorientierung der Allianz im Rahmen der Zweckrichtung des NATO-Vertrages gehalten habe und ein erneutes Ratifikationsverfahren nicht erforderlich sei. Die Auffassung der Antragsteller, wonach die Bundesregierung mit der Zustimmung zum strategischen Konzept gegen Art. 59 I I GG verstoßen und damit Rechte des Bundestages verletzt 128

In Teil III Nr. 31 des strategischen Konzepts heißt es, die NATO werde „in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen darum bemüht sein, Konflikte zu verhindern, oder, sollte eine Krise auftreten, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht zu deren wirksamer Bewältigung beitragen, einschließlich durch die Möglichkeit der Durchführung von nicht unter Art. 5 fallenden Krisenreaktionseinsätzen." Deutlicher erscheint in diesem Zusammenhang die Position der Amerikaner: „Nach unserem Dafürhalten müssen die Einsätze und Ansätze der NATO im Einklang mit der UN-Charta (...) stehen. Zugleich müssen wir aber aufpassen, dass wir die NATO keinem anderen internationalen Gremium unterordnen (...). Wir werden uns bemühen, gemeinsam mit anderen internationalen Organisationen zu handeln und deren Ziele und Grundsätze zu achten. Aber das Bündnis muss sich das Recht und die Freiheit vorbehalten, dann zu handeln, wenn es seine 19 Mitglieder in gegenseitiger Übereinstimmung für nötig halten" (Rede des amerikanischen Vizeaußenministers Strobe Talbott am 10. 3. 1999, abgedruckt bei Bothe/Martenczuk, in: VN 1999, S. 127). 129 Klein/Schmahl, RuP 1999, S. 205.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

habe, wies das Gericht zurück. Ungeachtet des hochpolitischen Charakters und seiner Bedeutung für die langfristige Ausrichtung der NATO verneinte das Gericht im Ergebnis den vertraglichen Charakter des strategischen Konzepts. Nicht nur das Fehlen einer Ratifikationsklausel, sondern auch der Wortlaut sowie das hohe Maß an Flexibilität und Interpretierbarkeit des Konzepts würden dabei gegen einen Vertragsänderungswillen der Parteien sprechen. Der Text bestehe weitgehend aus Analysen und Erklärungen, die zu allgemein gehalten seien, um aus dem Konzept vertragliche Verpflichtungen herzuleiten. 130 Auch die Möglichkeit einer konkludenten Vertragsänderung, welche ohne ausdrückliche Willensbekundung erfolgen kann, lehnte das Gericht ab, da sich das Konzept objektiv gesehen in keinen Widerspruch zum bisherigen Vertrag setze, sondern lediglich Ausdruck der Fortentwicklung eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit sei, das seine Rechtsgrundlage im NATO-Vertrag finde. In diesem Zusammenhang wies das Gericht auf den entwicklungsoffenen Gründungsvertrag des Bündnisses hin, das bereits mehrfach auf gravierende Änderungen der politischen Situation reagiert habe, ohne den Vertrag förmlich zu ändern. Im Falle des strategischen Konzepts von Washington handele es sich zwar um eine „erhebliche Fortentwicklung" des Vertrages; in verfassungsrechtlicher Hinsicht müsse jedoch die Auslegung des Art. 59 II GG „auf die besonderen Erfordernisse eines von Art. 24 II GG ausdrücklich gewollten Sicherheitssystems Rücksicht nehmen". Eine erweiternde Auslegung würde „nicht nur Rechtsunsicherheit hervorrufen", sondern die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung ungerechtfertigt beschneiden und auf eine nicht funktionsgerechte Teilung der Staatsgewalt hinauslaufen. 131

g) Neue Sicherheitsstrategie Die Frage, wann ein vertragliches Integrationsprogramm „erschöpft" ist, beantwortet das BVerfG nur vage. Die Grenze des Ermächtigungsrahmens sei nicht schon dann überschritten, „wenn gegen einzelne Bestimmungen des NATO-Vertrages verstoßen" werde, sondern sei verfassungsgerichtlich erst dann feststellbar, wenn die konsensuale Fortentwicklung des NATO-Vertrages gegen wesentliche Strukturentscheidungen des Vertragswerkes verstoße. 132 Die Strukturentscheidungen, die in Art. 1 NATO-Vertrag oder dem strategischen Konzept von 1999 festgeschrieben sind, 133 finden ihre verfassungsrechtliche Entsprechung in der durch Art. 24 II GG festgelegten Zweckbestimmung des Bündnisses zur Friedenswah130

BVerfGE 104, 151; zustimmend insoweit Wittmann, in: Europäische Sicherheit 1999, S. 12 ff.; Zivier, RuP 1999, S. 210; Sauer, ZaöRV 2002, S. 326. 131 BVerfGE 104, 151 (206 f.). 132 BVerfGE 104, 151 (209 ff.). 133

Vgl. Teil I Nr. 6 des Konzepts, wonach das Bündnis auf der Grundlage der gemeinsamen Werte Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit eine gerechte und dauerhafte Friedensordnung in Europa anstrebe.

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rung. Friedenswahrung wird damit zum „verfassungsrechtlichen Minimum" der internationalen militärischen Integration 134 - vergleichbar mit Art. 23 Abs. 1 GG, der eine „strukturangepasste Grundsatzkongruenz" für den europäischen Integrationsprozess fordert. 135 Allein die Umwandlung in ein System, das nicht mehr „der Wahrung des Friedens" diene bzw. das Friedensgebot des Art. 26 I GG ersichtlich aus seiner Konzeption ausschließe, sei nach Auffassung des BVerfG nicht mehr vom Inhalt des Zustimmungsgesetzes zum ΝΑΤΟ-Vertrag gedeckt. 136 Für eine solche Transformation konnte das Gericht angesichts der mannigfaltigen Bekenntnisse des strategischen Konzepts zu den Grundsätzen der UN-Charta und des Völkerrechts 137 keine Anhaltspunkte entdecken. Über die ambivalenten Aussagen des Konzepts zur Frage der UN-Mandatierung von NATO-Einsätzen geht das Gericht schlicht hinweg. Es begnügt sich mit der Feststellung, dass Krisenreaktionseinsätze keine machtpolitisch oder gar aggressiv motivierten Friedensstörungsabsicht erkennen ließen. 138 Die Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen wesentliche Strukturentscheidungen erscheint zwar wegen des konsensualen Handelns der Vertragsparteien de facto begrenzt; 139 indes führt der erneute strategische Wandel der Allianz seit dem 11. September 2001 die potentiellen Grenzen des Integrationsprogramms deutlicher vor Augen. Die im Zeichen des Anti-Terrorkrieges stehende neue amerikanische Sicherheitsstrategie vom September 2002 1 4 0 sieht nämlich auch die Möglichkeit zur präventiven Intervention in Staaten vor, die der Verbreitung von Massenvernichtungsmittel verdächtig sind. 141 Solche „Präventivschläge" - verstanden als „offensive zwischenstaatliche Selbsthilfe" 142 (pre-emptive strikes ) - fallen weder unter die kollektive Verteidigung i.S.d. Art. 51 UN-Charta noch unter Krisenreaktion im Sinne kollektiver Sicherheit, sondern sie wären ein Verstoß gegen das Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta, wenn nicht gar ein „Infragestellen der gesamten Völkerrechtsordnung" (Dupuy/Tomuschat). 143 Es bleibt daher abzuwarten, inwieweit die NATO bereit sein wird, die 134 In diesem Sinne auch Deiseroth, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 24, RdNr. 243 m. w. N. 135 Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 23, Rdnr. 20 ff. (22). 136 BVerfGE 104, 151 (211 ff.); Deiseroth, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 24, RdNr. 243. 137 Vgl. Teil I I Nr. 11 des strategischen Konzepts („friedliche Beilegung von Streitigkeiten in Übereinstimmung mit der UN-Charta"); Teil II Nr. 15 („primäre Verantwortlichkeit des Sicherheitsrates für die Wahrung des Weltfriedens"); Teil III Nr. 31 („Übereinstimmung mit dem Völkerrecht").

138 BVerfGE 104, 151 (213 f.). 139 In diesem Sinne Sauer, ZaöRV 2002, S. 331. 1 40 Ausführlich zu der am 17. 9. 2002 offiziell verkündeten Sicherheitsstrategie Busse, „Die Bush-Doktrin", in: FAZ vom 26. 9. 2002, S. 10; Rühl, „Defensive Intervention", FAZ vom 19. 6. 2002. 141 Kap. 5 der amerikanischen Sicherheitsstrategie. 1 42 Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, RdNr. 470. 1 43 Während der Präventivkrieg einhellig für völkerrechtswidrig gehalten wird (vgl. Randelzhofer, in: Simma (Hrsg.), UN-Charta, Kommentar, Art. 51, RdNr. 34; Kimminich/Hobe, 9 Schmidt-Radefeldt

1 0 1 . Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

amerikanische Strategie zu „rezipieren" oder sich von ihr abzukoppeln. Zwar gibt es keine unmittelbare Verbindung zwischen den strategischen Konzepten der USA und der NATO; jedoch hat in der Vergangenheit jeder amerikanische Strategiewechsel die europäischen NATO-Partner früher oder später zu einer Anpassung ihrer eigenen Konzepte veranlasst. So hat die Allianz bereits auf ihrem Prager Gipfel Ende 2002 ein neues militärisches Konzept zur globalen Bekämpfung des Terrorismus verabschiedet, in welchem die Option vorbeugenden militärischen Handelns indirekt enthalten ist (vgl. MC 472). 144 h) Stellungnahme Die Rechtsprechung des BVerfG zu militärstrategischen Entwicklungen im Rahmen der NATO legt den Schluss nahe, dass das Parlament zwar an der Kreation einer internationalen Organisation beteiligt ist, jedoch mit Blick auf deren Entwicklung, Fortbildung und Veränderung - soweit sie nicht vertragsförmig geschieht - seine Steuerungsfähigkeit verliert. Das Urteil zum strategischen NATOKonzept bestätigt insoweit die in der AWACS-Entscheidung (von den dissentierenden Richtern) geäußerte Befürchtung, dass durch rechtserhebliches Handeln der Regierung unterhalb der förmlichen Vertragsschwelle eine allmähliche Inhaltsveränderung des NATO-Vertrags eintreten kann. Mit dem strategischen NATOKonzept von 1999 hat sich dieser Prozess weiter verdichtet. Da eine künftige Orientierung der Vertragsparteien an dem Konzept zu erwarten ist, könnte sich trotz Fehlens eines förmlichen Änderungsvertrages eine Art (Organisations-)Gewohnheitsrecht der NATO herausbilden, 145 das parlamentarisch nicht mehr hinreichend legitimiert wäre. Das BVerfG hat die Möglichkeit einer „Verrechtlichung" des Konzepts durchaus gesehen, wenn es ausführt, dass bei entsprechender Interpretation des Konzepts verbindliche Konkretisierungen durch die dazu berufenen Organe der NATO oder eine authentische Interpretation des Ν ΑΤΟ -Vertrages durch die Vertragsparteien, aber auch die außervertragliche gemeinsame Verstärkung einer völkerrechtlichen Übung nicht auszuschließen seien. Wenig überzeugend erscheint daher der Schluss von der fehlenden Einsatzverpflichtung auf den fehlenden rechtlichen Bindungswillen der Mitgliedstaaten in Hinblick auf das Konzept als solches: auch dem (unbestritten verbindlichen) NATO-Vertrag erwachsen keine rechtsverbindlichen militärischen Handlungspflichten. Wenn das Gericht überdies den rechtlichen Bindungswillen der Parteien allein deshalb verneint, weil eine Völkerrecht, S. 259; Seidl-Hohenveldern/Stein, Völkerrecht, RdNr. 1676), ergibt sich mit Blick auf die präventive Verteidigung eine (wenngleich eng begrenzte) völkerrechtliche Grauzone (insoweit differenzierend Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, RdNr. 471; Doehring, Völkerrecht, RdNr. 574). 144

Indes bleibt die Präemption, die in dem Dokument nicht einmal explizit erwähnt ist, lediglich eine Option unter vielen und wird nicht zum generellen Einsatzprinzip der NATO; vgl. zum ganzen Kamp, Die NATO nach dem Prager Gipfel (Arbeitspapier), S. 10 f. 145 So Sauer, ZaöRV 2002, S. 341.

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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politische Analyse den Schwerpunkt des Konzepts bildet, verkennt es die (militär-)politische Bedeutung solcher Analysen. Auch die (nur) analytischen Teile des Konzepts (Bündniserweiterung oder strategische Partnerschaften) sind Bestandteil einer politischen Neuorientierung der Allianz im internationalen System, die in ihrer Umsetzung erhebliche Folgen für die Stellung der Bundesrepublik im Gefüge der Staatengemeinschaft entfalten kann. 146 Ungeachtet dessen hat das Gericht mit Blick auf die besondere politische Dynamik kollektiver Sicherheitssysteme im Ergebnis eine fast grenzenlose Fortbildungskompetenz der Regierung gutgeheißen, welche die Steuerungswirkung des Zustimmungsgesetzes im wesentlichen leer laufen lässt. Anstatt vor dem Hintergrund seiner früheren Aussagen zum Integrationsprogramm dessen Inhalt und Reichweite neu zu konturieren, hat sich das Gericht auf eine Evidenzkontrolle beschränkt und der Exekutive weitgehende Gestaltungsmöglichkeiten bei der Vertragsfortentwicklung eingeräumt. 147 Indem der strategische Wandel des Bündnisses in Richtung globales Krisenmanagement als eine vorgeblich vorhersehbare, durch ein Integrationsprogramm von 1949 vorbestimmte (!) Fortentwicklung interpretiert wird, 1 4 8 gehen ganz offensichtlich tragende Begründungselemente vorangegangener Entscheidungen des Gerichts schlichtweg verloren. 149 Das BVerfG hat noch im Maastricht-Urteil strikt zwischen Vertragsauslegung und -erweiterung unterschieden und eine Auslegung, die im Ergebnis einer Vertragserweiterung gleichkäme, für unzulässig und damit für nicht bindend erklärt. 150 Den Widerspruch zur früheren Rechtsprechung hat das Gericht erkannt und im AWACSUrteil festgestellt, dass bei den besonderen Bestimmtheitsanforderungen des Art. 241 GG engere Grenzen gelten müssten;151 gleichwohl erscheint das Problem der Fortentwicklung eines Integrationsprogramms - wie der Eurocontrol-Beschluss des BVerfG deutlich macht 152 - mit Blick auf Art. 241 und 59 I I GG strukturell vergleichbar. 146

Kadelbach, Die parlamentarische Kontrolle, in: Geiger (Hrsg.), 2003, S. 48. 147 So auch Sauer, ZaöRV 2002, S. 331. 148

Fastenrath, (Inhaltsänderung, in: Geiger (Hrsg.), 2000, S. 112) weist zu recht darauf hin, dass eine solche Vertragsinterpretation nicht gerade realistisch erscheint. Historisch gesehen ging es bei der Gründung der NATO am 4. April 1949 wohl primär um die gemeinsame Verteidigung gegen die zunehmende Bedrohung durch die Sowjetunion, die damals offen zutage getreten war (ζ. B. Berlin-Blockade ab Juni 1948). 149 So auch Kadelbach, Parlamentarische Kontrolle, in: Geiger (Hrsg.), 2003, S. 48. 150 BVerfGE 89, 155 (187 f.): Entscheidend ist, dass die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland und die sich daraus ergebenen Rechte und Pflichten (...) für den Gesetzgeber voraussehbar im Vertrag umschrieben und durch ihn im Zustimmungsgesetz hinreichend bestimmt normiert worden ist. Das bedeutet zugleich, dass spätere wesentliche Änderungen des im Unionsvertrag angelegten Integrationsprogramms und seiner Handlungsermächtigungen nicht mehr vom Zustimmungsgesetz zu diesem Vertrag gedeckt sind. 151 BVerfGE 90, 286 (362). 152 In BVerfGE 58, 1 (37) heißt es: „Auch dort, wo nicht schon der Gründungsvertrag selbst jeden dieser Abläufe (des Integrationsprozesses, Anm. d. Verf.) nach Inhalt, Form und *

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Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

Die Auslegung des Integrationsprogramms in den drei militärpolitisch relevanten Entscheidungen des BVerfG hat in der Tat zu einer Aufweichung des Gesetzesvorbehalts geführt, 153 die im Ergebnis einen Verlust an legislativer Vertragsgewalt nach sich zieht. Ging es in den ersten beiden Verfahren noch um eine punktuelle militärstrategische Entscheidung, die entweder in den Rahmen des Verteidigungszwecks des Bündnisses fiel („Pershings") oder durch die Mitgliedschaft Deutschlands in der UNO gedeckt war („AWACS"), so betraf die Entscheidung zum strategischen NATO-Konzept die Definition eines ganzen Systems. Obgleich die Relevanz der Vertragsentwicklungen in den genannten Fällen nicht vergleichbar ist, vertrat das Gericht in allen Entscheidungen gleichermaßen die Auffassung, dass nicht für jede Erklärung, welche die politischen Beziehungen des Bundes betreffe, die Form eines Vertrages gewählt werden müsse. 154 Demgegenüber will Art. 12 des NATO-Vertrags 155 den grundlegenden Wandel der nordatlantischen Sicherheitsarchitektur offenbar einer Vertragsrevision vorbehalten. Indem die Vertragsparteien mit den strategischen Konzepten bewusst auf eine formelle Vertragsänderung verzichtet haben, änderten sie im Grunde die vertraglichen Vorgaben des Art. 12 NATO-Vertrag ein verständlich ab und umgingen die dazu notwendige parlamentarische Beteiligung. Teile der Urteilsbegründung zum strategischen NATO-Konzept von 1999 erwecken den Anschein, als wollte das Gericht vom Ergebnis her argumentieren, wobei ein auf gouvernementaler Ebene getroffener politischer Konsens offenbar nicht durch die verfassungsrechtlichen Kautelen eines Mitgliedstaates gefährdet werden durfte. Kokott hat in diesem Zusammenhang ganz generell aufgezeigt, dass sich das BVerfG immer dann mit der Forderung nach vermehrter parlamentarischer Beteiligung zurückhalte, wenn seine Entscheidung der deutschen Außenpolitik eine andere Richtung geben könnte; es betone hingegen die parlamentarische Seite, wenn dies keine grundlegende Richtungsänderung zur Folge hätte. 156 Dementsprechend kommt auch in der Entscheidung von 2001 ein gewisser judicial selfrestraint zum Ausdruck, 157 den sich das Gericht seit dem Grundlagenvertragsurteil Zeitpunkt festgelegt hat, bedarf es für derartige Vollzugsschritte nicht von vornherein jeweils eines gesonderten Gesetzes im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG. Ein solches Gesetz ist dort entbehrlich, wo bereits der Gründungsvertrag, dem durch Gesetz zugestimmt worden ist, diesen künftigen Vollzugsverlauf hinreichend bestimmbar normiert hat. Wesentliche Änderungen des dort angelegten Integrationsprogramms und seiner Vollzüge sind nicht mehr von dem ursprünglichen Zustimmungsgesetz nach Art. 24 Abs. 1 GG gedeckt. " Diese Passage wird im Pershing-Urteil (BVerfGE 68,1,98 f.) fast wortgleich wiederholt. 153 Bedenken äußern insoweit auch Streinz, in: Sachs (Hrsg.), Art. 24, RdNr. 23; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 24, RdNr. 31; Sauer, ZaöRV 2002, S. 332. 154 BVerfGE 68, 1 (84 f.); 90, 286 (358), 104, 151.

155 Art. 12 NATO-Vertrag sieht vor: Nach zehnjähriger Geltungsdauer des Vertrags oder zu jedem späteren Zeitpunkt werden die Parteien auf Verlangen einer von ihnen miteinander beraten, um den Vertrag unter Berücksichtigung der Umstände zu überprüfen, die dann den Frieden und die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets berühren, (... )." 156 Kokott, DVB1. 1996, S. 948.

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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regelmäßig auferlegt. Zudem gibt das Grundgesetz dem Gericht ohnehin nur begrenzte materielle Vorgaben zur Kontrolle der auswärtigen Gewalt an die Hand. 158 Allerdings geht es bei der Anwendung von Art. 59 I I GG primär um die verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung und weniger um die Entscheidugsprärogative der Exekutive im Bereich der auswärtigen Gewalt. Die Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle lässt sich daher nicht allein aus den Besonderheiten der auswärtigen Gewalt rechtfertigen, sondern läuft in der Tendenz auf eine „Rechtsschutzversagung gegenüber dem Parlament" hinaus. 159 Eine gewisse parlamentarische Absicherung des strategischen Konzepts von Washington mag das BVerfG darin gesehen haben, dass der Bundestag vor Verabschiedung des Konzepts Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten habe und im Verfahren die Rechtsauffassung vertrat, dass eine Ratifikation nicht erforderlich gewesen wäre. 160 Dies hätte das Gericht aber nicht dazu verleiten dürfen, dem Parlament seine Mitwirkungsrechte von Verfassungs wegen abzusprechen. Die vom BVerfG selbst propagierte parlamentarische „Mitverantwortung" für die politischen Bindungen der Bundesrepublik Deutschland erscheint kaum mehr möglich, wenn der parlamentarische Zustimmungsakt praktisch auf eine „Blankoermächtigung" hinausläuft und allein die Exekutive die materielle Änderungsbefugnis erhält. 161 Aus diesen Gründen wäre es prinzipiell sinnvoll, die Zustimmung zu einem entwicklungsoffenen Bündnisvertrag nur unter der Maßgabe zu erteilen, dass eine Erweiterung des strategischen Aufgabenbereichs unabhängig von der Rechtsform dieser Erweiterung der erneuten Zustimmung des Bundestages bedarf. 162 In jedem Fall sollte die Grenze dynamischer Vertragsfortentwicklungen dort gezogen werden, wo die ursprüngliche Vertragsgrundlage materiell abgeändert und neue völkerrechtliche Pflichten begründet würden, die von der ursprünglichen parlamentarischen Zustimmung weder erfasst noch mitverantwortet werden können. 163

157 Sauer, ZaöRV 2002, S. 331. Vgl. dazu vor dem Hintergrund der U.S.-amerikanischen political question doctrine grundlegend Schwarz, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 300 ff. 158 Vgl. dazu ausführlich Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 147 ff. 159 So dezidiert Sauer, ZaöRV 2002, S. 332. 160 Vgl. Plenarprot. 14/35. 161 So auch Sauer, ZaöRV 2002, S. 338. 162 In diese Richtung Meyring, Die Entwicklung, S. 432. 163 Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 59, RdNr. 44; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 59, RdNr. 19; Wolfrum, VVDStRL 1997, S. 54.

GG,

1 4 1 . Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

3. Kompensation von integrationsbedingten parlamentarischen Steuerungsdefiziten Die restriktive Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 59 I I GG hat im Ergebnis zu einer Schwächung der parlamentarischen Vertragsgewalt bei entwicklungsoffenen Bündnisverträgen geführt. Insoweit ist überlegt worden, ob die Erweiterung des Aufgabenspektrums von NATO und WEU nicht durch nachfolgende inhaltsgleiche Legislativakte parlamentarisch gebilligt und damit zumindest nachträglich „geheilt" worden sei. 164 Dementsprechend läge in der parlamentarischen Billigung der Korpskonventionen des D/NL-Korps bzw. des Multinationalen Korps Nordost eine Zustimmung zur Erweiterung des Aufgabenspektrums, die im strategischen NATO-Konzept von 1999 beschlossen wurde. 165 Ebenso habe die Zustimmung des Parlaments zum EU-Vertrag den „Petersberg-Aufgaben" der WΈU eine vertragliche Legitimationsgrundlage verschafft. 166 Abgesehen davon, dass die Korpskonventionen nicht in Form eines völkerrechtlichen Vertrages, sondern (nur) als Regierungsabkommen ratifiziert wurden und das strategische Konzept von Washington nicht einmal erwähnen, lässt sich mangels expliziter Verweisungen kaum feststellen, ob tatsächlich eine „inhaltgleiche" Deckung zwischen den doch eher offen gehaltenen dynamischen Entwicklungen des Bündnisvertrages und den Festlegungen der Korpskonventionen vorliegt. Weiterführend erscheint aber der grundsätzliche Gedanke, die funktionellen Legitimationsdefizite bei der Vertragsgewalt durch anderweitige parlamentarische Mitwirkungs- und Kontrollformen gewissermaßen zu „kompensieren" und das Kompetenzverteilungsverhältnis zwischen den Verfassungsorganen im Sinne einer funktions- und aufgabenadäquaten Kompetenzzuweisung neu zu justieren. 167 Ansätze dazu finden sich

164 Geiger, NZWehrR 2001, S. 133 (146 f.); in diesem Sinne auch Stein, NZWehrR 2000, S. 2. 165 Die Korps-Konventionen umschreiben die Aufgabenstellung der Korps als Beitrag zu Operationen im Rahmen multinationaler Krisenbewältigung einschließlich Maßnahmen zur Herbeiführung des Friedens sowie friedenserhaltender Maßnahmen im Rahmen der UN, des Nordatlantikpaktes oder regionaler Abmachungen nach Kapitel VIII der Charta, denen die Korpsstaaten angehören. 166 Vgl. Art. 17 Abs. 2 EUV. Auch wenn die „Petersberger Erklärung" der WEU von 1992 dort nicht explizit erwähnt wird, nimmt Abs. 2 jedoch Bezug auf „friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen." Die (W)EU-Mitgliedstaaten haben nach überwiegender Auffassung im Schrifttum damit zum Ausdruck gebracht, dass die WEU als militärischer Arm der EU von dieser zur Durchführung von Krisenmanagementaufgaben in Anspruch genommen werde und hinsichtlich der Petersberg-Aufgaben ein entsprechender Rechtsbindungswille vorliege - der Abschluss des Unionsvertrages durch alle WEU-Mitgliedstaaten sei damit als konkludente Änderung des Brüsseler Vertrages aufzufassen [so Frowein, in: Tomuschat (Hrsg.), Rechtsprobleme, S. 13; zustimmend Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV-Kommentar, Art. 17 EUV, RdNr. 5, Anm. 19; a.A. Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 147 mit dem Argument, dass die behauptete Änderung des WEU-Vertrages in dem Zustimmungsgesetz zum EUV nicht erwähnt worden sei].

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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bereits in den Urteilen des BVerfG und werden auch in der Literatur zunehmend diskutiert. 168

a) Allgemeine parlamentarische Kontrolle In den drei untersuchten Urteilen des BVerfG wird gleichermaßen darauf hingewiesen, dass das Parlament strategischen Vertragsentwicklungen unterhalb der förmlichen Vertragsänderung „nicht schutzlos" ausgeliefert sei. 169 Vielmehr gewährleisteten die allgemeinen parlamentarischen Kontroll-, Informations- und Interpellationsrechte, dass „objektiv wesentliche" Entscheidungen „nicht am Bundestag vorbei" getroffen werden. So habe auch eine Parlamentsminderheit die Möglichkeit, jede Überschreitung des Integrationsprogramms im Wege der verfassungsgerichtlichen Organklage verfassungsgerichtlich überprüfen zu lassen. Nach Auffassung des BVerfG ist das Parlament insofern tatsächlich jederzeit in der Lage, sich ohne Rückgriff auf Akte der Gesetzgebung aus eigener Initiative durch Einwirkung auf die Bundesregierung in den Willens- und Entscheidungsprozess einzuschalten, der sich zwischen den Staaten vollzieht. 170 Dem BVerfG ist zuzugeben, dass sich die parlamentarischen Kompetenzen im Bereich der auswärtigen Gewalt nicht auf Art. 59 I I S. 1 GG beschränken. Unter dem Blickwinkel einer adäquaten Kompensation parlamentarischer Steuerungsdefizite bei der Vertragsgewalt gilt es aber zu bedenken, dass die allgemeinen parlamentarischen Kontrollbefugnisse 171 nur eine ergänzende (sachlich-inhaltliche) demokratische Legitimation vermitteln können, nicht aber die Kompetenzverteilung zwischen Parlament und Exekutive im Bereich der auswärtigen Gewalt in funktioneller Hinsicht neu zu justieren vermögen. Die allgemeinen Kontrollinstrumente sind nicht Teil des Vertragsschlussverfahrens und vermitteln daher strukturell keine gleichwertige sondern allenfalls eine begleitende parlamentarische Legitimation der auswärtigen Gewalt. Die demokratische Legitimation der auswärtigen Gewalt bedarf überdies weniger einer ergebnisorientierten als einer prozeduralen Betrachtung. Dementsprechend eignen sich die allgemeinen parlamentarischen Kontrollinstrumente (insbesondere das Enquêterecht oder gar das konstruktive Misstrauensvotum 172 ) weitgehend zur nachträglichen Kontrolle exekutiven Handelns, 167 in diesem Sinne BVerfG in E 68,1 (86); E 95,1 (15); Ossenbühl, HBdStR Bd. ΙΠ, § 62, RdNr. 49; Ruffert, DVB1. 2002, S. 1152. 168 Vgl. z. B. Meyring, Die Entwicklung, S. 435 ff. 169 Kritisch insoweit Cremer, Das Verhältnis, in: Geiger (Hrsg.), 2003, S. 29. 170 BVerfGE 90, 286 (364 f.). 171 Vgl. dazu noch ausführlich unten 4. Kapitel. 172 Vgl. Art. 43 1,45a II, 67 I GG. Auf die Möglichkeit des Misstrauensvotums weist sogar das BVerfG in der Pershing-Entscheidung ausdrücklich hin (BVerfGE 68, 1, 89); kritisch dazu Meyring, Die Entwicklung, S. 436, der das Misstrauensvotum in diesem Zusammenhang für ungeeignet hält, da die Neuwahl eines Bundeskanzlers kaum zu den alltäglichen Instrumenten auswärtiger Gewalt gehört. Vielmehr handele es sich eher um ein „Damokles-

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

während der parlamentarische Zustimmungsakt nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG nicht nur auf eine präventive (vorgängige) Kontrolle abzielt, sondern tendenziell auch künftige Vertragskonkretisierungen und -entwicklungen parlamentarisch mitverantworten soll. Eine nachträgliche parlamentarische Kontrolle kommt in jedem Falle dort zu spät, wo durch das Handeln der Regierung bereits neue völkerrechtliche Pflichten begründet wurden. 173 Nachträgliche parlamentarische Kontrollkompetenzen vermögen daher im wesentlichen nur das Entscheidungsergebnis, nicht aber den Entscheidungsfragen zu legitimieren. 174

b) Informationelle

Kontrolle

Der sinnvolle Einsatz von Instrumenten der „informationellen Kontrolle", also insbesondere das allgemeine Recht der Abgeordneten, Fragen an die Regierung zu stellen (Art. 43 I GG), setzt eine gewisse Vorinformation und Sachkenntnis voraus. Der Informationsfluss von der Exekutive zum Parlament ist im Grundgesetz (abgesehen von Art. 23 GG) nicht explizit geregelt. 175 Allein die parlamentarische Geschäftsordnung sieht die Möglichkeit zu großen und kleinen Anfragen vor, 1 7 6 die sich zunehmend auch auf verteidigungspolitische Fragestellungen beziehen. Abgesehen von der Informationsbeschaffung über die parlamentarischen Ausschüsse oder eigene Außenkontakte ( - insbesondere das Europäische Parlament unterrichtet die nationalen Parlamente regelmäßig über seine Aktivitäten 177 - ) bleibt die Regierung primärer Informant des Parlaments. Von einem „strukturellen Gleichgewicht" im Informationsbereich kann jedoch angesichts der „informativen Abhängigkeit" (Berg) 178 des Parlaments nicht die Rede sein. Zum einen verfügt ein parlamentarischer Kontrollausschuss über keine wirksamen Mittel zur Durchsetzung seiner Informationsansprüche; zum anderen erscheint auch eine Nachprüfung der erhaltenen Informationen nicht immer möglich. 179

schwert", das allein durch seine bloße Existenz eine allzu weite Entfernung der Außenpolitik von den im Parlament vorherrschenden Auffassungen verhindern kann. 173 Sauer, ZaöRV 2002, S. 338. 1 74 In diesem auch Sinne Schröder, EuR 2002, S. 311. Allein wenn es um künftige Verpflichtungen für den deutschen Beitrag zur Aufstellung des Streitkräftepositivs geht, wird die Exekutive ihre budgetrechtlichen Bindungen und Abhängigkeiten vom Parlament in Rechnung stellen und sich insoweit im Vorfeld um die politische Zustimmung des Bundestags bemühen müssen [vgl. dazu noch unten, 4. Kapitel, II. 1. b)]. 1 75 Die Informationsrechte des Parlaments werden zumeist als Annex zu den jeweiligen rechtlichen Kompetenzen abgeleitet; vgl. insoweit Fastenrath, Kompetenzverteilung, S. 112, (114) m. w. Ν (Anm. 524). 176 §§ 100 ff. GO-BTag. 177 Art. 55 GO-EP. 178 Berg, Der Verteidigungsausschuß, S. 174. 179 Berg, BK, Art. 45a, RdNr. 165 ff.

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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Ebenso wenig verpflichtet das Grundgesetz die Regierung, politische Unterstützung oder gar Zustimmung zu einer strategisch relevanten Abstimmung im NATORat (oder einem anderen internationalen Gremium) beim Bundestag einzuholen. 180 Auch besteht wohl keine explizite verfassungsrechtliche Verpflichtung der Regierung, das Parlament von sich aus über die Entwicklungen im Bereich der auswärtigen, insbesondere verteidigungs- und bündnispolitischen Angelegenheiten zu informieren. 181 Nach Auffassung des BVerfG ist es jedoch „Staatspraxis der Bundesrepublik, dass sich die Bundesregierung vor ihrem Handeln auf der völkerrechtlichen Ebene im Bundestag erklärt und sich (also ex-ante) der Aussprache stellt." 182 Der Gedanke, dass die Bundesregierung außenpolitische Entscheidungen ganz generell unter den Vorbehalt parlamentarischer Konsultation ( - nicht Mitentscheidung - ) stellen soll, weckt Erinnerungen an die „Pershing"-Entscheidung. In dieser Entscheidung hatte das BVerfG seine Auslegung von Art. 59 I I GG als einer das Gewaltenteilungsprinzip konkretisierenden Norm zwar auch auf die Staatspraxis gestützt, dabei aber vice versa festgestellt, dass in der deutschen Staatspraxis „seit jeher einseitige völkerrechtliche Willenserklärungen im Rahmen von multilateralen Verträgen grundsätzlich nicht einem Zustimmungserfordernis unterworfen" seien. Die Organisation der grundgesetzlichen Demokratie beruhe nicht darauf, alle politisch weit tragenden oder in ihren Folgen existentiellen Fragen dem Parlament zuzuweisen oder es in Gesetzesform daran zu beteiligen. 183 Inwieweit sich die Staatspraxis seit 1984 geändert hat, wird vom Verfassungsgericht nicht untersucht. Unklar bleibt auch, ob die Staatspraxis angesichts der Offenheit des Verfassungstexts selbst bedeutungs- und damit (gewohnheits-)rechtserzeugend wirkt oder lediglich als eine ins Werk gesetzte Rechtsauffassung, d. h. schlichtes Mittel der Rechtserkenntnis ist. 1 8 4 Abgesehen davon lassen sich die Steuerungsdefizite der Vertragsgewalt durch einen aus der „deutschen Staatspraxis" fließenden „Konsultationsvorbehalt" qualitativ gesehen kaum kompensieren. Zwar können auch informelle Konsultationen in der politischen Praxis Wirkung zeigen: So kann etwa die Regierung ihre militärstrategischen Vorstellungen vor den Verhandlungen auf internationaler Ebene einem parlamentarischen „Machbarkeitstest" unterziehen und sich die entsprechende „Rückendeckung" dafür verschaffen; jedoch beinhalten Konsultationen keine verbindliche „Marschroute" für Verhandlungen auf internationaler Ebene, sondern sind jederzeit „aufkündbar", wenn dies aus integrationspolitischen Gründen notwendig erscheint. 185

180 Allein die dänische Rechtsordnung kennt eine vorhergehende rechtsverbindliche Zustimmung (des Folketing) vor jeder Ratsentscheidung der Regierung in GASP-Angelegenheiten (so Wessel, The EU's Foreign and Security Policy, S. 230 m. w. N). 181 Meyring, Die Entwicklung, S. 437. 182 BVerfGE 104, 151 (209). 183 BVerfGE 68, 1 (83 f., 89). 184 Cremer, Das Verhältnis, in: Geiger (Hrsg.), 2003, S. 30 m.w.N (Anm. 101); ders., Anwendungsorientierte Verfassungsauslegung, S. 347 ff.

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Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

c) Schlichte Parlamentsbeschlüsse Im Rahmen von Konsultationen kann das Parlament durch Stellungnahmen in Form von sog. schlichten Parlamentsbeschlüssen auf das Verhalten der Bundesregierung in den NATO-Organen politisch Einfluss nehmen. 186 In der Literatur wird seit langem darüber diskutiert, inwieweit Parlamente durch nicht-förmliche Handlungen, ζ. B. durch rechtlich unverbindliche (schlichte) Parlamentsbeschlüsse ihre Steuerungsfähigkeit gegenüber der Exekutive zurückgewinnen können. 187 Daran schließt sich die Frage an, ob solche Handlungen als Substitut von Gesetzesakten überhaupt geeignet und zulässig sind. 188 In einer umfassenden Untersuchung zu Funktion und Wesen schlichter Parlamentsbeschlüsse hat Butzer auf die Bedeutung solcher Beschlüsse als Initiierungs- und Gestaltungsinstrument (vor allem in Regelungsbereichen wie dem technischen Sicherheitsrecht, dem Immissionsschutz-, Gentechnik- oder Wirtschaftsrecht) hingewiesen.189 In der Praxis sei bei diesen komplexen Materien mit ihrem ständigen Anpassungs- und Änderungsbedarf das starre und zeitraubende legislative Rechtssetzungsinstrument des Gesetzes zugunsten von Rechtsverordnungen oder normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften der Exekutive längst in den Hintergrund getreten. Die gesetzesförmliche Mitwirkung des Parlaments stößt aber nicht nur aufgrund der Komplexität von Sachmaterien, sondern auch infolge des internationalen Integrationsprozesses an ihre Grenzen. 190 In diesem Zusammenhang wurde der Vorschlag gemacht, das Parlament könne die erforderliche Zustimmung zu Vertragsentwicklungen, welche im Kern eine materielle Vertragsänderung bewirken, statt in Gesetzesform durch eine einseitig-billigende formlose Willenserklärung erteilen. 191 In diesem Sinne hatte auch das BVerfG im „Maastricht"-Urteil mit Blick auf den 185

Vgl. mit Blick auf den europäischen Integrationsprozess Kamann, Die Mitwirkung, S. 79 ff.; Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 23, RdNr. 101. 186 BVerfGE 104, 151 (208 f.). Solche „schlichten" Parlamentsbeschlüsse sieht die Verfassung in Wahrnehmung der parlamentarischen Kontrollfunktionen ζ. B. bei Ausübung des Zitierrechts (Art. 43 I GG), des Misstrauensvotums (Art. 67 I GG) oder der Antwort auf die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers (Art. 68 11 GG) vor. 187 Ipsen, Staatsrecht I, RdNr. 169 f.; differenziert dazu Achterberg, Parlamentsrecht, § 24, S. 743 ff.; Butzer, AöR 1994, 61 [90]: schlichte Parlamentsbeschlüsse sind „rechtserheblich aber nicht rechtsverbindlich". iss Butzer, AöR 1994, S. 61 (81 ff.) m.w.N.; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 738 ff.; Kloepfer, Wesentlichkeitstheorie, in: Hill (Hrsg.), Zustand und Perspektiven, S. 187 (211 f.); Danwitz, Die Gestaltungsfreiheit, S. 128 ff.; eine Substitution insoweit ablehnend Busch, Das Verhältnis, S. 70 ff.

189 Butzer, AöR 1994, S. 76 (88). 190 Kritisch insoweit Bleckmann, DVB1. 1984, S. 13 f.; Bryde, Jura 1986, S. 367 f.; Eckertz, EuGRZ 1985, S. 167; Weber, JZ 1984, S. 593 f.; Kokott, DVB1. 1996, S. 949; Sauer, ZaöRV 2002, S. 339. 191 Dieser Vorschlag wurde bereits als Reaktion auf das „Pershing"-Urteil gemacht, vgl. Bryde, Jura 1986, S. 368.

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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Eintritt der 3. Stufe der Europäischen Währungsunion einen schlichten (wenngleich konstitutiven) Parlamentsbeschluss verlangt, 192 der dann als Stellungnahme des Bundestages zu den Stabilitätskriterien für die WWU-Mitgliedschaft ergangen ist. 1 9 3 In der AWACS-Entscheidung hat das BVerfG den Einsatz deutscher Streitkräfte gewissermaßen praeter constitutionem unter den Vorbehalt eines konstitutiven Parlamentsbeschlusses gestellt. 194 Der ungeschriebene verfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt stellt dabei einen neuen „Typus" beteiligungssichernder bindender Parlamentsbeschlüsse dar. 195 In Gestalt eines einfachen Bundestagsbeschlusses nach Art. 42 I I GG bleibt der Parlamentsvorbehalt zwar in formaler Hinsicht hinter dem förmlichen Legislativakt zurück, nähert sich in seinem Zustandekommen in der Praxis jedoch einem solchen weitgehend an. 1 9 6 All dies spricht dafür, das Instrument nicht-gesetzesförmiger Parlamentsbeschlüsse als Kompensation von Steuerungsdefiziten bei dynamischen Vertragsentwicklungen oder einseitigen völkerrechtlichen Willenserklärungen zur Anwendung zu bringen - und zwar durch eine erweiternde Auslegung des Art. 59 I I S. 1 GG. Ihre Rechtsverbindlichkeit vorausgesetzt, können solche Beschlüsse zudem die gleiche Legitimationsfunktion erfüllen wie ein förmliches Zustimmungsgesetz: Alle wesentlichen Elemente eines Gesetzes wie ζ. B. die demokratische Legitimität, die Verbindlichkeitswirkung oder der Standort in der Rechtsquellenhierarchie sind bei konstitutiven Parlamentsbeschlüssen gleichermaßen gegeben; auch bietet das Verfahren der förmlichen Gesetzgebung im Ergebnis keine stärkere demokratische Legitimation oder größere Rechtssicherheit als ein Beschlussverfahren. 197 Bindende Parlamentsbeschlüsse gewährleisten ebenso wie förmliche Legislativakte, dass eine offene Debatte im Plenum des Parlaments stattfindet, in der alle wesentlichen Gesichtspunkte zur Sprache kommen. Es spricht daher nichts dagegen, Vertragsentwicklungen unterhalb der förmlichen Vertragsänderung durch einen verstärkten Rückgriff auf rechtsverbindliche Parlamentsbeschlüsse zu flankieren und demokratisch zu legitimieren 198 192 BVerfGE 89, 155 (204 ff.). 193 Vgl. BT-Drs. 12/3906. Darin hatte der Bundestag die Regierung aufgefordert, enge Grenzen anzulegen und die anderen Mitgliedstaaten über diese Auslegung entsprechend zu unterrichten. 194 BVerfGE 90, 286 (381 ff.), vgl. dazu näher unten ΙΠ. 1. a). 195 Von verfassungsrechtlichem „Neuland" spricht Dau, NZWehrR 1998, S. 98; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 87a, RdNr. 31. Bislang galt der Grundsatz, dass das Parlament außer in den grundgesetzlich vorgesehenen Fällen keine rechtsverbindlichen Beschlüsse fassen kann, sondern auf die rechtsverbindliche Handlungsform des Gesetzes zurückgreifen muss (so Stern, Staatsrecht Bd. II, S. 48 f.). 196 in Anlehnung an die Bundesgesetze wird nach Überweisung eines Kabinettsbeschlusses eine Bundestagsdrucksache erstellt, in erster Lesung beraten, sodann zu zwei Sitzungen in die Ausschüsse (Verteidigung und Äußeres) verwiesen und danach (mit den Voten aller Ausschüsse) dem Plenum zur zweiten und dritten Lesung sowie zur namentlichen Abstimmung zugeleitet. 197 Butzer, AöR 1994, S. 89 f. 198 Zustimmend auch Weber, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 59 Π, RdNr. 69. Ein Parlamentsbeschluss würde indes dort nicht ausreichen, wo die konkrete Sachstruktur des

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1. Teil: Parlamentarische Legitimations Vermittlung im Integrationsprozess

allerdings um den Preis einer Entformalisierung im Bereich der auswärtigen Gewalt. 199

der parlamentarischen Mitwirkung

Der vom BVerfG entwickelte konstitutive Parlamentsvorbehalt für den Streitkräfteeinsatz, auf den im nächsten Abschnitt näher eingegangen wird, vermag jedoch förmlich-legislative Steuerungsdefizite von militärstrategischen Entwicklungen nur bedingt zu kompensieren. Wohl können die im Rahmen des Washingtoner NATO-Konzeptes getroffenen strategischen Entscheidungen punktuell durch Genehmigung oder Verweigerung eines bestimmten Krisenreaktionseinsatzes nachgängig bewertet und kontrolliert werden; strategische Gestaltungswivkung (im engeren Sinn) entfaltet der Parlamentsvorbehalt dagegen nur sehr begrenzt, weil die Entscheidung über den Streitkräfteeinsatz stets eine von den aktuellen Mehrheiten abhängige „Fall-zu-Fall-Entscheidung" des Bundestages darstellt. Unter dem Gesichtspunkt der Kompensation militärstrategischer Vertragsentwicklungen hätte die parlamentarische Beteiligung allenfalls im Rahmen eines Parlamentsbeteiligungsgesetzes Relevanz entfalten können, sofern ein solches Gesetz bestimmte Einsatzarten (ζ. B. ohne UN-Mandat) generell ausgeschlossen und dabei deutlich gemacht hätte, dass eine dynamische Vertragsentwicklung des NATO-Vertrags in Hinblick auf eine bestimmte Militärstrategie vom Deutschen Bundestag nicht (mehr) mitgetragen wird.

I I I . Parlamentarische Einsatzgewalt in internationalen Bündnisstrukturen Die Entscheidung über Krieg und Frieden oder - um mit Carl Schmitt zu sprechen - die Entscheidung über den Ausnahmezustand,200 gehört zu den existentiellen Fragen eines Gemeinwesens. Die Kriegsgewalt war über lange Zeiträume der wichtigste Bestandteil der auswärtigen Gewalt der Nationalstaaten - Bündnisse und Friedensverträge waren die bedeutsamsten völkerrechtlichen Vereinbarungen. Erst mit dem Ende des Absolutismus entwickelte sich die Entscheidung über Krieg und Frieden zu den klassischen Vorrechten des Parlaments. So sprach die französische Revolutionsverfassung von 1791 vor dem Hintergrund des levée en masse (sog. „Volkskriege") das ius ad bellum nicht mehr der Krone, sondern der Nation zu: 2 0 1 Die Kriegserklärung konnte nur aufgrund eines Beschlusses der Nationaljeweiligen Regelungsbereichs (insbesondere dessen Grundrechtsrelevanz) eine gesetzesförmige Regelung erfordert (dazu insb. Butzer, AöR 1994, S. 77 ff.). So dürfte ein konstitutiver Beschluss als parlamentarische Grundlage für einen Auslandseinsatz Wehrpflichtiger gegen ihren Willen und jenseits des traditionellen Verteidigungsauftrags nicht ausreichen (so Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 87a, RdNr. 25 f. und DVB1. 1996, S. 949). 199 Diesen Prozess beklagt Ruffert, DVB1. 2002, S. 1145 ff.; grundlegend dazu SchulzeFielitz, Der informale Verfassungsstaat. 200 Carl Schmitt, Politische Theologie, S. 11. 201 Vgl. Treviranus,

Außenpolitik, S. 67.

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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Versammlung auf Antrag des Königs erfolgen. 202 Diese „gemischte Kriegsgewalt" (Mirabeau) hat sich in den meisten europäischen Verfassungen durchgesetzt - die auswärtig-militärische Gewalt erscheint heute vielfach als „Kooperationsprojekt" zwischen Regierung und Parlament. In der deutschen Rechtstradition stand die Entscheidung über Krieg und Frieden in erster Linie dem Monarchen zu, der gleichzeitig den Oberbefehl über die Streitkräfte innehatte.203 Seine machterfüllte Prärogative war zunächst föderativen, später auch demokratischen Einschränkungen ausgesetzt, die über das traditionelle parlamentarische Budgetrecht hinausgingen.204 Während die französischen Revolutionsverfassungen den Vorrang der gesetzgebenden Körperschaften bei der Entscheidung über das ius belli festlegten, stellte die Deutsche Reichsverfassung von 1871 mit dem Zustimmungsvorbehalt des Bundesrates vor allem die föderative Komponente in den Vordergrund. 205 Mit dem Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem wurde neben der Zustimmung des Bundesrates auch die des Reichstages notwendig. Die Weimarer Reichsverfassung hat diesen Gedanken fortgeführt und die Kriegserklärung an einen formellen Gesetzesbeschluss (Reichsgesetz) gebunden.206 Damit wurde das Parlament in militärischen Angelegenheiten zum „Herren des ganzen Geschäfts" (Anschütz). Das Grundgesetz von 1949 macht - abgesehen von Art. 26 GG - zum ius belli keine Ausführungen. Mangels eigener deutscher Streitkräfte blieben militärische Fragen im Parlamentarischen Rat von 1949 zunächst außen vor. Die Regelungen zum sog. „Verteidigungsfall" - zunächst nach Art. 59a GG, später Art. 115a ff. G G 2 0 7 - sahen schließlich die Einbindung föderativer und demokratischer Elemente bei der Entscheidung über Krieg und Frieden vor. Das Grundgesetz fügte sich auf diese Weise nicht nur in die Tradition von Weimar ein, sondern auch in die Tradition vieler europäischer Demokratien, in der die Teilhabe des Parlaments an der Entscheidung über Krieg und Frieden stets als systembedingte Selbstverständlichkeit eines bürgerlich-liberalen Verfassungsverständnisses erschien. 208 Die Entscheidung über Krieg und Frieden ist zu trennen von der Entscheidung über den konkreten Streitkräfteeinsatz. Dieser kann, muss aber nicht Bestandteil der Entscheidung über Krieg und Frieden sein. So haben Parlamente in der Vergan202 Art. 2 Verf. 1791; Art. 54 Verf. 1793; Art. 326 Verf. 1795, zitiert bei Heun, in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 115b, RdNr. 1. 203 Stern, Staatsrecht Bd. II, S. 869 f.; Ipsen, BK (Zweitbearb.), Art. 115b, RdNr. 4 ff. 204 Dazu ausführlich Rieder, Entscheidung über Krieg und Frieden, S. 33 ff., 148 ff. und 213 ff. 205 Vgl. Art. 11 Abs. 2 der RV 1871 (RGBl. 1871, 64); vgl. dazu Rieder, Entscheidung, S. 204 ff. 206 Vgl. Art. 45 Abs. 2 WRV von 1919; vgl. dazu Rieder, Entscheidung, S. 266 ff. 207 Neugeregelt durch die sog. „Notstandsgesetze" vom 24. 6. 1968 (BGBl. I, 709). 208 Baade, Verhältnis, S. 115 ff.; Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 115a, RdNr. 4; Müller, Amerika, S. 226.

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genheit schon Kriege erklärt, die die Exekutive nie zu führen gedachte;209 umgekehrt wurden militärische Einsätze befohlen und durchgeführt, denen keine parlamentarische Kriegserklärung zugrunde liegt. Seit dem 2. Weltkrieg gehören Kriegserklärungen nicht mehr zur allgemeinen völkerrechtlichen Staatenpraxis; 210 auch geht es nicht bei jedem Streitkräfteeinsatz - man denke an humanitäre oder friedenssichernde Einsätze - um eine Frage von Krieg und Frieden. 211 Seit dem Ende der Blockkonfrontation verschwimmen vielmehr die herkömmlichen Kategorien des Krieges, des Bürgerkrieges oder der Friedenssicherung - an ihre Stelle ist der disparate Begriff des „Krisenmanagements" getreten, der bewaffnete Auseinandersetzungen aller Art umfasst; darunter auch die völkerrechtlich gleichermaßen fragwürdigen wie außenpolitisch umstrittenen Aktionen der humanitären Intervention, des Antiterrorkampfes oder des regime change. Die Auffächerung der Einsatzspektren macht es notwendig, neben der Entscheidung über Krieg und Frieden auch jede anderweitige Form des militärischen Engagements im Ausland demokratisch zu legitimieren und parlamentarisch zu kontrollieren. In diesem Sinne hat das BVerfG in seiner zentralen Entscheidung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr aus den parlamentarischen Kompetenzen bei der Entscheidung über Krieg und Frieden ein (ungeschriebenes) „allgemeines Prinzip der konstitutiven Beteiligung des Parlaments beim Einsatz bewaffneter Streitkräfte" abgeleitet 212 und dem Gesetzgeber anheim gestellt, Modalitäten, Verfahren und Intensität der parlamentarischen Beteiligung an der Entscheidung über Auslandseinsätze gesetzlich näher zu regeln.

1. Kompetenzverteilung beim Streitkräfteeinsatz: Ein europäischer Verfassungsvergleich In fast allen europäischen Verfassungen lässt sich die Entscheidung über Krieg und Frieden (in Form einer „Kriegserklärung") auf den Willen des demokratisch legitimierten Parlaments zurückführen - sei es durch Zustimmung zu einer exekutiven Entscheidung oder durch autonome parlamentarische Erklärung. Verfassungsrechtlich ist diese Entscheidung an einschneidende notstandsrechtliche Folgen („Notstandsverfassung") geknüpft, die den äußeren Staatsnotstand (Kriegszustand) herbeiführen; völkerrechtlich hat sie als sog. „Kriegserklärung" Auswirkung auf 209

In der Endphase des zweiten Weltkriegs gab es eine ganze Reihe von Kriegserklärungen, die allein auf die Herbeiführung bestimmter völkerrechtlicher Rechtsfolgen abzielten, bei denen aber ein Streitkräfteeinsatz gegen das Deutsche Reich schon aus geographischen Gründen weder geplant noch militärisch vorstellbar gewesen wäre (Stein/Kröninger, in: Jura 1995, S. 261). In der Geschichte der USA des 19. Jhd. finden sich Beispiele, wo vor allem der Kongress maßgeblich auf einen Krieg (etwa gegen Spanien und England) zusteuerte, den der Präsident jedoch nicht führen wollte. 210 ipsen, Völkerrecht, § 65, RdNr. 5. 211 Schmidt-Bleibtreu/Klein, 212 BVerfGE 90, 286 (384).

GG, Art. 115a, RdNr. 1.

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Bestand und Anwendbarkeit von Verträgen und zwingt zur Neutralität oder Parteinahme. 2 1 3 Die Feststellung des Verteidigungsfalls nach Art. 115a Abs. 1 S. 1 GG bedarf der (konstitutiven 2 1 4 ) Zustimmung von Bundestag und Bundesrat. 2 1 5 I m Rahmen eines engen, an notwehrähnliche Tatbestandsmerkmale anknüpfenden Ermessensspielraums 216 ist das Feststellungsverfahren wie ein Gesetzgebungsverfahren ausgestaltet, das durch Verkündung (Art. 82 GG) i m Bundesgesetzblatt formell abgeschlossen w i r d . 2 1 7 Indes erfolgt die Feststellung nach Art. 115a I GG i m Gegensatz zu Art. 45 Abs. 2 W R V nicht durch förmliches Gesetz, sondern durch Beschluss. 2 1 8 Den Antrag auf Feststellung des Verteidigungsfalles kann nur die Bundesregierung als Kollegialorgan (Art. 65 S. 1 GG) einbringen; anders als bei Gesetzesbeschlüssen ist ein solches Initiativrecht dem Parlament selber versagt. 2 1 9 Aus Sicht des Parlaments handelt es sich bei der Feststellung des Verteidigungsfalles um ein Vorrecht, nicht um eine Verpflichtung. 2 2 0 Erfordert die Lage sofortiges Handeln, können die Kompetenzen von Bundestag und Bundesrat zwecks Aufrechterhaltung der parlamentarischen Kontrolle auch durch den als „Notparlament" (Art. 53a GG) konstituierten Gemeinsamen Ausschuss wahrgenommen werden. 2 2 1 In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist es bislang nicht zu einer Feststellung des Verteidigungsfalles gekommen. Das Ende der Blockkonfrontation hat die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt der Voraussetzungen des Verteidigungsfalles elementar gesenkt. Indes geben die Ereignisse des 11. Septembers 2001 zu der Frage Anlass, ob ein vergleichbarer Terrorakt von der Legaldefinition des Art. 115a Abs. 1 GG erfasst würde, die auf einen Angriff mit Waffengewalt auf das Territorium der Bundesrepublik Deutschland abstellt. Grundsätzlich werden die Tatbestandsmerkmale eines Angriffs mit Waffengewalt auch durch einen terroristischen Anschlag mit einem als Waffe benutzten Privat213 Ipsen, Völkerrecht, § 65, RdNr. 5 und § 66, RdNr. 2. 214 Grote, in: M / K / S , GG, Art. 115a, RdNr. 50. 215 Erforderlich ist dafür die Mehrheit von 2/3 der abgegebenen Stimmen im Bundestag (mindestens aber der Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl) sowie der Mehrheit der Stimmen im Bundesrat (Art. 115a I S. 2 GG). Die Feststellung kann unter den Voraussetzungen des Art. 115a IV GG fingiert werden (vgl. i.e. Robbers, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 115a, RdNr. 9). 216 Grewe, in: AöR 1987, S. 534; Herzog, M / D , GG, Art. 115a, RdNr. 18 ff. 217 BVerfGE 7, 330 (337 f.); Rieder, Entscheidung über Krieg und Frieden, S. 333. 218 Dieser wird in der Literatur als „qualifizierter Parlamentsakt" (Stern, Staatsrecht II, S. 1402) oder als „schlichter Parlamentsbeschluss" (Vitzthum, HBdStR Bd. VII, § 170, RdNr. 31) bezeichnet, 219 Robbers, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 115a, RdNr. 11. Für den Fall, dass die Regierung zur Antragstellung faktisch außerstande ist, bleibt eine Beschlussfassung ohne Antrag möglich (so Herzog, in: M / D , GG, Art. 115a, RdNr. 41). 220 Herzog, in: M / D , GG, Art. 115a, RdNr. 55. Der Bundestag vermag insoweit nach politischer Opportunität zu entscheiden und bleibt lediglich an das Untermaßverbot gebunden (dazu BVerfGE 88, 203 (254). 221 Robbers, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 53a, RdNr. 2; Art. 115a, RdNr. 13 f.; Vitzthum, in: HBdStR Bd. VII, § 170, RdNr. 42, 44.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess flugzeug erfüllt; das Eindringen bewaffneter („privater") terroristischer Kräfte aus dem Ausland könnte daher zumindest vom Wortlaut her den Verteidigungsfall auslösen.222 Allerdings wird man tatbestandseingrenzend auf die Erforderlichkeit einer Verteidigung durch Streitkräfte abstellen müssen, die nur dann gegeben ist, wenn eine Reaktion von Polizei und Bundesgrenzschutz auf der Grundlage von Art. 87a Abs. 4 und Art. 91 GG zur Abwehr des Angriffs nicht ausreicht. 223 Zweitens müssten die mit der Feststellung des Verteidigungsfalles verbundenen Folgen - also der Übergang zur Notstandsverfassung im Sinne eines strikten Verhältnismäßigkeitsprinzips notwendig sein, um die Handlungsfähigkeit des Staates zur Abwehr des Angriffs sicherzustellen. Das wird man bei einem (punktuellen) Flugzeugattentat von den Ausmaßen des 11. September verneinen müs_

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sen. I m Gegensatz zu dem „verschämten" Begriff des „Verteidigungsfalls" (Grewe) stellt die Terminologie vieler europäischer Verfassungen immer noch auf den traditionellen „Kriegszustand" a b . 2 2 5 Auch die traditionelle „Kriegserklärung", die nach klassischem Kriegsvölkerrecht unabdingbare Voraussetzung für den Eintritt des Kriegszustandes war, findet Widerhall in den Verfassungstexten einiger europäischer Verfassungen. 226 In diesem Zusammenhang besitzen nationale Parlamente teilweise die Kompetenz, den Krieg selbst zu erklären (USA, Italien, Türkei, Polen), 2 2 7 zumindest aber das Recht, die Exekutive zu solchen Erklärungen zu ermächtigen bzw. der Kriegserklärung zuzustimmen (Frankreich, Niederlande, Finnland, Portugal, Spanien, Schweden oder Luxemburg). 2 2 8 Allein in B e l g i e n 2 2 9 und Großbritannien 2 3 0 ist die „Anerkennung des Kriegszustandes" eine Präroga-

222 Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 1399; Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 115a, RdNr. 9; ähnlich Robbers, in: Sachs (Hrsg.), GG. Art. 115a, RdNr. 4; zweifelnd hingegen mit Blick auf das Einschleusen einzelner Sabotagetrupps, selbst wenn sie durch auswärtige Mächte unterstützt werden Herzog, M / D , Art. 115a, RdNr. 26. 223 Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 115a, RdNr. 9. 224 In diese Richtung Grote, in: M / K / S , GG, Art. 115a, RdNr. 42; Krings/Burkiczak, DÖV 2002, S. 503; Schmidt-,Jortzig, DÖV 2002, S. 777. 225 z. B. in Art. 167 belg. Verf.; Art. 78 ital. Verf. 226 Vgl. Art. 36 griech. Verf.; Art. 35 frz. Verf.; Art. 37 luxemb. Verf. 227 Art. I § 8 Nr. 11 US-Verf.; Art. 78 ital. Verf.; Art. 92 türk. Verf.; Art. 116 poln. Verf. (Hingegen wird die Entscheidung über die Verhängung des Kriegsrechts gem. Art. 231 poln. Verf. vom Präsidenten getroffen, kann aber vom Parlament annulliert werden). 228 Art. 35 frz. Verf.; Art. 96 I niederl. Verf.; Art. 93 finn. Verf.; Art. 135 c) portug. Verf.; Art. 63 (3) span. Verf.; Art. X § 9 schwed. Verf.; Art. 37 i. V.m. 115 Abs. 5 luxemb. Verf.; Art. 28 III irische Verf. 229 Art. 167 § 1 Abs. 2 belg. Verf. 230 Das Notstandsgesetz {Power Emergency Act von 1920, geänd. 1964) ermächtigt Ihre Majestät (ergo die Regierung), den Notstand im Wege einer Proklamation festzustellen (vgl. Bradley /Ewing, Constitutional and administrative Law, S. 677 ff.). Gegebenenfalls wird (wie im 2. Weltkrieg) eine weitreichende gesetzliche Ermächtigung geschaffen oder eine nachträgliche parlamentarische Indemnität erteilt; vgl. Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Vorb. zu Art. 115a-1151, RdNr. 8 m.w.N. mit einem Vergleich des Notstandsrechts in den europäischen Rechtsordnungen.

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tive der Krone, wobei das belgische Parlament lediglich zum frühestmöglichen Zeitpunkt informiert werden muss. Die VerfassungsWirklichkeit zeigt indes ein anderes Bild als die Texte der Verfassungen, in denen die Volksvertretung gleichsam als „Herr des Geschehens" erscheint. Kaum jemals hat sich die Exekutive in der Praxis darauf beschränkt, den Kriegsbeschluss der Volksvertreter entgegenzunehmen und zu exekutieren. Nicht zuletzt die extensive Bündnispolitik im 19. Jahrhundert, die den Kriegseintritt in einem oft verhängnisvollen Automatismus nach sich zog, brachte die Exekutive ins Spiel. Graf Mirabeau wandte gegen das Kriegserklärungsrecht der französischen Nationalversammlung ein, die Exekutive werde im Besitz der diplomatischen und militärischen Mittel diese „Scheinbefugnis" des Parlaments jederzeit überspielen können. 231 Die Entscheidung über Krieg und Frieden als Bestandteil der auswärtigen Gewalt ist stets von den Vorentscheidungen der Regierung bestimmt gewesen, die es in der Hand hatte, durch Anerkennungs- und Neutralitätserklärungen, Ultimaten, Abbruch der diplomatischen Beziehungen oder indirekter Unterstützung der Kriegsparteien die Dinge so weit voranzutreiben, dass der Volksvertretung keine andere Wahl mehr blieb, als sich zur unausweichlich gewordenen kriegerischen Auseinandersetzung (zustimmend) zu äußern. Indes erwies sich der parlamentarische Rückhalt oft als das kriegsentscheidende Element. Denn in demokratischen Staaten kann keine größere militärische Auseinandersetzung ohne die Unterstützung an der „Heimatfront" durchgeführt werden. Dies bringt jede Regierung dazu, sich frühzeitig der Unterstützung des Parlaments zu versichern. Bei den teils verfassungsrechtlich, teils einfachgesetzlich oder gar gewohnheitsrechtlich begründeten Formen der parlamentarischen Beteiligung, die im folgenden exkursartig zusammengestellt sind, 232 lassen sich konstitutive Mitwirkungsrechte, parlamentarische Informationsrechte oder informelle Konsultationspraktiken unterscheiden. a) Skandinavien Eine verfassungsrechtlich festgeschriebene formelle Zustimmungskompetenz des Parlaments für den Einsatz dänischer Streitkräfte findet sich in der Verfassung Dänemarks. Art. 19 (2) der Verfassung bestimmt: Außer zur Verteidigung gegen einen bewaffneten Angriff auf das Königreich (...) kann der König ohne Zustimmung des Folketing keine militärischen Machtmittel gegen einen fremden Staat zur Anwendung bringen. Bemerkenswerterweise wird diese Norm - offenbar entgegen ihrem Wortlaut - so interpretiert, dass die Regierung einen bewaffneten Angriff unmittelbar zurückschlagen kann, aber für weitere Verteidigungsmaßnahmen die 231

Zitiert bei Treviranus, Außenpolitik, S. 68. Vgl. näher die verfassungsvergleichende Untersuchung von Nolte /Krieger, Europäische Wehrrechtssysteme, die Länderbeiträge in: Ku/Jacobson (Hrsg.), 2003; Nolte (Hrsg.), European Military Law Systems, 2003; Siedschlag, Nationale Entscheidungsprozesse, in: Reiter/Rummel/Schmidt (Hrsg.), 2002, S. 222 ff. 232

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1. Teil: Parlamentarische Legitimations Vermittlung im Integrationsprozess

Zustimmung des Parlaments einholen muss. 233 Beim Einsatz im Rahmen von UN-Friedenstruppen gilt die Zustimmung des Aufnahmestaates (Gaststaates) als Fiktion, dass sich der Angriff nicht mehr „gegen einen fremden Staat" richtet. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass eine Zustimmung des Parlaments dort notwendig ist, wo eine Einwilligung des betreffenden Staates nicht vorliegt, also bei militärischen Zwangsmaßnahmen des UN-Sicherheitsrates nach Kapitel V I I der UN-Charta (aber wohl auch bei robustem peacekeeping , bei humanitären Interventionen ohne Sicherheitsratsmandat sowie bei Maßnahmen der kollektiven Selbstverteidigung). Auch nach der schwedischen Verfassung darf die Regierung in Friedenszeiten nur unter bestimmten, relativ umgrenzten Voraussetzungen Streitkräfte zu Auslandseinsätzen entsenden: wenn der Reichstag vor dem Beginn der Operation zustimmt, wenn es gemäß dem Gesetz, das die Voraussetzungen für die Maßnahme angibt, zulässig ist oder wenn sich die Pflicht zur Ergreifung der Maßnahme aus einem vom Reichstag gebilligten internationalen Übereinkommen (...) ergibt, 234 Das „Gesetz über den Auslandseinsatz von Streitkräften" ermächtigt die Regierung, ohne Befragung des Reichstages bis zu 3000 Soldaten für friedenserhaltende Aufgaben im Rahmen der Vereinten Nationen zu entsenden. Auch in Hinblick auf die Petersberg-Aufgaben hat der Reichstag nur den allgemeinen gesetzlichen Rahmen festgelegt, ohne von Fall zu Fall zu entscheiden.235 In den Fällen, in denen eine Zustimmung des Reichstages erforderlich wird, hat dieser sich das Recht vorbehalten, Änderungen des Einsatzes vorzuschlagen, wobei der ausgesprochen einflussreiche Rat für Auswärtige Angelegenheiten die Federführung übernimmt. Hingegen sieht Art. 97 der finnischen Verfassung nur ein Informationsrecht des Auswärtigen Ausschusses des finnischen Reichstags in allen Angelegenheiten der Außen- und Sicherheitspolitik vor.

b) Österreich Auf der Grundlage von Art. 79 Abs. 3 der österreichischen Verfassung regelt das Bundesverfassungsgesetz über Kooperation und Solidarität bei der Entsendung von Einheiten und Einzelpersonen in das Ausland (KSE-BVG) 236 die Entsendung von österreichischen Streitkräften ins Ausland. 237 Das KSE-BVG billigt dem öster233

So Nolte /Krieger, Europäische Wehrrechtssysteme, S. 62. Kap. X, § 9 schwed. Verfassung. 23 5 Vgl. Nachweise bei Siedschlag, Alexander, in: Reiter u. a. (Hrsg.), 2002, S. 230. 23 6 KSE-BVG, BGBl. I Nr. 38/1997. 234

237

Eine Entsendung kommt danach in Betracht zur solidarischen Teilnahme an Maßnahmen der Friedenssicherung einschließlich der Förderung der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Schutz der Menschenrechte im Rahmen einer internationalen Organisation oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder in Durchführung von

. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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reichischen Parlament (Nationalrat) grundsätzlich ein Mitspracherecht bei der Einsatzentscheidung zu, sieht aber gleichzeitig für den Dringlichkeitsfall eine Regierungsentscheidung ohne parlamentarische Zustimmung (jedoch mit der Möglichkeit des Einspruchs) vor. Zu Entsendungen nach § 1 ist die Bundesregierung im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrates berufen (§ 2 Abs. 1 KSE-BVG). Erfordert die besondere Dringlichkeit der Lage eine unverzügliche Entsendung ( . . . ) , so kommen die nach diesem Bundesverfassungsgesetz der Bundesregierung zustehenden Befugnisse dem Bundeskanzler, dem Bundesminister für auswärtige Angelegenheiten sowie jedem in seinem Zuständigkeitsbereich berührten Bundesminister zu, die einvernehmlich beschließen können, an der Maßnahme teilzunehmen. Hierüber haben sie der Bundesregierung und dem Hauptausschuss des Nationalrates unverzüglich zu berichten. Der Hauptausschuss des Nationalrates kann innerhalb von zwei Wochen nach der Berichterstattung gegen die Entsendung Einspruch erheben; in diesem Fall ist die Entsendung zu beenden (§ 2 Abs. 5 KSE-BVG).

c) Türkei Stark ausgestaltet ist auch die verfassungsrechtliche Stellung des türkischen Parlaments (Große Nationalversammlung) welche über die Ausrufung des Krieges, den Aufenthalt von ausländischen Streitkräften in der Türkei und - abgesehen von einem Angriffsfall - über die Entsendung der türkischen Streitkräfte ins Ausland entscheidet.238 Das Parlament ist auch nomineller Inhaber des Oberbefehls über die türkischen Streitkräfte, den der Präsident in seinem Namen ausübt (Art. 104 türkische Verfassung).

d) Benelux In den Niederlanden ist es seit den 1980er Jahren Staatspraxis, dass das Parlament von einem geplanten Streitkräfteeinsatz in Kenntnis gesetzt wird. Diese Praxis wurde durch den im Jahre 2000 neu eingefügten Art. 110 der niederländischen Verfassung kodifiziert. Danach muss die Regierung vor dem Einsatz oder der Überlassung der Streitkräfte für die Einhaltung und Förderung der internationalen Rechtsstaatlichkeit das Parlament über den beabsichtigten Einsatz informieren. 239 Auch wenn die neue Rechtslage kein formelles Zustimmungsrecht vorsieht, Beschlüssen der Europäischen Union im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik oder Maßnahmen der humanitären Hilfe und der Katastrophenhilfe oder Maßnahmen der Such- und Rettungsdienste sowie zur Durchführung von Übungen und Ausbildungsmaßnahmen im Bereich der militärischen Landesverteidigung (§ 1 KSE-BVG). 238 Vgl. Art. 92 türk. Verf. 239 Art. 100 niederl. Verf. bestimmt: „The Government shall provide Parliament with information in advance on the posting or making available of the armed forces for the 10*

1 4 1 . Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

so entsendet die Haager Regierung - dies hat die Praxis im Fall der niederländischen KFOR-Truppen im Juni 1999 gezeigt - keine Streitkräfte ins Ausland, solange im Parlament kein breiter Konsens über den Einsatz vorherrscht. 240 Eine rechtlich weniger strenge Regelung sieht die Verfassung Belgiens vor. Gem. Art. 167 sind König und Regierung verpflichtet, die Kammern des Parlaments über die Entscheidung eines Streitkräfteeinsatzes in Kenntnis zu setzen und angemessen zu informieren, sobald das Interesse und die Sicherheit des Staates es erlauben. 241

e) Polen Gem. Art. 117 der polnischen Verfassung erfordert der Einsatz polnischer Streitkräfte im Ausland einen völkerrechtlichen Vertrag oder ein Gesetz. Daraus ergibt sich eine starke verteidigungspolitische Mitsprache des Parlaments, auch wenn seine beiden Kammern kein Recht besitzen, an Entsendeentscheidungen selber mitzuwirken. Immerhin muss das Parlament nach Art. 3 (2) des Gesetzes über die Stationierung und den Einsatz polnischer Streitkräfte im Ausland (ZUPSZ) 242 über die Einsatzentscheidung des Präsidenten unverzüglich informiert werden. Die Entscheidung selbst wird im Amtsblatt unter Angabe aller erheblichen Einzelheiten des Streitkräfteeinsatzes veröffentlicht.

f) Frankreich In Frankreich gilt die Außen- und Verteidigungspolitik seit De Gaulies Präsidentendekret von 1959 als domaine réservée des Staatspräsidenten, der nach der Verfassung als Garant der nationalen Unabhängigkeit und der territorialen Integrität fungiert. Sowohl der Premierminister als auch die Nationalversammlung erscheinen demgegenüber verfassungsrechtlich weitgehend bedeutungslos.243 Dazu maintenance or promotion of the international legal order, including information on the posting or making available of the armed forces for the provision of humanitarian assistance in the case of armed conflict. " In zwingenden Fällen sieht Art. 100 I I eine Ausnahmeregelung vor; in diesen Fällen sollen die Informationen so schnell wie möglich zur Verfügung gestellt werden. 240 Troncho, National Parliamentary Scrutiny, Doc. A/WEU/CRP (2001), S. 9, Nr. 25. 241 Einzelheiten regelt das „Gesetz über den Einsatz der Streitkräfte" vom 20. 5. 1994 (Loi relative à la mise en œuvre des forces armées ), Monitor Belge (Belgisches Gesetzblatt) vom 21.6. 1994. 242 Polnisches Gesetzblatt 1998, Nr. 162, Gegenstand 1117; zitiert bei Nolte /Krieger, Europäische Wehrrechtssysteme, S. 63. 243 Nachweise bei Siedschlag, Alexander, Nationale Entscheidungsprozesse, in: Reiter u. a. (Hrsg.), 2002, S. 225 f.

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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kommt, dass „Kolonialexpeditionen" traditionell nicht als „Kriege" im verfassungsrechtlichen Sinne behandelt werden und daher keiner Kriegserklärung des Parlaments bedürfen. Die Entscheidungsprärogative des Staatspräsidenten in Hinblick auf Streitkräfteeinsätze greift indes nur bei Gefahr im Verzug. Im Golfkrieg von 1991 konnte sich der Premierminister mit seiner Ansicht durchsetzen, der Präsident dürfe die Armee in keinen bewaffneten Konflikt (opération extérieure) führen, ohne zuvor sichergestellt zu haben, dass die Nationalversammlung ihre verfassungsmäßigen Rechte vollständig ausüben könne. Daran anschließend hat die Nationalversammlung zum ersten Mal ausdrücklich einen Auslandseinsatz der Streitkräfte gebilligt. Seit kurzem wird über die Einführung eines parlamentarischen Konsultationsrec/ite auf der Grundlage von Art. 35 der französischen Verfassung 244 diskutiert. 245

g) Großbritannien In Großbritannien ist die gesamte Verteidigungspolitik (und damit auch Auslandseinsätze und deren Durchführung) traditionell ein Vorrecht der Krone, das aber durch die Regierung, d. h. vor allem durch den Premierminister wahrgenommen wird, während sich die parlamentarische Kontrolle auf budgetäre Fragen beschränkt. 246 Gleichwohl wird das britische Unterhaus in der Praxis regelmäßig über die Beschlüsse des Premierministers in Zusammenhang mit Auslandseinsätzen unterrichtet und stimmt neuerdings auch über Auslandseinsätze der britischen Streitkräfte ab. 2 4 7

244 Dieser beschränkt die parlamentarischen Mitwirkungsrechte auf die Kriegserklärung, woraus allerdings bislang nie ein Parlamentsvorbehalt für Auslandseinsätze abgeleitet wurde. 245 Vgl. zu einem umfangreichen Maßnahmekatalog einer Expertenkommission zur Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle von opérations extérieures (Ausweitung des Budgetrechts, Verbesserung der Information des Parlaments über internationale Verträge und Abkommen mit militärischen Verpflichtungen, Konsultationen im Falle militärischer Interventionen) vgl. Lamy: Contrôler les opérations extérieures. Rapport d'information par la Commission de la Défense Nationale et des forces armées, Assemblée Nationale, l l i e m e Législature, 8. 3. 2000, Doc. Ass. Nat. No. 2237, abrufbar unter www.assemblee-nat.fr/rapinfo /i2237.asp 246 Wallace, The foreign policy process in Britain, 1975, zitiert bei Siedschlag, in: Reiter (Hrsg.), 2002, S. 227 m.w.N. 247 Nolte /Krieger, Europäische Wehrrechtssysteme, S. 63. Im Irak-Krieg stimmte das Unterhaus am 19. 3. 2003 mit knapper Mehrheit für einen Einsatz.

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h) Spanien Gemäß Art. 97 und 98 der Verfassung ist die Exekutivgewalt in Militär- und Verteidigungsfragen zwischen dem Regierungschef und dem Verteidigungsminister aufgeteilt. Das Parlament ist nach Art. 63 Abs. 3 der Verfassung nur an Entsendeentscheidungen auf der Grundlage einer Kriegserklärung zu beteiligen. In der innenpolitischen Diskussion wird der Verteidigungsbegriff weit ausgelegt und schließt zum Teil auch die Teilnahme an multinationalen Koalitionen ein. In Zusammenhang mit der Unterstützung der Irak-Intervention (2003) konnte die Regierung nach langen Debatten eine unterstützende Resolution des Parlaments erreichen. i) Italien Die italienische Verfassung, die ähnlich wie das amerikanische System der checks and balances darauf angelegt ist, die starke Stellung des italienischen Staatspräsidenten (als Oberbefehlshaber der Streitkräfte) zu relativieren, enthält keine Verpflichtung der Regierung, das Parlament bei der Entscheidung über Auslandseinsätze zu konsultieren. Seit einigen Jahren ist es jedoch politische Praxis geworden, dass die Regierung zumindest eine der beiden Parlamentskammern anhört, wenn eine konkrete Einsatzentscheidung ansteht. Nach der Debatte verabschiedet das Parlament meistens eine Resolution, in der es seine Unterstützung für den Einsatz erklärt. Teilweise werden für Auslandseinsätze auch fallbezogene Entsendegesetze verabschiedet, in denen detaillierte Regelungen zur Dauer der Operation getroffen und die Regierung zu laufender Unterrichtung über die Entwicklung des Einsatzes verpflichtet werden. 248 Im Bereich der Krisenbewältigung hat das Parlament im Zuge der Irakkrise (2003) die Regierung aufgefordert, grundsätzlich nicht ohne vorherige parlamentarische „Ermächtigung" international Position zu beziehen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die nationalen Parlamente in den europäischen Verfassungsstaaten bei der Entscheidung über den Streitkräfteeinsatz keine quantité négligeable (mehr) sind. Vielmehr entspricht es durchweg dem politischen Willen der europäischen Staaten, das Parlament angesichts von Entscheidungen, die nicht nur eine hohes Gefahrenpotential bergen, sondern in Zeiten knapper Ressourcen auch politisch zunehmend erklärungsbedürftig werden, zumindest informell in den politischen Prozess einzubinden. Offenbar geht es dabei mehr um „geteilte Verantwortung" als um „kombinierte auswärtige Gewalt", denn die parlamentarische Beteiligung ist in den meisten Staaten nur als Konsultationsoder Anhörungsmöglichkeit, selten jedoch als verfassungsrechtlich verbürgtes Mitwirkungsrecht ausgestaltet. Dies gilt insbesondere für die militärisch bedeutenden Staaten Europas (allen voran die Atommächte Frankreich und Großbritannien, aber 248 Siedschlag, Alexander, in: Reiter (Hrsg.), 2002, S. 229 m. w. N.

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auch Spanien und Italien), während die kleineren nordeuropäischen Staaten sowie Deutschland und Österreich durchweg eine stärkere Parlamentsbeteiligung kennen. Alles in allem zeigt sich ein ausgesprochen heterogenes Bild der europäischen Wehrverfassungen. In der Perspektive der ESVP wird deutlich, dass eine Harmonisierung der europäischen Entscheidungsstrukturen - etwa mit Blick auf die für 2007 geplante schnelle Eingreiftruppe der EU - in staatsorganisatorischer Hinsicht gewisse Probleme mit sich bringt. 249 Dies gilt nicht nur für die einheitliche Ausgestaltung wehrrechtlicher Grundsätze oder für die Übertragung von militärischer Kommandogewalt, sondern eben auch für die Frage der Entsendeentscheidung. Ein EU-Entsendegesetz (als Vorbedingung für eine handlungsfähige ESVP) ließe sich wohl noch im Handlungsrahmen des Art. 17 Abs. 1 EUV verorten, erfordert aber gleichzeitig auch ein hohes Maß an wehrverfassungsrechtlicher Harmonisierung und Koordinierung. Das Aufeinanderstoßen unterschiedlicher nationaler Wehrrechtsordnungen in multinationalen Verbänden könnte aber dazu führen, dass die Bündnispartner in gewissem Maße koordinierte Ansätze verfolgen.

2. Der konstitutive Parlamentsvorbehalt im System der funktionalen Gewaltenteilung Das Grundgesetz regelt - wie viele andere europäische Verfassungen 250 - allein die Frage des militärischen Oberbefehls, schweigt aber zur Einsatzkompetenz. In Analogie zu den für Streitkräfteeinsätze im Inneren maßgeblichen Bestimmungen 2 5 1 sowie der einfachgesetzlichen Regelung des § 15 Abs. 1 GO-BReg ist jedoch von einer Kompetenz der Regierung als Kollegialorgan ausgehen.252 Demgegenüber sind in neuerer Zeit Zweifel an der „Kabinettskompetenz" laut geworden, die dem Grundgesetz nicht zu entnehmen sei und sich auch nicht auf Art. 65 S. 3 bzw. Art. 87a Abs. 4 GG stützen lasse. Vielmehr sei die Befugnis zur Entscheidung über den Streitkräfteeinsatz der Befehls- und Kommandogewalt und damit der Ressortzuständigkeit 249 Dazu auch Nolte /Krieger, Europäische Wehrrechtssysteme, S. 20 f. 250 Vgl. z. B. Art. 37 luxemb. Verf.; Art. 137 port. Verf.; Art. 87 ital. Verf.; Art. 167 belg. Verf.; Art. 80 österr. Verf. 251 Art. 35 III, 87a IV und 91 I I GG. 252 So die ganz herrschende Meinung, vgl. Erhardt, Befehls- und Kommandogewalt, S. 63; Hernekamp, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 24; Grewe, HBdStR ΙΠ, § 77, RdNr. 40 ff.; Dau, NZWehrR 1998, 96; Stein/Kröninger, Jura 1995, 257; Riedel, NZWehrR 1989,45; Blumenwitz, NZWehrR 1988,145. Der Beschluss der Bundesregierung ergeht gem. § 24 Abs. 2 GOBReg mit Stimmenmehrheit. Als Mitglied der Regierung (Art. 62 GG) und Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Art. 65a GG) hat der Bundesverteidigungsminister Anteil an der Einsatzentscheidung. Ähnlich stellt sich die Rechtslage in anderen europäischen Verfassungen dar; vgl. z. B. Art. X § 9 der schwedischen Verf. und Art. 102 der niederl. Verf. In Frankreich hat der Präsident zwar gem. Art. 15 der Verf. das Oberkommando, die Regierung verfügt aber gem. Art. 20 frz. Verf. über die Streitkräfte und entscheidet damit auch über ihren Einsatz. In Finnland kann der Präsident als Oberbefehlshaber die Mobilmachung nur auf Antrag der Staatsregierung anordnen (Art. 129 finn. Verf.).

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des Verteidigungsministers zuzurechnen. 253 Angesichts der weitreichenden außenpolitischen Konsequenzen der Einsatzentscheidung würde eine solche „Machtkumulation" jedoch der Tendenz des Grundgesetzes widersprechen, mehrere Verantwortungsträger an der Einsatzentscheidung zu beteiligen.

In seiner vielbeachteten AWACS-Entscheidung hat das BVerfG den Einsatz deutscher Streitkräfte gewissermaßen praeter constitutionem unter den Vorbehalt eines konstitutiven Parlamentsbeschlusses gestellt. 254 Die Normen des Grundgesetzes seien nach Auffassung des Gerichts darauf angelegt, die Bundeswehr als Machtpotential nicht allein der Exekutive zu überlassen, sondern als „Parlamentsheer" in die demokratisch-rechtsstaatliche Verfassungsordnung einzubinden, d. h. dem Parlament einen rechtserheblichen Einfluss auf die Verwendung der Streitkräfte zu sichern. Mit dem konstitutiven Parlamentsbeschluss hat das BVerfG zugleich die Anforderungen an die demokratische Legitimation eines Einsatzes bewaffneter Streitkräfte erhöht. Offenbar hat das BVerfG die bestehenden gesetzlichen Regelungen - seien es nun die parlamentarischen Zustimmungsgesetze zu den Bündnisverträgen kollektiver Sicherheitssysteme oder die in § 7 SoldG niedergelegte Pflicht zum treuen Dienen - nicht für ausreichend erachtet, um die erhöhte Gefährdung soldatischer Rechtsgüter ausreichend zu legitimieren, die bei Auslandseinsätzen im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten regelmäßig gegeben ist. Als Legitimationsquelle für die Einsatzentscheidung reicht auch ein Beschluss der mittelbar demokratisch legitimierten Bundesregierung nicht mehr aus; vielmehr muss der unmittelbar vom Volk gewählte Bundestag die Einsatzentscheidung der Bundesregierung mittragen. In seiner generellen Stoßrichtung ist das Urteil weitgehend begrüßt, in seiner rechtlich-dogmatischen Begründung jedoch kritisiert worden. 255 Nach Auffassung der meisten Urteilskommentatoren habe das BVerfG mit der Kreation eines Parlamentsvorbehalts indirekt auf die Wesentlichkeitstheorie zurückgegriffen 256 und damit einen „Trend zur Parlamentarisierung der auswärtigen Gewalt" eingelei253 Epping, AöR 1999, S. 452 ff.; Oldiges, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 19a; ders., Wehrrecht, in: Achterberg/Püttner (Hrsg.), Bes.VerwR II, § 23, RdNr. 42; Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 54. 254 BVerfGE 90, 286 (381 ff.), vgl. dazu Schultz, Auslandsentsendung, S. 291 ff.; Wild, in: DÖV 2000, S. 622 ff.; Brenner/Hahn, in: JuS 2001, S. 729 ff.; zum Antiterrorkampf der Bundeswehr Krings/Burkiczak, DÖV 2002, S. 504 f.; Blumenwitz, ZRP 2002, S. 102 ff. 255 Das Gericht habe den Boden der Verfassungsauslegung verlassen und die Rolle eines verfassungsändernden Gesetzgebers eingenommen; kritisch insoweit Baldus, M / K / S , GG, Art. 87a Abs. 2, RdNr. 45; Arndt, NJW 1994, S. 2198; Blumenwitz, BayVBl. 1994, S. 680; Roellecke, Der Staat 1995, S. 423; Stein/Kröninger, Jura 1995, S. 261; Epping, AöR 1999, S. 449; Ruffert, DVB1. 2002, S. 1153; Kunig, in: Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 2. Abschnitt, RdNr. 80. 256 So einhellig Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 59, RdNr. 27; Kokott, DVB1. 1997, S. 939; Heun, JZ 1994, S. 1074; Epping, AöR 1999, S. 448; Nolte, Landesbeitrag Germany in: Ku/Jacobson (Hrsg.), 2003, S. 235 f.

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tet. 2 5 7 Jedoch weist die Wesentlichkeitstheorie als verfassungsrechtlicher Begründungsansatz für den Parlamentsvorbehalt gewisse Schwächen auf. So bleibt ungeklärt, warum ein bloßer Parlamentsbeschluss nach Art. 42 I I GG für den Streitkräfteeinsatz ausreicht, wo die Anwendung der Wesentlichkeitstheorie doch eine parlamentarische Mitwirkung durch Gesetz erfordert. Überdies erweist sich der Rückgriff auf die Wesentlichkeitstheorie in gewisser Weise als Widerspruch zur „Pershing"-Entscheidung: Es erscheint nämlich kaum nachvollziehbar, warum eine Entscheidung über den Streitkräfteeinsatz, die ja gerade keine Kriegserklärung ist, „wesentlicher" sein soll als die Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden. 258 Bei strikter Anwendung der in der Pershing-Entscheidung entwickelten Grundsätze hätten die Auslandseinsätze, die in der UN-Charta oder im NATO-Vertrag gewissermaßen „angelegt" sind, durchaus auch unter das Integrationsprogramm des jeweiligen parlamentarischen Zustimmungsgesetzes subsumiert werden können. 259 Zudem bemüht sich das Gericht offenbar, den Parlamentsvorbehalt aus der Tradition der Wehrverfassung herzuleiten, um gerade dadurch dem Eindruck einer „Parlamentarisierung der auswärtigen Gewalt" entgegenzuwirken. Dabei begründet das Gericht den Parlamentsvorbehalt mit einer (freilich unausgesprochenen) Analogie zum Verteidigungsfall 260 und versucht, die eigentlich nur punktuell existierende Mitwirkung des Bundestages in auswärtigen Angelegenheiten zu einem durchgehenden Prinzip der Wehrverfassung zu stilisieren. In der Argumentation vermischen sich die Frage nach der Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt mit der wehrverfassungsrechtlich normierten parlamentarischen Kontrolle der Exekutive. Noch deutlicher wird dieser Befund am späteren Urteil des BVerfG zum NATO-Konzept: 261 Hier erwähnt das Gericht die wehrverfassungsrechtliche Grundlage des Parlamentsvorbehalts nicht mehr, sondern sieht die Entscheidungszuständigkeit des Parlaments vor allem als Kompensation für die schwindende Vertragsgewalt bei der dynamischen Entwicklung offener Bündnis257 So etwa Kokott, DVB1. 1996, S. 937; Dau, NZWehrR 1998, S. 99. 258 Rollecke, Der Staat 1995, S. 424. 259 Wolf rum, HBdStR Bd. VII, § 192, RdNr. 52. Dies erkennt auch das BVerfG und führt dazu aus (90, 286, 355): Die Eingliederung deutscher Streitkräfte in integrierte Verbände der NATO hat der deutsche Gesetzgeber durch den Beitritt zum Nordatlantikvertrag zugestimmt. Diese Zustimmung erfasst auch den Fall, dass integrierte Verbände im Rahmen einer Aktion der Vereinten Nationen, deren Mitglied die Bundesrepublik Deutschland ist, eingesetzt werden. 260 Roellecke, Der Staat 1995, S. 424; Heun, JZ 1994, S. 1074; Nolte, ZaöRV 1994, S. 675; Schroeder, JuS 1995, S. 404; Epping, AöR 1999, S. 447. Die Argumentation des Verfassungsgerichts enthält zwar keinen reinen Analogieschluss (so Hummel, NZWehrR 2001, S. 226) erkennbar daran, dass die für den Verteidigungsfall in der Rechtsfolge vorgesehene Beteiligung föderaler Elemente (Zustimmung des Bundes rates) beim Parlamentsvorbehalt nicht übernommen wird; wohl aber verwendet das Bundesverfassungsgericht Argumentationsmuster der Analogie („Erst-Recht-Schluss"), wenn es aus Art. 115a I GG ein höheres allgemeines „Prinzip der konstitutiven Beteiligung des Parlaments beim Einsatz bewaffneter Streitkräfte" (BVerfGE 90, 286, 387) ableitet. 261 BVerfGE 104, 151 (212).

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

Verträge. Dies bedeutet aber im Ergebnis, dass der Parlamentsvorbehalt nicht wirklich zu einer funktionellen Kompetenzverschiebung im Bereich der auswärtigen Gewalt führt und daher auch nicht zur Steigerung der demokratischen Legitimation im funktionell-institutionellen Sinne beitragen kann; vielmehr fungiert er nach dem Willen des BVerfG (nur noch) als allgemeines parlamentarisches Kontrollinstrument neben Wehrbeauftragten oder Budgetrecht. a) Funktionale Kompetenzverteilung Die AWACS-Entscheidung des BVerfG hat die Mitwirkung des Parlaments an der Einsatzentscheidung im Grundsatz sichergestellt, jedoch die kompetenzielle Feinsteuerung weitgehend offengelassen. Streitigkeiten über Voraussetzungen, Umfang oder Auslegung des inhaltlich unvollkommen ausgestalteten Parlamentsvorbehalts sind damit programmiert. 262 Die auf flexible und pragmatische Lösungen angewiesene Verfassungspraxis der Bundesregierung bewegt sich seit Jahren auf dem unsicheren Parkett einer Exegese der Entscheidung von 1994. So kam es in der Vergangenheit immer wieder zu „vertraulichen Konsultationen" zwischen Verteidigungsminister und den Fraktionsvorsitzenden sowie den Obleuten verschiedener Ausschüsse, um „Verabredungen" über bestimmte Einsatzdetails zu treffen. 263 Herausgebildet hat sich auch eine Art informelle „Interorganpraxis u zwischen Bundesregierung und Bundestag,264 welche die parlamentarische Mitwirkung in Verfahrensbereichen sicherstellt, die zehn Jahre nach dem AWACSUrteil des BVerfG noch immer nicht eindeutig geregelt sind. Unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Legitimation und Transparenz erscheinen diese Entwicklungen bedenklich. Die herausragende Bedeutung, die der Sicherung eines breiten politischen Konsenses durch eine (jedenfalls in den Grundzügen) verrechtlichte Kooperation von Regierung und Parlament bei der Entscheidung über den Auslandseinsatz der Bundeswehr zukommt, gebietet eine transparente Ausgestaltung der Mitwirkungsrechte des Bundestages. Die hierzu erforderliche Meinungsbildung kann aber weder in informellen noch in gerichtlichen Verfahren hinreichend erfolgen. Daher erscheint es auf Dauer kontraproduktiv, das BVerfG zur Klärung von Einzelfragen auf den Plan zu rufen, sobald ein Einvernehmen über die parlamentarische Beteiligung an Einsätzen zwischen den Fraktionen (wie zuletzt beim AWACS-Einsatz in der Türkei) nicht erzielt werden kann. Der Rechtswissenschaft stellt sich in diesem Zusammenhang die Aufgabe, Spielräume des verfassungsgerichtlichen Diktums auszuloten, exekutive und parlamentarische Befugnisse vor dem Hintergrund verfassungsrechtlicher Komplementärprinzipien auszutarieren und im Sinne verfassungsrechtlicher Konkordanz 265 eine aufgaben262 263 264 265

Kritisch insoweit auch Baldus, in: M / K / S , GG, Art. 87a, RdNr. 45. Dreist, NZWehrR 2002, S. 145. in diese Richtung Nowrot, NZWehrR 2003, S. 74 f. in diesem Sinne auch Kreß, ZaöRV 1997, S. 357.

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adäquate Feinsteuerung der Kompetenzabgrenzung bei der Entsendeentscheidung zu entwickeln. Bei der funktionellen Aufteilung der Verantwortung für den Auslandseinsatz hat das BVerfG betont, dass der „Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnisse und Verantwortlichkeit ( . . . ) durch den Parlamentsvorbehalt nicht berührt" werde. 266 Daher hat das Gericht den Parlamentsvorbehalt als ein Instrument der parlamentarischen Legitimation ausgestaltet, das in seinen Gestaltungs- und Steuerungsmöglichkeiten in gewisser Weise abstrakt bleibt. Das Recht des Bundestages beschränkt sich darauf, den von der Bundesregierung als gesamtes Paket vorgelegten Einsatz pauschal zu billigen und damit in toto zu legitimieren oder ihn abzulehnen. 267 Der Parlamentsvorbehalt ähnelt damit funktional dem Zustimmungsgesetz nach Art. 59 I I GG, das gleichfalls darauf beschränkt bleibt, den Integrationsrahmen abzustecken, während der Vertrag selbst durch die Exekutive konkretisiert und fortentwickelt wird. Parlamentsvorbehalt und Zustimmungsgesetz haben insoweit einen „ermächtigenden" Charakter: So wie Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG nur das Eingehen völkerrechtlicher Bindungen einer parlamentarischen Zustimmung unterwirft, 2 6 8 so erschöpft sich die Mitentscheidungsbefugnis des Parlaments darin, den Streitkräfteeinsatz zu ermöglichen bzw. zu verhindern. Die Abgeordneten entscheiden dabei zuweilen über Militäroperationen, auf deren Planung sie nur wenig Einfluss haben und deren Risiken sie oft nicht einschätzen können. Insoweit ist die Gefahr nicht auszuschließen, dass sich der am konkreten Fall ausgerichtete konstitutive Parlamentsvorbehalt auf eine bloße Akklamationsfunktion reduziert oder gar für andere Sachzusammenhänge „instrumentalisiert" wird. 2 6 9 Aus der primären Verantwortlichkeit der Exekutive für den Einsatz folgt, dass dem Bundestag keine Initiativbefugnis auf militärischem Gebiet zukommt, mit der Folge, dass die Regierung zum Einsatz der Streitkräfte nicht verpflichtet werden kann. 270 Dementsprechend kann die Regierung den Einsatz beenden und die Streitkräfte zurückrufen, ohne dafür der Zustimmung des Parlaments zu bedürfen. Aber auch hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung eines Einsatzes besitzt das Parlament nach dem Willen des Verfassungsgerichts kaum Einflussmöglichkeiten Modalitäten, Umfang und Dauer der Einsätze sowie die notwendige Koordination in und mit Organen internationaler Organisationen fallen in die Regelungskom266 BVerfGE 90, 286 (387). 267 So auch Wild, DÖV 2000, S. 629. 268 Fastenrath, Inhaltsänderung, in: Geiger (Hrsg.), 2000, S. 98 f. 269 So hatte der Bundeskanzler die Bundestagsabstimmung am 16. 11. 2001 über die Teilnahme der Bundeswehr an der Afghanistan-Operation Enduring Freedom aus Gründen der Fraktionsdisziplin mit der Vertrauensfrage nach Art. 68 GG verbunden. 270 Vgl. BVerfGE 90, 286 (389): „Der Bundestag kann lediglich einem von der Bundesregierung beabsichtigten Einsatz seine Zustimmung versagen, (...), nicht aber die Regierung zu solch einem Einsatz der Streitkräfte verpflichten "; vgl. insoweit auch Hummel, NZWehrR 2001, 224; Wild, DÖV 2000, S. 629.

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petenz der Regierung. 271 Diese Aufgaben zählen zum gewährten Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis und unterliegen der Verantwortung der Bundesregierung. Diese trägt allerdings den Wünschen der Parlamentarier zu Einzelheiten der Einsatzdurchführung durch Protokollerklärungen oder informale Zusagen Rechnung. In der Tat hat sich das Verfahren der parlamentarischen Zustimmung zu Auslandseinsätzen in der Praxis dem Gesetzgebungsverfahren für Bundesgesetze angelehnt. Dementsprechend wird nach Überweisung eines Kabinettsbeschlusses eine Bundestagsdrucksache erstellt, in erster Lesung beraten, sodann in die Ausschüsse überwiesen und danach mit den Voten aller Ausschüsse dem Plenum zur zweiten und dritten Lesung sowie zur namentlichen Abstimmung zugeleitet. In einem feststehenden System von 10 operativen Ziffern macht der Zustimmungsantrag Angaben zum Einsatzgebiet, über die personellen und sachlichen Mittel bis hin zu den Rechtsgrundlagen. 272 Dieser Zugewinn an Information erscheint im Hinblick auf die informationelle Kontrolle des Bundestages begrüßenswert. Denn überall, wo der Zustimmungsvorbehalt nicht greift, bleibt die Kontrollfunktion. Indes verhalten sich der vorherige konstitutive Zustimmungsvorbehalt und die nachträgliche parlamentarische Kontrolle nach dem Prinzip kommunizierender Röhren: Je weiterreichend das Parlament im vorhinein zugestimmt hat, desto schwerer ist es, später einmal Kritik zu üben. Übernimmt der Bundestag also vermehrt die parlamentarische Verantwortung für Einsatzdetails, so begibt er sich im nachhinein der Möglichkeit, künftige Einsatzentwicklungen wirksam zu kontrollieren. Dies erscheint insoweit bedenklich, als mit der Übernahme der parlamentarischen Verantwortung für die Einsatzdetails in der Regel nicht notwendigerweise ein Zugewinn an parlamentarischen Kompetenzen im Hinblick auf die Gestaltung der Einsatzmodalitäten verbunden ist. Das Parlament büßt also im Ergebnis Kompetenzen ein, ohne gleichzeitig echte Gestaltungsmöglichkeiten (für die Einsatzdetails) hinzuzugewinnen. b) Ausnahmetatbestände Der Parlamentsvorbehalt für Auslandseinsätze der Bundeswehr will die Mitwirkung der Volksvertretung an militärisch bedeutsamen Entscheidungen sicherstellen, nicht jedoch die Prärogative der Regierung im Bereich der auswärtigen Gewalt grundsätzlich in Frage stellen. Der Bundestag soll keineswegs zum „Feldherren" werden. Der Regierung steht daher ein „Kernbereich" exekutiver Eigenverantwortlichkeit zu. Dementsprechend wird der Grundsatz der parlamentarischen Beteiligung an der Einsatzentscheidung nicht verabsolutiert, sondern durch Ausnahmetatbestände zugunsten der Exekutive relativiert. Das BVerfG führt dazu aus:

271 BVerfGE 90, 286 (389); zustimmend auch Dau, NZWehrR 1994, S. 183; Dreist, NZWehrR 2001, S. 8; differenzierend Lutze, DÖV 2003, S. 975 f. 272 Zum Verfahren der Parlamentsbeteiligung in der Praxis vgl. Dreist, ZG 2004, S. 45 und KritV 2004, S. 86 ff.

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Je nach dem Anlass und den Rahmenbedingungen des Einsatzes bewaffneter Streitkräfte sind unterschiedliche Formen der Mitwirkung denkbar. Insbesondere im Hinblick auf unterschiedliche Arten der Einsätze, vor allem bei solchen, die keinen Aufschub dulden oder erkennbar von geringer Bedeutung sind, empfiehlt es sich, den Zeitpunkt und die Intensität der Kontrolle des Parlaments näher zu umgrenzen. Dabei kann es angezeigt sein, im Rahmen völkerrechtlicher Verpflichtungen die parlamentarische Beteiligung nach der Regelungsdichte abzustufen, in der die Art des möglichen Einsatzes der Streitkräfte bereits durch ein vertraglich geregeltes Programm militärischer Integration vorgezeichnet ist, 273

Der vom BVerfG gewählte Begriff des „Einsatzes bewaffneter Streitkräfte" greift in diesem Zusammenhang die alte Diskussion um den „Einsatzbegriff 4 i. S. d. Art. 87a I I GG auf, bei der stets versucht worden ist, bestimmte Truppenverwendungen - wie etwa Hilfsdienste und Hilfeleistungen im Ausland - von vornherein aus dem Einsatzbegriff herauszudefinieren. 274 Angesichts der Vielzahl an Einsatzformen wird es aber immer schwerer, die Grenzlinie zwischen zustimmungsfreien und zustimmungsbedürftigen Einsatzentscheidungen exakt nachzuzeichnen. Mittel und Vorgehensweise der Streitkräfte liefern kaum mehr ein brauchbares Kriterium zur Abgrenzung von (bewaffneten) Einsätzen und anderen Verwendungen. Aus diesem Grund hat das BVerfG davon abgesehen, die Möglichkeit zur „Selbstverteidigung" als das entscheidende Einsatzkriterium anzusehen, und folgerichtig auch für die Teilnahme an (schlichten) Blauhelmeinsätzen einen Parlamentsvorbehalt gefordert - zum einen, weil im Rahmen internationaler Maßnahmen ein sehr aktives Selbstverteidigungskonzept praktiziert wird und zum anderen, weil die Grenze zwischen friedenssichernden Blauhelm- und friedensschaffenden Kampfeinsätzen in der Praxis zunehmend verschwimmt. 275 Anhaltspunkte für ein Kriterium, das die Grenze zu zustimmungspflichtigen Einsätzen markiert, lassen sich allenfalls aus den Gründen und Motiven der legitimationserhöhenden Funktion des Parlamentsvorbehalts gewinnen - nämlich aus dem Umstand, dass der demokratische Legitimationsgehalt bei Auslandseinsätzen gerade deshalb einen Zuwachs erfahren soll, weil die zu entsendenden Soldaten im Ausland durch die zeitliche oder örtliche Nähe zu einem bewaffneten Konflikt einer erhöhten Gefährdung von Leib und Leben ausgesetzt sind. Die Zahl der eingesetzten Soldaten ist dabei nicht entscheidend. In diesem Sinne zieht das Gericht mit Blick auf das gesteigerte Gefährdungspotential das Element der „Einbeziehung/Verstrickung in bewaffnete Unternehmungen " heran. Dies entspricht auch der herrschenden Meinung über den Einsatzbegriff nach Art. 87a Abs. 2 GG, wonach Streitkräfte als die nach außen auftretende vollziehende Gewalt mit militärtypischen Funktionen in fremde Rechtssphären

273 BVerfGE 90, 286 (389). 274 Fischer/Fischer-Lescano, KritV 2002, S. 117; Hillgruber, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Art. 87a, RdNr. 49; skeptisch insoweit Oeter, NZWehrR 2000, S. 97. In diesem Sinne nimmt der Entwurf des Parlamentsbeteiligungsgesetzes vom 23. 3. 2004 (BT-Drs. 15/2742) in § 2 eine Begriffsbestimmung über den „Einsatz bewaffneter Streitkräfte" vor. 275 Bothe, in: Simma (Hrsg.), UN-Charta, Kommentar, nach Art. 38, RdNr. 37.

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eingreifen müssen.276 Insoweit lässt sich festhalten: Der Parlamentsvorbehalt wird immer dann aktuell, wenn im konkreten Fall auf der Grundlage benennbarer Indizien damit zu rechnen ist, dass die Verwendung von Soldaten im Ausland im zeitlichen und örtlichen Kontext eines bewaffneten Konflikts mit einer Gefährdung ihrer existentiellen Rechtsgüter einhergeht. 277 Das Gericht gesteht der Regierung eine Art „exekutiver Notkompetenz" zu, bei „Gefahr im Verzug" vorläufig den Einsatz von Streitkräften zu beschließen und an entsprechenden Entscheidungen in den Bündnissen mitzuwirken. Die Bundesregierung muss jedoch in jedem Fall das Parlament umgehend mit dem so beschlossenen Einsatz befassen. 278 Diese Notkompetenz wurzelt im Gedanken des allgemeinen rechtfertigenden Notstandes, wonach eine verfahrensmäßig vorgeschriebene Vorgehensweise aus Zeitgründen ausnahmsweise als (vorübergehend) verzichtbar anerkannt wird. Zur ansatzweisen Eingrenzung des weiten Tatbestandes der „Gefahr im Verzug" lässt sich die „Auslegungshilfe" des BVerfG heranziehen: Danach dürfe die verfassungsrechtlich gebotene Mitwirkung des Bundestages die militärische Wehrfähigkeit und die Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigen. 279 In der Literatur wird dagegen auf die durch die Einschaltung des Bundestages bewirkte Verzögerung abgestellt, welche die Ausführung bzw. Erreichung des Einsatzzwecks konkret gefährdet. 2* 0 Der weite Ausnahmetatbestand wird durch das ausdrückliche Erfordernis einer umgehenden Befassung des Bundestages kompensiert. Diese Befassung hat in Form eines konstitutiven Bundestagsbeschlusses zu erfolgen, der dem Parlament erstmalig Gelegenheit zu rechtserheblicher Stellungsnahme, Bewertung und Kontrolle des Einsatzes gibt. Wann dagegen die Befassung des Bundestages zu erfolgen hat, ist offen; man wird aber der Bundesregierung den gleichen Ermessensspielraum wie bei der Feststellung einer „Gefahr im Verzug"-Situation zubilligen müssen 281 und eine Ermessensbegrenzung allenfalls unter Organtreuegesichtspunkten annehmen können. Ob die nachträgliche Befassung aus verfassungsrechtlicher Sicht entbehrlich sein kann, wenn der Einsatz zwischenzeitlich abgeschlossen ist,

276 Vgl. für viele Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Art. 87a, RdNr. 14; Hernekamp, in: v. Münch/Kunig. GG, Art. 87a, RdNr. 13; Ipsen, BK, Art. 87a, RdNr. 33 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 87a, RdNr. 4; Riedel, Einsatz, S. 210; Zimmer, Einsätze der Bundeswehr, S. 52 ff. (56); Wiefelspütz, NZWehrR 2003, S. 136 f. Ein umfassender Nachweis über den Meinungsstand findet sich bei Schultz, Auslandsentsendung, S. 156 ff. 277 Ähnlich auch Dreist, in: KritV 2004, S. 91; Röben, ZaöRV 2003, S. 592; Lutze, DÖV 2003, S. 973; ζ. T. unbestimmt hingegen die Definition von Fischer-Lescano, NVwZ 2003, S. 1474. 278 BVerfGE 90, 286 (388). Vgl. zur bisherigen Einsatzpraxis Hermsdörfer, UBWV 2003, S. 404 f. 279 BVerfGE 90, 286 (388). 280 Lutze, DÖV 2003, S. 977. 281 Fischer/Fischer-Lescano,

KritV 2002, S. 136.

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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bleibt nach dem Wortlaut des Urteils o f f e n . 2 8 2 Zwar wäre eine bloße Unterrichtung des Bundestags vorstellbar, 2 8 3 zumal ein nachträglicher Bundestagsbeschluss, der nach dem Willen des BVerfG j a nur die Möglichkeit zum parlamentarischen Rückruf der Streitkräfte eröffnen soll, kaum ein verbindliches Urteil über die Rechtmäßigkeit des Einsatzes herbeiführen k ö n n t e . 2 8 4 Doch hat die Verfassungsorganpraxis gezeigt, dass offenbar auch die Regierung die nachträgliche parlamentarische Zustimmung einer bloßen Unterrichtung vorzuziehen scheint, um einen höheren Legitimationsgewinn zu erzielen. 2 8 5 Soweit der erste Anwendungsfall der „Notkompetenz" - die militärische Evakuierungsoperation „Libelle" in Albanien am 14. 3. 1997 286 - überhaupt als Grundlage für eine allgemeine Bewertung herangezogen werden kann, lässt sich festhalten, dass die Zusammenarbeit zwischen Bundestag und Bundesregierung von Interorganrespekt gekennzeichnet war. 287 In diesem Sinne hatten der Außen- und der Verteidigungsminister vor Beginn der Evakuierungsaktion die Fraktionsvorsitzenden der Bundestagsparteien sowie die Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses und des Rechtsausschusses über den bevorstehenden Einsatz unterrichtet und deren formlose Zustimmung erhalten. Das Bundeskabinett stimmte dem Einsatz nachträglich zu. Der Bundestag, am 18. 3. 1997 von der Regierung offiziell unterrichtet, billigte den Einsatz. 288 Während der nachfolgenden Debatte im Bundestag wurde von der Opposition allerdings deutlich gemacht, dass die nachträgliche Behandlung einer solch wichtigen Frage im Parlament ein Ausnahmefall bleiben 289

musse.

282 Insoweit zweifelnd die Stellungnahme des MdB Lamers (CDU/CSU-Fraktion) im Auswärtigen Ausschuss; BT-Drs. 13/7265,4. 283 In diese Richtung Kreß, ZaöRV 1997, S. 356. 284

Eine Missbilligung würde einen bereits durchgeführten Einsatz daher keineswegs rückwirkend „infizieren" - so Dau, NZWehrR 1998, S. 99; ähnlich Kreß, ZaöRV 1997, S. 356. 285 Vgl. die nachträgliche Befassung und parlamentarische Billigung des Albanieneinsatzes BT-Drs. 13/7233 vom 18. 3. 1997. 2g 6 Am 14. 3. 1997 befreiten deutsche Soldaten die sich in akuter Lebensgefahr befindenden deutschen Staatsbürger aus der albanischen Hauptstadt Tirana; dazu näher Kreß, ZaöRV 1997, S. 329 (355 ff.); Depenheuer, DVB1. 1997, S. 685; Dau, NZWehrR 1998, 89 (99); Nowrot, NZWehrR 2003, S. 70. Kritisch im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Grundlage für den Einsatz allerdings Fastenrath, in: FAZ vom 19. 3. 1997; Epping, AöR 1999, S. 457; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 87a, RdNr. 18b; Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 87a, RdNr. 17; Baldus, in: M / K / S , GG, Art. 87a, RdNr. 40. 287 Nowrot, NZWehrR 2003, S. 70 m. w. N.; Lorz, Interorganrespekt, S. 372. 288

Vgl. BT-Drs. 13/7233 vom 20. 3. 1997. 9 Vgl. beispielsweise die Erklärung von Karsten Voigt in der nachfolgenden Debatte im Deutschen Bundestag, Plenarprotokoll 13/166 vom 20. März 1997, S. 14969C ff. (14974D). 28

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c) Problemfälle Die Auslandseinsätze der Bundeswehr in der letzten Dekade haben Reichweite, Intensität und Zeitpunkt der parlamentarischen Beteiligung an der Einsatzentscheidung zunehmend in Frage gestellt. Vor allem das Einsatzspektrum deutscher Soldaten hat sich seit der AWACS-Entscheidung des BVerfG im Jahre 1994 weiter aufgefächert. Insbesondere im Bereich von eil- und geheimhaltungsbedürftigen Einsätzen hat sich das bislang geübte parlamentarische Beteiligungsverfahren als zu zeitraubend bzw. als nicht praktikabel erwiesen. Auch tritt gerade bei hochintegrierten Einsatzverbänden zunehmend der Aspekt der Bündnisfähigkeit in den Vordergrund, wobei sich ein rigide praktizierter Parlamentsvorbehalt im nordatlantischen Vergleich leicht als außenpolitischer „Hemmschuh" erweist. Vor diesem Hintergrund werden heute Entscheidungsverfahren diskutiert, die der Exekutive in heiklen außenpolitischen Situationen flexible Handlungsoptionen belassen. Eine abstrakt-generelle Festlegung von „materiellen" Einsatzszenarien erschien indes wenig sinnvoll, da die bislang ca. 35 Zustimmungsfälle weder politisch noch militärisch vergleichbar waren. 290

aa) Einsätze von geringer Bedeutung Zur Entsendepraxis der Bundeswehr gehören seit einiger Zeit sog. Fact-FindingMissions, also die Entsendung von Hauptquartierspersonal oder von unterstützenden Fernmeldeeinheiten oder Sicherheitskräften. 291 Eine möglichst frühzeitige Verlegung von solchem (ζ. T. bewaffneten) „Vorauspersonal" ist erforderlich, um den Erfolg einer Operation zu gewährleisten, an der sich die Bundesrepublik beteiligen will. Solange eine „Gefahr im Verzug"-Situation nicht angenommen wird, steht nach strenger Lesart des Urteils grundsätzlich jeder Einsatz, also auch die Entsendung von Vorauspersonal, unter Parlamentsvorbehalt. 292 Diese Auffassung ist in ihrer Rigidität indes bezweifelt worden. Sie unterstellt nämlich, dass die Richter über alle denkbaren Einsatzarten entscheiden wollten. Jedoch waren Einsätze von Vorauskommandos im Jahre 1994 weder Gegenstand des Urteils, noch wurden sie damals in vergleichbarer Weise praktiziert. Möglicherweise hat das BVerfG auf die Formulierung eines Ausnahmetatbestandes für Einsätze geringeren Umfangs verzichtet, weil eine Notwendigkeit in der Praxis nicht bestanden hat. Es 290 Diese Erfahrung lehrt auch die amerikanische War Powers Resolution von 1973. Für die Legislative erwies es sich als unmöglich, durch abstrakt-generelle Regeln allgemeingültige Rahmenbedingungen für zukünftige Aktionsformen der bewaffneten Macht festzulegen. Der amerikanische Kongress hat daraus die Konsequenz gezogen, anstelle von materiellen Standards Verfahrensregeln und Verhaltenspflichten zu normieren, um den US-Präsidenten zu einer loyalen Zusammenarbeit mit dem Parlament anzuhalten (dazu näher Lorz, Interorganrespekt, S. 362 f.). 291 Dazu näher Dreist, NZWehrR 2002, S. 144 f. 2 92 So Dreist, NZWehrR 2002, S. 142.

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spricht in der Tat einiges dafür, dass die Verfassungsrichter - frei nach dem römischrechtlichen Grundsatz: Minima non curat praetor - mit dem Parlaments vorbehält vor allem umfangreichere Truppenentsendungen im Auge hatten, nicht jedoch Kleinsteinsätze von erkennbar geringer Bedeutung und Gefahrenpotential. 293 Zieht man in diesem Zusammenhang schließlich die (freilich aus dem Grundrechtsbereich herrührende) Wesentlichkeitstheorie als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes heran, der auch für die Kompetenzausübung im staatsorganisationsrechtlichen Bereich Geltung beansprucht, 294 so liegt es nahe, für gefahrlose Kleinsteinsätze „erleichterte Bedingungen" zu schaffen. Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion (vom 23. 3. 2004) zum Parlamentsbeteiligungsgesetz sieht für „Einsätze von geringer Intensität" 295 ein sog. „vereinfachtes Zustimmungsverfahren" vor: Danach wird das Parlament über den Einsatz lediglich informiert; die parlamentarische Zustimmung gilt als erteilt, wenn nicht eine qualifizierte Mehrheit (Fraktionsstärke) „innerhalb von sieben Tagen nach der Verteilung der Drucksache" eine Befassung des Bundestages verlangt. 296 Zwar stellt diese Zustimmungsfiktion sicher, dass die Mitglieder des Bundestages über die in Rede stehenden Einsätze informiert werden. Die Regelung über das „vereinfachte Zustimmungsverfahren", das auf eine parlamentarische Aussprache verzichtet, gewährleistet dagegen nicht, dass der Bundestag jeden Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland auch wirklich „sorgfältig geprüft und beraten" hat. 2 9 7 Es lässt sich nicht auszuschließen, dass einzelne Abgeordnete schweigen, weil sie den Antrag - aus welchen Gründen auch immer - gar nicht zur Kenntnis genommen bzw. reflektiert haben. Ob eine „Zustimmungsvermutung", wie sie das Parlamentsbeteiligungsgesetz vorsieht, den verfassungsgerichtlichen Vorgaben eines konstitutiven Bundestagsbeschlusses entspricht, erscheint insoweit zweifelhaft. 298 Denn das

293

Für zustimmungsfrei halten solche Einsätze Oeter, NZWehrR 2000, S. 97; Wiefelspütz, NZWehrR 2003, S. 140; tendenziell strenger Dreist, NZWehrR 2002, S. 144. Gegen eine „Total-Parlamentarisierung" auch Baldus, in: Öffentliche Anhörung, Sten. Prot, der 25. Sitzung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages am 17. 6. 2004, S. 2. 2 94 Nach Auffassung des BVerfG (90, 286 (337); 97, 350 (375)) findet jede geschriebene oder ungeschriebene Kompetenzverteilungsregel letztlich im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ihre Grenze. 2 95 Gem. § 4 Abs. 3 des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 15/2742, fallen darunter z. B. Erkundungskommandos, die ihre Waffen lediglich zum Zweck der Selbstverteidigung mit sich führen, Austauschsoldaten in verbündeten Streitkräften oder einzelne Soldaten, die im Rahmen eines internationalen Einsatzes einen VN-Auftrag erfüllen. 296 Die Definitionsmacht über das begriffliche Vorliegen eines „Einsatzes von geringerer Intensität oder Tragweite" liegt nach dem Entwurf des Parlamentsbeteiligungsgesetzes, das insoweit nur Regelbeispiele nennt, bei der Regierung. Abgestellt wird auf die geringe Anzahl der eingesetzten Soldaten sowie auf die Begleitumstände des Einsatzes, die „erkennbar von geringer Bedeutung" sein müssen (also keine Beteiligung an einem Krieg). 297 So aber zumindest das Selbstverständnis von MdB Gernot Erler, in: Deutscher Bundestag - 15.WP - 100. Sitzung vom 25. 3. 2004, Plen.Prot., S. 8987.

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Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

BVerfG hat als Mindestanforderung an die Fassung eines Beschlusses nach Art. 42 GG gefordert, dass er - wenn irgend möglich - „in den zuständigen Ausschüssen vorbereitet und im Plenum des Bundestages erörtert wird." 2 9 9 Die besondere Relevanz der Erörterungspflicht beruht auf dem in Art. 42 GG zum Ausdruck kommenden Grundgedanken, wonach ein Mindestmaß an parlamentarischer Aussprache gegeben sein muss, um den gewünschten Legitimationseffekt zu erzielen. Eine gesetzliche „Zustimmungsfiktion" wird daher allenfalls eine „Legitimation zweiter Klasse" herbeiführen können.

bb) Geheimhaltungsbedürftige Operationen Eine besondere Herausforderung für die parlamentarische Beteiligung an Auslandsentsendungen der Bundeswehr sind Einsätze von Spezialkommandos (KSK) zur Terrorismusbekämpfung, wie sie im Osten Afghanistans stattfanden. 300 Angesichts der gebotenen Geheimhaltung solcher Spezialeinsätze erscheint jede öffentliche Diskussion im Bundestagsplenum aufgrund der großen Zahl der Abgeordneten, welche keiner Sicherheitsüberprüfung unterliegen, kontraproduktiv. 301 Gleichwohl ist eine parlamentarische Legitimation solcher außenpolitisch oftmals brisanten Operationen unverzichtbar - zum einen aufgrund ihres hohen Gefahrenpotentials für die eingesetzten Soldaten; zum anderen, weil sich die Frage nach Einhaltung und Überwachung des Kriegsvölkerrechts stellen kann. Verfassungsrechtlich lassen sich verdeckte Spezialeinsätze unter Rückgriff auf die Notkompetenz der Regierung auch ohne Bundestagsmandat durchführen. Über deren spezifische Voraussetzungen ist es in der Vergangenheit immer wieder zu Kontroversen gekommen. Fest steht, dass der Ausnahmetatbestand eine akute Gefahrenlage voraussetzt, die unabweisbar ein sofortiges Handeln der Regierung erforderlich macht. Weitere Begriffsmerkmale können sich auch aus der bisherigen Organpraxis im Zusammenhang mit dem Albanien-Einsatz ergeben: 302 Dabei wurde sowohl von Seiten der Bundesregierung als auch von einzelnen Bundestagsabgeordneten vor allem auf das notwendige Geheimhaltungsbedürfnis bei der Planung und Durchführung der Evakuierungsoperation abgestellt.303 Aus der bisherigen Organ298 So auch die schriftliche Stellungnahme von Baldus zur Öffentliche Anhörung in der 25. Sitzung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages am 17. 6. 2004, Anlage zum Stenographischen Protokoll, S. 74. 299 BVerfGE 90, 286 (388) - AWACS (Hervorhebungen nicht im Original). 300 Vgl. SZ v. 9. 3. 2002. Umfassend zu Fragen der Mitwirkung des Bundestages bei Auslandseinsätzen gegen den internationalen Terrorismus Nowrot, NZWehrR 2003, S. 65 ff.

301 Geheimschutzbelange lassen sich daher außerhalb der Bundestagsausschüsse im Plenum nicht durchsetzen (Versteyl, in: v. Münch/Kunig, GG, Art 42, RdNr. 33). 302 Vgl. allgemein zu Umfang und Grenzen der Konkretisierung von verfassungsrechtlichen Vorgaben durch die Praxis der obersten Bundesorgane BVerfGE 62, 1 (68 f.); Isensee, HBdStR Bd. VII, § 162, RdNr. 58 ff.; Kreß, ICLQ 1995, S. 421.

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praxis ist somit zu folgern, dass sowohl das Vorliegen von Eilbedürftigkeit als auch das militärisch indizierte Geheimhaltungsbedürfnis (um einen Überraschungseffekt zu erzielen) den Tatbestand der Notkompetenz (Gefahr i m Verzug) erfüllen.304

cc) Unterstützende Einsätze Umstritten ist die parlamentarische Beteiligung schließlich in Bezug auf gewaltneutrale unterstützende Einsätze. So hatte die Bundesregierung bei der Entsendung von Soldaten für AWACS-Einsätze der NATO i m Zuge des Irak-Krieges (2003) die Auffassung vertreten, eine konstitutive Zustimmung durch den Bundestag sei verfassungsrechtlich nicht geboten, da die AWACS-Aufklärer, obwohl sie neben der Luftaufklärung auch zur Führung eigener Kampfflugzeuge und damit der Koordination von Angriffen dienen können, selbst jedoch nicht unmittelbar in „bewaffnete Unternehmungen" verstrickt seien; 3 0 5 nach den Einsatzregeln (RoE) bestehe der Auftrag des AWACS-Verbandes darin, durch strikt defensive Luftraumüberwachung („Routineflüge") über dem Territorium eines NATO-Partners potentielle Angriffsabsichten frühzeitig zu identifizieren und die politische Entschlossenheit des Bündnisses zur Erhaltung der territorialen Integrität der Türkei zu demonstrieren. 3 0 6 Die Einsatzregeln sähen dabei keine Ermächtigung für Maß303 Vgl. ζ. B. Epping, AöR 1999, S. 455 f.; Nowrot, NZWehrR 2003, S. 71. So erklärte der damalige Verteidigungsminister Rühe im Bundestag: „Für den Erfolg der Operation, für die Sicherheit der Menschen in der Botschaft, für den Schutz der eingesetzten Soldaten war es zugleich unumgänglich, die Vorbereitung und Durchführung des Einsatzes geheim zu halten." (vgl. Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages 13/166 vom 20. 3. 1997, S. 14969C f., 14981D); zustimmend insoweit die Äußerung von Karsten Voigt, MdB, in der selben Bundestagssitzung vom 20. 3. 1997, S. 14974D. 304 So auch Epping, AöR 1999, S. 456; Krings/Burkiczak, DÖV 2002, S. 505; Burkiczak, ZRP 2003, S. 86; Nowrot, NZWehrR 2003, S. 71; Lutze, DÖV 2003, S. 977. 305 Das Airborne Warning and Control System (AWACS) ist ein luftgestütztes Radarfrühwarn- und Leitsystem der NATO zur präventiven Luftraumüberwachung des Bündnisgebietes, das als fliegender Einsatzverband (der NATO-Frühwarnflotte) mit 17 Maschinen in Geilenkirchen bei Aachen stationiert ist. Die Staffeln haben eine international integrierte Besatzung aus mehreren NATO-Staaten, darunter regelmäßig auch Luftwaffenoffiziere, die den Kontakt zu den Kampfflugzeugen halten. Deutschland stellt etwa ein Drittel der Besatzungen. Ein AWACS Flugzeug kann aus 10 km Höhe einen Luftraum von der Fläche Deutschlands überwachen. 306 in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 19. März 2003 führte der Bundeskanzler aus: „Die NATO-AWACS-Flugzeuge führen über dem Territorium der Türkei Routineflüge durch. Dies geschieht auf der Basis der Entscheidung des Verteidigungsplanungsausschusses der NATO vom 19. Februar 2003. Ihre ausschließliche Aufgabe ist die strikt defensive Luftraumüberwachung über der Türkei. Sie leisten - das geht aus den Rules of Engagement hervor - keinerlei Unterstützung für Einsätze im oder gegen den Irak. Durch die Zuordnung der AWACS-Flugzeuge zum Befehlsbereich des NATO-Oberbefehlshabers Europa, also der SACEUR, ist eine strikte Trennlinie zu den Aufgaben des Kommandeurs des US-Central Command gezogen. Räumlich getrennt von diesen und mit gänzlich unterschied11*

1 4 1 . Teil: Parlamentarische Legitimations Vermittlung im Integrationsprozess

nahmen in Zusammenhang mit bewaffneten Kampfhandlungen vor, sondern würden im Rahmen von getrennten Kommandowegen allenfalls eine Koordinierung zwischen den NATO-Aufklärungsflügen und den am Einsatz beteiligten Flugzeugen erlauben. Die Beurteilung der Zustimmungspflichtigkeit solcher Einsätze macht gewisse Schwierigkeiten: Fest steht, dass die Flüge nicht über kriegsbefangenem Territorium stattfanden und dass eine direkte Beteiligung an Kampfhandlungen ausgeschlossen war. Auch kann es für die Abgrenzung zwischen zustimmungspflichtigen und zustimmungsfreien Einsätzen nicht auf die technischen Potentiale eines militärischen Waffen- und Informationssystems ankommen, sondern allein auf die Befehlslage und das tatsächliche Verhalten der Soldaten.307 Der Hinweis auf den defensiven Charakter der Operation hilft in diesem Zusammenhang nicht weiter denn auch ein defensiv ausgerichteter bewaffneter Einsatz wäre zustimmungspflichtig. Für die Zustimmungspflichtigkeit kommt es auch nicht darauf an, ob das Territorium bereits Ziel eines konkreten Angriffs gewesen ist, sondern ob die Unterstützungsoperationen der kollektiven Verteidigung dienten oder nicht. Statt einer territorialen ist insoweit eine operationale Betrachtungsweise vorzuziehen. 308 Indirekte Formen der militärischen Unterstützung (wie ζ. B. die streitbefangene Luftraumüberwachung durch AWACS) lassen sich von „bewaffneten Unternehmungen", also dem eigentlichen Kampfgeschehen, zumindest dann nicht mehr rechtlich trennen, wenn zwischen Aufklärung, Führung und operativen Kampfhandlungen nicht sauber zu unterscheiden ist. 3 0 9 Ein Aufklärungseinsatz der AWACSVerbände wäre also dann ein zustimmungspflichtiger Einsatz i. S. d. Verfassungsrechtsprechung, wenn die von AWACS gelieferten Informationen nicht nur potenziell, sondern aktuell bei der Durchführung von Kampfhandlungen Verwendung finden. 310 Auch der Hinweis auf „reguläre Bündnisverpflichtungen" darf weder die verfassungs- und völkerrechtlichen Pflichten der Bundesrepublik aushebeln,311 noch darf er über die wahren Zusammenhänge der jeweiligen militärischen Aktiolichem Auftrag überwachen also die NATO-Flugzeuge unter dem Kommando des NATOOberbefehlshabers Europa den Luftraum über der Türkei und sichern ihn. Hier liegt der Grund, warum wir davon überzeugt sind, dass es dazu keines Beschlusses des Deutschen Bundestages bedarf." 307 So zutreffend Wiefelspütz, NZWehrR 2003, S. 145. 308 Fischer-Lescano, NVwZ 2003, S. 1475. 309 Bei einem auf reine (defensive) Luftraumüberwachung beschränkten Auftrag müsste die Feuerleitfunktion der AWACS auf Flugzeuge mit ausländischen Besatzungen übertragen und darüber hinaus sichergestellt werden, dass ausdrücklich keine Vernetzung der „deutschen" AWACS-Flugzeuge mit den Gefechtsständen zwecks Informationsübertragung besteht. 310 So auch Verfassungsrichter Klein in der Öffentlichen Anhörung der 25. Sitzung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages am 17. 6. 2004, Sten.Prot., S. 14. 311 Zur Frage der NATO-Bündnisverpflichtungen in diesem Zusammenhang kritisch Rose, in: Kubbig (Hrsg.), S. 238.

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nen hinwegtäuschen. Tendenziell sollte das Kriterium der „bewaffneten Unternehmungen" daher im Gesamtzusammenhang der jeweiligen Inanspruchnahme verstanden werden. 312 Entsprechend wären dann auch „mittelbare" Beiträge in einem internationalen bewaffneten Konflikt, d. h. gewaltneutrales indirektes Tätigwerden der Bundeswehr zustimmungspflichtig, wenn es andere Institutionen bei der hoheitlichen Machtentfaltung unterstützt oder deren Handeln (überhaupt) ermöglicht. 3 1 3 In diesem Sinne erschien auch die logistische Unterstützung der EU-Militäroperation Artemis (in Uganda) durch die Bundeswehr als „Einsatz bewaffneter Streitkräfte" im Sinne der Verfassungsrechtsprechung, dem der Bundestag am 18. 6. 2003 entsprechend zugestimmt hat. 3 1 4 Das BVerfG ging in seiner Eilentscheidung vom 25. 3. 2003 zum AWACS-Einsatz, die ganz offensichtlich von der außen- und bündnispolitischen Situation des Irakkriegs geprägt war, davon aus, dass beim gegenwärtigen Sachstand die kriegerische Verwicklung des Bündnispartners, dessen Gebiet durch die AWACS-Einsätze geschützt werden sollte, nicht zu erkennen ist. 3 1 5 Bei der Folgenabwägung gab das Gericht der außenpolitischen Verantwortung der Exekutive den Vorrang: bei Erlass der begehrten Anordnung müsste sich die Bundesregierung entweder um eine - in Wahrheit nicht erforderliche - politische Zustimmung des Bundestages bemühen oder aber die deutschen Soldaten aus den betreffenden integrierten NATOVerbänden abziehen. Ein solcher Zwang griffe nach Auffassung des BVerfG zu tief in den Kernbereich der außen- und sicherheitspolitischen Verantwortung der Bundesregierung ein. Die Bundesregierung wäre nämlich in einer Situation außenpolitischer Zuspitzung ansonsten vor die Wahl gestellt, entweder eine politisch ungewisse und zeitlich möglicherweise aufwändige parlamentarische Zustimmung zu erwirken oder bündnispolitische Risiken in Kauf zu nehmen, die durch den Abzug aus dem integrierten AWACS-Verband entstünden.316

Nicht geklärt hat das Gericht die Frage, in welchem Stadium die mittelbare Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Unternehmungen den Parlamentsvorbehalt auslöst. Dies kann bei sukzessiven Verstrickungen ins Kampfgeschehen bereits dann der Fall sein, wenn deutsche Verbände den Luftraum eines Bündnismitglieds überwachen, dessen Staatsgebiet unmittelbar an ein kriegsbefangenes 312

In diesem Sinne auch Riedel, Einsatz, S. 233 ff.; Schultz, Auslandsentsendung, S. 178 f.; Fischer/Fischer-Lescano, KritV 2002, S. 118 f. 313 In diesem Sinne auch Gramm, UBWV 2003, S. 163. Hierauf deuten zumindest die Hinweise in BVerfGE 88, 173 (185) - „AWACS I" - , wonach nicht nur das fliegende Personal des AWACS-Verbandes, sondern „in gleicher Weise das Bodenpersonal" in die bewertende Betrachtung mit einzubeziehen seien. Gegen eine Zustimmungspflichtigkeit des AWACS-Einsatzes hingegen Wiefelspütz, NZWehrR 2003, S. 146. 314 BT-Drs. 15/1168 vom 18. 6. 2003. Vgl. dazu auch Spies, Parlamentsvorbehalt, in: FS Heck, S. 541. 315 Anmerkungen zu dieser Entscheidung bei Gramm, UBWV 2003, S. 161 ff.; Nolte, NJW 2003, S. 2359 ff.; Krajewski, AVR 2003, S. 449 ff.; Fischer-Lescano, NVwZ 2003, S. 1474; Wiefelspütz, Der Einsatz, S. 55 f. 3 16 BVerfG, JZ 2003, 898.

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Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

Territorium angrenzt; in Betracht käme aber auch der Zeitpunkt, wenn sich die Überwachung auf das Territorium eines am bewaffneten Konflikt beteiligten Staates erstreckt oder wenn der Bündnispartner, dessen Gebiet zu sichern ist, schließlich selbst zur kriegsführenden Partei wird. Die gesamte militärische Tätigkeit „im Vorfeld" von Kampfhandlungen verbleibt damit in einer verfassungsrechtlichen Grauzone, die für die eingesetzten Soldaten ausgesprochen unbefriedigend erscheint. Dies gilt umso mehr, als Unterstützungshandlungen am Rande eines Krieges immer große außen- und bündnispolitische Relevanz entfalten und von daher nicht außerhalb des Bundestages entschieden werden sollten.

d) Schlussfolgerungen Eine gesetzliche Ausgestaltung der parlamentarischen Mitwirkung an der Einsatzentscheidung sollte davon ausgehen, dass der konstitutive Parlamentsvorbehalt auf eine Steigerung des Legitimationsgehalts von Einsatzentscheidungen abzielt und der erhöhten Gefährdung soldatischer Rechtsgüter bei Auslandseinsätzen Rechnung trägt. Dies entspricht der überwiegenden Auffassung in der Literatur, die in der AWACS-Rechtsprechung des BVerfG zumindest dem Inhalt nach eine Übertragung der „Wesentlichkeitstheorie" auf den Bereich der auswärtigen Gewalt sieht. 317 Die parlamentarische Beteiligung gerät damit ins Spannungsfeld zu exekutiven Handlungsprärogativen, die im Bereich von Kleinsteinsätzen aus verfahrensökonomischen Gründen und im Bereich von Antiterroreinsätzen aus Geheimhaltungsgründen schwerer wiegen als eine (vollumfängliche) Befassung des Plenums. Um auf die legitimationsstiftende Wirkung des Parlamentsvorbehaltes nicht zu verzichten, müssen abgestufte Beteiligungsformen gefunden werden, die der Exekutive genügend Freiraum belassen, ohne den Parlamentsvorbehalt auszuhöhlen. Alle in diesem Zusammenhang vorgebrachten Lösungsvorschläge - so ζ. B. die Verfahrensvereinfachung durch „Zustimmungsfiktion" oder die Möglichkeit einer nachträglichen Befassung des Parlaments unter Rückgriff auf die Notkompetenz - verschieben die Balance zwischen dem Eigenbereich der Exekutive und der parlamentarischen Mitverantwortung einseitig zugunsten der Exekutive. 318 Angesichts des offenen Ausnahmetatbestandes der „Geheimhaltung", der praktisch den gesamten Bereich der Terrorismusbekämpfung durchzieht, verkürzt sich nicht nur die Beteiligung des Bundestages an der Einsatzentscheidung, sondern auch die nachfolgende Kontrolle solcher „Ausnahme"-Einsätze durch das Parlamentsplenum. Diese Entwicklung, die mit der Operation Enduring Freedom begonnen hat, führt dann letztlich zu einer Umkehrung des „Regel-Ausnahme-Verhältnisses" 319 beim Parlamentsvorbehalt und läuft der vom BVerfG postulierten demokra-

317 So ζ. B. Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 59, RdNr. 27; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 59, RdNr. 21; Wolfrum, VVdStRL 1997, S. 41 f.; Kreß, ZaöRV 1997, S. 357. 318 Nowrot, NZWehrR 2003, S. 73.

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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tischen Legitimation der militärischen Einsatzgewalt in bedenklicher Weise entgegen.

3. Parlamentarische Steuerung von entwicklungsoffenen Streitkräfteeinsätzen Um von einer umfassenden demokratischen Legitimation eines Auslandseinsatzes sprechen zu können, muss der Bundestag bei der Erteilung seiner Zustimmung erkennen können, welche Konsequenzen mit dem Einsatz verbunden sind und welche Entwicklungen und Gefahren sich für die entsandten Soldaten ergeben können. Dies bedeutet, dass sich die Zustimmung nur auf einen Einsatz beziehen kann, der hinsichtlich Ziel, Zeit, Ort, Umfang und Art genau bezeichnet ist. Die Bundesregierung macht hierzu in der Praxis regelmäßig konkrete Angaben, wobei die Bestimmung der einzelnen Kriterien unterschiedlich ausgeprägt sein kann: Während Ziel und Umfang der Operation konkret umschrieben sein müssen, erscheinen Ort und Zeitraum eines Einsatzes zuweilen nur sehr eingeschränkt bestimmbar; die Anforderungen an die entsprechenden Angaben der Regierung sind daher niedriger. Bei Auslandseinsätzen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus liegt seitens der Regierung die Versuchung nahe, dem Parlament Anträge auf Zustimmung mit weit gefassten Einsatzzielen und -aufgaben zur Zustimmung vorzulegen. Der Zustimmungsantrag zur Teilnahme an der Operation Enduring Freedom vom 16. 11. 2001 bezog sich etwa darauf, „Führungs- und Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen zu nehmen und vor Gericht zu stellen sowie Dritte dauerhaft von der Unterstützung terroristischer Aktivitäten abzuhalten." 320 Zwar wurden Zahl und Art der einzusetzenden Bundeswehrsoldaten näher bestimmt, 321 doch blieben Art und Umfang der in Aussicht genommenen Einsätze einschließlich der Rules of Engagement weitgehend offen. Insbesondere die territoriale Weite des Mandats 322 löste in der Folge verfassungsrechtliche Bedenken aus. 323 Nun fand die territoriale Ausdehnung des erteilten Mandats eine gewisse Berechtigung in den geänderten Einsatzbedingungen im 319

Insoweit auch Epping, AöR 1999, S. 455 f. mit Blick auf die Evakuierungsoperation „Libelle" in Albanien. 520 BT-Drs. 14/7296, S. 1 ff. 321 Der Antrag (BT-Drs. 14/7296, S. 3 f.) bestimmt als Obergrenze 3900 Soldaten, darunter 800 Soldaten für ABC-Abwehr, 100 Soldaten der Spezialkräfte, 250 Sanitäter, 1800 Marinesoldaten. 32 2 Nämlich die arabische Halbinsel, Mittel- und Zentralasien und Nord-Ost-Afrika sowie die angrenzenden Seegebiete. Das Einsatzgebiet ist nicht zu verwechseln mit dem in Art. 6 NATO-V geographisch definierten Bündnisgebiet. 323 ζ. B. Fastenrath, FAZ v. 12. 11. 2001; Blumenwitz, ZRP 2002, S. 106.

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Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

Kampf gegen den internationalen Terrorismus, der aufgrund seiner globalen Ausrichtung und den nur schwer abschätzbaren militärischen Herausforderungen konkrete Angaben zu den erforderlich werdenden Einsatzarten im Vorhinein erschwert. 324 Gleichwohl muss aber bezweifelt werden, ob von einer Zustimmung zu einem konkreten Einsatz noch die Rede sein kann, wenn sich diese auf Einsatzmöglichkeiten in einem Gebiet von Nordamerika bis nach Zentralasien bezieht. Ein ausreichendes Maß an Bestimmtheit wurde in diesem Fall durch eine einschränkende Protokollerklärung der Regierung zu ihrem Antrag vom 8. Oktober 2001 gewährleistet, wonach deutsche Soldaten an Einsätzen gegen den internationalen Terrorismus in anderen Staaten als Afghanistan nur mit Zustimmung der jeweiligen Regierungen beteiligt werden sollten und sich die genannten Operationsziele allein gegen das Terrornetzwerk Bin Ladens richten würden. 325 Solche (protokollarischen) Absprachen prägten auch die Zustimmung des Bundestages vom 25. 10. 2003 zum Kundus-Einsatz: Die Bundesregierung hatte dabei die Erlaubnis beantragt, Soldaten an jedem anderen Ort innerhalb Afghanistans (ζ. B. zur Wahlbeobachtung) einzusetzen, wobei eine solche - noch ungewisse - Einsatzausweitung vom Verteidigungsminister (und nicht vom Kabinett) entschieden werden soll, ohne dass der Bundestag dann noch einmal zustimmen müsste. Im „Gegenzug" wurde den Fraktionen (protokollarisch) zugesagt, dass eine solche Entscheidung nicht gegen den Widerstand der Fraktionsobleute erfolgen dürfe; welche Formen der „Widerstand" annehmen muss, bleibt indes offen. Unter dem Gesichtspunkt der parlamentarischen Steuerungsmöglichkeiten ergeben sich beim Parlamentsvorbehalt strukturell ähnliche Probleme wie beim Zustimmungsgesetz zu entwicklungsoffenen Bündnisverträgen nach Art. 59 I I GG. Es besteht Einigkeit darüber, dass der parlamentarische Zustimmungsbeschluss (abgesehen vom Verteidigungsfall 326) nicht zum „Blankoscheck" werden darf, weil das Parlament keine Entscheidung mitverantworten kann, deren Eigendynamik und Tragweite noch nicht absehbar sind. 327 Dies erinnert an das Integrationsprogramm eines Bündnisvertrages, das dem Parlament zum Zeitpunkt seiner Zustimmung vor Augen steht und alle weiteren Vertragsentwicklungen legitimieren soll. Wann das vertragliche Integrationsprogramm bzw. das „Einsatzprogramm" eines Zustimmungsbeschlusses zu einem konkreten Einsatz gewissermaßen „ausgeschöpft" ist, unterliegt weitgehend richterlicher Dezision. Nach Auffassung des BVerfG soll eine Überschreitung des Integrationsprogramms bei dynamischen Ver324 Nowrot, NZWehrR 2003, S. 68. 325 Plenarprotokoll 14/198 vom 8. 11. 2001, S. 19287B-19301D; BT-Drs. 14/7296. In dieser Erklärung rechtfertigte die Regierung das weite Einsatzgebiet, das eine flexible Stationierung der Streitkräfte in der Nähe des Konfliktherdes möglich mache. 326 Allein im Verteidigungsfall kann die Bestimmtheit des Mandats auf ein Minimum beschränkt bleiben. Wenn die Existenz des Staates auf dem Spiel steht, erscheint eine inhaltliche Begrenzung der Verteidigungsanstrengungen schlechterdings nicht möglich (so auch Lutze, DÖV 2003, S. 976). 327 Blumenwitz, ZRP 2002, S. 106.

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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tragsentwicklungen erst erreicht sein, wenn der Vertrag förmlich abgeändert würde oder die konsensuale Fortentwicklung des Vertrages „gegen wesentliche Strukturentscheidungen des Vertragswerkes verstoße". 328 Wollte man diese Rechtsprechung auf die „Entwicklung" eines Streitkräfteeinsatzes übertragen, so wäre das „Einsatzprogramm" wohl erst dann ausgeschöpft, wenn der Einsatz infolge veränderter Modalitäten eine andere „Identität" bekommt. 329 In diesem Sinne hält Wild, der die strafrechtlichen Grundsätze über die wesentlichen Abweichungen vom vorgestellten Kausalverlauf bemüht, eine erneute Zustimmung des Bundestages erst dann für erforderlich, „wenn bei einem laufenden Einsatz wesentliche Abweichungen von dem zunächst gebilligten Plan notwendig werden, etwa die Aufstockung des Truppenkontingents oder eine Änderung oder Erweiterung des Einsatzziels." 330 In ähnlicher Weise stellt Scholz darauf ab, ob von der Grundlage der Zustimmung des Bundestages in evidenter Form abgewichen worden sei. 331 Der Grundsatz vom „Parlamentsheer" bedeutet jedoch mehr als die Zustimmung zum Streitkräfteeinsatz. Fraglich ist nur, wann und in welcher Form der Bundestag „intervenieren" kann, wenn sich die Modalitäten oder der Charakter eines Einsatzes in seinem weiteren Verlauf grundlegend ändern. Um zu verhindern, dass die Regierung einen Einsatz aus eigenen taktischen und politischen Überlegungen heraus - oder womöglich auf Druck der Bündnispartner - gegen den Willen des Parlaments fortführt, muss der Zustimmungsvorbehalt durch geeignete parlamentarische Korrektur- und Steuerungsinstrumente flankiert werden, die dem Bundestag für den gesamten Verlauf des Einsatzes Einflussnahmemöglichkeiten garantieren. Zum Tragen kommen dabei Kontrollmechanismen, die mit den parlamentarischen Gestaltungsmechanismen der Vertragsgewalt strukturell vergleichbar sind: So kann das parlamentarische Einsatzmandat (ebenso wie das Zustimmungsgesetz) unter Vorbehalt einer erneuten Zustimmung, also befristet erteilt oder mit einer Verpflichtung zur Unterrichtung über den Einsatzverlauf verbunden werden. Zur effektiven Parlamentskontrolle gehört schließlich, dass Zustimmungsbeschlüsse reversibel bleiben müssen. In diesem Zusammenhang wird die Frage eines parlamentarischen Rückruf s der Streitkräfte diskutiert.

a) Befristung

des Einsatzmandats

Zustimmungsbeschlüsse des Bundestages enthalten in der Praxis zumeist eine Klausel, wonach das Parlament nach Ablauf einer bestimmten Frist erneut mit dem 328 BVerfGE 104, 151 (212 f.). 329 Die Grenze zu Art. 26 GG wäre in diesem Zusammenhang freilich die Extremgrenze. 330 Wild, DÖV 2000, 629 f.; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 87a, RdNr. 30b, in Zusammenhang mit der Rückrufkompetenz des Parlaments. 331 So MdB Rupert Scholz in der Bundestagsdebatte vom 8. 11. 2001 (Plenarprotokoll 14/198, S. 19287B - 19301D). Fälschlicherweise wird in der Diskussion zuweilen das völkervertragsrechtliche Institut der clausula rebus sie stantibus bemüht.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

Einsatz befasst werden muss. 332 Diese Regelungen bewegen sich weitgehend in einer „verfassungsrechtlichen Grauzone. 333 Die Regierung geht offenbar von einem „Wahlrecht" aus, wonach sie den Bundestag entweder „konstitutiv" oder nur „einfach" befassen könne. 334 Die „einfache" Befassung entspreche dabei einer bloßen Unterrichtung des Bundestages,335 die „konstitutive" Befassung hingegen einem förmlichen Antrag der Bundesregierung über die Fortdauer des Einsatzes. Dabei haben sich die Verfassungsorgane offenbar darauf geeinigt, den Bundestag konstitutiv zu befassen, wenn eine Fraktion dies wünsche. 336 Dementsprechend wurde der Bundestag in der Vergangenheit i.d.R konstitutiv mit der Einsatzverlängerung befasst. 337 Ob die Bundesregierung auch verfassungsrechtlich dazu verpflichtet ist, muss indes bezweifelt werden. 338 Das BVerfG jedenfalls hält in Zusammenhang mit dem Terminus „befassen" eine konstitutive Zustimmung nur für den Fall erforderlich, 339 dass der Einsatz ausnahmsweise ohne vorhergehende Bundestagszustimmung beschlossen wurde. Die Verfassungspraxis ist geprägt von (informellen) Absprachen, Zusagen und Einigungen, wobei die von der Bundesregierung verwendete Terminologie bestenfalls auf politische Absichtsbekundungen hindeutet. 340 Auch die in diesem Zusammenhang missverständliche Formulierung des KFOR-Entsendebeschlusses, wonach die „Kräfte eingesetzt werden (können), solange ( . . . ) die konstitutive Zustimmung des Bundestages vorliegt", 341 sollte dem Bundestag offenbar allein die Zustimmung erleichtern, aber keine 332

Eine Befristung enthielten ζ. B. die Zustimmungsbeschlüsse zu IFOR (vom 28. 11. 1995), BT-Drs. 13/3122, S. 2 (zwölf Monate); zu SFOR (vom 11. 12. 1996), BT-Drs. 13/6500, S. 4 (achtzehn Monate); zu „Essential-Harvest" (vom 23. 8. 2001), BT-Drs. 14/6380 (30 Tage) oder zu KFOR (vom 11. 6. 1999), BT-Drs. 14/1133 (zwölf Monate). Zur Problematik der befristeten Entsendebeschlüsse vgl. auch Hummel, NZWehrR 2001, S. 222 f.; Dreist, NZWehrR 2001, S. 9 f.; Fischer/Fischer-Lescano, KritV 2002, S. 126. 333 So Abg. Lamers, Plenarprotokoll 14/108, S. 10155. 334 Vgl. Hummel, NZWehrR 2001, S. 223 m.N. 33

5 Vgl. § 75 Abs. le) GeschO-BTag.

336

So Außenminister Fischer in der 108. Sitzung des 14. Deutschen Bundestages, Plenarprotokoll vom 8. 6. 2000, S. 10154 f.: „Die zuständigen Ausschüsse werden - wie bisher auch künftig regelmäßig unterrichtet, der Bundestag - dies sagt die Bundesregierung hier zu - wird alle zwölf Monate befasst. Wir haben uns in Gesprächen mit den Fraktionen darauf geeinigt, dass dies als konstitutive Befassung erfolgen wird, wenn eine Fraktion dies wünscht." 337

Vgl. Bundestagsbeschluss über die KFOR-Einsatzverlängerung, BT-Drs. 14/3454 vom 25. 5. 2000. Ebenso wurde bei der Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes im Oktober 2002 verfahren. 338 Ebenso Fischer/Fischer-Lescano, KritV 2002, S. 127. 339 So BVerfGE 90, 286 (388). 340 in den Plenarprotokollen der Bundestagssitzungen, in denen es um die Frage der erneuten „Befassung" des Bundestages geht, ist an verschiedenen Stellen davon die Rede, dass die Bundesregierung „gebeten" werde, die Fraktionen etwas „wünschten" oder die Bundesregierung „etwas zusage. " 341 BT-Drs. 14/3454 vom 25. 5. 2000.

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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Bestimmung über die Dauer des Einsatzes treffen, die ihm verfassungsrechtlich ohnehin nicht zukäme. 342 Insofern muss davon ausgegangen werden, dass die zeitlichen Limitierungen eines Zustimmungsbeschlusses keine Befristungen im Rechtsinne, sondern im Wesentlichen (verfassungsrechtlich unverbindliche) Absichtsbekundungen darstellen, die als parlamentarisches Kontroll- und Korrekturinstrument bei entwicklungsoffenen Einsatzszenarien nur politische Wirkung entfalten.

b) Informationelle

Kontrolle

Um die parlamentarische (Mit-)Verantwortung für den Fortgang eines Einsatzes übernehmen zu können, muss der Bundestag von der Regierung regelmäßig informiert werden; er behält sich dazu die Unterrichtung über die Einsatzentwicklungen regelmäßig vor. 3 4 3 Solche Unterrichtungsverpflichtungen werden in der Praxis zunehmend durch Interorganvereinbarungen getroffen. 344 Dabei handelt es sich um schriftliche Absprachen zwischen Staatsorganen mit dem Ziel, die ihnen übertragenen Kompetenzen hinsichtlich eines spezifischen Regelungsgegenstandes aus Gründen der Funktionsgewährleistung wechselseitig abzugrenzen und dabei ein formalisiertes Verfahren der Zusammenarbeit bei der Ausübung ihrer Befugnisse in gegenseitiger Rücksichtnahme zu entwickeln. 345

So wurde dem Parlament im Hinblick auf den Zustimmungsbeschluss vom 16. 11. 2001 (Operation Enduring Freedom) eine „kontinuierliche Unterrichtung durch die Regierung über alle den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Rahmen eines (bestimmten) Mandats betreffenden Fragen" zugesichert; überdies verpflichtete sich die Regierung, spätestens nach Ablauf von sechs Monaten dem Bundestag „einen bilanzierenden Gesamtbericht" vorzulegen und für den Fall einer „wesentlichen Abweichung der zahlenmäßigen Aufgliederung der eingesetzten bewaffneten deutschen Streitkräfte von den in Ziffer 5 des Antrags genannten Werten" die Fraktionen oder Fachausschüsse vorab zu konsultieren. 346 Der Auswärtige Ausschuss des Bundestages hatte die Erklärung „zustimmend zur Kenntnis genom342 So Fischer/Fischer-Lescano, KritV 2002, S. 126 f.; Dreist, NZWehrR 2001, S. 8 f. 343 in diesem Sinne schreibt der KFOR-Entsendebeschluss vom 11. 6. 1999 fest: „Das Bündnis wird in Abhängigkeit von der Lageentwicklung Art und Umfang der benötigten Streitkräfte auf die Dauer ihrer Präsenz überprüfen. Der Deutsche Bundestag, der Auswärtige Ausschuss und der Verteidigungsausschuss werden hierüber regelmäßig unterrichtet" (vgl. Ziff. 6 Abs. 2 des KFOR-Entsendebeschlusses, BT-Drs. 14/1133 vom 11.6. 1999). Zur Informationspflicht näher Wiefelspütz, Der Einsatz, S. 59 ff. 344 Dazu Nowrot, NZWehrR 2003, S. 74 f.; zu diesbezüglichen Ansätzen im Vorfeld des Kosovo-Einsatzes auch Lorz, Interorganrespekt, S. 372. 345 Lorz, Interorganrespekt, S. 159; Nowrot, NZWehrR 2003, S. 73. 346 So die Protokollerklärung des Außenministers in der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses vom 14. 11. 2001, BT-Drs. 14/7447 v. 14. 11. 2001, S. 4.

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Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

men und sie in die Beratung des Antrags der Bundesregierung auf Zustimmung (zum Afghanistan-Einsatz) einbezogen."347 Nowrot sieht in diesem Prozedere erste Anzeichen einer Interorganvereinbarung, zumindest aber eine in diese Richtung zielende Verhaltensverpflichtung mit Selbstbindungscharakter. 348 Ungeachtet ihrer fehlenden Justiziabilität kommt solchen informalen Verfassungsregelungen auf der Basis der Verfassungsorgantreue und der Reziprozität eine erhebliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu. 3 4 9 Informale Kooperationsansätze können im Vorfeld einer gesetzlichen Regelung einen Beitrag zur Regelbegründung und deren Erprobung in der Praxis leisten; insbesondere lassen sich Defizite bei der parlamentarischen Mitwirkung an Auslandseinsätzen kompensieren, die in Zusammenhang mit dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus unausweichlich werden. Die Unterrichtung des Bundestages durch die Regierung ist im Ergebnis ein notwendiges Instrument, um die parlamentarische Legitimation entwicklungsoffener Einsätze zu flankieren. Die Entformalisierung der parlamentarischen Kontrolle, die mit Interorganabsprachen notwendigerweise einher geht, bleibt hingegen gewichtigen Einwänden ausgesetzt, da eine solche Kooperation dem Verfassungsgebot demokratischer Öffentlichkeit widerspricht und die gewaltengeteilte Kompetenzordnung des Grundgesetzes unterlaufen kann. 350 Schon deshalb ist es angezeigt, die parlamentarischen Beteiligungsrechte und Verfahrensmodalitäten nicht allein durch Fortsetzung informaler Verfahren, sondern - nicht zuletzt mit Blick auf das Öffentlichkeitsgebot der Verfassung 351 - im Wege einer gesetzlichen Regelung auszugestalten.352 In diesem Sinne enthält das neue Parlamentsbeteiligungsgesetz eine explizite Informationspflicht der Bundesregierung gegenüber dem Bundestag, ohne dabei allerdings die Inhalte festzulegen, über die informiert werden muss. 353 Um eine effektive parlamentarische Kontrolle des Einsatzes zu gewährleisten, bleibt das Parlament aufgefordert, seine Informationsrechte gegenüber der Regierung in der Praxis extensiv auszuüben. Das Parlament hat aber nicht nur das Recht, über die Entsendung der Bundeswehr ins Ausland zu entscheiden, sondern auch die Pflicht, dies mit der gebotenen Sorgfalt und unter Abwägung aller einsatzrelevanten Umstände zu tun. Schwierig347 Vgl. BT-Drs. 14/7447 v.14. 11. 2001. 348 Nowrot, NZWehrR 2003, S. 75. 349 Zum Rechtscharakter informeller Verfassungsregeln vgl. allgemein Schenke, Verfassungsorgantreue, S. 44 ff.; Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, S. 118 ff. 350 Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, S. 103, 134 ff. m. w. N. 351 Dazu Kloepfer, HBdStR Bd. II, § 35, RdNr. 53 ff. 352 Zustimmend Nowrot, NZWehrR 2003, S. 77 mit einer Parallele zu den Mitwirkungsrechten der Länder in Angelegenheiten der Europäischen Union: Diese zunächst informale Kooperation zwischen Bundesregierung und Bundesländern wurde erst durch die Neufassung des Art. 23 GG und dem zugehörigen Ausführungsgesetz auf der Grundlage der vorhergehenden Praxis einer umfassenden gesetzlichen Regelung zugeführt. 353 § 6 des Gesetzentwurfes, BT-Drs. 15/2742; vgl. dazu auch Dreist, ZG 2004, S. 47.

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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keiten ergeben sich, sobald Parlamentarier auf unsicherer oder gar defizitärer Informationsgrundlage entscheiden müssen. Dabei besteht oftmals nicht nur zwischen Parlament und Regierung, sondern auch zwischen den Regierungen eines Bündnisses ein entsprechendes Informationsgefälle. Der Irakkrieg (2003) hat gezeigt, dass die politischen Gründe für eine militärische Operation auch gezielt manipuliert werden können. Bei der Zustimmung des Bundestages zur Operation Enduring Freedom am 16. 11. 2001 kannten die Parlamentarier offensichtlich weder die für die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts relevanten Gesichtspunkte des Operationsziels der USA noch die für die Beurteilung der Selbstverteidigungssituation relevanten Fakten. Verlässliche Beweise für die Täterschaft Bin Ladens gab es praktisch nicht. 3 5 4 Welche zusätzlichen Informationen den Regierungen der Bündnispartner in den Wochen zwischen Ausrufung des NATO-Bündnisfalles (12. 9. 2001) und Beginn der Operation Enduring Freedom in Afghanistan (7. 10. 2001) vorgelegt wurden, ist nicht bekannt; wichtiges Beweismaterial wurde unter Berufung auf Sicherheitsinteressen nicht öffentlich gemacht 355 oder gegenüber den Bündnispartnern nur bruchstückhaft kommuniziert. 356 Aber auch die für eine Beurteilung nach humanitärem Völkerrecht relevanten Informationen über die Kriegsführung standen dem Parlament nicht hinreichend zur Verfügung bzw. wurden nicht in der gebotenen Form nachgesucht.357 Das Parlament muss grundsätzlich in der gebotenen Sorgfalt alle möglichen Erkenntnismittel ausschöpfen, um sich ein objektives Bild von der Notwendigkeit, der Rechtmäßigkeit sowie der politischen Zweckmäßigkeit eines Einsatzes machen zu können. Dabei unterliegt der Gesetzgeber gewissen verfahrensrechtlichen Vorgaben, die das BVerfG mit Blick auf eine Art gesetzgeberischer „Nachprüfungspflicht" in seiner Entscheidung zu den „sicheren Herkunftsstaaten" (betreffend Art. 16a GG) aufgestellt hat. 3 5 8 Da aber die parlamentarische Zustimmungsent354 So auch Fischer/Fischer-Lescano, KritV 2002, S. 137; Rujfert, ZRP 2002, S. 248; Müller, Amerika, S. 16. 355 Kritisch insoweit zu den völkerrechtlichen Informationsanforderungen im bewaffneten Konflikt Wolf, in: HuV-I 2001, S. 207; skeptisch in Bezug auf die Beweislage bei Enduring Freedom Fischer/Fischer-Lescano, KritV 2002, S. 135 ff. 356 Dabei treten Fragen der Verantwortlichkeit des Al gwaiYfa-Netzwerkes, der Unterstützung durch die Taliban, bzw. der Umstände des ins Auge gefassten Einsatzes (Involvierung der Zivilbevölkerung, Einsatz von Streubomben etc.). 357 Offenbar gab sich der Bundestag mit der (weitgehend inhaltsleeren) schriftlichen Antwort des Auswärtigen Amtes zufrieden, dass der Bundesregierung keine Erkenntnisse darüber vorlägen, ob die US-Luftwaffe im Rahmen der Operation Enduring Freedom Streubomben des Typs „CBU-89 Gator" eingesetzt hat (vgl. Plenarprotokoll 14/197 vom 07. 11. 2002, S. 19280 D, Ani. 11). 358 BVerfGE 94, 115 (139-144). Dabei sei dem Gesetzgeber nicht von Verfassungs wegen eine bestimmte Art des Vorgehens, etwa die Einholung bestimmter Auskünfte oder die Ermittlung genau bezeichneter Tatsachen, vorgeschrieben. Vielmehr komme ihm ein Entscheidungsspielraum zu, wobei er zur Ermittlung der bedeutsamen Tatsachen die zugänglichen und als zuverlässig anzusehenden Quellen heranzuziehen und auszuwerten hat Der Gesetzgeber müsse im Ergebnis eine vertretbare Entscheidung treffen, die vom BVerfG nur insoweit

1 4 1 . Teil: Parlamentarische Legitimations Vermittlung im Integrationsprozess

Scheidung über den Streitkräfteeinsatz zumeist auf der Grundlage von Informationen ergeht, die dem Parlament von der Regierung selbst zur Verfügung gestellt werden, kann und muss der Bundestag in diesem Fall sein Frage- und Interpellationsrecht gegenüber der Regierung (Art. 43 GG) besonders intensiv wahrnehmen. Die Regierung wiederum ist dem Parlament auskunftspflichtig, 359 zumindest solange sie sich nicht auf die Geheimhaltungsbedürftigkeit von Tatsachen berufen kann. 360 Angesichts der bisherigen Informationspraxis besteht jedoch die Gefahr einer Herabsetzung parlamentarischer Kontrollmaßstäbe mit der Folge, dass die Legitimation von Entscheidungsprozessen nicht mehr durch eine voll inhaltliche Kontrolle durch das Parlament, sondern nurmehr als bloße Evidenzkontrolle möglich sein wird. 3 6 1

c) Rückruf der Streitkräfte Die Wirksamkeit der parlamentarischen Kontrolle und Steuerung von Einsatzentwicklungen hängt auch von der Reversibilität einmal erteilter Zustimmungsentscheidungen ab. Die Frage der Rückholung von Streitkräften kann mit Blick auf die militärische, politische oder finanzielle Entwicklung eines Einsatzes ζ. B. dann relevant werden, wenn die Abgeordneten mehrheitlich zu der Überzeugung gelangen, dass das ganze Unternehmen keinen Sinn mehr macht - kurz: wenn die Unterstützung an der „Heimatfront" bröckelt. In dem Maße, wie staatliche Streitkräfte nur noch im internationalen Rahmen eingesetzt werden, erscheint der Rückruf von Streitkräften nicht nur als Problem der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung, sondern zunehmend als Frage der bündnispolitischen Opportunität. 362 Nach dem Willen des Völkerrechts verbleibt die Entscheidung über den Rückruf integrierter staatlicher Streitkräfte in nationaler Souveränität - und eröffnet damit Spielräume für die Beteiligung nationaler Parlamente. In den UN-Truppenstellervereinbarungen wird das Rückrufrecht (right to withdraw) durch eine „Kündigungsklausel" gewährleistet, nachprüfbar sein soll, ob sich bei einer Gesamtwürdigung ergibt, dass sich der Gesetzgeber von guten Gründen habe leiten lassen. 359 Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 43, RdNr. 6a; Pieroth, in: Jarass/ Pieroth„ GG, Art. 43, RdNr. 2; Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 43, RdNr. 6 m. w. N. Die Auskunftspflicht ist näher ausgestaltet in §§ 100 ff. GOBTag. Vgl. ausführlich zu den Informationsrechten und den Möglichkeiten der Selbstinformierung des Bundestages bei Maiwald, Berichtspflichten gegenüber dem Deutschen Bundestag, S. 87 ff. 360 Maunz, M / D , Art. 43, RdNr. 8; Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 43, RdNr. 6b; a.A. Maiwald, Berichtspflichten gegenüber dem Deutschen Bundestag, S. 184 f.; Schröder, BK, Art. 43, RdNr. 43a jeweils mit dem Einwand, dass in diesen Fällen die Geheimschutzordnung des Deutschen Bundestages eingreifen und ausreichende Geheimhaltung garantieren würde. 361 Vgl. zu den im Rahmen eines „Drei-Stufen-Modells" entwickelten Maßstäben der parlamentarischen Kontrolle BVerfGE 50, 290 (332 ff.). 362 Dreist, NZWehrR 2002, S. 150 f.; instruktiv dazu Schmidt-Radefeldt, Jura 2003, S. 201 ff.

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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wonach der Entsendestaat seine Streitkräfte jederzeit ins Heimatland zurückrufen kann. 363 Einzige Einschränkung bleibt dabei die Verpflichtung des Entsendestaates, den UN-Generalsekretär über den Rückruf des Kontingents zu unterrichten (give adequate proir notification ).364

Das parlamentarische Revokationsrecht gehört zu den verfassungsrechtlich wohl umstrittensten Aspekten des Parlamentsvorbehalts. Das AWACS-Urteil selbst äußert sich dazu nicht eindeutig. Zum einen weist das BVerfG allein der Regierung die Initiative zu und lässt die Entscheidung über den Auslandseinsatz der Bundeswehr grundsätzlich als exekutive Angelegenheit erscheinen. Nach der Konzeption des Urteils habe der Bundestag bei der Frage des Einsatzes eine kontrollierende, aber keine aktiv gestaltende Funktion. 365 Demgegenüber steht das lapidare Diktum des Verfassungsgerichts, wonach die Streitkräfte zurückzurufen seien, „wenn es der Bundestag verlangt". 366 Rechtlich wird man das parlamentarische Verlangen nach Rückruf der Streitkräfte kaum als formelles Rückrufrecht, sondern vielmehr als „Verweigerung der Zustimmung für den weiteren Einsatz" werten müssen, vor allem, wenn die Zustimmung befristet erteilt wurde. 367 Statthaft ist ein Verlangen des Bundestags nach Rückholung der Streitkräfte auch dann, wenn die Zustimmung des Bundestages vor dem Einsatz unterblieben ist, weil die Bundesregierung den Einsatz unter Berufung auf die Notfallkompetenz (Gefahr im Verzug) angeordnet hat. Umstritten dagegen ist allein die Konstellation, in dem der Bundestag ein unbefristet erteiltes Einsatzmandat auf eigene Initiative hin wieder rückgängig machen w i l l . 3 6 8 Zur Begründung einer solchen Kompetenz lässt sich nur schwer der Grundsatz vom „Parlamentsheer" bemühen, der dem Parlament zwar einen erheblichen Einfluss auf die Verwendung der Streitkräfte sichern will, aber gerade keine Initiativbefugnis für den Beginn eines Einsatzes enthält. 369 Dagegen versteht Hum363 Seyersted, UN Forces, S. 53; ders., Brit.YB.Int'l Law 1961, 384; die „Kündigungsklausel" wird in Truppenstellerabkommen nach Vorlage von Art. 26 des UN-Model-Agreement regelmäßig verwendet. 364 So zogen etwa Marokko, Jugoslawien und Guinea ihre Truppen aus der ONUC-Operation im Kongo im Jahre 1960 zurück als Reaktion auf das Verhalten der Vereinten Nationen nach der Gefangennahme von Lumumba durch Mobutus ANC (vgl. Bericht des Generalsekretärs vom 26. 1. 1961, UN-Doc. S/4640, para 4 - 6 ; zitiert bei Risse, Der Einsatz, S. 40, Anm. 212). 365 Dreist, NZWehrR 2002, S. 148; Lutze, DÖV 2003, S. 979. 366 BVerfGE 90, 286 (388). 367 So Hummel, NZWehrR 2001, S. 226. 368 Dafür sprechen sich aus Wolfrum VVDStRL 1997, S. 53; Lorz, Interorganrespekt, S. 370; Schulz, Auslandseinsätze, S. 443; Nolte, ZaöRV 1994, S. 681; Hummel, NZWehrR 2001, S. 226 f.; Burkiczak, ZRP 2003, S. 86. 369 Ein „Rückrufrecht" des Parlaments lehnen daher ab: Dreist, NZWehrR 2001, S. 11; ders., ZG 2004, S. 61; Wild, DÖV 2000, 630; Limpert, Auslandseinsatz, S. 58 f.; MdB Rupert Scholz in der Bundestagsdebatte vom 08. November 2001 (Plenarprotokoll 14/198 vom 8. 11. 2001, S. 19287 Β - 19301 D).

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mei das Verfassungsgericht in der Weise, dass die Initiativbefugnis des Bundestages eben nur „für den Einsatz" ausgeschlossen werden sollte. Ein Initiativbeschluss des Parlaments zum Rückruf der Streitkräfte sei dann offensichtlich kein Beschluss „für", sondern ein Beschluss „gegen" den Einsatz und infolgedessen zulässig. 370 Eine auf die Beendigung des Einsatzes abzielende Kompetenz des Parlaments lässt sich jedenfalls unter Rückgriff auf die Regelungen des Verteidigungsfalles (Art. 115a ff GG) verfassungssystematisch abstützen,371 die schon zur Herleitung des Parlamentsvorbehalts herangezogen worden sind. Dabei fällt auf, dass der Verteidigungsfall vom Parlament nur auf Antrag der Bundesregierung hin festgestellt (Art. 115a I 1 GG), jedoch ohne Mitwirkung der Exekutive jederzeit" wieder für beendet erklärt werden kann (Art. 115 1 II 1 GG). Folgerichtig erscheint es dann, auch bei der Frage der Beendigung nach dem gleichen Kompetenzverteilungsmuster zu argumentieren. Einem Verlangen des Parlaments nach Rückruf der Streitkräfte lässt sich schlechterdings entgegenhalten, dass der Bundestag der Entsendung von Streitkräften zunächst zugestimmt habe. Die missverständlich formulierte Aussage des BVerfG, wonach „der Bundestag bei seiner Beschlussfassung an die mit seiner Zustimmung zustande gekommenen rechtlichen Festlegungen über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte" gebunden sei, 3 7 2 bezieht sich nämlich nicht auf einen vorausgegangenen parlamentarischen Entsendebeschluss,373 sondern - ganz im Sinne der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes - auf Festlegungen genereller Art, wie etwa auf ein Parlamentsbeteiligungsgesetz oder auf völkerrechtliche Bündnisverpflichtungen. 374 Sinn und Zweck des Parlamentsvorbehalts legen es zudem nahe, dass die punktuelle Erteilung einer parlamentarischen Zustimmung nicht genügen kann, sondern über die gesamte Dauer des Einsatzes (materiell) aufrechterhalten bleiben muss. Der Bundestag braucht sich zwar nicht periodisch zustimmend zu äußern, 375 jedoch kann von einem Beschluss nur dann auf ein Fortdauern der materiellen Zustimmung geschlossen werden, wenn der Gesetzgeber die Möglichkeit besitzt, sich von seinem ursprünglichen Beschluss auch wieder distanzieren zu können. Dies gilt insbesondere in Hinblick auf dynamische Einsatzentwicklungen, die dem Bundestag zum Zeitpunkt seiner Zustimmung nicht bekannt waren.

370 Hummel, NZWehrR 2001, S. 227. 371 In diesem Sinne BVerfGE 90, 286 (385 ff.) und die wohl h.M. im Schrifttum: vgl. Nolte, ZaöRV 1994, S. 682; Wolfrum, VVDStRL 1997, S. 53; Hummel, NZWehrR 2001, S. 226; Fischer/Fischer-Lescano, KritV 2002, S. 129; Schultz, Auslandsentsendung, S. 442 f. 372 BVerfGE 90, 286 (388); Hervorhebungen nicht im Original. 373 So aber Dreist, NZWehrR 2001, S. 8, der aus dieser Aussage ein Argument gegen ein Rückrufrecht des Bundestages zieht. 374 Hummel, NZWehrR 2001, S. 227; Fischer/Fischer-Lescano, KritV 2002, S. 128. 375 Hummel, NZWehrR 2001, 226.

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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Bei integrierten Streitkräfteeinsätzen, die gemeinsam mit den Bündnispartnern durchgeführt werden, gerät die parlamentarische Rückholbefugnis in ein Spannungsverhältnis zur Wehr- und Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland. Erforderlich ist insoweit eine Güterabwägung im Sinne einer kompetenziellen Feinsteuerung zwischen den parlamentarischen Kontrollrechten und dem Handlungsspielraum der Exekutive. Wenn es um den Rückruf von nationalen Truppenteilen aus hochintegrierten Einsatzverbänden geht, bestehen besondere Rücksichtnahmepflichten gegenüber den militärischen Bündnispartnern, die im Rahmen der kompetenziellen Feinsteuerung auch im innerstaatlichen (horizontalen) Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative zum Tragen kommen. In der Praxis wäre der unvermittelte Truppenabzug aus einem laufenden Einsatz ausgesprochen schwierig und zudem von weitreichenden außenpolitischen Folgen begleitet. 376 Limpert verneint aus eben diesen Gründen ein Revokationsrecht des Bundestages, der die Bundesregierung in der Einhaltung ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht desavouieren dürfe. 377 Kokott hingegen erkennt eine grundsätzliche Rückholbefugnis des Parlaments an, schränkt diese jedoch mit der Maßgabe ein, dass das Parlament von dieser Befugnis nur bei einer wesentlichen Veränderung der Einsatzmodalitäten Gebrauch machen dürfe. 378 Im Rahmen der funktionellen Kompetenz Verteilung lässt sich ein Revokationsrecht des Parlaments auch bei integrierten Streitkräfteeinsätzen annehmen, solange es durch Rücksichtnahme gegenüber dem aus der Wehr- und Bündnisfähigkeit Deutschlands resultierenden Handlungsspielraum der Exekutive „abgefedert" und eingegrenzt wird. 3 7 9 Dieses Rücksichtnahmegebot findet sich im Strukturprinzip der Organtreue wieder, 380 deren verfassungsrechtliche Quellen (in analoger Begriffsbildung zur Bundestreue) im Grundsatz der Gewaltenteilung liegen. 381 Die Organtreue fordert in ständiger Rechtsprechung, dass die einzelnen Verfassungsorgane bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen auf die Befugnisse und Interessen der anderen Organe Rücksicht zu nehmen haben. 382 376 Dreist, UBWV 2003, S. 211. In diesem Sinne hat das BVerfG in seiner AWACS-Eilentscheidung vom 25. 3. 2003 (Beschluss 2 BvQ 18/03 vom 25. 3. 2003, Rz. 39) auf die besondere Gewichtigkeit der Wehr- und Bündnisfähigkeit abgehoben. 377 Limpert, Auslandseinsatz, S. 58. 378 Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 87a, RdNr. 30b; ebenso Lutze, DÖV 2003, S. 979. 379 Das bedeutet im Sinne der funktionellen Kompetenzverteilung: entscheidet das Parlament über das „Ob" eines Rückrufs, so verbleibt der Regierung die alleinige Entscheidungskompetenz über das „Wie", also etwa die technischen und vor allem zeitlichen Modalitäten des Truppenrückzugs. 380 Lorz, Interorganrespekt, S. 370 ff.; grundlegend zur Organtreue Schenke, Verfassungsorgantreue (1977); Maurer, Staatsrecht I, § 10, RdNr. 54 m.w.N.; instruktiv Schmidt-Radefeldt, Jura 2003, S. 201 ff. 381 Voßkuhle, NJW 1997, S. 2217; Ruffert, DVB1. 2002, S. 1153. 382 Vgl. BVerfGE 35, 193 (199); 36, 1 (15); 45, 1 (39); 90, 286 (337); 97, 350 (375). Jede geschriebene oder ungeschriebene Kompetenzverteilungsregel verliert dadurch ihren „absoluten" Charakter und findet letztlich im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ihre Grenze. 12 Schmidt-Radefeldt

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Ungeachtet der nach wie vor umstrittenen verfassungsrechtlichen Rechtslage hat der Gesetzesentwurf zum Parlamentsbeteiligungsgesetz ein parlamentarisches Revokationsrecht festgeschrieben. Damit gibt das Gesetz dem Parlament eine „Waffe" zur Steuerung von Einsatzentwicklungen in die Hand, ohne gleichzeitig das Spannungsfeld zwischen parlamentarischen Kompetenzen und dem verfassungsrechtlichen Rücksichtnahmegebot hinsichtlich der Wehr- und Bündnisfähigkeit aufzulösen. Die gesetzliche Regelung über das Rückrufrecht, die unter Organtreuegesichtspunkten hätte wieder „entschärft" werden müssen, erweist sich damit als „Pyrrhussieg" des Parlaments. Denn die Rechtsprechung des BVerfG lässt bereits ansatzweise erkennen, dass sie der Wehr- und Bündnisfähigkeit im Zweifelsfall höheres Gewicht als der parlamentarischen Entscheidungskompetenz einräumt. Das Argument der Bündnisfähigkeit wird sich daher schnell zu einem Generaleinwand der Regierung entwickeln, der ein (gesetzlich verankertes) parlamentarisches Revokationsrecht tendenziell zurückdrängt. Dies ist insoweit auch legitim, als das parlamentarische Rückrufrecht - ähnlich wie das konstruktive Misstrauensvotum - nur eine ultima ratio im gewaltengeteilten Staat darstellt, die sich als parlamentarisches Steuerungsmittel für das tägliche Einsatzgeschäft nicht eignet.

d) Ergebnis Im Ergebnis wird deutlich, dass eine wirksame parlamentarische Steuerung von entwicklungsoffenen Streitkräfteeinsätzen von mehreren Faktoren abhängt, die sich in der Praxis indes als defizitär erweisen: Befristungen des parlamentarischen Einsatzmandates erfolgen auf verfassungsrechtlich unsicherer Grundlage; die Unterrichtung des Parlaments ist geprägt durch informelle Absprachen, Zusagen und Einigungen, die in der Tendenz unverkennbar zu einer (weiteren) Entformalisierung der parlamentarischen Kontrolle und Steuerung führen werden. Der Rückruf der Streitkräfte - ob nun gesetzlich verankert oder nicht - vermag politische Krisen auslösen und die amtierende Regierung selbst in Frage zu stellen; er eignet sich eher als parlamentarische „Drohkulisse" denn als effektives Steuerungsinstrument für die Einsatzpraxis. Schließlich muss das Parlament seine Zustimmungsund Kontrollkompetenzen (vor allem bei Einsätzen zur Terrorismusbekämpfung) zum Teil auf defizitärer Informationsgrundlage ausüben und ist daher nicht immer in der Lage, eine realistische Risiko- und Kosteneinschätzung für die gesamte Dauer des Einsatzes vorzunehmen. Eine wirksame parlamentarische Steuerung von Einsatzentwicklungen wird dadurch nur schwer möglich.

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4. Parlamentarische Mitwirkung an Einsatzentscheidungen in internationalen Bündnisstrukturen In Wissenschaft und Praxis herrscht Einigkeit darüber, dass die verfassungsrechtlichen Kautelen der nationalen Streitkräftekontrolle bei internationalen Entscheidungsprozessen im Mehrebenensystem bewahrt werden müssen. Während sich die „horizontale" Kompetenzverteilung (zwischen Exekutive und Legislative) als staatsorganisationsrechtliches Problem im gewaltengeteilten bzw. gewaltenverschränkten Staat darstellt, wird die Entscheidung über den Streitkräfteeinsatz in integrierten Bündnissystemen und multinationalen Verbänden auch von der völkerrechtlichen Ebene überlagert. Dabei greifen völkerrechtliche Verpflichtungen, internationale Zuständigkeiten und faktische Zwänge in den nationalen Entscheidungsprozess ein und verkürzen die Entscheidungskompetenzen der beteiligten innerstaatlichen Organe. Stellt man dabei die Entscheidungsprärogative der Regierung in auswärtigen Angelegenheiten in Rechnung, so droht insbesondere die Mitwirkung des Deutschen Bundestages in Form des konstitutiven Parlamentsvorbehalts in „vertikaler Hinsicht" verkürzt oder präjudiziell zu werden. Dies lässt sich nur dann abwenden, wenn die Entscheidung über den Streitkrafteinsatz vollumfänglich in nationaler Verantwortung verbleibt, d. h. wenn sie weder durch (völker)rechtliche Verpflichtungen bzw. überstaatliche Instanzen internationalisiert, automatisiert oder determiniert, noch durch faktische Zwänge in der Praxis „ausgehöhlt" wird. Den rechtlichen Einwirkungen des internationalen militärischen Integrationsprozesses auf die Entscheidungskompetenzen des Bundestages soll im Folgenden nachgegangen werden.

a) Bündnisfall und Verteidigungsfall Nach dem 2. Weltkrieg wurde die außenpolitische Gestaltungsfreiheit Deutschlands, über den Einsatz staatlicher Streitkräfte in eigener Machtvollkommenheit entscheiden zu können, praktisch vollständig im Rahmen der Allianz „internationalisiert". Die Integration deutscher Streitkräfte im NATO-Verteidigungsbündnis brachte von Anfang an eine Verschränkung des Verteidigungsfalles und des NATOBündnisfalles mit sich. 383 Während des Kalten Krieges war kaum eine militärische Einsatzoption der Bundeswehr denkbar, die nicht in Zusammenhang mit dem Verteidigungsfall des Grundgesetzes und dem NATO-Bündnisfall gestanden hätte. 383 Vgl. Ipsen, DÖV 1971, S. 583; Rieder, Die Entscheidung, S. 348 ff.; Riedel, DÖV 1991, S. 305. Art. 5 NATO-Vertrag sieht vor, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten. 12*

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

Über letzteren hatte aber nicht der Gesetzgeber, sondern allein die Regierungen der NATO-Mitgliedstaaten zu entscheiden - und zwar durch einen einstimmigen Beschluss im NATO-Rat. 384 Dabei entspricht es den lockeren Vertragsbindungen, dass innerhalb der NATO keine übernationale Instanz existiert, die verbindlich festlegt, wann ein Angriff i. S. d. Art. 5 NATO-Vertrag vorliegt. Innerstaatlich hingegen war eine Beteiligung des Bundestages an der Entscheidung im NATO-Rat nicht vorgesehen und wurde vom Bundestag auch nie ernsthaft eingefordert. Bei den Beratungen zu Art. 115a GG hat es der Rechtsausschuss für „völlig unmöglich" erachtet, dass die Bundesregierung als Voraussetzung ihrer Willensbildung im NATO-Rat das Parlament einschalten müsse. 385 Der Bündnisfall ist daher die Stunde der Exekutive; der Verteidigungsfall ist die des Parlaments. 386 Um die Mitwirkungsbefugnisse des deutschen Parlaments bei der Entscheidung über Krieg und Frieden zu wahren, mussten die aus dem Bündnisfall resultierenden Bündnisverpflichtungen mit den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen militärischen Einsatz der Streitkräfte verfassungssystematisch in Einklang gebracht werden. Unproblematisch war dies bei der früheren Regelung des Art. 59a GG, der die Feststellung des Verteidigungsfalles zur Voraussetzung für den Einsatz der Streitkräfte machte und nach damaliger Auffassung dem Parlament ein Entscheidungsrecht über jeden Streitkräfteeinsatz einräumte. 387 Der 1968 neu eingefügte Art. 115a I GG hingegen trägt der militärischen Bündnisintegration Deutschlands insgesamt nur wenig Rechnung.388 Durch die Legaldefinition, die auf einen Angriff auf deutsches Territorium abstellte, wurde der „Verteidigungsfall" vom „Bündnisfall" gewissermaßen geographisch „abgekoppelt". Ungeachtet dessen herrschte die Überzeugung vor, dass ein Auseinanderfallen von Bündnis- und Verteidigungsfall aufgrund der exponierten Stellung Deutschlands im Kalten Krieg unwahrscheinlich sei: 3 8 9 ein realistisch angenommener Angriff auf einen Bündnispartner wäre in Verlauf und Wirkung niemals bloß begrenzt und lokal geblieben, sondern hätte aufgrund seiner eskalierenden Tendenz im Fadenkreuz zweier atomar hochgerüsteter Verteidigungsbündnisse letztlich immer auch zu einer Bedrohung der Bundesrepublik geführt. 390 Da die Unterscheidung zwischen Bündnis384 Die Entscheidung wird durch den Botschafter im NATO-Rat bekannt gegeben, der für sein Abstimmungsverhalten eine im Kabinett abgestimmte Weisung des Bundeskanzlers erhält; einen prägnanten Überblick über das Entscheidungsverfahren in der NATO gibt Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Art. 65a, RdNr. 79 ff. 385 Kurzprotokoll der 78. Sitzung des Rechtsausschusses, 5. Wahlperiode, v. 28. 3. 1968, S. 10. 38 6 So auch Riedel, DÖV 1991, S. 311. 387 Vgl. Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, S. 174; v. Mangoldt/Klein, GG Bd. II, 2. Aufl. 1964, Art. 59a, Anm. 3. 388 Herzog, in: M / D , GG, Art. 115a, RdNr. 98. 389 Herzog (in: M / D , GG, Art. 115a, RdNr. 9) führt aus, „dass Entscheidungen des Nordatlantikrates, die das Vorliegen des Bündnisfalles feststellen ( . . . ) , fast automatisch Aktionen des Gegners auslösen werden, die in aller Regel die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 115a I - wenn sie bis dahin noch nicht vorliegen - schaffen werden."

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und Verteidigungsfall im öffentlichen Bewusstsein offenbar verlorengegangen war, erweckte die Proklamation des ersten Bündnisfalles in der Geschichte der NATO (am 12. 9. 2001) in der deutschen Öffentlichkeit sofort die Assoziation, dass sich das Land im Krieg befinde. 391 Indes löst der Angriff auf einen Bündnispartner nicht automatisch den Verteidigungsfall des Grundgesetzes nach Art. 115a I GG aus. 392 Die völkerrechtliche Regelung vermag die verfassungsrechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen nach Art. 115a I GG weder zu ersetzen noch zu modifizieren; die parlamentarische Feststellungskompetenz wird durch eine Bündnisfallentscheidung des NATO-Rates rechtlich weder präjudiziell noch überlagert. 393 In der Tat bedurfte das rechtlich auf souveräne Entscheidungsmacht der Mitgliedstaaten ausgerichtete NATO-Vertragswerk über Jahrzehnte einer stark relativierenden Betrachtungsweise mit Blick auf faktische Zwänge und praktische Abläufe unter Zeitdruck. 394 Je stärker eine Entscheidung über den Gegenschlag unter Zeitdruck getroffen werden muss, desto weniger können die verfassungsrechtlich vorgesehenen Entscheidungsverfahren gewährleistet werden. Ein massiver Überraschungsangriff auf einen Bündnispartner hätte einen Automatismus in Gang gesetzt, der eine eigenständige nationale Entscheidung über Krieg und Frieden nicht nur faktisch präjudiziell, sondern als parlamentarischen Akt kaum noch identifizierbar gemacht hätte. 395 Herzog weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass im Falle eines massiven Raketenangriffs nicht einmal ausreichend Zeit für den NATO-Konferenzweg, sondern nurmehr der NATO-Kommandoweg verblieben wäre. Er folgert daraus, „dass die Stunde der Entscheidung über Krieg und Frieden eine Stunde der Exekutive " sein würde und zwar „nicht einmal eine Stunde der deutschen Exekutive, sondern der amerikanischen, genauer gesagt des amerikanischen Präsidenten", der wiederum SACEUR über das „rote Telefon" den 390 So Randelzhofer, in: M / D , GG-Kommentar, Art. 24 Abs. 2, Rz. 53; Ipsen, in: BK, Art. 24, Rz. 173; Rieder, Entscheidung, S. 351. 391 Beipflichtend Krings/Burkiczak, DÖV 2002, S. 501. 392 Allg. Auffassung, vgl. Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 115a, RdNr. 11; Herzog, M / D , Art. 115a, RdNr. 24; Robbers, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 115a, RdNr. 3; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 115a, RdNr. 3. 393 Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Vorb. zu Art. 115a-1151, RdNr. 7; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 24, RdNr. 44; Menzel, EA 1963, S. 603. Vgl. auch den Bericht des Verteidigungsausschusses (Ausschuss-Drs. 66/56, S. 1, zitiert bei Hillgruber, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 87a, RdNr. 19, Anm. 24): „Wird ein Staat angegriffen, dem die Bundesrepublik Deutschland durch einen Beistandspakt verpflichtet ist, und wird bei diesem Angriff das Gebiet der Bundesrepublik selbst nicht berührt, so stehen dem Zusammentritt der gesetzgebenden Körperschaften keine Hindernisse im Wege. " 394 Seidl-Hohenveldern/Loibl, Int. Org., RdNr. 2305. 395 So hätte sich die komplizierte Abwehrmaschinerie der Allianz unter Leitung von SACEUR rein vom technischen Organisationsablauf allein auf sein Geheiß in Bewegung gesetzt, ohne dass dabei der Einfluss nationaler Entscheidungsträger deutlich hervorgetreten wäre (Kühne, Friedenssicherung, S. 182).

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Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

Einsatzbefehl gegeben hätte. 396 Die Automatik einer von militärischen Organen beherrschten Reaktion, welche die verfassungsrechtliche Forderung nach demokratischer Beteiligung obsolet gemacht hätte, wäre indes weniger eine Folge der militärischen Integration in die NATO, als vielmehr eine Folge der modernen Waffentechnik gewesen. Mit dem Ende des Kalten Krieges haben sich die aus der NATO-Integration resultierenden faktischen Verschränkungen und die Akzessorietät zwischen Bündnis· und Verteidigungsfall relativiert. Gleichzeitig hat aber das AWACS-Urteil des BVerfG das Einsatzspektrum der Bundeswehr über die Landes- und Bündnisverteidigung hinaus umfassend erweitert. Aus diesem Grunde musste die Frage nach der Wahrung der parlamentarischen Mitwirkungsrechte des Bundestages an der Entscheidung über Krieg und Frieden neu gestellt werden: Während die parlamentarische Mitwirkung im Verteidigungsfall nach Art. 115a Abs. 1 GG gesichert war, bedurfte sie angesichts des neuen Einsatzspektrums einer flexibleren Form (konstitutiver Parlamentsvorbehalt). Angesichts der Vielfalt an Einsatzmöglichkeiten, die sich in den letzten 10 Jahren seit dem AWACS-Urteil herausgebildet haben, stößt nun auch diese Form der parlamentarischen Mitwirkung durch das Bundestags/?/enum an die Grenzen der Praxistauglichkeit; die parlamentarische Beteiligung an der Einsatzentscheidung soll durch eine gesetzliche Regelung vereinfacht, beschleunigt und an die neuen Herausforderungen angepasst werden. Dabei besteht die Gefahr, dass der bislang konsequent gehandhabte Parlamentsvorbehalt im Zuge einer fortschreitenden multinationalen Streitkräfteintegration sukzessive ausgehöhlt wird. Inwieweit eine „Parlamentsarmee" mit den gestiegenen Anforderungen und Erwartungen an eine „Armee im Einsatz" harmonisierbar ist, soll im folgenden untersucht werden.

b) Bündnisverteidigung

und Parlamentsvorbehalt

aa) NATO-Vertrag Nach dem Diktum des Verfassungsgerichts stehen Einsätze im Rahmen von Art. 5 NATO-Vertrag unter Parlamentsvorbehalt. 397 Dies ist um so erstaunlicher, als der Bundestag - wie das Gericht selbst betont - der Beistandsverpflichtung durch das Ratifikationsgesetz zum NATO-Vertrag bereits zugestimmt und damit grundsätzlich gebilligt hat, dass deutsche Streitkräfte beim Eintritt des Bündnisfalles zum Einsatz kommen könnten. 398 Anders als bei dynamischen Vertragsentwicklungen lehnt es das Gericht offenbar ab, Streitkräfteeinsätze im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit durch das Integrationsprogramm eines Zustim396 Herzog, in: M / D , GG, Art. 115a, RdNr. 98. 397 BVerfGE 90, 286 (387). 398 Kritisch insoweit auch Dau, NZWehrR 1994, S. 183 und Stein/Kröninger, S. 261.

Jura 1995,

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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mungsgesetzes nach Art. 59 I I i.V.m. 24 I I GG zu legitimieren. Im Schrifttum ist die vom BVerfG geforderte konstitutive Bundestagszustimmung zu Auslandseinsätzen im Bündnisfall kritisiert worden, da sie den völkerrechtlichen Verpflichtungen zuwiderlaufe. 399 Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden: Art. 5 NATOVertrag enthält eine Beistandspflicht, deren Erfüllung in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Die Erfüllungshandlung muss zwar nach Treu und Glauben im Sinne pflichtgemäßer Ermessensausübung auch die Sicherheitsinteressen der anderen Bündnispartner berücksichtigen; 400 nichts anderes fordert aber auch Art. 26 WVRK als allgemeine Völkerrechtsregelung für die Durchführung von Verträgen. Eine explizit militärische Beistandsverpflichtung existiert indes nicht. Wenn Ipsen jedoch eine gewisse Einschränkung des staatlichen Handlungsermessens mit Blick auf die Geeignetheit der Maßnahmen zur Wiederherstellung der Sicherheit des nordatlantischen Gebiets herleitet, 401 so erscheint dies vor allem den (faktischen) Zwängen des Kalten Krieges geschuldet und weniger dem Wunsch nach „Verrechtlichung" einer wie auch immer gearteten „uneingeschränkten Solidarität" (Bundeskanzler Schröder). In der Tat hatte der Bundestag die Auffassung vertreten, dass Art. 5 NATO-Vertrag im Ergebnis eine automatische Beistandspflicht nach sich ziehe, da im Bündnisfall die Sicherheit der Allianz nur durch einen umfassenden militärischen Gegenschlag gewährleistet werden könnte. 402 Rechtlich gesehen garantieren jedoch Art. 5 NATO-Vertrag in Verbindung mit dem Verfassungsvorbehalt des Art. 11 NATO-Vertrag {protective clause) eine Letztentscheidungskompetenz jedes einzelnen Mitgliedstaates über den Einsatz seiner Streitkräfte. Solche Verfassungsvorbehalte sind dynamische Garantieklauseln für die Einhaltung aller (bei Vertragsschluss bestehenden oder später durch Gesetzesänderung entstandenen) innerstaatlichen Entscheidungsprozesse. Der NATO-Vertrag entscheidet damit jeden nur denkbaren Konflikt mit der Verfassung eines Mitgliedstaates von vornherein zugunsten der nationalen Rechtsordnung. 403 399 stein/Kröninger, Jura 1995, S. 261; Ruffert, ZRP 2002, S. 248; Spies, Parlamentsvorbehalt, in: FS Fleck, S. 547, die in diesem Zusammenhang den Grundsatz des venire contra factum proprium bemüht. 400 Zu weitgehend Hillgruber, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 87a, RdNr. 36, wonach die Bündnispartner sich „objektiv notwendiger militärischer Unterstützung der Bündnispartner nicht entziehen dürfen". Für diese Auffassung gibt es im Vertrag selbst keinerlei Anhaltspunkte. Ipsen, JöR 21 (1972), S. 20; ihm folgend etwa Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 77 (Anm. 172). Art. 5 NATO-V lässt sich insoweit als „commitment of best endeavour " verstehen, als „Zusage besten Bemühens", das auch militärische Hilfe nach Ausschöpfung aller anderen Mittel und unter Vorbehalt nationaler Letztentscheidung einschließt (ähnlich Hauser, Die NATO, in: Hochleitner (Hrsg.), 2000, S. 277). 402 Vgl. die amtliche Begründung zum Beitrittsgesetz zum NATO-Vertrag, BT-Drs. I I /1061, S. 55 (zu Art. 5 Ν ΑΤΟ-Vertrag) sowie den besonderer Bericht des Ausschusses für Fragen der europäischen Sicherheit vom 11.2.1955, BT Sten.Ber. II 69. Sitzung v. 24.2.1955, S. 3636 ff. 403 Ipsen, JöR 21 (1972), S. 22; ders., Rechtsgrundlagen, S. 47; Bartke, Verteidigungsauftrag, S. 171 m. w. N.; Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 65a, RdNr. 78.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimations Vermittlung im Integrationsprozess

Das BVerfG hat das Erfordernis des Parlamentsvorbehalts mit den internationalen Bündnisverpflichtungen dergestalt abgestimmt, dass die parlamentarische Mitwirkung an der Einsatzentscheidung die Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik nicht beeinträchtigen darf. In diesem Sinne habe der Bundestag nach Maßgabe der bestehenden Bündnisverpflichtungen zu entscheiden und sei bei seiner Beschlussfassung an die mit seiner Zustimmung zustande gekommenen rechtlichen Festlegungen über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte gebunden.404 In der Tat erscheint das Bedürfnis nach nationaler parlamentarischer Legitimation geringer, wenn die Entscheidung über den Streitkräfteeinsatz durch internationale Gremien vorbereitet und legitimiert wird. In diesem Zusammenhang hat das BVerfG vorgeschlagen, im Rahmen völkerrechtlicher Verpflichtungen die parlamentarische Beteiligung nach der Regelungsdichte abzustufen, in der die Art des möglichen Einsatzes der Streitkräfte bereits durch ein vertraglich geregeltes Programm der militärischen Integration vorgezeichnet ist 405 Dies darf aber im Ergebnis nicht zu einer Präjudizierung des Bundestagsmandats durch einen NATO-Ratsbeschluss führen, da aufgrund der ungleichwertigen Legitimationsquellen ein Absinken an demokratischer Legitimation des Einsatzes unausweichlich würde. 406 Der Bundestag muss insoweit die Kompetenz behalten, auch im Bündnisfall seine Zustimmung zu einer militärischen Β ei standslei stung zu verweigern.

bb) Brüsseler Vertrag Unvereinbar mit dem Parlamentsvorbehalt erscheint dagegen die „automatische Beistandsklausel" des Art. V Brüsseler Vertrag. 407 Da alle 10 Vollmitglieder der WEU, die in den Genuss der kollektiven Beistandspflicht kommen, gleichzeitig auch NATO-Partner sind, würde der „WEU-Bündnisfall", der an das gleiche Ereignis wie Art. 5 NATO-Vertrag anknüpft, regelmäßig auch den „NATO-Bündnisfall" auslösen (wegen der größeren geographischen Reichweite des NATO-Vertrages nicht aber umgekehrt). Beide Bündnisverträge enthalten eine klassische „Kollisionsklausel", welche die vertraglichen Pflichten der Mitgliedstaaten mit den Bestimmungen anderer Verträge abgleichen soll. 4 0 8 Während Art. 8 NATO-Vertrag 404 BVerfGE 90, 286 (388). 405 in diesem Sinne BVerfGE 98, 286 (389); zustimmend Blumenwitz, BayVBl. 1994, S. 682. 406 Nach der ungarischen Verfassung wird auf einen parlamentarischen Zustimmungsbeschluss verzichtet, wenn ein einstimmiger Beschluss im NATO-Rat den Einsatz legitimiert hat. 407 Art. V lautet: Sollte einer der Hohen Vertragschließenden Teile das Ziel eines bewaffneten Angriffs in Europa werden, so werden ihm die anderen Hohen Vertragschließenden Teile im Einklang mit den Bestimmungen des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen alle in ihrer Macht stehende militärische und sonstige Hilfe und Unterstützung leisten. 408 Vgl. Art. 8 NATO-Vertrag; Art. VII Brüsseler-Vertrag. Nach überwiegender Auffassung begründen Kollisionsklauseln im Völkerrecht einen Anwendungsvorrang (so Bernhardt, in: Simma (Hrsg.), UN-Charta, Art. 103, RdNr. 17 f. m. w. N).

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den Vertragspartnern auch für die Zukunft verbietet, widersprechende Abkommen einzugehen, erklären die WEU-Staaten gem. Art. V I I des 1954 re vidierten Brüsseler Vertrages lediglich, dass solche Verpflichtungen gegenwärtig nicht bestehen. Bezug genommen wurde dabei auch auf den Ν ΑΤΟ-Vertrag von 1949 - denn Referenzdatum für die Erklärung nach Art. V I I Brüsseler Vertrag ist das Inkrafttreten der re vidierten Fassung von 1954, nicht hingegen der ursprüngliche Vertragsfassung von 1948. 409 Die europäischen NATO-Partner wollten also keine besondere Mächtegruppierung innerhalb der NATO etablieren, die untereinander die Flexibilität des NATO-Vertrages auf die militärische Option reduziert; 410 die Brüsseler Beistandsklausel sollte lediglich als „Reservefunktion" für den Fall eines amerikanischen Rückzugs aus der NATO dienen 4 1 1 jedoch Art. 5 NATO-Vertrag nicht nach spezieller europäischer Lesart modifizieren. Eine historische, systematische und teleologische Interpretation des Art. 5 Brüsseler Vertrag ergibt daher, dass der WEU-Bündnisfall durch den NATO-Bündnisfall gewissermaßen rechtlich „überlagert" wird; automatisch eingefordert werden kann danach nur jene Form der (militärischen) Unterstützung, die auch in Einklang mit Art. 5 NATO-Vertrag eingefordert werden könnte. 412 Das bedeutet, dass über die „militärische Unterstützung" nach Art. 5 Brüsseler Vertrag in nationalem Ermessen entschieden werden kann und eine rechtliche „Automatik" für die militärische Option insoweit nicht greift. Ein anderes Ergebnis widerspräche auch dem bis heute verwirklichten Integrationsstand der ESVP: Solange die europäische Verteidigungspolitik in den Händen der Mitgliedstaaten und nicht eines supranationalen europäischen Souveräns liegt, verbleibt auch die Entscheidung über die Entsendung staatlicher Truppenkontingente in nationaler Verantwortung.

409 Die Vertragsregelungen wurden durch die Revision - zumindest für eine logische Sekunde - beendet und begannen ab Inkrafttreten der revidierten Fassung von neuem zu wirken (so Grewe, Treaties, in: Bernhardt (Hrsg.), EPIL Bd. 4 (2000), S. 982: „ ( . . . ) each revision, even if strictly limited to some provisions, is essentially a novation and entails for a logic second a termination of the original treaty. "). 410 Ein solches Ansinnen wäre nach Ipsen (Rechtsgrundlagen, S. 67) einem Verstoß gegen Art. 8 NATO-Vertrag gleichgekommen; a.A. Gerteiser (Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, S. 205), die in der Brüsseler Vertragsregelung i.E. keine widersprechende internationale Verpflichtung im Sinne des Art. 8 NATO-Vertrag sieht, da erstere lediglich ein „Plus" zu den Pflichten der NATO-Bündnispartner begründe. 411 Brandstetter, Die WEU, S. 50 m. w. N. 412 Saalfeld, Entwicklung und Perspektiven, S. 57 f. In diesem Sinne ist auch die Haager Erklärung des WEU-Ministerrats v. 26./27. 10. 1987 (sog. Erklärung Plattform Europäischer Sicherheitsinteressen, Bull.BReg. 1987, Nr. 112, S. 970 ff.) zum Verhältnis der beiden Bündnisverträge zu verstehen, wonach das Versprechen gegenseitigen Beistandes die Verpflichtungen im Rahmen des atlantischen Bündnisses verstärken solle, das zu erhalten die WEU-Staaten entschlossen seien.

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cc) EU-Verfassungsvertrag Der EU-Verfassungsvertrag inkorporiert die kollektive Verteidigungskomponente auf optionaler Basis in das Unionsrecht, und greift bei der EU-Beistandspflicht auf die Formulierungen in Art. V Brüsseler Vertrag zurück. 413 Ein Beistandsautomatismus ist dabei nicht vorgesehen. 414

c) UN-Friedenssicherung Bei Einsatzentscheidungen im Rahmen der UN-Friedenssicherung ist wie folgt zu differenzieren. Parlamentarischer Zustimmung unterliegen die friedenssichernden Blauhelmeinsätze nach Kapitel V I sowie Zwangsmaßnahmen nach Kapitel V I I der UN-Charta. Obwohl sie zu den typischen Aufgaben im Rahmen des kollektiven Sicherheitssystems zählen, sind sie nicht bereits durch das Zustimmungsgesetz zum UN-Beitritt Deutschlands abgedeckt, sondern bedürfen unabhängig davon eines konstitutiven Parlamentsbeschlusses.415 Dies gilt nicht nur für das System der Bereitschaftskapazitäten (Standby Arrangements System), 416 sondern auch für die schnelle Eingreiftruppe der UN (SHIRBRIG), deren Einsatz unter Verfassungsvorbehalt der Teilnehmerstaaten steht. 417 Neue Fragen ergeben sich indes bei einer Umsetzung der Reformvorschläge des 5ra/w'w/-Berichts 418 zur Effektivierung der UN-Friedensmissionen. Vorgesehen 413

In Art. 1-41 Abs. 7 des Entwurfes heißt es: Im Rahmen dieser Zusammenarbeit leisten im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines an der Zusammenarbeit beteiligten Staates die anderen beteiligten Staaten gem. Art. 51 der UN-Charta alle in ihrer Macht stehende militärische und sonstige Hilfe und Unterstützung. 414 Nach den Ausführungsbestimmungen zur kollektiven Verteidigung (Art. III-214) ist die Beistandsleistung nicht dem Abstimmungsverfahren im Rat unterworfen. 4 15 So ausdrücklich BVerfGE 90, 286 (381, 387 f.). 416 Solche Standby Arrangements werden auf der Grundlage rechtlich unverbindlicher Memoranda of Understanding (MoU) mit den Vereinten Nationen geschlossen, in denen die entsprechenden Einsatz- und Reaktionszeiten sowie die für Friedenseinsätze grundsätzlich zur Verfügung gehaltenen Ressourcen der Staaten festgehalten werden sind (vgl. im einzelnen Eisele, Die VN, S. 69 ff.; Hildenbrand, Krisenreaktionsfähigkeit, S. 85 ff.; Stodiek, Der deutsche Beitrag). Die vereinbarten Ressourcen verbleiben bis zu ihrem Einsatz in einem (mit der Assignierung strukturell vergleichbaren) „Standby- Status", der aber rechtlich nicht einklagbar ist, sondern dem Department for Peace Keeping Operations (DPKO) allein als Planungsgrundlage dient (dazu Sevecke, NZWehrR 1995, 224). Aufgrund der mangelnden Bereitschaft der Staaten, im Ernstfall tatsächlich die vereinbarten Ressourcen zur Verfügung zu stellen, erlebte das System der Bereitschaftskapazitäten während seiner ersten Bewährungsprobe beim Völkermord in Ruanda (1994) ein Fiasko. 4

17 Vgl. Art. 3.2 des Memorandum of Understanding für die SHIRBRIG vom 26. 2. 1998 (abrufbar unter www.shirbrig.dk). 4 18 Brahimi Report, UN Doc. A/55/305, S/2000/809, abgedruckt in Auszügen in: ZaöRV 2002, S. 607 ff.; dazu Griep, in: VN 2002, S. 61 ff.

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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sind dabei feste Kontingentzusagen der Mitgliedstaaten bereits vor Erteilung des Sicherheitsratsmandats sowie eine ständige, auf Abruf einsatzbereite Reserve. 419 Eine parlamentarische Billigung dieses Reformkonzepts in Form eines Gesetzes ist zwar nicht erforderlich, da die Fortentwicklung der Friedensmissionen ihre Legitimation in dem generellen Auftrag der Vereinten Nationen zur Friedenssicherung findet und durch das deutsche Zustimmungsgesetz zum UN-Beitritt gedeckt wäre. 420 Problematisch erscheint das Zurverfügungstellen von Kontingenten der Bundeswehr vor einer Entscheidung des Sicherheitsrates über deren konkreten Einsatz. Überlegungen gehen etwa dahin, die Standby Arrangements vom Bundestag durch „Vorratsbeschluss" legitimieren zu lassen, um der Exekutive dann für den konkreten, auf der Grundlage des Arrangement erfolgenden Einsatz freie Hand zu lassen. Die gleichen Probleme entstünden bei der Unterstellung von nationalen Kontingenten auf der Grundlage der in Art. 43 UN-Charta vorgesehenen „Sonderabkommen", wobei das Abkommen selber parlamentarisch legitimiert würde, der nachfolgende Einsatz jedoch nicht. Akademisch geblieben ist in diesem Zusammenhang die Frage, welche Spielräume dem Bundestag nach Abschluss eines solchen „Sonderabkommens" bliebe. Ein Parlamentsvorbehalt könnte zeitlich kaum nach der Konkretisierung des Auftrags bzw. nach der Anforderung durch den Sicherheitsrat erfolgen, denn nach der Ratio des Art. 43 UN-Charta soll ja der Sicherheitsrat unabhängig vom truppenstellenden Staat über den Einsatz der staatlichen Streitkräfte entscheiden dürfen. 421 Das BVerfG geht mit Blick auf die bestehenden - und künftigen - internationalen Verpflichtungen davon aus, dass der Bundestag bei seiner Beschlussfassung an die mit seiner Zustimmung zustande gekommenen Festlegungen über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte gebunden ist. 4 2 2 Für einen konstitutiven, der Truppenanforderung des Sicherheitsrates möglicherweise widersprechenden Beschluss des Bundestages dürfte dann eigentlich kein Raum mehr bleiben. 423 Fraglich bleibt aber, ob eine solche zeitliche „Vorverlegung" der parlamentarischen Mitwirkung dem Sinn und Zweck des Parlamentsvorbehalts entspricht. Dieser soll der Legislative ein substantielles Mitspracherecht über die Verwendung von Bundeswehreinheiten sichern. Dabei geht es weniger um eine verfassungsrechtliche Rechtmäßigkeitskontvollc als vielmehr um eine politische Zweckmäßigte'tekontrolle des ins Auge gefassten Einsatzes. Da weder das Grundgesetz noch 419 Vgl. Brahimi-Report, III, C, Rz. 109 ff., ZaöRV 2002, S. 634 ff. 420 So auch Vöneky/Wolfrum, ZaöRV 2002, S. 600. 421 Dazu näher Frowein /Krisch, in: Simma (Hrsg.), UN-Charta. Commentary, Art. 43, RdNr. 7 ff. 422 BVerfGE 90, 286 (388). 423 So Wolfrum, HBdStR VII, § 192, RdNr. 53; Kunig, in: Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 2. Abschnitt, RdNr. 79. Dem entspricht im Übrigen auch die Verfassungsrechtslage in Schweden (Kap. X Art. 9).

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Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

die UN-Charta den Begriff der Friedenswahrung definieren, muss sich eine ernstgemeinte Kontrolle auch auf die politische (Ermessens-)Einschätzung des Sicherheitsrates über das Ob und das Wie eines möglichen militärischen Einschreitens zur Friedenswahrung erstrecken. Dies ist aber nur dann möglich, wenn das Parlament keinen „Blankoscheck" für zukünftige Einsätze im Rahmen eines kollektiven Sicherheitssystems nach Art. 24 II GG erteilt, sondern sich vielmehr das letzte Wort vorbehält. Demnach wäre das vom Brahimi-B&Acht bzw. Art. 43 UN-Charta ins Auge gefasste Zurverfügungstellen von Bundeswehreinheiten an die Vereinten Nationen ohne eine vorherige Konkretisierung des Einsatzes mit dem Sinn und Zweck des Parlamentsvorbehalts nicht zu vereinbaren. 424 Eine „Kompensation" des parlamentarischen Mitspracherechts ließe sich allein durch ein Übertragungsgesetz nach Art. 24 Abs. 1 GG - also durch eine „institutionelle" Zustimmung nicht dagegen durch ein Parlamentsbeteiligungsgesetz herstellen. 425 Mit dem nach Art. 43 Abs. 3 UN-Charta ratifikationsbedürftigen Sonderabkommen werden nämlich militärische Hoheitsrechte auf die Vereinten Nationen übertragen und internationalisiert, so dass ein Parlamentsvorbehalt mangels Verantwortlichkeit der Bundesregierung entfallen kann. 426 Wird die Entscheidungskompetenz über den Einsatz durch Gesetz generell auf eine internationale Organisation übertragen, so stellt sich die Frage einer Kontrolle der Exekutive aus Sicht der Legislative gar nicht, solange die Bundesregierung keinen Einfluss auf den Einsatz des deutschen Kontingents ausüben kann - anderenfalls läge eine Umgehung des Parlamentsvorbehalts vor. 4 2 7 Dem Desiderat parlamentarischer Absicherung bei gleichzeitigem Verzicht auf Zustimmung im Einzelfall wäre also nur durch eine vollständige Internationalisierung der Einsatzentscheidung im Rahmen einer zwischenstaatlichen Organisation Rechnung getragen.

d) Krisenmanagement Im Rahmen des internationalen Krisenmanagements, das langsam vertragsrechtliche Konturen gewinnt, wird die Mitwirkung des Parlaments an der Einsatzentscheidung durch entsprechende Verfassungsvorbehalte gewährleistet. Nationale Letztentscheidungsbefugnisse für WEU-Militäroperationen garantierte bereits die „Petersberg-Erklärung" (1992), wonach über die Teilnahme an bestimmten Opera4 24 So i.E. Vöneky/Wolf rum, ZaöRV 2002, S. 602, die auch die Möglichkeit eines parlamentarischen Rückrufs der Streitkräfte nicht als Ersatz für den Parlamentsvorbehalt ansehen. Ähnlich mit Blick auf Art. 43 UN-Charta Nolte, ZaöRV 1994, S. 676, der das Urteil des BVerfG daher für chartafeindlich hält. 425 Das Parlamentsbeteiligungsgesetz hingegen würde nur die innerstaatliche Kompetenzverteilung für die Entscheidung über den Streitkräfteeinsatz zwischen Exekutive und Legislative regeln und müsste dabei dem Sinn und Zweck des Parlamentsvorbehalts Rechnung tragen, d. h. die parlamentarische Beteiligung hinreichend zum Ausdruck bringen. 426 Nolte, ZaöRV 1994, S. 676 f. 427 Vöneky/Wolf rum, ZaöRV 2002, S. 603 f.

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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tionen die Mitglieder nach wie vor als souveräne Staaten entsprechend ihrer jeweiligen Verfassung entscheiden.428 Auch die Zustimmung des Bundestages zum EUVertrag (Nizza) entfaltet keinerlei rechtliche Präjudizwirkung, da die Beteiligung deutscher Streitkräfte an EU-geführten Militäroperationen in nationaler Verantwortung verbleibt: 429 Art. 17 Abs. 3 EUV bzw. Art. 1-41 EU-Verfassungsvertrag ermöglichen gemeinsame Aktionen mit verteidigungspolitischen Bezügen, unterwerfen aber das Beschlussverfahren der Einstimmigkeit im Rat, so dass Raum für innerstaatliche Mitwirkungsbefugnisse des Parlaments verbleibt. 430 Das strategische Konzept von Washington (1999) stellt Krisenreaktionseinsätze im Rahmen der NATO unter Verfassungsvorbehalt, indem es hervorhebt, dass unter Berücksichtigung der Notwendigkeit von Bündnissolidarität und -Zusammenhalt die Beteiligung an einer solchen Operation oder an einem solchen Einsatz den Beschlüssen der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen Verfassungen vorbehalten bleibt. 431 Der Hinweis auf die „Bündnissolidarität" höhlt die souveräne Entscheidungskompetenz der Staaten zwar rechtlich ebenso wenig aus wie die Formulierung in Art. 5 ΝΑΤΟ-Vertrag; er stellt jedoch klar, dass die Interessen des Bündnisses nach Treu und Glauben in die nationale Entscheidung einzustellen sind. Mangels einer „Beistandsklausel" erscheinen die rechtlichen Verpflichtungen aus dem Washingtoner Konzept im Ergebnis noch geringer als im Bündnisfall gem. Art. 5 NATO-Vertrag. 432

e) Schnelle Eingreiftruppen Eine besonders große Herausforderung für den konstitutiven Parlamentsvorbehalt stellt die beabsichtigte Teilnahme Deutschlands an schnellen Eingreiftruppen dar, insbesondere an der auf dem Prager NATO-Gipfel 2002 beschlossenen NATO-Eingreiftruppe (NATO Response Force). Dieses teilstreitkraftübergreifende, schnell verlegbare und innerhalb kürzester Zeit einsatzbereite Expeditionskorps der NATO soll auf Anforderung eines NATO-Staates für weltweite Kampf- und Antiterroreinsätze bis 2006 voll zur Verfügung stehen.433 Für den Einsatz der NATO Response Force als eigener und gemeinsam finanzierter Kampfverband der 428 Petersberg-Erklärung, Teil I I Nr. 3. Siedschlag, Alexander, Nationale Entscheidungsprozesse, in: Reiter u. a. (Hrsg.), 2002, S. 224 f. «ο Art. 23 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 UA 3 EUV; Art. 1-40 Abs. 4 EU-Verfassungsvertrag. 429

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31 Vgl. strategisches NATO-Konzept Teil III Nr. 31. 32 So auch Blumenwitz, ZRP 2002, S. 103. 4 33 Vgl. Eitelhuber, in: SWP-Aktuell 52, 2002; Kempin, The new NATO Response Force. Die Verteidigungsminister der NATO haben auf ihrer Sitzung am 12. 6. 2003 das Gesamtkonzept zur NRF gebilligt: Auftrag und Struktur der NRF ergeben sich aus dem militärischen Konzept MC 477, dem Policy Coordination Group Report und dem Defence Review Committee Report. 4

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

NATO gilt (wie bei der NATO Frühwarnflotte AWACS) das Konsensprinzip im NATO-Rat. Erforderlich ist also die Zustimmung aller 26 Mitglieder der Allianz. In Brüssel wird daher über neue flexible/mehrstufige (die politische und die militärische Seite betreffende) Entscheidungsverfahren nachgedacht, die Elemente eines „Opting-out" bzw. einer „konstruktiven Enthaltung" aufgreifen könnten. 434 Aus Art. 11 NATO-Vertrag ergibt sich jedenfalls, dass kein Mitgliedstaat zur Teilnahme an einem NRF-Einsatz gezwungen werden darf - selbst wenn er zuvor den einstimmigen Beschluss des Nordatlantikrates zum Einsatz der Response Force (nur deswegen) mitgetragen hat, um den Einsatz als solchen nicht zu blockieren. Die Teilnahme der Bundeswehr an Einsätzen hochintegrierter schneller Eingreiftruppen vermag den Entscheidungsspielraum des Bundestages tendenziell einzuschränken: Zum einen soll der NATO-Einsatzbefehl binnen weniger Tage erfolgen, was einen nicht unerheblichen Druck auf die Entscheidungsabläufe in den nationalen Gremien ausübt, die über den Einsatz ihrer NRF-Verbände entscheiden. Dabei darf die Übertragung der nationalen Befehlsbefugnis auf SACEUR, die noch vor der faktischen Verlegung vorgesehen ist, erst nach Zustimmung des Parlaments erfolgen (Problem der beschleunigten Entscheidungsabläufe). Zum anderen wird die erfolgreiche Ausführung einer Operation von der Bereitstellung aller von den Nationen zugesagten militärischen Fähigkeiten abhängen, d. h. der Wegfall des Beitrags einer Nation würde möglicherweise das Scheitern der gesamten Operation zur Folge haben (Problem der Bündnisfähigkeit bzw. Bündnissolidarität). So wird ein Antrag der Bundesregierung dem Bundestag erst dann vorliegen, nachdem die Regierung ihre Zustimmung zum NATO-Ratsbeschluss schon längst signalisiert oder bereits an seinem Zustandekommen mitgewirkt hat. Deutschlands Verlässlichkeit im Bündnis stünde auf dem Spiel, wollte der Bundestag seine Genehmigung versagen. In der Diskussion hat es an Vorschlägen zur Reformierung, Vereinfachung, Beschleunigung und Reduzierung der parlamentarischen Mitwirkung bei solchen Einsatzszenarien im Bündnis nicht gefehlt. 435 Bei den ins Auge gefassten Reaktionszeiten der NATO Response Force mag die Herbeiführung einer Zustimmung des Bundestages (ζ. B. in der parlamentarischen Sommerpause) mit gewissen (logistischen) Schwierigkeiten verbunden sein; sie erscheint aber - zumindest mit Blick auf die bisherige Einsatzpraxis - jedenfalls nicht per se ausgeschlossen. NATO-Kriseneinsätze erfordern nämlich im Vorfeld immer auch eine politische Einsatzkonzeption sowie eine Flankierung durch nicht-militärische Maßnahmen, die im Ergebnis genügend Zeit für parlamentarische Sondersitzungen bzw. abgekürzte Zustimmungsverfahren lassen. Dies setzt allerdings immer voraus, dass es zu keinem generellen Dissens über die sicherheitspolitischen und völkerrechtlichen 434 Dazu etwa Michel, NATO-Decisionmaking, in: Strategie Forum No. 202 (2003). 435 Diese reichen vom parlamentarischen „Vorratsbeschluss" bis zur Entscheidung durch einen speziellen Entsendeausschuss; vgl. zur Problematik ζ. B. Eitelhuber, Implikationen der NRF für die Parlamentsbeteiligung, SWP-Studie, 2004.

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

Parameter des in Rede stehenden Einsatzes kommt. Eine wie auch immer geartete legislative Generaleinwilligung („Vorratsbeschluss"), die auf Einzelfallbefassungen des Bundestags verzichtet, würde hingegen bestimmte Bundeswehrkontingente pauschal von dem Erfordernis eines einzelfallbezogenen „konstitutiven" Parlamentsbeschlusses ausnehmen und die vom BVerfG gesetzten Grenzen überschreiten. 436 Eine parlamentarische Generaleinwilligung negiert nicht nur die Funktion des Parlamentsvorbehalts, sondern wäre nachgerade eine überflüssige Verdoppelung der (allgemeinen) parlamentarischen Zustimmung nach Art. 59 I I GG, da den Einsätzen integrierter Verbände regelmäßig völkerrechtliche Verträge zugrunde liegen, denen der Bundestag bereits per Gesetz zugestimmt hat. Der vom BVerfG in der AWACS-Entscheidung geforderte Zustimmungsbeschluss (Parlamentsvorbehalt) hingegen soll darüber hinaus gewährleisten, dass die Abgeordneten bei jedem einzelnen Einsatz das Risiko für Leib und Leben der Soldaten reflektieren und eine gewissenhafte und verantwortliche Entscheidung treffen. Dies gilt umso mehr, als Soldaten bei Einsätzen der NATO-Response Force nicht nur in gefahrvolle, sondern auch völkerrechtlich fragwürdige bewaffnete Auseinandersetzungen hineingezogen werden können. Die Implikationen der NRF für die parlamentarische Beteiligung liegen also weniger im Bewältigen des „Zeitproblems", als vielmehr in den mit NRF-Einsätzen aufgeworfenen völkerrechtlichen und auch außenpolitischen Fragestellungen. Gerade in diesem Zusammenhang erweist sich die politische Einzelfallbetrachtung des NRF-Einsatzes auf nationaler Ebene (in Form eines Bundestagsbeschlusses), d. h. die offene parlamentarische Debatte über die außenpolitischen und völkerrechtlichen Parameter des Einsatzes, als geradezu unerlässlich. Anderenfalls wären die intensivsten und möglicherweise gefahrvollsten Einsatzformen der Bundeswehr schwächer legitimiert als die vergleichsweise „harmloseren" Blauhelmeinsätze. Die internationale Legitimation von NRF-Einsätzen, zumal wenn sie nicht in Gestalt eines UN-Mandats, sondern „nur" in Form eines NATO-Ratsbeschlusses vorliegt, vermag dabei die nationale Legitimation nicht zu ersetzen. Gleichwohl gerät die nationale parlamentarische Mitwirkung unter den Druck von Bündnisinteressen. Die sukzessive Einbeziehung des Bündnisses in bewaffnete Konflikte kann zu militärpolitischen Eskalationsstufen führen und die nationale Regierung in Erklärungsnotstand gegenüber den Bündnispartnern bringen, wenn sie sich - aus welchen Gründen auch immer - der Teilnahme an der nächsten Stufe verweigern sollte. In der Praxis wäre eine parlamentarische Zustimmung faktisch unweigerlich „präjudiziert", wenn die Regierung einem Einsatz der NRF - wenn auch unter Vorbehalt der parlamentarischen Billigung - im NATO-Rat bereits zugestimmt hat. Um die Glaubwürdigkeit der Regierung zu gewährleisten und ihr im Bereich integrierter Eingreiftruppen „freie Hand" zu lassen, plädieren Teile der 436

Der konstitutive Parlamentsvorbehalt bedeutet nämlich in diesem Zusammenhang, dass es sich nicht um einen abstrakten, vom konkreten Einzelfall gelösten Beschluss handeln darf; vgl. Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 24, RdNr. 228; a.A. Burkiczak, ZRP 2003, S. 85.

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Teil: Parlamentarische Legitimations Vermittlung im Integrationsprozess

Literatur mit Blick auf die faktischen Zwänge im Bündnis dafür, die „Bündnisfähigkeit" - neben der Eilbedürftigkeit („Gefahr im Verzug") - als eigenständigen Ausnahmetatbestand für eine zeitliche Verschiebung der parlamentarischen Mitwirkung (also nachträgliche Zustimmung) anzuerkennen und gesetzlich zu verankern. 437 Eine erweiternde Ausgestaltung des Ausnahmetatbestandes führt indes unweigerlich zu einer Umkehrung des vom BVerfG vorgegebenen Regel-Ausnahme-Verhältnisses, wonach grundsätzlich alle bewaffneten Einsätze, also auch Bündniseinsätze, der vorherigen Zustimmung des Bundestages bedürfen. Angesichts der umfassenden Bündnisintegration deutscher Streitkräfte erscheint dann der Weg zu einem: „Im Zweifel für das Bündnis" nicht mehr weit. Doch auch der Hinweis auf die nachträgliche parlamentarische Billigung will so recht nicht überzeugen: Um die nachträgliche Befassung des Parlaments nicht zur Farce machen, müsste man nämlich dem Bundestag konsequenterweise ein Rückrufrecht auch für die Phase des Einsatzes zubilligen. Unter Organtreuegesichtspunkten würde dann aber das Argument der „Bündnissolidarität" schwerer wiegen als in der Phase der Einsatz Vorbereitung. 43* Eine Verlagerung des Zeitpunktes der parlamentarischen Mitwirkung bei Einsätzen integrierter Eingreiftruppen würde daher das Spannungsfeld zwischen Bündnisfähigkeit und demokratischer Legitimation nicht auflösen, sondern im Gegenteil weiter verschärfen.

f) Ausblick Rechtlich gesehen kann der Parlamentsvorbehalt in allen untersuchten Einsatzkonfigurationen zum Zuge kommen, solange die Entscheidung über den Streitkräfteeinsatz in nationaler Verantwortung verbleibt. Schwierigkeiten wirft die parlamentarische Mitwirkung indes bei der Entsendung (bzw. beim Rückruf) hochintegrierter Eingreiftruppen mit schnellen Reaktionszeiten auf. Dabei bestehen massive bündnispolitische Zwänge, weil der Einsatz vom Beitrag eines ganz bestimmten staatlichen Kontingents abhängt 439 und Entscheidungsprozesse zudem unter starkem Zeitdruck ablaufen. Angesichts der anstehenden militärischen Herausforderungen besteht auf nationaler Ebene zweifelsohne Bedarf nach einer gesetzlichen Regelung, welche die Parlamentsbeteiligung verfahrensmäßig vereinfacht und beschleunigt, ohne sie dabei jedoch materiell vollkommen auszuhöhlen. Das Votum des Parlaments darf auch unter dem Druck bestimmter politischer Konstellationen nicht zu einer eilig zu erledigenden Formalität verkommen ( - selbst 437 Spies , Parlamentsvorbehalt, in: FS Fleck, S. 548 f.; Eitelhuber, Implikationen, SWPStudie 2004, S. 12; ähnlich Scholz in der Öffentlichen Anhörung der 25. Sitzung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages am 17. 6. 2004, Sten.Prot., S. 17. 4 38 Vgl. zum Rückruf integrierter Streitkräfte oben III. 3. c) cc). 439 Dies zeigte sich beim AWACS-Überwachungseinsatz am Rande des Irak-Krieges (2003), als die deutsche Regierung ihren Anteil an der integrierten AWACS-Besatzung für den Einsatz sperren wollte.

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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wenn die inhaltliche Entscheidung durch die Vorbereitungen im NATO-Rat weitgehend präjudiziert ist - ) ; den Parlamentariern muss nicht nur die Zeit zum Abwägen der Argumente, sondern auch inhaltlich die Möglichkeit verbleiben, dem Einsatz zuzustimmen oder ihn abzulehnen. Dies erscheint besonders mit Blick auf militärische Operationen (Interventionen) wichtig, die nicht mehr notwendigerweise jenen Zwecken dienen, für die die Bundeswehr und die NATO ursprünglich einmal gegründet worden sind. Wo die klassische Landesverteidigung in den Hintergrund tritt und stattdessen deutsche (bzw. europäische) Interessen „auch am Hindukusch" gewahrt werden sollen, bedürfen militärische Einsätze deutscher Soldaten einer besonderen demokratischen Legitimation. Ist der Krieg nicht mehr primär Ausdruck existentieller Verteidigung, sondern „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln", so verbieten sich Eilverfahren von selbst. Die rechtliche und politische Praxis bleibt insoweit abzuwarten. Sie sollte jedoch die militärische Integration im Zeitalter des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus nicht auf Kosten der demokratischen Legitimation der Streitkräfte vorantreiben.

IV. Zusammenfassende Betrachtungen Die Steuerungsfähigkeit des Parlaments in wichtigen Fragen der auswärtigen militärischen Gewalt zeigt ein ambivalentes Bild. Die Rechtsprechung des BVerfG hat zu einem Auseinanderlaufen von abnehmenden Vertragskompetenzen auf der einen Seite und einer anwachsenden Kontrollkompetenz auf der anderen Seite geführt. Die richterrechtlich vorgegebene Kompetenzverteilung lässt im Bereich der Wehrverfassung Ansätze einer Parlamentarisierung der auswärtigen Gewalt erkennen; auf der anderen Seite verfügt die Exekutive mit Blick auf die Bündnisfähigkeit über weite außenpolitische Gestaltungsspielräume unterhalb der förmlichen Vertragsebene, solange sie im Konsens mit anderen Staaten handelt. Hat sich das Gericht bei der Auslegung des vertraglichen Integrationsprogramms weit vorgewagt und dadurch die militärstrategischen Entwicklungen des Bündnisvertrages von der förmlich-legislativen Mitwirkung des Parlaments nach Art. 59 II GG „abgekoppelt", so sollen Legitimationsdefizite bei der Vertragsgewalt durch eine stärkere Beteiligung des Parlaments an der Entscheidung über Krieg und Frieden kompensiert werden. Als Kompensation für die typischerweise geringe Bestimmtheit der Vertragsgrundlagen von Sicherheitssystemen i. S. d. Art. 24 Abs. 2 GG steht die Entscheidungszuständigkeit des Parlaments über den Streitkräfteeinsatz (Parlamentsvorbehalt) auf einer funktionalen Stufe mit dem parlamentarischen Budgetrecht oder den allgemeinen parlamentarischen Kontrollmechanismen. Vor dem Hintergrund der durch das BVerfG vorgeprägten Kompetenzverteilung zwischen Exekutive und Legislative im Bereich der militärischen Einsatzgewalt sowie mit Blick auf die verfassungsgerichtlichen Begründungsansätze entfaltet der Parlamentsvorbehalt indes kaum mehr Legitimation im funktionell-institutionellen Sinne, sondern er13 Schmidt-Radefeldt

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1. Teil: Parlamentarische Legitimations Vermittlung im Integrationsprozess

scheint vielmehr als Instrument einer allgemeinen parlamentarischen Streitkräftekontrolle. Als Kontrollinstrument vermag der konstitutive Parlamentsvorbehalt zwar militärische Einsatzentscheidungen punktuell zu legitimieren, kann jedoch längerfristige militärstrategische (Vertrags-)Entwicklungen nur bedingt mitsteuern. Das liegt daran, dass der Parlamentsvorbehalt - ähnlich wie das Zustimmungsgesetz zu bündnispolitischen Verträgen - lediglich eine Ermächtigung der Exekutive beinhaltet, während alle künftigen, über den Zustimmungsakt hinausgehenden Entwicklungen des Streitkräfteeinsatzes parlamentarisch nur begrenzt steuerbar bleiben. Zum Ausgleich ließe sich auf informelle Kooperationsansätze zurückgreifen, welche die Kompetenzen zwischen Parlament und Regierung im Sinne eines Interorganrespekts zwar praxistauglich abgrenzen; solche „Absprachen" laufen indes in der Tendenz auf eine ähnliche „Entformalisierung" der parlamentarischen Mitwirkung im auswärtigen Bereich hinaus, die sich auch bei der Vertragsgewalt unterhalb der förmlichen Vertragsänderung beobachten lässt. Die Effizienz parlamentarischer Mitwirkungsmöglichkeiten an der Entscheidung über den Streitkräfteeinsatz hängt entscheidend von der nationalen Rückbindung integrierter Streitkräfte ab. In rechtlicher Hinsicht bestehen derzeit keine Integrationsautomatismen, welche die souveräne nationale Entscheidung über die Teilnahme deutscher Soldaten an Auslandseinsätzen mediatisieren bzw. internationalisieren würden. Gleichwohl bestehen insbesondere bei hochintegrierten schnellen Einsatzverbänden faktische Integrationszwänge und bündnispolitische Rücksichtnahmepflichten, die den parlamentarischen Einfluss nicht nur während der laufenden Einsatzphase, sondern bereits in der Entscheidungsphase zunehmend verengen. Gleiches gilt für den Bereich der Vertragsgewalt: Verlangen die „besonderen Erfordernisse eines kollektiven Sicherheitssystems" nach Auffassung des BVerfG eine zurückhaltende Auslegung der Mitwirkungsbefugnisse des Parlaments nach Art. 59 I I GG, 4 4 0 so beschneidet die in der Verfassungsrechtsprechung besonders betonte „Wehr- und Bündnisfähigkeit" Deutschlands die parlamentarische Beteiligung beim Streitkräfteeinsatz. Solche Argumentationsfiguren können leicht zum „Dauereinwand" der Regierung werden und das (vom BVerfG vorgegebene) Regel-Ausnahme-Verhältnis von konstitutivem Parlamentsvorbehalt und exekutiver Notkompetenz praktisch umkehren. Sowohl im Rahmen der parlamentarischen Vertragsgewalt als auch beim Parlamentsvorbehalt für Auslandseinsätze verschiebt sich di e funktionale Kompetenzverteilung im Zuge der militärischen Integration (wieder) zugunsten der Exekutive. Die sowohl innen- als auch außenpolitisch vertrauensbegründende Mitentscheidungsbefugnis des Deutschen Bundestages im Bereich der auswärtigen Gewalt zwingt daher zu kompetenziellen Fein- bzw. Nachjustierungen im Spannungsfeld zwischen der Wehr- und Bündnisfähigkeit auf der einen und dem Bedürfnis nach demokratischer Legitimation auf der anderen Seite. Dabei werden sich weite Teile des eil- und geheimhaltungsbedürftigen Einsatzspektrums nur noch in abgestufter 440 BVerfG, DVB1.2002,119; Beschluss 2 BvQ 18/03 vom 25. 3. 2003.

3. Kap.: Demokratische Legitimation der auswärtigen Vertragsgewalt

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Form legitimieren lassen. Führen integrationspolitische Zwänge fast unvermeidlich zur Dominanz der Exekutive, muss der funktionell-institutionelle Legitimationsverlust durch ergänzende parlamentarische Kontrollmechanismen demokratisch „abgefedert" und flankiert werden. Diesen Mechanismen widmet sich das folgende Kapitel.

4. Kapitel

Parlamentarische Streitkräftekontrolle durch spezifische Instrumente der Wehrverfassung Nach dem Bestreben der Wehrverfassung des Grundgesetzes soll der mit der militärischen Befehls- und Kommandogewalt verbundene exekutive Machtzuwachs durch eine spezifische, über die parlamentarische Verantwortlichkeit des Ministers hinausgehende Verstärkung der parlamentarischen Kontrolle ausgeglichen werden. Dieses Bestreben beruht letztlich auf der von den Vätern des Grundgesetzes angestrebten Idee des gewaltengeteilten Staates, wonach jeder Verstärkung auf der einen Seite ein ausgleichendes Gewicht auf der anderen Seite gegenübergestellt werden muss.1 Als Ergänzung zur personellen Legitimation (der militärischen Befehlsgewalt) bzw. zur funktionellen Legitimation (der parlamentarischen Vertrags- bzw. Einsatzgewalt) sollen die spezifischen wehrverfassungsrechtlichen Instrumente der Streitkräftekontrolle eine sachlich-inhaltliche Legitimation vermitteln. Die durch die Wehrverfassung des Grundgesetzes etablierten parlamentarischen Kontrollinstrumente greifen dabei auf unterschiedliche Traditionen zurück: Der auf nordamerikanischem Vorbild 2 beruhende Verteidigungsausschuss (Art. 45a GG) fungiert als „Repräsentant des Bundestages";3 der auf das schwedische Vorbild des Militie-Ombudsmann 4 zurückgehende Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages wird als „Hilfsorgan des Bundestages" (Art. 45b GG) tätig und die auf preußische Verfassungstraditionen zurückgehende parlamentarische Kontrolle des Wehretats (Art. 87a Abs. 1 GG) 5 entspricht schließlich der traditionellen Rolle des Parlaments als „Herrn des Budgets".6 Im Folgenden geklärt soll werden, inwieweit sich die spezifischen wehrverfassungsrechtlichen Instrumente der Streitkräftekontrolle im Zuge des internationalen militärischen Integrationsprozesses bewähren und dabei die ihnen zugedachte ergänzende demokratische Legitimation vermitteln können. Angesichts der Komplexität des Integrationsprozesses wachsen Rolle und Bedeutung von parlamentarischen Ausschüssen - darunter vor allem des Verteidi» Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, S. 192 f.; Hahnenfeld, NJW 1963, S. 2145. 2 So Hahnenfeld, NJW 1963, S. 2150; Dürig, M / D , Art. 45a, RdNr. 8. 3 Dürig, M / D , Art. 45a, RdNr. 9; Achterberg/Schulte, M / K / S , GG, Art. 45a, RdNr. 24. 4 Dazu näher Klein, M / D (Zweitbearb.), Art. 45b, RdNr. 6; spezielle Nachweise zum skandinavischen Recht bei Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, S, 178, Anm. 24. 5 Vgl. Art. 12 der RV von 1849; Art. 71 der RV von 1871. 6 BVerfGE 45, 1 (34).

4. Kap.: Parlamentarische Streitkräftekontrolle durch spezifische Instrumente

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gungsausschusses des Deutschen Bundestages (Art. 45 a GG) - bei der Informationsbeschaffung und parlamentarischen Kontrolle des Verteidigungsressorts. 7 Bei den Vorarbeiten zum Parlamentsbeteiligungsgesetz ist auch über die Einrichtung eines speziellen (Einsatz-Ausschusses 8 diskutiert worden, der aus verfahrensökonomischen Gründen Auslandseinsätze der Bundeswehr anstelle des Plenums beschließen soll. In diesem Zusammenhang gilt es, Möglichkeiten und Grenzen der Delegation von Befugnissen auf parlamentarische Gremien und Ausschüsse aufzuzeigen (I.). Zu den historisch tradierten parlamentarischen Kernbeständen gehört die Haushaltskompetenz. Art. 87a Abs. 1 S. 2 GG sieht neben dem Budgetrecht im militärischen Bereich auch eine parlamentarische Organisationsverantwortlichkeit für die Grundstruktur der Streitkräfte vor, die insoweit steuernde Wirkung entfaltet und zur parlamentarischen Vertragsgewalt aus Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG ergänzend hinzutritt (II.). Schließlich unterstützt der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages das Parlament bei der Kontrolle der Streitkräfte, wobei sich in multinational durchmischten Verbänden die Frage nach der Effektivität seiner Kontrolle stellt (III.).

I. Parlamentarische Ausschüsse 1. Verteidigungsausschuss Die intensivste Form der parlamentarischen Streitkräftekontrolle wird durch parlamentarische Ausschüsse wahrgenommen. Die Komplexität und Internationalisierung verteidigungspolitischer Sachmaterien erfordern auf parlamentarischer Seite - gewissermaßen als Gegengewicht zu einer strukturell „überlegenen" Ministerialbürokratie - ein hohes Maß an sachlicher Kompetenz und entsprechender institutioneller Ausstattung, die nur durch Ausschüsse gewährleistet werden kann.9 In 7

Meyring, Die Entwicklung, S. 441 f. Vgl. Antrag der FDP-Bundestagsfraktion BT-Drs. 15/36, Ziff. 5 zu einem „Entsendeausschuss"; Abg. Bartels (SPD) schlägt einen „Vorbereitungsausschuss" vor; Dreist, NZWehrR 2002, 151 erwägt einen „Einsatzausschuss"; vgl. dazu auch Burkiczak, ZRP 2003, S. 85; Wiefelspütz, Jura 2004, S. 296 f. 9 Eine vergleichende Übersicht über Zusammensetzung, Kompetenzen, Verfahrensregelungen und Ausstattung von (Verteidigungs-)Ausschüssen verschiedener europäischer Parlamente findet sich bei Beckedorf, Das Untersuchungsrecht, S. 33-120 sowie Born/ Urscheler, Democratic Accountability, in: Born/Hänggi (Hrsg.), 2004, S. 67 ff. Die Größe der Verteidigungsausschüsse europäischer Parlamente variiert demzufolge zwischen 10 (Norwegen) und 72 Mitgliedern (Frankreich) [zum Vergleich Deutschland: derzeit 30]. Die Kompetenzen der Ausschüsse erstreckten sich von bloßen Frage- und Zitierrechten (gegenüber dem Minister und hohen Militärs) über das Recht auf Akteneinsicht bis hin zur vollumfänglichen Gleichstellung mit einem Untersuchungsausschuss (z. B. Art. 45a Abs. 2 GG). Kompetenzmäßig schwach ausgestaltete Verteidigungsausschüsse finden sich in Polen, der Türkei 8

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1. Teil: Parlamentarische Legitimations Vermittlung im Integrationsprozess

diesem Sinne formulierte bereits der Schlussbericht der Enquête-Kommission „Verfassungsreform": „ D i e für eine verantwortliche Gestaltung und zur Aufrechterhaltung einer tatsächlichen parlamentarischen Kontrolle erforderliche Arbeit kann nicht allein durch die an die Öffentlichkeit gerichtete Debatte i m Plenum, sondern muss durch die fachmännische Durchprüfung in den Ausschüssen geleistet werden." 1 0 In vielen Parlamenten Europas wurden Ausschüsse nur auf Grundlage einfachgesetzlicher Bestimmungen oder parlamentarischer Geschäftsordnungen etabliert, 1 1 während der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages gem. Art. 45a GG nicht nur verfassungsrechtlich obligatorisch (Pflichtausschuss), sondern zudem auch permanent eingerichtet wurde. Er kann also auch zwischen den Wahlperioden, d. h. nach einer Bundestagswahl, aber vor der Konstituierung des neuen Bundestages arbeiten, während die Existenz parlamentarischer Ausschüsse grundsätzlich mit dem Ablauf der Legislaturperiode beendet i s t . 1 2 Die Gewährleistung kontinuierlicher Ausschusstätigkeit ohne Untersuchungspausen zwischen den Wahlperioden stellt sicher, dass sämtliche Vorgänge des Verteidigungswesens jederzeit vom Verteidigungsausschuss untersucht werden können. 1 3 Bereits seit der Frankfurter Paulskirchenverfassung existierte das Recht der Volksvertretung zur Einsetzung von Untersuchungskommissionen;14 ein wirksames Enquête-Recht im militärischen Bereich bildete sich jedoch nicht heraus. 15 Im Kaiserreich konnte sich die Wehrordnung von der bürgerlichen Verfassung zunehmend abspalten. In der Weimarer Zeit wurde auf der Grundlage von Art. 35 WRV ein Auswärtiger Ausschuss im Reichstag eingerichtet und die Ausschusstätigkeit des Parlaments verstärkt. Bemühungen um eine parlamentarische Kontrolle der Reichswehr wurden jedoch durch die Inkohärenz militärischer Kompetenzen auf der exekutiven Seite konterkariert. Die Zersplitterung von Zuständigkeiten verstärkte sich auf parlamentarischer Seite dadurch, dass die mit der Reichswehr zusammenhängenden Fragen nicht in einem Ausschuss gebündelt, sondern auf den Haushaltsausschuss, den Auswärtigen Ausschuss und verschiedene Spezialkommissionen verteilt wurden. 16 Parlamentarischer „Vorgänger" des 1956 geschaffenen Verteidigungsaus-

und Luxemburg, wohingegen der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages als einflussreich gilt. 10 BT-Drs. 7/5924, S. 83. Nach Auffassung des BVerfG vollzieht sich in den Ausschüssen „ein wesentlicher Teil des Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses des Bundestages" (BVerfGE 44, 308 [318]). 11 Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 45a, RdNr. 2; so ζ. B. in Belgien, Tschechien, Luxemburg, den Niederlanden, Großbritannien. In den skandinavischen Verfassungen finden Auswärtige Ausschüsse z.T. verfassungsrechtliche Anhaltspunkte (z. B. Art. 35 finn. Verf.; Kap. X § 7 schwed. Verf.), vgl. umfassend Berg, BK, Art. 45a a.E. mit rechtsvergleichenden Hinweisen. 12 Hahnenfeld, NJW 1963, S. 2146. 13 BVerfGE 90, 286 (385); Hervorhebungen nicht im Original. 14 Vgl. § 99 der Verfassung von 1849; Art. 82 der preuß. Verfassung von 1850. 15 Berg, Der Verteidigungsausschuß, S. 23 f.; ders., BK, Art. 45a, RdNr. 70. 16

Berg, Der Verteidigungsausschuß, S. 26.

4. Kap.: Parlamentarische Streitkräftekontrolle durch spezifische Instrumente

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schusses des Deutschen Bundestages 17 war der seit 1952 eingerichtete Sonderausschuss zur Mitberatung des EVG-Vertrages und der damit zusammenhängenden Fragen. 18 Einmal mehr wird deutlich, dass Parlamentarisierung und Internationalisierung der Bundeswehr von Anbeginn aufs engste miteinander verbunden waren.

Der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages ist nach einhelliger Auffassung nicht nur zur Kontrolle der Streitkräfte, sondern der gesamten militärischen Verteidigung berufen. 19 In dieser Funktion befasst er sich mit allen sicherheitspolitisch relevanten Fragen einschließlich den internationalen Entwicklungen - also Fragen der Bündnispolitik, der NATO-Strategie, der europäischen Sicherheitsarchitektur oder der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten in die NATO. 20 Die internationale Einbindung deutscher Streitkräfte berührt daher nicht die institutionelle Stellung, wohl aber die Aufgabenbereiche des Verteidigungsausschusses.21

2. Delegation parlamentarischer Befugnisse des Plenums auf Bundestagsausschüsse Die parlamentarischen Ausschüsse - insbesondere der Verteidigungsausschuss haben sich in der Praxis schon seit langem von der ihnen zugewiesenen Rolle als „Hilfsorgane des Bundestages"22 emanzipiert. Sie pflegen nahezu plenumsunabhängige Kontakte (sog. „Fachbruderschaften") 23 zu den korrespondierenden Ministerien und treten im Außenverhältnis als weitgehend selbständige Kontrolleure und „Repräsentanten" des Parlaments auf. 24 Autonome Kompetenzen genießt etwa der Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss mit einem verfas17 Vgl. das 7. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 19. 3. 1956 (BGBl. I, S. 111). is Dürig/Klein, M / D , Art. 45a, RdNr. 9; Berg, BK, Entstehungsgeschichte zu Art. 45a. 19 Vgl. Kirchhof, HBdStR Bd. ΙΠ, § 78, RdNr. 18; Achterberg/Schulte, M / K S , Art. 45a, RdNr. 20; Klein, M / D , Art. 45a, RdNr. 21; Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 45a, RdNr. 3; Hernekamp, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 45a, RdNr. 6; kritisch zum Zuständigkeitsbereich Spranger, Wehrverfassung, S. 34 ff. 20 Achterberg/Schulte, M / K / S , Art. 45a, RdNr. 20; Dürig/Klein, M / D , GG. Art. 45a, RdNr. 22; zur älteren international orientierten Themenpraxis auch Berg, BK, Art. 45a, RdNr. 130. 21 Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 45a, RdNr. 2. 22 Gem. § 62 I GeschO-BTag „vorbereitendes Beschlussorgan"; vgl. auch Dürig/Klein, MD, Art. 45a, RdNr. 9; Achterberg/Schulte, M / K / S , GG, Art. 45a, RdNr. 24. 23 Berg, BK, Art. 43a, RdNr. 45, 51 ff. So ziehen Fachausschüsse die entsprechenden Regierungsvertreter zu ihren Beratungen hinzu; umgekehrt informieren Minister von sich aus „ihre" korrespondierenden Parlamentsausschüsse über die laufenden Arbeiten des Ministeriums und sichern sich bei politisch exponierten Vorhaben möglichst frühzeitig bei den Abgeordneten ab (vgl. zur Praxis Dach, Ausschussverfahren, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht, § 40, RdNr. 32 ff.; Zeh, HBdStR Bd. II, § 43, RdNr. 59). 24 Dementsprechend hat das BVerwG (1. Wehrdienstsenat, ZBR 1981, S. 107) den Verteidigungsausschuss als das für den Bereich der Streitkräfte zuständige Kontrollorgan der Legislative angesehen.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimations Vermittlung im Integrationsprozess

sungsrechtlich abgesicherten Monopol des Enquêterechts in Verteidigungsangelegenheiten (Art. 45a Abs. 2 GG). 25 Der Grund für diese Eigenständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber dem Plenum liegt in der häufigen Befassung mit vertraulichen und geheimen Angelegenheiten, die nicht für eine Behandlung im Plenum geeignet sind, 26 wohingegen ein Ausschuss in nicht-öffentlicher Sitzung beraten und seine Mitglieder der Geheimhaltung unterwerfen kann. 27 Die strukturelle Überlegenheit der Ausschüsse ermöglicht in der Tat eine „nicht nur nachlaufende, sondern begleitende und mitsteuernde parlamentarische Kontrolle der Ministerien"; 28 führt jedoch unweigerlich zur Verlagerung der parlamentarischen Kontrolle auf die Parlamentsausschüsse. Der im Schrifttum vielfach beklagte Bedeutungsverlust des Bundestagsp/em/ms· als der eigentlichen parlamentarischen Kontrollinstanz 29 wird dadurch noch verstärkt, dass die Bundesregierung die Ausschüsse in besonderem Maße mit Informationen versorgt, die ζ. B. aus Geheimhaltungsgründen dem Plenum vorenthalten bleiben müssen.30 Dem Bundestag selbst bleibt in der Praxis regelmäßig nichts anderes übrig, als sich den (mit der Ministerialbürokratie abgestimmten) Beschlussempfehlungen der Ausschüsse anzuschließen.31 Die Auseinandersetzung zwischen Parlament und Regierung entfällt dadurch nicht ersatzlos, findet jedoch vielfach in informellen Verfahren und Gremien statt.32 Diese Entwicklung ist nicht neu. An Brisanz gewinnt sie jedoch, sobald es aus verfahrensökonomischen Gesichtspunkten um eine Delegation von Entscheidungskompetenzen des Plenums auf Ausschüsse geht, die dann stellvertretend für das gesamte Plenum verbindlich und konstitutiv entscheiden könnten. Soll ein Bundestagsausschuss (in Betracht käme der Auswärtige Ausschuss, der Verteidigungsausschuss oder ein neu einzurichtender „Einsatzausschuss") Aufgaben im Zusammenhang mit der konstitutiven Beteiligung des Bundestages an der Entsendung bewaffneter Streitkräfte wahrnehmen, muss - abgesehen von der Formenwahl 33 - geklärt werden, ob und inwieweit die bislang vom Plenum wahrgenom25 Oldiges, Wehrrecht, § 23, RdNr. 52. Ob der Verteidigungsausschuss eine Angelegenheit zum Gegenstand einer Untersuchung machen will, unterliegt deshalb ausschließlich seiner Eigeninitiative und kann nicht durch das Bundestagsplenum determiniert werden. 26 Hahnenfeld, NJW 1963, S. 2146; Dürig/Klein, M / D , Art. 45a, RdNr. 39; Oldiges, Wehrrecht, § 23, RdNr. 52. 27 Vgl. § 69 GeschO-BTag; Hernekamp, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 45a, RdNr. 10. 28 Zeh, Das Ausschusssystem im Bundestag, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht, § 39, Rdnr. 11.

29 Kasten, DÖV 1985, S. 222; Nachweise auch bei Berg, BK, Art. 45a, RdNr. 54. In der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie beziehen sich die Kompetenzzuweisungen grundsätzlich auf das Parlament als Ganzes im Sinne der Gesamtheit seiner Mitglieder (Plenum). Nur das Plenum übt als „besonderes Organ" (Art. 20 I I GG) die vom Volk ausgehende Staatsgewalt aus. 30 Hingegen sieht § 69 GO-BTag die NichtÖffentlichkeit von Ausschusssitzungen vor. 31 Berg, der Verteidigungsausschuss, S. 72 m. w. N.; vgl. auch BVerfGE 44, 308 (318). 32 Dazu eingehend Berg, BK, Art. 45a, RdNr. 23.

4. Kap.: Parlamentarische Streitkräftekontrolle durch spezifische Instrumente

201

mene konstitutive Zustimmung zu Auslandseinsätzen auf einen Ausschuss delegiert werden darf.

a) Staatspraxis Die Staatspraxis des Bundestages kennt mehrere Fälle, in denen verfassungsrechtlich begründete Plenarzuständigkeiten nicht nur zur vorbereitenden Beschlussempfehlung für das Plenum (§ 62 I S. 2 GOBTag), sondern zur verbindlichen Entscheidungen auf Ausschüsse des Bundestages übertragen wurden. 34 Dazu zählt etwa die Einrichtung eines Richterwahlausschusses (Art. 94 I S. 2 GG i.V.m. § 6 II BVerfGG), die Entscheidungskompetenz des Haushaltsausschusses bei der EntSperrung der im Haushaltsgesetz eingesetzten Haushaltsmittel35 oder die Wahrnehmung der Rechte des Bundestages gegenüber der Bundesregierung durch den Ausschuss für die Angelegenheiten der EU. 3 6

b) Prozedurale Anforderungen Da die Legitimität parlamentarischer Entscheidungen nicht nur durch das Entscheidungsergebnis, sondern in nicht unerheblichem Maße auch durch das Entscheidungsverfahren vermittelt wird, kann eine Auslagerung parlamentarischer Kontroll- und Steuerungsprozesse nicht unbegrenzt zulässig sein. 37 Die Aufteilung von Aufgaben zwischen Ausschüssen und Parlament ist daher nicht allein „eine Frage der Arbeitstechnik". 38 Dies gilt insbesondere für parlamentarische Entscheidungsprozesse, die ein Spektrum von Argumenten widerspiegeln sollen, welches nur in der politischen Heterogenität des Parlaments/?/enwms seine Entsprechung findet. Demgegenüber bildet der Parlamentsausschuss - obgleich er von seiner Zusammensetzung her als verkleinertes „Abbild" des Plenums39 erscheint - die 33

Zur Frage, ob für die Einsetzung eines solchen Ausschusses eine geschäftsordnungsrechtliche, gesetzliche oder gar verfassungsrechtliche Regelung (nach dem Vorbild von Art. 45 GG) erforderlich ist, vgl. Wiefelspütz, Der Einsatz, S. 80 ff.; ders., Jura 2004, S. 295 f.; Achterberg/Schulte, in: M / K / S , Art. 40, RdNr. 39; Pieroth, in: Jarass/ Pie roth, GG, Art. 40, RdNr. 4; Stern, Staatsrecht Bd. II, S. 84; Klein, in: M / D , GG, Art. 40, RdNr. 77 ff.; Kretschmer, ZParlR 1986, S. 224 (337 ff.); Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 40, RdNr. 22. 34

Vgl. dazu allgemein Dach, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht, § 40, Rz. 32 ff. Berg, Der Staat 1970, S. 21 (39 ff.); Kunz, Die Delegation von Ausgabenermächtigungen durch das Bundestagsplenum auf den Haushaltsausschuss, Diss., Frankfurt 1976, zitiert bei Wiefelspütz, Jura 2004, S. 294, Anm. 34. 3 6 Dazu Ipsen, Staatsrecht, RdNr. 263. 35

3

? Krebs, Kontrolle, S. 169; Scheuner, Kontrolle, S. 62. « So jedoch Friesenhahn, VVDStRL 1958, S. 32.

3

39

In den Verteidigungsausschuss werden vom Plenum des Bundestages Abgeordnete aller Fraktionen im Verhältnis ihrer Stärke entsandt (vgl. § 12 GeschO-BTag).

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

politische Interessenstruktur des Parlaments stets nur „verzerrt" ab, so dass er kein vollwertiges Äquivalent zur Parlamentsentscheidung im Plenum darstellt. 40 Überdies setzt die für den demokratischen Willensbildungsprozess unverzichtbare parlamentarische „Integrationsfunktion" (Eichenberger) 41 notwendigerweise eine Öffentlichkeit voraus, die in Ausschüssen regelmäßig gerade nicht gewährleistet ist. In der älteren Staatslehre wurde daher überwiegend die Auffassung vertreten, eine Delegation der Befugnisse des Plenums auf Ausschüsse sei unzulässig.42 Die Bedeutung des Begriffes der parlamentarischen Repräsentation sei nämlich erst in der Repräsentation der Allgemeinheit des Volkes durch das Parlament als einheitliches Ganzes ausgeschöpft. Zumindest aber dürfe der Bundestag seine (staatsleitenden) Kompetenzen nur aufgrund einer verfassungsrechtlichen Ermächtigung auf Ausschüsse übertragen. 43 Vor dem Hintergrund einer jahrzehntelangen vom BVerfG nicht beanstandeten44 Staatspraxis wird aber inzwischen überwiegend die Auffassung vertreten, das Grundgesetz erlaube oder verbiete nicht grundsätzlich eine Delegation auf Ausschüsse. Vielmehr sei durch Auslegung der kompetenzrechtlichen Norm zu ermitteln, ob und unter welchen Voraussetzungen (Stichwort: Funktionsgerechtigkeit) eine Delegation zulässig sei. Erforderlich sei, dass ein dem Plenarverfahren möglichst ähnelndes Verfahren garantiert werde und sich die Entscheidungskompetenzen eines Ausschusses den des Plenums als überlegen erwiesen, ohne dabei die parlamentarische Repräsentanz wesentlich zu verkürzen. 45 In diesem Sinne hat es das BVerfG nicht für ausreichend erachtet, dass die endgültige Beschlussfassung über ein parlamentarisches Vorhaben dem Plenum vorbehalten bleibt, sondern hat darüber hinaus gefordert, dass die Mitwirkung der Abgeordneten bei der Vorbereitung der Parlamentsbeschlüsse außerhalb des Plenums ihrer Art und ihrem Gewicht nach der Mitwirkung im Plenum im wesentlichen gleich zu erachten ist und der parlamentarische Entscheidungsprozess institutionell in den Bereich des Parlaments eingefügt bleibt. 46 Das BVerfG gewährt dem Parlament im Rahmen seiner 40 Berg, in: Der Staat 1970, S. 27 f. 41 Eichenberger, in: Der Staat der Gegenwart, S. 421: zitiert bei Krebs, Kontrolle, S. 138, Anm. 120. Danach ist die parlamentarische Kontrolle mit der zu ihr gehörenden Öffentlichkeit der Diskussion eine notwendige Voraussetzung der Demokratie, weil nur durch sie das Bewusstsein vermittelt werde, dass die politischen Entscheidungen in einem Prozess des rationalen Abwägens und des sich Verantwortens geformt und verwirklicht werden. 4 2 Vgl. ζ. B. Bluntschli, Allgemeines Statsrecht, Bd. I, 4. Aufl. 1868, S. 484 ff.; Triepel, Delegation und Macht im öffentlichen Recht (1942), S. 23, 115 ff.; Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), S. 316 f.; Kreutzer, Der Staat 1968, S. 183 (187 f.); zitiert bei Wiefelspütz, Jura 2004, S. 294, Anm. 42. 43 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 40, RdNr. 4. 44 45

Vgl. ζ. B. BVerfGE 40, 356 (362 ff.); 70, 324 (364).

Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, S. 156; ders., Parlamentsrecht, S. 681; Wiefelspütz, Jura 2004, S. 295; Kretschmer, Geschäftsordnungen, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht, § 9, RdNr. 106 46 BVerfGE 44, 308 (317).

4. Kap.: Parlamentarische Streitkräftekontrolle durch spezifische Instrumente

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Selbstverwaltung (Art. 40 I GG) einen relativ großen Gestaltungsspielraum, um das Spannungsfeld zwischen demokratischer Legitimation und der Wahrung ζ. B. von staatlichen Geheimschutzbelangen verfahrenstechnisch aufzulösen. 47 Das Gericht akzeptiert sogar, wenn die vom Gesetzgeber getroffenen Vorkehrungen erhebliche Beschränkungen des Zugangs der Abgeordneten zu diesen Informationen nach sich ziehen. Um einer Schwächung der parlamentarischen Kontrollkompetenzen durch den Bundestag als ganzem vorzubeugen, bedarf es überdies geeigneter prozeduraler Rückkopplungsmechanismen, die das Plenum an der Kontrolltätigkeit des Ausschusses teilhaben und die Letztverantwortung des Plenums deutlich werden lassen. In diesem Sinne besteht nach überwiegender Auffassung eine Berichtspflicht des Ausschusses über das Ergebnis seiner Untersuchungen.48 c) Materielle Grenzen Das Grundgesetz hat keinen Katalog aller auf Ausschüsse übertragbaren Aufgaben aufgestellt. Was über die ausdrücklich zugelassenen Kompetenzübertragungen (Art. 45a Abs. 2, Art. 43 Abs. 1 GG) hinaus (noch) verfassungsgemäß ist, lässt sich dem Grundgesetz ebenso wenig entnehmen wie eine abschließende Regelung von ÜbertragungsverZwten, die über die eindeutigen Fälle hinausgehen 4 9 Die im Grundgesetz geregelte funktionale Aufgabenverteilung innerhalb des Verfassungsorgans „Bundestag" erwartet offenbar um so dringlicher die Wahrnehmung einer Aufgabe durch das Plenum, je wichtiger die parlamentarische Kompetenz erscheint und je weiter sich deren Erfüllung nach außen hin auswirkt". 50 Entsprechend dem politischen Gewicht könne das Parlament den Ausschüssen das Recht einräumen, (lediglich) vorbereitende Beschlüsse, Entscheidungen unter Vorbehalt oder gar entgültige Entscheidungen mit Außen Wirkung zu treffen. 51 Eine solche funktionale Aufteilung greift zurück auf die durch das BVerfG entwickelte Wesentlichkeitstheorie. 52 Die zur Konkretisierung des Begriffs der „Wesentlichkeit" 47 BVerfGE 70, 324 (358 ff.) - „Haushaltsmittel für Geheimdienste". Das Gericht akzeptierte dabei die vom Gesetzgeber gewählte Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen Geheimhaltung und Transparenz - nämlich die Bildung eines kleinen parlamentarischen Gremiums, dessen Zusammensetzung durch Persönlichkeitswahl bestimmt wurde und gleichzeitig auch die Opposition nicht überging. 48 Dürig/Klein, M / D , GG, Art. 43a, RdNr. 43 (anders noch Dürig in der Voraufl., RdNr. 10); Achterberg/Schulte, M / K / S , Art. 43a, RdNr. 42; Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 43a, RdNr. 8; Berg, BK, Art. 45a, RdNr. 247 f.; Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, S. 177; Berg, Der Verteidigungsausschuß, S. 245; a.A. Hahnenfeld, NJW 1963, S. 2146; Hernekamp, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 45a, RdNr. 10; Oldiges, Wehrrecht, a.a.O, § 23, RdNr. 52, jeweils m. w. N. 49 Kanzlerwahl (Art. 63 GG), Misstrauensvotum (Art. 67 GG), Vertrauensfrage (Art. 68 GG) oder Feststellung des Verteidigungsfalles (Art. 115a I GG). so So Berg, BK, Art. 45a, RdNr. 61; zustimmend Kasten, DÖV 1985, S. 225; Wiefelspütz, Der Einsatz, S. 75. 5i Wiefelspütz,

Jura 2004, S. 295 m. w. N.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

herangezogenen Maßstäbe entfalten dabei nicht nur im Verhältnis zwischen Gesetzes· und Verordnungsgeber, sondern auch bei der funktionalen Aufteilung zwischen Plenum und Ausschuss Relevanz. Weiten Teilen der Literatur zufolge korreliere der Gesetzesvorbehalt bei Grundrechtseingriffen mit einem Plenarvorbehalt in Gestalt eines Delegationsverbotes für alle wesentlichen/staatsleitenden Entscheidungen des Bundestages, von dem nur aufgrund ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Ermächtigung abgewichen werden dürfe. 53 3. Entsendeausschuss und konstitutiver Parlamentsvorbehalt Sieht man in der Wesentlichkeitstheorie den entscheidenden Anknüpfungspunkt zur Begrenzung der innerparlamentarischen Delegationsbefugnisse, so ergibt sich - abgesehen von informationellen Kontrollaufgaben - insgesamt ein begrenztes Feld für legitimationsstiftende Tätigkeiten eines Entsendeausschusses: Mit Blick auf die vom BVerfG intendierte Steigerung des Legitimationsgehaltes von Einsatzentscheidungen unterliegen Streitkräfteoperationen von größerem Umfang und hohem Gefahrenpotential einem Plenarvorbehalt, weil es dabei um eine politische Risiko- und Kostenabwägung geht, die nur vom Plenum wahrgenommen werden kann. Bedenklich wäre es aber auch, einen Ausschuss mit der Beschlussfassung über die Verlängerung einer Operation zu befassen, der das Plenum bereits „konstitutiv" zugestimmt hat: Da die Fortführung einer Operation nicht nur finanzielle Folgen nach sich zieht, sondern immer auch eine politische Bewertung von Veränderungen des Einsatzes voraussetzt, sollte allein das Plenum entscheiden.54 Anders hingegen sieht es bei gefahrlosen Entsendungen kleineren Umfangs aus, die durch die Zustimmung eines Parlamentsausschusses - wenn eine parlamentarische Befassung denn überhaupt für notwendig erachtet wird - hinreichend legitimiert wären. 55 Im Hinblick auf Streitkräfteoperationen von Spezialkommandos (ζ. B. KSK), bei denen sich die Befassung des Plenums aus Gründen des Geheimschutzes verbietet, liegt die Einschaltung eines Ausschusses nahe, da dort die Beratungen ausnahmslos nicht-öffentlich und die Ausschussmitglieder zu entsprechender Ver52 St. Rechtspr., vgl. für viele BVerfGE 33,1 (10 f.); 47, 46 (78 f.); 49, 89 (126 ff.); 57, 295 (320 f.); 58, 257 (268); 80, 137 (161); 83, 130 (142 f.). Danach verpflichten Rechtsstaatprinzip und Demokratie gebot den Gesetzgeber, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen im Wesentlichen selbst zu treffen und diese nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive zu überlassen (... ) Wie weit der Gesetzgeber die für den fraglichen Lebensbereich erforderlichen Leitlinien selbst bestimmen muss, richtet sich maßgeblich nach dessen Grundrechtsbezug (...). 53 In diesem Sinne Kasten, DÖV 1985, S. 222 ff.; Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, S. 170; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 40, RdNr. 4; ähnlich Kretschmer, Geschäftsordnungen, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht, § 9, RdNr. 106. 54 Anders dagegen Wiefelspütz, Jura 2004, S. 297 mit dem Argument, das Plenum bleibe mit seinem Rückholrecht stets „Herr des Verfahrens". 55 So auch Kreß, ZaöRV 1997, S. 358; Epping, AöR 1999, S. 457; Dreist, NZWehrR 2002, S. 144; Burkiczak, ZRP 2003, S. 85.

4. Kap.: Parlamentarische Streitkräftekontrolle durch spezifische Instrumente

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schwiegenheit verpflichtet sind. 56 Andererseits spricht gerade bei diesen oft gefahrvollen und auch politisch brisanten Antiterroreinsätzen das Wesentlichkeitsargument gegen die Befassung eines Ausschusses. Um diesem „Dilemma" zu entrinnen, ließe sich an eine nachträgliche Befassung durch das Plenum denken, solange die Regierung im Rahmen ihrer verfassungsgerichtlich zugestandenen Ausnahmekompetenz („Gefahr im Verzug") handelt. Ob sich dann Einsätze herauskristallisieren, die zwar geheim bleiben müssen, gleichzeitig aber nicht unter den Ausnahmetatbestand der Verfassungsrechtsprechung fallen, wird die Praxis erweisen. In jedem Fall muss eine begleitende parlamentarische Kontrolle gewährleisten, dass geheimhaltungsbedürftige Operationen durch qualifizierte Informationspflichten der Regierung gegenüber den zuständigen Parlamentsausschüssen flankiert werden. Mit Blick auf das verfassungsgerichtliche Diktum von der „abgestuften" parlamentarischen Beteiligung werden überdies Regelungen diskutiert, die eine (konstitutive oder vorläufige) Ausschussentscheidung, eine nachträgliche Billigung und ein Rückholrecht des Plenums (als dem eigentlichen „Herren des Verfahrens") in unterschiedlichen Zusammensetzungen kombinieren. 57 Das Ergebnis erscheint dann gewissermaßen als „Parlamentsvorbehalt à la carte" für unterschiedliche Einsatzformen, als „Patchwork" parlamentarischer Legitimationsformen, Mitwirkungsrechte und Zuständigkeiten, die eine „Zweiklassengesellschaft" von Abgeordneten im Auslandseinsatzgeschäft hervorbringen und einen Legitimationsverlust gegenüber dem „herkömmlichen" Zustimmungsverfahren nach sich ziehen.

II. Budgetäre Streitkräftekontrolle Das parlamentarische Budgetrecht über den Militäretat („power of the purse ") erscheint heute als Selbstverständlichkeit. Gleichwohl bestehen im europäischen Verfassungsvergleich qualitative Differenzen: 58 In Frankreich, Schweden, der Schweiz oder Großbritannien ist das Budgetrecht relativ begrenzt, da das Parlament nicht bis hinunter auf die untere Haushaltsebene, d. h. über Einzelzuweisungen entscheidet. Das französische Parlament kann im Falle eines Auslandseinsatzes der Armee lediglich eine nachträgliche Haushaltskontrolle ausüben. Dagegen besteht in Italien - ähnlich wie in den USA - ein traditionell weitreichender 56 Hernekamp, in: v. Münch/Kunig, GG-Kommentar, Art. 45a, Rz. 10. Grund dafür ist, dass die Bestimmung des Art. 44 I GG über Untersuchungsausschüsse keine Anwendung findet; vgl. insoweit auch die Geheimschutzordnung des Deutschen Bundestages in Anlage 3 der Geschäftsordnung. 57

So der Vorschlag von Wiefelspütz, Der Einsatz, S. 85. Fraglich bleibt, ob mit dieser Lösung nicht bereits die „Kernbestände" exekutiver Handlungsfreiheit angetastet werden. 58 Verfassungs vergleichend insoweit Nolte / Krieger, Europäische Wehrrechtssysteme, S. 67; Born, Die demokratische Rechenschaftspflicht, in: Wogau (Hrsg.), 2003, S. 246 f.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

budgetärer Einfluss des Parlaments auf die Außen- und Sicherheitspolitik, da die Regierung einen ordentlichen Gesetzentwurf zur Finanzierung von Militäroperationen vorlegen muss.59 In Deutschland unterlag der Militäretat bereits nach der preußischen Verfassung von 1849 dem Budgetrechts des Parlaments. 60 Doch schon in der Verwendung der bewilligten Mittel beanspruchte die Krone - gestützt auf das monarchische Prinzip - eine extrakonstitutionelle, d. h. von ministerieller Gegenzeichnungspflicht und parlamentarischer Verantwortung freie militärische Kommandogewalt.61 In den Jahren des preußischen Heereskonflikts gelang es der Exekutive, eine breite Armeereform mit Ausweitung des Personalumfangs ohne Etatdeckung - also eine Organisationsreform ohne Budget - durchzuführen. 62 Nach der Reichsgründung konnte sich das Haushaltsbewilligungsrecht (Art. 71 der Reichsverfassung von 1871) als Instrument parlamentarischer Streitkräftekontrolle zwar verfassungsrechtlich etablieren, war jedoch in seiner Wirkung insoweit begrenzt, als der Heeresetat nicht im jährlichen Rhythmus, sondern zunächst nur für sieben Jahre - ab 1893 für fünf Jahre - verabschiedet wurde. 63 Während der Weimarer Republik hatten Dienststellen von Heer und Marine sog. „schwarze Fonds" verwaltet, um eine von den Vorgaben des Haushaltsplans64 abweichende Aufstockung militärischer Verbände zu betreiben. 65 Die Verfassungsvorschrift des Grundgesetzes (Art. 87a Abs. 1 S. 2 GG) legt daher fest, dass sich die zahlenmäßige Stärke der Streitkräfte sowie die Grundzüge ihrer Organisation aus dem Haushaltsplan ergeben und dadurch parlamentarisch vorgezeichnet sein müssen.66 Vorrangig intendiert war damit die parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte mit Mitteln des Haushaltsplans67 - ansonsten hätte man 59 Siedschlag, Alexander, Nationale Entscheidungsprozesse, in: Reiter u. a. (Hrsg.), 2002, S. 229 m.w.N. Nur in dringenden Fällen hat die italienische Regierung die Möglichkeit, die erforderlichen Haushaltsmittel per Verordnung mit Gesetzeskraft selbst freizugeben. 60 Art. 12 der Reichsverfassung von 1849 legte fest: Die Stärke und Beschaffenheit des Reichsheeres wird durch das Gesetz über die Wehrverfassung bestimmt. 61 Oldiges, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 65a, Rdnr. 9; Ipsen, BK, Art. 115b, RdNr. 9 ff., jeweils m. w. N. 62 Vgl. zum preußischen „Heereskonflikt" der Jahre 1862-66 Hahnenfeld, NJW 1963, S. 2149; Berg, Der Verteidigungsausschuß, S. 22; ausführlich Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 749 ff. 63 Berg, Der Verteidigungsausschuß, S. 24. 64 Art. 85 WRV von 1919 bestimmte insoweit: Der Haushaltsplan wird vor Beginn des Rechnungsjahres durch ein Gesetz festgestellt. 65 Dazu Schmädeke, Militärische Kommandogewalt und parlamentarische Demokratie (1966), S. 153 ff., zitiert bei Baldus, M / K / S , GG, Art. 87a, RdNr. 18, Anm. 53. 66 Quaritsch, VVDStRL 1968, S. 247; zur Begründung des Art. 87a GG vgl. die Beiträge der MdBs Strauß und Roemer, Ausschuss für Rechtswesen und Verfassungsrecht, 2. WP, 112. Sitzung vom 22. 2. 1956, Sten.Prot. S. 9; zitiert bei Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 321, Anm. 23.

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Art. 87a I S. 1 GG der allgemeinen Budgetrechtsnorm des Art. 110 GG anfügen können, wonach alle Einnahmen und Ausgaben des Bundes, also auch die auf die Streitkräfte bezogenen Mittel, zum Zwecke der Haushaltswahrheit und -klarheit in den Haushaltsplan einzustellen sind; Art. 87a I S. 2 GG ist jedoch insoweit die speziellere Norm, welche die allgemeine Haushaltsvorschrift als Ausdruck einer vom Grundgesetz gewollten Parlamentarisierung der Militärgewalt konkretisiert, präzisiert und ergänzt. 68 Federführend bei der budgetären Streitkräftekontrolle ist der Haushaltsausschuss des Bundestages, nicht dagegen der Verteidigungsausschuss (Art. 45a GG), der in Haushaltsfragen weitgehend kompetenzlos geblieben ist. 69 Eine budgetäre Einzelfallkontrolle der Kosten von Auslandseinsätzen der Bundeswehr übt der Haushaltsausschuss des Bundestages in Zusammenhang mit dem Parlamentsvorbehalt zum Streitkräfteeinsatz aus, da der Zustimmungsantrag der Bundesregierung stets detailliert die einsatzbedingten Zusatzkosten ausweist.70 Will der Bundestag dagegen über den Einzelfall hinaus längerfristig Verantwortung für die militärischen Ausgaben und ihre Verwendung übernehmen, steht ihm als Instrument der budgetären Streitkräftekontrolle der jährliche Haushaltsplan zur Verfügung.

1. Der Haushaltsvorbehalt als parlamentarisches Steuerungsmittel der Streitkräfteorganisation Durch den Haushaltsplan, der für die Dauer eines Jahres als formelles Parlamentsgesetz verabschiedet wird (Art. 110 Abs. 2 GG), sollen Streitkräfteplanung und Personalentwicklung (Präsenzstärke) der Bundeswehr parlamentarisch vorgezeichnet werden; Änderungen in der Stärke der Streitkräfte und in den Grundzügen ihrer Organisation unterliegen einem Haushaltsvorbehalt.71 Der Haushaltsplan legt seinem Wesen nach quantitative Grenzen fest, wobei nach überwiegender Auffassung die „zahlenmäßige Stärke" nicht überschritten, wohl aber unterschritten werden darf. 72 Mehr noch als das traditionelle haushaltsrechtliche Bewilligungsrecht sichert die verfassungsrechtliche Vorgabe, dass sich (auch) „die Grundsätze der Organisation der Streitkräfte" aus dem Haushaltsplan ergeben müs67 So einhellig BVerwGE 15, 63 (65); Ipsen, BK, Art. 87a, RdNr. 20 und 22; Dürig, in: M / D , Art. 87a, RdNr. 11; Baldus, M / K / S , GG, Art. 87a, RdNr. 18; Hillgruber, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 87a, RdNr. 39. 68 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 87a, RdNr. 5; Dürig, M / D , GG, Art. 87a, RdNr. 10; Baldus, M / K / S , Art. 87a, RdNr. 19. 69 Berg, BK, Art. 45a, RdNr. 137 ff.; Achterberg/Schulte, M / K / S , Art. 45a, RdNr. 21. 70 Vgl. zur Praxis Dreist, HuV-12002, S. 10. 71 Oldiges, Wehrrecht, in: Achterberg/Püttner, Bes.VerwR. II, § 23, RdNr. 51; Hahnenfeld, NJW 1963, S. 2149. 72 BVerfGE 45, 1 (34); Ipsen, BK, Art. 87a, RdNr. 21; Dürig, M / D , GG, Art. 87a, RdNr. 13; Jarass/Pieroth, GG, Art. 87a, RdNr. 5; a.A. Hernekamp, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 87a, RdNr. 10.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

sen, dem Parlament den vom BVerfG geforderten „rechtserheblichen Einfluss auf Aufbau und Verwendung der Streitkräfte." 73 Der Haushaltsplan muss nämlich erkennen lassen, welche Organisationsstruktur die Streitkräfte aufweisen und ermöglicht dadurch eine parlamentarische Überprüfung des Aufstellungszwecks und der zulässigen Einsatzarten, 74 Überdies entfaltet der Haushaltsplan auch materielle Wirkung - und zwar für einen Sachbereich, der eigentlich außerhalb des haushaltsrechtlichen Regelungsbereiches liegt. 75 Indes entspricht gerade dieser indirekte Einfluss auf die Tätigkeit der Exekutive der verfassungspolitisch gewollten Zielsetzung des Etatbewilligungsrechts. Böckenförde - und mit ihm die wohl überwiegende Auffassung im Schrifttum - hat daraus den Schluss gezogen, dass der Verteidigungsminister bei grundlegenden Organisationsänderungen der Wehrstruktur auf die Zustimmung des Parlaments angewiesen sei, weil der Haushaltsvorbehalt jede parlamentarisch unkontrollierte Ausweitung oder Neugliederung der Streitkräfte verhindern und insoweit die Organisationsgewalt der Regierung begrenzen will. 7 6 Aussagen über die im Haushaltsplan enthaltenen Angaben zur Organisationsstruktur der Streitkräfte lassen sich nur im Hinblick auf die parlamentarische Kontrollfunktion treffen: Die Grundzüge der Organisation müssen das Parlament in die Lage versetzen, die Verteidigungsplanung nachzuvollziehen und ihm eine Anschauung von den in der Organisationsstruktur angelegten operativen Fähigkeiten der Streitkräfte zu vermitteln. 77 Zu den Grundzügen der Organisation zählt die seit den 1990er Jahren immer deutlicher hervorgetretene Aufteilung zwischen (mobilmachungsabhängigen) Verteidigungskräften und (präsenten) Krisenreaktionsstreitkräften. 78 Die politische Grundentscheidung für das Auslandsengagement der Bundeswehr, das nach den neuen verteidigungspolitischen Richtlinien des Verteidigungsministers vom 21. 5. 2003 strukturbestimmend sein soll, findet daher nicht 73 Kirchhof HBdStR Bd. II, § 78, RdNr. 16; Stern, Staatsrecht II, S. 865 f.; Hahnenfeld, NJW 1863, S. 2149; Hillgruber, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 87a, RdNr. 43. 74 Baldus, M / K / S , GG, Art. 87a, RdNr. 23. 75 Baldus, M / K / S , GG, Art. 87a, RdNr. 24; kritisch insoweit Ipsen, BK, Art. 87a, RdNr. 22. 76 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 323; ihm folgend Quaritsch, VVDStRL 1968, S. 250; v. Unruh, VVDStRL 1968, S. 182; Dürig, M / D , GG, Art. 87a, RdNr. 16; Klein (Zweitbearb.), M / D , Art. 45a, RdNr. 3; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 87a, RdNr. 6; Kirchhof, HBdStR Bd. III, § 78, RdNr. 16; Oldiges, Wehrrecht, § 26, RdNr. 51; Hillgruber, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Art. 87a, RdNr. 45. 77 Hillgruber, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 87a, RdNr. 44. 78 So Baldus, M / K / S , GG, Art, 87a, RdNr. 23; Hillgruber, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 87a, RdNr. 45; Deiseroth, ebenda, Art. 65a, RdNr. 59. Nach der neuen streitkräftegemeinsamen Struktur der Bundeswehr („Struktur 2010") wird künftig zwischen Eingreifkräften (ca. 35.000 Soldaten für begrenzte friedenserzwingende Einsätze der NRF/EU-Eingreiftruppe), Stabilisierungskräften (ca. 70.000 Soldaten für längerfristige friedenserhaltende Einsätze) und Unterstützungskräften (ca. 135.000 Soldaten) unterschieden, wobei gerade die Eingreifkräfte einheitlich von einem Divisionsstab geführt werden sollen.

4. Kap.: Parlamentarische Streitkräftekontrolle durch spezifische Instrumente

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nur in jeder Einzelfallzustimmung bei Auslandseinsätzen, sondern auch in der Billigung des Haushaltsplans ihren Ausdruck. Wo sich die aus der dynamischen Fortentwicklung des NATO-Vertrags erwachsenden Folgen für die Organisationsstruktur staatlicher Streitkräfte 79 nicht mehr durch Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG legitimieren lassen, verlagert sich die parlamentarische Mitverantwortung für die Realisierung militärstrategischer Planungskonzeptionen zunehmend in den Bereich des Haushaltsrechts. Geht es dagegen um die längerfristigen Steuerungswirkungen, so eignet sich der Haushaltsvorbehalt als Instrument zur Kompensation parlamentarischer Steuerungsdefizite im Bereich der Vertragsgewalt nur begrenzt. 80 Dementsprechend haben auch die vier abweichenden Richter im AWACS-Urteil die Möglichkeit, sicherheitspolitische Fragen auch im Rahmen der Haushaltsdiskussion erörtern zu können, nicht als Äquivalent für ein parlamentarisches Zustimmungsrecht gesehen, das der politischen Tragweite einer solchen Thematik angemessen wäre. 81 Betrachtet man in diesem Zusammenhang den „Haushaltsvorbehalt" und den vom BVerfG entwickelten konstitutiven Parlamentsvorbehalt bei Streitkräfteeinsätzen („Einsatzvorbehalt") so fallen einige grundsätzliche strukturelle Gemeinsamkeiten auf: Sichert die gesetzliche Festlegung des Verteidigungsetats dem Bundestag einen bestimmten Einfluss auf den Umfang und organisatorischen Aufbau der Streitkräfte, so sichert der Parlamentsvorbehalt den Einfluss der Legislative auf die Verwendung dieser Streitkräfte im Ausland. Sowohl der Einsatzvorbehalt als auch der organisationsbezogene Teil des Haushaltsvorbehalts brechen dadurch in den Bereich der Exekutive ein und schreiben dem Parlament Aufgaben zu, die im Sinne eines strengen Gewaltenteilungsprinzips funktionell gesehen eigentlich der Exekutive zuzuordnen wären. 82 Nach dem Willen der Verfassung gehört jedoch die Organisation der Streitkräfte ebenso wenig zum unantastbaren „Hausgut" der Exekutive wie der Einsatz der Streitkräfte; in beiden Fällen sichert ein parlamentarischer Vorbehalt die begleitende Mitverantwortung des Bundestages, die über eine bloß nachträgliche Kontrolle im engeren Sinne hinausgeht. Sowohl dem konstitutiven Parlamentsvorbehalt bei Streitkräfteeinsätzen als auch dem „Haushaltsvorbehalt" wohnt jedoch eine eher ermächtigende als steuern79

Im Rahmen des NATO-Konzepts von Washington (Teil IV, Nr. 51 ff.) wurden die Richtlinien für das Streitkräftedispositiv des Bündnisses in Hinblick auf Qualität, Quantität und Operabilität konventioneller Streitkräfte erstmals detailliert festgelegt. 80 Fastenrath, Kompetenzverteilung, S. 243; a.A. insoweit Meyring, Die Entwicklung, S. 447. Zwar erlauben Sperrvermerke nach § 22 S. 3 BHO eine finanzpolitische Steuerung auch noch während des laufenden Haushaltsjahrs; auf diese Weise lassen sich jedoch nur Fragen der Vertragsanwendung, nicht jedoch dynamische Entwicklungen steuern. si BVerfGE 90, 286 (378). 82 Das BVerfG (E 90, 286, 385) geht daher unter Berufung auf Quaritsch (VVDStRL 1968, S. 252) zutreffend davon aus, dass Art. 87a I GG für den Bereich der Streitkräfte insoweit eine Regierungsaufgabe des Parlaments begründet. 14 Schmidt-Radefeldt

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

de Wirkung inne, die der Exekutive ausgesprochen weite Handlungsspielräume eröffnet, sie aber nicht zu einem bestimmten Handeln verpflichtet. Zur Intensivierung der parlamentarischen Steuerungsfähigkeit wäre daher eine gesetzliche Regelung notwendig: Will das Parlament über die (auf Jahresfrist) beschränkte Wirkung des Haushaltsplanes hinaus wirklich maßgebend und dauerhaft die Organisation der Streitkräfte mitgestalten, muss es auf das in § 66 SG vorgesehene Organisationsgesetz zurückgreifen. 83 Quaritsch plädiert dabei für einen modellhaften Gesetzescharakter, der den Verteidigungsminister zu Spezifizierungen und Variationen ermächtigt und die Beteiligung des Bundestages entsprechend differenziert ausgestaltet.84 Die zunehmende Zahl an Auslandseinsätzen hat jedenfalls einen Zustand geschaffen, bei dem es im Ansatz nicht mehr ausreicht, wenn das Parlament seine Mitverantwortung für Aufbau und Verwendung der Streitkräfte sporadisch wahrnimmt; vielmehr sollte der Gesetzgeber den „institutionellen Gesetzesvorbehalt" 85 aufgreifen und seiner legislativen Verantwortung für die Streitkräfte gerecht werden.

2. Wahrung der budgetären Streitkräftekontrolle im internationalen militärischen Integrationsprozess Es vermag kaum zu überraschen, dass in Zeiten knapper finanzieller Ressourcen die Regierungen größten Wert darauf legen, die eigenen haushaltsrechtlichen Bestimmungen im Rahmen der internationalen militärischen Zusammenarbeit möglichst unverändert zur Anwendung zu bringen. Völkervertragliche Einschränkungen der staatlichen Finanzhoheit erscheinen bis heute ebenso wenig konsensfähig wie Übertragungen von hoheitlicher Befehlsgewalt. Zumindest wird nach rechtlichen „Behelfskonstruktionen" gesucht, um die Ausübung ausländischer Hoheits- und Finanzgewalt national einzubinden und rückzukoppeln. Völkerrechtliche Begrenzungen des parlamentarischen Budgetrechts wurden vor allem in Hinblick auf die NATO-Mitgliedschaft Deutschlands diskutiert. So wurde teilweise aus der Rüstungsklausel des Artikel 3 NATO-Vertrag 86 eine Völkerrecht-

es Dürig, M / D , GG, Art. 87a, RdNr. 18; Oldiges, Wehrrecht, § 23, RdNr. 51; zur Notwendigkeit einer solchen gesetzlichen Regelung Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 318. § 66 SG bestimmt: Die Organisation der Verteidigung, insbesondere die Spitzengliederung der Bundeswehr (...) bleiben besonderer gesetzlicher Regelung vorbehalten. Ein solches Organisationsgesetz ist - abgesehen von zwei Gesetzesentwürfen der Bundesregierung vom 26. 4. 1956 (BT-Drs. 11/2341) und vom 18. 6. 1965 (BT-Drs. IV/3603) - bislang nicht zustande gekommen. 84 Quaritsch, VVDStRL 1968, S. 250. 85 So Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 317, in Bezug auf das Organisationsgesetz nach § 66 SG. 86 Art. 3 NATO-Vertrag lautet: Um die Ziele dieses Vertrags besser zu verwirklichen, werden die Parteien einzeln und gemeinsam durch ständige und wirksame Selbsthilfe und gegen-

4. Kap.: Parlamentarische Streitkräftekontrolle durch spezifische Instrumente

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liehe Beschränkung der nationalen Verteidigungshaushalte abgeleitet.87 Da jedoch Art und Umfang der Erfüllung der Rüstungsverpflichtung - ähnlich wie die Beistandsklausel des Art. 5 NATO-Vertrag - ins finanzpolitische Ermessen der Staaten gestellt sind, ließe sich eine Verpflichtung der Staaten, die erforderlichen Finanzmittel einzuplanen und zu bewilligen, rechtlich kaum einfordern. Art. 3 NATOVertrag erscheint daher als „unvollkommene Verbindlichkeit", die keine konkreten Rechtsansprüche, sondern allenfalls eine nach Treu und Glauben zu erfüllende Pflicht begründet. 88 In der Praxis gehen die Staaten nur solche Rüstungsverpflichtungen ein, die nach autonomer Entscheidung als etatmäßig vertretbar anerkannt worden sind. 89 Budgetäre Kompetenzen der nationalen Parlamente werden durch die Finanzierung der NATO-eigenen Infrastruktur, die aus einem dafür eingerichteten NATO(Militär)Haushalt bestritten wird, nicht berührt. Die finanziellen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, die sich aus den im NATO-Rat gemeinsam festgelegten Ausgabenobergrenzen zum NATO-Haushalt ergeben, stehen unter dem Zustimmungsvorbehalt der nationalen Parlamente zu den jährlichen Haushaltsgesetzen. Die Beiträge der Bundesrepublik Deutschland zum NATO-Haushalt unterliegen damit als Teil des Bundeshaushalts auch der parlamentarischen Kontrolle des Deutschen Bundestages. Unbeschadet der Kontrolle durch die NATO-Finanzausschüsse werden alle Haushalte der NATO jährlich von einem unabhängigen internationalen Rechnungsprüfungsausschuss überprüft (International Board of Auditors for NATO).

a) Rechtsgrundlage multinationaler Haushalte Bei den europäischen Armeeverbänden gestaltet sich hingegen die parlamentarische Kontrolle der multinationalen Haushalte schwieriger. Die von den nationalen Parlamenten ratifizierten Korps-Konventionen legen fest, dass sich die Verteidigungsminister der Vertragsstaaten im Rahmen des parlamentarisch bewilligten Wehretats und nach Maßgabe der nationalen Bestimmungen über den Umfang und die Finanzierung von multinationalen Haushalten einigen. 90 Die Finanzierung solseitige Unterstützung die eigene und die gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe erhalten und fortentwickeln. 87 Dürig, M / D , Art. 87a, Rz. 20; in der Tendenz ebenso Hahnenfeld, NJW 1963, S. 2149. 88 Ipsen, JöR 1972, S. 14. Gleiches gilt für die im EU-Verfassungsvertrag vorgesehene Verpflichtung der Mitgliedstaaten Mitgliedstaten, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern (Art. 1-41 Abs. 3) 89 Ipsen, BK, Art. 87a, RdNr. 24; Baldus, M / K / S , GG, Art. 87a, RdNr. 25. Die internationalen militärischen Verflechtungen bergen indes die potentielle Gefahr einer „budgetären Entparlamentarisierung" (dazu allgemein Ruffert, DVB1. 2002, S. 1148; Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 115, RdNr. 33). Deutlich wurde dies zuletzt im Zuge des Rechtsstreits um die Beschaffung von 73 Militärtransportflugzeugen des Typs Airbus (A400M). 90 Vgl. Art. 7 Abs. 1 D / NL-Korpskonvention; Art. 10 Abs. 1 MNK-NO Konvention. 14*

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

eher Korpshaushalte ist in der Organisationsvereinbarung näher geregelt. Dort heißt es, dass „ein binationaler Haushalt für die binationalen Elemente des Korps eingerichtet wird, mit dem die Kosten für die Durchführung der Korpskonvention gedeckt werden." In der Praxis muss eine nicht der parlamentarischen Zustimmung unterliegende Organisationsvereinbarung als Legitimationsgrundlage für Regelungen herhalten, die es einem Kommandierenden General erlauben, innerhalb bestimmter Kostenkategorien Umschichtung von bis zu 25% der binationalen Titelsätze vorzunehmen. 91 Wo derart weitreichende haushaltsrechtliche Kompetenzen parlamentarisch kaum noch legitimiert sind, bedürfen multinationale Haushalte um so mehr einer verstärkten (parlamentarischen) Kontrolle. b) Parlamentarische

Kontrolle multinationaler

Haushalte

Im Rahmen der europäischen Armeeverbände werden multinationale Haushalte durch die nationalen Rechnungsprüfungsbehörden kontrolliert. Diese Behörden sind berechtigt, alle Auskünfte einzuholen und sämtliche Unterlagen einzusehen, die für die Rechnungsprüfung der nationalen Beiträge und für eine Unterrichtungen der Parlamente und Regierungen erforderlich sind. 92 Indes wurde die budgetäre Kontrolle allein durch nationale Prüfbehörden nicht für ausreichend erachtet, sondern durch ein zweites, multinationales Standbein institutionell abgestützt. So wurde im D/NL-Korps ein binationaler Rechnungsprüfungsausschuss (binational Board of Auditors) eingerichtet; 93 zudem berät ein Gemeinsamer Ausschuss {Joint Committee) die Verteidigungsministerien beider Korpsstaaten in allen das Korps betreffenden finanziellen Fragen. 94 Im Stettiner Korps haben die drei Korps-Staaten einen Finanzausschuss {Budget Finance Group) etabliert, 95 der in allen finanziellen und budgetären Angelegenheiten nach dem Einstimmigkeitsprinzip handelt und den multinationalen Haushalt billigt. 96 Die materielle Aufrechterhaltung der parlamentarischen Haushaltsprärogative beruht im wesentlichen auf der Einhaltung der entsprechenden Vorgaben der Bundeshaushaltsordnung (BHO), welche nähere Ausführungsbestimmungen zum Haushaltsplan enthält.97 Die Praxis der europäischen Armeeverbände zeigt jedoch, dass die personelle Durchmischung in integrierten Korpsstäben Schwierigkeiten bei der Anwendung und Einhaltung nationaler Haushaltsvorschriften aufwirft. 98

91

Vgl. Anlage D, Ziff. 5 (8) der Organisationsvereinbarung zum D/NL-Korps. 92 Art. 7 Abs. 3 D/NL-Korpskonvention; Art. 10 Abs. 5 zum MNK-NO Konvention. 93 94

Vgl. Art. 7 Abs. 2 der D / NL-Korps-Konvention.

Vgl. Art. 35 Abs. 1 der Organisationsvereinbarung zum D/NL-Korps. Der (beratende) Gemeinsame Ausschuss im D/NL-Korps ist nicht zu verwechseln mit dem (weisungsbefugten) Korps-Ausschuss {Corps-Committee) des MNK-NO. 95 Vgl. Art. 27 Abs. 3 Organisationsvereinbarung MNK-NO. 96 Vgl. Annex D I zur Organisationsvereinbarung MNK-NO. 9 ? BGBl. 19691, S. 1284.

4. Kap.: Parlamentarische Streitkräftekontrolle durch spezifische Instrumente

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I m Ergebnis lässt sich also festhalten, dass der parlamentarische Haushaltsvorbehalt auch i m Rahmen der internationalen militärischen Zusammenarbeit zur Anwendung kommt, da vertragliche Beschränkungen der staatlichen Finanzhoheit nicht vorgesehen sind. Indes bleibt die parlamentarische Kontrolle multinationaler Haushalte eine Herausforderung, die sich mit der organisatorischen Schaffung neuer Gremien nur eingeschränkt bewältigen lässt.

III. Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages gehört zu jenen Instrumenten der parlamentarischen Streitkräftekontrolle, deren Existenz erklärungsbedürftig ist. Obwohl das Grundgesetz bereits weitreichende parlamentarische Kontrollmittel vorsieht, schienen sie dem verfassungsändernden Gesetzgeber von 1956 doch nicht als ausreichend, so dass er eine i m europäischen Verfassungsvergleich mehr oder weniger einmalige Institution der Streitkräftekontrolle geschaffen h a t . " Indes blieb Kritik an der Kumulation von Kontrollorganen und -befugnissen nicht aus, weil dadurch zwangsläufig Kompetenzkonflikte hervorgerufen werden könnten, welche die tatsächliche Wirksamkeit der Kontrolle eher schwächen als stärken w ü r d e n . 1 0 0 War es also allein das Misstrauen gegenüber der Macht und Eigendynamik einer Armee, welches die Schaffung dieses besonderen Kontrollorgans recht98 § 9 Abs. 1 BHO sieht in diesem Zusammenhang vor, dass bei jeder Dienststelle, die Einnahmen oder Ausgaben bewirtschaftet, ein Beauftragter für den Haushalt zu bestellen ist, sofern der Leiter der Dienstsstelle diese Aufgabe nicht selbst wahrnimmt. Die Vorschrift dient vor allem der Berücksichtigung deutscher budgetärer Belange gegenüber dem Kommandierenden General als dem Verantwortlichen für den binationalen Haushalt des DeutschNiederländischen Korps. Gemäß der „Allgemeinen Weisung für das Korps" wird die Haushaltsverantwortung in seinem Auftrag jedoch allein vom Leiter der Haushalts- und Finanzabteilung wahrgenommen - nach der korpsinternen Dienstpostenverteilung ein niederländischer Offizier. Der stellvertretene deutsche Finanzabteilungsleiter kann die mit der Funktion eines deutschen Haushaltsbeauftragten verbundenen Mitwirkungsbefugnisse (nach § 9 Abs. 2 BHO) nur für den rein nationalen deutschen Haushalt, nicht aber für den binationalen Haushalt wahrnehmen; insoweit findet § 9 Abs. 2 BHO auf den binationalen Haushalt keine direkte Anwendung. 99 Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 45b, RdNr. 2; grundlegend Biehle, Die Kontrollfunktionen des Wehrbeauftragten, in: Brecht/Klein (Hrsg.), 1994, S. 47 ff.; rechtsvergleichende Hinweise bei Busch, BK, Art. 45b, nach RdNr. 461. Im Streitkräftebereich findet sich eine institutionelle Entsprechung nur in Schweden [Militie-Ombudsman seit 1915, Kap. X I I § 6 der Verf., zur schwedischen Rechtslage Hahn, AöR 1959, 377 ff.], Australien [Defence Force Ombudsman seit 1975], Kanada [Defence Ombudsman ] und Norwegen [Ombudsman for Defence ], z.T. aber mit eingeschränkten Befugnissen oder ohne verfassungsrechtliche Grundlage; in anderen Rechtsordnungen ist die Tendenz zu beobachten, die Kompetenzen eines allgemeinen parlamentarischen Ombudsmanns auf den Streitkräftebereich auszudehnen [so etwa in Dänemark, den Niederlanden, Polen oder Spanien - Nachweise bei Nolte /Krieger, Europäische Wehrrechtssysteme, S. 69 f.]. 100

In diesem Sinne vgl. etwa Dürig, M / D , Art. 45b (Erstbearb.), RdNr. 4; zu den in der Literatur vorgetragenen kritischen Positionen insoweit Spranger, Wehrverfassung, S. 42 ff.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

fertigte? 101 Nach der Vorstellung des verfassungsändernden Gesetzgebers sollte der Wehrbeauftragte in einer Kontroll- und Mittlerfunktion zwischen Bundestag und Bundeswehr, d. h. im politischen Kräfteparallelogramm eines parlamentarischen Regierungssystems102 garantieren, dass „die parlamentarische Kontrolle nicht eine abstrakte Angelegenheit bleibt, sondern sich im Notfall auch auf den Kasernenhof erstrecken kann." 103 Für den Fall, dass sich die Parlamentsmehrheit wegen ihrer engen parteipolitischen Bindung an die Regierung zur ernsthaften parlamentarischen Kontrolle nicht in der Lage wähnt, vermag ein individueller Wehrbeauftragter die parlamentarische Kontrolle regelrecht zu beleben. 104 Führt die eine Wurzel der Institution des Wehrbeauftragten in den mehr formellen Bereich der parlamentarischen Kontrolle, so beruht die andere auf Vorstellungen über die innere Führung der Streitkräfte. Danach soll die Bundeswehr nicht nur in das verfassungsrechtliche Gefüge des Staates eingegliedert und parlamentarisch kontrolliert werden, sondern auch in ihrer inneren Struktur und Ordnung den Wertvorstellungen des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates entsprechen. Um den Dualismus zwischen Bürger und Soldat bzw. zwischen Demokratie und Militär aufzulösen, ist der soldatische Bereich insoweit nicht als Gegenstück, sondern stets als Teilstück der politisch-sozialen Gesamtordnung konzipiert. 105 Diesem Ziel diente - neben der eingangs erwähnten Demokratisierung der Streitkräfte - vor allem das Konzept der Inneren Führung mit dem vielzitierten Leitbild vom Staatsbürger in Uniform, 106 wonach der Soldat als grundsätzlich vollberechtigter und vollverantwortlicher Staatsbürger auch Grundrechtsträger ist. 1 0 7 In diesem Sinne gehört die Realisierung der Grundrechtsgeltung im soldatischen Bereich neben der Unterstützung des Bundestages bei der parlamentarischen Kontrolle zu den beiden Hauptaufgaben des Wehrbeauftragten. Art. 45b GG formuliert 101

So die Begründung des Rechtsausschusses des Bundestages, BT-Drs. 11/2150, S. 3: „Beide Neuerungen (Art. 45a und 45b GG) sind gedacht als eine Verstärkung der parlamentarischen Kontrolle, die durch die Einfügung eines starken Machtfaktors wie der Bundeswehr in den Gesamtaufbau der Staatsordnung eine erhöhte Bedeutung erhält." Am Ende war die Schaffung des Amtes des Wehrbeauftragten ein Kompromiss: Die oppositionelle SPD-Fraktion verzichtete auf ihren Wunsch nach einem Misstrauensvotum des Bundestages gegen den Verteidigungsminister; die Regierungskoalition stellte ihre Bedenken gegen den Wehrbeauftragten zurück (vgl. Busch, BK, Art. 45b, RdNr. 26). 102 Busch, Der Wehrbeauftragte, S. 47. 103 So der Abg. Jäger in: Verhandlungen des Bundestages, 2. WP, S. 8765 f. 104

Maurer, Wehrbeauftragterund Parlament, S. 11 f. 105 Busch, Der Wehrbeauftragte, S. 67. ι 0 6 Zu den soldatischen Grundrechten und Grundsätzen der inneren Führung vgl. jeweils m.w.N. Busch, Der Wehrbeauftragte, S. 65 ff.; Achterberg/Schulte, M / K / S , Art. 45b, RdNr. 76 ff.; in Zusammenhang mit der europäischen Integration vgl. insoweit Rensmann, NZWehrR 2002, S. 111. 107 Nichts anderes sagt - im Umkehrschluss - Art. 17a GG, wonach im Wehrdienstverhältnis gewisse Grundrechte eingeschränkt werden können; die staatsbürgerlichen Rechte der Soldaten garantiert auch § 6 SoldatenG.

4. Kap.: Parlamentarische Streitkräftekontrolle durch spezifische Instrumente

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diese „Doppelfunktion" 108 des Wehrbeauftragten dergestalt, dass er zum Schutz der Grundrechte und als Hilfsorgan des Bundestages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle berufen wird. Der Rechtsschutz- und Kontrollmechanismus des Art. 45b GG, der durch das Wehrbeauftragtengesetz (WBeauftrG) 109 näher ausgestaltet worden ist, entfaltet auch in integrierten Streitkräfteformationen Relevanz, wenn Soldaten im Ausland unter der Anordnungsgewalt ausländischer Vorgesetzter Dienst tun. Gerade die spezifischen Probleme der Multinationalität - die Konfrontation mit fremden Mentalitäten, Sprachen und Führungsphilosophien anderer Nationen 110 - könnten sich dabei beschwerdeträchtig auswirken. Die verfassungsrechtliche Institution des Wehrbeauftragten bleibt aber vom Integrationsprozess unberührt. 111 Die wissenschaftliche Literatur hat sich in diesem Zusammenhang vor allem mit der Rolle des Wehrbeauftragten im Verteidigungsfall befasst, wobei der Wehrbeauftragte seine Kompetenzen auch nach dem Übergang der Kommandogewalt auf den Bundeskanzler unbenommen ausüben kann. 112 In integrierten Streitkräfteformationen operiert der Wehrbeauftragte indes auf einer rechtlichen Grundlage, die in den Rechtsordnungen der Partnerstaaten keine Entsprechung findet. Insoweit gilt es zu untersuchen, inwieweit die Funktionen des Wehrbeauftragten als Petitionsinstanz (1.) und als parlamentarisches Kontrollorgan (2.) im Rahmen multinationaler Armeeverbände eingeschränkt werden und wie sich Beschränkungen gegebenenfalls rechtfertigen lassen (3.).

1. Wahrung der Rechtsschutzfunktion für deutsche Soldaten in integrierten Streitkräften Der Wehrbeauftragte ist gem. §§ 7 ff. WBeauftrG zugleich Rechtsschutzorgan und Petitionsinstanz für die Soldaten der Bundeswehr. 113 Das Petitionsrecht dient dem Wehrbeauftragten insoweit als Informationsquelle, als er über Missstände in los Dürig, M / D , Art. 45b (Erstbearbeitung), RdNr. 6. 109 Gesetz über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages (Gesetz zu Art. 45 b des Grundgesetzes) vom 16. 6. 1982 (BGBl. I, S. 677). 110 Vgl. zu den „außerrechtlichen" Aspekten multinationaler Streitkräfte die soziologische Studie von Klein/Rosendahl-Huber/Frantz, Zwei Jahre Deutsch-Niederländisches Korps, S. 16; Eiselberg, ÖMZ 1996, S. 455; Clerc, Gestaltete Multinationalität, in: Martin (Hrsg.), Eurokorps, S. 309 sowie die Untersuchung des 10. Beirats für Fragen der Inneren Führung bei Steinkamm, AG Multinationalität, in: Pommerin/Bischof (Hrsg.), 2003, S. 41 ff.

i " So auch Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 45b, RdNr. 2. 112 So Dollinger, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 45b, RdNr. 6; Hernekamp, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 115b, RdNr. 20; Hernekamp, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 45b, RdNr. 39; Klang, NZWehrR 1986, S. 104 ff.; ders., in: Busch/Berger (Hrsg.), Die parlamentarische Kontrolle, S. 147 ff. 113 Heun, in: Dreier (Hrsg.), Art. 45b, RdNr. 20; Dürig, M / D , Art. 45b (Erstbearb.), RdNr. 20; Busch, BK, Art. 45b, RdNr. 283.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimations Vermittlung im Integrationsprozess

der Truppe in seinem Jahresbericht (§ 2 Abs. 1 WBeauftrG) berichten kann. Diesbezüglich wird der Wehrbeauftragte auch in seiner subjektiv-grundrechtsschützenden Funktion als Teil der „objektiven" parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte tätig. 114 Gem. § 7 WBeauftrG hat jeder Soldat das Recht, sich einzeln ohne Einhaltung des Dienstweges unmittelbar an den Wehrbeauftragten zu wenden. Das unabhängig von jeder anderen Beschwerdemöglichkeit 115 existierende Eingaberecht ist indes nicht an eine persönliche Betroffenheit des Petenten, sondern nur an seine Eigenschaft als deutscher Soldat geknüpft, 116 die gem. § 1 Abs. 1 Soldatengesetz (SG) 117 durch das Wehrdienstverhältnis begründet wird. Aus § 1 Abs. 3 SG, der die Auslandsverwendungen von Soldaten regelt, ergibt sich indirekt, dass das Soldatenverhältnis bzw. die rechtliche Zuordnung eines Soldaten zur Bundeswehr durch Verwendungen, die auf Grund eines Übereinkommens, eines Vertrages oder einer Vereinbarung mit einer über- oder zwischenstaatlichen Einrichtung oder mit einem auswärtigen Staat auf Beschluss der Bundesregierung im Ausland stattfinden, nicht berührt werden. Diese Regelung erscheint nicht zuletzt mit Blick auf Art. 3 I GG nur konsequent und verfassungsrechtlich geboten, da internationale Verwendungen von Soldaten zu keiner Verschlechterung ihrer Rechtspositionen im Vergleich zu Soldaten in nationalen Dienstverwendungen führen dürfen. Ebenso wenig gehen mit der Übertragung von operational control oder -command auf die Kommandobehörden der NATO oder auf UN-Kommandeure rechtliche Einschränkungen des Petitionsrechts für Soldaten einher. 118 Solange der Sachverhalt eine deutsche Beteiligung aufweist, ändert die Unterstellung und Führung deutscher Streitkräfte unter NATO-/ UN-Oberbefehl an der Zuständigkeit des Wehrbeauftragten als Petitionsinstanz grundsätzlich ebenso wenig, 119 wie ihn ein Kommandowechsel nach Art. 115b GG berührt. 120 Eine Beschwerde deutscher Soldaten kann sich daher auch gegen die Anordnungen eines ausländischen Vorgesetzten richten, unabhängig davon, ob diese nun deutsche oder ausländische Hoheitsgewalt ausüben. Dies ergibt sich daraus, dass § 7 WBeauftrG das Eingabe114 So Achterberg/Schulte, M / K / S , Art. 45b, RdNr. 84; Dürig, M / D , Art. 45b (Erstbearb.), RdNr. 7. Aus der Doppelfunktion des Wehrbeauftragten folgt also keine verfassungsrechtlich-organisatorische Doppelstellung. h 5 In Betracht kommt der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages nach 45c GG sowie das Beschwerderecht zum nächsten Dienstvorgesetzten (§ 34 SG i.V.m. §§ 1 und 5 der Wehrbeschwerdeordnung - WBO) mit der Möglichkeit, über die „weitere Beschwerde" zum nächsthöheren Disziplinarvorgesetzten (§ 16 WBO) schließlich bei den Truppendienstgerichten (bis hinauf zum BVerwG) gerichtlichen Rechtsschutz zu suchen (§§ 17 ff. WBO). 116 Achterberg/Schulte, M / K / S , Art. 45b, RdNr. 85. 117 Gesetz über die Rechtsstellung der Soldaten vom 15. 12. 1995, BGBl. III 51 - 1 . 118 Vgl. in diesem Sinne auch Stauf, Soldatengesetz, Kommentar, Einführung, RdNr. 5 (S. 16). 119 Dürig, M / D , Art. 45b (Zweitbearb.), RdNr. 29; Dollinger, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 45b, RdNr. 16. 120 Dazu Hernekamp, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 115b, RdNr. 20.

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recht außer an die Soldateneigenschaft des Petenten an keinerlei weitere Voraussetzungen knüpft, 121 also auch nicht an die (deutsche) Vorgesetzteneigenschaft desjenigen, der den Grund zur Beschwerde gegeben hat. Dies entspricht insoweit den verfassungsrechtlichen Vorgaben, wonach die Eingabe nach § 7 WBeauftrG als „Individualpetition" gleichzeitig eine Grundrechtsausübung i. S. d. Art. 17 GG darstellt, 122 die gem. Art 17a GG nicht eingeschränkt werden darf. 123 Keine Probleme ergeben sich schließlich in bezug auf die räumliche Geltung deutscher Grundrechte, welche auch die im Ausland tätig werdende deutsche Staatsgewalt (in Gestalt eines deutschen Vorgesetzten) binden. 124 In der Praxis liegen dem Wehrbeauftragten bis jetzt allerdings keine Eingaben vor, mit welchen sich Petenten aus integrierten Verbänden oder UN-Friedenstruppen über das Verhalten oder die Anweisungen ausländischer Dienstvorgesetzter beschweren. 125 Die Eingaben von Soldaten aus den Auslandseinsätzen betreffen vielmehr Probleme wie kurzfristige Einsatzplanungen, verspätete Zahlungen des Auslandsverwendungszuschlags, NichtÜbertragung von Erholungsurlaub, Familienbetreuung, zu lange Postlaufzeiten, persönliche Ausstattung oder fehlende Sicherungsmaßnahmen bei Luft- und Landfahrzeugen 126 - also ausschließlich Vorgänge, die primär im nationalen Verantwortungsbereich begründet sind. Der Grund dafür liegt darin, dass im NATO / UNO-Bereich mit operational command oder -control nur begrenzte taktische und operative (Führungs-)Befugnisse auf die zuständigen Kommandeure übertragen werden, während die eingabeträchtigen personal- und dienstrechtlichen sowie disziplinarrechtlichen Angelegenheiten unverändert in nationaler Verantwortung verbleiben und deshalb nur von deutschen Vorgesetzten wahrgenommen werden. 127 Das auch in integrierten Streitkräfteformationen insoweit unbeschränkte Eingaberecht der Soldaten erhält seine materielle Substanz jedoch nur durch eine korrelierende Kontrollmöglichkeit des Wehrbeauftragten. 128

121 Achterberg/Schulte, M / K / S , Art. 45b, RdNr. 85. 122 Busch, BK, Art. 45b, RdNr. 283; Schmidt-Bleibtreu, in: ders./Klein, GG, Art. 17a, RdNr. 2a. 123 Dürig, M / D , Art. 17a, RdNr. 30; Schmidt-Bleibtreu, in: ders./Klein (Hrsg.), GG, Art. 17a, RdNr. 5. 124 BVerfGE 6, 290 (295); Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, vor Art. 1, RdNr. 19; Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 1, RdNr. 79; Starck, in: M / K / S , GG, Art. 1, RdNr. 137; eingehend Stern, Staatsrecht Bd. III/1, S. 1224 ff. 125 So die telephonische Mitteilung vom 16. 12. 2002 des Referats Grundsatzangelegenheiten beim Wehrbeauftragten an den Verfasser. 126 Busch, Der Wehrbeauftragte, S. 122; Jahresbericht des Wehrbeauftragten 2000, Abschn. 4 (BT-Drs. 14/5400, S. 16 ff.). 127 Klang, NZWehrR 1986, S. 107; dazu auch Winkler, NZWehrR 1992, S. 153 ff. 128 Klang, NZWehrR 1986, S. 108.

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2. Beschränkung der Kontrollfunktion in integrierten Streitkräfteformationen Der Wehrbeauftragte als „Hilfsorgan des Bundestages" ist in seinem Aufgabenbereich ein Teil der Legislative. Zwar ist er in gewisser Weise gegenüber dem Parlament rechtlich selbständig;129 gleichwohl ist es ihm verwehrt, seine Kontrolle (thematisch) über den Bereich auszudehnen, welcher auch der Kontrolle des Bundestages unterliegt - der Kontrollbereich des Wehrbeauftragten korreliert also materiell mit der Zuständigkeit des Bundestages im Bereich der Verteidigungsangelegenheiten.130 Analog zu den Kontrollkompetenzen des Bundestages setzt sich das gesetzlich vorgesehene Handlungsinstrumentarium des Wehrbeauftragten weitestgehend aus Überwachungs-, Untersuchungs- und Anregungsbefugnissen zusammen. Zu seinen Amtsbefugnissen und Informationsquellen gehört neben dem Auskunfts- und Akteneinsichtsrecht auch das Truppenbesuchsrecht. 131 Nach § 3 Nr. 4 WBeauftrG kann er jederzeit alle Truppenteile, Stäbe, Dienststellen und Behörden der Bundeswehr und ihrer Einrichtungen auch ohne vorherige Anmeldung besuchen. Die strukturelle Bindung seiner Kompetenzen an die verteidigungspolitische Zuständigkeit des Bundestages beschränkt das „Hinausgreifen" des Wehrbeauftragten in den Bereich international integrierter Streitkräfte. Als Hilfsorgan des Bundestages gelten auch für ihn die allgemeinen Grenzen staatlicher Hoheitsgewalt nach Maßgabe des Völkerrechts. Danach erstrecken sich die Befugnisse der nationalen Organe i.d.R. nur auf das eigene Staatsgebiet und die sich dort aufhaltenden Personen (Gebietshoheit) sowie auf die eigenen Staatsangehörigen im Ausland (Personalhoheit). 132 So besucht der Wehrbeauftragte regelmäßig die deutschen Kontingente im Ausland. 133 Dabei handelt es sich um „militärische Dienststellen der Bundeswehr", weil sie als „organisatorisch selbständige Zusammenfassung von Personen und Material im militärischen Bereich" hoheitliche Aufgaben unter Führung und Disziplinargewalt eines Deutschen Befehlshabers im Einsatzgebiet 129 Weder kann er das Parlament durch sein Handeln berechtigen oder verpflichten, noch ist seine Amtszeit an das Ende einer Legislaturperiode gekoppelt; überdies leitet er seine Zuständigkeiten nicht aus der Geschäftsordnung des Bundestages, sondern aus dem Wehrbeauftragtengesetz ab, das jedenfalls nicht zur alleinigen Dispositionsbefugnis des Bundestages steht CKlein, M / D , Art. 45b (Zweitbearb), RdNr. 15; Klang, NZWehrR 1986, S. 105). 130 So die h.M., Achterberg/Schulte, M / K / S , Art. 45b, RdNr. 69 f.; Busch, BK, Art. 45b, RdNr. 124; Düng, M / D , Art. 45b (Erstbearb.), RdNr. 16. 131 Vgl. zu den Informationsrechten des Wehrbeauftragten Achterberg/Schulte, M / K / S , Art. 45b, RdNr. 92 ff.; Busch, BK, Art. 45b, RdNr. 253 ff.; Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, S. 178 ff. 132 Vgl. näher Ipsen, Völkerrecht, § 24, RdNr. 1; BVerfGE 84, 90 (122 ff.). 133 Über Truppenbesuche des Wehrbeauftragten im Ausland wird in den Jahresberichten des Wehrbeauftragten regelmäßig berichtet; vgl. etwa den 43. Jahresbericht 2001, Abschn. 2.2 (BT-Drs. 14/8330, S. 6-10).

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wahrnehmen. 134 Nach den einschlägigen völkerrechtlichen Abkommen gilt nämlich für den Personalanteil jedes Vertragsstaates in einer multinationalen Friedenstruppe/Dienststelle dessen nationales Dienstrecht. 135 Nicht um Dienststellen des Bundes handelt es sich demgegenüber bei sog. integrierten Dienststellen, die im In- oder Ausland durch internationale Organisationen mit eigener Rechtspersönlichkeit auf völkervertraglicher Grundlage unterhalten werden. 136 Der Kontrolle des Wehrbeauftragten unterliegen daher nicht die militärischen Organe und Einrichtungen internationaler Organisationen, 137 wie ζ. B. die integrierten Militärstäbe und Kommandobehörden von UN oder NATO, welche internationalen Status besitzen. 138 Jedoch ist in der Praxis kaum ein Fall denkbar, wo dem Wehrbeauftragten der Zutritt zu den internationalen Einrichtungen verwehrt wäre, zumal der Besuch angemeldet und politisch entsprechend hochrangig begleitet sein würde. Mit Zustimmung des französischen oder polnischen Gastgeberstaates könnte er auch jederzeit die deutschen Anteile der multinationalen europäischen Korps besuchen. 139 Komplizierter würden sich jedoch konkrete Untersuchungen des Wehrbeauftragten in Fällen mit multinationalem Bezug gestalten. Das Schrifttum geht zu Recht davon aus, dass sich die Zuständigkeit des Wehrbeauftragten nicht auf die Kontrolle operativer Führungsmaßnahmen ausländischer Offiziere bei einer Unterstellung deutscher Soldaten unter NATO- / UNO-Befehl erstreckt; 140 Klang zieht daraus den Schluss, dass die Garantie des Eingaberechts für deutsche Soldaten in internationalen Stäben ohne materielle Substanz praktisch nur noch formal weiter existiere. 1 4 1 Nun aber setzt sich die Anordnung eines ausländischen Vorgesetzen an den deutschen Soldaten nach der in internationalen Stäben praktizierten Anweisung auf Zusammenarbeit aus zwei Komponenten zusammen: neben der eigentlichen - inhaltlichen - Anordnung steht der „Grundbefehl" eines deutschen Vorgesetzten, den Anordnungen eines ausländischen Offiziers Folge zu leisten. Der vorgesetzte deutsche Offizier macht sich dabei die „ausländische" Anordnung rechtlich gesehen für eine „logische Sekunde" zu eigen und verleiht ihr Rechtsverbindlichkeit. So verbleibt dem Wehrbeauftragten zumindest ein Ausgangspunkt für etwaige Unter134 Vgl. zur Definition der „militärischen Dienststelle" Dau, Wehrdisziplinarordnung Kommentar, § 75, RdNr. 10a. 135 Stauf, Wehrrecht Bd. I, zu § 2 SoldatenbeteiligungsG (SBG), RdNr. 8. 136 Stauf, Wehrrecht Bd. I, zu § 2 SoldatenbeteiligungsG (SBG), RdNr. 7. 137 So i. E. auch Klein, M / D , Art. 45b (Zweitbearb.), RdNr. 30.

138 Vgl. das Pariser Protokoll über den Status internationaler militärischer Hauptquartiere vom 28. 8. 1952, UNTS 200, S. 340 (BGBl. 1969 II, S. 2000). 139 Erstmals unterrichtete der 36. Jahresbericht des Wehrbeauftragten (1994) in einem eigenen Abschnitt über die multinationale militärische Zusammenarbeit in den europäischen Korpsstäben sowie über die Eingliederung von deutschen Luftwaffen- und Marinegeschwadern in operative Verbände der NATO. ™ Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 45b, Rdnr. 2; Klang, NZWehrR 1986, S. 107 f. h i Klang, NZWehrR 1986, S. 108.

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1. Teil: Parlamentarische Legitimationsermittlung im Integrationsprozess

suchungen einer Eingabe; gleichwohl wäre ein effektiver Fortgang der Untersuchung in der Praxis kaum möglich, wenn der ausländische Offizier bzw. dessen vorgesetzte Dienststelle bei der Aufklärung des Falles - ζ. B. durch Gewährung von Akteneinsicht - nicht unterstützend mitwirkt. 1 4 2 § 3 Nr. 1 WBeauftrG läuft dann rechtlich leer, da der Wehrbeauftragte Auskunft und Akteneinsicht nur vom Bundesverteidigungsminister und „allen diesem unterstellten Dienststellen und Personen" verlangen kann, wobei offenbar auf eine volle truppendienstliche Unterstellung (i. S. d. „full command") abgestellt wird. Während im Rahmen der NATO eine faktische Begrenzung der Kontrollmöglichkeiten kaum zu leugnen ist, 1 4 3 greift im Rahmen der multinationalen europäischen Korps die Besonderheit Platz, dass ausländische Offiziere in die nationale Befehlskette eingegliedert werden sollen, nationale Hoheitsgewalt ausüben und (neben ihren heimischen Vorgesetzten) auch dem Bundesverteidigungsminister verantwortlich sind. Es kann indes dahingestellt bleiben, ob die Einbeziehung ausländischer Befehlshaber in die deutsche Befehlskette rechtlich nun als „Unterstellung" i. S. d. § 3 Nr. 1 WBeauftrG zu bewerten ist oder nicht; ein ausländischer Kommandeur, der ja gleichzeitig auch seinem eigenen Verteidigungsminister unterstellt bleibt, würde sich im Zweifelsfall immer zu Hause „rückversichern", ehe er sensible Dokumente an den deutschen Wehrbeauftragten herausgibt. Überdies bestehen in den europäischen Korps-Konventionen zum Teil Regelungen zum Schutze personenbezogener Daten der Korps-Angehörigen, die „nur für die im NATO-Truppenstatut vorgesehenen Zwecke" (also nicht aus Gründen der nationalen parlamentarischen Kontrolle) weitergegeben werden dürfen. Dabei kann sich jeder Partnerstaat Maßnahmen verweigern, die seinen vorrangigen Sicherheitsinteressen zuwiderliefen. 1 4 4 Solche „ordre public"-Regelungen machen deutlich, dass die Staaten letztlich allein entscheiden können, ob und in welchem Rahmen sie den Organen der Partnerstaaten in eigenen Angelegenheiten Auskunft erteilen oder Akteneinsicht gewähren wollen. Der Wehrbeauftragte hätte also im Ergebnis keine rechtliche Handhabe auf der Grundlage des WBeauftrG, um Akteneinsicht gegenüber ausländischen Stellen in multinationalen Armeeverbänden zu erzwingen. In Fällen mit multinationalem Bezug könnte er sich lediglich an das Bundesministerium der Verteidigung wenden, dem es dann obliegen würde, unter Ausschöpfung aller (diplomatischen) Möglichkeiten bei gleichzeitiger Beachtung der rechtlichen Besonderheiten in multinationalen Verbänden zur Aufklärung des Sachverhalts beizutragen. Diesem Prozedere entsprechen im Übrigen auch die in den Korpskonventionen verankerten „salvatorischen" Klauseln, wonach Streitigkeiten (disputes ) durch Verhandlungen 142 § 4 WBeauftrG verpflichtet freilich nur Gerichte und Verwaltungseinrichtungen des Bundes und der Länder, dem Wehrbeauftragten Amtshilfe zu leisten. 143 So i. E. auch Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 45b, RdNr. 2; Klein, M / D , Art. 45b (Zweitbearb.), RdNr. 30. 144 Vgl. Art. 18 Abs. 1 und 2 Korpskonvention MNK-NO; ähnlich Art. 11 D/NL-Korpskonvention.

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zwischen den Vertragsparteien beigelegt und nicht an Dritte verwiesen werden sollen. 1 4 5 Der Rückgriff auf Instrumente der politischen Verhandlung aber bedeutet im Ergebnis nicht nur eine rechtliche Einschränkung der Wehrbeauftragtenkontrolle, sondern führt zu einer Abhängigkeit des Wehrbeauftragten von der Exekutive, zu deren Kontrolle er von Verfassungs wegen eigentlich berufen ist. 1 4 6 Ähnlich wie bei der grundrechtlichen Schutzpflichtendogmatik wandelt sich das Objekt der nationalen Wehrbeauftragtenkontrolle im multinationalen Kontext zu seinem Garanten. Diese rechtlich unbefriedigende Situation ließe sich dadurch lösen, dass auf internationaler Ebene entsprechende bilaterale Vereinbarungen getroffen würden, um die Kontrollbefugnisse des deutschen Wehrbeauftragten gegenüber den Bündnispartnern in Anschlag zu bringen. Regelungen über die Rolle, geschweige denn die Kontrollkompetenzen des Wehrbeauftragten existieren indes nicht einmal in den Rechtsdokumenten der multinationalen europäischen Korps, wo man sie vielleicht am ehesten vermuten würde. Zwar ließe sich aus dem Grundsatz der „vertieften Integration", wie ihn Art. 3 der Organisationsvereinbarung des Deutsch-Niederländischen Korps statuiert, auch eine Art Treuepflicht („Korpstreue") ableiten, welche die anderen Korpsstaaten zu möglichst wohlwollender Duldung und Unterstützung von Maßnahmen seitens der Bündnispartner - einschließlich seiner parlamentarischen Kontrollorgane - verpflichtet; doch setzt all dies einen entsprechenden Konsens und gegenseitiges Vertrauen voraus. Wie die Praxis in Straßburg, Münster oder Stettin gezeigt hat, sind ernste Probleme nicht zu befürchten, solange sich die militärische Integration im „anspruchsloseren" Verwendungsspektrum (Übungen oder kleinere Einsätze) bewegt. Anders mag die Lage im Falle einer künftigen Beteiligung deutscher Einheiten an Kampfeinsätzen der NATO-Response Force aussehen, wo Untersuchungen des Wehrbeauftragten schnell an die Grenzen souveräner militärischer Befindlichkeiten der Bündnispartner stoßen könnten. Im Zuge der Streitkräfteintegration ertönt daher regelmäßig das „ceterum censeo" des Wehrbeauftragten nach Rechtsangleichung in den Wehrrechtsordnungen mit dem Ziel einer einheitlichen europäischen Wehrrechtsordnung. 147 Vor dem Hintergrund der internationalen Rechtslage moniert der Jahresbericht regelmäßig, dass die bislang getroffenen völkerrechtlichen Regelungen die gesetzlich verankerten Untersuchungs- und Informationsrechte des Wehrbeauftragten nicht „in hinreichender Deutlichkeit" widerspiegelten. Überdies fänden sich die Rechtsschutzmöglichkeiten deutscher Soldaten nicht durchgängig in den Wehrrechtsnormen anderer Staaten wieder, was dazu führe, dass Integration und Führungsfähigkeit in 145 Art. 19 Korpskonvention MNK-NO; Art. 14 D/NL-Korpskonvention. 1 46 § 5 Abs. 2 WBeauftrG garantiert dem Wehrbeauftragten seine politische Weisungsfreiheit gegenüber jedermann. 147 Vgl. die Jahresberichte des Wehrbeauftragten der Jahre 1995-2000, BT-Drucksachen 13/3900, S. 33; 13/7100, S. 33; 13/1000, S. 37; 14/2900, S.44f.; 14/5400, S. 41. Für eine Harmonisierung der nationalen Wehrrechtsordnungen auch Rensmann, NZWehrR 2002, S. 112.

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multinationalen Verbänden beeinträchtigt würden. 148 Aus diesem Grunde plädiert auch das Schrifttum dafür, den verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Wehrbeauftragten in Hinblick auf Soldaten in integrierten Verwendungen durch entsprechende vertragliche Vereinbarungen Ausdruck zu verleihen und sie - soweit vertraglich durchsetzbar - vorzubehalten. 149

3. Rechtfertigung von Einschränkungen der Kontrollgewalt des Wehrbeauftragten Die nationale Rechtslage macht deutlich, dass die Kontrolle durch den Wehrbeauftragten nicht schrankenlos gewährleistet wird, sondern im Rahmen einer Abwägung mit vorrangigen Gütern zurücktreten muss. So kann dem Wehrbeauftragten gem. § 3 Abs. 1 S. 2 WBeauftrG eine Auskunft oder Akteneinsicht durch die nationalen Stellen verweigert werden, soweit zwingende Gründe der Geheimhaltung dem entgegenstehen.150 Mittel zur zwangsweisen Durchsetzung seines Auskunftsverlangen hat der Wehrbeauftragte auch im nationalen Rechtsraum nicht. Eine Grundrechtsverletzung von Art. 17 GG wäre ungeachtet des Beschränkungsverbotes in Art. 17a GG damit nicht verbunden, denn nach dem Wortlaut dieser Vorschrift ( - „sich an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung wenden" - ) wird nicht der Zugang zu einer bestimmten Instanz grundrechtlich garantiert; vielmehr wird der Adressat der Petition in Art. 45b und c GG verfassungsrechtlich gesondert bestimmt und einfachgesetzlich ausgestaltet, so dass gesetzliche Beschränkungen möglich erscheinen. 151 Einschränkungen der einfachgesetzlich garantierten Kontroll- und Untersuchungsbefugnisse des Wehrbeauftragten ließen sich verfassungsrechtlich nach Art. 24 II GG rechtfertigen. Die mit der Integration deutscher Truppen verbundenen Beschränkungen deutscher Hoheitsgewalt - dies betrifft die Befehlsgewalt des Bundesverteidigungsministers nach Art. 65a GG ebenso wie die Kontrollkompetenzen des Wehrbeauftragten nach Art. 45b GG - sind daher durch das Zustimmungsgesetz über Art. 59 I I GG parlamentarisch legitimiert. 152 Hingegen vermag auch die Eingliederung ausländischer Kommandeure in die nationale Befehlskette die Kompetenzen des Wehrbeauftragten rechtlich nicht vollauf zu garantieren. Im 148 Vgl. ζ. B. den 42. Jahresbericht des Wehrbeauftragten (2000) Abschnitt 15.6, BT-Drs. 14/5400, S. 41. 149 Hernekamp, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 45b, RdNr. 39; Klein, M / D , Art. 45b (Zweitbearb.), Rdnr. 30. Ohne großen rechtlichen Aufwand ließe sich eine solche Regelung im Rahmen der multinationalen Organisationsvereinbarungen verankern. 1 50 Ein Fall der Auskunftsverweigerung aus Geheimhaltungsgründen ist bislang in der Praxis noch nicht aufgetreten (so Achterberg/Schulte, M / K / S , Art. 45b, RdNr. 90). 151 Klang, NZWehrR 1986, S. 108. 152 BVerfGE 90, 286 (345 ff.); ebenso Klein, M / D , Art. 45b (Zweitbearb.), RdNr. 30; Dollinger, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 45b, RdNr. 16.

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Ergebnis tut sich daher in Hinblick auf die rechtlichen Beschränkungen der Wehrbeauftragtenkontrolle eine verfassungsrechtliche Rechtfertigungslücke auf, die durch bilaterale Abkommen mit den Partnerstaaten auf internationaler Ebene geschlossen werden sollte.

IV. Zusammenfassende Betrachtungen Abfederungen (grundrechtsbezogener) parlamentarischer Kontrolldefizite des Wehrbeauftragten lassen sich insoweit auf der internationalen Ebene suchen. So sind die europäischen Korps - stärker noch als die NATO - als Wertegemeinschaften konzipiert und bauen auf einem gemeinsamen politischen, rechtlichen und kulturellen Erbe auf. Neben wesentlichen Übereinstimmungen in den (Wehr-)Rechtsordnungen gehören dazu auch die praktisch deckungsgleichen Grundrechtskataloge der europäischen Korpsstaaten. Insoweit trifft zu, was Klaus Stern einmal über die Sicherheitsorganisationen von NATO und WEU bemerkte, die nicht nur Verteidigungsgemeinschaften, sondern nachgerade „Grundrechtsschutzgemeinschaften" 153

seien. Je mehr sich jedoch die europäischen Armee verbände - wie dies beim DeutschNiederländischen Korps mit seiner tiefgehenden Integration bereits ansatzweise der Fall ist - zu zwischenstaatlichen Einheiten mit supranationaler Hoheitsgewalt verdichten, desto stärker müssen rechtliche Lösungen auf überstaatlicher Ebene gefunden werden. Dies gilt nicht nur für den bereits in Ansätzen erkennbaren „korpsinternen" Grundrechtsschutz 154 oder für die immer intensivere Grundrechtskontrolle durch den EGMR, 1 5 5 sondern letztlich auch für die parlamentarische Streitkräftekontrolle. Möglich erschiene eine Art „Vertrauensperson" 156 für das deutsch-niederländische Korps, die als Rotationsdienstposten auf der Grundlage der Organisationsvereinbarung etabliert und mit „binationalen" Untersuchungsbefugnissen ausgestattet werden könnte. In Anlehnung an die Forderung Klangs nach einem NATO-Wehrbeauftragten 157 sollte langfristig schließlich auch die 153 Stern, Staatsrecht Bd. ΙΠ/1, S. 1237 unter Hinweis auf Art. 2 NATO-Vertrag und Art. I I I Brüsseler Vertrag. 154 Art. 22 Abs. 2 der Organisations Vereinbarung des MNK-NO garantiert die Religionsfreiheit: Within the scope of existing laws and regulations the personnel of the Corps shall have the right to attend religious and spiritual services, to ask for these services and to practice their religion undisturbed. 155 Einige Entscheidungen aus Straßburg messen das nationale Wehrrecht am Maßstab der europäischen Menschenrechte; dazu Schmidt-Radefeldt, NZWehrR 2000, S. 141 ff.; zur Bedeutung der Europäischen Grundrechtscharta für die europäischen Streitkräfte vgl. Rensmann, NZWehrR 2002, S. 124 ff. Dabei erscheint es keineswegs mehr ungewöhnlich, wenn grundrechtsschützende Kontrollmechanismen auf der internationalen Rechtsebene punktuell über den verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutz in den Mitgliedstaaten hinausgehen. 156 Eine solche Institution kennt bereits das deutsche SoldatenbeteiligungsG und die WDO.

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Möglichkeit eines europäischen Ombudsmanns / Wehrbeauftragten in Betracht gezogen werden. 1 5 8 Vorbilder i m europäischen Gemeinschaftsrecht existieren mit dem Europäischen Bürgerbeauftragten des Europäischen Parlaments (Art. 195 EGV); Ansätze einer internationalen Wehrbeauftragtenkontrolle integrierter Streitkräfteverbände lassen sich auch in der Institution der Ombudsperson für den Kosovo erkennen - einer unabhängigen Beschwerdeeinrichtung für Menschenrechtsbeschwerden i m K o s o v o . 1 5 9 Obwohl die Zuständigkeit der Ombudsperson (auf Betreiben des NATO-Hauptquartiers) bewusst nicht auf die Untersuchung des Verhaltens von KFOR-Soldaten erstreckt wurde, 1 6 0 gingen in der Vergangenheit gleichwohl zahlreiche Beschwerden insb. über Eigentums· und Freiheitsverletzungen durch KFOR-Truppen bei der Ombudsperson ein und wurden über KFOR an die nationalen Befehlshaber der Kontingente weitergeleitet. 161 In einem Gutachten aus dem Jahre 2001 über die Vereinbarkeit des KFOR-Truppenstationierungsabkommens mit internationalen Menschenrechtsstandards hat die Ombudsperson sogar einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK festgestellt. 162 Trotz der (noch) unzureichenden rechtlichen Möglichkeiten der internationalen Ombudsperson bewirkt hier allein die Publizität des Beschwerdemechanismus so-

157 Klang, NZWehrR 1986, S. 110; abl. insoweit Hernekamp, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 45b, RdNr. 39. Ein NATO-Wehrbeauftragter wäre indes nicht nur politisch kaum realisierbar, sondern auch verfassungsrechtlich nicht notwendig, da sich Einschränkungen der Wehrbeauftragtenkontrolle, die sich aus der NATO-Unterstellung ergeben, nach Art. 24 II GG rechtfertigen lassen. iss Vgl. die dahingehende Forderung im Jahresbericht des Wehrbeauftragten (1996), BTDrs. 13/7100, S. 34 sowie neuerdings auch des 10. Beirats für Fragen der Inneren Führung bei Steinkamm, AG „Multinationalst", in: Pommerin/Bischof (Hrsg.), 2003, S. 31 f., der die Tätigkeit eines solchen „Europäischen Wehrbeauftragten" allerdings nur auf das Gebiet der „Inneren Truppenführung" und auf Einzelfälle ausrichten will. 159 In Section 3.1 der UNMIK-Regulation 38/2000 v. 30. 6. 2000 heißt es: The Ombudsperson has jurisdiction to receive and investigate complaints from any person or entity in Kosovo concerning human rights violations and actions constituting an abuse of authority by the interim civil administration or any emerging central or local institution; the Office can monitor, take preventive steps, make recommendations and advise on any such matters. Vgl. zur Ombudsperson im Kosovo auch Brand, NJInt'lL 2002, S. 482 f.; Krieger, ZaöRV 2002, S. 669 (684 f.) sowie die Informationen unter www. ombudspersonkosovo.org. 160 Vgl. UNMIK-Regulation 2000/38. Dafür bedürfte es gem. Section 3.4 dieser Regulation spezieller Abkommen (