Paradestück Militärmusik: Beiträge zum Wandel staatlicher Repräsentation durch Musik [1. Aufl.] 9783839416556

Militärmusik ist ein besonders instruktives Scharnier bei der Analyse der Semantik und Symbolik von Musik zwischen staat

123 7 6MB

German Pages 368 [366] Year 2014

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. MUSIK ALS STAATSSYMBOL
Die Militärmusik der Bundeswehr = Staatsmusik!?
Zur Identitätsstiftung heutiger Militärmusik am Beispiel des Berliner Luftwaffenmusikkorps (LMK)
Staatssymbolmusik: Germania vertont
Das religiöse Element, dargestellt durch Musik, in den militärischen Zeremoniellen der Bundeswehr
II. MUSIKSOLDATINNEN
Misstrauisches Vertrauen? Soldaten und Soldatinnen in der Bundeswehr
Eine Mannschaft im Abendkleid? Zur Bedeutung der Kleidung bei Musikerinnen in Militär und Sinfonieorchester
Und jeden Abend Lili Marleen. Zur Truppenbetreuung im Zweiten Weltkrieg
Frau – Militär – Musik. Darstellungen und Interpretationen im Spielfilm
Geschlechterambivalenzen – Amazonenklang und Amazonenbilder im barocken Musiktheater
III. MARSCH UND CHORAL
Gustav Mahlers musikalische Ecclesia Militans und Triumphans. Von den Märschen und Chorälen der Zweiten und Dritten Symphonie
Profanisierte Transzendenz und verinnerlichte Objektivität. Marsch und Choral in Mahlers Fünfter Symphonie
Performative und textuelle Momente von Form. Funktionen von Marsch und Choral in Mahlers Sechster Symphonie
Joseph Goldes (1802-1886) Fest-Reveille (1858) über den Choral. Nun danket alle Gott für Militärmusik
Der Marsch als Programm und poetische Idee im Finale des Carnaval Op. 9 von Robert Schumann
Zwischen Ironie und Imagination: Marsch und Choral bei Hector Berlioz und seinen Zeitgenossen
IV. MUSIKMACHT UND STAATSGEWALT
Wie die Friedensproblematik in klassischer Musik intoniert wird
Das musikalische Befehlssystem von Pfeife und Trommel in der Frühen Neuzeit. Herrschaft in Form scheinbarer Selbstbestimmung
Musikalische Gewalt: Kulturelle Ausprägungen absoluter Macht im Konzentrationslager Sachsenhausen
Kalter Krieg und Staatsmusik. Emotionalisierung und (Ent-)Politisierung in Stings Russians
»… wie ein chaotisch anmutender, aus den Fugen geratener Marsch«. Mauricio Kagels Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen (1978/79)
Autorenverzeichnis
Personenverzeichnis
Recommend Papers

Paradestück Militärmusik: Beiträge zum Wandel staatlicher Repräsentation durch Musik [1. Aufl.]
 9783839416556

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Peter Moormann, Albrecht Riethmüller, Rebecca Wolf (Hg.) Paradestück Militärmusik

Peter Moormann, Albrecht Riethmüller, Rebecca Wolf (Hg.)

Paradestück Militärmusik Beiträge zum Wandel staatlicher Repräsentation durch Musik

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: TimToppik / photocase.de (Detail) Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1655-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9

I. M USIK ALS S TAATSSYMBOL Die Militärmusik der Bundeswehr = Staatsmusik!? Manfred Heidler | 13

Zur Identitätsstiftung heutiger Militärmusik am Beispiel des Berliner Luftwaffenmusikkorps (LMK) Christian Blüggel | 35

Staatssymbolmusik: Germania vertont John Gabriel | 69

Das religiöse Element, dargestellt durch Musik, in den militärischen Zeremoniellen der Bundeswehr Bernhard Höfele | 81

II. M USIKSOLDATINNEN Misstrauisches Vertrauen? Soldaten und Soldatinnen in der Bundeswehr Gerhard Kümmel | 97

Eine Mannschaft im Abendkleid? Zur Bedeutung der Kleidung bei Musikerinnen in Militär und Sinfonieorchester Anke Steinbeck | 117

Und jeden Abend Lili Marleen Zur Truppenbetreuung im Zweiten Weltkrieg Heike Frey | 125

Frau – Militär – Musik Darstellungen und Interpretationen im Spielfilm Linda Maria Koldau | 151

Geschlechterambivalenzen – Amazonenklang und Amazonenbilder im barocken Musiktheater Christine Fischer | 165

III. M ARSCH UND C HORAL Gustav Mahlers musikalische Ecclesia Militans und Triumphans Von den Märschen und Chorälen der Zweiten und Dritten Symphonie Timothy Freeze | 183

Profanisierte Transzendenz und verinnerlichte Objektivität Marsch und Choral in Mahlers Fünfter Symphonie Federico Celestini | 193

Performative und textuelle Momente von Form Funktionen von Marsch und Choral in Mahlers Sechster Symphonie Siegfried Oechsle | 203

Joseph Goldes (1802-1886) Fest-Reveille (1858) über den Choral Nun danket alle Gott für Militärmusik Achim Hofer | 217

Der Marsch als Programm und poetische Idee im Finale des Carnaval Op. 9 von Robert Schumann Sabine Giesbrecht | 239

Zwischen Ironie und Imagination: Marsch und Choral bei Hector Berlioz und seinen Zeitgenossen Frank Heidlberger | 251

IV. M USIKMACHT UND S TAATSGEWALT Wie die Friedensproblematik in klassischer Musik intoniert wird Dieter Senghaas | 265

Das musikalische Befehlssystem von Pfeife und Trommel in der Frühen Neuzeit Herrschaft in Form scheinbarer Selbstbestimmung Silke Wenzel | 277

Musikalische Gewalt: Kulturelle Ausprägungen absoluter Macht im Konzentrationslager Sachsenhausen Juliane Brauer | 299

Kalter Krieg und Staatsmusik Emotionalisierung und (Ent-)Politisierung in Stings Russians Yvonne Wasserloos | 317

»… wie ein chaotisch anmutender, aus den Fugen geratener Marsch« Mauricio Kagels Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen (1978/79) Achim Hofer | 335

Autorenverzeichnis | 357 Personenverzeichnis | 359

Vorwort

Im Ausgang von der Situation in Deutschland nach 1989 versammelt das vorliegende Buch Beiträge zu einzelnen historischen und aktuellen Aspekten der Militärmusik. Die Schwerpunktsetzung betrifft dabei insbesondere die inzwischen eingetretene Beteiligung von Frauen an den militärmusikalischen Formationen, woran sich Beiträge zur musikalischen Darstellung von Frauen im Militär anschließen. Daneben ist Militärmusik generell nur in der Interaktion von Staatsgewalt und Macht mit ihren musikalischen Demonstrationen zu verstehen sowie essentiell als Staatssymbol zu begreifen und zu diskutieren. Trotz der bunten Fülle dessen, was die Musikkorps der Bundeswehr darbieten, war und blieb die musikalische Form des Marsches das unbestrittene Zentrum von Militärmusik. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert hat sich hier ein Spannungsverhältnis zu einer anderen musikalischen Repräsentationsform herausgebildet, nämlich dem Choral, hinter dem das historisch wechselnde Verhältnis von Staat und Kirche sichtbar wird, und diese Beziehung von Choral und Marsch verweist zudem paradigmatisch auf die ästhetischen Grundlagen nicht nur der Militär-, sondern auch der historisch gewachsenen Kunstmusik überhaupt. Der Band kam gelegentlich von Tagungen und Workshops im Rahmen eines musikwissenschaftlichen Projektes über Militärmusik heute des Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen« der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Freien Universität Berlin zustande. Die von 2008 bis 2010 erfolgte Behandlung der performativen Aspekte von Militärmusik wurde von dessen interdisziplinärem Gesamtkonzept entschieden beeinflusst, und so gilt allen daran beteiligten Kolleginnen und Kollegen ein herzlicher Dank. In gleicher Weise danken die Herausgeber all denen, die zum Gelingen des Bandes beigetragen haben, voran den Autorinnen und Autoren für die Druckfassung ihrer Manuskripte, desgleichen Barbara Wermann, Berlin für ihre Hilfe bei den redaktionellen Arbeiten sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ihre Beihilfe zu den Druckkosten. Berlin, im Herbst 2011 Peter Moormann, Albrecht Riethmüller, Rebecca Wolf

I. Musik als Staatssymbol

Die Militärmusik der Bundeswehr = Staatsmusik!? Manfred Heidler

A LLGEMEIN Musikalische Beiträge sind unverzichtbarer Teil vieler staatlicher Repräsentationsformen. Diese musikalischen Äußerungen können sich bis zu einer sogenannten »Staatsmusik« verdichten, die dann zu einer eindeutigen Identifizierung mit dem jeweiligen Staat führen kann. Albrecht Dunning schreibt über diese besondere Wirkungsform von Musik und Staat: Staatsmusik – Eine Einleitung […] Sie lässt sich zwanglos und ohne Störung der herkömmlichen Klassifizierungen neben die übrigen Gattungen der Musik einordnen. Wie die Kirchenmusik ihren geistigen Hintergrund im religiösen Glauben und Empfinden hat, so ist die Staatsmusik legitimer Ausdruck politischer Überzeugung, Gehorsams gegen die weltliche Obrigkeit oder auch bloßer Liebedienerei der staatlichen Gewalt gegenüber. Die Eigenständigkeit der Gattung der Staatsmusik ist an erster Stelle in ihrer sozialen Funktion begründet. Ungleich etwa der Kirchen- oder Theatermusik hat sie sich keine eigene Formenwelt oder eine ausschließlich ihr zugehörige Tonsprache geschaffen. Sie ist stets im Gewand der jeweils existierenden Musikzierformen aufgetreten, hat aus ihren [Kräften] ihre Kräfte gewonnen, hat in manchen Fällen ihre Entwicklung mitgefördert, ist mit ihnen mitgewachsen und hat sie nach ihrem Niedergang verlassen, um sich wieder ein neues Gehäuse zu suchen.1

1 | Albrecht Dunning, Staatsmotette: 1480-1555, Utrecht 1970, S. XVf. Dunning bezieht sich auf August Wilhelm Ambros (*17.11.1816 Mauth bei Prag, † 28.6.1876 in Rothlauf), der den Begriff »Staatsmusik« in Zusammenhang mit seinen Arbeiten als Musikhistoriker zum Motettenschaffen beziehungsweise sogenannten »Staatsmotetten« (mit)prägte.

14

M ANFRED H EIDLER

Die Entwicklung staatlicher Symboliken und mit ihr korrespondierender Musik verlief (auch nach den Untersuchungen von Ambros und Dunning) über differente historische Linien und diese sind oftmals nicht eindeutig zuzuordnen. Klingende Symboliken waren und sind aber immer Teil der kulturellen Identität eines Staates oder einer Nation. Sie sind vom Charakter her wohl auch als solche deutlich erkennbar und damit für Zuhörer/-schauer leicht identifizierbar. Dazu fand sich folgender interessanter Eintrag zu Werken von Richard Wagner: [A]uch wenn Wagner zu meinen Lieblingskomponisten gehört, ist »Lohengrin« doch eine der Opern des »Meisters«, die mir nicht so nahe steht. Das liegt wohl vor allem daran, daß sie mir zuviel »Staatsmusik« enthält, d.h. Aufmärsche, Chöre, Fanfarengeschmetter usw., die auf den ersten Blick zwar ganz aufregend sind, aber den Zuhörer auf die Dauer hin ermüden (allerdings ist der »Rienzi« dahingehend noch schlimmer…). 2

Aufmärsche, Fanfarengeschmetter, Militärmusik! Sind es Etikettierungen wie diese, die »Staatsmusik« klassifizieren oder gar eine musikalische Ablehnung zu erzeugen vermögen? Dieser Fragestellung gilt es hier nachzugehen.

G EBL ASENE S TA ATSSYMBOLIK – M ILITÄRMUSIK Eine herausragende Stellung innerhalb symbolverstärkender Musiken nimmt wohl zweifellos die jeweilige Nationalhymne eines Staates ein. Esteban Buch formuliert dazu, dass die »Expansion der sinfonischen Form mit einer ungeheuer vielfältigen Tonsprache, die bald militärische, bald religiöse Anklänge hat und 3 schließlich auch […] das Ritual der geistlichen oder profanen Hymne« umfasst; er sieht diese Entwicklung als Grundstein einer »neuen Politik der Symbolik«, die vor allem französischen Ursprungs sei. Es handle sich hierbei um »eine Musik, die als Darstellung einer politischen Haltung oder Verlautbarung anerkannt war und deren Erschaffung oder Interpretation von der Staatsregierung veranlasst wurde.« Wenngleich er sich auf die Wirkung von Ludwig van Beethovens Neunter Sinfonie bezieht, verweist er meines Erachtens zurecht auf die »erzählerische Wirkungskraft der Instrumentalformen«, die so »voll ausgeschöpft« zu einer neuen Art von »politischer Programmmusik und Staatsmusik« wurden. Das Zusammenspiel von Nationalflagge und -hymne kann hierbei emotional verstärkend wirken, was sich auch in der bewussten militärischen Inszenierung dieser sich ergänzenden Symboliken spiegelt. So fokussieren Text und 2 | Wann geht der nächste Schwan? – Richard Wagner: Lohengrin. Interneteintrag bei Tamino Klassik Forum von GiselherHH, Hamburg vom 4.12.2004. www.tamino-klassikforum.net [Aufruf am 3.6.2010]. 3 | Esteban Buch, Beethovens Neunte. Eine Biographie, Berlin, München 2000, S. 7-9.

D IE M ILITÄRMUSIK DER B UNDESWEHR = S TAATSMUSIK !?

Melodie der Nationalhymne gleichzeitig geschichtliche, geographische, politische und gesellschaftliche Strukturen, werden »Traditionen und Hoffnung der jeweiligen Länder und Völker offenbar«4 . Diese Zuschreibungen treten wiederum beim Intonieren der Nationalhymne durch ein uniformiertes Blas- oder Militärorchester hervor, gelten aber nicht nur für Militärmusiken, wie sich an einem anderen Beispiel verdeutlichen lässt: Die Korpsmusik der Kantonspolizei Zürich ist die offizielle Staatsmusik des Kantons Zürich. Die Einsätze der Korpsmusik sind zahlreich: Staatsempfänge, Brevetierungen, Fahnenzeremonien und musikalische Umrahmungen von korpsinternen Anlässen. […] Eine schöne und traditionelle Aufgabe erfüllt die Korpsmusik in der Stadt Zürich beim alljährlichen »Sechseläuten«. Als Zunftmusik begleitet sie die Zunft »Riesbach« auf dem grossen Umzug durch die Züricher Innenstadt und abends zu Besuchen in die Zunftlokale. 5

Diese kleine Beschreibung von »protokollarischen Ehrendiensten« umfasst dabei die nicht unerheblichen und sich gegenseitig ergänzenden Wahrnehmungsund/oder Wirkungsfelder wie: • Tradition – Konvention6 – Brauchtum, • Zeremoniell – Protokoll, • Militär – Militärmusik, wobei die Übergänge fließend verlaufen. 4 | Harry D. Schurdel, Nationalhymnen der Welt. Entstehung und Gehalt, Mainz 2006, Vorwort. 5 | Homepage Korpsmusik Zürich siehe: www.korpsmusik.ch [Aufruf am 3.6.2010]. Siehe hierzu auch: Bericht zum Konzert der Korpsmusik Zürich vom 27.6.2010 unter: www.spektrum-geroldswil.ch. Dort heißt es: »Der Regierung des Kantons Zurück steht das Spiel der Kontonspolizei Zürich bei offiziellen Empfängen und Anlässen als Staatsmusik zur Verfügung.« [Aufruf am 14.4.2011] 6 | Begriffserläuterung: Konvention: 1. Übereinstimmung, Vereinbarung 2. Herkommen, Brauch, Förmlichkeit. Brauch(tum): Eine innerhalb einer festen sozialen Gemeinschaft gewachsene Gewohnheit (Tradition); regelmäßiges Handlungsmuster; auch: Landessitte, Ritus, Sitte, Gewohnheit, Gepflogenheit, Usus. Siehe: Der kleine Duden, Fremdwörterbuch. Ein Nachschlagewerk für den täglichen Gebrauch, Mannheim 1983. Beide Begriffe wurden im Diskurs der theoretischen Konzeption der westdeutschen Streitkräfte im Bereich der Traditionspflege für die Verwendung von soldatischem Brauchtum benutzt. Vgl. hierzu auch: Manfred Franz Heidler, Musik in der Bundeswehr. Musikalische Bewährung zwischen Aufgabe und künstlerischem Anspruch, Essen 2005.

15

16

M ANFRED H EIDLER

Denn vieles, was in Zusammenhang mit Staat und Musik bis heute erklingt und simultan zumeist auch visuell dazu abläuft, entstammt genau diesen bei weitem nicht eindeutig ergründbaren oder belegbaren Erscheinungsformen auch deutscher Militärmusik, die sämtlichen politischen Systemwechseln zum Trotz bisher und vermutlich auch zukünftig so »Staatsmusik« erlebbar symbolisiert. Zu Symbol und Symbolik sei verdeutlichend bemerkt: Symbole sind keineswegs nur sichtbare Zeichen; ebenso gut können mittels der Sprache Bildvorstellungen erweckt werden, die Symbolcharakter haben. […] Die sinnfälligsten akustischen Symbole sind Melodien, die als Erkennungszeichen von Gemeinschaften oder politischen Bewegungen dienen; als Nationalhymnen symbolisieren Melodien das Zusammengehörigkeitsgefühl von Völkern. […] Heben sich die in den Streitkräften verwendeten Symbole nun von den erwähnten grundsätzlich ab, handelt es sich hier um »spezifische Symbole«, die sich speziell in deutschen Streitkräften entwickelt haben oder gar für diesen Zweck entworfen worden sind? Dazu ist zunächst festzustellen, dass es der Sache nach Fahnen, Feldzeichen, Hoheitszeichen usw. bei praktisch allen Armeen der Welt gibt, die funktional denselben oder ähnlichen Zwecken dienen. National unterscheiden sich diese Symbole durch Farben, die Anordnung von Farben, teilweise in der äußeren Form und vor allem durch meist stilisierte Bilder oder Embleme. […] Hieraus ergibt sich, daß auch die Herkunft der vermeintlichen spezifischen Symbole, die in Staat, Streitkräften, Religionsgemeinschaften usw. von Bedeutung sind, schwer oder gar nicht zu bestimmen ist; man wird sich mit der Erkenntnis begnügen müssen, daß diese Symbole im Verlauf der Entwicklungsgeschichte der Völker entstanden und somit Abbilder einer ehrwürdigen Tradition sind. […] Dies ist im besonderen zu beobachten, wenn Menschen bestimmte Formen einhalten oder aus Gründen der Feierlichkeit der Form ein bestimmtes Pathos verleihen und schließlich bei außergewöhnlichen Anlässen feierliche Formen nach vorher festgelegten Regeln zu Zeremonien ausbauen. […] Zeremonien erweisen sich beim genaueren Hinsehen geradezu als Komplexe von Symbolen bzw. von symbolischen Handlungen. […] – Zeremonielle sind zweifellos ein Ausdruck der allgemeinen Neigung der Menschen zum Formalen und zum Handeln nach Verhaltensmustern […].7

Und dabei spielt vor allem auch Musik eine bedeutsame Rolle. Zur geschichtlichen Entwicklung lässt sich anführen, dass

7 | Hans-Martin Ottmer, Allgemeine Überlegungen über Symbole, Formen, feierliche Formen und Zeremonielle, in: Hans-Peter Stein (Hg.), Symbole und Zeremoniell in deutschen Streitkräften vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Augsburg 1991, S. 9f.

D IE M ILITÄRMUSIK DER B UNDESWEHR = S TAATSMUSIK !? die Formen und Zeremonielle bei Staatsakten der Bundesrepublik und anderer Staaten als Rudimente aus monarchistischer Zeit verstanden werden [müssen]. In der Bundesrepublik scheint im weltlichen Bereich das religiöse Element weitgehend zurückgedrängt zu sein, die Kirchen treten direkt eigentlich nur noch bei Staatsbegräbnissen in Erscheinung. Es gibt aber in den weltlichen Zeremoniellen christliche Überbleibsel, etwa bei Vereidigungen, wobei die Formel »so wahr mir Gott helfe« Ausdruck dessen ist, daß der Eid unter Anrufung Gottes zum Zeugen geleistet wird. Auch der Große Zapfenstreich der Bundeswehr hat mit dem Kommando »Helm ab zum Gebet« und dem Choral »Ich bete an die Macht der Liebe« deutlich christliche Züge und wird gerade aus diesen Gründen von den Gegnern dieses Zeremoniells auf das schärfste kritisiert und mitunter als »pseudoreligiöser Mummenschanz« bezeichnet. 8

Für die Bundeswehr ist es wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass sie wie alle deutschen Armeen vor ihr feierliche Formen pflegt, ohne andererseits auf ein festes Zeremoniell festgelegt zu sein, sodass der Ablauf dieses von Fall zu Fall im Truppenalltag unterschiedlich sein kann. Die Zweiteilung in Vereidigung der Zeitsoldaten und das Gelöbnis der Wehrpflichtigen verdeutlichen dies und sprengen Einheitlichkeit auf. Die Beteiligung eines Musikkorps im formalen Ablauf bei Letzteren ist nicht die Regel, meistens aber gegeben und dort ist ein festes Repertoire von Musikstücken nicht bindend, jedoch ist das Abspielen der Nationalhymne zum Abschluss eines militärischen (Truppen-)Zeremoniells vorgeschrieben. Die wohl auffälligste Präsentation von Staat, Musik und Militär ist das tradierte Zeremoniell des Großen Zapfenstreichs; das umfangreichste militär(musikal)ische Schauspiel, das die Bundeswehr kennt. Musik macht Staat – lässt sich hier anfügen! Der »Große Zapfenstreich« der Bundeswehr z.B. ist seinem Wesen nach eine Darbietung oder Aufführung, die wie ein Theaterstück einstudiert werden muß. Eine musikalische Darbietung – Musik wird übrigens »gespielt« – setzt ruhiges Verhalten voraus; treten die Zuschauer als Störer in Erscheinung, wie das im Jahre 1980 in Bremen, Bonn und anderswo wiederholt geschehen ist, so verletzen sie die Spielregeln und werden zu »Spielverderbern«. – Einem anderen das Spiel zu verderben, kann formal wiederum als Spiel verstanden werden 9,

8 | Ebd. 9 | Heinrich Walle, Tradition. Floskel oder Form? Neue Wege zu alten Werten, in: Heinrich Walle (Hg.), Von der Friedenssicherung zur Friedensgestaltung. Deutsche Streitkräfte im Wandel, Herford, Bonn 1991, S. 233f. Hier stand nach Analyse des MGFA das zusammengefügte formale Zeremoniell von Feierlichem Gelöbnis und Großem Zapfenstreich im Zentrum der Kritik, während der musikalische Inhalt keine Kontroversen auslöste.

17

18

M ANFRED H EIDLER

folgerte der Betrachter in seiner Analyse dieses besonderen militärischen Zeremoniells. Es gilt zudem zu betonen, dass es der »Zivilist im Soldatenrock« Wilhelm Wieprecht10 war, der als Kammermusiker vom Theater kommend, die emotionale Macht von »Musik, Fackelschein und Soldaten unter Gewehr« erkannte und als Teil seiner bekannten »Monstrekonzerte« zur wiederholten Aufführung brachte. Apropos Schauspiel und Präsentation des Militärischen: Adelbert Weinstein beschrieb 1979 die Abschiedsparade deutscher Truppen vor dem scheidenden NATO-Oberbefehlshaber General Haig mit den Worten: Beinahe ridikül das Häuflein der Bundeswehr […] die verschüchterte Gruppe junger Soldaten, die in Casteua die Bundeswehr repräsentierten, wirkte wie eine Karikatur des Militärischen. Mühsam hielten sie Schritt […] Der Leutnant stolperte unbeholfen vor seinen Reisigen daher. Diese wiederum näherten sich dem Oberbefehlshaber wie die Bürger von Calais, nicht aber wie Staatsbürger in Uniform […]. 11

Im gleichen Jahr erschienen die Lebenserinnerungen von Carlo Schmid, in denen er rückblickend den Staatsbesuch von Bundeskanzler Konrad Adenauer in Moskau 1955 beschreibt: Auf dem Flugplatz Wnukowo erwarteten uns Bulganin und Chruschtschow mit der Spitze der politischen Machthaber der Sowjetunion. Den blanken Säbel in der Faust meldete ein Offizier dem Bundeskanzler das Ehrenbataillon: Zweihundert »lange Kerls« in attraktiven blauen Uniformen. Ihr Parademarsch – exakt, fest und zugleich federnd wie ein Sturmschritt – konnte einem Schauer über den Rücken rieseln lassen, soviel Kraft ging von dieser Truppe aus.12

Dies sind zwei konträre Beschreibungen von Truppenparaden, die das Dilemma der Bundeswehr besonders deutlich hervorheben: Ihre politisch gewollte Selbstdarstellung ohne Pathos, aber im Kontext militärischer Tradierungen, 10 | Wilhelm Wieprecht (1802-1872) schuf die heute geläufige Form des Großen Zapfenstreichs in den 1840er-Jahren. »Zapfenstreich« war dabei ein Programmpunkt in seinen sog. Monstrekonzerten, die das Publikum damals zuhauf begeisterten. Die Übernahme des Großen Zapfenstreichs erfolgte von Preußen ausgehend für die anderen deutschen Kontingentarmeen erst später; so zum Beispiel im Königreich Württemberg wohl erst um 1880. Vgl. hierzu auch die entsprechenden Abschnitte in: Bernhard Höfele, Die deutsche Militärmusik. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte, Bonn 1999 und Heidler, Musik in der Bundeswehr. 11 | Walle, Tradition, S. 233f. 12 | Ebd.

D IE M ILITÄRMUSIK DER B UNDESWEHR = S TAATSMUSIK !?

die sich gerade im bekannten Stech- oder Paradeschritt ehedem preußischer, reichswehr- und wehrmachtstypischer, später nochmals sozialistisch eingefärbter »ostdeutscher«, oder wie im Beispiel genannt, sowjetischer Soldaten eingeprägt hat.

Z EREMONIELL UND P ROTOKOLL – M USIK UND M ILITÄR : D IE P ROBLEMATIK ZERBROCHENER TR ADITION In allen Ländern wird dem klingenden Staatssymbol eine besondere Ehrerweisung entgegengebracht, deren Form und Intensität zwar in den einzelnen Nationen unterschiedlich ausgeprägt erscheint, aber im internationalen Rahmen – staatlich wie korporativ – einheitliche Normen ausgebildet hat. Werden Bedeutungsinhalte bei Wappen und Flaggen visuell vermittelt, so fügen Hymnen und andere symbolisierende Musiken hierbei emotional verstärkend einen nicht zu unterschätzenden auditiven Charakter hinzu, der emotionale Wirksamkeit bei Zuschauern und -hörern zu erzeugen vermag. »Glanz und Glorie« auch vergangener geschichtlicher Epochen spiegeln sich heute noch in Flaggen, Uniformen, Gleichschritt und Militärmusik.13 Sie sind so Erscheinungsformen staatlicher Repräsentanz, die wirkungspsychologische Effekte freisetzen und diese werden dann vor allem bei Staatsbesuchen erlebbar. Besondere Bedeutsamkeit erhalten diese Zuschreibungen der Verbindung von Musik und Militär, funktional zusammengefügt und durch den Lauf der Geschichte funktionell genutzt, bei jeweils systembedingt organisierter Militärmusik. Für die junge Bundesrepublik und die westdeutschen Streitkräfte bedeutete die Ausgestaltung eines sogenannten Protokolls und damit einhergehend auch militärischen Zeremoniells einen doch teilweise emotional hitzigen Diskurs um den Sinn einer Wiederbelebung erprobter und/oder auch geschädigter militärischer Brauchtumsschemata beziehungsweise möglicher reaktivierbarer soldatischer und staatlicher Konventionen. Der von mir sehr geschätzte Fred K. Prieberg beschrieb das Zusammenwirken von Staat, Musik und Militär wie folgt:

13 | Vgl. Hans-Peter Stein, Symbole, in: ders. (Hg.), Symbole und Zeremoniell in deutschen Streitkräften vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Augsburg 1991, S. 28.

19

20

M ANFRED H EIDLER Mordsmusik Die seltsame Beziehung der Machthaber zur Musik gipfelte darin, daß sich das äußerliche Zeichen staatlicher Macht, das Militär, mit ihr geradezu gewohnheitsmäßig schmückt. Daraus folgt ein schlechterdings perverses Bild. Musik, von alters her als Geschenk der Götter und Gegenkraft gegen das Böse, Hässliche und die Lüge gepriesen, dient in diesem Zusammenhang direkt oder indirekt als Magd bei der brutalsten Art der Konfliktlösung, nämlich der blutigen. […] Nun leisten sich heute noch fast alle Staaten – auch die angeblich zivilisierten – eine doppelte Moral. Zum Zweck der Machterhaltung haben sie sich stehende Heere zugelegt. […] Die ideale Konditionierung dafür scheint sich zu ergeben aus der Kombination der handwerklichen Ausbildung im Töten und Zerstören mit einer speziell darauf zugeschnittenen Musik, der Militärmusik. Sie vermag in den Hirnen jene Leere zu erzeugen, die in einer Epoche des Friedens als Unzurechnungsfähigkeit diagnostiziert und Mord daher straffrei lassen würde, andererseits im »Ernstfall«, den die Regierung mit stillschweigender Amnestie für Mord und andere Kapitalverbrechen dekretiert, moralische Bedenken im Keim erstickte. Anders würde kein Krieg gelingen.14

Im persönlichen Austausch relativierte er jedoch seine damals recht apodiktischen Ausführungen zur Militärmusik im Allgemeinen und die der Bundeswehr im Speziellen. Historisch richtig schreibt er zur Aufstellung des später als Bundeswehr bezeichneten sogenannten westdeutschen Verteidigungsbeitrages: Als die Bundesrepublik, um sich dem einflussreichsten der ehemaligen westlichen Kriegsgegner als Bundesgenosse im vielleicht nicht nur »Kalten Krieg« gegen den Kommunismus zu empfehlen, mit der Remilitarisierung begann, spielte Militärmusik gleich eine auslösende Rolle. Noch unter der Erfordernis eines Freiwilligen-Gesetzes – die Wehrpflicht war späteren Datums – fanden sich mit den ersten 500 Soldaten immerhin vierzig Musiker ein. Eine ihrer ersten Dienstobliegenheiten war ein Ständchen zum 80. Geburtstag des damaligen Bundeskanzlers Adenauer (CDU) am 5. Januar 1956, gerade fünf Tage nachdem die ersten ungedienten Bundeswehrsoldaten in Andernach vereidigt worden waren, und sozusagen als Dank, denn der Jubilar hatte seinem Verteidigungsminister Herbert Blank [sic! Theodor] (CDU) dringend ans Herz gelegt, daß Soldaten der Musik bedürfen. Damit entschied er zunächst den scharfen Streit der Meinungen über den Sinn militärmusikalischer Beeinflussung des »Bürgers in Uniform«. Daß Beeinflussung – im Weg über das Symbol der Macht – mitgedacht war, ergibt sich aus der Fortsetzung der »großen« Tradition. In der Tat brauchte Vorhandenes oder Erinnerliches nur wiederaufgefrischt zu werden. Man konnte es längst schwarz auf weiß lesen: Die Militärmusik hat es »in sich«, sie erfüllt uns mit stolzer Freude, ihr heroischer und volksnaher Charakter machen sie zu einem wichtigen Kulturfaktor. […] Zudem existierten historische Tatsachen, die wirklich eine glänzende Tradition andeuteten. Das Gros der 14 | Fred K. Prieberg, Musik und Macht, Frankfurt a.M. 1991, S. 235f.

D IE M ILITÄRMUSIK DER B UNDESWEHR = S TAATSMUSIK !? angewandten Musik während und nach der Französischen Revolution war militärischen Charakters.15

Letzteres gilt es besonders für die auch heute noch geläufige »Staatsmusik« zu betonen. Einige Anmerkungen zu Priebergs Feststellungen mögen diese ergänzen: Militärisches Zeremoniell und Inneres Gefüge Eine knappe Notiz des militärischen Leiters des Amtes Blank, General a.D. Heusinger, vom 8. November 1954 beschied: Mit dem neuen Pariser Vertragswerk ist die bisherige Konzeption für die Aufstellung eines besonderen »Wachregiments« als national verbleibender Verband als überholt anzusehen. […] Es wird erwogen, für Wach- und Repräsentationszwecke wechselweise Einheiten aus den Streitkräften zu bestimmen.16

Nachfolgend wurden die Vorstellungen zu möglichen Wach- und Repräsentationsaufgaben – ohne dafür vorgesehene Truppen – seitens des Amtes Blank präzisiert, wobei aber alle Wachen wie zum Beispiel für den Bundeskanzler oder den Bundespräsidenten durch Angehörige des Bundesgrenzschutzes weiterhin gestellt wurden. Auch Repräsentationsaufgaben beim Bundeskanzler und Bundespräsidenten verblieben damals unter Vorbehalt beim Bundesgrenzschutz. Zudem war bei militärischen höchsten und hohen Kommandostellen »keine herkömmliche militärische Repräsentation in Form von traditionellen Einrichtungen militärischen Gepräges vorgesehen.«17 Nach Ende der Aufstellungsphase des westdeutschen Verteidigungsbeitrages, der späteren Bundeswehr, sollten für Wach- und Repräsentationsaufgaben zusätzlich zum Bundesgrenzschutz aus den neu aufgestellten Teilstreitkräften Einheiten herangezogen werden. »Ein zeremonielles Auftreten bei militärischen Kommandobehörden war auch danach nicht vorgesehen.«18 Dieser bewusste Ansatz einer umfassenden Reduzierung militärischer Selbstdarstellung als scharfer Kontrast zu untergegangenen Epochen der jüngeren eigenen Geschichte sowie auch aufgrund des damit zerbrochenen militärischen Selbstbewusstseins verwundert auf den ersten Blick nicht sonderlich. Das Amt Blank setzte zunächst auf die möglichst nüchterne und schnörkellose Darstellung des »neuen Militärs« in einer Demokratie jenseits bekannter

15 | Ebd., S. 241. 16 | Karlheinz Deisenroth, Überlegungen im Amt Blank zur Aufstellung eines Wachregiments im Rahmen der EVG-Planungen, in: Thorsten Loch (Hg.), Das Wachbataillon beim Bundesminister der Verteidigung (1957-2007), Hamburg, Berlin, Bonn 2007, S. 22. 17 | Ebd. 18 | Ebd.

21

22

M ANFRED H EIDLER 19

Muster des ehemaligen Barras mit »Pathos und Paraden« . Dieser Denkansatz sah »alle Formen des Zeremonielles [als] veraltet und überlebt«20 an, und die Truppe sollte folglich nun nicht mehr als »Dekoration« zur Verschönerung von staatlichen Veranstaltungen dienen. In der Diskussion verblieb aber der Gedanke an ein »Wachregiment mit Musik«21, das die Repräsentationsaufgaben für Staat und Militär übernehmen konnte. Insgesamt jedoch konkretisierte sich eine entschiedene Absage an »Relikte einstiger Militärherrlichkeit« samt einer Paradetruppe, indem die Anwendung des Truppenzeremoniells zu Zwecken der staatlichen Repräsentation entsprechend dem internationalen Protokoll auf ein Minimum reduziert wurde. Bedeutsam erscheint der Hinweis eines Referatsleiters damals, dass zur »Ansprache der Gefühle des Volkes, z.B. [auf ] ein Musikkorps«22 nicht verzichtet werden konnte. Zudem mussten die theoretischen Planer einer militärischen Erneuerung dann erkennen, dass die junge Bundesrepublik nach Erlangung ihrer weitgehenden Souveränität im Mai 1955 ein Mindestmaß an militärischen Ehrerweisungen dem internationalen Protokoll entsprechend zu gewährleisten hatte. Ab Mitte 1956 zwang die Zunahme an Protokollaufgaben zu weiteren Beratungen des Sicherheitsausschusses zur Errichtung einer Wach- und Repräsentationstruppe am Sitze des Staatsoberhauptes und der Bundesregierung. Die Entscheidung zur Bildung eines »Spezialbataillons« für die erforderlichen Wach- und Repräsentationszwecke erfolgte dann am 12. Dezember 1956, indem der damalige Staatssekretär Josef Rust mündlich den Befehl erteilte, ein »Stabs-Bataillon beim BMVg in Stärke einer Fernmeldekompanie, einer Wachkompanie, einer Ehrenkompanie, einer Feldjägerlehrkompanie, einer Stabskompanie und einem Lehrmusikkorps unter einem Bataillonsstab, beginnend ab 1. Januar 1957«23 aufzustellen. Bedeutsam für den Militärmusikdienst der Bundeswehr war die Tatsache, dass das neu aufzustellende Musikkorps gemäß der Ministerentscheidung vom 8. Dezember 1956 bereits als Repräsentations- und Ausbildungs-(Lehr-)musikkorps ausgeplant war. Bei der ersten Musikoffiziertagung24 im September 1956 erfolgte die Herausbildung des bundeswehrtypisch »abgespeckten« militärischen Zeremoniells samt Musik in der Aufstellungsphase der Bundeswehr ganz im Sinne 19 | Heidler, Musik in der Bundeswehr. Hier Abschnitt: Das Amt Blank und seine musikalischen Initiativen – Inneres Gefüge, Innere Führung und Militärmusik, S. 51f. 20 | Ebd. 21 | Ebd. 22 | Deisenroth, Überlegungen im Amt Blank, S. 25. 23 | Karlheinz Deisenroth, »Garde« im demokratischen Staat – Aufstellung und Konsolidierung, in: Loch (Hg.), Das Wachbataillon, S. 31. 24 | BAMA, BW 2/11714. Protokoll über den Lehrgang der Offiziere der Militärmusik vom 17.9. bis 21.9.1956 in Andernach, S. 1. Siehe auch: Heidler, Musik in der Bundeswehr, S. 301f.

D IE M ILITÄRMUSIK DER B UNDESWEHR = S TAATSMUSIK !?

des Referates Innere Führung. Praktische Arbeit kennzeichnete diese Tagung, an dem auch ein neuer Schellenbaum vorgeführt, aber unter dem Hinweis »verbesserungswürdig« von den Musikoffizieren abgelehnt wurde. Ebenfalls ging es um die Plätze für die Tuben in der Paradeaufstellung. Eine lebhafte Diskussion setzte über die Posaunen in der Marschordnung ein. Als Ergebnis vermeldet das Protokoll dazu, dass »die Posaunen nicht wieder nach vorne kommen«. Hier hatten wohl die »Konservativen« den Meinungsstreit für sich entschieden. Diese Festlegung wurde jedoch nicht verbindlich, sodass die Posaunen in der Marschordnung eines bundesdeutschen Musikkorps bis heute vorne marschieren. Auch die Zeichengebung des Chefs beim Vorbeimarsch wurde erörtert und vermutlich wurde dort dann auch das Aufstellungsprinzip von Chef, Schellenbaum, Tambourmajor, Spielmannszug, Musikkorps und folgender Truppe als für die Bundeswehr verbindlich festgelegt. Diese Formation war gegenüber der tradierten Aufstellung in Alter Armee, Reichswehr, Wehrmacht und NVA grundlegend verändert, da dort der Tambourmajor mit folgendem Spielmannszug die Spitze der Marschformation bildete und sich auch für die funktionalen Abläufe verantwortlich zeichnete (Zeichengebung und so weiter).

Abb. 1: Empfang mit militärischen Ehren für den Oberbefehlshaber Europa Mitte. Bonn Ermekeilkaserne 1956. Lehrtruppe Andernach mit Musikkorps III A unter der Leitung von Hauptmann Hans Friess. Foto: Zentrum Militärmusik der Bundeswehr, Bonn. Die Nationale Volksarmee der DDR pflegte tradierte Brauchtumsschemata bei ihrem spezifischen Protokoll und Zeremoniell aus Kaiserzeit, Reichswehr und Wehrmacht mit sozialistischer Neudeutung weiter. Ihr gelang so die politisch vorgegebene sozialistische »Erbrezeption« und damit gleichzeitig die Ausplünderung der deutschen Militärgeschichte nach verwertbaren Versatzstücken für eine eigene sozialistische Identitätsstiftung ihrer »Arbeiter-und-Bauern-Macht«. Diesen Umstand kommentierte Prieberg im Umkehrschluss zur Bundeswehrwirklichkeit dann so:

23

24

M ANFRED H EIDLER Das Abklopfen der Tradition nach einer brauchbaren Militärmusik für ein neues, demokratisch verfaßtes Gemeinwesen hätte Erfolg zeitigen können. Wie, das exerzierte die DDR, zugeschnitten auf eigne politische Bedürfnisse, mit Geschick vor. Propaganda für den neuen Staat, das hatte man hier begriffen, bedingte Distanzierung von allen militärisch-musikalischen Lösungen des faschistischen Regimes von gestern . 25

Abb. 2: Großer Wachaufzug der Nationalen Volksarmee der DDR mit Spielmannszug, Musikkorps und Wachtruppe der Stadtkommandantur Berlin. Foto: Zentrum Militärmusik der Bundeswehr, Bonn. Sein Ansatz stimmt aber leider nur zum Teil. Eingefügt in das Zeremoniell der Bundeswehr wurden dann Musikstücke, die zum einen die Anbindung an vergangene und überwundene politische Systeme ermöglichten und so zum anderen militärische und musikalische Tradition praktisch verfügbar machten. Einem Ferment gleich erklingen daher und unabhängig der vollzogenen politischen Systemwechsel bis heute in funktionaler Nutzanwendung26 der preußische oder bayerische Präsentiermarsch (Heer, 25 | Prieberg, Musik und Macht, S. 242. 26 | Siehe hierzu: Walter Transfeldt, Wort und Brauch in Heer und Flotte, hg. v. HansPeter Stein, 9. überarb. und erw. Aufl., Stuttgart 1986, S. 291. So heißt es dort unter Nr. 348. Flaggenparade: »Die Flaggenparade ist das morgendliche Heißen (= Hissen) bzw. das Niederholen der Kriegsflagge bei Sonnenuntergang auf Schiffen und Booten der Kriegsmarine. Hierzu trat die Wache mit Gewehr, und die Spielleute schlugen Marsch. Nach 1900 führte die Kaiserliche Marine für feierliche Anlässe das Zeremoniell der

D IE M ILITÄRMUSIK DER B UNDESWEHR = S TAATSMUSIK !?

Luftwaffe und Streitkräftebasis) und der Holländische Ehrenmarsch (Bundesmarine), die Deutsche Nationalhymne (sowie auch Landeshymnen oder Lieder mit regionalem Bezug wie die Bayernhymne oder Hoch Badner Land, WaldeckerLied, Europahymne u.a.), Ich bete an die Macht der Liebe, Ich hatt’ einen Kameraden sowie eine große Zahl sogenannter Traditionsmärsche aus und in der Nachfolge der Preußischen Militärmarschsammlung von 1817, um nur die wichtigsten zu nennen. Dies erscheint auch in Bezug auf die Ausführungen von Prieberg ungewöhnlich, findet aber eine mögliche Erklärung im Praxisbezug der bei Neuaufstellung der Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland damals Handelnden. Übernommen wurde dabei, was bekannt und nicht geschädigt war, oder sich demokratisch verwendbar zeigte. Das galt für die bereits genannten Musikstücke und viele Märsche. Diese Vorgehensweise war nicht neu, denn auch die Reichswehr übernahm Musik und Zeremoniell des untergegangen Kaiserreichs, kleidete ihre Soldaten in neue Uniformen und bedachte erstmals Ansätze von Innerer Führung als Resultat der Kriegserfahrungen und der begonnenen Technisierung von Streitkräften. Für die spätere Bundeswehr galt ebenfalls: Theoretische Grundsätze zu Moral und Ethik des Soldaten in einer Demokratie und damit Staatsbürgers in Uniform entstammen dem späteren Referat Inneres Gefüge/Innere Führung,27 das zudem alle militärorganisatorischen Maßnahmen ›Großen Flaggenparade‹ ein, bei welchem ein Musikkorps Nationalhymne und Präsentiermarsch der Marine (›Holländischer Ehrenmarsch‹ HM I,60) zum Heißen der Flagge spielte. Dieser Marinebrauch wurde 1936 auf die gesamte Wehrmacht ausgedehnt. Auch in den beiden deutschen Armeen unserer Tage ist dieses Zeremoniell für besondere Gelegenheiten vorgesehen.« Militärmusikalische Zeremonialformen wie Wecken, Großes Wecken, Großer Wachaufzug und so weiter wurden in der Bundeswehr nicht mehr übernommen, während die NVA in der DDR diese, wenn auch mit sozialistischer Umwidmung, zum Teil weiter pflegte. 27 | Siehe hierzu: Innere Führung von A-Z, Lexikon für militärische Führer, Regensburg 1991, S. 103f. »Innere Führung ist der amtliche, seit dem 10. Januar 1953 gültige Sammelbegriff für die einzelnen Arbeitsgebiete, die heute ›Anwendungsbereiche‹ bezeichnet werden. Alle Arbeiten auf dem Gebiet ›Innere Führung‹ haben das Ziel, den Typ des modernen Soldaten zu schaffen und fortzubilden, der freier Mensch, guter Staatsbürger und vollwertiger Soldat zugleich ist (Dienststelle Blank – L/II – 58/53 ghe., BAMA Bw 9-411). Inneres Gefüge. Der Ausdruck ›inneres Gefüge (der Truppe)‹ geht auf die psychologische Einschätzung der Reichswehr durch den damaligen Chef der Heeresleitung (1919/20), General W. Reinhard, zurück, der folgendermaßen darauf anspielte: »Ihr inneres Gefüge und ihr äußeres Ansehen hat […] großen Schaden genommen«. In Erlassen der Wehrmacht tauchte der Ausdruck 1942 wieder auf und wurde erneut in den Himmeroder Gesprächen (»Himmeroder Denkschrift«), dann während der Aufbauphase der Bundeswehr (1956/65) verwendet. Nach W. von Baudissin bedeutete er: geistige,

25

26

M ANFRED H EIDLER

wie Uniform, Selbstdarstellung, Zeremoniell und Militärmusik betreute. Die westdeutschen Streitkräfte erhielten eine neue Uniform samt Stahlhelm – von der Bevölkerung und den Soldaten gleichermaßen als unmöglich bezeichnet und abgelehnt –, ebenfalls wurden zunächst keine eigenen Truppenfahnen (Einführung 1967) gestiftet und das notwendige Zeremoniell wurde auf ein Minimum »abgespeckt«. Der tradierte Musikbestand28 wurde eingehend geprüft und eine Auswahl an geeigneten Werken vorgelegt, die im Truppenalltag als tauglich erschienen. Daher erscheint es nachvollziehbar, dass als Funktionsmusik wiederum bewährte Literatur durch die Musikkorps der Bundeswehr weitere Verwendung fand. Zudem erfolgte so die Neuauflage dessen, was sowohl Militärmusiker, die große Zahl der Soldaten und Parlamentarier sowie die Bevölkerung selbst kannte und auch wieder erkannte. Musik erklang beim damals »neuen Militär«, die seit jeher im staatlichen Inszenierungsablauf oder seiner Repräsentation geläufig und durch die funktionale Anwendung soweit verfestigt war, dass auch erfolgte Systembrüche eine neuerliche Verwendung nicht verhinderten und so aus Tradition und Brauchtum dann vielleicht vorsichtig als »Staatsmusik« zu bezeichnendes Spielgut für den Militärmusikdienst der Bundeswehr entstand – oder trefflicher als bekannte staatliche »Gebrauchsmusik« im Hindemithschen Sinn bezeichnet werden kann.

sittliche und rechtliche Gesamtverfassung nach den Gesetzen, Vorschriften, Rechtsverordnungen und weiterhin: Gesinnung, Disziplin, Verteidigungsbereitschaft (»Kampfmoral«), mitbürgerliches Verhalten und Grundeinstellung zum Staat. Aufgrund von Missverständnissen wurde I. durch den Begriff Innere Führung ersetzt.« Eigene Anmerkung: Die dort gefassten Gedanken über einen evtl. (westdt.) Verteidigungsbeitrag zwangen zu einem Nachdenkprozess über die Begriffsfelder »Tradition, Konvention bzw. soldatisches Brauchtum«. Es kam dabei im Widerstreit der Meinungen auch zur Kollision mit den Folgebegriffen Symbolik, Präsentation und Repräsentation der neuen Streitkräfte. Interessanterweise fand zudem im Verlauf der Vorbereitungsphase des Streitkräfteaufbaus dann auch ein Austausch mit dem Institut für Sozialforschung in Frankfurt statt, das heißt die sogenannte »Frankfurter Schule« um Horkheimer und Adorno brachte ihre Kenntnisse für die Offizierauswahl der späteren Bundeswehr als praktische Politikberatung mit ein. Denn am »Dienstag, den 8. März 1955 hielt Adorno auf einer der Konferenzen im Rahmen des geheimen ›Projekts 14‹ zur Schulung der Prüfoffiziere einen Vortrag mit dem schönen Titel ›Nervenpunkt antidemokratischer Gesinnung‹«. Siehe hierzu: Clemens Albrecht, Expertise versus demonstrative Politikberatung. Adorno bei der Bundeswehr, in: Stefan Fisch und Wilfried Rudloff (Hg.), Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004, S. 297-309. 28 | Der Findungskommission gehörten neben bewährten »Musikmeistern« und späteren Musikoffizieren auch zivile Musikexperten an.

D IE M ILITÄRMUSIK DER B UNDESWEHR = S TAATSMUSIK !?

R EPR ÄSENTATION – P R ÄSENTATION : S TA ATSBESUCH , P ROTOKOLL UND S TA ATSMUSIK (EN) Staatliche Repräsentanz mit einem wahrnehmbar hohen Bedeutungsgrad von Musik tritt allseits bekannt bei Staatsbesuchen mit sogenannten protokollarischen, und damit auch militärischen, Ehren erkennbar hervor. Dies war aber beileibe nicht gängige Praxis nach Gründung der Bundesrepublik 1949. Der Grund liegt in der nur teilweisen Souveränität Westdeutschlands, die erst in langwierigen Verhandlungen und unter Aufbau eigener Streitkräfte zur Verteidigung der westlichen und damit selbst erlangten (west-)deutschen Freiheit erreicht wurde. Dies galt nicht nur für zwischenstaatliche Begegnungen, sondern betraf auch innerstaatliche hoheitliche Vorgänge. Der spätere Generalinspekteur der Bundeswehr, Ulrich de Maizière, damals Mitarbeiter im Amt Blank, hat eines dieser besonderen Ereignisse festgehalten: 15 Uhr 5.5.1955 Ansprache des Herrn Leiters an die Dienststelle: Herr Blank liest die Proklamation der Bundesregierung zur Wiederer langung der Souveränität auf Grund des Inkrafttretens des Deutschlandver trages vor. Daran schließt er seinen Dank für die bisher geleistete Arbeit an und hebt besonders hervor, dass auch die Unsicherheit nach dem 30. August 1954 niemanden entmutigt habe. [Hintergrund: Ablehnung des EVG-Vertrages durch die frz. Nationalversammlung, Kommentar, M.H.] Er sei überzeugt, dass auch die bevorstehenden Aufgaben mit derselben Pflichttreue erfüllt werden. Es komme nun darauf an, auf der Grundlage des bisher Geplanten eine Armee aufzubauen, die der Welt und Deutsch land gegenüber bestehen kann. [Umplanung von überstaatlicher zu nationalstaatlicher Armee, Kommentar, M.H] Kurz vor Eintreffen des Herrn Dienststellenleiters wurde auf dem Dienstgebäude die Flagge der Bundesrepublik erstmals gehisst. 29

Der Symbolgehalt dieser Flaggenhissung ist nicht hoch genug einzuschätzen. Vorausgegangen war im Garten des Palais Schaumburg eine ähnliche Zeremonie. 5. Mai 1955. Die Westverträge treten endlich in Kraft. An diesem Tag endete die durch die Hohen Kommissare ausgeübte Kontrolle der Bundes regierung. Fast auf den Tag genau zehn Jahre nach Ende des Krieges war die Bundesrepublik – mit gewissen Einschränkungen – ein gleichberech tigter Staat im westlichen Bündnis. Wenn es nach Adenauer gegangen wäre, hätte eine große Feierstunde im Bundestag das historische Ereignis gewürdigt. Doch weil die Sozialdemokraten die Westverträge ablehnten (SPD29 | BAMA: BW9/2527-6. Tagebuchaufzeichnung de Maizière (Tagebuch; Textband Dienststelle Blank/Bundesministerium der Verteidigung, Abt. II, 5.1.55-29.6.56.).

27

28

M ANFRED H EIDLER Chef Erich Ollenhauer: »Deutschland ist nach wie vor gespalten!«), wurden im Parlament nur Erklärungen verlesen. So ließ der Kanzler im Gar ten des Palais Schaumburg wenigstens eine kleine Feier inszenieren. Ein Beamter des Bundesgrenzschutzes – mit einem alten Wehrmachtsstahl helm auf dem Kopf – hißte die Bundesflagge, und Adenauer hielt vor den Kameras und Mikrophonen einer kleinen Schar von Reportern eine kurze Ansprache. 30

Emotionalität und Symbolik kennzeichneten bereits im April 1953 auch Adenauers Staatsbesuch in Washington. 8. April 1953. Bei seiner ersten USA-Reise [in seiner Eigenschaft als Bun deskanzler] legte [Adenauer] auf dem großen Soldatenfriedhof in Arlington einen Kranz am Grabmal des unbekannten Soldaten nieder. Es war der emotionale Höhepunkt des Staatsbesuchs. Einträchtig wehte das Sternen banner neben der schwarz-rot-goldenen Flagge. Adenauer schilderte die Szene in seinen Memoiren mit für ihn seltener Emphase: »Eine amerikani sche Militärkapelle spielt die deutsche Nationalhymne. Ich sah, wie einem meiner Begleiter die Tränen herunterliefen, und auch ich war von tiefer Be wegung ergriffen. Es war ein weiter und harter Weg von dem totalen Zu sammenbruch des Jahres 1945 bis zu diesem Augenblick des Jahres 1953.« 31

Hier zeigt sich die besondere Bedeutung, die Konrad Adenauer dieser Art von nationalstaatlicher Symbolik beimaß. Denn die Selbstverständlichkeit eines zwischenstaatlichen Protokolls, wie es international üblich war und bis heute ist, war der Bundesrepublik Deutschland bis zum 5. Mai 1955 verwehrt worden. Hier begann nun jenes Stück protokollarischer Ehrenbezeugung für die Bundesrepublik Deutschland, auf das vor allem Adenauer so lange gehofft hatte. Die Dokumentation von staatlicher Souveränität wurde durch das Zusammenspiel von Symbol und Musik – Bundesflagge und Nationalhymne – vor allem emotional verstärkt. 1953 wurde in den fernen USA somit die Zusammengehörigkeit dieser Dinge beispielhaft vorgeführt. Im Garten des Palais Schaumburg und vor dem Dienstgebäude von Blank wurde die emotionale Gesamtwirkung nur teilweise erreicht, da die verstärkende Wirkung von Musik beim Hissen der Bundesflagge noch fehlte. Auf die von einem Musikkorps gespielte Nationalhymne musste damals noch gezwungenermaßen verzichtet werden. Apropos protokollarische Ehren und Abspielen der Nationalhymne: Es wird berichtet, dass andernorts Bundeskanzler Adenauer nicht mit dem Deutschlandlied als Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland, sondern mit dem gängigen Gassenhauer Heidewitzka, Herr Kapitän begrüßt wurde, während Erich Honecker später dann bei seinem Staatsbesuch in einem der Länder Südame30 | Guido Knopp, Kanzler. Die Mächtigen der Republik, München 1999, S. 68f. 31 | Ebd., S. 58f.

D IE M ILITÄRMUSIK DER B UNDESWEHR = S TAATSMUSIK !?

rikas mit dem Deutschlandlied anstatt der Becher-Eisler-Hymne der DDR empfangen wurde. Welch protokollarische Peinlichkeiten32 oder Verwechslung von sogenannter Staatsmusik! Die Durchführung eines Staatsbesuches folgt dabei einem detailliert ausgearbeiteten Ablauf, einschließlich festgelegtem militärischem »Protokoll«, das von der Begrüßung des Staatsgastes (der Staatsgäste), über Defilee und Bankett in den Prunk- oder Repräsentationsräumen, über den Besuch von Denk- und Ehrenmalen, bis zur förmlichen Verabschiedung reicht. Der Ablauf folgt dabei einem tradierten Regelwerk und entspricht damit internationalen Gepflogenheiten mit gewollten nationalen Ausprägungen, wie sie sich aufgrund von Geschichte und Kultur in den jeweiligen Staaten entwickelt haben. Bei einem Staatsbesuch in der Bundesrepublik Deutschland erklingt so (Militär-)Musik zumeist in der Chronologie33 seines gesamten Verlaufs. Dieser beginnt mit dem Einsatz der militärischen Ehrenformationen einschließlich eines Musikkorps mit Aufmarsch zur Begrüßung des Staatsgastes beziehungsweise der Staatsgäste mit dem Abspielen des Präsentiermarsches zum Abschreiten der Front und anschließendem Spiel der Nationalhymne des Gastlandes und des Deutschlandliedes. Dazu lässt sich historisch bemerken: Präsentiermarsch und Nationalhymne – unter Kaiser Wilhelm I. wurde die Regel festgelegt […], daß für das Abschreiten der Front (»Parade auf der Stelle«) durch das Staatsoberhaupt der Präsentiermarsch abzubrechen [ist], sobald dieses das Musikkorps abgeschritten hat, und in die Nationalhymne überzugehen ist. Später […] wurde diese Regelung mit einigen Modifikationen nur noch auf Kaisermanöver bezogen. Für das Verhalten der Spielleute trafen die Vorschriften keine Festlegungen. In der Reichswehr legte der Reichwehrminister in Ausführungsbestimmungen vom 17.08.1922 zum Präsidentenerlaß über die neue Nationalhymne (Deutschland über alles…) fest, dass zum Abschreiten der Front durch den Reichspräsidenten die Musik den bei Annäherung des letzteren intonierten Präsentiermarsch (Holländischer Ehrenmarsch bei der Marine, Paradepost bei den berittenen Truppen) abzubrechen und zur Nationalhymne (in EsDur, Tempo 80, 1 Mal durchspielen und den letzten Teil wiederholen) überzugehen hat, sobald er bei der Flügelrotte angekommen war. 34 32 | Im Nachlauf der Auflösung der UdSSR und der Bildung der GUS-Staaten kam es zu einer wahren Hymnenflut innerhalb kurzer Zeitabstände. Aufgrund innerstaatlicher Veränderungen wurden Hymnen geändert, sodass auch die eine oder andere »falsche Hymne« zur Aufführung gelangte. 33 | Staatsempfänge beginnen dabei zumeist am Flugplatz, beim Kanzleramt oder am Amtssitz des Bundespräsidenten. 34 | Das Exerzierreglement von 1812 sagte bereits in einer Fußnote zur Parade auf der Stelle, dass die Tamboure beim Schlagen des Marsches mit dem alten und neuen Grenadiermarsch abwechseln können, jeden einmal durchschlagend, während die

29

30

M ANFRED H EIDLER

Soweit zur Tradition dieser militärmusikalischen Verbindung. Beim Besuch von Ehrenmahlen35 und der obligaten Kranzniederlegung seitens des Staatsgastes (der Staatsgäste) zum Gedenken an die Gefallenen und Opfer der Gewaltherrschaft, wird zumeist von einem Trompeter das Lied Ich hatt’ einen Kameraden intoniert. Auf Schloss Augustusburg in Brühl – Repräsentationsschloss der Bundesregierung während der Zeit mit Bonn als Amtssitz des Bundespräsidenten –, heute an seinem Amtssitz Schloss Bellevue in Berlin, folgt(e) dann der abendliche Empfang für den Staatsgast (die Staatsgäste) durch den Bundespräsidenten. Auch hier war und ist Militärmusik immer präsent. Das damalige Stabsmusikkorps der Bundeswehr aus Siegburg, heute das Stabsmusikkorps in Berlin, spielt(e) beim Eintreffen der Staats- und Ehrengäste vor dem eigentlichen Staatsbankett »gefällige Militärmusik« zumeist in Form von bekannten Märschen. Nach Vorfahrt des Bundespräsidenten als Gastgeber wird der Kürrasiermarsch Großer Kurfürst intoniert und auf diesen folgt dann als besondere Geste für den Staatsbesucher selbst der Marsch aus der Zeit Friedrichs des Großen. Anschließend beginnt das Staatsbankett für die Ehrengäste. Der Staatsbesuch endet mit der offiziellen Verabschiedung des Staatsgastes durch eine Ehrenformation der Bundeswehr. Im Einsatz sind dabei neben dem Stabsmusikkorps (oder einem Musikkorps in Protokollvertretung) das Wachbataillon beim Bundesminister der Verteidigung mit Anteilen wie Ehrenposten, -zug, -kompanie oder -bataillon, und

Hautboisten blasen. Im Pkt. 546 des Exerzierreglements vom 3.4.1909 heißt es dazu unter anderem: Steht die Truppe gelegentlich eines Kaisermanövers in Parade, so wird, sobald Seine Majestät die Trompeter oder den linken Flügel des Truppenteils erreicht haben, zur Nationalhymne übergegangen. Hinweise über die Dauer des Spiels der Hymne enthält die Vorschrift nicht. Bereits 1891 hatte der Königliche Musikdirektor Carl Frese vom Gardefüsilierregiment dafür plädiert, in der gesamten deutschen Armee bei Kaiserparaden zum Gewehrpräsentieren nicht die einschränkende preußische Königshymne (Heil dir im Siegerkranz), sondern die spätere Nationalhymne nach Haydn und Fallersleben zu spielen. 35 | Staatsgäste sowie hochrangige Militärs besuchen zumeist das Ehrenmal der Bundeswehr im Bendlerblock bzw. die Neue Wache in Berlin. Ähnliches gilt für die Ehrenmale der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck, des Heeres auf der Festung Ehrenbreitstein in Koblenz und der Marine in Laboe bei Kiel. Dort legen sie gemeinsam mit deutschen Vertretern einen Kranz zum Gedenken nieder. Hier werden auch Ehrenposten durch die Bundeswehr gestellt.

D IE M ILITÄRMUSIK DER B UNDESWEHR = S TAATSMUSIK !?

gegebenenfalls auch dem Salutzug36 und ähnliches für Empfang und Ehrerweisung, Flaggenhissungen, Kranzniederlegung und Verabschiedung.

E PILOG Der hier kurz skizzierte protokollarische Rahmen findet auch bei Truppenzeremoniellen weitgehend identische Anwendung, indem Ein- und Ausmarsch der Ehrenformation (Musikkorps, Truppenfahne mit Ehrenzug) mit »klingendem Spiel« bei einer Paradeaufstellung wie zum Beispiel einem Feierlichen Gelöbnis erfolgen, dann der Präsentiermarsch, eventuell gewünschte Truppenmärsche oder Musikstücke und zum Abschluss des Zeremoniells die Nationalhymne vom Musikkorps gespielt werden. Obligat sind – ob Staatsbesuch oder Truppenzeremoniell – die entsprechenden militärischen Kommandos und Meldungen. Für die beiden auch militärmusikalischen deutschen Systemkonkurrenten lässt sich festhalten: • Die Nationale Volksarmee der DDR übernahm die tradierten Formen militärischer Zeremonielle deutscher Vorgängerarmee und schuf sich – wenn auch an überkommenen Vorbildern orientiert – neue Musiken dafür.

36 | Begriffserläuterung: Ehrenkompanie: Einsatzform im Rahmen des protokollarischen Ehrendienstes, die anlässlich des Besuches eines Regierungschefs oder vergleichbar beim Bundeskanzler in der Regel im Vorhof des Bundeskanzleramtes bzw. beim Bundesminister der Verteidigung in den Amtssitzen Bonn und Berlin durchgeführt wird. Ehrenbataillon: Einsatzform im Rahmen des protokollarischen Ehrendienstes, die anlässlich des Besuches eines Staatsoberhauptes beim Bundespräsidenten i.d.R. vor seinem Amtssitz, dem Schloss Bellevue, durchgeführt wird. Die Antretestärke beträgt 283 Soldaten. Protokoll: Festgelegtes Programm, bei dem die Bundesregierung mit dem Wachbataillon offiziellen Besuchern (des Bundespräsidenten im Range eines Staatoberhauptes, des Bundeskanzlers auf der Ebene eines Regierungschefs und des Bundesministers der Verteidigung sowie dem nachgeordneten Bereich) militärische Ehren erweist. Hierzu gehört auch das Stabsmusikkorps der Bundeswehr in Berlin bzw. das Musikkorps der Bundeswehr am zweiten Dienstsitz des BMVg in Bonn. Ehrensalut: Das Wachbataillon unterhält dafür in der 1. Kompanie einen Salutzug, der mit sechs Feldhaubitzen für diese Form der Ehrerweisung ausgerüstet ist. Die Anzahl der Salutschüsse ist wiederum gemäß Protokoll festgelegt und auch international verbindlich. Siehe auch: Thorsten Loch (Hg.), Das Wachbataillon beim Bundesminister der Verteidigung (1957-2007), Hamburg, Berlin, Bonn 2007.

31

32

M ANFRED H EIDLER

• Die Bundeswehr dagegen entwickelte eigene und damit neue Formen für die militärisch notwendigen Zeremonielle und hat dafür aber weitgehend überbrachte Musiken wie den Präsentiermarsch und andere beibehalten. Somit kennzeichnet die Verwendung von Musiken als sogenannte Staatsmusik systembedingte deutsche Zweistaatlichkeit während der Zeit des Ost-West-Konfliktes bei der Ausgestaltung von staatlichen oder/und militärischen Zeremoniellen. Staatsmusik in der Form von Militärmusik wirkt besonders in der Verbindung mit Zeremoniellen oder besonderer staatlicher Feierlichkeit,37 wie sich dies bei Staatsbesuchen oder auch bei Truppenzeremoniellen mit hoheitlichem Gepräge zeigt. Zentriert auf die Nationalhymne gruppieren sich dabei musikalische Beiträge unterschiedlicher Formen um dieses ausdrucksstärkste Staatssymbol wie Märsche, geläufige Musiken zwischen Volkslied, Pop und Rock; aber auch Auskopplungen von Filmmusiken und gar Anteile von Symphonien können dabei in unterschiedlichsten Arrangements von verschiedenenartigen Ensembles erklingen. Unauffälliger, aber ebenso tradiert wird Staatsmusik, wie wiederum unsere Nationalhymne, zum Beispiel in Fußballstadien oder zumeist im Rahmen von sportlichen Aktivitäten wie bei Siegesfeiern aufgeführt; hier sowohl instrumental als auch vokal und besonders häufig vom Band und nicht als instrumentaler Live-Beitrag. Staatliche und militärische Formen und Feiern speisen sich aus historisch gewachsener Tradition und ihrer eigenen systembedingten Fortschreibung. Militärische Symbole und Formen sind dadurch durchaus mit unserer demokratisch-freiheitlichen Rechtsordnung vereinbar, und sie dienen so wiederum als Mittel in der Förderung eines eigenen Staatsbewusstseins.

37 | Es scheint heute in einem gewissen Grad eine fühlbare »Staatsferne« gerade gegenüber den staatlichen Symboliken und den überbrachten Formen von Feierlichkeit bei der jüngeren Generation zu bestehen. Hier tritt erkennbar zutage, was Jutta von Ditfurth als Abgeordnete der Grünen wohl mit ihrer Einlassung zu einem »Europa ohne Flagge und Hymne« gemeint hat. Doch nach Übernahme der Regierungsverantwortung der Grünen und mit Joschka Fischer als deren Außenminister musste die Gesamtpartei zur Kenntnis nehmen, dass diplomatische Gepflogenheiten mit staatlicher Feierlichkeit und militärischen Ehren eng verbunden sind. Es gilt aber auch anzuerkennen, dass jene freundliche und unaufdringliche Art von deutschem Patriotismus, wie er sich im Flaggenmeer der Fußballweltmeisterschaft 2006 hierzulande die Bahn brach, auch auf das Gegenteil hinzuweisen vermag. Befremdlich erschienen in diesem Zusammenhang aber die Warnrufe all Jener, die dabei bereits wieder die Geister der Vergangenheit heraufziehen sahen und mit dieser spontanen Geste gerade von Jugendlichen nichts anzufangen wussten.

D IE M ILITÄRMUSIK DER B UNDESWEHR = S TAATSMUSIK !?

Die besondere und gewollte Verbindung von staatlicher Präsenz und Musik tritt zumindest in den hier kurz skizzierten Zusammenhängen plastisch zutage. Musik ist so wesentlicher Teil von staatlicher Symbolik und Militärmusik liefert, wie im Verlauf dieser Ausführungen angezeigt, einen wichtigen und emotional wirksamen Beitrag dazu – ob nun Militärmusik als »Staatsmusik« zu bezeichnen ist, kommt auf den dabei gewählten persönlichen Blickwinkel an.

N ACHSAT Z : A UGENZ WINKERN ODER DIE MUSIK ALISCHE M ODERNE Die Präsentation von Musik im militärischen Zeremoniell oder beim Protokoll hat durch das Musikkorps zumeist im formalen Rahmen, das heißt: im »Still gestanden«, zu erfolgen. Beim Spiel von heutigen Repertoireklassikern wie My way oder dem Saint Louis Blues March, so geschehen bei einigen Verabschiedungen und Kommandowechseln im Truppenzeremoniell, aber auch bei einem Titel wie Sailing im Rahmen der Serenade vor einem Großen Zapfenstreich, führt(e) dies sowohl bei den musikalischen Akteuren selbst wie auch bei Zuschauern und -hörern zu einigen Irritationen. Die hier kurz skizzierte Situation wirkt doch zumindest befremdlich, da swingende Melodien nicht zur befohlenen preußisch-starren Haltung zu passen scheinen, ja ihre Rhythmik diese gar ins Gegenteil zu verkehren vermag. Oder man unterläuft als Dirigent mit »gekonntem Hüftschwung« und leicht angedeutetem Körpereinsatz die starren Vorgaben von Dienstvorschriften aus einer Zeit, als vermeintlich Militärmusik noch Militärmusik war und Swing und Jazz allenfalls als heraufziehende Metaphern freizügiger Etablissementmusik galten.

33

Zur Identitätsstiftung heutiger Militärmusik am Beispiel des Berliner Luftwaffenmusikkorps (LMK) Christian Blüggel

Das Kommando »Helm – ab zum Gebet!« findet sich von Parsifal in Richard Wagners gleichnamiger Oper ausgeführt: Parsifal erhebt sich nach einem abermaligen Schweigen, stößt den Speer vor sich in den Boden, legt Schild und Speer davor nieder, öffnet den Helm, nimmt ihn vom Haupte und legt ihn zu den anderen Waffen, worauf er dann zu stummem Gebete vor dem Speer niederkniet.1

Marsch und Choral berühren sich ab der Verwandlungsmusik des 1. und 3. Aktes ständig: Aus dem Glockenmotiv, einem Idiom der christlichen Kultur, entwickelt sich die von Franz Liszt in seiner Transkription für Klavier als Feierlicher Marsch zum heiligen Gral aus Parsifal titulierte und durch Hans von Wolzogen charakterisierte »marschartige Musik schwebenden Schrittes«2 . Die Musik weist eine Wesensverwandtschaft auf mit Des Großen Kurfürsten Reitermarsch und dem Präsentiermarsch des Leib-Kürassier-Regiments Großer Kurfürst (Schlesisches) Nr. 1, die Cuno Graf von Moltke etwa ein Jahrzehnt nach der Vollendung und Uraufführung des Parsifal komponierte. Ähnlichkeiten liegen vor in Rhythmus, Artikulation (Wagner: »gut gehalten«; von Moltke: tenuto) und dem langen Crescendo als Gefühl von Herannahen oder Raumdurchschreiten.3

1 | Regieanweisung Richard Wagners aus seiner letzten Oper Parsifal. 2 | Hans von Wolzogen, Thematischer Leitfaden durch die Musik des PARSIFAL, Leipzig ²1882, S. 33f. 3 | Vgl. dazu auch Ottorino Resphighis I pini della Via Appia. Tempo di Marcia IV. Satz aus Pini die Roma. Poema sinfonico.

36

C HRISTIAN B LÜGGEL

Das choralartige Gralsmotiv ist gemeinhin mit dem Dresdner Amen identifiziert worden und erscheint sowohl instrumental als auch a cappella. Das Marsch- und das Choralmotiv erklingen nicht nur nacheinander, sondern werden sogar miteinander verwoben: Schon der erste Abschnitt des Marsches wird beispielhaft für spätere Passagen mit einer Auszierung des Gralsmotivs im Marschrhythmus auf »denn bist du rein, wird nun der Gral dich tränken und speisen« zu Ende geführt und schließt mit dem zweiten Teil des Gralsmotivs, der in Sekunden aufsteigenden Sequenz aus vier Achteln. Den folgenden Abschnitt aus Wiederholungen des Gralsmotivs und seiner zweiten Hälfte durch Streicher und Blechbläser beenden die Posaunen auf »Und Sieh!« mit einer punktierten Viertel und einer Achtel, die dem ersten Teil des Gralsmotivs entstammen kann, mit den zwei nachfolgenden Vierteln sich aber auch als Glockenmotiv und augmentiertes Marschmotiv deuten lässt. Interessanterweise finden sich nicht nur das Marschmotiv, sondern auch die in vier Achtelsekunden aufsteigende Bewegung, der Ausklang des Gralsmotivs, in Des Großen Kurfürsten Reitermarsch nebeneinander. In beiden Werken ähneln sich die Zeitmaße und Tempobeziehungen und auch die Variationen dieser Achtelbewegung im Fortgang der Komposition. Das Marschmotiv erhält als Gralsrittermotiv in den Tempelszenen eine fast liturgische Rolle. Im 3. Akt schreiten die Ritter zu einem durchgehend sich wiederholenden rhythmischen Modell von vier Achteln, das durch seine Punktierung dem Marschmotiv verwandt ist, welches wiederum direkt vor Beginn der Verwandlung in einer Variation von Blechbläsern gespielt dreimal markant erklingt und das Gefühl von Entschlossenheit für die Erlösungsmission verkündet. Beide wechseln sich fast ausschließlich in den tiefen Streichern liegend ab. Bis zum Erreichen des Gralstisches (»Wehe!«) singen Tenor- wie Bassstimmen beider antiphonisch agierenden Chöre als cantus choralis unisono. Manche Choralphrasen enden in der aufsteigenden Sequenz des Gralsmotivs wie »den Gral zum heiligen Amte« und »führt ihr trauernd daher?« und »Gott einst beschirmte?« oder einer Umkehrung oder einer davon abgeleiteten Variation. Schließlich wird auch noch das dem Marschmotiv verwandte Glockenmotiv eingebunden. So wie beim Militärischen Ehrengeleit im Rahmen von Bestattungen nach den Perioden der Choralmelodie das Locken zum Trauermarsch eingefügt werden kann, so setzt auch Wagner stellenweise das Marschmotiv zwischen die einzelnen Choralabschnitte der Ritterzüge. Außerdem: Angelockt durch ein marschartiges Motiv in den Pauken erscheint das fanfaren- und marschartige, von Blechbläsern dominierte ritterliche und feierliche Parsifalmotiv (»So – ward es uns verhießen«). Danach folgen das Motiv des Heils- bzw. Torenspruchs (»Mitleidvoll Duldender«), das Gralsmotiv (»entnimm nun seinem Haupt«), eine – unter einer quasi quantenphysikalischen Betrachtungsweise – geniale Kombination oder sogar Kommunion aus Segensspruchmotiv und/oder Abend-

Z UR I DENTITÄTSSTIFTUNG HEUTIGER M ILITÄRMUSIK AM B EISPIEL DES LMK

mahlthema (»Mein erstes Amt«) und schließlich das Glaubensmotiv (»Die Taufe nimm«). All dies steht im choralartig schreitenden Tripeltakt wie auch das folgende Blumenauemotiv (Karfreitagszauber), welches durch ein eingefügtes Locken der tiefen Streicher (Pizzicato als marschartige Begleitschläge im 4/4 Takt) vorbereitet wird. Durch Mitleid wissend geworden,4 durch seine Selbstschöpfung, erfüllt Parsifal sein Ethos und stiftet Frieden, so daß ein universaler Prozeß der Reinigung wachsen kann, in dem letztlich die von allen Menschen irgendwie gekannten oder geahnten wesentlichen Werte und Normen neue Leuchtkraft gewinnen können, so daß wieder zu wirksamer Kraft in der Menschheit kommen kann, was die Welt zusammenhält. 5

4 | Parsifals Selbstfindung bietet einige heute als maßgebend anerkannte Faktoren der Identitätsbildung, z.B.: aus Störungen die eigene Körperlichkeit erkennen und erleben (weder Parsifal noch die Gralsrittergemeinschaft sind im seelischen Gleichgewicht, nachdem Parsifal bei seiner ersten Anwesenheit im Gralstempel kein Mitgefühl gezeigt hat); das eigene Spiegelbild im Auge des anderen sehen (Parsifals Verurteilung durch Gurnemanz als »reiner Tor«); das Vorhandensein von Handlungsurheberschaft (Mitgefühl zu zeigen oder nicht zu zeigen hat elementare Auswirkungen); die Fähigkeit zur Reflexion und die Zeitreise in die eigene Vergangenheit, in der die Person sich im Rückblick als eigener Doppelgänger sieht (die bei Kundrys Verführungen einsetzende Erkenntnis und das Anerkennen der Schuld, kein Mitgefühl gezeigt und nicht gehandelt zu haben); die Verortung und die Zuverlässigkeit durch wiederholendes Tun (Rückkehr zum Gralstempel als gereifte Persönlichkeit). 5 | Joseph Kardinal Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg i.Br. 2005, S. 39f. Max Scheler vertritt die Ansicht, dass einer zu inaktiven, allein »distanzierenden Beziehung des Menschen zur Gottheit, wie sie in den objektivierenden und darum ausweichenden Beziehungen der Kontemplation, der Anbetung, des Bittgebetes gegeben sind, den elementaren Akt des persönlichen Einsatzes des Menschen für die Gottheit, die Selbstidentifizierung mit ihrer geistigen Aktrichtung in jedem Sinne« folgen muss. (Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bonn 18 2010, S. 67.) Unter dem Eindruck der Atombombe entschied sich Carl Friedrich von Weizsäcker im Gegensatz zu anderen Kernphysikern dafür, »keinerlei Beitrag zur Herstellung, Erprobung und zum Einsatz von Bomben zu leisten. […] Das ist das schöpferische Element im Gewissen, dass es uns die einfachste Lösung versagt, unseren persönlichen Anteil an der gemeinsamen Schuld eben zu verleugnen. Nur diejenigen, die die gemeinsame Schuld als ihre persönliche Verantwortung akzeptieren, werden veranlasst, die Schritte zu unternehmen, die am Ende für die gemeinsame Schuld Genugtuung leisten.« (Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Tragweite der Wissenschaft, Stuttgart 72006, S. 501.)

37

38

C HRISTIAN B LÜGGEL

Nach den Erfahrungen, dass Religion wie säkulare Vernunft unmoralisch-irrational werden können, sieht Ratzinger als wirksame ethische Evidenz und Grundlage die interkulturell und interreligiös gewonnene Übereinkunft von Menschenrechten; und: »Vielleicht müßte heute die Lehre von den Menschenrechten um eine Lehre von den Menschenpflichten und von den Grenzen des Menschen ergänzt werden.«6 Pflicht zur Verantwortung als wesentliche Bedingung innerhalb der Solidargemeinschaft stellt bereits Ernest Renan in seiner Rede an der Sorbonne fest, die er knapp vier Monate vor der Uraufführung des Parsifal hält: Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. […] Die nationalen Erinnerungen und die Trauer wiegen mehr als die Triumphe, denn sie erlegen Pflichten auf, sie gebieten gemeinschaftliche Anstrengungen. […] Das spartanische Lied: ›Wir sind, was ihr gewesen seid; wir werden sein, was ihr seid‹ ist in seiner Einfachheit die abgekürzte Hymne jedes Vaterlandes.7

Aufgrund der für die Athener zunächst erfolglosen Auseinandersetzung um die Insel Salamis wurde ein Gesetz erlassen, dass weder in Wort noch Schrift für einen Fortgang der Kämpfe eingetreten werden durfte. Solon, noch als junger Mann und für eine Wiederaufnahme, umging dieses Verbot, indem er seine Meinung im Gesang äußerte und so ein öffentliches Umdenken erreichte.8 »Vers und Melodie sprechen nicht nur den Verstand, sondern alle Sinne an.

6 | Joseph Kardinal Ratzinger, Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates, in: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg i.Br. 2005, S. 51. Dazu auch: »Eine liberale politische Kultur kann sogar von den säkularisierten Bürgern erwarten, dass sie sich an Anstrengungen beteiligen, relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentlich zugängliche Sprache zu übersetzen.« Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: Ebd., S. 36. Ferner: Helmut Schmidt (Hg.), Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten: ein Vorschlag, München 1998. 7 | Ernest Renan, Vortrag in der Sorbonne am 11.3.1882, aus dem Französischen veröffentlicht in: Michael Jeismann und Henning Ritter (Hg.), Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig 1993; Vgl. zum Themenbereich der Empathie auch: Henning Ritter, Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid, München 2004. Empathie ist zu einer wichtigen Fähigkeit von Soldaten der Bundeswehr insbesondere bei friedensschaffenden und -erhaltenden Missionen im Ausland geworden. Andererseits kann von Militärmusikern interpretierte Musik bei der Bevölkerung Empathie gegenüber den Soldaten erzeugen. 8 | Paul Kirchhof, Das Maß der Gerechtigkeit, München 2009, S. 151-153 und Anmerkungen S. 400.

Z UR I DENTITÄTSSTIFTUNG HEUTIGER M ILITÄRMUSIK AM B EISPIEL DES LMK

Die Leichtigkeit des Singens führt die Zugehörigen in Gemeinsamkeiten.«9 In diesem ganzheitlichen Sinne können Nationalhymnen10 eine besondere performative Kraft entwickeln. Unsere deutsche Nationalhymne gibt sogar die unverbrüchlichen Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens wieder.11 Die Grundbedürfnisse des Menschen nach »Frieden und Sicherheit, nach Freiheit und Gleichheit, zunehmend auch Weltoffenheit«12 sind im Grundgesetz13 der Bundesrepublik Deutschland angelegt, das für die Soldaten der Bundeswehr verbindliche Vorgabe ist und als grundlegendes Führungskulturund Verhaltensprinzip den gesamten Dienst in den deutschen Streitkräften durchdringt.14 Das LMK wirkt bei den Auftritten als klanglicher Ausdruck des Selbstverständnisses der Bundeswehr, die als grundlegende staatliche Institution im Bereich der äußeren Sicherheit einen wesentlichen Teil unserer Kultur darstellt und mitprägt.15 Im Rahmen der Rechtsnormen der Bundesrepublik Deutsch-

9 | Aus Kapitel »V. Rechtliche Regel und innere Überzeugung, 1. Singen statt Sprechen, 2. Befehl und Geltungskraft«; Kirchhof, Maß der Gerechtigkeit, S. 151. 10 | Peter Häberle, Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, Berlin 2007. 11 | »Niemand darf die Rechte anderer […] verletzen. […] Jeder Mensch soll sein Glück selbst suchen. […] Das Recht weist nicht Herrschaftsräume, sondern Verantwortlichkeiten zu« […], die so wahrzunehmen sind, »dass der Handlungsmaßstab sich verallgemeinern lässt.« Kirchhof, Maß der Gerechtigkeit, S. 10. 12 | Ebd., S. 376. 13 | Nicht weniger als die ersten zwei Artikel des Grundgesetzes garantieren die Identität und ihre Konstruktion durch den Schutz der Würde des Menschen und der Freiheit der Person. 14 | Leitbild des Staatsbürgers in Uniform der Konzeption Innere Führung. Mit Kant prägen solche Verhaltenskodifikationen die situativ einsetzende Urteilskraft, auf welche die »ausübende Rechtslehre«, die zwar auf moralische und rechtliche Prinzipien gegründet ist, dann aber doch in der konkreten Umsetzung wesentlich angewiesen bleibt. Volker Gerhardts rationaler Existenzialismus bzw. existenzieller Liberalismus entwirft aktuell als Schwerpunkt das Modell einer »Partizipation als Prinzip der Politik«, dass jeder selbst ein Beispiel für die Menschheit in seiner Person zu geben hat. »In dieser Kraft der Identität einer Person liegt deren sittliche, allem natürlich-empirischen Wandel entgegenstehende Beharrung, also gleichsam der ethische Substanzcharakter der Person.« (Nicolai Hartmann, Ethik, Berlin 41962, S. 466.) 15 | Aussagen zum Militärmusikdienst der Bundeswehr allgemein richten sich in dieser Arbeit nach der Teilkonzeption Militärmusikdienst der Bundeswehr. Bundesministerium der Verteidigung/Generalinspekteur der Bundeswehr, Berlin 2007.

39

40

C HRISTIAN B LÜGGEL

land und der Umgangskultur der Bundeswehr16 hat das nach der deutschen Wiedervereinigung neu aufgestellte LMK den Prozess der gemeinschaftlichen Identitätsbildung sehr zügig nicht nur formal, sondern auch als innere Einheit vollzogen und ein echtes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt; ein Vorgang, der von den Bundespräsidenten des wiedervereinigten Deutschlands für die gesamte Gesellschaft immer eingefordert wurde und wird. Die Auftritte des Orchesters, welches eine grundlegende Bundesinstitution des wiedervereinigten Deutschlands, dazu aus der Bundeshauptstadt, repräsentiert, können als identitätsstiftend bezeichnet werden und eine performative Wirkung haben.17 Beim Bundespräsidenten spielt das LMK zum Eintreffen der geladenen Gäste zum Staatsbankett. Sobald der Staatsgast um 19:30 Uhr eintrifft und ihn der Bundespräsident begrüßt, wird der Marsch aus der Zeit Friedrichs des Großen intoniert. Dieser Marsch ist zugleich der Fahnentruppmarsch des Wachbataillons beim Bundesministerium der Verteidigung und wird auch aufgeführt, wenn im Vorfeld eines Staatsbesuchs der Bundesrepublik Deutschland – vertreten durch eine Ehrenformation der Bundeswehr – durch den jeweiligen auswärtigen Botschafter ein Fahnenband verliehen wird. Das Militärische Zeremoniell für die Bundesregierung (Bundeskanzlerin, Verteidigungsminister, Inspekteure) hat folgenden musikalischen Ablauf: • Einmarsch der Ehrenformation der Bundeswehr • Nationalhymnen (Hymne Gastland/danach Hymne Bundesrepublik Deutschland) • Präsentiermarsch: Seine Exzellenz der Gast schreitet in Begleitung des Gastgebers die Front der Ehrenformation der Bundeswehr ab • Ausmarsch der Ehrenformation der Bundeswehr Alljährlich gibt das LMK zum »Tag der offenen Tür« der Bundesregierung fünf halbstündige Platzkonzerte mit einem musikspartenübergreifenden Programm, das die gesamte Bevölkerung ansprechen soll, entweder vorrangig im Bundeskanzleramt (siehe Abb. 2) oder im Bundesministerium der Verteidigung. 16 | Speziell die Pflicht zur Kameradschaft § 12; in: Gesetz über die Rechtsstellung der Soldaten (Soldatengesetz), gewissermaßen eine Form des Empathisch-Dialogischen von Identität. Künstlerisch transformiert ist diese Handlungsmaxime in repräsentativer Weise in den klassisch zeitlosen, militärmusikimmanenten, identitätsstiftenden Musikstücken Ich hatt’ einen Kameraden von Friedrich Silcher und Alte Kameraden von Carl Teike emotional zu erfahren. 17 | Für die Entstehung von Identität werden die Vergegenwärtigung und bewusste Bestimmung des Ortes (Wo lebe ich?) für fundamental gehalten.

Z UR I DENTITÄTSSTIFTUNG HEUTIGER M ILITÄRMUSIK AM B EISPIEL DES LMK

Abb. 1: Ausmarsch der Ehrenformation der Bundeswehr, Bundeskanzleramt.

Abb. 2: Tag der offenen Tür, Bundeskanzleramt, August 2008. Den Berliner Senat und den Regierenden Bürgermeister unterstützte das LMK bei Veranstaltungen mit internationalen Gästen, zum Beispiel 2009 zum 60-jährigen Jubiläum der Luftbrücke. Zunächst erfolgte die musikalische Umrahmung der Gedenkveranstaltung am Ehrenmal.18 Danach folgte ein etwa einstündiges Open-Air-Konzert mit einem themenbezogenen und dabei musikspartenübergreifenden Programm für die gesamte Bevölkerung, begleitet 18 | Musikalische Abfolge: Beginn der Veranstaltung mit dem Choral O Haupt voll Blut und Wunden, Kranzniederlegung mit Trommelwirbel, Schweigeminute und das Lied Ich hatt’ einen Kameraden, Nationalhymnen (USA, F, GB, D).

41

42

C HRISTIAN B LÜGGEL

durch den Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) auf dem Gelände des Tempelhofer Flughafens, der für die Luftfahrt und das Militär historisch bedeutsam ist. Auch im Bereich der Nationalhymnen19 berühren sich Marsch und Choral. Neben den Volkshymnen bzw. -liedern (zum Beispiel Schweden, Österreich) stehen Hymnen mit einem choralartigen Charakter, so der Schweizerpsalm und die isländische Hymne Lofsöngur, die beide in den kirchlichen Gesangbüchern des Landes abgedruckt sind. Als »päpstliche Hymne« wurde kein Choral, sondern der Päpstliche Marsch von Charles Gounod gewählt. Marschlieder (zum Beispiel Majulah Singapura/»Wir, das Volk von Singapur, marschieren gemeinsam zum Glück«)20 und Fanfarenmärsche (zum Beispiel Länder des Mittleren Osten, Spanien) werden ergänzt durch marschartige Stücke, die ihre Vorbilder in der italienischen Oper der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben (zum Beispiel Staaten Latein- und Südamerikas). Auch wenn eine Nationalhymne das Staatsgefühl einer Nation musikalisch in repräsentativer Form zum Ausdruck bringt, so ist doch bemerkenswert, dass nicht wenige Nationalhymnen von anderen Staaten für ihre Zwecke adaptiert oder von ausländischen Musikern komponiert wurden und anschließend ihre Wirkung als klingendes Staatsinsignium erworben haben. Beispielsweise schrieben Komponisten deutscher Herkunft die Hymnen von Honduras (Carlos Hartling), Portugal (Alfredo Keil), Monaco (Charles Albrecht), und die ursprünglich autochthone Melodie der japanischen Hymne erhielt ihre aktuelle Gestalt von Franz Eckert. Keine andere Nationalhymne der Welt hat größere Verbreitung gefunden als das britische God save the King/Queen. Das Lied war von Anfang an ein Gebet für König George II., der in England als Volksfremder galt und sich, so oft als möglich, in seinem Stammland Hannover aufhielt, sodass sich die Melodie rasch auf dem Kontinent verbreitete.21 Unter dem Titel Molitwa Russkich (Gebet der Russen) war sie etwa in Russland von 1816 bis 1833 die Zarenhymne. Als 19 | Verzeichnis der Nationalhymnen und Notenbestand des Militärmusikdienstes der Bundeswehr. Vgl. Malcolm Boyd, National anthems, in: The New Grove Dictionary of Music & Musicians, Bd. 13, London 1995, S. 46-75; Michael Jamieson Bristow, National Anthems of the World, London 112006 (Klavierauszug mit Singstimme); vgl. Reiner Knierim und Jürgen Sieben, Nationalhymnen. Texte und Melodien, Stuttgart 112006 (Singstimme allein). 20 | Die Aufforderung zum Marschieren findet sich auch in der »Popsong-Fernsehhymne« des ZDF zur Fußballweltmeisterschaft 2010 in Südafrika Marching on von Timbaland feat. OneRepublic. Der Titel war zum Abschluss der Übertragung des Fußball-Länderspiels Ungarn – Deutschland am Samstag, dem 29.5.2010, zum ersten Mal im ZDF zu hören. We keep bzw. We’re marching on kann und soll kollektive Identität konstruieren. 21 | Vgl. zum Beispiel Paul Nettl, Nationalhymnen, in: Friedrich Blume (Hg.), MGG, Bd. 9, Kassel 1989, Sp. 1274-1284.

Z UR I DENTITÄTSSTIFTUNG HEUTIGER M ILITÄRMUSIK AM B EISPIEL DES LMK

die Nachricht von der Niederlage von John Copes Armee bei Prestonpans in London bekannt wurde, konnten in den Straßen Londons die ersten patriotischen Lieder vernommen werden wie: »Lord grant that Marshal Wade/Shall by thy mighty aid/Victory bring/May he sedition hush,/And like a torrent rush/ Rebellious Scots to crush/God save the King.« Aus dieser Weise sollte dann die englische Nationalhymne entstehen. Es ist gut vorstellbar, wie zu dieser Melodie die Menschen gemeinsam durch die Straßen Londons schritten, möglicherweise auf diesen Tripeltakt, der in Lullys Ballettmärschen wie Les Plaisirs de l’Ile Enchantée22 oder La générale23 bereits entwickelt worden war und gebrauchsfertig vorlag. Beide Beispiele weisen eine rhythmische Ähnlichkeit (vgl. auch »Batterie de Tambour«) zu God save the King auf. In diesem Sinne, als Auftritt bewaffneter Kampfeinheiten im Tripeltakt, können auch der »Walkürenritt« und der »Hagen-Chor«, hier sogar im Wechsel zwischen 3/4-Takt und »marschüblichem« 2/4-Takt, angeführt werden, wenngleich Wagners Stücke die Gefühlslage im Kampf oder von Kampfbereitschaft zum Ausdruck bringen, während die zuvor genannten Beispiele der Huldigung und dem Hofgepränge des französischen oder englischen Souveräns dienten. Bei der Frage zur ungeklärten Autorschaft verweisen manche Quellen unter anderem auf Lully oder indirekt auf Händel, dessen Schüler Smith (Johann Christopher Schmidt) als Freund dem in diesem Zusammenhang meistgenannten Komponisten Henry Carey bei der Komposition geholfen haben soll. Anonyme Quellen führen das Stück sogar auf einen schweizerischen Militärmarsch zurück. In der Times vom 5. September 1931 ist der Versuch dokumentiert, God save the King auf die Antiphon Unxerunt Salomonem zurückzuführen; dies im Rahmen der damaligen Geisteshaltung, eine Verwandtschaft der choralischen Melodien mit solchen der Spätantike konstruieren zu wollen.24 Die Bezeichnung »National Anthem« soll darauf zurückzuführen sein, dass Händels 1727 komponiertes God save the King aus der coronation anthem Zadok the priest25 1745 aus Patriotismus in Londoner Theatern und Konzerten eine zeitlang täglich gesungen wurde, unmittelbar vor 22 | Edmund Nick, Marsch, in: Friedrich Blume (Hg.), MGG, Bd. 8, Kassel 1989, Sp. 1674; zur Bedeutung Lullys für das Marschwesen: ebd. Sp.1676. 23 | Erich Schwandt, March, in: The New Grove Dictionary of Music & Musicians, Bd. 11, London 1995, S. 651. 24 | Bruno Stäblein, Choral, in: Friedrich Blume (Hg.), MGG, Bd. 2, Kassel 1989, Sp. 1270. 25 | Zadok the priest (vgl. die Antiphon: »Unxerunt Salomonem/Sadoc sacerdos […] vivat rex in aeternum, alleluia.«) wurde seit 1727 bei jeder Krönung eines englischen Monarchen verwendet, zuletzt 1953. Das Werk erklang auch zur Hochzeit des Kronprinzen Frederik von Dänemark am 14.5.2004, als seine Braut in Begleitung ihres Vaters die Domkirche betrat und durchschritt. Außerdem diente das monarchische, choralartige, schreitende Hauptthema des ersten Teils dem Komponisten Tony Britten 1992 als Grundlage für das Arrangement der bekannten Fernsehhymne der UEFA Champions League.

43

44

C HRISTIAN B LÜGGEL

dem Bekanntwerden der späteren Nationalhymne God save the King, die dann die Bezeichnung »anthem« erbte.26 Mit dem englischen Hymnentext God save the King wurde das Lied erstmals in einem Arrangement des Thomas Augustine Arne am 28. September 1745 in London zu Ehren König George II. offiziell gesungen. Dieser Königshymne steht die marschartige Expansionshymne Rule Britannia27 gegenüber, die im ähnlichen Tempo wie God save the King in Händels Zadok sowie der Hallelujah-Chorus in dessen Messiah steht.28 Allgemein kann gesagt werden, dass die gemessenen, choralartigen Hymnen, die im Gefühl von Devotion und Religion wurzeln, einer konservativen Staatsauffassung der alten Zeit, die marschartigen – oftmals mit einem Quarthochsprung am Anfang versehen – einer revolutionären, neueren Zeit angehören. Paradebeispiel für diese zweite Kategorie ist die Marseillaise, der Chant de guerre pour l’armée du Rhin des Hauptmanns im Pionierkorps Claude Rouget de l’Isle, die neben der britischen Königshymne die weiteste Verbreitung gefunden hat und vom LMK unter anderem 2007 anlässlich eines Appells zur Kommandoübergabe über die Deutsche Stabsgruppe in Frankreich im Ehrenhof des Schlosses Fontainebleau interpretiert wurde.29 26 | Noch heute verweist New Grove im Artikel Anthem auf die Nationalhymnen (»see also NATIONAL ANTHEMS.«). Peter Le Huray und Ralph T. Daniel, in: The New Grove Dictionary of Music & Musicians, Bd. 1, London 1995, S. 454. 27 | Das Lied Rule, Britannia! ist der Schlussgesang der Masque of Alfred (1740) von Thomas Augustine Arne. Es galt bzw. gilt als inoffizielle Nationalhymne des Königreiches Großbritanniens und heute des Vereinigten Königreiches. Beethoven verwendet es in Wellingtons Sieg als »Marcia« (Bearbeitung LMK: W. Arendt). 28 | Vgl. auch den identischen Rhythmus des jeweiligen Chorus auf Rule Britannia und Hallelujah. 29 | Zu Ehren der französischen Vertreter wurde hierbei der Marche des soldats de Robert Bruce gespielt, der seinen Ursprung allerdings in dem schottischen Volkslied Hey Tuttie Tatie hat, das bei der siegreichen Unabhängigkeitsschlacht der Schotten gegen die englischen Truppen Eduard II. bei Bannockburn 1314 gespielt wurde und hier den Marsch der schottischen Truppen zu eben diesem Schlachtort beschreibt. Unter dem Titel Scots Wha Hae nach dem später verfassten Text des schottischen Nationaldichters Robert Burns gibt es die Ansprache des späteren Königs Robert the Bruce an seine Armee unmittelbar vor dem Gefecht wieder und gilt als eine der drei inoffiziellen Nationalhymnen Schottlands. Auch beim Einzug der Jeanne d’Arc und der französisch-schottischen Armee in Orléans 1429 ist der Marsch gespielt worden und avancierte dann zu einem wichtigen Musikstück im Protokoll der französischen Streitkräfte. Diese originale französische Infanteriefassung mit dem klassischen solistischen Spiel sowie den feierlichen und dem Klangbild einer Orgel ähnelnden Begleitharmonien reüssierte auch in der Bundeswehr und ist bei Zeremoniellen zu einem immer wieder von Kommandeuren und insbesondere der Luftwaffengeneralität favorisierten Musiktitel geworden. Von seiner vormaligen Ver-

Z UR I DENTITÄTSSTIFTUNG HEUTIGER M ILITÄRMUSIK AM B EISPIEL DES LMK

Der politische Gegenentwurf zur Marseillaise war die österreichische Volkshymne, ein dem jeweiligen Kaiser zugeeigneter Segenswunsch, der vielleicht auch die Bande des Volkes zum österreichischen Herrscherhaus kräftigen sollte, da sich das monarchische Prinzip selbst möglicherweise durch das republikanische Frankreich bedroht sah. Teile der Melodie verwandte Haydn bereits 1766 im Benedictus seiner Missa cellensis. Weitere religiöse Verwendungen erfuhr sie durch die Unterlegung fremdsprachiger Texte wie Glorious Things Of Thee are Spoken von John Newton oder Praise the Lord! O Heav’ns adore Him oder auch Guide me O Thou Great Redeemer sowie der Hymnus Tantum ergo des Thomas von Aquin. Teile der Melodie wurden aber auch als Marsch verwendet: Johann Strauß (Sohn) komponierte 1853 den Kaiser Franz Joseph I.-Rettungs-Jubelmarsch, welcher sich im Trio auf den Refrain der Volkshymne stützt. Den Beginn der Volkshymne hingegen zitiert Karl Mühlberger in den vier Einleitungstakten seines Kaiserjägermarsches, einem Identitätssignum der deutschsprachigen Gebirgsjäger. Im Ersten Weltkrieg schuf Hugo von Hofmannsthal auf das Gedicht seines Freundes Rudolf Alexander Schröder Der deutsche Feldpostbrief, welches ein deutsches Treuebekenntnis zu Österreich war, sein Gedicht Österreichs Antwort zur Melodie von Haydns Volkshymne: »Antwort gibt im Felde dort/Faust, die festgeballte,/Antwort dir gibt nur ein Wort:/Jenes Gott erhalte!/Unsern Kindern eint uns dies,/Wie’s uns eint den Vätern,/Einet heut die Kämpferschar/Hier mit uns, den Betern.«30 Als Vorläufer der Nationalhymnen können die religiösen Kampflieder der Frühen Neuzeit bezeichnet werden, wie Martin Luthers Ein feste Burg: »Ein Schlachtlied war jener trotzige Gesang, womit er (Luther) und seine Begleiter in Worms einzogen. […] Jenes Lied, die Marseiller Hymne der Reformazion, hat bis auf unsere Tage seine begeisternde Kraft bewahrt.«31 Das Lied geht wohl auf ein Gebet zurück, das Luther auf dem Reichstag zu Worms 1521 oder danach auf der Wartburg gebetet haben soll. Es kann allerdings auch als Kampflied gegen die osmanischen Invasoren oder unter dem Eindruck der nahenden Pest entstanden sein. Im Zeitraum der Befreiungskriege bis zur deutschen Reichsgründung verwendung als Militärattaché in Paris brachte Brigadegeneral Hans Speidel diese französische Protokollfassung des Marsches in den 1990er-Jahren nach Berlin, als er dort Kommandeur des Standortkommandos wurde. In Zeitmaß, Rhythmus und Achtelbewegung in Sekunden ist diese Marschfassung den beiden von Cuno Graf von Moltke komponierten und dem schlesischen Leib-Kürassier-Regiment Großer Kurfürst gewidmeten Präsentiermärschen verwandt wie auch dem Feierlichen Marsch zum heiligen Gral aus Parsifal. 30 | Eine der in Versen engsten Berührung von patriotischem Kämpfergeist und religiöser Überzeugung findet sich im französischen Text der kanadischen Hymne: »Car ton bras sait porter l’épée, il sait porter la croix.« 31 | Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 8/1, hg. von Manfred Windfuhr, Hamburg 1981, S. 41f.

45

46

C HRISTIAN B LÜGGEL

band sich das Gedenken an die Reformation mit dem aufkommenden Nationalgefühl und freiheitlichen Bestrebungen. Die Gedenkveranstaltungen wurden zu politischen Massenveranstaltungen, bei denen Ein feste Burg nicht fehlte. Zur Reichsgründung komponierte Richard Wagner den Kaisermarsch, der mehrmals Ein feste Burg zitiert.32 Auch gegen Ende des Ersten Weltkrieges, so beim Wartburgfest am 18. Oktober 1918, wirkte Ein feste Burg identitätsstiftend: Unter Heilrufen zogen sie ein, in ihren altdeutschen Röcken; dreitägiger Burgfrieden wurde gelobt, man fühlte sich ganz in der geliebten Ritterzeit. Im Herbstmorgen bewegte sich der »heilige Zug« zur Wartburg hinan, voran das ragende Burschenschwert, in der Mitte die Jenaer Burschenfahne. Im Rittersaal folgte das Gebet und das Lutherlied. 33

Die Reformationsfestausgabe der Liller Kriegszeitung vom 30. Oktober 1917 trägt als Kopfzeile das Bild von zwischen zerplatzten Granaten vorwärts stürmenden deutschen Soldaten mit der Bildunterschrift: »Und wenn die Welt voll Teufel wär.«34 Mit genau dieser Zeile beginnt Satz 5 der Kantate BWV 80, der mit musikalischer Symbolik über bewegtem Orchesterspiel die Schlacht zwischen den himmlischen und teuflischen Kräften versinnbildlicht. Die Choralmelodie als Cantus firmus unisono im Chor steht für die Geschlossenheit der Gemeinde. Auch die in BWV 345 verarbeitete Choralmelodie wurde auf dem Kriegsschauplatz verwendet: Das entsetzliche Lärmen der preussischen Trommeln hörten wir schon, ihre Feldmusik konnten wir noch nicht unterscheiden. Aber in feierlichem Marsch kommen sie immer näher, jetzt hören wir ihre Hautboisten, sie spielen: Ich bin ja Herr in deiner Macht! Hier bei dieser Musik kein Wort von meinen Empfindungen. Wer fühlen kann, wird es nicht unglaublich finden, dass in meinem nachherigen Leben diese Melodie stets die innigsten Regungen der Wehmut in mir hervorgebracht hat. 35 32 | Arrangement (Arr.) LMK: Stefan Schwalgin. In dieselbe Kategorie der Choralmelodien zitierenden Märsche fällt Salus Caesari nostro Guilemo von Friedrich Wilhelm Voigt, der im Trio Händels Tochter Zion verwendet, und zu dessen Klängen die Ehrenformation der Bundeswehr am 5.12.2000 aus dem provisorischen Bundeskanzleramt am Schloßplatz 1 in Berlin ausmarschierte. 33 | Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Die vormärzliche Zeit, Freiburg i.Br. 1904, S. 53f., zit. nach Hans Düfel, Das Lutherjubiläum 1883, in: ZKG 95/1 (1984), S. 1-94, hier S. 13. 34 | Hartmann Grisar, Martin Luthers Trutzlied »Eine feste Burg« in Vergangenheit und Gegenwart, Freiburg i.Br. 1922, S. 35f 35 | Christian Täge’s ehemaligen Russischen Feldpredigers, jetzigen Pfarrers zu Pobethen, Lebensgeschichte. Nach dessen eigenhändigen Aufsätzen und mündlichen Nachrichten bearb. von August Samuel Gerber, Königsberg 1804, S. 181, zit. nach Sascha Möbius, Ein feste Burg ist unser Gott…! und das entsetzliche Lärmen ihrer Trommeln.

Z UR I DENTITÄTSSTIFTUNG HEUTIGER M ILITÄRMUSIK AM B EISPIEL DES LMK

So der Bericht des Pastors Täge, der sich innerhalb der russischen Schlachtordnung befand. Die eigenartige Musik der preußischen Musiker wurde auch auf der anderen Seite wahrgenommen: Bei dem Aufmarsch der Regimenter in die Schlachtordnung bemerkte Friedrich, dass das Musikkorps des einen Regiments einen etwas auffallenden, aber äußerst feierlichen Marsch blies. »Was ist das?« fragte Friedrich einen der neben ihm haltenden Generale, der in ernsthafter Rührung die Musik des vorbeimarschierenden Regiments anhörte. »Es ist die Melodie des Chorals Ich bin ja Herr in Deiner Macht«, erwiderte der General. Bewegt wiederholte Friedrich diese Worte und hörte mit der gespanntesten Aufmerksamkeit der sich immer mehr entfernenden und verhallenden Musik zu. 36

Innerhalb der Bundeswehr dient das LMK zur musikalischen Ausgestaltung militärischer Formen, Feiern und Veranstaltungen als Bestandteil des militärischen Protokolls. Die hierbei von Militärmusikern gespielte Musik trägt dazu bei, das berufliche Selbstverständnis, die aus dem Grundgesetz abgeleitete Konzeption vom »Staatsbürger in Uniform« und das Gefühl von Zusammengehörigkeit der soldatischen Gemeinschaft zu erleben und zu verinnerlichen und so auch über Emotionen an dieser Identitätsbildung mitzuwirken. Neben der Marschmusik gehören feierlich getragene Musikstücke, insbesondere Choräle, zum festen Bestandteil des militärischen Zeremoniells, so bei Feierlichen Gelöbnissen37 oder beim Großen Zapfenstreich38, die Gelegenheit zum Gebet für alle Konfessionen geben sollen.39 Preußische Militärmusik in den Schlachten des Siebenjährigen Krieges, in: Jutta Nowosadtko und Matthias Rogg (Hg.), »Mars und die Musen«. Das Wechselspiel von Militär, Krieg und Kunst in der frühen Neuzeit, Münster 2009, S. 261-290, hier S. 261. 36 | Zit. nach Wolfgang Venohr, Der große König. Friedrich II. im siebenjährigen Krieg, Bergisch-Gladbach 1997, S. 165, zit. nach Möbius, Ein feste Burg ist unser Gott…!, S. 261. 37 | Altniederländisches Dankgebet »Wir treten zum Beten« von Adrianus Valerius, gespielt unmittelbar vor dem Geloben beziehungsweise Ablegen des Eides und dem Singen und Spielen der Nationalhymne. 38 | Der »Große Zapfenstreich« beinhaltet das Kommando »Helm – ab zum Gebet!«. Nach diesem Kommando folgt das russische Kirchenlied Ich bete an die Macht der Liebe von Dimitrij Bortnjanskij, das in Preußen zum Choral erhoben wurde. Vgl. Bernhard Höfele, Geschichte und Geschichten um den preußischen Zapfenstreich, in: Ders., Die deutsche Militärmusik. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte, Köln 1999, S. 137-168; Friedrich Deisenroth, Nachwort des Herausgebers zum »Großen Zapfenstreich«, Particell Deutsche Armeemärsche, Bd. 1, Berlin, Wiesbaden 1976, S. 174-177. 39 | Sowohl Wir treten zum Beten als auch Ich bete an die Macht der Liebe ähneln vor allem im Rhythmus – abgesehen vom Auftakt jeder Choralperiode – insgesamt in ihrem

47

48

C HRISTIAN B LÜGGEL

Besonders im Zusammenhang mit Appellen zur Verabschiedung und Rückkehr von Bundeswehr-Kontingenten eines Auslandseinsatzes entwickelt sich ein verbindliches Wir-Gefühl. Der würdevolle Rahmen eröffnet die Möglichkeit zur Reflexion über den Einsatz bis hin zu Fragen der Existenzialität. Im Sinne der musikalischen Anthropologie Helmuth Plessners kann die Musik dabei einen individuellen Gestaltraum schaffen, in dem Gefühle transformiert werden. Bei der Durchführung eines Militärischen Ehrengeleits zu Trauerfeiern und Bestattungen werden Marsch und Choral nicht nur nacheinander gespielt, sondern sogar im Trauermarsch miteinander verwoben: Das Musikkorps spielt so lange einen Trauerchoral (zum Beispiel O Haupt voll Blut und Wunden; Was Gott tut, das ist wohlgetan; beim Staatsbegräbnis: Trauermarsch aus Händels Saul), »bis der Sarg den im Trauerzug vorgesehenen Platz erreicht hat.« Auf das Kommando »Ehrengeleit – marsch!« beginnen die Trommler den Totenmarsch, anschließend erfolgt das Locken zum Trauermarsch. »Wird als Trauermarsch der Choral Jesus, meine Zuversicht oder ein anderer geeigneter Choral gespielt, kann dabei nach jeder Periode der Choralmelodie das Locken zum Trauermarsch eingefügt werden.« Auf jeden Ton der in halben Noten gespielten Choralmelodie werden zwei Schritte im Tempo »Viertel = 72« vollzogen. Nachdem die Trommler während des Senkens des Sarges in das Grab einen leisen Wirbel geschlagen haben, folgt das Kommando »Helm – ab zum Gebet!«40 Zur Identität der Militärmusiker der Bundeswehr gehört auch, im Spannungs- oder Verteidigungsfall Aufgaben im Bereich des Sanitätsdienstes der Bundeswehr wahrzunehmen. Jeder höhere Verband und jede Kommandobehörde der Bundeswehr verfügen über einen Traditionsmarsch, der zur Identifikation des jeweiligen militärischen Bereichs beiträgt. Im internationalen Rahmen fördert die Militärmusik die Integration sowie multinationale Zusammenarbeit. Musik kann aufgrund ihrer kulturübergreifenden Identität und Fähigkeit zur unmittelbaren Kommunikation Sympathie erzeugen und so durch ihre positive Wirkung auf die Bevölkerung vor Ort zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung beitragen. Insbesondere in den Spannungsgebieten leistet Militärmusik einen Beitrag zur Betreuung der Angehörigen der Bundeswehr als ein Träger emotional erfahrbarer Heimat. Das LMK umrahmte musikalisch etwa 2007 in Sarajewo einen Festakt in der deut-

Wesen Lullys vorher genannten Balletmärschen im Tripeltakt und God save the King/ Queen beziehungsweise dem Gebet der Russen (Molitwa Russkich). 40 | Zentrale Dienstvorschrift (ZDv) 78/3 Auftritte der Musikkorps der Bundeswehr, Kapitel 2, V. Militärisches Ehrengeleit bei Trauerfeiern und Bestattungen; ZDv 10/8 Militärische Formen und Feiern der Bundeswehr, Kapitel 3, IV. Trauerfeier und Bestattung.

Z UR I DENTITÄTSSTIFTUNG HEUTIGER M ILITÄRMUSIK AM B EISPIEL DES LMK

schen Botschaft mit internationalen Gästen zum Tag der deutschen Einheit, ferner einen Appell und gab zwei Platzkonzerte an öffentlichen Plätzen. Mit Einsätzen im Ausland außerhalb von Krisenregionen wirkt das LMK als kultureller Botschafter unseres Staates, vermittelt so einen Teil deutscher Kultur und unternimmt zugleich einen Brückenschlag zur gastgebenden Nation, indem – wenn möglich – auch deren landestypische Titel in das musikalische Programm aufgenommen werden; so beim im türkischen Fernsehen übertragenen Konzert zum Auftakt der Deutsch-Türkischen Kulturwochen am 7. Oktober 2008 in Ankara auf Einladung des Deutschen Botschafters.41 Musikhistorisch interessant war die Begegnung mit der »Mehter«-Janitscharenmusik und ihrem nach den Kriegen mit dem osmanischen Reich im 16. und 17. Jahrhundert in das europäische Orchester eingeführten SchlagzeugInstrumentarium.42 41 | Einzug der Gäste auf der Wartburg (Wagner, Arr.: Franz Burald/Max Villinger) Begrüßung durch den Deutschen Botschafter Ouvertüre aus der Feuerwerksmusik (Händel, Arr.: Gerhard Baumann) Ouvertüre zur Operette Dichter und Bauer (Suppé, Arr.: Alfred Lehmann) Filmmelodien von Franz Grothe (Arr.: Hans-Joachim Rhinow) Türkischer Marsch (Beethoven, Arr.: Gerhard Baumann) Motive aus der Oper Die Entführung aus dem Serail (Mozart, Arr.: August Reckling) Rondo alla Turca aus der Klaviersonate A-Dur KV 331 (Mozart, Arr.: Hiroshi Nawa) Berliner Luft (Marsch) und Ouvertüre aus der Operette Frau Luna (Lincke) Tanzclub Berlin (Tanzmedley, darin zum Beispiel Mackie Messer; Arr.: Bernd Rabe) Üsküdara gider iken (traditionell) Ankara nin Tasina Bak (traditionell) Marsch aus der Zeit Friedrichs des Großen (anonym) als Ankündigung der Ansprachen des Deutschen Botschafters und des Türkischen Kulturministers Nationalhymnen: Republik Türkei, Bundesrepublik Deutschland. 42 | Mit der Programmreihe Alla turca fördern auch die Berliner Philharmoniker seit drei Jahren den Dialog der Kulturen; dazu begleitend zum Beispiel: Volker Tarnow, Der alte Mamamouchi und der große Fritz. Die türkische Gesandtschaft am preußischen Hof 1763, Berliner Philharmoniker, das Magazin, März/April 2008, S. 44-47; Martin Greve, Vom Dorf in den Konzertsaal. Türkische Volksmusik in der Philharmonie, Berliner Philharmoniker, das Magazin, Mai/Juni 2008, S. 62-64. 2008 war die Türkei Partner der Frankfurter Buchmesse. Zudem führte der Militärmusikdienst der Bundeswehr das Symposium Musik in Fremdwahrnehmung und Eigenbild durch. Zur Dokumentation des Symposiums: Manfred Heidler, Fahr hin und hör zu! Vom musikalischen Bürgerschreck zum Musikorganisator. Paul Hindemith und seine »Musikmission« in der Türkei des Kemal Atatürk, in: Michael Schramm (Hg.), Militärmusik im Diskurs, Bd. 4, Bonn 2009, S. 57-77. Ein Jahr zuvor wurde die 800. Wiederkehr des Geburtstags des Sufi-Dichters Rumi insbesondere an seiner letzten Wirkungsstätte Konya begangen. Musik und Tanz

49

50

C HRISTIAN B LÜGGEL

Zur Öffentlichkeitsarbeit zählen auch Auftritte bei internationalen Musikfesten im In- und Ausland. Nicht nur die Vielfalt des Repertoires, sondern auch die themenbezogenen unterschiedlichen Präsentationen in Gestalt von Saal- und Platzkonzerten sowie den verschiedenen militärmusikimmanenten Auftritten in Marschformation bilden ein interessantes Untersuchungsfeld zu aktuellen Fragen der Diversifikation, Mischung und Veränderung des Repertoires bis hin zu jenen neuer Präsentationsformen. Mit ihren Inszenierungsmöglichkeiten, ihrer doppelten Aufführungsmodalität aus Musik und gleichzeitiger Bewegung in Form einer detaillierten Choreographie mit unterstützender Lichtgestaltung und anderer Bühnentechnik haben Musikshows in der heutigen Mediengesellschaft einen besonderen Stellenwert erhalten. Das LMK führte seine spezielle Musikshow zusammen mit einem Drillteam des Wachbataillons beim Bundesministerium der Verteidigung – deshalb zum Teil auch als künstlerische Variante des Protokollarischen Ehrendienstes konzipiert – zuletzt Anfang November 2009 im Rahmen der Militärmusikfeste in der Max-Schmeling-Halle zu Berlin und der Lanxess-Arena zu Köln auf.43 Auf Einladung der Stadt Mons nahm das LMK 2007 an der Ducasse teil, eines der wenigen Volksfeste, das von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt wurde. Bei nahezu allen Auftritten erklang als identitätsstiftende Erkennungsmelodie der Marsch Le doudou, der als Ohrwurm die Bevölkerung stets in große Feierstimmung versetzte. Auf Einladung des Koninklijke Nederlandse Bond voor Lichamelijke Opvoeding wirkte das LMK in der dritten Juliwoche 2009 an de Nijmeegse Vierdaagse mit, eine viertägige internationale Volkswanderung beziehungsweise Marschveranstaltung in sowie rund um jene alte Kaiserpfalz, an der circa 45.000 Bürger und Soldaten teilnahmen. Nach der Eröffnungsfeier im Stadion zu Nijmegen spielte das LMK in den folgenden Tagen im Wechsel mit anderen Orchestern mehrere Platzkonzerte sowie die dadurch erfahrbare Ekstase erhob er zum tiefen Ausdruck der Liebe und Hingabe an Gott. Seine von der sakralen islamischen Musik geprägte spirituelle Identität wird von Toleranz und vom Gedanken der Einheit in der Vielfalt geleitet und kennt auch einen Bezug zum Kosmischen. Im Jahr 1207 wurde er in Balkh, dem heutigen Mazar-e Sharif geboren, wo das nach diesem Ort benannte und dort 2006 aufgestellte Einsatzgeschwader der deutschen Luftwaffe im Rahmen der von der NATO geführten internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe ISAF stationiert ist. 43 | Dokumentiert auf »amos« DVD »15. Berliner Militärmusikfest 2009«; weitere Militärmusikfeste aufgenommen: 2005 »amos«; 2003 rbb und WDR. Militärisch strengere Shows zeigen die Drillteams v.a. der skandinavischen Streitkräfte, die zumeist auch aus der protollarischen Garde rekrutiert werden. Eine exaltierte und unbekümmerte Übersteigerung einer Kombination totalitär-kommunistischen Massen- und U.S. amerikanischen Gewehrdrills bietet die kontrovers diskutierte Eingangssequenz zu Michael Jacksons HIStory-Produktion (Budapest 1994).

Z UR I DENTITÄTSSTIFTUNG HEUTIGER M ILITÄRMUSIK AM B EISPIEL DES LMK

an öffentlichen Plätzen in verschiedenen Gemeinden entlang der Marschstrecke und zum internationalen abendlichen Empfang der schweizerischen und deutschen Delegation. Am letzten Tag begleitete das LMK morgens von 2:30 bis 4:30 Uhr den Ausmarsch der militärischen Delegationen aller teilnehmenden Nationen aus dem Militärlager auf die letzten 50 Kilometer mit einem – wenn möglich – jeweils landestypischen Marsch. Am Nachmittag führte das LMK die deutsche

Abb. 3: Protokoll-Musikshow, Nova Scotia International Tattoo, Metro Center, Halifax 2005.

Abb. 4: Spätabendliches Platzkonzert, Grand Place Mons, Juni 2007.

51

52

C HRISTIAN B LÜGGEL

Soldatenabordnung schließlich mit klingendem Spiel auf den letzten acht Kilometern an gut 130.000 feiernden Zuschauern vorbei durch Nijmegen ins Ziel. Auf Einladung der Veranstalter nahm das LMK vom 24. bis zum 29. August 2010 am Québec City International Festival of Military Bands teil.44 Im Vorfeld dieses interkulturellen Austausches hatte der dortige artistic director den Wunsch geäußert, dass das LMK für den Auftritt im Konzerthaus Québecs, dem Palais Montcalm, der nach dem 1759 geschlagenen und gefallenen französischen Kommandeur benannt ist, ein möglichst von deutscher Musik geprägtes Programm spielt. Diese Erwartungshaltung an die Auftritte des LMK ist beispielhaft für die Wünsche der Gastgeber anderer internationaler Musikfeste; sie spiegelt die identitätsstiftende Wirkung von Militärmusik wider und bildet einen interessanten Beitrag zum Interaktionsprozess zwischen Fremdwahrnehmung und Eigenbild. Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit im Inland spielte das LMK übertragen vom deutschen Fernsehsender phoenix zwischen den Interviews mit hochrangigen Vertretern der Wirtschaft, Wissenschaftlern und Astronauten, darunter ehemalige und aktive Kampfjetpiloten der Luftwaffe, fünf Platzkonzerte zum »Tag der Raumfahrt« am 17. September 2005 im Sony Center am Potsdamer Platz vor dem Filmmuseum Berlin mit einem themenbezogenen Musikprogramm und Filmtiteln wie zum Beispiel: Flieger grüß‹ mir die Sonne, Heimat deine Sterne, Ein Flieger hat den Bogen raus, Those Magnificent Men in their Flying Machines, Moon River, Apollo 13, E.T., Auszüge aus The Planets, Frau Luna45, ferner 44 | Zur Identitätsstiftung von heutiger Militärmusik in jener Region der dortige Veranstalter: »The mission of the Québec City International Festival of Military Bands is to promote awareness and appreciation of Canada’s military Bands and of its traditions, history, and various forms in sites featuring Old Québec’s fortifications and historic places. Another aspect of the organization’s mission is to welcome prestigious foreign military bands and encourage exchanges between Canadian and foreign musicians and with the public. The event welcomes some twenty bands each year and features more than 800 musicians in approximately forty activities, including popular concerts and special thematic events.« 45 | Als Ballonfahrer waren Testpiloten der U.S. Air Force neben Juri Gagarin die ersten Menschen im Weltraum (Excelsior gondola I-III 1959/60, Stargazer 1963). Die Vorbereitungen fanden auf der »Holloman Air Force Base« statt, wo sich auch das Fliegerische Ausbildungszentrum der Luftwaffe in USA befindet. 100 Jahre vor Stargazer, 1863, nahm Graf Ferdinand von Zeppelin am amerikanischen Bürgerkrieg als Beobachter teil, erlebte zum ersten Mal den militärischen Einsatz von Ballons und flog am 19. August 1863 selbst in einem Ballon mit, ein Erlebnis, das ihn prägte. Als 1899 Linckes BallonOperette Frau Luna in Berlin Premiere feiert, beginnt Zeppelin mit dem Bau des ersten lenkbaren Starrluftschiffes. Zeppelins Biographie bietet das facettenreiche Bild eines engagierten uniformierten Staatsbürgers. Neben dem Marinefliegergeschwader 3 »Graf Zeppelin« würdigt ihn auch die Militärmusik: Carl Teike, Schöpfer des Marsches Alte

Z UR I DENTITÄTSSTIFTUNG HEUTIGER M ILITÄRMUSIK AM B EISPIEL DES LMK

Unterhaltungstitel wie Über den Wolken des Berliners Reinhard Mey, Come fly with me, Fly me to the Moon, I believe I can fly.

Abb. 5: Tag der Raumfahrt, Sony-Center, Potsdamer Platz, Berlin, 17.9.2005 Als klingende Visitenkarte der Luftwaffe war das LMK auch auf der ILA eingesetzt und hat die Übergabe eines A 319-Regierungflugzeuges durch die Lufthansa-Technik an das Bundesministerium der Verteidigung am 31. März 2010 in Hamburg musikalisch umrahmt.

Abb. 6: Beim Jagdgeschwader 73 »Steinhoff«, Laage, August 2007 Ein instruktives Scharnier zwischen dem LMK, zivilen Künstlern und der Bevölkerung war das Adventskonzert am 20. Dezember 2006 im Dom zu Berlin Kameraden und wie Zeppelin unter anderem in Ulm und Potsdam dienend beziehungsweise wirkend, schuf den Graf-Zeppelin-Marsch. Für ein sinfonisches Blasorchester komponierte Thomas Doss die Zeppelin-Symphony (I. Idée fixe, II. Machines, III. The whale in the sky, IV. Reincarnation), erschienen 2008/9.

53

54

C HRISTIAN B LÜGGEL

Abb. 7: Adventskonzert, Dom zu Berlin, 20.12.2006 mit der Kantorei Alt-Tempelhof. Zwischen den Musiktiteln trug die Regisseurin und Schauspielerin Brigitte Grothum Weihnachtsgeschichten vor. Grundsätzlich werden die Einnahmen aus den gut 30 Wohltätigkeitskonzerten des LMK im Jahr an karitative Institutionen weitergeleitet.46 Aufgrund der Aufgabenstellung sowie der historisch gewachsenen funktionalen Besonderhei46 | Benefizkonzerte mit einem themenbezogenen Programm gab das LMK zum Beispiel für die Stiftung Großes Militärwaisenhaus zu Potsdam, eine Wiege der Militärmusik, ebendort und für den Förderverein Invalidenfriedhof im Innenhof des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie, dessen Gebäudeensemble sich unter anderem aus der vormaligen militärärztlichen Kaiser-Wilhelm-Akademie und den restaurierten Überresten des ehemaligen Invalidenhauses zusammensetzt. Gegenüber, und ebenso an der Invalidenstraße in Berlin gelegen, umrahmte das LMK im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung einen Festakt. In Zweck und Programmgestaltung strukturell analog gestaltet die Deutsche Oper Berlin alljährlich im November ihre Festliche Operngala für die AIDS-Stiftung. Musikspartenübergreifende Programmgestaltung und Zielgruppenorientierung gehören mittlerweile auch zu den Strategien großer Traditionsorchester; zum Beispiel Open-Air-Konzerte in der Waldbühne und Silvesterkonzerte der Berliner Philharmoniker; Sommernachtskonzerte der Wiener Philharmoniker im Schlosspark von Schönbrunn – etwa am 8.6.2010 mit einem auch zum LMK passenden musikalischen Themenbündel zu Mond, Planeten und Sternen; so unter anderem Filmmusik von John Williams aus Star Wars, die Walzer Sphärenklänge von Joseph Strauß und Abendsterne von Joseph Lanner, Mars aus den Planeten von Gustav Holst sowie der Mondaufgang von Wiener-Philharmoniker-Gründer Otto Nicolai aus seiner Oper Die lustigen Weiber von Windsor anlässlich seines 200. Geburtstag jubiläums am folgenden Tag.

Z UR I DENTITÄTSSTIFTUNG HEUTIGER M ILITÄRMUSIK AM B EISPIEL DES LMK

ten der Militärmusik ist das LMK im Kern als großes sinfonisches Blasorchester konzipiert. Die instrumentale Zusammensetzung entspricht der Partitur und dem Klangbild des zeitgemäßen militärischen großen sinfonischen Blasorchesters deutscher Tradition, an dem sich teilweise die zivile Bläsermusik, vor allem das Musikvereinswesen orientiert. Maßgebend wirkt die Militärmusik auch heute bei der Traditionspflege zur Erhaltung der Musikkultur des Marsches, insbesondere hinsichtlich des uniformierten Vereinswesens in Deutschland. Ihre Offenheit für die künstlerischen und kulturellen Entwicklungen der Gegenwart zeigte sich beispielhaft bei der Teilnahme am 1. Landesmusikfest Baden-Württemberg (20./21. Mai 2006) in Villingen-Schwenningen. Beim Abschlusskonzert des Wettbewerbs spielte das LMK unter anderem die deutsche Erstaufführung des Concertinos für Posaune des österreichischen Komponisten Reinhardt Summerer und eine Bearbeitung47 des 4. Satzes Sturmgeläut aus der 11. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch. Rolf Rudin gilt in Fachkreisen als Neuerer der sinfonischen Blasorchesterliteratur in Deutschland und wird auch international geschätzt. Mit großen Bögen, lang anhaltenden Klängen und sich langsam entwickelnden dissonanten Klangflächen beschreibt Rudin in seinem Werk Die Druiden die geheiligte Waldlichtung »Nemeton«, Ort ihrer kultischen Rituale.48 Auch Filmkomponist Otto M. Schwarz verwendet in seinem für ein sinfonisches Blasorchester komponierten Werk Nostradamus, welches die Prophezeiungen des Gelehrten wiedergeben soll, marsch- und choralartige Passagen.49 Wie Béla Bartók unternahm auch Herbert Owen Reed50 Studien über Volksmusik, unter anderem in der Karibik und in Norwegen, aber vor allem in Nord- und Mittelamerika. Seine Er47 | Arr. LMK: Gerhard Baumann. 48 | Zur Abfolge der musikalischen Themen: trauermarschartiger Beginn (mit Glocken) und Ausklang, statischer dissonanter, clusterartiger Anfang (vornehmlich Perkussion und Stabspiele), unisono geführte gregorianisch wirkende Melodie eingerahmt von naturalistischen Vogellauten, unisono gehaltene rezitativische Melodie wie ein magischer Gesang (dazu Bassthema im Stil der Wagnerschen Fafner-Schlangenwurm-Charakterisierung), das Gefühl einer Verheißung erzeugende Melodie (dazu Glocken), retardierendes Ostinato als ekstatischer Taumel hin zum erlösenden prächtigen Choralhymnus. 49 | Musikalische Abfolge: Fanfareneinleitung, marschartiges Thema, Glocken, Klangfläche, Effektgeräusche, Entwicklung einer lieblichen Melodie zum choralähnlichen Hymnus, Marschthema im Stil aktueller Filmmusik, kurzes meditatives Flötensolo, mehrmals sich wiederholende, ostinate, dissonante Klangbasis, auf der sich schemenhaft ein Motiv von Gottfried Piefkes Marsch Preußens Gloria entwickelt, auf Schlagzeug sich ausbreitendes hymnisches Marschthema im Stil heutiger Filmmusik, meditativer, verklärender Ausklang. 50 | Als einer der wichtigsten Komponisten für Concert Band gilt sein Namensvetter Alfred Reed, der zeitweise in der U.S. Air Force diente, und dessen folgende Werke das

55

56

C HRISTIAN B LÜGGEL

kenntnisse ließ er in seine Werke einfließen. Reeds bekannteste aus drei Sätzen bestehende Komposition La Fiesta Mexicana/A Mexican Folk Song Symphony for Concert Band von 1949 ist das Ergebnis seiner halbjährigen Forschungen in Mexiko, in der aztekische, römisch-katholische, Mariachi und andere Musik vermischt sind.51 Der gelegentlichen Haltung, Transkriptionen abzuwerten, hat schon Busoni entgegengewirkt.52 Edward Gregsons eigene Bearbeitung für ein großes sinfonisches Blasorchester seiner Theatermusik The sword and the crown hat genauso große Verbreitung gefunden wie die erste Fassung.53 Das Zusammenwirken in LMK bislang aufführte: The Hounds of Spring, El camino real, Armenian Dances, The enchanted island, A Festival Prelude. 51 | I. Prelude and Aztec Dance. The tumbling of the church bells and the bold noise of fireworks at midnight officially announce the opening of the Fiesta […]. At mid-day a parade is announced by the blatant blare of trumpets. A band is heard in the distance […]. II. Mass. The tolling of the bells is now a reminder that the Fiesta is, after all, a religious celebration. III. Carnival. Mexico is at its best on the days of the Fiesta […]. There is entertainment […] the town band, and always the »cantinas« with their band of »Mariachis«. (Partitur: Mills Music, New York 1954) 52 | »Transkription: gegenwärtig ein recht mißverstandener, fast schimpflicher Begriff. […] Was ich endgültig darüber denke, ist: Jede Notation ist schon Transkription eines abstrakten Einfalls. […] Mag auch vom Einfall oder vom Menschen manches Originale, das unverwüstlich ist, weiterbestehen: sie sind doch von dem Augenblick des Entschlusses an zum Typus einer Klasse herabgedrückt. Der Einfall wird zu einer Sonate oder einem Konzert, der Mensch zum Soldaten oder Priester. Das ist ein Arrangement des Originals. Von dieser ersten zu einer zweiten Transkription ist jeder Schritt verhältnismäßig kurz und unwichtig. […] Auch der Vortrag eines Werkes ist eine Transkription.« Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, Hamburg 1973, S. 23f. 53 | »In 1988 I was commissioned by the Royal Shakespeare Company to write the music for The Plantagenets trilogy. […] When the Royal Air Force Music Services commissioned me to write a work especially for their British tour in 1991 I immediately thought of turning to this music and transforming some of it into a three-movement suite for symphonic band. The first movement opens with a brief fanfare for two antiphonal trumpets (off-stage), but this only acts as a preface to a Requiem aeternam (the death of Henry V) before changing mood to the English army on the march to France; this subsides into a French victory march, but the English army music returns in counterpoint. Finally, a brief reminder of the Requiem music leads to the triumphal music for Richard Plantagenet, Duke of York, father of Edward IV and Richard III (the opening fanfare transformed). The second movement takes music from the Welsh Court in Henry IV (part 1) which is tranquil in mood; distant fanfares foreboding battles to come are heard. The final movement starts with two sets of antiphonally placed timpani, drums and tam-tam, portraying the ›war machine‹ and savagery of battle. Trumpet fanfares and horn calls herald an heroic

Z UR I DENTITÄTSSTIFTUNG HEUTIGER M ILITÄRMUSIK AM B EISPIEL DES LMK

Dialogform von im Raum verteilten Musikern, das wechselweise Gegen- und Miteinander von klanglich verschiedenen Stimmgruppierungen, hat in diesem Werk einen ausgesprochen demonstrativen und performativen Charakter im Sinne der bewussten Wirkung auf den Hörer. Beim Internationalen Militärmusikfest in Ystad 2007 wurde der choralartige Mittelteil von Finlandia in einer Chorfassung, die an jene von Sibelius speziell komponierte angelehnt ist, vom Ausbildungsorchester der finnischen Streitkräfte a cappella zu Anfang der Musikshow gesungen. Zu den folgenden marschartigen Themen entfaltete die Showformation anschließend die bewegungsreichen Teile ihrer Choreografie. Immer wieder war es der Wunsch finnischer Staatsbürger, Finlandia54 zur finnischen Nationalhymne zu machen. Verwendet wurde der choralähnliche Teil auch als christliche Hymne zu Stille meine Wille, dein Jesus hilft siegen, 1752 von Katharina Amalia Dorothea von Schlegel verfasst, als Be still, my soul, the Lord is on thy Side 1855 von Jane Laurie Borthwick ins Englische übersetzt und zu We Rest on Thee von Edith G. Cherry um 1895 geschrieben. Aber nicht nur von interpretatorischer Seite, sondern auch von der Seite der Arrangeure wird diese Kulturtradition des Bearbeitens weitergepflegt. So schuf beispielsweise Yoshihiro Kimura eine 2007 von De Haske verlegte Bearbeitung der Feste romane Ottorino Respighis: Drei Trompeten als Banda kündigen in Circenses mit einem 6/8 – im Verlauf des Satzes auch 12/8 – Geschwindmarsch den Auftritt des Kaisers an, gefolgt vom choralartigen Klagegesang der christlichen Märtyrer auf dem Rhythmus eines Trauermarsches. Den Choral Christ ist erstanden rezitierend schleppen sich Pilger in Il Giubileo zur ewigen Stadt. Am Ziel stimmen sie den Choral Was Gott tut, das ist wohlgetan an, und es erwidert ihnen das Glockengeläut der Kirchen Roms. La Befana, die Dreikönigsnacht, wird durch ein festliches marschartiges Fanfarenthema beendet. Im sizilianischen Epiphaniafest hat sich der militärische Charakter der »Erscheinung des Herrn« aus vorchristlicher Zeit, des römischen Kaiserkultes, bis heute erhalten: Die Kirchen werden dort durch Priester in bewaffneter Begleitung besetzt. Als eine »feierliche, an eine Prozessions-Weise gemahnende Melodie im 4/4-Takt«55, die sowohl Choral- wie auch Marschartiges ineinander fügt, kennzeichnet Hans Ferdinand Redlich die Adagioeinleitung und das Lentement der in prunkhaftem D-Dur komponierten Ouvertüre von Händels Feuerwerksmusik. »La Réjouissance bietet als Kontraststück fröhliche Militärmusik mit einer battle theme which, by the end of the movement, transforms itself into a triumphant hymn for Henry IV’s defeat of the rebellious forces.« (Partitur: studio music, London 1993) 54 | Arr. LMK: Hermann Schmidt. 55 | Hans Ferdinand Redlich, Vorwort zur Partitur der Feuerwerksmusik, Leipzig 1964, S. III.

57

58

C HRISTIAN B LÜGGEL

Fülle blitzender Trompetensignale und lebhafter Reitermarsch-Melodien.56 Bei der Instrumentierung der Freiluftfassung hatte sich Händel nach Redlich erst in allerletzter Minute dem Willen George II. gebeugt, ausschließlich Instrumente militärischen Charakters zu verwenden. Als Ouvertüre für Militärmusikinstrumente bezeichnet auch das offizielle Festprogramm der Bologneser Veranstalter des Feuerwerks Ruggieri und Sarti dieses Werk, welches das LMK 2009 in Spandau interpretierte und Ende August 2010 in Québec aufführte57 – beide Male auf Wunsch der Veranstalter mit einem auskomponierten Feuerwerk. Erst bei der Zweitaufführung einen Monat später im Foundling Hospital konnte Händel zu seiner ursprünglichen Klangkonzeption, einer Fassung mit Bläsern und Streichern, zurückkehren.58 Von Marc-Antoine Charpentiers mindestens sechs Te Deum-Vertonungen sind vier erhalten. Die Fassung mit der möglicherweise sogar inzwischen identitätsstiftenden Eurovisionsmelodie, dem Prélude en rondeau, das auch als festlicher Einzugsmarsch gedeutet werden könnte, ist die einzige, die eine damals eindeutig als militärmusikalisch zu identifizierende Instrumentation, vor allem Pauken und Trompeten, einbezieht.59 Als Tonart wählte Charpentier wie Händel für seine Ouvertüre zur Feuerwerksmusik die Trompetentonart D-Dur, die er in seinen Règles de composition [Paris 1690] als »joyeaux et tres guerier« charakterisierte; die Entsprechung dieser Tonart ist auf planetarischer Ebene die Sonne. Die Elipsenbahn schließt sich: Charpentier war Musikmeister der Kirche Sainte Chapelle in Paris beim Sonnenkönig Ludwig XIV. Die liturgische Funktion der Musik erinnert an das starke Band bis zur Transzendenz, das den König mit Gott verband; dies war in abgeschwächter Form noch ein wichtiges Thema des

56 | Arr. LMK: Gerhard Baumann. 57 | Ebd, S. IV. 58 | Die zur Feier des Aachener Friedens als Begleitmusik zu einem von Servandoni entworfenen Feuerwerk in Auftrag gegebene Suite verwendet pikanterweise vor allem Satzbezeichnungen des französischen Kriegsgegners. Vielleicht war dieser Vorgang eine Geste der Versöhnung im Sinne der allgemeinen Empfehlungen Kants und Clausewitz’, dass Krieg ein Akt des menschlichen Verkehrs sein müsse und keine Feindseligkeiten erlaubt seien, welche das wechselseitige Zutrauen in künftigen Frieden unmöglich mache; dies im Gegensatz zu heutigen überwiegend asymmetrisch geführten kriegerischen Auseinandersetzungen. Generalprobe und Uraufführung lockten so viel Publikum an, dass es trotz hoher Eintrittspreise auf der London Bridge zu einem mehrstündigen Chaos und so bereits 1748 insgesamt zu einer aus derzeitiger Sicht Crossover-Performance par excellence kam. 59 | Arr. LMK: Heinz Häcker. Aufführung u.a.: »Sunday, 2010 August 29, 11:00-12:30 Catholic Church Service, Basilique Cathédrale-de-Québec« (artistic director Québec City International Festival of Military Bands).

Z UR I DENTITÄTSSTIFTUNG HEUTIGER M ILITÄRMUSIK AM B EISPIEL DES LMK

von seiner Krankheit gezeichneten François Mitterand.60 Historisch feiert Charpentiers Te Deum höchstwahrscheinlich den Sieg des Marschalls von Luxemburg bei Steinkerque am 3. August 1692, der jedoch nuanciert werden muss mit dem Kommentar des damaligen Pfarrers von Rumingheim, eines vom Krieg völlig verwüsteten Dorfes: »Man bereute es wirklich, auf der Welt zu sein.«61 Ebenfalls in die Zeit, in der einzig die Platzkonzerte der Militärorchester an öffentlichen Orten der gesamten Bevölkerung Zugang zu klassischer Musik ermöglichten, entstanden auch Querschnitte aus Opern von etwa acht bis 15 Minuten Länge, die heute noch neben Militärorchestern von großen zivilen Blasorchestern aufgeführt werden. Diese Kulturtradition wird durch neue Arrangements weitergeführt. So schuf beispielsweise Christiaan Janssen 2007 eine »Symphonische Suite« aus Giacomo Puccinis Turandot für ein sinfonisches Blasorchester mit einer Aufführungsdauer von 25 Minuten. Gerade hier zeigt sich die Schwierigkeit, Transkriptionen zu bewerten, denn kaum jemand würde das nach dem vorzeitigen Tod Puccinis von Franco Alfano aus den Kompositionsskizzen stilgerecht zusammengestellte Finale als nicht aufführungswürdig klassifizieren. Besonders Puccinis Revolutionsoper Tosca bietet eine reiche Darstellung von Szenen staatlicher und kirchlicher Macht.62 Dem trauermarschartigen »Largo, con gravita« vor der Hinrichtung Cavadarossis am Ende der Oper steht das Finale des 1. Aktes (»Largo religioso, sostenuto molto«) zum Einzug des Kardinals symmetrisch gegenüber. Das von Glocken begleitete Schreiten im Vorfeld der Liturgie erinnert an die Verwandlungsmusik im Parsifal. Scarpias »Va, Tosca« gibt das Schreiten passend konstativ wieder, auch wenn es vor allem und eigentlich performativ dahingehend zu verstehen ist, Tosca solle ruhig gehen, er (Scarpia) bekomme sie ja sowieso.63 60 | Letzte Tage im Elysee (Le promeneur du Champs de Mars), ein Film von Robert Guédiguian nach dem Roman Le dernier Mitterrand von Georges-Marc Benamou, Frankreich 2003, 110 Min., ARTE, Synchronfassung, Erstausstrahlung: 3.12.2007, 20.40 Uhr. 61 | Jean-Yves Patte: Original booklet notes 2004: Marc-Antoine Charpentier »Te Deum & Motets«; Le Concert Spirituel, Hervé Niquet; Glossa Music 2004. 62 | Arr. LMK: Geo. Stebbing. 63 | »Auch das Te Deum erschallt auf der Opernbühne, am eindrucksvollsten vielleicht am Ende des ersten Aktes der »Tosca«. Kurt Küppers, Richard Wagner und der christliche Gottesdienst, erw. Fassung der Antrittsvorlesung am 16.5.1991 an der Universität Augsburg, S. 46; FN 59 Verweis auf: Zum Gebrauch des »Te Deums« im säkularen Bereich vgl. A. Gerhards, Te deum laudamus – Die Marseillaise der Kirche?, in: LJ 40 (1990), S. 65-77; vgl. Küppers ebd., S. 43, FN 29: »Gebete geben der Aufführung die entsprechende Couleur locale.« FN 54, vgl. Klaus W. Niemöller, Die kirchliche Szene, in: Die Couleur locale in der Oper des 19. Jahrhunderts, hg. von Heinz Becker, Regensburg 1976, S. 341-363.

59

60

C HRISTIAN B LÜGGEL

Mit seiner Hymne hat Verdi kein Kriegsglück. Dafür schreibt er aber die RisorgimentoOper schlechthin, La battaglia di Legnano, Die Schlacht von Legnano, Premiere am 27. Januar 1849 nur 13 Tage vor der offiziellen Proklamation der römischen Republik im Februar 1849, im Teatro Argentina in Rom. Die Oper beginnt mit den Worten Viva Italia! Sacro un patto/Tutti stringe i figli suoi! – Es lebe Italien! Ein heiliger Pakt verbindet alle seine Söhne! Die Begeisterung des Publikums kannte keine Grenzen und drängte die Vorstellung an den Rand des Abbruchs. Sie wurde dann doch zu Ende gespielt, ja mehr als das, der letzte Akt musste komplett wiederholt werden, nicht nur in der Premiere, auch in den nachfolgenden Aufführungen. Der marschartige Choral des Anfangs zieht sich bis zum Ende durch die Oper, eine Klammer, die alle Teile zusammenhält, eine allgegenwärtige Eidesformel. 64

Auch die Ouvertüre65 wird vom zugleich marsch- wie auch choralartigen Viva Italia-Thema beherrscht, das damals sogar als italienische Nationalhymne in Erwägung gezogen worden war. Als nicht vollständige Blütenlese der musikalischen Berührungen von Kirche und Militär in dieser Oper sei der abschließende Trauermarsch und das vorher platzierte Te Deum angeführt: »Sterbend wird er, von den Todesrittern gestützt, in eine Mailänder Kirche geleitet, zu den Klängen eines Tedeum versöhnt er Rolando und Lida, küßt die Fahne seines Regiments und bricht tot zusammen.«66 64 | Karl-Dietrich Gräwe, Verdis »Galeerenjahre« – und zwei todessüchtige Opernschlüsse (9. Folge), in: VERDI oder Die Erfindung der Wahrheit (Eine Sendereihe in 26 Folgen); Sendung: 6.7.-28.12.2008 jeweils sonntags 15.04-17.00 Uhr, Erstsendung: 2001, rbb, Produktion: SFB/rbb (Dieter Hauer), Kulturradio – Musik, Berlin, Text zur Sendung S. 6. 65 | Arr. LMK: Carlo Pirola. 66 | Gräwe, Galeerenjahre, S. 9. Ebenso spielt La Forza del destino (Arr. LMK: F. Cesarini) überwiegend im Felde oder in religiöser beziehungsweise kirchlicher Umgebung; das beschreibt in Miniatur bereits die programmatische Ouvertüre, darin das Gebet der Leonora und der Mönche, 4 wie beim Militärischen Ehrengeleit unterbrochene Perioden der Choralmelodie sowie marschartige Allegrothemen mit Blechbläsersignalen im letzten Teil. Über einen ähnlich hohen Anteil von Marsch- und Choralthemen verfügen die Ouvertüren zu den Opern Nabucco (Arr. LMK: J. P. Ehmig), Les vêpres siciliennes (Arr. LMK: P. Despray), Giovanna d´Arco (Arr. LMK: A. Peroni). Zu diesem Operntypus gehört als deutscher Beitrag Wagners Rienzi (Arr. LMK: E. Schmidt-Köthen). Choral und Marsch hat später auch Busoni als musikalische Formen im Dr. Faustus verwendet und bereits knapp zehn Jahre zuvor dazu seine Kompositionsstrategie erläutert: »Bei der Frage über die Zukunft der Oper ist es nötig, über diese Klarheit zu gewinnen: ›An welchen Momenten ist die Musik auf der Bühne unerläßlich?‹ die präzise Antwort: ›Bei Tänzen, Märschen, bei Liedern, bei Chorälen: das Trompetensignal als kriegerisches Symbol, die

Z UR I DENTITÄTSSTIFTUNG HEUTIGER M ILITÄRMUSIK AM B EISPIEL DES LMK

Insbesondere bei den Operettenkomponisten und K.u.K.-Militärkapellmeistern wie Lehár, Stolz, Hellmesberger, Ziehrer, den Dostals und Komzáks will das LMK einen Beitrag leisten, die Melodien lebendig in Erinnerung zu halten. Lincke67 wurde von der Militärmusik geprägt, schaute sich als Kind den Wachaufzug der Gardepioniere »Unter den Linden« an, wäre gerne Militärmusiker geworden, wurde aber später ausgemustert.68 Wenn ab dem 19. Jahrhundert eine diatonische, rhythmisch einfache, homophone, häufig von Blechbläsern gespielte Melodiebewegung innerhalb der weltlichen Musik auch als Choral charakterisiert wird, so können auch die hymnischen Einleitungen der Ouvertüren69 Suppés als Choral aufgefasst werden, die zumeist marsch- oder galoppartig enden. Wie wohl keine anderen Formen identifizieren sich Marsch und Choral in der Orchestermusik auch aufgrund ihrer Instrumentierung, der vornehmlichen Verwendung von Blasinstrumenten, vor allem Blechblasinstrumenten. Die Kultur und Praxis, aus Höhepunkten von Bühnenwerken sinfonische Suiten70 oder Portraits zu schaffen, hat sich auch im Bereich des Musicals weiter gehalten.71 Zwar ist im Gegensatz zu früheren Zeiten eine Rezeption für jedermann heute am originalen Aufführungsort (Musiktheater, Kino) möglich, für eine Zusammenfassung der interessantesten musikalischen Themen in einem Medley mit Höhepunkten ist dennoch weiterhin ein Markt vorhanden, was sich auch in derartigen CD-Produktionen widerspiegelt. Transkriptionen für ein großes Orchester, die als eigenständiges Musikwerk in Form einer Art sinfonischen Dichtung aufgefasst werden können, sind sogar bei Livekonzerten professioneller Sinfonieorchester zum Trend geworden. Dies gilt auch für die Filmmusik. Manche Filmkomponisten, zum Beispiel Hans Zimmer, sind dazu übergegangen, schon vor Beginn der Dreharbeiten Suiten zusammenzustellen, die alle wesentlichen Bestandteile der späteren Filmmusik enthalten. Schalmei als ländliches Schild, der Marschrhythmus in der Bedeutung des Schreitens, der Choral als Träger religiöser Empfindung.‹« Busoni, Entwurf, S. 19. 67 | Im Olympiajahr 1936 spielte das damalige Berliner Stabsmusikkorps Lincke zu dessen 70. Geburtstag ein Ständchen. (LMK bisher: Ouvertüren zu Frau Luna, Grigri, Lysistrata, Im Reiche des Indra, dazu verschiedene Querschnitte.) 68 | Otto Schneidereit, Paul Lincke und die Entstehung der Berliner Operette, Berlin 1974, S. 18, 24; ders., Berlin wie es weint und lacht. Lied der Zeit, Berlin 1973, S. 81. 69 | LMK: Dichter und Bauer, Banditenstreiche, Die schöne Galathée, Pique Dame, Leichte Kavallerie; Ein Morgen, ein Mittag, ein Abend in Wien. 70 | Verfahren vor allem im Ballettgenre. LMK z.B.: Chatschaturjan: u.a. Spartak-Suite (Arr.: Hans Helmut Hunger). 71 | LMK: z.B. Loewe (My fair lady), Bernstein (West Side Story), Webber (Jesus Christ Superstar, Phantom of the Opera, Cats, Evita), Menken (Beauty and the Beast), Levay/ Kunze (Elisabeth), Steinmann (Tanz der Vampire), Schönberg (Miss Saigon).

61

62

C HRISTIAN B LÜGGEL

Wird der Choralbegriff ab dem 19. Jahrhundert unscharf, und würde auch die Charakterisierung des Marsches einer leichten Entgrenzung unterzogen, so könnten dann mindestens viele Allegro-Hauptthemen von John Williams72 auch als Marsch gedeutet werden. Mit einer Popfassung73 der Hauptthemen der Star Wars-Saga marschierte das LMK zur Musikshow im November 2009 in der Max-Schmeling-Halle zu Berlin und Lanxess-Arena zu Köln ein. Zu seiner Hymn to the Fallen aus dem Film Saving Private Ryan, einem choralartigen Prozessionsmarsch, der mit seinen Fanfarensignalen und trauermarschartigen Rhythmen im Schlagzeug am Anfang und zum Schluss des Titels an Aaron Coplands Fanfare for the Common Man erinnert und von über 500 Musikern gespielt wurde, schritten Veteranen des Zweiten Weltkriegs und Brautjungfern Hand in Hand im Finalbild vor der Pause beim Nova Scotia International Tattoo 2005 in Halifax durch die Orchester.74 Das Musikfest stand unter dem Motto: Nicht nur Versöhnung, sondern Freundschaft mit dem ehemaligen Kriegsgegner Deutschland. Aus diesem Grund interpretierte eine junge kanadische Sängerin, szenisch umrahmt und von einem kanadischen Militärorchester begleitet, Norbert Schulzes klassisches Soldatenlied Lili Marleen75 , das »Schicksalslied« und die inoffizielle identitätsstiftende Hymne der Soldaten fast sämtlicher Fronten des Zweiten Weltkriegs. In jener Region, vor Neufundland, sank der Fischkutter »Andrea Gail« samt Besatzung 1994 bei einem Unwetter. Wolfgang Petersen, Sohn eines Marineoffiziers, verarbeitete dieses tragische Schicksal nach der dokumentarischen Romanvorlage (1997) von Andreas Junger in seiner Verfilmung The perfect Storm aus dem Millenniumsjahr. Das auf James Horners76 Filmmusik zurückgreifende Arrangement von Ralph Ford verarbeitet die choralartige Hymne Coming home from the Sea, welche ein Fanfaren-Marschthema mit der Spielanweisung »with great force« umrahmt, perkussiv unterlegt durch unter anderem Taiko und Ocean Drums. All dies mündet schließlich organisch in den Choral Eternal Father Strong to save von John Dykes und Cecil Milner.77 72 | John Williams diente vor seinen Musikstudien in der U.S. Air Force. 73 | Arr.: Scott Richards. 74 | Arr.: Craig Roberts. 75 | Zu jenem Zeitpunkt 90 Jahre zuvor schrieb der Schriftsteller und Dichter Hans Leip den Text im Ersten Weltkrieg während einer Wache vor der Gardefüsilierkaserne in der Kesselstraße in Berlin vor seiner Abfahrt an die russische Front Anfang April 1915. Arr. für LMK u.a.: Gerhard Baumann, Hans-Joachim Rhinow. 76 | Horner komponierte ebenso die Musik zum 1997 erschienenen Film über die ebenfalls im Nordatlantik gesunkene Titanic (LMK: Titanic-Medley, Arr.: Takashi Hoshide). 77 | Weitere vom LMK aufgeführte internationale Filmmusikkomponisten: z.B. Addinsell (Warschauer Konzert), Barry, Mancini, Morricone, Medleys verschiedener Disneyund Chaplin-Filme.

Z UR I DENTITÄTSSTIFTUNG HEUTIGER M ILITÄRMUSIK AM B EISPIEL DES LMK

Als musikalisches Hauptthema zu Wolfgang Petersens Film Das Boot78 verwendet Klaus Doldinger eine ausgezierte Variation des für die Musik des 19. Jahrhunderts bedeutenden choralartigen Dresdner Amens79 . Beim Antreten an Bord kurz vor dem Auslaufen erscheint das Thema allerdings – von Synthesizer generierten Bläserklängen gespielt – marschmäßig forsch und soll wohl das Selbstbewusstsein und den Tatendrang der Besatzung widerspiegeln. Von der Havel getrennt, aber Luftlinie keine zehn Kilometer von den UFAFilmstudios in Babelsberg entfernt stationiert, hat es sich das LMK zur Aufgabe gemacht, die Musik vor allem der deutschen Filmkomponisten lebendig zu halten,80 überwiegend als ca. acht bis zwölf Minuten dauernde Querschnitte von Komponisten wie Bochmann81 , Grothe, Heymann, Jary, Kreuder, Mackeben und Schröder, zumeist arrangiert im Big Band-Stil,82 was deshalb beziehungsreich ist, weil fast alle genannten Filmkomponisten selbst Swing spielten. Band-Musik, von Musikern in Uniform gespielt, konstruierte darüber hinaus eine neue Identitätsausprägung von Militärmusik, seit während des Zweiten Weltkriegs etwa Glenn Miller für die U.S. Air Force vor allem in Europa eine Big Band leitete; gleiches gilt für Artie Shaw und seine U.S. Navy-Big-Band, mit der er 1943 und 1944 durch den Pazifik zum Zweck der Truppenbetreuung tourte.83 Durch die Auflösung professioneller Big Bands in Deutschland, insbesondere mehrerer Rundfunkanstalten, konnte den Musikkorps geradezu aufgrund ihrer Besetzungsmöglichkeiten die Rolle zufallen, diese Musikkultur zu bewahren. Ursprünglich für die Verwendung in Sinfonieorchestern gedacht, aber von Komponisten zunächst nahezu (Ausnahme Georges Bizet) ignoriert, hat gerade das Saxophon über die Militärmusik die wesentliche Verbreitung erfahren. Neben der Big Band und den historischen Tanztiteln wie Walzer und Polka sind im Bereich der Tanz- und Unterhaltungsmusik84 auch Schlager, Rock, Pop und Lateinamerikanische85 Musik feste Bestandteile des Repertoires 78 | Arr. LMK: Walter Ratzek. 79 | Neben Wagner auch etwa Mendelssohn, Bruckner, Mahler. 80 | Benefizkonzerte u.a. im Filmpark Babelsberg. 81 | Quax, der Bruchpilot – Werner Bochmann schrieb zu diesem Film die Musik – alias Heinz Rühmann wohnte keine drei Kilometer Luftlinie von der Dienststelle des LMK entfernt und dürfte als Hobbypilot das Areal der damaligen zentralen Ausbildungsstätte der sich im Neuaufbau befindlichen Luftwaffe aus der Vogelperspektive betrachtet haben. 82 | Arr.: Hans-Joachim Rhinow. 83 | Weitere vom LMK aufgeführte Swingmedleys von z.B. Goodman, Ellington, Porter, Kaempfert, Sinatra. 84 | LMK z.B.: Abba, Belafonte, Valente, Beatles, Gietz, R. Charles, C. Rio, Manilow. 85 | LMK z.B.: Abreu, Azevado, Barroso, Hernandez, Antonio Carlos Jobim – passend zum Themenkomplex: Bei Bekanntwerden seines Ablebens ordnete der damalige brasilianische Präsident (wie auch beim Tode des Formel 1 Champions Ayrton Senna) eine

63

64

C HRISTIAN B LÜGGEL

geworden. Verschiedene kleinere Ensembles, die zumeist innerhalb der Bundeswehr zu feierlichen oder festlichen Anlässen eingesetzt werden, runden die Besetzungsvielfalt des LMK ab. Alban Berg hat nicht verheimlicht, dass sein Wozzeck autobiografische Züge trägt, seine Erlebnisse während des Kriegsdienstes. Ähnliches, aber abgeschwächt, gilt für Strawinskys Erinnerungen an Hitlers Diktatur, umgesetzt in seiner Sinfonie in drei Sätzen, parallel vorher die Erlebnisse im und nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Geschichte vom Soldaten.86 Das eine spezielle Situation87 beschreibende Bild eines auf Konventionen pfeifenden Militärorchesters, das Berg in der als Marsch komponierten 3. Szene des 1. Aktes entwirft, das bis zu 24 Musiker umfassende Militärorchester auf der Bühne solle »ohne Rücksicht auf das Tempo des großen Orchesters«88 spielen, kann als Muster für die Vorurteile gesehen werden, die heute noch bisweilen vor allem in Deutschland der Militärmusik entgegengebracht werden. Die Militärmusik der Bundeswehr ist ein Spiegelbild der pluralistischen Gesellschaft eines republikanischen Verfassungsstaates.89 Neben der Pflege des überlieferten Kulturgutes als Geschichtsbewusstsein im Sinne einer integrierenden Kraft der Erinnerung ist die Militärmusik gleichzeitig offen für die künstlerischen und kulturellen Entwick-

dreitägige Staatstrauer an. Außerdem wurde der internationale Flughafen seiner Heimatstadt Rio de Janeiro nach ihm umbenannt. 86 | Im Wozzeck werden neben dem Marsch auch kirchenmusikalische Formen aneinandergereiht. Die Geschichte vom Soldaten enthält einen Marsch als Leitmotiv und einen kleinen und großen Choral. 87 | Italienische Opernkomponisten zeichnen beispielsweise das positive Bild eines mitten in der Bevölkerung integrierten Militärorchesters beziehungsweise einer Militärmusik: z.B. Donizetti La Fille du Régiment, Puccini La Bohème. 88 | Anweisung Alban Bergs in der Partitur zu seiner Oper Wozzeck. 89 | »Die wachsende Weltoffenheit des Verfassungsstaates, seine Mitwirkung insbesondere an einem vereinten Europa und an einer völkervertraglichen Friedensgemeinschaft dient elementaren Sicherheitsanliegen, sucht den Rechtsgüterschutz und insbesondere die Ideen von Freiheit, Gleichheit, Gesetzmäßigkeit über das Gebiet des Staates hinaus zu verallgemeinern und ist im Prinzip der vertraglich begrenzten Zuweisung von Einzelermächtigungen auf klar definierte Verantwortlichkeiten angelegt.« Kirchhof, Maß der Gerechtigkeit, S. 150. Dabei gilt: »Recht wirkt, wenn es die Menschen überzeugt, bleibt hingegen eine leere Hülse formaler Verbindlichkeit, wenn die Adressaten die Anliegen von Befehl und Geltungsanspruch nicht teilen, in ihren Wirkungen nicht verstehen und gutheißen.« Kirchhof, Maß der Gerechtigkeit, S. 153f.; ferner: »Wenn sich Zweifel an ihren [der Nationen; Kommentar, C.B.] Grenzen erheben, dann soll die Bevölkerung befragt werden. Sie hat durchaus ein Recht auf ein Urteil darüber.« Renan, Vortrag.

Z UR I DENTITÄTSSTIFTUNG HEUTIGER M ILITÄRMUSIK AM B EISPIEL DES LMK

lungen der Gegenwart.90 Bei den Aufführungen werden kulturelle Wertvorstellungen vermittelt und so Identität und Kontinuität geschaffen. Die ökonomische Globalisierung beschleunigt Vereinheitlichungsprozesse nicht nur im Bereich von Weltorganisationen, Weltrecht und Weltinnenpolitik, sondern auch Suchprozesse nach gemeinsamen ethischen Standards. Am letzten Tag der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen 2009 traten die Zwänge der Kooperation erneut besonders eindringlich in den Vordergrund. Auch Wagner zeigt: Ausgangspunkt des Heilswegs des Amfortas ist die Übereinstimmung mit der Natur, repräsentiert durch das Motiv der Waldmorgenpracht. Und wissend geworden bezieht Parsifal bei seiner Ankunft auf dem Gralsgebiet im 3. Akt die Natur in die Erlösung mit ein, der »Karfreitagszauber«91 wird der künstlichen Natur des Zaubergartens gegenübergestellt. Erst auf der Grundlage der Versöhnung mit der Natur vollzieht sich die Apotheose. »[Z]ur zeitgenössischen Realität gehört […], daß just die Kultur, die herkunftsmäßig durch eine Religion universellen Anspruchs geprägt ist, zugleich die Herkunftskultur einer Zivilisation historisch einzigartiger Ausbreitungskraft ist.«92 In Anlehnung an Ernst Cassirers symbolische Formen könnten Marsch und Choral als Ausdruck dieser zwei höchst dominanten Weltdeutungsmodelle der westlichen Kultur, der säkularen Rationalität und der Vernunft des christlichen Glaubens verstanden werden.

90 | Im übergeordneten Zusammenhang gilt: »Diese Kraft des Erhaltens und Erneuerns wird […] zu den unveränderlichen Verfassungsprinzipien geformt, die in den Grundrechten, der Demokratie, dem Rechtsstaat, dem Bundesstaat […] unverrückbar und unabänderlich sind.« (Kirchhof, Maß der Gerechtigkeit, S. 376) 91 | Die an dieser Stelle verwendeten Motive des Segensspruchs, der Blumenaue und des Glaubens – dies letzte jetzt auch im 3/4 Takt – sind wesensverwandt in ihrer Wirkung, Ruhe, Erhabenheit, Würde auszustrahlen, zur Kategorie der Hymnen wie God save the King/Queen oder der Choräle wie Ich bete an die Macht der Liebe und Wir treten zum Beten sowie der übrigen in dieser Arbeit angeführten Motive des Parsifal, die in einem Tripeltakt formiert sind, welcher die Eigenschaft zum Schreiten in sich führt. Ein Paradestück für diesen Typus ist der Pilgerchor aus dem Tannhäuser, den sich Wagner nach Felix Mottl gleich zu Beginn der Oper in »gehende[r] Bewegung« interpretiert wünscht [Partitur zum Tannhäuser]. Ferner: Hans-Joachim Bauer, Reclams Musikführer Richard Wagner, Stuttgart 1992, S. 157: »[S]chon in der Ouvertüre […] schildert Wagner […] das Herannahen der Pilger durch deren Choral, der mächtig anschwillt und trotz seiner marschartigen Gewaltsamkeiten […] Tonmalereien anbietet, die filmmusikalische Qualitäten besitzen.« Arr. LMK: u.a. E. Schmidt-Köthen, M. Hindsley. 92 | Hermann Lübbe, Zivilisationsökomene. Globalisierung kulturell, technisch und politisch, München 2005, S. 205.

65

66

C HRISTIAN B LÜGGEL Es ist für die beiden großen Komponenten der westlichen Kultur wichtig, sich auf ein Hören, eine wahre Korrelationalität auch mit diesen [anderen] Kulturen einzulassen. Es ist wichtig, sie in den Versuch einer polyphonen 93 Korrelation hineinzunehmen, in der sie sich selbst der wesentlichen Komplementarität von Vernunft und Glaube öffnen. 94

Als Fundament für eine allumfassende Solidarität bedarf es wohl eines Mitgefühls über Raum und Zeit hinaus. Kann es eine bessere Lösung als diejenige Wagners geben, mit einem choralartigen Prozessionsmarsch die Zeit zum Raum95 werden zu lassen und damit die Wirkung und Gefühle von Erhabenheit, Unbegreiflichkeit, perspektivenöffnender Teilnahme, Ewigkeit und zugleich Prozesscharakter zu erzeugen? Hans Peter Dürr formuliert kristallinisch über die Quantenphysik, was auch auf die »Kulturen des Performativen« übertragen werden kann und insbesondere die spezielle Identität der Musik als immaterielle, mehrdimensionale Raum- und Zeitkunst96 kennzeichnet: »Das Primäre ist […] die Beziehung, die Verbundenheit, das ›Dazwischen‹, die Veränderung, der Prozess, das Werden: Wirklichkeit als Potenzialität.«97

93 | Der Rolle raumzeitlicher Aktivierungsmuster beim Suchprozess zu Lösungen und deren Präsentation im Zusammenwirken mit dem Zustand der Empathie widmen sich Wolf Singer und Matthieu Ricard in den Kapiteln »Mitgefühl und Handeln« sowie »Meditation der Anteilnahme und neuronale Kohärenz« in ihrem Dialog Hirnforschung und Meditation, Frankfurt a.M. 2008. 94 | Ratzinger, Werte, S. 39f. Interkulturelle Kompetenz hat sich zu einer Schlüsselqualifikation für Soldaten der Bundeswehr insbesondere in Auslandseinsätzen entwickelt. 95 | Der Rolle raumzeitlicher Aktivierungsmuster beim Suchprozess zu Lösungen und deren Präsentation im Zusammenwirken mit dem Zustand der Empathie widmen sich Wolf Singer und Matthieu Ricard in den Kapiteln »Mitgefühl und Handeln« sowie »Meditation der Anteilnahme und neuronale Kohärenz« in ihrem Dialog Hirnforschung und Meditation, Frankfurt a.M. 2008. 96 | Vgl. z.B. Albert Wellek, Musikpsychologie und Musikästhetik, Bonn ³1987. 97 | Hans-Peter Dürr, Die ontologische Revolution durch die Quantentheorie und die Erneuerung der Naturwissenschaft, in: ders. und Hans-Jürgen Fischbeck (Hg.), Wirklichkeit, Wahrheit, Werte und die Wissenschaft. Ein Beitrag zum Diskurs »Neue Aufklärung«, Berlin 2003, S. 23-34, hier S. 27. Es ist erwähnenswert, dass das Antistatische, Wandelbare, Gewordene wie das Interaktive auch den Begriff der »Identität« kennzeichnen – und zwar interdisziplinär: z.B. schon immer in der Praktischen Philosophie (z.B. Volker Gerhardt), in der Entwicklungspsychologie und den symbolischen Kultursystemen, auch der Neuropsychologie (z.B. Ernst Pöppel), schließlich neuerdings auch in der Epigenetik (z.B. Markus Hengstschläger).

Z UR I DENTITÄTSSTIFTUNG HEUTIGER M ILITÄRMUSIK AM B EISPIEL DES LMK

Um zuletzt den Bogen zum gesamten Untersuchungsspektrum und zum Performativen zu spannen, sei Goethes Faust-Ende in Form von Mahlers Schlusschoral aus der 8. Symphonie auf den marschartigen Veni creator spiritus-Hymnus folgend, zitiert: Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis Das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis.

67

Staatssymbolmusik: Germania vertont John Gabriel

E INLEITUNG Es gibt mehrere Wege, wie Musik zu einer Staatsmusik werden kann. Einer führt über die Verwendung von Musik während eines Staatsaktes, wobei die Präsentation von staatlicher Macht im Vordergrund zu stehen scheint. Ein anderer, der Gemeinsamkeiten mit dem ersten aufweist, bedient sich der Musik als Staatssymbol, indem sie die Funktion der staatlichen Repräsentation übernimmt. In diesem Kontext steht die Nationalhymne als Paradebeispiel. Auch wenn die Hymne als offizielles Staatssymbol dient, gibt es auch inoffizielle Symbole, die als Repräsentation des Staates in öffentlichen Bereichen unverkennbar sind, darunter auch die Figur der Germania. Sie symbolisiert nicht nur Deutschland (als Vorstellung oder als realisierte, politische Entität), sondern kann auch als Verkörperung der Nation gelten. Wie alle Staatssymbole – offiziell oder nicht –, soll die Germania die gewünschten Charakteristiken ihres Landes präsentieren. Um wieder das Beispiel der Nationalhymne zu verwenden: Unterschiedliche Vorstellungen von Deutschland werden offenbart, wenn man mit der ersten oder dritten Strophe des Deutschlandliedes zu singen anfängt. Auch aufgrund ihrer Kleidung, ihrer Ausrüstung, ihres Hintergrunds und ihrer allgemeinen Gestalt verkörpert die Germania unterschiedliche Vorstellungen von Deutschland. Diese Vorstellungen sind unweigerlich mit dem geschichtlichen und politischen Kontext, in dem der Künstler die Figur schafft, verknüpft. Die Wurzeln der Figur der Germania reichen zurück ins römische Zeitalter. Nach der Französischen Revolution gewann sie eine neue Bedeutung und fand gleichsam eine größere Verbreitung; nicht nur wegen der neuen nationalistischen Strömungen in Europa, sondern auch wegen der Figur der Marianne in Frankreich. Die Marianne fungierte als Verkörperung der Liberté und der neu gegründeten Republik. Diejenigen, welche 1789 die französischen demokratischen Bewegungen als Vorbild für ein vereinigtes Deutschland sahen, stellten sich die

70

J OHN G ABRIEL

Marianne als die ältere Schwester der Germania vor, die ihrer jüngeren Schwester den Weg in die Zukunft zeigte.1 Es dauerte jedoch nicht lange, bis die erste französische Republik sich in das Napoleonische Kaiserreich verwandelte und die Napoleonischen Kriege begannen. Nach der Niederlage Österreichs, der damit verbundenen Ablösung des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation und der späteren Niederlage Preußens, entwickelte die Germania sich zur Verkörperung eines antifranzösischen Deutschlandideales; dabei wurde sie noch nicht als bewaffnete, kriegerische Figur dargestellt, sondern eher als unterjochte, die für ihre Rettung betet und diese erhofft.

B EE THOVEN Aus diesem Kontext stammt eines der ersten Beispiele für die musikalische Darstellung eines vorgestellten Deutschlands, welches von einem Künstler komponiert wurde, dessen Kompositionen oft als die Verkörperung der deutschen Musik beschrieben werden: Ludwig van Beethoven. Sein Chorstück Germania (auch als Germania, Germania, wie stehst du jetzt im Glanze da! oder Germaniachor bekannt) aus dem Jahre 1814 war Teil des Theaterstückes Die gute Nachricht von Friedrich Treitschke. Das Theaterstück wurde in Wien rasch zur Feier des Einmarsches der antinapoleonischen Heere in Paris zusammengestellt. Nur elf Tage danach uraufgeführt, war das Stück, laut Willy Hess, »ein ad hoc zu schreibendes patriotisches kleines Festspiel in der Hofoper«2 . Dass das Stück fünfmal aufgeführt wurde, obwohl nur eine Aufführung vorgesehen war, beweise seine Beliebtheit und seinen Erfolg.3 Der Text ist harmlos und unbeschwert: Junge Männer kämpfen darum, der Erste zu sein, der die gute Nachricht des Sieges über Napoléon zu einem rheinischen Müller bringt, und um die Hand seiner schönen Tochter anzuhalten. Die Musikstücke dazu stammten von unterschiedlichen, heute meist vergessenen Komponisten. Der Schlusschor stammt von Beethoven und wendet die Handlung von der Liebesgeschichte zurück zum Sieg über Napoléon, welchen nicht nur die Charaktere auf der Bühne feiern wollten, sondern auch das Publikum im Saal. 1 | Vgl. Lothar Gall, Germania. Eine deutsche Marianne? Une Marianne allemande? Bonn 1993, S. 8. 2 | Willy Hess, Zwei patriotische Singspiele von Friedrich Treitschke, in: Paul Mies und Joseph Schmidt-Görg (Hg.), Beethoven Jahrbuch 6 (1965/1968) (= Veröffentlichungen des Beethovenhauses in Bonn, 2. Reihe), 1969, S. 269-297, hier S. 269. 3 | Ebd., S. 271.

S TAATSSYMBOLMUSIK : G ERMANIA VERTONT

Die Germania in diesem Schlusschor ist nicht die unterjochte Frau, die von den Monarchen der alten Ordnung gerettet werden musste, sondern die gerade gerettete und erlöste, die ihre Befreiung den Monarchen des alten Reiches, Gott und dem russischen Zaren verdankt. Gott, Zar Alexander, König Friedrich Wilhelm, den anderen deutschen Fürsten und Kaiser Franz wird jeweils eine Strophe gewidmet. Als Kaiser des Landes, in dem das Stück aufgeführt wurde, wird Kaiser Franz die letzte Strophe zugedacht, und er ist auch der einzige Monarch, der mit Namen und Titel genannt wird. Auf musikalischer Ebene erfährt diese letzte Strophe eine Steigerung durch vollere Instrumentation und Chormusik sowie durch die Wiederholung von Ausrufen. Dass das Stück den Monarchismus der alten Ordnung unterstützt, wird ferner dadurch bestätigt, dass King George und England nicht erwähnt werden. In ihrer Analyse des Werkes verteidigt Freia Hoffmann den unübersehbaren, »relativ geringe[n] kompositorische[n] Aufwand« damit, dass das Werk eilig geschrieben werden musste, zudem führt sie »die zu erwartende Qualität der übrigen Kompositionen« an, die Beethoven »nicht zu besonderen Anstrengungen herausforderte.«4 Trotzdem identifiziert sie noch zwei bemerkenswerte musikalische Elemente: Die Verwendung eines Eintonfanfaren-Motivs, welches als Beethovens Muster für kriegerisch-pathetische Hymnen fungiere, und die Textdeklamation und Melodieführung, die an zwei der berühmtesten Lieder der Befreiungskriege erinnern, nämlich an das Gebet während der Schlacht von Friedrich Heinrich Himmel und an das Schwertlied Carl Maria von Webers. In die Tradition dieser beiden Lieder lässt sich das Beethoven’sche einreihen.5 Germania war für Beethoven nicht nur eine Widerspieglung seiner eigenen Freude über den Niederschlag Napoléons, es stellte auch eine weitere Profitmaximierung dar, katalysiert durch den Nationalismus und die Aufregung um den Untergang Napoléons. Etwa ein Jahr vorher hatte er das in dieser Zeit sehr erfolgreiche Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria, op. 91 geschrieben. Nach dem Germaniachor komponierte er noch zwei weitere, auf den Krieg bezogene Stücke: die Kantate Der glorreiche Augenblick zu Ehren der »zum Wiener Kongress versammelten Monarchen« und einen Schlusschor für ein späteres Stück Treitschkes Es ist vollbracht, diesmal zur Feier des Eintritts des antinapoleonischen Bundes in Paris nach der Schlacht bei Waterloo.6 Auch wenn Beet-

4 | Freia Hoffmann, Germania für Bass, Chor und Orchester WoO 94, in: Albrecht Riethmüller u.a. (Hg.), Beethoven. Interpretationen seiner Werke, Bd. 2, Laaber 1994, S. 500-504, hier S. 503. 5 | Ebd., S. 503. 6 | Frank Schneider, Kantate Der glorreiche Augenblick op. 136, in: Riethmüller, Beethoven, Bd. 2, S. 364-369, hier S. 364.

71

72

J OHN G ABRIEL

hoven den Germaniachor ohne Erhalt eines Honorars schrieb, war die rasche Produktion eines Klavierauszugs sein Wunsch.7

R HEINLIEDER UND N IEDERWALDDENKMAL Nach den Kriegen blühte ein neuer deutscher Nationalismus auf, bei dem Frankreich (durch seine Politik und auch als vorgestellte Bedrohung) noch immer eine große Rolle spielte. Dieser Nationalismus hat einen besonders dauerhaften Einfluss auf die Darstellung der Germania aufgrund der Rheinkrise 1840 ausgeübt: Frankreich verlangte, den Rhein als Ostgrenze zu erhalten, als eine Art Kompensation der gescheiterten Orientpolitik. Die Krise löste zwar keinen Krieg aus, doch hatte sie laut Andreas Eichhorn zur Folge, dass Rheinländer und Preußen näher zusammenrückten, und dass sich in Deutschland eine geistig-kulturelle Aufbruchstimmung entfachte. Wie die Germania wurde der Rhein, so Eichhorn, zum Quasistaatssymbol, sogar zu einer »nationalen Landschaft, die die Geschichte und Kultur einer ganzen Nation repräsentierte.«8 Der Rhein wurde als politisches Thema zusammen mit dem Naturalistischen in die Literatur und Kunst der Romantik aufgenommen. Nationalismus und Naturalismus fanden Ausdruck in den fast 400 Rheinliedern, die zwischen 1840 und 1850 entstanden.9 Das Bekannteste war Der deutsche Rhein (»Sie sollen ihn nicht haben/den freien deutschen Rhein«) von Nikolaus Becker aus dem Jahre 1840. Das Lied erlangte breite Bekanntheit, so dass es mehr als hundertmal vertont wurde. Doch wurde keiner einzelnen Vertonung die Popularität des Gedichtes selbst zuteil.10 Anders war es mit der aus demselben Jahre stammenden Wacht am Rhein von Max Schneckenburger. Hiervon gab es nur zwei bekannte Vertonungen, wobei die von Carl Wilhelm aus dem Jahre 1854 »zu dem populärsten patriotischen Lied zwischen 1870/71 und 1914« wurde, da sie »sich mit dem kämpferischen Ton des Gedichts untrennbar [verband]«11 . Im Kontext der Rheinkrise und wachsender antifranzösischer Ressentiments brauchten Germania-Darstellungen ein schlagkräftigeres Vorbild, was sie in der deutsch-mythologischen Figur der Walküre fanden. Deren Einfluss wirkte besonders stark nach 1860. In diesem Jahr entstand Lorenz Clasens Ger-

7 | Hoffmann, Germania, S. 502-504. 8 | Andreas Eichhorn, Der Rhein als Symbol. Programm und Bedeutung in der Symbolik des 19. Jahrhunderts, in: Hermann Danuser (Hg.), Deutsche Meister, Böse Geister? Nationale Selbstfindung in der Musik, Schliengen 2001, S. 185-205, hier S. 186. 9 | Ebd., S. 185f. 10 | Ebd., S. 186f. 11 | Ebd., S. 187.

S TAATSSYMBOLMUSIK : G ERMANIA VERTONT

mania auf der Wacht am Rhein (Abbildung 1), welches sich in zahllosen Nachbildungen über den gesamten deutschen Raum verbreitete.12

Abb. 1: Lorenz Clasen: Germania auf der Wacht am Rhein. Ölgemälde, 1860, Krefeld, Kaiser Wilhelm Museum Krefeld, Abgedruckt nach: Marie-Louise von Plessen (Hg.): Marianne und Germania 1789-1889. Frankreich und Deutschland. Zwei Welten – Eine Revue. Ausstellungskat. Berlin 1996, S. 39. Zu dieser Zeit war das Wilhelm’sche Lied der Wacht am Rhein schon sechs Jahre alt und sehr bekannt. Nach 1860 wuchsen die Bekanntheit des Liedes und des Bildes zusammen, was sich vor allem im Niederwalddenkmal 1883 zeigt, welches aus einer riesigen walkürenhaften Germaniafigur besteht. Auf dem Podest steht der Text des Liedes geschrieben. Im Denkmal fanden die Germania-Darstellungen Clasens und Wilhelms/Schneckenburgers noch eine weitere Bekanntheit, so Lothar Gall: »Fast alle die Figur aufnehmenden Denkmäler haben sich seither in der einen oder anderen Form an ihm orientiert, und kaum ein

12 | Gall, Germania, S. 22f.

73

74

J OHN G ABRIEL

Maler konnte sich der prägenden Kraft dieses steingewordenen Bildgedankens entziehen.«13

D IE L ORELE Y UND DER R HEIN IN DER M USIK Man kann kaum an weibliche Figuren und den Rhein denken, ohne auch an die Loreley erinnert zu werden. Die Loreley erschien in vielen verschiedenen Formen und diente gleichzeitig als Verkörperung der Schönheit sowie der Gefahr des Rheins. Im Unterschied zu einer gepanzerten Walküre, wurde sie nackt oder fast nackt dargestellt. Beide sollten Jungfrauen sein, aber die Darstellung der Loreley scheint im Gegensatz zur Germania die Verführung der Männer zum Ziel zu haben. Die Loreley fand eine sehr große Rezeption in der Musik mit zahlreichen Loreley-Liedern und sogar 20 Loreley-Opern, die zwischen 1840 und 1890 geschrieben wurden.14 Die beiden Frauenfiguren erreichten nach 1840 eine große Popularität. Ihre so unterschiedliche Rezeption verhinderte nicht, dass nach 1871 gewisse Verwirrungen und Vermischungen in der Darstellung der beiden stattfanden. Das beste musikalische Beispiel dafür ist das Lied Die neue Loreley von Siegmey (Pseudonym für Siegbert Meyer) aus dem Jahre 1878. In dieser Neubearbeitung des Heine-Gedichtes übernimmt die Loreley die Wacht am Rhein, und durch ihr Singen warnt sie die Deutschen vor den französischen Soldaten.15 Auf dem Deckblatt von Leonard Emil Bachs Vertonung wird die Loreley als eine Germania abgebildet, allerdings mit einer Harfe statt eines Schwertes in der Hand. Als musizierende Figur ist sie als Loreley wiedererkennbar, aber als gepanzerte und teils bewaffnete Figur hat sie ihre offensichtlich verführerischen Charakteristiken verloren.16

W AGNER In diesem Kontext mag man vielleicht auch an eine andere Figur erinnert werden: die Wagner’sche Brünnhilde. Vor dem Hintergrund der bekannten Verbin13 | Ebd., S. 26. 14 | Eichhorn, Der Rhein, S. 112. 15 | Vgl. Annegret Fauser, Rheinsirenen. Loreley and Other Rhine Maidens, in: Linda P. Austern und Inna Naroditskaya (Hg.), Musik of the Sirens, Bloomington, IN 2006, S. 250-272, hier S. 257. 16 | Interessanterweise untersucht Fauser nicht, ob die Loreley in diesen Fällen als Wacht am Rhein die Funktion der Germania und damit Aspekte einer walkürenhaften Darstellung übernimmt.

S TAATSSYMBOLMUSIK : G ERMANIA VERTONT

dung Wagners zum deutschen Nationalismus und mit der teilweise ähnlichen Ausstattung Germanias und Brünnhildes – Germania mit Schwert und Mauerkrone beziehungsweise Lorbeerkrone und Brünnhilde mit Speer und geflügeltem Helm –, kann gesagt werden, dass durch die Verbindung dieser beiden Walküre-Figuren mit dem deutschen Nationalismus eine gewisse Verwischung der Figuren Germania und Brünnhilde stattfand, besonders in der populären Kultur. Der enorme Erfolg des Rings, der bis heute anhält, bedeutet, dass die Figur der Walküre in der Musik und in der Kultur allgemein präsent geblieben ist. Da sie in etlichen Inszenierungen und Kostümierungen an die Germania erinnert, bleibt die Germania eine aktuelle Figur in der Musik und Kultur.

F ELIX D R AESEKE Nur weil Beethovens Chorstück, Wilhelms Lied und Wagners Opern zu großen Erfolgen geworden sind, heißt dies nicht, dass eine Germania oder eine der Germania ähnelnde Darstellung das Geheimnis eines Erfolgsstückes war. Ein Werk musste auch eine gewisse musikalische Qualität aufweisen und zu den zeitgenössischen Vorstellungen von Germania beziehungsweise Deutschland passen. Felix Draeseke zum Beispiel vertonte zwei Germania-Texte, den ersten 1859 und den zweiten 1861. Die erste Vertonung wurde von ihm selbst vernichtet, vermutlich wegen seiner katastrophalen Uraufführung, und obwohl die zweite Vertonung bessere Kritiken erhielt, konnte hiermit – auch nach einer Neubearbeitung – kein Erfolgsstück etabliert werden.17 Ob die musikalische Seite dieser Kantate an ihrem Misserfolg schuldig ist, bleibt umstritten. Michael Heinemann äußert sich sehr kritisch gegenüber den musikalischen Mängeln der Kantate. Draesekes Versuch im harmonischen Stil der neuen deutschen Schule zu schreiben, sei misslungen. Heinemann führt aus, dass Draeseke ein gigantisches Orchester verwendet, aber über bekannte Formen und übertriebene Effekte nicht hinauskam. Heinemann beschreibt den Germaniamarsch der Kantate als »siebenminütige[n] Lärm[…], in dem kein bewährter Effekt der Militärmusik, doch nahezu jede Technik motivisch-thematischer Entwicklung ausgelassen wird«18 .

17 | Vgl. Michael Heinemann, Felix Draesekes Germania-Kompositionen, in: Sieghart Döhring u.a. (Hg.), Deutsche Oper zwischen Wagner und Strauss, Chemnitz 1998, S. 255-271, hier S. 258. Nach Erich Roeder war diese Vernichtung keine Ausnahme. Draeseke hatte »ein[e] fast grausam[e] Selbstkritik zuzuschreibend[e] Zerstörungswut« als er jung war. Erich Roeder, Felix Draeseke als Programmmusiker, Diss. RupprechtKarls-Universität Heidelberg, St. Ingebert 1927, S. 11. 18 | Heinemann, Felix Draesekes Germania-Kompositionen, S. 262.

75

76

J OHN G ABRIEL

Eine ganz andere Kritik stammt aus der Feder Erich Roeders. In seiner Dissertation über Draeseke von 1927 schreibt er: »Die Germania-Kantate überrascht, abgesehen von den kriegerischen Marschrhythmen und den romantisch-schauerlichen Klängen verminderter Akkorde vor allem durch eine außergewöhnlich starke Instrumentation.«19 Auch wenn Roeder Draeseke ziemlich unkritisch positiv bewertet, steht er als Beispiel für manch positive, historische Rezeption Draesekes. Laut Heinemann gründe der Misserfolg dieses Werkes vor allem auf den Mängeln der Musik, während der Text ideales Material für einen Erfolg biete.20 Der Text nach dem Kleist’schen Gedicht Germania an ihre Kinder aus dem Jahre 1807 trägt dem Bild der unterjochten Germania noch etwas Pathos zu; Germania wird hier als Mutter der deutschen Monarchen dargestellt. Sie erscheint und bittet ihre Kinder, sie zu retten. Obwohl die Kantate Draesekes ein Aufruf ist, stellt sie eine passive Germania dar; die starke, bewaffnete Rheinwacht ist verloren gegangen. Neben den von Heinemann identifizierten, musikalischen Mängeln hat diese altmodische Germania wahrscheinlich auch zum Misserfolg des Werkes beigesteuert. Draesekes erfolgreiche Kantate Hermannschlacht,21 auch nach einem Kleist-Text, bildet hier ein interessantes Gegenbeispiel, das den Unterschied deutlich macht, da der Feind in der Hermannschlacht aktiv bekämpft und besiegt wird. Vermutlich hätte eine Germania-Kantate mit diesen Merkmalen auch einen größeren Erfolg genossen.

A LBERTO F R ANCHE T TI Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 nahm die Germania eine etwas andere Bedeutung an. Deutschland war kein abstraktes, theoretisches Ziel mehr. Um dies zu unterstreichen, wurde die Germania auf staatlichen Alltagssymbolen wie Briefmarken zur Selbstdarstellung verwendet.22 Nach Manuela Jahrmärker war die Erfolgsgeschichte der Vereinigung des Deutschen Reiches eine wichtige Inspiration für den Draeseke-Schüler Alberto Franchetti, dessen Oper Germania aus dem Jahre 1902 mit Libretto von Luigi Illica von den Aktionen einer Gruppe patriotischer deutscher Studenten während 19 | Roeder, Felix Draeseke, S. 15. 20 | Vgl. Heinemann, Felix Draesekes Germania-Kompositionen, S. 266. 21 | Vgl. ebd. 22 | Zum Beispiel Germania-Briefmarken zu 60 Pfennig aus dem Jahre 1911 (MarieLouise von Plessen (Hg.): Marianne und Germania 1789-1889. Frankreich und Deutschland. Zwei Welten – Eine Revue. Ausstellungskat. Berlin 1996, S. 35), oder das Niederwald-Denkmal und die Germania-Statue auf dem Altmarkte in Dreseden (von Plessen, Marianne und Germania 1789-1889, S. 33, 63).

S TAATSSYMBOLMUSIK : G ERMANIA VERTONT

der Zeit Napoléons handelt. Wie Jahrmärker überzeugend darlegt, ergaben sich deutliche Parallelen zwischen der Bewegung der Studenten in der Oper und den irredentistischen Bewegungen in Italien um die Jahrhundertwende. Für die Irrendentisten war die österreichische Zugehörigkeit italienischsprachiger Gebiete wie Triest eine Ungerechtigkeit. So wird auch in der Oper die französische Besetzung deutscher Länder kritisch dargestellt.23 Obwohl die Germania selbst nicht als Germania erscheint, kommt eine Figur vor, die als »la Donna« im Libretto beschrieben, und im Chor als eine Königin besungen wird. Diese Figur kann als Germania interpretiert werden. Sie kommt nur kurz ganz am Ende des zweiten Bildes vor. Zwei Studenten sind bereit, sich wegen ihrer Liebe zu einer Frau bis zum Tod zu duellieren. Ihre Kommilitonen bitten sie, nicht gegeneinander zu kämpfen, da Frankreich der wahre Feind sei, aber ihre Bitten stoßen auf taube Ohren. Plötzlich erscheint eine weibliche Figur, »la Donna«, die genau dasselbe sagt, und dieses Mal beherzigen die Duellierenden die Botschaft. Sämtliche Studenten singen einen Schlusschor zusammen, in dem die Frau als Königin, als »neue Thusnelda« bezeichnet und der Heldentod gelobt wird. Das Bild schließt, die Studenten brechen dann alle nach Leipzig in die Völkerschlacht auf und es folgt ein instrumentales Zwischenspiel, welches jene Schlacht darstellt. In frühen handschriftlichen Versionen der Partitur, die heute im Ricordi-Archiv in Mailand lagern, wird diese Figur als »Regina« beziehungsweise »Regina Louise« bezeichnet.24 Hiermit ist die Königin Luise von Preußen, Ehefrau des Königs Friedrich Wilhelm III., gemeint, die als patriotisches Symbol der Bürgerkriege im populären Bewusstsein stand. Diese Bezeichnung taucht weder im endgültigen Libretto noch in der Partitur auf, durch die Streichung des Namens Luise bekommt die Figur eine eher allgemeine Identität. Aufgrund ihrer plötzlichen Erscheinung und ihres plötzlichen Rücktritts sowie ihrer Funktion, das Duell zu verhindern, mag man hier von einem Deus ex machina reden und »la Donna« als göttliche Figur interpretieren. Als göttliche Figur, die die Deutschen vereinigt und ihre Aufmerksamkeit auf die Nation fokussiert, fungiert »la Donna« als eine idealisierte Verschmelzung der historischen Figur der Königin Luise und der kultur-politischen Figur der Germania. Sie wurde sogar im deutschen Klavierauszug aus dem Jahre 1905 mit der Germania identifiziert,25 was nur die Interpretation des Übersetzers des Textes oder

23 | Vgl. Manuela Jahrmärker, Themen, Motive und Bilder des Romantischen. Zum italienischen Musiktheater des 19. Jahrhunderts (= Forum Musiktheater, 2), Berlin 2006, S. 205f. 24 | Vgl. Richard Erkens, Alberto Franchetti – Werkstudien zur italienischen Oper der langen Jahrhundertwende, Diss. Freie Universität Berlin 2010, S. 203. 25 | Vgl. Jahrmärker, Themen, Motive und Bilder, S. 203.

77

78

J OHN G ABRIEL

des Herausgebers des Auszuges sein mag, was jedoch beweist, dass sich auch in der Entstehungszeit der Oper die Figur leicht als Germania interpretieren ließ. Als direkt übernommenes Material für vokale Melodien und bearbeitetes Material in der Orchestermusik bilden patriotische und vor allem studentische Lieder wie Gaudeamus igitur den Kern der Musik zu dieser Oper. Dazu hat Franchetti auch selbst versucht, einige patriotische Lieder im volkstümlichen Stil zu komponieren, wie zum Beispiel das sehr bekannte Studenti! Udite! Nach dem derzeitigen Forschungsstand kommen jedoch weder die Rheinlieder, die die Germania direkt erwähnen, noch Die Wacht am Rhein vor.26 Außer in Deutschland war die Oper von ihrer Uraufführung 1902 an bis zum Ersten Weltkrieg ein großer internationaler Erfolg,27 und viele ihrer Arien wurden sogar von Enrico Caruso aufgenommen. Der Misserfolg des Werkes in Deutschland mag dadurch erklärt werden, dass die patriotischen Lieder, die in der Oper zitiert werden, für ein deutsches Publikum, welches die Lieder gut kannte, zu offensichtlich und plakativ erschienen. Dagegen kann vermutet werden, dass ein Publikum, welches über weniger musikalisches Vorwissen verfügte, die Lieder positiv bewertete; im Sinne von volkstümlich oder sogar exotisch.28 Obwohl die Germania nur kurz in der Oper erscheint, werden diese konträren Rezeptionsweisen anhand ihrer Figur wiederholt. Die Oper ist jedoch nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Standardrepertoire verschwunden. Obwohl diese Oper kürzlich (2006/2007) in Berlin wieder aufgenommen wurde und in der Saison 2010/2011 erneut gespielt wird, ist sie noch heute ziemlich unbekannt.

V OM E RSTEN W ELTKRIEG BIS ZUR G EGENWART Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erschien die Germania immer weniger als Staatssymbol und in den Künsten. Außer Adolf Hitlers bekanntem Plan, Berlin in Germania umzubenennen, gibt es kaum bekannte Verwendungen der Germania als Staatssymbol oder Quasistaatssymbol in der NS-Zeit, was sich auch teilweise dadurch erklären lässt, dass die abstinente Walküre nicht zum mütterlichen Vorbild der Frau in der NS-Ideologie passte. Aufgrund ihres militärischen Assoziationsangebots wird verständlich, warum sie in der Nachkriegszeit als Staatssymbol nicht wieder auftauchte. Heiner Müllers Germania Tod in Berlin gilt als letztes bedeutendes Werk, in dem die Germania im Zentrum steht. 26 | Vgl. Erkens, Alberto Franchetti, S. 215-217. 27 | Jürgen Maehder, Germania, in: Stanley Sadie (Hg.), The New Grove Dictionary of Opera, Bd. 2, New York/NY 1992, S. 385; Jürgen Maehder und Antonio Rostagno, Franchetti, Baron Alberto, in: ebd., Bd. 9, New York/NY 2 2001, S. 169-171. 28 | Vgl. Erkens, Alberto Franchetti, S. 218f.

S TAATSSYMBOLMUSIK : G ERMANIA VERTONT

Sie findet jedoch schon seit langem in der Karikatur und Parodie Verwendung; und dies bis heute. Vielleicht wegen der Wagner’schen Assoziationen ließ sich seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts die Germania als Karikatur der stereotypen, übergewichtigen Wagnersängerin Deutschland parodieren, was am häufigsten in politischen Karikaturen und Zeichnungen zu sehen ist.29 Dies wird sogar in der Oper selbst umgesetzt, wie in Colin Grahams Inszenierung für die Metropolitan Opera von John Coriglianos The Ghosts of Versailles aus dem Jahre 1991,30 in der eine Brunhilde-Figur während eines großen, chaotischen Tumults nach vorn geht und völlig absurd »This is not Opera! Wagner is Opera!« singt. Als Beispiel aus einem eher populären Medium gilt Edra Gales Darstellung von Anna Fassbender in der 1965 erschienenen Filmkomödie What’s New Pussycat?, die sich als Brunhilde (mit Wikingerhelm) verkleidet, Wagner singt, und sogar französische Polizisten bekämpft.

29 | Siehe für ein frühes Beispiel der Germania mit geflügeltem Helm und Schwert im Bild »Völkerfrühling« von W. A. Wellner aus dem Jahre 1896 (von Plessen, Marianne und Germania 1789-1889, S. 94). 30 | Siehe die 1992 Verfilmung dieser Inszenierung von Deutsche Grammophon Video.

79

Das religiöse Element, dargestellt durch Musik, in den militärischen Zeremoniellen der Bundeswehr Bernhard Höfele

I. Zeremoniell im Allgemeinen ist eine feierliche Handlung oder auch ein Brauch, der nach Tradition abläuft. Der Ablauf des Geschehens steht schon im Voraus fest und ist durch eine Vorschrift geregelt und festgeschrieben. Zeremoniell im militärischen Bereich hat darüber hinaus noch einen besonderen Stellenwert. Das hängt damit zusammen, dass hier durch Befehle dienstliche Abläufe vorgeschrieben sind und bei der Durchführung Gehorsam verlangt wird. Es gibt eine Menge von Vorschriften, die alles regeln und damit auch vereinheitlichen. Gerade Vereinheitlichung ist im militärischen Bereich besonders notwendig, da nur so bei Wechsel des Personals die militärischen Zeremonielle im ganzen Bundesgebiet gleich bleibend durchgeführt werden. Vorschriften über militärische Zeremonielle gibt es jedoch noch nicht sehr lange. In den Exerzierreglements von 1906 (Infanterie) und 1909 (Kavallerie) liegen erstmals Regeln über den Ablauf von Paraden vor. Über den Ablauf weiterer Zeremonielle gibt es zu dieser Zeit noch keine schriftlichen Aufzeichnungen. Erst bei Gründung der Bundeswehr – also nach dem Zweiten Weltkrieg – wurden die Abläufe von militärischen Zeremoniellen in Vorschriften einheitlich festgeschrieben.

II. Wenn wir nach dem Ursprung eines religiösen Elementes im militärischen Alltag suchen, dann können wir einige Jahrhunderte zurückgehen. Bei einer Beschreibung von militärischen Abläufen finden wir 1726 zwar noch nicht die

82

B ERNHARD H ÖFELE

gemeinsame Darstellung von Musik und Religion im Verlauf einer Veranstaltung, aber sie liegen schon ganz nahe beieinander. Hanns Friedrich von Fleming berichtet in seinem Buch Der vollkommene teutsche Soldat in dem Kapitel vom »Tambour und Querpfeifer« – wo es also um die Tätigkeit der Militärmusiker geht –, dass diese auch zur »Betstunde« durch Trommelschlagen einladen: »Zur Bethstunde wird mit vier einfachen und drey gedoplirten Schlägen geschlagen, auch gestimmt.«1 Unbeabsichtigt zeigt Fleming hier schon ein Zusammengehen von Musik und Religion im militärischen Bereich. Nebenbei sei darauf hingewiesen, dass in diesem Kapitel erstmals das Wort »Zapfenschlag« erscheint. Es ist die vorhergehende Bezeichnung von »Zapfenstreich«, der später noch eine wichtige Rolle spielen wird. Auch an anderer Stelle bei Fleming ist im Rahmen der Aufgaben eines »General-Gewaltigen« von Gebet und Trommelschlagen die Rede. Ein Generalgewaltiger entspricht heute einem Innendienstleiter oder Lagerkommandanten. Wenn das Gebeth oder die Predigten gehalten werden, und die Trommel, daß alles Zapffen und Aussschencken einzustellen, gerühret wird, so müssen alle Regiments= und Compagnie= Profosse, ein ieder in seinem Quartier herumgehen und fleißig zusehen, ob etwan iemand entweder unter dem Gebeth, oder Predigt, und nachdem der Zapffen geschlagen ist, einiges Getränck, oder sonst etwas verkaufft oder ausschencket. 2

Ein praktisches Beispiel für Trommel und Spielmannsflöte befindet sich auch in einer bayerischen Vorschrift aus dem Jahre 1916 (Abb. 1). Hier wird eine einfache, getragene Melodie aus dem Jahre 1781 veröffentlicht, die anstelle eines Gebets oder zur Zeit, in der jeder für sich ein Gebet sprechen soll, von den Spielleuten vorgetragen werden kann.

III. Weiter geht es dann im Jahre 1813. Russland, Deutschland und Österreich waren miteinander verbündet und kämpften gemeinsam gegen die Armeen Napoléons. Unter den Verbündeten war es selbstverständlich, dass sich die Befehlshaber auch gegenseitig in ihren Truppenlagern besuchten. Bei einem dieser Besuche stellte der preußische König Friedrich Wilhelm III. fest, dass es bei den russischen, österreichischen und auch schwedischen Truppen Brauch war, morgens nach der Reveille – das ist der französische Ausdruck für Wecken oder 1 | Hans Friedrich von Fleming, Der vollkommene deutsche Soldat, Leipzig 1726, Repr. Osnabrück 1967, S. 143. 2 | Ebd., S. 183.

D AS RELIGIÖSE E LEMENT

Erwachen – und abends nach dem Zapfenstreich den Soldaten Zeit zu geben für ein stilles Gebet.

Abb. 1: Zeremoniellstück für Pfeifen und Trommel: Zum Gebet und Abschlagen nach dem Gebet. Anhang zum Exerzier-Reglement für die Infanterie, hg. vom Bayerischen Kriegsministerium, München 1916, S. 216.

Als nach einem mehrwöchigen Waffenstillstand im August 1813 wieder neue Schlachten für die Truppen bevorstanden, erließ Friedrich Wilhelm III. folgenden Befehl: Da bei allen Armeen der jetzt mit Uns verbündeten Mächte, und namentlich bei den Russen, Oesterreichern und Schweden der Gebrauch stattfindet, des Morgens nach geendigter Reveille und des Abends nach beendetem Zapfenstreich (Retrait) ein Gebet zu verrichten, und es Mein Wille ist, daß Meine Truppen auch in Hinsicht der Gottesverehrung keinen anderen nachstehen sollen, und daß überhaupt bei denselben dem so nothwendigen religiösen Sinn immer mehr Raum gegeben und jedes Mittel zur Belebung desselben angewandt werden möge, so befehle Ich hiermit, daß die Wachten von jetzt an, wenn Reveille oder Zapfenstreich geschlagen wird, ins Gewehr treten, sodann das Gewehr präsentieren, wieder schultern und abnehmen, hierauf den Czako mit der linken Hand abnehmen und, ihn mit beiden Händen vor das Gesicht haltend, ein stilles Gebet, etwa ein Vater Unser lang, verrichten sollen. Die Mannschaft nimmt mit dem commandirenden Offizier zugleich den Czako ab und setzt ihn eben so wieder auf.

83

84

B ERNHARD H ÖFELE In den Feldlägern sollen die vor den Fahnen versammelten Trompeter und Hauboisten gleich nach geendigtem Zapfenstreich ein kurzes Abendlied blasen, nach welchem die vor dem Zapfenstreich ohne Gewehr in Jacken oder Mänteln herangetretenen Escadrons oder Compagnien zugleich mit den Wachten das Haupt zum Gebet entblößen, nach dessen Ende auf ein Signal mit der Trompete oder Trommel die Wachten aus dem Gewehr treten und die Compagnieen auseinandergehen. Ich trage Ihnen auf, diesen Befehl den unter Ihrem Commando stehenden Truppen wörtlich bekannt zu machen und auf dessen Befolgung strenge zu halten. 3 Neudorf, den 19. August 1813 Friedrich Wilhelm

Hier hat nun eine eindeutige Zusammenfügung von Zeremoniell und religiösem Element stattgefunden, auch wenn es darüber noch keine Zeremoniellvorschrift gab. Und dieser Befehl wurde nachfolgend in der preußischen Armee auch befolgt. Schon zwei Jahre später, 1815, schrieb der preußische General Carl von Clausewitz an seine Frau Marie: Unter anderem Neuen wird Dir besonders gefallen, daß jetzt regelmäßig Morgen- und Abendgebet gehalten wird, was sehr feierlich und keineswegs eine leere Ceremonie ist. Wenn ich so etwas loben soll, muß es schon einen gründlichen Gehalt haben. 4

Entgegen anders lautenden Behauptungen in vielen militärmusikalischen Schriften des 20. Jahrhunderts hat der König bezüglich der Musik kein bestimmtes Stück gewünscht, sondern schlicht nur ein Abendlied genannt. Einige Jahre später, 1856, taucht in Wilhelm Wieprechts musikalischer Zusammenstellung Großer Zapfenstreich erstmals die Folge auf: Anschlagen zum Gebete Gebet Abschlagen zum Gebet

Die Bezeichnung »Gebet« ist hier eigentlich irreführend. Denn dabei handelt es sich nicht um ein gesprochenes Gebet, sondern um Musikstücke. An- und Ab3 | Zit. nach Erich Schild, Der preußische Feldprediger, II. Buch, Halle a.S. 1890, S. 259f. Das Original bzw. eine authentische Abschrift dieses Erlasses ist bis jetzt nicht aufgefunden worden. Es gibt jedoch weitere Veröffentlichungen aus den Jahren 1881/82, 1963 und 1971. Alle unterscheiden sich nur in unwesentlichen Formulierungen und enthalten keine Quellenangaben. Als Unterschriftsdaten werden der 10. und der 19.8.1813 angegeben. Adressaten des Königlichen Erlasses sind die Generale Tauentzien und von Blücher. 4 | Brief von Carl von Clausewitz an Marie von Clausewitz vom 20.5.1815, in: Zeitschrift für preussische Geschichte, 1876, S. 324.

D AS RELIGIÖSE E LEMENT

schlagen waren kurze Musikstücke für Trommeln und Pfeifen. Und das sogenannte »Gebet« selbst war vermutlich eine Melodie des russischen Komponisten Dimitri Bortnjanski (1751-1825), die mit dem nachträglich unterlegten Text »Für dich sei ganz mein Herz und Leben«, oder wie sie heute unter dem Anfang der dritten Strophe »Ich bete an die Macht der Liebe« bekannt geworden ist. Sicher belegt ist nicht, dass es sich um Bortnjanskis Melodie handelte. Aber durch eine Veröffentlichung im Jahre 1872, also 16 Jahre nach Wieprechts erster Veröffentlichung, liegt die Vermutung nahe. In diesem Jahr nämlich veröffentlichte Wieprecht im Verlag Robert Lienau in Berlin eine Partitur seines Großen Zapfenstreichs, in der die Melodie Bortnjanskis unter der gleichen Bezeichnung »Gebet« enthalten ist. Diese Melodie wurde in Deutschland evangelisches Kirchenlied und ist es bis heute geblieben. Über ihre Geschichte wurde viel geschrieben und spekuliert, weil die Quellenlage äußerst gering ist. Es soll daher hier bei der Erwähnung bleiben.5 Bortnjanski komponierte die Melodie nach bisherigen Erkenntnissen 1822 in St. Petersburg. Von dort kam sie mit einem Pastor nach Berlin an die Betlehems-Kirche, wo sie Wieprecht vermutlich kennengelernt hat. Wieprecht selbst hat die Melodie und die ihr unterlegten Harmonien nur unwesentlich verändert. Lediglich Durchgangsnoten, die bei Bortnjanski in neun Takten – davon in den letzten sechs Takten durchgehend – die Harmonien durchsichtig und geschmeidig machen, sind durch Wieprecht zugunsten militärischer Exaktheit und Schwerfälligkeit weggefallen. Dafür sprechen bei Wieprechts Instrumentierung auch der Einsatz von Schlaginstrumenten (Große und kleine Trommel sowie Becken) in den letzten drei Takten. Der Text von Gerhard Tersteegen (1697-1769), der dieser Melodie im Nachhinein unterlegt wurde, spielte im Zeremoniell der Streitkräfte zu keiner Zeit eine Rolle. Die Melodie wurde im Großen Zapfenstreich bis auf den heutigen Tag immer nur instrumental gespielt. Der Text dazu wurde von Soldaten nie gesungen. Nachweislich hat Wieprecht seinen kompletten Großen Zapfenstreich-Zyklus erstmals 1856 in einem Konzert aufgeführt, wie das nachfolgende Programm zeigt. Ein eigenes Zeremoniell dafür gab es zu dieser Zeit nicht. Das Konzert begann mit einem großen Programm, dessen Ende der Große Zapfenstreich bildete. Dabei wurde auch erstmals das Wort »Gebet« anstatt »Abendlied« verwendet (Abb. 2):

5 | Ausführliche Erläuterungen in: Großer Zapfenstreich der Bundeswehr von Wilhelm Wieprecht, Particell und Geschichte zusammengestellt und bearbeitet von Bernhard Höfele, Bonn 2005.

85

86

B ERNHARD H ÖFELE

Abb. 2: Programmzettel aus dem Jahre 1856. Vereinzelt hat es nach dem Ersten Weltkrieg schon Versuche gegeben, die Gewichtung von Konzert einerseits und Großem Zapfenstreich andererseits zu ändern. Mit der Einführung von An- und Abmarsch erfuhr der Große Zapfenstreich eine militärische Gepflogenheit und dem Zyklus wurde damit mehr Raum gegenüber dem konzertanten Teil zugestanden. Dennoch nahmen dabei die Konzertstücke zweidrittel, und der eigentliche Große Zapfenstreich eindrittel der Zeit in Anspruch. Ein solches »Musikfest« – wie es jetzt genannt wurde – fand 1926 im Deutschen Stadion in Berlin mit den vereinigten Musikkorps des Wehrkreises III unter der Leitung des Armeemusikinspizienten Oskar Hackenberger statt. Hinsichtlich der Entstehung eines Zeremoniells ist das Programm dabei von besonderem Interesse: SPIELPLAN I. MUSIKAUFFÜHRUNG 1. Parademarsch des früheren Garde-Kürassier-Regiments Armeemarsch Nr. 55 Erbprinzessin v. Sachsen-Meiningen 2. Ouverture zur Oper »Tannhäuser« Richard Wagner 3. Fantasie a. d. Musikdrama »Die Walküre« Richard Wagner 4. »Wiener Blut«, Walzer Johann Strauß II. ANMARSCH 5. Spielleute: Armeemarsch – Locken Musikkorps: Marsch des Yorck’schen Korps Armeemarsch Nr. 37 Ludwig v. Beethoven Tamboure: An- und abschwellender Wirbel

D AS RELIGIÖSE E LEMENT III. GROSSER ZAPFENSTREICH 6. a) Marsch in der Regimentskolonne. Armeemarsch Nr. 58 b) Armeemarsch Nr. 73 c) Armeemarsch Nr. 113 7. a) Prinz August Gren.-Batl., Altpreußischer Armeemarsch Nr. 10 b) Kreuzritter-Fanfare, Fanfarenmarsch H. Henrion Spielleute: a) Locken b) Wirbel mit den 8 Schlägen Spielleute und Musikkorps: Großer Zapfenstreich der Fußtruppen Musikkorps: Zapfenstreich der berittenen Truppen Spielleute: Zeichen zum Gebet Musikkorps: Gebet Spielleute: Abschlagen nach dem Gebet Musikkorps: Ruf nach dem Gebet Musikkorps: Deutschlandlied IV. ABMARSCH Tamboure: Wirbel mit den 8 Schlägen Spielleute und Musikkorps: Großer Zapfenstreich der Fußtruppen 6

Da auf den konzertanten Teil unmittelbar Anmarsch, Großer Zapfenstreich und Abmarsch folgten, musste nach dem Teil 1 eine längere Pause erfolgen oder eine neue Besetzung für den zweiten bis vierten Teil bereitstehen. Ob auch eine Truppe beteiligt war, ist aus der Spielfolge nicht zu ersehen. Zu Beginn des dritten Teiles wurden sodann noch einmal fünf Märsche gespielt, ohne dass diese eine besondere Bezeichnung erfuhren. Erst später, nach Wegfall eines konzertanten Teiles, wurde den unmittelbar vorausgehenden Musikstücken der Begriff »Serenade« zugewiesen.

IV. Wenden wir uns jetzt einer anderen Vorgeschichte zu, in der Choräle bei einem späteren Zeremoniell eine Rolle spielen. Bei den Streitkräften, die nach 1956 in der Bundesrepublik Deutschland aufgestellt wurden, gab es zunächst hinsichtlich der Zeremonielle keine Vorschriften, sondern nur einzelne Anweisungen über den Ablauf. Erst vom Februar 1962 datiert eine Vorschrift über »Bestimmungen für das Auftreten der Musikkorps der Bundeswehr mit und ohne

6 | Aus dem Programmheft des Musikfestes vom 8.6.1926 im Deutschen Stadion von Berlin.

87

88

B ERNHARD H ÖFELE

Truppe«7. Hierin ist erstmals in der Geschichte der Militärmusik der Ablauf für das Militärische Ehrengeleit bei Trauerfeiern und Beerdigungen als Zeremoniell festgelegt. Danach spielt das Musikkorps zum Eingliedern des Sarges in die militärische Formation einen Trauerchoral. Um welchen Choral genau es sich dabei handelt, ist nicht genannt. Einige Jahre später wird jedoch in einer anderen Vorschrift das Wort Trauerchoral durch Präsentierchoral ersetzt und dabei der Choral Was Gott tut, das ist wohlgetan genannt.8 Hierzu bedarf es einer Erklärung. Präsentieren ist eine alte militärische Tradition, die international ist. Präsentieren bedeutet Darstellen und ist im deutschen Sprachgebrauch nichts Außergewöhnliches. Im militärischen Bereich wird es allerdings auf eine Art Demutshaltung, nämlich Hinhalten der Waffen, eingeschränkt. Da beim militärischen Präsentieren immer Musik zur Untermalung eingesetzt wird, ist der Präsentiermarsch schon seit Jahrhunderten eine musikalische Form. Dabei richtet sich das Tempo nicht nach einem Schritttempo, sondern ausschließlich nach musikalischen Gesichtspunkten. Aufgrund dieser Tradition werden Präsentiermärsche in langsamem Tempo (heute: Halbe = 80) gespielt. Nun zurück zum Präsentierchoral. Beim Präsentieren soll ja immer eine Person geehrt werden. Und so soll auch bei einer militärischen Trauerparade dem Toten die letzte Ehre erwiesen werden. Einen Präsentiermarsch – auch wenn er langsam gespielt wird – hielt man bei einer Trauerparade für unangebracht. So kam es zum Choral und logischer Weise dann zum Präsentierchoral. Noch ein weiterer Choral ist bei militärischen Trauerparaden Tradition. Schon Fleming erwähnt 1726, dass die Militärmusiker bei Begräbnissen von Offizieren mitwirken und dadurch den Unterschied zu zivilen Beisetzungen unterstreichen.9 Zur Ausführung dazu schreibt er, dass die Militärmusiker mit gedämpften Instrumenten den Trauerzug anführen und ein Sterbelied blasen. Wenn ein Vers geblasen ist, unterbrechen die Tamboure das Lied mit einfachen Schlägen. »Alle die Instrumente sind douce und gedämpft, welches gar beweglich und mitleidend anzuhören.«10 Diese Praxis des Unterbrechens des Liedes hat sich im 19. Jahrhundert fortgesetzt und ist auch heute noch üblich. In einer Trommelschule aus dem Jahre 1887 sind Details der Ausführung auf dem Gang zum Grab zu finden. Sie werden wie folgt beschrieben:

7 | Zentrale Dienstvorschrift 78/3 hg. vom Bundesminister der Verteidigung, Bonn 1962. 8 | Zentrale Dienstvorschrift 78/1 hg. vom Bundesminister der Verteidigung, Bonn 1970, Anlage 2. 9 | Fleming, Der vollkommene teutsche Soldat, S. 376. 10 | Ebd.

D AS RELIGIÖSE E LEMENT Der Regimentstambour gibt nach dem Wirbel, sowie zwischen jeder Strophe des Chorals das Zeichen zum Locken. Befinden sich keine Musiker bei der Leichen-Parade, so blasen die Pfeifer den Choral. […] Wenn die Parade antritt und während des Marsches schlagen die Tambours den vorgeschriebenen Toten-Marsch und die Musiker blasen nur Choräle.11

Hierzu ist ein Notenbeispiel angefügt mit der Choralmelodie Jesus meine Zuversicht:

Abb. 3: Toten-Marsch aus der Trommelschule von Alfred Francke. Da Trauermärsche nicht gerade häufig anzutreffen sind, wurde hier die Choralmelodie so präpariert, dass sie sich zum langsamen Marschierschritt eignet. Ein schönes Beispiel nicht für Marsch und Choral, sondern für Marschieren und Choral. Auch heute wird dies noch so durchgeführt. Zwischenzeitlich hat es den Versuch gegeben, die augmentierten Töne der Melodie wieder auf ihre ursprüngliche Fassung zurückzuführen (Abb. 4):

Abb. 4: Vorschrift: Militärisches Ehrengeleit, Notenbeispiel 1a.

11 | Alfred Francke, Trommel-Schule. Eine leicht fassliche Anweisung zu einer methodischen Ausbildung der Tambour-Chöre in der Armee, Berlin 1887, S. 38.

89

90

B ERNHARD H ÖFELE

Diesem Vorschlag, der etwa 1966 ausgegeben wurde, war jedoch kein Erfolg beschieden. Es blieb bei der alten Fassung. Abbildung 5 zeigt die heute dazu gültige Vorschrift:

Abb. 5: Vorschrift: Militärisches Ehrengeleit, Notenbeispiel 2. Zentrale Dienstvorschrift 78/3, hg. vom Bundesminister der Verteidigung, Bonn 1986, Anlage 8/1. Außer der Tonart hat sich also nichts geändert. Nehmen wir die Choralmelodie als cantus firmus, dann hat es auch so seine Berechtigung. Ein Letztes zur Trauerparade. Natürlich gehört dazu auch das sogenannte Lied vom guten Kameraden. Hierbei handelt es sich um ein Volkslied und nicht um einen Choral. In gesungener Form erklingt es weder im militärischen noch im zivilen Bereich. Wenn es jedoch bei einer militärischen Trauerfeier gespielt wird, hat es mehr als nur Volkslied-Charakter; es wirkt beinahe wie eine TotenHymne.

D AS RELIGIÖSE E LEMENT

V. Kommen wir nun zu einem weiteren, dem weitaus häufigsten militärischen Zeremoniell: dem Feierlichen Gelöbnis von wehrpflichtigen Soldaten. Dabei sind die religiösen Elemente vor und während des Zeremoniells zu unterscheiden, die in einer Vorschrift genau festgelegt sind.12 Vor dem Gelöbnis – so steht es in der Zentralen Dienstvorschrift 10/8 (Militärische Formen und Feiern) von Juni 1983 – hat der Einheitsführer die Rekruten auf die Bedeutung eines Gelöbnisses hinzuweisen. Ferner müssen die Militärgeistlichen der beiden christlichen Konfessionen mit den Soldaten vor dem Zeremoniell Unterricht abhalten und sie auf die Bedeutung aus religiöser Sicht hinweisen. Dem eigentlichen Festakt – dem Zeremoniell also – wird von dienstlicher Seite her sehr viel Bedeutung beigemessen, obwohl das Gelöbnis vom Gesetzgeber bewusst geringer als ein Diensteid angesiedelt ist und die Formel »so wahr mir Gott helfe« entfällt. Die besondere Bedeutung liegt dennoch in der Tatsache, dass zum einen die Öffentlichkeit (Eltern, Angehörige und politische Prominenz) anwesend ist. Zum anderen, weil dem jungen Staatsbürger, der aufgrund eines Gesetzes diesen Dienst leistet, die gesellschaftliche Bedeutung und Anerkennung ins Bewusstsein gebracht werden soll. Dass bei einem Feierlichen Gelöbnis immer auch ein Musikkorps anwesend sein muss, ist unabdingbar. Eher wird ein Termin verschoben als ein Feierliches Gelöbnis ohne Musikkorps durchgeführt. Nach den vorhergehenden Unterweisungen ist es selbstverständlich, dass im Ablauf des Zeremoniells auch ein religiöses Element vorgeschrieben ist. In der ersten Vorschrift über das Ablegen des Feierlichen Gelöbnisses von 1966 war unmittelbar vor der Gelöbnisformel das Spielen eines Chorals durch das Musikkorps vorgeschrieben. In der neueren Fassung von 1983 ist das Wort Choral durch »Feierliches Musikstück« ersetzt worden. Da es jedoch gar nicht so einfach ist, ein feierliches Musikstück zu finden, das in jeder beliebigen Besetzung eines Blasorchesters und bei jeder Witterung im Freien gespielt werden kann und dabei volltönend klingt, sind die meisten Musikkorps beim Choral geblieben, der diese Kriterien bestens erfüllt. Die Stücke, die am häufigsten gespielt werden, sind die Melodien von Großer Gott, wir loben dich, Lobe den Herrn und das sogenannte Niederländische Dankgebet: Wir treten zum Beten. Auch heute ist kein bestimmtes Stück vorgeschrieben. Der jeweilige Besetzungsleiter des Musikkorps kann im Rahmen eines »Feierlichen Musikstückes« frei wählen.

12 | Zentrale Dienstvorschrift 10/8, hg. vom Bundesminister der Verteidigung, Bonn 1983, Kap. 1.

91

92

B ERNHARD H ÖFELE

VI. Die Bundeswehr kennt jedoch noch eine Veranstaltungsform, die keinem strengen Zeremoniell unterliegt, und dennoch auf das religiöse Element meist nicht verzichtet. Gemeint ist das Spielen einer Serenade. Neben der bekannten musikalischen Form ist bei den Streitkräften eine Serenade ein konzertanter Vorspann zum Großen Zapfenstreich und als selbstständiges Zeremoniell auch ein Ersatz für diesen. Zum Ausscheiden aus dem aktiven Dienst erhalten nämlich nur hohe Politiker (z.B. Bundespräsident und Bundeskanzler) sowie Drei- und Vier-Sterne-Generale einen Großen Zapfenstreich. Für alle übrigen Soldaten, die aus der Bundeswehr ausscheiden, kann – sofern es genehmigt wird – eine Serenade mit oder ohne begleitende Soldaten gespielt werden. Die Programmgestaltung liegt dabei in der Verantwortung des Dirigenten des Musikkorps. Von den zu Ehrenden wird jedoch fast immer der Wunsch geäußert, nebst einigen Lieblingsmärschen auch ein religiöses Element in Form eines Chorals oder eines Dankliedes in das Programm aufzunehmen. Diesem Wunsch wird immer entsprochen. Allerdings darf es sich dabei nicht um die Melodie des russischen Komponisten Bortnjanski handeln, denn diese Melodie darf von einem Bundeswehr-Musikkorps nur im Rahmen des Großen Zapfensstreichs gespielt werden. Hier kann ferner erwähnt werden, dass bei der militärmusikalischen Verabschiedung der alliierten Truppen aus Berlin der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl den Chef des Musikkorps angewiesen hat, bei der Serenade vor dem Großen Zapfenstreich den Choral Nun danket alle Gott zu spielen.

VII. Abschließend noch ein ganz seltenes Zeremoniell, das Ende August 2009 in Bonn stattfand. Die Führung der Militärmusik der Bundeswehr, die bisher Unterabteilung des Streitkräfteamtes war, erhielt erstmals eine eigene Dienststelle mit der Bezeichnung: Zentrum Militärmusik der Bundeswehr. Neben viel Prominenz aus Kultur und Militär waren auch drei Musikkorps anwesend, die dem neuen Zentrum jetzt militärisch und musikalisch direkt unterstehen: Das Ausbildungsmusikkorps in Hilden, die Big Band der Bundeswehr in Euskirchen und das Paradeorchester der deutschen Militärmusik: das Musikkorps der Bundeswehr in Siegburg. Wahrlich eine kleine Sensation, denn so eine selbstständige Dienststelle für die deutsche Militärmusik hat es in der Geschichte der deutschen Militärmusik noch nie gegeben. Das Programm für das Zeremoniell sah folgenden Ablauf vor: Ansprachen, Darbietungen der Big Band und ein paar Märsche; auch zwei Konzertstücke wurden gespielt: die Ouverture zur Feuerwerksmusik von Georg Friedrich Händel und der Choral für großes Orchester von Morten Lauridsen. Bei

D AS RELIGIÖSE E LEMENT

letzterem handelt es sich um ein sehr feierliches, modernes Musikstück für großes Blasorchester, also nicht um die Darbietung eines schlichten Chorals. Der Titel dazu zeigt jedoch, dass auch bei diesem seltenen Zeremoniell ein religiöses Element vorhanden war. Nach der In-Dienst-Stellung des neuen Zentrums wurde sodann auch das Wappen der neuen Dienststelle enthüllt (Abb. 6):

Abb. 6: Das neue Wappen des Zentrums Militärmusik der Bundeswehr. In den Schwerpunktthemen des Forschungsprojektes »Militärmusik heute« an der Freien Universität Berlin war unter anderem die Rolle der Musik in der Sakralisierung von militärischen Zeremonien vorgesehen. Sakrale Musik bedeutet natürlich mehr als die Aufführung von Chorälen. Sie umfasst die gesamte Gattung der kircheneigenen Musik. In den Zeremoniellen der Bundeswehr ist sie jedoch nur auf Choräle begrenzt.

93

II. Musiksoldatinnen

Misstrauisches Vertrauen? Soldaten und Soldatinnen in der Bundeswehr Gerhard Kümmel

E IN D REIECKSVERHÄLTNIS Das Militär kann aus dem Blick soziologischer Theorien als gesellschaftliches Subsystem verstanden werden, das bestimmte Funktionen erfüllen soll.1 Im Falle hochmoderner, ausdifferenzierter Gesellschaften haben wir es dabei mit einem Delegationsmechanismus in einem Dreiecksverhältnis zu tun: Gesellschaften übertragen die Aufgabe ihres Schutzes und ihrer Sicherung vermittels eines Staates beziehungsweise einer Regierung an eine spezifische Einrichtung, die Streitkräfte, die wiederum in einem – durchaus nicht konfliktfreien – Verpflichtungs- und Loyalitätsverhältnis zu Staat oder Regierung einerseits und Gesellschaft andererseits stehen. Besonderes pikant ist dieses Verhältnis, weil das Militär zur Erfüllung seiner Aufgabe mit Gewaltmitteln ausgestattet wird, die seinesgleichen suchen, sodass die Frage der demokratischen Kontrolle von Streitkräften und damit des Vertrauens in sie enorm wichtig ist und sich immer wieder von Neuem stellt. Denn Vertrauen, das formulierte schon Niklas Luhmann im Jahre 1968, ist eine »riskante […] Vorleistung.«2 Entsprechend groß ist der Anteil der Literatur zu dieser Frage und zur übergeordneten Thematik des zivil-militärischen Verhältnisses in der Militärsoziologie als sozialwissenschaftlicher Teildisziplin.3 1 | Vgl. Martin Edmonds, Armed Services and Society, Boulder, Col., San Francisco 1998. 2 | Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 3. durchgesehene Aufl., Stuttgart 1989, S. 23. 3 | Vgl. auch Gerhard Kümmel, The Military and Its Civilian Environment. Reflections on a Theory of Civil-Military Relations, in: Connections. The Quarterly Journal 1/4 (2002), S. 63-82; zur Militärsoziologie vgl. Nina Leonhard und Ines-Jacqueline Werkner (Hg.), Militärsoziologie. Eine Einführung, Wiesbaden 2005; Gerhard Kümmel und Andreas Prüfert (Hg.), Military Sociology. The Richness of a Discipline, Baden-Baden 2000.

98

G ERHARD K ÜMMEL

Spielt also die Problematik der Beziehungen zu anderen Akteuren, hier zu Politik und Gesellschaft, bereits im Außenverhältnis des Militärs eine gewichtige Rolle, so gilt dies auch und vielleicht noch mehr im Binnenverhältnis. Die Streitkräfte bestehen aus Menschen, aus Personen mit unterschiedlichen Hintergründen, Bedürfnissen und Interessen, die sich – einen ehemaligen in Analogie zur Privatwirtschaft formulierten Werbeslogan der Bundeswehr aufgreifend und paraphrasierend –, der »Produktion von Sicherheit« verschrieben haben. Dieses Produkt kann jedoch höchst unterschiedlich ausfallen, je nachdem, wie sich das Binnenverhältnis in horizontaler wie auch in vertikaler Hinsicht gestaltet. Um dieses Binnenverhältnis soll es im Folgenden mit Blick auf das deutsche Beispiel gehen. Unser spezifisches Interesse lässt sich dabei von der Annahme leiten, dass ein allseits als gut und intakt erkanntes Binnenverhältnis eine bessere »Performanz« und ein besseres Ergebnis darstellt – sprich: eine höhere militärische Effektivität und Effizienz produziert – als ein beschädigtes. Ferner wird der Frage nach dem Vertrauen zwischen Soldaten und Soldatinnen in der Bundeswehr nachgegangen. Die Frage nach dem Vertrauen zwischen Soldaten stellt sich zwar auch in einer rein männlichen Armee, gewinnt jedoch mutmaßlich an Virulenz in dem Augenblick, wo es Frauen in der Bundeswehr gibt. War Frauen der Zugang zu den deutschen Streitkräften seit den 1970er-Jahren lediglich im Sanitätsdienst und etwas später im Militärmusikdienst möglich, so hat sich die Bundesrepublik Deutschland im Nachgang zu dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom Januar 2000 dazu entschieden, praktisch ohne Ausnahme sämtliche Verwendungsbereiche für Frauen zu öffnen. Seitdem hat die Integration von Frauen in die Bundeswehr eine neue Qualität erreicht, und die Vertrauensfrage hat eine noch größere Bedeutung gewonnen. Denn beginnend mit dem Januar 2001, als die ersten Frauen ihren Dienst in den neu geöffneten Funktionsbereichen antraten, hat sich der Frauenanteil in der Bundeswehr beträchtlich erhöht und liegt derzeit etwa im Durchschnitt der Mitgliedsstaaten der NATO. Mit einer Zahl von rund 15.200 weiblichen Soldaten (Stand: Frühjahr 2008) stellen Frauen gegenwärtig einen Anteil von etwa acht Prozent aller Zeitund Berufssoldaten der Bundeswehr, und eine weitere Erhöhung ist absehbar. Zwar ist generell die Bereitschaft von Frauen, zur Bundeswehr zu gehen, im Vergleich zu den Männern nicht überwältigend groß. Nach dem EuGH-Urteil im Jahr 2000 lag sie lediglich bei 20 Prozent verglichen mit fast 60 Prozent bei den Männern.4 Diese Zahl ist fast identisch mit dem Anteil der 18- bis 24-Jährigen »meldebereiten« Frauen, den das Institut für angewandte Sozialwissen-

4 | Elisabeth Noelle-Neumann und Renate Köcher, Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1998-2002, München 2002, S. 977.

M ISSTRAUISCHES V ERTRAUEN ?

schaft 1982 ermittelt hat.5 Einer Jugendumfrage des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr (SOWI) aus dem Jahr 2004 zufolge ist der Anteil der jungen 14- bis 23-jährigen Frauen, die sich eine freiwillige Verpflichtung als Soldatin sicher (fünf Prozent) beziehungsweise unter Umständen (zwölf Prozent) vorstellen können, nunmehr sogar noch etwas geringer und liegt bei 17 Prozent. Die Bundeswehr verfügt demnach in der Zielgruppe junger Frauen gegenwärtig über ein Rekrutierungspotenzial von maximal 15 bis 20 Prozent, während es bei den jungen Männern nahezu ein Drittel ist. Hier können sich 14 Prozent sicher und weitere 16 Prozent unter Umständen vorstellen, sich freiwillig bei der Bundeswehr zu verpflichten.6 Frauen sind als Zielgruppe der Nachwuchswerbung der Bundeswehr jedoch enorm wichtig. Denn angesichts der demografischen Entwicklung in Deutschland wird sich die Zielgruppe der jungen Männer in den kommenden Jahren deutlich verkleinern. Nach Berechnungen auf der Basis von Daten des Statistischen Bundesamtes zur 10. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung wird sich die Gruppe der 16- bis 25-jährigen Männer von etwa fünf Millionen im Jahr 2005 recht kontinuierlich auf vier Millionen im Jahr 2025 verkleinern. Dabei wird ein markantes Ost-West-Gefälle erwartet, denn in den neuen Bundesländern wird sich diese Entwicklung wegen des deutlichen Geburtenrückgangs seit Anfang der 1990er-Jahre noch drastischer bemerkbar machen. Weil aber diese Regionen angesichts ihrer im Vergleich zu den alten Bundesländern noch größeren sozioökonomischen Schwierigkeiten überdurchschnittlich viele Bewerber sowohl bei Männern als bei Frauen stellen, wird die Bundeswehr also quasi in doppelter Hinsicht unter der erwartbaren demografischen Entwicklung leiden.7 Umso wichtiger ist folglich das Erschließen von neuen nachwuchspolitischen Zielgruppen. Die Gruppe der jungen Frauen ist in diesem Kontext für die Bewerberlage in der Bundeswehr seit der vollständigen Öffnung der Bundeswehr für Frauen zusehends wichtiger geworden. Ohne die jungen Frauen würde die Lücke zwischen den personalpolitischen Planvorgaben einerseits und den Ist-Zahlen andererseits wesentlich größer sein. Die Frauen schließen diese Lücke zu einem großen Teil und tragen damit ganz wesentlich zur Abmilderung, zur Abfederung der Nachwuchs- und Rekrutierungsprobleme der Streitkräfte bei. Eine solche Veränderung in der Zusammensetzung der Armee stellt jedoch eine enorme Herausforderung für die Organisation und ihre Angehörigen dar, 5 | Vgl. Swantje Kraake, Frauen zur Bundeswehr. Analyse und Verlauf einer Diskussion, Frankfurt a.M. 1992, S. 106. 6 | Thomas Bulmahn, Bevölkerungsbefragung zum sicherheits- und verteidigungspolitischen Meinungsbild in Deutschland. Ergebnisbericht 2004, Strausberg 2004, S. 53. 7 | Ebd., S. 75-78.

99

100

G ERHARD K ÜMMEL

in struktureller, kultureller und mentaler Hinsicht, und ist somit ein reizvolles Feld sozialwissenschaftlicher Analyse. Denn nach allem, was man aus der organisationssoziologischen Forschung weiß, ist dieser Wandel von einer Organisation wie von ihren Angehörigen nicht so ohne Weiteres von heute auf morgen zu bewerkstelligen, sodass die Frage des Vertrauens in der militärischen Organisation Bundeswehr ein relevantes Feld sozialwissenschaftlicher Forschung ist.

K L ARE B EGRIFFE Bevor wir jedoch tiefer auf den Vertrauensbegriff eingehen können, ist eine begriffliche Abgrenzung zu verwandten und durchaus wechselseitig aufeinander bezogenen Begriffen nötig. Bei der Entstehung der modernen, empirisch orientierten Militärsoziologie stand der Begriff der (Kampf-)Moral nicht allein aufgrund seiner unmittelbar einsichtigen Praxisrelevanz, sondern auch wegen seines Versprechens sozialwissenschaftlicher Einsichten in die Funktionsweisen und modi operandi moderner Streitkräfte und ihrer Gesellschaften im Mittelpunkt der Analyse. Aber bereits die Klassiker der Militärgeschichte und der -theorie wie auch große Feldherren wussten um den Wert der (Kampf-)Moral der Truppe, die häufig genug das Zünglein an der Waage war und über Sieg oder Niederlage entschied. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass (Kampf-)Moral nicht notwendig Moralität im Sinne eines moralisch Guten beinhalten muss: »It is erroneous to believe that morale presupposes that people possess a noble doctrine, a highly moral philosophy, or a code of Christian ethics. Similarly, it is faulty to believe that good morale requires a certain kind of moral person.«8 Der Begriff (Kampf-)Moral wird in der militärsoziologischen Forschung als eine Eigenschaft behandelt, die zwar sowohl Individuen wie auch Kollektiven zugeschrieben wird. Allerdings ist der Bezugspunkt in aller Regel ein Kollektiv, eine Gruppe. So definierte bereits Herbert Blumer Moral als »the disposition of a group to act together toward a collective goal and that accordingly its strength depends on how the goal is conceived, on the feelings and interests developed around it, and on the mutual support which the members sense in one another«9. Und an anderer Stelle heißt es: »For all that is basically necessary for morale is that the people in a group have a goal which they value highly and seek eagerly and a sense of mutual support in their effort to attain it.«10 Hervorzuheben an dieser Definition von Moral ist zum einen das kollektive Ziel, das keineswegs ein moralisch gutes Ziel sein muss, und die Gemeinsam8 | Herbert Blumer, Morale, in: William F. Ogburn (Hg.), American Society in Wartime, Chicago, IL 1943, S. 207-231, hier S. 210. 9 | Blumer, Morale, S. 217. 10 | Ebd., S. 210.

M ISSTRAUISCHES V ERTRAUEN ?

Abb. 1: Ulrike Flender ist Deutschlands erste Jetpilotin. Sie bewarb sich als Abiturientin bei der Luftwaffe als Offizier des fliegerischen Dienstes und begann nach der Grund- und Offiziersausbildung ihre fliegerische Ausbildung. Auf der Sheppard Air Force Base in Texas wurde sie zur Jetpilotin ausgebildet und anschließend auf der Holloman Air Force Base (New Mexico) für das TornadoWaffensystem geschult. Foto: Marcus Rott IMZ-Bw Luftwaffe

keit in der Anstrengung, dieses Ziel zu erreichen. In diesem Doppelklang liegt die Unterscheidung zu den nahe bei einander liegenden Begriffen Kohäsion und Kameradschaft. Kohäsion, sowohl in ihrer vertikalen als auch in ihrer horizontalen Ausprägung, und Kameradschaft beziehen sich auf Primärgruppenbeziehungen, also die fermentierenden Bindekräfte in einer Gruppe, wobei insbesondere Kohäsion häufig synonym zu (Kampf-)Moral verwendet wird. Beide sind indes wesentlich stimmiger als die (Kampf-)Moral positiv und negativ beeinflussende Faktoren zu konzeptualisieren.11 Ähnliches gilt für den Begriff des Commitment, das heißt, die grundlegende Bindung des Individuums an seine Organisation,12 hier also an das Militär, das ebenfalls eine positive wie negative Wirkung auf (Kampf-)Moral haben kann, anders als diese aber eine langfristige Orientierung und damit einen anderen Zeithorizont aufweist.13 Weitgehende Synonymität hingegen liegt zu den Begrif11 | Frederick J. Manning, Morale, Cohesion, and Esprit de Corps, in: Reuven Gal und A. David Mangelsdorff (Hg.), Handbook of Military Psychology, Chichester u.a. 1991, S. 453-470, hier S. 457. Vgl. auch William D. Henderson, Cohesion. The Human Element in Combat. Leadership and Societal Influence in the Armies of the Soviet Union, the United States, North Vietnam, and Israel, Washington, D.C. 1985. Dass von einem hohen Grad an Kameradschaft und Kohäsion auch nachteilige Wirkungen auf die militärische Performanz eintreten können, zeigt Nora Kinzer Stewart, Mates and Muchachos. Unit Cohesion in the Falklands/Malvinas War, Washington, D.C. 1991. 12 | Vgl. Klaus Moser, Commitment in Organisationen, Bern u.a. 1996. 13 | Vgl. Manning, Morale, S. 458.

101

102

G ERHARD K ÜMMEL

fen Kampfmotivation und Einsatzmotivation vor, die in der jüngeren militärsoziologischen Forschung den bisweilen etwas antiquiert anmutenden Begriff der (Kampf-)Moral weitgehend ersetzt haben.14 Die empirische Forschung zu diesen Begriffen hat zu unterschiedlichen Befunden geführt. Zunächst stellten die Untersuchungen des Autorenteams um Samuel Stouffer15 sowie die Studie von Edward Shils und Morris Janowitz16 bei amerikanischen und deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges die lange Zeit gültige Gewissheit, dass Soldaten aufgrund ihres Glaubens an etwas Höheres kämpfen – sei es der Glaube an Gott, die Nation, eine Ideologie oder einen politischen Führer – in Frage. Danach ist es nicht das Bekenntnis zu einer großen Idee, zu einem Kollektivziel, sondern das soziale Umfeld des Soldaten, seine Primärgruppe, das heißt die Kohäsion, der Zusammenhalt der Kameraden und Vorgesetzten, der die Soldaten zum Einsatz, zum Kämpfen motiviert.17 Bis heute finden sich Arbeiten, deren Fokus auf der zentralen Rolle der Kohäsion für das soldatische Verhalten liegt, und die danach fragen, wie diese zu optimieren sei.18 Allerdings kam Charles Moskos in seinen Untersuchungen unter amerikanischen Soldaten in Vietnam zu dem Schluss, dass die übergeordneten Zielstellungen eines Einsatzes auf den Soldaten zurückwirken und sein Verhalten beeinflussen. Dabei stellte Moskos keineswegs die Bedeutung der Primärgruppe in Abrede, er relativierte sie jedoch, indem er ihren funktionalen Charakter heraus14 | Vgl. Heiko Biehl, Kampfmoral und Einsatzmotivation, in: Nina Leonhard und InesJacqueline Werkner (Hg.), Militärsoziologie. Eine Einführung, Wiesbaden 2005, S. 268286; Anthony Kellett, Combat Motivation. The Behavior of Soldiers in Battle, Boston u.a. 1982; John H. Johns u.a., Cohesion in the U.S. Military, Washington, D.C. 1984. 15 | Samuel A. Stouffer u.a., The American Soldier. Studies in Social Psychology in World War II, Bd. 1-4, Princeton, N.J. 1949. 16 | Edward A. Shils und Morris Janowitz, Cohesion and Disintegration in the Wehrmacht in World War II, in: Public Opinion Quarterly 12 (1948), S. 280-315. 17 | Ähnlich auch Roger W. Little, Buddy Relations and Combat Performance, in: Morris Janowitz (Hg.), The New Military. Changing Patterns of Organization, New York 1964, S. 195-223; Samuel L.A. Marshall, Men Against Fire. The Problem of Battle Command in Future War, New York 1978. 18 | Vgl. etwa Sam C. Sarkesian (Hg.), Combat Effectiveness. Cohesion, Stress, and the Volunteer Military. Beverly Hills, London 1980; Larry H. Ingraham und Frederick J. Manning, Cohesion, in: Military Review, 61/6 (1981), S. 3-12; William D. Henderson, Cohesion. The Human Element in Combat, Washington, D.C. 1985; Reuven Gal und Frederick J. Manning, Morale and Its Components. A Cross-National Comparison, in: Journal of Applied Social Psychology 17/4 (1987), S. 369-391; Dirk W. Oetting (1988), Motivation und Gefechtswert. Vom Verhalten des Soldaten im Kriege, Frankfurt a.M., Bonn 1988; Paul T. Bartone und Amy B. Adler, Cohesion Over Time in a Peacekeeping Medical Task Force, in: Military Psychology 11/1 (1999), S. 85-107.

M ISSTRAUISCHES V ERTRAUEN ?

strich. Zudem sah Moskos neben Kohäsion und Kameradschaft eine grundsätzlich positive Haltung zu seinem Land und seiner Gesellschaft (Moskos nannte das Americanism oder latent ideology) als basal für die soldatische Motivation an.19 Bei dem Historiker Omer Bartov wiederum wird das Rad sogar wieder ganz zurückgedreht. Er sah die Ursache für den kaum nachlassenden Kampfeswillen der Wehrmacht in einer Situation, in der die objektiven Grundlagen für Kohäsion aufgrund kriegsbedingter rascher und umfangreicher personeller Fluktuation nicht (mehr) vorhanden waren, in dem fanatischen Glauben an die nationalsozialistische Idee, der viele deutsche Soldaten leitete, sowie in dem großen Druck und Zwang, dem die Soldaten ausgesetzt waren.20 Die neuere Forschung hingegen sieht (Kampf-)Moral und Einsatzmotivation in einem multifaktoriellen Einflussfeld.21 So belegen mehrere Studien die große Bedeutung der Familie, also der sozialen Primärgruppe im Hinblick auf (Kampf-)Moral und Einsatzmotivation.22 Solche Befunde stützt auch eine 19 | Vgl. Charles C. Moskos, Eigeninteresse, Primärgruppen und Ideologie. Eine Untersuchung der Kampfmotivation amerikanischer Truppen in Vietnam, in: René König (Hg.), Beiträge zur Militärsoziologie, Köln, Opladen 1968, S. 199-220. 20 | Vgl. Omer Bartov, Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges, Reinbek b. Hamburg 2001. Vgl. auch Stephen G. Fritz, We are Trying … to Change the Face of the World – Ideology and Motivation in the Wehrmacht on the Eastern Front. The View from Below, in: Journal of Military History 60/4 (1996), S. 683-710. 21 | Vgl. etwa Harald Haas und Franz Kernic, Zur Soziologie von UN-Peacekeeping-Einsätzen. Ergebnisse sozialempirischer Erhebungen bei österreichischen Kontingenten, Baden-Baden 1998; Jesse J. Harris und David R. Segal, Observations from the Sinai. The Boredom Factor, in: Giuseppe Caforio (Hg.), The Sociology of the Military, Cheltenham, Northampton 1998, S. 613-626; Paul Klein und Ekkehard Lippert, Morale and its Components in the German Bundeswehr, in: Paul Klein, Andreas Prüfert und Günther Wachtler (Hg.), Das Militär im Mittelpunkt sozialwissenschaftlicher Forschung, BadenBaden 1998, S. 21-31; Eva Johansson, The UNknown Soldier. A Portrait of the Swedish Peacekeeper at the Threshold of the 21st Century, Karlstad 2001. 22 | Sondra Albano, Military Recognition of Family Concerns. Revolutionary War To 1993, in: Armed Forces and Society 20/1 (1994), S. 283-302; Leora N. Rosen und Doris Briley Durand, The Family Factor and Retention Among Married Soldiers Deployed in Operation Desert Storm, in: Military Psychology 7/4 (1995), S. 221-234; Leora N. Rosen u.a., Marital Adjustment of Army Spouses One Year After Operation Desert Storm, in: Journal of Applied Psychology 25 (1995), S. 677-692; Chris Bourg und Mady Wechsler Segal, The Impact of Family Supportive Policies and Practices on Organizational Commitment to the Army, in: Armed Forces and Society 25/4 (1999), S. 633-652; David E. Rohall, Mady Wechsler Segal und David R. Segal, Examining the Importance of the Organizational Supports on Family Adjustment to Army Life in a Period of Increasing Separation, in: Journal of Political and Military Sociology 27/1 (1999), S. 46-65; Heiko Biehl, Jörg Keller und Maren Tomforde,

103

104

G ERHARD K ÜMMEL

Studie, die die Motivation deutscher KFOR-Soldaten untersucht; sie kommt zu dem Schluss, dass diese in erster Linie davon abhängt, ob der Soldat den Sinn und Zweck seines Einsatzes mitträgt und damit bei seinem sozialen (außermilitärischen) Umfeld auf Unterstützung trifft. Der Einfluss der horizontalen und vertikalen Kohäsion steht dahinter zurück.23 Dennoch bedeutet dies keineswegs, dass die Primärgruppenbeziehungen quasi unbedeutend geworden und entsprechend zu vernachlässigen wären. Gerade deswegen lohnt ein Blick auf Vertrauen, der möglicherweise noch einen etwas anders gelagerten Zugang zum Themenfeld Kohäsion und Kameradschaft und damit zum Phänomen der (Kampf-)Moral und der Einsatzmotivation verspricht. Doch was genau ist Vertrauen? Vertrauen wird für verschiedene Referenzsysteme in ganz unterschiedlicher Weise gefasst.24 In den Wirtschaftswissenschaften beispielsweise geht es um Konsumentenvertrauen,25 um Markenvertrauen26 oder um Vertrauen beim Einkauf und Handel im Internet.27 Die Politikwissenschaft dagegen interessiert sich eher für Vertrauen in staatliche Institutionen, in die Regierung, in die Polizei, in die Justiz oder in Parteien und einzelne Politiker.28 Die Soziologie wiederum fragt nach sozialem Vertrauen, nach Vertrauen in die Gesellschaft,29 »Den eigentlichen Einsatz fährt meine Frau zu Hause…«. Belastungen von BundeswehrSoldaten und ihren Familien während des Auslandseinsatzes, in: Gerhard Kümmel (Hg.), Diener zweier Herren. Soldaten zwischen Bundeswehr und Familie, Frankfurt a.M. u.a. 2005, S. 79-107; Maren Tomforde, Einsatzbedingte Trennung. Erfahrungen und Bewältigungsstrategien (SOWI-Forschungsbericht, 78), Strausberg 2006. 23 | Vgl. Heiko Biehl, Ulrich vom Hagen und Reinhard Mackewitsch, Motivating Soldiers. A Challenge for Officer Education, in: Gerhard Kümmel (Hg.), The Challenging Continuity of Change and the Military (SOWI-Forum International, 22), Strausberg 2001, S. 399-410. 24 | Vgl. Reinhard Bachmann und Akbar Zaheer (Hg.), Handbook of Trust Research, Cheltenham 2007. 25 | Vgl. Hans H. Bauer, Marcus M. Neumann und Anja Schüle, Konsumentenvertrauen. Konzepte und Anwendungen für ein nachhaltiges Kundenbindungsmanagement, München 2006. 26 | Vgl. Stefan Müller und Stefan Wünschmann, Markenvertrauen. Aktueller Stand der Forschung und empirische Untersuchung am Beispiel der Automobilindustrie (Arbeitspapier Nr. 91), Dresden 2004. 27 | Vgl. Heiner Fuhrmann, Vertrauen im Electronic Commerce, Baden-Baden 2001; Peter Ludwig, Vertrauen beim Online-Shopping, Lengerich u.a. 2005. 28 | Vgl. Hans Maier, Vertrauen als politische Kategorie (Augsburger Universitätsrede 12), Augsburg 1988. 29 | Vgl. Martin Hartmann und Claus Offe, Vertrauen. Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt a.M., New York 2001; Robert D. Putnam, Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community, New York 2000.

M ISSTRAUISCHES V ERTRAUEN ?

und in der Sozialpsychologie. Aber auch in der Organisationssoziologie geht es um interpersonales Vertrauen, also beispielsweise um das Vertrauen zwischen Kunde und Verkäufer, zwischen Arzt und Patient oder zwischen Pfarrer und Gemeindemitgliedern.30 Vertrauen ist demnach allgegenwärtig. Ohne Vertrauen könnte der Mensch »morgens sein Bett nicht verlassen.«31 Der Grund dafür liegt darin, dass Vertrauen über all diese verschiedenen Referenzsysteme hinweg »ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität« ist, wie es im Untertitel zu Niklas Luhmanns Schrift zu Vertrauen prägnant heißt. »Sie stärkt die Gegenwart in ihrem Potential, Komplexität zu erfassen und zu reduzieren; sie stärkt die Bestände gegenüber den Ereignissen und ermöglicht es daher, mit größerer Komplexität in bezug auf Ereignisse zu leben und zu handeln.«32 Angesiedelt im Niemandsland zwischen Wissen und Nichtwissen33 wird Vertrauen »als Vorschuß auf den Erfolg im voraus auf Zeit und auf Widerruf gewährt«34 . Es setzt auf die zukünftige Erfüllung von Erwartungen, die im Zustand sub-optimaler und letztlich beinahe unmöglicher Kenntnis der Komplexität der Realität unser Verhalten und unsere Entscheidungen unterstützen; es beruht quasi auf einem willentlichen Akt der Selbsttäuschung, denn »[e]igentlich ist nicht so viel Information gegeben, wie man braucht, um erfolgssicher handeln zu können.«35 Insofern muss Vertrauen zwangsläufig und stets »ein Wagnis«36 bleiben. Im Folgenden werden wir uns dies nun am Beispiel von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ein wenig genauer anschauen; wir beschäftigen uns demnach mit interpersonalem Vertrauen.

30 | Vgl. John E. Swan, Michael R. Bowers und Lynne D. Richardson, Customer Trust in the Salesperson. An Integrative Review and Meta-Analysis of the Empirical Literature, in: Journal of Business Research 44/1 (1999), S. 93-107; David H. Thom und Bruce Campbell, Patient – Physician Trust. An Exploratory Study, in: Journal of Family Practice 44/2 (1997), S. 169-176; Carsten Gennerich, Vertrauen. Ein beziehungsanalytisches Modell untersucht am Beispiel der Beziehungen von Gemeindemitgliedern und ihrem Pfarrer, Göttingen 2000; allgemein: Martin K. W. Schweer (Hg.), Interpersonales Vertrauen. Theorien und empirische Befunde, Wiesbaden 1997; Ulf B. Kassebaum, Interpersonelles Vertrauen. Entwicklung eines Inventars zur Erfassung spezifischer Aspekte des Konstrukts, Diss. phil. Universität Hamburg 2004. 31 | Luhmann, Vertrauen, S. 1. 32 | Ebd., S. 16. 33 | Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a.M. 1992. 34 | Luhmann, Vertrauen, S. 26. 35 | Ebd., S. 33. 36 | Ebd., S. 27.

105

106

G ERHARD K ÜMMEL

D IE I NTEGR ATION VON F R AUEN IN DIE B UNDESWEHR Die Entscheidung des Bundesministeriums der Verteidigung, die Bundeswehr im Nachgang zu dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes im Fall Tanja Kreil vom Januar 2000 vollständig für Frauen zu öffnen, und die sich in der Folge einstellende steigende Relevanz der Frauen als Zielgruppe der Nachwuchswerbung der Bundeswehr hat die Frage aufgeworfen, wie diese Öffnung implementiert, begleitet und unterstützt werden kann. Die Bundeswehr hat sich dabei ihrer Ressortforschungseinrichtung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr (SOWI) bedient37 und zwischenzeitlich verschiedene integrationspolitische Maßnahmen eingeleitet. Diese lassen erkennen, dass sich die Bundeswehr als Organisation nicht nur um die technisch-administrative Seite des Integrationsprozesses, sondern auch nachhaltig um die soziale Seite der Integration bemüht. So hat sie bereits im Herbst 2000 ein Gender- oder Integrationstraining als Multiplikatoren-Ausbildung am Zentrum Innere Führung in Koblenz eingerichtet, um die männlichen Soldaten in Vorgesetzten- und Ausbildungsfunktionen auf weibliche Soldaten vorzubereiten. Zeitlich und inhaltlich ist dieses Integrationstraining nach etwa zweieinhalb Jahren im Rahmen von Gender-Mainstreaming-Konzepten38 ausgedehnt und in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung als mehrtägiges Seminar unter dem Titel Partnerschaftlich handeln39 an den Truppen-

37 | Vgl. Gerhard Kümmel, Paul Klein und Klaus Lohmann (2000), Zwischen Differenz und Gleichheit. Die Öffnung der Bundeswehr für Frauen (SOWI-Bericht Nr. 69), Strausberg 2000; Gerhard Kümmel und Heiko Biehl (2001): Warum nicht? – Die ambivalente Sicht männlicher Soldaten auf die weitere Öffnung der Bundeswehr für Frauen (SOWI-Bericht Nr. 71), Strausberg 2001; Gerhard Kümmel und Ines-Jacqueline Werkner (Hg.), Soldat, weiblich, Jahrgang 2001. Sozialwissenschaftliche Begleituntersuchungen zur Integration von Frauen in die Bundeswehr – Erste Befunde (SOWI-Bericht Nr. 76), Strausberg 2003; Gerhard Kümmel, Truppenbild mit Dame. Eine sozialwissenschaftliche Begleituntersuchung zur Integration von Frauen in die Bundeswehr (SOWI-Forschungsbericht Nr. 82), Strausberg 2008. Diese Berichte können aus dem Ordner »Publikationen, Forschungsberichte« auf der SOWI-Homepage heruntergeladen werden: www.sowi.bundeswehr.de. 38 | Vgl. hierzu die Beiträge in Michael Meuser und Claudia Neusüß, Gender Mainstreaming. Konzepte, Handlungsfelder, Instrumente, Bonn 2004. 39 | Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hg.), Partnerschaftlich handeln. Mitarbeiterorientierte Personalpolitik in der Ausbildung. Ein Bausteinmanual für TrainerInnnen und AusbilderInnen, Köln 2001.

M ISSTRAUISCHES V ERTRAUEN ?

schulen und Ausbildungseinrichtungen der Streitkräfte durchgeführt worden. Diese Seminare fanden im Zeitraum März bis November 2003 statt.40 Abb. 2: Eine Panzerschützin setzt sich während der Gefechtsausbildung ihren getarnten Stahlhelm auf. Für fünf Rekrutinnen begann im Janaur 2001 im Panzerbataillon 413 in Torgelow die Ausbildung im Gelände. Die fünf Frauen hatten als erste weibliche Rekruten mit etwa 240 weiteren in der Geschichte der Bundeswehr den Dienst an der Waffe angetreten. Foto: picture-alliance/dpa

In diesem Kontext ist auch die gut drei Jahre währende Umsetzung des Bundesgleichstellungsgesetzes aus dem Jahr 2001 für die Bundeswehr in der Form des Soldatengleichstellungsdurchsetzungsgesetzes (SGleiG) zu nennen. Dieses Gesetz wurde in seiner Entwurfsfassung Ende Oktober 2004 in den Bundestag eingebracht. Seit Jahresbeginn 2005 wird es in die Praxis umgesetzt, wobei hinzuzufügen ist, dass es im Spannungs- und Verteidigungsfall ausgesetzt wird. Im Zentrum stehen dabei image-, personal- und rekrutierungspolitische Überlegungen. So soll die Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber für potenzielle Interessenten, bei denen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei der Berufswahl eine gewisse Bedeutung hat, ebenso erhöht werden wie für die jungen Frauen, denen sich die Bundeswehr als ein Arbeitgeber darstellt, der sich um das Wohl weiblicher Soldaten kümmert. Das Gesetz schafft die nötigen rechtlichen Grundlagen für die Erleichterung und Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Diese ermöglichen es Soldatinnen wie Soldaten, unter bestimmten Bedingungen und sofern es der Dienstposten erlaubt – ausgenommen sind beispielsweise Disziplinarvorgesetzte, Soldat/inn/en in Auslandseinsätzen oder beim Kommando Spezialkräfte (KSK) – 40 | Vgl. zu deren Evaluierung Michael Hahn und Cornelia Helferrich, Gender-Fragen in männlich dominierten Organisationen. Erfahrungen mit der Fortbildung ›Partnerschaftlich Handeln‹ bei der Bundeswehr, Köln 2007.

107

108

G ERHARD K ÜMMEL

für maximal zwölf Jahre einer Teilzeitbeschäftigung nachzugehen. So müssen die Antragsteller/innen vier Dienstjahre absolviert haben und ein Kind unter 18 Jahren oder einen Angehörigen haben, der laut ärztlichem Gutachten pflegebedürftig ist. Aufgrund des Fehlens einer Rechtsverordnung des BMVg zum militärischen Dienst in Teilzeit sowie einer ergänzenden Richtlinie für die Personalbearbeitung konnte über Anträge auf Teilzeitbeschäftigung geraume Zeit nicht entschieden werden, sodass diese zunächst ausgesetzt wurden. Erste Abhilfe schaffte eine vorläufige Richtlinie mit ersten Durchführungshinweisen vom Mai 2005. Die Teilzeitbeschäftigungsverordnung selbst trat dann erst am 19. November 2005 in Kraft. Ferner zielt das SGleiG, wie sein Name schon sagt, auf die Gleichstellung von Soldaten und Soldatinnen in der Bundeswehr und auf die Beseitigung aktueller und die Unterbindung potenzieller Diskriminierung in den Streitkräften aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit ab. Um diese Ziele zu erreichen, sieht das Gesetz eine ganze Reihe verschiedener Instrumente und gezielter Fördermaßnahmen für weibliche Soldaten vor. Dazu gehört die Wahl von hauptamtlichen Gleichstellungsbeauftragten auf Divisionsebene, die die bisher existierenden 14 Ansprechstellen für die spezifischen Probleme weiblicher Soldaten ablösen und deren Aufgabe es ist, bestehende wie zukünftige Diskriminierungen von weiblichen wie auch von männlichen Soldaten zu beseitigen. Sie wirken bei sämtlichen personellen, organisatorischen und sozialen Maßnahmen und Entscheidungsprozessen ihrer Dienststellen mit, bei denen es um Gleichstellung der beiden Geschlechter in der Bundeswehr, Work-Life-Balance und Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz geht, und verfügen über ein unmittelbares Vortragsrecht, ein umfassendes Einspruchsrecht und ein grundsätzliches Rederecht bei Personalversammlungen. Wahlberechtigt wie auch wählbar sind jedoch ausschließlich Soldatinnen. Die Wahl von insgesamt 40 Gleichstellungsbeauftragten plus Stellvertreterinnen ist zwischenzeitlich flächendeckend durchgeführt worden. Avisiert wird darüber hinaus eine weitere, deutliche Erhöhung des Anteils von Soldatinnen. Perspektivisch soll ein Anteil von 50 Prozent weiblicher Soldaten im Sanitätsdienst der Bundeswehr und 15 Prozent im Truppendienst erreicht werden, was gegenüber dem derzeitigen Stand von rund 36 Prozent im Zentralen Sanitätsdienst und von neun Prozent im Truppendienst jeweils noch einen deutlichen Anstieg bedeutet. Dies soll dadurch realisiert werden, dass im Falle einer Dienstpostenbesetzung weibliche Bewerber bei vorliegender gleicher Eignung, Leistung und Befähigung einem männlichen Mitbewerber vorzuziehen sind. Ein Gleichstellungsplan, der alle vier Jahre zu erstellen ist, wacht über den Fortgang und die Umsetzung dieser Maßgabe. Die jüngste Studie des SOWI zur Einschätzung des Integrationsprozesses durch Soldaten und Soldatinnen arbeitet sowohl das bislang Erreichte wie auch noch bestehende Desiderate der Integration heraus.41 So lässt sich beispielswei41 | Vgl. Kümmel, Truppenbild mit Dame.

M ISSTRAUISCHES V ERTRAUEN ?

se bei den männlichen Soldaten tendenziell eine Verbesserung des Meinungsbildes gegenüber dem Jahr 2000 ablesen:42 Zwar hat sich der Anteil derjenigen, die Frauen entweder ganz aus den Streitkräften heraus haben oder sie auf den Status der Jahre vor 2000 beschränkt sehen wollen, nur marginal um jeweils rund ein Prozent reduziert, doch sprechen sich nun 2,5 Prozent weniger Soldaten dafür aus, Frauen den Zugang zu sämtlichen militärischen Verwendungsbereichen mit Ausnahme der Kampfverwendungen zu verschließen. Nunmehr sind rund zwei Drittel der männlichen Soldaten – verglichen mit etwa der Hälfte der Soldaten aus der früheren Befragung – für eine vollständige Öffnung der Bundeswehr. Der Prozentsatz der Soldaten, die dem klassischen Stereotyp von der zu beschützenden Frau anhängen, hat sich um etwa 4,5 Prozentpunkte reduziert, während sich gleichzeitig nunmehr über 59 Prozent verglichen mit knapp 56 Prozent vorstellen können, von einer Soldatin mit der Waffe in der Hand verteidigt zu werden. Fast acht Prozent weniger Männer als zuvor sprechen Soldatinnen die Eignung für die Ausübung von Vorgesetztenfunktionen ab. Mehr als zehn Prozent weniger Männer vertreten nun die Ansicht, dass Frauen den Männern in den Streitkräften den Arbeitsplatz wegnehmen. Etwa vier Prozent weniger Männer als zuvor rechnen nun mit einer Zunahme von Problemen im dienstlichen Alltag infolge der Integration von Frauen in die Streitkräfte. Rund acht Prozent weniger männliche Soldaten als zuvor befürchten einen Zuwachs an Problemen im weiten Kontext von Sexualität. Nun glauben wiederum fast acht Prozent mehr männliche Soldaten als vorher, dass man mit Frauen in der eigenen Einheit gut zusammenarbeiten kann. Dem müssen jedoch die folgenden Befunde relativierend gegenübergestellt werden: Die männlichen und weiblichen Soldaten weisen hinsichtlich ihrer Vorstellungen zur Natur des Menschen, zur Politik, zu Werten und Normen und zu ihren Auffassungen über den Beruf des Soldaten und die Aufgaben der Streitkräfte deutliche Unterschiede auf: Cum grano salis haben männliche Soldaten ein skeptischeres Menschenbild, sind patriotischer und sprechen sich eher für eine aktive Außenpolitik und die Anwendung militärischer Mittel aus als Frauen; weibliche Soldaten sind zurückhaltender, was militärische Gewalt und ihre Anwendung betrifft, stehen Peacekeeping-Operationen positiver gegenüber, haben ein nüchterneres, um nicht zu sagen kritischeres Verhältnis zur Bundeswehr und sind eher bereit, Schwierigkeiten zuzugeben als Männer. Die gerechtigkeitspolitische Sensibilität auf Seiten der männlichen Soldaten hat deutlich zugenommen, sodass nun sechs Prozent mehr Männer als früher dafür plädieren, dass Frauen nicht in den Genuss von Privilegien kommen sollten und dass die Gleichbehandlung der beiden Geschlechter in der Bundeswehr das Grundprinzip der Integration darstellen sollte. Sexuelle Belästigung erweist sich als ein Problem, das – wenn auch auf vergleichsweise niedrigem Niveau – in der Bundeswehr 42 | Kümmel und Biehl, Warum nicht?

109

110

G ERHARD K ÜMMEL

ebenfalls existiert. Schließlich weisen auch die Befunde zum Vertrauen zwischen männlichen und weiblichen Soldaten auf ein gewisses Problempotenzial hin.

V ERTR AUEN UND N ICHT-V ERTR AUEN Z WISCHEN S OLDATEN UND S OLDATINNEN Oberflächlich betrachtet scheint die Welt in der Bundeswehr in Ordnung zu sein. So glauben männliche wie weibliche Soldaten in der Studie, dass man mit Frauen gut zusammenarbeiten kann, die Männer mit 83 Prozent allerdings etwas weniger als die Frauen mit fast 90 Prozent. Bei näherer Betrachtung hingegen mahnt manches zu Vorsicht gegenüber voreiligen Schlüssen. Gerade der Aspekt des Vertrauens der männlichen in die weiblichen Soldaten lässt hier aufmerken. Konkret lautet das entsprechende Item der SOWI-Studie dabei wie folgt: »Ich habe das für einen militärischen Einsatz nötige Vertrauen in …«. Zwar haben auch weibliche Soldaten bisweilen wenig Vertrauen in andere Soldatinnen, doch ist das Gefälle im Geschlechtervergleich sehr bemerkenswert. Den Daten zufolge vertrauen die männlichen Soldaten sozusagen im Ernstfall eher anderen männlichen Soldaten als Soldatinnen. Dies gilt über sämtliche Bezugsgruppen hinweg, wobei allerdings interessante Nuancierungen zu beobachten sind, wie der folgenden Abbildung 3 zu entnehmen ist.

Abb. 3: Vertrauen der männlichen Soldaten in Soldatinnen und in Soldaten (in Prozent). Die Antwortskala ist fünfstufig (»ja«, »eher ja«, »teils-teils«, »eher nein« und »nein«). Hier zusammengefasst sind die Werte für »ja« und »eher ja«.

M ISSTRAUISCHES V ERTRAUEN ?

Die Vertrauenslücke ist mit rund 15 Prozent am niedrigsten bei der Bezugsgruppe der Untergebenen, während die größte Vertrauensdifferenz mit etwa 30 Prozent bei der Bezugsgruppe der Kameraden/Kameradinnen besteht. Nimmt man nur die verneinenden Antworten auf diese Vertrauensfrage, dann geben im Vergleich der Geschlechter zwischen 20 und 25 Prozent der männlichen Soldaten, aber lediglich 11 bis 15 Prozent der weiblichen Soldaten an, kein Vertrauen in Soldatinnen zu haben. Dabei schneiden aus der Perspektive der Männer die unmittelbaren weiblichen Vorgesetzten mit 26 Prozent am schlechtesten ab wie die Abbildung 4 zeigt.

Abb. 4: (Nicht-)Vertrauen in weibliche Soldaten im Geschlechtervergleich (in Prozent). Die Antwortskala ist fünfstufig (»ja«, »eher ja«, »teils-teils«, »eher nein« und »nein«). Hier zusammengefasst sind die Werte für »nein« und »eher nein«.

Aus der SOWI-Studie lassen sich drei Erklärungen für dieses Meinungsbild herauslesen, die in ihrer Gesamtschau auf die fortdauernde Persistenz des malewarrior-paradigms43 bei einem gewissen Teil der männlichen Soldaten hindeuten. 1. Es reflektiert das persönliche Frauen- und Männerbild der männlichen Befragten, das in Teilen recht konservativ und traditionell ist. So halten knapp 44 Prozent der männlichen Soldaten Frauen für körperlich fordernde Funktionen nicht geeignet. Auch glauben mehr als 28 Prozent der Soldaten, dass Frauen dem harten 43 | Vgl. Karen O. Dunivin, Military Culture. Change and Continuity, in: Armed Forces and Society 20/4 (1994), S. 531-547.

111

112

G ERHARD K ÜMMEL

Leben im Felde nicht gewachsen sind. Mit annähernd 20 Prozent vertreten Männer die Überzeugung, dass Frauen das zu beschützende Geschlecht und Männer also das beschützende Geschlecht sind. Der Umkehrung dieses Bildes, also der Vorstellung, dass man von einer Soldatin mit der Waffe in der Hand verteidigt wird, können sich nur rund 60 Prozent der männlichen Soldaten anschließen. 2. Die Leistungsfähigkeit der männlichen und weiblichen Soldaten wird unterschiedlich beurteilt. Diese Frage wurde in der Studie auf drei Ebenen beleuchtet: Die Befragten wurden einmal gebeten, ihre eigene Leistung im Vergleich zu derjenigen ihrer unmittelbaren Kameradinnen und Kameraden zu bewerten. Anschließend wurden die Probanden aufgefordert einmal einzuschätzen, wie wohl ihre eigene Leistung im Kameradenkreis beurteilt wird. Umgekehrt sollten sie aber auch die Leistung ihrer männlichen und ihrer weiblichen Kameraden einstufen. Die Unterschiede im Antwortverhalten der Soldatinnen und Soldaten sind groß und jeweils statistisch höchst signifikant. In der Frage der Bewertung der eigenen Leistung verortet sich bei beiden Geschlechtern praktisch niemand in der Kategorie der unterdurchschnittlichen Leistung. Hingegen treten die Männer wesentlich selbstbewusster als die Frauen auf. Nahezu zwei Drittel aller männlichen Soldaten glauben nämlich von sich, eine überdurchschnittliche Leistung zu erbringen. Bei den Frauen sind dies nur 45 Prozent. Die Mehrzahl der Frauen, nämlich 54 Prozent, platziert sich in der Frage ihrer Leistung im Mittelfeld, was wiederum nur ein gutes Drittel der Männer tut (35 Prozent). Ein ähnliches Muster zeigt sich in Bezug auf die Fremdbewertung der eigenen Leistung. Auch hier glaubt die größte Gruppe der Männer (56,5 Prozent), dass ihre Leistung im Kreis der Kameraden und Kameradinnen als überdurchschnittlich angesehen wird, während dies bei den Soldatinnen lediglich 38 Prozent tun. Umgekehrt erwarten über 59 Prozent der Frauen, aber nur knapp 43 Prozent der Männer, von ihren Kameraden und Kameradinnen im Leistungsmittelfeld verortet zu werden. Knapp drei Prozent der Frauen verglichen mit nur rund einem Prozent der Männer rechnen darüber hinaus mit einer Platzierung im unterdurchschnittlichen Leistungsfeld. Entsprechend ist es wenig überraschend, wenn lediglich fünf Prozent der Männer die Leistung der Frauen als überdurchschnittlich empfinden, jedoch fast 28 Prozent der Männer die Soldatinnen im unterdurchschnittlichen Bereich ansiedeln. Umgekehrt bewerten über 15 Prozent der Frauen die Leistung der männlichen Soldaten als überdurchschnittlich und nur neun Prozent als unterdurchschnittlich. Die jeweils größten Gruppen entfallen bei beiden Geschlechtern auf diejenigen, die keine Leistungsunterschiede zwischen den Geschlechtern ausmachen können. Die männlichen Soldaten sind demnach stärker von ihrer Leistungsfähigkeit überzeugt als die Frauen, die in dieser Hinsicht zurückhaltender auftreten. Zudem vertritt eine bedeutsame Gruppe von annähernd 28 Prozent der

M ISSTRAUISCHES V ERTRAUEN ?

Männer explizit die Meinung, dass die Leistungen der Frauen schlechter seien als die der Männer. 3. Die männlichen Soldaten sehen infolgedessen die militärische Performanz der Bundeswehr durch die Integration von Frauen in Gefahr. So gibt in der Studie rund ein Drittel der Männer an, dass Frauen im Militär zu einem Verlust an Kampfkraft führen. Ein Viertel von ihnen glaubt, dass ihre eigene Einheit ohne Frauen besser wäre, und etwa 20 Prozent sind der Überzeugung, dass die Bundeswehr ohne Frauen besser wäre. Rund 15 Prozent der männlichen Soldaten sind überdies der Ansicht, dass die Bundeswehr infolge der Integration von Frauen ihren militärischen Auftrag nicht mehr erfüllen kann. Aber auch die weiblichen Soldaten stehen den männlichen Soldaten in der Bundeswehr nicht unkritisch gegenüber. So sind die Soldatinnen mit dem Dienstklima in der Bundeswehr, das einen entscheidenden Einfluss auf die Absicht ihres Verbleibs in der Armee hat, etwas weniger zufrieden als die Soldaten. Während die Zufriedenheit mit dem Dienstklima bei den Männern bei 70 Prozent liegt, beträgt sie bei den Frauen 65 Prozent. Darüber hinaus sind lediglich 62 Prozent der Soldatinnen verglichen mit 74 Prozent der männlichen Soldaten mit ihren männlichen Kameraden zufrieden. Zudem beklagt sich rund ein Fünftel der weiblichen Soldaten über unfaires Verhalten von männlichen Kameraden wie auch männlichen Vorgesetzten. Dabei ist das Verhältnis der Geschlechter in der Bundeswehr aus der Sicht der Soldatinnen noch mit einem zusätzlichen Problem konfrontiert, nämlich der sexuellen Belästigung durch in der Regel männliche Soldaten. Welch weitreichende Folgen dieses Problemfeld haben kann, wird am Beispiel des Einsatzes amerikanischer Soldatinnen im Irak deutlich: »The knife wasn’t for the Iraqis. It was for the guys on my own side.«44 Zwar bewegt sich dieses Problemfeld im internationalen Vergleich wie auch im Vergleich mit Daten aus der Privatwirtschaft und der öffentlichen Verwaltung auf eher niedrigem Niveau,45 ist aber eben durchaus existent. 44 | Dies berichtet die junge US-Soldatin Mickiela Montoya von ihrem Einsatz im Irak 2005. Ihre Äußerung ist zitiert bei Helen Benedict, The Private War of Women Soldiers, in: www.salon.com/news/feature/2007/03/07/women_in_military/print.html; abgerufen am 12.8.2008. 45 | Vgl. etwa Juanita M. Firestone und Richard J. Harris, Sexual Harrassment in the U.S. Military: Individualized and Environmental Contexts, in: Armed Forces & Society 21/1 (1994), S. 25-43; Gil High, Combating Sexual Harassment, in: Soldiers 52/2 (1997), S. 4f.; Jessica Wolfe u.a., Sexual Harassment and Assault as Predictors of PTSD Symptomatology Among U.S. Female Persian Gulf War Military Personnel, in: Journal of Interpersonal Violence 13/1 (1998), S. 40-57; Elizabeth Kier, Rights and Fights. Sexual Orientation and Military Effectiveness, in: International Security 24/1 (1999), S. 194201; Joseph Soeters und Jan van der Meulen (Hg.), Managing Diversity in the Armed

113

114

G ERHARD K ÜMMEL

Im Falle von sexueller Belästigung von Soldatinnen in Bezug auf sexistische Bemerkungen berichten insgesamt über 58 Prozent der Bundeswehr-Soldatinnen von solchen Erfahrungen. 31 Prozent sprechen von »Einzelfällen«, »manchmal« liegen sexistische Bemerkungen nach Einschätzung von gut 18 Prozent der Frauen vor, und für die Antwortvorgabe »häufig« entscheiden sich fast neun Prozent der Frauen. In Bezug auf Vorkommnisse mit unerwünschten körperlichen Berührungen von Soldatinnen in der eigenen Einheit beziehen sich rund 19 Prozent der Frauen. Überwiegend sprechen sie von vereinzelten Vorkommnissen (16 Prozent). Zwei Prozent der Frauen verwenden die Charakterisierung »manchmal«, weitere 0,3 Prozent die Kennzeichnung »häufig«, wenn sie von am eigenen Leibe erlebten ungewollten körperlichen Berührungen – etwa an Brust und/ oder Po – berichten. In der dritten und schwerwiegendsten Kategorie der versuchten oder vollzogenen sexuellen Übergriffe bestätigen 4,6 Prozent der befragten Soldatinnen die Existenz von solch qualitativ schwerwiegenden Fällen, unter denen sich auch Vergewaltigungsvorfälle und sexuelle Nötigung befinden dürften. Dabei sprechen 4,2 Prozent der Frauen von »Einzelfällen«, 0,3 Prozent der Soldatinnen entscheiden sich für die Antwortvorgabe »manchmal«, und von einem »häufig« festzustellenden Ereignis berichten 0,1 Prozent der Frauen.

R ESÜMEE Diesen Befunden zufolge existieren im Verhältnis von männlichen und weiblichen Soldaten in der Bundeswehr Problemlagen, die weiterer Bearbeitung bedürfen. Es hat sich erwiesen, dass interpersonales Vertrauen zwischen Angehörigen der deutschen Streitkräfte in bestimmten Bereichen noch optimierungsfähig ist. Die weiblichen Soldaten berichten in Teilen von Vertrauensdefiziten gegenüber männlichen Soldaten, die mit unfairem Verhalten und sexueller Belästigung zusammenhängen. Die männlichen Soldaten, bei denen die ›Vertrauenslücke‹ insgesamt größer ausgebildet ist als bei den Frauen, offenbaren in Teilen Vertrauensdefizite gegenüber Soldatinnen, die dem male-warrior-paradigm entspringen und mit Befürchtungen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Soldatinnen und mit Sorgen um die Gefährdung militärischer Effizienz und Effektivität der Bundeswehr begründet werden. Wenn man annimmt, dass interpersonales Vertrauen eine wichtige Grundlage für die Ausbildung von Kohäsion und Kameradschaft und damit auch für die (Kampf-)Moral militärischer Einheiten bildet, dann ist offenkundig, dass man Forces. Experiences from Nine Countries, Tilburg 1999; Katherine M. Skinner u.a., The Prevalence of Military Sexual Assault Among Female Veterans’ Administration Outpatients, in: Journal of Interpersonal Violence 15/3 (2000), S. 291-310.

M ISSTRAUISCHES V ERTRAUEN ?

diesen Bereich nicht unbearbeitet lassen kann.46 Vertrauen kann zwar durch praktische Erfahrung entstehen und wachsen, kann aber auch durch gezielte Maßnahmen der Organisation positiv beeinflusst werden. Hierzu zählt die Wiedereinführung des Gender- und Integrationstrainings in der Bundeswehr auf institutionalisierter, verstetigter Basis.

46 | Vgl. hierzu auch die Beiträge in Roderick M. Kramer und Tom R. Tyler (Hg.), Trust in Organizations. Frontiers of Theory and Research, London u.a. 1996.

115

Eine Mannschaft im Abendkleid? Zur Bedeutung der Kleidung bei Musikerinnen in Militär und Sinfonieorchester 1 Anke Steinbeck

»Wenn Damen pfeifen, gehen die Grazien flöten«2 titelte das Fachblatt für Unterhaltungskunst Der Artist vor knapp 100 Jahren. Die Doppeldeutigkeit dieses Ausspruches ist raffiniert-erheiternd, doch in ihrem Kern von beständiger Ernsthaftigkeit: Pfeifen war über Jahrhunderte dem männlichen Teil der Bevölkerung vorbehalten, Frauen wurde im öffentlichen Raum höchstens nachgepfiffen. Nun sind die Zeiten der rigiden gedanklichen Geschlechtertrennung in männlich (gleich außen, aktiv, stark) und weiblich (gleich privat, passiv, schwach) vorbei, und Frauen haben im weiteren Sinne das Pfeifen gelernt: Musikerinnen haben institutionell Eintritt in die ehemaligen Männerbastionen Militär und Orchester gefunden, in vielen Ausbildungszweigen stellen sie schon die Hälfte der Studierenden. Und doch zeigt der regelmäßige Blick in die Reihen der Musikensembles, dass die Integration von Musikerinnen noch nicht gänzlich abgeschlossen sein kann, weder im Militär-, noch im klassischen Orchesterbetrieb. Es ist noch gar nicht so lange her, nämlich 1997, dass beispielsweise von den Wiener Philharmonikern über den Äther die Befürchtung verbreitet wurde, dass die »emotionale Geschlossenheit« des Orchesters verloren ginge, nähme es Frauen auf, denn das weibliche Geschlecht bringe nur Unruhe in ein Männerorchester:

1 | Dieser Text ist an das Kapitel »(Musik-)SoldatInnen und die Frage der Uniformierung« aus der Dissertation der Autorin angelehnt, die unter dem Titel Jenseits vom Mythos Maestro erschienen ist. Siehe ebd., Köln 2010, S. 60-64. 2 | Der Artist vom 18. Febr. 1927. Unter diesem Titel führte das Archiv Frau und Musik 1998 in Kassel eine Ausstellung zum Thema Damenblaskapellen durch; siehe dazu auch: Dorothea Kaufmann, »Wenn Damen pfeifen gehen die Grazien flöten«, in: Viva Voce 45 (1998), S. 10f.

118

A NKE S TEINBECK Die Art, wie wir musizieren, hat sehr viel mit Seele zu tun. Das lässt sich nicht vom Geschlecht trennen. Wenn man jetzt mit einer oberflächlichen Gleichmacherei kommt, verliert man ganz Wesentliches. Deshalb bin ich der Überzeugung, dass es wert ist, dieses sexistische Ärgernis zu akzeptieren, weil etwas herauskommt, was meiner Meinung nach nicht im selben Maß herauskommen würde, wenn man das jetzt nach falsch verstandenen Menschenrechten ändern würde […] 3

Die Aufrechterhaltung der räumlichen und symbolischen Markierungen der Geschlechterdifferenz dient, dies wird hier deutlich, vor allem dem Erhalt der Geschlechterhierarchie. Räume, in denen Geld, Macht und Renommee eine Rolle spielen, sollen unterschiedlich zugeordnet sein und bleiben. Dies ist bis heute zu spüren: Je professioneller das Ensemble, desto seltener sind noch immer Musikerinnen zu finden. Dies fällt insbesondere bei stimmführenden Positionen auf, denn hier nimmt der Einzelne eine verantwortungsvollere und höher besoldete Position gegenüber der Gruppe ein. Ein Blick in die Nachwuchsorchester verspricht nur eine langsame Änderung: In den nationalen Ensembles sind Violinistinnen, Oboistinnen oder Flötistinnen oftmals in der Mehrheit; die in Klang und Verwendung bis heute als Militärinstrumente geltenden Blechblasinstrumente sind immer noch weitgehend von Männern besetzt und das, obwohl nachweislich Geschlechtszugehörigkeit unter den Musikausübenden keinen Qualitätsunterschied machen sollte. Gleichzeitig zeigen zum Beispiel Studien der Deutschen Orchestervereinigung, dass ein großer Prozentsatz der an deutschen Hochschulen ausgebildeten Musikerinnen trotz guter Abschlussnoten nicht im Orchester ankommt.4 Warum – diese Frage muss sich anschließen – können Musikerinnen in der »Demonstration und in der Kombination von Macht und Musik«5 und bei der Verknüpfung von (im übertragenen Sinne) »Schwertern und Flöten« so schwer Fuß fassen? Einer der Gründe dafür ist 3 | Der Flötist Dieter Flury, Wiener Philharmoniker, zitiert nach Elena Ostleitner, Die Wiener Philharmoniker und die Frauenfrage. Eine Chronologie der Ereignisse im Spiegel der Presse, in: Freia Hoffmann, Jane Bowers und Ruth Heckmann (Hg.), Frauen- und Männerbilder in der Musik, Oldenburg 2000, S. 265-269, hier S. 267. Weiterführende Anmerkung: Was für Musikerinnen gilt, hat auf die höchste Position im Orchesterbetrieb scheinbar keine direkten Auswirkungen, denn noch bevor die Wiener Philharmoniker 1997 ihre Reihen für Frauen öffnen, dirigiert Simone Young dieses Orchester zweimal. Generell stellen Dirigate von Frauen jedoch lange eine Ausnahme dar, und nur zögerlich lässt sich eine Aufweichung der rein männlichen Vorherrschaft erkennen. Siehe dazu die Dissertation der Autorin. 4 | Siehe Sabrina Paternoga, Orchestermusikerinnen. Frauenanteile an den Musikhochschulen und in den deutschen Kulturorchestern, in: Das Orchester 5 (2008), S. 8-14. 5 | Elke Mascha Blankenburg, Dirigentinnen im 20. Jahrhundert. Porträts von Marin Alsop bis Simone Young, Hamburg 2003, S. 19.

E INE M ANNSCHAFT IM A BENDKLEID ?

sicherlich im Visuellen und den damit verknüpften emotionalen Befindlichkeiten zu suchen. Die laute, rhythmische, konforme Militärmusik, »beruhend auf jahrhundertealter Tradition, ist Ausdruck soldatischen Empfindens«6, was nichts anderes heißt, als dass der orchestrale beziehungsweise militärische Raum und die männerbündische Tradition selbst ein Stück weit mit zur Musik gehören. Die Vermutung liegt nahe, dass auch die auf männliche Körper zugeschnittenen Uniformen und das einheitliche Erscheinungsbild ein nach innen wie nach außen bedeutungsvolles Moment darstellt, dessen Neu-Justierung nur in Etappen gelingen kann. Bereits Carl Dahlhaus ging 1973 in seinem Artikel Der Dirigent als Statthalter davon aus, dass der Musikkonsument die »Werktreue«7 nicht nur im musikalischen Resultat dokumentiert sehen möchte, sondern auch im Visuellen. Zu dieser Werktreue gehören der in Podium und Parkett unterteilte Konzertsaal, der vornehmlich männliche, weiße, groß gewachsene Dirigent, der Komponist und – seit Mannheimer Zeiten – der einheitliche Bogenstrich und die einheitliche Uniformierung: Der Orchestermusiker tritt im Frack als Teil einer »Präzisionsmannschaft«8 nach außen auf. Dieses Erscheinungsbild, das die Ein- und Unterordnung in eine höhere Gemeinschaft verdeutlicht, gehört zu dem Konzertbesuch, der als ein feierlich-festliches, gesellschaftliches Ereignis mit hohem Symbolgehalt gilt. Denn, so sagt der Dirigent Christoph von Dohnanyi, »das Publikum hat es gern«, wenn sich die feierliche Stimmung »auch durch die Kleidung auf der Bühne manifestiert. Eine Bühne verlangt ein Kostüm. Das haben Sie doch in der Popmusik genauso«9 . Doch während in der Popmusik die (Ver-)Kleidung äußerst individuell ist und teils schillernde Ausmaße annimmt (siehe Kiss, Lady Gaga usw.), wodurch ein auch aus Gesichtspunkten des Marketings profitables Alleinstellungsmerkmal erreicht wird, ist die Kleidung im militärischen und sinfonischen Musikensemble standardisiert und mit anderen Konnotationen belegt. Das ernste Schwarz – beziehungsweise die in der Militärmusik gängige farbliche Unterteilung je nach Korps – spielt eine zentrale Rolle bei der Einordnung der Musiker und des musikalischen Rahmens, trägt zur »Hochgestimmtheit« in den »Kunsttempeln«10 bei und wird nicht zuletzt als sichtbarer Ausdruck der orchestralen »Seele«, wie einst aus Wien zu hören war, instrumentalisiert. Uniform und Frack haben eine eindeutig identitätsbildende Funktion, die direkt in die 6 | www.militaermusik.bundeswehr.de [23.11.2008]. 7 | Carl Dahlhaus, Der Dirigent als Statthalter, in: Das Orchester 10 (1976), S. 650f., hier S. 650. 8 | Hans Heinz Stuckenschmidt, zit. nach Walter Salmen, Das Konzert. Eine Kulturgeschichte, München 1988, S. 45. 9 | Christoph von Dohnanyi im Interview mit Emanuel Eckardt, Frackzwang, Frauen und Spitzengagen, in: Stern 11/46 (1996), 7. Nov., S. 133-136, hier S. 135. 10 | Salmen, Das Konzert, S. 144.

119

120

A NKE S TEINBECK

soziale Ordnung hineinwirkt: »Die Uniform zu tragen, (er)hebt das Individuum zum Teil eines Größeren«11, denn sie dient einerseits dazu, Individualität und Klassengegensätze innerhalb der Truppe optisch aufzuheben: die Voraussetzung für Geschlossenheit, Kameradschaft und dem damit verbundenen Klang. Andererseits schafft die Uniform eine eindeutige optische Zugehörigkeit zur Gruppe bei gleichzeitiger visueller Unterscheidung der hierarchischen Ebenen in Dirigenten und Musiker, Offiziere und Mannschaften, zwischen Heeresmusik-, Luftwaffen- und Marinekorps, Musiker und Publikum. Ein System, das nach außen auch mit der Glorifizierung der »Präzisionsmannschaft«12 und der Stilisierung des Dirigenten als »übermächtige Vaterfigur«13 spielt, dessen Position als »Bändiger des Orchesters« somit weiter gepflegt wird. In diesem über Jahrhunderte gereiften Zeichensystem muss eine Ensemblemusikerin ihre musikalische und soziale Position finden, obwohl sie schon rein physisch von der visuellen Einheit ausgeschlossen ist. Dass es nicht immer einfach ist, die männerbündischen Reihen zu durchbrechen, zeigt unter anderem der Fall Abbie Conant, die sich als Solo-Posaunistin bei den Münchner Philharmonikern bewarb, als »Herr Abbie Conant« zum Probespiel eingeladen wurde und dieses, hinter dem Vorhang spielend, mit scheinbar deutlichem Vorsprung gewann. Nach anderthalb Jahren jedoch die Kündigung: »Du kennst das Problem – wir brauchen einen Mann für die Solo-Posaune«, ist einer der in den Medien weitverbreiteten Sätze, den Dirigent Sergiu Celibidache zu ihr gesagt haben soll.14 Solche Reaktionen sind in der Orchesterlandschaft sicherlich kein Einzelfall. Auf Fotos oder Zeichnungen aus den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts werden die Probleme, die viele männerbündisch organisierte Institutionen nach der institutionellen Öffnung für Frauen hatten, sichtbar: Orchestermusikerinnen, nicht in das herr-liche Frackformat passend, erscheinen oftmals in weißen, mit Rüschen verzierten Kleidern, die einen auf den ersten Blick komplementären Gegensatz zum Schwarz der Herren darstellen.15 Durch die deut11 | Michaela Hampf, »Streng, aber anmutig«: Frauenuniformen der US-Armee im Zweiten Weltkrieg, in: Nie wieder, aber immer wieder Krieg 65 (2004), S. 74. 12 | Stuckenschmidt, zit. nach Salmen, Das Konzert, S. 45 13 | Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1975, S. 130. 14 | Heinz Höfl, Aus dem Blech gefallen, in: Der Spiegel 44/45 (1991), 28. Okt. Siehe auch: www.osborne-conant.org/spiegel.htm [18.7.2011]. 15 | Siehe zum Beispiel in Walter Kissling, Ein Konzert hat viel mit dem Visuellen zu tun, in: Das Orchester 5 (1983), S. 443-448, hier S. 444. Besonders deutlich wird die Bedeutung der Kleidung auch am Beispiel der Damenkapellen, bei denen ein bestimmtes Äußeres mit zum Geschäft gehörte: An den oftmals betont freizügigen Kleidern oder männlich nachempfundenen Uniformen bis hin zu aus Baumwollstoff gefertigten Rüschenkleidern zeigt sich schon, in welchem Metier die Kapelle beziehungsweise das Or-

E INE M ANNSCHAFT IM A BENDKLEID ?

lich andersartige Uniform wurden den Frauen die hierarchischen Strukturen im Orchester buchstäblich auf den Leib geschrieben (schwarz gleich ernsthaft, professionell – weiß gleich laienhaft, unschuldig-naiv, verspielt) und die Geschlechtsdifferenzen den Rezipienten vor Augen gehalten. Erst im Zuge der sich zuspitzenden Krise der Orchester, in deren Rahmen viele Stellen nicht besetzt werden konnten und so vermehrt Frauen Eintritt in die Orchester fanden, wurde die Kleidung der Musikerinnen der der Herren angeglichen. Aus dem Weiß wurde ein durchgängiges Schwarz, ein schlichter Kompromiss zum Frack des Musikers, der das bisherige Zeichensystem imitiert, aber nicht ganz erreicht (es fehlt das weiße Hemd, die schwarze Fliege und der typische, der männlichen Physis angepasste Frack-Schnitt). Heute erschließen die Orchester auf der Suche nach einer veritablen gesellschaftlichen Verankerung und einem jungen Publikum nicht nur neue Konzertorte und erproben neue Konzertformate, sie nehmen in einzelnen Programmen auch Abschied von ihrem bisherigen Erscheinungsbild: In einzelnen Konzerten, zum Beispiel in Schülerkonzerten oder casual concerts, die in der Mittagspause angeboten werden, wird bei den Musikern zunehmend auf das Schwarz-Weiß verzichtet, ebenso bei offiziellen Pressefotos. Aktuelle Pressefotos des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin und des Berliner Rundfunksinfonieorchesters zeigen die MusikerInnen in durchweg schwarzer beziehungsweise in bunter Kleidung. Diese leger wirkende Form der Gruppen-Individualisierung, die man beinahe als smart casual beschreiben könnte, soll andere und vor allem jüngere Zuhörer ansprechen und erleichtert es Musikerinnen, ihre Tätigkeit auszuüben, ohne sich die Frage nach einem möglichst unauffälligen, zweckmäßigen Frackersatz stellen zu müssen. Auch im Militär wird die indifferente Situation der visuellen Abgrenzung trotz verordneter Integration deutlich: Als Frauen in den späten 1970er-Jahren erstmals Eintritt in die Bundeswehr fanden, war dies ein entscheidender sozialer, beruflicher und ökonomischer Schritt zur Chancengleichheit. Gleichsam geschah dies wohl, wie bei den Orchestern, aufgrund eines anhaltenden, immensen Personalbedarfs – also auch aufgrund eines gewissen Drucks von Außen. Gerade in den sogenannten weiblichen Aufgabenbereichen Verwaltung und Kommunikation konnten Frauen eingesetzt werden, ohne die hierarchische Struktur der Organisation oder die Organisation an sich grundlegend zu verändern. Die Frage der Kleidung stellte bei den weiblichen Sanitätsoffizieren zunächst ein Pro-

chester sich betätigte. Die hochgeschlossenen Baumwollkleider wurden zum Beispiel von Musikerinnen des Damen-Blasorchesters »Amazone« oder des Damen-TrompetenKorps »Stradella« getragen und vermitteln einen eher biederen bis braven Eindruck. Die Herren, die den Ensembles oftmals als Leiter vorstanden, trugen schwarz. Dies gibt dem Foto einen ernsthaften, professionellen Anstrich. Siehe dazu: Kaufmann, Wenn Damen pfeifen gehen die Grazien flöten, in: Viva Voce 45 (1998), S. 10f.

121

122

A NKE S TEINBECK

blem dar: »Chic, praktisch und kleidsam«16 sollte sie sein, darin war sich der Führungsstab der Sanitätseinheit einig, wobei sie explizit nicht »in Anlehnung an das Uniformbild der männlichen Soldaten« gestaltet werden, sondern lediglich zu einem »einheitlichen Uniformbild der weiblichen Sanitätsoffiziere«17 beitragen sollte. Eine Entscheidung über die Bezuschussung der Bekleidung und persönlichen Ausrüstung war noch 1975 »wegen fehlender Fachkenntnisse für weibliche Bekleidung und ihre Kosten nicht möglich«18, wobei in den Diskussionen immer wieder deutlich wurde, dass das chauvinistische Gedankengut zur Frau als Schaufensterpuppe mit den Ideen einer gleichberechtigten Arbeitskraft kollidierte. Das Ergebnis: Die Uniformen waren mit ihren knielangen Röcken weiblich geschnitten, aber nicht in jeder Arbeitssituation praktisch.

Abb. 1: »Why we don’t like Skirts«-Zeichnung von T/5 Jane Smith aus Los Angeles. Entnommen aus Michaela Hampf, »Streng, aber anmutig«: Frauenuniformen der US-Armee im Zweiten Weltkrieg, in: Nie wieder, aber immer wieder Krieg, Redaktion Ingrid Straube, 27/65 (2004), S. 73-86, hier S. 82. 16 | Vorstellung der Musteruniformen im Schnellbrief BMV vom 5.2.1975, Bundesarchiv/ Militärarchiv, entnommen aus Sibylle Koch, Militärpolitik im »Jahr der Frau«. Die Öffnung der Bundeswehr für weibliche Sanitätsoffiziere und ihre Folgen, Braunschweig 2008, S. 113. 17 | Brief BMV vom 18.3.1975, Bundesarchiv/Militärarchiv, entnommen aus ebd., S. 116. 18 | Brief betreffend Ausstattungssoll der weiblichen Sanitätsoffiziere mit Bekleidung und persönlicher Ausrüstung vom 24.11.1975, Bundesarchiv/Militärarchiv, entnommen aus ebd., S. 113.

E INE M ANNSCHAFT IM A BENDKLEID ?

Es wird deutlich: Obwohl die Uniformierung der ersten Soldatinnen eine Zuordnung zur Bundeswehr symbolisierte, wurde gleichzeitig an einer Unterscheidung zwischen den Geschlechtern festgehalten, da die weiblichen Offiziere zunächst vom einheitlichen Erscheinungsbild und damit vom militärisch-männlichen Zeichen- und Bezugsrahmen ausgeklammert wurden. Erst nach und nach wurde die Uniform an die der Männer angeglichen. Als die ersten Musiksoldatinnen in die Bundeswehr eintraten, erhielten sie direkt die gängige Uniform – zumindest lässt sich dies aus den wenigen Fotos schließen, die aus dieser Zeit stammen.19 An solchen Fotos, aber auch allgemein am heute gültigen Erscheinungsbild der Bundeswehr wird deutlich, dass die Bundeswehr einen Weg zu einem einheitlichen Zeichensystem gefunden hat: In seinem Internetauftritt stellt sich der Militärmusikdienst der Bundeswehr heute als Organisation vor, die der Integration von Frauen einen Stellenwert beimisst und dies mit Erhebungen und Informationsveranstaltungen unterlegt.20 Auffallend ist bei einem genaueren Blick auf die einzelnen Ensembles lediglich noch die unproportionale Verteilung in den Instrumenten: In Ensembles, in denen Flöten, Oboen und Klarinetten besetzt sind, sind vergleichsweise viele Musikerinnen zu sehen. In Ensembles, die vor allen Dingen aus Blechblasinstrumenten und Schlagzeug bestehen, darunter zum Beispiel die Big Band der Bundeswehr, geht die Anzahl der Musikerinnen laut aktueller Pressefotos noch immer gegen Null. Gerade in der Big Band können Musikerinnen vor allen Dingen als Solistinnen (Sängerinnen) bzw. Zivilistinnen reüssieren, wobei sie wohl auch aus Gründen des Marketings und zur Ankurbelung des Geschäfts als optischer und künstlerischer Kontrast zur Truppe gestellt werden, treten sie meist doch in den weiblichen Konturen schmeichelnder Kleidung auf die Bühne.21 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Militärmusik in Sachen Uniformierung einen anderen Weg eingeschlagen hat als das klassische Sinfonieorchester: Im Militär wurden die Uniformen vergleichsweise rasch weitestgehend angepasst, sodass Unterscheidungen lediglich noch zwischen den unterschiedlichen Abteilungen auszumachen sind, jedoch nicht mehr zwischen den Geschlechtern. Zur Militärmusik gehört das Zeichensystem der Uniform, das Prinzip von Befehl, Gehorsam und Kameradschaft zwangsläufig zur Orga19 | Im NVA-Museum in Prora existiert ein Foto, das eine Ausbilderin der MilitärmusikSchule in Prora in den 1980er-Jahren zeigt. Die Musikerin ist in der damals gängigen Uniform der Musiksoldaten gekleidet. Auch Fotos des Musikkorps der Bundeswehr aus den 1990er-Jahren zeigen, dass Musikerinnen mit denselben Uniformen ausgestattet wurden wie Männer. 20 | Siehe www.militaermusik.bundeswehr.de 21 | Darauf weisen zumindest Fotos aus den 1980er- und 1990er-Jahren hin, die unter anderem zu finden sind in Martina Rehagen und Thomas Ernst, Swing & Pop in Uniform. Die Big Band der Bundeswehr, Bremen 2004, S. 10f., 14.

123

124

A NKE S TEINBECK

nisation dazu. Im Hinblick auf einen Vergleich mit der Entwicklung im Sinfonieorchester darf aber der Umstand nicht unbeachtet bleiben, dass die Berufskonstruktion in der Bundeswehr per Gesetz festgelegt war und daher im »Gegensatz zum freien Arbeitsmarkt nicht nur stabil, sondern starr und nicht flexibel für das Individuum war«22 . Im Sinfonieorchester zeigen sich trotz der Bestrebungen nach einer mannschaftlichen Verbundenheit und eines klingenden »Seelen«-Gefüges erste optische Individualisierungstendenzen. Diese lassen sich allerdings am ehesten durch eine Vielfalt in der Einheit beschreiben, da trotz individueller Kleidung auf den Pressefotos und in den einzelnen Konzertformaten der Gestus der Gemeinschaft visuell erhalten bleibt. Die beginnende Ablösung vom Frackzwang ist wohl dem allgemeinen Wandel zuzuschreiben, in dem die »taumelnden Dinosaurier«23 einen Perspektivenwechsel vollführen müssen: Auf der Suche nach einem neuen gesellschaftlichen (und finanziellen!) Anschluss müssen die Orchester sich neu orientieren. So stellt sich durchaus die Frage: Könnte es zu einer Bereicherung des heutigen musikalischen Lebens führen, wenn der Musiker im Frack ganz vom Podium verschwinden würde? Nur bedingt: Scheint es bei Sonderprojekten wie Kinder- und Jugendkonzerten durchaus naheliegend, auf den visuellen Einheitslook und die damit konnotierte Strenge zu verzichten, würde beim Konzert in der Philharmonie mit dem festlichen Äußeren doch ein erheblicher symbolischer Wert und ein Stück des, im positiven Sinne, musealen Charakters der traditionsreichen Orchesterlandschaft verloren gehen. Vielmehr muss eine Assimilation der Musikerinnen trotz oder in der Uniformierung gelingen – in weiten Teilen ist sie bereits gelungen. Hier wie dort stehen immer mehr Musikerinnen und Dirigentinnen in Wort und Bild dafür ein, dass zwar noch immer informelle Ausschlussmechanismen wirken, dies aber »mit dem Beruf nichts zu tun«24 hat. Es ist, so scheint es, vor allen Dingen eine Frage der Ausbildung, der Erfahrung, des individuellen Engagements und der inneren Überzeugung, dass Frauen als Orchestermusikerinnen oder Musiksoldatinnen tätig und von den sie umgebenden Kreisen als professionelle Musikerin anerkannt werden – mit und ohne Uniform.

22 | Sibylle H. Koch, Militärpolitik im »Jahr der Frau«. Die Öffnung der Bundeswehr für weibliche Sanitätsoffiziere und ihre Folgen, Braunschweig 2008, S. 120. 23 | Henry Brinker, Klassik zwischen Kunst und Kommerz, in: Das Orchester 3 (2006), S. 8-13, hier S. 8. 24 | Dirigentin Simone Young, zit. nach Christine Lemke-Matwey und Tanja Stelzer, »Die Mikrowelle ist der Feind meiner Ohren«, in: Tagesspiegel Berlin am Sonntag vom 19. Febr. 2006.

Und jeden Abend Lili Marleen Zur Truppenbetreuung im Zweiten Weltkrieg Heike Frey

Die Programme zur Unterhaltung von Wehrmachtsoldaten stellten ein maßgebliches Auftritts- und damit Gelderwerbsfeld für Künstlerinnen und Künstler während des Zweiten Weltkriegs dar. Trotzdem gibt es in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg bislang nur einige wenige Arbeiten zum Thema Truppenbetreuung.1 Aus dem Meer der Nichtbeachtung ragt freilich als singuläres Phänomen der kometenhafte Erfolg von Lili Marleen heraus; das Lied und seine erste Interpretin Lale Andersen sind Gegenstand etlicher Publikationen unterschiedlicher Provenienz2 und bereits weidlich erforscht. Ich möchte im Verlauf meines Beitrags jedoch trotzdem darauf ein gehen, da es als das Lied des Zweiten Weltkriegs schlechthin eine einzigarti1 | Dorothea Kolland (Hg.), FrontPuppenTheater. Puppenspieler im Kriegsgeschehen. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Puppentheater-Museum Berlin, November 1997 bis Januar 1998, Berlin 1997; Alexander Hirt, Die deutsche Truppenbetreuung im Zweiten Weltkrieg: Konzeption, Organisation und Wirkung, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 59 (2000), S. 407-434; Frank Vossler, Propaganda in die eigene Truppe. Die Truppenbetreuung in der Wehrmacht 1939-1945 (= Krieg in der Geschichte, 21), Paderborn 2005. Hinzu kommt noch eine bislang unpublizierte Dissertation: Erika Kaufmann, Medienmanipulation im Dritten Reich: Ziele und Wirkungsabsichten mit dem Einsatz von Theater und Fronttheater, Universität Wien 1987. 2 | Z.B. Katja Protte, Mythos »Lili Marleen« – Ein Lied im Zeitalter der Weltkriege, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 63 (2004), S. 355-400; Fred Ritzel und Jens Thiele, Kritik oder Blasphemie? Über die Rekonstruktion von Musikereignissen der Nazizeit in R.W. Fassbinders »Lili Marleen«, in: AMPF (Hg.), Musikpädagogische Forschung, Bd. 10, Essen 1990; Wilhelm Schepping, »Lili Marleen«. Eine denkwürdige Liedbiographie, in: Barbara Stambolis und Jürgen Reulecke (Hg.), Good-bye memories? Lieder im Generationengedächtnis des 20. Jahrhunderts, Essen 2007, S. 199-242; Litta Magnus-Andersen: Lale Andersen – die Lili Marleen. Das Lebensbild einer Künstlerin. Mit Auszügen aus bisher unveröffentlichten Tagebüchern, München 1981.

126

H EIKE F REY

ge Rezeptionsgeschichte frontübergreifend auch bei den westlichen Alliierten aufweist, zudem wird anhand dieses Beispiels die enorme Bedeutung klar, die dem damals noch jungen Medium Rundfunk speziell für die Soldaten zukam. Außerdem interessiert ein genderrelevanter Aspekt: Ein von einer weiblichen Stimme vorgetragenes Lied wird zur Projektionsfläche für Sehnsüchte, Ängste und Wünsche von Millionen Menschen und zeitigt Reaktionen politischer sowie militärischer Machthaber in mehreren Staaten – damit ist Lili Marleen auch paradigmatisch in Bezug auf das spezifische Potenzial, das Frauen im Vektorfeld der Gefühlslagen zugewiesen wird.

P SYCHOLOGISCHE K RIEGSFÜHRUNG Sowohl die zivile als auch die militärische Führung im nationalsozialistischen Deutschland erachtete unzureichende Propaganda und Indoktrination während des Ersten Weltkriegs als maßgebliche Ursachen für die Niederlage des Deutschen Reichs 1918.3 Die hohe Generalität wie Erich Ludendorff und Alfred von Tirpitz war überzeugt, die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung und vor allem der Soldaten sowie die gravierenden Zerfallserscheinungen in der Etappe hätten mit gezielter ideologischer Ausrichtung und Betreuung vermieden werden können.4 Aus dieser Einschätzung resultiert der hohe Stellenwert, der einer planvollen und umfassenden Truppenbetreuung beigemessen wurde. »Die kulturelle Tätigkeit am deutschen Volk, insbesondere an der deutschen Wehrmacht, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Standhaftigkeit und Durchhaltekraft der ganzen Nation in ihrem Schicksalskampf«5, äußerste Joseph Goebbels in einer Rede zum Jahrestag der Reichskulturkammer und der NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude« am 27. November 1939. Und Robert Ley, Reichsorganisationsleiter der NSG »Kraft durch Freude«, sagte anlässlich der Eröffnung der Bayreuther Kriegsfestspiele 1940: »Im Führer selbst offenbart sich das Symbol […]: daß Leier und Schwert in einem gesunden Menschenleben zusammengehören. Der Führer ist der beste Ausdruck dafür, dass im deutschen Menschen Soldat und Künstlertum vereinigt sind.«6

3 | Vossler, Propaganda, S. 57. 4 | Hirt, Die deutsche Truppenbetreuung, S. 410. 5 | Joseph Goebbels, Die Zeit ohne Beispiel. Reden und Aufsätze aus den Jahren 19391941, München 1941, S. 219, zit. nach Vossler, Propaganda, S. 58. 6 | Deutsche Allgemeine Zeitung, 17.7.1940, zit. nach Dorothea Kolland, Faust, Soldatenlieder und »Wunschkonzert«. Deutsche Frontbetreuung, in: dies. (Hg.), FrontPuppenTheater, S. 33-55, hier S. 36.

U ND JEDEN A BEND L ILI M ARLEEN

Gemäß den Erkenntnissen psychologischer Kriegsführung wurden mit der Truppenbetreuung vor allem drei Ziele verfolgt: • die Vermittlung der Überzeugung, für die richtige Sache zu kämpfen, • die Förderung der Durchhaltebereitschaft, das Anheizen und Wachhalten der Bereitschaft zum Krieg, • die Überwindung von Angst vor Gewalt und Tod, sowohl der Angst zu Sterben als auch der Angst zu Töten.7 Der Alltag der Soldaten war gekennzeichnet von einem Gemisch aus beklemmender Nähe der Mitsoldaten bei gleichzeitiger Einsamkeit, Situationen existenzieller Furcht sowie Warten und Langeweile. Um von eigenem Nachdenken zu entlasten, das durchaus zu unerwünschten Ergebnissen hätte führen können, wurde für Ablenkung gesorgt, die besonders auf der ständigen Gemeinsamkeit der Soldaten beruhte. Die Wehrmachtführung legte größten Wert auf Gruppenaktivitäten, deren Lenkung und Kontrolle durch die vorgesetzten Dienstränge gesichert wurde. Die Teilnahme an den Veranstaltungen war für die Soldaten nicht freiwillig, sie gehörte zur dienstlichen Freizeitgestaltung.8 Die Maßnahmen zur Truppenbetreuung, die die Unterhaltung Verwundeter in den Lazaretten sowie Vorstellungen vor Belegschaften aus der Rüstungsindustrie einschlossen, waren ausgesprochen vielfältig. Sie umfassten Gastspiele großer Theater- und Opernhäuser, Sinfoniekonzerte, Bauerntheater und Vorstellungen anderer Wanderbühnen, Varietégruppen, Kleinkunst-Bühnen mit Programmen aus der Tradition der Volkssänger-Unterhaltung, Kabarettisten, Alleinunterhalter, Zauberer, Akrobaten, Streichquartette und Pianisten, Vortragsreisende, Rezitatoren, Puppenspielbühnen, Filmvorführungen mit Spielfilmen, Wochenschauen, Lehrfilmen oder Propagandastreifen, Heimatabende mit Volksliedern und -tänzen von HJ-Spielscharen, den Aufbau von Soldatenbühnen aus Laien und zufällig vorhandenen Profis, die Versorgung mit Notenmaterial, Büchern, Bastelanleitungen, Spielen, Musikinstrumenten, Grammophonen und Schallplatten, Soldatenblätter mit Anregungen zur Freizeitgestaltung, Frontzeitungen, Material zur beruflichen Fortbildung, Singleiterkurse zur Initiierung von Singgruppen und am allerwichtigsten: Rundfunkgeräte, um die Reichsrundfunk- oder Soldatensender hören zu können.9 Die Möglichkeit des Radio7 | Vgl. Kolland, Faust. 8 | Vgl. Geerte Murmann, Komödianten für den Krieg. Deutsches und alliiertes Fronttheater, Düsseldorf 1992, S. 110. 9 | Das Institut für Zeitgeschichte München beherbergt im Bestand OKW, Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt, MA 568, Rolle 1/730562ff, FHQu, den 9.12.1942, eine »Dienstanweisung für Wehrmachtbefehlshaber, die geistige Betreuung der Truppe betreffend: […] Aufgaben: a) Verteilung des Schrifttums: Tornisterschriften, Soldaten-

127

128

H EIKE F REY

empfangs vermittelte ein Gefühl der Normalität im Ausnahmezustand, wie ein Soldat in einem Feldpostbrief beschrieb: »Jetzt kann ich regelmäßig Nachrichten hören, Tanzmusik und Volkskonzerte einschalten. Da merke ich nicht, daß wir in Rußland sind.«10 So ziemlich das erste, für das im Hinterland der verschiedenen Frontabschnitte gesorgt wurde, waren Wehrmachtsbordelle, die dem Sanitätsbereich des Militärs unterstanden. 1942 verfügte die Wehrmacht über rund 500 Bordelle,11 in denen in den osteuropäischen Ländern vor allem Zwangsprostituierte arbeiten mussten. Eine kontrollierte Infrastruktur von Bordellen sollte die sexuellen Bedürfnisse der Soldaten überwachbar machen, Kontakte mit Straßenprostituierten und damit einhergehend die Gefahr von Geschlechtskrankheiten verhindern sowie das »Fraternisieren« mit Frauen in den besetzten Gebieten und homosexuelle Beziehungen vermeiden.

O RGANISATIONEN DER TRUPPENBE TREUUNG Mit den unterschiedlichen Aufgaben der Truppenbetreuung waren mehrere Organisationen befasst: • die nationalsozialistische Gemeinschaft »Kraft durch Freude« (Kdf) der Deutschen Arbeitsfront, • das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda mit dem Sonderreferat Truppenbetreuung sowie mit der Reichskulturkammer und ihren Unterkammern, blätter für Feier und Freizeit, Soldatenbriefe zur Berufsförderung. b) Organisation des Einsatzes der Spielfilm- und Wochenschaukopien, der Tonfilmwagen […] und der Organisation des Einsatzes der Schmalstummfilmgeräte und -kopien der Reichsanstalt für Film und Bild […] c) Einsatz der KdF-Gruppen und gegebenenfalls einheimischer Künstlergruppen […], Organisation des Laienschaffens bei der Truppe. d) Einsatz von Rednern […] e) Einrichtung von Frontbuchhandlungen, Einsatz der Frontbuchwagen und Beurteilung der Rosenberg-Bücherspende. f) Organisation der Singleiterlehrgänge […] g) Verteilung der im Rahmen der Sonderaktion zur Verfügung gestellten Ausrüstungsgegenstände für Unterkünfte. h) Vorbereitung für die Einrichtung von Arbeitsgemeinschaften zur Berufsförderung in der Truppe und ihre einheitliche Ausrichtung. i) Vorbereitung der Einrichtung von ›Wehrmachtskursen zur Berufsförderung‹ […]« 10 | Klara Löffler, Aufgehoben; Soldatenbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg. Eine Studie zur subjektiven Wirklichkeit des Krieges (= Regensburger Schriften zur Volkskunde, 9), Regensburg 1992, S. 145. Das Zitat entstammt einem Brief des Soldaten Richard M. vom 16.11.1942. 11 | Vgl. Vossler, Propaganda, S. 353.

U ND JEDEN A BEND L ILI M ARLEEN

• die Propaganda-Abteilungen des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), Abteilung Inland, • zudem in Bezug auf Bücherversorgung und Rednereinsatz das Amt Rosenberg des Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP. Diese für das nationalsozialistische Regime charakteristische »polykratische Ämtervielfalt«12 zeitigte eine Vielzahl von Querelen, Kompetenzstreitigkeiten und Animositäten. Jede Institution war darauf bedacht, ihre unabhängige Stellung im Bereich der Truppenbetreuung zu wahren und ihre Befugnisse zu erweitern, wodurch es immer wieder zu Konflikten, Desorganisation und Finanzierungsstreitigkeiten kam.13 Laut einer Vereinbarung zwischen Goebbels (Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda), Ley (KdF) und zwei hohen Vertretern des OKW vom 10. Oktober 1939 sah die Aufgabenverteilung so aus: »Für die gesamte geistige Betreuung der Truppe [ist] die Truppenführung verantwortlich«, das heißt, das OKW behielt sich die grundsätzliche Entscheidung über die Anforderung von Truppenbetreuung vor. »Die Gesamtplanung […] ist Aufgabe des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda […]. Ein Sonderreferat ›Truppenbetreuung‹ […] wird mit der Sachbearbeitung beauftragt. […] Die NSG ›Kraft durch Freude‹ übernimmt die Durchführung aller Veranstaltungen mit Ausnahme der Filmveranstaltungen.«14 Der Bereich Filmvorführungen oblag den Propagandakompanien im OKW. Diese hinreichend unklare Abgrenzung führte zu drei miteinander konkurrierenden Organisationen in der Truppenbetreuung, denn sowohl die Propagandakompanien der Wehrmacht als auch das Sonderreferat im Propagandaministerium etablierten eigene Veranstaltungsprofile. Die Goebbels’sche Truppenbetreuung bemächtigte sich gern der Spitzenkräfte bei Theater und Konzert. So übernahm der Generalsekretär der Reichskulturkammer Hans Hinkel, Goebbels rechte Hand in vielerlei Hinsicht, persönlich die Organisation und Moderation der »Berliner Künstlerfahrten«, Front-Tourneen mit der Creme der Künstlerschaft der 1930er- und 40er-Jahre,15 während KdF – gemäß der Genese als Freizeitorganisation für die Arbeiterschaft – ein nach wie vor deutlich volksnaher, proletarischer Ruf anhaftete. Das zeigte sich noch in der 12 | Hirt, Die deutsche Truppenbetreuung, S. 421. 13 | Vgl. ebd., S. 416; Vossler, Propaganda, S. 131. 14 | Bundesarchiv Berlin, R 55/20161, Bl. 21-25, zit. nach Hirt, Die deutsche Truppenbetreuung, S. 416. 15 | Diese Tourneen hielten allerdings gehörigen Abstand zur tatsächlichen Front und gastierten vielmehr in Städten der Etappe, die über eine kommode Infrastruktur verfügten.

129

130

H EIKE F REY

Nachkriegszeit, wenn ehemalige Fronttheater-Schauspieler hervorhoben, mit KdF nicht das Geringste zu tun gehabt zu haben.16 KdF griff, um die erforderliche Anzahl an reisenden Bühnen sicherzustellen, auf die Dienste von Gastspieldirektionen zurück,17 die weitgehend unkontrolliert Programme im Stil von Bunten Abenden auf Truppenbetreuungsreise schickten, was bei den anderen Ämtern teilweise scharfe Kritik auslöste. Hinzu kamen durchaus divergierende Interessen bezüglich der politischen Ausrichtung. Das OKW legte Wert darauf, nationalsozialistische Inhalte in der Truppenbetreuung möglichst auszusparen: »Alle Bemühungen […] müssen unter allen Umständen eine lehrhafte, schulmäßige oder ästhetisierende Anlage vermeiden. […] Vorträge weltanschaulicher, wehrgeistiger, wehrpolitischer, militärpolitischer oder sonstiger politischer Art […] kommen nicht in Frage«18, hieß es in einer Stellungnahme. Im Propagandaministerium setzte man hingegen auf ein sublimes Zusammenspiel von Indoktrination und Truppenbetreuung, kam es doch ganz wesentlich darauf an, den Soldaten immer wieder zu vermitteln, auf der ›richtigen Seite‹ zu kämpfen, die Überlegenheit der germanischen Rasse über den ›zivilisationsgeschädigten‹ Westen und die ›Untermenschen‹ im Osten durchzusetzen und zu vollziehen.19 Diese Überzeugung der Überlegenheit war der Dreh- und Angelpunkt sämtlicher ideologischer Aufrüstung und diente zur Rechtfertigung von Krieg und Vernichtung. Zielvorgabe der Truppenbetreuung war es, möglichst jedem Soldaten alle zwei Wochen eine Veranstaltung anbieten zu können – sei es Konzert, Lesung, Theater, Vortrag oder Kino. Das erwies sich allerdings als utopisch, sowohl in Bezug auf die Frequenz als auch im Hinblick auf eine gleichmäßige Versorgung aller Gebiete. Grob gerechnet konnte im Durchschnitt jeder Soldat mit acht Veranstaltungen pro Jahr bedacht werden.20 1940 wurden 137.802 Veranstaltungen vor 51.530.000 Besuchern durchgeführt, 1941 stiegen die Zahlen auf 187.198 Veranstaltungen bei 67.789.569 Besuchern.21 Davon entfielen 40 Prozent auf Theaterdarbietungen (Oper, Operette, Schauspiel, Lustspiel), 15 Prozent auf Konzerte und 45 Prozent auf Kleinkunst und Varieté-Veranstaltungen. Für 1942, das Jahr der größten räumlichen Expansion des Deutschen Reichs, gibt es Schätzungen, dass bis zu 10.000 Künstlerinnen und Künstler pro Monat

16 | Vgl. Murmann, Komödianten, S. 115. 17 | Vgl. ebd., S. 103; Hirt, Die deutsche Truppenbetreuung, S. 417f. 18 | Stellungnahme des OKW zu den letzten Monatsplanungen für Truppenbetreuung, 16.12.1940, BA-MA, RW 38/61, zit. nach Hirt, Die deutsche Truppenbetreuung, S. 415. 19 | Vgl. Kolland, Faust, S. 44. 20 | Vgl. ebd., S. 38. 21 | Jahresbericht KdF vom 27.11.1941, zit. nach Kolland, S. 37.

U ND JEDEN A BEND L ILI M ARLEEN

im Einsatz waren.22 Von Januar bis Mai 1943 wurden insgesamt 520 Künstlergruppen unterschiedlichster Art mit 3.276 Personen engagiert.23 Darüber hinaus gab es noch die Filmvorführungen, die als mobile Kinos mit Lastkraftwagen auch in abgelegene Gebiete und bis an die Front gelangten. Zunächst hatte sich die Organisation der Truppenbetreuung erfolgreich angelassen. Nach entsprechenden Aufrufen24 meldeten sich Künstlerinnen und Künstler in Scharen, der Verdienst war gut und man kam in Länder und Städte, in denen Nahrungsmittel und Konsumgüter nicht rationiert waren.25 Um die horrenden Kosten für die Truppenbetreuung in den Griff zu bekommen – allein das OKW bezifferte seine Ausgaben für Transport, Verpflegung, Unterbringung und Bühnentechnik auf vier Millionen Reichsmark monatlich, hinzu kamen noch die Künstlergagen, die von KdF bestritten wurden26 – und dem Unmut vieler Soldaten über unverhältnismäßig gut dotierte Unterhaltungskünstler entgegenzuwirken, versuchte Goebbels im Sommer 1943 einheitliche Gagen festzusetzen. Die Anzahl der für die Truppenbetreuung Gemeldeten brach daraufhin allerdings schlagartig ein. Auch waren immer mehr männliche Artisten zur Front abkommandiert worden, sodass sich ein deutlicher Mangel bemerkbar machte. Das Propagandaministerium versuchte Kriegsdienstverpflichtungen durchzusetzen, was aber nur zu einer Flut von ärztlichen Attesten führte. Selbst die Androhung des Ausschlusses aus der Reichskulturkammer brachte nicht viel.27 Ein in Russland stationierter Major beklagte – interessantes Gegenstück zu zahlreichen Zeitungsberichten von tapferen Künstlerinnen und Künstlern dicht bei den kämpfenden Truppen –, es seien die Bühnenmitglieder oft »nur unter Androhung der Meldung dazu zu bringen, zu den vorderen Truppenteilen zu

22 | Hirt, Die deutsche Truppenbetreuung, S. 421. 23 | Zit. nach Kolland, Faust, S. 38. 24 | »Ich erwarte, daß jeder deutsche Kunstschaffende, an den der Ruf zur Mithilfe ergeht, sich freudig und gern dem großen Werk der Truppenbetreuung zur Verfügung stellt. Wer sich hier zu drücken versucht, ist nicht wert, in dieser geschichtlichen Zeit zu leben und ihrer Segnungen teilhaftig zu werden. Berlin, den 8. August 1940. Dr. Goebbels«, abgedruckt in Die Musik 33/1 (1940), S. 21. 25 | Lale Andersen beschreibt in ihrer Autobiografie eine Truppenbetreuungstournee durch Dänemark als eine Reise ins Schlaraffenland. Lale Andersen, Der Himmel hat viele Farben. Leben mit einem Lied, Stuttgart 1972. 26 | Vgl. Hirt, Die deutsche Truppenbetreuung, S. 420. 27 | Mehrere Hefte der Zeitschrift Musik im Kriege (April 1943-März 1944) bringen Beiträge mit entsprechenden Aufrufen und Warnungen. Vgl. Heft 1, S. 36f.; Heft 3/4, S. 76; Heft 7/8, S. 114.

131

132

H EIKE F REY

gehen«28. Der Anspruch des OKW, der Front und abgelegenen Einheiten Priorität bei der Betreuung zukommen zu lassen, wurde reine Makulatur.29

I DEOLOGISCHE I NDIENSTNAHME DER K L ASSIKER Die Beschwörung der Überlegenheit der germanischen Rasse berief sich zur Untermauerung und Beweisführung gern auf die Klassiker aus Literatur und Musik, auf Goethe und Schiller, Beethoven, Mozart und Wagner. Im Bereich der Literatur wurde besonders Goethes Faust als dem deutschen Wesen gemäß strapaziert. Der oberste Reichsdramaturg Rainer Schlösser zitierte beispielsweise in einem Aufsatz einen Soldaten, der einen Vortrag über Faust gehalten hatte: »Der Erfolg, den ich mit meinem Vortrag hatte, war eine der tiefsten Freuden meines ganzen bisherigen Lebens. […] Das wäre bei unseren Feinden unmöglich, daß ein Soldat – acht Kilometer hinter der Front – zu seinen Kameraden und zu den höchsten Offizieren der Division spräche! Und worüber? Über Faust.« Schlösser fügte kommentierend hinzu: »In der Tat, das wäre bei ihnen unmöglich! Und deshalb werden wir […] siegen!«30 Der Gefreite Karl Herrmann schrieb in den Soldatenblättern für Feier und Freizeit unter der Überschrift »Unvergeßliche Feierstunden«: Wenn man mich fragt, was mich im Osten am tiefsten beeindruckt hat, dann werde ich ohne Zögern antworten: Jene beiden kurz aufeinanderfolgenden Kulturabende, zu denen unsere Mörser kontrapunktisch schwer die musikalische Unterhaltung lieferten. Zuerst kam das Schlierseer Bauerntheater zu uns […] wir freuten uns fast kindlich über die bäuerlich-frische Handlung. […] Die »Abendliche Feierstunde« einige Tage später konnte fast als ein gewagtes Experiment erscheinen. Diesmal war nicht die leichtgeschürzte Muse für den Abend verpflichtet worden – dionysisch ernste Stimmen der Größten unseres Volkes sprachen weihevoll zu uns. 31

Auch die Musikgeschichte ließ sich problemlos nationalsozialistisch interpretieren: Wie Deutschland das am meisten musikliebende und musikschöpferische Land der Erde genannt werden muß, so nimmt auch in seiner Wehrmacht die Liebe zur Musik und ihre Pflege einen Platz ein, wie ihn andere Völker nicht kennen. Der deutsche Soldat 28 | Zit. nach Murmann, Komödianten, S. 226. 29 | Vgl. Hirt, Die deutsche Truppenbetreuung, S. 433. 30 | Rainer Schlösser, Goethe in unserer Zeit, in: Die Bühne Heft 13 (1942), 15.7.1942, S. 241f., zit. nach Vossler, Propaganda, S. 69; Kolland, Faust, S. 45. 31 | Soldatenblätter für Feier und Freizeit 3/6 (1942), S. 245.

U ND JEDEN A BEND L ILI M ARLEEN weiß, daß er mit seinem Lebenseinsatz nicht nur für die Erhaltung seines Vaterlandes, sondern auch für den Bestand der deutschen Musik eintritt. 32

Als Bestätigung, dass die Mitglieder der Volksgemeinschaft solche Sentenzen verinnerlicht hatten, wurden gern sogenannte ›einfache Soldaten‹ zitiert, die angeblich nach einem Konzert für die Wehrmacht ausriefen: »Wenn wir nicht wüßten, was wir zu verteidigen haben, dieser Mozart, dieser Beethoven, die würden es uns lehren.«33 Oder auch: »Das hat doch Richard Wagner damals so sicher gewußt wie wir heute, daß das deutsche Wesen einmal in der Welt siegen würde.«34 Freilich sind Zweifel an der Authentizität solcher Aussagen angebracht, gelangte doch keine Veröffentlichung in den Druck, die nicht zuvor durch die Zensurinstanzen bei ProMi oder OKW gelaufen und zweckdienlich hergerichtet worden war.

H IGH - VERSUS L OW -B ROW C ULTURE Das OKW ließ 1940 in einer Stellungnahme verlauten: Verschiedene Aussprachen mit Offizieren und Mannschaften aller Wehrmachtteile haben immer wieder ergeben, daß sich Soldaten aller Dienstgrade nach anstrengenden und aufregenden Kampftagen einer künstlerisch gehobenen und anspruchsvollen Darbietung mit besonderer Anteilnahme und Dankbarkeit zuwenden. Viele empfinden es als Herabsetzung, wenn sie zu Vorstellungen geführt werden, die lediglich auf innerlich wertlose Unterhaltungskost angelegt sind. 35

Solche Feststellungen sind vermutlich dem Bestreben zuzuschreiben, sich der nationalsozialistischen Doktrin gemäß kulturell getrimmt darzustellen. Zudem kann angenommen werden, dass die Armee – ungeachtet ihrer vor allem in Osteuropa demonstrierten Brutalität – ihren Status als Teil der zivilisierten Menschheit zu reklamieren versuchte. Was das für die Truppenbetreuung eminent wichtige und damals noch recht neue Medium Rundfunk angeht, schauen die Befunde zum Thema high- oder 32 | Generalmajor Paul Winter, Musikpflege in der Wehrmacht, in: Jahrbuch der deutschen Musik 1 (1943), S. 55-58, hier S. 58. 33 | Carl Maria Holzapfel, Krieg und Musik, in: Die Musik. Organ der Hauptstelle Musik beim Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP 33/1 (1940), S. 2-4, hier S. 3. 34 | Ebd. 35 | Institut für Zeitgeschichte, OKW/Abt. Inland II, September 1940, MA 250, Bild Nr. 269, zit. nach Vossler, Propaganda, S. 68.

133

134

H EIKE F REY

low-brow culture allerdings anders aus. Allen beständig ausgestreuten Zitaten über ehrfurchtsvolle, andächtige, tief bewegte oder dankbare Soldaten nach weihevollen Stunden mit deutscher Hochkultur zum Trotz lagen die Bedürfnisse beim Gros der Soldaten in Bezug auf Rundfunkprogramme eindeutig bei Unterhaltung aus dem Gebiet der leichten Muse. Diese Vorliebe für Unterhaltsames galt flächendeckend für die ganze Volksgemeinschaft, was Propagandaminister Goebbels zu nutzen wusste. Schon im März 1933 hatte er die Ausrichtung des Rundfunks als Unterhaltungsmedium vorgegeben. »Nur nicht langweilig werden. Nur keine Öde. Nur nicht die Gesinnung auf den Präsentierteller legen. Nur nicht glauben, man könne sich im Dienste der nationalen Regierung am besten betätigen, wenn man Abend für Abend schmetternde Märsche ertönen lässt.«36 Als Teil der planvoll konzipierten Regie des öffentlichen und privaten Lebens stellte der Rundfunk einen Machtfaktor dar, dessen Bedeutung kaum zu überschätzen ist. Mit der Produktion kostengünstiger Volksempfänger wurde zudem dafür gesorgt, dass nahezu jeder Haushalt per Rundfunk zu erreichen war. Der vermeintlich unpolitischen Unterhaltung kam dabei eine indirekt propagandistische Funktion zu: »Die Musik muß den Hörer entspannen und erst einmal an den Lautsprecher heranholen«37, so Eugen Hadamovsky, Leiter der Rundfunkabteilung im ProMi. Eine so erzeugte affirmative Grundstimmung sollte gezielt zur Indoktrination genutzt werden. Goebbels sagte 1941: »In einer Zeit, in der der gesamten Nation so schwere Lasten und Sorgen aufgebürdet werden, ist auch die Unterhaltung staatspolitisch von besonderem Wert.«38 Die staatstragende Rolle der Unterhaltungsmusik führte bei den Fachleuten aus der Musikwissenschaft, die mit der Dichotomie von hochwertiger E- und minderwertiger U-Musik geimpft waren, zu interessanten Verrenkungen. Nach jahrelangem Vorpreschen mit den Werten deutscher Klassiker häuften sich ab 1940 in einschlägigen Periodika wie Die Musik (ab 1943 in Musik im Kriege umbenannt) bemühte Volten in Form von Beiträgen über die Vortrefflichkeit von deutscher Tanz- und Unterhaltungsmusik. Es galt, für die ideologische Verbrämung der manifesten Bedürfnisse der Hörerschaft zu sorgen, um den Schulterschluss zwischen Führung und Volk zu demonstrieren.

36 | Mitteilungen der Reichsrundfunkgesellschaft (Sonderbeilage), 30.3.1933, zit. nach Nanny Drechsler, Die Funktion der Musik im deutschen Rundfunk 1933-1945 (= Musikwissenschaftliche Studien, 3), Pfaffenweiler 1988, S. 28 37 | Egon Hadamovsky, Dein Rundfunk. Das Rundfunkbuch für alle Volksgenossen, München 1934, S. 50, zit. nach ebd., S. 29. 38 | Zit. nach Ulrich Keuler, Häberle und Pfleiderer. Zur Geschichte, Machart und Funktion einer populären Unterhaltungsreihe (= Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, 78), Tübingen 1992, S. 78.

U ND JEDEN A BEND L ILI M ARLEEN

So beschrieb ein Autor Unterhaltungsmusik als artgebundene Musik des Alltags, die dem Wesen des deutschen Menschen, seinem Gemüt das gibt, was ihm nach intensiver Anspannung in die [sic!] zunehmend wachsenden Aufgaben Entspannung, innere Kraft, Lebensfreude und ein fröhliches Herz bereitet. Ist das nicht eine geradezu edle Aufgabe, die […] der musikalischen Unterhaltung obliegt?39

Und er schwang sich gar zu folgendem Zugeständnis auf: »Zündende Rhythmen haben immer – man kann sagen ausnahmslos – etwas ungemein Gewinnendes im Rahmen unterhaltsamer Musik«, um gleich darauf einschränkend festzustellen: »Jazz regt nicht an, sondern auf! Die vokale wie instrumentale Liedform bleibt nun einmal auch fürderhin das A und O deutscher Musikübung.«40 Aber es wurde auch nicht mit Warnungen vor den Zuständen der sogenannten Weimarer Systemzeit gespart, in der die Unterhaltungsmusik »zu den Niederungen des Schlagers hinabgesunken […], nicht mehr volkstümlich […], sondern plebejisch geworden« sei und versucht hätte »den Lebensstil eines gesunden Volkes ins Dekadente umzubiegen«41 . Daraus folgerte Gerdes: »Gerade die unterhaltende Musik ist zu einer moralischen Haltung verpflichtet, weil sie uns wie keine andere unmerklich und augenblicklich zu beeinflussen vermag« und gemahnte jeden Leiter einer Unterhaltungskapelle an seine besondere Verantwortung für das allgemeine Wohl, wobei er eine ganz eigene, aktualisierte Spielart der Dolchstoßlegende mit dem Taktstock als Waffe entwickelte: »Seine [des Kapellmeisters] Gleichgültigkeit schafft mit angelsächsischer Jazz-, Hot- und Swing-Musik hinter der kämpfenden Front eine Reaktion, die wir mit allen Mitteln bekämpfen müssen.«42 Neben dem Unterhaltungsrundfunk wurde dem Kino ein hoher Stellenwert beigemessen, um für Entspannung, Einverständnis und Ablenkung zu sorgen. Die politische Führung umgab sich mit Vorliebe mit Ufa-Stars wie Zarah Leander, Marika Rökk, Ilse Werner, Johannes Heesters oder Heinz Rühmann; der Glanz der Sympathieträger sollte auf sie abfärben und die Einheit von Kunst und Politik im NS-Staat demonstrieren.

39 | Werner Gerdes, Aufgaben und Wesenszüge deutscher Unterhaltungsmusik, in: Musik im Kriege. Organ des Amtes Musik 1/7-8 (April 1943-März 1944), S. 125-129, hier S. 126. 40 | Ebd., S. 128. Dieses Zitat verdeutlicht auch die Herkunft der damaligen musikwissenschaftlichen und musikpädagogischen Nomenklatur aus der Wandervogel-Bewegung. 41 | Siegfried Scheffler, Deutsche Unterhaltungsmusik, in: Die Musik 33/7 (1941), S. 229-231, hier S. 230. 42 | Ebd.

135

136

H EIKE F REY

Die Filmproduktion bei der Ufa in Babelsberg, später in Prag, lief bis in die letzte Kriegszeit hinein auf Hochtouren.43 Nachdem am 1. September 1944 die Schließung der Theater und Frontbühnen, Kulturorchester, Unterhaltungskapellen, Museen, Galerien und Verlage verfügt worden war, gab es als Unterhaltungsmedien nur noch Kino und Rundfunk. Der Schauspieler Gert Fröbe erinnerte sich: »1944 rissen wir Schauspieler uns um die kleinste Filmrolle. Die Mitwirkung in einer Filmproduktion konnte die Einberufung oder den Marschbefehl zur Front verhindern […]. Die Aufnahmen wurden mit allen Finessen in die Länge gezogen.«44

D AS W UNSCHKONZERT FÜR DIE WEHRMACHT Die mit Abstand bedeutendste populäre Rundfunksendung der NS-Zeit war das Wunschkonzert für die Wehrmacht: Kurz nach Kriegsbeginn, am 1. Oktober 1939 gestartet, wurde es zur allerbesten Sendezeit allwöchentlich am Sonntagnachmittag von 16 bis 20 Uhr live aus dem großen Sendesaal des Reichsrundfunks Berlin an der Masurenallee ausgestrahlt. Das Publikum bestand aus Verwundeten mit ihren Helferinnen, Soldaten auf Urlaub und verdienten Parteigenossen. Die Darbietungen reichten von positiv gestimmter Unterhaltung, Schlagern aus Kinofilmen über Märsche von ›aufbauendem‹ Charakter bis zu eingängigen Stücken ernster Musik, ergänzt um Sketche, Anekdoten, gefühlvolle Gedichte und pathetische Rezitationen. Der geschickt arrangierte Mix aus unterschwelliger Propaganda, Unterhaltung, Sentimentalität und Kriegsbegeisterung, der Applaus des Publikums, das die Refrains kräftig mitsang, und dazu die Kulissengeräusche ließen an den Lautsprechern den Eindruck entstehen, unmittelbar in die fiktive Harmonie des Live-Erlebnisses eingebunden zu sein.45 Kernstück jeder Sendung waren die Wünsche und Grüße, die jeweils mit einer Geld- oder Sachspende für das Winterhilfswerk einhergingen. Das Wunschkonzert diente der Inszenierung der Volksgemeinschaft, in deren Mittelpunkt der Krieg als große Gemeinschaftsleistung stand. Die Sendung wurde als Brücke zwischen Heimat und Front gepriesen und suggerierte die Aufhebung räumlicher und sozialer Distanz, militärischer Disziplin und familiärer Bürgerlichkeit. Die Betonung des ›Wir-Gefühls‹, des ›Familienereignisses‹ evozierte die Vorstellung, kein Hörer werde vergessen, für jede und jeden – sofern der richtigen Rasse angehörig sowie die erforderliche politische und sexuelle Orientierung aufwei43 | Vgl. Ilse Werner, So wird’s nie wieder sein… Ein Leben mit Pfiff, Bayreuth 1981, S. 159. 44 | Murmann, Komödianten, S. 261. 45 | Vgl. Günter Grull, Radio und Musik von und für Soldaten. Kriegs- und Nachkriegsjahre 1939-1960, Köln 2000, S. 142.

U ND JEDEN A BEND L ILI M ARLEEN

send – sei etwas dabei. Der Rundfunk schuf einen virtuellen, gemeinsamen Raum für die Soldaten an der Front und die Familien zu Hause, der die Trennung für die Dauer der Sendung scheinbar aufhob. Gleichzeitig mobilisierte das Sendekonzept mit Wünschen, die gegen Spenden erfüllt wurden, die Opferbereitschaft des Einzelnen für das große Ganze – ein ständig wiederkehrender Topos der NS-Ideologie. Tatsächlich handelte es sich freilich nur in stark zensierter Form um ein ›Wunsch‹-Konzert, denn große Teile des U- und E-Musikrepertoires waren indiziert, sei es wegen der jüdischen Herkunft von Komponist/in, Autor/in oder Interpret/in, wegen missliebigen Inhalts oder undeutschen Ursprungs. Die Macher der Sendungen waren der Moderator Heinz Goedecke und der Autor Wilhelm Krug, der die – stets gereimten – Moderationstexte schrieb. Joseph Goebbels verfolgte jedes Wunschkonzert und schaltete sich oft in die Planung ein, galt doch die Sendung als Propagandainstrument erster Güte: »Neugestaltung der Wunschkonzerte besprochen. Sie sind sehr wichtig für die Stimmung des Volkes und müssen deshalb mit größter Sorgfalt vorbereitet und durchgeführt werden. Nicht zu hohes Niveau, aber immer gute Haltung und beste Ausführung. Da darf nichts zu gut und zu schade sein.«46 Auch der Sicherheitsdienst registrierte die Rezeption jeder Sendung in seinen »Meldungen aus dem Reich«.47 Nach kurzer Zeit wurden Geburtenmeldungen, »große Kindsparade« genannt, fester Bestandteil der Sendungen: Eingeleitet mit Säuglingsgeschrei von einer Schallplatte wurde verlesen, welcher Soldat Vater geworden war. Diese Rubrik zeitigte ein lawinenartiges Anwachsen des Hörer-Zuspruchs und vor allem der Spenden fürs WHW.48 In eineinhalb Jahren spielte das Wunschkonzert für die Wehrmacht fast 15,5 Millionen Reichsmark an Geld- und Sachspenden ein. Nach 75 Sendungen wurde das Wunschkonzert im Mai 1941 eingestellt, Goebbels setzte es wegen gesunkener Qualität ab,49 gut möglich ist aber auch, dass das Spendenaufkommen mit der Fortdauer des Krieges deutlich zurückging und eine Blamage vermieden werden sollte.

46 | Joseph Goebbels, Tagebücher, Teil I: Aufzeichnungen 1923-41, Bd. 8 (April-November 1940), München 1998, S. 78f., zit. nach Hans-Jörg Koch, Das Wunschkonzert im NS-Rundfunk (= Medien in Geschichte und Gegenwart, 20), Köln, Weimar, Wien 2003, S. 202. 47 | Vgl. Koch, Das Wunschkonzert, S. 226f. 48 | Heinz Goedecke und Wilhelm Krug: Wir beginnen das Wunschkonzert für die Wehrmacht, Berlin, Leipzig 1940, S. 74. 49 | Ebd., S. 234f.

137

138

H EIKE F REY

S CHL AGER ALS S TIMMUNGSINDIK ATOREN »Ohne Optimismus ist kein Krieg zu gewinnen; er ist genau so wichtig wie die Kanonen und die Gewehre. Gerade in kritischen Stunden hilft der Optimismus Schwierigkeiten überwinden und Hindernisse beiseiteschieben«50, äußerte Goebbels in einer Rede. Ab 1942 gab er zu diesem Zweck gezielt ›optimistische Schlager‹ in Auftrag. Neben vielen Musikschlagern aus heiteren, belanglosen Filmkomödien, die sorgenfreie Menschen in behaglichem Ambiente zeigten, kamen tatsächlich mehr und mehr derartige Titel auf den Markt und damit in den Rundfunk. Die beiden Durchhalte-Schlager Davon geht die Welt nicht unter und Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern übernahmen die Funktion massenpsychologischer Beeinflussung und ein Titel wie Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, nach jedem Dezember kommt wieder ein Mai suggerierte quasi naturgesetzlich garantierte Hoffnung. Unbeschwerte Schlagermusik sollte für Trost sorgen und über kriegsbedingte Entbehrungen und Verzicht hinweghelfen (Ich brauche keine Millionen, mir fehlt kein Pfennig zum Glück, ich brauche weiter nichts als nur Musik, Musik, Musik! oder mit eindeutigen Appellen Frohsinn und gute Laune einfordern: Sing ein Lied, wenn du mal traurig bist. Gleichzeitig hatten auch ausgesprochen sentimentale und rührselige Lieder Konjunktur; Titel, die die Sehnsüchte, Ängste und Sorgen der Menschen widerspiegelten wie Lass dein Herz bei mir zurück, Zum Abschied reich’ mir die Hände oder Möwe, du fliegst in die Heimat. Bei der Lektüre von Feldpostbriefen fallen immer wieder Passagen auf, in denen zur Charakterisierung einer Stimmung auf Textzeilen aus damaligen Schlagern zurückgegriffen wurde. So beriefen sich mehrere Schreiber an der Ostfront Ende 1942 auf ein trotziges Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern oder als Variation Aber das kann unsern Stahlhelm nicht zerknittern; und besonders der Ohrwurm Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei schien dazu zu dienen, sich selbst und den Angehörigen daheim Mut zum Durchhalten und die Hoffnung auf ein Wiedersehen zu vermitteln.51 Diese Schlager – und speziell Lili Marleen, wie ich noch darlegen werde – prägten eine ganze Generation,52 sie halfen, emotionale Ausnahmezustände zu verarbeiten und Befindlichkeiten zu regulieren. Dabei schienen die Refrains um so wirkungsvoller zu sein, je stereotyper sie daherkamen. 1940 sah sich das OKW zu einem Grundsatzartikel zum Thema »Soldati50 | Joseph Goebbels, Die Zeit ohne Beispiel. Reden und Aufsätze aus den Jahren 1939-1941, München 1941, S. 219, zit. nach Koch, Das Wunschkonzert, S. 303. 51 | Susanne zur Nieden, Die Liebe wächst ja bekanntlich im Quadrat der Entfernung. Anmerkungen zum Soldatenalltag im Zweiten Weltkrieg, in: Kolland, FrontPuppenTheater, S. 24-32, hier S. 31. 52 | Vgl. zu diesem Thema Barbara Stambolis und Jürgen Reulecke, Lieder im Generationengedächtnis, in: dies. (Hg.), Good-bye memories?, S. 11-23, hier S. 14.

U ND JEDEN A BEND L ILI M ARLEEN

sche Haltung dem anderen Geschlecht gegenüber« in den an alle Soldaten verteilten Soldatenblättern für Feier und Freizeit veranlasst: Der Krieg nun schafft durch die wochen- und monatelange Trennung von der Heimat eine schwierige Lage. Er stellt dem Soldaten die Aufgabe, sich zu beherrschen, Wünschen und Begierden Zügel anzulegen und hart gegen sich selbst zu sein. Manche versuchen dieser Verpflichtung zu entgehen. Sie sagen, ich kann und will mich nicht enthalten, und außerdem gibt es Mädchen genug, die mir zur Verfügung stehen. Wozu also? Wir wollen nicht so leichtfertig denken, sondern uns ernsthaft die Frage überlegen: welcher Soldat möchte, daß seine Mutter so gelebt hätte, wie er es diesen Mädchen nun beibringt, oder daß seine Schwester so willfährig wäre? Wer möchte wünschen, daß seine spätere Frau, die Mutter seiner Kinder, eine solche Einstellung hätte? […] Denn wir wünschen uns doch im zukünftigen Deutschland gesunde, frohe Mütter, die reinen Herzens und hochgemuten stolzen Sinnes sind und die infolgedessen glückliche, gesunde, starke Kinder erziehen können.53

Zu diesem Appell passte als flankierende Maßnahme im Unterhaltungsprogramm das Lied Tapfere kleine Soldatenfrau, das oft im Rundfunk erklang. Tapfere kleine Soldatenfrau (Text/Musik: Carl Sträßer, 1940) Als wir im August hinausgezogen sind, da hast du mich zum Sammelplatz gebracht. Du trugst auf deinem Arm unser kleinstes Kind. Und du hast mich so fröhlich angelacht. Du sagtest unserem Jungen: »Schau, dort steht der Vater ja!« Und du warst eine kleine tapfere Frau, die ihren Liebsten scheiden sah. Tapfere kleine Soldatenfrau, warte nur, bald kehren wir zurück. Tapfere kleine Soldatenfrau, du bist ja mein ganzes Glück. Tapfere kleine Soldatenfrau, ich weiß wie so treu du denkst an mich. Und so soll es immer sein, und so denk ich ja auch dein. Und aus dem Felde von ganzem Herzen grüß ich dich. 53 | Hans Ellenbach, Soldatische Haltung dem anderen Geschlecht gegenüber, in: Soldatenblätter für Feier und Freizeit 2 (1941), S. 247-249, hier S. 249.

139

140

H EIKE F REY

Wenn man den Titel heute im Internet recherchiert,54 erscheinen unter anderem Dutzende Angebote für Feldpostkarten mit dem Liedtext und entsprechenden Abbildungen. Dieser Schlager scheint ein echter Renner gewesen zu sein. Hingegen wurde das von Marika Rökk gesungene Warum soll ich treu sein, wie ein Reh so scheu sein 1943 verboten, zur Begründung hieß es, der Text sei geeignet, ›primitive‹ Soldaten zu beunruhigen.55 Neben der Soldatenfrau kam der Mutter eine Sonderstellung zu. Sie wurde während der Kriegsjahre in mehreren sehr populären Schlagern besungen, bei denen das lyrische Ich der an der fernen Front weilende Sohn ist. In ganz besonders suggestiver Weise wurde das Lied Gute Nacht Mutter im Wunschkonzert der Wehrmacht eingesetzt. Eine fiktive pathetische Geschichte inszenierte die Trauer von Müttern gefallener Soldaten, wobei sämtliche Register der Rührung gezogen wurden, um letztlich eine Mutter Trost in der Erkenntnis finden zu lassen, ihr Sohn sei für das Volk gestorben – die Analogie zur christlichen Gestalt der Mutter Gottes und ihrem Sohn Jesus, der den Opfertod zur Erlösung der Menschheit erleidet, ist unübersehbar. Die Mutter wird dabei stets als eigentümlich isoliertes Wesen dargestellt, sie verfügt über kein unmittelbares soziales Umfeld, das an ihrem Leben teilhat. Eine soziale Interaktion wird erst durch den Lautsprecher geschaffen, der eine wesenhafte Aura erhält und über den die ›Volksgemeinschaft‹ in die häusliche Stube der Mutter kommt, wodurch ihrem Leiden ein Sinn verliehen wird. Gute Nacht Mutter (Musik: Werner Bochmann, Text: Erwin Lehnow) Gute Nacht Mutter, gute Nacht, Hast an mich jede Stunde gedacht. Hast dich gesorgt, gequält, Um deinen Jungen, Hast ihn des Abends Beim Schlaf nicht versungen. Gute Nacht Mutter, gute Nacht, Hab dir Kummer und Sorgen gemacht. Du hast verziehen mir, Du hast gewacht, Gute Nacht Mutter, gute Nacht.

54 | Letzter Aufruf 8.4.2011 55 | BA R55/696, S. 108, zit. nach Koch, Das Wunschkonzert, S. 295f.

U ND JEDEN A BEND L ILI M ARLEEN

Welche Funktion erfüllte die Sentimentalität? Emotionen wurden forciert erzeugt, überwältigende Gefühle in vielerlei Hinsicht produziert: Rührung, Hass, Härte, Gnadenlosigkeit – und dazu die ›richtigen‹ Reaktionsmuster angeboten, Verhaltensformeln geliefert, die den systemkonformen Umgang mit diesen Überwältigungen vorgaben. Emotionales Ausgeliefertsein wurde permanent hervorgerufen, um Gefügigkeit und Lenkbarkeit entstehen zu lassen; als Rückversicherung diente das Aufgehobensein in der ›Volksgemeinschaft‹. Auch die harten und unerschrockenen Soldaten durften sentimentale Gefühle haben, Sehnsucht und Heimweh spüren und Gute Nacht Mutter hören wollen. Der Topos der harten Soldaten, deren Gesichtszüge bei Musik plötzlich weich werden und deren Augen einen sanften Glanz erhalten, kehrte als eines der gängigen Versatzstücke ebenfalls in zahlreichen manipulierten O-Tönen von Truppenbetreuungsberichten wieder und half, den Emotionshaushalt der Soldaten zu modellieren.

D AS W EIBLICHE Viele nationalsozialistische Verlautbarungen durchzieht ein seltsam überhöhtes Bild der ›deutschen Frau‹, das formelhaft mit stereotypen Wendungen arbeitet. Die Klischees machen auch vor den Auftritten von Frauen im Rahmen der Truppenbetreuung nicht halt. So berichtete angeblich eine bekannte Schauspielerin (deren Name allerdings verschwiegen wird): Gestern abend hielt uns ein Major vor Beginn unseres Spiels eine Rede: »[…] Sie kommen zu uns, geschickt vom Führer. Sie sind die Brücke zur Heimat. Sie vertreiben durch Ihre Kunst, durch Ihr bloßes Hiersein Untugenden, die unwillkürlich bei diesem Leben vorkommen. […] Sie wissen nicht, was es für uns bedeutet, wieder eine deutsche Frau zu sehen und zu sprechen. Und vor dieser deutschen Frau wird unsere Achtung und Ehrfurcht immer größer, je mehr wir die Französinnen kennenlernen. Seien Sie sich der großen Aufgabe bewußt, die Sie hier im Feindesland für unsere Soldaten zu erfüllen haben.« 56

Den gleichen Duktus weist ein Bericht im Völkischen Beobachter über eine Lazarett-Vorstellung auf. Unter der Überschrift »Frauenanmut und Männerlachen: die beste Medizin« ist von »Leuchtbomben der Scherze der Humoristen« und »ungeheuren Explosionen der Heiterkeit« die Rede. Weiter heißt es: »Plötzlich tritt das schöne Leben in Gestalt einer lachenden, singenden, blonden Frau im Tanzschritt vor und unter sie. Welche Sensation! […] Eine große Offenbarung

56 | Holzapfel, Krieg, S. 4.

141

142

H EIKE F REY

des Daseins.«57 Der sich zunächst soldatisch vertrauter Phänomene wie Leuchtbomben und Explosionen bedienende Text kippt mit der Erwähnung einer Frau in einen weihevoll-entrückten Ton. Dem gegenüber stehen Berichte von Wehrmachtsangehörigen, die im Verlauf des Kriegs durchaus ein anderes Bild der Truppenbetreuung aufzeigten und ausdrücklich Zweifel artikulierten, ob die Frontbühnen dem deutschen Soldaten wirklich einleuchtend vor Augen führten, dass er auch zur Verteidigung der deutschen Kultur angetreten sei.58 Oberarzt Dr. Walther Kammerer schrieb 1943 aus Russland an das OKW über den sittlichen Tiefstand der Frontbühnen: Gewiß wollen wir alle hier draußen Zerstreuung, aber eine wohltuende, keine schmutzige. Schicken Sie deshalb lieber eine gute Truppe statt drei schlechte. […] Wir Deutschen haben seit unserer frühesten Geschichte eine ganz natürliche, aber bewußt strenge Einstellung zu allem Weiblichen gehabt. […] Die soll man uns nicht nehmen. Sonst führt das zum Volkstod. Siehe Frankreich!59

Ein anderer Offizier meldete im Mai 1943: »Das Programm bestritten, neben dem Ansager, dem Klavierspieler und einer fragwürdigen Tänzerin, mehrere ›Sängerinnen‹ – eine immer gemeiner, ordinärer, zynischer als die andere, sowohl im Text des Gebotenen, wie im Tonfall.«60 Die Klagen vor allem über die Qualität der KdF-Gruppen häuften sich, was am 20. Juli 1944 zu einem Erlass Joseph Goebbels’ führte: Verschiedene Vorkommnisse in letzter Zeit haben gezeigt, daß die selbstverständlichen Grundsätze innerer Sauberkeit bei Darbietungen kabarettistischer Art und bei der Programmgestaltung sog. bunter Abende vielfach nicht eingehalten werden. Das gibt mir Veranlassung, mit aller Schärfe darauf hinzuweisen, daß besonders bei Veranstaltungen der Truppen- und Volksbetreuung ein Absinken des Niveaus in die Bezirke sexueller Geschmacklosigkeiten und ordinärer Zoten keinesfalls geduldet werden kann. 61

Ilse Werner erzählt in ihren Lebenserinnerungen,62 wie sie von Soldaten angehimmelt und artig um Autogramme gebeten wurde. Weniger Prominente waren vermutlich stärkeren Zudringlichkeiten ausgesetzt. Es dürfte für die in 57 | Bericht im Völkischen Beobachter Anfang 1941, zit. nach Murmann, Komödianten, S. 141. 58 | Vgl. Murmann, Komödianten, S. 223. 59 | Zit. nach ebd., S. 224. 60 | Zit. nach Hirt, Die deutsche Truppenbetreuung, S. 430. 61 | Erlaß des Präsidenten der Reichskulturkammer, BAB, R 56 I/37, zit. nach Kolland, Faust, S. 43; vgl. auch Murmann, Komödianten, S. 230. 62 | Ilse Werner, Ich über mich, Berlin 1943; dies., So wird’s nie wieder sein.

U ND JEDEN A BEND L ILI M ARLEEN

der Truppenbetreuung tätigen Frauen ein ständiger Zwiespalt gewesen sein, einerseits mit ihren Darbietungen für den erwünschten erotischen Reiz sorgen zu sollen, andererseits sich der Begehrlichkeiten nach Ende der Vorstellung zu erwehren. Auf entsprechende Vorkommnisse reagierte das Oberkommando der Marine mit der Anordnung, geselliges Beisammensein mit den in der Truppenbetreuung eingesetzten Zivilisten, insbesondere Frauen, sei lediglich im direkten Anschluss an eine Veranstaltung erlaubt, und dies nur unter Einbeziehung auch der männlichen Künstler, damit, wie es zur Begründung hieß, der Korpsgeist der KdF-Gruppen nicht unterminiert werde.63 Daneben sorgte das Privileg der höheren Dienstränge, die Ensembles in die ihnen vorbehaltenen Offizierskasinos einzuladen, für Unmut bei den einfachen Soldaten. Lale Andersen schildert in ihren Lebenserinnerungen Der Himmel hat viele Farben ein Gelage, das mit Offizieren nach einem Auftritt der exklusiv besetzten »Berliner Künstlerfahrten« im April 1942 stattfand.64 1941 klagten einige Wehrmachthelferinnen in Briefen an ihre Eltern über die Zudringlichkeiten von Piloten der Luftwaffe. Die jungen Frauen würden zu Kasinoabenden befohlen, bei denen sich betrunkene Offiziere »wie ein barbarischer Sauhaufen« aufführten. Obwohl die Mehrzahl der Männer »wie Fuhrknechte« tanze, würden die Frauen immer wieder von ihnen aufgefordert, wobei sich die Offiziere »wie brünstige Stiere«65 benähmen. Das OKW verbot daraufhin die Teilnahme von Wehrmachthelferinnen bei Abendunterhaltungen, reagierte ansonsten aber voller Verständnis für die Amüsierbedürfnisse der Kampfflieger und kommentierte den Erlass in einem internen Vermerk: Unsere Offiziere, die täglich ihr Leben für die Zukunft des Deutschen Volkes einsetzen, dürfen nicht in die Lage gebracht werden, dass jede verständnislose Gans sie in so entwürdigender Weise kritisiert. Kein Mensch kann verlangen, dass sich einsatzbereite und erfolgreiche Krieger in den kurzen Kampfpausen und in den wenigen Stunden der Entspannung jedem verwöhnten Backfisch gegenüber als Tanzdielenkavalier aufspielen. […] es wird deshalb notwendig sein, Mädchen aus dem täglichen geselligen Verkehr unserer Wehrmacht überall dort auszuschließen, wo ihre Anwesenheit nicht unbedingt erforderlich ist.66

63 | BA-MA, RH 19-III/490, fol. 277, zit. nach Vossler, Propaganda, S. 346f. 64 | Andersen, Der Himmel hat viele Farben, S. 255f. 65 | Franz-W. Seidler, Frauen zu den Waffen? Marketenderinnen, Helferinnen, Soldatinnen, Bonn 1998, S. 144. 66 | OKW Teilnahme von Nachrichtenhelferinnen an Kasinoabenden, 6.6.1941. (Militärgeschichtliches Forschungsamt MGFS/DL LIII 114 OKW 589/41g AWA/W Allg (II)), zit. nach Ursula von Gersdorff, Frauen im Kriegsdienst 1914-1945 (= Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, 11), Stuttgart 1969, S. 334.

143

144

H EIKE F REY

Entgegen dem Nimbus der Wehrmacht als einer puren Männerwelt gab es neben Krankenschwestern in den Lazaretten eine im Verlauf des Krieges beständig zunehmende Anzahl von Wehrmachthelferinnen, gegen Kriegsende 1945 waren es 450.000.67 Sie verblieben immer im offiziellen Status von Helferinnen, egal wie qualifiziert die Tätigkeiten waren, die sie ausübten. Diese Begrifflichkeit suggerierte, es handele sich um unprofessionelle, vorübergehende, die ›Taten‹ der Männer flankierende Aktivitäten.68 Frauen arbeiteten in der gesamten Militärverwaltung, in den Schreibstuben, im Nachrichtendienst als Telefonistinnen und Funkerinnen, als Flakhelferinnen in der Luftverteidigung, als flugtechnisches Personal, Werfthelferinnen und Kraftfahrerinnen. In immer mehr Bereichen und Funktionen wurden die dort tätigen Männer an die Front abkommandiert und durch Frauen ersetzt, genau so wie in vielen Bereichen von Industrie, Handwerk, Waffen- und Munitionsproduktion. Damit befand sich die politische Führung in eklatantem Widerspruch zur eigenen Ideologie der Rolle von Frauen im nationalsozialistischen Staat. Die Reichsregierung hielt es daher für geboten, am 1. Januar 1941 eine »vertrauliche Information für die Presse« zur »Behandlung des Fraueneinsatzes« herauszugeben: Aus gegebenem Anlaß wird erneut darauf hingewiesen, dass bei Veröffentlichungen über den Fraueneinsatz in Handwerk und Industrie keinesfalls der Eindruck erweckt werden darf, als ob die Frauen im Krieg schwerste körperliche Arbeit anstelle von Männern verrichten oder etwa nach kurzer Anlaufzeit Berufstätigkeiten beherrschen, für die ein Mann eine lange Ausbildungszeit braucht. 69

Frauen, die im militärischen Umfeld agierten, standen unter dem Generalverdacht der Prostitution, auch die Wehrmachthelferinnen wurden mit Bezeichnungen wie »Offiziersmatratzen«, »Soldatenflittchen«, »Blitzhuren«70 verleumdet. Desgleichen sahen sich Künstlerinnen – vor allem Unterhaltungskünstlerinnen und Schauspielerinnen – diesem pauschalen Verdikt ausgesetzt; die Klischees der Bänkelsängerin, Harfenmädchen und Wanderschauspielerin sind in Reliktformen nach wie vor virulent. In der männlich bestimmten Welt des Militärs verkörperten Frauen eine Gegenwelt; eine ähnliche Position nahmen Künstlerinnen gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft ein, als ›öffentli67 | Seidler, Frauen, S. 53. 68 | Vgl. Nicole Kramer, Krieg und Partizipation. »Volksgenossinnen« in den NS-Frauenorganisationen, in: Christine Hikel, Nicole Kramer und Elisabeth Zellmer (Hg.), Lieschen Müller wird politisch. Geschlecht, Staat und Partizipation, München 2009, S. 7384, hier S. 78. 69 | BA Koblenz Slg. Oberheitmann vom 1.1.-28.2.1941 ZSg 109/18, zit. nach Gersdorff, Frauen im Kriegsdienst 1914-1945, S. 324. 70 | Ebd., S. 141.

U ND JEDEN A BEND L ILI M ARLEEN

che‹ Frauen beschränkten sie sich nicht auf den ihnen als naturgemäß zugewiesenen Bereich des Privaten. Im Setting der Truppenbetreuung erhielt dieses Andere eine zusätzliche Spannung, wenn Frauen zur Unterhaltung und Ablenkung der Soldaten auftraten. Zugleich bedeutete ihre Anwesenheit an der Front eine Verheißung auf das Leben nach dem Ende des Kriegs. In Nordafrika verzichtete General Erwin Rommel zur Unterhaltung der Truppen auf die Mitwirkung von Frauen, er forderte stattdessen »Männer, die möglichst gedient haben, charakter- und tropenfest sind«. Für Frauen erachtete er der Einsatz als zu anstrengend und darüber hinaus aus »psychologischen Gründen« für untauglich, wirkten sie in der Truppenbetreuung doch »wie ein Glas Wein in der Wüste, das man nicht trinken, sondern nur ansehen darf«71 .

D AS P HÄNOMEN L ILI M ARLEEN »Liebe Lili Marleen, ich bin 24 Jahre alt, seit ein paar Monaten kämpfe ich in Rußland. Ihr Lied habe ich sehr oft gehört, bevor ich an die Front kam. Gestern fiel mein bester Kamerad. Ehe er starb, bat er, ihm noch einmal ›Lili Marleen‹ vorzusingen.«72 So zitiert Litta Magnus-Andersen, die Tochter Lale Andersens, den Brief eines Verehrers an die Sängerin. Die Künstlerin selbst notierte Ende 1942 nach einem Lazarettauftritt in ihrem Tagebuch: »Aus meinem Besuch bei den Verwundeten wird ein wahres Fest. Es ist erschütternd, welche Dankbarkeit, Liebe und leuchtenden Augen die Soldaten für den Begriff ›Lili Marleen‹ zeigen.«73 Das Lied, und mit ihm seine Interpretin, verdanken ihre erstaunliche Berühmtheit dem Soldatensender Belgrad. Im April 1941 richtete eine Gruppe junger Soldaten, im Zivilberuf experimentierfreudige Rundfunkleute, um den Sendeleiter Karl-Heinz Reintgen im besetzten Belgrad eine Rundfunkstation ein. Dieser Sender war ungemein populär, die Macher trafen mit aktueller Unterhaltungsmusik und passgenauen Moderationen den Geschmack der Soldaten. Zudem besaß der Sender eine enorme Reichweite und konnte von Norwegen bis Nordafrika, von Frankreich bis Russland empfangen werden. Die Anfänge des Senders waren bescheiden; man verfügte zunächst nur über eine schmale Kiste, in der sich vom Wiener Rundfunk ausgemusterte Schallplatten befanden. Hiermit wurden die musikalischen Programmteile bestritten. Darunter befand sich auch Lale Andersens Aufnahme Lili Marleen. Das Lied – jede vor71 | Zit. nach Murmann, Komödianten, S. 152f. 72 | Litta Magnus-Andersen, Lale Andersen – die Lili Marleen. Das Lebensbild einer Künstlerin. Mit Auszügen aus bisher unveröffentlichten Tagebüchern, München 1981, S. 149. 73 | Ebd., S. 174.

145

146

H EIKE F REY

handene Platte musste ungefähr dreimal täglich gespielt werden – wurde wegen des von einer Solo-Trompete intonierten Zapfenstreich-Intros bevorzugt zum Sendeschluss gegen 22 Uhr gebracht. Als einige Wochen später endlich Schallplatten-Nachschub beim Sender eintraf, setzte man den Titel ab (die Platten waren bereits arg mitgenommen), sah sich aber binnen weniger Tage von einer Flut an Feldpostbriefen überrollt. Die Einsender verlangten vehement nach Lili Marleen. Daraufhin entwickelte der Programmleiter ein Format, bei dem allabendlich Grußbotschaften verlesen wurden und als krönender Abschluss Lili Marleen erklang. Bis zu dem Zeitpunkt war Lale Andersen (1905-1972) eine mittelmäßig erfolgreiche Sängerin, die sich von Engagement zu Engagement auf Kleinkunstund Kabarettbühnen im gesamten deutschsprachigen Raum hangelte. Gebürtig aus Bremerhaven, pflegte sie vor allem ein Repertoire mit Liedern von der Waterkant. Auf der Suche nach geeigneten Texten stieß sie auf eine Sammlung von Seemannsliedern des Hamburger Schriftstellers Hans Leips, 1937 unter dem Titel Die kleine Hafenorgel herausgegeben. Der Band enthielt auch den Lili Marleen-Text, den Leip als junger Soldat im Ersten Weltkrieg 1915 geschrieben hatte. Andersen sang das Lied zunächst in einer Vertonung des Münchner Chansonkomponisten Rudolf Zink, 1939 bot Norbert Schultze, der übrigens auch das Marschlied Bomben auf Engeland komponierte, ihr seine Fassung an, die sie im selben Jahr unter dem Titel Lied eines jungen Wachtpostens im Studio aufnahm. Die Verkaufszahlen der Platte waren zunächst gering und auch im Berliner Kabarett der Komiker oder bei anderen Engagements geriet das Publikum ob dieses Lieds nicht aus dem Häuschen. Umso bemerkenswerter ist der sich gleichsam pandemisch ausbreitende Erfolg, den Lili Marleen von Belgrad ausgehend ab Mitte 1941 erfuhr. Das Lied war in der Medienlandschaft des NS-Staats 1941/42 omnipräsent, es erklang nicht nur jeden Abend im Belgrader Soldatensender, sondern wurde auch täglich dutzendfach in den verschiedenen deutschen Rundfunkanstalten gespielt.74 Zwischen den verschiedenen Truppenteilen der Wehrmacht entbrannten Rivalitäten, sowohl die Ostfront als auch das Nordafrika-Korps reklamierten jeweils, es handele sich um ›ihr‹ Lied. So beschrieb Ende 1941 der Kriegsberichterstatter Robert Oberhauser in der Zeitschrift Reichsrundfunk75 das Phänomen »Lili Marleen« als »Das Lied der deutschen Soldaten in der Sowjetunion«: Es kam fast über Nacht. Niemand wusste recht, wie es zuging. Eines Tages war es jedenfalls so weit. An der fast dreitausend Kilometer langen Front summte, pfiff und sang die ganze Truppe plötzlich ein und dasselbe Lied. […] Am Abend saßen wir alle um den Laut74 | Protte, Mythos »Lili Marleen«, S. 372. 75 | Reichsrundfunk 20 (1941/42), 21.12.1941.

U ND JEDEN A BEND L ILI M ARLEEN sprecher. […] Sofort nach den ersten Tönen waren wir gefangen. Es wurde still, muksmäuschenstill [sic!]. Wir bekamen Herzklopfen vor Aufregung. […] Die Stimme der Frau, die uns dieses Lied sang, machte uns weich wie Butter. Waren das die rauhen Krieger, die in diesem entsetzlichen Land nichts mehr erschüttern konnte? […] Jeder weiß aber: das ist das Lied, auf das wir so lange gewartet haben. Das ist das Lied der Ostfront. […] Das Lied kam im richtigen Augenblick. Es macht alles leichter. Es schafft den Ausgleich zu all dem Grauen um uns her. Kein Lied hätte uns so die Heimat nahe bringen können wie Lili Marleen. Schon gehen unzählige Briefe an die Frau, die Braut, den Schatz: Hört am Abend Lili Marleen! Auch ich werde am Lautsprecher sein, und wenn ich noch so weit laufen müsste.76

Die Begeisterung nahm nachgerade sakrale Formen an: »Das Lied erklingt, und uns geschehen Wunder. Man merkt deutlich, wie sich die Gesichtszüge der rauen Krieger zu einem heimlichen Lächeln verklären. […] Das Lied war für sie das Nachtgebet.«77 Die Soldaten des Afrikafeldzugs beanspruchten ein Vorzugsrecht, da in Nordafrika das Lili Marleen-Fieber als erstes auf die gegnerischen Truppen übergegriffen hatte. Jeden Abend gegen 22 Uhr herrschte strikte Waffenruhe; es sei eine unausgesprochene Übereinkunft gewesen, zur Sendezeit von Lili Marleen sämtliche Kampfhandlungen einzustellen, denn auch die gegnerischen Truppen wollten in den ungetrübten Genuss des Lieds kommen.78 Nach dem Selbstverständnis der beiden Befehlshaber Erwin Rommel und Bernard Montgomery wurde in Nordafrika a gentleman’s war geführt – diese Vorstellung vom sauberen, fairen Kampf im Gegensatz zum rassistisch motivierten Vernichtungskrieg in Osteuropa ging eine enge Verbindung mit der Lili Marleen-Glorifizierung ein. Das von nationalsozialistischer Propaganda gern bemühte Bild der Brücke zwischen Heimat und Front manifestierte sich im rituellen allabendlichen Hören von Lili Marleen freilich auf ideologisch eher unerwünschte Weise. Joseph Goebbels missfiel das Lied – im Gegensatz zu Adolf Hitler –, er kritisierte es als sentimental und unheroisch. Als Kristallisationspunkt von Wünschen und Sehnsüchten bei Freund und Feind, Männern und Frauen stellte es ein Moment der Selbstbehauptung gegenüber staatlicher Doktrin dar. Auch aufgrund gravierender Probleme, die Lale Andersen mit dem NS-Regime hatte (ihr wurde wegen enger Kontakte zu dem in die Schweiz emigrierten Komponisten Rolf Liebermann »Landesverrat« und »undeutsches Verhalten« vorgeworfen), und die Auftritts- sowie Sendeverbote nach sich zogen, erwuchs dem Lied der Hauch 76 | Zit. nach Protte, Mythos »Lili Marleen«, S. 369. 77 | Ebd., S. 370; Schreiben einer Waffen-SS-Einheit von der Ostfront in der Jubiläumsschrift Ein Jahr Soldatensender Belgrad (= Schriftenreihe der Prop.Abt. »Südost«, Stadt und Veste Belgrad, 3), Belgrad [1942]. 78 | Ebd., S. 378.

147

148

H EIKE F REY

einer widerständigen Aura. Dieser Nimbus wurde noch dadurch verstärkt, dass Lili Marleen durch den Belgrader Sender berühmt wurde. Soldatensender unterstanden den Propagandakompanien des OKW und nicht, wie der Reichsrundfunk, dem Goebbels’schen Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda, sie erlaubten sich Sonderrechte und ignorierten Weisungen aus dem ProMi. Nach der Niederlage bei Stalingrad verbot Joseph Goebbels etliche Lieder und Schlager, übrigens auch Es geht alles vorüber. Der Soldatensender Belgrad, dem es andere Soldatensender gleichtaten, machte aber weiterhin teilweise mit indizierten Titeln sowie angelsächsisch und amerikanisch beeinflusster Tanz- und Unterhaltungsmusik ein Programm, das bei den Soldaten gefragt war. »Entgegen der Entscheidung des Ministers tingelt die Mehrzahl dieser Sender hot, hotter, am hottesten in der Gegend herum«79, schrieb der erboste Hans Hinkel im Sommer 1943 in einer Notiz. Der Belgrader Sender ignorierte sogar nach kurzer Zeit das Sendeverbot von Lale Andersens Lili Marleen-Version; die zuständigen Mitarbeiter waren sich einig, die zahlreichen anderen auf den Markt gelangten Interpretationen reichten an das Original nicht heran.80 Lili Marleen war das Lied des Zweiten Weltkriegs schlechthin, dem auch rückblickend eine einzigartige Stellung im Gedächtnis der Kriegsgeneration zukommt.81 Für viele Menschen nahm es existenzielle Bedeutung an, es wurde – gerade auch durch das ritualisierte gemeinsame Hören über große Entfernungen hinweg – zur Chiffre für Gefühle wie Verbundenheit, Angst, Ohnmacht, Liebe, Erinnerung an vergangenes Glück und Hoffnung auf ein Wiedersehen. Der Text, der zwischen Erinnerung und Vision changiert, evoziert eine wehmütige Atmosphäre, deren eigentümlicher Schwebezustand dadurch noch verstärkt wird, dass eine Frau die Worte des männlichen lyrischen Ich singt. Diese Vertauschung der Geschlechterrollen trug entscheidend zu dem Erfolg bei, ein männlicher Interpret hätte die Fantasien von Sehnsucht und Hoffnung nicht so inspiriert. Es bot – gerade auch angesichts der forcierten Gemeinschaft, die die Wehrmacht pflegte – eine Rückzugsmöglichkeit in eine eigene, private Gefühlswelt. Lale Andersen bringt das Lied als Sprechgesang, ihre Stimme ist ohne Vibrato und weist keine Operettenhaftigkeit auf. Diese unprätentiöse Diktion bewirkt beim Zuhören eine unmittelbare Nähe. Zusätzlich war Andersen unbekannt genug, um in ihrem Rollentyp nicht festgelegt zu sein, die Assoziationen des Publikums waren noch nicht vorgeprägt. Die Stimmung von Entrücktheit greifen in seltsamer Einmütigkeit auch die beiden Urheber des Lieds auf. In auffallender Parallelität beschwören sie trancehafte Zustände, wenn sie sich der Entstehung von Lili Marleen entsinnen 79 | Zit. nach Murmann, Komödianten, S. 253. 80 | Vgl. Andersen, Der Himmel hat viele Farben, S. 345. 81 | Vgl. dazu auch Wilhelm Schepping, Lili Marleen. Eine denkwürdige Liedbiographie, in: Stambolis, Reulecke (Hg.), Good-bye memories?, Essen 2007, S. 199-242.

U ND JEDEN A BEND L ILI M ARLEEN

und verlängern so die Aura, die dem Lied während des Zweiten Weltkriegs zuwuchs, retrospektiv um eine mythische Schöpfungssituation. In seinen Memoiren schildert Hans Leip seine Situation als junger Soldat 1915: Plötzlich war mir gewiß, ich würde heimkehren, und sei es nur als Wiedergänger, der uns an der Küste vertraut ist. Wie von selber formte sich da Vers an Vers und schrieb sich musiziert in den Spiegelglanz des Asphalts. Und nach mechanischer Ableistung der Vergatterung von meinem Posten erlöst, begann ich’s noch stehend ins Notizbuch zu kritzeln und setzte es auf der Pritsche des Wachlokals fort, und es war später daran nichts zu ändern und blieb, wie es entstanden war. 82

Der Gedichtband mit den Lili Marleen-Versen geriet im November 1938 zufällig in Schultzes Hände: Ich blättere drin und lese … und vergesse alsbald die Kameraden ringsum und den »Groschenkeller« und spüre den Duft von Meer und Häfen, von Schiffen und Wind und bin bezaubert vom Rhythmus dieser Sprache, von der Form der Gedichte… Während die anderen weitersprechen, lachen und erzählen, bin ich schon am Klavier und spiele ohne langes Nachdenken so vor mich hin eine kleine, ganz einfache Melodie. 83

Die Begeisterung sämtlicher Truppen für Lili Marleen verursachte den Alliierten erhebliches Kopfzerbrechen, umfangreiche Artikel und Memoranden auf beiden Seiten des Atlantiks diskutierten die Alternativen das Lied zu verbieten oder durch Adaption zu vereinnahmen.84 So schaltete sich der als Kriegskorrespondent tätige John Steinbeck in die Debatte ein und votierte vehement gegen ein Verbot des Lieds: There is nothing you can do about a song like this except to let it go. […] It is to be expected that some groups in America will attack »Lilli« first on the ground that she is an enemy alien, and second because she is no better than she should be. Such attacks will have little effect. »Lilli« is immortal. Her simple desire to meet a brigadier is hardly a German copyright. Politics may be dominated and nationalised, but songs have a way of leaping boundaries. And it would be amusing if, after all the fuss and heiling, all the

82 | Hans Leip, Das Tanzrad oder die Lust und Mühe eines Daseins, Frankfurt a.M., Wien 1979, S. 79, zit. nach Koch, Das Wunschkonzert, S. 297. 83 | Norbert Schultze, Mit dir, Lili Marleen. Die Lebenserinnerungen des Komponisten Norbert Schultze, Zürich, Mainz 1995, S. 59. 84 | F. G. H. Salisberry, Lili Captures the Eigth Army, in: Daily Herald, 25.5.1942, zit. nach Protte, Mythos »Lili Marleen«, S. 378f.; interner Bericht der BBC v. 11.6.1943, ebd., S. 381f.

149

150

H EIKE F REY marching and indoctrination, the only contribution to the world by the Nazis were – »Lilli Marlene«. 85

Nach reiflicher Überlegung entschied man sich für eine englischsprachige Interpretation, die der Sängerin Anne Shelton so vortrefflich gelang, dass nicht wenige Briten nach kurzer Zeit meinten, das Lied sei originär englisch. Eine besonders enge Verbindung zu Lili Marleen entstand für Marlene Dietrich. Die deutsche Filmschauspielerin, 1930 nach Hollywood gegangen, nahm als entschiedene Gegnerin der NS-Herrschaft 1937 die amerikanische Staatsbürgerschaft an und engagierte sich stark in der Truppenbetreuung. 1943 brachte sie ihre eigene amerikanische Lili Marlene-Version heraus und sang sie vor den GIs an allen Frontabschnitten der US-Army. Aufgrund der Namensgleichheit und der zufälligen Ähnlichkeit mit zwei ihrer Filmrollen – der Lola aus Der blaue Engel sowie der Lily in Shanghai Express – funktionierte die Identifikation mit dem Lied hervorragend, und nicht zuletzt verstärkte der von ihr kreierte und in dezidierter Weise gepflegte Stil des Crossdressings den Eindruck, Lili Marleen sei eigens für sie geschrieben. Auch die Bundeswehr pflegt Lili Marleen: 1991 wurde das Lied in das Liederbuch für Soldaten aufgenommen und seit 1995 erklingt es jeden Abend um 21.57 Uhr bei Radio Andernach, dem Soldatensender der Bundeswehr, in der Fassung mit Lale Andersen.

85 | John Steinbeck, The alien they couldn’t intern, in: Daily Express, 10.7.1943, zit. nach Protte, Mythos »Lili Marleen«, S. 382.

Frau – Militär – Musik Darstellungen und Interpretationen im Spielfilm Linda Maria Koldau

Der Militärmusikdienst der Bundeswehr bietet Frauen seit geraumer Zeit berufliche Möglichkeiten: Längst ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Frauen ihre Ausbildung im Rahmen des Militärmusikdienstes machen und, in unterschiedlichen militärischen Rängen, eine Anstellung in den Musikkorps der verschiedenen Einheiten finden. Im Vergleich zu anderen musikalischen Institutionen bietet dieser Dienst sogar einen besonderen Vorteil: Der Musikdienst der Bundeswehr dürfte die einzige Organisation von Orchestermusikern in Deutschland sein, die gute Bedingungen für Ehepartner und Familien schafft. Angesichts der grundsätzlichen Familienproblematik im Berufsfeld Soldat/Soldatin ist dies ein bemerkenswerter Umstand.1 Musikerinnen, die gleichzeitig Soldatinnen sind, gehören somit zum normalen Bild gegenwärtiger deutscher Militärmusik, und auch in anderen Ländern haben Frauen längst Eingang in die militärischen Musikkorps gefunden. Im Spielfilm dagegen spielen Musiksoldatinnen – nach gegenwärtigem Erkenntnisstand – bislang keine Rolle. Zwar wird, insbesondere in US-amerikanischen Filmen, gerne mit dem Motiv des weiblichen Soldaten gespielt; das Musikkorps bleibt dabei jedoch ausgespart. Zu vermuten ist, dass dieser Bereich zu geringe Möglichkeiten der motivischen Spannung Frau – Militär beziehungsweise Frau – Kriegsdienst bietet. Interessanter scheint die Frage, wie sich Frauen in der männlichen codierten Umgebung von militärischer Grundausbildung, Waffengebrauch und Kampfeinsatz zurechtfinden und welche Auswirkungen diese Umgebung auf ihre Selbstdefinition als Frau hat. Da das Musikkorps innerhalb der Militärwelt grundlegend andere Funktionen hat als die verschiedenen Kampfeinheiten, ist die geschlechterbedingte Spannung stark reduziert; für 1 | Fkpt. Manfred Peter, damals Leiter des Marinemusikkorps Ostsee, betonte in einem Interview am 28.3.2007, dass bei Versetzungen im Musikdienst der Bundeswehr darauf geachtet wird, Ehepartner im gleichen Korps unterzubringen, um so »Pendel-Ehen« zu vermeiden.

152

L INDA M ARIA K OLDAU

eine filmische Thematisierung des Motivs »Frau in männlich codiertem Kontext« bieten andere militärische Settings eine überzeugendere Grundlage. Mangels empirischen Materials wird die Fragestellung im Folgenden verlagert. Das Dreieck »Frau – Militär – Musik« wird nicht anhand einer Thematisierung von Musiksoldatinnen im Spielfilm untersucht, vielmehr geht es um die Frage, wie Frauen im Spielfilm als Soldatinnen dargestellt werden und inwiefern die Filmmusik dazu beiträgt, Frauen beziehungsweise weiblich konnotierte Charakterzüge innerhalb eines militärischen Kontextes zu verkörpern. Grundlage der Untersuchung ist die umfassende Arbeit mit U-Boot-Filmen und ihren Rollenstereotypen; diskutiert wird die Problematik im Folgenden anhand zweier repräsentativer U-Boot-Filme, der Komödie Operation Petticoat (1959) und des Films Das Boot (1981).2

S OLDATINNEN ALS » STÖRENDES E LEMENT« IN K RIEGSFILMEN Grundsätzlich ist die Frage nach der Genderdarstellung in U-Boot-Filmen an die Genderkonstruktion in Kriegsfilmen gebunden. Obwohl U-Boot-Filme in vielerlei Hinsicht als ein eigenes Genre angesehen werden können, sind sie mit dem Kriegsfilm aufs Engste verbunden, da U-Boote überwiegend als militärische Einheiten in einem Kriegssetting dargestellt werden.3 Demgemäß ist die Cast in U-Boot-Filmen fast durchweg männlich. Bis in die jüngste Zeit war Frauen ein Dienst auf U-Booten verwehrt; in der US-Navy – und somit in dem Land, das in den letzten Jahrzehnten die meisten U-Boot-Filme produziert hat – sind bis heute keine Soldatinnen auf U-Booten zugelassen.4 Weibliche Soldaten in U-Boot-Filmen verlangen daher nach einer Spezialkonstruktion; in den meisten Fällen werden sie als »störendes Element« mit komischem Hintergrund eingesetzt. Ansonsten figurieren Frauen in U-Boot-Filmen primär als liebevolle Ehefrauen daheim oder als Sehnsuchtsobjekt weit weg vom Ort des Geschehens; gelegentlich spielen sie aktive Marinehelferinnen am Stützpunkt. An Bord treten sie nur in genrebedingten Ausnahmefällen auf: als aktive, meist täppisch-bezaubernde Soldatinnen in Komödien; der Horrorfilm Below (2002)

2 | Der U-Boot-Film als zentraler Beitrag zum U-Boot-Mythos des 20. und 21. Jahrhunderts ist umfassend dargestellt bei Linda Maria Koldau, Mythos U-Boot, Stuttgart 2010. Die folgende Diskussion greift einige Passagen aus diesem Buch auf und diskutiert sie neu unter der hier präsentierten Fragestellung. 3 | Zur Frage, inwiefern U-Boote als eigenes Filmgenre betrachtet werden können, vgl. Koldau, Mythos U-Boot, Kap. I.4. 4 | Das Gleiche gilt für die ehemals sowjetische, nun russische Marine, die in U-BootFilmen der letzten 20 Jahre ebenfalls eine wichtige Rolle spielt.

F RAU – M ILITÄR – M USIK

dagegen bietet eine kluge, intuitiv handelnde Heldin, der es gelingt, das Rätsel um das vom Geist des Kommandanten verfolgte U-Boot zu lüften.5 Eine Sonderrolle kommt Frauen in U-Boot-Actionfilmen zu, wo sie, dem Genre Action gemäß, gute und böse Kämpferinnen mit hohem Sexappeal darstellen. Die Frage nach Genderstereotypen und Genderkonstruktion in U-Boot-Filmen verweist auf grundlegende Strukturen des Kriegsfilms: […] two themes are central in war films: the theme of victory or defeat, and the theme of the integration or disintegration of a group of soldiers into a team. The first theme is ideological; the second is social. […] We can visualize the two themes as a diagram whose two axes ›map‹ the ideology of the war movie: Victory is based on the successful integration of individual soldiers into a team and not on a single heroic figure. Thus, values such as cooperation, duty, loyalty, respect, authority and team spirit replace the usual American lone wolf heroism. In their ›positive‹ outcome, the ideological themes form a war film where soldiers are integrated into a team and win the war, an endorsement of conservative nationalism and male bonding. In their ›negative‹ outcome, the two themes result in an anti-war movie: soldiers fail to become a team and the war is lost or portrayed as futile. […] War films show audiences the culturally constructed nature of nationalism, male identity, and men’s social roles. 6

Die Matrix für Genderkonstruktion in Kriegsfilmen wird durch Strukturen des »male bonding« und männlicher Selbstwahrnehmung sowie durch das Verhältnis zwischen hegemonialer Männlichkeit und unterdrückten Alternativformen von Männlichkeit konstituiert. In klassischen Kriegsfilmen dienen Frauen meist als Folie, um exklusiv männliche Tugenden hervorzuheben: Mut und Loyalität innerhalb einer männlichen Gemeinschaft werden komplementär ergänzt durch weibliche Wärme, die durch die amerikanische Frau als Mutter, Ehefrau oder Verlobte/Freundin personifiziert werden. Ihre Domäne ist die Familie, erotische Liebe (allerdings vor allem in der Fantasie oder Erinnerung der Soldaten) und, in selteneren Fällen, die professionelle Unterstützung in der Heimat. Alternativ zur Frau als Symbol für heimische Geborgenheit tritt die feindliche 5 | Einen weiteren Einzelfall bietet der Film Tides of War (USA 2005, deutscher Titel: Phantom Below), in dem die ansonsten an Land stationierte Lieutenant Commander Claire Trifoli (Catherine Dent) für eine bestimmte Mission an Bord eines U-Boots kommandiert wird. Ihr kommt zwar eine wichtige Rolle bei der Aufdeckung einer geheimgehaltenen Bedrohung zu, doch hat sie lediglich unterstützende Funktion; letzten Endes ist sie von der Tatkraft des Kommandanten Frank Habley (Adrian Paul) abhängig. 6 | Rikke Schubart, Super Bitches and Action Babes. The Female Hero, in: Popular Cinema, 1970-2006, Jefferson/N.C., London 2007, S. 250f., mit Verweis auf Kathryn Kane, The Word War II Combat Film, in: Wes D. Gehring (Hg.), Handbook of American Film Genres, Westport/Conn. 1988, S. 85-102, hier S. 93.

153

154

L INDA M ARIA K OLDAU

Frau auf, sei es die Prostituierte, die Guerilla-Kämpferin oder die Terroristin – drei Typen, die stets mit fataler erotischer Attraktivität gepaart sind und somit für das Urbild der Verführerin stehen. Abgesehen von diesen stützenden Rollen spielen Frauen in traditionellen Kriegsfilmen keine Rolle. Somit stimmt der oben skizzierte Befund für U-Boot-Filme mit der generellen Genderkonstruktion in Kriegsfilmen überein. In jüngeren Kriegsfilmen, die den Irak-Krieg und aktuelle Konflikte – mit dem realen Einsatz weiblicher Soldaten – thematisieren, zeichnet sich jedoch eine strukturelle Veränderung ab. Hier verlagert sich das grundlegende Thema von dem Koordinatensystem aus den Themen Sieg/Niederlage und männliche soziale Integration hin zu einer Fokussierung der Genderfrage: »The real enemy, however, does not come from abroad but from within. It is society’s male institutions and the real battle is with the gender boundaries separating men and women.«7 Trotz dieser Verlagerung der grundlegenden Problematik bestätigen und kodifizieren entsprechende Produktionen der 90er-Jahre, wie Courage Under Fire (1996), G.I. Jane (1997) oder A Soldier’s Sweetheart (1998), zuletzt den Status quo der Geschlechterverhältnisse im Kriegsfilm: Um zu überleben, müssen die Soldatinnen ihre weibliche Identität ablegen und sich psychisch wie physisch an eine durchweg männliche Lebenswelt anpassen (symbolisch das Aussetzen der Periode bei G.I. Jane Jordan als Folge ihres harten Trainings als SEAL). Sie müssen sich an den männlichen Kodex anpassen und ihn internalisieren – eine Anforderung ihrer soldatischen Existenz, die sie von vornherein zum Scheitern verurteilt, da die Soldatinnen, selbst wenn ihnen die Anpassung gelingt, in einen Konflikt der Genderkategorien geraten und dadurch das militärische System destabilisieren.8 Dies aber ist der grundlegende Vorwurf, der Frauen im militärischen Kontext gemacht wird: Auch die jüngeren Produktionen, die Frauen als (erfolgreiche) Soldatinnen in den Blick nehmen, kodifizieren letzten Endes die Ansicht, dass Frauen ein Störfaktor in der maskulinen Welt des Militärs sind. Einen klassischen Fall für die Darstellung von Soldatinnen als störendes Element bietet die bereits ältere amerikanische Komödie Operation Petticoat aus dem Jahr 1959 (Regie: Blake Edwards). Die genrebedingte Überzeichnung lässt die eigentliche Norm erkennen: Frauen sorgen im Kampfeinsatz nur für Unordnung. In Operation Petticoat ist diese Unordnung freilich liebenswert, stellt sie doch das eigentliche Kriegsgeschehen auf den Kopf und vermittelt somit augenzwinkernd die Botschaft, dass Liebe und Familiengründung wichtiger sind

7 | Schubart, Super Bitches, S. 255. Vgl. auch Thomas Doherty, Projections of War. Hollywood, American Culture, and World War II, New York 1993, S. 149-179; Michel T. Isenberg, War On Film. The American Cinema and World War I, 1914-1941, East Brunswick/N.J. 1981, S. 189-203. 8 | Vgl. Schubart, Super Bitches, S. 256-262.

F RAU – M ILITÄR – M USIK

als das Kriegsspiel der »großen Jungs« – eine Botschaft, die von der Filmmusik mit allen Mitteln unterstrichen wird. Nachdem es Commander Sherman (Cary Grant) wider aller Umstände gelungen ist, sein schwer beschädigtes U-Boot, die USS Sea Tiger, nach einem japanischen Flugzeugangriff auf den Stützpunkt Cavite (Philippinen) flottzumachen und in See zu stechen, um das Boot in eine Werft in Darwin zu überführen, überrascht ihn sein »Versorgungsoffizier« Lieutenant Holden (Tony Curtis) mit der Akquise von fünf attraktiven Krankenschwestern der US Army, die auf der Insel Marinduque gestrandet sind.9 Dass die fünf Frauen, die Sherman gezwungenermaßen aufnehmen muss, das I-Tüpfelchen bei der glücklosen Mission des geschundenen U-Boots darstellen, liegt auf der Hand. Das zeigt schon ihre Ankunft: Sherman schreibt in das Kriegstagebuch, dazu erklingen weiche Flöten und Harfengeflirre. Die sanfte Musik kippt um in einen verschmitzt hüpfenden Rhythmus, als der Tauchoffizier meldet, dass Holden zurückkommt – und zwar nicht allein. Die stereotypen Comedy-Elemente der Musik (Fagott, Klarinetten, gedämpfte Trompeten, gezupfte tiefe Streicher) steigern sich mit dem Blick durch das Fernglas: Ein Schlauchboot nähert sich der USS Sea Tiger, darin, so Sherman: »Frauen!« Erst mit diesem entsetzten Ausruf des Kommandanten endet die Musik, jetzt endlich erklingt der heraus gezögerte Schlussakkord: Die »Frauen« tragen als Teil der Musik unverzichtbar zur Komödie bei, die sich im Folgenden entfaltet. Was die Musik bei ihrer Ankunft prophezeit, wird nur zu schnell Realität. Mit den Frauen ist das Chaos an Bord perfekt – und im Mittelpunkt steht der arme Kommandant Sherman, der überall ordnen, besänftigen und schlichten soll, dabei aber selbst kaum den verschämt kokettierenden Annäherungsversuchen der ungewollt chaotischen Lieutenant Crandall (Joan O’Brien) entkommt. Natürlich finden sich im Laufe der Zeit die Pärchen: Versorgungsoffizier Holden entscheidet sich für die blonde Barbara (Dina Merrill) anstatt für seine schwerreiche Verlobte, Lieutenant Crandall stolpert – vorgeblich aus Versehen – an Kommandant Shermans Brust, und die anderen beiden weiblichen Lieutenants finden ebenfalls ihrer Partner in der U-Boot-Besatzung. Zentral für den satirischen Umgang mit traditionellen Genderrollen ist jedoch die sich allmäh9 | Nach diversen Zwischenfällen, bei denen das U-Boot u.a. mangels passender Farbe statt eines grauen einen rosa Schutzanstrich erhält, läuft die USS Sea Tiger schließlich in Darwin ein. Die Haupthandlung ist als Rückblende eingebettet in eine Rahmenhandlung viele Jahre nach dem Krieg: Sherman, inzwischen Konteradmiral der Navy, besucht die USS Sea Tiger ein letztes Mal, bevor sie von Holden, der mittlerweile sein eigenes Boot kommandiert, zur Verschrottung überführt wird. Die Handlung entspinnt sich aus Shermans Erinnerungen über dem Logbuch; zuletzt stellt sich heraus, dass beide Offiziere eben jene Damen geheiratet haben, mit denen sie schon auf dem rosa U-Boot mehr oder weniger freiwillig angebandelt hatten.

155

156

L INDA M ARIA K OLDAU

lich entwickelnde Beziehung zwischen Major Edna Hayward (Virginia Gregg) und dem Frauenhasser Tostin (Arthur O’Connell): Er, der jede Frau für eine gefährliche Schlange hält und Frauen auf keinen Fall in seinem Maschinenraum dulden will, lässt sich nach und nach von den Fähigkeiten der technisch hochbegabten Ingenieurstochter bestricken. Charakteristisch ist ihre erste Begegnung: Murrend duldet Tostin, in ölbefleckter blauer Arbeitskleidung an seinen Maschinen werkelnd, den weiblichen Eindringling, der – in einen sauberen Bademantel gekleidet und mit Lockenwicklern im Haar – mit Erlaubnis des Kommandanten im Maschinenraum die Nylonstrümpfe und Unterwäsche der Damen aufhängt. Das Klischee wird gewissermaßen im Holzschnitt präsentiert: Frau hängt Wäsche auf, Mann bastelt an Maschinen, Frau achtet auf Sauberkeit, Mann klopft dumme Sprüche – und dass Frauen nichts von Technik verstehen, ist ohnehin klar. Tostin denkt gar nicht daran, die Autorität der ranghöheren Soldatin anzuerkennen: »Vater Staat hat Sie zum Offizier gemacht, schön, aber für mich sind Sie eine Frau!« Erst, als sich die symbolbehängte Frau – Bademantel, Lockenwickler, Wäsche – durch ihre technische Kompetenz zunehmend der männlichen Spezies annähert, gewinnt sie allmählich seine Achtung. Dass sie pragmatisch und unkonventionell denkt, kann der sture Tostin zunächst nicht anerkennen, da ihre Lösungen nicht gerade der nüchternen männlichen Welt entsprechen – der elastische Hüfthalter, den Major Hayward kurzerhand als Ersatz für die fehlende Ventilfeder einsetzt, wirkt aber auch zu irritierend.10 Der Erfolg spricht freilich für Major Hayward – und wird bereits durch ihre neue, männliche Kleidung (Blue Jeans und ein Navy-Hemd) symbolisiert. Bei Major Hayward findet keine Wandlung statt, sondern bei Tostin, der sie zunehmend als einem Mann ebenbürtig betrachtet. Diese neue Sicht wird durch die männliche Kleidung erleichtert. Allmählich schmilzt Tostins Abwehr dahin, nach dem Neujahrsfest ertappt Sherman die beiden, als sie in leicht kompromittierender Haltung dicht beieinander auf dem Boden des engen Maschinenraums liegen, um auf Major Haywards Vorschlag die Ölpumpe umzubauen. Tostins Blick, als der Major hinauseilt und seine plötzlich wohlwollende Taxierung der funktionierenden Hüfthalter-Ventilfeder sprechen Bände. »Tolle Frau, diese Edna!« – Ein höheres Lob ist kaum denkbar. In der ungekürzten amerikanischen Version wird diese – in der deutschen Synchronisation nur angedeutete – Annäherung schließlich ausbuchstabiert: Während des Wasserbombenbeschusses sitzen Tostin und Hayward eng zusammengekauert im Maschinenraum. Gewissermaßen als Vermächtnis im Angesicht des Todes gesteht Tostin den Wandel seiner Gesinnung ein:

10 | Kommandant Sherman: »Es funktioniert doch!« – Maschinenmaat Tostin: »Ja, aber ich bin den ganzen Tag hier unten, und das Ding geht immer rauf und runter. Das ist unanständig!«

F RAU – M ILITÄR – M USIK Tostin: You know, I spent a lot of years disliking women. But I don’t dislike you. Hayward: Don’t you? Tostin: You’re different. You are not a woman. You’re more than that. You’re a mechanic! Hayward (gerührt): Thank you, Sam!

Obwohl parodistisch, ist diese Anerkennung doch bezeichnend für die Rolle von Frauen in Kriegsfilmen: Akzeptiert werden sie in dieser unweiblichen Umwelt nur, wenn sie männliche Qualitäten aufweisen – und dadurch verlieren sie, wie Maschinenmaat Tostin es ausdrückt, ihre weibliche Identität. Die jüngeren Kriegsfilmproduktionen, die Frauen als aktive Kämpferinnen thematisieren, folgen nach wie vor dieser in Operation Petticoat humoristisch präsentierten Norm. In der Kritik wird manchmal gewarnt, dass Unternehmen Petticoat nichts für Feministinnen oder gender-sensibilisierte Personen sei.11 Eine derartige Kritik isoliert jedoch die Frauendarstellung des Films von ihrem genrespezifischen und kulturhistorischen Kontext: Frauen, die in einer Männergemeinschaft Chaos verursachen, gehören zu den Stereotypen der Komödie, außerdem sind die fünf Soldatinnen, bedenkt man die konservative Stilisierung der Frau als »the perfect housewife« in den USA der 50er-Jahre, bemerkenswert emanzipiert. Und wer genauer hinschaut, sieht rasch, dass die fünf Damen ihre (künftigen) Männer recht fest im Griff haben, wofür nicht zuletzt die berühmte rosa Farbe der USS Sea Tiger steht: Das Stereotyp dient der Bestätigung von genderspezifischen Machtstrukturen – nur dass die Frauen, nach Art der Komödie, hier die Oberhand behalten. Das parodistisch gefärbte Verhältnis der Geschlechter in Operation Petticoat wird durchweg von der Musik unterstützt. Das Leitthema der Filmmusik von David Rose und Henri Mancini ist ein unbeschwerter, verschmitzt klingender Marsch. Die Szenen, in denen die Frauen charakterisiert werden, sind jedoch von eigenständiger Musik unterlegt, die in Stil und Instrumentierung Klischees des Weiblich-Verführerischen evoziert. Die oben erwähnte Ankunftsszene wird durch Flöten und Harfen vorbereitet; das tatsächliche Auftauchen der Frauen trägt Elemente musikalischer Comedy, in die Shermans entsetzter Ausruf »Frauen!« (»Women!«) klanglich integriert ist. Später, als sich die Frauen auf dem Boot einrichten, wird die Tonsprache expliziter: Zur Ankleide-Szene, einer Transformation von viel zu großen männlichen Uniformteilen in weiblich-anschmiegsame Kleidungsstücke, erklingt verführerischer Swing mit der Klarinette als Lead-Instrument. Als kurz darauf Lieutenant Holden auf die blonde, langbeinige Barbara trifft, setzen Geigen in vollem Klang ein – das HollywoodKlischee für romantische Geschlechterverhältnisse, das hier prophetischen Charakter hat. Die anschließende Swing-Unterlegung lässt erkennen, dass der 11 | Vgl. die User-Comments unter dem Eintrag Operation Petticoat in der Internet Movie Database (www.imdb.com/title/tt0053143/usercomments; 28.7.2010).

157

158

L INDA M ARIA K OLDAU

Verführungsprozess erst beginnt. Freilich erscheinen Barbara und Holden als ebenbürtige Partner (nicht zufällig haben sie den gleichen militärischen Rang); der eitle Holden mit seiner umfangreichen Ausstattung an Wäsche und eleganten Schlafanzügen wirkt auf seine Art ebenso »weiblich« wie seine soldatische Gegenspielerin, und er ist genauso geübt im Flirten. Zuletzt sind es die Frauen, die das U-Boot retten. Als ein amerikanischer Zerstörer die USS Sea Tiger, die als rosa U-Boot weder von den Amerikanern noch von den Japanern erkannt und daher von beiden Staaten als feindliches U-Boot klassifiziert wurde, mit Wasserbomben angreift, kommt Lieutenant Holden auf die einzig rettende Idee: Die Besatzung stößt die Unterwäsche der fünf Damen aus dem Torpedorohr, die von der Crew des Zerstörers aufgefischt und als Damenwäsche der US Army identifiziert wird.12 Die unverwechselbare Weiblichkeit der »Täuschkörper« wird durch die Musik nochmals betont: Im blauen Wasser trudelt die Damenwäsche in aller Seelenruhe nach oben, dazu erklingt ein lasziver Klarinettenschleifer à la Rhapsody in Blue: Obwohl das Design der Army-Unterwäsche mit französischen Spitzen nicht mithalten kann, schmiegt sich die Musik mit unmissverständlicher Betörung an – sie evoziert geradezu die langen Beine der Blondine Lt. Barbara Duran, die im Film als visuelles weibliches Motiv immer wieder hervorgehoben werden. Selbstverständlich sind weder Swing noch die Instrumentierung mit Saxophon, Klarinette oder Violinen als »eindeutig weibliche Elemente« der Musik zu definieren. In der Verbindung mit aussagekräftigen Szenen und vor dem Hintergrund der Konventionen des filmmusikalischen Hollywood Code erscheint diese musikalische Gestaltung der Frauenszenen in Operation Petticoat jedoch als eindeutige musikalische Markierung weiblicher Verführungsmacht. Sie ergänzt die Charakterisierung der Frauen als selbstbewusst, tatkräftig, wenig militärisch, dafür aber stark und, aufgrund des gezielten Einsatzes von überdeutlichen Klischees, zielstrebig.

12 | Das Ausstoßen von Gebrauchsgegenständen durch ein Torpedorohr gehörte zur U-Boot-Kampftaktik im Zweiten Weltkrieg: Es sollte den Eindruck erwecken, dass das Boot getroffen wurde und nun seine Überreste an die Oberfläche kommen.

F RAU – M ILITÄR – M USIK

M USIK STAT T F R AUEN : W EIBLICH KONNOTIERTE G ESTALTUNGSMIT TEL IN DER F ILMMUSIK In Klaus Doldingers berühmter Filmmusik zu Das Boot fällt ein Stück aus dem Rahmen: Erinnerung, das sanfte Gitarrenstück, das immer dann erklingt, wenn es um die heimliche Liebe zwischen Fähnrich Ullmann und dem französischen Mädchen Françoise geht. Tatsächlich bezeichnete einer der Schauspieler diese Musik als »zu viel des Schönen« – ein unnötiger Kommentar zu Szenen, die allein für sich überzeugender wirken.13 Zwei Aspekte stehen hinter dieser Kritik des Schauspielers Bernd Tauber. Zunächst scheint hier ein generelles Unbehagen gegenüber der Filmmusik durch, die von ihm als eine Übertreibung der Affekte empfunden wurde, sei es in gefühlsbetonten Szenen oder aggressiven Angriffsszenen, zu denen das technoorientierte Stück U 96 beziehungsweise Konvoi erklingt.14 Andererseits ist da die starke emotionale Prägung des Stückes Erinnerung, verkörpert in den explizit kritisierten Geigen, die Tauber als billiges Klischee erschienen. Die musikalische Gestalt dieses Stückes bringt ein Element aus einer anderen Welt in das raue männliche Dasein auf einem U-Boot. Der Titel »Erinnerung« steht für Heimat, Frau, Familie und Frieden – die Klänge des Musikstücks verweisen auf diese andere Welt, stehen gleichzeitig aber auch für die sanfteren Gefühle der U-Boot-Männer, die dieser Welt mit ihren Erinnerungen und ihrer Sehnsucht verbunden sind. Auf diese Weise wird ein Aspekt in den Film eingebracht, der sonst auffallend abwesend ist: Das Boot gehört zu den wenigen U-Boot-Filmen, in denen fast keine Frau vorkommt. Abgesehen von der Chanteuse Monique in der Bar Royal (die freilich nichts anderes ist als ein lebendes Requisit für die überheizte Stimmung am Abend vor dem Auslaufen), der im Grunde überflüssigen Figur der Françoise und einiger stummer Statistinnen beim Aus- und Einlaufen gibt 13 | »Ich hab sowieso mit Musik in Filmen oft ein Problem – weil [sie] so oft so kommentierend ist. Also, wenn ich einen Film sehe, fällt mir das manchmal auf, dass ich eine ganz eigenartige Spannung empfinde – und dann wird mir plötzlich bewusst, dass da überhaupt keine Musik ist, sondern nur die tatsächlichen Geräusche. Und das empfinde ich oft als wahnsinnig spannend. Und nicht dieses, dass mir die Musik praktisch meine Gefühle vorschreibt. Das ist ja in dem Film zum Beispiel auch so, das ist mir auch aufgefallen: Immer wenn Martin May mit seinen Briefen – oder an seine Freundin denkt, dann kamen immer die Geigen. Und so was finde ich eben – so was finde ich dann schade: zu viel des Schönen.« Bernd Tauber (Obersteuermann Kriechbaum), zit. nach dem Kurzfilm Filmmusik/Sound Design, der in der Ausstellung Das Boot gezeigt wurde (Deutsches Filmmuseum Frankfurt a.M., 2006/07). Ich danke Tim Heptner vom Deutschen Filmmuseum für eine Kopie dieses Kurzfilms. 14 | Die Titel sind dem Soundtrack-Album Das Boot – Director’s Cut (1997) entnommen. Bei U 96 und Konvoi handelt es sich um das gleiche Stück mit geringen Variationen.

159

160

L INDA M ARIA K OLDAU

es im ganzen Film keine weiblichen Charaktere. Tatsächlich wurde der Produzent des Films, Günter Rohrbach, vorab gewarnt, dass ein Film »ohne Frauen und ohne Liebe« zum Scheitern verurteilt sei.15 Dass die Liebesbeziehung zwischen dem Fähnrich und Françoise stärker in den Vordergrund gerückt wird als in der Romanvorlage, mag eine Konzession an die Kinokonventionen gewesen sein – notwendig war dies freilich nicht. Diese knappe Episode spielt nur eine sehr geringe Rolle; ihre Auslassung hätte dem Film nichts von seiner Wirkung genommen. Die Musik aber, die mit dieser Episode wie auch mit dem Charakter des Leitenden Ingenieurs verbunden ist, hat sehr wohl eine Funktion im Film: Sie steht für eine ganz andere Seite der U-Boot-Männer, die sich gerne übertrieben raubeinig geben und dadurch ihre wahre Angst und Unsicherheit überspielen. Durch das Stück Erinnerung und die damit verbundenen Szenen wird ein anderer Zug im Charakter der Soldaten deutlich. Freilich war Petersen vorsichtig in dieser charakterlichen Vertiefung: Sie bei einem Einzelnen zu zeigen, hätte das Licht zu sehr auf diese Persönlichkeit gelenkt. Eine solche Hervorhebung aber stand nicht im Interesse eines Filmes, in dem es um ein Boot und seine Besatzung als Ganzes geht. Obwohl einzelne Figuren sehr wohl hervortreten – neben dem »Alten«, dem Leitenden Ingenieur und Leutnant Werner die beiden Wachoffiziere, der Obersteuermann, der Fähnrich und der Obermaschinist Johann –, wird keine dieser Figuren in einer umfassenden charakterlichen Komplexität gezeichnet; vor allem der »Alte« wirkt am stärksten dadurch, dass er sich wortkarg und verschlossen gibt. Die »andere«, emotionalere Seite der jungen Soldaten wird daher auf bestimmte Typen innerhalb der Besatzung verteilt. Im Boot gibt es, neben Leutnant Werner, der als außenstehender Beobachter und Ich-Erzähler unwillkürlich sensibler erscheint als die anderen, drei Personen, die besonders feinfühlige Züge aufweisen: Fähnrich Ullmann (Martin May) als jugendlicher Liebhaber mit sanften Zügen, der fromme und allzu ängstliche »Bibelforscher« (Joachim Bernhard) und der Leitende Ingenieur (Klaus Wennemann), der in einer Mischung aus Fürsorge und höchster technischer Kompetenz den komplexesten Charakter des Films darstellt.16 Liebe und Sensibilität, Frömmigkeit und Fürsorge sind selbstverständlich nicht exklusiv »weibliche« Qualitäten.17 In 15 | Video-Interview mit Günther Rohrbach, gezeigt in der Ausstellung Das Boot (Deutsches Filmmuseum Frankfurt a.M., 2006/07). 16 | Ullmann und der Bibelforscher gelangen dabei auf die Seite der Opfer: Sie leiden still, und zum Schluss liegen beide tot in den Trümmern von La Rochelle. Der Leitende Ingenieur dagegen überlebt – wenn auch psychisch zerrüttet. 17 | Hartmann Tyrell spricht in dieser Hinsicht von einer charakterlichen »Schnittmenge«, die Frauen und Männern gemeinsam ist, je nach Konstellation jedoch beim einen Geschlecht stärker hervortreten kann als beim anderen. Vgl. Hartmann Tyrell, Geschlechtliche Differenzierung und Geschlechterklassifikation, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 38 (1986), S. 450-489, hier S. 464-468.

F RAU – M ILITÄR – M USIK

Das Boot übernehmen sie jedoch, im Zusammenspiel mit den visuellen Charakteristika der genannten Schauspieler, eine Stellvertreterfunktion: Petersen hat diese Charakterzüge, die in anderen Kriegs- und U-Boot-Filmen üblicherweise Frauen zukommen, auf Rollentypen innerhalb der männlichen Besatzung projiziert. Das Musikstück Erinnerung ist bezeichnenderweise mit zwei dieser drei Personen verbunden: Das Stück wird nicht nur den Szenen unterlegt, die Ullmanns heimliche Liebe thematisieren, sondern auch dem Augenblick der Ruhe, in dem der Leitende Ingenieur Leutnant Werner Bilder von seiner Frau zeigt. Die Musik steht für die sehnsuchtsvolle Liebe, für die emotionale Reife des Ingenieurs und für bittersüße Erinnerung. Hinsichtlich seiner Gestalt steht dieses Stück in starkem Gegensatz zu sämtlicher anderer Musik des Films. Die Komposition ist die einzige, die die sanftere, zärtliche Seite im musikalischen Ausdrucksspektrum repräsentiert. Dadurch sorgt dieser Track dafür, dass das Filmscore eine größere emotionale Breite abdeckt. Vor allem aber lässt die Kombination dieser Musik mit bestimmten Personen und Szenen im Boot die »andere« Seite der U-Boot-Männer zum Vorschein kommen. Dies begründet sich ganz konkret in der Wahl der musikalischen Mittel, die den »männlichen« Aspekten im Hauptthema und in U 96 ein »weibliches« Gegenstück an die Seite stellen. Während Musik selbst nicht als »weiblich« oder »männlich« charakterisiert werden kann, haben sich im Laufe der Jahrhunderte expressive und illustrative Konventionen herausgebildet, die zu festen, bis heute überlieferten Vorstellungen von »weiblichen« und »männlichen« Ausdrucksgehalten in der Musik geführt haben. Insbesondere die Musik in Film und Fernsehen hat diese Vorstellungen zementiert: Der Bedarf an expressiv eindeutigen Ausdrucksmitteln hat dazu geführt, dass die Filmkomposition mit knappen, eingängigen Mitteln arbeitet, die auf jahrhundertealte Konventionen musikalischen Ausdrucks zurückgreifen. Auf diese Weise wird Filmmusik größtenteils zu einem expressiven Code, der auch von einem Publikum ohne spezielle musikalische oder musikwissenschaftliche Bildung verstanden wird.18 Im Bezug auf Erinnerung bedeutet dies, dass diese Musik – insbesondere im Vergleich mit den anderen Tracks der Filmmusik zu Das Boot – als »sanftmütig« und »weiblich geprägt« wahrgenommen wird. In der musikwissenschaftlichen Erforschung und Deutung von Film- und Fernsehmusik wurden charakteristische Aspekte von »männlich« und »weiblich« wirkender Musik herausgearbeitet.19 18 | Vgl. Linda Maria Koldau, Kompositorische Topoi als Kategorie in der Analyse von Filmmusik, in: Archiv für Musikwissenschaft 65 (2008), S. 247-271; zu einem ähnlichen Konzept von »style topics« vgl. David Neumeyer und James Buhler, Analytical and Interpretative Approaches to Film Music (I). Analysing the Music, in: Kevin J. Donnelly (Hg.), Film Music. Critical Approaches, Edinburgh 2001, S. 16-38, hier S. 23-26. 19 | Vgl. Philip Tagg, An Anthropology of Stereotypes in TV Music? in: Svensk tidskrift för musikforskning 71 (1989), S. 19-42 (Online-Version: http://tagg.org/articles/

161

162

L INDA M ARIA K OLDAU

Die Rezeptionsforschung zeigt, dass diese musikalischen Mittel nicht nur visuell mit Frauen oder Männern verbunden, sondern in der Folge auch vom Publikum als »weiblich« oder »männlich« empfunden werden. Wie auch die Popund Rockmusik hat die Filmmusik dadurch ein sehr starkes Assoziationsfeld geschaffen. In Klaus Doldingers Erinnerung lassen sich vor diesem Hintergrund folgende »weibliche« Gestaltungsmittel identifizieren: Musikalische Parameter Tempo Artikulation Lautstärke Rhythmus (Melodiestimme) Gestaltung der Basslinie Melodielinie

Besetzung der Melodiestimme Besetzung der Begleitstimmen Harmonik

Erinnerung langsam, ruhig legato, cantabile leise, gelegentlich crescendo regelmäßig, ruhig regelmäßiger Rhythmus gebrochene Akkorde absteigende Bewegung lange Haltetöne große, emphatische Intervalle sanftes Glissando klassische Gitarre (gezupft) klassische Gitarre (gezupft) Streicherklang (Synthesizer) Moll »süße« Dissonanzen (mit Auflösung)

Die hier aufgeführten Merkmale stimmen exakt mit den Charakteristika überein, die Philip Tagg in seiner Analyse von Fernsehmusik als »weibliche« Ausdrucksmittel herausarbeitet:20 Erinnerung ist ein langsames, nachdenkliches Stück, das gänzlich auf Irregularität und rasche Rhythmen verzichtet (Aspekte, die sich in den anderen Stücken der Filmmusik zu Das Boot vielfach finden). Die sanfte, schwermütige Musik wird von ruhig gezupften Akkordbrechungen begleitet; die Besetzung mit klassischer Gitarre (und Streichern) gehört zu den beliebtesten Stereotypen für »Weiblichkeit« in der Musik. Hinzu kommen expressive Mittel – Dissonanzen, durch Glissando verbundene Töne, große und darum emphatische Intervalle. Eben diese Mittel dienen in der westlichen Kompositionstradition seit dem 17. Jahrhundert zum musikalischen Ausdruck starker Emotionen und werden in der Filmmusik des 20. und 21. Jahrhunderts genau so angewandt. Starke, offenkundige Emotionen aber werden, insbesondere in einem männlich dominierten Kontext, als »weiblich« wahrgenommen. Geradezu antagonistisch stehen hier die Gestaltungsmittel der »Angriffsmusik« U 96/Konvoi gegenüber:

xpdfs/tvanthro.pdf); Anahid Kassabian, Hearing Film. Tracking Identifications in Contemporary Hollywood Film Music, New York, London 2001. 20 | Tagg, An Anthropology.

F RAU – M ILITÄR – M USIK Musikalische Parameter Tempo Artikulation Lautstärke Rhythmus (Melodielinie) Rhythmus (Basslinie) Melodielinie Besetzung der Melodielinie Besetzung der Begleitstimmen Harmonik

U 9 6/Konvoi rasch hart, staccato, rasch repetierend hoch (ohne Variation) regelmäßig, mit hartem Off-Beat kurze Notenwerte fanfarenhafte Intervallsprünge nach oben Trompeten, Hörner Synthesizer Percussion (klassisch und Synthesizer) Blechbläser-Akkorde Moll, mit harmonischen Mustern der Rockmusik

Die harten Rhythmen, die klischeehafte Instrumentierung, die Melodielinie und der vorantreibende Off-Beat erscheinen geradezu als Karikatur militärisch-aggressiver Musik. Freilich ist die Sache nicht so simpel: Eine genaue Analyse des Stückes zeigt, dass Klaus Doldinger durch geschickte melodisch-harmonische Abwandlung das Klischee der Schlachtenmusik gerade vermieden hat und mit dieser Musik vielmehr den Charakter des unheimlich Lauernden evoziert.21 Bläserfanfaren etwa werden durch ein Verhalten auf der Septe – statt Erreichen der Oktave – und durch überraschende harmonische Wendungen ihrer klischeehaft-militärischen Wirkung beraubt; der Off-Beat verstößt gegen die Rhythmik von Militärmusik; Phrasenlängen werden verkürzt oder gedehnt, sodass die zunächst aufgebaute Erwartung einer regelmäßigen Struktur enttäuscht wird. Die eindrückliche Wirkung der Musik in den entsprechenden Szenen, die keineswegs übertrieben oder gar parodistisch wirkt, spricht für den Erfolg einer derartigen Verfremdung. Umso plastischer erscheint Erinnerung im Vergleich als Inbegriff einfühlsamer, sanfter und somit – den Stereotypen des Fernsehens entsprechend – »weiblicher« Musik. Die zitierte Kritik von Bernd Tauber hebt auf diese überdeutliche Charakterisierung ab: Die sanfte Gitarrenmelodie, dazu noch die Violinen, wirken wie ein plattes Klischee, das in den Augen der Schauspieler nur fehl am Platze sein konnte. Dem Publikum aber bestätigte diese Musik, was implizit im Film anklingt: dass die rauen Jungs im Boot sehr wohl auch Gefühle haben und verletzlich sind.22

21 | Vgl. Linda Maria Koldau, Musik zum Krieg. Klangliche Mittel zur emotionalen Steigerung in U-Boot-Filmen, in: dies. (Hg.), Militär, Musik und Krieg. Kolloquium anlässlich des 70. Geburtstags von Michael Salewski, Stuttgart 2010 (Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft, 22), S. 170-187. 22 | Nicht umsonst gehört dieser Track zu den beliebtesten des Filmscores: Während Anfang der 80er-Jahre das Stück U 96 als Single Erfolge feierte, werden heute auf Klaus Doldingers Webseite unter 36 Musikstücken des Filmkomponisten genau zwei Titel aus

163

164

L INDA M ARIA K OLDAU

Die beiden Beispiele und ihre Kontextualisierung zeigen, dass die Darstellung von Soldatinnen im Spielfilm traditionellen Genderstereotypen entspricht. In komödiantischer Übertreibung demonstrierte der im Jahr 1959 gedrehte Film Operation Petticoat, dass Frauen im Krieg – selbst wenn sie Soldatinnen von Offiziersrang sind – grundsätzlich nur Durcheinander anrichten. Gelingt es einer Frau, sich durch ihre Kompetenz einen Platz in der männlich-militärischen Umgebung zu erobern, so geschieht das um den Preis ihrer weiblichen Identität. Damit setzte Operation Petticoat, trotz seiner satirischen Zielsetzung, ernstzunehmende Koordinaten für spätere Kriegsfilme: Auch in den Filmen der späten 90er-Jahre, die explizit die Rolle von Soldatinnen im Kampfeinsatz thematisieren, erweist sich der geschlechterbasierte Identitätskonflikt als destabilisierendes und daher unerwünschtes Element im Kontext männlichen Kampfes. Die Filmmusik von David Rose und Henry Mancini unterstreicht in Operation Petticoat das Fremde, das die Frauen in das militärische Setting einbringen – dem Genre gemäß mit einem musikalischen Augenzwinkern. Die Instrumentierung und Stilistik der Musik zu entsprechenden Szenen ist genauso klischeehaft wie die Darstellung der Frauen und trägt damit zum Effekt des Komischen bei. In der Filmmusik zu Das Boot werden demgegenüber genderbezogene Klischees mit ernsthafter Absicht eingesetzt: In diesem Film, der fast gänzlich auf Frauen verzichtet, werden während des Einsatzes von Erinnerung charakterliche Seiten der Soldaten gezeigt, die sonst sorgfältig verborgen bleiben. Klaus Doldinger setzt dafür musikalische Mittel ein, die nach den Konventionen von Film- und Fernsehmusik als »weiblich« empfunden werden. Die Abwesenheit von Frauen – ob zivil oder in militärischem Dienst – wird hier durch Musik ausgeglichen. Grundsätzlich bleibt das Verhältnis von Frauen und Militär im Spielfilm klischeehaft. Frauen werden auch in aktuellen Kriegsfilmen hauptsächlich als stützende Charaktere eingesetzt; unproblematisch erscheint das Verhältnis zu ihren männlichen Kollegen vor allem im Büroeinsatz auf der Homebase, wo es um sachliche Kompetenzen, nicht aber um Bewährung im Kampfeinsatz geht. In Filmen, die Soldatinnen in der Ausbildung zum Kampf beziehungsweise im Krieg selbst thematisieren, verlagert sich der Fokus rasch auf die Genderproblematik, während die genretypischen Themen wie kriegerische Bewährung und die innere Struktur einer männlich codierten Gemeinschaft in den Hintergrund gedrängt werden. Dieser Befund ist nicht als absolut anzusehen, verweist aber auf die Beharrungstendenzen in der kommerziellen Filmproduktion.

Das Boot als einfache Klavierversion zum Download angeboten: das Hauptthema und ausgerechnet Erinnerung (www.doldinger.de/).

Geschlechterambivalenzen – Amazonenklang und Amazonenbilder im barocken Musiktheater Christine Fischer

Dass Frauen in Rüstung zu Schlachten aufmarschierten, dass sie erfolgreich kämpften, ja sogar dass sie Männer verabscheuten und verfolgten, war ein im barocken Musiktheater häufiges Sujet und wurde in der Forschungsliteratur bereits beschrieben.1 Das Spannungsfeld zwischen Krieg, Liebe, Macht und Militär, das dabei im Detail in unterschiedlichen Konstellationen immer wieder verhandelt wurde, stand fraglos für eine zeit- und ortsspezifische Einstellung zu Geschlechterhierarchien. Dennoch wurde die Art und Weise, wie die Kriegerinnen auf der Opernbühne des 17. und 18. Jahrhunderts und die verschiedenen Dimensionen ihrer Darstellung in Klang, Bild und Text mit der gesellschaftlichen Realität zu verbinden waren, in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht abschließend diskutiert. Der vorliegende Text möchte anhand eines historischen Blicks auf den Umgang mit dem Bild der Soldatinnen und ihres Klanges Perspektiven aufzeigen, wie diese Sujets als vielfältig verwendbare Projektionsfläche von Geschlechterrollenbildern zu verstehen sind. Es wird in diesen Opern in Musik, Bild und Text sozusagen am Extremfall verhandelt, wie mit Abweichungen von Geschlechternormen umzugehen ist – im Falle von Amazonen also, was die Inszenierung von Frauen bedeuten kann, die auf das

1 | Vgl. Daniel E. Freeman, La guerriera amante. Representations of Amazons and Warrior Queens in Venetian Baroque Opera, in: Musical Quarterly 53/3 (1996), S. 431-460; Kate Harness, Chaste Warriors and Virgin Martyrs in Florentine Musical Spectacle, in: Todd M. Borgerding (Hg.), Gender, Sexuality and Early Music, New York, London 2002, S. 73-121; Wendy Heller, Semiramide and Musical Transvestism, in: dies., Emblems of Eloquence. Opera and Women’s Voices in Seventeenth Century Venice, Berkeley, Los Angeles 2003, S. 220-262; Andrea Garavaglia, Il mito delle Amazzoni nell’opera italiana fra Sei e Settecento, Diss. (masch.), Univerdità degli Studi di Pavia 2005-2006.

166

C HRISTINE F ISCHER

gewöhnlich männliche Hoheitsgebiet der militärischen und politischen Macht übergreifen.

A MA ZONENDEFINITIONEN Genau dieser Übergriff, das Männergleiche, war seit den Anfängen der Amazonenmythen Definitionsmerkmal der kämpferischen Frauen.2 Auch Amazonenrollen auf der Opernbühne definierten sich dadurch auf der Opernbühne definierte sich dadurch, dass sie männergleich, als erfolgreiche Kriegerinnen, agierten. Mit der Übernahme und dem erfolgreichen Praktizieren männlicher Eigenheiten führte der Mythos der kriegerischen Frauen in letzter Konsequenz zu einer Überflüssigkeitserklärung an den Mann: Männer wurden auf der Opernbühne zu Mordopfern und Gejagten, denn der Amazonenstaat war eine Frauengemeinschaft, die des anderen Geschlechts nicht bedurfte, da auch die ›Männeraufgaben‹ von den Frauen übernommen wurden. Ließen sich die Amazonen zu Liebesgefühlen gegenüber Männern hinreißen – ein zentrales Thema von Amazonenopern – führte dies automatisch zu einer Bedrohung ihrer Amazonenidentität: Liebe und Ehe bedeuteten die Rückkehr zur weiblichen Rolle, die militärisches Können ebenso ausschloss wie Männerfeindschaft. Wie zentral Verhandlungen von Geschlechtergrenzen in diesen Opernstoffen sind, vermittelt nicht zuletzt auch die Tatsache, dass den weiblichen Gender-Übergriffen in sehr vielen Fällen männliche Grenzgänger gegenübergestellt sind: Männer verkleiden sich als Amazonen und können so als Liebende, als Freundinnen oder Spione den Amazonen nahe sein.3 Angesichts der damaligen Besetzungspraxis mit Kastraten und Frauen in männlichen und weiblichen Rollen potenzierte sich das Verwischen der Geschlechtergrenzen in Aufführungen von Amazonenopern noch weiter. Im Gegensatz zu anderen, ebenfalls crossgender aufgeführten Opernsujets wurde an den Amazonenstoffen zu einem ungewöhnlich hohen Maße Geschlechterpolitik explizit.

D IE A BNORM ALS N ORMALFALL Amazonenstoffe haben eine lange zurückreichende Tradition in höfischen Festformen wie Pferdeballette, Ringelrennen und Turniere. Ihr Weg auf die Opernbühne ging von Venedig aus; seit der Mitte des 17. Jahrhunderts verbreiteten sich 2 | Vgl. u.a. Garavaglia, Il mito, S. 156-160; Lars Börner, Als die »männergleichen« Amazonen kamen, in: Historisches Museum der Pfalz Speyer (Hg.), Amazonen. Geheimnisvolle Kriegerinnen, Ausstellungskat., München 2010, S. 16-23. 3 | Vgl. Freeman, La guerriera amante, S. 442.

G ESCHLECHTERAMBIVALENZEN – A MAZONENKL ANG UND A MAZONENBILDER

Amazonenstoffe zunächst in ganz Italien, besonders in den spanischen Herrschaftsbereichen Neapel und Palermo, bevor sie auch an deutschen Fürstenhöfen und am französischen Hof Einzug hielten.4 Nach diesem Gipfel der Beliebtheit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nahm die Präsenz der Kriegerinnen zum und im darauffolgenden Saeculum ab. Der deutlichste Rückgang von Opernneuproduktionen mit weiblichen, kriegerischen Heldinnen wurde während der Dominanz der Librettistik des Wiener Hofdichters Pietro Metastasio ab den 1730er-Jahren konstatiert.5 Gängigste Erklärung für diesen Rückgang ist die Dominanz bipolar gefestigter Geschlechterbilder in dieser Phase der Operngeschichte.6 Die zahlreichen Aspekte von Geschlechterverkehrungen, die in Amazonenopern traditionell thematisiert wurden, standen dieser Tendenz entgegen. Innerhalb der neuen Geschlechterkonzeption sollten sich Charaktere deutlicher als es zuvor der Fall war ihrem Alter, ihrem Sozialstatus, ihrer Nationalität und natürlich auch gemäß ihrem Geschlecht verhalten. Man bewegte sich weg von einer Durchlässigkeit der Geschlechterwelten auf der Opernbühne und hin zu einer deutlichen bipolaren Trennung eines weiblichen und eines männlichen Geschlechterprofils und zu einer Zementierung von deren jeweiligen ›eindeutigen‹ Eigenschaften. Für die Jahre 1660 bis 1700 kann dagegen von ›abnormen Frauen‹ als Opernnormalität gesprochen werden.7 Die Frage nach dem Warum dieser großen Beliebtheit, die sich gerade auch in den marktorientierten Opernhäusern Venedigs zeigte, führt mitten hinein in die Frage nach der sozialen Bedeutung dieser Stoffe, Rollen und Aufführungen weiblicher Abnorm.

G RÜNDE DER B ELIEBTHEIT Wie die Darstellung von weiblichen Übergriffen auf das männliche Hoheitsgebiet der Kriegskunst in damaligen Aufführungen gewirkt haben mag, stellt sich als zentrale Frage heraus, wenn man der Beliebtheit von Amazonenstoffen im barocken Musiktheater nachzugehen versucht. Eine Deutung ergibt sich durch die Einordnung der Amazonenthematik in die damals erneut aktuelle Debatte um die Eigenheiten und Fähigkeiten von Frauen, in die Querelle des femmes. In diesem Kontext bekommen Amazonendarstellungen eine nahezu kämpferische 4 | Vgl. Ebd., S. 432f.; Garavaglia, Il mito, S. 59f. 5 | Vgl. Freeman, La guerriera amante, S. 445-447. 6 | Vgl. u.a. Wendy Heller, Reforming Achilles. gender, opera seria and the rhetoric of the enlightened hero, in: Early Music 26/4 (1998), S. 562-581. Aus an den Einzelfällen weiter zu verhandelnden Gründen blieben Amazonen über das 18. Jahrhundert hinaus, ja bis ins zeitgenössische Musiktheater auf der Opernbühne präsent, eine Thematik die hier jedoch nicht behandelt werden kann. 7 | Vgl. Freeman, La guerriera amante, S. 448-454; Garavaglia, Il mito, S. 66-69.

167

168

C HRISTINE F ISCHER

Bedeutung für Rechte und Tätigkeitsfelder von Frauen, die über gängige Rollenbilder hinausreichen. Denn diesem Anspruch über die gängige Geschlechterrolle hinaus zu agieren, wurde unter anderem durch die im Zusammenhang der Querelle beliebten Exempelkanons starker mythologischer oder historischer Frauenfiguren Autorität verliehen. Da barocke Oper als Stilisierungsmittel von Herrschenden eingesetzt wurde, bedeutete ein Sich-in-Szene-setzen als erfolgreiche Heerführerin oder Kämpferin in einer Oper, auch einen Verweis auf eine zentrale männliche höfische Tugend: Ein unerschrockener und mutiger Krieger zu werden, war wichtiger Punkt der Ausbildung des männlichen adligen Nachwuchses und eine unabdingbare Eigenschaft des höfischen Edelmanns, die ein Herrscher in besonderem Masse zu verkörpern hatte.8 Die bereits vielfach beschriebene Stilisierung von Herrscherinnen zu Amazonen oder Kriegsgöttinnen sowie auch Traktate zur Diskussion um die Regierungsfähigkeiten von Frauen greifen genau diese Argumentationslinie auf und übertragen sie auf das weibliche Geschlecht: Wer sich in der Männerdomäne der Kriegsführung profilierte, dem standen auch Möglichkeiten als Lenkerin der Staatsgeschäfte, als Herrscherin offen, wie es Beispiele aus Geschichte und Mythologie vor Augen führen sollten.9 Nicht zuletzt deshalb sind in Zeiten weiblicher höfischer Herrschaft Stilisierungstraditionen kriegerischer und starker Frauen in den Künsten besonders häufig: Sie dienten zur Rechtfertigung der in der Figur der Herrscherin vorgenommenen Geschlechterrollenerweiterung hin zur männlich besetzten Tugend des Herrschens. Neben dieser ›frauenfreundlichen‹ Argumentationslinie, die auch einige Librettoautoren im Vorwort explizit aufnehmen, können die Darstellungen historischer femmes fortes aber eine zweite Bedeutungsebene in sich bergen, die 8 | Vgl. hierzu u.a. Catherine Elizabeth Gordon-Seifert, Strong men, weak women. Gender representation and the influence of Lully’s operatic style on Frensh airs sérieux (1650-1700), in: Thomasin LaMay (Hg.), Musical Voices of Early Modern Women. Manyheaded Melodies, Ashgate 2005, S. 135-167, hier 141-142, 148-150. 9 | Vgl. u.a. Christa Schlumbohm, Der Typus der Amazone und das Frauenideal im 17. Jahrhundert. Zur Selbstdarstellung der Grande Mademoiselle, in: Romanistisches Jahrbuch 29 (1977), S. 77-99; dies., Die Glorifizierung der Barockfürstin als »Femme Forte«, in: August Buck u.a. (Hg.), Vorträge, (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 8), Hamburg 1979, S. 113-122; Renate Kroll, Von der Heerführerin zur Leidensheldin. Die Domestizierung der Femme Forte, in: Bettina Baumgärtel und Sylvia Neysters (Hg.), Die Galerie der starken Frauen. Die Heldin in der französischen und italienischen Kunst des 17. Jahrhunderts, Ausstellungskat., München 1995, S. 51-63; Sylvia Neysters, Regentinnen und Amazonen, in: ebd., S. 98-115; Bettina Baumgärtel, Zum Bilderstreit um die Frau im 17. Jahrhundert. Inszenierungen französischer Regentinnen, in: Gisela Bock und Margarete Zimmermann (Hg.), Die europäische Querelle des femmes. Geschlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert (= Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung, 2), Stuttgart, Weimar 1997, S. 147-182.

G ESCHLECHTERAMBIVALENZEN – A MAZONENKL ANG UND A MAZONENBILDER

der ersten diametral entgegenläuft: Wie in der Kunstgeschichte unter anderem für Heldinnen-Zyklen und Schönheitengalerien bereits beschrieben,10 können die Darstellungen eines Heldinnenkanons auch darin münden, dass eine Abweichung vom Geschlechterrollenbild wieder in die Norm zurückgeführt wird. Bei Amazonenopern stünde für diese Deutungsversion der Handlungsablauf ein, der in den allermeisten Fällen in eine geschlechterpolitische Rückstufung der Grenzüberschreiterinnen mündet: Hier gehen die Amazonen zum Ende des Plots militärisch unter, sind erfolglose Liebende oder werden, so sie sich zur Liebe bekennen, durch Heirat entmachtet, also ihres politischen und militärischen Erfolgs beraubt. Letztendlich wird die Geschlechternorm wiederhergestellt, die Frau nimmt ihren ursprünglichen Platz in der Geschlechterhierarchie ein, geht unter oder ordnet sich unter. Die Darstellung erfolgreicher weiblicher Kriegerinnen ist vor dem Hintergrund des gesamten Handlungsverlaufs somit nur eine Episode, die neu perspektiviert werden kann: Sie wandelt sich von der möglichen Propaganda für Rechte und außergewöhnliche Fähigkeiten von Frauen zum reizvollen, womöglich gar voyeuristisch geprägten Intermezzo. Die Abnorm wird zum kuriosen oder sexuellen Reiz auf dem Weg ihrer Einebnung – vielleicht sogar auf dem Weg zu ihrer Bestrafung. Dienten die Geschlechterverwischungen in den Amazonenstoffen – oft unter dem Deckmantel einer frauenfördernden Strategie – tatsächlich nicht einer Argumentation zur Überschreitung von Geschlechtergrenzen, sondern vielmehr der Zementierung von herrschenden, männlich dominierten Geschlechterhierarchien? Zählt die – wie auch immer geartete – Faszination am Moment des Dazwischen mehr als der Handlungsverlauf im Großen, der gängige Hierarchien festigt, bestehende Geschlechterbilder zementiert? Ist der Moment der Grenzüberschreitung in der Schlacht wirkungsmächtiger als das Libretto im Ganzen, dessen Verlauf ohnehin schwierig nachzuvollziehen, vielleicht sogar unwichtig war? Oder stellt nicht viel mehr eine – musikalisch sowie in Text und Bild ausgiebig gefeierte – Hochzeit und Unterordnung der Frau am Ende der Oper das Vorausgegangene in den Schatten? Dies sind Fragen, die, wenn sie überhaupt eindeutig beantwortet werden können, sicherlich in jedem Einzelfall – im Sinne der historischen Aufführung eines Amazonenstoffes – neu gestellt werden müssen. Vermutlich verbleibt auch bei 10 | Michael Wenzel, Heldinnengalerie – Schönheitengalerie. Studien zu Genese und Funktion weiblicher Bildnisgalerien 1470-1715, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 2006 (http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2006/44/); zur Ambivalenz von Frauendarstellungen in der Bildenden Kunst vgl. auch Andrea Schmidt-Niemeyer, »Männerblicke« in der Kunst. Voyeuristische Lust oder Bannung des »gefährlichen Wiebes«?, in: Waltraud Fritsch-Rößler (Hg.), Frauenblicke. Männerblicke, Frauenzimmer. Studien zu Blick, Geschlecht und Raum (= Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft, 26), St. Ingbert 2002, S. 239-260.

169

170

C HRISTINE F ISCHER

jedem betrachteten Beispiel das Verhältnis zwischen Oper und Geschlechterrealität vielfältig, nahm jede/r RezipientIn der Aufführung aus den möglichen Bedeutungsfacetten seine/ihre eigene geschlechterpolitische Aussage mit. Deutlich bleibt, dass die Opernamazonen gerade durch das Verhandeln der Geschlechternorm ausgemacht werden, die aus historischer Sicht nicht mehr eindeutig festzulegen ist; die Verknüpfung zwischen dargestellter und realer Geschlechterhierarchie bleibt ein vielfältiger, da beide in sich variabel sind. Der Reiz der Amazonenfiguren lag dabei vermutlich gerade in ihrer multiplen Deutbarkeit.

M ILITÄRISCHES Da das Kriegshandwerk eine conditio sine qua non bei der Definition einer Amazone darstellte, wurden Szenen, die Militärisches thematisierten, zu zentralen Wirkungsmomenten einer Opernaufführung mit Amazonen. Seit den 1670er-Jahren bis zum Ende des 17. Jahrhunderts dienten diese Aufführungsmomente, die sicherlich auch noch in den höfischen Traditionen von Turnierund Schaurennen sowie Karussellen mit Amazonensujets Vorgängerinnen hatten, als besonders beliebte Einlagen zur Prachtentfaltung in Amazonenopern. Militärische Spielorte wie Lager, Zelte oder Festungen bildeten den szenischen Hintergrund für Triumphzüge, Siegeszüge oder Aufmärsche zu Schlachten, die auch choreographisch ausagiert oder musikalisch vorgeführt werden konnten.11 Die Szenen müssen nicht zuletzt durch die schiere Anzahl der beteiligten Statistinnen und Statisten in vielen Fällen beeindruckend gewirkt haben.12 Musikalisch untermalt wurden die Aufzüge im italienischen Repertoire meist von militärischen Sinfonien oder Ritornelle mit Marsch- oder Fanfarencharakter, einen der am meisten gebrauchten musikalischen Topoi zur Darstellung des Militärischen.13 Eingehende Untersuchungen zur musikalischen Form dieser Amazonenaufzüge und auch zur Häufigkeit von Militärszenen in diesem Repertoire allgemein stehen noch aus. Für das deutsche Repertoire italienischer Opern des 18. Jahrhunderts ist je11 | Vgl. Garavaglia, Il mito, S. 57f., 88, 114, 156. 12 | Ein Beispiel extrem pompöser Ausstattung einer solchen Szene stellt sicherlich die Aufführung von Francesco Maria Picciolis und Carlo Pallavicinos Le Amazoni nell’Isole fortunate 1679 im Teatro di Marco Contarini in Piazzola dar. Ein Aufführungsbericht von 1681 spricht hier von 300 Statistinnen und Statisten, darunter 100 Amazonen, 100 Mohren und 50 Jungfrauen auf Pferden. Vgl. Garavaglia, Il mito, S. 143. 13 | Vgl. Ebd., S. 150-154. Für die gleichzeitige Entwicklung der Militärmusik in Frankreich und Deutschland vgl. Raymond Monelle, The Musical Topic. Hunt, Military and Pastoral, Bloomington, Indianapolis 2006, S. 113-133. Monelle diskutiert den Marsch als musikalisches Hauptdarstellungsmittel für militärische Sujets, auch auf der Opernbühne.

G ESCHLECHTERAMBIVALENZEN – A MAZONENKL ANG UND A MAZONENBILDER

doch beschrieben, dass Militäraufzüge zu Märschen unter die »standard operatic situations«14 zählten, also durchaus kein alleiniges Markenzeichen von Amazonenopern waren. Die Märsche waren zumeist mit punktierten Rhythmen sowie Pauken und Trompeten in einfachen, zweiteiligen Wiederholungsformen gesetzt, sodass sie, in der Länge variabel, dem Tempo und der Dauer des szenischen Aufzuges angepasst werden konnten. Bei diesen militärischen Standardsituationen liefen, sofern es sich nicht um ein Amazonensujet handelte, Männerheere gegeneinander auf oder männliche Triumphatoren wurden gefeiert. Der besondere Reiz militärischer Amazonenszenen, der also darin bestand, dass Frauen zum männlichen Kriegshandwerk aufmarschierten, machte sie zu Schlüsselmomenten in der Definition der Amazonenrolle und damit zum Handlungsablauf von Amazonenopern, ja vermutlich sogar zum definierenden Merkmal von Amazonenopern schlechthin. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass Amazonen trotz ihrer männlichen Tugenden visuell immer als Frauen, das heißt mit Röcken ausgestattet, wahrzunehmen blieben. Kostüme, in denen sich Frauen tatsächlich für ihre Bühnenumwelt unmerklich zu Männern verkleideten, waren ebenfalls häufig anzutreffen, jedoch nicht in Amazonensujets.15 Die Vielschichtigkeit der oben beschriebenen zentralen Amazonenmomente, die sich – zumindest aus heutiger Sicht – keiner einschlägigen Deutung mehr zuordnen lassen, besteht vielmehr im Changieren zwischen Geschlechterhierarchien, das die Rollen der Geschlechter zur Disposition stellt und die Töne zwischen ihnen herausstreicht.

Talestri Deutlich wird dies auch noch deutlich an einem Beispiel aus der Spätzeit der Amazonenstoffe, an Maria Antonia Walpurgis’ 1763 uraufgeführter Amazonenoper Talestri, regina delle amazzoni.16 Zwar baut der Handlungsverlauf, gründend auf der dreifachen Autorschaft der sächsischen Kurprinzessin an der Aufführung als Komponistin, Librettistin und Sängerin, einen deutlich abweichenden Bezug zum Protoypus der Amazonenhandlung mit Heirat und Machtverlust am Ende auf – hat also in dieser Hinsicht möglicherweise nachzeitigen Cha14 | Monelle, The Musical Topic, S. 161. 15 | Vgl. zu einer ähnlichen Beobachtung an Bildwerken des 15. Jahrhunderts Kristina Domanski, Verwirrung der Geschlechter. Zum Rollentausch als Bildthema im 15. Jahrhundert, in: Anne-Marie Bonnet und Barbara Schellewald (Hg.), Frauen in der Frühen Neuzeit. Lebensentwürfe in Kunst und Literatur (= Bonner Beiträge zur Kunstgeschichte, NF 1), Köln 2004, S. 37-83, hier S. 73. 16 | Vgl. Christine Fischer, Instrumentierte Visionen weiblicher Macht. Maria Antonia Walpurgis‹ Werke als Bühne politischer Selbstinszenierung (= Schweizer Beiträge zur Musikforschung, 7), Kassel 2007.

171

172

C HRISTINE F ISCHER

rakter,17 doch haben die Amazonendarstellungen an Doppel- beziehungsweise Mehrdeutigkeit in Talestri nichts eingebüßt. Gerade weil das Umfeld, in dem Maria Antonia lebte und musikalisch wirkte, bereits aufbereitet ist – so zum Beispiel durch die Opern Johann Adolf Hasses, des Dresdner Lehrers von Maria Antonia –, lässt sich dieses Argument besonders nachhaltig vertreten. Talestri, regina delle amazzoni erzählt die Geschichte einer jungen Amazonenkönigin, die, frisch gekrönt, die Tugenden ihres Volkes neu definiert. Das unumstößliche Amazonengesetz, alle Männer zu hassen und wenn irgend möglich auch umzubringen, bricht sie vom ersten Takt der Musik an. Sie ist zu Beginn der Handlung nämlich bereits in den Prinzen der benachbarten Skythen, Oronte, verliebt. Aus dem althergebrachten Hass zwischen Männern und Frauen, den Amazonen und den benachbarten Skythen, wird auf Initiative Talestris hin Liebe: Sie selbst ehelicht schließlich Oronte und fordert auch ihr Volk auf, sich Gefährten unter den Nachbarn zu suchen. Dabei bleibt sie jedoch Königin ihres Volkes.

Notenbeispiel 1: E[rmelinda]. T[alea]. P[astorella]. A[rcade] [Maria Antonia Walpurgis], Talestri Regina delle Amazzoni. Dramma per Musica, Lipsia, 1765, I. Akt, 8. Szene.

17 | Auf eine Amazonenoper, die in matriarchale Strukturen mündet – Il regno galante von Michelangelo Boccardi und Giovanni Reali (1727) – verweist Garavaglia, Il mito, S. 97f.

G ESCHLECHTERAMBIVALENZEN – A MAZONENKL ANG UND A MAZONENBILDER

Militärisch eingefärbte Auftrittsmusiken finden sich in Talestri an zwei Stellen: Zu Beginn der Szene I.8 zieht Antiope, die Schwester Talestris, auf die Klänge einer festiva militar Sinfonia, die mit »Marcia« überschrieben ist, triumphierend mit einem Gefangenen frisch von der Verteidigungsschlacht in das Amazonenreich ein.

Notenbeispiel 2: Johann Adolf Hasse, Ezio, I. Akt 2. Szene nach SLUB Dresden Mus. 2477-F-7. Die Situation des triumphalen Einzugs ist zeitlich und stilistisch vergleichbar mit der Auftrittsmusik Ezios, die Hasse zur Aufführung der gleichnamigen Oper 1755 in Dresden verfasste: Eine viertaktige Phrase, die von ,marschierenden‹ Punktierungen geprägt ist, wird hier zunächst von einer größeren Gruppe

173

174

C HRISTINE F ISCHER

an Instrumenten vorgetragen, bevor eine kleinere Auswahl mit anderen instrumentalen Klangfarben die Wiederholung übernimmt – ein ganz ähnliches Vorgehen wie in der Marcia aus Talestri. Über Unterschiede in der Instrumentierung und Länge hinweg (Ezio ist für einen großen Auftritt mit zahlreichen Statisten und lebenden Tieren konzipiert, während Talestri für ein kleineres Theater im kurfürstlichen Reithaus zu dem weniger besetzungsstarken Heer der Amazonen geschrieben wurde), entsprechen sich die großformalen Anlagen der beiden Triumphmusiken ebenfalls: Der Marsch unterteilt sich in zwei Teile, die jeweils wiederholt werden und deren erster, etwas kürzerer von der Ausgangstonart zur Dominante führt, während der zweite, etwas längere wieder zur Tonika überleitet. Eine Endloswiederholung je nach szenischem Bedarf ist so bereits harmonisch angelegt. Der triumphale Einzug des erfolgreichen Feldherrn, 1755 komponiert vom Lehrer Maria Antonias, unterscheidet sich in Intention und Anlage der Musik demnach nicht wesentlich vom etwas kleiner dimensionierten Einzug der siegreichen Amazone aus der Feder der sächsischen Kurprinzessin von 1763. Doch ein optisches Detail macht die Heimkehr der Amazone zu einer Besonderheit: Sie hat im Schlachtengetümmel ihren Helm verloren, sodass sich ihre lange Haare gelöst haben und über die Rüstung fallen.18 Diese explizite Beschreibung der Haarpracht im Nebentext des Librettos stellt einen Bezug zu einer damals allgemein bekannten Amazonen-Urszene im 12. Gesang von Torquato Tassos Gerusalemme liberata her: Der Moment, in dem Tancredi seinem tödlich verwundeten Gegner, mit dem er sich während der ganzen Nacht ein Duell geliefert hat, den Helm abnimmt, um ihn christlich zu taufen, wird zum Moment der Erkenntnis. Erst jetzt bemerkt er, dass er die ganze Zeit gegen eine Frau, nämlich seine Geliebte Clorinda, gekämpft hat. Eine ganz ähnliche Schlüsselszene hat Antiope bei ihrem Auftritt »ohne Helm und mit gelöstem Haar« gerade hinter sich: Sie hat ihren Helm im Zweikampf mit Learco, ihrem jetzigen Gefangenen verloren, und sich dabei in ihn verliebt – und er sich in sie. Zudem war Antiope mit ihrem in weiß gehaltenen Rock mit rosa Schleppe sowie dem Brust- bzw. Rückenpanzer aus aschgrauem Atlas in einen »Frauenzimmer-Habit«19 gekleidet, also deutlich als weibliche Kriegerin erkennbar. Untermalt von militärischen Klängen, die genauso gut einen männlichen Triumphator feiern 18 | Vgl. E[rmelinda]. T[alea]. P[astorella]. A[rcade] [Maria Antonia Walpurgis], Talestri Regina delle Amazzoni. Dramma per Musica, Leipzig 1765, S. 94: »Precedute da festiva militar Sinfonia, Tomiri, ed Antiope, e questa senza elmo, e colle chiome disciolte.« 19 | Sächsisches Staatsarchiv Dresden, Geheimes Cabinett, Loc. 382, »Hoftheater Italienische Oper Ausgaben 1753-1756, 1763ff«, fol. 165v: »Ein Frauenzimmer Habit. Ein weiß Atlassner Rock und rose Atlassne Schleppe mit ächten silbernen Flittern, sil: lion: Massio, Lahn, Spitzen, rose und schwarz seidenen Räupchen: desgleichen ein Aschgrau Altassner Laib, Pasquen, die geharnischte Einfassung des Laibes, die Achsel

G ESCHLECHTERAMBIVALENZEN – A MAZONENKL ANG UND A MAZONENBILDER

könnten, tritt uns hier eine durch Rock und offenes Haar deutlich als Frau wahrnehmbare Kämpferin entgegen und wird mit den Worten empfangen: »Komm, unbesiegte Antiope, komm und triumphiere«20. Das Changieren zwischen den Geschlechtern, das das faszinierende Wesen und die Wirkung dieser Bühnenfiguren ausmacht, erscheint in diesem Augenblick besonders fokussiert. Die zweite Marcia in Talestri fängt die Situation direkt vor der Schlacht der Amazonen gegen die Skythen ein: Sie begleitet den Aufzug beider Heere vor der Festung der Amazonen zur militärischen Entscheidungsschlacht,21 die dann aber doch noch verhindert werden kann: Die Oper endet mit einem Friedensschluss zwischen Amazonen und Skythen und damit auch zwischen den Geschlechtern. Während im ersten Akt Flöten und Oboen gesetzt waren, verleihen Trompeten und Pauken nun deutlicher militärische Klangfärbungen.

Notenbeispiel 3: E[rmelinda]. T[alea]. P[astorella]. A[rcade] [Maria Antonia Walpurgis], Talestri Regina delle Amazzoni. Dramma per Musica, Lipsia, 1765, III. Akt, letzte Szene.

Stücken, den Flohr Ermel und den Aschgrau Atlassnen Ermel, mit ächten silb: Flittern und aschgrauen Chenillen reich bordirt«. 20 | »Vieni, Antiope invitta, vieni, e trionfa.« Vgl. E[rmelinda]. T[alea]. P[astorella]. A[rcade] [Maria Antonia Walpurgis], Talestri Regina delle Amazzoni, S. 94. 21 | »fra lo strepito di bellici istromenti, s’avvanza Learco, con seguito de‹ suoi soldati, poi della Reggia Talestri, Antiope, e Tomiri, con seguito d’Amazzoni.« Ebd., S. 298.

175

176

C HRISTINE F ISCHER

Notenbeispiel 4: Johann Adolf Hasse, Cleofide, II. Akt, 5. Szene nach SLUB Dresden Mus. 2477-F-9.

In fortwährendem tutti-Einsatz tragen die Instrumente hier mit den punktierten Wechselnoten Marschmotivik vor, die einer melodischen Gestaltung entbehrt: Hier geht es nicht nur um den Klang von Militärinstrumenten, sondern auch um eine Musikalisierung der Geste des Aufmarschierens zur unmittelbar bevorstehenden Schlacht. Besonders deutlich wird diese musikalische Reduktion auf den rhythmischen Gestus auch im Vergleich mit Hasses Marcia, die zu einer vergleichbaren Situation in Cleofide (Dresden, 1731) bzw. Alessandro nell Indie (Venedig, 1736) erklang. Auch hier wird zum Aufmarsch von Kriegern auf militärischen Instrumentalklang und Punktierungen zurückgegriffen, allerdings integriert in eine schnellere und nahezu tänzerisch anmutende, regelmäßig in zwei Viertakter untergliederte Linie. Der Moment der Friktion zwischen hartem militärischem Klang und weiblich erscheinenden Amazonen, die Helme und Brustpanzer über ihren Röcken tragen, erscheint in dieser zweiten Marcia aus Talestri damit noch deutlicher akzentuiert. Setzt man diese beiden amazonentypischen Aufführungsmomente aus Talestri nun in Bezug zum Handlungsablauf und zum biografischen Hintergrund der die Amazonenkönigin selbst darstellenden sächsischen Kurprinzessin Maria Antonia, scheint die Frage nach der Bedeutung einschlägig geklärt. Denn am Ende von Talestri geht es nicht um die Zerstörung weiblicher Herr-

G ESCHLECHTERAMBIVALENZEN – A MAZONENKL ANG UND A MAZONENBILDER

schaft durch Heirat und Unterordnung der Amazonen – wie in so gut wie allen früheren Amazonenstoffen. Zwar wird auch in Talestri geheiratet, aber die Amazonenkönigin denkt nicht daran, damit ihre Herrschaft in Frage zu stellen. Nachdem sie ihre Hand dem Prinzen der benachbarten Skythen zur Ehe gereicht hat, macht sie dies gegenüber ihren Untertaninnen nochmals deutlich: »Folget nur meine Getreuen/Meinem Beispiel, folgt ihm, es ist an der Zeit, es ist richtig./Wenn wegen untreuer Gefährten/Einst der Hass entstand, so erwache jetzt durch treue Ehemänner/Die Freundschaft – niemals Unterworfene,/ Sondern Freunde der Nachbarn/Werden wir in Zukunft sein. Ewige Eintracht/ Herrsche von nun an unter uns.«22 Maria Antonia konstruiert eine neue Herrschaftsform aus der männerhassenden gynozentrischen Kultur heraus: das gemeinsam regierende Miteinander von Mann und Frau. Wie auch bei den Vorgängerstoffen steht die Transformation weiblicher Herrschaft auf dem Programm, aber hier indem die zu Beginn der Oper gekrönte Talestri im Laufe der Handlung lernt, zur guten, um das Wohl ihres Volkes besorgten Herrscherin zu werden. Dies wird sie, indem sie vom althergebrachten Männerhass ablässt und ihren Staat um Geschlechterparität herum neu konzipiert. Die Selbststilisierung zur Amazone war dabei eine bewusste Setzung Maria Antonias, die in der Aufführung in der Rolle der Talestri auch körperlich mit dem Amazonenbild verschmolz. Sie versuchte damit in der für Sachsen politisch wegweisenden Situation nach Ende des Siebenjährigen Krieges eine Aussage zur eigenen Rolle in der zukünftigen Regierung zu treffen. Anfang der 1750er-Jahre begann Maria Antonias Mann, Kronprinz Friedrich Christian, als Vorbereitung auf seine Regierungstätigkeit ein von ihm selbst so betiteltes »Geheimes politisches Tagebuch« zu führen. Aus seinen Bemerkungen geht hervor, dass seine Frau großen Einfluss auf die darin festgehaltenen politischen Reformpläne hatte. Anlass für den Entwurf dieses deutlich aufklärerisch geprägten Reformprogramms waren die offensichtlichen Missstände im sächsischen Staatswesen. Der leitende Minister Brühl hatte durch Ämterhäufung und politisches Desinteresse des Kurfürsten Friedrich August II. nahezu uneingeschränkte Macht. Die Korruption blühte und hatte das Finanzwesen Sachsens gemeinsam mit den immensen Ausgaben zur künstlerischen Repräsentation des Hofes an den Rande des Zusammenbruchs gebracht. Gegen diese absolutistischen Prinzipien der nicht austarierten Finanzverwaltung richtete sich Friedrich Christians geheimes Tagebuch deutlich. Die innenpolitische Position des Kurprinzenpaares festigte sich gegenüber dem wegen des Siebenjährigen Krieges außer Landes befindlichen Kurfürsten 22 | »Seguite pur mie fide/L’esempio mio seguite, è tempo, è giusto./Se da consorti infidi/Nàcque già l’odio, or da Fedeli sposi/Rinasca l’amistà --- non mai soggette,/Ma de‹ vicini amiche/Saremo in avvennir. Concordie eterno/Fra noi si stringa alfin.« Ebd., S. 304.

177

178

C HRISTINE F ISCHER

und seinem ersten Minister mit der 1762 vorgenommenen Bildung einer Reformkommission, die das bereits Jahre zuvor von Maria Antonia und Friedrich Christian durchdachte Reformkonzept ausarbeiten sollte. In der endgültigen Version des Reformplans verzichtet Sachsen zudem auf eine gewichtige Rolle in der europäischen Politik. Durch eine erklärte Vermittlerrolle zwischen den beiden Großmächten Preußen und Österreich sollte der Staat außenpolitisch befriedet und geschützt, die Armee verkleinert und die daraus resultierenden Einsparungen zur Sanierung des Finanz- und Verwaltungswesens eingesetzt werden. Und in die Situation kurz nach dem Friedensschluss und der Rückkehr des Kurfürsten nach Dresden fällt die Uraufführung von Talestri im August 1763; die Uraufführung einer Oper, in der die herrschende Amazonenkönigin ihren Staat innerlich reformiert und äußerlich befriedet. Eine deutlichere Korrespondenz von Opernhandlung und biografischer Situation ist kaum denkbar: Maria Antonia formulierte in und mit Talestri den eigenen Anspruch auf Mitwirkung bei der Regierungstätigkeit – in Zusammenarbeit mit ihrem Mann. Wie nachhaltig die damit zusammenhängende explizite Thematisierung von Geschlechterdifferenzen damals gewirkt haben muss, lässt sich nicht zuletzt auch an den wenigen erhaltenen Beispielen zeitgenössischer Kritik ablesen. Johann Friedrich Agricolas Rezension von Talestri, die 1765 anlässlich der Partiturausgabe erschien, ist in dieser Hinsicht am deutlichsten: Der Verfasser hebt die mangelnde musikalische Variationsbreite in den Arien der beiden Männer Oronte und Learco hervor. Bei Learco bemängelt er, dass seine Arien alle in C-Dur gehalten sind. Im Falle Orontes wird thematisiert, dass drei der vier Arien des Skythenprinzen im langsamen Dreivierteltakt stehen; in beiden Fällen also ein deutlicher Gegensatz zu den hinsichtlich der Affekte und musikalischen Mittel schillernden Frauengestalten. Und auch die Tatsache, dass sich in Talestri mehr Frauen als Männer auf der Bühne befinden, wurde vom Zeitgenossen Agricola als Besonderheit registriert und entsprechend kommentiert: Drey Frauenzimmer, zween Mannspersonen. In andern Opern sind selten drey Frauenzimmer, wo nicht wenigstens drey, oder vier, oder gar fünf Mannspersonen mit befindlich sind. Bey einer Geschichte aus dem Reiche der Amazonen mußte es anders seyn. Und wollte nicht etwan die Durchlauchtigste Verfasserinn auch in der Anlage und der Poesie dieses Singspiels, einmal vorzüglich das schöne Geschlecht glänzen lassen? – Wir wissen es nicht gewiß, – wenigstens hat sie diesen Zwek, wenn Sie sich denselben vorge23 setzt, sicherer erhalten, als es mancher männliche Dichter würde haben thun können. 23 | P. [Johann Friedrich Agricola], »Talestri, Regina delle Amazzoni, Dramma per Musica di E[rmelinda]. T[alea]. P[astorella]. A[rcade]. In Lipsia, dalla stamperia di Giovann[i]. Gottl[ob]. Imman. Breitkopf, 1765, in großem Querfolio, 324 Seiten«, in: Friedrich Nicolai (Hg.), Allgemeine deutsche Bibliothek. Des dritten Bandes zweytes Stück, Berlin, Stettin 1766, S. 122-145, hier S. 127f.

G ESCHLECHTERAMBIVALENZEN – A MAZONENKL ANG UND A MAZONENBILDER

Doch auch vor diesem vermeintlich eindeutigen geschlechterpolitischen Hintergrund blieb das Changieren, die multiple Deutbarkeit der Opernkriegerinnen auch für Talestri erhalten. Denn Maria Antonia ordnete sich, als Talestri, in der Licenza der Oper dem ebenfalls bei der Aufführung anwesenden, noch regierenden Schwiegervater als gehorsame Tochter unter: »Ach Herr! Du bist der Vater und wir sind die Töchter. Töchter, die nur in dir die Quelle für alles ihnen Teure sehen, und die nach allem vergangenen Unglück nur in Dir Trost finden.«24 Maria Antonia mag die geschlechterpolitische Ambivalenz des Stoffes geschickt dazu benutzt haben, einen deutlichen Anspruch auf Teilhabe an der Regierungstätigkeit zu formulieren, ohne dabei ihren – noch regierenden und anderen Regierungsprinzipien treuen – Schwiegervater zu brüskieren. Der fand solchen Gefallen an den Aufführungen von Talestri, dass er ihr kurze Zeit später befahl, in einer Oper, diesmal komponiert von ihrem Lehrer Hasse, wiederum als Sängerin bei Hofe aufzutreten.25 Wohl kaum ein anderer Stoff hätte diesen gewagten Brückenschlag möglich gemacht.

24 | »Ah Signor! Tu sei Padre, e Noi siam Figlie. Figlie, che in te sol anno d’ogni lor ben la fonte e d’ogni scorso affanno solo ristoro in te«. E[rmelinda]. T[alea]. P[astorella]. A[rcade] [Maria Antonia Walpurgis], Talestri Regina delle Amazzoni, S. 319-322. 25 | Vgl. Fischer, Instrumentierte Visionen, S. 275f.

179

III. Marsch und Choral

Gustav Mahlers musikalische Ecclesia Militans und Triumphans Von den Märschen und Chorälen der Zweiten und Dritten Symphonie1 Timothy Freeze

In seinem Komponierhäuschen in Steinbach am Attersee brachte Mahler zwei symphonische Kinder zur Welt, die einander in Bau und Semantik sehr ähneln. Die Zweite und Dritte Symphonie sind in ausgesprochen groß angelegten Ecksätzen verankert und veranschaulichen Mahlers charakteristische GattungsSymbiose von Symphonie und Lied. In beiden setzen die Gesangstexte als eine Art Offenbarung erst in den vierten und fünften Sätzen ein und konkretisieren damit die sich um eschatologische Fragen drehenden Botschaften. Mahler erkannte diese Strategie im Hinblick auf die Zweite Symphonie an, indem er schrieb: »Die gedankliche Basis des Werkes ist deutlich in den Worten des Schlusschores ausgesprochen, und auf die ersten Sätze wirft das plötzlich einfallende Altsolo ein erhellendes Licht.«2 Ähnlich hätte er sich über die Dritte äußern können, mit der einzigen Abweichung, dass sie statt in einen Schlusschor in ein rein instrumentales Finale mündet. Die Zweite und Dritte Symphonie behandeln, in den Begriffen der katholischen Theologie ausgedrückt, den Übergang von der Ecclesia Militans zur Eccesia Triumphans. Der römische Katechismus, vom Konzil von Trient bis weit in das 20. Jahrhundert gültig, beschrieb sie explizit mit den folgenden Worten: Die streitende Kirche ist die Vereinigung der Gläubigen, welche noch auf Erden leben. Sie wird deshalb streitende Kirche genannt, weil sie einen fortwährenden Krieg zu bestehen hat mit den wüthendsten Feinden: mit der Welt, dem Fleische, dem Satan. [Die triumphierende Kirche besitzt] schon das himmlische Vaterland; [die streitende Kirche

1 | Der Autor dankt Grit Herzmann für die hilfreichen Kommentare zu diesem Aufsatz. 2 | Herta Blaukopf (Hg.), Gustav Mahler Briefe, Wien ²1996, S. 163.

184

T IMOTHY F REEZE folgt ihr] von Tag zu Tag, bis sie einst, mit unserem Erlöser vereinigt, in ewiger Glückseligkeit ruht. 3

Mahler waren diese Begriffe sicherlich bekannt. Katholischer Mystizismus reizte ihn lebenslang, selbst wenn er die kirchliche Doktrin nicht vollständig akzeptierte.4 In einem Gespräch mit Natalie Bauer-Lechner hat er sich zudem tatsächlich auf die Ecclesia Militans in einer programmatischen Deutung des Finales der Zweite Symphonie berufen.5 Der Begriff, Ecclesia Militans, kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Er deutet nicht nur auf die tatsächlich bewaffnete, gegen äußere Feinde mobilisierte Kirche hin, sondern auch auf die Gemeinschaft der Gläubigen, die gegen innere Feinde wie Sünde und Zweifel kämpfen, in der Hoffnung, eines Tages im Himmel als Mitglieder der erlösten Seelen, der Ecclesia Triumphans, ruhen zu können. Vor allem dieser innere Aspekt wird von Mahler als gedankliche Basis der Symphonien herangezogen. Der vierte Satz der Zweiten, das Wunderhorn-Lied Urlicht, thematisiert die Entschlossenheit und Hoffnung eines Individuums auf ewiges Leben, welches in dem von Klopstock und Mahler verfassten Schlusschor des Finales garantiert wird. Im vierten Satz der Dritten Symphonie wird im Trunkenen Lied die Verzweiflung des Menschen über die Sterblichkeit sowie die trotzende Sehnsucht nach Ewigkeit artikuliert. Wie in der Zweiten Symphonie enthält der darauf folgende Satz eine christlich gefärbte Zusicherung. Auf dem Wunderhorn-Gedicht Armer Kinder Bettlerlied basierend, verkündet Jesus einem sündigen Bettler: um in den Himmel zu gelangen, muss man Gott nur lieben. Ecclesia Militans und Triumphans sind passende Chiffren für Mahlers Symphonien, weil sie auch mit den Mitteln, die die Semantik musikalisch verwirklichen, gut übereinstimmen. Mahler überträgt den Inhalt der Gesangstexte beider Symphonien in den instrumentalen Teilen ihrer Ecksätze mithilfe eines Netzwerks aus Beziehungen in Tonart, Motiven und, worin der Schwerpunkt dieses Aufsatzes liegt, Idiom. Als das musikalische Korrelat der gedanklichen 3 | Adolf Buse (Hg.), Der römische Katechismus. Nach dem Beschlusse des Concils von Trient für die Pfarrer auf Befehl Papstes Pius des Fünften herausgegeben, übers. von Dr. Smets, Bielefeld, Leipzig 1867, S. 87. 4 | Sicherlich erleichterte diese Affinität seine offizielle Konversion zum Katholizismus Anfang 1897, eine Erfordernis seiner Amtseinsetzung bei der Wiener Hofoper. 5 | Natalie Bauer-Lechner, Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, hg. von Herbert Killian und Knut Martner, Hamburg ²1984, S. 40: »Der große Appell ertönt: die Gräber springen auf und alle Kreatur ringt sich heulend und zähneklappernd von der Erde empor. Nun kommen sie alle aufmarschiert im gewaltigen Zuge: Bettler und Reiche, Volk und Könige, die ecclesia militans, die Päpste. Bei allen gleiche Angst, Schreien und Beben, denn vor Gott ist keiner gerecht.«

G USTAV M AHLERS MUSIKALISCHE E CCLESIA M ILITANS UND T RIUMPHANS

Basis dieser Symphonien verwendet Mahler ein Wechselspiel von Marsch und Choral in den ersten, vorletzten und letzten Sätzen (siehe Abb. 1).

Symphonie Nr. 2 Satz:

I

Marsch/Choral:

M/C



IV

V

C

M/C Ã C

V

VI

M/C

C

Symphonie Nr. 3 Satz:

I

Marsch/Choral:

M/C



Abb. 1: Marsch und Choral in Mahlers Zweiter und Dritter Symphonie. Der Ursprung des Marsches im Militär und des Chorals in der Kirche befähigen die Idiome, das Irdische beziehungsweise Streitende gegenüber dem Himmlischen beziehungsweise Triumphierenden zu konnotieren. Zudem sind die Idiome aufgrund ihrer musikalischen Eigenschaften zu diesem Zweck geeignet. Als eine Gangart vermittelt der Marsch die Vorstellung der hinstrebenden, zielgerichteten Bewegung, die analog zu dem seelischen Streben der Ecclesia Militans ist. Mahlers streitende Kirche ist gewissermaßen eine schreitende. Der homophonische Duktus und die getragene Rhythmik des Chorals übermitteln hingegen ein Nachlassen an Bewegung oder sogar einen Stillstand. Dies erzeugt einen Finalcharakter, der sowohl von der Assoziation mit letzten Dingen als auch von der symphonischen Tradition im 19. Jahrhundert, wo der Choral oft als Schlussidiom eingesetzt wurde, unterstützt wird. Schließlich spiegelt das Ineinandergreifen der Morphologien des Marsches und des Chorals, die wie ein und dasselbe Idiom erscheinen, allerdings mit unterschiedlichen Akzentuierungen, das Verhältnis von Ecclesia Militans und Triumphans wider: Beide bestehen aus der Gemeinschaft der Gläubigen, die sich lediglich in verschiedenen Zuständen befinden. Im Folgenden werden die spezifische Art von Märschen und Choräle, wie auch ihre semantischen Konnotationen, in beiden Symphonien näher beleuchtet.

185

186

T IMOTHY F REEZE

S YMPHONIE N R . 2 Im ersten Satz der zweiten Symphonie thematisiert Mahler die Diskrepanz zwischen der Ecclesia Militans und Triumphans rein instrumental mithilfe des Wechselspiels von Marsch und Choral. Von der Formenlehre aus betrachtet ist der Satz eine Kreuzung von Sonatenhauptsatz und Rondo (siehe Abb. 2). Exposition

Durchführung

Reprise

A

B

A*

B

A*

B

A*

A

B

A

147

4862

62116

117146

147207

208243

244329

329361

362391

392445

A = erste Themengruppe (Marsch) B = zweite Themengruppe (Gesang) * = beinhaltet Choral-Erscheinung Abb. 2: Form des ersten Satzes der Zweiten Symphonie. Die Idee der Sterblichkeit wird deutlich mit dem Trauermarsch, der der ersten Themengruppe zugrunde liegt, hervorgerufen. Während die gerichtete Bewegung eines Marsches nicht notwendigerweise das Ziel konnotiert, führt das Voranschreiten eines Trauermarsches zum Grab.6 Im Gegensatz dazu evoziert die gesangvolle, von charakteristisch himmlischer Orchestrierung gekennzeichnete, zweite Themengruppe einen transzendenten Bereich. Dieser Gruppe fehlt es allerdings an motivischen und tonalen Beziehungen zu späteren Sätzen. Daher sind es die Choräle, die an drei Stellen in der ersten Themengruppe auftauchen, in Figur 2 mit einem Sternchen markiert, die sich entscheidender auf die Verlaufskurve der Symphonie auswirken. Alle Choräle in diesem Satz sind kurzlebig und unfähig, sich gegen den Trauermarsch durchzusetzen. Das kontinuierliche Versagen des Chorals, die Verwandlung zu einer höheren Ebene zu verwirklichen, gibt der Lage der streitenden Kirche eloquent Ausdruck. So bricht der erste Choral wie ein plötzlicher Sonnenstrahl in As-Dur durch die dunkeln Wolken des c-Molls (T. 74f.). Die rasche Wendung ins Affirmative, mit dem getragenen Duktus und der blechbläserbetonten Orchestrierung, ist umso wirkungsvoller, da sie ebenso rasch scheitert. Bevor der Choral auch nur eine Phrase vollenden kann, rutscht er zu g-Moll ab und erliegt dem wiederkehrenden Trauermarsch, der hier die Exposition zu ihrem turbulen-

6 | In der Tat war die erste Version des Satzes eine symphonische Dichtung mit dem Titel Totenfeier.

G USTAV M AHLERS MUSIKALISCHE E CCLESIA M ILITANS UND T RIUMPHANS

ten Gipfel treibt. Die Schlussgruppe, mit ihrem langsameren Tempo und stumpfsinnig trottenden Ostinato, verstärkt noch den Trauermarsch-Charakter. Während der zweite Choral (T. 175f.) in einer ähnlichen Art und Weise erscheint und untergeht,7 ist der dritte Choral (T. 270f.) komplexer und, anhand der vielen Beziehungen zum Finale, von weitreichender Bedeutung. Zunächst fehlt dem Ausdruck des eintretenden Chorals die Affirmativität, da das Kopfmotiv dem allgemein bekannten Dies Irae entlehnt ist. Dieser aus der Totenmesse stammende Choral wird mit dem Jüngsten Gericht, mit dem Zustand, bevor die Gläubigen in der Ecclesia Triumphans aufgenommen werden, assoziiert. In der von Mahler komponierten Fortsetzung verwandelt sich das Kopfmotiv zu einem hoffnungsvollen Choral, der sogar zu einer regelmäßig bebauten, achtaktigen Phrase mit Halbschluss heranwächst. Dieser Choralkomplex an sich ist eine Zusammenfassung des Wegs vom Tod zum ewigen Leben, dem auch die Symphonie folgt. Nach einer kräftigen Wiederholung eines Trauermarschmotivs breitet sich das Choral-Idiom noch weiter aus, indem eine neue, aufwärts strebende Melodie in Es-Dur, die zum ersten Mal erscheinende Tonart des Finales, in Trompeten und Posaunen einsetzt. Fürwahr ist diese Melodie ein Vorgriff auf das sogenannte Ewigkeitsmotiv, das auch eine große Rolle im Finale spielt8 und den Text »Sterben werd’ ich, um zu leben!« vertont. Zum Zeitpunkt der dritten Choral-Erscheinung im ersten Satz ist jedoch noch das Sterben vorherrschend. Das Dies Irae schneidet das Ewigkeitsmotiv einen Ton vorzeitig, die tonale Schließung verhindernd, ab und löst eine frenetische Steigerung zu dem Höhepunkt des ganzen Satzes aus, einem infernalischen Marsch mit ungeheuerer Kraft, starken Dissonanzen und grotesken Klangeffekten (T. 291-329). Die Spannung steigt kontinuierlich bis zu einer immensen Kadenz in c-Moll, der Haupttonart des Satzes. Dies demarkiert den Anfang der Reprise, die die Züge eines ausgedehnten Ausgangs annimmt. Sie stellt weder die Spannung noch die Finalität der Durchführung her und, damit verwandt, beinhaltet sie auch keine Choräle. Trotz der relativ treuen Wiederaufnahme der Exposition, entfällt der Teil der ersten Themengruppe mit der Choral-Erscheinung. Die Reprise geht direkt von der zweiten Themengruppe zu der düsteren Schlussgruppe über, in der das Trauermarsch-Idiom am intaktesten ist. Wir verbleiben weiterhin fest im Bereich der Ecclesia Militans. Über die nächsten Sätze schrieb Mahler: »Der 2. u. 3. Satz ist als Interludium gedacht«9 . Es ist nicht zufällig, dass weder Marsch noch Choral hier erscheinen. 7 | Der zweite Choral tritt plötzlich in D-Dur aus dem Trauermarsch heraus, rutscht aber rasch einen Halbton herunter. Die daraus resultierende Steigerung des Trauermarsches wird noch vehementer als bisher. 8 | Siehe zum Beispiel V/T. 28f., 426f., 540f., 686ff. Constantin Floros hat das Motiv so genannt. Vgl. hierzu Constantin Floros, Gustav Mahler. Bd. 2: Mahler und die Symphonik des 19. Jahrhunderts in neuer Deutung, Wiesbaden 1977, S. 259-260. 9 | Blaukopf, Briefe, S. 173.

187

188

T IMOTHY F REEZE

Der Faden der idiomatischen Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit wird in Urlicht wieder aufgenommen. Wenn Mahler das Lied als ein »erhellendes Licht« beschrieb, meinte er damit nicht nur, dass der Text ein mögliches Interpretationsraster für die vorangegangenen instrumentalen Sätze sei. Er machte auch auf die musikalischen Träger dieser Semantik aufmerksam. Dieses Lied, das den Wunsch auf ewiges Leben thematisiert, wird nach der Intonation eines Alt-Solos von einem Bläser-Choral initiiert, dessen Assoziationen mit der Ecclesia Triumphans dadurch verdeutlicht werden, dass die Choral-Melodie im Lied auch für die Zeilen »lieber möcht’ ich im Himmel sein« und »ewig, selig Leben« verwendet wird (T. 26f., 62f.). Da diese Choral-Melodie von denen im ersten und fünften Satz abweicht, ist vor allem das Idiom selbst hinreichend, um die semantischen Beziehungen herzustellen.10 Der Klagensschrei am Anfang des unmittelbar folgenden Finales lässt den vierten Satz lediglich als eine kurze Vision des himmlischen Ziels der Symphonie erkennen. Es wird erst in diesem letzten Satz deutlich, dass der Übergang von der Ecclesia Militans zur Triumphans endgültig erfolgt. Dieser Verlauf kann in der Anordnung der Choräle und Märsche verfolgt werden und ist auch in den groben Zügen des zweiteiligen Baus zu erkennen. In dem ersten, rein instrumentalen Teil, interagieren Marsch, Choral und das Dies Irae noch miteinander. Der zweite Teil hingegen, wo Chor und Solisten die Auferstehung bekannt geben, besteht hauptsächlich aus Choral- und Gesangsidiomen ohne jegliche Spur von Marsch oder Dies Irae. Die Choräle und Märsche im ersten Teil des Finales inszenieren die inneren Kämpfe der streitenden Kirche immer eindringlicher. Als Vorlage für die ersten Choräle dient die dritte Choral-Erscheinung des ersten Satzes. Nun aber ist die Melodie des Auferstehungschorals die affirmative Fortsetzung des Dies Irae. Der erste Einsatz dieses Choral-Komplexes (T. 62f.) besteht nur aus den sehr leisen Choral-Melodien mit laufender pizzikato-Begleitung: Im Kontrast zum ersten Satz wird er diesmal nicht vorzeitig abgeschnitten. Stattdessen vollzieht sich mit dem Komplex eine Verwandlung zu einer höheren Ebene, die reich an erhebenden Choral-Melodien und Fanfaren ist. Die Transzendenz-Szenerie ist jedoch nur flüchtig und löst sich schnell wieder in trauermarschartige Figuren auf. Bei seinem zweiten Einsatz (T. 143f.) steigert sich die Wirkung des Choralkomplexes maßgeblich. Aus der Stille einer großen Pause heraus ertönt das Dies Irae voll harmonisiert in den tiefen Blechbläsern und feierlicher als jemals zuvor. Der Auferstehungschoral wächst rasch zu einer Kulmination sowie einer stark verlängerten Wiederholung der Transzendenz-Szenerie an, die diesmal noch erhabener und imposanter ist. Trotzdem löst auch sie sich allmählich in steigernde Chromatik und einen Hauch von trottender Rhythmik des Trauer10 | Des-Dur, die Tonart des Liedes, ist auch mit den Chorälen im Finale nah verwandt (siehe V/T. 142f., 418f. und 472f.).

G USTAV M AHLERS MUSIKALISCHE E CCLESIA M ILITANS UND T RIUMPHANS

marsches auf, was den affirmativen Ton verzerrt und sozusagen beide Füße des schwebenden Ausdrucks wieder auf die Erde zurückbringt. Diese Metapher ist nicht nur dichterisch gemeint. Wahrhaftig werden in der darauf folgenden Passage die Choräle zu Märschen dekomponiert (T. 194f.). Der anfänglich affirmative Ton der Marschepisode wirkt zunehmend grotesk, als das Dies Irae, der Auferstehungschoral und die den Satz eröffnende Schreckensfanfare als melodische Motive erscheinen. So werden die Choräle, die eben noch den Anschein erweckten, himmlische Wegbereiter sein zu können, wieder in den Bereich der streitenden Kirche zurückgezogen. Wenn das wiederholte Versagen der Choräle und ihre Verwandlung in einen infernalischen Marsch als musikalische Analoge zu den inneren Kämpfen der Ecclesia Militans verstanden werden, dann verstärkt Mahler diese Schilderung noch ein letztes Mal im ersten Teil des Finales. Am Ende der Marschepisode erklingt ein Vorgriff auf ein Rezitativ im zweiten Teil des Satzes, dessen von Mahler verfassten Text den Zweifel und das Sehnen der Gläubigen in der streitenden Kirche thematisiert: »O glaube, mein Herz, O glaube! Es geht Dir nichts verloren« (vgl. T. 326f. mit T. 561f.)11 . Mahler schildert diese Gesinnung nicht nur mit Marschelementen, sondern auch mit Militärmarschelementen, die von einem Fernorchester gespielt werden (T. 343f.). Dies ist eine der deutlichsten Instanzen von Bezügen auf Militärmusik in Mahlers ganzem Oeuvre.12 Obwohl die Trompeten Fanfaren in ständig wechselnden Metren spielen, wird durch das regelmäßige Schlagzeug der Eindruck eines Marsches erweckt. Die sich steigernde Intensität des immer näher kommenden Klangs des Fernorchesters spiegelt den inneren Kampf gegen Zweifel und das persönliche Bangen um ewiges Leben wider. Es ist das letzte Mal, dass ein Marsch in der Symphonie ertönt. Kurz nachdem die Passage in Verzweiflung kulminiert, setzt endlich der Chor mit der Auferstehungsbotschaft ein. Bislang verwendete Mahler das Choral-Idiom als ein Element, das im Kontext der Gesinnungsäußerungen der Ecclesia Militans auftauchte. Doch jedes Mal scheiterten die Choräle, eine Verwandlung zu einer höheren Ebene durchzuführen, und wurden sogar in Märsche, der musikalische Inbegriff der streitenden Kirche, dekomponiert. Nun aber erfolgt der Übergang zu der Ecclesia Triumphans in der Zweiten Symphonie nur, wenn er – wie der Auferstehungsbefehl selbst – scheinbar vom Jenseits ausgeht. Nach der Fernorchester-Episode zieht die programmmusikalische Darstellung des Jüngsten Gerichts einen Schlussstrich. Aus heiterem Himmel und in den ver11 | Ein anderer Vorgriff auf dasselbe Rezitativ findet kurz vor dem Choral-Marschkomplex in T. 98f. statt. 12 | Die Klangwelt des Militärs wird hauptsächlich durch die Orchestrierung evoziert: mehrfach besetzte Trompeter in zwei Tonarten und die für Militär charakteristischen Schlagzeuge, kleine Trommel, große Trommel und Becken, denen Mahler noch Triangel hinzufügt.

189

190

T IMOTHY F REEZE

klingenden Abgrund tritt der Chor, ppp wie das Flüstern aus weiter Ferne ein. Die letzte Viertelstunde der Symphonie wird von Choral- und Gesangs-Idiomen beherrscht. Das irdische Streben wird mit dem himmlischen Dasein ersetzt.

S YMPHONIE N R . 3 Eine Idiomatik und Semantik, ähnlich denen in der Zweiten Symphonie, liegen zu großen Teilen der Dritten zugrunde. In dem ersten, vorletzten und letzten Satz tragen auch hier Marsch und Choral eine besondere Bedeutung als musikalische Korrelate der Dichotomie zwischen irdischem und himmlischem Bereich. Die unterschiedliche Realisierung dieser Mittel verhindert, dass beide Symphonien wie aus ein und demselben Holz geschnitzt erscheinen. Der riesige, erste Satz der Dritten Symphonie besteht im Grunde aus zwei fast hermetisch abgeriegelten Themengruppen, die jeweils viermal im Wechsel erscheinen und sich in Tonart, Motiven und Idiom unterscheiden.13 Exposition

Durchführung

Reprise

A1

B1

A2

B2

A3

B3

A4

B4

1

132

164

225

369

451

643

737

A = erste Themengruppe B = zweite Themengruppe Abb. 3: Form des ersten Satzes der Dritten Symphonie. Die Idiomatik der ersten Themengruppe allein ist ähnlich der des ganzen Eröffnungssatzes der Zweiten Symphonie. Über ihre vier Auftritte hinweg durchläuft diese Gruppe eine allmähliche Verwandlung von einem Trauermarsch, der zum Teil mit bombastischen Elementen ausgeschmückt ist, zu einem sehnsuchtsvollen Gesang, der am Ende sogar Choral-Andeutungen annimmt. Trotz einer geringeren Integrität der Idiome, die im Gegensatz zur Zweiten Symphonie hier zum Teil nur angedeutet werden, sind die semantischen Implikationen dieser Progression klar erkennbar. Dies wird auch unterstützt, indem Mahler diese Gruppe mit Bezügen auf spätere Sätze ausstattet. In dieser Hinsicht wirft die Nietzsche-Vertonung des vierten Satzes ein erhellendes Licht auf die erste Themengruppe, die dieselbe Tonika D und eine Anzahl von gemeinsamen Motiven aufweist, wovon zwei besonders aufschlussreich sind. Das erste, ein sehr markan13 | Der Satz ist äußerst lang und komplex. Diese Figur stellt nur eine von vielen Möglichkeiten dar, die Form zu überblicken.

G USTAV M AHLERS MUSIKALISCHE E CCLESIA M ILITANS UND T RIUMPHANS

tes Motiv des ersten Satzes, welches fast immer von acht Unisono-Hörnern gedonnert wird, kehrt mit dem von Gedanken an die Sterblichkeit angeregten Text »Tief ist ihr Weh« zurück (vgl. I/T. 6f. mit IV/T. 100f.). Ein zweites Motiv der ersten Themengruppe begleitet in der Nietzsche-Vertonung den Text »Doch alle Lust will Ewigkeit« (vgl. I/T.83f. mit IV/T. 119f.) und weist eine frappante Ähnlichkeit zu dem Ewigkeitsmotiv der Zweiten Symphonie auf. Das Trauermarsch-Idiom und die Bezüge auf den vierten Satz verdeutlichen rein instrumental das Thema der Sterblichkeit, das wiederum mit dem Choral als Symbol der triumphierenden Kirche kontrastiert wird. Obwohl sie streng genommen kein Choral-Idiom darstellen, schaffen Tonart, Orchestrierung und gesangvolle Melodie am Ende der ersten Themengruppe eine Vorausschau auf den sechsten Satz, das Choral-Finale der Symphonie (vgl. I/T. 728f. mit VI/T. 1f.). Auf diese Weise skizziert die erste Themengruppe einen Verlauf, dem die Symphonie selbst folgen wird. Was den ersten Satz jedoch so unterschiedlich zu dem der zweiten Symphonie macht, ist die zweite Themengruppe. Anstatt aus tröstenden Gesangselementen besteht sie fast vollständig aus einem Marsch-Idiom, dessen Gestalt und Ausdruck sich kontinuierlich ändern. Bald heiter und animiert, dann wieder kriegerisch und bombastisch beziehen sich die Märsche und ihr umgangssprachlicher Ton nicht nur auf Militärmärsche, sondern oft auch auf Gattungen wie Operette und militärische Tongemälde.14 Während realistische Merkmale von Militärmärschen im Finale der Zweiten Symphonie zur Verschärfung von Angst dienten, finden in der zweiten Themengruppe der Dritten Symphonie vielfältige Bezüge auf den musikalischen Alltag statt. Vor dem Hintergrund der ultimativen Fragen der Ecclesia Militans, die in der ersten Themengruppe aufgeschlagen werden, scheinen die Märsche Heiterkeit und Lebensfreude auszudrücken, ungetrübt von den Vorahnungen auf die menschliche Sterblichkeit. In dieser Weise kann der erste Satz der Dritten Symphonie als ein umfassendes Bild des irdischen Lebens verstanden werden. Mahler verwendet eine Vielfalt von Marsch-Idiomen, um das Leben nicht nur als ein vorläufiges, leidensvolles Hindernis zur himmlischen Freude darzustellen, sondern auch als eine Existenz mit einer positiven Seite, die gefeiert werden kann. Eine solche Deutung stimmt mit dem Wechselspiel der Märsche und Choräle im fünften Satz, dem kürzesten der Symphonie, überein. Die Hauptteile der dreiteiligen Liedform sind Märsche mit Choral-Elementen, die von Glockengeläutimitationen im Knabenchor begleitet werden. Der Marsch ist durch eine Melodie gekennzeichnet, die oft choralkompatibel ist, was der himmlischen Szenerie des Textes entgegenkommt. Einzig der Choral erscheint in einigen zwei- bis viertaktigen Einschüben als reines Idiom, ohne von Marschelementen gefärbt zu werden. 14 | Für Beispiele und ausführlichere Diskussion siehe Timothy David Freeze, Gustav Mahler’s Third Symphony. Program, Reception, and Evocations of the Popular, Phil. Diss., University of Michigan 2010, S. 139-186, 216-230.

191

192

T IMOTHY F REEZE

Der Wunderhorn-Text, der die Furcht der Ecclesia Militans – besonders vor den Konsequenzen, die aus den Sünden resultieren – im Kontext des Eintritts in den Himmel behandelt, erleuchtet die Semantik der idiomatischen Wechselhaftigkeit. Während der kecke Marsch die folgenden Zeilen vertont: Es sungen drei Engel einen süßen Gesang... mit Freuden es selig in dem Himmel klang... Sie jauchzten fröhlich auch dabei...

artikulieren Choral-Einschübe den Anfang der folgenden Auswahl von Zeilen: Daß Petrus sei von Sünden frei.... »Ich habe übertreten die Zehn Gebot... Ach komm und erbarme dich über mich.... Liebe nur Gott in alle Zeit...

Hieraus wird klar, dass der Marsch abermals mit Fröhlichkeit, Heiterkeit und Lebenslust assoziiert wird. Das Choral-Idiom bildet indessen die musikalische Grundlage der gravierenden Überlegungen darüber, wie man sich den Eintritt zum Himmel verdienen kann. Die offensichtlichen Entsprechungen der Idiomatik und Semantik des ersten und fünften Satzes werden durch tonale Beziehungen unterstützt. Wie die marschmäßigen Hauptteile des fünften Satzes, steht die zweite Themengruppe des ersten Satzes in F-Dur. Andererseits beginnt jeder der Choral-Einschübe in D-Dur, ganz ohne Überleitung, ohne Angel-Akkord. Die erste Themengruppe fängt zwar in d-Moll an, verwandelt sich aber für die Choral-Andeutung an ihrem Ende auch zu D-Dur. Dem ersten und fünften Satz liegt demnach eine verwandte tonale und idiomatische Polarität zugrunde, die noch dadurch verstärkt wird, indem die Themengruppen im ersten Satz, wie die Choral-Einschübe im fünften, größtenteils als Juxtapositionen nebeneinander stehen. Nachdem der anonyme Bettler von seinen Sünden freigesprochen ist, erklingen keine Märsche mehr. Der sechste Satz nimmt die Semantik der ersten Themengruppe des ersten Satzes wieder auf. Er beginnt in D-Dur als hymnisches Adagio, welches eng mit dem Choral-Idiom verbunden ist. Zwischendurch erscheinen einige Rückgriffe auf bombastische Episoden des ersten Satzes, besonders das von acht Hörnern gedonnerte Motiv, das die Verzweiflung des Menschen vor der Sterblichkeit thematisiert (T. 180f.). Schließlich wird aber alles, was mit dem irdischen Leben verbunden ist, überwunden, als ein massiver Choral-Schluss das Ankommen in der Ecclesia Triumphans verkündet. In dieser Art und Weise, wie hier anhand der Zweiten und Dritten Symphonie erläutert, boten Märsche und Choräle Mahler die Möglichkeit, das ganze Universum, von der Erde bis zum Himmel, im geraden Takt darzustellen.

Profanisierte Transzendenz und verinnerlichte Objektivität Marsch und Choral in Mahlers Fünfter Symphonie Federico Celestini

Dass die Trompeten-Fanfare, mit der Gustav Mahlers Fünfte Symphonie anhebt, auf die Anfänge der Gattung verweist, war am Beginn des 20. Jahrhunderts den wenigsten bewusst – wahrscheinlich auch Mahler nicht. Denn die historische Spur dieser Anfänge war in Vergessenheit geraten. Gerade in dieser Zeit stritten Hugo Riemann, Guido Adler und Fausto Torrefranca darüber, ob der »Ursprung« der klassischen Symphonie bei der sogenannten Mannheimer Schule um Johann Stamitz, in Wien bei Georg Christoph Wagenseil oder bei der italienischen Instrumentalmusik um die Mitte des 18. Jahrhunderts zu verorten sei. Diese Thesen wurden nicht nur von dem jeweiligen nationalen Chauvinismus geprägt, sondern auch von jenem ideologischen Nebel getrübt, der die sogenannte Wiener Klassik und die »absolute« Musik umhüllte und beide zu musikhistoriografischen und -ästhetischen Mythen machte. Erst zu Beginn der 1970er-Jahre stellte Helmut Hell mit seiner sechshundertseitigen Dissertation klar, dass die satztechnischen, klanglich-orchestralen und formalen Voraussetzungen jener »edlen« Musik in den Opernsymphonien der neapolitanischen Komponisten wie Alessandro Scarlatti, Nicola Porpora, Leonardo Leo und Leonardo Vinci zu finden sind.1 Diese Verbindung wurde so lange übersehen, weil die Oper und insbesondere deren Eröffnungssymphonie – in der Regel in der letzten Minute in großer Eile und lediglich zum Zweck komponiert, dem zerstreuten und plaudernden Publikum den Beginn des Spektakels zu signalisieren – wegen fehlender »Werkhaftigkeit« und des geringen kompositorischen Anspruchs als »Ursprung« der »klassischen« Symphonie unwürdig erschien 1 | Hellmut Hell, Die neapolitanische Opernsinfonie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. N. Porpora, L. Vinci, G. B. Pergolesi, L. Leo, N. Jommelli, Tutzing 1971; Stefan Kunze, Die Sinfonie im 18. Jahrhundert (= Handbuch der musikalischen Gattungen, 1), Laaber 1993 baut auf Hells Arbeit auf.

194

F EDERICO C ELESTINI

und deshalb nicht in Frage kam. Mit welchen ideologischen Erwartungen und Wertungen die Suche nach dem »Ursprung« beladen ist, braucht ja kaum erörtert zu werden. Was aber in unserem Zusammenhang am meisten interessiert, ist, dass ausgerechnet das »Eindringen der Fanfare in die neapolitanische Opernsinfonie« – so lautet eine Kapitelüberschrift in Hells Dissertation – diejenigen kompositorischen Konsequenzen nach sich zog, die für die späteren Erscheinungen ausschlaggebend wurden. Eine durch Trompeten geblasene und in der Regel nicht notierten Eröffnungsfanfare, die der eigentlichen Eröffnungssymphonie vorausging, war seit den frühesten Opern üblich und dem höfischen Charakter jener Veranstaltungen angemessen. Als diese aber etwa hundert Jahre später in den Symphonie-Satz integriert wurde, führte die Übernahme der für die Fanfare typischen mehrtaktigen Blöcke über Tonika und Dominante, die durch die Beschränkungen im Tonvorrat der Blechbläser bedingte Vereinfachung der harmonischen Vielfalt sowie die konsequente Konzentration auf die grundlegenden Stufen zur Auflösung des barocken, auf dem Generalbass ruhenden Satzes. Die ab den 1720er-Jahren beliebte Dreiklangsmotivik lässt sich ebenfalls auf diese Entwicklung zurückführen. Noch bei Mozart kommt die für die Fanfare typische Tonart D-Dur unter seinen Symphonien am häufigsten vor. Die Assoziation dieser Tonart mit Festlichkeit und zeremoniellem Glanz ruht eben auf der langen Tradition der Trompeten-Fanfare. Die Wirkung der Militärmusik auf die neapolitanische Opernsymphonie lässt sich schließlich auch im formalen Bereich feststellen, denn die Anregung dazu, die aus dem Instrumentalkonzert der Zeit importierte Durchkomposition zugunsten der Zweiteiligkeit mit Wiederholungszeichen zu verlassen, kam ausgerechnet durch den Marsch, nämlich jene Musik, die mit der Fanfare am engsten verwandt ist. *** Der Trauermarsch stellt eine besondere Art des Marsches dar, die im Laufe ihrer Geschichte eine starke Tendenz zur Entwicklung einer eigenen Idiomatik zeigt. Dieser entspricht eine bestimmte rituelle Funktion: Der Trauermarsch dient zur Überführung des individuellen Leidens in die Dimension des Kollektiven und ermöglicht die öffentliche Teilnahme, welche im gemeinsamen Fortschreiten des Trauerzugs ihren Ausdruck findet. Der kollektiv geteilte Ausdruck der Trauer nimmt somit die Form der durch Musik skandierten, synchronen Bewegung einer ganzen Gemeinschaft an. Im Trauermarsch wird das Mitfühlen nicht nur symbolisch geäußert, sondern auch verkörpert. Diese kollektive synchronisierte Bewegung ermöglicht ferner die Überführung der Intensität des Schmerzes in die Extension des durch den Marsch durchmessenen Raums. Beide Überführungen des Individuellen ins Kollektive und des Innerlichen ins

P ROFANISIERTE T RANSZENDENZ UND VERINNERLICHTE O BJEK TIVITÄT

Äußerliche stellen den funktionalen Rahmen her, in dem der Übergang vom Leben in den Tod im sozialen Raum rituell gestaltet und zelebriert wird. Der Trauermarsch bewirkt aber aufgrund der harmonischen, melodischen und rhythmischen Merkmale, die ihm eigen sind, zugleich einen Eindruck von Stasis. Diese widersprüchliche Koinzidenz von Bewegung und Bewegungslosigkeit mag damit zusammenhängen, dass das Ziel des Trauermarsches, nämlich der Bestattungsort, an sich nicht emphatisch anzustreben ist. Denn dieser bedarf einer Verklärung zum symbolischen Ort der Überwindung des Todes in die religiöse (Wiedererstehung) und eventuell weltliche (Heroisierung) Transzendenz, deren musikalischer Ausdruck außerhalb der expressiven Reichweite des Trauermarsches liegt. Im 19. Jahrhundert stellt häufig der Choral den musikalischen Träger dieser Verklärung dar. Beide Momente, Trauermarsch und Choral, kommen in Gustav Mahlers 1904 in Köln uraufgeführter Fünfter Symphonie vor.2 Das Werk ist in drei Teile gegliedert, wobei die erste Abteilung aus einem Trauermarsch und aus dem zweiten Satz (Stürmisch bewegt. Mit größter Vehemenz) besteht, die zweite allein aus einem breit angelegten Scherzo und schließlich die dritte Abteilung aus dem Adagietto und einem Rondo-Finale. Ein dichtes Netz von thematischen Beziehungen erstreckt sich über die Sätze der ersten und der dritten Abteilung, während im Rondo-Finale Themen und Motive aus den vorausgegangenen Sätzen wiederkehren. Das Scherzo fällt sowohl wegen seines außergewöhnlichen Umfangs als auch wegen der satztechnischen Komplexität auf. Wohl über die mittige Stellung hinaus scheint es das eigentliche Zentrum der Symphonie darzustellen, nämlich den Satz, in dem die Teleologie des per aspera ad astra zugunsten einer anderen, komplexeren und vielschichtigen Narrative verlassen wird. Mahler sah sich außerstande, eine einheitliche Tonartbezeichnung für die gesamte Symphonie zu benennen, die Angabe cis-Moll bezieht sich auf den ersten Satz, als Hauptsatz betrachtete er aber den zweiten.3 Der Trauermarsch ist deutlich durch Klänge und Idiome des Militärs geprägt. Auch die Spielweise soll sich daran orientieren: Die Auftakt-Triolen der Trompete, mit denen der Satz anhebt, sind einer Partituranweisung zufolge »nach Art der Militärfanfaren« vorzutragen, nämlich »stets etwas flüchtig« und »quasi accel[erando]«. Der Satz besteht aus dem Wechsel zweier Teile mit unterschiedlichem Charakter: Der eigentliche Trauermarsch und ein hochexpressiver Teil folgen aufeinander nach dem Schema: A/B/A'/B'/A'. Die für den Marsch übliche Folge von Hauptsatz (A) und Trio (B) ist darin leicht erkennbar. Es gehört zu den 2 | Im Folgenden stütze ich mich auf die Ergebnisse der Analyse, die in Federico Celestini, Die Fünfte Symphonie, in: Peter Revers und Oliver Korte (Hg.), Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke, Bd. 2, Laaber 2011, S. 3-51 ausführlich dargestellt wird. 3 | Siehe den Brief Mahlers an den Verlag Peters vom 23.7.1904 in: Herta Blaukopf (Hg.), Gustav Mahler, Briefe, 2., nochmals revid. Aufl., Wien 1996, S. 316.

195

196

F EDERICO C ELESTINI

allgemeinen Merkmalen des Marsches, dass das Verhältnis zwischen Hauptsatz und Trio kontrastiv angelegt ist. Mahler setzt aber diese gattungsmäßig tradierte Gegensätzlichkeit derart um, dass die funktionale Bestimmung des Trauermarsches unterminiert wird. Denn bei den Trios handelt sich um einen »leidenschaftlich aufgewühlten, durch ständige Vorhaltsbildungen charakterisierten [Satz-] Typ«4 , der bereits im Finale der Zweiten Symphonie vorkommt. Es liegt nahe, diese expressiven Teile in Verbindung mit Subjektivität zu bringen: Sie drücken eben das Leiden des Subjektes »leidenschaftlich«, ja zuweilen »wild« aus – wie die Partituranweisungen lauten. Beide oben erwähnten Funktionen des Trauermarsches, die Überführung des Individuellen ins Kollektive und des Innerlichen ins Äußerliche, werden dadurch in Frage gestellt. Aufgrund der Vehemenz und Aufgeregtheit des Ausdrucks scheinen die Trios nicht nur den Hauptsatz zu kontrastieren, sondern gegen ihn geradezu zu revoltieren.5 Schon dadurch weist Mahlers Trauermarsch eine besondere Prägung auf. Betrachtet man den Hauptsatz, nämlich den eigentlichen TrauermarschTeil, näher, so sind weitere, aus der gattungsmäßigen Tradition abweichende Aspekte zu vermerken. Aufgrund der bereits erwähnten Überführung des individuellen Ausdrucks des Leidens in kollektive Trauer weist der Trauermarsch im Allgemeinen einen objektiven Charakter auf. Es reicht allerdings, die Trauermarsch-Teile aus der Fünften Symphonie beispielsweise mit Berlioz’ Marche funèbre aus der Grande Symphonie funèbre et triomphale (1840) zu vergleichen, um festzustellen, dass sich bei Mahler ausgerechnet ein Mangel an »Objektivität« bemerkbar macht. Dieser ist zweifellos auf die von ihm reichlich eingesetzte Variantentechnik zurückzuführen, denn der Trauermarsch ändert sich bei jeder Wiederholung. Zwar kehren alle Elemente wieder, jedoch nichts bleibt wie es war: Stets ändern sich das melodische Profil und die Instrumentierung, am auffälligsten bei der Trompetenfanfare, die zuweilen durch das volle Orchester vorgetragen wird. Unbeständige Fanfaren und veränderliche Signale stellen ein merkwürdiges Phänomen dar. Das Paradoxon einer labilen Militärmusik wirft ein besonderes 4 | Arno Forchert, Zur Auflösung traditioneller Formkategorien, in: AfMw 32/2 (1975), S. 85-98, hier S. 87. 5 | Mitchell spricht von »eruptions of protest against the implications of the march« Donald Mitchell, Eternity or Nothingness? Mahler’s Fifth Symphony, in: ders. und Andrew Nicholson (Hg.), The Mahler Companion, Oxford, New York 1999, S. 236-325, hier S. 248, Hervorhebung von Mitchell. Adorno zufolge antwortet das »erste Trio des bereits sehr groß einsetzende Trauermarsches […] nicht mehr mit lyrisch subjektiver Klage auf die objektive Trauer von Fanfare und Marsch. Es gestikuliert, erhebt ein Geschrei des Entsetzens vor Schlimmerem als dem Tod«. Theodor W. Adorno, Mahler. Eine musikalische Physiognomik, in: ders., Gesammelte Schriften 13, Frankfurt a.M. 1971, S. 149319, hier S. 168.

P ROFANISIERTE T RANSZENDENZ UND VERINNERLICHTE O BJEK TIVITÄT

Licht auf den gesamten Satz. Es scheint nämlich, dass Mahlers Trauermarsch nicht in seiner Gegenständlichkeit erklingt, sondern wie vermittelt durch das Bewusstsein eines »symphonischen Ich« wirkt.6 Durch Mahlers Variantentechnik, die offensichtlich die Veränderlichkeit der mündlichen Überlieferung von Musik in sich aufnimmt, wird jede Wiederholung zu einer Erinnerung, wobei ausgerechnet die Kategorie der Erinnerung in Bezug auf Mahler und Militärmusik eine bedeutende Rolle spielt. Denn Mahler wuchs in Iglau auf, einem mährischen Dorf, in dem eine große Garnison der österreichischen Armee einquartiert war. Märsche, Trompetensignale, Fanfaren und trommelndes Schlagzeug prägten somit seine frühe musikalische Erfahrung.7 Mahlers Kindheitserinnerung trifft somit auf die frühe, zur Jahrhundertwende freilich in Vergessenheit geratene Geschichte der Symphonie, als Märsche und Fanfaren die Anfänge der Gattung in rhythmischer, harmonischer und klanglicher Hinsicht wesentlich mitbestimmten. Interessanterweise übernehmen solche Klänge bei Mahler häufig strukturelle Funktionen wie die Markierung von formalen Zäsuren und die Überleitung in neue Abschnitte oder tragen zur Gestaltung peripetaler Wendungen bei. Im Hinblick auf das Vorkommen von Trauermärschen im symphonischen Repertoire des 19. Jahrhunderts scheint es, als ob Mahler im ersten Satz der Fünften Symphonie die »Erinnerung« eines Trauermarsches eher als eine symphonische Stilisierung komponiert hätte.8 Die Grenzen zwischen Individuellem und Kollektivem sowie zwischen Innerlichem und Äußerlichem werden durch die Einschaltung der Erinnerungsperspektive verwischt: Eine erinnerte Objektivität stellt nämlich deren Subjektivierung dar. Ferner bedeutet die Verwendung von Signalen und Fanfaren als Markierungen des Formablaufes eine Verschränkung zwischen außermusikalischer Referenz und formimmanenter Funktion, die ja für Mahler insgesamt charakteristisch ist.9 Die Rückführung des Trauermarsches in die Sphäre des subjektiven Ausdrucks stellt eine Art Entsublimierung dar, nämlich das Rückgängig-Machen jener Prozesse der Objektivierung und Verräumlichung des in6 | Zu den erzähltheoretischen Implikationen siehe Celestini, Die Fünfte Symphonie. 7 | Siehe dazu Vladimir Karbusicky, Gustav Mahler und seine Umwelt (= Impulse der Forschung, 28), Darmstadt 1978, S. 22-66. 8 | Siehe zu diesem Repertoire Richard N. Burke, The »marche funèbre« from Beethoven to Mahler, Ann Arbor, Mich. 1992. 9 | Adorno spricht diesbezüglich von der Notwendigkeit einer »materialen Formenlehre«. Adorno, Mahler, S. 193-195). Siehe dazu u.a. Max Paddison, Adorno’s Aesthetics of Music, 2. Aufl., Cambridge, New York, Melbourne 1995, S. 149-183, sowie Hermann Danuser, Materiale Formenlehre. Ein Beitrag Adornos zur Theorie der Musik, in: Adolf Nowak und Markus Fahlbusch (Hg.), Musikalische Analyse und kritische Theorie. Zu Adornos Philosophie der Musik (= Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft, 33), Tutzing 2007, S. 19-49.

197

198

F EDERICO C ELESTINI

dividuellen Leidens, deren Aktivierung die sozial-psychologische Funktion des Trauermarsches darstellt. Dadurch wird eine Energie freigesetzt, die im folgenden Satz zuweilen einen diabolischen Charakter annimmt. Mindestens drei unterschiedliche, ineinandergeblendete formale Konzepte lassen sich im zweiten Satz der ersten Abteilung verfolgen. Zunächst ist die gewöhnliche Anlage eines Sonatensatzes mit Exposition, Durchführung, Reprise und Coda zu nennen. Diese wird allerdings durch eine aus mehreren Staffeln bestehende peripetale Anordnung überlagert.10 Schließlich lässt sich die bereits im Trauermarsch beobachtete Abwechslung zweier Satztypen feststellen, wobei der zweite aus der motivischen Substanz der B-Teile des Trauermarsches besteht. Der Hauptsatz in a-Moll weist einen geradezu infernalischen Charakter mit markanten Zügen auf. Die Partituranweisung lautet »Stürmisch bewegt. Mit größter Vehemenz«. Fagotte und tiefe Streicher werfen eine Figur in Unisono auf, worauf verminderte Septimakkorde der Trompeten und Violinen wie eine Peitsche schlagen. Ein Schrei-Motiv der Holzbläser, das aus dem ersten Satz stammt, schließt sich daran an. Nach unheimlich wirkenden Klängen der Hörner hebt ein fanfarenartiges Trompetenmotiv an (T. 43-46), das Bernd Sponheuer als die »peripetale Wende in statu nascendi« bezeichnet und Paul Bekker hintereinander »Kampfruf« und »Triumphmotiv« nennt.11 Tatsächlich sind hier Anzeichen eines Kampfes zwischen entgegengesetzten Kräften zu vernehmen, dabei führen mehrere durch diesen Kampf angefachte Steigerungen zu zwei furchtbaren Zusammenbrüchen. Denen folgt jeweils der Seitensatz in f-Moll (T. 74-140), der, wie bereits erwähnt, aus der motivischen Substanz des B-Teils des Trauermarsches – genauer gesagt: aus dessen zweiter Fassung B' – besteht. Die klagende Melodie, dort durch die Violinen vorgetragen, wird nun stark verändert den Celli anvertraut. Die diesbezügliche Partituranweisung lautet molto cantando; damit erscheint der Kontrast zum infernalischen Hauptsatz sehr deutlich. Dieser ist dennoch weiterhin präsent, und zwar durch zwei leicht erkennbare Klangfiguren: die rhythmisierten Tonwiederholungen, die sich sowohl als Drei-Achtel-Figur wie in der Trompetenfanfare am Beginn des Trauermarsches als auch ausgedehnt zu Sechser-Gruppen wie am Beginn des zweiten Satzes zeigen, und das Schrei-Motiv. Wie bereits im B'-Teil des Trauermarsches bilden diese Klänge eine Art unheimlichen Hintergrund, vor dem sich der expressive Gesang entfaltet. Der Kontrast zum Hauptsatz wird somit ins Innere des Seitensatzes versetzt (T. 124f.): Der Ausdruck menschlichen Schmerzes durch den Gesang der Celli und die gespenstisch wirkenden Figuren erklingen gleichzei10 | Sponheuer sieht davon vier: T. 1-145; 146-287; 288-322; 323-519; 520-576. Bernd Sponheuer, Logik des Zerfalls. Untersuchungen zum Finalproblem in den Symphonien Gustav Mahlers, Tutzing 1978, S. 220-237. 11 | Sponheuer, Logik des Zerfalls, S. 227; Paul Bekker, Gustav Mahlers Sinfonien, Berlin 1921, Repr. Tutzing 1969, S. 183, 185.

P ROFANISIERTE T RANSZENDENZ UND VERINNERLICHTE O BJEK TIVITÄT

tig. Die Partituranweisungen verdeutlichen diese merkwürdige Polyphonie von expressiven und ausdruckslosen Partien. Unter den Letzteren fallen die AuftaktTriolen der Trompetenfanfare aus dem Trauermarsch auf. Gegen Ende des Satzes kommt das bereits erwähnte »Triumphmotiv« zum Durchbruch. Dieser besteht aus einer Choralapotheose in D-Dur, nämlich der Tonart, die Mahler bereits in den ebenso apotheosenhaften Finali der Ersten und Dritten Symphonie gewählt hatte.12 Die Satzüberschrift lautet »Pesante (Plötzlich etwas anhaltend)«. Der Choral wird durch mächtige Klänge der Bläser eröffnet (T. 464-487), während Streicher und die erst jetzt einsetzenden Harfen mit Skalen, Arpeggien und Glissandi die Klangfülle zusätzlich erhöhen. Die Ähnlichkeit zur Klanggestaltung des Chorals im Finale von Bruckners Fünfter Symphonie ist offensichtlich. Kurz darauf treiben Trompeten und Hörner das Orchester bis zu einem von Mahler selbst bezeichneten Höhepunkt (T. 500). Hier erreicht der D-Dur-Glanz beim dreifachen Fortissimo und mit der in die Höhe geschleuderten Dur-Terz die größte Intensität. Der Satz öffnet sich »mit physisch spürbarem Ruck« und tritt »sozusagen ins Freie«13 . Die Erwartung eines endgültigen Triumphes, der freilich am Ende des zweiten Satzes etwas verfrüht käme, wird jedoch enttäuscht, denn entgegen der durch den Durchbruch entfesselten Dynamik setzt bald ein Diminuendo ein, dem einige Takte später noch ein Ritenuto folgt. Die letzten Töne der Celli und Bässe erklingen sogar morendo. Die Choralapotheose wird somit überraschenderweise zurückgenommen. Der mittlerweile wohl bekannte verminderte Septimakkord kündigt die Wiederkehr der Figuren und Klänge des stürmischen Hauptsatzes an (T. 520), welcher sogar zu einem zusammenbruchartigen Höhepunkt findet (T. 545). Die danach eintretende Beruhigung bedeutet die Verbreitung eines durch das Flageolett der Streicher bewirkten gespenstischen Klanges (T. 557ff.). Tonrepetition und Schrei-Motiv, in ihrer unheimlichen Wirkung durch die besondere Klanggestaltung noch gesteigert, tauchen wieder auf und verleihen dem Satz die geisterhafte abschließende Prägung. Der seit den früheren Symphonien Mahlers geradezu obligate Kampf zwischen negativen und positiven Instanzen nimmt somit in der Fünften Symphonie eine rätselhafte Gestalt an. Der unerwartete Ausgang einer auf den Durchbruch hin gerichteten Narrative stellt deren teleologische Ausrichtung und somit sie selbst in Frage.

12 | John Williamson führt einen Vergleich zwischen dem Choral im zweiten Satz der Fünften Symphonie und jenem in Liszts symphonischer Dichtung Ce qu’on entend sur la Montagne (1857) durch. John Williamson, Liszt, Mahler and the Chorale, in: Proceedings of the Royal Musical Association 108 (1981/82), S. 115-125. 13 | Sponheuer, Logik des Zerfalls, S. 230.

199

200

F EDERICO C ELESTINI

Die zweite Abteilung der Symphonie besteht allein aus einem ausgedehnten Scherzo-Satz. Vier unterschiedliche Charaktere – Ländler, Fugato, Walzer und Lied – wechseln sich im Laufe des Satzes ab. Dabei sind das für das Scherzo gewöhnliche Nebeneinander von Haupt- und Trioteilen sowie die Anwendung der sonatenhaften Durchführungstechnik zu erkennen.14 Dieser formalen Mehrdeutigkeit entspricht die Ambivalenz der Charaktere, welche sich leicht ineinander verwandeln. In diesem Satz kommt das bereits im Totentanz der Vierten Symphonie beobachtete Phänomen zum Vorschein: dass die traditionellen Verfahren der motivischen Entwicklung und der thematische Ableitung mit der beunruhigenden Vorstellung einer unheimlichen Verwandlung identisch werden. Es liegt nahe, dieses Spiel der Verwandlung im Scherzo als die Konsequenz des Scheiterns der Durchbruchs-Narrative im zweiten Satz zu betrachten. Damit wird die teleologische Ausrichtung zugunsten einer alternativen Erzählungstypologie endgültig verlassen. Das Spiel der Verwandlung wird im Rondo-Finale bis ins Extreme geführt, denn hier wird selbst der Choral von der Metamorphose erfasst: Vier der fünf Motive, die in der Einleitung exponiert werden und die zur Bildung der Themen wesentlich beitragen, stammen aus dem Choral des zweiten Satzes. Die in Bezug auf das Scherzo bereits festgestellte Verwandlung von Themen und Motiven zeigt im Finale ihre spielerische, ja angesichts der Sphäre sakraler Erhabenheit, zu der der Choral gehört, geradezu entweihende Seite.15 Nach mehreren gescheiterten Versuchen führt gegen Ende des Satzes eine letzte Steigerung erneut zur D-Dur Choralapotheose. Einer ersten Choralphrase (T. 711-730), in der die Blechbläser, klanglich durch das unablässige Pulsieren der Streicher und Hölzer unterstützt, eine rhythmische Vergrößerung des dritten Gegenthemas in vollem Choralsatz vortragen, folgt »Pesante« und »etwas gehalten« die aus dem zweiten Satz bereits bekannte Choralmelodie.16 Im Unterschied zum ersten Vorkommen wird aber sie im Finale nicht zurückgenommen, sondern auf eine Weise entfremdet, die Sponheuer zu Recht als »Profanisierung« bezeichnet.17 In der wirbelartigen Coda (Allegro molto und bis zum Schluß beschleunigend, T. 749-791) wird das Schlusselement der Choralmelodie als Ostinato-Bass eingesetzt, die Fugato-Achtel werden zum Klangteppich umgeformt, während die Hörner ein »notengetreue[s], aber durch das schnelle Tempo zum tanzartig Ausgelassenen hin gewendete[s] Zitat des vollen Choralthemas«18 vorzutragen beginnen. Die ständige Beschleunigung, das Crescendo und die Abspaltung des Themas in kurze, vielfach wiederholte Motive wirken 14 | Adorno spricht von »Durchführungsscherzo«. Adorno, Mahler, S. 250. 15 | Die Partituranweisung zu Beginn des ersten Refrains (T. 24) lautet Allegro giocoso. 16 | Partituranweisung T. 731. 17 | Sponheuer, Logik des Zerfalls, S. 255. 18 | Ebd.

P ROFANISIERTE T RANSZENDENZ UND VERINNERLICHTE O BJEK TIVITÄT

wie ein großorchestral gesteigerter Rossini-Schluss – und doch die letzte Überraschung steht noch bevor: Wie im Hauptsatz des Scherzos (T. 83, 131) führt in Takt 783 die ansteigende Skala der Bässe zum trugschlüssigen, unisono vom ganzen Orchester angeschlagenen b, dem ein rascher chromatischer Abstieg der Holzbläser folgt: Es handelt sich um die Zusammenbruchsfigur des zweiten Satzes. Mit einer geschickten »Geste« verwandelt sie sich zu einer mächtigen Schlusskadenz und behält somit auch hier das letzte Wort. Die »Profanisierung« des Chorals, die Verwandlung der sakralen Erhabenheit in spielerische Unverbindlichkeit in der Coda lässt bezweifeln, dass – wie von der Literatur immer wieder festegestellt wird – der Charakter des RondoFinales affirmativ sei.19 Vielmehr scheint es, dass Mahler damit die Ebenen der Affirmation und der Negation verlassen hat. Denn im Finale wird zwar an die dramatischen Ereignisse der ersten Abteilung erinnert, sie werden jedoch in die Welt des Scherzos, welche eine Welt der Verwandlung ist, übertragen. Die im zweiten Satz ohnehin gescheiterte peripetale Narrative wird somit zum Choral-Karussell, die Teleologie des Durchbruchs zum kreisförmigen Rondo, die Vision metaphysischer Transzendenz zur Metamorphose des Tanzes und des Liedes. Diesem Wandel entspricht die Transformation der linearen, der Durchbruchsnarrative eigenen Zeitlichkeit in eine zirkuläre Bewegung, welche zwar im Scherzo und im Rondo-Finale offensichtlich wird, allerdings durch das bereits von Arno Forchert festgestellte »Alternieren zweier Ausdrucksgestalten« bereits die erste Abteilung der Symphonie prägt.20 Blickt man auf das Verhältnis von Trauermarsch und Choral zurück, so fällt auf, dass beide Satztypen in der Fünften Symphonie gegen ihre herkömmliche Bestimmung »verdreht« werden. Der Trauermarsch verliert seinen objektiven und kollektiven Charakter und wird zum erinnerungsbeladenen Ausdruck des subjektiven Schmerzes; der Choral wird aus der Höhe der Transzendenz in die spielerische Welt des Werdens zurückgeholt, dabei löst sich die Vorstellung von Ewigkeit in changierende Unbeständigkeit auf. Diese dem Überwindungspathos der früheren Symphonien entgegensetzte tragische Heiterkeit lässt durchaus an den späten Nietzsche denken.

19 | Siehe u.a. Adorno, Mahler, S. 281; Sponheuer, Logik des Zerfalls, S. 268-279. Auch Alma Mahler-Werfel kritisierte den Choral im Finale, siehe Donald Mitchel (Hg.): Erinnerungen an Gustav Mahler, Frankfurt a.M., Berlin 1971, S. 74. Ohne kritische Akzente betrachtet auch Baxendale das Finale als Krönung des im zweiten Satz zurückgenommenen Durchbruchs, siehe Carolyn Baxendale, The Finale of Mahler’s Fifth Symphony. Long-range Musical Thought, in: Journal of the Royal Musical Association 112/2 (1986/87), S. 257-279. 20 | Siehe Forchert, Zur Auflösung traditioneller Formkategorien.

201

Performative und textuelle Momente von Form Funktionen von Marsch und Choral in Mahlers Sechster Symphonie Siegfried Oechsle

In der Geschichte der symphonischen Musik seit Beethoven verlieren Marsch und Choral mehr und mehr ihren Zitatcharakter.1 Bindungen an ihre angestammten funktionalen Orte schwächen sich zusehends ab. Spätestens in Gustav Mahlers monumentalen musikalischen Panoramen scheinen sie zu »einheimischen«2 Landschaftsformen des Symphonischen geworden zu sein. Dennoch geht ihre Bedeutung nicht darin auf, das Terrain thematischer Charaktere zu erweitern. Die attraktiven semantischen Deutungsangebote von Marsch und Choral sind an ebenso attraktive formstrukturelle Besonderheiten geknüpft – wobei das Verhältnis der Ebenen durchaus vertrackt sein kann. Die kompositorischen Potenziale dieser Musikarten wurzeln in gattungsspezifischen Merkmalen, die im symphonischen Milieu Eigensinn und Eigenleben entfalten können. So zwingt die Beachtung performativer Dynamiken von Marsch und Choral zur kritischen Prüfung eines im weitesten Sinne textuellen Formbegriffs, der durch den Zusammenhang von musikalischen Strukturen und ihnen zugeschriebenen Bedeutungen bestimmt ist. Nicht jedoch wäre von der Unterscheidung Notat versus »Performance« auszugehen, sondern von prozessual veränderlichen

1 | Geht man indes ins 17. Jh. zurück, dann stellt sich die Sache komplizierter dar; denn Begebenheitsvorstellungen, die in Bewegungsmustern wie Gang und Marsch musikalisch »sublimiert« sind, zählen zu den alten Bestandteilen symphonischer Musik. Die militärischen wie die höfisch-zeremoniellen Elemente sind jedoch in der neapolitanischen Opernsinfonia und der Konzertsinfonie Stuttgarter wie Mannheimer Provenienz kaum noch vertreten (von Sammartinis kammermusikalischen Adaptionen ganz zu schweigen). 2 | Immanuel Kant übersetzt bekanntlich »immanent« mit »einheimisch« (Kritik der reinen Vernunft, B 671).

204

S IEGFRIED O ECHSLE

Verhältnissen textueller und performativer Momente von Form.3 Speziell im Hinblick auf den Marsch wäre der spezifische Ereignischarakter dieser Musikart zu beachten, um sowohl mit traditionellen formfunktionalen Schemata als auch mit der Semantik des Destruktiven vorsichtiger zu hantieren, als dies im Umgang mit Mahlers Symphonik meist geschieht.

I. Nur einmal in Gustav Mahlers gesamtem Œuvre kommt es zu einem so dichten und folgenschweren Aufeinandertreffen von Marsch und Choral wie im Kopfsatz der Sechsten Symphonie. Auch im Finale spielen beide Satzarten eine zentrale Rolle, doch besitzen sie dort nicht dieselbe formstrukturelle Brisanz wie im Kopfsatz. Und das Scherzo bietet Transformationen und Brechungen des Marsches im Medium des Tänzerischen, ohne jedoch Choralpartien zu kennen. Das Gewicht des Verbundes von Marsch und Choral rührt im Kopfsatz im Wesentlichen davon her, dass diese Satzarten dessen Beginn markieren. Die ersten Takte werden von einer für das Marschgenre typischen Kurzeinleitung eingenommen. Sie trägt in der Militär- und Spielmannsmusik die Bezeichnung »Locken«4 . Kaum könnte an dieser Stelle von einem Einbruch des Marsches in eine bereits etablierte symphonische Form die Rede sein; denn die entsprechenden formzeitlichen Sphären sind noch nicht voneinander geschieden. Genau genommen muss die Frage lauten, wo im Satzverlauf symphonisches Formgebiet überhaupt beginnt und ob der Marsch diesen Bereich betritt oder aber nur zu ihm hinführt. Dass die Partitur mit »Symphonie« überschrieben ist, ein Symphonie-Orchester agiert und die gesamte Aktion für den Konzertsaal gedacht ist, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Anfang zunächst einmal dem Marsch gehört. Ihm an dieser Stelle das Prädikat »symphonisches Hauptthema« zu verleihen, ordnet dem Partiturtext zu schnell den historischen Text der Normen zu. Jedenfalls beginnt das Werk so, als zöge ein Marsch in eine symphonische Formveranstaltung ein, als werde deren »Partiturgebiet« vom Marsch eingenommen oder besetzt. Die eigenartige Situation des Beginns beleuchtet ein eher marginal anmutender Sachverhalt. Wenn Mahler – mithilfe der seconda volta – die gesamte Exposition vom ersten Takt an wiederholen lässt, wäre zu fragen, ob das wirklich als ein Zeichen konservativer Formauffassung

3 | Vgl. dazu Nicholas Cook, Music, Performance, Meaning. Selected Essays, Aldershot 2007. 4 | Siehe Bernhard Höfele, Die deutsche Militärmusik. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte, Köln ²2004; Stefan Hanheide, Mahlers Visionen vom Untergang. Interpretationen der Sechsten Symphonie und der Soldatenlieder, Osnabrück 2004, S. 110f.

P ERFORMATIVE UND TEXTUELLE M OMENTE VON F ORM

zu lesen ist.5 Ungleich plausibler könnte indes eine andere Erklärung sein: Der Vorgang der Wiederholung macht deutlich, dass es keine Formzone vor dem Marsch gibt, die als rudimentäre symphonische Einleitung dem Satz und letztlich auch der Symphonie insgesamt gälte und von der aus der Marsch seinen Ausgang nähme. Kurzum: Am Anfang der Sechsten »steht« der Marsch (genau genommen marschiert er freilich – doch dazu später mehr). Eine auf den Status dieser Musikart zielende Innen-Außen-Unterscheidung der Form kann erst an Hand des weiteren Formprozesses vorgenommen werden. .O7URPPHO



0

55

  5 = 5k5 =

  5 = 5k5 =

 5 = 4

 5k

FUHVF

E

? 4  = 4 5 = 5 3 5 5 = 55 : 3 55 55 6WUHLFKHU  E    E 5 5 = 4   =  =  =  = 55 = 55 = 55 = k5: 5 5 5 5 5 5 5 5 55 : 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 M M M M

 G

0

G :: BBB

 5?  5 5

:: MM B B

=

5:

=

4

+RO]EOlVHU

5



G ?

B B

 5 =

 5 = 4

 5k

4

8)))))) 8)))))) 8))))))





5 5 = 5 5 = 5

 5k

4 E5 : 5 5 = E5 : 5 5: 5 5 5: 5  E E 4 k !5 : 5 5 = k !5 : 5 555 5 55 5 5

4 E55 : 5 5 = 4 5 :: 55 55  E  4 k E5 : 5 5 = 4 55 5 5 5 5 5 5 5

E

 5 = 55:: 5 5 5  = E5 : 55 5k 5 5

LPPHUVWDFF

E 

E5 G BB M

4

4

B

5

BB B

 5?  5 5

M BM B 5:

5: EE

5 B BB 55 5:  = 4 =5 M E :  = 55 : 55 B 5 B 5

=

4

=

4

5: B55 :: 5:



5 5 55

EE

5

 5 5 M

B B

=

55 : 5 5  5 = 5 M

5 55  5 5 

BB MB B B MM

E5 5 5 5 5 5 !5 5 E5 5 5 5 E5 5 5 5 5 5 5 5 E 5 5 5 5 5 5 5 E5 5 3 55  = 4  5 5

=

4

5 3 GLP 5 E5 3 5

3RVDXQH 5:

=

5: 4

=

4

5

0 EEE

5 3 5 E5 3 5

5 3 5

5 

5

5

5

5

E

5

3

4

B

? 6WUHLFKHU

  5 = 5 = 5 5 EE

Notenbeispiel 1: Gustav Mahler, Symphonie Nr. VI, 1. Satz, T. 1-13.

Nach 56 Takten Marschmusik, die in figurativen Floskeln verebbt, tritt ein weiteres Großereignis ein. Zum charakteristischen, aus dem Kopf des Marsches abgeleiteten Rhythmus der Pauken, die von Tremoli der Kleinen Trommel grundiert werden, spielen Trompeten und Oboen einen gehaltenen Akkord, dessen Terz nach einem Takt chromatisch abfällt und dadurch einen Dur-Moll-Wechsel bewirkt (siehe Notenbeispiel 2). Der Vorgang währt zwar nur vier Takte. Mahler zentriert ihn aber auf nahezu punktförmige Größe. Da das Gebilde abrupt im Fortissimo einsetzt, um sogleich ins Pianissimo zu decrescendieren, wird der Eindruck erweckt, das Initium verbrauche die gesamte Energie des Aktes. Der kann zwar schon wegen der tonikalen Position und des punktierten Rhythmus nicht als schlechthin desintegrales Geschehen gelten. Genau genommen han5 | So noch der Verf. in: Mahler Handbuch, hg. von Bernd Sponheuer und Wolfram Steinbeck, Stuttgart, Weimar 2010, S. 286-311, hier S. 293.

205

206

S IEGFRIED O ECHSLE

delt es sich aber um einen zweiten Anfang, der sich in einem kaum schon näher definierten Formraum ereignet. Die wuchtige Spontaneität des Ereignisses darf indes nicht davon ablenken, dass das Instrumentarium aus Pauken, kleiner Trommel und Trompeten ein militärisches ist. So gesehen wird die Sphäre des Marsches nicht eindeutig verlassen. Doch es überwiegt der harte, systematisch geschärfte Kontrast: Tendiert der Marsch zur endlosen Bewegung, tendiert die rhythmisch gekerbte Akkordmarke zum formlosen Zeichen.  7URPS

0

G 4

5

' !' '

EE

3DXNHU



' E' '

0

5

=:

$ 5 5 

5

5

4

5



4

5

=:

VHPSUHE

.O7U

$ 5 5 

5

4

5

8))))))))))))))))))))))))))))))))) 8)))))))))))))))))))))))))))))) 8))))))))))))))))))))))))))))))))))) 8)))))))))))))))))))))))))))))) ' ' ' ' 

EE

Notenbeispiel 2: Gustav Mahler, Symphonie Nr. VI, 1. Satz, T. 57-60.

An dieses signalartige Gebilde, das im gesamten Werk eine mottoähnliche Funktion ausüben wird, schließt sich wiederum eine Satzzone an, die genauso wie die bisherigen Ereignisse eine scharf umrissene Episode darstellt. Das lichte Notenbild, der Satz Note gegen Note, die Phrasierung und die zeilenhafte Disposition weisen es eindeutig als Choral aus. %OlVHU 

HVSU

B G BB5

5

 9LROSL]] 

B B G ' 5  9OFSL]]

BB B 4

5 5 EBBB5

B !55 5 ?

5

B BB5 E5 !!BB5 !5 B 5 5 5 5 5 ? 4 `b

EB' !B E5 B: 5 ? 5 BB BB

EBBB

E' B5

5

!B ?

BB EBBB B 5 5 B

Notenbeispiel 3: Gustav Mahler, Symphonie Nr. VI, 1. Satz, T. 61-68.

Vom 16 Takte umfassenden »Formplatz« des Chorals aus hebt auftaktig eine emphatisch sich aufschwingende melodische Phrase an (T. 77ff.). Sie wird mit dem Erreichen der volltaktigen Position vom gesamten Orchester aufgenommen, abgestützt und zugleich in mehreren Schichten kontrapunktiert. Metrisch erfolgt der Anschluss zwar in der Ordnung binärer Taktgruppen. Das Ritardando am Ende des Chorals und der trugschlüssige Neuansatz »a Tempo subito«

P ERFORMATIVE UND TEXTUELLE M OMENTE VON F ORM

sorgen indes dafür, dass das Cantabile nicht bruchlos aus dem Choral hervorgeht, sondern mit einem autonomen Impuls einen neuen »Formraum« zu eröffnen scheint. Während Marsch und Choral noch durch einen spezifischen Ereignischarakter geprägt sind – gewissermaßen als »Musiken«, die erst einmal stattfinden und primär sich selbst bedeuten, ohne bereits formale Funktionen zu erfüllen –, scheint dem Cantabile dieses performative Moment zu fehlen. Begriffe wie Zitat, Veranstaltung oder Aufführung charakterisieren es weitaus weniger als dies bei Marsch und Choral der Fall ist. Das Cantabile entsteht vielmehr als symphonische Aktion im engeren Sinne. Im Gegensatz zu Marsch und Choral bleibt das mit »schwungvoll« überschriebene, sangliche Geschehen auch nicht in sich abgeriegelt, sondern bestreitet im Wesentlichen die gesamte weitere Exposition. Auch wenn der funktionale Status des Gebildes noch der Klärung harrt, beginnt sich mit dem Cantabile die Formimmanenz eines symphonischen Allegro zu konstituieren.6 9LROLQHQ

G

5 5 5





5 5

5:  5k

5

=

EE

5

E  5k

E

5 5 5:

E

E E

5: 5 5 5 

2ERH

5

=

5

5:

5

B

=

5

5:

5

E

E

E VHPSUHEE $ 5 !5 5 !5 5 5 5 3 5 5 5 5E5 5 5 5 5 5 5 3 5 5 5 !5 5 E 5 5 5 5 ! 5 5E 5 5 5 E5 5555555 55 555

G

 3



5  5 EE '

9LROD%.ODU

B +|UQHU3RVDXQHQ B

55 5

555 BB B

+RUQ&HOOR

B

5

E5 5 5

4

EB

5 5 5

B: B:

&RQWUDI%lVVH



B G

=

!5 !5

5 5 E

5 5

$ 5 !5 !5 5 5 5 E5 E5 5 5 5 5 5 !5 5 5 `a EB +|UQHU5  B: !555 B: 5 G 3

5:

5 

5 5

!5

PROWRFUHVF E

5

`a 5: 5:

5 5

!BB EBB EB

5 5



4

?

EEE E

5 5 5 5 5 5 E5 5 5 5 3 5 5 5 5 5 55 55 5

5 5

55 !55 !5

3 5B EB5 E5

5 5 5

B: 4



Notenbeispiel 4: Gustav Mahler, Symphonie Nr. VI, 1. Satz, T. 77 m.A.-82.

Die Termini Marsch, Choral und Cantabile leisten für die Benennung der Hauptereignisse dieser Exposition zwar gute Dienste, und sofern das Cantabile auf die Sphäre des Gesangs referiert, konservieren alle drei Bezeichnungen auch ursprüngliche Gattungsorte dieser Satzarten. Um aber bemessen zu können, was von ihrem vorsymphonischen Eigensinn im Formprozess Eingang findet und 6 | Auf eine Möglichkeit, diese Feststellungen doch noch zu relativieren, wäre nach einem Blick auf die Rezeptionsgeschichte des Satzes zurückzukommen.

207

208

S IEGFRIED O ECHSLE

dessen »Verlaufslogik« prägt, empfiehlt es sich, semantische, fremdbezügliche Zuschreibungsmöglichkeiten der exponierten Satzarten zu konkretisieren. Dafür vermag die Rezeptionsgeschichte Aufschlüsse zu liefern.

II. Wie die Rezeptionsgeschichte des Satzes zeigt, lässt sich weder die Marsch- noch die Choralsemantik auf die abstrakte Dimension von Charakteren beschränken. Der erste Satzabschnitt, der seit den frühen Aufführungen der Symphonie in den Jahren 1906/07 als Marsch bezeichnet wurde, galt auch als »Janitscharenmusik«7. Attestiert wurde ihm in verschiedenen Rezensionen zwar »Kampfeslust«8, »schweflige Luft«9 und »trotzige Brutalität«10, der angedeutete »militärische Charakter« setze sich jedoch nicht durch, »da von einer Schlachtmusik nicht die Rede«11 sein könne. Richard Specht, Mahler-Biograf der ersten Stunde, zog für seine Erklärung von Mahlers Vorliebe für Märsche und Marschrhythmen die Iglauer Kindheit und die Nähe der österreichischen Garnison heran, während Max Brod dafür die ostjüdische chassidische Volksmusik bemühte.12 Paul Bekker beschränkte sich 1921 hingegen auf »die im Marsch eingeschlossene Vorstellung des Fortschreitens, des Sichbewegens, des Entstehens in der Bewegung, der unablässigen Veränderung«, um dann den Marsch überhaupt als »innerlich dem Wesen von Mahlers Sinfonik zugehörig«13 zu bestimmen. Über die seit Specht in das Mahler-Bild eingeführte Figur des kunstreligiös zum Visionär gesteigerten Genies ließ sich in der weiteren Rezeptionsgeschichte das Werk mit seinem negativen Finale als künstlerische Vorausahnung der Kriegskatastrophen des 20. Jahrhunderts deuten.14 Besonders der Marsch geriet darin immer mehr zum Symbol von Zerstörung. Theodor W. Adorno setzte 1960 diese Deutung in einen soziologischen, zeitgeschichtlich rezenten Kontext: »Identifiziert Mahlers Musik sich mit der Masse, so fürchtet sie diese zugleich. Die 7 | Franz Gräflinger, in: Musikalische Rundschau 2 (1906), zit. nach Hanheide, Mahlers Visionen, S. 189. Zum Terminus »Janitscharenmusik« siehe auch Bernhard Höfele, Militärmusik, Abschnitt II-VI.1, in: Ludwig Finscher (Hg.), ²MGG, Sachteil Bd. 6, Kassel u.a. 1997, Sp. 270-282. 8 | Dortmunder Zeitung, 28.5.1906 (Hanheide, Mahlers Visionen, S. 189). 9 | Julius Korngold, in: Neue Freie Presse, 5. und 8.1.1907 (ebd.). 10 | Augsburger Postzeitung, 14.11.1906 (ebd., S. 190). 11 | Max Hehemann, in: Neue Zeitschrift für Musik, 6.6.1906 (ebd.). 12 | Dokumentiert bei Constantin Floros, Gustav Mahler, Bd. 2: Mahler und die Symphonik des 19. Jahrhunderts in neuer Deutung, Wiesbaden 1977, S. 135ff. 13 | Paul Bekker, Gustav Mahlers Sinfonien [1921], Repr. Tutzing 1969, S. 211f. 14 | Detaillierter ausgeführt in Oechsle, Mahler Handbuch, S. 289ff.

P ERFORMATIVE UND TEXTUELLE M OMENTE VON F ORM

Extreme ihres kollektiven Zuges, etwa im ersten Satz der Sechsten Symphonie, sind jene Augenblicke, wo der blinde und gewalttätige Marsch der vielen dazwischen fährt: Augenblicke des Zertrampelns«15 . In Stefan Hanheides Studie über die Sechste mit dem bezeichnenden Titel Mahlers Visionen vom Untergang wird diese Marschsemantik denn auch in den konkreten Deutungshorizont von »Musik und Krieg« gestellt.16 Die nach dem Marsch spontan auftretende Kombination von Signalrhythmus und Dur-Moll-Wechsel besitzt in einschlägigen Werkexegesen die Bedeutung eines »unabänderlichen Schicksalsspruches«17. Schon ein Rezensent der Wiener Erstaufführung von 1907 erblickte in dem »schmetternde[n] Dreiklang, der kraftlos, wie vernichtet, in den Molldreiklang zurücksinkt«, die »Symbolisierung eines Helden«18. Die Prägung begegnet freilich auch im Scherzo und im Finale in unterschiedlichsten Zusammenhängen, wobei sie in der planen Variante als reiner Moll-Akkordschlag das Ende dieser Symphonie überhaupt bildet. Der Choral hingegen blieb in der Rezeptionsgeschichte der Sechsten zunächst eine ambivalente Erscheinung. Die »fast kirchliche Holzbläserepisode« galt sowohl als »prächtige[r] Stimmungsgegensatz«19 wie als »Klage der Zurückgebliebenen«20. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Sechste zur Trägerin schaurigster Kriegsvisionen wurde, erhielt der Bläsersatz die Bedeutung eines »Choral[s] [von] zum Schweigen verdammter Gemeinschaften«21 . Dass wiederum die Semantik des »schwungvollen« Gesangsthemas, das in der frühen Rezeption »seraphische Klänge der singenden Natur«22 repräsentieren konnte, gewissermaßen eine irdisch-menschliche Erdung erfuhr, dafür sorgte Alma Mahler in ihren zuerst 1940 in Amsterdam erschienenen »Erinnerungen«. Darin berichtete sie, Mahler habe mit dem Thema ihr Charakterbild zeichnen wollen.23 Seither firmiert das Gebilde in der Literatur meist als »Alma-Thema«. 15 | Theodor W. Adorno, Gustav Mahler. Eine musikalische Physiognomik, Frankfurt a.M. 1960, S. 51. 16 | Hanheide, Mahlers Visionen, bes. S. 16ff. und 67ff. 17 | Bekker, Gustav Mahlers Sinfonien, S. 209. 18 | Julius Korngold, in: Neue Freie Presse, 5. und 8.1.1907 (Hanheide, Mahlers Visionen, S. 191). Der Programmzettel der Wiener Aufführung titulierte die Symphonie als »Tragische«, ohne dass mit Sicherheit zu sagen wäre, dass dies auf Mahler selbst zurückginge. 19 | Leopold Schmidt, in: Berliner Tageblatt, 9.10.1906 (ebd., S. 190). 20 | Rudolf Fiege, in: Neue Musikalische Presse, 20.10.1906 (ebd.). 21 | Hans Ferdinand Redlich (Hg.), Symphony VI A Minor by Gustav Mahler (first version), London u.a. 1968 (Edition Eulenburg, Nr. 586), Vorwort. S. X. 22 | Frankfurter Nachrichten, 16.10.1926 (Hanheide, Mahlers Visionen, S. 216). 23 | Alma Mahler-Werfel, Erinnerungen an Gustav Mahler; Gustav Mahler, Briefe an Alma Mahler, hg. von Donald Mitchell, Frankfurt a.M. u.a. ²1971 (revidierte und erwei-

209

210

S IEGFRIED O ECHSLE

Weder sind im Folgenden die Deutungsangebote der überlieferten Texte kritisch auf ihre Plausibilität hin zu prüfen, noch werden sie, wie dies in einer um ihrer selbst willen betriebenen »Rezeptionsgeschichte« nicht selten geschieht, als Archivalien einer Beobachtung zweiter Ordnung weiter ausgebreitet. Und schon gar nicht wäre zwischen form- und inhaltsästhetischem Lager zu unterscheiden, um dann dies- oder jenseits alter dichotomischer Demarkationslinien Position zu beziehen. Vielmehr käme es darauf an, zwischen Deutungen aus der Rezeptionsgeschichte und der Vergabe abstrakter Funktionsbegriffe wie Hauptthema, Überleitung und Seitensatz zu vermitteln. Statt den Marsch als Zeichen »realer« kriegerischer Gewalt zu lesen, wäre gewissermaßen nach den phänomenologischen »Gewalt-Qualitäten« der musikalisch dargestellten Bewegungsart Marsch zu fragen, um von diesen Beobachtungen aus Anschlussmöglichkeiten für die Diskussion formstruktureller Sachverhalte zu finden.

III. Trotz charakterlich vielfältiger Erscheinungsformen kennzeichnet die Musikart des Marsches ein Bündel konstanter Merkmale. Ob im Allegretto der Siebten Beethovens mit seinen angedeuteten Transgressionen in rauschhaft-elysische Zustände oder in der »Marche au supplice« aus Berlioz’ Symphonie fantastique, die als Vehikel einer Geschichte zu fungieren scheint – von elementarer Bedeutung ist stets die »Doppelnatur« des musikalischen Marsches aus Form und Ereignis. Das hat Matthias Hansen in einem definitorischen Satz zusammengefasst: »Der Marsch ist eine charakteristische, gleichsam in sich determinierte Ereignisweise von Musik – und er ist eine spezifische musikalische Form zugleich, beide Ebenen bedingen einander wie in keiner anderen Form der Musik im 18. und 19. Jahrhundert.«24 Auch beim Marsch der Sechsten sind Form und Ereignis, formative und performative Eigenschaften, zu unterscheiden. Die artifizielle Organisation des Gebildes bezeugt bereits die Disposition der Taktgruppen. Was aufgrund dynamischer und klanglicher Extreme als Moment von Destruktivität erscheinen mag, gehorcht einer klaren metrisch-harmonischen Ordnung. Wenn nach den ersten acht Takten, in denen der Fundus der wichtigsten Motive und Spielfiguren erklingt (T. 6-13), sowie dem anschließenden Fortspinnungsabschnitt (T. 13-24) ein Rückgriff auf das Kopfstück erfolgt (T. 25ff.), dann zeigen sich daterte Fassung von Alma Mahler-Werfel, Gustav Mahler. Erinnerungen und Briefe, Amsterdam 1940), S. 97. 24 | Mathias Hansen, Marsch und Formidee. Analytische Bemerkungen zu sinfonischen Sätzen Schuberts uns Mahlers, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 22 (1980), S. 3-23, hier S. 10.

P ERFORMATIVE UND TEXTUELLE M OMENTE VON F ORM

rin offenbar zyklische Formkräfte (aus der Formenlehre winkt hier die Formel ABA herüber). Die rekursiven Momente schwächen sich jedoch zusehends ab, und spätestens mit der d-Moll-Variante des Vordersatzes (T. 43ff.) scheint es angezeigt, von einer Abfolge variativ sich ausbreitender »Wellen« oder »Züge« zu sprechen (Phase I: T. 6-24, Phase II: 25-42, Phase III: 43-56). Eine formale Begrenzung für diese Entwicklung hält die »Marschform« nicht bereit. Die Staffel der vom charakteristischen Kopfmotiv des Gebildes ausgehenden Kurse könnte sich fraglos weiter fortsetzen. Die prinzipielle Offenheit dieses Marsches rührt indes nicht nur von der Vorstellung einer permanenten und linearen Bewegung her, sondern auch von seiner »vertikalen« Organisation. Sie ist bereits nach wenigen Takten geprägt von der Spannung zwischen markanten, diastematisch »gezackten« Blechbläserphrasen und raschen Spielfiguren in Holzbläsern und Streichern. Diese Satzstruktur wird zwar durch den nahezu kontinuierlichen Viertelpuls zusammengehalten, die polaren Gegensätze lassen sich jedoch immer weniger kontrapunktisch kontrollieren; das Maß heterogener und zentrifugaler Kräfte nimmt zu. Das (vorläufige) Ende des Marsches geht damit einher, dass die figurativen Substanzen verschliffen werden, stimmlich auseinanderlaufen und klanglich in die tiefe Bassregion absinken (T. 50-56). Der Prozess, den der Marsch darstellt, lässt sich auch als Dekonstruktion dessen verstehen, was als »durchbrochene Arbeit« gilt. Das Geschehen legt offen, dass der Satz weniger als Aufteilung eines melodisch Ganzen und Originären auf die Partes der Partitur konstruiert ist. Vielmehr liegt ein zunehmend sich lockerndes, in seinen kombinatorischen Möglichkeiten letztlich unberechenbares Aggregat aus vorwiegend rhythmisch koordinierten Partikeln vor. Diese lassen sich zwar zu Folgen von Varianten ordnen, jedoch bleiben derartige Genealogien relative Zusammenhänge ohne erkennbares Ziel. Die zunehmende Vereinzelung der Glieder darf freilich nicht als Schwächung des Komplexes verstanden werden. Noch das letzte Partikel in Kontrafagott und Bässen erklingt fortissimo (T. 56). Das hinterlässt beim Hörer nicht den Eindruck, die Aktion sei bereits definitiv beendet. Eine Grundzelle des Gebildes könnte ausreichen, um den stampfenden Rhythmus der tiefen Viertel wieder zu entfachen und die disjecta membra cantilenae aufs Neue zu ihrer charakteristischen Formation zu versammeln. Der Choral markiert dazu eine privative Gegensphäre. Während der Marsch nicht von seiner charakteristischen Bewegungsform gelöst werden kann,25 verlangt der Bläserchoral als Repräsentation einer religiös gestimmten Gemeinschaft singender Individuen die stehende Musikausübung. Die dazugehörige 25 | Dies gilt auch für das Marschlied – und selbst im stehend ausgeübten Genre des Präsentiermarsches schwingt der Grundduktus noch als »inneres« Marschieren auf der Stelle mit.

211

212

S IEGFRIED O ECHSLE

musikalische Satzart bezieht ihre Bewegungsmuster von den ihr zugrunde liegenden sprachlichen Strukturen, genauer gesagt von der rhythmisch-metrischen Beschaffenheit eines gesungenen Textes und seiner zeilenhaften Disposition. Den formalen Raum, in dem das Zeremoniell des Chorals erklingen kann, schafft die in der Mahler-Literatur als Motto bezeichnete Kurzepisode. Zu behaupten, der zäsurbildende Akt komme »von außen«, gibt zwar den Eindruck voraussetzungsloser Ereignishaftigkeit wieder. Da bisher nur eine schlechthin initiale Marschmusik erklang, ist jedoch noch nicht geklärt, ob eine schnelle Einleitung oder ein symphonisches Thema vorliegt. Deshalb machen formale Angaben wie »außen« und »innen« hier noch wenig Sinn. Als nahezu punktförmiges Ereignis markiert es einen Hiatus, der die symphonische »Veranstaltung« auf eine neue Ebene hebt oder ihr eine neue Verlaufsrichtung verleiht. Auch dieses sprunghafte Erreichen eines neuen Formzustands und die in diesem »Kraftakt« für einen Augenblick angedeutete reine Potenzialität kann als ein Moment des Performativen verstanden werden. Es bleibt freilich auch hier der performative Aspekt nur eine Art Extremzustand der Formstruktur, denn genau besehen bildet das Signal aus Paukenrhythmus und »Dur-Moll-Siegel«26 kein formloses Ereignis, sondern ist – im Unterschied zu den Hammerschlägen des Finales – Teil eines strukturierten Zusammenhangs. Es enthält einen Abdruck des Marschrhythmus und liefert substanzielle Grundlagen für den Choral in Gestalt des akkordischen Satzes und des chromatischen Halbtonschrittes – beides sind zentrale Eigenschaften der direkt sich anschließenden Bläserepisode. Mahlers Instrumentation besitzt freilich analytische Qualitäten: Der bereits genannte militärmusikalische Verbund des Mottos aus Pauken, Kleinen Trommeln und Trompeten wird ergänzt durch den Oboenchor – genau diese Holzbläserschicht aber wird bruchlos im Choral weitergeführt. Sie bildet die Brücke zwischen Motto und Choral, während das militärische Ensemble in der Choralepisode schweigt. Mit dem orchestralen Cantabile (T. 77 m.A.) wird die Folge performativ geprägter Akte aus Marsch-Kollektiv, »Supersignal« des Dur-Moll-Wechsels und Choral-Zeremonie spontan abgelöst von einer Musikart, deren sozialer Bezugsraum trotz der symphonischen Medialisierung die Sphäre subjektiver Emotionalität ist. Hier fallen Musik und Musikausübung umstandslos zusammen. Sollen beide dennoch unterschieden und auch dem Cantabile performative Reflexe attestiert werden, dann wäre dies allenfalls ästhetisch zu begründen: Dass in der Rezeptionsgeschichte des »Alma-Themas« der Vorwurf der KitschLastigkeit begegnet, könnte darauf zurückgeführt werden, dass die Musik wie ein manirierter Topos zu klingen scheint. Im Vergleich zu Marsch und Choral überwiegt jedoch der Aspekt formimmanenter Grundständigkeit. Choral und Cantabile sind denn auch nicht durch stofflich-strukturelle Gegebenheiten mit26 | Floros, Gustav Mahler, Bd. 3: Die Symphonien, Wiesbaden 1985, S. 156f.

P ERFORMATIVE UND TEXTUELLE M OMENTE VON F ORM

einander verbunden. Vom einen zum anderen gelangt der Satz durch eine Akkordrückung (e-gis-c’ Ã f-a-d’, T. 76f.). Die Bezeichnung als Trugschluss weist zwar auf den Sachverhalt, dass dem Choral der eigene Schluss verwehrt bleibt. Deshalb könnte der orchestrale Gesangskomplex in seiner kontrapunktisch gesteigerten Liedsatzstruktur aber noch lange nicht als eine Transformation der hymnischen Zeremonie gelten. Allerdings schwindet die Distanz zwischen den beiden sanglichen Gebilden im weiteren Verlauf des Satzes.

IV. Eine Betrachtung des Verhältnisses von Form und Ereignis zu Beginn von Mahlers Sechster Symphonie hätte dem Einwand zu begegnen, Musik sei stets oder zumindest in den allermeisten Fällen ein performativer Akt, sodass hier der Rede von Performativität ein tautologisches Moment innezuwohnen scheint. Entscheidend für die Musikart des Marsches ist jedoch die musikalische Reflexion des Performativen. Zur Performativität erster Ordnung (»Performance«), die Musik als Aus- und Aufführungsgeschehen auf der Grundlage notierter Zeichen (einschließlich des nicht Notierten) immer eigen ist, tritt eine Performativität zweiter Ordnung. Wenn Matthias Hansen, wie oben zitiert, den Marsch als eine »in sich determinierte Ereignisweise von Musik« bezeichnet, klingt dies bereits an. Die selbstreflexive Abhebung einer Performativität zweiter Ordnung von allem basalen musikalischen Vollzug könnte auch durch den Begriff des Selbstvollzugs oder, weitaus konkreter, durch den Satz »der Marsch marschiert« angedeutet werden. Er fokussiert die essenzielle Bestimmung des Marsches als mobile Musik. Auf diesen zentralen Aspekt hat bereits Theodor W. Adorno im Zusammenhang der Dritten Symphonie Mahlers hingewiesen. Mit dem Marsch unlösbar verbunden ist demnach »die Vorstellung einer räumlich bewegten Musikquelle«27. Die Feststellung mag banal erscheinen. Sie enthält jedoch erheblichen formlogischen Sprengstoff. Denn mit der mobilen »Musikquelle« stellt sich die Frage nach den Koordinaten der Rezeption. Sie gilt selbstverständlich nicht dem empirischen Hörer, sondern der im Hören vorgestellten Instanz des musikalischen oder ästhetischen Subjekts.28 In der Sicht Adornos verläuft im Kopfsatz der Dritten die Form so, »als ob das musikalische Subjekt mit einer Kapelle mitzöge«29. Die Vorstellung, in einen Prozess der Partizipation hineingezogen zu werden, in dem der Gegensatz von Handeln und Rezipieren aufgehoben oder wenigstens stark gemindert ist, kann ebenfalls als Charakteristikum des Performativen verstanden werden. Die Gegenperspektive 27 | Adorno, Mahler, S. 110. 28 | Was wiederum als »tragischer Held« semantisiert werden kann (aber nicht muss). 29 | Adorno, Mahler, S. 209.

213

214

S IEGFRIED O ECHSLE

hierzu ginge vom Primat des symphonischen Werks aus. In ihr ließe sich das Geschehen so wahrnehmen, als ob eine Marschkapelle in einer symphonischen Form-Veranstaltung aufträte, an der das musikalische Subjekt teilnimmt. Die Form wird im einen Fall insgesamt vom performativen Status des Marsches erfasst, im anderen bleibt der Marsch Episode in einer Folge symphonischer »Formszenen«. In jedem Falle zwingt der Marsch als mobile Musik dazu, die Wahrnehmung der Form gleichsam zu perspektivieren. Das kann zumindest für die Exposition im Kopfsatz der Sechsten kurz angedeutet werden.30 In der Perspektive, in der das musikalische Subjekt sich mit den Marschierenden bewegt, repräsentiert der Marsch von Anfang an die primäre Ebene des Satzgeschehens. Auch wo er nicht konkret erklingt, bleibt er untergründig präsent. Dieser Eindruck findet sich auch schon bei Adorno. Man fühle »im ersten Satz der Sechsten Symphonie immerzu den über ganze Komplexe hin lautlosen Marschrhythmus, als hätte der Komponist vom eigenen Stück periodisch sich abgewendet«31 . Die initiale Marschmusik wird von Mahler am Ende des ersten Komplexes klanglich so »ausgeführt«, als gehe der Marsch, auf ein Minimum reduziert, gleichsam in den Untergrund des Satzes. Oder anders gesagt: Der Marsch endet nicht, er wird nur zum Stehen gebracht. Sowohl im Paukenrhythmus des Mottos als auch in Gestalt der Streicher-Pizzicati während des Chorals bleiben der Grundrhythmus und diastematische Profile des Komplexes gegenwärtig. Dies gilt auch für den Einbruch des Marschidioms in die CantabileSphäre (T. 91-98). Zumindest das Cantabile stellt in dieser Perspektive einen Wechsel auf eine Metaebene der Form dar. Die Grundebene repräsentiert hingegen der Marsch. Um dies im Hinblick auf die Sechste zu illustrieren, hat Adorno (freilich in vorsichtiger Weise) zu narratologischen Kategorien gegriffen: »Das Zeitbewusstsein des Marsches scheint das musikalische Äquivalent der Zeit des Erzählers.«32 Der Marsch repräsentiert in der Sprache der Erzähltheorie die Ebene des Erzählers und damit die Gegenwart der Erzählzeit. Dass zumindest der kantable F-Dur-Komplex (T. 77ff.) davon wie eine Episode abgehoben ist, wäre kaum zu bestreiten. Fraglich bleibt jedoch, wie präzise deren Verhältnis zur Marschzeit bestimmt werden kann, ohne der Musik programmatische Inhalte zu unterlegen. Ein Indiz für die Vorstellung einer vorzeitlichen Position des Cantabile im formzeitlichen »Plot« des Satzes liefert bereits die Rezeptionsgeschichte, wenn im Hinblick auf das »Alma-Thema« von Erinnerung und Traum 30 | Siehe dazu Oechsle, Mahler Handbuch, S. 296f. 31 | Adorno, Mahler, S. 209. 32 | Theodor W. Adorno, Epilegomena (zur Wiener Gedenkrede), in: Forum 8 (1961), S. 335-338. Erweitert abgedr. in: Quasi una fantasia, Frankfurt a.M. 1963, Wiederabdruck in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 16, Frankfurt a.M. 1978, S. 339-350, hier S. 341.

P ERFORMATIVE UND TEXTUELLE M OMENTE VON F ORM

die Rede ist. Woran freilich die sentimentale Tönung der Passage analytisch festzumachen wäre, bliebe noch zu untersuchen. Auch muss einschränkend unterstrichen werden, dass die Formverhältnisse im späteren Satzverlauf ungleich komplexer werden als in der quasi szenischen Abfolge der musikalischen Charaktere in der Exposition. Darin agieren die Musikarten Marsch, Choral und Cantabile auf funktionalen Positionen der Formkonvention, ohne jedoch schon als Stadien eines umfassenden Formprozesses gelten zu können. Die weitere »Geschichte« der Exponate ließe sich denn auch als sukzessive Thematisierung auffassen. Doch diese Feststellung gilt mit der Einschränkung, dass sich die vorwiegend auf dem Cantabile beruhende Schluss-Apotheose als recht vorläufiges Ende ausnimmt, das in Relation zum Marsch in der Sphäre von Vorzeitlichkeit und Erinnerung verbleibt.33 Und weil in der Durchführung die Meta-Position des Cantabile noch verstärkt wird, indem es in der Abfolge aus Marsch – Herdenglocken/Choral – Cantabile – Herdenglocken/Choral – Marsch gleich doppelt eingeschlossen wird, mag man dem Schluss den Charakter erfüllter Gegenwart nicht so recht abnehmen. In der dazu konträren Perspektive, in der das musikalische Subjekt nicht als Part einer marschierenden Kapelle gedacht wird, sondern als (rezeptiv konstruierte) ästhetische Instanz eines symphonischen Formprozesses, bildet der Marsch eine vorsymphonische Initialmusik, die vom Choral abgelöst wird. Er markiert den Übergang zur Ebene der Formimmanenz, die dann vom Cantabile eingenommen und ausgebreitet wird. Das Motto führt einen radikalen »Szenenwechsel« herbei und introduziert den Bläserchoral, der wiederum eine Bühne für den Auftritt des Gesangsthemas schafft. Genau genommen kann in dieser Perspektive nur das Cantabile als ein Thema im vollgültig symphonischen Formverstand gelten. Dass das Cantabile zum apotheotischen Finalthema des Satzes avanciert, ist in dieser Sichtweise ein höchst legitimer Vorgang. Ein weiteres Argument für die Dominanz textueller Konstellationen über performative Implikationen stellen mögliche Analogien zwischen Strukturen der Exposition und dem militärmusikalischen Zeremoniell des Großen Zapfenstreiches dar. In seinem Zentrum stehen die musikalischen Bestandteile Locken – Marsch – Fanfarensignale – Zeichen/Ruf zum Gebet – Gebet (Choral) – Marsch.34 Dass die Abfolge von Marschintroduktion, Marsch, Motto-Signal und Choral sich darauf zumindest lose beziehen lässt, muss nicht umständlich dargelegt werden – auch wenn Mahlers Charaktere mehr als deutlich von der feierlich-religiösen 33 | Daraus wäre kein Argument für eine definitive Reihung der Mittelsätze zu gewinnen. Folgt das Andante, dann werden die Momente von Retrospektion vertieft. Folgt das Scherzo, dann scheint sich die Zeit des Marsches zu restituieren (mit der Brechung im Medium des Tänzerischen). 34 | Vgl. Höfele, Artikel Militärmusik, Sp. 280. Die Hymne vor dem Ausmarsch wurde erst 1922 in das Zeremoniell aufgenommen.

215

216

S IEGFRIED O ECHSLE

Sphäre des Zapfenstreichs abstechen. Das militärmusikalische Formular als »Plot« für den Formverlauf zu Beginn der Sechsten zu bewerten, ginge sicherlich viel zu weit. Der Vergleich schärft jedoch den Blick auf den Satz. Zum einen rückt der Zusammenhang zwischen Marsch und Choral deutlicher ins Bild. Die Zäsurfunktion des Motto-Signals schränkt sich dagegen zumindest bei seinem ersten Auftritt auf die Binnenstelle des Wechsels von Marsch zum Choral ein. Zum anderen unterstreicht der Vergleich die Radikalität des Sprungs von der Marsch-Choral-Ebene auf die des Cantabile. Denn dessen schwelgerisch-exaltierte Melodik kontrastiert massiv zur Welt des militärmusikalischen Rituals.

V. Die doppelte Perspektive in der Interpretation des Kopfsatzes der Sechsten fokussiert den produktiven Widerspruch zwischen der Logik der symphonischen Sonatenform und der performativen Eigendynamik insbesondere der initialen Marschmusik (mit der Möglichkeit, in diese das Motto-Signal und den Choral mit einzubeziehen). Die Ambivalenz eignet der »Sache selbst« und vermittelt den ästhetischen Reiz der doppelten rezeptiven Buchführung. Das dynamische Verhältnis von textuellen und performativen Kategorien konstituiert sich denn auch auf der Ebene von Form und nicht erst in der »Performance« des musikalischen Notats. Von dieser nahezu trivialen Grundebene hebt sich durch die spezifischen Musikarten Marsch und Choral vielmehr eine Performativität zweiter Ordnung ab. Ins Werk gesetzt wird dieser Eigensinn nicht durch einen Zwischenauftritt im symphonischen Kunst- und Formraum. Von zentraler Bedeutung ist vielmehr, dass die Symphonie mit der Folge aus Marsch und Choral beginnt. Deren performative Autonomie ist nicht nur von episodischem Rang. Auch bilden sie nicht nur Kapitel des Formtextes. Vielmehr musizieren sich Marsch und Choral gewissermaßen in die symphonische Formveranstaltung hinein und bewirken so eine Überlagerung unterschiedlicher Zeitebenen. Der performative »Input« der Ereigniskette aus Marsch, Signal und Choral wird zwar im Satzprozess »funktionalisiert« und zu Qualitäten von Form umgebildet. Wie jedoch besonders das Finale zeigt, prägt dieses Potenzial die symphonische Musik der Sechsten insgesamt.

Joseph Goldes (1802-1886) Fest-Reveille (1858) über den Choral Nun danket alle Gott für Militärmusik Achim Hofer

Mit Joseph Goldes Fest-Reveille (1858) ist ein Werk überliefert, in dem sich zwei musikalische Gattungen, nämlich die des Marsches und des Chorals, vereinen, mithin die Sphäre des Militärischen mit der des Sakralen. Diese »musikalische« Verbindung in e i n e r Komposition weist das Werk als ein besonderes aus. Nur wenig ist über die Umstände seiner Entstehung bekannt. Aber in der Entwicklung und Rezeption von Mythen, die zum Umfeld des Werkes gehören, spielen Fakten ohnehin eine untergeordnete Rolle. Die folgenden Ausführungen bieten zunächst einige Informationen zum Komponisten und zur Quellenlage. Die anschließenden Bemerkungen zum Choral, welcher der Komposition zugrunde liegt und der als »Choral von Leuthen« zu einem Mythos geworden ist, zeichnen in Teilen das Hintergrundbild, vor dem die Faktur der Fest-Reveille untersucht wird. Ausblicke auf Rezeption und Wirkung beschließen den Beitrag.

K OMPONIST1 UND TITEL Der Militärmusiker, Komponist und Pädagoge Joseph Golde wurde am 1. September 1802 in Döllstädt bei Gotha geboren und starb am 20. März 1886 in Erfurt. In Gotha musikalisch ausgebildet, leitete er von 1827 bis 1862 als Stabs1 | Siehe Georg Kandler, Woher stammt unsere Fest=Reveille?, in: Deutsche MilitärMusiker-Zeitung 61/52 (1939), 30. Dez., S. 557-559; Joachim Toeche-Mittler, Armeemärsche, Bd. III, Neckargemünd 1975, S. 236f. (Dessen Angaben beruhen offensichtlich auf denen Kandlers.) Weitere Informationen – auch zu Joseph Goldes Sohn Adolph (1802-1886), der ebenfalls (Militär-)Musiker und Komponist war – unter www.romanahamburg.de/Adolph%20Golde.htm [20.3.2010].

218

A CHIM H OFER

hoboist, ab 1851 mit dem Titel eines Königlichen Musikdirektors, das Musikkorps des 2. Thüringischen Infanterie-Regiments Nr.  32. Als dies nach Meiningen verlegt worden war, wirkte Golde von 1862 bis 1872 als Direktor des Soller’schen Vereins, der den Männergesang in Erfurt ebenso pflegte wie die zwei Militärmusik-Chöre.2 Golde war auch Gesangslehrer an der Realschule in Erfurt und gab nebenher Klavier- und Violinunterricht. Für seine Schüler schrieb er einige Klavier-, Violin- und Vokalwerke. Abgesehen vom Frassini-Marsch (1860) und dem Fahnenweihemarsch (vor 1860) ist von Goldes militärmusikalischen Kompositionen neben der Fest-Reveille vor allem der Preußenmarsch bekannt geworden. Er erschien 1840 als Marsch über National-Melodien mit den Liedern Heil Dir im Siegerkranz im ersten Teil und Ich bin ein Preuße von Heinrich August Neithardt (1793-1861) im Trio.3 Die Uraufführung der Fest-Reveille fand am Neujahrstag 1858 in Erfurt statt,4 die Entstehungszeit der Komposition dürfte mithin ins Jahr 1857 fallen, also 100 Jahre nach der legendären »Schlacht von Leuthen«, bei welcher der in der Fest-Reveille verarbeitete Choral Nun danket alle Gott von den preußischen Soldaten gesungen worden war. Es scheint offensichtlich, dass Golde anlässlich des hundertjährigen Schlachtjubiläums die Komposition 1857 in Angriff nahm, um sie erstmals am Neujahrstage 1858 in Erfurt beim »Großen Wecken« aufführen zu lassen. Von dort aus hat sie als Bestandteil dieses Zeremoniells ihren Weg weit über Erfurt hinaus genommen. Das im Titel enthaltene und aus dem Französischen übernommene militärische Fachwort Reveille (»Wecken«) war ursprünglich lediglich ein Signal zum Aufstehen. Ähnlich wie der »Große Zapfenstreich« avancierte das »Große Wecken« im 19. Jahrhundert zu einem ausgedehnten militärmusikalischen Zeremoniell. Im Gegensatz zum »Großen Zapfenstreich« war es aber von vergleichsweise geringer Bedeutung. Zu Neujahr und an militärischen und nationalen Festtagen – denen der Titel Fest-Reveille (gelegentlich auch Große Fest-Reveille) entspricht – wurde es morgens in den Garnisonstädten durchgeführt, um die Soldaten, mehr aber noch die Bevölkerung, (symbolisch) zu »wecken« und auf den Festtag einzustimmen. Das Programm des »Großen Weckens« war bestimmt durch einen Wechsel von Stücken im normalen (Geschwindmarsch-) 2 | »Bemerkenswert bleibt, dass in der Erfurter Garnison seit 1816 Soldaten im Gesang unterrichtet wurden.« Richard Schaal, (Günther Kraft), Erfurt, in: Ludwig Finscher (Hg.), ²MGG, Sachteil Bd. 3, Kassel u.a. 1995, Sp. 141-148, hier Sp. 146. 3 | Dieser Marsch wurde 1840 als Nr. 119 in die Königlich Preußische Armeemarschsammlung II [Geschwindmärsche] aufgenommen; nach 1918 ersetzte der Musikinspizient Theodor Grawert das Lied des 1. Teils durch das »Lied der Deutschen«; in dieser Fassung fand der Marsch als Nr. 24 Eingang in die offizielle Sammlung Deutscher Heeresmärsche (1925-1945). 4 | Siehe Ruth Menzel und Steffen Raßloff, Denkmale in Erfurt, Erfurt 2006, S. 46.

J OSEPH G OLDES (1802-1886) F EST -R EVEILLE (1858) ÜBER DEN C HORAL N UN DANKET ALLE G OTT

Tempo von 114 Schritten in der Minute und solchen in dem aus dem 18. Jahrhundert stammenden Ordinaire-Schritt mit 80 Schritten pro Minute. Traditionell wurde in diesem langsamen Marschiertempo seit Mitte des 19. Jahrhunderts beim »Großen Wecken« Hans Georg Nägelis (1773-1836) Lied Freut euch des Lebens vom Musikkorps gespielt. Dem passte sich auch Golde mit seiner Fest-Reveille an (6/8-Takt, Tempo punktierte Viertel = 80).

M USIK ALISCHE Q UELLEN DER F EST -R EVEILLE Eine Erst- oder Urfassung der Komposition ist nicht nachweisbar; dass sie für Militärmusik bestimmt war, legen andere Kompositionen Goldes als Militärmusiker und nicht zuletzt die Freiluft-Aufführung zu Neujahr 1858 nahe. Für eine militärmusikalische Besetzung konnten nur zwei Exemplare als noch existent nachgewiesen werden (s.u. Nr. [4] und [12]). Folgende Ausgaben nennt das Hofmeister-Verzeichnis5 (Fundorte soweit ermittelt): [1] 1861

[2] 1867

[3] 1880 [4] 1896

Fest-Reveille üb. d. Choral: Nun danket Alle Gott. Erfurt, Bartholomäus 10 Ngr. für Klavier vierhändig (September/Oktober 1861, S.  164); Exemplar einer (identischen?) Ausgabe für Klavier vierhändig des Verlages Siegel/Leipzig in Berlin: Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Sign. DMS 62739; Mitteilung von Frau Antje Goerig, die mir freundlicherweise auch den Hinweis gab auf eine Ausgabe für Klavier vierhändig mit Chor (eigentlich Klavierpartitur der Ausgabe für Klavier vierhändig, Schulstreichorchester und 1-stg. Chor), Sign. DMS 47769, ebenfalls Leipzig: Siegel. Fest-Reveille über den Choral: Nun danket alle Gott,f. 2 Pfte zu acht Händen, arr. v. C.T. Brunner. Erfurt, Bartholomäus 20 Ngr. für 2 Klaviere zu 8 Händen (Dezember 1867, S. 196) [Ausgabe auch noch angezeigt in J.C. Eschmann’s Wegweiser durch die Klavier-Litteratur, 5. Aufl., hg.  v. Adolf Ruthardt, Leipzig 1900, S. 261]. Fest-Reveillef. Pfte über den Choral: Nun danket alle Gott. Leipzig, Siegel Mk 1 für Klavier zweihändig (September 1880, S. 250). Golde. C. [recte: Joseph] Grosse Fest-Reveille m. dem Choral »Nun danket alle Gott« f. Orch. Mk 2 *n. Hannover, Oertel. (März 1896, S. 91). Obgleich diese Ankündigung unter der Rubrik »Musik für Orchester« steht, han-

5 | Musikalisch-literarischer Monatsbericht neuer Musikalien, musikalischer Schriften und Abbildungen für das Jahr 1861 [ff.]. Als Fortsetzung des Handbuchs der musikalischen Literatur. […], Leipzig 1861; online zugänglich unter www.hofmeister.rhul. ac.uk/2008/index.html [20.3.2010].

219

220

A CHIM H OFER

[5] 1896 [6] 1896

[7] 1896

[8] 1896

[9] 1896

[10]1896

delt es sich zweifellos um das in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz erhaltene Exemplar für Militärmusik (Sign. DMS 60271), worauf der falsch abgekürzte Vorname, der Titel Grosse Fest-Reveille und die Verlagsangabe verweisen. Die Einzelstimmen (s.u.) enthalten jeweils oben rechts die Angabe »C. Golde«, unten links »Edition Louis Oertel. Hannover«, unten Mitte »L. 5000.O.« (Verlagsnummer) und unten rechts »Musikaliendruckerei v. Moritz Dreissig, Hamburg«. Golde, Josef, Fest-Reveille m. dem Choral »Nun danket alle Gott« f. Orch. Mk 2,50 n. Hannover, Lehne & Co. (Mai 1896, S. 218). Fest-Reveille m. dem Choral »Nun danket alle Gott« bearb. v. G. [Gustav] Herold f. gr. Harmoniemusik. Mk 2,60 n. – f. kl. Harmoniemusik. Mk 1,80 n. Hannover, Lehne & Co. [Rubrik: Für Harmonie-(Militär-)Musik] (Mai 1896, S. 222). Fest-Reveille m. dem Choral »Nun danket alle Gott« f. Messingmusik arr. v. G. [Gustav] Herold. Mk 2,25 n. Hannover, Lehne & Co. [Rubrik: Für Blechmusik] (Mai 1896, S. 224). Fest-Reveille m. dem Choral »Nun danket alle Gott« f. Orch. Mk 2,50 n. Hannover, Lehne & Co. [Rubrik: Musik für Orchester] (Mai 1896, S. 218) Exemplar in Schwerin: Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern, Sign. Mus 18654 (19 Stimmen). Festreveille m. dem Choral »Nun danket alle Gott« arr. v. G. [Gustav] Herold f. gr. Harmoniemusik. Mk 2,60 *n. – f. kl. Harmoniemusik. Mk 1,80 *n. Leipzig, Siegel. [Rubrik: Für Harmonie-(Militär-)Musik] (September 1896, S. 413). Fest-Reveille m. dem Choral: »Nun danket alle Gott« f. Messingmusik arr. v. G. [Gustav] Herold. Mk 2,25 *n. Leipzig, Siegel. [Rubrik: Für Blechmusik] (September 1896, S. 414).

Vier handschriftliche Exemplare der Fest-Reveille, eines für Militärmusik und drei für Orchester mit Streichern, befinden sich in Detmold und Coburg: [11] 1920

No. 2 Fest-Reveille v. Joseph Golde, Erfurt 1858, Partitur für Orchester mit Streichern, Lippische Landesbibliothek Detmold, Sign. Mus h 2 K 188 (Nr. 2), RISM6 451.504.052, Datierung am Schluss: Hohenhausen, 21. Septbr. 1920./K. Kaiser [Karl Friedrich Theodor Kaiser, 1854-1925, Oboist im 6. Westfälischen Infanterie-Regiment zu Detmold und später KurKapellmeister in Bad Meinberg]. Zweites von zwei zusammengehefteten Werken unterschiedlicher Formate und Datierung: Mus h 2 K 188 (Nr. 1-2).

6 | RISM Serie A/II: Musikhandschriften nach 1600. 9. CD-ROM/11. Ausgabe, München 2003.

J OSEPH G OLDES (1802-1886) F EST -R EVEILLE (1858) ÜBER DEN C HORAL N UN DANKET ALLE G OTT [12] 1920

Fest-Reveille von Joseph Golde, Erfurt 1858, Partitur für Blas- bzw. Militärmusik, Lippische Landesbibliothek Detmold, Sign. Mus h 2 K 208, RISM 451.503.129, Datierung am Schluss: Hohenhausen, 21. August 1920./K. Kaiser (siehe Nr. [10]). Schlagwerk ist entgegen der Angabe bei RISM nicht enthalten. In der Partitur sind nur folgende Instrumente notiert: Cl[arinette] II in B, Cornet I in B, Tromba I in F, Corno II in F, Tenorh[orn] I in B, Tuba I. Dies ist befremdlich, da zumindest auch Klarinette I und Horn I zu erwarten wären. Ein Bestandsverlust kann ausgeschlossen werden.

Abb. 1: Erste Partiturseite der Orchesterausgabe von Mus h 2 K 188 (Nr. 2). [13] 1920

(ca.) No. 1 Fest-Reveille von Joseph Golde, Erfurt 1858, 15 Stimmen für Orchester mit Streichern, Lippische Landesbibliothek Detmold, Sign.

221

222

A CHIM H OFER

[14] 1925

Mus L 70 H 11 (Nr. 1), RISM A/II 451.502.146. Erstes Stück einer Sammlung mit 5 Werken: Mus L 70 h 11 (Nr. 1-5). Große Fest-Reveille mit dem Choral: Nun danket alle Gott, 23 Stimmen für Orchester mit Streichern (und eine gedruckte Klavierdirektion), 1925, Landesbibliothek Coburg, Sign. Mus Nec M III 31.

Aufgrund dieser Quellenlage ergibt sich das folgende Bild: Erste Druckausgaben sind in den 1860er Jahren (und möglicherweise noch bis 1880) lediglich für Klavier erschienen. Ins Auge fällt die große Anzahl von Drucken für (Militär-) Orchester des Jahres 1896; die Gründe bleiben einstweilen Spekulation.7 Zusammen mit handschriftlichen Ausgaben aus der Zeit um 1920 deuten die musikalischen Quellen auf eine breitere Rezeption vor allem im Wilhelminischen Reich und in der Weimarer Republik hin; ein Zusammenhang mit der zunehmenden politischen Bedeutung des »Choral von Leuthen«-Mythos liegt nahe.

N UN DANKET ALLE G OT T – DER »C HOR AL VON L EUTHEN « Der Fest-Reveille liegt das Lied Nun danket alle Gott/mit Herzen Mund und Händen, einer der bekanntesten deutschen Choräle, zugrunde. Er stammt von dem Theologen, Dichter und Musiker Martin Rinckart (1586-1649) und entstand 1630 aus Anlass der Hundertjahrfeier der »Augsburger Konfession«, einer Schrift, in der sich die lutherischen Reichsstände grundlegend zu ihrem Glauben bekannt hatten. Dieser Choral ist »im weitesten und besten Sin[n]e auch ein – über Konfessionen und Ländergrenzen hinweg verbreitetes – Volkslied: von allen Gesellschaftsschichten und Altersgruppen musiziert, zurechtgesungen und auf vielfältige Weise bearbeitet. Kaum noch zu zählen sind all’ die Kompositionen, die auf diesem Lied basieren […].«8 Ebenso gibt es zahlreiche Melodiefassungen des Liedes selbst.9 Die ursprüngliche Melodie wurde 1647 erstmals abgedruckt in einem Gesangbuch Johann Crügers (1598-1662). »Nach und nach kristallisierte sich jene Fassung heraus, wie wir sie heute noch singen – rhythmisch weiter egalisiert und mit melodisch verändertem Schluss (das heißt ohne den Leitton), was zugleich eine Reduzierung des Tonumfangs auf eine Sexte bewirkte.«10 Diese Fassung (siehe Abb. 2) erschien erstmals in Georg Philipp Telemanns (1681-1767) 7 | Denkbar wäre der bevorstehende 100. Geburtstag Kaiser Wilhelm I. im Jahre 1897, eher unwahrscheinlich scheint der zehnte Todestag des Komponisten. 8 | Siegmar Keil, Martin Rinckarts »Nun danket alle Gott«, in unterschiedlichen Text- und Melodiefassungen, in: Forum Kirchenmusik. Zeitschrift des Verbandes Evangelischer Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker in Deutschland 1 (2007), S. 4-13, hier S. 4. 9 | Siehe Ebd. 10 | Ebd., S. 10.

J OSEPH G OLDES (1802-1886) F EST -R EVEILLE (1858) ÜBER DEN C HORAL N UN DANKET ALLE G OTT

Fast allgemeines Evangelisch-Musicalisches Lieder=Buch (Hamburg 1730);11 die Melodiekontur dieser Version entspricht genau derjenigen in Goldes Fest-Reveille.

Abb. 2: Nun danket alle Gott, Fassung 1730. Wiedergegeben nach Keil, Martin Rinckarts, S. 10. Bekannt wurde Nun danket alle Gott als »Choral von Leuthen« durch die Schlacht nahe der schlesischen Ortschaft Leuthen während des Siebenjährigen Krieges (1756-1763). Am 5.  Dezember 1757 hatten dort die preußischen Truppen unter König Friedrich II. (1712-1786) gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Österreicher einen großen militärischen Sieg errungen. Im Online-Lexikon Wikipedia heißt es dazu (allerdings unter »Anekdoten«): »Nach der Schlacht lagerten sich die 25.000 erschöpften Kämpfer der preußischen Armee und sangen den protestantischen Choral ›Nun danket alle Gott‹, der als ›Choral von Leuthen‹ in die Geschichte eingegangen ist.«12 An anderer Stelle des Lexikons ist zu lesen: »Am Abend nach der Schlacht sollen – so die Chronisten – 25.000 Soldaten spontan ›Nun danket alle Gott‹ angestimmt haben.«13 Für die »Produktion politischer Mythen im 19. und 20. Jahrhundert«14 waren die genauen Umstände des Choralsingens nach der Schlacht – soweit sie heute bekannt sind – relativ unwichtig. Angeblich konnte ein 85-jähriger Veteran 1824 Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) noch den Platz zeigen, an dem der Choral einst gesungen worden

11 | Siehe hierzu Joachim Kremer, Freylinghausens Geistreiches Gesang-Buch und Telemanns Fast allgemeines Evangelisch-Musicalisches Lieder-Buch (Hamburg 1730) im Vergleich – Anmerkungen zum Liedbestand, in: Wolfgang Miersemann und Gudrun Busch (Hg.), »Singt dem Herrn nah und fern«. 300 Jahre Freylinghausensches Gesangbuch (= Hallesche Forschungen, 20), Tübingen 2008, S. 349-372. 12 | http://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_von_Leuthen [10.3.2010]. 13 | http://de.wikipedia.org/wiki/Nun_danket_alle_Gott [10.3.2010]. Weiter heißt es hier: »›Nun danket alle Gott‹ wurde daraufhin – zunächst in Preußen, später im ganzen Reich – zur vaterländischen Hymne schlechthin.« 14 | Bernhard R. Kroener, »Nun danket alle Gott.« Der Choral von Leuthen und Friedrich der Große als protestantischer Held. Die Produktion politischer Mythen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Gerd Krumeich und Hartmut Lehmann (Hg.), »Gott mit uns«. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 103-134.

223

224

A CHIM H OFER

war.15 Vielleicht liegt es an der Kraft von Mythen, wenn Siegmar Keil, dessen Beiträge zum Choral sich weitgehend durch solide wissenschaftliche Methodik auszeichnen, einen damaligen Augenzeugenbericht, für den es jedoch bislang keinen Nachweis gibt, als Tatsache zitiert. Keil leitet ihn mit der Bemerkung ein, in dem »Hochgefühl« nach der Schlacht habe »das gemeinschaftliche Singen von Rinckarts Lied bei allen Beteiligten Emotionen [geweckt], die sie in dieser Art und solcher Intensität bis dahin wahrscheinlich noch nie gespürt hatten und die alles zuvor Erlebte verblassen ließen«16. Der vermeintliche Augenzeugenbericht lautet: Gegen 7 Uhr [abends] rückte unsere Armee vorwärts gegen Lissa und hierauf fing sie von freien Stücken, soweit sie sich erstreckte an, das Lied ›Nun danket alle Gott‹ und so weiter zu singen. Um diesen ungemein rührenden Anblick recht zu fühlen, müßten sie selbst ein Zeuge dieser Schlacht gewesen sein. Er preßte mir und unzähligen anderen Tränen aus, die durch die Bewegungen, die sie vorher gesehen und selbst gefühlt hatten, dazu vorbereitet waren. Sie setzten ihr Singen eine ganze Stunde unter beständigem Schall der Kanonen fort […].

Bis auf den Schlusssatz hat Keil das Zitat einem Buch von Walter Rohdich entnommen, nach dem es auch hier wiedergegeben ist.17 Rohdichs Buch ist jedoch kein wissenschaftliches und es nennt auch keine Quelle, unabhängig davon, dass es durch seinen Erzählstil und den Kontext, in dem das Zitat eingebettet ist, wenig glaubwürdig erscheint. Mitnichten als historisches Faktum ist auch eine um 1850 erschienene Darstellung Franz Kuglers (1808-1858) anzusehen, abgedruckt in seiner verbreiteten und mit Zeichnungen Adolph Menzels (18151905) versehenen Geschichte Friedrichs des Großen: Still und ernst hatte sich die Armee [nach der Schlacht] aufgemacht; jeder schritt [!] in tiefen Gedanken über den bedeutungsvollen blutigen Tag vorwärts; der kalte Nachtwind strich schaurig über die Felder, die von dem Ächzen und Wimmern der Verwundeten erfüllt waren. Da stimmte ein alter Grenadier aus tiefster Brust das schöne Lied: ›Nun danket alle Gott‹ an; die Feldmusik fiel ein, und sogleich sang die ganze Armee, mehr als 25000 Mann, wie aus einem Munde: Nun danket alle Gott […].18

15 | Vgl. ebd., S. 121. 16 | Siegmar Keil, Der »Choral von Leuthen« – ein preußisch-deutscher Mythos, in: Die Tonkunst. Magazin für klassische Musik und Musikwissenschaft 1/4 (2007), S. 442449, hier S. 442f. 17 | Walter Rohdich, Leuthen – 5. Dezember 1757 – Ein Wintertag in Schlesien, Eggolsheim 2003, S. 96f. 18 | Franz Kugler, Geschichte Friedrichs des Großen, Leipzig o.J. [um 1850], Repr. Köln o.J. [1981], S. 365.

J OSEPH G OLDES (1802-1886) F EST -R EVEILLE (1858) ÜBER DEN C HORAL N UN DANKET ALLE G OTT

Die Zahl von 25.000 gemeinsam singenden Soldaten entspricht ungefähr der Anzahl der Überlebenden auf preußischer Seite. Die derzeitige Quellenlage lässt jedoch allenfalls den Schluss zu, dass viele, möglicherweise sehr viele und vielleicht sogar einige Tausend Soldaten den Choral gesungen haben. Zweifellos konnte er bei den Soldaten als bekannt vorausgesetzt werden.19 Daraus ist jedoch nicht zu folgern, dass ihn 25.000 Soldaten gesungen haben, zumal Widersprüche über weitere Umstände, von denen letztlich nichts als gesichert gelten kann, zu grundsätzlicher Skepsis Anlass geben. So ist einerseits von marschierenden Truppen die Rede, die die Kampfstätte in Richtung Nachtlager verließen und dabei das Danklied sangen, andererseits von Kriegern, die zusammengeschart den Choral in ihrem Nachtlager intonierten. Spätere, zumeist idealisierende bildliche Darstellungen der Choralszene – zum Beispiel von Wilhelm Camphausen 20 oder Arthur Kampf 21 – zeigen Soldaten während einer Ruhepause, malerisch gruppiert und dem erhebenden Augenblick entsprechend ins Bild gesetzt. 22

Hinzu kommt – und dies unterstreicht, wie sehr der Mythos vom »LeuthenChoral« geradezu g e m a c h t wurde –, dass der Vorgang selbst seinerzeit nicht unbedingt etwas Besonderes war (vorausgesetzt, emotional aufgeladene und überhöhte spätere Darstellungen in Wort und Bild haben mit dem, wie es »wirklich« war, nichts oder nur sehr wenig zu tun). Geistliche Gesänge und Dankgottesdienste bildeten während der Frühen Neuzeit einen selbstverständlichen Bestandteil des Schlachtenrituals. Auch bei Roßbach 23 waren 19 | Der Choral hatte schon früh auch seinen Weg in für Soldaten bestimmte Gesangbücher gefunden, siehe Keil, Der »Choral von Leuthen«, S. 445f. 20 | Wilhelm Camphausen (1818-1885), Choral am Abend der Schlacht bei Leuthen, 1864; Abb. siehe http://preussen-chronik.de/bild_ jsp/key=bild_leuthen_choral.html [20.3.2010]. 21 | Arthur Kampf (1864-1950), »Nun danket alle Gott!« Der Choral nach der Schlacht von Leuthen, 1887, abgedruckt in: Adolf Bär und Paul Quensel (Hg.), Bildersaal deutscher Geschichte. Zwei Jahrtausende deutschen Lebens in Bild und Wort, Stuttgart u.a. 1890, Repr. Wiesbaden 2004, S. 316f. 22 | Keil, Der »Choral von Leuthen«, S. 445; Michael Fischer: Nun danket alle Gott (2007), in: Deutsches Volksliedarchiv/Institut für internationale Popularliedforschung (Hg.), Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon, online-Veröffentlichung, www.liederlexikon.de/lieder/nun_danket_alle_gott [17.3.2010]. 23 | Der Erfolg in der Schlacht von Roßbach am 5.11.1757 hatte zunächst den von Leuthen bis ins 19. Jahrhundert bei Weitem überstrahlt, und die Schlacht von Leuthen wurde »erst verhältnismäßig spät zur Ikone der preußisch-deutschen Kriegsgeschichte erhoben.« Kroener, »Nun danket alle Gott.«, S. 106.

225

226

A CHIM H OFER nach dem Ende der Kampfhandlungen von den Soldaten Danklieder angestimmt worden. Für Leuthen gilt zusätzlich, daß korrekterweise nicht von dem ›Choral von Leuthen‹, sondern von ›den Chorälen‹ gesprochen werden muß. Die Truppe hatte den Kampftag mit dem Lied: ›Gib, daß ich tu’ mit Fleiß, was mir zu tun gebühret‹ begonnen und mit ›Nun danket alle Gott‹ beschlossen. Erst im Verlauf der Befreiungskriege […] wurde der ›Choral von Leuthen‹ zum spezifischen Danklied der preußischen Armee. 24

In den Schriften Heinrich von Treitschkes (1834-1896) und Gustav Freytags (1816-1895) erfuhr dabei die Verbindung von Friedrich dem Großen mit Martin Luther eine nachhaltige Popularisierung. Hier bot sich ein Anknüpfungspunkt für eine zielgerichtete politische Instrumentalisierung des Leuthenmythos. […] Als Hofprediger Adolf Stoecker in der Kaiserproklamation im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles die Geburststunde [sic!] des ›heiligen evangelischen Reiches deutscher Nation‹ erblickte, wurde der Choral von Leuthen zu einem integralen Bestandteil seiner Schöpfungsgeschichte. 25

1907 ließ Wilhelm II. an der Stelle, wo seinerzeit angeblich der Choral intoniert worden war, einen 24 Meter hohen Obelisken aufstellen mit einem Bronzemedaillon Friedrichs des Großen und der Inschrift: »Nun danket alle Gott«.26 Als am 1. August 1914 vor dem Berliner Schloss vor Tausenden von Menschen die Mobilmachung verkündet wurde, »sangen die versammelten Massen den Choral ›Nun danket alle Gott‹. Die Ungewißheit über das weitere Schicksal war einer Form religiöser Ergriffenheit gewichen.«27 In Carl Froelichs (1875-1953) Film Der Choral von Leuthen (1932, UA 1933) wurde der Mythos massenwirksam ins Bild gesetzt.28 Zum 21. März 1933, dem »Tag von Potsdam«, der konstituierenden Sitzung des Reichtages, schreibt Kroener: Während der Reichspräsident mit seinem Marschallstab den verwaisten Thronsessel seines exilierten Obersten Kriegsherrn grüßte, intonierte die Orgel den Choral von Leuthen. Mit Bedacht hatte Goebbels Festregie damit das Publikum in der Kirche optisch und die Millionen Menschen an den Radiogeräten im Reich auf diesen Akt der Verschmelzung des Alten mit dem Neuen eingestimmt. 29 24 | Ebd., S. 108. 25 | Ebd., S. 115. 26 | Ebd., S. 122. 27 | Deutsches Historisches Museum: www.dhm.de/lemo/html/wk1/kriegsverlauf/ august/index.html [17.3.2010]. 28 | Siehe ausführlich Kroener, »Nun danket alle Gott.«, S. 128f. 29 | Ebd., S. 130. Zehn Jahre später heißt es in einer Erinnerung an diesen Tag: »Ein Choral erklingt, zar t, fein, dann mächtig dröhnend, wie Meereswogen rauschen

J OSEPH G OLDES (1802-1886) F EST -R EVEILLE (1858) ÜBER DEN C HORAL N UN DANKET ALLE G OTT

Und durch den Choral-Mythos, wie er sich in einer teilweise »völlig ahistorischen Beschreibung« aus dem Jahre 1937 zeigt, erhält »der deutsche Soldatentypus, der zeitlose heroische Kämpfer«30 seine auf die NS-Ideologie ausgerichtete Gestalt: Unterwegs […] hat einer von den tausenden der ihrem königlichen Führer nacheilenden Frontsoldaten das Lied angestimmt, das bald von allen mitgesungen brausend zum Nachthimmel emporscholl, jenes Lied, das ewig den Ehrennamen ›Choral von Leuthen‹ tragen wird […]. 31

Zu dem Zeitpunkt, als Goldes Fest-Reveille von 1857/58 erschien, war der Choral zwar längst zu einem Dankeslied der preußischen Armee geworden; im Hinblick auf den »Choral von Leuthen«-Mythos steht die Komposition aber eher an seinem Beginn – zeitgleich etwa mit Kuglers oben zitierter Beschreibung um 1850 oder mit den Anfängen einer Denkmalkultur auf dem Leuthener Schlachtfeld 1854.32

D IE MUSIK ALISCHE F AK TUR DER F EST -R EVEILLE 33 Zeigt sich die Popularität der Fest-Reveille auch in den verschiedenen Fassungen für Klavier(e) und Orchester mit Streichern, so ist doch die erhaltene Militärmusik-Fassung DMS 60271 der Staatsbibliothek zu Berlin als eine derjenigen anzusehen, die den Intentionen des Komponisten zweifellos entspricht. Die Aufführung des Werkes als F e s t -Reveille ist auch durch eine Orchesterfassung mit Streichern (s.o. Nr. [11]) realisierbar; eine Fest- R e v e i l l e als Freiluftmusik bei oben genannten Anlässen bedarf jedoch der Militärmusik. DMS 60271 enthält Stimmen für folgende Instrumente: Lyra, Piccoloflöte, 2 Oboen, 3 Klarinetten in B, 2 Klarinetten in Es, 2 Fagotte, 4 Trompeten in B, 2 Flügelhörner in B, 2 Althörner in Es, 4 Hörner in Es, 2 Tenorhörner in B, Euphonium, 4 Posaunen, 2 Bässe (Tuben), kleine und große Trommel, Pauken.

die Klänge herauf und wieder herab, wie aus einer Ewigkeit in eine Ewigkeit.« Ebd., S. 131. 30 | Ebda., S. 132. 31 | Wilhelm Dieckmann: Leuthen 1757, in: Friedrich von Cochenhausen (Hg.), Schicksalsschlachten der Völker, Leipzig 1937, S. 142-154, hier S. 154, zit. nach Kroener, »Nun danket alle Gott.«, S. 132. 32 | Siehe Kroener, »Nun danket alle Gott.«, S. 122. 33 | Siehe hierzu das Particell am Ende des Beitrags, das nach den Stimmen von DMS 60271 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, s.o. Nr. [4]) erstellt wurde.

227

228

A CHIM H OFER

Nach einer 14-taktigen Einleitung folgt im Hauptteil die filigran umspielte Choralmelodie Nun danket alle Gott, der zunächst eine 6-taktige Rückleitung und nach der Dal Segno-Wiederholung ein 14- beziehungsweise 15-taktiger Schlussteil folgt, dessen letzte zehn Takte ausgesprochen pompös gehalten sind und die durch den plagalen Schluss (T. 76-78) dem Sakralen des Chorals Rechnung tragen. Dazu gehören auch formale, der »Geradlinigkeit« militärischer Musik eigentlich zuwider laufende Disproportionen. Ohne Dal Segno-Wiederholung umfasst das Stück 81 Takte, und zwar 14 + |: 20 :| + 37 [= 32 + 5 beziehungsweise 33 + 4] + 10. Dieses – formal gesehen – gleichsam »Unmilitärische« fällt jedoch hörpsychologisch wegen des langsamen Tempos kaum ins Gewicht. Die Ursachen für die Abschnittslängen, die jenseits »wohlproportionierter« 4-, 8- oder 16-taktiger liegen, sind zum einen im kompositorischen Bemühen Goldes bei der Einleitungs- und Schlussgestaltung zu sehen. Der Gestus der Einleitung markiert unmissverständlich den militärischen Charakter der Komposition durch aufwärts gerichtete, signalartige Dreiklangsbrechungen der Trompeten sogleich in den ersten zwei Takten. Die letzten fünf Takte der Einleitung (T. 10-14) halten die Spannung auf der Dominante, gesteigert in Takt 13 und 14 durch Zurücknahme der rhythmischen Bewegung mittels vier Viertelnoten des Dominant-Grundtons, die lediglich noch den Marschier-Impuls markieren und gleichsam die Fläche freigeben für die in Takt 15 einsetzende »Melodie«. So wie die Trompetenklänge in den ersten zwei Takten deutlich den militärischen Charakter der Komposition kennzeichnen, so bilden ähnliche Figuren der Trompeten in den Takten 70 und 71 gleichsam das musikalische Pendant am Schluss des Chorals, womit dieser deutlich militär-musikalisch und in gewisser Weise auch »militärisch« eingerahmt erscheint.34 Die letzten zehn Takte hingegen – im Gegensatz zur Einleitung gänzlich ohne funktional-dominantischen Charakter – verharren bis auf die oben genannten plagalen Schlusstakte auf der Tonika, haben lediglich eine geradezu bombastisch-pompöse, auch »überhöhte« Bekräftigungsfunktion. Sie könnten in ihrer Faktur – also musikalisch – gegenüber Umfang und Gestaltung des Hauptteils als unangemessen angesehen werden (selbst noch gegenüber dem im Titel zum Ausdruck gebrachten »Festlichen«), nicht unbedingt jedoch gegenüber dem zugrunde liegenden Choral, dessen Bedeutung offensichtlich herausgestellt werden soll.35 Beim Choral selbst erfolgt dies vor allem durch das Tempo und die Instrumentation. Die Wahl des 6/8-Taktes entspricht dem üblicherweise bei der »Reveille« musizierten 3er-Metrum des Liedes Freut euch des Lebens, sodass in langsamem Tempo dazu marschiert werden kann (s.o.). Golde augmentiert die gleichsam als cantus firmus fungierende Choralmelodie extrem: Aus einer 34 | Mit Vorsicht könnte man darin auch ein immanent szenisches Element erkennen. 35 | Toeche-Mittler versteht dies als Ausklang »wie bei einem Orgelspiel«. ToecheMittler, Armeemärsche, S. 241.

J OSEPH G OLDES (1802-1886) F EST -R EVEILLE (1858) ÜBER DEN C HORAL N UN DANKET ALLE G OTT

Viertelnote des im 4er-Takt stehenden Chorals wird ein ganzer 6/8-Takt in der Fest-Reveille, wodurch sich die Taktzahl vervierfacht; die ursprünglichen Proportionen des Chorals werden jedoch beibehalten. Erst daraus erschließt sich der Sinn der »Pause« in Takt 15 beziehungsweise der Einsatz der Choralmelodie in Takt 16: Er entspricht der Auftaktigkeit der originalen Choralmelodie im 4er-Metrum auf der zweiten Zählzeit (ähnlich T. 23, 35, 43, 51, 59). Die Augmentation führt zu extrem langen Haltenoten an den jeweiligen Zeilenenden. Dieser Langatmigkeit begegnet Golde nicht nur durch »Umspielungen« der Choralmelodie oder durch einige harmonische Auffälligkeiten (T. 29: Doppeldominante, erst in T. 30 die bereits zuvor erwartete Dominante [so auch in T. 63f.], aufsteigende chromatische Bassfortschreitung in T. 41-45, die sich mit verminderten Sept, Dominantsept- und Quartsextakkorden verbindet36), sondern auch durch signalartige Einschübe der Trompete, die zugleich daran erinnern, dass hier ein Choral gleichsam im Militärgewand erscheint (T. 33f., 49f.). Auch die Choralmelodie selbst und der latent vorhandene Text strahlen »Kraft« aus. Für Werner Merten steht am Anfang des Textes »ein machtvoller Imperativ von mitreißender Gewalt«37. Die Melodie sei »ein meisterhaftes Beispiel« dafür, dass auch ohne Melodiesprünge »eine strahlende, sieghafte musikalische Grundaussage erzielt werden« könne. Die Noten zu den Worten Nun danket alle Gott klängen »geradezu wie ein mehrfacher Trompetenstoß«, und überhaupt trügen die Tonwiederholungen hier »zur Erzielung einer festen, siegesbewussten musikalischen Bekenntnisaussage« bei. Die »vorherrschende Viertelnotenfolge« stehe »damit im Zusammenhang« und verleihe dem Lied »ein vorwärtsdrängendes Element.«38 Wohlgemerkt ist all dies nicht auf die Fest-Reveille, sondern auf den Choral bezogen. Die Melodie, die in diesem Sinne aufgrund ihrer extremen Verlangsamung in Goldes Komposition an Kraft verlieren könnte, erhält sie gesteigert zurück »Kraft« der Instrumentierung und Vortragsweise: unisonoSpiel von Trompete I & II, Es-Hörner, Euphonium und Posaune I & II, Lyra und Oboen, wobei jede einzelne Note mit einem marcato-Zeichen versehen ist. Die genannten »Umspielungen« durch Piccoloflöte, Klarinetten und Tenorhorn I39 sind das wichtigste Mittel, um das extrem verlangsamte Tempo 36 | Ein Ausschnitt aus der auch »Teufelsmühle« genannten Sequenz. 37 | Werner Merten, »Nun danket alle Gott«, in: Joachim Stalmann und Johann Heinrich (Hg.), Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch. Liederkunde. 2. Teil, Göttingen 1990, S. 140-143, hier S. 141. 38 | Alle Zitate ebd., S. 142. 39 | Auffällig ist, dass der Choral nicht stringent auf Blechblasinstrumente (siehe Lyra und Oboe), und die Umspielungen nicht auf Holzblasinstrumente (siehe Tenorhorn I) konzentriert sind. Möglicherweise soll durch Letzteres erreicht werden, dass das Stück auch in reiner Blechbesetzung, für die das Hofmeister-Verzeichnis ebenfalls Ausgaben nennt [s.o.], aufgeführt werden kann.

229

230

A CHIM H OFER

der Choralmelodie rezipierbar zu machen. Sie stellen einen Kontrast dar zur »Schwere« und zum gleichförmigen Voranschreiten des Chorals – nur punktierte Halbenoten und fast ausschließlich Tonschritte – durch Tonsprünge, Läufe, gelegentliche punktierte Rhythmen, Triller, Schleifer und Vorschläge, durch einen großen Ambitus und legato- als auch staccato-Spiel, mithin durch eine Art tänzerisch anmutender, zum Teil auch durch die Taktart bedingter »wiegender« Leichtigkeit und Beweglichkeit. Diese sind – wenn man so will – das »weltliche« Pendant zur Choralmelodie. Sie verweisen eher auf die im Titel der Komposition genannte »Reveille«. Beide – Choralmelodie und Umspielungen – bilden jedoch eine Einheit, denn keine kann für sich erklingen: die Choralmelodie nicht aufgrund ihres isoliert nur schwer rezipierbaren langsamen Tempos; die Umspielungen nicht, weil sie insgesamt keine melodische Gestalt ergeben, obwohl die ersten vier Takte (T. 15-18) zunächst etwas anderes suggerieren: Sie wirken wie der Beginn einer nun folgenden, periodisch gestalteten Melodie, umso mehr, als ihr – zudem volltaktiger – Einsatz »solistisch« genannt werden kann, da die Choralmelodie wegen der oben genannten »Auftaktigkeit« in Takt 15 noch pausiert. Dem Notenbild des weiteren Verlaufs ist jedoch zu entnehmen, dass von der Fortsetzung einer eigenständigen »Melodie« nicht die Rede sein kann.40 Gleichwohl bleiben rezeptionspsychologische Fragen: Die Komposition zählt auf die Bekanntheit des Chorals, und wer die Fest-Reveille kennt, weiß um die Bedeutung und den »Einsatz« des Chorals. Ansonsten ist es aufgrund des extrem langsamen Choraltempos nicht leicht, diesen in seiner Kontur spontan wahrzunehmen (erst recht nicht die Zeilenanfänge in ihrer Auftaktigkeit), zumal die genannte vermeintliche Melodik ab Takt 15 die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenkt, so dass ein unbefangener Hörer zunächst kaum weiß, wer hier eigentlich wen begleitet. Diese Fragen spiegeln sich indirekt wider in den Überlieferungen, in denen es heißt, die Fest-Reveille sei »über« den Choral Nun danket alle Gott komponiert, aber auch in jenen, die feststellen, es sei eine Komposition »mit« dem Choral.41 Erscheint die Faktur der Fest-Reveille als Choral in militärischem Gewand, so gibt es auch funktionale Entsprechungen durch das Element der Bewegung. Funktionen des Chorals bei Prozessionen, während derer er beim Voranschreiten gesungen und gespielt wird, haben ihr Pendant im Marsch als einem den Gleichschritt koordinierenden Musikstück. Die Fest-Reveille als »langsamer

40 | Georg Kandler nimmt an, Golde habe dem Choral »eine eigene wiegende Melodie beigegeben und so das ganze Stück mit eindrucksvollen feierlich-festlichen Umrankungen versehen«. Kandler, Woher stammt unsere Fest=Reveille?, S. 558. »Feierlich-festlich« können die »Umrankungen« kaum genannt werden. 41 | Vgl. die oben zitierten Ankündigungen im Hofmeister-Verzeichnis.

J OSEPH G OLDES (1802-1886) F EST -R EVEILLE (1858) ÜBER DEN C HORAL N UN DANKET ALLE G OTT

Marsch«42 mit einem Tempo von 80 Schritten in der Minute erlaubt hier gleichsam eine im Schritt »koordinierte Prozession«, also eine Verbindung von Marsch und Choral auf aufführungspraktischer Ebene. Der militärische Impetus des Liedes Nun danket alle Gott innerhalb der Fest-Reveille wird damit auch funktional unterstrichen (abgesehen von der semantischen Ebene, die durch die oben genannten Aufführungsanlässe gegeben ist).

R E ZEP TION , W IRKUNG Die Komposition der Fest-Reveille (1857) steht eher am Anfang des Mythos’ vom »Choral von Leuthen«. Dem entspricht eine durch die Quellenlage erkennbare Aufwertung der Komposition im Deutschen Kaiserreich, besonders ab 1896. Inwieweit dabei auch die Fest-Reveille dezidiert vom »Choral von Leuthen«-Mythos erfasst wurde, bedarf noch einer eingehenden Untersuchung. Insgesamt schien die Komposition durch ihren Titel, ihre militärmusikalische Faktur und durch die »Semantik« des verarbeiteten Chorals und der Aufführungsanlässe wie geschaffen dafür zu sein, vom Mythos zu profitieren wie ihn gleichermaßen zu steigern. Aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums der Erstaufführung von Goldes FestReveille ergingen 1907 und 1908 Aufrufe an die Erfurter Bevölkerung und an die Leser der Deutschen Militär-Musiker-Zeitung43 (DMMZ), Geld zu spenden für ein Golde-Denkmal, das am 6. Juni 1909 auch feierlich enthüllt – und um 1970 im Zuge eines Straßenausbaus wieder abgerissen – wurde.44 Die Inschrift des Denkmals enthielt neben biografischen Angaben den Hinweis: »Gewidmet dem Schöpfer der ›Fest=Reveille‹ 1858, des ›Preußenmarsches‹ u.a. vom Verein ehemaliger 32er. Erfurt 1909.«45 Überregional war es vor allem die DMMZ, die Joseph Golde wiederholt Aufmerksamkeit schenkte – anlässlich seines Todes 1886, der Denkmalenthüllung 1907-1909 und verschiedentlich in der Zeit des Nationalsozialismus.

42 | Der Klassifizierung der Fest-Reveille als »Marsch« entspricht ihre funktionale Verwendung: »Einst zog das ›Große Wecken‹ an den Geburtstagen des Königs von Preußen, des Herzogs von Meiningen, des Fürsten von Schwarzburg-Sondershausen mit diesem Marsch [der Fest-Reveille] durch die Straßen.« Menzel in Menzel, Raßloff, Denkmale in Erfurt, S. 46. Auch Einspielungen der Fest-Reveille auf Marsch-CDs und die aktuelle Publikation der Noten in einem »Marschbuch« (s.u.) unterstreichen dies. 43 | Kandler, Woher stammt unsere Fest=Reveille?, S. 559. 44 | Siehe Menzel, Raßloff, Denkmale in Erfurt, S. 46. Ein Foto des Denkmals aus der Zeit um 1930 findet sich ebd., S. 47. 45 | Kandler, Woher stammt unsere Fest=Reveille?, S. 559.

231

232

A CHIM H OFER

Zum Großkonzert der Wehrmacht zu Ehren des 8. Waffentages der Deutschen Kavallerie im Herbst 1938 in Erfurt unter der Leitung von »Prof. Adolf Berdien« (1876-1954)46 heißt es in der DMMZ: »Es waren 20 Musikkorps aus benachbarten mitteldeutschen Garnisonen, die zu einem gewaltigen Klangkörper vereinigt wurden. […] Die Zahl der Zuhörer erreichte etwa 30000.«47 Die Fest-Reveille, die hier nicht anlässlich einer »Reveille«, sondern im Rahmen eines Konzerts aufgeführt wurde (an zweiter Stelle nach Richard Wagners Huldigungsmarsch), habe Goldes Namen »unsterblich gemacht […]. Jetzt erklingt diese ›Festreveille‹, gespielt von dem Riesenorchester, und ihre wiegenden Rhythmen fesseln jedes Herz, während oben in den Lüften ein Flieger seinen Weg über den Festplatz nimmt.«48 Die DMMZ weist im Übrigen darauf hin, dass die Fest-Reveille »heute von der Luftwaffe übernommen«49 worden sei. Die Sonderstellung der Luftwaffe betonend bemerkte Georg Kandler dazu in seinem Beitrag Woher stammt unsere Fest=Reveille? – der mit seinem identitätsstiftenden Titel vielleicht nicht zufällig vier Monate nach Kriegsausbruch und kurz vor Neujahr 1940 in der DMMZ erschien –, »die junge Luftwaffe« sei im Gegensatz zu den anderen Waffengattungen »der älteren Tradition treu geblieben und hat 1935 für das Große Wecken die allerdings auch sonst nicht vergessene50 ›Fest=Reveille‹ von Joseph Golde vorgeschlagen. Als im Sommer 1937 in Berlin-Gatow die Musikmeistertagung der Luftwaffe stattfand, wurde auch dieser militärmusikalische Akt vorgeführt«; schließlich, so Kandler, gehöre der in Goldes Fest-Reveille verarbeitete Choral »zu den weihevollsten Gesängen der deutschen soldatischen Tradition«51 . War im nationalsozialistischen Deutschland das »Große Wecken« ebenso wie der »Große Zapfenstreich« ausschließlich Wehrmacht und SS vorbehalten gewesen,52 so führte die Bundeswehr »das Große Wecken nicht mehr aus, so 46 | Zu Adolf Berdien siehe Fred K. Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker 1933-1945 [CD-ROM], Auprès des Zombry 2004, S. 390f. 47 | Großkonzert der Wehrmacht zu Ehren des 8. Waffentages der Deutschen Kavallerie [in Erfurt], in: DMMZ 60/40 (1938), 1. Okt., S. 491-493, hier S. 491. 48 | Mitteldeutsche Zeitung, hier zit. nach Großkonzert der Wehrmacht, S. 492. Sperrung im Original. 49 | Großkonzert der Wehrmacht, S. 491. 50 | Der Ausdruck »auch sonst nicht vergessene« sollte Anlass sein, die Bedeutung der Fest-Reveille im »Dritten Reich« nicht zu überschätzen. Zum Beispiel tradiert Gustav Rippich 1937 ebenfalls den »Leuthen-Choral«-Mythos, er erwähnt aber nicht Goldes Komposition: Dr. Martin Luthers Bedeutung für die deutsche Musik. Der Choral in der Geschichte der Soldaten, in: DMMZ 59/4 (1937), 31. Jan., S. 5f. 51 | Kandler, Woher stammt unsere Fest=Reveille?, S. 558. Sperrung im Original. 52 | Dies aber vor allem dem Namen nach, heißt es doch im Heeresverordnungsblatt Teil B/Nr. 259: »2. das ›Große Wecken‹ bleibt hinsichtlich seiner Bezeichnung

J OSEPH G OLDES (1802-1886) F EST -R EVEILLE (1858) ÜBER DEN C HORAL N UN DANKET ALLE G OTT

daß der alte Brauch allmählich in Vergessenheit«53 geriet. (Eine moderne Ausgabe der Fest-Reveille in einem »Großen Marschbuch«54 richtet sich heute in erster Linie an die vielen zivilen Blasorchester.) Auch hatte der »Choral von Leuthen«Mythos, der ja vor allem »unter den spezifischen Bedingungen eines aggressiven Nationalprotestantismus nach 1871« gewachsen war und zu den »Ingredienzien« gehörte, aus denen »eine letztlich verhängnisvolle quasireligiöse Begründung des Führerkultes aus dem Geist nationaler Mythen konstruiert wurde«55 – dieser Mythos hatte »seinen Bezugsrahmen verloren und fand demzufolge in den meisten Gedenkartikeln zum zweihundertsten Jahrestag [1957] kaum mehr als eine knappe Erwähnung.«56 Allerdings schreibt Joachim Toeche-Mittler in Band III seines recht bekannt gewordenen Buchs Armeemärsche noch 1975: Am Abend des 5. Dezembers 1757 […] stimmten ihn [den Choral] des großen Friedrichs Truppen dankbar und glücklich auf dem Schlachtfeld an, als sie sich bei Leuthen einer Übermacht siegreich hatten erwehren können. So bekam das Stück für die preußischen Soldaten eine besondere Weihe. Musikdirektor Golde hat es empfunden, als er diesen Choral […] als Cantus firmus in die Posaunen, in die Trompeten, Tenorhörner und Baritons legte […]. Gewaltig ist der Eindruck, wenn die Soldaten und mit ihnen Hunderte von Menschen im wiegenden Schritt dieses Kirchenliedes durch den winterlichen Morgen kommen. Was Golde den Deutschen mit seiner Festreveille geschenkt hat, macht ihn unsterblich. 57 ebenfalls [wie der unter 1. genannte ›Große Zapfenstreich‹] der Wehrmacht und der SS=Verfügungstruppe vorbehalten; 3. seitens der Partei und ihrer Gliederungen, des Reichsarbeitsdienstes und der Deutschen Polizei können ähnliche Veranstaltungen durchgeführt werden. Es sind jedoch andere Bezeichnungen zu verwenden, z.B. an Stelle ›Großer Zapfenstreich‹ = Abendruf oder SA=Ruf, an Stelle ›Großes Wecken‹ = Morgenruf. Beim Morgenruf kann das Lied ›Freut Euch des Lebens‹ wie beim ›Großen Wecken‹ gespielt werden. Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda […], den 4.3.1940.« Hier zit. nach DMMZ 62/40 (1940), 5. Okt., S. 342. 53 | Hans-Peter Stein, Symbole und Zeremoniell in deutschen Streitkräften vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Augsburg 1991, S. 264. »Die Volksarmee [der ehemaligen DDR] mit ihrem Bekenntnis zu einem kraftvollen Soldatenbild hingegen machte häufig von der Gelegenheit Gebrauch, sich zu präsentieren und über einen straff dargebotenen musikalischen Morgengruß einer Ehrenkompanie mit Musikkorps und Fahnenkommando nicht nur die Zivilbevölkerung auf einen Festtag einzustimmen, sondern zugleich für sich zu werben.« (Ebd.) 54 | Das große Marschbuch, Karlsruhe o.J. (Musikverlag Wilhelm Halter, Verlags-Nr. 202). 55 | Kroener, »Nun danket alle Gott.«, S. 133. 56 | Ebd., S. 134. 57 | Toeche-Mittler, Armeemärsche, S. 241.

233

234

A CHIM H OFER

Die Komposition sei »von so einmaliger Schönheit, daß sie durch 100 Jahre jeden Deutschen erfaßten und noch heute in unveränderter Herrlichkeit fassen.«58 Joseph Golde gehöre zu den deutschen Militärmusikern, »die über das Normale hinaus den göttlichen Funken hatten, der heraushebt aus dem Irdischen«59; und wer »derart schlicht und durchsichtig so großes sagen kann, der tut es noch heute und wird auch künftig verstanden werden.«60 Zwar sind diese Gedanken, die den 1938/39 in der DMMZ geäußerten ähneln61 , heute marginal – wenn auch an exponierter Stelle publiziert. Aber sie machen deutlich, dass eine Komposition wie die Fest-Reveille in ihrer hörbaren, auch am musikalischen Material selbst dingfest zu machenden Verbindung des Sakralen mit dem Militärischen, ein Potential in sich trägt, das sich für eine politische Instrumentalisierung geradezu anbietet, unabhängig davon, wie virulent der »Choral von Leuthen«-Mythos auch ist.

58 | Ebd., S. 236. 59 | Ebd., S. 237. 60 | Ebd. 61 | Überhaupt scheint Toeche-Mittler – ohne seine Quellen zu nennen – vieles der DMMZ entnommen zu haben. Beispiele: DMMZ 1939, S. 558: Der Choral gehöre zu den »weihevollsten Gesängen der deutschen soldatischen Tradition«. – Toeche-Mittler 1975, S. 241: Der Choral bekam »für die preußischen Soldaten eine besondere Weihe«; DMMZ (ebd.): Der Choral ist »als cantus firmus vor allem in die Posaunen, aber auch Trompeten, Flügelhörner und Baritone gelegt«. – Toeche-Mittler (ebd.): Der Choral ist »als Cantus firmus in die Posaunen, in die Trompeten, Tenorhörner und Baritons« gelegt«; DMMZ 1938, S. 492 & Toeche-Mittler (ebd.): Die Fest-Reveille habe Goldes Namen »unsterblich gemacht«.

J OSEPH G OLDES (1802-1886) F EST -R EVEILLE (1858) ÜBER DEN C HORAL N UN DANKET ALLE G OTT

235

236

A CHIM H OFER

J OSEPH G OLDES (1802-1886) F EST -R EVEILLE (1858) ÜBER DEN C HORAL N UN DANKET ALLE G OTT

237

238

A CHIM H OFER

Der Marsch als Programm und poetische Idee im Finale des Carnaval Op. 9 von Robert Schumann Sabine Giesbrecht

Mit dem Marsch der Davidsbündler gegen die Philister beendete Robert Schumann seinen Klavierzyklus Carnaval, der im Dezember 1834 in Zwickau begonnen und 1835 in Leipzig abgeschlossen und publiziert wurde.1 Dem Finale gehen – die Sphinxes eingeschlossen – 20 Stücke voraus, die jeweils verschiedene Überschriften tragen und zu einem nicht unerheblichen Teil einzelnen Personen gewidmet sind. Das ist ungewöhnlich, denn Schumann pflegte – auch in den späten Klavierwerken – seine Titelangaben als poetische Ideen zu formulieren, nicht aber die Fantasie der Hörer und Interpreten auf bestimmte Personen zu lenken. Im Carnaval lässt er nicht nur Figuren aus der Commedia dell’Arte wie Pierrot, Arlequin oder Pantalon und Colombine auftreten, sondern auch reale, ihm nahe stehende Menschen wie Chiarina (Clara Wieck) und Estrella, Schumanns damalige Verlobte Ernestine von Fricken. Beide Frauen bilden mit Eusebius und Florestan die Kernmannschaft der Davidsbündler, die sich im Finalmarsch vereinen. Weitere am Karnevalsumzug beteiligte Personen sind Chopin und Paganini, die Schumann musikalisch zu porträtieren sucht. Sie sollen mit ihrem künstlerischen Ansehen und ihrer Autorität offenbar die Fraktion der Davidsbündler verstärken. So konstruiert Schumann allein durch die Abfolge der Überschriften das Bild eines vorüberziehenden Karnevalsumzuges, bei dem sich die Mitglieder im Préambule sammeln, sich einzeln vorstellen, in verschiedenen Situationen aufeinandertreffen und sich beim Walzertanzen 1 | Der französische Erstdruck erfolgte 1837 bei Schlesinger, Paris. Vgl. Wolfgang Boetticher, Robert Schumann’s Klavierwerke, Teil II, Op. 7-13, Wilhelmshaven 1984, S. 74ff. In seinem »Projektbuch« notiert der Komponist Erläuterungen zu seinen »Davidsbündlerideen« und den Beginn der von ihm entwickelten Neuen Zeitschrift für Musik, ebenfalls im Jahr 1834. Ursprünglich hatte er einen deutschen Titel für das Stück vorgesehen: Fasching, Schwänke auf vier Noten für Pianoforte von Florestan.

240

S ABINE G IESBRECHT

näherkommen. Erst im Finalmarsch geben sie sich als Gruppe der Davidsbündler zu erkennen, deren Widerstand sich explizit gegen die Philister richtet. Dadurch entsteht die Vorstellung einer für Schumann eigentlich unüblichen Programmatik, die im »revolutionären«2 Marsch ihren krönenden Abschluss erreicht. Selbstverständlich sind es nicht die Philister, sondern die Davidsbündler, die den gesellschaftlichen und ästhetischen Fortschritt vertreten. Von ihrem kollektiven Auftreten im Marsch ist zu erwarten, dass sie als Sieger das Feld verlassen und so die von Schumann in der Neuen Zeitschrift für Musik dieser Jahre formulierten künstlerischen und politischen Forderungen angemessen zum Ausdruck bringen. Der Finalmarsch wirkt aus dieser Perspektive wie eine symbolische Kampfansage.

D ER M ARSCH – A NSÄT ZE EINER B EGRIFFSKL ÄRUNG Eine kurze Zusammenfassung der Hauptmerkmale ist an dieser Stelle sinnvoll, um darauf einzugehen, wie Schumann mit dem traditionellen Modell im Carnaval verfährt. Der Marsch ist – trotz individueller Unterschiede im Einzelfall – im Wesentlichen von seinen rhythmischen Eigenschaften geprägt. Ein gleichmäßig durchlaufendes Metrum und eine gerade Taktart mit besonderer Betonung der schweren Taktteile sind – neben einigen rhythmischen und melodischen Besonderheiten – seine wichtigsten Eigenschaften. Das Erscheinungsbild ist ein Resultat der Funktion, die in der Organisation des Gleichschrittes besteht und für alle Arten von Aufmärschen zwingend erforderlich ist. Regelmäßige Akzente dienen der gemeinsamen Orientierung und werden daher besonders markiert und verstärkt, etwa durch Schlaginstrumente und eine Begleitung, welche die Bässe hervorhebt.3 Die für den Marsch typischen, zwischen den Hauptstufen pendelnden »Sprungbässe« sind aus der Ferne besonders gut vernehmbar. Im Freien verstärken die Geräusche von Stiefeln oder Tritten mit anderem schweren Schuhwerk die Akzente, sodass man eine marschierende Truppe noch aus der Ferne und ohne Musik allein am straffen Rhythmus erkennen kann. Form und Struktur müssen sich dem alles beherrschenden Rhythmus unterordnen. Das von der militärischen Gangart des Doppelschrittes bestimmte Marsch-Konzept erfordert eine klassische »quadratische« Periodenbildung, bei der sich Zwei- und Viertakteinheiten zu geschlossenen Formen zusammenfügen lassen. Bei traditionellen Märschen 2 | Harald Eggebrecht, »Töne sind höhere Worte«. Robert Schumanns poetische Klaviermusik (= Musik-Konzepte, Sonderband Robert Schumann I), München 1981, S. 109. 3 | Nach Wilhelm Wieprecht (1845), in: Neuerwerbungen 1993-1994. 10 Jahre Musikinstrumenten-Museum am Kulturforum, Berlin 1994, S. 35 übernimmt die große Trommel diese Aufgabe. Zum Fehlen von Mittelstimmen beim Marsch vgl. S. 30.

D ER M ARSCH ALS P ROGRAMM UND POETISCHE I DEE IM F INALE DES C ARNAVAL O P . 9

hat sich die dreiteilige Liedform nach dem Muster A-B-A eingebürgert. Ein Auftakt ist nötig, damit sich die Marschierenden auf einen gemeinsamen Anfang einstellen können. Das Tempo ist der jeweiligen Schrittart angepasst. Gestützt durch unkomplizierte Begleitformeln in den Hauptharmonien tritt die Melodie deutlich und liedhaft hervor. Mittelstimmen sind – falls überhaupt vorhanden – meist nicht selbstständig, sondern assistieren der Hauptstimme in Form von Terzen oder Hornquinten. Verbreitet sind punktierte Motive, Tonrepetitionen und fanfarenartige Dreiklangsbrechungen. Diese Merkmale weisen darauf hin, dass auch das harmonisch-melodische Konzept des Marsches als »Harmoniemusik« ein Erbe militärischer Blechblas-Ensembles ist.

Z UR S EMANTIK Marschiert wird aber nicht nur beim Militär. Daher hängt es vom Kontext, vom sozialen und politischen Umfeld ab, wie der Begriff »Marsch« gedeutet werden kann. In jedem Fall ist zum Marschieren Disziplin und Einordnung nötig. Jeder muss sich an das Muster halten, niemand darf ausscheren. Die Unterdrückung individueller Regungen und subjektiver Bedürfnisse sind der Preis für ein Gemeinschaftsgefühl, das allerdings innerhalb des militärischen Geltungsbereiches als besonders ausgeprägt gilt. Ordnet sich der Einzelne dem Marschdiktat unter, so bedeutet das zugleich, eine wie immer geartete Führung zu akzeptieren und Hierarchien unwidersprochen hinzunehmen. Beim Marschieren werden – zumindest physisch – Gehorsam und Unterordnung nachhaltig eingeübt. Das spielt wieder beim Militärmarsch eine entscheidende Rolle. Rhythmisch synchronisierte Gruppen sind leichter lenkbar und für den Kampf oder andere Akte der Gewalt einsetzbar. Der Einzelne darf sich keinesfalls zu individuellen Eigenmächtigkeiten hinreißen lassen, um das von der Gruppe anvisierte Ziel nicht zu gefährden. Insubordination muss daher konsequent unterbunden werden. Wer die jeweils geltenden Normen verletzt, muss mit Sanktionen rechnen. Das gilt besonders für den Ernstfall eines Krieges und die jeweils aufmarschierenden Kolonnen, die ohne musikalische Orientierung und harte Disziplin nicht einsatzfähig wären. Welchen Einfluss man vor allem dem Militärmarsch zuschreibt, zeigen bestimmte, noch heute übliche sprachliche Formulierungen. So bedeutet »Jemandem den Marsch blasen«, dass das Nichteinhalten von Regeln und Geboten eine Strafpredigt oder eine Standpauke zur Folge hat, auf die »draufgeschlagen« wird. Anordnungen werden im Ernstfall auch »durchgepaukt«, und mit den lautstarken Blechbläsern geht die Idee des »Niederschmetterns« einher. Vielleicht ist es ein spezifisch deutsches Phänomen, dass sich der Begriff »Marsch« vielfach mit dem Militär verbindet oder mit

241

242

S ABINE G IESBRECHT

der Vorstellung, sich erfolgreich durchzusetzen, wenn es sein muss, auch mit Gewalt.4

P ROTESTMARSCH Im beginnenden 19. Jahrhundert erobert ein anderer Marschtypus die europäische Musikwelt, der rhythmisch-musikalisch ähnlich strukturiert, aber anders konnotiert ist als der Militärmarsch. Revolutions- oder Protestmärsche dienen der Verbreitung und Durchsetzung sozialer und politischer Veränderungen. Prototyp der Jahre nach 1830, in welche die Entstehung des Carnaval fällt, ist die Marseillaise, die auch musikalisch die Kriterien eines Marsches erfüllt. Schumann zitiert die Hymne als Zeichen seiner republikanischen Gesinnung zum Beispiel in dem Lied Zwei Grenadiere5 und im Klavierzyklus Faschingsschwank aus Wien, interessanterweise hier im unorthodoxen Dreivierteltakt. Auch der Protestmarsch koordiniert das gemeinsame Auftreten von Gruppen, deren Teilnehmer für eigene Ziele auf die Straße gehen und sich für alle sichtbar mit Gleichgesinnten solidarisieren. Dabei spielt die Marschrichtung eine entscheidende Rolle und die damit verbundene Vorstellung, dass es nach vorn geht und hinaus aus der »schlechten« Gegenwart. Es gibt kein Rückwärts-Marschieren.6 Zur symbolischen Darstellung von Utopien ist der Marsch daher vorzüglich geeignet. Wohin die Marschierer auch wollen, sie gehen immer vorwärts und richten ihre Gedanken auf ein zukünftiges Ziel. Das Erlebnis des physischen Fortschreitens lässt sich ideal mit der Idee des Fortschritts verknüpfen, wobei einschlägige Marschtexte diese Vorstellung noch vertiefen. Synchrone Bewegungsabläufe stärken das Gemeinschaftsgefühl, das in Verbindung mit den jeweiligen Zielvorstellungen Hochgefühle eigener Art zu erzeugen vermag. Wenn auch offen bleibt, wo der Weg einmal enden wird, so ist allein der Gedanke, dass alle Beteiligten unterwegs sind und das Gleiche tun und wollen, Auslöser für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Im Marsch als musikalischer Gattung überlagern sich also gegensätz4 | Ähnliche Begriffe aus dem Bereich der Militärmusik wurden mit dem Image eines autoritären Lehrers verbunden, der in früheren Zeiten als »Pauker« oder »Steißtrommler« physische und psychische Gewalt ausgeübt hat. Urbild dieses glücklicherweise nicht mehr zeitgemäßen Modells ist nach Adorno der Unteroffizier. Vgl. Theodor W. Adorno, Tabus über den Lehrerberuf, 1965, in: Gerd Kadelbach (Hg.), Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, Frankfurt a.M., S. 73-91, hier S. 81. 5 | Robert Schumann, Heinrich Heine, Nach Frankreich zogen zwei Grenadiere, Op. 49, Nr. 1, 1840. Zitat der Marseillaise auch in der Ouvertüre zu Goethes Hermann und Dorothea, Op. 136, 1821. 6 | Der bekannte Ausspruch »Vorwärts Kameraden, es geht zurück!« ist ironisch gemeint.

D ER M ARSCH ALS P ROGRAMM UND POETISCHE I DEE IM F INALE DES C ARNAVAL O P . 9

liche Bedeutungen, wobei Militärmarsch und Protestmarsch die inhaltlich am weitesten auseinanderliegenden Pole darstellen. Der Militärmarsch ist Inbegriff soldatischer Disziplin und Kampfmoral, während der Protestmarsch als Symbol der Hoffnung und des gemeinsamen Aufbruchs gilt. Diese Ambivalenz macht sich Schumann im Finale von Op. 9 zunutze.

M ARSCH DER D AVIDSBÜNDLER GEGEN DIE P HILISTER Der Titel artikuliert einen Handlungsablauf und stellt den Marsch der Davidsbündler an den Anfang des Finales. Traten Schumanns Mitstreiter in den vorangehenden Stücken als Individuen auf, so vereinen sie sich im Schlussteil des Werkes zu einer Gruppe, die der Komponist insbesondere in den Jahren nach 1834 als durchaus kämpferische Organisation beschrieben hat. Der Marsch-Teil im Carnaval ist ein in sich abgeschlossener Abschnitt, komponiert als dreiteilige Liedform nach dem für diese Gattung typischen Muster A-B-A. Allerdings steht er regelwidrig im Dreivierteltakt. Der Klaviersatz im Fortissimo ist geprägt vom häufigen Einsatz der Sforzati, die rhythmische Orientierung auch im Dreivierteltakt versprechen. Dennoch leidet die Marsch-Disziplin durch den ungeraden Takt, der einen gleichmäßigen Doppelschritt eben nicht ohne Weiteres zulässt. Dynamik und Artikulation erzeugen ersatzweise und mühsam die Basis für ein schwerfälliges Schreiten. So erweist sich der bis zum Schluss vorgeschriebene Dreivierteltakt geradezu als Attacke auf die Titelankündigung »Marsch«. Man kann zwar auch im Dreiertakt geordnet miteinander vorwärts kommen, wie die Polonaise zeigt, aber eine Annäherung an diese ist nicht intendiert. Schumann verweigert seinen Davidsbündlern das zentrale Element eines Marsches, den Viervierteltakt, und damit wird der Titel des Finales widersinnig, eine Option, die musikalisch nicht eingelöst wird. Andere Strukturmerkmale verstärken den Eindruck, dass Schumann seine Gefährten ganz bewusst nicht mit einem traditionellen Marsch auftreten lassen möchte, obwohl er im Titel darauf drängt. So schlägt Schumann als Tempo »Non-Allegro« vor, eine vage Angabe, die allenfalls besagt, das Tempo nicht zu überziehen. Sie schließt ein Marschtempo aber auch nicht aus. Allerdings hätten ein »Andante« oder »Alla Marcia« explizit auf das angekündigte Marschieren Bezug nehmen können, wenn es denn gewollt gewesen wäre. Auch Melodik und Satz sind untypisch für einen Marsch. Schumann entwirft eine kleingliedrige melodische Linie ohne Auftakt, die durch eine penetrant homorhythmische Satzstruktur in parallelen Oktaven und Akkorden künstlich aufgebauscht wird. Geradezu ironisch erscheint seine Forderung nach einem »Pedale grande«, das der Melodie einen verschwommenen, übertrieben bedeutungsschweren Charakter verleiht und sie zur Persiflage eines Marsches verformt. Ironie, so schreibt er 1835 am Schluss seiner Rezension über die Symphonie fantastique von Hector Berlioz, sei die Maske der Poesie, die »ihr

243

244

S ABINE G IESBRECHT

Schmerzensgesicht nicht sehen lassen« wolle.7 Mit der offenbar spöttisch gemeinten Aushöhlung der Marschdisziplin verfremdet er ein Traditionsmodell, das nur noch dem Namen nach präsent ist. Isoliert betrachtet ließe sich in der Melodielinie sogar das Gegenteil strammen Marschierens, nämlich ein unterschwelliger Walzer, ausmachen. Der Dreivierteltakt, der betonte erste Taktteil und die charakteristische Wechselnote in der Taktmitte würden dazu passen. Die Begleitfigur mit tiefem Basston und nachschlagenden Akkordimpulsen ließe sich mit nur geringen Veränderungen am Klaviersatz zu einem leichten Walzer umfunktionieren. Die Wechselnote fordert den Wechselschritt des Walzers geradezu heraus. Die Idee mit dem versteckten Walzer ist gar nicht so abwegig.8 Schumann hat erkennbare Sympathien für dieses bürgerliche Tanzmodell. Im Carnaval sind Walzerelemente häufig in Form charakteristischer Begleitfiguren vertreten, die unter anderem in der Proménade und der Pause auffällig präsent sind. Außerdem schickt der Komponist seine Davidsbündler zuvor mit einem Valse noble und einem Valse allemande auf den Tanzboden. Der »innere Zirkel« seines Davidsbündler-Kreises – Florestan, Clara Wieck und Ernestine von Fricken – tritt im Dreivierteltakt auf. So lässt sich abschließend resümieren: Der finale Eröffnungsmarsch auf der Basis des Dreivierteltaktes ist in seiner Identität brüchig und doppeldeutig und strebt in seinem Innersten eher dem geselligen Deutschen Tanz oder Walzer zu.

D IE P HILISTER Der Position und der poetischen Überschrift nach erfüllt der Eröffnungsmarsch die Funktion eines Hauptgedankens. Zudem ist er Exponent der Haupttonart As-Dur. Allerdings fehlt ihm der Vorzug der Wiederkehr. Das markante Eröffnungsthema spielt im weiteren Verlauf des Finales keine Rolle mehr. Es kommt nicht mehr vor. Den Mittelteil beherrschen Karnevalsszenen und Reminiszenzen aus dem Préambule, vor allem aber die gegnerischen Philister. Sie erscheinen mit der Melodie eines Tanz-Liedes,9 auf das Schumann im Notentext explizit hinweist. Der von ihm nicht genannte Titel Als der Großvater die Groß7 | Robert Schumann, Symphonie von H. Berlioz, 1835, in: Heinrich Simon (Hg.), Gesammelte Schriften über Musik und Musiker von Robert Schumann, Leipzig [1888], Bd. 1, S. 89-110, hier S. 110. 8 | Von der Dominanz des Walzers innerhalb des gesamten Zyklus spricht auch Bernhard R. Appel, Carnaval. Scenes mignonnes sur quatre notes für Klavier Op. 9, in: Helmut Loos (Hg.), Robert Schumann. Interpretation seiner Werke, Bd. 1, Laaber 2005, S. 49-55, hier S. 50. 9 | Angabe »Thème du XVIIème siècle« unter Takt 51f. des Finales nur in der deutschen Erstausgabe. Im Kommentar der von Ernst Herttrich besorgten Urtext-Ausgabe, Rema-

D ER M ARSCH ALS P ROGRAMM UND POETISCHE I DEE IM F INALE DES C ARNAVAL O P . 9

mutter nahm war schon Johann Sebastian Bach bekannt, der das Lied in seiner »Bauernkantate« zitiert hat. Die Melodie im wippenden Dreivierteltakt aus dem Zwickau-nahen Erzgebirge10 hat Schumann schon im Finale seiner Papillons Op. 2 ausgiebig verwendet. Im Carnaval ist das Großvaterthema ebenfalls aus einer gewissen ironischen Distanz heraus dargestellt. Die Melodie erscheint grotesk oktaviert im Bass. Ihr hüpfender Rhythmus lässt den Dreivierteltakt überdeutlich hervortreten, wodurch die Philister als Vertreter des bürgerlichen Walzers oder Deutschen Tanzes charakterisiert sind und sich im Gegensatz zu den marschierenden Davidsbündlern ihrer rhythmischen Identität sicher sein können. Anders als in den Papillons werden die Philister in ihrer musikalischen Gestalt nicht beschädigt. Das konventionelle, tänzerische Liedthema darf sich ungehindert im Mittelteil präsentieren; es ist sogar für die Struktur des Finales wichtiger als der Davidsbündler-Marsch. Im Gegensatz zu diesem dürfen die Philister nämlich zweimal auftreten und sind Träger der harmonischen Konstruktion des Finales, indem sie zuerst als dominantisches Gegenthema erscheinen und später in der Tonika wiederkommen dürfen. So hat die gegnerische Walzerfraktion eigentlich die bessere Position im Finale.

D IE S TRE T TA (»P IÙ S TRE T TO «) Die zentrale Auseinandersetzung zwischen den beiden Kontrahenten Davidsbündler und Philister erfolgt in der Stretta. Erst hier ist ein dramatisches Geschehen auszumachen, das Assoziationen zum »Marsch….gegen die Philister« erlaubt. Allerdings tauchen weder der Großvatertanz noch der DavidsbündlerMarsch in der zuvor präsentierten Gestalt auf. Beide Gruppen sind in der Stretta nicht mehr aufzufinden. So stellt sich die Frage, wer hier gegen wen kämpft. Dem Titel nach müsste es sich um die Davidsbündler handeln, die in einem rasanten Triumphmarsch ihre Gegner überwinden. Der musikalischen Faktur nach ist die Identität der beiden Parteien in der Stretta jedoch nicht mehr zu erkennen. Schumann reduziert sie auf ihr Substrat, auf die für die Gattung Marsch und Walzer jeweils charakteristische rhythmische Grundidee. Der vorgegebene Dreivierteltakt ist das Angriffsziel. Er wird durch binäre Strukturen und künstliche Akzente, die dem Marschrhythmus auf die Sprünge helfen gen 2004, S. 38, wird angemerkt, dass das Thema »wohl die altväterischen, spießbürgerlichen Philister repräsentieren« solle. 10 | Max Friedlaender, Das Großvaterlied und der Großvatertanz, in: Festschrift für Hermann Kretzschmar zum 70. Geburtstag, Leipzig 1918, Sonderdruck. Als Quelle gibt Friedlaender an: Gottfried Taubert, Rechtschaffender Tantzmeister oder gründliche Erklärung der französischen Tantz-Kunst, Leipzig 1717. Nach Franz Magnus Böhme geht das Lied bis ins 17. Jahrhundert zurück.

245

246

S ABINE G IESBRECHT

sollen, auf das Heftigste angegriffen. Es treffen nicht die beiden in der Überschrift angekündigten konkurrierende Parteien, sondern zwei unterschiedliche Systeme aufeinander. Der den Davidsbündlern versprochene, aber bislang verweigerte Viervierteltakt bläst zur Attacke, kann sich aber nur in zwei Takten kurzfristig durchsetzen (T. 231, 239). Es folgen immer neue Versuche, durch Überbindungen und Akzentverschiebungen insbesondere bei der Begleitfigur die klassischen Betonungsverhältnisse des Dreiertaktes mit Gewalt außer Kraft zu setzen. Dabei gerät alles aus dem Takt. Es hagelt Sforzati und hämmernde Tonwiederholungen, die eine Art Schlagabtausch zwischen rechter und linker Hand wiedergeben. Temposchwankungen (»piu stretto-rinforzando« und »sempre stringendo«) und eine stellenweise eskalierende Lautstärke (»ff possible«) verstärken das Chaos. Eine unspezifische Melodielinie in der rechten Hand vollzieht schließlich einen jagenden Absturz und landet bei einer zwölfmaligen Wiederholung des Tonika-Dreiklangs; eine Aktion, die dem Klavier Qualitäten eines Schlaginstrumentes zumutet. Am Ende gelingt es dem aggressiven Marschgestus nicht, sich wirklich durchzusetzen. Es überlebt ein subversiver Dreivierteltakt, den Schumann bis zum Schluss beibehält und der offenbar nicht totzukriegen ist. Angesichts dieses Befundes ist zu fragen, ob hier eindeutig die Davidsbündler mit dem Marschrhythmus zu identifizieren sind. Einer Mannschaft – bestehend aus Florestan und dem sanften Eusebius, der gerade 15-jährigen Clara Wieck und der wenig älteren Ernestine von Fricken, aus dem asketischen Paganini und dem kränklichen Chopin – traut man diesen rabiaten Rundumschlag eigentlich nicht zu. Wie es scheint, ist es die Intention des Komponisten, dass nicht mehr klar erkennbar ist, wer in diesem Kampf Freund und wer Feind beziehungsweise wer Sieger und wer Besiegter ist. Vielleicht ist der heitere, im gesamten Carnaval bevorzugte Dreiertakt gar nicht Opfer eines aus den Fugen geratenen Marsches, sondern eher ein Beispiel für Widersetzlichkeit, Zähigkeit und die Überlebenskraft bürgerlicher Tanzfreude.

K ARNE VAL Trotz aller Dramatik lässt sich in der extremen Lautstärke und dem allzu triumphalen Gestus doch die Ironie und Distanz des Komponisten zu dem Spektakel erkennen. Man darf nicht vergessen, es ist Karneval, und der Komponist leistet sich die Freiheit, hinter musikalischen Masken verborgen und unter dem Schutz seiner Mitstreiter mit einem närrischen, untypischen »Marsch«, der keiner ist, seinem Publikum ein wenig Theater vorzuspielen. In der inszenierten Unordnung des Karneval, der mit Tanz und Musik die Menschen auf die Straße lockt, hat jedermann Narrenfreiheit. Diese Auffassung teilt auch Florestan in seiner 1835 verfassten Fastnachtsrede, die sich stellenweise wie eine Interpretation des Carnaval-Finales ausnimmt. Ironisch und zornig zieht er dort über die herr-

D ER M ARSCH ALS P ROGRAMM UND POETISCHE I DEE IM F INALE DES C ARNAVAL O P . 9

schenden Verhältnisse her und spart nicht mit Ausfällen gegen die zeitgenössische Kunstszene und die Politik.11 Die Rede wird damit eröffnet, dass Florestan auf den Flügel steigt (!) und die um ihn versammelten Davidsbündler auffordert, sie sollten »totschlagen…die Philister, musikalische und sonstige«12 . Die Analogie zwischen dieser Fastnachtsäußerung und dem von Akzentschlägen durchzogenen Abschluss des Carnaval gibt zu denken. Wenn in der Komposition ebenso wie in der Fastnachtsrede die Davidsbündler auf die Philister einschlagen, so scheint diese doppelte Kampfszene auf einen Gegner zu zielen, den Schumann offenbar für besonders gefährlich und bekämpfenswert hält. Der Haupttitel Carnaval gibt im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Tradition der Karnevalsfeiern Hinweise, wo die Gegner zu suchen sind. Karnevalsumzüge waren im Rheinland und besonders in Köln seit 1823 verbreitet und wurden bald in ganz Deutschland bekannt.13 Sie stellten unter anderem eine originelle Reaktion auf die preußische Besetzung des Rheinlandes dar, indem die Mitglieder der Karnevalsvereine das Militär parodierten. Als Nachbildungen der Besatzungssoldaten marschierten uniformierte »Funken« und »Garden« in Reih’ und Glied und frechem Paradeschritt durch die Städte und ahmten den Aufmarsch der ungeliebten preußischen Truppen nach. Im Schutze der Menge und hinter Masken verborgen konnte man sich so über die Obrigkeit lustig machen. Ähnlicher Spott lässt sich auch im Davidsbündler-Finale des Carnaval ausmachen. Er äußert sich in einem überlauten und überakzentuierten Marsch und in der Zuordnung eines »falschen«, ungeeigneten Rhythmus sowie einer dem Charakter beider Hauptkontrahenten unangemessenen groben Satzart. Zieht man die Fastnachtsrede Florestans zur Deutung hinzu, so lässt sich eine politische Perspektive des Carnaval-Finales keinesfalls ausschließen. Florestan, alias Robert Schumann, ist zutiefst beeindruckt von der Juli-Revolution des Jahres 1830. Er offenbart in dieser Rede seine Abneigung gegen das Metternichsche System, das sowohl künstlerische als auch politische Freiheiten beschränkt. Dem eigenen Selbstver11 | Robert Schumann, Fastnachtsrede von Florestan, in: Simon (Hg.), Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 54. Über lange Strecken geht es hier gegen die künstlerisch ahnungslosen und inkompetenten Philister. Dazu gehört auch ein Publikum, das sich bei großer Kunst langweilt und manchmal sogar einschläft. Einmal habe Florestan es durch Betätigung des Janitscharenzuges und »eine Art Marsch« aus dem Schlafe erwecken müssen. 12 | Ebd., S. 53. Die aggressiven Tendenzen der Davidsbündler zeigen sich bereits im Namen. Er leitet sich vom biblischen David her, der Goliath mit einem Stein getötet und nach Schumann auch »manchen Philister erschlagen hat«. Vgl. hierzu F. Gustav Jansen, Die Davidsbündler, Leipzig 1883, zit. nach dem Nachdruck v. Martin Sändig, Wallluf 1973, S. 36f. 13 | Herbert Schwedt, Karneval, in: Etienne Francois und Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München ²2002, S. 440f.

247

248

S ABINE G IESBRECHT

ständnis nach ist er ein »Linker« und gehört zu den »phrygischen Mützen«, den »Formenverächtern« und »Genialitätsfrechen« seiner Generation.14 An anderer Stelle verspottet er die reaktionären Verhältnisse in Wien, wo man »auch in der Musik keine Revolution« wolle.15 Im abschließenden Marsch des Carnaval vertreten die Davidsbündler als Titelträger den ästhetischen und politischen Fortschritt und setzen sich kämpferisch dafür ein. In der Musik jedoch vertauscht der Komponist offenbar die Seiten und präsentiert in der Schlägerei am Schluss eine Art Militärmarsch, der wohl eher die Praktiken des herrschenden politischen Systems und seine Versuche der Unterdrückung bürgerlicher Freiheiten symbolisieren soll. Die poetisch-programmatische Idee des Finales ist aus dieser Sicht doppeldeutig. Im Protestmarsch formieren sich zu Beginn des Finales die Davidsbündler, während der gewalttätige Militärmarsch am Ende eine andere Sprache spricht. Für eine politische Deutung spricht auch die Sonderrolle von Frédéric Chopin, der im Carnaval zwischen Chiarina und Estrella einen herausgehobenen Platz erhalten hat. Schumann bewunderte den Komponisten, den er 1835 in Leipzig kennen lernen konnte. In der Fastnachtsrede begeistert er sich für den politischen Mut des Polen: […] als im Jahr 1830 die große Völkerstimme im Westen sich erhob […] [war] Chopin […] der ersten einer auf dem Wall oben, hinter dem eine feige Restauration, ein zwergiges Philistertum im Schlafe lag. Wie fielen da die Schläge rechts und links. […] Heil ihm, daß ihn sein Genius gleich nach einer der Welthauptstädte entführte, wo er frei dichten und zürnen konnte […]16 .

Bezieht man diesen Text in die Deutung des Finales ein, so mischt sich in die Marschidee durchaus ein revolutionäres Potenzial, das kämpferisch und poetisch zugleich gemeint ist und in seiner Ambivalenz bemerkenswert modern erscheint.

F A ZIT Ambivalenz als Möglichkeit einer divergenten Deutung wird bei Schumann erzeugt durch eine poetische Titelidee, die in ein dynamisches Verhältnis zur Werkstruktur tritt. Diese Vorgehensweise lässt vielschichtige und auch schein14 | Simon (Hg.): Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 159. 15 | Ebd., S. 45. 16 | Florestan krönt seine Begeisterung mit dem bekannten Satz, Chopins Werke seien »unter Blumen eingesenkte Kanonen«, Simon (Hg.): Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 202. Als politischer Akt ist wohl auch zu werten, dass Schumann das Werk dem polnischen Geiger Charles Lipinsky gewidmet hat.

D ER M ARSCH ALS P ROGRAMM UND POETISCHE I DEE IM F INALE DES C ARNAVAL O P . 9

bar widersprüchliche Deutungen zu. Im Zentrum des Carnaval-Finales steht der Marsch, der im Titel vordergründig als Aktionsform und kämpferische Auseinandersetzung zwischen zwei Gegnern angekündigt wird. Der Klaviersatz folgt über lange Strecken diesem programmatischen Leitfaden. Schumann erteilt zwei erkennbar verschiedenen Parteien das Wort und fügt am Ende eine Art Kampfszene an, die Hörer und Interpreten eigentlich nur als Sieg der Davidsbündler über die Philister interpretieren können. Analytisch-strukturelle Befunde zur Stretta führen allerdings zu weniger eindeutigen Ergebnissen. Folgt man den semantischen Hinweisen, so verlieren beide Parteien im Kampfgetümmel ihre Identität, und es ist gerade ihr Auflösungsprozess, der zu neuen, überraschenden Botschaften führt. Der Einsatz des Marsches und die Nutzung seines vagierenden semantischen Gehaltes erweitern und komplizieren den Interpretationsspielraum des Finales. Indem Schumann mit der gegensätzlichen Bedeutung von Militär- und Protestmarsch spielt, zeigt er nicht nur die der Gattung immanente Zerstörungskraft und die Möglichkeit ihres Sieges auf, sondern auch die ihres Scheiterns. Insofern kann der Marsch als Schlüsselbegriff für die Deutung des Carnaval bezeichnet werden. Nicht zufällig postiert ihn Schumann an das Ende eines Karnevalszuges, bei dem sich die Mitglieder zu demaskieren pflegen. Das vereinte Auftreten der Davidsbündler im Finale legitimiert darüber hinaus eine Großform, die Fragmentarisches zumindest in der Fantasie miteinander verbindet und eine neuartige poetische Logik erzeugt. Diese ist Teil eines ästhetischen Konzepts mit poetisch-literarischem Anspruch, das in der Mannigfaltigkeit von Themen und Leitgedanken eine Einheit zu schaffen sucht. Der Bruch mit der klassischen Tradition, die auf einen Typus der Einheit setzt, welche die Logik immanent-musikalischer Zusammenhänge zum Qualitätsmerkmal erklärt hat, ist evident. Schumann riskierte mit seinem neuartigen Konzept bei seinem Publikum manchmal Unverständnis oder den Vorwurf des Ungeordneten und »Bizarren«17. Sein eigenwilliger poetischer Weg in die Moderne hat auch in jüngerer Zeit nicht immer die ihm gebührende Anerkennung gefunden. In der Geschichte der Musik als Kunst, wie sie Theodor W. Adorno versteht, hat er z.B. keinen seiner Bedeutung entsprechenden Platz erhalten – ein Versäumnis, das zum Anlass einer Revision des hier vorliegenden Geschichtskonzeptes und damit verbundenen Kunstbegriffs genommen werden könnte.

17 | Ein von Zeitgenossen für Schumanns frühe Werke häufig verwendeter Begriff, vgl. Robert Schumann in seinen Schriften und Briefen. Eingeleitet und mit biografischen und kritischen Äußerungen versehen von Wolfgang Boetticher, Berlin 1942, erste unbezifferte Anm. auf S. 57.

249

Zwischen Ironie und Imagination: Marsch und Choral bei Hector Berlioz und seinen Zeitgenossen 1 Frank Heidlberger

»Marsch und Choral« bei Hector Berlioz ist ein ambivalentes Thema. Zwar komponiert er zahlreiche Märsche unterschiedlicher thematischer Ausrichtung – am prominentesten sind der Marsch zum Schafott aus der Symphonie Fantastique, der Pilgermarsch aus Harold en Italie, der Ungarische Marsch aus der Damnation de Faust sowie der Trojanische Marsch aus seiner Oper Les Troyens – doch nur die beiden letztgenannten Märsche gehören der Vorstellungswelt des Militärmarsches an. Zudem handelt es sich bei keinem dieser Märsche um Gestaltungstypen, die den Themenkreis »Marsch und Choral« assoziieren, das heißt eine narrative Wechselbeziehung aus militärischer und religiöser Sphäre, die in der Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts fest etabliert ist. Berlioz’ »imaginäres Theater«2 zielt auf poetische Topoi jenseits dieser Ideenwelt und damit jenseits dessen gesellschaftspolitischer Symbolkraft. Seine »romantischen« Werke bis zur Damnation de Faust, also bis etwa 1845, stellen das poetische Subjekt in den Vordergrund, das weniger im Sinne kollektiver Riten agiert als diese vielmehr leidend reflektiert. Desgleichen gilt für Berlioz’ anspielungsreiche, ich möchte fast sagen ironisch reflektierte, Verwendung religiöser Satztechniken, so etwa beim Weihnachtshymnus in L’Enfance du Christ oder in der Ave-Maria-Litanei im Höllenritt der Damnation de Faust. Diese Stücke sind in eine hochgradig differenzierte musikalische Darstellungskonstellation eingebunden, die ein brei-

1 | Der folgende Text wurde gegenüber dem Vortragstext nur geringfügig modifiziert, um den essayistischen Charakter zu erhalten. 2 | Zur Theorie des imaginären Theaters vgl. Wolfgang Dömling, Hector Berlioz. Die symphonisch-dramatischen Werke, Stuttgart 1979.

252

F RANK H EIDLBERGER

tes Spektrum an Forschungsmöglichkeiten bietet.3 Wesentlich ist im Höllenritt das Moment der Bewegung im konkreten Sinne, das heißt des Näherkommens, des Vorübergehens, oder gar des destruktiven Darüber-hinweg-Reitens. Eine Interpretation dieser musikalischen Bewegungstypen muss daher aus ihrem poetischen und narrativen Kontext heraus erfolgen. Daraus bezieht der auf den ersten Blick etwas befremdende Ungarische Marsch zu Beginn der Damnation de Faust seinen Sinn. Er folgt auf eine Szene, in welcher Faust der Bauern gewahr wird, die im Reigentanz die Freuden des Landlebens besingen. Zu Beginn der dritten Szene heißt es: »Ein anderer Teil der Ebene. Ein vorrückendes Heer.« Das folgende Rezitativ lässt Faust unter anderem aussprechen: »Im Siegesrausche glüh’n ihre Herzen. Nur das meine bleibt kalt, selbst dem Ruhme verschlossen.« Die Perspektive des Öffentlichen, Politischen wird somit unmittelbar rückprojiziert auf Fausts Befindlichkeit: die des Einsamen, der durch keine gesellschaftlichen Freuden oder patriotischen Gefühle zu begeistern ist. Das Religiöse kommt darin nicht vor – es existiert nicht in Fausts Vorstellungswelt, oder er sträubt sich zumindest dagegen. Wenn er in der Folgeszene den Entschluss fasst, mit Gift seinem Leben ein Ende zu setzen, ist es freilich eine Osterhymne, die ihn ins Leben zurückholt, feierlich ins Werk gesetzt von keinem geringeren als Mephisto selbst, der sich in ironischem Übermut des christlichen Rituals bedient, um sein Ziel zu erreichen. Ungarischer Marsch und Osterhymne sind nur indirekt aufeinander bezogen, da sie zwei verschiedene Bezugsebenen repräsentieren. War der Marsch, wie wir zuvor feststellten, eine Scheinrealität für Faust, die »außer ihm« ist und sich im übertragenden Sinne trotz des Näherkommens des Heeres von ihm wegbewegt, ist der Osterhymnus eine direkt auf in bezogene Aktion. Er bewegt sich auf ihn zu, oder besser, ist Teil seiner Existenz und vollzieht sich gleichsam in seinem Innersten. Diese differenzierte Auffächerung der narrativen Perspektive ist typisch für Berlioz’ symphonisch-dramatische Werke. Berlioz komponierte auch »Funktionsmärsche«, das heißt Musikstücke, die unmittelbar zum Marschieren gedacht sind beziehungsweise der rituellen Sphäre der offiziellen staatlichen Repräsentation (Siegesfeier, staatliche Trauerfeier) angehören: der Trauermarsch in der Symphonie funèbre et triomphale, der Militärmarsch zur »Präsentation der Fahnen der Besiegten« im Anhang zu seinem Te Deum sowie den im Opernkontext unter anderem militärische Macht 3 | Zur Ironie in dem Chorsatz L’adieu des bergers: Frank Heidlberger, Die frohe Botschaft aus gebrochener Perspektive. Berlioz’ Oratorium L’Enfance du Christ zwischen Historismus und Musikdrama, in: Musik und Kirche 73 (2003), S. 384-390. Zum Höllenritt in Damnation de Faust: Ebd., Die Faust-Kompositionen von Hector Berlioz. Untersuchungen zum Verhältnis von literarischer Adaption und musikalischer Deutung, in: Peter Csobádi u.a., Mythen der Neuzeit. Faust und Don Juan, Anif, Salzburg 1993, S. 535-548.

M ARSCH UND C HORAL BEI H ECTOR B ERLIOZ UND SEINEN Z EITGENOSSEN

demonstrierenden Trojanischen Marsch.4 Hymnus (im religiösen Sinne) und Choral spielen dagegen – ob als allein stehende Werke oder in Kombination mit dem Marsch – bei Berlioz keine Rolle. Am nächsten kommt dieser Vorstellungswelt der erwähnte Chorsatz des Adieu des bergers aus L’enfance du Christ, doch handelt es sich hierbei um einem der französischen Tradition des Weihnachtshymnus’ angenäherten Typus, nicht um einen Choral im engeren Sinne. Die historisierende Charakteristik dieses Chorsatzes stellt zudem in erster Linie ein programmatisches Moment im narrativen Kontext des Werkes dar. Auch ist es nicht verwunderlich, dass er zur Darstellung religiöser »Sphäre« eher auf katholische Musikformen (Litanei) zurückgreift, anstatt sich des protestantischen Chorals zu bedienen. Berlioz berichtet in den Memoiren von den religiösen Einflüssen seiner Kindheit und gesteht, freilich mit beißender Ironie, froh zu sein, nicht »aus der dumpfen Brutstätte von Luther oder Calvin« zu stammen, sondern der Religionsgemeinschaft anzugehören, die »liebenswert [sei], seit sie niemanden mehr verbrennt.« Konkret zur Kirchenmusik äußert er sich im selben Zusammenhang: Anlässlich seiner Erstkommunion hört er einen Hymnus der ihn »mit einer ebenso mystischen wie leidenschaftlichen Erregung« erfüllt. Dieser Hymnus war jedoch kein Choral, sondern, wie er später erfuhr, eine umtextierte Arie aus einer komischen Oper d’Alayracs, was deutlich seine musikalischen Präferenzen demonstriert.5 Bevor wir auf Berlioz, genauer, seine Oper Les Troyens, zurückkommen, möchte ich zunächst den Blick auf das Thema »Marsch und Choral« in seiner zentralen Ausprägung, der Oper des 19. Jahrhunderts in Frankreich, lenken, da sich in dieser Gattung die Korrelation von Marsch und Choral als Spiegelbild kollektiver Riten – Devotion/Gebet einerseits, Monumentalität/Autorität andererseits – in idealisierter Weise und mit ungebrochener dramatischer Wirkungskraft in Szene setzt. Dabei möchte ich mich auf Beispiele aus Opern Giacomo Meyerbeers konzentrieren, deren Präsentation militärischer und religiöser Tableaus im Sinnzusammenhang eines von musikalischen, szenischen und dramatischen Elementen durchsetzten historischen »Ideendramas«6 von zentraler Bedeutung 4 | Ferner zu nennen wären etwa der Marche funèbre pour la dernière scène d’Hamlet oder, als eigenständige Komposition, die nahezu unbekannte Marche marocaine. D. Kern Holoman hat diese Märsche, einschließlich des marschartigen Offertoriums aus dem Requiem, auf einer CD eingespielt: Marching with Berlioz, Symphony Orchestra of the University of California at Davis, dirigiert von D. Kern Holoman, UCD 2002. 5 | Hector Berlioz, Memoiren, übers. von Dagmar Kreher, hg. von Frank Heidlberger, Kassel 2007, S. 52. 6 | Sieghart Döhring und Sabine Henze-Döhring, Oper und Musikdrama im 19. Jahrhundert (= Handbuch der musikalischen Gattungen, 13), Laaber 1997, S. 144.

253

254

F RANK H EIDLBERGER

sind. Marsch und Choral als Repräsentanten dieser beiden Sphären erzeugen Spannungsfelder, die eine beträchtliche Assoziationskraft besitzen. Im dramaturgischen Kontext der französischen Oper des 19. Jahrhunderts erweisen sich Marsch und Choral als sinnstiftende, musikalisch tragfähige und dabei semantisch klar umrissene musikdramatische Gebärden, die tief in der Ideenwelt der Zeit verankert sind und nicht nur von jedem einigermaßen gebildeten Opernbesucher – und das waren im Frankreich des 19. Jahrhunderts viele – verstanden wurde, sondern mehr noch: zur Ausbildung der sie stützenden Ideenwelt selbst genuin beitrugen. Die Wechselbeziehung zwischen Marsch und Choral, mehr noch, die Verzahnung von militärischer und religiöser Sphäre stellt ein drastisches Mittel zur Konfliktgestaltung im Zuge einer Opernhandlung dar, die sich durch die signifikante musikalische Sprachwelt ihrer musikalischen Idiomatik leicht vermitteln lässt, zugleich jedoch auch die Gefahr klischeehafter Erstarrung oder inflationärer Verwässerung in sich birgt. Martialische und religiöse Szenen gehören zum Grundbestand der Operngeschichte im Allgemeinen, sie sind Archetypen der griechischen Tragödie und der klassischen Literatur. Hier gilt es demnach zu differenzieren, wie sich die Idiome von Marsch und Choral, martialischer und religiöser Sphäre in diesem spezifischen Repertoire des 19. Jahrhunderts einordnen lassen, und inwiefern sie die Ideenwelt ihrer Zeit reflektieren und generieren. Giacomo Meyerbeers Opern bieten hierfür nicht nur zahlreiche Beispiele, sondern fokussieren und definieren dieses spezifische Spannungsfeld in seiner strukturellen Grundsubstanz. Andernorts diskutierte ich die vielleicht berühmteste relevante Szene, die Kirchhofszene (Akt III, Szene 1) in Meyerbeers Hugenotten.7 Sie stellt geradezu ein Paradigma dieser Gebärden und ihres Potenzials für die Gestaltung komplexer Zeitkonstellationen innerhalb des narrativen Ablaufs der Opernhandlung dar. In dieser Szene entwickeln Meyerbeer und sein Librettist Eugène Scribe ein Tableau, das aus einer harmlosen Sonntagsszene heraus den Glaubenskonflikt zwischen Katholiken und Hugenotten öffentlich ausbrechen lässt. Hier noch untergründig schwelend wird dieser Konflikt im vierten Akt zur Verschwörung, im letzten schließlich zum Massaker führen. Meyerbeer setzt hierzu einen tonmalerisch gestalteten hugenottischen Männerchor ein, der in der vokalen Nachbildung rudimentärer Marsch- und Trommelfloskeln übermütige, nostalgisch verklärte Kampfbereitschaft demonstriert. Dem steht die harmlos-schmeichlerische Marienlitanei der katholischen Frauen gegenüber, zunächst in sukzessiver Präsentation, dann in kontrapunktischer Kombination.

7 | Frank Heidlberger, Betrachtungen zur Rolle der Militärmusik in der abendländischen Kunstmusik, in: Armin Griebel u.a. (Hg.), Militärmusik und »zivile« Musik. Beziehungen und Einflüsse, Uffenheim 1993, S. 9-22.

M ARSCH UND C HORAL BEI H ECTOR B ERLIOZ UND SEINEN Z EITGENOSSEN

Dieses Tableau verdichtet in zeitlupenhafter Steigerung die gegenseitige Abneigung der beiden Glaubensgruppen zu einem Wortgefecht, das die späteren Gewalttätigkeiten mit erschreckender Drastik antizipiert. Musikalisches Gegenstück der martialischen Gebärden ist der von dem treuen hugenottischen Veteranen Marcel eingeführte Lutherchoral Ein feste Burg ist unser Gott, der vor allem in den konfliktbetonten Rahmenakten der Oper erinnerungsmotivisch präsentiert wird. Marcel schmettert diesen Choral als Symbol der Gottesfurcht und edlen Moral den obszönen Gesängen des Festgelages im ersten Akt entgegen und erregt damit unterschwellige Abneigung, die hier dramaturgisch geschickt im Gleichgewicht gehalten wird. Dies ändert sich auch nicht, als Marcel kurz darauf mit der »piff-paff-Arie« einen Schlachtgesang aus den siegreichen Hugenottenkriegen anstimmt, der halb mit Gelächter, halb mit eiskaltem Befremden der katholischen Runde aufgenommen wird. Die Figur des Marcel stellt somit den Brennpunkt der Handlung dar, kriegerische und gottesfürchtige Gebärden prägen sein Handeln zu gleichen Teilen; die nahezu grotesk tiefe Stimmlage verstärkt die Intensität des Ausdrucks in einer kritischen Balance von Fanatismus und Demut. Die historisierende Drastik der Bildersprache in der »piff-paff-Arie« ist offensichtlich. Der Landsknechts-Ton der Trommeln und Pfeifen weckt Assoziationen archaischer Feldlager und Schlachtgemetzel mit Speeren und Hellebarden. Meyerbeers Vorliebe für – weniger triviale als subtile – Tonmalereien wird hier als musikalisches Mittel der Reminiszenz eingesetzt: Archaische (Militär-)Musik vermittelt zwischen dem subjektiven Empfinden des Protagonisten (Marcels träumerische Kriegsnostalgie) und der auf der Bühne vergegenwärtigen Situation des gewalttätigen Glaubenskonflikts. Dieser illustrativen Prägnanz im Spannungsfeld von Vergangenheit und Zukunft, Erinnerung und Vision, steht die Symbolkraft des Lutherchorals gegenüber, jener »Marseillaise der Reformation«8, wie Heinrich Heine sie nannte, die »wie keine andere den Geist kämpferischer Religiosität im Jahrhundert der Glaubenskriege repräsentiert«9. Meyerbeer war sich bei der Verwendung des Chorals in einer Oper der Gefahr bewusst, von der Kritik als Gotteslästerer verschrien zu werden, was auch besonders im protestantischen Deutschland nicht ohne antisemitische Untertöne geschah. In einem Brief an Gottfried Weber schlägt der Komponist daher beschwichtigende Töne an, er habe den Choral »als Gegensatz der weltlichen Musik stets streng und kirchlich behandelt […] als Anklang einer besseren Welt, als Symbol des Glaubens und Hoffens.«10 Dies ist nur zum Teil zutreffend, denn der Choral durchläuft eine Vielzahl musikalischer und dramaturgischer Varian8 | Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834), in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 3, München 1975, S. 547. 9 | Döhring, Henze-Döhring, Oper und Musikdrama im 19. Jahrhundert, S. 157. 10 | Zit. nach ebd.

255

256

F RANK H EIDLBERGER

ten, im engen Zusammenspiel mit den dramatischen Entwicklungen vor allem des vierten und fünften Aktes. Diese Varianten und ihr dramaturgischer und musikalischer Kontext definieren die Funktion dieses Chorals, die weit über eine, von der bisherigen Forschung meist als ephemere Couleur du temps definierte Floskel hinausgeht.11 Markieren diese musikalischen Thementypen die dramatischen Eckpunkte des Glaubenskonflikts im Allgemeinen, ist der Glaubenskonflikt an sich Träger des sich entwickelnden Liebesdramas von Raoul und Valentine, welche den Konflikt und die ihn tragenden politischen Intrigen ins Private projizieren, was das Massaker selbst als märtyrerhafte Erfüllung dieser Liebe erscheinen lässt. Eindrucksvoll verknüpft Meyerbeer diese verschiedenen Bedeutungsstränge zu einem mehrteiligen Entwicklungsprozess in jenen beiden Schlussakten, an dessen Höhepunkt die geheime Vermählung Raouls und Valentines durch Marcel stattfindet – anders als in der historischen Vorlage tritt die katholische Braut zum Protestantismus über – während das Massaker seinen Lauf nimmt. Marcel, der alte treue Diener Raouls, der, laut dem Zeugnis seines Herrn, ganz »zwischen Schwert und Bibel« erzogen worden war, gibt dem Verlauf des fünften Aktes musikalische und dramatische Struktur. Seinem Segensspruch für das vermählte hugenottische Paar, nur begleitet von einer religiöse Entrücktheit symbolisierenden Bassklarinette – sie war im Jahr 1837 eine absolute Novität –, folgt der von einem tam-tam-Schlag eingeleitete Aufruf der Katholiken an die Hugenotten, von ihrem Glauben abzuschwören. Damit nimmt das finale Tableau seinen Lauf. In dieses Tableau sind die musikalischen Gebärden von Geschwindmarsch im Vordergrund und der von Frauen und Kindern gesungene Lutherchoral im Hintergrund eingeflochten. Das Massaker ist entfesselt und wird als Engführung aus martialischen Gebärden und dem Choralmotiv musikalisch zu einer Schlussapotheose geführt. Meyerbeers Einflechtung des Lutherchorals, der, wie verschiedentlich betont wurde, dem Kontext hugenottischer Gesänge fremd ist,12 stellt das stabilisierende semantische Modell innerhalb der verschiedenen dramaturgischen Entwicklungszüge der Oper dar. Der französische Text ist eine freie Paraphrase 11 | Nach Dahlhaus generiert der Choral in Meyerbeers Hugenotten einen »ästhetische[n] Schein des Archaischen, um der Musik ein historisches Kolorit zu geben, dessen Authentizität gleichgültig« sei. Vgl. Carl Dahlhaus, Gattungsgeschichte und Werkinterpretation. Die Historie als Oper, in: Friedhelm Krummacher u.a. (Hg.), Gattung und Werk in der Musikgeschichte Norddeutschlands und Skandinaviens. (= Kieler Schriften zur Musikwissenschaft, 26), Kassel 1982, S. 20-29, hier S. 23; siehe auch: Sebastian Werr, Musikalisches Drama und Boulevard. Französische Einflüsse auf die italienische Oper im 19. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 2002, S. 107. 12 | Vgl. dazu Michael Walter, Hugenotten-Studien (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 36, Musikwissenschaft, 24), Frankfurt a.M. 1987, S. 109ff.

M ARSCH UND C HORAL BEI H ECTOR B ERLIOZ UND SEINEN Z EITGENOSSEN

des deutschen »Ein feste Burg ist unser Gott – ein gute Wehr und Waffen« und beginnt mit »Seigneur, rempart et seul soutien, du faible qui t’adore« (frei übersetzt »Herr, du bist der einzige Schutz für jene Schwachen, die an Dich glauben«), was den Ausdruck des Kämpferisch-Aggressiven hinter das Motiv des Schutzes und des Verlangens nach im Glauben begründeter Geborgenheit und moralischer Festigkeit zurücktreten lässt. Marcel jedoch schmettert ihn im ersten Akt mit glaubenskämpferischer Energie, während im fünften Akt die aus der Distanz wahrgenommene Klage der hugenottischen Frauen und Kinder mit dem Choralzitat Demut und Opferbereitschaft signalisieren. Es bedurfte der distinkten musikalischen Identität dieses Chorals, um im dramaturgischen Kontext einem französischen – und damit überwiegend katholischen – Publikum die Botschaft der (lutherisch vermittelten) Glaubensfestigkeit als zeitlosen Wert, hinter der Maske des historisch distanzierten Handlungsstranges, zu vermitteln.13 Wechselweise aufeinander bezogene Gebärden des Martialischen und Religiösen bleiben von nun an wesentliche Topoi in den Opern Meyerbeers, die in verschiedenen Varianten und unterschiedlich drastischer Ausprägung zur Verwendung kommen. Das religiöse Moment steht, gleichwohl in kämpferischer Manier, in Le Prophète (UA 1849) im Vordergrund, während Ein Feldlager in Schlesien und die daraus abgeleitete Opéra comique L’Ètoile du Nord (UA 1854) explizit militärischen Charakter aufweisen. Die andere bedeutende Opéra comique, Le Pardon de Ploërmel (UA 1859), stellt einen Sonderfall dar, da der hier emblematisch verwendete Marsch mit einem imaginierten Hochzeitszug in Verbindung steht und daher typologisch als »Festmarsch« fungiert. Die Ouvertüre zu Le Pardon de Ploërmel stellt insofern eine musikalisch interessante Lösung dar, als sie die Gebärde des Huldigungsmarsches mit einer religiösen Episode verknüpft, die hier, im Kontext des Instrumentalstücks, durch einen Chorsatz bestritten wird, der die Anrufung Mariens zum Inhalt hat. Der auf der Bühne, aber hinter geschlossenem Vorhang zu singende choralhafte Satz ist nicht alleine ein dramaturgisches Darstellungsmittel, sondern eine assoziative Gebärde, die sich doppelt vom Marschgestus abhebt: zum einen durch das Aufbrechen der rein instrumentalen Gattung Ouvertüre durch die Einbeziehung von Singstimmen, zum anderen durch ihre psychologisch motivierte Zeichenhaftigkeit. Der Mariengesang weist auf einen Vorgang, der zur Vorgeschichte der Oper gehört, zum Verständnis des späteren Geschehens jedoch von zentraler Bedeutung ist: Der Traum von der eigenen Hochzeitsprozession, die die Hauptperson Dinorah, dem Wahnsinn verfallen, als idée fixe manisch verfolgt, und die erst im Finale der Oper aufgelöst wird, wenn die Hochzeit nach Ablauf eines Jahres nun endlich stattfinden kann. Die Ouvertüre hat daher eine dramaturgische 13 | Vgl. Anselm Gerhard, The Urbanization of Opera: Music Theatre in Paris in the Nineteenth Century, Chicago, IL 1998, S. 167.

257

258

F RANK H EIDLBERGER

Scharnierfunktion: Sie bietet eine Reminiszenz an die traumatischen Erlebnisse und des Schocks in der Vorgeschichte des Werkes, während sie gleichzeitig auf die Erlösung von der Wahnvorstellung des Verlustes Dinorahs Identität in der Zukunft weist. Anselm Gerhard weist darauf hin, dass die Handlung der Oper »als produktiver Reflex auf Tendenzen einer immer noch vom Mesmerismus geprägten zeitgenössischen Psychologie begriffen werden«14 kann. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Entwicklung der modernen Psychologie, gerade im Hinblick auf manische Depressionen, bereits in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bedeutende Fortschritte gemacht hatte und die empirische Beschreibung etwa der Monomanie als verbreitetes Krankheitsbild so weit entwickelt war, dass die zeitgenössische Kunst Motive dieser Entdeckungen übernahm. Dies zeigt etwa Hector Berlioz’ Verwendung des Begriffs der idée fixe in seiner Symphonie fantastique. Dieser Begriff war bereits zwei Jahrzehnte vor Berlioz in Gebrauch, geprägt von den Psychiatern Etienne Esquirol und JeanEtienne Georget, wie Francesca Brittan jüngst nachweisen konnte.15 Einen Bezug der Marienmetapher in Le Pardon de Ploërmel zur literarischen Gattung der Idylle sieht Marta Ottlová, die auch auf den Bezug der Jungfrau Maria zu allegorischen Figuren (Einhorn) innerhalb dieser Traditionslinie hinweist sowie auf die Stilisierung Dinorahs als madonnenhafte Figur im ersten Akt der Oper.16 Ein direktes Vorbild für diese Art des religiösen Prozessionsmarsches ist Hector Berlioz’ Pilgermarsch aus Harold en Italie: Die szenische Präsenz der vorbeiziehenden Pilger vor dem Auge des betrachtenden Individuums Harold funktioniert in analoger Form zu Dinorahs geistigem Auge, das des sich nähernden Prozessionsmarsches gewahr wird und damit der von der Ouvertüre heraufbeschworenen manisch geschlossenen Vorstellungswelt der Hauptdarstellerin Kontur verleiht. Berlioz bezeichnet diese Kombination aus Mariengesang und »Marcia religiosa« in seiner Kritik von Meyerbeers Oper denn auch

14 | Anselm Gerhardt, Religiöse Aura und militärisches Gepräge. Meyerbeers Ouvertüren und das Problem der rein instrumentalen Form, in: Sieghart Döhring u.a. (Hg.), Meyerbeer und das europäische Musiktheater (= Thurnauer Schriften zum Musiktheater, 16), Laaber 1998, S. 201-230, hier S. 219. 15 | Francesca Brittan, Berlioz and the Pathological Fantastic. Melancholy, Monomania, and Romantic Autobiography, in: 19th-Century Music 29/3 (2006), S. 211-239. 16 | Marta Ottlová, Oper und Traum. Le Pardon de Ploërmel, in: Döhring u.a. (Hg.), Meyerbeer und das europäische Musiktheater, S. 127-133, hier S. 131f. Die Autorin verweist etwa auf Hoëls Erzählung in I,7 der Oper: »En ce moment je cru voir Dinorah m’apparaitre dans un nuage d’or, parée comme une sainte, telle que mon esprit d’enfant l’avait rêvée.«

M ARSCH UND C HORAL BEI H ECTOR B ERLIOZ UND SEINEN Z EITGENOSSEN

als »une les plus heureuses combinaisons à la fois musicales et dramatiques qui me soient connues«17. Eduard Hanslick sah dies freilich anders und tat in seiner Kritik den Marienchor als Klischee ab: »Dieses ewige O heilige Jungfrau!-Singen hinter dem Vorhang versetzt uns in einen solchen Katzenjammer, dass wir jedes Mal mit einer Art persönlicher Gereiztheit gegen den Componisten und die heilige Jungfrau den ersten Akt erwarten.«18 Stellt dieses Beispiel einen Seitenstrang im Kontext unserer Thematik dar, sei schließlich auf L’Ètoile du Nord eingegangen, in welchem die militärische Gebärde, in Verbindung mit religiösen Elementen zum zentralen Handlungsstrang gehört. Der mittlere der drei Akte spielt in einem Heerlager, in welchem der verkleidete Zar Peter der Große von Caterine, die ihn liebt, vor einer aufkommenden Verschwörung gewarnt wird. Dies hat Peters Sieg und, im dritten Akt, seine Vermählung mit Caterine zur Folge. Das zentrale musikalische Element dieses Aktes wird durch das Gebet im Heerlager repräsentiert, das eigentlich als Zeichen des Beginns der Verschwörung dienen soll, durch das geschickte Handeln der Zarenpartei jedoch zur Huldigung Peters des Großen umfunktioniert wird. Dieser wesentliche Wendepunkt der Handlung mündet folgerichtig in eine »Marche sacrée«, den Huldigungsmarsch für den Zaren. Bei diesem »heiligen Marsch« handelt es sich um den »Alten Dessauer«, einen der berühmtesten preußischen Militärmärsche. Dies ist sicher der Tatsache geschuldet, dass vor allem der zweite Akt dieser Oper auf dem auf Friedrich den Großen gemünzten Singspiel Ein Feldlager in Schlesien beruht, das Meyerbeer als Preußischer Generalmusikdirektor für seinen Gönner in Preußen, Friedrich Wilhelm IV., im Jahr 1844 geschrieben hatte. Somit greift mit diesem Werk der aktuelle Zeitbezug in die Interpretation des Werkes mit ein. Es beruht zwar auf historischer Fiktion, huldigt jedoch »Preußens Gloria« als Festspiel zur Wiedereröffnung des Berliner Opernhauses, das 1843 durch einen Brand zerstört worden war. Was lag näher, als das Selbstverständnis Preußens im Konzert der erstarkenden europäischen Großmächte mit einem Stoff aus seiner jüngeren Militärgeschichte zu feiern? Dass Friedrich II. zudem noch Flöte spielte – eine Flötenmelodie, mit welcher sich der Herrscher zu erkennen gibt, spielt in der Oper eine bedeutende Rolle –, bestärkt den Anspruch Preußens auf eine politische und kulturelle Führungsrolle in Europa. Interessanterweise kann die französische Schwester dieser »preußischen Oper«, L’Étoile du Nord, gleichbedeutend interpretiert werden. Hier ist es zwar nicht Friedrich der Große, der die Flöte spielt, sondern – in freier Umdichtung der Realität – der russische Zar, doch die Botschaft erscheint gleichbedeutend. 17 | Journal des Débats, 10. Apr.1859, zit. nach Gerhard, Meyerbeers Ouvertüren, S. 220. 18 | Zit. nach Gerhard, Meyerbeers Ouvertüren, S. 220.

259

260

F RANK H EIDLBERGER

Das Werk kam 1854 in der Opéra comique zur Uraufführung und war sehr erfolgreich. Vor allem während der Pariser Weltausstellung von 1855 erreichte das Werk ein außergewöhnlich starkes positives Publikumsecho. Das Klima dieser Zeit in Paris war geprägt vom Herrscherpatriotismus des Second Empire. Napoléon III. nutzte die Weltausstellung als Demonstration seines Machtanspruchs in Europa und darüber hinaus. Insofern ist die Darstellung eines Herrschers, dem, nach Intrigen und Verschwörungen, schließlich nicht nur säkulare Huldigung, sondern sogar Gottes Segen zuteil wird, eine unmittelbare Reflexion des zeitgenössischen Ideenkomplexes von gottgegebener Macht und kolonialistisch geprägtem kulturellen Führungsanspruch. Anselm Gerhard stellt in diesem Zusammenhang fest, dass »in einer Epoche, in der sich der Klerus und das Militär als die stabilsten Stützen der notdürftig restaurierten Feudalstrukturen erwiesen, die zwanghafte Verbindung der militärischen und der sakralen Sphäre […] auf zwei herausragende staatstragende Institutionen«19 verwiesen. Angesichts der politischen Geschichte Frankreichs seit 1789 und der revolutionären Aufstände von 1830 und 1848 war die Notwendigkeit, Autorität auch nach innen zu vermitteln, zweifelsohne im Interesse Napoléons III., der 1851 im Staatsstreich die zaghaften Ansätze zur Republik niederdrückte und durch seine Ernennung zum Kaiser 1852 vollständig zum Erliegen brachte. Die zentralistische Ausrichtung Frankreichs ließ die institutionelle Autorität von Armee und Kirche besonders drastisch hervortreten. »Schwert« und »Bibel« symbolisierten somit auf der Straße eine Machtkonstellation, die sich in den Statuten und Handlungsweisen des französischen Kaisertums unmittelbar niederschlug. Die vielfach besungene »Gloire de la Nation« materialisierte sich zudem in der Industrialisierung. Die Pariser Industrieausstellung von 1855 wies somit eine fast anachronistisch zu nennende Widersprüchlichkeit auf: Mit riesigen Dampfmaschinen wurde der Fortschritt für die Massen gefeiert, doch nicht im Zuge sozialer und politischer Neuerungen, sondern auf der Basis eines autokratischen Gottesstaates. Auch Hector Berlioz huldigte dieser Idee, wie sein Schaffen der Zeit offenlegt. Das in den 1840er-Jahren begonnene Te Deum – als sakrale Gattung bekannt für seine Funktion als religiöse Danksagung nach militärischen Siegen – wurde nach 1848 vollendet und von Berlioz für die Krönungsfeierlichkeiten von Napoléon III. vorgesehen, kam jedoch dafür nicht in Frage. Stattdessen wurde es anlässlich der Industrieausstellung 1855 in St. Eustache in Paris uraufgeführt, um den Symbolismus der gottgegebenen Vormachtstellung des Regimes in Kultur und Technik zu zementieren. Zweifellos sind diese Tendenzen Teil einer umfassenden Zeitmentalität der europäischen Großmächte, welche sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts im Streben nach politischer, wirtschaftlicher und technologischer Übermacht, Kolonialisierung und Aufrüstung ideologisch verfestigt. Daher sind 19 | Gerhard, Meyerbeers Ouvertüren, S. 229.

M ARSCH UND C HORAL BEI H ECTOR B ERLIOZ UND SEINEN Z EITGENOSSEN

die erwähnten Tendenzen kultureller Repräsentation keineswegs nur auf das Frankreich des Second Empire zu beschränken. Mit gleichsam programmatischem Sendungsbewusstsein fungiert der Krönungsmarsch in Le Prophète, uraufgeführt kurz nach der gescheiterten Revolution von 1848, als Modell für den Festmarsch zu offiziellen Anlässen, wobei er sowohl das strukturelle Gerüst – die Gegenüberstellung von martialisch-festlichen und religiös-andächtigen Abschnitten – als auch die semantische Stoßrichtung vorgibt: Jan van Leydens energisches Streben nach Herrschaft, die durch die Krönung und Segnung erreicht wird.20 Meyerbeers Festmärsche spiegeln beide Sphären wieder, und sein Festmarsch zur Krönung Wilhelm I. 1861 spielt besonders deutlich auf sein musikdramatisches Vorbild von 1849 an. Berlioz steht dem nicht zurück. Er komponierte diverse Festmusiken für offizielle Anlässe. Zweifellos ist sein »Trojanischer« Marsch aus Les Troyens analog zu deuten, angesichts der Vernetzung des Historischen – Untergang Trojas, dargestellt durch das Erklingen des Marsches am Schluss des ersten Aktes – mit dem Utopischen – wenn man die Wiederkehr des Marsches im Finale der Oper bedenkt, dass die Vision eines neuen »Reiches« heraufbeschwört. Auch wenn sich dies auf der Bühne auf Rom bezieht, konnte es in der Wahrnehmung des Zuschauers von 1863 ebenso gut auf Napoléon III. gemünzt werden, und zwar ganz konkret: Französische Kriegsoperationen hatten sich seit Mitte der 1850er-Jahre weltweit ausgedehnt, etwa zur Schaffung von Einflusssphären in Indochina und dem – allerdings gescheiterten – Versuch, durch die Eroberung von Mexiko Einfluss auf die nordamerikanischen Staaten zu nehmen, die sich zudem im Bürgerkrieg befanden. Mehr noch: 1849 hatte der gerade zum Staatsoberhaupt erwählte Louis Napoléon die Unabhängigkeit des Kirchenstaats wiederhergestellt, indem er Papst Pius IX. 1849 zurück zur Macht verhalf. Dies hatte ihm in den klerikalen Kreisen Frankreichs Respekt und Zustimmung verschafft. Dieses Ereignis traf, zufällig oder nicht, mit dem in Meyerbeers Oper Le Prophète zum Ausdruck gebrachten Anspruch Jan van Leydens auf eine religiös begründete Macht zusammen, die das Ideal von Schwert und Bibel musikalisch, dramatisch und historisch erneut beschwörte.

20 | Zur Politisierung dieser Oper im Kontext der Erstaufführung 1849 vgl. Jane F. Fulcher, The Nation’s Image: French’s Grand Opera as Politics and Politiziced Act, Cambridge 1987, S. 122ff.

261

IV. Musikmacht und Staatsgewalt

Wie die Friedensproblematik in klassischer Musik intoniert wird Dieter Senghaas

Seit Jahrhunderten hat die Friedensproblematik, hier verstanden als die Probleme von Krieg und Frieden, bildende Künstler zu einer reichhaltigen Bilderwelt, der sogenannten Friedensikonographie, angeregt. Noch reichhaltiger und vielfältiger sind die literarischen Zeugnisse, in denen, inhaltlich unschwer vermittelbar, die genannte Problematik in Romanen, Novellen, Lyrik und Schauspielen bearbeitet wurde. Wie aber figuriert politischer Frieden in der Musik? Insbesondere wertbeständige, eben als klassisch zu bezeichnende Musik gilt als gegenstandsloseste aller Künste, denn ihre Inhalte seien »tönend bewegte Formen«1, wie Eduard Hanslick 1854 in seinem berühmten und einflussreichen 1 | Die diesem Essay zugrunde liegende topische Gliederung des Werkangebots ist das Ergebnis einer umfassenden Sichtung von ca. 400 einschlägigen klassischen Kompositionen, die von Musikschaffenden in Europa und später auch in Nordamerika zwischen dem Spätmittelalter und heute vorgelegt wurden. Eine ausführliche Darlegung findet sich in Dieter Senghaas, Klänge des Friedens. Ein Hörbericht, Frankfurt a.M. 2001. Dieses Buch findet eine Ergänzung in einer CD-ROM: Frieden hören!, hg. vom Institut für Friedenspädagogik Tübingen (www.friedenspaedagogik.de). Sie enthält Musikausschnitte und Kommentare sowie zahlreiche Hintergrundmaterialien zur Thematik. Eine Doppel-CD mit Werken von Kagel, Hartmann, Soto und Honegger sowie Einführungen von D. Senghaas mit dem Titel Friedensmusik in der Friedensstadt Linz ist ebenfalls über das Tübinger Institut erhältlich. Weiterführende Literatur: Hartmut Lück und Dieter Senghaas (Hg.), Vom hörbaren Frieden, Frankfurt a.M. 2005; Marianne I. Franklin (Hg.), Resounding International Relations. On Music, Culture, and Politics, New York 2005; Annemarie Firme und Ramona Hocker (Hg.), Von Schlachthymnen und Protestsongs. Zur Kulturgeschichte des Verhältnisses von Musik und Krieg, Bielefeld 2006; Susanne Rode-Breymann (Hg.), Krieg und Frieden in der Musik, Hildesheim 2007; Stefan Hanheide, Pace. Musik zwischen Krieg und Frieden. Vierzig Werkporträts, Kassel 2007; Oliver Urbain (Hg.), Music and Conflict Transformation. Harmonies and Disharmonies in Geo-

266

D IETER S ENGHAAS

musikästhetischen Traktat Vom Musikalisch-Schönen schreibt. »Der Komponist dichtet und denkt. Nur dichtet und denkt er, entrückt aller gegenständlichen Realität, in Tönen [seiner] unübersetzbaren Ursprache«, betont Hanslick ferner. Allein daraus, dass die Tondichter gezwungen sind, in Tönen zu denken, folge schon »die Inhaltlosigkeit der Tonkunst«. Lassen sich also, in logischer Konsequenz solcher Argumentation gefragt, inhaltlich fixierte Vorstellungen der Friedensproblematik und von Frieden im Besonderen gar nicht in Töne setzen? Nun ist die strenge ästhetische Theorie, so folgewirksam sie auch war und in gewisser Hinsicht immer noch ist, eine Sache; das beeindruckende Werkangebot von Komponisten und Komponistinnen eine ganz andere. Denn das auf die Friedensproblematik ausgerichtete Angebot ist zum einen quantitativ beeindruckend; aber vor allem zeichnet es sich durch eine erstaunliche thematische Breite aus. Werkangebot: Es gibt nur wenige Werke, in denen sich Vorahnungen bezüglich einer sich abzeichnenden Katastrophe, den drohenden Krieg, andeuten. Der Krieg selbst ist natürlich vielfach Gegenstand von Kompositionen geworden: manchmal in unbeschwertem Sinne, früher oft in militaristischer Absicht, aber heute vor allem in Werken, die den Willen zum Frieden aktivieren wollen. Die Fürbitte um den Frieden und die Erwartung des Friedens im Krieg sind häufig Gegenstand von Kompositionen gewesen, auch der Dank für den wiedergewonnenen Frieden, allerdings in früheren Kompositionen nicht selten als Dank für gewonnene Siege. Im letzten Jahrhundert standen Kompositionen im Vordergrund, die sich durch einen Trauer- und Klagegestus auszeichnen: Der Krieg erscheint darin als menschenverachtend und inhuman. Im 20. Jahrhundert waren auch Anti-Kompositionen, also vor allem antimilitaristische Musik, die sich auch schon im 17. Jahrhundert, im zeitlichen Umkreis des Dreißigjährigen Krieges auffinden lässt, besonders eindrucksvoll, ebenso Musik gegen Gewalt, Repression, Tyrannis, Not und Rassismus. Mit der positiven, konstruktiven oder gar affirmativen Darstellung des Friedens tun sich Komponisten schwer, früher nicht anders als heute. Dieser Sachverhalt ist kein anderer in den Geistes- und Sozialwissenschaften, einschließlich der Friedensforschung. Aber solche Versuche gibt es – mit und ohne Textunterlegungen. Dieses Spektrum von Angeboten soll im Folgenden, jeweils mit einigen wenigen Beispielen illustriert, ausführlicher dargestellt werden: Vorahnungen: Komponisten sind keine Prognostiker des erwartbaren Weltgeschehens, aber sie verfügen gelegentlich, wie auch Kunstschaffende auf anderen Gebieten, über ein Sensorium, das ihnen ermöglicht, einer zwar nicht voraussagbaren, aber atmosphärisch erahnbaren drohenden Katastrophe Ausdruck zu verleihen. Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 6 »Die Tragische« (1903/05) politics, London, New York 2008; Hartmut Lück und Dieter Senghaas (Hg.), Den Frieden komponieren? Ein Symposium zur musikalischen Friedensforschung, Mainz 2010.

W IE DIE F RIEDENSPROBLEMATIK IN KL ASSISCHER M USIK INTONIERT WIRD

wäre in diesem Zusammenhang zitierbar, auch Anton Weberns Sechs Stücke für großes Orchester op. 6 (1913) – darin vor allem der Trauermarsch (marcia funebre), auch der Marsch in Alban Bergs Drei Orchesterstücke op. 6 (1914) oder der vierte marcia funebre-Satz in Béla Bartóks Vier Orchesterstücke op. 12 (1912) sowie der Mittelsatz im Divertimento für Streichorchester (1939) desselben Komponisten; gewiss auch sämtliche Kompositionen von Karl Amadeus Hartmann aus den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts: Man denke beispielhaft an das Streichquartett Nr. 1 dieses Komponisten aus dem Jahre 1933, in dem die kommende Katastrophe nicht nur erahnt, sondern geradezu antizipierend thematisiert wird. Natürlich ist im Hinblick auf solche Werke absoluter Musik, denen ein entsprechendes Sensorium oder ein quasi-prognostischer Charakter unterstellbar ist, äußerste interpretatorische Vorsicht geboten. Der nahe liegende Einwand, solche Werke könnten auf spätere Weltkatastrophen wie den Ersten und Zweiten Weltkrieg projiziert werden, gleicht notwendigerweise immer und fraglos einer Überinterpretation, jedoch wird von der Prämisse ausgegangen, es gäbe Informationen über ihre fraglos unzweideutige Interpretation. Aber gerade solche gibt es bei überragenden Kompositionen der genannten Art eben nur in den seltensten Fällen. Im Übrigen: Auch ohne Neigung des Hörers zu Katastrophenfantasien vermittelt sich Mahlers genanntes Werk wie eine angsteinflößende Vision. Und Weberns Trauermarsch, der vierte Satz in der zitierten Komposition, macht in gedrängter Zeit und auf beispiellose Weise hörbar, was als Prozess einer unerbittlich eigendynamisch werdenden Eskalationsspirale vielfach beschrieben wurde. Hier kommt zum Ausdruck, was Tolstoi in seiner Kritik an Clausewitz, der seinerseits den Krieg als politisch kalkulierbares und folglich als manipulierbares Instrument begriff, betonte: die letztendlich nicht kalkulierbare und nicht manipulierbare, die sich steigernde und kataklysmisch, also unbeherrschbar werdende Eskalationsdynamik, die unerbittlich in die Katastrophe mündet. Dieser Assoziation einer finalen Katastrophe kann man sich insbesondere angesichts des Hörbildes des Marsches von Alban Berg kaum entziehen. Der Krieg: Martialisch ist der Krieg, und so ist er auch darzustellen. Während des Ersten Weltkrieges komponierte Gustav Holst The Planets op. 32 (191417). Die siebenteilige Komposition setzt mit einem ersten Satz, der allerdings schon vor Beginn des Kriegs komponiert worden war, ein: Mars, the Bringer of War. Die Atmosphäre ist dumpf, der Rhythmus maschinenhaft-eintönig und trommelnd. Die Tonhöhe, völlig eintönig bleibend, steigt an: Man hört die Eskalation regelrecht; die Martialität intensiviert sich. Im 5/4-Takt treibt sie sich atemlos voran, unterstrichen durch Kampfsignale, fanfarisch eingesetzte Trompeten. Da gibt es zwar Einschnitte, die luftig, leicht und fröhlich erscheinen, aber sie sind ohne Beständigkeit. Ein noch mehr hämmernder ostinater Rhythmus kehrt zurück; Harmonien prallen aufeinander. Mit diesem schließlich sich aufdrängenden Klangbild, das über die realistische Darstellung des Krieges als

267

268

D IETER S ENGHAAS

einer unerbittlichen Gewaltspirale eine friedenspolitische Signalwirkung hat, wird hörbar, wie eine Welt sich zuspitzender Dissonanz explodiert und zugrunde geht. Eine solche Eskalationsspirale vermittelt sich hörbar auch in der im Hinblick auf diesen Topos oft zitierten »Leningrader« Sinfonie Nr. 7 (1942) von Dmitrij Schostakowitsch, darin im ersten, als Die Invasion betitelten Satz. Stücke dieser Art symbolisieren natürlich eine ganz andere – nämlich eine katastrophenträchtige – Welt als jene, die sich in der Schlachtenmusik der frühen Neuzeit dokumentiert. Wie einem pedantisch eingehaltenem Wiederholungszwang folgend entfaltet sich in den sogenannten Instrumentalbattaglien das Schlachtengetümmel in Etappen: Morgendämmerung, Weckrufe, Aufmarsch der feindlichen Truppen (jeweils erkennbar durch entsprechende musikalische Zitate), Vorrücken der Streitkräfte, die eigentliche Schlacht, Jammern der Verwundeten, dazwischen Durchhalteparolen mittels Trompeten und Posaunen, Sieg/Niederlage, Rückzug, Trauer um die gefallenen Soldaten und deren Bestattung, Tanz und Siegesfeier und so weiter. Eine inzwischen wieder gern aufgeführte Komposition ist Heinrich Ignaz Franz Bibers Battalia (ca. 1673); dieses Werk ist jedoch nur ein Beispiel von Dutzenden von Angeboten. Es bedurfte eines Beethoven, um diesen Typ von Komposition, wie er im 16., 17. und 18. Jahrhundert gängig war, Anfang des 19. Jahrhunderts auf einen Höhepunkt zu bringen: Bemerkenswert ist, dass Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria (1813) zu seinen Lebzeiten die populärste Komposition Beethovens wurde. Dass historische Urteile und Vorurteile sich in solchen Kompositionen widerspiegeln, ist unausweichlich, so wenn beispielsweise später Franz Liszt in der Hunnenschlacht (1857) das Reich des Guten (das Christentum) und das Reich des Bösen (symbolisiert durch die Hunnen als Inbegriff der Barbarei) aufeinanderprallen lässt. Am Sieg des Christentums ist nicht zu zweifeln: Alte gregorianische Choralmusik, zunächst überraschend zögerlich von einer Orgel eingeführt, signalisiert ihn. Nach lyrisch anmutenden Abschnitten, die das Schlachtengetümmel vergessen lassen, triumphiert am Ende in der Symbiose von Orchester und Orgel die gute Sache. So auch in Kompositionen, in denen mit politischem oder spirituellem Hintergrund ein Kulturkonflikt, ein ›clash of civilizations‹ thematisiert wird, beispielsweise in Georg Friedrich Händels Judas Maccabaeus (1746) oder Felix Mendelssohn Bartholdys Elias (1846). Komponisten der frühen Neuzeit waren allerdings nicht nur in die Darstellung von militärischen Schlachten, für die es oft ungewöhnliche Spielanweisungen gab, verliebt, sondern auch in die kompositorische Inszenierung von »Liebeskriegen«. Der Liebeskrieg (guerra d’amore), wie er beispielsweise in den Kompositionen von Luca Marenzio, Carlo Gesualdo da Venosa, Claudio Monteverdi oder Biagio Marini seinen Ausdruck findet, ist ein Krieg per Analogie, ein Rollenspiel: Die Geliebte erscheint dabei als die Festung eines Herzens von Stein, zunächst unnahbar, auch unbezwingbar, eben wie eine militärisch ausgelegte Festung. Entsprechend ist der Liebhaber voll sehnsuchtsvoller Erobe-

W IE DIE F RIEDENSPROBLEMATIK IN KL ASSISCHER M USIK INTONIERT WIRD

rungslust: »Guerra è il mio stato.« Man könnte übersetzen: »Krieg ist mein Gemütszustand.« – Wie der Soldat nicht aufhört, sich zu mühen, so ruht der wahre Liebende niemals aus, ehe das Ziel bis zum Sieg erreicht ist. Komponisten haben sich in solche Sujets – Schlachten und Liebeskriege – verliebt, weil sie darin ihre kompositorische Virtuosität entfalten konnten, auch weil offensichtlich in der Gesellschaft ein Resonanzboden für eine solche Darstellung bestand. Die vielen Übertragungen vor allem von Schlachtenmusik in die für häusliches Musizieren verwendbare Klaviermusik belegen den Sachverhalt. Warum wohl wurde um 1800 beim Pianoforte der Janitscharenzug zwecks Nachahmung türkischer Militärmusik so beliebt? Der Gefahr einer Ästhetisierung von Krieg, Kampfgetümmel und Konflikt war in solcher Musik nicht zu entgehen. Fürbitte um den Frieden: Der unerbittliche Rhythmus der Pauke – marschierende Truppen, aufeinanderprallende Militärmaschinerien symbolisierend – kann auch ganz anderes versinnbildlichen: nämlich Angst vor dem nahenden Krieg, auch Abwehr und Protest, also eine Antikriegshaltung, aus der die Friedensfürbitte erwächst. Ein eindrucksvoller Beleg findet sich im Agnus Dei von Haydns Missa in Tempore Belli (1796). Diese Komposition, auch Paukenmesse genannt, entstand in bedrängter Zeit: Die französischen Truppen hatten in Italien Sieg um Sieg errungen. Die Geschichtswissenschaft spricht von einem glänzenden Feldzug Bonapartes. Französische Truppen standen in der Steiermark und drohten weiter vorzurücken. Im Agnus Dei hört man, mittels des Einsatzes der Solo-Pauke, den Feind aus der Ferne heranmarschieren. Solange die französische Armee im eigenen Lande stand, durfte, amtlicherseits befohlen, von Frieden nicht geredet werden. Doch Haydn konnte die Liturgie der Messe nutzen, um nicht nur vom Frieden zu reden, sondern ihn mit seinen kompositorischen Mitteln regelrecht zu fordern. Das flehende Miserere nobis ist eingebunden in den unerbittlichen Rhythmus der Solo-Pauke; das Dona nobis pacem hört sich an wie: »Wir wollen, wir fordern Frieden!«, kraftvoll von Fanfaren unterstützt. In Beethovens Missa solemnis (1819-23) erfuhr dann Haydns Anliegen eine nach Beethoven nicht wiederholte, wahrscheinlich auch nicht wiederholbare Zuspitzung: Im Agnus Dei dieser Messe werden, wie wohl an keiner anderen Stelle in der Musikgeschichte, Krieg und Frieden in ihrem antipodischen Charakter als dramatisches Ringen um Frieden und gegen den Krieg thematisiert. Die angsteinflößenden »Kriegsszenen« fanden zeitgenössische Kritiker regelrecht deplatziert; sie plädierten für deren Streichung aus der Messkomposition und den Aufführungen – welches Unverständnis! Auch in Beethovens Agnus Dei zieht sich letztendlich das Militärisch-Kriegerische zurück. Es entsteht der Eindruck, dass der Wille zum Frieden und der Frieden selbst über den Krieg gesiegt haben. Dieser Friede stellt sich aber nicht gefällig, nicht leichthin und schon gar nicht deklamatorisch ein. Er ist das Ergebnis einer dramatischen,

269

270

D IETER S ENGHAAS

kompositorischen Auseinandersetzung und von großer Anspannung geprägt: Das Ende – Frieden – ist nicht vorstellbar ohne die vorhergehenden Angstschreie und den Blick in die Abgründe, die »timidamente« darzustellen sind. Und dieser Friede, ganz kurz nur intoniert, dokumentiert sich nicht, wie man vielleicht bei Beethoven erwartet, mit apotheotischem Gestus; er bleibt brüchig und hörbar gefährdet, so wie Thomas Hobbes im 16. Kapitel des Leviathan (1651) den Sachverhalt beschrieb: »The nature of war consisteth not in actual fighting, but in the known disposition thereto, during all the time there is no assurance to the contrary«. Beethovens Klangwelt hinterlässt einen eben solchen Eindruck: »no assurance to the contrary«. Auch zeitgenössische Komponisten haben diesem Widerstreit zwischen Krieg und Frieden, wie er sich oft in der Friedensfürbitte spannungsvoll dokumentiert, kompositorischen Ausdruck zu geben versucht, so beispielsweise Arthur Honegger in seiner Sinfonie Nr. 3 »Liturgique« (1946) oder Antal Doráti in seiner Sinfonie Nr. 2 »Querela Pacis« (1985). Im Übrigen gehört die Friedensfürbitte zu jenen kompositorischen Topoi, die seit dem Spätmittelalter quer durch die Musikgeschichte von Komponisten immer wieder aufgegriffen worden sind, allerjüngst u.a. von Katherine Hoover in Quintet Da Pacem (1988) und Violeta Dinescu in Dona nobis pacem (1987). Erwartung des Friedens: In inhaltlichem Zusammenhang mit der Friedensfürbitte stehen auch Kompositionen, die mitten im Krieg der Friedenserwartung Ausdruck verleihen. Als 1940 die deutsche Wehrmacht in Frankreich einmarschierte, schrieb beispielsweise André Jolivet eine Messe pour le Jour de la Paix. Diese Messe beginnt mit einem depressiv eingestimmten Alleluja – ohne Hoffnungsschimmer; Hoffnung kann natürlich angesichts der Ereignisse nicht aufscheinen. Im Laufe der Messe heitert sich diese trostlose Stimmungslage nur zögerlich auf. Doch am Ende wird noch einmal das Alleluja wiederholt, nunmehr von der Stimme geradewegs euphorisch vorgetragen. Trotz der aktuellen Erfahrung: Hoffnung ist möglich! – Das ist die Botschaft. Wiederum mitten im Krieg wurde die Sinfonie Nr. 5 (1943) des Briten Ralph Vaughan Williams als Inbegriff der Zuversicht empfunden: Dass trotz aller Zerstörung und allen Chaos’ schließlich und endlich eine friedliche Ordnung obsiegen werde. Ähnliches wird auch von der Aufführung der Sinfonie Nr. 5 (1944/45) von Sergej Prokofjew berichtet. Diese Sinfonie begriff der Komponist als ein Dokument des Sieges über die Kräfte des Bösen. Nach Jahren des Krieges und noch im Kriege selbst sollte diese Komposition Hoffnung auf Frieden vermitteln. Nicht erstaunlich, aber in der Rezeptionsgeschichte kaum beachtet ist die Tatsache, dass nicht nur die genannten Komponisten, sondern auch Arthur Honegger, Francis Poulenc, Harald Sæverud, Zoltán Kodály, Frank Martin, um nur die wichtigsten zu nennen, mit thematisch vergleichbaren Werken während des Zweiten Weltkriegs und oft unter extrem schwierigen Bedingungen, nämlich der Repression künstlerischer Arbeit in der Folge militärischer Niederlagen,

W IE DIE F RIEDENSPROBLEMATIK IN KL ASSISCHER M USIK INTONIERT WIRD

zum Zeitgeschehen Stellung bezogen: Das Schicksal ihrer von den Hitler-Truppen geknechteten Nationen beklagend, war ihre Werkaussage dennoch nicht ohne Friedenshoffnung. Dank-Kompositionen: Kam es zum Friedensschluss, so wurde dieser früher, vor allem wenn es sich um einen Sieg-Frieden handelte, mit Musik gefeiert. Das war die Stunde der Dankgesänge, der Anlass für Te Deum-Kompositionen: für Gotteslob zur Feier kriegerischer Erfolge. Besonders mit solchen Kompositionen prägte sich Georg Friedrich Händel in das Gedächtnis seiner Zeitgenossen und auch der Nachwelt ein, so vor allem mit seiner viel gespielten Feuerwerksmusik (1749), die im Anschluss an den Frieden von Aachen (1748) komponiert wurde. Marc-Antoine Charpentiers Te Deum (1692) war als jubilierende Reaktion auf einen französischen Sieg gedacht: »Joyeux et très guerrier« sollte es aufgeführt werden! Heute ist das orchestrale Vorspiel dieser Komposition der Auftakt zu jeder Eurovision-Sendung. Darin hat es seine Verewigung erfahren – ohne jegliche Erinnerung an kriegerische Siege, aber auch heute noch mit viel Pauken und Trompeten, den ›kriegerischen‹ Instrumenten von einst, gespielt. Anders als nach dem Dreißigjährigen Krieg waren nach der erneuten Weltkriegskatastrophe 1945 in den nachfolgenden Jahren »Jubel-Geschrey«-Kompositionen nicht mehr zu erwarten. Dennoch sind Musikwerke entstanden, in die in aller Regel rückblickend nicht nur die Kriegsleiden motivisch einflossen, sondern eben auch die nunmehr erneut mögliche Vision eines Friedens: Darius Milhauds Sinfonie Nr. 3 »Te Deum« (1946), Aaron Coplands Sinfonie Nr. 3 (1946), auch die ganz unter den Vorzeichen von Trauerarbeit sich vermittelnde Sinfonie Nr. 4 (1946) von Gian Francesco Malipiero wären hier beispielhaft zu nennen. Dmitrij Schostakowitsch entzog sich der Erwartung, das Ende des Krieges mit einer triumphalen Siegessinfonie zu krönen: Komik und Spott, Freude an der Parodie, Ausflüge ins Triviale prägen das Klangbild der Sinfonie Nr. 9 (1945) – zum Ärger der damaligen Kulturfunktionäre in Moskau. Klagemusik: Das 20. Jahrhundert kannte im Großen und Ganzen und von plakativer Auftragmusik abgesehen keine triumphierenden musikalischen Reaktionen mehr auf gewonnene Siege. Der Krieg erschien jetzt vielmehr als eine zivilisatorische, gesellschaftliche und menschliche Katastrophe. In den Kompositionen wurden Tod, Trauer und Klage thematisiert. Immer noch aktuell wirken hierbei auch Kompositionen aus dem 17. Jahrhundert, der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in denen einst den Leiden des furchtbaren, lang anhaltenden mörderischen Krieges Ausdruck verliehen wurde (»Friedens-Seufzer«). Protest, Trauer, Bewältigung von Schmerz, Verzweiflung, Wut: Das sind Stichworte, die sich im Hinblick auf das 20. Jahrhundert vor allem auf Karl Amadeus Hartmanns Kompositionen, die in diesem Zusammenhang an erster Stelle zu nennen sind, beziehen lassen. Einzelne Kompositionen dieses Komponisten zu nennen, wäre willkürlich, denn das gesamte Lebenswerk dieses

271

272

D IETER S ENGHAAS

Künstlers, an dessen 100. Geburtstag im Jahre 2005 erinnert wurde, richtete sich gegen Diktatur, Gewalt und Krieg; besonders eindrucksvoll: das Concerto funebre für Solo-Violine und Streichorchester (1939). Andere Komponisten haben Orte extremer Barbarei zum Ausgangspunkt ihrer Kompositionen gemacht: Guernica, Rotterdam, Lidice, Katyn, Auschwitz, Dresden, Hiroshima, aber auch Nanking, eine Stadt, in der japanische Truppen in einem Massaker 300.000 Chinesen dahinmordeten – eine bis vor Kurzem weithin verdrängte Untat, die erst neuerdings ihre Dokumentation (Iris Chang) und ihre kompositorische Bearbeitung (Bright Sheng) erfahren hat. Wenn in den 1950er-Jahren und danach die These formuliert wurde, der Zivilisationsbruch, wie er sich im 20. Jahrhundert in mehrfacher Hinsicht und an mehreren Orten ereignete, sei unverarbeitet geblieben und eine »Unfähigkeit zu trauern« sei zu diagnostizieren, so gilt diese Beobachtung für eine beachtliche Zahl von politisch sensiblen Komponisten keineswegs. Im Gegenteil: Große ausdrucksstarke, einem breiten Publikum bekannt gewordene Werke von Arnold Schönberg, Paul Hindemith, Benjamin Britten, Michael Tippett, Krzysztof Penderecki, Hans Werner Henze, Luigi Nono, Isang Yun, Klaus Huber und anderen dokumentieren Trauerarbeit, so wie die nach 1933 entstandenen Werke von Karl Amadeus Hartmann solche Trauerarbeit gewissermaßen schon antizipierten, was ihren unvergleichlichen Stellenwert in dieser Hinsicht ausmacht: nämlich eine Trauerarbeit nicht ex post, sondern ex ante! Anti-Kompositionen: Ein durch Gewalt, Unterdrückung, Not, Vorurteile, Feindbilder, Nationalismus und Rassismus geprägtes 20. Jahrhundert musste zwangsläufig Abwehr und Protest provozieren, an erster Stelle natürlich antimilitaristische Kompositionen. Dabei könnte gelten: Je subtiler die Darstellung, umso wirkungsvoller das entsprechende Werk. Beispielsweise in Gustav Mahlers Revelge, einem militärischen Weckruf (enthalten in Lieder nach Gedichten aus »Des Knaben Wunderhorn«, veröffentlicht 1899): Ein verwundeter, sterbender Soldat wird von seinen Kameraden liegengelassen, jedoch rührt er noch einmal die Trommel und schlägt mit anderen Gefallenen, einer Geisterarmee also, den Feind. Geisterhaft erreicht er wieder das Nachtquartier: »Des Morgens stehen da die Gebeine in Reih und Glied, sie steh’n wie Leichensteine, die Trommel steht voran, daß sie (das Schätzlein) ihn sehen kann«. Kurt Weill, Hanns Eisler, Paul Dessau und Stefan Wolpe wären in diesem Zusammenhang zu nennen. In ihren Kompositionen kommen legitimerweise agitatorische Impulse zum Tragen. Die entscheidende Frage dabei ist nicht: Agitation, ja oder nein, sondern ob es Künstlern gelingt, den agitatorischen Impuls ästhetisch überzeugend zu bearbeiten und zu vermitteln. Anti-Kompositionen sind politische Werke. Der Sachverhalt ist unleugbar und unüberhörbar im Hinblick auf zahlreiche Werke, die insbesondere in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts gegen Tyrannis, Militärdiktatur, Folter, Polizeiterror, Machtgier, Ausbeutung, Armut und Rassismus und explizit für

W IE DIE F RIEDENSPROBLEMATIK IN KL ASSISCHER M USIK INTONIERT WIRD

Widerstand, Revolution und Freiheit verfasst wurden. Widerständiges Gegenwartsbewusstsein zu provozieren ist ihre Absicht. Es sind abgründige Hörbilder, die sich in solcher Musik auftun, vergleichbar mit den konkret erfahrbaren Abgründen in einer widerwärtigen politischen Realität. Dass die Finsternis von der Herrlichkeit des Lichts künden möge (»per aspera ad astra«), ist eine Hoffnung, die angesichts einer solchen Weltlage viele Komponisten nachweisbar nicht mehr zu teilen vermögen. Und also erwachsen aus Anti-Kompositionen keineswegs notwendigerweise ausdifferenzierte Friedensvisionen; anders als im Motto Michael Tippetts, eines dem Pazifismus zutiefst verpflichteten Komponisten, unterstellt wird: »The darkness declares the glory of light«. Frieden: Die wirkliche, von Komponisten nicht allzu oft angenommene Herausforderung besteht folglich vor allem darin, trotz aller Widrigkeiten der Zeitläufe der eigenen Vorstellung von Frieden kompositorisch Ausdruck zu verleihen. Das geschieht, falls der Versuch unternommen wird, oft unter Zuhilfenahme von literarischen Zeugnissen, insbesondere von Bibeltexten und Gedichten; so beispielsweise bei Arnold Schönberg, der sich von einem Gedicht Conrad Ferdinand Meyers zu seiner Komposition für gemischten Chor a cappella Friede auf Erden (1911) inspirieren ließ. Das Gedicht geht zunächst von der biblischen Friedensverheißung aus; es fährt fort mit der Klage über deren Vergeblichkeit, um in die Hoffnung, ja die Forderung zu münden, diese Verheißung sei endlich zu erfüllen. Frieden ohne Worte, ohne Beschriftung der Musik: Das ist immer ein kompositorisches Wagnis. In der früher zitierten Komposition von Gustav Holst The Planets folgt auf Mars, der Überbringer des Krieges als zweiter Satz Venus, die Friedensbringerin: weit ausladend, äußerst feingliedrig orchestriert, auch mit viel Schönklang, in deutlichem Kontrast zum ersten, hämmernd-martialischen Satz. Das sich lyrisch vermittelnde, helle Klangbild inszeniert sich über Holzbläser, Hörner, Harfen, über Glockenspiel und die Solo-Violine; die marshaften, martialischen Instrumente des Kopfsatzes – Trompeten, Posaunen – sind in solchem friedlichen Ambiente abwesend, weil deplatziert. Venus vs. Mars: Das war nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der Musik ein beliebter Topos, neuerdings sogar im transatlantischen Konflikt zwischen den USA und ›Alt-Europa‹. Hirten- und Schäfermusik vermittelten einst in der Barockzeit einen Inbegriff von Friedlichkeit, so auch pastorale Musik, die die friedvolle Atmosphäre Arkadiens ausstrahlte. Neuerdings bewirkt minimalistische Musik den gleichen Effekt: Sie lässt Augenblicke der Beruhigung und Oasen der Stille entstehen und gleitet nicht selten, die Widerborstigkeit der Realität verleugnend, in ›Friedenskitsch‹ ab; ganz anders als Alban Berg in Hier ist Friede, dem fünften der Fünf Orchesterlieder nach Ansichtskarten-Texten von Peter Altenberg (1912), einer Liedkomposition für großes Orchester, jedoch von kammermusikalischer Durchhörbarkeit, in der die Suche nach Inseln des Friedens, hier als Naturfrie-

273

274

D IETER S ENGHAAS

den imaginiert, sich kundtut (»Siehe, hier sind keine Menschen, keine Ansiedlungen […] Hier ist Friede! Hier tropft Schnee leise in Wasserlachen«). Mit Musik Frieden stiften zu wollen kann aber auch auf ganz andere Weise inszeniert werden, beispielsweise wenn Komponisten bewusst unterschiedliche nationale Musikstile miteinander kombinieren, also in ihren Werken eine Art von interkulturellem Dialog pflegen, um darüber, wie Georg Muffat einst im Vorwort zu seiner Anthologie von gravitätischen Concerti im vermischten Stil (Florilegium, 1695) explizit darlegte, zum Frieden beizutragen. Béla Bartók hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als die Verbrüderung der Völker trotz allen Kriegs und Haders zu befördern: »Dieser Idee versuche ich – soweit es meine Kräfte gestatten – in meiner Musik zu dienen; deshalb entziehe ich mich keinem Einfluß, mag er auch slowakischer, rumänischer, arabischer oder sonst irgendeiner Quelle entstammen.« In seiner Tanzsuite (1923) finden sich solche Einflüsse unterschiedlicher kultureller beziehungsweise nationaler Stile, gerade auch der Volksmusik. Zeitgenössische Komponisten bemühen sich neuerdings in ihren Werken um einen subtilen ›interkulturellen Dialog‹, der sich in der innovativen Textur niederschlägt, so beispielsweise Klaus Huber in Lamentationes de fine vicesimi saeculi (1992/94). Im Hinblick auf die kompositorische Bearbeitung des Friedens war und ist der Beitrag geistlicher Musik von besonderer Bedeutung. Die römisch-katholische Messe, darin vor allem das Dona nobis pacem im Agnus Dei, wurde nicht selten nicht nur im Hinblick auf dessen liturgischen Stellenwert, sondern auch als friedenspolitisches Zeugnis wahrgenommen. Exzeptionell ist die Thematisierung von Frieden in Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe (1733-48), in deren Gloria der orchestrale und gesangliche Fluss der Lobpreisung Gottes durch eine nicht enden wollende Wiederholung des Et in terra pax regelrecht unterbrochen, ja aufgehalten wird. So als ob Bach gegen den Widerspruch der Hörer darauf insistieren wollte: »Ja, es gibt auch eine Ordnung des Friedens auf dieser Welt…« – allerdings »hominibus bonae voluntatis«: Friede den Menschen, die guten Willens sind. Und wirken solche Menschen als Friedensstifter, gilt ihnen, gerade auch in der geistlich motivierten Musik, die Seligpreisung: »Selig die Friedensstifter, denn sie werden Gottes Kinder heißen« (zum Beispiel Orlando di Lasso Beati pauperes. Beati pacifici, 1571; César Franck Les Béatitudes, 1879; Arvo Pärt The Beatitudes, 1990/91 u.a.). In Antonio Vivaldis Gloria (RV 588, nicht zu verwechseln mit dem beliebten und oft gehörten Gloria, RV 589) wird fünf Minuten lang hörbar, wie der Friede (et in terra pax) vom Himmel herabsteigt – ein weithin unbeachtet gebliebener, faszinierender locus classicus geistlicher Friedensmusik. Allerdings: Vivaldis Komposition (ca.  1715 entstanden) vermittelt sich als sinnfälliger Ausdruck eines ›verdankten Friedens‹: als hörbare Botschaft göttlichen Gnadenerweises (in h-Moll), gemäß der eigentlich korrekten Übersetzung: »Friede auf Erden den Menschen seiner Gnade«. Diese

W IE DIE F RIEDENSPROBLEMATIK IN KL ASSISCHER M USIK INTONIERT WIRD

Interpretation steht in deutlichem Kontrast zum Beginn des Gloria in Georg Muffats Missa in labore requies (ca. 1690): Auf unvergleichliche Weise überträgt sich in dieser Komposition die Jubilation des Beginns auf das Et in terra pax. Und wiederholt wird darin (was in anderen Messkompositionen in aller Regel nicht beobachtbar ist) das Gloria in excelsis Deo gleichzeitig erneut und mehrfach intoniert: Keine fallenden, schwermütig absinkenden Figuren à la Vivaldi bestimmen das Hörbild, sondern eine überschäumend freudvolle Atmosphäre, übrigens wie vom Pfingstgeist inspiriert und überwältigt (der Untertitel der Messe in labore requies zitiert die vierte Strophe der Pfingstsequenz Veni Sancte Spiritus)! Friede: Das verlangt letztendlich eine positive Botschaft, auch eine entsprechende Ästhetik. Im vergangenen 20. Jahrhundert stand für ein solches Verständnis fast einzigartig Olivier Messiaens Werk. »Die Freude«, so schrieb er einmal, »ist sehr viel schwieriger auszudrücken als der Schmerz. Wenn Sie die zeitgenössische Musik ansehen, kein Mensch drückt die Freude aus. Es sind schreckliche, traurige, leidensvolle, schwarze, graue, finstere Dinge, aber es gibt weder Freude noch Licht«. Messiaen wollte die düsteren Seiten des Lebens (les ténèbres), die er keineswegs leugnete, nicht einfach verdoppeln, also keine ›Finsternis-Musik‹ schreiben. Sein Ideal war ›Farben-Musik‹ (musique colorée), denn diese ruft im Selbstverständnis des Komponisten (und, wie er hofft, auch des Hörers) hervor, was sonnenbeschienene Glasfenster und Rosetten mittelalterlicher Kathedralen bewirken: Farben-Musik führt uns über den Farbklang zu einem Begreifen jenseits des einfachen Erfassens; sie führt uns zum Geblendet-Sein (éblouissement). Gegen den Geist und den Lärm der Zeit wollte Messiaen in anti-lyrischer Umwelt mit Klangfarben, Rhythmen und Lyrismen – mit ›Kirchenfenster-Musik‹ einschließlich vielfarbiger Vogelstimmen aus aller Welt – dokumentieren, dass sich die Schönheit der Schöpfung auch heute offenbart. In dieser Orientierung war sein Verständnis von Frieden, auch sein kompositorischer Beitrag zum Frieden begründet. Die bleibende Herausforderung: Somit lässt sich zusammenfassend festhalten: In den Tönen klassischer Musik findet sich die Friedensproblematik vielfältig, hier nur ausschnitthaft und illustrativ darstellbar, bearbeitet. Was Menschen zu verschiedener Zeit in dieser Hinsicht umgetrieben hat – Kriegsängste und die Sehnsucht nach Frieden sowie das gesamte Spektrum von historischen und lebensgeschichtlichen Erfahrungen – wird auch in und durch Kompositionen hörbar. Musikwerke dieses Genres haben eine Botschaft; heute mehr denn je eine Friedensbotschaft. Ob sich solche künstlerischen Erzeugnisse jeweils als Kunstwerke bewähren, unterliegt jedoch – darin ist Eduard Hanslick zuzustimmen – nicht einem politischen Urteil, sondern in erster Linie einer Beurteilung nach ästhetischen Kriterien.

275

Das musikalische Befehlssystem von Pfeife und Trommel in der Frühen Neuzeit Herrschaft in Form scheinbarer Selbstbestimmung Silke Wenzel

Musikalische Befehlssysteme sind vermutlich so alt wie das Kriegswesen selbst, und seit der schriftlichen Überlieferung wird das Ertönen von Musikinstrumenten im Krieg real wie metaphorisch in eins gesetzt mit Gewalt, Verwüstung und Zerstörung. So heißt es zum Beispiel in Publius Vergils Aeneis: Doch die grausame Göttin sah von ihrer Warte aus die Zeit zum Zuschlagen gekommen. Sie schwingt sich auf das hochragende Dach der Stallung, und vom First aus bläst sie das Hirtensignal und verstärkt ihre Tartarusstimme mit einem rückwärtsgebogenen Horn. […] Bei diesem Zeichen laufen, so weit der schreckliche Hornruf tönte, eilends die ungebändigten Bauern von überallher zusammen und packen hastig die Waffen. Nicht untätig sind auch Trojas junge Leute. Sie öffnen das Lager und bringen Ascanius Hilfe. Schlachtreihen stehen sich gegenüber. Es bleibt nicht bei einer ländlichen Prügelei mit harten Knüppeln und feuergehärteten Stangen, sondern mit doppelschneidiger Axt lassen sie es darauf ankommen. […] Die Göttin aber sieht […] vollauf ihr Versprechen eingelöst, da sie den Krieg in Blut getaucht und die Toten der ersten Schlacht niedergestreckt hat.1

Erst in der Frühen Neuzeit jedoch wurden die Aufgaben von Musikern im Söldnertum sowie das Signalwesen beschrieben, systematisiert und teilweise auch in Noten aufgezeichnet. Die Aufgaben der Trompeter schilderte zum Beispiel der Militärschriftsteller Johann Jacobi von Wallhausen 1616 in seiner Kriegskunst zu Pferdt wie folgt:

1 | Publius Vergilius Maro, Aeneis, VII, Verse 511ff., Prosaübertragung von Volker Ebersbach, Leipzig 1982, S. 166f.

278

S ILKE W ENZEL Der Trommeter der befehlet durch sein Clang der Trommeten/der gantzen Compagnie auffzuwachen/sich zum Auffzug fertig zu machen/außzuziehen/er befehlet durch sein Clang/gegen den Feindt zustreitten/er führet vnnd mahnet sie in eylender als langsamer Zeit/sich zum Streit gerüst vnd bereit zumachen: Er commandiret vnd befehlet Mann vnnd Roß mit aller Eyligkeit den Feindt anzugreiffen/oder dem Feindt zu widerstehen: Er commandiret durch sein Clang der Trommeten/vom Feindt abzulassen/oder abzuziehen: Er commandiret die zerstrewete Compagnie, sich widerumb zusamen zu lesen/ in vorige Orter zugeben: In summa an seinem Commandament, ist nicht ein weniges/ sonderen offt viel vnnd viel gelegen […]. 2

Noch bis zum Ersten Weltkrieg übernahmen derartige musikalische Befehlssysteme ein breites Spektrum an Funktionen, die allerdings weit über das unmittelbare Kommandieren hinausreichten, wie mittlerweile in der Musikwissenschaft mehrfach dargelegt wurde.3 Nur auf der kognitiven Ebene dienten musikalische Signale der Befehlsübermittlung und der Koordination militärischer Bewegung. Auf der psychischen Ebene sollten sie die aggressiven Affekte von Söldnern und Soldaten wecken beziehungsweise stärken und sie dazu bewegen, ihre persönlichen körperlichen und psychischen Grenzen zu überschreiten. Auf diese Weise konnten Signale auf einer dritten Ebene auch »Feinde« erschrecken und ihnen 2 | Johann Jacobi von Wallhausen, Kriegskunst zu Pferdt, Frankfurt a.M. 1616, Reprint Graz 1971, S. 56. 3 | Zum Befehlssystem von Pfeife und Trommel in der Frühen Neuzeit allgemein sowie zu deren Funktionen vgl. besonders: Erich Stockmann, Funktion und Bedeutung von Trommeln und Pfeifen im deutschen Bauernkrieg 1525/26, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 21 (1979), S. 105-124; Achim Hofer, Studien zur Geschichte des Militärmarsches (= Mainzer Studien zur Musikwissenschaft, 24), 2 Bde., Tutzing 1988; ders., Zur Erforschung und Spielpraxis von Märschen bis um 1750, in: Armin Griebel und Horst Steinmetz (Hg.), Militärmusik und ›zivile‹ Musik. Beziehungen und Einflüsse. Bericht über ein Symposion beim Tag der Musik am 14. Mai 1993 in Uffenheim, Uffenheim 1993, S. 41-54; Günter Mössmer, Funktion und Bedeutung des »Feldspils« der Landsknechte zur Zeit Maximilians I., in: Walter Salmen (Hg.), Musik und Tanz zur Zeit Kaiser Maximilian I. Bericht über die am 21. und 22. Oktober 1989 in Innsbruck abgehaltene Fachtagung, Innsbruck 1992, S. 47-58; Bernhard Höfele, Militärmusik, in: Ludwig Finscher (Hg.), ²MGG, Sachteil Bd. 6, Kassel u.a. 1997, Sp. 269-292; Hanns-Werner Heister, Zweckbestimmung von Musik, in: Herbert Bruhn und Helmut Rösing (Hg.), Musikwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek 1998, S. 208-220; Werner Friedrich Kümmel, »Das hertz ich weck der unsern und die feind erschreck«. Zur psychologischen Funktion militärischer Musik, in: Jutta Nowosadtko und Matthias Rogg (Hg.), »Mars und die Musen«. Das Wechselspiel von Militär, Krieg und Kunst in der Frühen Neuzeit, Berlin 2008, S. 303-321; Michael C. Schramm, Funktionsbestimmende Elemente der Militärmusik von der Frühen Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert, in: ebd., S. 247-259.

D AS MUSIKALISCHE B EFEHLSSYSTEM VON P FEIFE UND T ROMMEL IN DER F RÜHEN N EUZEIT

Angst einjagen. Parallel zum unmittelbaren Befehl sollten sie zudem von den Grausamkeiten der Kriegsrealität ästhetisierend ablenken und schließlich auch Kriegsherrn und Söldner beziehungsweise Soldaten unterhalten. So diente z.B. der musikalische Befehl »Marsch« sowohl der fortwährenden körperlichen Anweisung der Soldaten als auch der Unterhaltung während des Marschierens. Obwohl die Funktionen demnach weitaus umfassender waren als es der Begriff »Signal« zunächst suggeriert, wird in den wenigen vorhandenen systematischen Untersuchungen das Signalwesen meist als sprachliches System erfasst. Die Analysen beschränkten sich dabei auf eine festgelegte Zuordnung von bestimmten rhythmisch-melodischen Strukturen zu bestimmten verbalen Befehlen. Donald Preuss sah in seiner Dissertation von 1980 die »Vorzüge« akustischer Signale darin, dass das »komplizierte System der Sprache« zu gegebenem Anlass »durch ein einfaches, möglichst wenig oder gar nicht zusammengesetztes System von Zeichen mit überblickbarer Struktur«4 ersetzt werde. Aus dieser methodischen Festlegung auf Musiksignale als Ersatz für verbale Kommandos resultierte für Preuss folgerichtig, dass jedes »neu erfundene« Musiksignal solange unverständlich bleibe, bis dessen Bedeutung übermittelt sei. Signale müssten daher grundsätzlich festgelegt sein und »wie eine zusätzliche Sprache«5 gelernt werden. Dieser methodische Ansatz ging also davon aus, dass Signale stets eine fest umrissene, invariable rhythmisch-melodische Struktur haben und zudem der verbalen Sprache in zwei äußerst wesentlichen Punkten gleichzusetzen sind: Erstens entspräche jedes akustische Signal einem deutlich umrissenen und verbalisierbaren Denotat, also einem Befehl oder Kommando, zweitens erfolgte die Zuordnung des akustischen Zeichens zu seiner jeweiligen Bedeutung auf willkürliche Weise, das Zeichen wäre also per se arbiträr. Mit dieser Theorie lässt sich allerdings die enorme Funktionsbreite musikalischer Befehlssysteme kaum erklären. Um ihrer Funktionsweise näher zu kommen, ist es daher hilfreich, tiefer liegende Schichten ihrer Entstehung und Bedeutung frei zu legen und auf diese Weise danach zu fragen, wie Signale ihre Bedeutung erhalten haben und welche Wirkungen sich aus dieser Entstehungsweise ergeben. Im Folgenden soll daher das im Vergleich zu späteren Jahrhunderten relativ einfache Signalsystem der Fußsöldner am Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts näher betrachtet werden, das bekanntlich im Wesentlichen auf den Instrumenten Trommel und Pfeife basierte. Im Mittelpunkt der Überlegungen stehen dabei die Verbindungen von rhythmischen beziehungsweise melodischen Strukturen und realem Kriegsgeschehen. Das frühneuzeitliche Signalwesen der Fußsöldner basierte in der Regel auf vier verschiedenen Formen: Das erste Signal war das sogenannte »Umschlagen«, mit dem die Organisation innerhalb der Truppe geregelt wurde. Es diente dazu, 4 | Donald Preuss, Signalmusik, Diss. TU Berlin 1980, S. 22. 5 | Ebd., S. 18.

279

280

S ILKE W ENZEL

die Aufmerksamkeit der Söldner zu wecken, um anschließend Anweisungen auszurufen – ein Verfahren, das auch aus zivilen Kontexten dieser Zeit bekannt ist, so zum Beispiel beim Ausrufen offizieller Bekanntmachungen; das »Umschlagen« wird im Folgenden nicht näher betrachtet. Das zweite Signal wurde im französischen »à l’arme«, im deutschen »Lermen« genannt. Dieser Befehl – wörtlich übersetzt »zu den Waffen« – rief die Söldner dazu auf, sich in Bereitschaft zu halten und galt als Initialzündung kriegerischer Auseinandersetzungen: »Lerman, lerman! dran, dran, dran! In gottes namen greif wir an«6, so schrieb zum Beispiel Hans Sachs, und Sebastian Brant dichtete 1493 in einem Lied: »doch die Franzosen in der wal/hielten sich still, biß sie ducht zit [bis ihnen die Zeit gekommen schien],/brochen sie uf noch widerstrit/und stochen drin de rant, de rant,/a lerme a lerme, avant avant,/mit ungestu(e)m und großem schrei«7. In der Kriegsordnung new gemacht von 1525 wurde das Signal »Lermen« wie folgt beschrieben: Item der Oberst soll sich im Lerman/oder handlung/alwegen auff den platz darauff der Fendrich das Spiel/vnnd merertayl des volcks/in der Ordnung gewertig seindt/finden lassen.//Item der Fendrich/Trumenschlager v[nd] Pfeiffer/mit jm sollen sich ye zu(e) zeyten/auff den ho(e)chsten und eussersten wehren mit auffgerecktem Fendlin sehen/ vnd ho(e)ren lassen/vnnd sunst soll man alweg auff dem ho(e)chsten Thu(e)rn ein außgestossen Fendlein fliegen lassen. 8

Mit dem »Lermen« verbunden, und in vielen Quellen kaum von ihm zu unterscheiden, war das »Kriegs-« beziehungsweise »Feldgeschrey«, auch »Chamade« genannt, das der Begleitung von Kampfhandlungen diente. Mehrere ikonografische Quellen verweisen auf das Spiel von Pfeife und Trommel während einer Schlacht. So zeigt zum Beispiel eine Illustration in der Berner Chronik von Benedikt Tschachtlan (1470), die auf die Schlacht bei Buberg im Allgäu 1460 bezogen ist, Pfeife und Trommel gemeinsam mit der Fahne auf einem Hügel, an dessen Fuß gekämpft wird. Auch die Huldigungsbiografie Maximilians I. Weisskunig enthält eine vergleichbare Illustration, mit Musikern, die zur Schlacht »aufspielen«, und ein Holzschnitt auf einem Flugblatt von 1573 bildet

6 | Hans Sachs, Gedichte, zit. nach Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Nachdr. der Erstausgabe Leipzig 1885, Bd. 2, Stichwort »darandran«, Sp. 753. 7 | Sebastian Brant, Von der erlichen schlacht der Tütschen bi Salin, in: Rochus von Liliencron, Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert, Bde. I-IV sowie Nachtrag, enthaltend die Töne und das alphabetische Verzeichnis, Leipzig 1865-1869, Repr. Hildesheim 1966, Bd. 2, S. 311, Nr. 183, Verse 52-57. 8 | Anonymus, Kriegsordnung new gemacht o. O. u. J. [ca. 1525], o. S. (Kapitel Wie man die Wacht Besetzen soll), Stadt- und Universitätsbibliothek Johann Christian Senkkenberg Frankfurt a.M., Sammlung Gustav Freytag, Nr. 1417.

D AS MUSIKALISCHE B EFEHLSSYSTEM VON P FEIFE UND T ROMMEL IN DER F RÜHEN N EUZEIT

einen Pfeifer und einen Trommler ab, die während eines Kampfes die Söldner anfeuern.9

Abb. 1: Pfeifer und Trommler mit Fähnrich auf einem Hügel. Berner Chronik des Benedikt Tschachtlan (1470). Der vierte Befehl ist bis heute bekannt. Die »marche guerrière«, also ein militärischer Marsch, wies die Söldner bei nahezu jeglicher Art von Fortbewegung in Tempo und Gleichschritt an und begleitete die Truppenbewegungen. Das musikalische Befehlssystem in der ersten Hälfte der Frühen Neuzeit unterschied sich demnach – die Beschreibungen der vier Signale lassen es bereits vermuten – in einem wesentlichen Punkt von dem, was heute unter der Bezeichnung »Signal« verstanden wird: Die Musiker übermittelten nicht nur den Befehl, sondern sie begleiteten in der Regel auch dessen Ausführung. Das Signalwesen war also Anweisung zum Handeln und musikalische Begleitung des Handelns zugleich. Nur schwer ist ein Eindruck von den realen rhythmisch-melodischen Struk9 | Spielender Pfeifer mit Trommler und Fähnrich auf einem Hügel. Berner Chronik des Benedikt Tschachtlan (1470), in: Edmund A. Bowles, Musikleben im 15. Jahrhundert (= Musikgeschichte in Bildern, 3, 8), Leipzig 1977, S. 85, Abb. 70; Pfeifer und Trommler begleiten eine Schlacht von einem Hügel aus, in: Kaiser Maximilians I. Weisskunig, hg. von H. Th. Musper u.a., Stuttgart 1956, Bd. 2, Tafel 171; Anonymer Holzschnitt zu einem Flugblatt über die Belagerung von Middelburg durch niederländische Truppen 1573, in: Walter S. Strauss, The German Single-Leaf Woodcut 1550-1600, New York 1975, Bd. 3, Appendix B.

281

282

S ILKE W ENZEL

turen zu gewinnen, aus denen das Befehlssystem von Pfeife und Trommel um 1600 zusammengesetzt war. Erst 1636 stellte der Musiktheoretiker Marin Mersenne in seiner Harmonie Universelle eine Liste der gängigen Trommelsignale zusammen und zeichnete dabei auch die Signale »Lermen« und »Feldgeschrei« unter den Bezeichnungen »Lalarme« und »Chamade« auf.10

Abb. 2: Marin Mersenne: »Lalarme« (1636). Demnach bestand das Signal »Lalarme« aus vier verschiedenen rhythmischen Abschnitten mit einer Schlussformel.11 Die ersten drei Abschnitte nehmen jeweils die Dauer von acht Schlagzeiten ein: Einer Sechzehntelkette folgt als zweiter Abschnitt eine Achtelkette, die in einem dritten in einen punktierten Rhythmus übergeht. Im vierten Abschnitt wird der Trommelschlag sukzessive verdichtet und das klare Metrum der ersten drei Abschnitte durchbrochen: Die zu Beginn des Abschnitts noch von Vierteln und Achteln durchsetzten Sechzehntel- beziehungsweise Zweiunddreißigstelketten kulminieren gegen Ende des Signals in fortwährenden Zweiunddreißigstelschlägen; vier Viertel und eine punktierte Halbe beschließen das Signal. Bereits anhand dieser Struktur lässt sich ablesen, dass das »Lermen« wahrscheinlich nicht oder zumindest nicht nur kognitiv als Abfolge bestimmter rhythmischer Strukturen erfasst werden 10 | Marin Mersenne, Harmonie universelle. Contenant la théorie et la pratique de la musique, Traité des Instrumens, Livre septiesme. Des instrumens de percussion, Paris 1636, Repr. Paris 1965, Bd. 3, handschriftliche Einlage zwischen den Seiten 56 und 57. 11 | In den Trompetensignalen nannte man solche einzelnen Abschnitte »Posten«.

D AS MUSIKALISCHE B EFEHLSSYSTEM VON P FEIFE UND T ROMMEL IN DER F RÜHEN N EUZEIT

sollte, sondern vor allem eine affektive Steigerung in sich trug, die in der Abfolge der einzelnen Teile unmittelbar sinnfällig wird. Ähnlich strukturiert war das Signal »Feldgeschrei« beziehungsweise »Chamade«. Auch hier werden mehrere rhythmisch definierte Abschnitte aneinandergereiht, beginnend mit einer Sechzehntelkette, die in eine Zweiunddreißigstelkette übergeht. Der mittlere Part wird von gleichmäßigen Achteln dominiert, gefolgt von einer sukzessiven Steigerung, die in fortwährenden Sechzehntelschlägen kulminiert. Anders als »Lalarme« enthält das Signal »Chamade« demnach keine gezielte affektive Steigerung, sondern beginnt bereits mit einem hohen Maß an Bewegung.

Abb. 3: Marin Mersenne: »Chamade« (1636). Nur ansatzweise ist ein Eindruck von der Pfeifenstimme der Signale zu erhalten. Martin Staehelin wies 1976 darauf hin, dass das »Feldgeschrei«, wie nahezu alle militärische Musik des 16. Jahrhunderts, zum Usus gehörte und daher nicht aufgezeichnet wurde.12 Allerdings war das improvisatorische Idiom der beiden Instrumente Trommel und Pfeife derart spezifisch und charakteristisch strukturiert, dass Komponisten es in Werken nachahmten und auf diese Weise überlieferten. Zur Rekonstruktion verwies Martin Staehelin auf zwei handschriftliche Lautentabulaturen, in denen das Feldgeschrei imitiert wurde. Dabei handelt es sich um eine Lautentabulatur bayerischen Ursprungs von ca. 1560, die in Samedan aufbewahrt wird und in der die Stücke »ein feldtgeschray«, »ein guotts feldtgeschray schweitzerisch« und »lerman, lerman« enthalten sind,13 sowie um eine Berliner Lautentabu12 | Vgl. Martin Staehelin, Notierte Militärmusik des 16. Jahrhunderts. Unbekannte Quellenzeugnisse, in: Neue Zürcher Zeitung, 30. Juli 1976, S. 28. Siehe auch ders., Neue Quellen zur mehrstimmigen Musik des 15. und 16. Jahrhunderts in der Schweiz, in: Schweizer Beiträge zur Musikwissenschaft 3 (1978), S. 57-83, S. 81f. 13 | Lautentabulatur von Johannes von Salis, um 1560. Biblioteca Fundaziun Planta, Samedan (Staatsarchiv und Kantonsbibliothek Graubünden), Ms. M 2. Eine TeilTranskription von »Ein guotts feldtgeschray Schweitzerisch« (Takte 1-23) hatte Martin Staehelin bereits 1976 veröffentlicht (vgl. ders.: Notierte Militärmusik des 16. Jahrhunderts, S. 28).

283

284

S ILKE W ENZEL

latur, in die ein »feldgeschrey« eingetragen ist.14 Die drei Stücke aus der Samedaner Handschrift imitieren dabei eindeutig Pfeife und Trommel, während das »Feldgeschrey« der Berliner Handschrift die Dreiklangsgebundenheit von Trompeten und Pauken aufweist und daher an dieser Stelle nicht näher betrachtet wird.

Abb. 4: »ayn feldtgeschray«, »Ein guotts feldtgeschray schweitzerisch« und »lerman lerman«. Lautentabulatur von Johannes von Salis-Samedan um 1560. Biblioteca Fundaziun Planta, Samedan (Staatsarchiv und Kantonsbibliothek Graubünden), Ms. M 2. 14 | Lautentabulatur Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin Mus-ms. 40588.

D AS MUSIKALISCHE B EFEHLSSYSTEM VON P FEIFE UND T ROMMEL IN DER F RÜHEN N EUZEIT

Die Signale »Lermen« und »Kriegsgeschrey« basierten demnach in der Pfeifenstimme auf flötentypischen Figuren, die ein hohes Maß an improvisatorischen Elementen enthielten. Auffallend ist die affektive Steigerung der Trommel zu Beginn der beiden Beispiele eines »Feldgeschreis«, die hierin den Aufzeichnungen Marin Mersennes entspricht. Mit dem Einsatz der Pfeife geht die Trommel in einen gleichmäßigen Schlag über, und die Pfeife tritt in den Vordergrund. In authentisch lydischem, nach c transponiertem Modus, bleiben die drei Lauten1 2 stücke im wesentlichen auf den Ambitus c bis c beschränkt, der nur an wenigen Stellen um einen Ton unter- bzw. überschritten wird. »Ayn Feldtgeschray« und »Ein guotts feldtgeschray Schweitzerisch« beginnen auf der Quinte, das »Lerman Lerman« auf der Terz. Mehrfach wird die zum Tritonus erhöhte lydische Quarte als Leitton zur Quinte verwendet und in der Abwärtsbewegung aufgelöst. Mit ihren ein- bis zweitaktigen Phrasen, sequenzierenden Abschnitten und auf- und absteigenden Läufen wirkt die Melodie äußerst kleinteilig. Häufig kreist sie um engschrittige Floskeln, die überwiegend aus wenigen Tönen in einem Quart- bzw. Quintraum bestehen und stetig variiert werden. Bereits anhand dieser beiden Signale wird deutlich, dass die melodisch-rhythmische Struktur wesentlich komplexer war, als dass sie als schlichte Übertragung eines verbalen Befehls hätte fungieren können. Erste Aufzeichnungen zum vierten Befehl, dem Marsch, liegen bereits aus dem 16. Jahrhundert vor. Ein Domherr aus Langres, Thoinot Arbeau, überlieferte in seinem Tanzbuch Orchésographie15 1589 eine Art musikalischer Kriegsund Bewegungslehre und zeichnete in diesem Zusammenhang auch mehrere Marschrhythmen für die Trommel sowie eine Marschmelodie für die Pfeife auf. Anhand seiner erläuternden Angaben lässt sich nachvollziehen, dass schon zu dieser Zeit die Struktur musikalischer Befehle derart geplant wurde, dass sie die Fortbewegung der Söldner ordnen konnte: Or pourroient les gens de guerres marcher confuséme(-)t & sans ordre cause qu’ils seroient en peril d’estre re(-)uersés & deffaicts, pourquoy nosdicts françois, ont aduisé de faire marcher les rencs & iougs des escouades auec certaines mesures. […] C’est pourquoy, en la marche de la guerre, le françois à faict seruir le tambour pour tenir la mesure, suyuant laquelle les soldats doibuent marcher […].16 15 | Thoinot Arbeau, Orchésographie. Et traicte en forme de dialogue, par lequel toutes personnes peuvent facilement apprendre & pratiquer l’honneste exercice des dances, Langres 1589, Repr. Langres 1988. 16 | »Wenn die Kriegsleute konfus und ohne Ordnung marschieren, so sind sie in Gefahr umgestoßen und umgeworfen zu werden, weshalb unsere Franzosen auf den Gedanken gekommen sind, die Ränge und Reihen der Truppen in einem bestimmten Takt marschieren zu lassen. […] Darum bedienen sich die Franzosen auf dem Kriegsmarsch der Trommel, um den Takt zu halten, nach dem die Soldaten marschieren sollen […].«

285

286

S ILKE W ENZEL

Detailliert beschrieb Arbeau im Weiteren die Korrespondenzen zwischen den Bewegungen der Söldner und den Trommelrhythmen. Dabei differenzierte er zwischen einem französischen und einem Schweizer Trommelrhythmus. Ferner unterteilte er zwischen »mesures binaires« und »mesures ternaires«, zwischen Zweier- und Dreiermetren, und gab darüber hinaus noch Anweisungen für das »korrekte« Spiel. Demnach bestand der Marschrhythmus der Franzosen im Zweiermetrum aus acht Zählzeiten, fünf gleichmäßigen Schlägen und drei Pausen. Die ersten vier Schläge wurden mit je einem Stock geschlagen, der fünfte mit beiden gemeinsam. Als so genannter »Fünfschlag« durchzieht dieser Rhythmus, auch über Thoinot Arbeau hinaus, die frühneuzeitlichen Quellen.17

Abb. 5: Thoinot Arbeau: Marschrhythmus der Franzosen, mesure binaire (1589), aus Orchésographie, fol. 8r. Während dieser fünf Schläge und drei Pausen mache der Söldner – so Thoinot Arbeau weiter – »une passé«18. Ebenso penibel wie in seinen Tanzbeschreibungen, ordnete er auch hier im weiteren Musik und Bewegung: […] il [le soldat] passe & extend ses deux iambes tellement que sur la premiere notte, il pose & assiet son pied gaulche, & durant les trois aultres nottes, il leue le pied droict, pour le poser & asseoir sur la cinquieme notte, & durant les trois souspirs qui equipolent a trois nottes, il releue son pied gaulche pour recommancer vne aultre passée comme auparauant.19

Auf die ersten vier Schläge erfolgte demnach ein Schritt mit links, auf den fünften und die Pausen ein Schritt mit rechts. Der Trommelrhythmus der »marche Arbeau, Orchésographie, fol. 7v/8r (Übersetzung aller Zitate aus Arbeaus Orchésographie von der Autorin). 17 | Achim Hofer hat die Quellen zum sog. »Fünfschlag« zusammengestellt. Vgl. ders., Studien, Bd. 1, S. 58-90. 18 | Als »passé« bezeichnete Arbeau eine Schrittkombination, die aus mehreren einzelnen Schritten zusammengesetzt war. 19 | »[…] er [der Soldat] passiert und streckt seine beiden Beine derart, dass er auf die erste Note seinen linken Fuß niedersetzt und belastet, und während der drei anderen Noten hebt er den rechten Fuß um ihn auf der fünften Note niederzusetzen und zu belasten, und während der drei Pausen, die drei Noten entsprechen, hebt er seinen linken Fuß, um eine weitere Schrittfolge zu beginnen, wie zuvor.« Arbeau, Orchésographie, fol. 8r.

D AS MUSIKALISCHE B EFEHLSSYSTEM VON P FEIFE UND T ROMMEL IN DER F RÜHEN N EUZEIT

guerrière« wurde demnach so strukturiert, dass er den Gleichschritt herausforderte. Dazu dienten die Pausen zwischen den Schlägen. Ohne die Pausen, so Arbeau, würde der Marsch der Soldaten durcheinander geraten. Die militärische Notwendigkeit eines Gleichschritts bedinge die musikalisch-rhythmische Form: Si le tambour n’usoit point de souspirs, les marches des soldats pourroient tumber en confusion, car […] l’assiette du pied gauche doibt estre sur la premiere note & lassiete du pied droit sur la cinquieme, & si les huict nottes estaient toutes touchees, vn soldat pourroit faire les assiettes de ses pieds sur aultres nottes que sur la premiere & cinquieme. 20

Die musikalische Struktur des frühneuzeitlichen Trommelrhythmus zur »marche guerrière« war demnach unmittelbar aus der Kriegsfunktion abgeleitet und zunächst an sie gebunden. Dies geht besonders deutlich aus jener Stelle hervor, an der Thoinot Arbeau die Verdichtung von Musik- und Bewegungsform der »marche guerrière« für die Vorbereitung zum Kampf notierte. Die musikalische Struktur wie auch den Gleichschritt begründete er dabei ein weiteres Mal mit militärischen Notwendigkeiten: Quant les guerriers approchent l’ennemy, ils se serrent plus estroictement, & doibuent bien obseruer leurs màrches […] en asseant le gaulche sur la premiere notte. […] si aulcungs commenceoient par le droict & finissoient par le gauche, ils se hurteroient les espaules lors qu’ils sont serrez, & s’empescheroient, par ce que nous gettons l’espaule du cousté de l’assiette du pied. Si donc vn soldat commenceoit du pied gauche, son espaule yroit a gauche, & lespaule de celuy qui commenceroit du pied droit iroit a droit, & se viendroit à heurter. […]. C’est pourquoy le tambour faict aucunesfois vne continuation de plusieurs battements ioincts ensemble, affin que s’il y a de la confusion par transmutation de marches, les soldats la puissent reparer, & qu’ils se remettent tous 20 | »Wenn sich die Krieger dem Feind nähern, schließen sie sich dichter zusammen und müssen gut ihre Schritte beobachten […], immer den Linken auf die erste Note setzen. […] wenn einige mit dem Rechten beginnen und mit dem Linken enden, stoßen sie mit den Schultern zusammen, wenn sie dichter aneinander sind und behindern sich gegenseitig, da wir jene Schulter nach vorne ziehen, die auf der Seite des Schrittes ist. Wenn also ein Soldat mit dem linken Fuß beginnt, geht seine Schulter nach links, und die Schulter desjenigen, der mit dem rechten Fuß beginnt, geht nach rechts, und sie werden aneinander stoßen. Darum macht der Trommler niemals eine ununterbrochene Folge mehrerer Schläge, damit, wenn Unordnung beim Marschieren entsteht, die Soldaten sich wieder einfügen können, und damit sie sich ganz bequem wieder mit links einordnen können, nachdem sie die Ruhe […] der drei Pausen gehört haben. Und das dient hervorragend dazu, voran zu kommen.« Ebd., fol. 16r/16v.

287

288

S ILKE W ENZEL aisément sur lassiette gauche, aprés qu’ils ont ouy le repos […] de trois souspirs: Et cela sert grandement à faire les euolutions. 21

Trommler sollten sich demnach strikt an die Abfolge von Schlägen und Pausen halten, damit die Söldner jederzeit zurück in den Gleichschritt finden konnten. Das bedeutet, dass die Bewegungen, mit denen die Söldner dem Schlag der Trommel gehorchten, ebenso geplant und geübt waren, wie das Signal selbst wiederum in seiner rhythmischen Struktur bewusst die Bewegungen hervorrief. Die Konvergenz von rhythmischer Abfolge und militärischer Bewegung war demnach in der »marche guerrière« rational durchdrungen. Um den Trommelrhythmus des musikalischen Befehls »plus aggréables«, also »angenehmer«, zu machen, zeigte Thoinot Arbeau anschließend verschiedene Möglichkeiten auf, den Grundrhythmus zu variieren. Dabei hielt er sich an die gängigen Variationsmuster der Musizier- und Tanzpraxis seiner Zeit. Mit großer Akribie notierte er seitenweise systematisch gegliederte Listen, in denen er die Möglichkeiten durchspielte, den Fünfschlag zu diminuieren.22 Unter den gegebenen Möglichkeiten wähle der Trommler jene aus, »qui luy sembleront estre plus aggreables & mieulx sonnantes aux aureilles«23 . Allerdings dürfe dies die militärische Funktion des Marsches nicht stören: Es sei wichtig, so schrieb Arbeau explizit, dass die fünfte Note immer eine Minima bleibe.24 Man könne jedoch auch den französischen Rhythmus in ein Dreiermetrum verwandeln, 21 | »Wenn sich die Krieger dem Feind nähern, schließen sie sich dichter zusammen und müssen gut ihre Schritte beobachten […], immer den Linken auf die erste Note setzen. […] wenn einige mit dem Rechten beginnen und mit dem Linken enden, stoßen sie mit den Schultern zusammen, wenn sie dichter aneinander sind und behindern sich gegenseitig, da wir jene Schulter nach vorne ziehen, die auf der Seite des Schrittes ist. Wenn also ein Soldat mit dem linken Fuß beginnt, geht seine Schulter nach links, und die Schulter desjenigen, der mit dem rechten Fuß beginnt, geht nach rechts, und sie werden aneinander stoßen. Darum macht der Trommler niemals eine ununterbrochene Folge mehrerer Schläge, damit, wenn Unordnung beim Marschieren entsteht, die Soldaten sich wieder einfügen können, und damit sie sich ganz bequem wieder mit links einordnen können, nachdem sie die Ruhe […] der drei Pausen gehört haben. Und das dient hervorragend dazu, voran zu kommen.« Ebd., fol. 16r/16v. 22 | Ebd., fol. 10-15. 23 | »[…] die ihm am angenehmsten und am wohlklingendsten für die Ohren scheine«. Ebd., fol. 15r. 24 | Vgl. ebd., fol. 9r. Der von Arbeau ausführlich beschriebene Fünfschlag findet sich auch unter der Überschrift »La marche« in Marin Mersennes Harmonie universelle von 1636. Dabei sind auch in Mersennes Notat die ersten vier Schläge des Fünfschlags nach Belieben zu variieren, während der zweite Taktteil mit den Pausen – mit einer Ausnahme – unveränderlich bleibt. Siehe Marin Mersenne, L’Entrée dita Marche simple und

D AS MUSIKALISCHE B EFEHLSSYSTEM VON P FEIFE UND T ROMMEL IN DER F RÜHEN N EUZEIT

indem die Pause auf einen Schlag verkürzt und die Betonung verändert werde. Auch dies war demnach eine Möglichkeit, den militärischen Befehl »plus agréable« zu gestalten.

Abb. 6: Thoinot Arbeau: Marschrhythmus der Franzosen, mesure ternaire (1589), aus Orchésographie, fol. 16r. Aus der unmittelbaren militärischen Funktion heraus entwickelte sich der Marsch bekanntlich zu einer in sich geschlossenen kleinen Form, die zwar auch außerhalb des Kriegswesens Bestand hatte und hat, die jedoch bis heute an eine militärische Befehlsgebung gebunden bleibt. Die Ablösung vom ausschließlich funktionellen Rahmen fand bereits innerhalb dieser Funktion statt. Hierfür waren vermutlich mehrere Bedingungen eines Marsches wesentlich, darunter die lange Dauer der Tätigkeit, die äußerst geringe Aufmerksamkeit, die das Marschieren erforderte, und die Tatsache, dass dabei nur selten unmittelbare Gefahren zu erwarten waren. Durch die lang währende Bewegung war ausreichend Zeit gegeben, über den von der Trommel vorgegebenen Marschrhythmus zu improvisieren beziehungsweise überhaupt den musikalischen Befehl mit weiteren Elementen zu füllen, die als Unterhaltung die eintönige Tätigkeit ästhetisierten. Hierbei wurde, wie schon im »Kriegsgeschrei« und dem »Lermen«, dem Trommelschlag das Spiel der Pfeife zur Seite gestellt. Die Quellen hierfür sind zwar rar, dennoch lässt sich auch hier anhand von Kompositionen, die den Marsch der Söldner nachahmten, ein Profil des Klangbildes erstellen. Der Rückgriff auf solche Kompositionen für die Darstellung des Idioms lässt sich bereits mithilfe von Arbeau rechtfertigen. Denn schon ihm, dem es ernsthaft um eine realitätsnahe musikalische Kriegslehre ging, lagen keine Originalaufzeichnungen vor. Da Arbeau dennoch einen Eindruck von der Musik der Pfeife vermitteln wollte, griff er auf eine der nachahmenden Kompositionen zurück, in diesem Fall für ein Spinett, bei der die rechte Hand die Pfeifenstimme, die linke Hand akkordisch die Trommel imitierte.25 Um seinem Schüler musikalisch einen Eindruck von einer »marche guerrière« zu vermitteln, übertrug Arbeau die Komposition zurück auf die Pfeife beziehungsweise das Arigot26 und schrieb ihr damit eine gewisse Authentizität zu. Zugleich betonte er, dass das Spiel der Pfeife in der Regel vom Spieler improvisiert werde – »la musique

La Marche, in: Harmonie universelle, Livre Septiesme, handschriftliche Einlage zwischen den Seiten 56 und 57. 25 | Arbeau, Orchésographie, fol. 18r. 26 | Das Arigot war eine sechslöchrige Schnabelflöte.

289

290

S ILKE W ENZEL

du fifre ou arigot se compose au plaisir du ioueur«27 – und es dabei wichtig sei, dass der Pfeifer die musikalischen Schwerpunkte denen der Trommel angleiche. Die militärisch-funktionelle Seite sollte also auch in der Pfeifenstimme gewahrt bleiben.

Abb. 7: Thoinot Arbeau: [Marche guerrière]. Tabulature du Fifre, ou Arigot du troisiesme ton (1589), T. 1-14, aus Orchésographie, fol. 18v-19r.

Die Pfeifenstimme war in ihrer musikalischen Struktur demnach überaus kleinteilig und bestand im Wesentlichen aus häufigen, variierten Wiederholungen von Motiven, Figuren und Phrasen. Zudem konnte sie, Arbeau zufolge, beliebig variiert und ausgedehnt werden: »Vous pourrés ampliffier ceste musique, à vostre plaisir & phantasie«28, ließ er seinen fiktiven Schüler Capriol wissen. Dennoch sollte auch die Pfeifenstimme zunächst strikt den Rhythmus des Fünfschlags übernehmen, um den Söldnern den Marschrhythmus vorzugeben, wie dies an den Takten 1, 3 bis 7 und 10 bis 13 zu erkennen ist.29 Ferner wurde die Pfeifenstimme durch Pausen beziehungsweise ganztaktige Noten gegliedert, in denen der Trommelschlag alleine erklang, um den Gleichschritt der Söldner wieder herzustellen. Sowohl die Struktur der Trommelstimme als auch jene des Melodieinstrumentes wurde demnach der kriegerischen Funktion angeglichen und untergeordnet. Dennoch kaschierte die Pfeifenstimme mit ihrer engschrittigen, fließenden Skalenmelodik und dem improvisatorischen Fortspinnen einzelner Elemente die manipulativen Bewegungsvorgaben des musi27 | »[…] die Musik der Pfeife oder des Arigot wird nach Belieben des Spielers zusammengesetzt«. Arbeau, Orchésographie, fol. 18r. 28 | Vgl. ebd., fol. 20r. 29 | Und auch im Weiteren T. 18-28, 31, 33, 48f., 54-58, 67, 73f., 76-78.

D AS MUSIKALISCHE B EFEHLSSYSTEM VON P FEIFE UND T ROMMEL IN DER F RÜHEN N EUZEIT

kalischen Befehls »Marsch«. So erstaunt es kaum, dass Arbeau für die Marschmelodie auch eine Realisierung im vom Marschidiom vergleichsweise weit entfernten Dreiertakt aufzeichnete.30 Wie vermutlich bei kaum einem anderen Signal waren im Marsch die Funktionen Befehl und Ästhetisierung ineinander aufgegangen. Eben jener Anschein eines Nicht-Befehls war es schließlich, der die Militärstrategen auf den Plan rief. 1622 schrieb Francis Markham in Five Decades and Epistles of Warre: […] yet it is to be understood, that the Phiph is but onely an instrument of pleasure, not of necessitie, and it is to the voice of the Drum the Souldier shoud wholly attend, and not to the aire of the whistle, for the one (which is the Drumme) speakes plaincly and distinctly, the other speakes loud and shrill, but yet curiously and confusedly. 31

Das seltsame und verworrene, zudem erfreuende (»instrument of pleasure«) Spiel der Flöte widersprach also Francis Markham zufolge der musikalischen Funktion, militärische Ordnung herzustellen. Die überlieferten Notenaufzeichnungen zu »Lermen«, »Kriegsgeschrei« und »Marsch« machen deutlich, dass das Signalwesen um 1600 mitnichten auf einer einfachen Übertragung zwischen verbalem und musikalischem Befehl basierte. Vielmehr waren die Signale strukturell derart variabel angelegt, dass sie jederzeit von den Musikern auf eine militärische Situation hin zugeschnitten werden konnten, sei es zum Zweck der affektiven Steigerung, sei es als »befehlende Unterhaltungsmusik« während eines Marsches. Noch präziser lassen sich Gehalt und Wirkung musikalischer Befehle fassen, wenn neben den wenigen Notenaufzeichnungen auch ihre Beschreibung in musiktheoretischen und kriegswissenschaftlichen Lehrbüchern mit berücksichtigt wird. Anhand dieser Quellen lässt sich belegen, dass das musikalische Befehlssystem zu weiten Teilen auf Nachahmung des Kriegsgeschehens basierte und auf diese Weise eine Scheinkommunikation zwischen Befehlenden und Söldnern herstellte, mit der der Eindruck erweckt werden konnte, der Söldner habe sich den Befehl selbst gegeben. Im Folgenden soll dies anhand des »Lermens« ausgeführt werden, dessen Entstehung und Bedeutung in zeitgenös

30 | Dieses Prinzip ist im 16. Jahrhundert überaus beliebt, so z.B. in der Kombination der Tänze Pavane und Gaillarde. 31 | »Dabei ist zu beachten, daß die Pfeife nur ein Instrument des Vergnügens ist, nicht der [militärischen] Notwendigkeit, und es ist die Stimme der Trommel, auf die der Soldat vollständig zu achten hat und nicht auf die Melodie der Pfeife, denn das eine (das die Trommel ist) spricht klar und deutlich, das andere spricht laut und schrill, aber dabei unklar und konfus.« Francis Markham, Five Decades and Epistles of Warre, 1622, zit. nach Hofer, Studien, Bd. 1, S. 63.

291

292

S ILKE W ENZEL

sischen Schriften in unmittelbare Verbindung mit der Kriegsrealität gebracht wurde. So wies zum Beispiel Thoinot Arbeau darauf hin, dass der Trommler auf seinem Instrument den Kriegslärm reproduzieren solle: »le tambour vse d’vne continuation de battemēts plus legiers & concitez par minimes noires, y entremestant des coups de battons, frappez rudement, lesquelz font vn son cōme si cestoient coups d’arquebuzes«32 . Nicht anders beschrieb Marin Mersenne die Bedeutung der Trommelschläge und betonte zudem, dass sie in einer Weise ausgeführt würden, durch die der Hörer die Schläge kognitiv nicht nachvollziehen könne. Eben diese Unmöglichkeit, das Geschehen rational zu fassen, benannte er als eines der wesentlichen Charakteristika des »Lermens«: […] il faut premierement remarquer que quelques-vns battent le Tambour si viste, que l’esprit, ou l’imagination ne peut comprendre la multitude des coups qui tombent sur la peau comme vne gresle tres-impestueuse, parmy laquelle les Tambours qui battent la quaisse en perfection frappent quelque-fois auec tant de violence, que son bruit imite celuy des mousquets, ou des canons, & que l’on admire comment vn simple parchemin peut endurer de si grands coups sans se creuer. 33

Im musikalischen Befehl »Lermen« sollte demnach der Reallärm, der durch Waffen entstand, auf der Trommel reproduziert werden, sodass das Signal aus den Kriegshandlungen selbst abgeleitet werden konnte. Jene Trommler, die das Instrument perfekt spielten, imitierten damit den Lärm der Musketen und Kanonen. Der Gehalt des Signals war für die Zeitgenossen sehr konkret und dem realen Kriegslärm in seiner Bedeutung äquivalent. Diese Bedeutungsäquivalenz war sichtlich so beeindruckend, dass sie schließlich auch in der Sprache manifest wurde: Trompetensignale wurden von Beginn ihrer Aufzeichnung an als »Feldstücke« bezeichnet und damit mit dem gleichen Begriff belegt wie die Kanonen der Artillerie. In den militärhistorischen Schriften der Frühen Neuzeit bezeichnete das Wort »Lermen« zudem nicht nur das musikalische Signal, sondern jede Form eines nachahmenden »Als ob geschossen würde«. Hierzu dienten nun nicht mehr nur Musikinstrumente, sondern alle Arten von Gegen32 | »Der Trommler nutzt eine Folge leichter und knapper Schläge in Vierteln, dazwischen eingestreut hart geschlagene Schläge, die einen Ton machen, als wären sie Schläge von Gewehren«. Arbeau, Orchésographie, fol. 16v/17r. 33 | »[…] als erstes muss bemerkt werden, dass Einige die Trommel so schnell schlagen, dass der Geist bzw. die Vorstellung die Vielzahl der Schläge nicht verstehen kann, die auf das Fell fallen wie ein Hagelschlag, unter denjenigen Trommlern, die die Trommel perfekt spielen, schlagen einige mit einer solchen Gewalt, dass ihr Lärm den der Musketen imitiert, oder der Kanonen, und man bewundert wie ein einfaches Pergament so lange derart große Schläge aushalten kann, ohne zu zerreißen.« Mersenne, Harmonie Universelle, Livre Septiesme, S. 56.

D AS MUSIKALISCHE B EFEHLSSYSTEM VON P FEIFE UND T ROMMEL IN DER F RÜHEN N EUZEIT

ständen, die in der Lage waren, den Kriegslärm zu imitieren. So empfahl zum Beispiel Marin Mersenne: L’on peut encore rapporter à cette sorte d’instrument tout ce qui fait des bruits semblables, comme ceux du mousquet, du canon, & ceux que font les portes des Eglises, & des autres lieux, dont le retentissement imite de si prés le bruit des arquebuses, qu’il n’est pas quasi possible de les discerner. 34

Wichtig war also, mit dem akustischen Zeichen möglichst nahe an die Wirklichkeit heranzukommen, sodass Realität und ihre Nachahmung nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren. Zudem gab es Formen des »Lermens«, die über eine rein akustische Imitation hinausgingen und alle Wahrnehmungsparameter des Geschützfeuers – einschließlich der Lichtblitze – nachahmten. In ihnen tritt die Bedeutung von »Lermen« als Imitation von Waffen besonders deutlich hervor. In seinem Lehrbuch Militaris Disciplina schrieb zum Beispiel Hans Wilhelm Kirchhof, ein hessischer Gutsverwalter, 1602: Denen in der Festung aber kan man ein Lerman machen: So bey der Nacht eine starcke Leine oder Seyl/daran viel brennende Lunten hangen/eine kurtz/die ander lang/ dann wider kurtzer und länger/&c. auch bißweilen von starckem Papier/ein Schlag von Pulver/von der nechsten Lunden angezündet/ein Knall thue/an etwa einen Baum oder Pfal/da es für das bequemlichste geachtet/mit dem einen Endt wirdt gebunden. Das ander Endt aber hält ein Mann in der Handt/der sich in einen Vortheil/beym Tag außgezielt/setzet/das Seyl immer an sich zeucht und fallen läst/stättig eines umbs ander: Schlenckern und fahren als dann die Lunden hin und her/daß die in der Festung/oder wer es von ferrnem sihet/meynen/es seyen Schützen/die immer f ˚urter und näher kommen. Diß erweckt nicht geringen Lerman/und verursacht sie auff die Wehren sich zu begeben/deß Streychs zu warten. 35

Strategisch war die Reproduktion des Kriegslärmes dabei nicht nur für die eigenen Söldner relevant, sondern auch im Hinblick auf den jeweiligen Gegner.

34 | »Man kann auf diese Art von Instrumenten alles beziehen, was Lärm macht, der dem von Musketen [und] Kanonen vergleichbar ist und jenem [Lärm], wie ihn Kirchentüren und andere Orte machen, von denen der Widerhall so nahe den Lärm von Gewehren imitiert, dass es so gut wie unmöglich ist, sie zu unterscheiden.« Ebd., S. 57. Möglicherweise beschrieb Mersenne damit schlicht einen Trommelwirbel. 35 | Hans Wilhelm Kirchhof, Militaris Disciplina, Frankfurt a.M. 1602, kritische Ausgabe, hg. von Bodo Gotzkowsky, Stuttgart 1976, S. 158. Kirchhof hatte von 1543 bis 1555 als Söldner gedient. Seine überaus realistischen Schilderungen des Kriegswesens und -alltags beziehen fast immer die jeweiligen Tätigkeiten von Trommel und Pfeife mit ein.

293

294

S ILKE W ENZEL

Das »Lermen« des Feindes war weithin zu hören und bedeutete für die andere Kriegspartei, sich in Bereitschaft zu halten: Die bequemlichste Zeit/den Feindt im Läger zu besuchen/ist vor Mitternacht/unnd im ersten Schlaff/da man ihnen auch/bevorab wann es Regenwetter/oder sehr kalt ist/ etliche Stundt vorher ein Lerman gemacht/und sie in Harnisch bracht hat: Sie alsdann solche Weil in der Schlachtordnung gehalten und gestanden/nun aber also naß/und kalt ins Nest und Stroh gekrochen/unnd darumb hart eyngeschlaffen. 36

Auch der musikalische Befehl »Lermen« erhielt also seine Bedeutung durch die akustische Äquivalenz mit dem Reallärm. Die Imitation im Signal »Lermen« war allerdings nicht auf den Geschützlärm beschränkt. Eine weitere Ebene, die für das Signal als mindestens ebenso konstitutiv galt, war die unmittelbar körperliche Ebene. Wichtig wurde sie insbesondere dort, wo das Signal während des Kampfes ausgegeben wurde. Im oben genannten Zitat Marin Mersennes ist dieser Aspekt bereits enthalten: Jene Trommler, die das Instrument perfekt spielen, schlagen mit einer solchen Gewalt, dass der Lärm die Musketen oder Kanonen imitiert. Die Bewegungen, die der Trommler bei der Ausführung des Signals machen sollte, galten nicht nur als Spielbewegungen, sondern sie sollten unmittelbar das körperliche beziehungsweise das waffentechnische Schlagen der Söldner nachahmen. Arbeau erörterte diese Beziehung selbst noch für die Spielweise der Pfeife, indem er eine Verbindung zwischen Stoßsilben und ihrer funktionellen Bedeutung herstellte. Die Stoßsilben erscheinen auf diese Weise fast als eine Verkleinerung der Körpergeste, mit der das Kriegerische im Instrumentalen reproduziert werden sollte. […] il y a deux manieres de flutter, L’vne en tatant, l’aultre en rollant, au premier la langue du Ioueur faict té té té, ou tere tere tere, & auc second ieu rollé la langue du Ioueur faict relé relé relé: Ie vous aduerty de cecy, parce que la Tabulature que ie vous veulx escripte doit estre fluttee en ieu Té té, & non pas en ieu rollé. […] Pource que la pronunciation du ieu te té est plus aigre & rude, & consequemment plus conuenable au son guerrier, que n’est celle du ieu rollé. 37 36 | Ebd., S. 166f. 37 | »[…] es gibt zwei Arten zu flöten, die eine ist ›tatant‹, die andere rollend, bei der ersten macht die Zunge des Spielers te te te oder tere tere tere, und beim zweiten, rollenden Spiel macht die Zunge des Spielers rele rele rele: Ich sage Ihnen [seinem imaginierten Schüler] dies, weil die Noten, die ich ihnen aufschreiben möchtemit dem Te te Spiel gespielt werden müssen und nicht mit dem gerollten Spiel. […] Weil die Aussage des te te Spiels schärfer und rüder ist und demnach eher dem Ton des Kriegers entspricht, was für das gerollte Spiel nicht gilt.« Arbeau, Orchésographie, fol. 18v.

D AS MUSIKALISCHE B EFEHLSSYSTEM VON P FEIFE UND T ROMMEL IN DER F RÜHEN N EUZEIT

Zeitgenössische Autoren stellten demnach eine Verbindung zwischen Instrumentalklang, Sprache und Körperbewegung her. Das »Lermen« korrelierte auf diese Weise unmittelbar mit der kriegerischen Tätigkeit jener, denen der musikalische Befehl galt. Die Gleichsetzung von instrumentaler Spielweise und kriegerischer Bewegung ist sogar in die Lieddichtung eingegangen. In einem Lied aus dem Dreißigjährigen Krieg über die Belagerung der Stadt Stralsund beginnen die ersten drei Strophen mit eben dieser Parallelisierung.38 Strophe eins bezieht sich dabei auf das reale Schlagen, verbunden mit den Geschützen (»Stück«), Strophe zwei überträgt es auf das Lärmen der Trommler, und Strophe drei verbindet schließlich beides im Begriff des »Aufschlagens«: 1. Floriren thut mir das Gelück,/Zum Fürst’n bin ich erkoren;/Schlagt zu, herbringt nun unsre Stück/Laßt uns schrecklich rumoren!/[…] 2. Rühmen mag ich mich viel fortun,/Lerm, Lerm, laßt alsbald schlagen,/Mein ältest Regiment soll mit Ruhm/Die beste Beut draus tragen!/[…] 3. Auffschlage wer das schlagen kan,/Die bestia gibt verloren!/Ich schlag sie todt wie einen Mann,/Schwör ich bei meinem Zoren/[…].

Nachahmung von Krieg innerhalb des Signalwesens bedeutete demnach in der Frühen Neuzeit nicht nur die instrumentale Reproduktion von Kriegslärm, sondern auch eine Bewegungsäquivalenz zwischen Instrumentalspiel und Kriegsführung, die in der Ausführung beziehungsweise in der Spielweise der Instrumente Ausdruck fand. Die Aussage, die das Spiel der Trommler haben sollte, erhielt es durch die unmittelbare Reproduktion des Kriegerischen: sowohl auf der körperlichen Ebene des Schlagens als auch auf der allgemeinen akustischen Ebene des Kriegslärms. Der Soldat tötet, der Musiker spielt dazu, auch wenn es sich vielleicht gleich anhört, findet doch in der Imitation der Schlachtgeräusche eine Übertragung statt oder im Aufstacheln zum Kampf durch Musik eine Transformation des Lärms der Schlacht, der zunächst vielleicht nur ein Nebenprodukt ist. Das Signalwesen der Trommel benötigte demnach zunächst kaum verbale Übersetzungen. Seine Wirkung erzielte es unmittelbar und unter Umgehung von Verbalisierungen: erstens über die Bedeutungsäquivalenz von Trommelschlag und akustischem Kriegsgeschehen, zweitens über die Bewegungsäquivalenz von Trommelschlag und Bewegungsschlag. Der Gehalt des musikalischen Befehls wurde durch weitere Aspekte ergänzt: In Kriegslehrbüchern und Kriegsbeschreibungen, in Erzählungen und Dichtungen wird immer wieder die alarmierend-bedrohliche Wirkung des »Ler38 | Franz Wilhelm Freiherr von Ditfurth, Die historisch-politischen Volkslieder des dreißigjährigen Krieges. Aus fliegenden Blättern, sonstigen Druckwerken und handschriftlichen Quellen gesammelt und nebst den Singweisen zusammengestellt, hg. von Karl Bartsch, Heidelberg 1882, S. 98.

295

296

S ILKE W ENZEL

mens« hervorgehoben. Als »erschrecklichen Handel« bezeichnet zum Beispiel Hans Wilhelm Kirchhof das akustische Ergebnis des Signals: »In Ankunfft deß Feindts schlägt der mit den Heerpaucken Lerman/und blasen die Trommeter: Die Landtsknecht/Trommenschläger deßgleichen: ist in der Nacht ein erschrecklicher Handel.«39 Die akustische Reproduktion des realen Kriegslärms war allerdings nicht nur gegen die »Feinde« gerichtet, sondern bedeutete bereits im eigenen Lager einen imaginären Angriff. Daher stellten zahlreiche Beschreibungen das »Lermen« nicht als Aktion, sondern bereits als Re-Aktion dar. Fast immer war es der scheinbar herannahende »Feind«, der das Signal auslöste: »Lerman ist die Bewegung […] zun Wehren […]/auß etwa einer Ursach/derhalben man sich Schadens/Leibs und Guts befahret/entstanden.«40 Oder auch: »[…] ob der Feindt etwas am Tag herzu nahet […] und ein Lerman entstünde«.41 Mithilfe des akustischen Signalsystems wurde der Angriff eines bedrohlichen Gegners suggeriert, auf den dann die Söldner ihrerseits reagierten. Diese Funktion des Trommlers, Aggressivität nicht nur darzustellen, sondern sie auch bei den anderen Söldnern auszulösen, benannte mit erstaunlicher Hellsichtigkeit bereits Kirchhof: »So zieren auch noch das Feldt gute Spielleute/ob sie schon das Hertz nicht machen (sonst bliebe der Haß auch beym Trommenschläger) so erregen sie doch den Kriegerischen Muht/der in einem Mannhafftigen Hertzen steckt und ist/sich mercken zu lassen.«42 »Lermen« als Signal zum Angriff und »Lermen« im Sinne von Angst einjagen waren innerhalb des frühneuzeitlichen Signalwesens daher nicht aufgeteilt in Freund und Feind, wie dies sowohl zeitgenössische Quellen als auch die heutige Sekundärliteratur suggerieren (Mut den Freunden, Angst den Feinden),43 das heißt sie waren nicht zwei getrennte Teilbereiche der akustischen Kriegsführung, sondern zwei Seiten der gleichen Sache, auf die die akustische Kriegsreproduktion im musikalischen Befehlssystem abzielte. Die Doppelseitigkeit von Nachahmung und Vorwegnahme wirkte dabei sowohl bei den eigenen Söldnern als auch beim jeweiligen Gegner. Das »Lermen« trug ferner eine weitere, historisch tradierte Implikation in sich, die im eben zitierten Absatz Thoinot Arbeaus bereits anklang: die Selbstbehauptung. Ausführlich hat Sabine Žak für die mittelalterliche Welt dargestellt, welche enorme Bedeutung die Lautstärke von musikalischem und nicht-musikalischem Schall und Lärm hatte. Lärm diente dazu, Vorgänge öffentlich zu machen; eine bestimmte Lautstärke zeigte an, dass alles mit rechten Dingen zuging. 39 | Kirchhof, Militaris Disciplina, S. 122f. 40 | Ebd., S. 122. 41 | Ebd. 42 | Ebd., S. 78. 43 | »Er [der Lärm] soll die Feinde einschüchtern und den Freunden Mut machen«. Sabine Žak, Musik als »Ehr und Zier« im mittelalterlichen Reich. Studien zur Musik im höfischen Leben, Recht und Zeremoniell, Neuss 1979, S. 8.

D AS MUSIKALISCHE B EFEHLSSYSTEM VON P FEIFE UND T ROMMEL IN DER F RÜHEN N EUZEIT

Über Lautheit wurde Öffentlichkeit hergestellt, besonders im Rechtswesen. Im Krieg bedeuteten das Aufrichten der Fahnen und der weitreichende Schall, dass die Feindseligkeit offenbar wurde. Die Bedeutungen von Lärm, so Sabine Žak, überlagerten einander: »Recht und Öffentlichkeit, Geltung und Anerkennung, Herrschaft und Macht, Pracht und Ruhm, Anspruch und Anmaßung«44 . Zweifellos spielte diese Funktion im Kriegsgeschrei und im »Lermen« eine nicht zu unterschätzende Rolle. In Musik wurde Größe demonstriert. So sollte zum Beispiel das Schlagen der Trommeln dem Gegner suggerieren, dass noch ein ganzes Heer im Hintergrund vorhanden ist. Das lautstarke Auftreten war also auch eine militärisch standardisierte Geste der Selbstbehauptung. Den verbalen Beschreibungen des musikalischen Befehls »Lermen« sind demnach vier weitere Implikationen zu entnehmen, die für das Signal konstitutiv waren: Bewegungsäquivalenz, Bedeutungsäquivalenz, Bedrohung/Verteidigung und Selbstbehauptung. Wie sich anhand der musikalischen Befehle von Pfeife und Trommel zeigen lässt, war das Signalwesen der Landsknechte weit davon entfernt, ein System willkürlicher Zeichen zu sein. Grundlage ihres Entstehens und ihrer Wirkung war nicht eine gesellschaftliche Konvention, sondern die Kriegsrealität selbst, auf die sich die rhythmisch-melodische Struktur bezog. Bedeutendes und Bedeutetes waren über die Wirklichkeit des Krieges unabdingbar miteinander verknüpft, häufig auf verschiedenen Eindrucks- und Ausdrucksebenen gleichzeitig. Wichtig für das strukturelle Verständnis musikalischer Befehlssysteme ist daher nicht nur ihre äußerliche Struktur, sondern vor allem ihr logisches Entstehen aus dem Alltag, aus der Kriegsrealität heraus. Die formale und inhaltliche Basis für das Material waren die verschiedenen Eindrücke, die im Umfeld des Krieges aufgenommen wurden, und aus ihnen wurde das akustische Befehlssystem abgeleitet, zumeist durch Nachahmung. Zugleich waren Signale wiederum ein wesentlicher Teil von Kriegswahrnehmung. Die wechselseitige Durchdringung von Wirklichkeit, ihrer Nachahmung und zu gleicher Zeit wiederum ihrer Vorwegnahme war daher – wie vermutlich bei fast aller Kommunikation – die Grundlage auch des kriegerischen Kommunikationssystems zwischen 1500 und 1650. Aus akustischen Anzeichen für eine bestimmte Situation, beim »Lermen« die Situation des Angriffs, war mithilfe von Pfeife und Trommel ein Mittel zur Übertragung von Information geworden.45 Das Signalwesen der Söldner basierte demnach auf dem Prinzip der »mimetischen

44 | Žak, Musik als »Ehr und Zier«, S. 18f. 45 | Zu dieser grundlegenden Entstehungsform vgl. Georg Knepler, Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung, 2., überarb. Aufl., Leipzig 1982, S. 74.

297

298

S ILKE W ENZEL

Kommunikation«46, wie Georg Knepler die frühesten Ansätze ästhetischen Verhaltens benannt hat. Trommel und partiell auch die Pfeife konnten eine doppelte Form der Nachahmung konstruieren – körperlich in der Ausführung, waffentechnisch im Klang. Funktionelle Musik, die den Krieg begleitete, trat in Wechselwirkung mit der Realität. Der Schlag der Trommel wurde zum Schlag gegen den Menschen. Das Wesen funktioneller Kriegsmusik bestand darin, dass das »Als ob« von Musik auf seine sofortige Realisierung drängte und bereits aus dem späteren Realisierungsziel abgeleitet war. Damit war der Kreislauf von Realität – Mimesis – Wirkung/Realität – Mimesis zeitlich auf ein Minimum reduziert. Diese unmittelbare Verbindung zwischen einem »Als ob«-Handeln und seiner Rückwirkung auf die Praxis machte vermutlich das Signalsystem und jede weitere Schlachtmusik so »effektiv«. Kriegsmusik war also die sich ständig reproduzierende Wechselwirkung zwischen zielgerichtetem Handeln und musikalischem »Als ob«-Handeln. Auf diese Weise konnten musikalische Befehlssysteme schließlich auch das militärische Kommandosystem aushebeln und in ein scheinbar wechselseitiges Kommunikationssystem transformieren. Denn während die Befehlssprache eine kommunikationslose Sprache ist, weil sie einseitig von oben nach unten gerichtet ist und damit eine Interaktion zwischen Befehlenden und Gehorchenden ausschließt, überdeckte das musikalisch-akustische Befehlssystem genau diese Form der Herrschaft, indem es scheinbar Kommunikationsformen wahrte. Durch die stete mimetische Verbindung zwischen dem Handeln der Söldner und der Ausgestaltung des musikalischen Befehls entstand eine Form der Kommunikation, mit deren Hilfe schließlich suggeriert werden konnte, dass sich der Söldner den Befehl selbst gegeben habe. Wozu der Befehlshaber nicht in der Lage war, konnte der Musiker als Mittler beziehungsweise die Musik als Medium leisten: eine tatsächliche Interaktion zwischen dem Handeln der Söldner und dem Befehlenden herzustellen, und zwar auf einer nonverbalen Ebene. Musiksöldner als Kommandozentrale schienen auf diese Weise den repressiven Charakter des Kommandos aufzuheben. Der Zweck von verbalen und musikalischen Befehlssystemen war also derselbe – nämlich Herrschaft –, die Funktionsweisen waren allerdings grundlegend verschieden. Mit Hilfe des musikalischen Befehlssystems schien aus einer beherrschenden Fremdbestimmung eine »Selbstbestimmung« geworden zu sein. Dass diese Form der Selbstbestimmung fraglos nur eine scheinhafte war und ist, liegt im militärischen System selbst begründet, das auch zu diesem Zweck musikalische Strukturen und ihre Wirkungen benutzt.

46 | Ebd., S. 366.

Musikalische Gewalt: Kulturelle Ausprägungen absoluter Macht im Konzentrationslager Sachsenhausen Juliane Brauer

E INLEITUNG Eine Anzahl jüdischer Häftlinge wurde dadurch getötet, daß etwa ein Dutzend Häftlinge von SS-Unterführern und ihren Helfern in die Besenkammer, die knapp 2 m 2 Bodenfläche aufwies, gepresst wurden. Daraufhin wurden alle Luftlöcher verstopft, so daß die meisten Häftlinge erstickt waren. […] Einen jüdischen Häftling, Opernsänger, mit Künstlernamen Alfieri und bürgerlichen Namen Georg Adler, der unter den Tode geweihten Häftlingen stand und auch mißhandelt wurde, zwangen die SS Unterführer, das Lied zu singen »Es gibt im Volksmund der Märchen viele Zahl.«1

Die beschriebene Tötungsaktion fand im Sommer 1940 in den sogenannten jüdischen Baracken des Konzentrationslagers Sachsenhausen statt. Ein unbekannter Überlebender des Lagers schilderte diese im Prozess gegen die als besonders brutal geltenden SS-Blockführer Gustav Sorge und Wilhelm Schubert. Das Zusammenwirken von tödlicher körperlicher Gewalt und Musik verstört und ist dennoch übliche Herrschaftspraxis in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern gewesen. »Ich wünschte mir eine ausführlichere Erklärung dafür, dass Menschen für Musik lebten, durch Musik lebten, zu Musik sterben mussten und für Musik

1 | Urteil in der Strafsache gegen Gustav Sorge und Wilhelm Schubert: Vom Angeklagten Sorge begangene Massentötungen, Landgericht Bonn, Staatsanwaltschaft an Staatsanwaltschaft Bonn, 6.2.1959, Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen (AS), Sign.: JD 2/50, Bl. 111. Das Lied »Es gibt im Volksmunde wohl Märchen großer Zahl« ist eine sehr populäre Arie aus der Operette »Im Reich des Indra« des Berliner Komponisten Paul Lincke (1866-1946).

300

J ULIANE B RAUER

starben«.2 Mit dieser, mittlerweile über zehn Jahre alten Forderung stellt der Musikwissenschaftler Hans-Ludger Kreuzheck die befremdliche ambivalente Macht der Musik in den Konzentrationslagern in den Fokus seiner Untersuchung. Musik war gleichzeitig die »Trösterin der Traurigen«3 , aber auch die »infernalische Musik«, die sich »in die Köpfe eingegraben hat«4 . Grundsätzlich ist bei der Auseinandersetzung mit Musik im Konzentrationslager zwischen selbstbestimmter und befohlener Musik zu unterscheiden, die je nach Kontext für die Gefangenen zu einem Über-Lebens-Mittel wurde oder zur Tortur. So wird in unzähligen Erinnerungsberichten erzählt, wie Musik zu einer »Brücke über die Abgründe […] zum offenen Tor des richtigen Menschenlebens und der Freiheit«5 wurde. Recherchen zur Musik des Lagers Sachsenhausen verweisen auf die Vielfältigkeit selbstbestimmter musikalischer Aktivitäten. Überlebende Häftlinge verschiedener Nationen und Gefangenengruppen berichten von heimlich organisierten kulturellen Veranstaltungen abends in den Blöcken, von Auftritten verschiedener Häftlingschöre, sogar von einem Chorwettbewerb. Erinnerungen an Konzerte des Häftlingsorchesters oder des Streichquartetts, Zeichnungen von musizierenden Häftlingen, Programmzettel, Liedkompositionen und Liederbücher verweisen auf die alltägliche Präsenz von Musik im Konzentrationslager Sachsenhausen.6 Andererseits offenbaren die Erinnerungen ebenso, dass befohlene Formen der Musik, wie die Häftlingskapellen und das zwangsweise Singen die Menschen zermürbten und quälten. In seinem Artikel über Musik in Auschwitz kommt der Volkskundler Guido Fackler zu 2 | Hans-Ludger Kreuzheck, Musik im KZ. Allgemeine Überlegungen aus Anlaß einer Buchbesprechung, in: DIZ Nachrichten 18 (1996), S. 44-50, hier S. 50. 3 | So der Titel eines tschechischen Erinnerungsberichts: Bohumir Červinka, Die Musik, die Trösterin der Traurigen und die Aufmunterung der Tapferen, o.O. u. J., AS P3 Č ervinka, Bohumir. 4 | Primo Levi, Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz, übers. von Heinz Riedt, Frankfurt a.M. 1988, S. 82f. 5 |Ervin Č erny, In der Schnitzerei-Werkstatt, wahrscheinlich Prag 1982, AS P3 Černy, Ervin, S. 1. 6 | Siehe dazu ausführlich: Juliane Brauer, Musik im Konzentrationslager Sachsenhausen, Berlin 2009. Insgesamt ließen sich 247 Häftlinge namentlich benennen, die in Sachsenhausen musikalisch aktiv waren. Darüber hinaus konnten 13 Liederbücher gefunden werden. 122 Liedkompositionen in sieben Sprachen entstanden nachweislich während der Existenz des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Weiterhin gibt es Hinweise auf zwei Häftlingsstreichquartette, die sich heimlich bildeten, sowie drei weitere Instrumentalensembles. Mindestens sieben Gesangsensembles entstanden auf Initiative der Sachsenhausener Häftlinge. Diese Daten können nur annähernd das erstaunlich vielfältige und intensive musikalische Leben im Lager Sachsenhausen umreißen, das im Gegensatz zur befohlenen Musik im Geheimen und selbstbestimmt stattfand.

M USIKALISCHE G EWALT : K ULTURELLE A USPRÄGUNGEN ABSOLUTER M ACHT

dem Schluss, dass »die Musik im Terrorsystem der nationalsozialistischen Lager gezielt mißbraucht, ihrer Unschuld und Anmut beraubt wurde, indem die Täter sie systematisch einsetzten, um ihre Opfer psychisch und physisch zu zerstören.«7 »Wo ein Lied erklingt, da lass Dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder«8 lautet ein beliebter und verbreiter Vers deutscher Liedertafeln des 19. Jahrhundert, der auf eine besondere ethische Qualität des geselligen Gesanges verweist. Doch ist Musik per se »unschuldig« oder »anmutig« und kann man deshalb in Kontexten von Macht und Gewalt von einem »Missbrauch« sprechen? Folgend wird die Auffassung vertreten, dass Musik mit ihrer Variabilität in Deutung, Wirkung und Gebrauch nicht von sich aus moralisch gut oder sogar überlegen ist. In ihrer performativen Dimension verfügt Musik über die Macht, auf Menschen körperlich und emotional einzuwirken, »intersubjektiv seelische und geistige Bedeutung«9 für den Menschen anzunehmen. Daraus resultiert die starke, positive Macht, den Menschen in seiner eigenen Lebensgestaltung zu unterstützen, beim Überleben zu helfen, wie die Beispiele aus den Konzentrationslagern zeigen. Genau mit dieser Wirkmächtigkeit kann Musik aber auch zu einer zerstörenden Macht werden. Die Entscheidung für das eine oder andere liegt nicht in der Musik begründet, sondern wird von den Menschen definiert, die sich ihrer bedienen und sie in sozialen Kontexten gebrauchen. In diesem Sinne sieht der Musiksoziologe Christian Kaden das Spezifische der Musik in ihrer »Macht der Lebensresonanz.« Mit dieser »nimmt sie Stellung zur Vielspältigkeit des Menschen, immer wieder aber so, daß sie sich auf die eine oder die andere Seite schlägt.«10 [Hervorhebung im Orig.] Die »Macht der Musik« spezifiziert der Musikwissenschaftler Hanns-Werner Heister bereits einige Jahre zuvor deutlicher. Er sieht sie in ihren »Beherrschungspotenzialen […] vom Unwillkürlich-Zwanghaften bis zum Unmerklich7 | Guido Fackler, »Wir spüren alle, daß diese Musik infernalisch ist«. Musik in Auschwitz, veröffentlicht innerhalb der Internetausstellung: The Last Expression: Art and Auschwitz, prepared by Mary and Leigh Block Museum of Art, Northwestern University, o.J., http://lastexpression.northwestern.edu/arts_fr_e_fack.html [18.7.2011]. 8 | Eine ähnliche Grundüberzeugung klingt heutzutage immer noch an, so zum Beispiel in einem Artikel von Claus Spahn mit der Schlagzeile »Musik hilft immer« in der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 21.4.2005, Nr. 17, http://pdf.zeit.de/2005/17/Kunst_heilt.pdf [18.7.2011]. 9 | Volker Kalisch, Körpergefühl und Musikwahrnehmung. Musik in anthropologischer Perspektive, in: Karsten Mackensen und Christian Kaden (Hg.), Soziale Horizonte von Musik: ein kommentiertes Lesebuch zur Musiksoziologie, Kassel 2006, S. 203-220, hier S. 209. 10 | Christian Kaden, Des Lebens wilder Kreis. Musik im Zivilisationsprozeß, Kassel u.a. 1993, S. 14.

301

302

J ULIANE B RAUER

Überredenden, vom Bewegungsimpuls bis zur magischen Beschwörung.«11 Zwischen diesen Polen lassen sich zahlreiche Beispiele der Macht der Musik fassen, wie Heister demonstriert. Doch es ist zu vermuten, dass die Allianz von Musik und Gewalt in Kontexten »absoluter Macht« aus diesem Spektrum möglicher Charakterisierungen herausfällt. So konkretisiert der Soziologe Wolfgang Sofsky die absolute Macht in den Konzentrations- und Vernichtungslagern: Sie schaffe »ein Universum völliger Ungewißheit«12 . Damit wird das Lager zu einem Laboratorium der Gewalt. Absolute Aktionsmacht befreit von allen Hemmungen und entgrenzt die Grausamkeit. Fast alles konnte erprobt, wiederholt, gesteigert oder abgebrochen werden, ohne Bindungen, ohne Normen oder Ziel.13

In dieser Loskopplung der Musik von ihren zivilisierten sowie zivilisierenden Kontexten und der Entgrenzung von Gewalt prägte sich die Macht der Musik in bis dahin unbekannten Formen aus. Zur genaueren Charakterisierung der Situationen, in denen Musik von der SS genutzt wurde, um die Häftlinge zu quälen, schlage ich den Begriff der »musikalischen Gewalt« vor.14 In Anlehnung an die Überlegungen des Soziologen Heinrich Popitz ist Gewalt eine »schiere Aktionsmacht […]. Sie ist die direkteste Form von Macht […], die anderen in einer gegen sie gerichteten Aktion Schaden zufügt, – anderen ›etwas antut‹.«15 »Aktionsmacht« bezeichnet die Macht, die Anderen etwas erdulden zu lassen, sie ist »Verletzungsmacht«, so Popitz weiter. Damit verweist er auf einen für die Frage der musikalischen Gewalt entscheidenden Zusammenhang: »Zugleich erinnert der direkte Akt des Verletzens an die permanente Verletzbarkeit des Menschen durch Handlungen anderer, seine 11 | Hanns-Werner Heister, Macht der Musik – Musik der Macht. Musikästhetische und musikhistorische Überlegungen, in: Frank Geißler und Marion Demuth (Hg.), Musik, Macht, Mißbrauch. Kolloquium des Dresdner Zentrum für Zeitgenössische Musik, Oktober 1995, Dresden 1998, S. 11-25, hier S. 17. 12 | Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt a.M. 1997, S. 28f. 13 | Ebd., S. 35. 14 | Musik und Gewalt wird in der Literatur zunehmend thematisiert, vor allem unter dem Aspekt, wie sich Gewalt in Musik (insbesondere der rechtsradikalen Szene) verbalisiert und zu gewalttätigen Handlungen antreibt. Ferner wird untersucht, nach welchen Kriterien musikalische Zwangsbeschallung und Lärm als Gewalt definiert werden können. Siehe dazu vor allem: Klaus Miehling, Gewaltmusik – Musikgewalt. Populäre Musik und die Folgen, Würzburg 2006. Der Begriff der musikalischen Gewalt wird bisher jedoch nicht für diese Beschreibungen verwendet. 15 | Heinrich Popitz, Phänomene der Macht. Autorität – Herrschaft – Gewalt – Technik, Tübingen 1986, S. 68.

M USIKALISCHE G EWALT : K ULTURELLE A USPRÄGUNGEN ABSOLUTER M ACHT

Verletzungs-Offenheit, die Fragilität und Ausgesetztheit seines Körpers, seiner Person.« So ist denn nicht nur die »Integrität des Körpers« der Aktionsmacht ausgesetzt, »sondern unvermeidlich auch die Person«. Denn »Schmerzen, die jemanden zufügt werden, sind niemals etwas ›bloß Körperliches‹«. Der Bestrafte empfinde seine Machtunterlegenheit umfassender als »vital-allgemeine Unterworfenheit«16. Die Gefangenen werden der Musik physisch und psychisch ausgesetzt mit der Absicht, sie als Menschen in ihrem Körper und ihrer Identität zu verletzen, mehr noch, zu zerstören und sie damit in ihrem ganzheitlichen Menschsein der absoluten Macht zu unterwerfen. Musik als körperliche und emotionale Wirkmacht ist somit in der Lage, den Menschen in seinem innersten Mensch-Sein zu treffen und zu zerstören.17 Folgend wird anhand konkreter Beispiele aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen erstens Musik als Herrschaftsstrategie systematisiert und zweitens genauer untersucht, was die Situationen befohlenen Singens für die Gefangenen bedeuteten. Wie lassen sich die Wirkungsweisen der Musik für die SS-Wachmannschaften, die Gequälten oder die Beobachter beschreiben? Was genau sind Charakteristika musikalischer Gewalt?

D AS K ONZENTR ATIONSL AGER S ACHSENHAUSEN ALS O RT DER ABSOLUTEN M ACHT Die Bauarbeiten im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg, 20 Kilometer nördlich von Berlin, begannen im Juli 1936.18 Dazu wurden bis September 900 Gefangene aus dem aufgelösten Emslandlager Esterwegen nach Sachsenhausen überführt. Unter schwersten körperlichen Anstrengungen der Häftlinge entstand in den Folgemonaten mit den Worten des Reichsführers SS Heinrich Himmler »[E]in vollkommen neues, jederzeit erweiterungsfähiges, modernes und neuzeitliches Konzentrationslager mit verhältnismäßig geringen Mitteln […], das allen Anforderungen und Erfordernissen nach jeder Richtung hin gewachsen ist.«19 Das Muster- und Vorzeigelager Sachsenhausen wurde auf dem Reißbrett entworfen und als idealtypisches Lager geplant. Damit 16 | Ebd., S. 68, 70f. 17 | Ich danke Veronika Springmann an dieser Stelle für wichtige Hinweise und Diskussionen. 18 | Zur Geschichte des Konzentrationslagers siehe ausführlich: Hermann Kaienburg, Sachsenhausen-Stammlager, in: Wolfgang Benz und Barbara Diestel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 17-72. 19 | Zit. nach Klaus Drobisch, System der NS-Konzentrationslager 1933-1945, Berlin 1993, S. 262.

303

304

J ULIANE B RAUER

orientierte sich die Architektur des Lagers Sachsenhausen »an einer Geometrie des totalen Terrors […] aufbauend auf der Mikrophysik der Macht«20. Das Barackenlager wurde als gleichschenkliges Dreieck angelegt. Die Baracken standen in konzentrischen Halbkreisen um den Appellplatz. Diese Geometrie erlaubte es einigen wenigen Wachmännern vom Eingangswachturm vor dem Appellplatz aus, tausende Gefangene unter Kontrolle zu halten. Die absolute Herrschaft war den Gefangenen somit täglich präsent. Bis zu Beginn des Krieges im September 1939 befanden sich fast ausschließlich deutschsprachige Gefangene im Lager Sachsenhausen. Sie wurden aus politischen Gründen (Kommunisten, Sozialdemokraten oder Gewerkschafter) oder wegen einer vorgeblichen »kriminellen« Vergangenheit als sogenannte befristete Vorbeugungshäftlinge inhaftiert. Im Lagerjargon hießen sie kurz BVer, Berufsverbrecher oder Kriminelle.21 Eine weitere große Gruppe bestand zu dieser Zeit aus Zeugen Jehovas, die wegen ihres religiösen Widerstandes zu Gefangenen wurden.22 Zudem waren einige Männer als Homosexuelle inhaftiert.23 Das Stammlager Sachsenhausen war bis auf wenige Ausnahmen ein reines Männerlager.24 Ende des Jahres 1936 standen 18 Baracken. Circa 2.000 Häftlinge befanden sich im neuen Lager. Die Häftlingsgesellschaft war zu diesem Zeitpunkt überschaubar. Viele kannten sich von einer gemeinsamen Haftzeit aus den frühen Lagern. Auch die SS-Wachmannschaften der aufgelösten frühen Konzentrationslager kamen häufig nach Sachsenhausen. Diese personelle 20 | Günter Morsch, Oranienburg-Sachsenhausen. Sachsenhausen-Oranienburg, in: Ulrich Herbert, Karin Orth und Christoph Dieckmann, Die nationalsozialistischen Konzentrationslager – Entwicklung und Struktur, Bd. 1, Göttingen 1998, S. 111-134, hier S. 120. 21 | Die »Kriminellen« wurden als »Vorbeugehäftling« geführt. Aufgrund des »Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher« vom 24.11.1933 konnten diese in unbefristete Sicherheitsverwahrung genommen werden. 22 | Antje Zeiger, Zeugen Jehovas im Konzentrationslager Sachsenhausen, in: Hans Hesse (Hg.), Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas, Bremen 1998, S. 76-101. 23 | Joachim Müller und Andreas Sternweiler (Hg.), Homosexuelle Männer im KZ Sachsenhausen, Berlin 2000. 24 | Erst 1944 gelangten mit der Evakuierung der Lager im Osten weibliche Gefangene nach Sachsenhausen. Darüber hinaus gab es ab August 1944 im Lager ein von der SS eingerichtetes Bordell, in dem Häftlingsfrauen aus Ravensbrück zur Prostitution gezwungen wurden. Vgl. hierzu Robert Sommer, Die Häftlingsbordelle im KZ-Komplex Auschwitz-Birkenau. Sexzwangsarbeit im Spannungsfeld der NS-»Rassepolitik« und der Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten, in: Akim Jah u.a.(Hg.), Nationalsozialistische Lager. Neue Beiträge zur Verfolgungs- und Vernichtungspolitik und zur Gedenkstättenpädagogik, Münster 2006, S. 81-103, hier S. 89.

M USIKALISCHE G EWALT : K ULTURELLE A USPRÄGUNGEN ABSOLUTER M ACHT

Kontinuität führte dazu, dass die erprobten Lagerabläufe und Verhaltensweisen aus den frühen Lagern beibehalten, jedoch den Verhältnissen des sich im Aufbau befindenden Konzentrationslagers Sachsenhausen angepasst wurden. Im Winter 1937 endete die erste Bauphase am Barackenlager. Bis 1938 arbeiteten die Häftlinge vorwiegend am Auf- und Ausbau des Konzentrationslagers und errichteten darüber hinaus SS-eigene Wohn- und Verwaltungsgebäude im Umkreis des Lagers. Im Juni 1938 änderte sich das Bild der Häftlingsgesellschaft. Gestapo und Kriminalpolizei verhafteten im Frühjahr und Sommer 1938 die sogenannten Asozialen.25 Sie stellten bis zum Novemberpogrom des gleichen Jahres die mit Abstand größte Häftlingsgruppe.26 Nach der Erschießung des deutschen Botschafters Ernst vom Rath in Paris durch Herschel Grynszpan am 9. November 1938 wurden in einer umfangreichen Verhaftungsaktion mehr als 6.000 jüdische Deutsche nach Sachsenhausen verschleppt, die nach wenigen Monaten wieder entlassen wurden. Bis September 1939 war das KZ Sachsenhausen als größtes Lager im Norden Deutschlands zuständig für Gefangene aus Berlin sowie für die Gestapo-Bereiche zwischen Düsseldorf und Breslau sowie Kiel und Halle. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges war die spürbarste Zäsur für die Häftlinge. Die Essensrationen wurden gekürzt; die »Lagerstärke« verdoppelte sich von 6.500 im August auf circa 12.000 Häftlinge im Dezember 1939. Immer mehr Menschen aus den besetzten Gebieten wurden in die Konzentrationslager deportiert: Österreichische Häftlinge, tschechische Studenten, polnische Häftlinge und 1941 französische Widerstandskämpfer sowie sowjetische Kriegsgefangene. Ab Mitte 1940 waren die deutschen Häftlinge in der Minderzahl, der Anteil der nichtdeutschen Häftlinge stieg 1943/44 auf bis zu 90 Prozent. Die Umstellung der Häftlingsarbeit auf Zwangsarbeit in der Rüstungsproduktion erfolgte 1942. Ein Ring von Außenlagern entstand in den letzten drei Kriegsjahren rund um das Konzentrationslager. Allein zu Sachsenhausen gehörten circa 100 Außenlager, überwiegend in Berlin und Brandenburg. Im Laufe der neun Jahre bis zur Auflösung des Lagers im Frühjahr 1945 waren annähernd 200.000 Menschen in Sachsenhausen gefangen. Mehrere zehntausend von ihnen starben aufgrund der furchtbaren Lebensbedingungen an Hunger, Kälte,

25 | Zu den Asozialen siehe Forschungsarbeiten von Wolfgang Ayaß, »Asoziale« im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995. 26 | So verzeichnete die Kommandantur für das KZ Sachsenhausen am 25.6.1938 insgesamt 9.235 Häftlinge, davon 1.177 befristete Vorbeugungshäftlinge und 1.741 »rote« Schutzhäftlinge. Doch mehr als 6.200 Häftlinge waren als Asoziale registriert. Die SS wies ihnen zur Kennzeichnung und Wiedererkennung ein schwarzes Dreieck zu. Unter ihnen gab es 824 Juden sowie 248 Sinti und Roma. Siehe Stärkemeldung des 25.6.1938, AS R 201 M 3, S. 83.

305

306

J ULIANE B RAUER

Krankheit oder wurden von den SS-Wachmannschaften zu Tode gequält beziehungsweise systematisch ermordet.27 Situationen befohlenen Singens und Musizierens im Konzentrationslager Sachsenhausen sind für die gesamte Existenzzeit des Lagers überliefert. Die Bedeutung befohlener Musik für die beteiligten SS-Männer und für die Gefangenen änderte sich jedoch im Laufe der neun Jahre signifikant. Dem befohlenen Singen konnte sich nach und nach kein Gefangener mehr entziehen. Folgend wird es den Schwerpunkt der Darstellung bilden. Zu den Häftlingsorchestern sei hier kurz angemerkt, dass es von Beginn des Lagers Sachsenhausen an bis zu seiner Auflösung im April 1945 immer mindestens eine Häftlingskapelle gegeben hat, die auf Befehl der SS spielte.28 Doch erst in den Kriegsjahren mit dem sprunghaften Anstieg der Gefangenzahl und der internationalen Zusammensetzung der Häftlinge vereinnahmte die SS das Lagerorchester systematisch für Gewalt- und Machtdemonstrationen. Der Einsatz der Musikkapellen, die Hinrichtungen sozusagen begleiteten (vor allem für die Jahre ab 1942 überliefert), verweist auf die demütigende Funktion, die Musik in dieser Inszenierung absoluter Macht zugesprochen bekam. Es reichte der SS nicht, dass die Gefangenen bei Hinrichtungen von Mithäftlingen zusahen, sie mussten gleichzeitig fröhlicher Marschmusik lauschen. Durch das Element der Musik wurde dieser Akt der Gewaltdemonstration »lauter« und damit öffentlicher, unausweichlicher für die Betroffenen und Zuschauenden. Die Wahl der Musikstücke stellte einen deutlich wahrnehmbaren Bruch zwischen der erlebten Situation und der dazu inszenierten Musikkulisse dar. Das Bedürfnis der beteiligten SS nach Unterhaltung und Abwechslung im oftmals eintönigen Alltag des Bewachens, der Wunsch nach einem Ausleben und Inszenieren der absolute Macht, dieses scheinen Gründe für die zunehmende Pervertierung und komplexere Dramaturgie von Gewaltritualen gewesen zu sein.

H ERRSCHAF TSTECHNIK UND R ITUAL : S INGEN AUF B EFEHL Das Singen auf Befehl hat sich den Erinnerungen fast aller Überlebender eingebrannt, es gibt kaum einen Erinnerungsbericht, in dem das zwangsweise Singen auf dem Appellplatz als begleitende Maßnahme bei Strafen oder beim Marschieren nicht erwähnt wird. Gruppen übergreifend verband sich in den Erinnerungen das Singen mit einer besonderen körperlichen Qual. Nicht sel27 | Siehe dazu Günter Morsch, Mord und Massenmord im Konzentrationslager Sachsenhausen 1936-1945, Berlin 2005. 28 | Zu den Orchestern des Stammlagers Sachsenhausen und seiner Nebenlager Heinkel, Falkensee und Klinkerwerk siehe ausführlich Brauer, Musik im Konzentrationslager Sachsenhausen.

M USIKALISCHE G EWALT : K ULTURELLE A USPRÄGUNGEN ABSOLUTER M ACHT

ten führte das abendliche Zwangssingen nach einem zermürbenden Arbeitstag zum tödlichen Zusammenbrechen der völlig erschöpften Häftlinge oder es beschleunigte den körperlichen Verfall der Gefangenen. Das Singen auf Befehl in Sachsenhausen lässt sich grundsätzlich in zwei Funktionsebenen untergliedern. Das Singen galt der SS zum einen als ein Alltagsritual. Hierzu zählte das regelmäßige Singen auf dem Appellplatz, das Singen beim Marschieren zu den Arbeitskommandos. Zum Zweiten entwickelte sich der befohlene Gesang zum gezielt eingesetzten Instrument der willkürlichen Strafe, Folter und Demütigung einzelner Häftlinge oder bestimmter Häftlingsgruppen. Wie bereits beim Einsatz der Häftlingskapellen zu beobachten, ist auch in Bezug auf den befohlenen Gesang ein Unterschied zu konstatieren zwischen den frühen Jahren bis 1939 und den Kriegsjahren. Das Singen beim Marschieren oder auf dem Appellplatz gehörte bereits in den frühen Konzentrationslagern zur alltäglichen Routine.29 Ähnlich wie das Sportmachen kommt das gemeinsame Singen vor allem zum Appell und beim Marschieren aus einer militärischen Tradition. Doch nicht nur an diesen Punkten gibt es auffällige Parallelen zum militärischen Drill. Die frühen Lager folgten insgesamt »in Struktur und Organisation militärischen Prinzipien.«30 Mit Blick auf die Gewaltpraktik des »Lagersports« konnte die Historikerin Veronika Springmann deutlich machen, dass die SS-Männer in den Konzentrationslagern Praktiken des militärischen Drills parodierten, denen sie selbst in ihrer militärischen oder paramilitärischen Ausbildung unterworfen waren.31 Das Singen wie auch die sportliche Ausbildung waren grundlegend in der Ausbildung der SS und bildeten ein wichtiges militärisches Ritual. So findet sich im Erinnerungsbericht des in Esterwegen inhaftierten ehemaligen politischen Gefangenen Valentin Schwan die Beschreibung des Ausmarsches der zweiten Hundertschaft der SS-Totenkopfstandarte Ostfriesland zum »Scharfschießen in das Moor. Aus hellen Kehlen stieg es dröhnend empor: Wir werden weiter marschieren/wenn alles in Scherben fällt/denn heute gehört uns Deutschland/und morgen die ganze Welt«32 . Wie auch Praktiken des Sportes im Lager parodiert und verzerrt wurden und sich damit deren ursprünglicher Sinn der Disziplinierung, männlichen Abhärtung und Vergemeinschaftung ins Gegenteil verkehr29 | Siehe Guido Fackler, »Des Lagers Stimme«. Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933 bis 1936. Mit einer Darstellung der weiteren Entwicklung bis 1945 und einer Biblio-/Mediographie, Bremen 2000. 30 | Siehe Veronika Springmann, Das ist die Moorolympiade. »Lagersport« als Differenzproduktion in Konzentrationslagern, in: Falk Bretschneider, Martin Scheutz und Alfred S. Weiß (Hg.), Personal und Insassen von Totalen Institutionen – zwischen Konfrontation und Verflechtung, Leipzig 2010. 31 | Springmann, »Lagersport« als Differenzproduktion, S. 8f. 32 | Valentin Schwan, Bis auf Weiteres, Darmstadt 1961, S. 223.

307

308

J ULIANE B RAUER

ten,33 ist Ähnliches beim erzwungenen Singen in den nationalsozialistischen Lagern festzustellen. »Wie oft quälte uns Sorge [SS Blockführer Gustav Sorge, Anm. d. V.] abends mit stundenlangem Singen oder Mütze abnehmen« erinnert sich der ehemalige deutsche Gefangene Hans Haase. »Wie viel Tote in den Jahren zusammengekommen sind bei Hunger, Kälte, Nässe und Krankheit, kann man nicht genau feststellen.«34 Bereits in den Vorkriegsjahren wurde der Befehl nach einem Lied genutzt, um die Häftlinge zusätzlich zu schikanieren. Kam es beispielsweise zu Situationen, in denen die SS-Führer nicht mit dem befohlenen Gesang zufrieden waren, führte dies zu Bestrafungen. So erinnert sich der als Zeuge Jehovas inhaftierte Paul Wauer an Sanktionen, die dem ungenügenden Gesang folgten: »Wenn die Blockführer unzufrieden waren mit dem Gesang, mussten die Häftlinge in der Mittagspause um die Baustelle herum marschieren und Singen anstatt ihr Brot zu essen.«35 Doch vor allem nach Kriegsbeginn entwickelte sich der befohlene Gesang zu einem Instrument der Folter. Die Gefangenen kamen zunehmend aus den besetzten europäischen Ländern. Sie kannten weder die Sprache noch die verlangten Lieder. »Das Singen auf dem Lagerappell funktionierte immer weniger, je mehr ausländische Häftlinge hinzukamen«, beschrieb der im November 1939 inhaftierte Tscheche Karel Štancl das Problem.36 Dennoch verzichtete die Lagerführung nicht auf das Singen, sondern nutzte die Hilflosigkeit der Häftlinge, um das ursprünglich militärische Ritual in ein Ritual körperlicher Schikanierung und psychischer Demütigung zu überführen. So musste ein Repertoire von deutschen Volks- und Lagerliedern von den neu ankommenden Häftlingen obligatorisch eingeübt werden. Dazu gehörten

33 | Siehe Springmann, »Lagersport« als Differenzproduktion, S. 7ff. und Veronika Springmann, »Sport machen«: eine Praxis der Gewalt im Konzentrationslager, in: Wojciech Lenarczyk u.a. (Hg.), KZ-Verbrechen. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager und ihrer Erinnerung, Berlin 2007, S. 89-102. 34 | Hans Haase, Zeugenmeldung an die Staatsanwaltschaft Bonn, Februar 1956, AS JD 2/3, Bl. 84. 35 | Paul Wauer, Darlegung des Wauer, Paul, Capri 21.5.1945, AS 136/2, 142, S. 4. Häufig waren diese Maßnahmen auch mit Formen des Strafsportes verbunden. Siehe dazu Schwan, Bis auf Weiteres, S. 121. Hier wird eine Situation beschrieben, in der die Gefangenen nach einer Weigerung zum Singen so lange »Sportmachen« mussten, bis sie das vom SS-Mann gewünschte Lied doch sangen. 36 | Karel Štancl, Auch das Lied ist dort Waffe geworden. Erinnerungen an die Kulturtätigkeit im Konzentrationslager Sachsenhausen in den Jahren 1939 bis 1942, Ústí nad Orlicí 1985, in: Arbeiterliedarchiv der Akademie der Künste, Berlin (ALA), Sign. 46, S. 2.

M USIKALISCHE G EWALT : K ULTURELLE A USPRÄGUNGEN ABSOLUTER M ACHT

unter anderem das »Westerwaldlied«,37 »Märkische Heide«38, »Alle Vögel sind schon da!« oder »Schwarz-Braun ist die Haselnuß«.39 Für die Masse der ausländischen Häftlinge verband sich mit dem befohlenen Gesang auf dem Appellplatz somit die zusätzliche Verpflichtung, die eingeforderten Lieder in ihrer Freizeit zu erlernen. Die Unkenntnis der Lieder wurde mit körperlichen Züchtigungen bestraft. Harry Naujoks, politischer Gefangener und damaliger Lagerältester beschreibt in seinen Erinnerungen, dass den deutschen Funktionshäftlingen die Aufgabe übertragen wurde, den polnischen Neuankömmlingen die Lieder beizubringen. Und dann wird von morgens bis abends gesungen, nur mit kurzen Unterbrechungen, abgesehen von den Appellen und den Mahlzeiten. Sobald ein SS-Blockführer kommt, um den üblichen »Sport« mit den Zugängen zu machen, weise ich darauf hin, daß es Befehl der Lagerführung sei, mit den Häftlingen Singen zu üben. So bewahren wir sie zwar vor der Tortur des »Sports«, aber auch dieses Singen ist eine Qual für die polnischen Kameraden. 40

Besonders der SS-Oberscharführer Wilhelm Schubert blieb den Häftlingen als eine Person in Erinnerung, der das Singen mit körperlichen Züchtigungen verband. Im Prozess gegen Schubert sagte der ehemalige Häftling Herbert Paul Roch aus: Gelegentlich dieser Appelle mussten die sog. »Lagerlieder« gesungen werden. Für die Neuankömmlinge war das natürlich in den ersten Wochen sehr schwierig, da Selbige die Texte noch nicht kannten. Schubert ließ das aber nicht gelten. Wenn ein Häftling das Mitsingen nicht irgendwie durch Mundbewegungen mimte, schlug er die einzelnen Häftlinge erbärmlich nieder. 41

37 | Das Westerwaldlied ist auch im Liederbuch der Bundeswehr »Kameraden singt« aufgeführt. 38 | Dieses Lied ist heute die inoffizielle Hymne des Landes Brandenburg und wird als solche in der Schule gelernt. 39 | Zur Auflistung aller befohlener Lieder siehe: Brauer, Musik im Konzentrationslager Sachsenhausen, S. 44f. 40 | Harry Naujoks, Mein Leben im KZ Sachsenhausen 1936 bis 1942. Erinnerungen des ehemaligen Lagerältesten, bearb. von Ursel Hochmuth, hg. von Martha Naujoks, Berlin 1989, S. 212. 41 | Herbert Paul Roch, Zeugenvernehmung im Ermittlungsverfahren gegen Sorge, Gustav und Schubert, Wilhelm wegen Mordes, Vernehmungsniederschrift, vom 23.2.1956, AS JD2/9, Bl. 85.

309

310

J ULIANE B RAUER

Schubert führte sogar ein, das obligatorische Liederüben mit »Strafsport« zu verbinden. So ließ er die polnischen Häftlinge die befohlenen Lieder in der Hocke üben. Wenn ihm der Gesang nicht gefiel, mussten die Lieder wiederholt werden – weiterhin in der Hocke.42 Der als deutscher Jude im November 1938 inhaftierte Hans Reichmann beschrieb in seinen bereits im Juni 1939 in London verfassten Aufzeichnungen über seine kurze Haft in Sachsenhausen besonders eindrücklich eine Situationen zwangsweise angeordneten Singens: Manchem Kameraden war der Kontrast zwischen diesem Singen und der Stimmung, die es hier hinter dem elektrischen Draht weckte, umlauert von Chorführern, die nur zu gern den Takt mit den Fäusten schlugen, das niederdrückendste Erlebnis des Lagers. […] Wenn unsere Züge todmüde und hungrig einrückten, und jeder von uns durchfroren auf die warme Mahlzeit des Tages wartete, wenn der Appell fast eine Stunde gedauert hatte, und wir mit Schmerzen in den Füßen und Beinen die Minuten bis zum »Rührt Euch« zählten, dann konnten wir sicher sein, dass der Lagerführer singen lassen würde. Ein Stuhl wurde geholt; darauf stellt sich unser Kamerad Herwig, kommunistischer Abgeordneter aus Hamburg und kündigt an: »Sauerland«. Es war schlechthin blödsinnig, dieses meist gesungene Lagerlied, das westfälische SS-Leute eingeführt haben mochten. […] Wir hatten das »Juvivalera« nicht hell genug hinausgeschmettert. Nach fünf bis zehn Grad Kälte war uns nicht nach »Juvivalera« zumute. So mussten wir es zweimal singen, schmettern, melodisch lachen und jubeln: »Juvivalera – ha-ha-ha-ha-ha!« Wir sangen mit maskenhaft starren Zügen, längst hatte uns die Dunkelheit ganz eingehüllt. Wie lange werden wir noch stehen müssen, bis die Strophen ganz abgerollt sind? Wie viele Lieder wird er noch brüllen lassen? […] Als Schinderei ist es gedacht, als Schinderei wird es empfunden. Hätten wir noch einen Zweifel an der bösen Absicht, Eisfeld und seine Spießgesellen müssten ihn uns austreiben. […] Es ist mir, als sähe ich arme Kinder singen. Sie schneiden gequälte Grimassen des Lächelns und blicken scheu nach dem bösen Vater, der den Leierkasten dreht und schlagen wird, wenn das Lied nicht genug Groschen einbringt. 43

Diese Erinnerungen zeigen, dass das befohlene Singen weit mehr als eine symbolische Herstellung von Machtverhältnissen war. Die Häftlinge standen zu Tausenden auf dem Appellplatz, dem bedeutendsten Ort der absoluten Macht, nach aufzehrender Arbeit kraftlos, und mussten stundenlang singen. Der Befehl nach einem Lied hatte mehrere Funktionen. Der SS diente er zum eigenen 42 | Aleksander Kulisiewicz, Musik und Gesang in faschistischen Konzentrationslagern 1933 bis 1945, Bd. Sachsenhausen, Sa. 2 – Sa. 440, unveröff. Manuskript, übers. von Doris Radojewski, Krakau o.J., AS P 3 Kulisiewicz, Aleksander, Sa 3. 43 | Hans Reichmann, Deutscher Bürger und verfolgter Jude. Novemberpogrom und KZ Sachsenhausen 1937-1939, bearb. von Michael Wildt, München 1998, S. 211ff.

M USIKALISCHE G EWALT : K ULTURELLE A USPRÄGUNGEN ABSOLUTER M ACHT

Amüsement. Gleichzeitig schuf er Gelegenheiten zu körperlichen Züchtigungen. Das erzwungene Singen war darüber hinaus Symbol der absoluten Macht sowohl über den Körper als auch über den Geist der Gefangenen. Das Singen »blödsinniger« Lieder machte die Menschen zu willenlosen »maskenhaft starren« Marionetten, zielte auf das Wesen des Menschen, sein Selbstverständnis, seine Identität. Wie stark das zwangsweise Singen im Lager tatsächlich den Menschen in seinem Selbst traf und zerstören konnte, darauf verweist Reichmann mit seinem Bericht über den Selbstmord von Mitgefangenen. Die musikalische Gewalt birgt beides in sich – die Verletzung des Körpers und der Seele der Menschen –, wodurch sich ihre zerstörende Macht potenziert. Diese doppelte Wirkung des Singens in Zwangssituationen ist noch deutlicher in den verschiedenen Arbeitskommandos zu beobachten, in denen die SS das Singen als Strafverschärfung anordnete. So überliefert der ehemalige polnische Gefangene Aleksander Kulisiewicz, dass es in Sachsenhausen das Kommando der »Singenden Pferde« gab. Dabei wurden unglückliche Opfer vor einen schwer beladenden Karren gespannt, den sie ziehen mussten; sie beugten beim Ziehen den gesamten Leib nach vorn, den Kopf tief zum Boden gebeugt, und dabei mussten sie die ganze Zeit singen, so laut sie nur konnten. Damit sollten Muskeln, Lungen, Brustkorb, Nervensystem und Stimmbänder zugleich kaputt gemacht werden. Singen mussten sie Marschlieder, rasante und liebliche Melodien, alles, damit die Verzweiflung noch schlimmer wurde. 44

Kulisiewicz benutzt für seine Beschreibung den Terminus des »musikalischen Sadismus«. Dieser ist gekennzeichnet durch die Auswahl der Lieder, die im »schmerzlichen Kontrast zur Wirklichkeit stehen«45 .

M USIK ALISCHE G EWALT GEGEN SPEZIFISCHE H ÄF TLINGSGRUPPEN Wie im eingangs angeführten Zitat deutlich wurde, gab es eine Form musikalischer Gewalt, die sich insbesondere gegen jüdische Häftlinge richtete.46 Die SS-Blockführer gingen zum einen mit gezielter und gewollt tödlicher Brutali44 | Aleksander Kulisiewicz, Weitere Beiträge zur Psychopathologie von Musik und Liedern in den Nazi-Lagern, in: Guido Fackler (Hg.), Aleksander Kulisiewicz: Musik aus der Hölle, Beiträge zum musikalischen Lageralltag in Konzentrationslagern des »Dritten Reichs«, übers. von Doris Radojewski, Würzburg (in Vorb.), hier S. 15. Erstveröffentlichung in: Medizinische Rundschau (1975), S. 33-40. 45 | Ebd., S. 30. 46 | Ähnliches lässt sich auch für Behandlung der Zeugen Jehovas beobachten, siehe Brauer, Musik im Konzentrationslager Sachsenhausen, S. 331ff.

311

312

J ULIANE B RAUER

tät gegen die jüdischen Gefangenen vor. Zum anderen lassen sich ideologische und kulturelle Stigmata erkennen, mit denen die SS-Führer wie im oben angeführten Beispiel den jüdischen Häftlingen begegneten. Der Befehl an den Opernsänger Alfieri, während seiner qualvollen Misshandlung zu singen, steht für ein typisches Gewaltritual gegenüber den jüdischen Häftlingen und resultiert aus der soziokulturell gewachsenen Zuschreibung, dass Juden musikalisch seien. Die publizistischen Vorarbeiten deutscher Musikwissenschaftler in den 1920er- und 1930er-Jahren unterstrichen pseudowissenschaftlich das antisemitische Vorurteil, dass das deutsche Musikleben von Juden beherrscht sei.47 So heißt es in einem damals populären Lexikon über die Juden in der Musik: »Das deutsche Denken ist noch durch jüdische Presse, jüdische Tonsetzer, Musikschriftsteller, Wissenschaftler, Lehrer etc. verseucht.«48 Neunzig Prozent aller Musiker seien Juden.49 Solche Schriften untermauerten das Stigma vom musikalischen Juden und ermöglichten im Wesentlichen ohne aufwendige Nachforschungen den raschen Ausschluss der deutschen Juden aus dem öffentlichen Musikleben ab 1933. Auch der oben erwähnte Opernsänger Georg Adler wurde am 21. Dezember 1939 in Sachsenhausen als »Rasseschänder« eingeliefert. Er gehörte zu der im Lexikon der Juden in der Musik benannten Berliner Künstlerfamilie Alfieri-Adler.50 Georg Adler, genannt Alfieri, starb am 17. Juli 1940 im Konzentrationslager Sachsenhausen im Alter von 49 Jahren, wahrscheinlich während der eingangs genannten Tötungsaktion.51 Die gezielte Demütigung von Musikern im Konzentrationslager Sachsenhausen bezog sich nach Quellenlage fast ausschließlich auf jüdische Musikschaffende. Es scheint, als wollten die zuständigen SS-Blockführer mit Gewalt 47 | Die Austreibung jüdischer Musiker sei die »fleißige Arbeit deutscher Musikforscher« gewesen, so die wichtigste und für die Zunft erschreckende Erkenntnis von Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt a.M. 21989, S. 47. 48 | Hans Brückner und Christa M. Rock (Hg.), Judentum und Musik mit dem ABC jüdischer und nichtarischer Musikbeflissener, München 1936, hier S. 13. 49 | Ebd., siehe weiterhin Theo Stengel und Herbert Gerigk (Hg.), Lexikon der Juden in der Musik. Mit einem Titelverzeichnis jüdischer Werke, Faksimile abgedruckt in: Eva Weissweiler, Ausgemerzt. Das Lexikon der Juden in der Musik und seine mörderischen Folgen, Köln 1999, S. 181-374. 50 | Siehe Faksimile in Weissweiler, Ausgemerzt, S. 194. Der ebenfalls zur Familie gehörende Künstler Emanuel Adler-Alfieri wurde am 13.12.1938 aus Sachsenhausen entlassen. Nach Unterlagen des Oberfinanzpräsidenten Berlin, Vermögensverwertung Außenstelle, siehe Brandenburgisches Landeshauptarchiv Rep. 92 Nr. 566 emigrierte Emanuel Alfieri, geb. am 6.5.1899 in Bukarest mit seiner Ehefrau ins Ausland. »Ihr Vermögen wurde zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen.« 51 | Veränderungsmeldung vom 17.7.1940, AS, JSU 1/96, Bl. 204.

M USIKALISCHE G EWALT : K ULTURELLE A USPRÄGUNGEN ABSOLUTER M ACHT

diesen Gefangenen ihre vermutete Musikalität austreiben. Daraus resultierend lassen sich in einer Vielzahl von Häftlingserinnerungen stereotype Hinweise auf »den jüdischen Geiger« beziehungsweise »den jüdischen Opernsänger« finden, die gezielt von SS-Führern herausgegriffen wurden, um zu musizieren und dabei körperlich misshandelt wurden. Namen werden dabei nur in Einzelfällen überliefert. Beispielhaft beschrieb der ehemalige Lagerälteste Harry Naujoks eine Situation während der Entlassung eines jüdischen Opernsängers Ende 1938: Er stand vor der Effektenkammer und wurde von einem SS-Mann aufgefordert, etwas zu singen. Er erwiderte: »Ohne musikalische Begleitung geht das nicht.« Da ließ der SSMann einen Zigeuner mit seiner Geige holen. Er sollte den Sänger zu »Komm, Cygan, spiel mir was vor« begleiten. Es folgten noch andere Lieder, die der SS-Mann vorgesungen und vorgespielt haben wollte. Als er endlich genug hatte, jagte er den Zigeuner davon, und der Opernsänger ging in die Freiheit. An der Tür gab er mir die Hand und sagte: »Scheißkerl, der ich bin. Mensch, bin ich ein Scheißkerl«. 52

So befahlen SS-Leute das Singen oder Musizieren erstens, um sich zu amüsieren und zweitens in der Absicht, den jüdischen Musiker zu demütigen, was der Beschreibung Naujoks nach auch gelungen ist: Der Musiker schämt sich und beschimpft sich selbst dafür, dass er aus Angst vor Gewalt dem SS-Mann ein Lied vorgesungen hat. So schaffte es die SS, die Identität der Menschen als Musiker gegen sie selbst zu kehren. Typischerweise waren drittens die öffentlichen Schikanierungen häufig mit körperlicher Gewalt verbunden. SS-Männer führten Situationen bewusst herbei, um mit Schlägen und Tritten jüdische Musiker für ihre »Darbietungen« zu bestrafen. So berichtete der ehemalige Häftling Willy Rehder in der Landeskriminalpolizeidienststelle Stade 1961 von der öffentlichen Schikanierung eines namentlich nicht benannten jüdischen Opernsängers. Mir ist aus eigenem Erleben bekannt, dass dieser jüdische Opernsänger schon vorher auf Befehl des Kaiser [SS-Oberscharführer Otto Kaiser] auf dem Appellplatz singen musste und dabei von Kaiser mit Faustschlägen und mit Tritten misshandelt wurde. Kaiser hatte seinen besonderen Spaß daran, diesen Sänger immer wieder Arien singen zu lassen und ihn dabei zu misshandeln. Das Singen bezeichnete er als Quietschen. 53

Ähnliches ist über den jüdischen Musiker Peter Bach bekannt, der nach Zeugenaussage von Peter Franz von SS-Männern mit Knüppeln und Fäusten ge52 | Naujoks, Mein Leben im KZ Sachsenhausen, S. 94. 53 | Willy Rehder, Zeugenaussage, Landeskriminalpolizeidienststelle Stada, 16.6.1961, AS JD 7/8, Bl. 55, geboren am 12.7.1900, Häftlingsnummern 113 und 11 567.

313

314

J ULIANE B RAUER

schlagen wurde und dabei ein Lied singen sollte.54 An diesen Beschreibungen wird besonders deutlich, mit welchen Mitteln die SS körperliche mit psychischer Gewalt koppelte. Durch die öffentlichen Peinigungen zielte die SS jedoch nicht nur darauf, die Häftlinge physisch zu brechen. Mehr noch konnte diese Form musikalischer Gewalt dem Menschen seine Identität und sein Selbstbewusstsein als Sänger und Musiker rauben und damit ihm auch die Möglichkeit nehmen an der Musik als »Überlebensressource« festhalten zu können. Die Soziologin Maja Suderland arbeitet heraus, dass »Bildung ein individuelles Kontinuum darstellt« und somit eine »Überlebensressource«55 für Häftlinge sein konnte. So zeigte sich auch bei der Dokumentation und Analyse der selbstbestimmten musikalischen Aktivitäten in Sachsenhausen, dass das Festhalten an der eigenen Identität, die Herstellung einer Kontinuität zum früheren Leben vor allem für Laienmusiker eine Art Alltagsstrategie darstellte, »mit [der] man die Lebensverhältnisse im Konzentrationslager in den Griff zu bekommen versuchte«56. An diesen Situationen zeigt sich insbesondere das von Wolfgang Sofsky hervorgehobene Spezifikum der absoluten Macht. Sie ist »befreit von allen Hemmungen und entgrenzt die Grausamkeit.«57 Erst aufgrund dieser Entkoppelung von Normen konnten solche Gewaltpraktiken erdacht, erprobt, variiert oder gesteigert werden.

54 | Peter Franz, Zeugenaussage Vernehmungsniederschrift, Landeskriminalamt Dudweiler 8.10.1964, AS JD 8/1, Teil 2, Bl. 127. Zu Peter Bach siehe weiterhin: Juliane Brauer, Musikalische Gewalt und Über-Lebens-Mittel Musik. Jüdische Musiker im Konzentrationslager Sachsenhausen – Das Beispiel Peter Bach, in: musica reanimata-Mitteilungen 63 (2007), S. 1-14. 55 | Maja Suderland, Bildung, Distinktion und Habitus. Überlebensressourcen in der sozialen Welt der nationalsozialistischen Konzentrationslager, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 23 (2003), S. 302-322; und Maja Suderland, Territorien des Selbst. Kulturelle Identität als Ressource für das tägliche Überleben im Konzentrationslager, Frankfurt a.M., New York 2004, hier z.B. S. 135. 56 | Siehe dazu die Überlegungen des Ethnologen Christoph Daxelmüller, Kulturelle Formen und Aktivitäten als Teil der Überlebens- und Vernichtungsstrategie in den Konzentrationslagern, in: Ulrich Herbert, Karin Orth und Christoph Dieckmann (Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager – Entwicklung und Struktur, Bd. 2, Göttingen 1998, S. 983-1005, hier S. 997. Weiterhin zum Beispiel auch S. 1000: »Kultur allein garantierte den Rest an Menschenwürde, der zum Überleben notwendig war.« 57 | Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt a.M. 1997, S. 28f.

M USIKALISCHE G EWALT : K ULTURELLE A USPRÄGUNGEN ABSOLUTER M ACHT

F A ZIT : M USIK ALISCHE G E WALT Es wird deutlich, dass sich vor allem in den so ungleich verteilten Machtpositionen im Konzentrationslager die Anfälligkeit der Musik für Funktionalisierungen in Bezug auf Praktiken der Gewalt manifestiert. So konnte gezeigt werden, dass der Begriff »musikalische Gewalt« angewendet werden muss, um Strafaktionen und willkürliches Verhalten von SS-Blockführern und Wachmannschaften im Konzentrationslager Sachsenhausen charakterisieren zu können. Dieser Begriff ergibt sich aus den in den Erinnerungsberichten festgeschriebenen Wahrnehmungen vieler verschiedener Überlebender. Für die Beschreibung der spezifischen physischen aber auch psychischen Wirkung von Musik in Befehlsund Gewaltsituationen scheint er unerlässlich. Der Befehl nach einem Lied parodiert den ursprünglichen Sinn dieser musikalischen Praktik des gemeinsamen Gesanges. Denn Singen kommuniziert emotionale und kognitiv gemeinsame Ideale, Weltvorstellungen. Das gemeinsam gesungene Lied als kollektive Handlung unterstützt Gruppenleben und gibt ihm Sinn.58 Diese Überlegungen rücken eigentlich Musik als gemeinschaftsstiftendes Medium in den analytischen Mittelpunkt von Kollektivierungsprozessen. Singen, so konstatiert der Musiksoziologe Karl Adamek, diene der Kompensation negativer Emotionen und sei eine »Energetisierungsstrategie bei körperlichen und seelischen Schmerzen«59 . In der Situation des befohlenen Singens kehre sich seine Wirkung um. Es vereinzele den Menschen in seinem Leiden an der Kälte, an seinen Schmerzen, seinem Hunger. In diesen Verzerrungen verhöhnten die Lieder die Gefangenen, statt ihre positiven Wirkungen zu entfalten. Die musikalische Gewalt zielte darauf ab, dem Einzelnen oder einer ganzen Häftlingsgruppe Gewalt anzutun. Diese Gewalt zielt nicht ausschließlich über den Körper in die Seele des Menschen, wie es Heinrich Popitz in seiner Phänomenologie der Gewalt aufzeigt. Die musikalische Gewalt trifft den Menschen direkt in seinem Innersten, seiner Identität und damit in seiner Lebens– und im Konzentrationslager – Überlebensressource; dies jedoch, ohne dabei zwangsläufig körperlich zu verletzen. Dennoch zerstört sie den Menschen als Ganzen. Denn – so heißt es in vielen Erinnerungsberichten – wenn es den Gefangenen nicht mehr gelang, einen Kern ihres Selbst, ihrer Menschenwürde unter diesen Bedingungen zu bewahren, hätten sie den Kampf ums Überleben aufgegeben.

58 | Siehe dazu Ernst Klusen, Singen. Materialien zu einer Theorie, Regensburg 1989, insbesondere S. 163f. 59 | Karl Adamek, Singen als Lebenshilfe. Zu Empirie und Theorie von Alltagsbewältigung. Plädoyer für eine »Erneuerte Kultur des Singens«, Münster 1996, S. 72ff.

315

Kalter Krieg und Staatsmusik Emotionalisierung und (Ent-)Politisierung in Stings Russians Yvonne Wasserloos

»What might save us me and you is if the Russians love their children too«. Die Textzeile aus dem 1985 veröffentlichten Popsong Russians von Gordon Matthew Sumner, alias Sting, fügt sich scheinbar in die Stimmungslage des Kalten Krieges ein: Im Hinblick auf den Textgehalt kann Russians1 sicherlich als Ausdruck der Gegenwart, als Zeitdokument gelten, wird hier doch das damalige Feindbild des Westens besungen und – vermutlich infolge der Unkenntnis des Fremden – diskreditiert. Gebrochen wird die Perspektive des Songs allerdings durch die unüberhörbaren musikalischen Anleihen an Sergej Prokofjews Musik zu Leutnant Kijé, die wiederum der sowjetischen Staatsmusik zuzuordnen ist. Diese Form von Staatsmusik wird im Folgenden nicht im Sinne repräsentierender Musik, beispielsweise im Rahmen militärischer Organisationen, sondern als Musik des Staates für das Volk verstanden und betrachtet. In der Sowjetunion richtete sie sich an die breite Bevölkerung, erhob erzieherischen Anspruch und sollte darüber hinaus auf die Doktrin des »Sozialistischen Realismus« einschwören und zur inneren Konsolidierung des Staates beitragen. Es stellt sich die Frage, welche Rolle die staatstragende Musik Prokofjews für ein politisch-kulturell dekonstruierendes Lied von Sting über die Sowjetunion übernimmt und welche Aussagen sich anhand dieses Phänomens über die Wirkungsweisen von Staatsmusik treffen lassen. Ein erster Zugang eröffnet sich über den emotionalen Gehalt von Russians als musikalisches Stimmungsbarometer im Kalten Krieg.

1 | Auch wenn Sting die politisch korrekte Bezeichnung »Soviets« im Titel und Text hätte benutzen müssen, wird im Folgenden zur dichteren Verbindung mit dem Song die Bezeichnung »Russen« beibehalten.

318

Y VONNE W ASSERLOOS

B EDROHUNGSSZENARIEN Russians wurde auf Stings erstem Soloalbum The dream of the blue turtles veröffentlicht, das 1983 bis 1985 entstand, mitten in der letzten politisch bedeutsamen Krise im Ost-West-Konflikt. Das nukleare Wettrüsten zwischen den USA und der UdSSR hatte sich seit dem Beginn der Achtziger auf einen Höchststand zugespitzt und trug zu einem permanenten Gefühl der Bedrohung der Bevölkerung bei. Insbesondere die Stationierung der Nuklearwaffen in Europa ließ die Schreckensvision eines Atomkrieges zunehmend realistischer erscheinen. Die politische Mobilisierung von und durch Angst fand hier ihre Klimax; Angst avancierte zum Zeitgeist des Kalten Krieges.2 Auf westlicher Seite trug insbesondere US-Präsident Ronald Reagan zur Verunsicherung bei, indem er Politpropaganda betrieb und Feindbilder schürte. Die Sowjetunion definierte Reagan als das »Reich des Bösen« (»Evil Empire«) und er verkündete darüber hinaus, man befände sich »im Krieg mit dem gefährlichsten Feind, der jeden Menschen auf ihrem langen Anstieg von den Sümpfen zu den Sternen entgegengetreten«3 sei. Die Angst in der Bevölkerung schürte er durch unbedachte und provokante Aussagen, wie »[d]ie Bombardierung Rußlands beginnt in fünf Minuten«, die deutsche Wochenmagazine zum Anlass nahmen, von »Reagans bedrohlichem Humor« auf der Plattform eines enorm emotional aufgeladenen politischen Weltkonflikts zu sprechen.4 Populäre Musik bot eine öffentliche und aktuelle Bühne für die Thematisierung und Verarbeitung der politischen Vorgänge, insbesondere aber der Stimmung der Zeit. Dazu gehörte eine Vielzahl von Songs, die die Apokalypse der atomaren Bedrohung thematisierten, von frühen Beispielen wie Go away you bomb (Bob Dylan, 1962) bis hin zu Songs verschiedenster Stilrichtungen, die vermehrt in den 1980er-Jahren aufkamen, wie Cruise Missiles (Fisher-Z, 1981), Pershings Zapfenstreich (Die 3 Tornados, 1982), die Compilation Wir Wollen Leben. Lieder Gegen Den Untergang (1982), 99 Luftballons (Nena, 1983) oder Besuchen Sie Europa (Geier Sturzflug, 1983). Die Band Alphaville fasste 1984 in ihrem Song Forever Young den Zeitgeist in bewegender Art und Weise zusammen: »Hoping for the best/but expecting the worst/are you gonna drop the bomb or not?« Auch Sting hatte bereits vor Russians mit The Police die Thematik aufgegriffen. Auf 2 | Vgl. Bernd Greiner, Angst im Kalten Krieg. Bilanz und Ausblick, in: ders., Christian Th. Müller und Dierk Walther (Hg.), Angst im Kalten Krieg, Hamburg 2009, S. 7-31, hier S. 17f.; Tim B. Müller, »Ohne Angst leben«. Vom Geheimdienst zur Gegenkultur – intellektuelle Gegenentwürfe zum Kalten Krieg, in: ebd., S. 397-435, hier S. 397. 3 | Art. Ronald Reagan, Was war das? in: Der Spiegel 38/34 (1984), 20. Aug. 1984, S. 76-84, hier S. 76. 4 | »I’ve signed legislation that would outlaw Russia forever. We begin bombing in five minutes.« Zit. nach Reagan, Was war das?, S. 77.

K ALTER K RIEG UND S TAATSMUSIK . E MOTIONALISIERUNG UND (E NT -)P OLITISIERUNG IN S TINGS R USSIANS

dem Debütalbum Outlandos d’Amour (1978) ließ er im autobiografischen Song Born in the 50s verlauten: »Would they drop the bomb on us/while we made love on the beach?«

W ORT UND K L ANG : E MOTIONEN IN R USSIANS Sting gilt als politisch engagierter Künstler, der sich durchgängig mit Projekten und Konzerten für Menschen- und Bürgerrechte einsetzt. Auch in seinen Liedtexten äußert er Kritik an Missständen in Politik und Gesellschaft. Insbesondere der Kalte Krieg beeindruckte ihn. Im Jahr 1951 geboren, wuchs Sting mit der atomaren Bedrohung auf und wurde laut eigener Aussage vorrangig durch das Miterleben der Kubakrise 1962 geschockt. Diese Erfahrungen ließen ihn nachfolgend stets eine kritische Sichtweise gegenüber Autoritäten und gesellschaftlichen Entwicklungen einnehmen.5 Auf dem Album The dream of the blue turtles erschienen neben Russians mit Children’s crusade und We work the black seam zwei weitere zeit- und sozialkritische Lieder, die sich mit Drogenmissbrauch beziehungsweise mit den 1984 erfolgten Streiks der britischen Minenarbeiter beschäftigen. Dieser kritische Ansatz stieß durchaus auf negative Kommentierungen. Die weniger musikkonzentrierte Presse wies auf Stings beinahe »krampfhaftes Bemühen um Intellektualität« hin, mit dem er »wortreich wie nie zuvor […] dunkle Flecken dieser Welt und Abgründe der eigenen Seele«6 auszuleuchten versuche. Offensichtlich wurde eine Diskrepanz zwischen sprachlichem und musikalischem Inhalt im Bemühen um die Äußerung einer politischen Haltung wahrgenommen: »Diese schwere Geistesfracht [der Texte] drückt nun auf die scheinbar schlichten, meist betörend schönen Melodien und melancholischen Harmonien seiner neuen Ohrwürmer. Im Song Russians, zu dem er sich ein Thema von Prokofjew ausgeborgt hat, kommentiert er den globalen Konflikt der Supermächte.«7 Russians wurde am 1. November 1985 als Single ausgekoppelt und stieg in den US-amerikanischen und europäischen Singlecharts hoch auf. In Frankreich erreichte sie mit Platz 2 die höchste Platzierung und wurde mit über 500.000 verkauften Exemplaren durch den »Gold«-Status geehrt.8 Mit Platz 4 verbuch-

5 | Vgl. Christopher Sandford, Sting. Die definitive Biographie, Höfen 2000, S. 23. 6 | Art. Schwere Fracht, in: Der Spiegel 39/26 (1985), 24. Juni 1985, S. 178f. 7 | Schwere Fracht, S. 179. 8 | Schweden (Platz 16), Schweiz (13), USA (12), Großbritannien (12), Irland (11) und Niederlande (8). Zahlen nach: Art. Russians (Song), in: Wikipedia, http://en.wikipedia. org/wiki/Russians_(song) [12.8.2010].

319

320

Y VONNE W ASSERLOOS

te Russians den größten Single-Erfolg des gesamten Albums in Deutschland.9 Worin liegt jedoch die trotz der geäußerten Kritik bemerkenswerte Attraktivität des Liedes – falls Verkaufszahlen darauf einen Hinweis liefern können – beziehungsweise worin äußert sich die »schwere Geistesfracht« der Texte?

Russians10 1. In Europe and America there’s a growing feeling of hysteria Conditioned to respond to all the threats In the rhetorical speeches of the Soviets Mister Krushchev said, »We will bury you« I don’t subscribe to this point of view It’d be such an ignorant thing to do If the Russians love their children too 2. How can I save my little boy From Oppenheimer’s deadly toy? There is no monopoly on common sense On either side of the political fence We share the same biology Regardless of ideology Believe me when I say to you I hope the Russians love their children too 3. There is no historical precedent to put Words in the mouth of the president There’s no such thing as a winnable war It’s a lie we don’t believe anymore Mister Reagan says »We will protect you« I don’t subscribe to this point of view Believe me when I say to you I hope the Russians love their children too

9 | Vgl. www.funrec.de/charthistory2/index.php?action=showtit&tit=2076 [12.8.2010]. Zu einer ausgewogenen Diskussion von Russians gehört zweifellos die Betrachtung der Rezeptionsgeschichte in der Sowjetunion. Aufgrund bislang fehlender oder ungesicherter Quellen, die auf Chartplatzierungen oder Sendeverbote hinweisen, können zu diesem Zeitpunkt noch keine seriösen Aussagen getroffen werden. 10 | Die Textfassung entspricht jener der offiziellen Sting-Homepage www.sting.com/ discog/?v=so&a=1&id=220 [10.8.2010], die identisch ist mit jener in der Textsammlung Sting. Die Songs, übers. von Manfred Allié, Frankfurt a.M. 2010, S. 110f.

K ALTER K RIEG UND S TAATSMUSIK . E MOTIONALISIERUNG UND (E NT -)P OLITISIERUNG IN S TINGS R USSIANS (Epilog) We share the same biology Regardless of ideology What might save us, me and you Is if the Russians love their children too

In den ersten drei Versen wird ein düsteres, einseitiges Stimmungsbild gezeichnet, in dem der Westen auf die rhetorischen Drohgebärden der Sowjets mit wachsender Hysterie (»hysteria«) reagiert. Zur Unterstreichung der Totengräberstimmung wird ein Zitat aus dem Jahr 1956 des damaligen Parteichefs der KPdSU Nikita Chruschtschow angeführt: »Mr. Kruschev said we will bury you.« Allerdings ist zu bemerken, dass Chruschtschow, unter politischem Druck stehend, seinen Ausspruch in mehreren Pressekonferenzen entschärfen musste. »We will bury you« habe sich nicht auf den Untergang der Amerikaner durch die Sowjets, sondern auf den Untergang der Bourgeoisie durch die amerikanische Arbeiterklasse bezogen.11 Wie auch immer diese Stellungnahme einzuschätzen ist, Sting übernahm das Chruschtschow-Zitat unkritisch für eine plakative Wirkung zur Dramatisierung der Ereignisse: Durch die Verwendung eines rund 30 Jahre alten Zitats wird die Bedrohung durch die Russen als ›traditionell‹ gegeben suggeriert. Mit der Erwähnung des Namens »Chruschtschow« wird zudem auf jene politische Figur hingewiesen, die im Kalten Krieg wesentlich für die Nutzung des nuklearen Bedrohungspotenzials zur Durchsetzung eigener Machtinteressen eintrat. Chruschtschow war von der Überlegenheit der UdSSR gegenüber dem Westen und des Kommunismus über den Kapitalismus überzeugt. Um diese Haltung zu demonstrieren und die Position der Sowjetunion zu verstetigen, betrachtete er die atomare Aufrüstung als das wesentliche Mittel sowohl für Angriff als auch Verteidigung.12 Die Anklage der westlichen Machtseite erfolgt in der dritten Strophe. Den Drohgebärden der Sowjets werden die Beschwichtigungsversuche der USA entgegengehalten, die Vision vom gewinnbaren nuklearen Krieg (»winnable war«) jedoch als Lüge (»lie«) entlarvt. Der »winnable war« ist als Anspielung auf die Aussage des Reagan-Beraters Richard Pipes aus dem Jahr 1982 zu verstehen: »The probability of nuclear war is 40 percent […] and our strategy is winnable nuclear war.«13 Vor dem Hintergrund der Ausmaße und Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 sowie der 11 | Vgl. Fjodor Burlazki, Chruschtschow. Ein politisches Porträt, Düsseldorf 1990, S. 155. 12 | Vgl. Daniela Spenser, Die Kubakrise 1962 und ihre Folgen für das kubanischsowjetische Verhältnis, in: Bernd Greiner, Christian Th. Müller und Dierk Walter (Hg.), Krisen im Kalten Krieg, Hamburg 2008, S. 297-320, hier S. 298f. 13 | Jack Doyle, Sting: Russians, 1985, in: PopHistoryDig.com (30.4.2009); www. pophistorydig.com/?p=1703 [4.8.2010].

321

322

Y VONNE W ASSERLOOS

fehlenden Erfahrungen mit einem nuklearen Krieg (»no historical precedent«) sind die Hinweise auf einen »winnable war« und Reagans Versprechungen »We will protect you«14 kaum überzeugend. So erfolgt eine Distanzierung von der pathetischen Schutzversprechung Reagans wie zuvor von der Vernichtungsprophezeiung Chruschtschows durch die Wiederholung der Textzeile: »I don’t subscribe to this point of view«. Zwischen der Grobskizze des Ost-West-Konflikts in der ersten und dritten Strophe wird die Thematisierung der konkreten Gefahr in der zweiten Strophe platziert. Die Atombombe tritt als Groteske, als das »tödliche Spielzeug« (»deadly toy«) ihres Erfinders J. Robert Oppenheimer auf und allusioniert mit »little boy« auf den Namen jener Bombe, die auf Hiroshima abgeworfen wurde. Dieser düsteren Ausgangslage werden zwei zentrale Textpassagen entgegengehalten, denen durch ihre Wiederholung besonderes Gewicht verliehen wird. Einerseits wird mit »We share the same biology, regardless of ideology« betont, dass es sich im Kampf der Systeme bar jeder Ideologie und negativen Vorstellungen vom Fremden, um Menschen und damit um eine Spezies gemeinsamer Herkunft handelt. Andererseits taucht dreimal der die Strophen abschließende Vers auf, der dem Lied besondere Brisanz verleiht, indem die humane Seite der Russen angezweifelt wird: »It would be such an ignorant thing to do/If the Russians love their children too« (1. Strophe), » Believe me when I say to you/I hope the Russians love their children too« (2. und 3. Strophe). Eine besondere Komponente erfährt die Hoffnung auf die Menschlichkeit der Russen in der finalen Kulmination im Epilog: »What might save us me and you/Is if the Russians love their children too.« Durch die Wahl der Konditionalform, eingeleitet durch »if« anstatt des Indikativs »that the Russians love their children, too« lässt Sting den Wahrheitsgehalt seiner Aussage offen und löst die zuvor getroffene Annahme der Entmenschlichung der Russen nicht auf. Letztlich weist Sting darauf hin, dass die Rettung und Zukunft der Welt weniger von der Politik, sondern von der erhofften Humanität der Russen beziehungsweise der Sowjets abhängt. Sting war sich der Brisanz und Ambivalenz der Zeile »if the Russians love their children« durchaus bewusst. In einem Interview wies er 1985 darauf hin, dass sie als rhetorische Frage zu verstehen sei. Die Menschenfreundlichkeit der Russen sei ein Fakt:

14 | Diese Verteidigungsversprechungen gehen vermutlich auf Reagans Strategic Defense Initiative (SDI) zurück, die er im März 1983 vorstellte. Die SDI beruhte auf einem im All stationierten Laser, der im Notfall einfliegende sowjetische Raketen zerstören sollte. Dieses Programm wurde weltweit despektierlich als Reagans »Star Wars« kommentiert. Art. Reagan for the Defense, in: Time Magazine vom 4. Apr. 1983, S. 4 der web-Version www.time.com/time/magazine/article/0,9171,923443,00.html [10.2.2011] .

K ALTER K RIEG UND S TAATSMUSIK . E MOTIONALISIERUNG UND (E NT -)P OLITISIERUNG IN S TINGS R USSIANS So in terms of the song, I think of myself as a father of children, and there must be people who feel the same as I do in Russia, there has to be. It’s a ridiculous statement to make: the Russians love their children too. And yet it’s not. It’s the world that’s ridiculous. People should be saying to me, Why the f… are you writing such a nonsense? It’s like saying, people breathe. But people are saying, God, that song’s really profound, man, you really said it. Well maybe I have, but what a shame […] 15

Dass Sting die Aussage dennoch überdachte, zeigt, dass verschiedene Versionen existieren. Während auf der LP- wie CD-Aufnahme sowie auf der offiziellen Sting-Homepage16 der Text mit »What might save us, me and you/Is if the Russians love their children too« endet, findet sich im CD-Booklet17 die versöhnlich stimmende Variante: »What might save us, me and you/Is that the Russians love their children too«. Sicherlich war es unkomplizierter, bei der Herstellung der CD den Textabdruck zu verändern als die Audiospur. Auch 2010, auf seiner Symphonicities-Tour,18 sang Sting betont »that« statt »if«. Festzuhalten bleibt, dass Sting 1985 durch die subtile Dämonisierung der Russen provozierte, um vermutlich Aufmerksamkeit für die Thematik der Zeit, sicherlich aber auch für die Single und sein erstes Solo-Album zu erreichen. Die fehlende Sensibilität bei diesem Verfahren und bei der Wahl der Worte blieb anscheinend kein Einzelfall. Bis in die Gegenwart liefern Stings Texte Diskussionsstoff. Das amerikanische, häufig zynische Top-Listen kreierende Musikmagazin Blender wählte Sting 2007 zum »schlechtesten Texter aller Zeiten« (»worst Lyricist in Rock«). Begründet wurde die Entscheidung damit, dass Stings Texte eine »gewaltige Großspurigkeit, anwidernde Spiritualität, ungeschickte Metaphern« (»mountainous poposity, clyoing spirituality, ham-handed metaphors«) erkennen ließen und literarische Größen wie William Shakespeare oder Vladimir Nabokow auf »wichtigtuerische Weise« genannt und zitiert werden.19 15 | Interview in New Musical Express 6/1985. 16 | www.sting.com/discog/?v=so&a=1&id=220 [4.8.2010]. 17 | A&M Records, 1985. 18 | Auf dieser Tour, die im Juni 2010 in Nordamerika begann und 2011 weiterhin andauert, führt Sting gemeinsam mit dem Royal Philharmonic Concert Orchestra unter der Leitung von Steven Mercurio seine größten Hits in orchestralen Monumentalfassungen auf. 19 | Vgl. Jon Dolan u.a., The 40 Worst Lyricists in Rock, #1 (9.10.2007) www.blender. com/guide/68876/40-worst-lyricists-in-rock-151-1.html [9.8.2010] und Spiegel online: Popstar Sting. Schlechtester Texter aller Zeiten (9.10.2007); www.spiegel.de/kultur/ musik/0,1518,510380,00.html [28.7.2010]. Grund für diese ›Ehrung‹ war vermutlich das Erscheinen von Stings Buch Lyrics by Sting, London 2007 bzw. in der genannten deutschen Übersetzung Sting. Die Songs. Dabei handelt es sich um eine Sammlung aller Songtexte von The Police 1978 bis Sacred Love (2003), die mit Kommentaren Stings

323

324

Y VONNE W ASSERLOOS

Als musikalische Grundlage dient Russians die Romanze aus der Filmmusik zu Leutnant Kijé von Sergej Prokofjew, die 1933 entstand.20 Die Vokalmelodie wurde weitgehend aus dem Hauptmotiv der Romanze abgeleitet. Darüber hinaus zitiert Sting die Originalvorlage dreimal. Zweimal als Zwischenspiel und als abschließende Coda. In dieser Coda wiederum erklingt das Prokofjew-Motiv mit einer dreimaligen Wiederholung genauso häufig wie im gesamten Lied. In den Zwischenspielen wird die Instrumentation der Romanze verändert. Herrscht im Original bei Prokofjew ein warmer Orchesterklang vor, so ertönen zur Monumentalisierung und ›Russifizierung‹ des Sounds bei Sting Glocken und Gongschläge. Dieser Klang schafft Assoziationen, zum Beispiel zu Modest Mussorgskys Bilder einer Ausstellung und dem Großen Tor von Kiev oder zur Krönungsszene in seiner Oper Boris Godunow. Als Gegenentwurf zum antirussischen Text wird eine Verbindung sowohl zur russischen als auch zur sowjetischen Kultur, beides vermischt sich, durch ein Klangzitat hergestellt. Dass dieser Aspekt als kultureller Brückenschlag gemeint und von großer Bedeutung war, zeigen die erneuten Live-Aufführungen von Russians im Rahmen von Stings Symphonicities-Tour. Zur Verdeutlichung arbeitet Sting hier nicht mehr mit Klangassoziationen, sondern mit konkreten Zitaten. Eingeleitet wird Russians nunmehr mit dem Beginn der zweiten Szene des Prologs aus Boris Godunow. In dieser Krönungsszene wird das Glockengeläut des Kremls imitiert und somit auf Moskau verwiesen.21 Dadurch baut Sting wiederum eine geografische Szenerie durch Klang für Nicht-Kenner der Oper beziehungsweise durch ein direktes Zitat für Kenner auf. Nach der Darstellung einiger Detailbefunde ist nach den Beweggründen zu fragen, die einen britischen Musiker veranlassten, als Grundlage für ein kommerzielles Poplied auf die Kunstmusik eines sowjetischen Komponisten zurückzugreifen.

versehen herausgegeben wurden. Dies schien einigen Kritikern als Anmaßung zu gelten, da Sting seine Textsammlung als »book of poetry« (»Gedichtband«, Sting, Die Songs, S. 7) anpries. Der literarische Wert wurde offensichtlich als nicht gegeben eingeschätzt, so dass die Texte losgelöst von der Musik weniger ›genießbar‹ seien. 20 | Zum konkreten Vorgehen der musikalischen Bearbeitung Prokofjews bei Sting siehe die detaillierte Analyse von Michael Custodis, Klassische Musik heute. Eine Spurensuche in der Rockmusik, Bielefeld 2009, S. 196-200. 21 | Vgl. Kadja Grönke, Moskau in der russischen Oper, in: Musikgeschichte in Mittelund Osteuropa 8 (2002), S. 30-41, hier S. 30.

K ALTER K RIEG UND S TAATSMUSIK . E MOTIONALISIERUNG UND (E NT -)P OLITISIERUNG IN S TINGS R USSIANS

S OWJE TISCHE S TA ATSMUSIK Mit der Ersten Allrussischen Musikkonferenz wurde im Juni 1929 die Musik zum wesentlichen Bestandteil im Klassenkampf bestimmt und in den Dienst des Staates gestellt. Nach Beschluss des Zentralkomitees der KPdSU trat am 23. April 1932 die Resolution »Über den Umbau der literarisch-künstlerischen Organisationen« in Kraft. Damit ging eine Ära der kulturellen Selbstständigkeit und Eigenverantwortung in der Sowjetunion zu Ende. Sie wurde durch Reglementierung und den Zwang zur Konformität verdrängt.22 Im Mai 1932 tauchte der Begriff »Sozialistischer Realismus« erstmals in Zusammenhang mit der Organisation des Schriftstellerverbandes unter Bezugnahme auf Maxim Gorki auf und wurde als maßgebliche Leitlinie und offizielle Ästhetik der Sowjetunion deklariert. Als wesentlich wurde erachtet, dass der Sozialistische Realismus von stolzem und freudigem Pathos getragen sein solle und die Kunst nicht realistisch, sondern idealisierend und glorifizierend darzustellen habe.23 Die Übertragung des im weitesten Sinne literarischen Konzepts auf die Musik gestaltete sich problematisch. Im neugegründeten publizistischen Organ Sowjetskaja Musyka des Komponistenverbandes Sojus Sowjetskich Kompositorow veröffentlichte der Verband 1934 einige, den literarischen äquivalente Richtlinien. Demnach sollte der sowjetische Komponist seine Kunst auf »die sieghaften, fortschrittlichen Urquellen der Wirklichkeit lenken, auf die heroische Klarheit und Schönheit, die die Seelenwelt des sowjetischen Menschen auszeichnet.« Gefordert wurde »eine musikalische Bildhaftigkeit […], die voller Schönheit und lebensbejahender Kraft ist.«24 Die noch unklaren ästhetischen Forderungen der sowjetischen Staatsmusik richteten sich auch an die Kunstmusik und ihre Zugänglichkeit und Verständlichkeit für die breite Volksschicht. Als Träger dieser Ästhetik diente in erster Linie eine eingängige Melodik unter Einbeziehung nationaler Folkloristik. Wesentlich für die Verbreitung sozialistischer Inhalte waren daher textgebundene Werke, sodass eine große Zahl von Opern, Kantaten und Liedern, aber auch Sinfonien und Kammermusik mit entsprechend propagandistischen Inhalten und pathetischem Gestus entstanden. In der Etablierung einer volksnahen Kunst war das Bemühen um Anschluss an die nationalen Traditionen des 19. Jahr22 | Vgl. Boris Schwarz, Musik und Musikleben in der Sowjetunion von 1917 bis zur Gegenwart, übers. von Jeannette Zehnder-Reitinger, Bd.1-3, Wilhelmshaven 1982, S. 182. 23 | Vgl. Dorothea Redepenning, Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik. Das 20. Jahrhundert, Bd. 1, Laaber 2008, S. 303-305. 24 | Art. Sozialistitscheski Realism, in: Boris Solomonoviˇ c Štejnpress und Izrail’ Markoviˇ c Jampol’skij (Hg.), Entsiklopeditscheskii Musykalnyj Slowar, Moskau 21966, zit. nach Schwarz, Musik, Bd. 1-3, S. 190.

325

326

Y VONNE W ASSERLOOS

hunderts zu vernehmen. Die Integration von folkloristischen Elementen in die Kunstmusik sollte auch im 20. Jahrhundert nach innen identitätsstiftend und nach außen abgrenzend wirken. Dass diese ästhetischen Normen strikt zu befolgen und einzuhalten waren, ist mit dem prominenten Beispiel der Verfemung von Dmtri Schostakowitsch durch »Lady Macbeth von Mzensk« hinlänglich bekannt. Zu diesem Zeitpunkt fand eine neue Art von kultureller Kontrolle statt, die auf Angstpropaganda und Terror basierte. Künstler, die zu unabhängig oder progressiv auftraten, wurden unter Androhung von Zensur, Verhaftung, Deportation oder gar Tod zum ›Umdenken‹ hin zu einer »sowjetischen Kunst« aufgefordert.25 Diese kunstästhetischen Direktiven prägten die sowjetischen Künste bis in die Zeit der Perestroika, was in einer internationalen, kulturpolitischen Isolation mündete; ein Merkmal der Kulturentwicklung, das sich auch in anderen totalitären Staaten beobachten lässt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in anderen außereuropäischen kommunistisch und sozialistisch regierten Staaten diese künstlerische Ästhetik gepflegt und verbreitet. Der Schwerpunkt des Einflusses der Sowjetunion lag jedoch im europäischen Rahmen allein auf den Staaten des Warschauer Paktes.26

S ERGE J P ROKOFJE W – L EUTNANT K IJÉ Gegen Ende der 1930er-Jahre näherte sich Prokofjew von Paris aus wieder an die Sowjetunion an. Bereits im Vorfeld hatte er in der Presse eine Anpassungsbereitschaft an die sowjetische Ästhetik und Kulturpolitik signalisiert. Für die weitere Entwicklung der sowjetischen Musik reifte Prokofjew zum Hoffnungsträger heran.27 Es entstanden neben großformatigen Werken, wie der Kantate zum 20. Jahrestag des Oktober op. 74 (1936/37) oder der Suite für Soli, Chor und Orchester Lieder unserer Tage op. 76 (1937) sowie der Kantate Aleksandr Nevskij op. 78 (1938/39) auch Massen- und Volkslieder für Gesang und Klavier op. 66 (1935) oder die Sieben Lieder für Gesang und Klavier op. 70 (1939).28 Diese Werke sind von einer stilisierten Volkstümlichkeit durch klare melodische Linien und harmonische Vereinfachung zur Unterstreichung des patriotischen Gestus geprägt.

25 | Vgl. Alex Ross: The Rest is noise. Das 20. Jahrhundert hören, München 2 2009, S. 259. 26 | Vgl. Redepenning, Geschichte, Bd.1, S. 301. 27 | Vgl. Schwarz, Musik, S. 196. 28 | Siehe die Aufstellung der Huldigungswerke der Jahre 1935 bis 1940 von verschiedenen sowjetischen Komponisten sowie die spezielle Kommentierung der entsprechenden Werke Prokofjews bei Redepenning, Geschichte, Bd. 1, S. 325-327.

K ALTER K RIEG UND S TAATSMUSIK . E MOTIONALISIERUNG UND (E NT -)P OLITISIERUNG IN S TINGS R USSIANS

In seiner Autobiografie teilte Prokofjew seine Werke in zwei Kategorien ein. In der ersten habe er in seinem avantgardistischen Personalstil komponiert und sich damit an die intellektuellen Kunstkreise und Bewunderer gerichtet. Die zweite Kategorie sei hingegen der breiten Masse zugedacht. Um die Mehrheit der Sowjetbürger, auch die wenig musikbewanderten zu erreichen, formulierte Prokofjew ganz im Sinne der künstlerischen Richtlinien zu einer sowjetischen Musik und veröffentlichte seine ästhetische Theorie in einem Artikel in der Iswestija 1934: »Sie [die Musiksprache] soll vor allem melodisch sein, wobei die Melodie einfach und verständlich sein muß, ohne ins Hausbackene oder Triviale abzugleiten.«29 Dieses Ideal sah Prokofjew in der ein Jahr zuvor komponierten Musik zu Leutnant Kijé erfüllt, wie er im genannten Artikel betonte. Die Musik entstand 1933 zum gleichnamigen Film des Leningrader Regisseurs Alexander Fainzimmer. Der Stoff basiert auf der Erzählung von Juri Tynjanow, die in satirischer Art und Weise die zaristische Bürokratie und ihre Verwaltung des ›Lebens‹ eines erfundenen Leutnants beschreibt. In einer sich anbahnenden Liebesszene taucht die Melodie der Romanze in einem melancholischen, von Verlust erzählenden Lied auf, das von einer Harfe begleitet wird. Kaum ist etwas von der Progressivität zu erkennen, die Prokofjew als Vertreter der Avantgarde propagierte, und die beispielsweise im zeitgleich entstandenen Klavierzyklus Pensées op. 62 zu vernehmen ist. Der Film entwickelte sich in der Sowjetunion zu einem beachtlichen Erfolg. Rückblickend räumte Prokofjew ein, sein Werk als Experimentierfeld genutzt zu haben: […] die dem sowjetischen Leben gemäße Musiksprache war mir noch nicht klar. Niemandem war sie es damals, und einen falschen Weg wollte ich nicht einschlagen. Daher war ich erfreut, als mir das Belgoskino [Staatlicher Belorussischer Kinematograph] vorschlug, zu dem Film »Leutnant Kishe« eine Musik zu schreiben. Das eröffnete mir die Möglichkeit zum Ausprobieren meiner Feder, zwar nicht an einem sowjetischen Stoff, aber doch vor einer sowjetischen Zuhörerschaft, und zwar der allergrößten. 30

Auch in der Prokofjew-Biografik werden seit Ivan Nestjew die Musik zu Leutnant Kijé beziehungsweise ihr Extrakt als Orchester-Suite op. 60 (1934) sowie die kurz darauf entstandene Suite Ägyptische Nächte op. 61 als Eröffnung der »sowjetischen Periode« in Prokofjews Schaffen apostrophiert.31

29 | Sergej Prokofjew, Wege zur sowjetischen Musik, in: Iswestija vom 16. Nov. 1934, zit. nach Sergej Prokofjew, Dokumente, Briefe, Erinnerungen, bearb. von Semen IsaakoviˇcSchlifstein, übers. von Felix Loesch, Leipzig 1965, S. 199f. 30 | Sergej Prokofjew, Autobiographie, in: ders., Dokumente, S. 176. 31 | Ivan Nestjew, Prokofjew. Der Künstler und sein Werk, übers. von Christa SchubertConsbruch, Berlin (Ost) 1962, S. 242.

327

328

Y VONNE W ASSERLOOS

Diese monothematische Perspektive wird Prokofjew allerdings nicht gerecht. Nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion schwebte er künstlerisch zwischen der Anpassung an das sowjetische, »volkswürdige« Kunstideal und seinem eigenen Anspruch zur Weiterentwicklung des avantgardistischen Stils. Gerade jene Bestrebungen wurden von der Kunstpolitik des Sozialistischen Realismus jedoch als »Formalismus« abgeurteilt. 1948 führte der Beschluss des Zentralkomitees der KPdSU, »die formalistische Richtung in der sowjetischen Musik als volksfremd und zur Vernichtung der Musik führend zu verurteilen«, zu zahlreichen Anklagen. Verurteilt und mit Aufführungsverbot belegt wurden Werke, die »keine Schöpfungen« waren, die »dem sowjetischen Volke würdig«32 seien. Angeklagt wurden unter anderem neben Dmtri Schostakowitsch und Aram Chatschaturjan auch Prokofjew. Dieser verlor durch die Aufführungssperre seine Einnahmequellen und musste sich von seinen früheren, ›nicht-sowjetischen‹ Werken mit der Begründung distanzieren, er sei durch den Kontakt mit westlichen Strömungen dem Formalismus und der Atonalität verfallen. Wie schon 1934 bekannte er sich zur »klaren Melodie« und einer »möglichst einfachen harmonischen Sprache« als wichtigstem Element einer Musik, die sich allein dem sowjetischen Volk als »würdig« erwies. In jener Zeit lebte Prokofjew in steter Angst um die materielle, in erster Linie jedoch physische Existenz seiner Familie und seiner selbst.33 Dorothea Redepenning fasst – was für Prokofjew wie die anderen sowjetischen Komponisten gleichermaßen galt – den übersteigerten Pathos der Huldigungsdichtungen und -musiken sowie die übertriebene Beflissenheit, den Glauben und die Überzeugung, im »glücklichsten Land der Welt« zu leben als Ausdruck zur Kompensation einer permanent mitschwingenden »Todesangst« vor einem Fehltritt unter dem Terror des Regimes gegen die Zivilbevölkerung durch ›Säuberungen‹, Schauprozesse und Deportationen zusammen.34 Alex Ross dechiffrierte die Ästhetik der Sowjetunion als »Kunst der Angst«35 . Das Angstphänomen als konstituierendes Element führt wiederum Sting und Prokofjew zusammen.

P ROKOFJE W ALS F OLIE FÜR S TING Das Bekenntnis Stings zu Prokofjew eröffnet eine weitere Dimension der Verbindung, die aus dem emotionalen Moment der Angst durch die erfahrene Bedrohung durch Machthaber entspringt. Auf der einen Seite steht Stings biografi32 33 34 35

| | | |

Zit. nach Friedbert Streller, Sergej Prokofjew und seine Zeit, Laaber 2003, S. 65. Alle Zitate nach ebd. Redepenning, Geschichte, Bd. 1, S. 325 und Bd. 2, S. 507f. Ross, The Rest, S. 245.

K ALTER K RIEG UND S TAATSMUSIK . E MOTIONALISIERUNG UND (E NT -)P OLITISIERUNG IN S TINGS R USSIANS

sche Erfahrung mit der angsterfüllten Stimmung im Zeitalter des nuklearen Wettrüstens. Auf der andern Seite ist in Prokofjews künstlerischem Werdegang der Mechanismus der Einschüchterung unter dem sowjetischen Kulturdiktat genauso wirksam geworden, gleichwohl sein akutes Bedrohungspotenzial zweifellos weitaus höher als jenes für Sting einzuschätzen ist. Die Frage, wie der Brite Sting mit der sowjetischen Musik Prokofjews in Kontakt kam, ist nicht eindeutig zu beantworten. Generell finden sich bei Sting selten Anleihen an die Kunstmusik, ausgenommen das Album Songs from the Labyrinth (2006), das ausschließlich Lieder von John Dowland enthält. Zu nennen wären eine Neutextierung von Hanns Eislers Lied Der kleine Radioapparat in The secret marriage (1987) und Fragmente aus Johann Sebastian Bachs Praeambulum 1 (BWV 924) aus dem Klavierbüchlein für Wilhelm Friedemann Bach, auf die sich Whenever I say your name (2003) stützt.36 Vor diesem Hintergrund ist die Wahl Prokofjews im Sinne der musikalischen Inspiration für Russians als ein bewusst gewähltes Postulat einzuschätzen. Im CD-Booklet von The dream of the blue turtles weist Sting in den Credits explizit durch den Abdruck der Noten auf das »Ausleihen« der Romanze Prokofjews hin: »I borrowed this theme [ folgt Notenbeispiel des Zwischenpiels von Russians] from Sergei Prokofiev for The Russians.« Selbst wenn für die späten Achtziger die Kijé-Suite als eine der populärsten und meist gespielten Kompositionen Prokofjews eingeschätzt ist,37 so erklärt sich Stings Berührung mit ihr nicht zwangsläufig darüber. Möglichkeiten der Begegnung bieten verschiedene Zitationen der einzelnen Sätze aus der Orchester-Suite in der populären Musik. Häufig wurde die Troika aufgegriffen, beispielsweise bei Greg Lake in I believe in Father Christmas (1974). Ein frühes Beispiel für die Übernahme des Romanzen-Motivs findet sich in der Cover-Version von 40.000 Headmen von Blood, Sweat and Tears auf ihrem Album Blood, Sweat and Tears 3 (1970). Darüber hinaus existieren zwei Filme, in denen die Kijé-Suite als Soundtrack benutzt wurde: A Horses’s Mouth von 1958 mit Alec Guinness und Woody Allens Love and Death von 1975. Prokofjews Suite war in England gerade im Winter überaus präsent. Das Zentralmotiv des ersten Satzes erklang häufig zur musikalischen Untermalung von Schneebildern in den Weihnachtsprogrammen des britischen Fernsehens.38 Vielleicht wurde Sting in diesem Rahmen auf Prokofjews Suite aufmerksam. Zumindest weist die mediale Präsenz Prokofjews in Großbritannien auf einen wesentlichen Befund hin: Er wurde trotz seiner Gebundenheit an und der Vereinnahmung durch die Sowjetunion in Verdrängung seines Stilwandels von der Avantgarde zum konservativen Nationalismus als kosmopolitischer Kompo36 | Vgl. Custodis, Klassische Musik, S. 194. 37 | So bei David Gutman, Prokoviev, London 1988, S. 110. 38 | Vgl. Custodis, Klassische Musik, S. 194.

329

330

Y VONNE W ASSERLOOS

nist rezipiert und dementsprechend häufig in der westlichen Welt aufgeführt.39 Möglicherweise trug dieser Umstand zur Entscheidung Stings bei, sich der Musik eines populären Komponisten aus der Sowjetunion zu bedienen. Prokofjews Musik übernahm eine Vermittlungsfunktion, mit der auf die Kultur jenseits des Eisernen Vorhangs hörbar aufmerksam gemacht wurde. Sie konnte als Anstoß wirken, sich mit dem ›Fremden‹ auseinanderzusetzen, denn Dämonisierungen und Feindbilder erwiesen sich im Kalten Krieg als probates Mittel der Politik auf beiden Seiten. Darüber hinaus beabsichtigte Sting mit Russians eine soziale Annäherung. Im Juni 1985 erwähnte er in einem Interview ursprüngliche Pläne zu gemeinsamen Aufnahmen mit dem Leningrader Sinfonieorchester. Die Bemühungen wurden jedoch durch die Bürokratie der UdSSR blockiert, da die Einreisevisa nicht rechtzeitig erteilt wurden.40 Stings Pläne sowie sein Kommentar zu ihrem Scheitern changieren zwischen Diplomatie und Arroganz: I feel very strongly that in order to relax East-West tension, you can’t leave it to the politicians anymore – they’ve proved themselves totally inept: It’s up to individuals to make contact with one’s counterpart behind the so-called Iron Curtain in order to ascertain and confirm that they are human beings and not demographic sub-robotic morons. So I felt that it was important to go to the Soviet Union and perhaps meet fellow musicians and do something together. 41

Diese Aussage rekurriert mit dem Liedtext, nach dem die Spirale der Angst und Bedrohung lediglich durch Menschlichkeit gelöst werden könne. Gleichwohl: So engagiert und auch erfolgreich Sting mit seinem Song Russians 1985 gewesen sein mag, gänzlich auf der Höhe der Zeit befand er sich nicht mehr. Seit März 1985 amtierte Michail Gorbatschow als Generalsekretär der UdSSR und verfolgte eine Politik der Annäherung durch Glasnost und Perestroika. Drei Wochen nachdem Russians am 1. November 1985 als Single veröffentlicht worden war, trafen sich Gorbatschow und Reagan am 19. und 20. November zum ersten Gipfeltreffen der UdSSR und der USA nach sechs Jahren. Im Oktober 1986 kam es zu jenem denkwürdigen Treffen zwischen Gorbatschow und Reagan in Reykjavik, bei dem über die Vernichtung der Atomwaffenarsenale verhandelt wurde. So dienten die Nuklearwaffen nach 1986 nicht mehr der Verbreitung einer Haltung von aggressiver Entschlossenheit und Konfliktbereitschaft, sondern dem Bestreben, durch den Willen zur Abrüstung

39 | Vgl. Fred K. Prieberg, Musik in der Sowjetunion, Köln 1965, S. 153f. 40 | Vgl. Interview in: Record 6 (1985), S. 5. 41 | Ebd.

K ALTER K RIEG UND S TAATSMUSIK . E MOTIONALISIERUNG UND (E NT -)P OLITISIERUNG IN S TINGS R USSIANS

Kooperationsbereitschaft zu signalisieren. Die Abrüstung entwickelte sich zum Schlagwort der Friedensbestrebungen.42 Dass sich Russians dennoch erfolgreich verkaufte, mag als Ausdruck eines ambivalenten Verhaltens gelten. Einerseits hielt das Misstrauen gegenüber dem ›Ostblock‹ weiter an, da Gorbatschows Rolle und Zielrichtung noch nicht klar eingeordnet werden konnten, andererseits weckten sein sympathisches Auftreten und seine Annäherungspolitik die Neugier auf sein Herkunftsland. Mögliche Einblicke versprach daher das Lied mit dem Titel Russians, für dessen musikalische Komponente Prokofjews Romanze ein klangliches Medium zur Auseinandersetzung mit der fremden Kultur des Ostens bot. Sting selbst schätzte die Aktualität von Russians nach 1985 neu ein und benutzte bei LiveAuftritten die versöhnlich gemeinte Textvariante »What might save us me and you is that the Russians love their children too«43 beziehungsweise trat nach 1986 nicht mehr mit Russians auf.44 Erst seit 2010 kam es wie erwähnt zu erneuten Aufführungen.

S OWJE TISCHE S TA ATSMUSIK UND WESTLICHE P OPUL ARMUSIK »It’s very cheeky to have stolen a bit of Prokofiev and stuck it in a pop song, but in that context it was right.«45 Stings Kommentar aus dem Jahr 1994 weist auf ein gewisses Unbehagen, Prokofjew »bestohlen« zu haben hin. In der Tat bedeutete die Transformation zu einem Pop-Song eine Grenzübertretung. In der Nutzung sowjetischer Staatsmusik und des Glocken-Sounds Russlands beziehungsweise der Sowjetunion entstand eine geografische Klangassoziation, die durch den anti-russischen Text jedoch negativ konnotiert wurde. Russians beruht auf einem Paradoxon, indem Sting anti-sowjetische Propaganda auf der Basis pro-sowjetischer Staatsmusik betrieb. Dies stellte einen Übergriff, ein Moment kultureller Eroberung dar. Russians kann somit als die Dekonstruktion staatskonsolidierender Musik verstanden werden. Ob sich Sting dieser Dimensionen bei der Wahl von Prokofjews Vorlage bewusst war oder ob nicht allein der rein musikalische Gestus, die russische Melancholie und der liedhafte Charakter der Romanze zur Tauglichkeit als Vorlage beitrugen, muss dahin gestellt bleiben. 42 | Vgl. Jeremi Suri, Logiken der atomaren Abschreckung oder Politik mit der Bombe, in: Greiner, Müller und Walter (Hg.), Krisen, S. 24-47, hier S. 38. 43 | So 1986 bei der Verleihung des Grammy-Award in Los Angeles und bei einem Konzert in Newcastle upon Tyne. Dort kündigte Sting das Lied zusätzlich mit der Umbenennung des Titels in The Russians love their children too an. 44 | www.sting.com/discog/?v=so&a=1&id=220 [4.8.2010]. 45 | Interview in: The Independent on Sunday vom 13. Nov. 1994, www.independent. co.uk/dayinapage/1994/November/6/[10.2.2011].

331

332

Y VONNE W ASSERLOOS

In anderen Musiksparten der westlichen Hemisphäre fand sein Verfahren zumindest Nachahmer. 1999 veröffentlichte das niederländische Hardcore-Duo Hard Creation den Song I will have that power, in dem die Prokofjew-Romanze mit stark martialischem Charakter als Zwischenspiel auftaucht. Der Textinhalt46 entstammt dem Science-Fiction-Bereich und bezieht sich auf die Infragestellung der Existenz einer Gesellschaft. Durch die permanente Wiederholung der Imperative »Exterminate, destroy!« wird die zerstörerische Macht eines undefinierbaren Individuums thematisiert, das sich über die »Daleks«47 legitimiert und sich mit Hilfe psycho-kinetischer Kräfte über alles Menschliche und Göttliche erhebt. Eine gewisse Nähe zu Sting entsteht nicht allein durch das musikalische Zitat, sondern ebenso durch die Verwendung des sich in Russians wiederholenden Textbeginns »There is no …« bzw. »There’s no such thing as a winnable war«, der in I will have that power in »There is no such thing as society« abgewandelt wird. Ebenfalls 1999 brachte die us-amerikanische Darkwave-Band Black Tape for a Blue Girl ihr Album As one aflame laid bare by desire heraus. Hier taucht die Romanze als instrumentales Nachspiel eines Liedes auf, das den bezeichnenden Titel Russia trägt. Der melancholische, karg besetzte und vorwiegend instrumental gehaltene Song behandelt Fragen zwischenmenschlicher Beziehungen, die als problematisch, bedingt durch gegenseitige Beeinflussung und Autoritätskämpfe beschrieben werden (»When I find you will the soul drift away/ When I find you will I be who I wish to be«). Auch wenn der Liedtitel eindeutig auf Russland Bezug nimmt, so werden im Text jedoch keine weiteren Hinweise auf die Darstellung russischer Verhältnisse geliefert. Die Verbindungen erschöpfen sich in subtilen Verknüpfungen durch den Titel und das Prokofjewbeziehungsweise Russians-Zitat. Bemerkenswert ist, dass in beiden Liedern weniger politische Intentionen verfolgt, sondern Gedanken über die (Ohn-)Macht des Individuums geäußert werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine Verbindung zu Russians herstellen, indem alle drei Lieder Macht,spiele‹ politischer oder sozialer Art thematisieren. In allen Fällen wird diese Macht negativ im Sinne einer bedrohlichen, zerstörerischen oder manipulativen Gewalt dargestellt. Insbesondere 46 | »Exterminate, destroy/You turn if you want to, the lady’s not for turning/I move by psycho-kinetic power/There is no such thing as society/No, no, no!/Nothing, absolutely nothing must delay this all-glorious project/One species must survive above all others, and to do so it would set me above the Gods/And through the daleks, I WILL HAVE THAT POWER!/POWER!/I will have that power!«; Textversion nach www.lololyrics. com/lyrics/6086.html##ixzz1DMXtb0pL [7.2.2011]. 47 | Kriegerische Außerirdische aus der SF-Serie Doctor Who, die aus rassistischer Motivation heraus zerstören und erobern. Ein wesentliches Motto der Daleks lautet »Exterminate!«.

K ALTER K RIEG UND S TAATSMUSIK . E MOTIONALISIERUNG UND (E NT -)P OLITISIERUNG IN S TINGS R USSIANS

nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 erscheint die Zitierung Prokofjews in I will have that power und Russia als historisierende Erinnerung an das Sowjet-Regime mit den unterschiedlichsten Facetten der Macht. Die Romanze übernimmt in allen drei Fällen die Funktion einer geografischen Konkretisierung beziehungsweise Unterstreichung, explizit in Russians und Russia. Durch die allerdings negativ besetzte Kontextualisierung in Form der Kritik an staatlicher, politischer oder gesellschaftlicher Autorität wird die einst stabilisierende Funktion der Staatsmusik demontiert. Prokofjews Musik versagt somit als Repräsentantin der Ästhetik des Sozialistischen Realismus und des originär Sowjetischen ihren Dienst. Sie wurde aus ihrer Isolation herausgehoben und in ihrer Mediatisierung durch die populäre Musik nicht nur der westlichen Kultur zugänglich gemacht, sondern – und das war sicherlich kaum im Sinne des Sozialismus – zusätzlich kommerzialisiert. Die politische, exkludierende Dimension der Staatsmusik wurde durch ihre Dysfunktionalität außer Kraft gesetzt, indem sie durch Inklusion kompensiert und somit gleichermaßen entpolitisiert wurde.

333

»… wie ein chaotisch anmutender, aus den Fugen geratener Marsch« Mauricio Kagels Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen (1978/79) Achim Hofer Mauricio Kagels (1931-2008) Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen erklangen, worauf der Komponist selbst im Vorwort der 1983 erschienenen separaten Marschausgabe verweist, »ursprünglich im Hörspiel DER TRIBUN, für einen politischen Redner, Marschklänge und Lautsprecher (1978/79) und sind Bestandteil der gleichnamigen musikszenischen Komposition.«1 Hier geht es nicht um die Funktion der Märsche in diesem Werk Kagels,2 sondern um eine separate Betrachtung, für die der Komponist durch seine vom Tribun unabhängige Publikation selbst den Weg frei machte. Kagels Zehn Märsche, die in einer Reihe zahlreicher anderer Marschparodien stehen, sind recht bekannt geworden, aber von einer eingehenden musikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihnen kann keine Rede sein.3

1 | Mauricio Kagel, Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen für Bläser und Schlagzeug, Partitur, Frankfurt a.M. u.a. 1983, Vorwort, o.S.; Abdruck der Notenbeispiele mit freundlicher Genehmigung von C. F. Peters Musikverlag Frankfurt a.M. u.a. 2 | Hierzu schreibt Kagel im Beiheft zur Einspielung der Urfassung (1979) unter seiner Leitung: »Diese Musikstücke entstanden als Kontrapunkt zum Text des Hörspiels ›Der Tribun‹. Es handelt sich hierbei um einen politischen Redner, welcher während der Probe zu einem öffentlichen Auftritt sich selbst vom Tonband die Zustimmung der Zuhörer durch lauten Applaus, wie auch die Klänge einer allgegenwärtigen Militärkapelle einspielt.« Booklet zur CD Aulos 3-1392-2, Viersen, Hannover 1985. 3 | Vgl. Wilfried Gruhn, Semiotik und Hermeneutik, in: Walter Bernhart (Hg.), Die Semantik der musiko-literarischen Gattungen. Methodik und Analyse, Tübingen 1994, S. 175185 (über Kagels Märsche: S. 175-181, in Teilen identisch mit Gruhn 1991, s.u.); Stefan Hanheide, Mauricio Kagel. 10 Märsche, um den Sieg zu verfehlen (1979), in: ders.

336

A CHIM H OFER

Dieser Beitrag bietet zunächst eine Übersicht. Sodann stehen Einzelbeobachtungen zur Faktur der Kompositionen im Mittelpunkt. Ausführungen zur Bedeutung der Märsche bilden den Abschluss.

Ü BERSICHT In der gedruckten Partitur fällt zweierlei ins Auge: • Ein sehr ausführliches Vorwort mit Angaben dazu, was der Komponist aufführungspraktisch als zwingend ansieht, wozu er rät und was er als möglich erachtet (siehe hierzu Tabelle I im Anhang). • Sehr viele und zum Teil äußerst detaillierte aufführungspraktische Hinweise bei den einzelnen Märschen (siehe hierzu Tabelle II im Anhang). Schon hieraus kann man den Eindruck gewinnen: Es ist Kagel ziemlich ernst mit dem Spaß.4 Einerseits lässt er viel Freiheit (vor allem bei der Besetzung), andererseits schreibt er kleinste musikalische Details als verbindlich vor. Da die Angaben in den Übersichten des Anhangs zum größten Teil für sich sprechen, seien hier lediglich einige Ausführungen gemacht zu den Titeln, zur Dynamik, zum Tempo, zum Umfang bzw. zur Form und zur Melodik der Märsche. Titel: Alle Märsche sind lediglich von Marsch 1 bis Marsch 10 durchnummeriert, dies im Gegensatz zu Marschtiteln richtiger (Militär-)Märsche, die hierzulande im Verlaufe des 19. Jahrhunderts vielfach national, zunehmend auch nationalistisch und militaristisch, ausfielen, bevor sich nach 1945 auch in den Titeln eine gewisse Entmilitarisierung bemerkbar machte (ohne dass die alten (Hg.), Pace. Musik zwischen Krieg und Frieden. Vierzig Werkporträts, Kassel u.a. 2007, S. 226-230. Eher noch als die Musikwissenschaft findet die Musikpädagogik in den Zehn Märschen offenbar ein dankbares Thema: Wilfried Gruhn, Kein musikalischer Spaß. Zur parodistischen Verfremdung der 10 Märsche von Mauricio Kagel, in: Musik und Bildung 23/6 (1991), S. 11-17; Almuth Tappert, Märsche karikieren, Mächte kritisieren … um den Sieg zu verfehlen?, in: Musik und Bildung 29/4 (1997), S. 8-13; Stefanie Dermann, EinFachMusik. Neue Musik, Paderborn 2007 (über Kagels Märsche: S. 62-69). 4 | Zur Komik bei Kagel siehe Karl-Heinz Zarius, Danse macabre. Einige Gedanken zu Kagels Komik, in: Werner Klüppelholz (Hg.), Kagel…/1991, Köln 1991, S. 245-255; ders., … durch die Zähne. Überlegungen zum Komischen bei Mauricio Kagel, in: Neue Zeitschrift für Musik 157/1 (1996), S. 34-39; ders., Authentische Apokryphe. Mauricio Kagel und die Parodie, in: Frank Schneider, (Hg.), Populär? Elitär? Fragen zu einem klingenden Widerspruch, München u.a. 2001, S. 99-114 (begleitend erschienen zu einem Zyklus von Konzerten und Veranstaltungen des Konzerthauses Berlin/Schauspielhaus am Gendarmenmarkt in der Saison 2001/2002).

M AURICIO K AGELS Z EHN M ÄRSCHE , UM DEN S IEG ZU VERFEHLEN (1978/79 )

Märsche und ihre Titel dadurch verschwunden wären).5 Die scheinbare Neutralität von Kagels Marsch-»Titeln« wird aber nicht nur durch ihre Faktur, sondern auch durch den Sammlungstitel, auf den noch einzugehen ist, aufgehoben. Dynamik: Kein Marsch beginnt im »fortissimo«, sondern allenfalls im »forte«; erst die Wiederholung ist zuweilen »fortissimo« zu spielen. Zwei Märsche fangen »piano« an. Bereits von der Anfangsdynamik her ist also den meisten Märschen schon rein akustisch jene Kraft und Stärke genommen, mit der echte Märsche auftreten. Tempo: Generell sind italienische Tempoangaben Militärmärschen fremd, erst recht aber solche wie »Vivace« oder gar »Andantino« (Nr. 7) und »Allegretto« (Nr. 6). Lässt man den Trauermarsch (Nr. 9) außer Acht – er bleibt aus Gründen des Umfangs auch im Folgenden weitgehend unberücksichtigt –, bewegen sich Kagels Metronomangaben (mithin »Schritte« pro Minute als eigentliche, funktional orientierte Tempoangaben für Märsche) von 72 (Nr. 7) bis 136 (Nr. 8). Somit könnte man die meisten Märsche den sogenannten »Geschwindmärschen« zurechnen. Marsch 7 mit seinem langsamen Parademarsch-Tempo (Viertel = 72-80) ist jedoch alles andere als zum Paradieren geeignet, und Marsch 8 reicht mit der Angabe »Viertel = 120-136« fast an das Tempo eines »Sturmmarsches«, worauf noch zurückzukommen ist. Umfang/Form: Kein einziger Marsch entspricht formal dem Muster eines echten Militärmarsches. Standardmäßig sind Letztere seit dem 19. Jahrhundert zwei- oder dreiteilig, oft mit einer Einleitung.6 Das Modell der Form eines Marsches ist bei Kagel geradezu zerfallen: Fünf Märsche sind einteilig (Nr. 1, 3, 7, 8 9), andere durch schlichte Reihung mehrteilig. Einmal (Nr. 5) findet sich eine Quasi-Einleitung, ein Trompetensolo, ohne Bezug zum folgenden Marsch, eigentlich austauschbar, ein Versatzstück mit signalartigen Dur-Dreiklangsbre5 | Nationalbetonte Titel lauten etwa Preußens Gloria (1871), martialisch konnotierte zum Beispiel Mit Bomben und Granaten (1880); undenkbar, dass vor 1945 ein Marsch mit dem Titel Hallo Partner (1973) erschienen wäre; siehe Achim Hofer, Marsch, in: Ludwig Finscher (Hg.), ²MGG, Sachteil Bd. 5, Kassel u.a. 1996, Sp. 1667-1682, hier Sp. 1669. Zu Umbenennungen kam es nach 1945 bei einigen im »Dritten Reich« komponierten Märschen: So firmiert Hans Felix Husadels (1897-1964) Marsch Jagdgeschwader Richthofen (1935) heute unter dem Titel Favoriten-Marsch, und auch sein Marsch Fliegergeschwader Horst Wessel wird heute gespielt unter dem Namen Silberkondor; siehe Achim Hofer, Geliebt, bekämpft und ignoriert. Die »Luftwaffenmusik« im Rahmen nationalsozialistischer Militärmusik. Zu einem Forschungsdesiderat der deutschen Musikwissenschaft, in: Michael Schramm (Hg.), Hans Felix Husadel. Werk. Wirken. Wirkung (= Militärmusik im Diskurs. Eine Schriftenreihe des Militärmusikdienstes der Bundeswehr, 1), Bonn 2006, S. 143-154, hier S. 152. 6 | Siehe ausführlicher Achim Hofer, Studien zur Geschichte des Militärmarsches (= Mainzer Studien zur Musikwissenschaft, 24), 2 Bde., Tutzing 1988, bes. S. 592-596.

337

338

A CHIM H OFER

chungen, verfremdet durch eine leichte Moll-Trübung in Takt 4. Die Länge dieser Einleitung von sieben Takten verweist darauf, dass Formmodelle des Marsches völlig negiert werden: Periodisch gegliederte Umfänge von acht, 16 oder 32 Takten sind Standard normaler Marschteile, aber bei Kagel findet sich weder ein einziger Marsch noch irgendein Teil oder Abschnitt, der dieser – auch in des Wortes übertragener Bedeutung – »Geradlinigkeit« entspricht. Es ist offensichtlich kein Zufall, dass unter den in der Tabelle II angegebenen Taktzahlen nicht ein einziges Mal die Ziffern 4, 8, 16 oder 32 auftauchen. Melodik: Das zuvor Genannte korreliert mit einer Melodik, bei der nur sehr eingeschränkt überhaupt von »Melodie« gesprochen werden kann. »Zündende« und eingängige Melodien findet man hier jedenfalls nicht, allenfalls Andeutungen, die Erwartungen auf eine »vernünftige« Fortführung jedoch enttäuschen, indem sie rhythmisch gleichsam aus dem Ruder laufen oder sich auflösen und harmonisch weitgehend indifferent gehalten sind. Insgesamt fällt eine stark chromatisch orientierte, häufig abwärts gerichtete Tonfortschreitung auf, mithin das genaue Gegenteil von einer aufstrebenden, am Dur-Dreiklang orientierten Melodik als Merkmal sonst üblicher Märsche. Daher rührt auch der insgesamt kaum frohe »Ton« der Kompositionen, der klanglich eher nach Moll tendiert.

E INZELBEOBACHTUNGEN Die nachstehenden musikalischen Einzelbeobachtungen folgen keiner Systematik, sie streben auch nicht nach Vollständigkeit. Eher al-fresco-artig sollen einige Facetten der Musik beleuchtet werden. Der Kontrast zwischen Versprechen und Enttäuschen ist am stärksten in Marsch 4 ausgeprägt: Die ersten acht Takte der in den Bassstimmen liegenden Melodie suggerieren den Vordersatz einer wohlproportionierten 16-taktigen Periode, in schönstem D-Dur, jedoch wird der Hörer bereits in Takt 87 (letztes Achtel) unvermittelt der Erwartung eines entsprechenden Nachsatzes beraubt:

7 | Gruhn spricht in Semiotik und Hermeneutik, S. 176 eigenartigerweise vom »Einschub eines verkürzten Taktes«. An anderer Stelle geht er davon aus, es ergebe sich hier »akustisch ein eingeschobener 3/8-Takt […], obwohl die Notation streng im 2/4Takt bleibt.« Gruhn, Kein musikalischer Spaß, S. 13. Beides ist nicht nachvollziehbar.

M AURICIO K AGELS Z EHN M ÄRSCHE , UM DEN S IEG ZU VERFEHLEN (1978/79 )

Notenbeispiel 1: Marsch 4, T. 1-14, ohne Schlagzeugstimmen. Auch der zunächst regulär verlaufende Nachschlag in den Stimmen 1 bis 4 gerät ab Takt 9 durcheinander, sodass in Takt 13 und 14 jeglicher Halt verloren gegangen ist, indem alle Melodie-Instrumente synchron auf unbetonter Taktzeit akzentuieren. Was hier rhythmisch diffizil auskomponiert ist, könnte man auch ohne das Bewusstsein, es gehe um einen Marsch, als »Stolpern« bezeichnen; tatsächlich aber bewirkt ein solcher Marsch das Gegenteil von dem, was eigentlich seine Aufgabe ist: den Gleichschritt zu koordinieren. Dass die Kagel’schen Märsche den Gleichschritt unmöglich machen, ist kein Nebeneffekt, sondern – der Sammlungstitel bringt es bereits zum Ausdruck – seine Hauptaufgabe, denn damit werden auch andere Wirkungen des Gleichschritts zerstört: Einheit zu stiften und Gefühle von Gruppenidentität im Hinblick auf ein gemeinsames Ziel zu stärken. Wenn man so will, wird mit der Zerstörung des Rhythmuss’ der Hebel angesetzt an der Wurzel dessen, was Kagel für ein Übel hält: ohne echten Marsch-Rhythmus kein Gleichschritt, ohne Gleichschritt keine Einheit, ohne Einheit keine Identität, ohne Identität kein Ziel und Sieg. Hör-Irritationen entstehen auch durch die Verschiebungen der scheinbar gleichen Melodie in diesem Marsch:

Notenbeispiel 2: Marsch 4, Stimmen 5-6, T. 1ff., T. 15ff., T.29ff.

339

340

A CHIM H OFER

Dreimal sieben Takte der Instrumente 5 und 6: Das Zusammenwirken mit den anderen Stimmen außer Acht gelassen, sei lediglich hervorgehoben: • Die Phrase beginnt stets auf einer anderen Zählzeit. • Gesteigert werden dadurch bewirkte Irritationen durch zusätzliche Feinheiten wie die, dass in der zweiten Reihe die zweite Achtelgruppe im Vergleich zur ersten Reihe um ein Achtel »zu früh« einsetzt, mithin die Pause zwischen (hier notiertem) Takt 3 und 4 um ein Achtel gekürzt wird. • Die Melodiekontur der zweiten Reihe unterscheidet sich von der der ersten lediglich in der zweiten und dritten Note, wodurch das zuvor strahlende Dur eine leichte und kurze (Moll-)Trübung erhält. • Ins Auge fallen auch die akribisch gesetzten »marcato«-Zeichen und die durchdachte Phrasierung, die selbst innerhalb einer Reihe darauf angelegt ist, pure Wiederholung zu vermeiden; beides findet sich durchgängig in allen Märschen. In dem Bemühen, Wiederholungen oder Gleichförmigkeiten selbst bis ins kleinste Detail hinein zu vermeiden, könnte man indirekt auch einen Spiegel erkennen, den der Komponist »normalen« Märschen vorhält, denn die Ungleichförmigkeit schärft ja den Blick für die Gleichförmigkeit des Normalen, weil sie – idealerweise – latent mitgehört wird. Insoweit ist Kagels Vorgehen in gewisser Weise paradox: Seine Methode besteht zu einem großen Teil nicht darin, Trivialität durch noch größere Trivialität zu entlarven, sondern mittels Verkomplizierung Einfachheit ad absurdum zu führen. Darin besteht das eigentlich Artifizielle der Kagel’schen Märsche. »Zu einem großen Teil« bedeutet aber, dass es hier und da auch Formen der Trivialität gibt, die innerhalb einer Komposition eine Schicht neben komplizierteren bilden. So spielen im Marsch 2 (Notenbeispiel 3) die Stimmen 3 bis 6 penetrant Viertelnoten, die dritte und sechste Stimme dabei nahezu statisch auf einem Ton verharrend; so »tumb« geht es kaum in richtigen Märschen zu. Auf dieser Fläche entfaltet sich eine Melodie, bei der man in Unkenntnis der Noten geneigt ist, ihren Anfang auftaktig zu hören, da vor dem Hintergrund einer anfänglichen G-Dur-Harmonik der aufwärtsgerichtete Schritt von der Terz zur Quinte zielt und vermeintlich kein Haltebogen den Takt überbindet. Tatsächlich aber ist der Beginn volltaktig. Worum es Kagel aber offensichtlich geht, ist keine Frage der Auf- oder Volltaktigkeit, sondern gerade die akustische wahrnehmbare Unklarheit. Die Schlaginstrumente versuchen, ebenso wie die anderen Stimmen, einen Taktschwerpunkt, der die »Eins« deutlich hervorhebt, zu vermeiden, und auch die Melodik selbst bleibt völlig indifferent: Die dem Beginn entsprechende, nun sequenzierte Phrasenwiederholung beginnt in Takt 4 auf der »anderen« Takthälfte (also wirklich auftaktig). Hinzu kommt: Die Akzente wechseln ständig (und dies zudem völlig asyn-

M AURICIO K AGELS Z EHN M ÄRSCHE , UM DEN S IEG ZU VERFEHLEN (1978/79 )

chron zu den Akzenten der Schlagzeugstimme I), zahlreiche Überbindungen »überspielen« – in des Wortes doppelter Bedeutung – den Beginn eines neuen Taktes und schließlich wechselt der Rhythmus der Melodik von Takt zu Takt. Hierdurch wird man in gewisser Weise orientierungslos, und ohne Orientierung kein Weg und also auch kein Ziel – womit wir wieder beim Titel der Märsche wären.

Notenbeispiel 3: Marsch 2, T. 1-11.

341

342

A CHIM H OFER

Synkopen (Notenbeispiel 3, T. 2/3 und 8) sowie der lombardische Rhythmus (T. 7 und 11), also die Umkehrung von punktierter und verkürzter Note, sind ein von Kagel auch in anderen Märschen oft benutztes Mittel, das wie eine Art Stolperstein wirkt, zumal wenn es mit dem normal punktierten Rhythmus kombiniert wird (besonders auch in Marsch 6, siehe Notenbeispiel 6). Trivialität gepaart mit äußerster Komplexität zeigt auch Marsch 1:

Notenbeispiel 4: Marsch 1, T. 1-3. Die Stimmen 1 bis 4 spielen eine Nachschlagbegleitung. In richtigen Märschen variiert die Oberstimme von stets akkordischen Nachschlagbegleitungen normalerweise lediglich um einen Ton nach unten oder oben zur Markierung von Tonika und Dominante, gelegentlich auch Subdominante. Diese Einfachheit steigert Kagel noch, indem er die harmonischen Rahmenstimmen 1 und 4 penetrant, und zwar von der ersten bis zur letzten Note des Marsches, auf e‹ bzw. e‹ erklingen lässt und minimale chromatisch-harmonische Veränderungen in die Stimmen 2 und 3 legt. Dieser Trivialität steht aber gegenüber, dass der vermeintliche Nachschlag bereits ab Takt 2 aus dem Gleichgewicht gerät, indem er auf die dritte und vierte Zählzeit quasi zu einem »Aufschlag« mutiert. Im Verbund mit der melodieführenden Bassstimme treibt Kagel hier ein regelrechtes Spiel mit der akustischrhythmischen Wahrnehmung, denn selbst in Takt 3, wo der Nachschlag wieder »richtig« erklingt, ist ihm der Boden entzogen durch die Bassstimme,8 denn de8 | Zu den Verschiebungen an dieser Stelle vgl. Gruhn, Semiotik und Hermeneutik, S. 176f.

M AURICIO K AGELS Z EHN M ÄRSCHE , UM DEN S IEG ZU VERFEHLEN (1978/79 )

ren zweite Phrase beginnt nicht mehr volltaktig (wie zu Beginn), sondern synkopisch auf der zweiten Achtelzählzeit, sie fällt also mit dem Einsatz der Stimmen 1 bis 4 zusammen, deren Nachschlagcharakter dadurch nachhaltig gestört wird. Diese Art von Zusammenspiel der Stimmen 1 bis 4 und 5 bis 6 führt dazu, dass man im weiteren Verlauf akustisch kaum mehr in der Lage ist zu entscheiden, ob nun eine rhythmisch echte Nachschlagbegleitung vorliegt oder nicht:

Notenbeispiel 5: Marsch 1, T. 8-12. Sämtliche Übergänge von Takt 8 bis 12 werden in den melodieführenden Bassstimmen überbunden, sodass vier Takte lang hintereinander keine »Eins« mehr hörbar ist, zu Beginn von Takt 10 und 12 fällt man geradezu in ein Loch, weil kein einziges Instrument die »Eins« markiert (und wer marschieren will, weiß, wie wichtig die »Eins« ist). (Bei Aufführungen der Märsche kann man zuweilen beobachten, dass die Spieler an solchen Stellen umso stärker versuchen, mit dem Wippen des Fußes Halt zu gewinnen – will heißen: Richtige Märsche koordinieren die Füße der Marschierenden, bei Kagel versuchen die Fußbewegungen der Spieler, die Musik zusammenzuhalten.) Auch die letzten – hier nicht wiedergegebenen – Takte verschwimmen durch die synkopische Verschiebung einer Viertelnote und durch Überbindungen, die nicht auf einer »Eins« ihr Ende finden, ja nicht mal auf der zweiten, dritten oder vierten Zählzeit, sondern markant auf dem letzten Takt-Achtel. Damit verbunden ist ein kleines szenisches Element, denn am Schluss stehen mit Ausrufezeichen versehene Fermaten und die Anweisung für den Dirigenten: »Nach einer Generalpause ausgiebiger Dauer […] (der Dirigent erstarrt unmittelbar nach den [sic!] vierten Schlag) wird der Marsch da capo begonnen […].«9

9 | Kagel, Zehn Märsche, S. 4; Hervorhebungen im Original.

343

344

A CHIM H OFER

Dass dieser Marsch – ebenso wie die Nummern 4 und 10 – mit einem BassSolo und zugehöriger Nachschlagbegleitung beginnt und auch aus nichts anderem besteht, verstößt insoweit gegen die Marschnorm, als nach ihr Melodien vorzugsweise im zweiten Teil eines Marsches in den Bass verlegt werden (sog. »Bass-Soli«) und nicht den ganzen Marsch ausmachen. Letztlich scheint es Kagel aber nur um den Marsch-»Ton«, der mit den Bass-Soli richtiger Märsche assoziiert wird, gegangen zu sein. Und »schön« kann das hier nicht zuletzt auch deshalb kaum genannt werden, weil die Phrasen der Bass-Melodie ständig – zeitlich versetzt, geringfügig beschnitten oder verlängert – wiederholt werden und sie sich in ihrer chromatisch abwärts gerichteten Kontur kaum verändern. Der tiefe, brutal anmutende Klang bei einer Interpretation mit Blechblasinstrumenten tut sein Übriges.

Notenbeispiel 6: Marsch 6, T. 1-12, ohne Schlagzeugstimmen. Das klangliche Ergebnis der Zehn Märsche ist dem reinen Notentext nur bedingt zu entnehmen, nicht zuletzt weil Kagel großen Freiraum gewährt hinsichtlich der instrumentalen Realisierungsmöglichkeiten. Er verweist im Vorwort auch auf den »typische[n] Klang von Dorfkapellen«, der »durch verstimmte Instrumente oder das Fehlen eines gemeinsamen ›A‹ erreicht werden« könne. »Ebenso wird sich ein unausgewogenes, ›provinzielles‹ Klangbild einstellen, wenn

M AURICIO K AGELS Z EHN M ÄRSCHE , UM DEN S IEG ZU VERFEHLEN (1978/79 )

Spieler 5 und 6 Teile aus den Stimmen 1-4 transponiert blasen.«10 Kaum ein Marsch vermittelt von dieser bewusst intendierten unschönen Spielweise ein Bild wie Marsch 6 (und das Notenbild kann die akustische Erfahrung auch nicht ersetzen): Der Marsch setzt eigentlich in strahlendem Fis-Dur an. Aber abgesehen von der unsauber gespielten hohen Melodie wirkt das Ganze äußerst instabil durch die Kombination von lombardischen und normal punktierten Rhythmen der Stimmen 3 bis 6, deren erste Zählzeit auch bei größter Mühe und selbst mit Notentext akustisch kaum auszumachen ist. Dies liegt – nach Erfahrung des Autors – daran, dass die ersten fünf Takte der Stimmen 5 und 6 (zu Anfang auch Stimmen 3 und 4) zwar »lombardisch« volltaktig notiert sind, aber auftaktig wahrgenommen werden, gerade so, wie sie ab Takt 7 auch notiert sind: Dort entsteht durch Verschiebung des rhythmischen Musters von Takt 1ff. um drei Sechzehntel tatsächliche Auftaktigkeit, mithin aus dem lombardischen ein normal punktierter Rhythmus. Offensichtlich »falsche« Töne an Phrasenenden (z.B. Stimme 3 u. 4, T. 5: a‹; Stimme 5 u. 6, T. 10: f) sowie »Zusammenbrüche« und Neueinsätze (z.B. T. 6, 11f.) tun ihr Übriges, hier den Eindruck zu erwecken, da übe eine Blaskapelle erstmals einen neuen Marsch ein, wozu auch das schleppende Tempo sehr gut passt. Erst für eine ad libitum-Wiederholung empfiehlt Kagel ein »ständiges accelerando […], wie ein chaotisch anmutender, aus den Fugen geratener Marsch.«11 In dem geradezu »dargestellten« Unvermögen der Kapelle, überhaupt einen Marsch ohne Unterbrechungen zu Ende zu bringen, könnte man ebenfalls ein szenisches oder theatralisches Moment sehen. All das ist minutiös notiert, und dem Autor ist kaum ein Musikbeispiel bekannt, in dem verlangt wird, richtig falsch zu spielen, dies allerdings mit großem Ernst, denn Kagel fordert im Vorwort ausdrücklich: »absichtlich unsauberes Spiel ist zu unterlassen«. Das ist paradox: Nur indem die Spieler richtig spielen, wird es so schön falsch.12 Als einkomponierte Klarinetten-»Quietscher«, wie sie bei unprofessionellen Spielern gehäuft vorkommen, mag man auch die Spitzentöne der Soloklarinette in Marsch 7 betrachten (Spielweise: »sempre in rilievo«). Darüber hinaus lässt auch dieser Marsch bei seiner rein akustischen Wahrnehmung den Hörer im

10 | Ebd., Vorwort, o.S. 11 | Ebd., S. 23. 12 | Vor allem Marsch 6 mag ein Beispiel für Kagels »Klangkultur der Unvollkommenheit« sein, auch wenn er sie auf alle Zehn Märsche bezog, in denen »die Militärkapelle nicht nach Kampfesfreude und Optimismus [klinge], sondern beschädigt, schräg verdünnt. Dies wäre früher so gar nicht möglich gewesen. Der Weg zu einer Klangkultur der Unvollkommenheit war lang.« Kagel in Werner Klüppelholz (Hg.), Mauricio Kagel: Dialoge, Monologe, Köln 2001, S. 109.

345

346

A CHIM H OFER

Unklaren: Beginnt er auf betonter oder unbetonter Taktzeit? Wo befindet sich die »Eins«?

Notenbeispiel 7: Marsch 7, T. 1-3, ohne Schlagzeugstimmen. Die Verwirrung beim Hören resultiert – unter anderem – daraus, dass Kagel in des Wortes doppelter Bedeutung sein »Spiel« mit der ostinaten Bassstimme treibt: Ihr Anfang suggeriert zwar nicht unbedingt Volltaktigkeit, aber doch zumindest einen Beginn auf einer der betonten Taktzeiten 2, 3 oder 4. Tatsächlich aber setzt sie synchron mit der Melodie auf der zweiten Achtelzählzeit ein. Der zweite Einsatz der in Takt 3 und 4 nun um ein Achtel verkürzten Phrase auf anderer Taktzeit verstärkt die Orientierungslosigkeit beim Hören ebenso wie die Reprise der ersten acht Töne des Anfangs (Stimmen 1 bis 4) in Takt 6, nun allerdings volltaktig, was zwangsläufig zu einer Überbindung in Takt 7 führt. Ein Umschlag der ostinaten Bassstimme erfolgt erst in Takt 10 dergestalt, dass nun der Oberton als zweiter der je durch einen Balken verbundenen Achtel auf betonter Taktzeit liegt:

Notenbeispiel 8: Marsch 7, T. 9-11, nur Bassstimme. Im Zusammenhang mit dem bereits genannten szenischen Moment in Kagels Märschen sei besonders Marsch 8 beleuchtet, der an eine dramatische Filmmusik gemahnt. Dies trifft sich mit dem Tempo »Vivace« und der Angabe von bis zu 136 Schritten in der Minute, womit das Stück in die Nähe eines sogenannten »Sturmmarsches« rückt. Dies deckt sich mit dem Höreindruck eines quasi »attacca«-Beginns:

M AURICIO K AGELS Z EHN M ÄRSCHE , UM DEN S IEG ZU VERFEHLEN (1978/79 )

Notenbeispiel 9: Marsch 8, T. 1-3. Ab dem »Meno mosso« in Takt 15 lassen Tempo und Dramatik mehr und mehr nach, das Stück endet verhalten decrescendierend im »piano«. In diesem Verlauf des Marsches könnte man eine Art musikalisches Schlachtengemälde en miniature sehen, dem sich folgerichtig mit Marsch 9 eine Marcia funebre anschließt, bevor mit der Nr. 10 eigentlich alles – wie gehabt – weitergeht, darin vielleicht ein Sinnbild auch für Unbelehrbarkeit. Viele Merkmale der Kagel’schen Märsche finden sich in dieser letzten Nummer wieder: Das Spiel mit Erwartung und Enttäuschung, der Verlust der »Eins« als einem Anker, der Halt gibt, mithin die Haltlosigkeit, die Irritationen, das Stolpern:

Notenbeispiel 10: Marsch 10, T. 1-8, ohne Schlagzeugstimmen. So zielt die chromatisch aufsteigende Bassfigur zu Anfang zweimal auf die »Eins« (T. 2 und 4), beim dritten Mal – nach einer 1½-taktigen Ausweitung – aber auf das fünfte Takt-Achtel, wodurch sich auch die sechsfachen »staccato«-Einwürfe der Stimmen 1 bis 4 verschieben, gesteigert durch immer neue und unregelmäßige Fein-Phrasierungen in den Bassstimmen. Bemerkenswert ist der Schluss. Nicht einer der zehn Märsche endet »normal«, mithin im Tutti auf der betonter Taktzeit, vorzugsweise auf der »Eins«. Von einem »eigentlichen« Schluss lässt sich über-

347

348

A CHIM H OFER

haupt nur sehr eingeschränkt sprechen; Marsch 4 etwa hat gar kein Ende, er hört einfach – offen – auf (siehe Notenbeispiel 1). Obgleich Kagel lediglich untersagt hat, alle zehn Märsche hintereinander aufzuführen, ansonsten aber Anzahl und Reihenfolge der Märsche freistellt,13 ist die Schlussgestaltung von Marsch 10 offensichtlich auch ein Beschließen der gesamten Sammlung (wie auch die Stellung der Nr. 9, Marcia funebre, nach der Nr. 8 – wie oben angedeutet – kein Zufall ist, sondern sinnvoll erscheint). Marsch 10 zerfällt in gewisser Weise, indem die BassMotivik sich zunächst von den Oberstimmen abspaltet und sodann, motivisch zunehmend verkürzt, gleichsam zersplittert. Dass nach der Generalpause in Takt 34 noch ein »Splitter« erklingt, könnte beim Hörer die Erwartung hervorrufen, Ähnliches setze sich noch einmal nach der zweiten Generalpause in Takt 36 fort. Aber da kommt nichts mehr. Nicht nur sind die letzten, in die Kontra-Oktave hinab steigenden Basstöne ausgesprochen hässlich; zurück bleibt – der eigentlich unnötige Takt 36 deutet es an – nur Leere, also alles andere als ein triumphaler Sieg:

Notenbeispiel 11: Marsch 10, T. 31-36.

B EDEUTUNG Welche Bedeutung haben die Zehn Märsche? Es bedarf sicherlich nicht eines Rekurses auf das Hörspiel Der Tribun, um den Zehn Märschen Bedeutung zu verleihen,14 wie Wilfried Gruhn demonstrieren möchte.15 Umgekehrt sagt die 13 | Siehe Tabelle I. 14 | Dies nicht zuletzt deshalb, weil sie vom Komponisten selbst separat publiziert wurden – was wesentlich zu ihrer Verbreitung und Bekanntheit beigetragen hat. 15 | Mit Verweis auf den Ursprungsort der Märsche, in dem diese jedoch »eher im Hintergrund« (Hanheide, Kagel, S. 229) eine Rolle spielen, stellt Gruhn, Semiotik und Her-

M AURICIO K AGELS Z EHN M ÄRSCHE , UM DEN S IEG ZU VERFEHLEN (1978/79 )

(erklingende) Musik selbst nicht alles. Karl-Heinz Zarius meint: »Subtil komponierte rhythmische Destabilisierung und Fragmentierung […] klären darüber auf, daß mit solcher Musik militärisch […] kein Staat zu machen ist und der Sieg mangels Masse ausfällt.«16 Ob »reine« Instrumentalmusik »aufklären« kann, sei zumindest in Frage gestellt, und der angesprochene »Sieg« rekurriert bereits auf den Titel. Ohne dessen Kenntnis, allein aufgrund der wahrgenommenen Musik, drängte sich vielleicht ein Titel auf wie: Musik (oder Märsche) um das Marschieren zu verhindern. Die musikalischen Merkmale, die auf eine ansonsten sich ernst gebärdende funktionale Gattung der Militärmusik zielen, sind unschwer als parodistisch zu erkennen.17 Zu fragen wäre: Lassen sie das Bild der Gattung Marsch durchschimmern oder das Bild, das Kagel von ihr hat? Sicherlich beides, aber man muss der Kritik, die mit der Parodierung und Karikierung verbunden ist, nicht in allen Facetten zustimmen. Auf einer eher akademischen Ebene könnte man fragen: Stimmt das Bild denn, auf das der Komponist zielt? Liegen Urteile oder Vorurteile zugrunde? So bleibt zum Beispiel im Unklaren, ob Kagel ausschließlich auf Militärmusik rekurriert, wie es Titel und Herkunft meneutik, S. 179f., fest, es seien »also [!] keine funktionalen, sondern artifizielle ästhetische Gebilde«. Artifiziell sind die Märsche – man möchte sagen: erst recht – durch ihre Faktur und nicht durch die Einbindung in ein Hörspiel. »Die verquere Schiefheit der metrischen, melodischen und tonalen Verhältnisse, das Instabile und Ambivalente, das sich zeichentheoretisch beschreiben und explikativ darstellen läßt, wird […] durch den Kontext des Hörspielgeschehens mit Bedeutung aufgeladen«. Ebd., S. 180. Richtig ist, dass die Märsche durch den Kontext des Hörspiels eine anders nuancierte oder zusätzliche Bedeutung erhalten, nicht aber, dass sie dadurch überhaupt erst Sinn erhielten, sodass – wie Gruhn meint – das »Verquere, Falsche der Märsche« nur durch den Tribun »als subversive Unterhöhlung gedeutet werden« könnte oder das »abrupte Abbrechen der Märsche«, das sich im Übrigen nur bei Marsch 4 findet, »erst aus dem Funktionszusammenhang des Hörspiels seinen Sinn« erhalte. Ebd. 16 | Zarius, Danse macabre, S. 151. 17 | Differenzierung innerhalb der Zehn Märsche – siehe etwa die oben genannte Stellung des Trauermarsches und das ihm vorausgehende Stück als eine Art musikalischer Miniaturschlacht – tut Not: »Schon beim ersten Hören dieser Musik erkennen wir, daß es sich ganz offensichtlich um Märsche handelt.« Gruhn, Semiotik und Hermeneutik, S. 175. Zumindest für Marsch 7, 8 und 9 kann dies in Frage gestellt werden. Noch mehr sei bezweifelt, was Hanheide pauschal meint: »Vom ersten Höreindruck her« klängen die Märsche »nach bekannter Marschmusik«. Hanheide, Kagel, S. 228. Und wenn Gruhn diesen Zweifel zu stützen scheint, indem er schreibt, »alles« an den Märschen sei »eigentlich falsch« (Gruhn, Semiotik und Hermeneutik, S. 176), so überzieht er damit wiederum, denn es ist ja gewissermaßen der »Mix« aus dem »Richtigen« und dem »Falschen«, der die Zehn Märsche auszeichnet.

349

350

A CHIM H OFER

der Zehn Märsche nahelegen, denn er schreibt im Vorwort ja – wie bereits zitiert – vom »unausgewogene[n], ›provinzielle[n]‹ Klangbild«, vom »typische[n] Klang von Dorfkapellen«, der »durch verstimmte Instrumente« erreicht werden könne. So schön hässlich sich auch der Marsch 6 anhört: Siege zu erringen, war eigentlich eher Aufgabe von Militär- als von Dorfkapellen, und ein provinzielles Klangbild ist nicht unbedingt typisch für Militärorchester. Gleichwohl bringt bereits der Titel, der – ebenso wie das ausführliche Vorwort und die Kommentierungen beziehungsweise Spielanweisungen im Notentext – als Teil der Komposition angesehen werden kann, eindeutig Kagels Ziel zum Ausdruck: Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen. Dies ist in zweifacher Hinsicht irritierend: Zum einen, weil normalerweise ein Sieg errungen und nicht verfehlt werden will, zum anderen, weil es gerade Märsche sind, die doch – zumindest geschichtlich betrachtet – zum Sieg verhelfen sollen und den »Sieg« auch häufig bereits in ihren Titeln zum Ausdruck bringen; ebenso wurden zahlreiche Märsche nach militärischen Siegen komponiert, setzten diesen ein musikalisches Denkmal, feierten sie gleichsam musikalisch. Beispiele sind etwa Unter dem Siegesbanner und Durch Kampf zum Sieg von Franz von Blon (1861-1945), Das Siegesschwert von Julius Fučík (1872-1916) oder – staatstragend bereits im Titel – der Kaiser Wilhelm-Siegesmarsch von Gottfried Piefke (18151884). Kagel aber stellte seine Märsche in einen politischen Rahmen, über den er an anderer Stelle unmissverständlich Auskunft gab: Ich habe nun zu diesem Monolog 18 Marschmusik geschrieben, obwohl ich geistig kaum in der Lage bin, solche mit Appetit zu komponieren.19 (Kann man Genuß an einem Genre haben, dessen auslösender Effekt nur als zweifelhaft bezeichnet werden kann?). In einem solchen Zusammenhang ist es nicht schwer zu erörtern, warum ich diese Musik mit einem so eindeutigen Titel versehen habe. Im Grunde wünsche ich mir keine Marschmusik, die dazu dienen könnte, einen Sieg zu erringen. Seit der Genfer Konvention ist es Musikern und Krankenhelfern in Uniform nicht gestattet, Waffen zu tragen. Daß die akustischen Werkzeuge unserer Zunft hier waffenähnliche Aufputschmittel sind, wird geflissentlich, weil die Wirkung ungefährlich erscheint, verschwiegen. Das Gegenteil ist der Fall: Musik kann sich in den Köpfen jener wirkungsvoll einnisten, die Sprengköpfe zu verwalten haben. Der Ausgang ist jedenfalls allseits bekannt. 20

Hierzu bemerkte Stefan Hanheide unlängst: 18 | In der Komposition Der Tribun; die dem Zitat vorangehende Passage ist wiedergegeben in Anm. 2. 19 | 20 Jahre später sagte der Komponist zur Komposition der Märsche: »Das war haarig, weil martialische Musik zu komponieren nicht mein Metier ist.« Kagel in Klüppelholz, Mauricio Kagel, S. 109. 20 | Kagel im Booklet zur Einspielung der Urfassung (siehe Anm. 2).

M AURICIO K AGELS Z EHN M ÄRSCHE , UM DEN S IEG ZU VERFEHLEN (1978/79 ) Wie der Krieg selbst, so geriet auch der Marsch durch die Massenvernichtungskriege des 20. Jahrhunderts in ein negatives Licht. Vor diesem Bewusstseinswandel und der heutigen Funktionalisierung ist Kagels Äußerung zu verstehen: Marschmusik hat im Laufe der Geschichte unverzichtbar dazu beigetragen, Kriege zu führen. 21

Auch wenn namentlich der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg zu einer veränderten Einstellung gegenüber Marsch- und Militärmusik geführt haben: Abgeschafft wurde sie nirgendwo, und Gegner wie Kagel gab es nicht erst seit 1945. Zweifellos ist der Marsch fähig, Massen für Siege zu mobilisieren, gleichwohl könnte man fragen, ob Kagel die Bedeutung und Wirkung der Gattung – für seine Zeit und auch im Hinblick auf die Zukunft –nicht überschätzt hat: Kann der »auslösende Effekt« von Märschen in jedem Fall »nur als zweifelhaft« bezeichnet werden? Ist der Marsch als »akustisches Werkzeug« ein »waffenähnliches Aufputschmittel«, dessen Wirkung nur scheinbar ungefährlich ist? Wahrscheinlich wären Vertreter der Militärmusik geneigt, solche Fragen etwas differenzierter zu beantworten. Sie sollen hier auch nur deutlich machen, dass es zum Verständnis der Intentionen Kagels lediglich nötig ist, seine Äußerungen zur Marsch- und Militärmusik zu kennen, nicht aber, sie für wahr oder falsch zu halten. Sie zu verstehen, bedeutet nicht, sie zu teilen. Die Akzeptanz des politischen Bekenntnisses, das Kagel mit und zu seinen Märschen ablegte, muss nicht Voraussetzung sein für eine adäquate Rezeption der Musik, auch wenn sich Kagel selbst das wahrscheinlich wünschte. Ansonsten könnte es als absurd erscheinen, wenn eine echte Militärkapelle die Zehn Märsche aufführt: Ein Orchester, dessen Aufgabe es nach Kagels Meinung ist, zum Sieg zu verhelfen, führt eben jene Stücke auf, die dies zu verhindern trachten. Mit anderen Worten: Kann ein echtes Militärorchester Kagels Märsche ernst nehmen? Dies rückt den Aspekt der Funktion ins Blickfeld. Man stelle sich Kagels Märsche für einen Moment als funktionale Musik vor: statt einer stramm marschierenden Truppe ein humpelnder, kampfesmüder Haufen.22 Natürlich hat Kagel seine Märsche – entgegen ihrer eigentlich funktionalen Bestimmung – nicht zum praktischen Gebrauch geschrieben, aber das Bild ist mit einkomponiert. Die Stücke sind ja nicht nur wegen ihrer Faktur keine »richtigen« Märsche, sondern bereits aufgrund ihrer Zweckbestimmung: gehört zu werden als Meta-Märsche, als Kompositionen »über« eine Gattung, die diese parodieren, karikieren, in Frage stellen, verurteilen und so weiter. Kagel hat quasi – wenn man so will – eine Gattung samt ihrer Funktion »ver-komponiert«. Gut 20 Jahre 21 | Hanheide, Kagel, S. 227f. 22 | Dazu schrieb der Rezensent einer CD-Aufnahme, »die gesamte Kompanie« würde »außer Tritt geraten und wie im Dick und Doof Film übereinanderpurzeln. Eine wahrlich lustige Vorstellung.« Siehe www.nonpop.de/nonpop/index.php?mkey=KAGEL-Rrr-8Orgel-Stuecke-10-Maersche&type=review&area=1&p=articles&id=1107 [1.7.2011].

351

352

A CHIM H OFER

nach ihrer Entstehung sagte der Komponist einmal: »Ich bin froh, daß meine Märsche so zersetzend sind.«23 Natürlich sind sie nicht wirklich zersetzend; diese Wirkung könnten sie nur bei echtem funktionalen Gebrauch entfalten, weshalb keine Militärkapelle sie im Ernstfall spielen würde. Das »Zersetzende« wird vielmehr artifiziell »vor Ohren geführt«. Vielleicht ist es heute, gut drei Jahrzehnte nach ihrer Entstehung, unproblematischer, die Märsche aufzuführen, ohne sich mit Kagels ausgesprochen antimilitaristischer Haltung zu identifizieren oder sich auch nur von ihr angesprochen zu fühlen. Dies könnte erklären, warum – wie es scheint – die Beliebtheit der Zehn Märsche in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat, erkennbar an neuen Einspielungen24 und zahlreichen Aufführungen. In Rezensionen und Konzertbesprechungen ist denn auch vor allem die Rede vom »Spaß an den schrägen Tönen und den verqueren Rhythmen«25, von den »unmilitanten« und »hintersinnig-mißlungene[n]«26 Märschen, die »für listige musikalische Wehrkraftzersetzung«27 sorgen. Entsprechend heißt es 2006 in einer CD-Rezension, Kagels Märsche »scheinen in der pazifistischen Grundinten[t]ion fast etwas ›antiquiert‹«, aber sie würden »auf eine ganz eigene Art [stählern]«, denn »nach dem Genuss« sei man »doppelt bereit sich in den ›Total War against Ignorance‹ […] zu stürzen«28 . Die Kehrseite des Antimilitaristischen muss also nicht nur der pure Spaß sein. Und die eigentliche Botschaft könnte dann lauten: Kein Marsch ist gut, aber schlechte Märsche sind noch besser.

23 | Kagel in Klüppelholz, Mauricio Kagel, S. 109. 24 | Z.B. CD Entmilitarisierte Zonen Märsche, hr-Brass, Ltg. Lutz Köhler (Label: Capriccio); Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen, Landesjugendorchester Sachsen, Ltg. Milko Kersten, MDR-Mitschnitt eines Konzertes vom 2.11.2008 im Leipziger Gewandhaus (Label: amr); Experiments in a March, Royal Northern College of Music Wind Orchestra, Ltg. Clark Rundell (Label: Chandos); Marsch 4 und 10 auf Who Is Afraid of 20th Century Music? The Millennium Concert, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Ltg. Ingo Metzmacher (Label: EMI classics). 25 | Winnender Zeitung vom 17.7.2009, siehe www.studentenphilharmonie.de/index. php?content=presse [1.7.2011]. 26 | Hans-Christian von Dadelsen in einer CD-Rezension (1.12.2001), siehe www. klassik-heute.com/kh/3cds/20011201_13087.shtml [1.07.2010]. 27 |Journal Staatsoper Hamburg – Philharmoniker Hamburg – Hamburg Ballett 5 (2009/ 10), S. 24; online zugänglich unter http://hamburg-ballet.com/form/journal_5_0910.pdf [1.7.2010]). 28 | Quelle: siehe Fußnote 22.

Aufführung

Form/ Spielweise

Klang







nicht alle 10 Märsche hintereinander; wenigsten 1 oder 2 andere Stücke sind einzuschieben

keine »überlangen Pausen« zwi- • schen den Märschen Beachtung der dynamischen Abstufungen von 1. & 2. volta







Besetzung Schlaginstrumente

wenigstens 2 Schlagzeuger

• wenigstens 6 Ausführende: • 1-4 Diskantstimmen 5-6 Bassstimmen • obligate Instrumente in Nr. 5, 6, 8, 9: Trompete; in Nr. 5: Piccolo; in Nr. 7: Klarinette

Besetzung Blasinstrumente

zwingend



• •







Tonhöhen bei jeder Wiederholung oktavver- • setzt; Entscheidung des Spielers darüber spon- • tan •

Stimme 6 (in der Regel identisch mit Stimme • 5) »möglichst oft« 8va bassa • • • • • •

keine Melodieinstrumente; Ausnahme: Lyra

Holz- und Blechblasinstrumente gemischt

ratsam

Anzahl und Reihenfolge der Märsche frei

Instrumentenwechsel, auch innerhalb eines Marsches Übertreibungen in der dynamischen Abstufung Bei mehr als 6 Melodieinstr.: Oktavierung; Wechsel von Solo- und Tutti-Spiel insbes. bei Wiederholungen Wegfall von Wiederholungen, wenn die Besetzung nur geringe Variation in Oktavierung & Lautstärke zulässt Schlagzeugpartien solistisch möglich, bes. bei Wiederholungen; dabei dynamische Abstufungen durch den Dirigenten möglich

verstimmte bzw. nicht gestimmte Instrumente Spieler 5-6 transponieren Teile der Stimmen 1-4 Spieler 1-4 tauschen ihre Stimmen vertikale Anordnung (1 = höchste, 4 = tiefste Diskantstimme) nicht bindend Stimmen 2-4 können Soli von Stimme 1 übernehmen Cello & Kontrabass; »unübliche« Holzblasinstr. jede Art von Arrangement erlaubt

beliebige Schlaginstrumente; sinnvoll: hoch & tief klingende

beliebige Anzahl über 8 Spieler nur Holz, nur Blech; auch chorisch (z.B. nur Doppelrohrblattinstrumente)

möglich

Tabelle 1: Synopse von Angaben Kagels aus dem Vorwort zu Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen, Frankfurt u.a. 1983

M AURICIO K AGELS Z EHN M ÄRSCHE , UM DEN S IEG ZU VERFEHLEN (1978/79 )

353

Takt

C

2/4

4/4

2/4

2/4

Nr.

1

2

3

4

5

Vivace ȹ= 128

Vivace ȹ= 112-128

Allegro ȹ= 108-120

Allegro ȹ= 112-120

Tempo

T. 1 Solo: Moderato ȹ= 100-108 T. 8 Tutti: T. 8 Tutti: f/ff Allegro ȹ= 112-120

T. 1 Solo: mf

f/ff

f/ff

f/ff

f/pp

Dynamik

54 Takte || 7 ||: 19 :|| 19 || 9 ||

56 Takte ||: 14: || 14 | 14 | 14 :||

18 Takte ||: 18: ||

51 Takte ||: 17: ||: 17 | 17 : ||

30 Takte ||: 30: ||

Umfang/ Form

Spalte Dynamik: Angabe zu Beginn/bei der Wiederholung

1-3: Melodie 4-6: Begleitung

1-4: Nachschlag 5-6: Melodie

1: Melodie 2-4: rhythm Begleitmuster 5-6: Bass

1-2: Melodie 3-6: Begleitung

1-4: Nachschlag 5-6: Bass-Melodie

Stimmen 1-6

Tabelle 2: Übersicht über die Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen

[T. 1-7:] Solo-Trompete Spieler 2 und 3 pausieren bis Takt 9 Spieler 4 kann auch eine Oktave höher oder tiefer ausführen. (Je nach Stärke der Besetzung bläst Spieler 3 ebenfalls diesen Part.) Spieler 6: ad lib. 8 bassa [T. 26:] Wiederholung: beliebige Oktavversetzung [T. 38:] Trompete: bis Takt 45 eventuell 8va bassa [T. 45:] Wiederholung ab Takt 27 ad lib.

[T. 14:] Wiederholung: beliebige Oktavversetzung [T. 29, zu Stimmen 1-4:] Oktavlage ad lib.

[Zu notierter 7. Stimme:] Wenn mehr als sechs Solo-Bläser vorhanden, verdoppelt der Siebte entweder die 1. Stimme oder – wie geschrieben – die 2., eine Oktave tiefer. [T. 8 zu Stimme 6:] Bis Takt 16 loco ad lib. [T. 18 zu allen Stimmen:] Wiederholung: beliebige Oktavversetzung

[Zu Stimme 1+2:] Falls mehr als sechs Solo-Bläser vorhanden, mit der Hälfte der Musiker Partie 1 + 2 verstärken. [Zu Stimme 3+4:] Instrumente 3 + 4 dürfen beliebig kombinieren: das eine wie geschrieben, das andere 8va. alta. [T. 1:] Akzente (stets sffz !) beachten [T. 17:] Wiederholung: alle Instrumente spielen nach Belieben in einer höheren oder tieferen Oktavlage. [T. 18:] (2. volta: f !) [T. 51:] Wiederholung: beliebige Oktavversetzung

[T. 8:] nur 2. Volta: bis etwa Takt 15 fordert der Orchesterleiter die Ausführenden einzeln auf, etwas lauter zu spielen. [T. 16:] Nur 2. Volta: ab hier sempre in crescendo; bei T. 23 tutti ff [T. 30:] Nach einer Generalpause ausgiebiger Dauer ([Fermate]!), (der Dirigent erstarrt unmittelbar nach den [sic!] vierten Schlag) wird der Marsch da capo begonnen, diesmal (2. volta) jedoch pp. Alle Spieler, mit Ausnahme der Schlagzeuger[,] transponieren nun je nach den Möglichkeiten ihres Instruments eine Oktave höher oder tiefer.

separate Spielanweisungen (Zitate) Kursivschrift und fett lt. Original

354 A CHIM H OFER

Takt

2/4

4/4

4/4

12/8

6/8

Nr.

6

7

8

9

10

f/ff

p

f

p

f

Dynamik

Allegro ȹ= 112-120

Wie ein Kondukt. Marcia funebre Ⱥ= 60-64

Vivace ȹ= 120-136

Andantino ȹ= 72-80

Allegretto ȹ= 96-104

Tempo

36 Takte |1 ||: 18 : || 2 ||: 10 :|| 5||

18 Takte || 18 ||

30 Takte || 30 ||

30 Takte || 30 ||

48 Takte || 12 | 12 | 12 || 12 ||

Umfang/ Form

5-6: Bass-Melodie 1-4: rhythm. Einschübe

1-2: rhythmisch akzentuierte Haltetöne 3-4: quasi Melodie 5-6: rhythmi-sierte Bass-Einschübe

1-2 & 5-6: Haltetöne 3-4: quasi Melodie -Fetzen

1: Klarinette solo 1-4: quasi Melodie 5-6: Bass

1-2: Melodie 3-6: Begleitung

Stimmen 1-6

[T. 17, Stimme 6:] Bis Ende loco ad lib. [T. 19:] Wiederholung: beliebige Oktavversetzung [T. 31:] Wiederholung: beliebige Oktavversetzung

[Zu Stimme 1-4:] Diese Partie 1 (+ 2) ist ebenfalls in der Stimme 3 + 4; umgekehrt 3 (+ 4) in 1 + 2. Häufige crescendi und diminuendi unabhängig voneinander (auch wenn nicht vorgeschrieben) [Zu Stimme 1-2:] Lediglich für die Trompete ist diese Partie obligat. Sparsame, feierliche Tonwiederholungen sind bis Ende des Marsches auszuführen (es gelten hierfür alle in Marsch 8, Legende** angegebenen Hinweise).

[Zu Stimme 1-2:] Diese Partie 1 (+ 2) ist ebenfalls in den Stimmen 3 + 4 zu finden, umgekehrt 3 (+ 4) in 1 + 2. [Zu Stimme 1:] Lediglich für die Trompete ist die Partie 1 (+ 2) obligat, wobei einige Töne eine Oktave tiefer transponiert werden müssen. Der Instrumentalist verziert bis Ende des Marsches die langen Dauerwerte durch sparsame Tonwiederholungen, ähnlich Signalen der Militärmusik (z.B. […] usw.), wobei in den Fermatentakten 15, 22 und 30 die Töne gehalten werden. Eine zweite Trompete kann bei der Ausführung der Partien 3 und 4 eingesetzt werden. [Zu Stimme 1 + 2:] Bis Ende: häufige [crescendo] und [decrescendo] zwischen p und f ad libitum. [Zu Stimme 4:] Instrumente, die nur im Violinschlüssel notiert sind, (z.B. Saxophon), bedienen sich der Spielstimme 3.

[Zur Solo-Klarinette:] Diese Partie – mit einer Solo (Es- oder B-)Klarinette (eventuell auch mit einem Es- oder B-Saxophon) zu besetzen – ist in jeder der Stimmen 1 bis 4 zu finden. Im Falle einer Aufführung mit nur sechs Bläsern verringert sich entweder die Partie 1 + 2 oder 3 + 4 um einen Spieler. [Zu Stimme 5-6:] Beide Ausführende alternieren beim Einatmen, so daß das Ostinato nicht unterbrochen wird. Spieler 6 kann nach Belieben tiefer oktavieren. [Zur 2. Schlagzeugstimme:] Ossia: mit Pauken in Es und As ausführen

[Zu den Stimmen 1-4:] Die Partie 1 (+ 2) ist ebenfalls in der Stimme 3 + 4 zu finden, umgekehrt 3 (+ 4) in 1 + 2 [T. 25-36:] Ad lib.: poco a poco accelerando [T. 37:] Bis Ende: Trompete solo (die restlichen Instrumentalisten spielen dann aus den Stimmen 3 bis 5) [T. 41, Stimme 6:] Oktavlage bis Ende ad lib. [Nach T. 48:] Eine Wiederholung da capo wäre nur denkbar, wenn ein ständiges accelerando von Anbeginn bis Ende erfolgen würde, wie ein chaotisch anmutender, aus den Fugen geratener Marsch.

separate Spielanweisungen (Zitate) Kursivschrift und fett lt. Original

M AURICIO K AGELS Z EHN M ÄRSCHE , UM DEN S IEG ZU VERFEHLEN (1978/79 )

355

Autorenverzeichnis

Oberstleutnant Dr. Christian Blüggel, Leiter des Luftwaffenmusikkorps 4 der Bundeswehr, Berlin Dr. Juliane Brauer, Wiss. Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin Prof. Dr. Federico Celestini, Lehrstuhl für Musikwissenschaft an der Universität Innsbruck Prof. Dr. Christine Fischer, Schola Cantorum Basiliensis Dr. Timothy Freeze, Visiting Assistant Professor an der School of Music, Indiana University, Bloomington Heike Frey, Musikwissenschaftlerin und Volkskundlerin, München John Gabriel, Doktorand in Musikwissenschaft an der Harvard University, Cambridge, Mass. Prof. Dr. Sabine Giesbrecht, Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Universität Osnabrück Prof. Dr. Frank Heidlberger, College of Music der University of North Texas, Denton Major Dr. Manfred Heidler, Zentrum Militärmusik der Bundeswehr, Bonn Oberstleutnant Dr. Bernhard Höfele, zuletzt Leiter des Ausbildungskorps der Bundeswehr in Hilden

358

P ARADESTÜCK M ILITÄRMUSIK

Prof. Dr. Achim Hofer, Institut für Musikwissenschaft der Universität KoblenzLandau Prof. Dr. Linda Maria Koldau, Institut für Ästhetik der Universität Aarhus Dr. Gerhard Kümmel, Wiss. Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, Straußberg Prof. Dr. Siegfried Oechsle, Lehrstuhl für Musikwissenschaft an der Universität Kiel Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Senghaas, zuletzt Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen Dr. Anke Steinbeck, Projektassistentin Bundesjugendorchester beim Deutschen Musikrat, Bonn Dr. Yvonne Wasserloos, Musikwissenschaftliches Institut der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf Silke Wenzel, Wiss. Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg

Personenverzeichnis Adenauer, Konrad 18, 20, 27f. Adler, Georg 299, 312 Adler, Guido 193 Adler-Alfieri, Emanuel 312 Adorno, Theodor W. 26, 196f., 200, 208, 213f., 242, 249 Agricola, Johann Friedrich 178 Albrecht, Charles 42 Alfano, Franco 59 Allen, Woody 329 Andersen, Lale 125, 131, 143, 145-148, 150 Aquin, Thomas von 45 Arbeau, Thoinot 285-291, 194, 196 Arne, Thomas Augustine 44 Bach, Johann Sebastian

245, 274, 329 Bach, Leonard Emil 74 Bach, Peter 313f. Bach, Wilhelm Friedemann 329 Bartók, Béla 55, 267, 274 Bartov, Omer 103 Becker, Nikolaus 72 Beethoven, Ludwig van 14, 44, 70f., 75, 86, 132f., 203, 210, 268-270 Bekker, Paul 198, 208 Berg, Alban 64, 267, 273 Berlioz, Hector 196, 210, 244, 250, 252f., 258, 260f. Bernhard, Joachim 160 Biber, Heinrich Ignaz Franz 268 Bizet, Georges 63

Blon, Franz von 350 Blumer, Herbert 100 Bochmann, Werner 63 Borthwick, Jane Laurie 57 Bortnjanski, Dmitri 47, 85, 92 Brant, Sebastian 280 Britten, Benjamin 272 Bruckner, Anton 63, 199 Buch, Esteban 14 Busoni, Ferruccio 56, 61

Camphausen, Wilhelm 225 Carey, Henry 43 Caruso, Enrico 78 Charpentier, Marc-Antoine 58f., 271 Chatschaturjan, Aram 328 Cherry, Edith G. 57 Chopin, Frédéric 239, 246, 248 Chruschtschow, Nikita 321 Clasen, Lorenz 72f. Clausewitz, Carl von 58, 84, 267 Cope, John 43 Copland, Aaron 62, 271 Corigliano, John 79 Crüger, Johann 222 Curtis, Tony 155 Dahlhaus, Carl 119, 156 Dent, Catherine 153 Dessau, Paul 172 Dietrich, Marlene 150 Dinescu, Violeta 270 Dohnanyi, Christoph von

119

360

P ARADESTÜCK M ILITÄRMUSIK

Doldinger, Klaus 63, 159, 162-164 Doráti, Antal 270 Draeseke, Felix 75f. Dunning, Albrecht 13f. Dykes, John 63 Dylan, Bob 318

Eckert, Franz 42 Eduard II. 44 Edwards, Blake 154 Eisler, Hanns 29, 272 Fackler, Guido 300 Fainzimmer, Alexander 327 Fischer, Joschka 32 Fleming, Hanns Friedrich von 82, 88 Ford, Ralph 62 Franchetti, Alberto 76, 78 Franck, César 274 Franz Joseph I. 45 Frese, Carl 30 Freytag, Gustav 226 Fricken, Ernestine von 239, 244 Friedrich August II. 177 Friedrich II. 223, 259 Friedrich Wilhelm III. 82-84, 223 Fröbe, Gert 136 Froelich, Carl 226 Fučík, Julius 350 Gagarin, Juri

52 Gale, Edra 79 Gall, Lothar 73 Geier Sturzflug 318 George II. 42, 44, 58 Gerhard, Anselm 258, 260 Goebbels, Joseph 126, 129, 131, 134, 137f., 142, 147f., 226 Goedecke, Heinz 137 Goethe, Johann Wolfgang von 67, 242, 132

Golde, Joseph 231, 232, 234 Gorbatschow, Michail 330f. Gounod, Charles 42 Grant, Cary 155 Grawert, Theodor 218 Gregson, Edward 56 Grothe, Franz 49, 63 Gruhn, Wilfried 338, 348f. Guinness, Alec 329

Haase, Hans

308 Hackenberger, Oskar 86 Hadamovsky, Eugen 134 Haig, Alexander 18 Händel, Georg Friedrich 57f., 66 Hanheide, Stefan 209, 349f. Hansen, Matthias 210, 213 Hartling, Carlos 42 Hartmann, Karl Amadeus 267, 271f. Hasse, Johann Adolf 308 Haydn, Franz Joseph 30, 45, 269 Heesters, Johannes 135 Heine, Heinrich 255 Heister, Hanns-Werner 301f. Hell, Helmut 193 Henze, Hans Werner 272 Heymann, Werner Richard 63 Himmel, Friedrich Heinrich 71 Himmler, Heinrich 303 Hindemith, Paul 26, 272 Hinkel, Hans 129, 148 Hitler, Adolf 64, 78, 147, 271 Hobbes, Thomas 270 Hofer, Achim 286 Hoffmann, Freia 71 Hofmannsthal, Hugo von 45 Holst, Gustav 54, 267, 273 Honegger, Arthur 265, 270 Hoover, Katherine 270 Horkheimer, Max 26 Horner, James 62 Huber, Klaus 272, 274

P ERSONENVERZEICHNIS

Illica, Luigi

76

Jackson, Michael 50 Jahrmärker, Manuela 76f. Janowitz, Morris 102 Janssen, Christiaan 59 Jary, Michael 63 Jolivet, André 270 Kaden, Christian 301 Kagel, Mauricio 265, 335-355 Kammerer, Walther 142 Kampf, Arthur 225 Kant, Immanuel 203 Keil, Alfredo 42 Kimura, Yoshihiro 57 Kirchhof, Hans Wilhelm 293, 295f. Klopstock, Friedrich Gottlieb 184 Knepler, Georg 297 Kodály, Zoltán 270 Kreuder, Peter 63 Kulisiewicz, Aleksander 311 Lake, Greg 329 Lasso, Orlando di 274 Lauridsen, Morten 92 Leander, Zarah 135 Leip, Hans 146, 149 Leo, Leonardo 193 Leyden, Jan van 261 Lincke, Paul 44, 52, 61, 299 Liszt, Franz 35, 199 Luhmann, Niklas 97, 105 Luise von Preußen 77 Lully, Jean Baptiste 43, 48 Luther, Martin 45f., 222, 226, 253, 257f.

Mackeben, Theo

63 Mahler, Alma 201, 209 Mahler, Gustav 183, 193, 195, 203f., 266, 272 Malipiero, Gian Francesco 271 Mancini, Henri 157, 164 Marenzio, Luca 268 Marini, Biagio 268 Markham, Francis 291 Martin, Frank 270 Maximilian I. 278 May, Martin 159f. Mendelssohn Bartholdy, Felix 268 Mercurio, Steven 323 Mersenne, Marin 282, 285, 288, 292-294 Messiaen, Olivier 275 Metastasio, Pietro 167 Mey, Reinhard 53 Meyer, Ferdinand 273 Meyer, Siegbert 74 Meyerbeer, Giacomo 253-261 Milhaud, Darius 271 Miller, Glenn 63 Milner, Cecil 63 Mitterand, François 59 Moltke, Cuno Graf von 35, 45 Monteverdi, Claudio 268 Morricone, Ennio 63 Moskos, Charles 102f. Mozart, Wolfgang Amadeus 132f., 194 Muffat, Georg 274f. Mühlberger, Karl 45 Müller, Heiner 78 Mussorgsky, Modest 324

Nägeli, Hans Georg 219 Napoleon III. 260f. Naujoks, Harry 309, 313 Neithardt, Heinrich August Nena 318

218

361

362

P ARADESTÜCK M ILITÄRMUSIK

Newton, John 45 Nicolai, Otto 54 Nono, Luigi 272

O’Brien, Joan

155 O’Connell, Arthur 156 Oberhauser, Robert 146 Oppenheimer, Julius Robert 320, 322

Paganini, Nicolò

239, 246 Pallavicino, Carlo 170 Pärt, Arvo 274 Paul, Adrian 153 Penderecki, Krzysztof 272 Peter, Manfred 151 Petersen, Wolfgang 62f. Piccioli, Francesco Maria 170 Piefke, Gottfried 55, 350 Popitz, Heinrich 302, 315 Porpora, Nicola 193 Poulenc, Francis 270 Preuss, Donald 279 Prieberg, Fred K. 19, 21, 23, 25 Prokofjew, Sergej 270, 317, 319, 324, 326-333 Puccini, Giacomo 59

Ratzinger, Joseph

38 Reagan, Ronald 318, 321f., 330 Redepenning, Dorothea 328 Redlich, Hans Ferdinand 57f. Reed, Alfred 55 Reed, Herbert Owen 56 Rehder, Willy 313 Reichmann, Hans 310f. Reintgen, Karl-Heinz 145 Renan, Ernest 38, 65 Respighi, Ottorino 57 Ricard, Matthieu 66 Riemann, Hugo 193 Rinckart, Martin 222-224

Roch, Herbert Paul 309 Roeder, Erich 75 Rohrbach, Günter 160 Rökk, Marika 135, 140 Rose, David 157, 164 Ross, Alex 328 Rudin, Rolf 55 Rühmann, Heinz 63, 135

Sachs, Hans

280 Sæverud, Harald 270 Scarlatti, Alessandro 193 Scheler, Max 37 Schiller, Friedrich 132 Schlegel, Katharina Amalia Dorothea 57 Schmid, Carlo 18 Schmidt, Johann Christopher 143 Schneckenburger, Max 72f. Schönberg, Arnold 272f. Schostakowitsch, Dmitri 55, 263, 271, 326, 328 Schröder, Rudolf Alexander 45 Schubert, Wilhelm 299, 309 Schulze, Norbert 62 Schumann, Robert 239, 247 Schwarz, Otto M. 55 Scribe, Eugène 254 Shaw, Artie 63 Shils, Edward 102 Singer, Wolf 66 Sofsky, Wolfgang 302, 314 Sorge, Gustav 299, 308 Specht, Richard 208 Speidel, Hans 45 Staehelin, Martin 283 Stamitz, Johann 193 Štancl, Karel 308 Sting 317-332 Stoecker, Adolf 226 Strauß, Johann 45 Strawinsky, Igor F. 64

P ERSONENVERZEICHNIS

Suderland, Maja 314 Summerer, Reinhardt 55

Täge, Christian

46 Tasso, Torquato 174 Teike, Carl 40, 52 Telemann, Georg Philipp 222 Tersteegen, Gerhard 85 Tippett, Michael 272f. Toeche-Mittler, Joachim 228, 233f. Tolstoi, Lev N. 267 Torrefranca, Fausto 193 Treitschke, Friedrich 70f. Treitschke, Heinrich von 226 Tschachtlan, Benedikt 280 Tynjanow, Juri 327 Tyrell, Hartmann 160

Valerius, Adrianus 47 Venosa, Carlo Gesualdo da 268 Verdi, Giuseppe 60 Vergil 277 Vinci, Leonardo 193 Vivaldi, Antonio 274f. Voigt, Friedrich Wilhelm 46 Wagenseil, Georg Christoph

193 Wagner, Richard 14, 35, 46, 133, 232 Wallhausen, Johann Jacobi von 277 Walpurgis, Maria Antonia 171 Weber, Carl Maria von 71 Webern, Anton 267 Weill, Kurt 272 Weinstein, Adelbert 18 Weizsäcker, Carl Friedrich von 37 Wennemann, Klaus 160 Werner, Ilse 135, 142 Wieck, Clara 239, 244, 246 Wieprecht, Wilhelm 18, 84f. Wilhelm I. 29, 222, 261 Wilhelm, Carl 72 Williams, John 54, 62

Williamson, John 199 Wolpe, Stefan 272 Wolzogen, Hans von 35

Young, Simone 118 Yun, Isang 272 Žak, Sabine 296f. Zarius, Karl-Heinz 349 Zeppelin, Ferdinand von 52f. Zimmer, Hans 61

363

Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Mai 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung Juni 2012, ca. 170 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0

Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Juni 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1755-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Juni 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien März 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5

Roberto Simanowski Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation Zum Verstehen digitaler Kunst März 2012, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-976-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Lars Koch, Christer Petersen, Joseph Vogel (Hg.)

Störfälle Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2011

2011, 166 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1856-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

www.transcript-verlag.de