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German Pages 343 [344] Year 2023
Eltje K. Böttcher Ovids Weltgedicht der Metamorphosen
Göttinger Forum für Altertumswissenschaft
Beihefte Neue Folge Herausgegeben von Bruno Bleckmann, Thorsten Burkard, Gerrit Kloss, Jan Radicke und Markus Schauer
Band 14
Eltje K. Böttcher
Ovids Weltgedicht der Metamorphosen Zur Intertextualität als Multiplikationsfaktor
ISBN 978-3-11-078415-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078500-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-078509-8 ISSN 1866-7651 Library of Congress Control Number: 2023942133 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die geringfügig überarbeitete Form meiner Dissertation, die unter gleichem Titel im Juli 2020 von der Philosophischen Fakultät der CAU Kiel angenommen wurde. Diese Publikation wurde möglich durch die Unterstützung verschiedener Personen, die ich an dieser Stelle nennen möchte. Mein herzlicher Dank gilt vor allem Prof. Dr. Thorsten Burkard, der diese Arbeit betreut und seit meinem Studium mein Interesse an der Klassischen Philologie mit Rat und Tat gefördert hat. Prof. Dr. Katharina Wesselmann danke ich für das zweite Gutachten und für unsere anregenden Gespräche, die mich immer wieder aufs Neue ermutigen, antike Texte mit einem wachen Blick zu lesen. Dem Collegium Philosophicum der CAU Kiel gebührt mein Dank für die finanzielle Unterstützung durch ein Stipendium. Für die Aufnahme in der Reihe „Göttinger Forum für Altertumswissenschaft. Beihefte N.F.“ danke ich allen Herausgebern und dem Verlag De Gruyter. Für die Unterstützung ganz unterschiedlicher Art danke ich ganz herzlich meiner Familie und meinen Freunden. Hemmingen, im September 2023 Eltje Böttcher
https://doi.org/10.1515//9783110785005-202
Inhalt
Einleitung 1
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Forschungsstand 5 Die Metamorphosen als Weltgedicht 5 Intertextualität und Intermaterialität 17
Methodik 34
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Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte 40 Zeitkohärenz 41 Raumkohärenz 56 Figurenkohärenz 65 Fazit 85
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Die Metamorphosen als Variationensammlung 87 Vielfalt der Handlungsorte und -gegenstände 89 Vielfalt der Figurentypen 91 Facettenvielfalt der Einzelfiguren 92 Vielfalt von Geschichten 93 Fazit 99
Zwischenfazit 101
Intertextualität und Intermaterialität als Multiplikationsfaktoren 103
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Sizilien 109 Einleitung 109 Sizilien als Fixpunkt innerhalb der Metamorphosenwelt 109 Sizilien als Kreuzungspunkt von Werkwelten 111 Fazit 119
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Salmacis und Hermaphroditus 120 Einleitung 120 Einbettung der Narration in die Haupthandlung 121 Die Figuren 123 Die Handlung und die Reden 126
VIII Inhalt . .
Dynamik und Funktion der Intertextualität 133 Fazit 134
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Orpheus und Eurydica 137 Einleitung 137 Einbettung der Erzählung in der Haupthandlung 138 Der Handlungsablauf 139 Tod der Eurydica 141 Trauer des Orpheus 143 Der Gesang in der Unterwelt 145 Die Wirkung des Gesangs 148 Eurydica in der Unterwelt 150 Der erneute Verlust der Eurydica 151 Orpheusʼ Leben nach Eurydicasʼ Verlust 154 Orpheusʼ Tod 158 Das Haupt des Orpheus 163 Das Wiedersehen in der Unterwelt 164 Dynamik und Intertextualität für die Werkwelt 164 Fazit 168
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Fama 170 Einleitung 170 Fama im Kontext weiterer Personifikationen 171 Vergils Fama und Ovids Fama als dieselbe Figur? 177 Fama und die Kriegsfurien 183 Fama, Kleos und die Musen 188 Zur Bedeutung der Fama für die Metamorphosen 191 Fazit 197
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Odysseus und Ajax 200 Einleitung 200 Unerwähnt und doch präsent – Ajax und Odysseus in met. 12 203 Das Iudicium Armorum 210 Die redenden Figuren 212 Die Figurenreden 215 Fazit 229
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Inhalt IX
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Die Gefährten des Odysseus 233 Einleitung 233 Die redenden Figuren 234 Die Figurenreden 239 Fazit 266
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Scylla 269 Einleitung 269 Scylla in Vorgängerwerken 270 Scylla in den Metamorphosen 275 Intertextualität und ihre Funktion für die Werkwelt 279 Fazit 290
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Polyphem 292 Einleitung 292 Polyphem in Vorgängerwerken 292 Polyphem in den Metamorphosen 299 Intertextualität und ihre Funktion für das Weltgedicht 300 Fazit 310
Schlussbetrachtung 311
Literaturverzeichnis 319 Index 331
Einleitung In nova fert animus mutatas dicere formas corpora: di, coeptis (nam vos mutastis et illa) adspirate meis primaque ab origine mundi ad mea perpetuum deducite tempora carmen. Mich drängt der Sinn, von Gestalten zu singen, die in neue Körper verwandelt wurden; Götter, inspiriert mein Vorhaben (denn ihr habt auch dieses verwandelt) und führt mein Lied ununterbrochen fort vom ersten Anfang der Welt bis in meine Gegenwart. (Ov. met. 1,1–4)
Dicht und programmatisch beginnt das Proöm der Metamorphosen – der Sinn dieser ersten vier Verse gibt sich dabei schillernd und pointenreich. 1 Zunächst werden dem Leser dichterische Originalität und Verwandlungserzählungen in Aussicht gestellt. Die Anfangsidee für das Werk, so erfährt er im zweiten Vers, habe bereits selbst einen Wandel vollzogen und solle nun durch göttliche Inspiration in eine neue Richtung weitergeführt werden. Im Ergebnis solle eine fortlaufende Geschichte entstehen, die von Anbeginn der Welt bis in die Gegenwart des Erzählers führe. Insgesamt finden sich über 250 Einzelmythen im Gesamtwerk, denn anders als andere antike Epen erzählt das Werk nicht die Abenteuer eines einzelnen Helden und seiner Nebenfiguren, sondern widmet sich einer Vielzahl unterschiedlicher Figurenschicksale in ihrem Wandel durch Raum, Zeit, ihrer Gestalt und ihrem individuellen Charakter. Zur Beschreibung der Metamorphosen fällt häufig der Begriff eines „Weltgedichts“,2 und tatsächlich weist das Werk Eigenschaften auf, welche diese Bezeichnung auf unterschiedlichste Weisen verdient machen. Zunächst umfasst die Erzählung in ihrer zeitlichen Dimension, wie bereits im Proömium angekündigt, die gesamte Weltgeschichte vom Chaos über die mythische Zeit der Götter und Heroen bis hin zur Zeitgeschichte von Cäsar und Augustus. Rückblenden, Figurenreden und Prophezeiungen sorgen dabei für chaotisch anmutende Zeitsprünge – und doch wird die Kohärenz der Chronologie in diesem carmen perpetuum widerspruchsfrei gewahrt. Doch nicht nur die Zeit, auch der literarisch beschreibbare Raum der Welt wird in einer detaillierten Facettenschau zur
1 Entsprechend umfangreiche Forschung gibt es zu ihrer Deutung, vgl. etwa die Diskussionen in Knox 1986, 10; Hofmann 1986, 224; Myers 1994, 4; Galinsky 1999, 306f.; Tsitsiou-Chelidoni 1999, 273 und 301 mit Fn. 73; Andrae 2003, 35–38; Holzberg 2007, 12. 2 Vgl. Kap. 2.1. https://doi.org/10.1515/9783110785005-001
2 Einleitung Darstellung gebracht: Jede Erzählung weist ihren eigenen Handlungsort auf, vom Olymp bis zur Unterwelt, von Italien bis nach Indien uvm. All diese Einzelorte werden wiederum erzählerisch miteinander verbunden und in ihrer kohärenten Beziehung zueinander gezeigt. So breitet sich im Laufe des Gedichts Puzzleteil für Puzzleteil die gesamte Weltkarte vor dem Leser aus. Innerhalb dieser Dimensionen von Zeit und Raum bevölkert ein umfangreiches Figureninventar die Werkwelt. Neben bereits vorher prominentem Personal der griechisch-römischen Mythologie und Geschichte, wie etwa Hercules (met. 9,1–315 u.a.), Medea (met. 7,1–158 u.a.), Circe (met. 14,8–439 u.a.), Aeneas (met. 13,623–14,608) oder Cäsar (met. 15,745–851 u.a.), finden sich zahlreiche bis dahin unbekanntere (und manchmal vielleicht sogar neu erfundene Figuren) wie Dianas thebanische Friseurin Crocale (met. 3,168–179), die babylonischen Liebenden Pyramus und Thisbe (met. 4,55–166), der sizilische Flussgott Acis (met. 13,750–897) oder die italische Nymphe Canens (met. 14,320–385) erzählerisch miteinander zu einem Netzwerk verbunden, das in seiner Gänze die ganze Weltgeschichte durchzieht. Bisweilen werden dabei Figuren, die in der Tradition als unwichtige Nebenfiguren fungierten, in den Fokus der Erzählung gerückt, indem sie eine handlungsrelevantere Rolle, einen Namen oder eine Innenperspektive auf das Geschehen erhalten. Dies ist etwa der Fall, wenn der einsichtige Seeräuber Acoetes, im homerischen Dionysoshymnos als namenloser Steuermann genannt, in einer späteren Station seines Lebens als Anhänger des Bacchus gezeigt wird, der Pentheus rückblickend von Bacchusʼ Entführung berichtet (Hom. Hymn. 7, 15–55; met. 3,572–700), oder wenn Odysseusʼ ehemaliger Gefährte Macareus erzählt, was ihm eine Magd in Circes Palast über ihre Herrin berichtet habe (met. 14,320–385). Dies führt so weit, dass die gesamte tyrrhenische Seeräubermannschaft (met. 3,615–619) und sogar die Jagdhundmeute des Actaeon (met. 3,206–236) jeweils passende Eigennamen, eine Genealogie und individuelle Eigenschaften und Interessen für das Geschehen erhalten. Die Metamorphosen scheinen somit den Versuch darzustellen, so viele Geschichten wie möglich innerhalb einer komplexen, kohärenten Einheit darzustellen und zugleich jede noch so kleine Figur darin in ihrer jeweils individuellen Rolle für das gesamte Weltgeschehen zu zeigen. Neben der Einheit dieser zahlreichen Figuren und ihrer Geschichten innerhalb einer einzigen Weltgeschichte wird außerdem die Facettenvielfalt ihrer individuellen Charaktere zur Darstellung gebracht. Indem immer wieder ähnliche Typen von Figuren und ihren Schicksalen miteinander parallelisiert oder kontrastiert dargestellt werden, sind sie stets vor der Folie der vorausgegangenen Darstellungen zu lesen, was die Variation der Details in den Vordergrund rückt. Diese Vielfalt von Facetten wird wiederum noch weiter aufgefächert, indem die Erzählungen aus den
Einleitung 3
Perspektiven vieler unterschiedlicher Figuren berichtet werden – bisweilen erhalten wir auf diese Weise sogar auf ein und dieselbe Handlung verschiedene Blickweisen, die zu unterschiedlichen Zeiten und von mehreren Figuren eingenommen werden. Diese Figurenreden machen mit 52% einen Großteil des Werkes aus.3 All diese Erzählfiguren sind unsichere Erzähler und auch der Primärerzähler selbst wird in seinen 48% Textanteil vielfach als parteiischer, unzuverlässiger Erzähler markiert, der obendrein seine Erzählhaltung und Wertung dem Geschehen gegenüber mehrfach ändert. Scheinbare Widersprüche in der Handlungskohärenz lassen sich zumeist mit einem Blick auf die Sprechsituation und die Figurensicht auf das jeweils Erzählte auflösen. Alle redenden Figuren und auch der Primärerzähler selbst lassen sich als interne Erzähler innerhalb der Werkwelt fassen. Bereits der dritte Vers nach dem Proömium verweist außerdem auf weitere, anonyme Erzählinstanzen, welche die Welt bereits vor ihrer eigentlichen Schöpfung beobachten und sprachlich kommentieren (met. 1,5–7: Ante mare et terras et, quod tegit omnia, caelum / unus erat toto naturae vultus in orbe / quem dixere chaos).4 Kommentare wie dieser, welche auf eine geschichtstradierende Instanz noch über dem Primärerzähler selbst verweisen, finden sich im Laufe des gesamten Werkes in großer Zahl und schließen das Gedicht sogar ab (met. 15,875–879, bes. 878f.: ore legar populi, perque omnia saecula fama, / siquid habent veri vatum praesagia, vivam).5 Auch außerhalb des Werkes reflektiert der Dichter im Rückblick auf die Metamorphosen dessen Erzählprozess. Dabei führt er unter anderem ebendieses Beispiel einer Überlieferung über das Chaos sowie über die Angewiesenheit der Götter auf Dichter an (Pont. 4,8,55–58: Di quoque carminibus, si fas est dicere, fiunt / tantaque maiestas ore canentis eget. Sic Chaos ex illa naturae mole prioris / digestum partes scimus habere suas).6 Es scheint daher, dass das Werk der Metamorphosen nicht nur eine Geschichte vom Wandel ist oder eine ‚Erzählung von
3 Wheeler 1999, 207–210. 4 „Bevor es das Meer und die Länder gab und den Himmel, der alles bedeckt, war auf der ganzen Welt das Aussehen der Natur ein- und dasselbe, das sie das Chaos nannten.“ – In den Fasti wiederum spricht Janus gegenüber einem Dichter davon, dass ihn „die Alten“ als Chaos bezeichnet haben und wie alte Geschichten er bereits besinge (Fast. 1,101–106), vgl. hierzu Hinds 1987, 42f. 5 „Ich werde vom Volksmund gelesen werden, und durch alle Zeiten werde ich, wenn die Vorahnungen der Seher/Dichter irgendeinen Wahrheitsgehalt haben, dank meines Ruhms [fama] weiterleben.“ 6 „Auch die Götter entstehen, wenn dies zu sagen erlaubt ist, durch Dichtung, und ihre so große Herrlichkeit ist angewiesen auf den Mund einer Person, die sie besingt. Erst daher wissen wir, dass das Chaos seine Ordnung [partes] besitzt, indem es aus dieser Masse seines früheren Wesens geschieden wurde.“
4 Einleitung der Weltgeschichte‘ darstellt; es scheint vielmehr eine ‚Erzählung von der Erzählung der Weltgeschichte‘ zu bieten und bildet auch in diesem Sinne ein „Weltgedicht“. Die 12.000 Verse der Metamorphosen bieten nun durchaus die Möglichkeit, eine Vielzahl von Einzelfiguren zu vielen Zeiten an zahlreichen Orten in ihren jeweiligen Geschichten und Blickweisen auf das Weltgeschehen darzustellen. Doch auch ein Großwerk von 15 Büchern stößt an seine Grenzen, wenn es die gesamte Weltgeschichte mit all ihren Zeiten, Orten, Figuren und Facetten fassen will. Zugleich finden sich immer wieder intertextuelle sowie intermaterielle Bezüge, die auf weitere Sagen verweisen, die im Metamorphosenwerk selbst nicht erzählt werden. Solche Bezüge sind schon Ovids Zeitgenossen in dessen Werken aufgefallen; der ältere Seneca stellt Ovids intertextuelle Strategie Vergil und anderen Autoren gegenüber so dar, dass Ovid bewusst bewirken wollte, dass seine Leser die Bezüge bemerken und, so lässt sich der Gedanke wohl fortführen, die Kenntnisse aus dem Vorgängertext in ihr Sinnverständnis des vorliegenden Textes mit einbeziehen (Sen. Suas. 3,7: fecisse illum, quod in multis aliis versibus Vergilii fecerat, non subripiendi causa sed palam mutuandi, hoc animo ut vellet agnosci).7 Mithilfe dieser Bezüge, so lautet die These, werden die Grenzen der dargestellten Werkwelt erzählerisch erweitert und überwunden, indem durch lose Erzählfäden, Andeutungen und Verweise auf die Tradition oder konkrete Werke weiterer Autoren auch unerzählte Sagen Teil der Werkwelt werden. In der Untersuchung Ovids Weltgedicht der Metamorphosen. Zur Intertextualität als Multiplikationsfaktor wird nach der Diskussion des Forschungsstandes (Kap. 2 und 3) zunächst gezeigt, dass die Einheit dieser Vielheit im „Weltgedicht der Metamorphosen“ tatsächlich widerspruchsfrei und kohärent konzipiert ist (Kap. 4). Weiter wird die auffallende Vielfalt der Figuren, ihrer Handlungen und Facetten vorgestellt (Kap. 5). Auf dieser Grundlage wird schließlich exemplarisch untersucht, inwiefern Intertextualität in den Metamorphosen als Strategie fungiert, um die Werkwelt noch über den vorliegenden Text hinaus um die Erzählungen aus Vorgängerwerken zu erweitern (Kap. 6 bis 15). Im Fazit werden die Ergebnisse der einzelnen Untersuchungsstränge zusammengeführt und zugleich die eingangs aufgestellten Nebenthese geprüft, inwiefern mit dem „Weltgedicht der Metamorphosen“ zugleich auch eine „Erzählung von der Erzählung der Weltgeschichte“ vorliegt.
7 „Er habe getan, was er bei vielen anderen Versen Vergils getan hatte, nicht, um sie zu stehlen, sondern um sie offen auszuborgen, in der Absicht, dass man sie wiedererkenne.“
Forschungsstand . Die Metamorphosen als Weltgedicht Das Werk der Metamorphosen lässt sich über unterschiedliche Zugänge als „Weltgedicht“ verstehen, und entsprechend vielfältig sind die Arbeiten zu diesem Thema. Sie betreffen vornehmlich Fragen zum Aufbau und zur Anordnung des Stoffes nach inhaltlichen Aspekten, wobei sich diese Untersuchungen wiederum unterscheiden lassen in chronologische und thematische Systematisierungsversuche. Die Untersuchungen zur chronologischen Stoffanordnung konzentrieren sich vor allem auf die Frage nach Epochen und ihren Zäsuren bzw. Kohärenzen und Kontinuitäten über den gesamten Werkverlauf. Die Arbeiten zu Ordnungsmustern nach Motiven fokussieren auf Parallelen zwischen verschiedenen Einzelerzählungen und zeigen den interpretatorischen Gewinn einer kontinuierlichen Lesart des Werkes auf. Dabei arbeiten sie sehr nah am Text, indem sie neben der jeweiligen Handlung auch die erzählerischen Strategien in ihrer sprachlichen und strukturellen Ausgestaltung betrachten. Untersuchungen, die das ins Werk eingeschriebene Weltbild untersuchen, beschäftigen sich dagegen etwa mit den anthropologischen Prinzipien oder psychologischen Grundannahmen bei der Charaktergestaltung, mit den religiösen oder mit den philosophischen Konzepten in den Metamorphosen. Die verschiedenen Forschungsrichtungen, die hier skizziert wurden, lassen sich nicht immer trennscharf voneinander unterscheiden, da in die Untersuchungen jeweils auch Aspekte der anderen Zugänge mit einbezogen werden. Aus diesem Grund soll die Forschung zur Frage, inwiefern die Metamorphosen ein universelles Weltgedicht darstellen, im Folgenden nicht nach Forschungslinien getrennt, sondern stattdessen chronologisch geordnet vorgestellt werden. Nachdem die Metamorphosen lange Zeit als willkürlich zusammengestellte Sammlung von einzeln lesbaren Mythen verstanden wurden,1 die durch mehr oder weniger improvisierte Übergänge zusammengehalten und durch die Zeiten geführt werden, bis sie geradezu zufällig in der Zeit des Augustus und der zeitgenössischen Leserschaft landen,2 analysierten zunächst L.P. Wilkinson 19553 und
1 Und wider besseres Wissen häufig noch immer so behandelt werden, vgl. hierzu die ausführliche Kritik in Tsitsiou-Chelidoni 1999, 271–273 mit Fn. 3, 4 und 5, außerdem 303f. mit Fn. 74 und 75. Eine Kritik früherer Forschungsansätze bietet außerdem Latacz 1979. 2 Kraus 1942, Sp. 1942f., der allerdings auch den Begriff der „römischen Sagenhistorie“ prägte. 3 Wilkinson 1955. https://doi.org/10.1515/9783110785005-002
6 Forschungsstand Bodo Guthmüller 1964, dann Walther Ludwig 19654 das Werk in der Gesamtheit seiner Erzählungen auf inhaltlich ordnende Prinzipien. Während Wilkinson seinen Blick vor allem auf die Übergänge zwischen den Einzelerzählungen richtet, betrachtet Ludwig die thematische Grundstruktur des Werkes und die inneren Bezüge der Geschichten untereinander. Als Ovids Ziel nennt er „in zeitgemäßer Erneuerung und Erweiterung des hesiodischen Corpus der Theogonie und der Kataloge eine ‚Universaldichtung‘, wie man sie bisher nicht gekannt hatte“ bzw. den Versuch, „gewissermaßen ein Überepos [zu schaffen], das die gesamte Mythologie und ‚Geschichte‘ zur Darstellung bringen sollte“. 5 Ludwig zeigt, wie das Werk hierfür zunächst chronologisch gegliedert ist in die Bereiche der sogenannten „Urzeit“ bis zur deukalischen Flut, einer mythischen Zeit bis zum trojanischen Krieg und schließlich der „historischen Zeit“ vom Fall Trojas bis zur augusteischen Zeitgeschichte. Ludwig führt aus, dass diese Einteilung keineswegs Ovids eigene originelle Erfindung war, sondern dass er im ersten vorchristlichen Jahrhundert diese Einteilung bereits bei Historikern als etabliert vorgefunden habe.6 Neu sei allerdings, diese Zeiteinteilung aus Prosagattungen für ein Epos oder Lehrgedicht zu übernehmen und darauf aufbauend eine Mischform aus Mythensammlung und carmen perpetuum zu komponieren, wobei die Grenzen der Epochen erzählerisch verwischt werden, um einen kontinuierlichen Weltprozess abzubilden.7 Innerhalb dieser drei chronologischen Sektionen stellt Ludwig eine epochenübergreifende Anordnung von zwölf Themenbereichen fest, die in den Erzählungen parallelisiert oder kontrastiert zur Darstellung gebracht werden; hierzu zählt Ludwig einerseits abstrakte Grundthemen wie Liebe, Rache bzw. Zorn,8 andererseits die Sagenkomplexe um die genealogischen Verbindungslinien mythischer Familienstammbäume9 oder um Ereignisse wie den „Übergang vom trojanisch-griechischen zum italisch-römischen Raum“10 bzw., wie er denselben Teil anders benennt, „die Irrfahrten des Aeneas“.11 Verwandlungen bilden
4 Ludwig 1965. 5 Beide Zitate Ludwig 1965, 84. 6 Ludwig 1965, 77–84. Vgl. auch Wheeler 2002, 224, 163–189. Dieser erkennt in seinem Vergleich des Werkes mit Werken des Livius, Florus und Sulpicius Severus einen gemeinsamen Hintergrund in Inhalt und Anordnung des Stoffs, doch Ovid habe diesen mythischen Stoff nicht wie die Historiker auf „rationale Weise“, sondern stattdessen mit Fokus auf die phantastischen und göttlichen Dimensionen ausgearbeitet. 7 Ludwig 1965, 84. 8 Zum amor als Grundthema vgl. Ludwig 1965, 20–24; zu Zorn und Rache 24–26. 9 Ludwig 1965, 38f., 46f., 58f. 10 Ludwig 1965, 68. 11 Ludwig 1965, 65–88.
Die Metamorphosen als Weltgedicht 7
so zwar eine thematische Verbindung und einen roten Faden im Gesamtwerk, keinesfalls aber das „ordnende Prinzip des Epos“.12 Indem Ludwig in der Gesamtstruktur des Werkes Spiegelungen und Parallelen in den Einzelerzählungen konkret benennt, versucht er im Einzelfall auch von der Tradition abweichende Versionen des jeweiligen Mythos damit zu erklären, dass Ovid durch seine Änderung die Erzählung an das thematische Ordnungsmuster des Gesamtwerkes anpassen wollte.13 Auch Siegmar Döpps Arbeiten zum Verhältnis der ovidischen zu den vergilischen Werken verlieren das Gesamtkonzept der Metamorphosen nicht aus dem Blick. Diese Herangehensweise führt ihn seit 1968 wiederholt zu dem Schluss, dass das Werk als Grundziel und -thema die Vielheit der Welt durch Zeit und Raum aufweise und sogar die Bezeichnung einer dichterischen Universalgeschichte verdiene.14 Wie Ludwig sieht Döpp eine chronologisch angeordnete Dreigliederung der Epochen in Götterwelt, Heroenzeit und Geschichte, wobei hier vor allem die Geschichte Roms behandelt werde, die schließlich auf die Weltherrschaft des Augustus zulaufe.15 Als verbindender Rahmen des Werkes dienen Döpp zufolge die panegyrischen Augustuserwähnungen im ersten und letzten Buch.16 Eine Besonderheit in Ovids Darstellungsart sei das kallimacheische „Streben nach Buntheit des Inhalts, überraschende Gestaltung bekannter Sagenstoffe durch Verlagerung der herkömmlichen Gewichte, Heraushebung der unheroischen Aspekte des Geschehens und pointiertes Sprechen aus ironischer Distanz“.17 Dabei setze Ovid bei der Behandlung des gleichen Stoffs die Akzente anders als sein Vorgänger und ergänze bisweilen auch Neues. 18 Döpps 12 Ludwig 1965, 85. 13 Ludwig 1965, 27 zur Verwandlung des Cadmus, die in den Metamorphosen ungewöhnlich versöhnlich und selbstinitiiert dargestellt ist statt strafend-auferlegt; 31 zur Begründung der Einlage burlesker Erzählungen; 39–42 zur Reihenfolge der Eroberungen durch Minos; 45–47 zum Aegina-Exkurs; 71 zur Begründung der als „unhistorisch“ angezweifelten Begegnung von Numa und Pythagoras im „historischen“ Teil des Werkes u.a. 14 „Die durch Anknüpfung an Vergilisches gewonnene, der epischen Gattung angenäherte Großform schien Ovid das geeignete Medium für die Darstellung dessen, was ihm nun einmal mehr als geschichtsprägende res gestae am Herzen lag: Das eben war die Vielfalt sich in Verwandlungsgeschichten offenbarender psychischer Konstellationen und Vorgänge, insbesondere das breite Spektrum solcher Konflikte, die durch starke seelische Kräfte [...] ausgelöst werden“ und „ein universalhistorisch dimensioniertes Kaleidoskop individueller Schicksale und Verhaltensweisen“, Döpp 1991, 345. 15 Döpp 1991, 327 und 343. 16 Döpp 1991, 343. 17 Döpp 1991, 329; vgl. auch 336; 339. 18 Döpp 1991, 332.
8 Forschungsstand Untersuchungen sollen an späterer Stelle zum Forschungsstand der Intertextualität und Intermaterialität vertiefend vorgestellt werden. Brooks Otis19 untersucht 1966 das Werk in seiner Gesamtheit auf verbindende, übergeordnete Themen der Einzelerzählungen. Ziel seiner Arbeit ist, eine episodenübergreifende „Kontinuität oder Richtung innerhalb der Wandlung“ zu zeigen.20 Ähnlich wie Ludwig benennt er dabei klare Themen und unterteilt die Metamorphosen in die vier Bereiche „divine love“, „divine vengeance“, „amatory tragedy“ sowie „Rome and deification“,21 deren Episoden jeweils symmetrisch angeordnet sind. Anders aber als Ludwig, der vereinzelt Zwischenpassagen wie die Europaerzählung sieht sowie Episoden, die den Leser durch Themenmischung langsam von einem Bereich zum nächsten hinüberführen, trennt Otis hierbei strikt nach Versblöcken und untersucht keine themenübergreifenden Erzählungen und ihre Funktion innerhalb des Gesamtwerkes.22 Otis beobachtet zudem in den Metamorphosen einen recht eigenen Stil, mit Vorgängertexten umzugehen, und verortet die von Vergil abweichende Erzählweise in der Persönlichkeit und Attitüde des Dichters Ovid, die er allgemein als „relaxed and comic“ einordnet.23 Robert Coleman 197124 beschreibt in seinem Aufsatz über „Structure and Content“ in den Metamorphosen zwei Arten von perpetuitas: eine chronologische Kontinuität, wie sie in den ersten Zeilen des Proöms angekündigt wird, und eine sowohl einfache als auch komplexe Themenstruktur, anhand derer die Linearität der an sich chronologischen Erzählung aufbricht und so weitere Erzählungen ermöglicht werden. Douglas A. Little 197225 und 197626 bezweifelt dagegen, dass eine kontinuierliche Lesart zur Sinnerschließung der Metamorphosen überhaupt förderlich sei, und plädiert stattdessen für einen unvoreingenommenen Blick auf die einzelnen Erzählungen. Gleichzeitig bemerkt er aber auch, dass die Erzähltechnik über das ganze Werk hinweg den bisweilen verwirrenden Eindruck
19 Otis, B: Ovid as an epic poet, Cambridge 1966 (21970). 20 Otis 1970, 82: „show some continuity or direction in change“. 21 Otis 1970, 83–90. 22 Dies kritisiert u.a. Wheeler 2000, 48f. am Beispiel der Überschneidungen von Liebes- und Rachethematik in den ersten zwei Büchern, wie sich z.B. an Cupidos Zorn in seiner erzählerischen Funktion als Auslöser der Liebe des Apoll zu Daphne zeigt. 23 Otis 1970, 59: „Ovid makes a quite original use of the Virgilian style: the poetʼs attitude toward characters and events is no longer serious and intense but relaxed and comic“; 73: „[T]he personality of the narrating poet could make all the difference.“ 24 Coleman 1971, 471. 25 Little 1972, 24. 26 Little 1976, 19–35.
Die Metamorphosen als Weltgedicht 9
erweckt, die jeweils vorliegende Erzählung sei stets nur ein Übergang zu einer noch ausstehenden Erzählung, die nie zur Darstellung komme.27 Obwohl Little also eine in der Erzählung angelegte Kontinuität und Bewegung nach vorn bemerkt, bestreitet er dennoch den Vorteil einer kontinuierlichen Lesart des Textes, die den in den Text eingeschriebenen Leseeindruck der Unaufhörlichkeit zur Realisierung bringen könnte.28 In klarer Abgrenzung von Otis und Ludwig sowie weiteren Vertretern der chronologischen Ordnungskonzepte bestreitet auch Ernst A. Schmidt 1991,29 dass den Metamorphosen überhaupt eine erzählerische Ordnung nach klar abgrenzbarer Zeit oder durch Zäsuren getrennte Sequenzen zugrunde liege. Indem er sich auf das „Leseerlebnis“ und „allgemeine Eindrücke“30 beruft, verwirft er Ludwigs und Otisʼ Methoden, die ein statisches, architektonisches Strukturschema annehmen. Stattdessen schlägt er mit seiner Symphonietheorie eine Lesart wie bei einem Musikstück vor: Einzelne Themen klingen in einer Anlaufphase an, kehren als Dominanzthema wieder, werden in einer Nachklangphase in immer neuer Variation repetiert und treten so nach einer kompositorischen Ordnung wellenweise mal in den Vorder- oder Hintergrund.31 Als Werkgegenstand nennt er den Menschen in Allgemeinen, als die fünf sich abwechselnden „großen Themen“: 1. Mensch und Welt, 2. Götterliebe zu Menschen, 3. Götterzorn und -strafe, 4. Liebe der Menschen und 5. Leiden an Sterblichkeit und Überwindung des Todes. 32 Das Werk habe dabei als ein „Thesaurus von Geschichten überhaupt, nicht speziell von Verwandlungsgeschichten“ gewirkt.33 Roland Granobs konzentriert 1996 seine Untersuchung auf die Darstellung der römischen Geschichte innerhalb einer Weltgeschichte. Diese Teile des Werks sieht er in der Forschung als vernachlässigt oder gar als minderwertig verurteilt an.34 Granobs geht unter anderem dem Problem der Glaubwürdigkeit auf den 27 Little 1972, 98: „[W]e have the confusing impression, as elsewhere in the Metamorphoses, that everything is transitional, the preparation for a story that never comes.“ 28 „We must come to each episode of the Metamorphoses with no pre-suppositions; all must be interpreted in and of themselves, the poet’s meaning must be read from the immediate context, not from what he wrote five or six books ago“, Little 1970, 340–360. Vgl. dagegen z.B. TsitsiouChelidoni 1999, 271 mit Fn. 3. 29 Schmidt 1991, 79–138. 30 Schmidt 1991, 80: „gespürt“, „Leseerlebnis“; „allgemeine [...] Eindrücke“; „Der Leser spürt und ahnt“; 94: „Leseeindruck“; vgl. auch 84. 31 Schmidt 1991, 87–95. 32 Schmidt 1991, 89. 33 Schmidt 1991, 18. 34 Granobs 1996, 15 mit Fn. 31, in der eine Reihe abwertender Urteile von Hegel bis in die heutige Forschung aufgeführt ist.
10 Forschungsstand Grund, das sich ihm zufolge dem Dichter und seinem Publikum im Nebeneinander historisch gedachter und phantastischer Ereignisse stellen musste.35 Als zwar sagenhaft überliefert, aber dennoch historisch wurden zur Entstehungszeit der Metamorphosen etwa auch die frühen Könige wie Romulus und Numa gefasst; bezweifelt wurden nur einzelne Details im Zuge der Überlieferungsdauer. 36 Ein weiteres Problem für Ovids Dichtung sieht Granobs im Auffinden geeigneter Verwandlungssagen in der frührömischen Zeit, aus der ihm traditionell vor allem moralische und weniger phantastische Anekdoten vorlagen, die er in sein Gesamtkonzept von unterhaltsamen Verwandlungsmythen integrieren musste.37 Granobs versucht in seiner Arbeit erstens zu klären, in welcher Struktur und Anordnung Ovid römische Geschichte in seinem carmen perpetuum zur Darstellung bringt38 und wie er dabei mit Schwierigkeiten umgeht;39 zweitens, welche Rolle Verwandlungsvorgänge im Kontext römischer „Sagenhistorie“ spielen können und wie der Dichter sie ggf. in Abweichung von Vorlagentexten an sein Werk angepasst habe, und drittens, welches römische Geschichtsbild und Rombild unter diesen Voraussetzungen im Werk vermittelt wird.40 Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Ovid und Augustus klammert er aus seiner Fragestellung begründet aus,41 kommt aber zu dem Schluss, dass in den Metamorphosen ein friedliches Rombild gezeichnet werde, das „im Einklang mit der Restaurationspolitik des Augustus“42 stehe und in dem Konflikte „nur angedeutet und schnell gelöst“ werden.43 Granobs spricht sich gegen die These aus, der Schlussteil der Metamorphosen sei unfertig veröffentlicht worden und darum als bloße Skizze vom chronologisch konzipierten Aufbau ausgenommen.44 Stattdessen zeigt er, dass sich auch der Schlussteil in eine formale und inhaltliche Pentadenordnung 45 des Gesamtwerks einpasse. Brüche zum restlichen Werk erklärt er aus der
35 Granobs 1996, 13–15 und 156. 36 Vgl. Cic. leg. 1,3f. 37 Granobs 1996, 14f. 38 Vgl. Granobs 1996, 9–12; 31; vgl. auch 155: „Der Wunsch, eine in der griechischen wie römischen Literatur bisher nicht dagewesene Weltgeschichte in Verwandlungen zu schaffen, hat Ovid auch die römische Geschichte in die ‚Metamorphosen‘ einbeziehen lassen“. 39 Z.B. Granobs 1996, 35–41. 40 Granobs 1996, 16–18. 41 Granobs 1996, 17. 42 Granobs 1996, 158. 43 Granobs 1996, 152f. 44 Granobs 1996, 38–41 (mit Bezug auf Ov. trist. 1,7 und 3,14,23) und 156. 45 Vgl. zur Pentadenstruktur Holzberg 1998, 77–98.
Die Metamorphosen als Weltgedicht 11
Schwierigkeit, „Verwandlungen aus der an Wundern armen Zeit der römischen Geschichte zu berichten“.46 So habe Ovid auf dieses Problem durch eingeschobene Erzählungen und eine absichtlich unklar dargestellte Chronologie reagiert. Insgesamt kommt Granobs zu dem Schluss, dass in den Metamorphosen Verwandlungsgeschichten immer Vorrang vor anderen Erzählungen haben, sodass fehlende oder abweichende Geschichten zumeist aus der Präferenz der Verwandlungsthematik zu erklären seien;47 so musste „die historische Wahrheit [...] oft einer poetischen Wahrheit weichen“.48 Kohärenzen zwischen den Einzelerzählungen des Werkes analysiert Chrysanthe Tsitsiou-Chelidoni im Jahr 1999 in ihrem so umfang- wie erkenntnisreichen Aufsatz zu den erzählerischen Querverbindungen in Ovids Metamorphosen.49 Hierin geht sie u.a. der Erzähltechnik nach, Personen in einer früheren Erzählung als Randfigur auftauchen zu lassen, ehe sie später selbst als Protagonist auftreten – und bisweilen an späterer Stelle, z.B. in Form eines Patronymikon, erneut in Erinnerung gerufen werden, um die Kohärenz der Geschichten im Laufe der Zeit zu verdeutlichen.50 Als weitere häufige Techniken zur Verdeutlichung der Kohärenz erläutert sie die Vorwegnahme einer Geschichte in Form einer kurzen Andeutung, die Darstellung einer Prophezeiung, die sich im späteren Werkverlauf erfüllen wird, sowie weitere Strategien zur bedeutungsrelevanten Vergegenwärtigung früherer Passagen an späterer Stelle. Insgesamt kommt sie zu dem Schluss, dass all diese Querverbindungen bewusst intendiert und als kunstvolle Erzähltechnik eingesetzt sind, um das Programm des Metamorphosenwerks als carmen perpetuum ab origine mundi ad mea tempora51 tatsächlich zu erfüllen.52 Tsitsiou-Chelidonisʼ Ergebnisse fanden leider noch keine Berücksichtigung in den Arbeiten zur Kontinuität der Metamorphosenerzählung von Stephen M. Wheeler 1999.53 Ausführlicher noch als Coleman und mit einem neuen Fokus auf
46 Granobs 1996, 40; vgl. auch 155: „Die römische Geschichte weist [...] für ein Verwandlungsgedicht kaum geeignete Stoffe auf.“ 47 Granobs 1996, 151 und 157–159. 48 Granobs 158f. mit Bezug auf Am. 3,12,41f.: Exit in inmensum fecunda licentia vatum, / obligat historica nec sua verba fide. – „Die kreative Freiheit der Dichter geht ins Unermessliche und gibt ihren Worten keine Grenzen vor durch einen Anspruch auf historische Korrektheit.“ 49 Tsitsiou-Chelidoni 1999 mit einer ausführlichen Bibliographie zur Erforschung des Werkaufbaus und seiner Struktur in Fn. 2 auf den Seiten 269–271. 50 Tsitsiou-Chelidoni 1999, 274–277, 301 und passim. 51 „Fortlaufendes Gedicht vom Ursprung der Welt bis in meine Gegenwart“. 52 Tsitsiou-Chelidoni 1999, 273 und 301. 53 Wheeler 1999; Wheeler 2000.
12 Forschungsstand die Narratologie zeigt dieser, inwiefern die Narration der Metamorphosen sowohl auf thematisch-repetitiven als auch auf chronologisch-sequentiellen Strukturen beruht.54 Dafür wendet Wheeler den Blick von der Suche nach Themenkomplexen oder Buchgrenzen als Ordnungsprinzip des Gesamtwerkes ab und sucht stattdessen nach narrativen Strategien, mit denen der Erzähler der Metamorphosen den Leser über das Gesamtwerk von Episode zu Episode führt.55 Als die zwei Hauptprinzipien der Narration definiert er einerseits die Repetition durch Themenvariation und andererseits die narrative Kontinuität:56 „Like the universe itself, Ovid’s encyclopedic epic tends not onlytowards the infinite but also the infinitesimal.“57 Auf diese Weise löst er den scheinbaren Konflikt um die Frage auf, ob es sich bei den Metamorphosen nun um ein Kollektivgedicht von einzeln lesbaren Einzelepisoden oder doch um ein carmen perpetuum handele, das nur als Gesamttext verstanden werden könne. Karl Galinsky betont seit den Siebzigerjahren wiederholt die Vielfalt der Geschichten als Kernthema und Ziel des Werks: „The Metamorphoses is [sic!] a kaleidoscope of many human (and divine) experiences, emotions, and vicissitudes. The variety and mutability of the subject find their counterpart in the variety and flux of the literary form.“58 Ein besonderes Merkmal sei dabei die Technik, scheinbar chaotisch zu schreiben; nach Galinsky gibt es dabei nicht viel, sondern im Gegenteil auffällig wenig bzw. bewusst unterlaufene Kohärenz und kausale „propter hoc“-Verknüpfungen. Als verbindende Themen arbeitet er die drei Themen Metamorphose, Liebe und Landschaft heraus59 und versucht zu zeigen, wie der Autor (!) Ovid sein eigenes Ingenium dadurch zelebriere, dass er möglichst wenig zusammenpassende Episoden miteinander verknüpfe und ähnliche möglichst weit auseinanderstelle.60 Galinsky will sogar die Pythagorasrede im 15. Buch als bewusst langweilig und monoton gestaltete Gegenfolie zu den vorangegangenen 14 Büchern unterhaltsamer Erzählungen verstanden wissen. Auf diese
54 Wheeler 2000, 5. 55 Wheeler 1999, 162: „Rather than focus on the final product, the structure organization of the poem as a whole, I will ask how the poem keeps going and how it ends.“ Vgl. Wheeler 2000, 4; 49. 56 Variation bildet hierbei also ein Grundprinzip der Narration und damit viel mehr als eine bloß stilistische Vermeidungsstrategie, um den Leser nicht zu ermüden – ein angebliches Ziel der Variation, wie es u.a. LaFaye 1904, 79f. aus der Rhetorik auf Ovids Dichtung überträgt. Vgl. Wheeler 2000, 7. 57 Wheeler 2000, 3. 58 Galinsky 1999, 305–314, 307. Diese Wendung zitiert er erneut 2005, 352. 59 Galinsky 1999, 97. 60 Galinsky 1999, 103.
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Weise, so Galinsky, habe der Autor Ovid das Lesepublikum darauf aufmerksam machen wollen, dass seine Erzählweise in origineller Art vom gewohnt monotonen Aufbau traditioneller hellenistischer Kataloggedichte abweiche und gerade deswegen besonders gelungen sei.61 Dem Aspekt der geographischen und historischen Kohärenz der Metamorphosen widmet sich Galinsky 2005 und bietet mit seinem vergleichenden Blick auf die Lebensumstände dreier Autoren eine neue Perspektive auf die Funktion des Werkes als „Weltgedicht“: Nachdem Ennius in seinen Annalen die römische Expansion von Romulus bis in seine Gegenwart zum Stoff eines Epos gemacht hatte, habe zunächst Vergil mit seiner Aeneis auf die neuesten geographischen Entwicklungen durch die augusteischen Eroberungen auf eine für seine Zeit passendere Weise reagiert. Dies habe er getan, indem er die römische Welt nicht in ihrer neuesten Geschichte, sondern in einem weit zurückliegenden Zeitfenster zur Darstellung gebracht habe; hier sei Aeneas durch alle Regionen des augusteischen römischen Reiches gereist, die so durch Vergils Epos miteinander auch literarisch verbunden werden.62 Neben der historischen und geographischen Verbundenheit habe Vergil anhand der Erzählung der römischen Erfahrungen allgemein menschliche Erfahrungen behandelt.63 Die Metamorphosen Ovids fasst Galinsky entsprechend als weiteres Fortsetzungswerk dieses Konzepts, das wiederum besser in seine Zeit passe: als ein weiteres Stück augusteischer „Weltliteratur“. Auch das Thema „Wandel“ und „Transformation“ sei keineswegs anti-augusteisch, sondern vielmehr ein von Ovid gefeiertes Charakteristikum dieser Zeit. In den Jahren zwischen Vergils und Ovids Generation habe sich das Lebensgefühl in Rom von den Bürgerkriegen zu Frieden und Wohlstand so weit geändert, dass Ovids Werk entsprechend nicht mehr vom römischen, sondern einem noch universelleren Standpunkt ausgehe, um allgemeine menschliche Erfahrungen episch zur Darstellung zu bringen.64 Hierbei habe er weit expliziter als Vergil erklärt, dass es sich um eine universale Weltgeschichte handeln solle, und anders als Vergil benennt er sogar im Proöm den Start- und Endpunkt. Neben einer Einteilung in historische Epochen benennt Galinsky das räumliche 61 Galinsky 1999, 104–107. Andrae 2003, 77 und 105 dagegen versteht den Pythagorasexkurs so wie auch den Orpheusgesang als Kleinform der Metamorphosen. Vgl. weiterführend auch Otis 1938, 229 und Lamacchia 1960, 315–318 und Van Schoor 2011. 62 Galinsky 2005, 344–347: Dieses Ziel verfolgen u.a. die trojanische Herkunft der Aeneaden, die Besiedlung Kretas, der Aufenthalt in Nordafrika und Sizilien, die Truppenkataloge mit den Etruskern und weiteren italischen Völkern als Verbündeten sowie der Friedensschluss mit dem einstigen Feind Diomedes, der sich inzwischen ebenfalls in Italien angesiedelt hat. 63 Galinsky 2005, 345 und 351. 64 Galinsky 2005, 351f.
14 Forschungsstand („spatial“) Nebeneinander der verschiedenen Erzählungen während dieser Zeitabschnitte.65 Im Jahr 2003 versucht Janine Andrae, „sowohl makroskopisch als auch mikroskopisch“66 und „auf struktureller wie auf thematischer Ebene“67 das Verhältnis von Vergils Aeneis und Ovids Werk zu zeigen. Hierbei untersucht sie den Aufbau des Gesamtwerks und vergleicht die „ovidische Aeneis“ und weitere Passagen beider Werke miteinander. Weitere Argumente entnimmt sie Aussagen des Dichters Ovid und weiterer Zeitgenossen, um die Wertung, Selbsteinschätzung und Intention des historischen Autors Ovid sowie die Sicht des Leserpublikums auf sein Werk zu ergründen. Insgesamt kommt sie so zu dem Schluss, dass das Konzept der Metamorphosen vor allem das Ziel verfolge, in einer „grundsätzlichen Gegensätzlichkeit“68 einen Gegenentwurf zum vergilischen Werk, insbesondere auch zu seinem Aufbau, zu liefern. Einige vermeintliche „Logikfehler“ in der Chronologie der Erzählung listet Andrae, 2003, 65-68 und stellt die These auf, dass derartige Fehler bewusst so deutlich im Text angelegt seien, dass der Leser sie sogar bemerken sollte. Dies deutet sie als einen Kunstgriff neben vielen, mit denen Ovid sein Werk der wohlstrukturierten Aeneis als besonders chaotisch entgegensetzen wolle.69 Als Beleg für eine bereits antike Rezeption der Metamorphosen als Werk mit chaotischem Aufbau verweist sie beispielsweise auf Mart. Ep. 14,192f. (Haec tibi multiplici quae structa est massa tabella / carmina Nasonis quinque decemque gerit),70 übersieht dabei jedoch, dass in anderen Martialepigrammen ähnliche Bilder von Papierschichten für andere Werke verwendet werden, ohne dass diese je als besonders chaotisch gegolten hätten.71 Zu ihrer
65 Galinsky 2005, 353. 66 Andrae 2003, 25. 67 Andrae 2003, 256. 68 Vgl. auch Andrae 2003, 256: „völlig entgegengesetzt“; 257: „Antithese zur Darstellung Vergils“. 69 Andrae 2003, 70–80 mit einem Exkurs zum Versuch, mathematische Chaostheorien auf literarische Werke anzuwenden. Vgl. bes. 71: „Wenn ein Künstler von seinem Range seinem epischen Gedicht eine Struktur zu Grunde legt, die der klassisch ausgewogenen Struktur der vergilischen Aeneis konträr entgegensteht, eine Struktur, deren bestimmende Determinante eben nicht die Ordnung, sondern das Chaos ist, dann kann man das als programmatische Ansage werten, als deutliches Signal der Distanzierung von der als geradezu verbindlich angesehenen Form der Aeneis.“ 70 „Diese Masse, geschichtet aus zahlreichen Täfelchen, überbringt dir die 15 Gesänge des Naso.“ 71 Ep. 14,184 über Homers Ilias; Ep. 14,190 über Livius.
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Deutung und weiteren dieser Art72 sei an dieser Stelle kritisch angemerkt, dass womöglich zu dualistisch in vergilisch-episch und ovidisch-innovativ unterteilt und dabei verkannt wird, dass auch Vergils Aeneis zur Entstehungszeit der Metamorphosen gerade einmal zwanzig Jahre alt war und (trotz ihres schnellen Aufstiegs zu einem kanonischen Werk) noch nicht den gefestigten traditionellen Anspruch „des Epos schlechthin“ hatte, den man ihr so häufig zuschreibt; Ependichtung war in der späten Republik und frühen Kaiserzeit kein solches Ausnahmegeschäft, wie der Forschungsfokus auf Vergils Aeneis es erscheinen lässt.73 Michael von Albrecht folgt im Wesentlichen Ludwig 1965, wenn er schreibt, der Aufbau sei „im Prinzip chronologisch“ und fungiere häufig „nach Art eines Fortsetzungsromans“.74 Nur vorsichtig formuliert er das Verhältnis zwischen den Metamorphosen, einer prosaischen Universalgeschichte und der „gesamten literarischen Tradition“ etwa als eine „Verbindung“ oder einen „intertextuellen Dialog“, ohne jedoch die Art dieser dialogischen Verbindung näher zu erläutern. 75 72 Ähnlich argumentiert Glei 1998, 85–104, 90f.: „Angesichts der Tatsache, daß die Aeneis sogleich nach ihrer (postumen) Publikation im Jahre 19. v. Chr. zu dem Epos des augusteischen Prinzipats avancierte, kann die ovidische Konzeption nur als bewußte Distanzierung von Vergil verstanden werden.“ 73 Vor Vergils Aeneis war es z.B. jahrzehntelang in Mode, Epen auf Familiengeschichten zu verfassen und rückblickend ihre mythischen Vorfahren einzubeziehen, vgl. Galinsky 2005, 344, ferner Smith 1990, 89. Auch Cicero verfasste zwei Epen über seine eigene Zeitgeschichte. Nachrichten über konkrete Ependichtung finden sich außerdem in Prop. 1,7; 1,9 und Ov. trist. 4,10,47, die einen Ponticus als (erfolgreichen) befreundeten Ependichter nennen, sowie Hor. carm. 1,6, der vom Entstehen eines Epos über die Schlacht bei Actium durch den Dichter Varius berichtet. Auch Ovids Dichterkollege Macer verfasste eine epische Vorgeschichte zur Ilias, Ov. am. 2,18,1: carmen ad iratum dum tu perducis Achillem – „Du schreibst das Gedicht fort bis zum Zorn des Achill“, vgl. Hinds 1998, 116. Goldberg 2020 führt an, dass das Verfassen und Lesen von Epen bis in die augusteische Zeit keine elitäre Eigenbrötlerei, sondern sogar volksnäher und alltäglicher gewesen sei als die Lektüre prosaischer Texte. Es ist daher unklar, weshalb diese blühende Literaturproduktion mit einem Schlag eingeschüchtert pausieren sollte, wenn ein einzelner Dichter einen besonders erfolgreichen Bestseller landet – so eine Erfolgsgeschichte wie die der Aeneis kann andere Dichter ebenso gut zum Verfassen weiterer Epen ermutigt haben! 74 Von Albrecht 2003, 964f. 75 Von Albrecht 2003, 978f.: „Die Abfolge einer ‚naturwissenschaftlichen‘ Kosmogonie, einer ‚mythischen‘ und einer ‚historischen‘ Epoche erinnert an den Aufbau hellenistischer Universalgeschichten. Die brillanten Reden und Monologe lassen erkennen, daß der Dichter durch die Schule der Rhetorik gegangen ist. [...] Wo wir Ovid mit seinen Vorlagen vergleichen können, zeigt er sich künstlerisch sehr selbständig. Er hat die Kreuzung der Gattungen bewußt erstrebt und – ähnlich wie im Falle der Heroides – ein neues Werk sui generis geschaffen“; von Albrecht 2014a, 145: „Ferner verbindet der universale Anspruch Ovid mit der hellenistischen Universalgeschichte. Überhaupt sind die Metamorphosen ein Großgedicht eigener Prägung, das im
16 Forschungsstand Einer genaueren Analyse unterzieht von Albrecht die das Gesamtwerk durchziehenden Weltbilder und Menschenbilder und stellt fest, dass über den Text vier Weltkonzepte und Kosmologien unterschieden werden können, die Ovid nebeneinander bestehen lässt.76 Zunächst verbindet die Metamorphosenwelt die drei bei Varro77 benannten Weltbilder der theologia fabulosa, die im Wesentlichen die künstlerische Darstellung der drei Reiche Himmel, Erde und Wasser betrifft, die theologia civilis mit Augustus als Weltenherrscher78 (wobei Ovid auf verschiedene Weise andeutet, dass Poeten noch über Politikern stehen)79 und die wissenschaftliche Weltbetrachtung der theologia rationalis oder naturalis. Als viertes Weltbild integriere Ovid in neuartiger Weise Erlösungsreligionen wie den Bacchus-, Ceresund Isiskult in die Metamorphosen.80 Die Verquickung unterschiedlicher literarischer Formen und auch verschiedener Weltbilder habe Ovid „Spaß“ und einen „besondere[n] Reiz“ geboten.81 Die Koexistenz der vier Kosmologien sowie ihrer unterschiedlichen Darstellung durch die seine Welt bevölkernden unterschiedlichen Figuren gelinge ohne Widerspruch. So unterschiedlich die Lesarten der Metamorphosen als Weltgedicht im Einzelnen sind, so haben diese Untersuchungen alle gemeinsam, dass sie das Werk in seiner Gesamtheit betrachten und ein einheitliches Konzept dahinter vermuten (oder, wie in Littles Fall, gezielt verwerfen). Die Arbeiten zeigen jeweils auf, welche Hindernisse Ovid bei der Konzeption eines solchen Werkganzen zu überwinden hatte, und untersuchen die vielfältigen Lösungsstrategien, die schließlich zum Gelingen dieses uns heute vorliegenden Weltgedichts führten. Auf diesen Ergebnissen aufbauend sollen in dieser Arbeit als weitere Strategien die der Intertextualität und Intermaterialität ergänzt werden.
intertextuellen Dialog nicht nur mit der ‚hohen‘ Epik, sondern mit der gesamten literarischen Tradition steht“; von Albrecht 2016, 92–102, bes. 93: „die universalhistorische Konzeption des ganzen Werkes“. 76 Von Albrecht 2016, 92–102. – Den Versuch, ein religiöses Weltbild als Prinzip der Poetologie der Metamorphosen aufzuzeigen, unternimmt Spahlinger 1996. 77 Varro bei Augustinus, civ. 6,5. 78 Z.B. met. 15,858–860: Iuppiter arces / temperat aetherias et mundi regna triformis, / terra sub Augusto est; pater est et rector uterque – „Jupiter waltet über die himmlischen Burgen und über die Reiche der dreifaltigen Welt, die Erde obliegt Augustus; Vater und Herrscher sind sie beide.“ 79 Von Albrecht 2016, 93f. und 100. 80 Von Albrecht 2016, 92. 81 Von Albrecht 2016, 95f.
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. Intertextualität und Intermaterialität Bevor der eigentliche Forschungsstand zur Intertextualität in der lateinischen Literatur und speziell zu Ovids Metamorphosen referiert wird, soll eine kurze Einführung in die Anfänge der Intertextualitätsforschung und in die Rezeptionsästhetik es erleichtern, diese speziellen Arbeiten ihren jeweiligen allgemeineren Grundannahmen und -strömungen zuzuordnen.
.. Auswahl der einschlägigsten Werke zur Intertextualität Der Begriff der Intertextualität wird in der modernen Literaturwissenschaft seit Julia Kristevas literaturtheoretischen Überlegungen verwendet, um die Beziehung zwischen zwei oder mehreren Texten82 zu beschreiben und zu erklären.83 In Weiterentwicklung von Michail Bachtins Dialogizitäts- und Polyphoniegedanken84 erklärt Kristeva, dass das literarische Wort „kein Fixpunkt, sondern eine Kreuzung von Textoberflächen“ sei.85 Roland Barthes entwickelte, aufbauend auf den Ideen seiner Studentin Kristeva, eine Methode zur Analyse „kultureller Codes“, die das Konzept der Intertextualität u.a. auch zur Interpretation konkreter literarischer Texte nutzbar macht.86 Ein Jahrzehnt später beschreibt Gérard Genette das Phänomen von Textbezügen als „Transtextualität“.87 Diese bildet bei Genette den Oberbegriff mehrerer eng miteinander verwobener transtextueller Typen, die er systematisiert als „Intertextualität“ (mit der er Zitate und Anspielungen bezeichnet), „Paratextualität“ (wie Titel, Vorwort, Marginalien, Umschlagbeschriftung etc.), „Metatextualität“ (der Kommentar), „Hypertextualität“ (eine Beziehung zwischen einem Text A (Hypertext) und einem Text B (Hypotext/Praetext/Referenztext), „wobei Text B Text A auf eine Art und Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist“
82 In einer allgemeinen, allumfassenden Intertextualitätstheorie bezeichnet der Begriff „Text“ jede menschliche Äußerung. Schmitz 2002, 92 fasst die Konsequenz wie folgt zusammen: „Jeder von uns ist nichts weiter als eine Schnittmenge von präexistenten Diskursen.“ Literaturwissenschaftler interessieren sich jedoch hauptsächlich für das Zusammenspiel und die Wirkung vorhergehender Texte auf bestimmte Texte und ziehen zur Deutung geschriebener Texte nur selten weitere Arten von Quellen hinzu. 83 Kristeva 1969, 85. 84 Vgl. hierzu z.B. Bachtin 1979, 172. 85 Schmitz 2002, 92, mit Verweis auf Kristeva, 21978 (11969), 84. 86 Barthes 1970. 87 Genette 1993 (franz. Original 1982).
18 Forschungsstand (S. 14f.) und ihn „transformiert“ (S. 18), und „Architextualität“ (Textzugehörigkeit wie z.B. Gattungszugehörigkeit). Laut Genette stellen Texte immer „Literatur auf zweiter Stufe“ dar. Er widmet sich besonders der Hypertextualität, also der Transformation oder Nachahmung literarischer Vorlagen, und kristallisiert als einzelne Textbeziehungstypen die Parodie, das Pastiche, die Travestie, die Persiflage, die Transposition und das Plagiat heraus. Bei seinen deskriptiven Kategorisierungen wendet er teilweise Kriterien an, die die Autorintention betreffen, und teilweise reine Textmerkmale. Im Jahr 1985 unterscheidet Ulrich Broich mit Bezug auf Manfred Pfister zwischen einem Kernbereich und einem Randbereich der Intertextualität.88 Als engere Intertextualität bezeichnet er nur solche Textbezüge, bei denen der Autor sich bei der Abfassung des Textes seines Bezuges auf andere Texte bewusst ist und erwartet, dass auch seine Leser den Bezug als beabsichtigt erkennen werden. Aus diesem Grund finden sich häufig Intertextualitätssignale, die allerdings kein notwendiges Konstituens seien.89 Broich führt eine Bestandsaufnahme verschiedener Intertextualitätssignale durch, die er an anglistischen Fallbeispielen beschreibt. Signalwörter dieser Funktion, die etwa den lateinischen Formeln fertur oder fama est entsprechen, wurden in der klassischen Philologie schon Anfang des 20. Jahrhunderts von Eduard Norden90 unter dem Begriff der „Alexandrinischen Fußnote“ gefasst, was jedoch die neuen Literaturwissenschaften kaum beeinflusst hat. Eine grundlegende Voraussetzung für strukturalistische und poststrukturalistische Intertextualitätstheorien ist der Gedanke, dass es nicht im Ermessen des Autors liegt, zu entscheiden, wie eng oder frei er sich an die literarische Tradition binden möchte und in welchem Maße er in seinem Text Anspielungen auf bestimmte andere Einzeltexte hinzufügen will. Weil das literarische (und soziale, politische, ideologische usw.) System, in dem er einen Text schreibt, nicht nur ein Rahmen, sondern die Bedingung der Möglichkeit der Lesbarkeit des jeweiligen Textes ist, kann er dem Einfluss des literarischen Systems nicht entgehen. Die Intertextualität konstituiert den Text in seiner jeweiligen Form und Bedeutung notwendig.91
88 Broich 1985, 48 mit Bezug auf Pfister 1985, 27. 89 Broich 1985, 31f. 90 Norden 1916, zu Aen. 6,14: ut fama est – „so geht das Gerücht/die Sage“; vgl. die Fortführung dieser Beobachtung bei Ross 1975, 78; Conte 1986, 57–69; Hinds 1998, 1–10 und Papaioannou 2005, 77. 91 Vgl. Conte 1986, 29: „Intertextuality, far from being a matter of merely recognizing the ways in which specific texts echo each other, defines the condition of literary readability [...] the sense
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.. Kurzdarstellung der Rezeptionsästhetik Die Rezeptionsästhetik geht von der Grundannahme aus, dass weder ein einzelner Text noch die strukturalistisch beschreibbare Beziehungsstruktur mehrerer Texte Sinn „transportieren“ kann, sondern dass der Sinn jeweils vom Leser eines Textes im Prozess des Lesens neu konstituiert wird, indem er den Text in ein System anderer ihm bekannter Texte einordnet. Wenn sich nun ein Leser als Ziel setzt, sich in seinem Textverständnis dem Sinn anzunähern, den der Text während seiner Entstehung für einen zeitgenössischen Leser und/oder seinen Autor selbst hatte, muss er sich das jeweilige System vergegenwärtigen, in dem der Text entstanden ist, wie z.B. mit Hilfe eines Kommentars.92 Hans-Robert Jauß spricht sogar von einem „objektivierbaren Bezugssystem der Erwartungen“,93 die ein jeweiliges historisches Leserpublikum gehabt habe – bezweifeln lässt sich allerdings sowohl, ob es so eine allgemeine Publikumserwartung jemals geben kann, als auch, ob es im Einzelfall objektiv rekonstruierbar wäre. Der Deutung konkreter Texte dient Wolfgang Isers Konzept eines impliziten Lesers, also einer in den Text eingeschriebenen Leserrolle, die ein Leser in seiner Lektüre einnehmen muss, um das Sinnpotential eines Textes zu realisieren.94 Für alle intertextuellen und rezeptionsästhetischen Modelle ist entscheidend: Nur, wenn ein Text in seinem jeweiligen Kontext, d.h. in Kenntnis seines Systems gelesen wird, kann er in hierfür ausreichendem Maße verstanden werden. Explizit rezeptionsästhetische Deutungsansätze verfolgen in ihren Arbeiten zu Ovids Metamorphosen etwa Wheeler 1999 und 2000 sowie Horstmann 2014, der einleitend und grundlegend für seine Untersuchung den „Erwartungshorizont eines zeitgenössischen Rezipienten“ hinsichtlich des epischen Erzählens, der Erzählfigur und seiner Haltung herausarbeitet.95
.. Intertextualität in antiken Texten Selten werden in den Literaturwissenschaften Bezüge zwischen Texten zum reinen Selbstzweck aufgespürt und gedeutet. Die Untersuchungen von Bezügen
and structure of a work can be grasped only with reference to other models hewn from a long series of texts of which they are, in some way, the variant form.“ 92 Vgl. zur Funktion von Kommentaren Gibson 2002, 331–357. 93 Jauß 1970, 173f. 94 Iser, 1979 und 1984, hier bes. 63–67. 95 Horstmann 2014, 21–35.
20 Forschungsstand können der Textkritik und der Datierung eines Textes oder der Rekonstruktion von verlorenen älteren Texten dienen, moralische Komponenten wie die eines Plagiatsvorwurfes enthalten oder der inhaltlichen Interpretation eines Textes selbst dienen. Die Beweggründe und Fragestellungen können also stark variieren, und ebenso unterschiedlich sind die theoretischen Grundannahmen bei der Untersuchung. Besonders heftige Debatten – es fiel metaphorisch sogar der Begriff „Kalter Krieg“96 – werden darüber geführt, ob die Frage nach der Autorintention bei der Deutung von Textbezügen eine Rolle spielen dürfe, und wenn ja, welche. Die Antworten darauf und die daraus abgeleiteten methodischen Ansätze fallen sehr unterschiedlich aus. Ein Ausgangspunkt dieser Diskussion zur „Anspielungskunst“ in lateinischen Texten lässt sich mit Giorgio Pasqualis Essay „arte allusiva“ 97 im Jahr 1942 benennen. Hierin macht der Wilamowitzschüler darauf aufmerksam, dass es für das Verständnis jedes Kunstwerkes, egal ob literarischer oder bildender Form, unbedingt notwendig sei, den genauen kulturellen Kontext zu recherchieren und zu rekonstruieren, in dem das jeweilige Werk entstanden ist. Jede Reminiszenz zu einem anderen Werk könne nur funktionieren, wenn der Leser die Verbindung bemerke – selbst dann, wenn der Verfasser eines Werkes dieses Wiedererkennen beim Leser zu verhindern suche.98 Der poetische Kontext im älteren Werk werde dabei in den neuen Text übertragen. Pasqualis gerade mal zehnseitiger Essay stieß auch über den italienischen Raum hinaus auf begeisterte Resonanz. 99 Ein häufiger Kritikpunkt war jedoch, dass Pasqualis Untersuchung sich auf hellenistische Dichtung beschränke und nur bedingt auf andere Literaturen und Epochen anwendbar sei, in denen die Aemulatio, also das gelehrte Wetteifern mit älteren Texten, eine weniger große Rolle spiele. Zudem verleite Pasqualis Ansatz Philologen dazu, jede Ähnlichkeit zwischen Texten als Hommage, bewunderndes Kompliment, Parodie und Überbietungsversuch zu deuten.100 Weiterhin konstruiere er mit seiner Methode einen Gegensatz zwischen „inert material and
96 Kennedy 1995, 86: „A Cold War exists between those who study ‚allusion‘ and those who study ‚intertextuality‘, and each term is a shorthand for a complex web of affiliation to, or distaste for, particular critical and methodological assumptions and those who hold them.“ 1 97 Pasquali 1968 ( 1951). 1 98 Pasquali 1968 ( 1951), 275. Vgl. hierzu auch Löfstedt 1949. 99 Einiges an Berühmtheit hat Pasquali einem polemischen Gegenaufsatz des idealistischen Philosophen Benedetto Croce in dessen Journal „La Critica“ zu verdanken. 100 Conte 1986, 27. Als Negativbeispiel für Philologen, die in ebendiese Falle tappen, nennt er die Aufsatzsammlung West / Woodman (Hrsg.) 1979.
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intentional elements“,101 die den realen Gegebenheiten eines zusammenhängenden Textes nicht entsprechen. Eine Problematik von Pasqualis Begriff der „Anspielung“, nämlich dass das Phänomen zu sehr auf eine einzelne Funktionsweise beschränkt wird, versucht Richard F. Thomas zu lösen, indem er die Verwendung des Begriffes „reference“ vorschlägt.102 Diesen kategorisiert er in die sieben verschiedene Typen casual reference, single reference, self-reference, correction, apparent reference, multiple reference und conflation. Mit dieser präziseren Terminologie macht er darauf aufmerksam, dass Vergil oder andere Dichter mit ihren Vorgängern nicht im wörtlichen Sinne „spielen“, sondern vielmehr der Leser in verschiedener Weise dazu aufgefordert werde, sich an einen Vorgängertext zu erinnern und Beobachtungen wie die empfundene Atmosphäre des früheren Textes auf den vorliegenden Text zu übertragen.103 Beispielsweise erläutert Thomas, inwiefern Vergil in den Georgica bei einer Beschreibung der Bewässerung eines Feldes (georg. 1,104-110) den Leser an eine homerische Textstelle denken lasse, in der die Darstellung einer Bewässerung als Gleichnis für den Kampf Achills gegen den Flussgott Skamandros fungiere (Il. 21,257-262). Thomas schließt, dass der Leser der Georgica durch die Erinnerung an die Ilias-Stelle die Bewässerung als Teil des Kampfes des Menschen gegen die Naturgewalten begreife – ein Effekt, den Vergil durch eine entsprechend militärische Wortwahl noch verstärke. Bei dieser Gelegenheit fordert Thomas eine schärfere Trennung zwischen „echten“ Referenzen und „zufälligen Einflüssen“ und warnt vor der Verwechslungsgefahr für Philologen.104 Thomasʼ Ansatz wurde als Versuch kritisiert, in einer Zeit, in der vor allem in den neueren Literaturwissenschaften begeistert der „Tod des Autors“ gefeiert wurde, die traditionellen Methoden der klassisch-philologischen Forschungen durch die Hintertür wieder hereinzutragen und unter neuem Namen zu bewahren:105 Er gesteht zunächst zu, dass ein Großteil der Einflüsse nicht der Macht des
101 Z.B. Conte 1986, 26. 102 Thomas 1986. 103 Thomas 1986, 172: „Virgil is not so much ,playing‘ with his models but constantly intends that his reader be ‚sent back‘ to them, consulting them through memory or physically, and that he then return and apply his observation to the Virgilian text; the word allusion has implications far too frivolous to suit this process.“ 104 Thomas 1986, 173f.: „Methodologically, there is one chief danger in a study such as this, that is, the problem of determining when a reference is really a reference, and when it is merely an accidental confluence, inevitable between poets dealing with a shared or related language.“ 105 So kommentiert diese Ansätze auch Hinds 1998, 18: „However, there was an epistemological price to be paid. The new vindication of the alluding poet's ability to exercise control over his
22 Forschungsstand Autors unterliege und dass dieser beim Verfassen eines Textes nicht völlig frei agiere, sondern stets an die Vorgaben der Tradition anknüpfe, die dementsprechend große Teile seines Textes mitbestimme. Gleichzeitig betont er aber die Möglichkeit, die Teile der Texte, in denen eine solche Macht und Freiheit eben doch identifizierbar sei, zu Untersuchungszwecken zu isolieren. So deutet er unter dem Begriff reference einzelne Textbezüge auf vertraute Weise mit der Intention eines Autors, der die Kontrolle und Deutungshoheit über seine eigenen Texte besitzt – oder zumindest über die Teile seiner Texte, die der lesende Philologe als wichtig erachtet. Ähnlich wie Thomas akzeptiert auch Kathleen Morgan nur scheinbar die Erkenntnisse der zeitgenössischen Literaturtheoretiker, um sie gleich wieder für die Methodik klassischer Philologen als verzichtbar zu verwerfen. Sie warnt vor den „Gefahren“ der Hintergrundgeräusche von Textähnlichkeiten, die ein Philologe bei seiner Arbeit ausblenden müsse, um sich allein auf die wichtigen Bezüge zu konzentrieren, und bezeichnet die zufälligen Einflüsse als „pitfalls“. 106 Auch D. A. West und A. J. Woodmann unterscheiden als Herausgeber eines Sammelbands zur „Creative imitation“ zwischen zufälliger Ähnlichkeit und „echter Imitation“, deren Verwechslung nur gründliche, gewissenhafte Philologenarbeit verhindern könne.107 All diesen Aussagen liegt ein Textverständnis zugrunde, nach dem ein Autor in einen Text Sinn gewissermaßen wie in ein Gefäß hineinlege, den ein Leser im Leseprozess wieder herausnehmen und den Text so verstehen könne, wie er vom Autor gemeint war. Bei der Deutung von Textbezügen müsse – und könne – ein Philologe unterscheiden, was nun Gefäß und was Inhalt sei, und nur diesen Inhalt separat deuten. Auf einem anderen Textverständnis fußen wiederum die Ansätze von Gian Biagio Conte, der 1987 ein strukturalistisches Erklärungsmodell für Intertextualität in
own tradition sharpened, and has continued to sharpen, an old philological instinct to police and protect the idea of allusive control.“ 106 Morgan 1977, 3. 107 West / Woodmann (Hrsg.) 1979, 195 im Nachwort der Herausgeber: „Similarities of word or thought or phrase can occur because writers are indebted to a common source, or because they are describing similar or conventional situations, or because their works belong to the same generic type of poem. Only patient scholarship and a thorough familiarity with the relevant material can reveal whether the similarities cannot be explained by any of these three reasons. In such cases we may be fairly certain that direct imitation of one author by another is taking place.“ – Anderthalb Jahrzehnte später findet West noch deutlichere Worte gegen ein Zuviel an theoretischer Grundlagenforschung und kritisiert dabei insbesondere die Intertextualitätsforschung, von der er meint, dass sie nur längst Bekanntes mit neuen Termini beschreibe: West 1995, 16–17.
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antiken Texten entwickelt. Er versteht dabei Anspielungen und poetische Erinnerung nicht als isolierbares und nur nach Belieben des Dichters einsetzbares, aber genauso gut verzichtbares Additum in einem Textgefäß, sondern vielmehr als konstitutives Element des poetischen Diskurses. Conte ist der Ansicht, dass Textbezüge nur mithilfe von rhetorischen und linguistischen Modellen erklärt werden können.108 Die Intertextualität lokalisiert Conte dabei ausdrücklich nicht in der Intention des Autors während des Entstehungsprozesses109 und auch nicht im Leser oder im Leseprozess, sondern er versteht sie als „systematic character of literary composition“ und als das, was die „condition of literary readability“ definiert.110 Die Tradition, die ein Dichter vorfindet, ist dabei nicht als Sammlung von Einzeltexten zu verstehen, mit denen es zu wetteifern gelte. Sie sei vielmehr mit der „langue“ des Sprachsystems zu vergleichen und sei „a single organic body of once individual but now institutionalized choices, a system of rules and prescriptions“.111 Die Beziehung zwischen zwei bestimmten Texten sei so weniger als Imitation zu verstehen denn als Transformation.112 Conte nimmt an, dass auch die jeweils spezifische Art einer Epoche, einen Text zu lesen, im Text selbst eingeschrieben sei und einen entsprechenden Leser benötige, um realisiert zu werden. Hierbei setze ein Autor beim Schreiben nicht nur bestimmte Kompetenzen bei seinem Leser als gegeben voraus, sondern er schaffe die Kompetenzen seines Lesers selbst, indem er den Text so verfasse, dass dieser den Model Reader konstruiere.113 Ein Philologe soll laut Conte einen Text also nicht allein mit einem imitierten Einzelwerk, einem Exemplary Model, vergleichen, sondern er muss den literarischen Code entschlüsseln, dem das Modell folgt, und den vorliegenden Text mit diesem vergleichen. Seinen Ansatz wendet er 1992 auf eine Episode aus dem ersten Buch von Ovids Metamorphosen an.114 Indem er den Wechsel der im Text mitschwingenden Gattungssignale des Epischen zum Bukolischen aufzeigt,
108 Conte 1986, 23f. 109 Wobei er auch dem psychologischen Erklärungsansatz von Harold Bloom ausdrücklich seine Existenzberechtigung zugesteht. Dieser erklärt poetic influence als das Ergebnis des Zwiespalts des eines Dichters zwischen seinem Streben nach Individualität und dem Bedürfnis, seine Beziehung und Einordnung zu älteren Vorbildern aufzubauen, z.B. in Bloom 1973. 110 Conte 1986, 26 und 29. Den Begriff „intertextuality“ verwendet er erstmals auf S. 27 und erläutert seine Entstehung, Verwendung und seine Implikationen ausführlich auf S. 29 mit Fn. 11. 111 Conte 1986, 27. 112 Conte 1986, 29. 113 Conte 1986, 30. 114 Conte 1992, 107.
24 Forschungsstand entwickelt er außerdem eine neue literaturtheoretische Grundlage zur Definition von Literaturgattungen, deren reale Existenz in den Texten er betont. 115 Contes Arbeiten prägten mit ihren strukturalistischen Ansätzen im italienischen und in der anglo-amerikanischen Literaturwissenschaft vor allem die lateinische Philologie. Obwohl Thomas und Conte ihre Theorien in kurzer Zeit hintereinander publizierten, nehmen sie keinen Bezug auf die Arbeit des jeweils anderen. Ebenfalls in strukturalistischer Tradition untersucht Oliver Lyne 1987 in seiner Monographie „Further Voices in Vergilʼs Aeneid“116 den Einfluss intertextueller Bezüge auf die Lektüre der Aeneis. Er arbeitet einen „mechanism for further voices“ heraus und weist unter anderem in Vergils Darstellung der Didofigur eine vielschichtige Mischung aus Eigenschaften von Circe, Nausicaa, Calypso, Penelope, Medea, Ariadne, Aiax, Phaedra, Semiramis, Cleopatra u.a. nach.117 So zeigt er, wie der Leser unter einer dominanten Textoberfläche eine Mehrstimmigkeit aus der Gegenwart anderer Texte wahrnimmt, die den Sinn des Textes mitbestimmen. Durch parallele und kontrastierende Elemente werde der Leser dazu eingeladen, die weiteren Stimmen im Gesamtkosmos des Textes mitzulesen.118 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Joseph Farell u.a. bei seiner Untersuchung weiterer Aeneis-Stellen119 und macht dabei auf die in antiken Texten häufige intertextuelle Strategie aufmerksam, durch ein Zitat nicht nur den direkt zitierten Text, sondern hierdurch vermittelt einen weiteren Text in Erinnerung zu rufen, indem dieser Bezug durch weitere Mittel signalisiert wird. Für diese Art von „Dreiecksbeziehung zwischen Texten“120 eines intertextuell vermittelnden Scharniers übernimmt er von Thomas 1986 den Begriff der window reference.121 Im gleichen Jahr plädiert Don Fowler in seinem Aufsatz „Intertextuality and Classical Studies“ zunächst allgemein für einen mutigeren und vor allen Dingen theoretisch fundierteren Einsatz der modernen Literaturtheorien und -methoden bei der Interpretation antiker Texte122 und legt dabei den Fokus auf Intertextualitätstheorien, deren Axiome, Methoden, Ziele und jeweiligen Vor- und Nachteile
115 Conte 1986, 27 und Conte 1992, S. 122. 116 Vgl. auch Lyne 1994. 117 Lyne 1987, 100–144. 118 Lyne 1987, 103. 119 Farell 1997, 237. 120 Diese Metapher verwendet für dieses Phänomen später Janka 2013, 59–95 und richtet dabei den Blick aus einer Art literaturwissenschaftlichen Vogelperspektive mehr auf die Beziehung zwischen den Texten, statt die verengte Perspektive eines gewissermaßen durch ein Fenster blickenden Lesers einzunehmen. 121 Thomas 1986, 171–198; Farrell 1991. 122 Fowler 1997, 13–34.
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er ausführlich vorstellt. Dabei übernimmt er viele Grundannahmen der strukturalistischen Literaturtheoretiker, insbesondere von Conte. Er schlägt jedoch vor, die Intertextualität rezeptionsästhetisch im Leser zu lokalisieren, der im Leseprozess Sinn erzeugt („produce meaning“, S. 24) statt sie wie Conte in der Struktur des Textes selbst oder wie Pasquali und Thomas in der Autorintention. Er stellt den Unterschied zwischen dem Begriff der „Anspielung“ und dem der „Intertextualität“ in folgender Übersicht heraus (Tab. 1): Tab. 1: Unterschied zwischen Anspielung und Intertextualität, Don Fowler 1997, 15. Allusion
Intertextuality
In the author’s mind
In the (system of) text(s)
Private
Public
Single
Multiple
Additional extra
Inescapable element
Beim Deuten einer „Anspielung“ sei also zu beachten, dass ein Bezug zu einem anderen Text nicht von einem Autor gezielt als additives Extra zu einem ansonsten freischwebenden Text hinzugefügt werde. Stattdessen bestehe ein Text immer als Ganzes aus einem multiplen Gewebe aus textuellen Bezügen, die dem Leser verschieden bedeutend erscheinen, aber jeweils nur in ihrer Summe und Verflechtung im jeweiligen Leseprozess sinntragend wirken können. Bei der Deutung von Texten seien die multiplen Bezüge zwar unterschiedlich zu gewichten, jedoch dürfen sie nicht völlig ignoriert oder ausgeblendet werden. 1998 erscheint Stephen Hindsʼ Essaysammlung „Allusion and Intertext“, in der die methodischen und epistemologischen Voraussetzungen problematisiert werden, die jede Deutung von Textbezügen impliziert. Fowlers Aufsatz aus dem Vorjahr findet darin noch keine Berücksichtigung, doch Hinds zeigt sich schon in früheren Arbeiten mit dessen Thesen aus anderen Untersuchungen vertraut.123 Zudem diskutiert er ausführlich die Arbeiten von Barchiesi, Morgan, West und Woodmann, Thomas und Conte, um seinen eigenen Ansatz dagegen abzugrenzen und einzuordnen.124 Hinds verteidigt den Begriff der Anspielung und möchte
123 Hinds 1997, 113–122. 124 Hinds 1998, 101 mit einer Diskussion der Ansätze aus Barchiesi 1984. Dieser untersucht am Beispiel von homerischen und vergilischen Texten die „Spuren“ der Neubehandlung in jeder „Anspielung“.
26 Forschungsstand die Rolle des Autors und seiner Intention bei der Textinterpretation erneut stärken – allerdings unter kritischer Betrachtung dessen, wie dies auf Grundlage der uns vorliegenden Texte überhaupt möglich sei und wo die Grenzen liegen. Insbesondere kritisiert er am „intertextual fundamentalism“125 seiner Vorgänger, dass sie das Problem der nicht mehr rekonstruierbaren biographischen Autorenintention zu umgehen versuchen, indem sie diesen zu selbstverständlich als gänzlich irrelevant definieren und aus ihren Deutungen ausschließen.126 Doch wenn Sinndeutung als demokratischer, pluralistischer Akt von Lesern verstanden werde, für dessen Ergebnis die Absicht eines Autors keine Rolle spiele, gehe dies an der praktischen Leseerfahrung vorbei, nach der ein Leser sich eben doch immer insgeheim frage, was denn der Dichter mit seinem Text gemeint haben könne. Hinds schlägt daher vor, zu akzeptieren, dass zumindest der Versuch der Rekonstruktion der Autorenintention bei der Sinndeutung eines Textes immer eine Rolle spiele.127 Hierbei stimmt er teilweise den Ansätzen von Umberto Eco Anfang der 90er Jahre zu, der eine „Textintention“ annimmt, bei der ein model reader einen model author zu rekonstruieren versucht,128 und lobt an Conte, dass dieser teilweise in Widerspruch zu seiner eigene Theorie in seiner praktischen Anwendung ebenfalls in diese Richtung tendiere.129 Hinds geht noch einen Schritt weiter und findet es „ökonomisch und effektiv“,130 den autorenzentrierten Begriff der „Anspielung“ bei Textdeutungen wieder bewusst zu verwenden, statt ihn durch umständliche Umschreibungen zugunsten einer leserzentrierten Methodik zu vermeiden, da diese selbst noch mehr Klippen beinhalte als eine Methodik, die die Frage nach der Autorenintention zulasse. Das vierte Kapitel seines Werkes widmet sich praktischen Untersuchungsbeispielen an Ovids „Aeneis“ im 13. und 14. Buch der Metamorphosen, einer in den Folgejahren besonders viel behandelten Passage, wodurch seine Ansätze insbesondere für die Ovidforschung wegweisende Spuren hinterlassen haben. Durch Hindsʼ Arbeit angeregt verfasst Lowell Edmunds 2001 eine Monographie zur Intertextualität in römischer Dichtung. Radikaler noch als Fowler, Eco und Hinds lokalisiert er die Intertextualität nicht in den Texten und ihren 125 Hinds 1998, 48. 126 Martindale 1993, bes. 3–4, auf Grundlage von Barthes 1968. 127 Hinds 1998, 48f.; vgl. auch 10f. zur Balance zwischen dem Blick auf Autor und Leser. 128 Eco 1990, 58f. und Eco 1992, 64: „Since the intention of the text is basically to produce a model reader able to make conjectures about it, the initiative of the model reader consists in figuring out a model author that is not the empirical one and that, in the end, coincides with the intention of the text.“ 129 Hinds 1998, 49f. mit Fn. 64. 130 Hinds 1998, 50.
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Eigenschaften, sondern ausschließlich im Leser im Prozess des Textverstehens: „Reference, or allusion, has no linguistic or semiotic basis. [...] allusions are really not there materially or linguistically“ (S. xviif.). Hierfür legt er Jaußʼ Theorie des impliziten Lesers zugrunde. Die Interfiguralität als spezielle Unterform der Intertextualität untersuchen u.a. Philip R. Hardie,131 Gerhard Binder132 oder Stefan Freund133 am Beispiel von homerischen und vergilischen Epenfiguren. Hierbei gründet Freund seine Untersuchung auf der Beobachtung, dass bereits Macrobius die Gewebemetapher für literarische Werke verwendet und Intertextualität nach den drei Kategorien Lexikalik, Handlungs- und Erzählstruktur sowie Figurendarstellung systematisiert habe;134 ein solches poetologisches Ordnungsmuster und Textverständnis könne daher auch bei einer früheren antiken Autoren- und Leserschaft angenommen werden.135 Auch Irene Periranos136 Untersuchung von Metaphern zur literarischen imitatio, insbesondere aus dem Rechtsraum, bietet wertvolle Einblicke in den antiken Diskurs zur Intertextualität als historischem Hintergrund und Bedingung der Entstehung literarischer Werke. Diese so unterschiedlichen theoretischen Vorüberlegungen dienen als Fundamente zahlreicher Einzeluntersuchungen zu einzelnen Textbezügen oder Gattungsmerkmalen – meist allerdings, ohne dass sie explizit als Grundprinzip einer Untersuchung benannt werden. Allein schon aufgrund seiner Vielzahl an Einzelerzählungen ist der Metamorphosentext seit Jahrhunderten ein häufig herangezogener Untersuchungsgegenstand für Textbezüge, und so ist es unmöglich, einen vollständigen Überblick über alle dazu angestellten Einzeluntersuchungen zu bieten. Im Folgenden sollen vor allem die Anfänge und die daraus resultierenden Grundströmungen der Intertextualitätsforschung zu Ovids Metamorphosen vorgestellt sowie exemplarisch einzelne Untersuchungen genannt werden, die besonders großen Einfluss auf die nachfolgende Forschung haben oder deren Methodik aus der Masse der Einzelforschungen besonders heraussticht und die vorliegende Arbeit beeinflusst hat. Nachdem Ovids Bezüge auf Vorgängertexte lange Zeit nur für die Quellenforschung genutzt oder sein Werk bloß als unzureichend gelungener 131 Hardie 1998, 55f. 132 Binder 2009. 133 Freund 2013. Richardson 2010 verwendet für dieses Phänomen den Begriff „transtextual characters“. 134 Macrobius, Saturnalia, 5–6; hier bes. 5,3,13f. 135 Freund 2013, 37–39. 136 Peirano 2013.
28 Forschungsstand Nachahmungsversuch, als Profanisierung oder gar als Korrektur der vergilischen Werke verstanden wurde,137 zeigt Siegmar Döpp seit 1968,138 wie Ovid in seinen Texten bei seinem Leser stets die Kenntnis der vergilischen Werke voraussetzt und diese, „die Proportionen verschiebend“,139 als Hintergrund für seine eigenen Darstellungen verwendet. Döpp konzentriert sich dabei zumeist auf wörtliche Anklänge, untersucht aber auch inhaltliche und strukturelle Wiederholungen mit neuem Fokus. Häufig hebe Ovid am gleichen Stoff nicht den heroischen oder politischen, sondern den privaten und persönlichen Aspekt hervor und fülle dabei die Leerstellen aus, die der vergilische Rahmen biete. Eben hierfür sei Ovid in der bisherigen Forschung häufig kritisiert worden. Döpp dagegen verteidigt ihn gegen den Vorwurf einer zu engen Anlehnung und erklärt, dass eine möglichst weite inhaltliche Entfernung von Vergil gar nicht in Ovids Absicht gelegen habe, sondern dass er gerade vor dem Hintergrund eines engen Anschlusses Neues umso deutlicher hervortreten lassen konnte. Er beobachtet, dass derartige Wiederholungen vergilischer Elemente in neuem Kontext gerade in Ovids späteren Werken gehäuft auftreten.140 Der Untersuchung von vergilischen Anklängen in den Metamorphosen widmet Döpp ein eigenes Kapitel (104-140). Er zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Gesamtaufbau der Aeneis und der Metamorphosen und bietet eine Sammlung von kurzen Einzelbetrachtungen der Sprache, des Stils und von Motiven. 1975 widmet Karl Galinsky in seiner Einführung zu Ovid dessen anspielungsreichem Humor, seiner „literary allusiveness and parody“, ein Kapitel,141 ohne jedoch systematisch bereits vorhandene Intertextualitätstheorien explizit anzuwenden. Er kommt zu dem Schluss, dass Ovid in seinem literarischen Schaffen insbesondere seinen Vorgänger Vergil stets im Blick hatte; dennoch seien die Metamorphosen kein Versuch, ihn zu übertreffen, sondern im Gegenteil davon
137 Derartige Urteile wie von Zingerle 1869–1871 diskutiert Döpp 1968, 1–9. Vgl. auch beispielsweise Vigevani 1963; Rhode 1924, 29: „id autem quo excelluit Vergilius in Aeneide, to Ethos, paene totum deest“; 39: „nusquam id quod Vergili proprium est, invenies, to Ethos“ („Aber das, worin Vergil bei seiner Aeneis brilliert, das Ethos, fehlt fast völlig“; „Nirgends wird man das finden, was Vergil eigentümlich ist, das Ethos“), wobei er stattdessen Ovids „levitas et cum gratia delectatio atque iucunditas“ („Leichtigkeit, Unterhaltung mit Anmut und auch Heiterkeit“) – lobt; Münzer 1911; Lamacchia 1960; Stitz 1962; Bömer 1959. 138 Döpp 1968 und Siegmar Döpp: Vergilrezeption in der Ovidischen „Aeneis“, RhM 134, 1991, 327–346. 139 Döpp, 1968, 144. 140 Döpp 1968, 16–18 141 Galinsky 1975, 185–193.
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geprägt, einem direkten Vergleich mit seinem unnachahmlichen Vorbild auszuweichen.142 Im Jahr 1986 untersucht Peter Knox143 den Einfluss kallimacheischer Dichtung und deren literarischer Tradition auf Ovids Metamorphosen. Dabei verortet er das Werk und seinen Stil zwischen der alexandrinischen und augusteischen Dichtung. Auch Knox bietet zahlreiche Beispiele für den Reichtum an literarischen Anspielungen und zeigt stilistische Eigenschaften der elegischen144 und der epischen Gattung auf. Smith 1990145 untersucht intertextuelle Bezüge zu Vergils Aeneis. Dabei bemerkt der die häufig eingesetzte „technique of allusive doubling“, wobei Motive und wörtliche Anklänge aus Vergil in anderen, in anderer Hinsicht themenverwandten Geschichten erzählt werden. Seit 1991 widmet Gerhard Schade verschiedene Arbeiten dem Verhältnis der Metamorphosen zum vergilischen Aeneistext und anderen Vorgängerwerken, wobei er sich zumeist auf die Passage der sogenannten „kleinen Aeneis“, fokussiert. Ein Schwerpunkt seiner Arbeiten liegt auf der Einordnung des ovidischen Textes in die zu seiner Entstehungszeit vorgefundene literarische Tradition und der Bestimmung des Problemfeldes, das sich der heutigen Forschung dadurch bietet. Hierfür stützt er seine Methoden u.a. auf Genette.146 Stephen Hinds zeigt in seiner schon erwähnten Monographie „Allusion and Intertext“ 1998 einige Beispiele von literarischen Anspielungen in Ovids
142 Galinsky 1975, 220: „Ovid wisely decided not to compete against Virgilʼs account“; 224: „[Ovid] rightly recognized [the Aeneid] to be inimitable.“ 143 Knox 1986. 144 Vgl. hierzu auch Knox 1982. 145 Smith 1990, 88f. 146 Vgl. etwa Schade 2001, 531: „Nun lässt sich ja die römische Literatur als eine klassizistische Literatur beschreiben [...], als eben den Versuch, längst bestehenden literarischen Gattungen entsprechende Literaturwerke in Rom auf Latein gegenüberzustellen“; ebd. mit Verweis auf Hardie 1991, 47: „Hinter Hardies Formulierung ‚the challenge of Virgil’s epic‘ verbirgt sich ein akademisches Problem: Es geht um die Frage, wie man die römische Literatur richtig einschätzt und welche Etiketten man welchen Autoren anheftet. – Schade 2001, 528 mit Verweis auf Genette 1982, 13: „Wenn jemand es also ernsthaft unternehmen wollte, Vergils Aeneis zu einer Vorgeschichte von Ovids Aeneis zu erklären, müßte sich nachweisen lassen, daß eine Partie bei Ovid unter Heranziehung von Vergil mehr hergibt. Oder anders und etwas forcierter formuliert: Gibt es in Ovids Aeneis eine Partie, die ohne Vergils Aeneis nicht existieren würde, ist Vergil also notwendige Voraussetzung für Ovid, dessen Aeneis (oder ein Teil davon) mittels einer Transformation aus Vergils Aeneis (oder einem Teil davon) entstanden ist und diese mehr oder weniger offenkundig evoziert, ohne sie zu zitieren?“ – Diesen Nachweis bringt er anhand des Vergleichs der Achaemenides-Episoden sowie durch metrisch-stilistische Vergleiche, die er auf Führer 1991, 249 stützt.
30 Forschungsstand Metamorphosen.147 Wheeler 2000, dessen Untersuchung der narrativen Dynamiken der Metamorphosen bereits in Kap. 2.1 vorgestellt wurde, betont zwar die grundlegende Notwendigkeit, jeden Textteil auch vor dem Hintergrund intertextueller Bezüge zu lesen; da er selbst jedoch den Fokus auf Repetition und Variation innerhalb des Textes selbst legt, spielt in seiner Arbeit die Untersuchung der Intratextualität eine weit größere Rolle.148 Einen ausführlichen Forschungsbericht zum Verhältnis von Vergils Aeneis und Ovids Metamorphosen bis 2003 bietet Janine Andrae.149 So stellt sie fest, dass sich die vorangegangenen Untersuchungen entweder mit einem Vergleich der Sprache150 oder der Gattungseigenschaften151 über das Werkganze hinweg beschäftigen oder lediglich den Textabschnitt der „kleinen Aeneis“ im 13. und 14. Buch gründlicher untersuchen.152 Ein weiterer wichtiger Aspekt bei allen Vergleichen der beiden augusteischen Epen liege im Aufzeigen des Verhältnisses zu dem augustusfreundlichen Vorgängerwerk. So werden nach Andraes Einschätzung derzeit im Wesentlichen die Thesen vertreten, die Metamorphosen seien ein gezielt kritisch-parodistisches, anti-vergilisches oder gar anti-augusteisches Werk;153 andererseits gebe es auch Forschende, die Unterschiede zwischen den Werken gerade aus Ovids Absicht heraus erklären, mit dem bewunderten Vorgängerwerk Vergils durch ein besonders „unvergilisches“ Werk bewusst in keine Konkurrenz zu treten oder ihm gar dadurch eine ehrende Hommage zu verfassen.154 Andrae selbst kommt zu dem Schluss, dass der Dichter Ovid in seinem Versuch, dem „übermächtigen Erbe der Tradition des Vorgängerwerkes“ zu entgehen, der Aeneis selbstbewusst einen Gegenentwurf entgegenstelle, dass dadurch 147 Z.B. Hinds, 1998, 5–8 zur Narzissusepisode im dritten Buch der Metamorphosen und besonders 104–122 zu Ovids Aeneis im 13. und 14. Buch. 148 Wheeler 2000, 6. 149 Andrae 2003, 16–27. 150 Zingerle 1871; Bömer 1959; Lamacchia 1960 und Lamacchia 1969; Bernbeck 1967; Döpp 1968; Smith 1990. 151 Bernbeck 1967; Smith 1990. 152 Ein großer Teil ihrer Argumentation stützt sich auf die Analyse dieser Passagen Stitz 1962; Guthmüller 1964; Otis 1966; Bernbeck 1967; Döpp 1968 und 1991. 153 „Mittlerweile sieht die Forschung darin [d.h. in der ‚ovidischen Aeneis‘ im 13.–14. Buch] eher eine Vergilparodie, teilweise sogar eine subversiv angelegte Anti-Aeneis“, Andrae 2003, 24 mit Fn. 65; vgl. auch Otis 1966, 339; Latacz 1971 sieht Ovids Metamorphosen nicht nur als ironisch-parodistische Demontage der Aeneis, sondern der gesamten epischen Tradition; ähnlich Mack 1988 und Musgrove 1991. Vgl. weiterhin zur augustuskritischen Darstellung anhand von Modifikationen der Aeneisdarstellung Schmitzer 1990; Lundström 1980; Tissol 1997. Vgl. für weitere Vertreter der Augustuskritikthese Andrae 2003, 24 mit Fn. 65. 154 Döpp 1968 und 1991; Due 1974; Galinsky 1975.
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die Metamorphosen die Aeneis „in doppelter Hinsicht [dekonstruieren], in ideologischer wie in poetologischer“, und dabei „eine Haltung reserviert-ironischer Opposition“ einnehmen.155 Fragen speziell nach dem pro-, gegen- oder anti-vergilischen Gehalt der Metamorphosen156 oder gar nach einer versteckten pro- oder antiaugusteischen Botschaft des Werkes157 bzw. der politischen Einstellung des historischen Autors Ovid führen letztendlich von der Fragestellung dieser Arbeit fort. 158 Untersuchungen zu diesem Thema sollen an dieser Stelle daher kein eigenes Unterkapitel im Referat des Forschungsstands erhalten. Im Jahr 2005 typisiert und katalogisiert Irene Frings159 Ovids Selbstzitate und Anspielungen auf eigene Werke, wobei sie sich jedoch zur theoretischen Grundlegung über einen kurzen referierenden Absatz zu Genette, Kristeva und Pasquali hinausgehend nicht mit Intertextualitätstheorien auseinandersetzt. Ebenfalls 2005 erscheint Sophia Papaioannous Monographie zur „Epic Succession and Dissension“,160 in der sie Ovids Umgang mit Vergils Aeneis innerhalb der inhaltlich entsprechenden Passage im 13. und 14. Metamorphosenbuch untersucht. Insbesondere auf die Theorien und Einzelergebnisse von Bloom 1976, Hinds 1998, Ellsworth 1986 und 1988 sowie Wheeler 2000 gestützt, untersucht sie die einzelnen Teilepisoden detailliert darauf, wie sie sich einerseits intratextuell in das Gesamtwerk, der „Weltgeschichte“161 der Metamorphosen fügen und inwiefern sie sich
155 Andrae 2003, 260. 156 Vgl. Hardie 1990, 225f.; Döpp 1991, 344: „Ovids Vergilrezeption hat vielmehr etwas Ambivalentes: Sie oszilliert zwischen Spielerischem und Ernsthaftigkeit, ironisch-spöttischer Distanz und innerer Anteilnahme.“ 157 Vgl. etwa Döpp 1991, 345f. mit Bibliographie zu dieser Frage. Döpp selbst hält eine Einschätzung des Werks als „antiaugusteisch“ für verfehlt, sieht aber Diskrepanzen zwischen Ovids literarischen Präferenzen und den ideologischen Grundlagen des politischen Systems, die, vorsichtig formuliert, eine Entfremdung andeuten. z.B. 146: „Nun zollt Ovid dem Kaiser ja kräftiges, fast überschwängliches Lob. Ohne gleich ironisch gemeint zu sein, ermangelt es doch der Wärme und läßt innere Distanz spüren.“ Vgl. auch Granobs 1996, 16 mit Bibliographie in Fn. 35 und eigener Einschätzung 158, das Werk sei unpolitisch, aber vereinbar mit Augustus. 158 Vgl. hierzu etwa Bömer 1982, 361–365. Auch Granobs 1996, 17, bemängelt, dass für den Schlussteil der Metamorphosen meist nur die Beziehungen zur Aeneis, nicht aber zu anderen (epischen) Vorgängertexten untersucht wurden. Dasselbe Problem benennt Janka 2013, 59 auch für die Vergilforschung, die „in der Regel doch recht eindimensional“ arbeite, „weil sie bestimmte Paradigmata der Forschungstradition (etwa zur ‚Originalität‘ und geistig-religiösen, politischen oder intellektuellen Statur des antiken Autors) fortzuschreiben geneigt ist“. 159 Frings 2005. 160 Papaioannou 2005. 161 Papaioannou 2005, 1: „history of the world“; 8; 10; 13–15; 116; 132–139.
32 Forschungsstand andererseits den Text der Aeneis „einverleiben“162 und intertextuell in einen „metapoetischen Wettbewerb“163 insbesondere zur Aeneis treten. Wie Hinds versteht sie die Auseinandersetzung mit dem Vorgängerwerk als eine Art poetologischdialogischen Prozess, der dem Leser erkennbar gemacht wird, damit dieser die jeweiligen Texte und den Umgang damit vergleichend „gegeneinander mitliest“.164 Helmut Seng165 arbeitet 2007 die gattungsspezifischen Formen und Elemente heraus, die einen Leser die Phaethonepisode aus dem zweiten Metamorphosen-Buch als eine Tragödie lesen lassen, und weist in einem Ausblick auf weitere Episoden im Werk hin, bei denen ihm eine intertextuelle Untersuchung hinsichtlich ihrer Tragödienstruktur erfolgsversprechend scheint. Die Intertextualität einer einzelnen kürzeren Metamorphosenerzählung untersucht auch Christiane Krause 2010. Sie bezieht sich in ihrer Methodik auf Hinds 1998, Papaioannou 2005 sowie auf das polyphone Textverständnis in Thomasʼ Catullinterpretation im Jahr 1982.166 Wie dieser analysiert sie detailliert intertextuelle Bezüge zu mehreren griechischen und lateinischen Vorgängerwerken und zeigt dabei ihre strukturelle, inhaltliche und lexikalische Verwobenheit. Während Thomas jedoch die Textbezüge im Catulltext wertend als polemische Zurückweisung oder als Korrektur der Vorlagen deutet, lehnt Krause es ab, das Verhältnis des Ovidtextes zu seinen Vorgängern zu eindimensional als Überbietungsversuch zu verstehen.167 Sie deutet Ovids Verfahren vielmehr wie Hinds und Papaioannou als selbstreflexives Verfahren und als „Einladung des Dichters an den Leser, das intertextuelle Spiel als solches zu erfassen“.168 Wolfgang Polleichtner weist 2009 in einem Aufsatz zum Verhältnis zwischen Ovid und Homer darauf hin, dass noch keine Gesamtuntersuchung für Ovids Umgang mit Homertexten vorliege.169 Diesem Desiderat widmet sich mit mehreren
162 Vgl. Papaioannou 2005, 2 („Ovidʼs intelligent tropes of embodyment and rewriting the Vergilʼs epic“) und 3 mit Fn. 3 für eine ausführliche Bibliographie zu weiteren Untersuchungen zu den „‚various instances of ‚incorporation‘ of the Vergilian intertext in the Metamorphoses‘. 163 Papaioannou 2005, 15; 83: „a metapoetical competition and a game on textuality“; 110f. 164 Papaioannou 2005, 8: „[...] a text composed principally to be read against another“; 9: „the various episodes in the ‚little Aeneid‘ are deeply involved [...] in a poetological debate with Vergil“; 10: „It may also enforce a poetological reading, for Ovidʼs recasting of narrarives already treated in the Aeneid challenges the reader to compare the two“; 76: „Eager to challenge Vergilʼs subtley, yet wishing to let readers know that he was inspired by it.“ 165 Seng 2007. 166 Thomas 1982. 167 Krause 2010, 26. 168 Krause 2010, 7. 169 Polleichtner 2009, 129 mit Fn. 7 und 133.
Intertextualität und Intermaterialität 33
kleineren Untersuchungen auch Markus Janka,170 dessen Methodik vor allem auf Lyne und Hinds fußt. Er konzentriert seine Forschung, aufbauend auf den Untersuchungen binärer Textbeziehungen, auf trianguläre Textbeziehungen wie dem Dreiecks- oder Kettenmodell der Beziehung von Ovid zu seinen Vorgängern Vergil und Homer und kommt zu dem Schluss: „Ohne die Aeneis mit ihrer zwischentextlichen Strategie [...] gäbe [es] Ovids Metamorphosen überhaupt nicht in der Form, wie sie jetzt vorliegen, nämlich als ein durchweg hypervergilischer Schlussstrich unter die gesamte klassische epische Tradition der Antike.“171 Positivistische Kommentare wie insbesondere Franz Bömer 1969-2006 bieten umfassende Sammlungen von Referenzstellen, wobei hier die Deutungsversuche – der Gattung eines Kommentars entsprechend – wenig fundiert und bisweilen eher assoziativ wirken. Eine systematische Sammlung von Intertextualitätsarten und eine Analyse ihrer jeweiligen Strukturen oder Funktionsweisen liegt für den Gesamttext von Ovids Metamorphosen bislang nicht vor.
170 Janka 2007; Janka 2013, 59–95. 171 Janka 2013, 68.
Methodik Ziel dieser Arbeit ist es, die Funktion von Intertextualität und Intermedialität als Multiplikationsfaktoren in der Darstellung der Weltgeschichte zu untersuchen, welche in den Metamorphosen erzählt wird. Hierfür soll zunächst gezeigt werden, dass es sich bei den Metamorphosen tatsächlich um ein solches Weltgedicht handelt, das alle Sagenkreise, Zeiten, Orte und Figurentypen in einem kohärenten carmen perpetuum erzählt. Im Anschluss wird auf dieser Grundlage geprüft, inwiefern Intertextualität und Intermedialität in den Metamorphosen die Funktion erfüllen, die Werkwelt derart zu erweitern, dass der Text einem universalen Weltgedicht angenähert wird. Nachdem in Kap. 1–3 dieser Arbeit die Fragestellung, der Forschungsstand und hier schließlich die Methodik vorgestellt werden, wird Kap. 4 die Einheit der Werkwelt erläutern, indem die Einzelerzählungen und ihre Hintergrundwelt auf Kohärenz, Kontinuität und Widerspruchsfreiheit geprüft werden. Für eine möglichst erschöpfende Betrachtung der Werkwelt und der darin spielenden Geschichten werden die Kohärenzen innerhalb der Kategorien Zeit, Raum und Figuren in den Blick genommen. Kap. 5 beschäftigt sich mit der Vielheit innerhalb dieser Einheit, die sich vor allem in der Facettenvielfalt von Figurentypen und ihren Handlungen, aber auch in der Erzählperspektive und Erzählhaltung niederschlägt. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse wird, nach einem kurzen Zwischenfazit in Kap. 6, schließlich in Kap. 7–15 geprüft, wie die dabei belassenen Leerstellen mithilfe von Intertextualität und Intermedialität geschlossen werden bzw. inwiefern die hier dargestellten Erzählungen mithilfe von Verweisen auf Vorgängerwerke mit diesen zu einem Weltgedicht verknüpft werden. Die Begriffe Geschichte, Erzählung und Narration werden dabei gemäß der Definition von Gérard Genette verwendet: „Ich schlage vor, [...] das Signifikat oder den narrativen Inhalt Geschichte zu nennen [...], den Signifikanten, die Aussage, den narrativen Text oder Diskurs Erzählung im eigentlichen Sinne, während Narration dem produzierenden narrativen Akt sowie im weiteren Sinne der realen oder fiktiven Situation vorbehalten sein soll, in der er erfolgt“.1 Um das Gesamtkonzept des Werkes in seinem inhärenten Aufbau und seiner Struktur zu erfassen, wird im Wesentlichen Ludwigs2 Ansatz und seiner weiteren Verfeinerung durch Tsitsiou-Chelidoni3 gefolgt, sowohl chronologische als auch
1 Genette 32010, 12. 2 Ludwig 1965. 3 Tsitsiou-Chelidoni 1999. https://doi.org/10.1515/9783110785005-003
Methodik 35
thematische Aspekte zu berücksichtigen, um Querverbindungen im Werk zu benennen. Auf diese Weise kann einerseits die Geschichte der Metamorphosen als kohärente Einheit der Handlungsabläufe in der Reihenfolge ihres Geschehens innerhalb der Werkwelt betrachtet werden. Andererseits wird so die Erzählung mit ihrem der Chronologie scheinbar zuwiderlaufenden Aufbau in Figurenreden, Prolepsen und Analepsen berücksichtigt, indem sie als thematisch strukturierendes Ordnungsprinzip der Vielfalt, insbesondere von Handlungs- und Figurentypen, erfasst wird. Tsitsiou-Chelidonis Ansatz, intratextuelle Verbindungen auch weit über Buchgrenzen hinweg aufzuspüren, führt den Nebeneffekt mit sich, dass sie zugleich auch unvollendete Erzählfäden identifiziert, um sie aus ihrer eigenen Arbeit als Gegenstand auszuschließen.4 Hierauf kann die vorliegende Arbeit einige Untersuchungen aufbauen, indem geprüft wird, ob die Erzähltechnik an diesen Stellen intertextuell fungiert, also ob das Sinnverständnis ein anderes ist, wenn der Leser sich hier an einen anderen ihm bekannten Text erinnert, der die Leerstelle in der unaufgelösten Metamorphosenschilderung schließt. Auch können Tsitsiou-Chelidonis Analyseergebnisse der spezifischen Verweisungsstrategien und „konsequent durchgeführten Technik“5 im Intratext der Metamorphosen Rückschlüsse darauf geben, wie solche Bezüge auf Vorgängerwerke identifiziert werden können.6 Letztendlich bietet ihre Arbeit eine grundlegende Hilfe, um intratextuelle Verbindungen sicher als solche zu erkennen und sie so aus der eigenen Stellensammlung zur Untersuchung von Intertextualität und Intermedialität auszuschließen. Weitere nützliche Sammlungen von Andeutungen, an die eine Erzählung anknüpfen könnte, die aber nicht ausgeführt wird, bietet Andrae 2003 als Beispiele für ihre „Chaostheorie“.7 Der Metamorphosentext besteht zum überwiegenden Anteil aus Figurenreden und nur zu 48% aus der Primärerzählung.8 Um die Einheit des Werkganzen zu untersuchen, müssen die Erzählungen auf eine Vereinbarkeit des Figurenwissens, das zum Zeitpunkt der eingelegten Narration für die interne Erzählinstanz möglich ist, mit der rekonstruierbaren Haupthandlung geprüft werden. Hierfür muss jeweils auch die Unzuverlässigkeit der erzählenden Figuren berücksichtigt werden, die aus Unwissenheit oder auch Berechnung der jeweils erzählenden 4 Z.B. Tsitsiou-Chelidoni 1999, 298. 5 Tsitsiou-Chelidoni 1999, 301. 6 Tsitsiou-Chelidoni 1999, 299. 7 Andrae 2003, 77f. mit Fn. 261. 8 Eine Übersicht über alle Erzähler- und Figurenreden im Gesamtaufbau bieten u.a. Nagle 1989 und Wheeler 1999, 207–210, der insgesamt einen kontinuierlich steigenden Anteil der Figurenreden von durchschnittlich 52% zählt.
36 Methodik Figur resultieren kann. Diesen narratologischen Grundlagen widmet sich exemplarisch Kapitel 4,3,6. Nicht nur die internen Erzählfiguren, auch der Primärerzähler selbst ist im Text der Metamorphosen mit Eigenschaften ausgestattet, die für den Gesamtzusammenhang des Werkes und die darüberhinausgehenden Textbezüge bedeutsam sind. Der Primärerzähler wird, beruhend auf den Ergebnissen von Horstmann 2014, angenommen als eine fiktive Erzählinstanz, die sich selbst als eine Dichterfigur inszeniert, ohne dabei aber identisch mit dem historischen Dichter Ovid zu sein.9 Dieser Erzähler ist unzuverlässig, d.h. es finden sich im Text Signale, die dafür sprechen, die Glaubwürdigkeit oder Vollständigkeit der Darstellung des Erzählers anzuzweifeln.10 Darüber hinaus lassen sich noch weitere Aussagen zum Erzähler treffen, auch wenn er „im Ganzen [...] als konkrete menschliche Gestalt profillos“ bleibt:11 Der Primärerzähler stellt sich selbst wiederholt als ein Angehöriger der römischen Weltmacht dar,12 der zur Zeit von Augustus rückblickend die Geschichte der Welt von ihrer Schöpfung bis hin zu 9 Solodow 1988 setzt diesen Erzähler und weitere (aber nicht alle) erzählende Figuren noch mit dem Autor Ovid gleich, z.B. 38: „I believe there is a basic single narrator throughout, who is Ovid himself. The introduction of other speakers is more formal than consequential; the words are heard as those of the poet“; 41: „The voices of the characters cannot be distinguished from that of the poemʼs narrator, but is the narrator Ovid himself or is he instead a persona [...]? I can find no sign of distance between narrator and poet“; Graf 1994 trennt als erster den Primärerzähler der Metamorphosen explizit vom Autor Ovid und beschreibt den Erzähler als ironisiert, allzu mythengläubig und unzuverlässig, z.B. 42: „Daß nicht mehrere, sondern eine einzige Stimme die ‚Metamorphosen‘ erzählt, ist trotz der Art, wie die Erzählebenen ineinander geschachtelt sind, durchaus richtig. [...] Nur ist dies eben nicht die Stimme Ovids, [...], sondern eines Erzählers, von dem sich Ovid deutlich absetzt. [...] [Man muß] auch betonen, daß er alles andere als allwissend ist; es ist kein Verlaß auf ihn“; vgl. zur Unzuverlässigkeit des Primärerzählers der Metamorphosen auch Effe 2004, 50–60, der Ovid etwa in der Mitte einer fortschreitenden Entwicklungslinie und in der Tradition des Apollonios von Rhodos sieht, was die ironische Reserviertheit gegenüber dem Stoff und seinem Wahrheitsanspruch angehe. Eine Diskussion dieser Ansätze bietet Horstmann 2014, 4–13. Horstmann selbst nimmt eine einheitliche, dabei aber polymorphe Erzählfigur mit einer sich wandelnden Erzählhaltung an, 13f.; 24; 26: „Ovids chamäleonartige[r] Erzähler“. 10 Vgl. zum unzuverlässigen Erzähler W.C. Booth und Lahn/Meister 2008, 182: „Das Erzählen ist unzuverlässig, wenn es gute Gründe gibt, die Darstellung des Erzählers anzuzweifeln, oder wenn seine Behauptungen über das, was in der erzählten Welt der Fall ist, offenkundig falsch sind“; speziell zum unzuverlässigen Primärerzähler in Ovids Metamorphosen Horstmann 2014, 18–21; 81; 179f. 11 Horstmann 2014, 39–52, Zitat 50. 12 Z.B. Met. 15,745f.: Hic [= Asclepius] tamen accessit delubris advena nostris. / Caesar in urbe sua deus est – „Asclepius kam als Neuankömmling in unsere Tempel. Caesar ist Gott in seiner eigenen Stadt.“
Methodik 37
seiner Gegenwart berichten kann und von einem weiteren Wachstum der römischen Vorherrschaft ausgeht. Als fiktiven Adressaten spricht er dabei einen Leser an, der sich ebenfalls mit den Gepflogenheiten im augusteischen Rom auskennt; dies zeigt sich etwa in Gleichnissen, die speziell römische Phänomene aufgreifen, wie etwa geplatzte Bleirohre, um eine Blutfontäne zu veranschaulichen; 13 die Farbe der Gänse auf dem Capitol;14 Eigentümlichkeiten auf dem Forum, in römischen Häusern, aus dem römischen Militär, aus der Opferpraxis der Eingeweideschau, aus dem Circus oder Theatern uvm.15 Vorsichtig lässt sich feststellen, dass sich der fiktive Primärerzähler außerdem als augustusfreundlich und dem Kaiser gegenüber ehrerbietig inszeniert.16 Über ein reales Verhältnis zwischen dem historischen Autor Ovid und dem Kaiser lässt sich dadurch allerdings keinerlei Aussage treffen. Horstmann erkennt und benennt in der Figur des Primärerzählers also eine weitreichende Kenntnis der römischen Geschichte und des Kultur- und Alltagslebens und zeigt bei ihm folgende Eigenschaften: „Er neigt oftmals dazu, (1) seinen Stoff zu sichten und zu bewerten, (2) sich als kundiger Experte zu inszenieren,17 der das Geschehen [...] in einen allgemeineren Zusammenhang einordnet.“18 Zugleich schließt Horstmann aus seiner Untersuchung des Primärerzählers der Metamorphosen das Themenfeld von Intertextualität mit der Begründung aus, dass „die literarische Tradition oder intertextuelle Bezüge [...] und andere textexterne Faktoren [...] zur Instanz des realen Autors“ gehören.19 In dieser Arbeit soll hier nun eingehakt werden, indem zu den oben genannten Eigenschaften der römischen Kultur und zu der augusteischen Allgemeinbildung, welche der Primärerzähler aufweist, auch die Kenntnis von Vorgängerwerken angenommen wird, auf die er sich gelegentlich ohne konkrete Benennung des Werkes mit Autoritätsverweisen wie ferunt, dicitur, fama est20 oder anderen
13 Met. 4,121–124, wobei dieses Gleichnis dort einem thebanischen Mädchen in den Mund gelegt wird und darum ein nicht nur römisches Phänomen zu beschreiben scheint. 14 Met. 2,536–539. 15 Vgl. Horstmann 2014, 48. 16 Horstmann 2014, 44, 164: „Eine besondere Dichte in der Verwendung einer von Respekt und Achtung geprägten Erzählhaltung lässt sich im Schlussteil der Metamorphosen feststellen, wo Ovid die ‚römische‘ Geschichte behandelt“; 165: „Die Rolle des vates behält der Erzähler bis zum Ende des Werks und zeigt sich dabei stets bemüht, Cäsar und vor allem Augustus seine Verehrung zu erweisen.“ 17 Z.B. „als gut informierter Götterversteher“, Horstmann 2014, 110f. 18 Horstmann 2014, 74. 19 Horstmann 2014, 17. 20 „Man berichtet“; „es heißt“; „es geht die Sage“.
38 Methodik „alexandrinischen Fußnoten“ beruft.21 Dabei wird sowohl für den fiktiven Erzähler als auch für den fiktiven Leser22 eine gute Kenntnis der homerischen Epen und weiterer kanonischer griechischer und römischer Dichter und insbesondere die Vertrautheit mit Vergils Werken angenommen.23 Nachdem auf diese Weise in Kap. 4 die Einheit der dargestellten Welt untersucht wurde, wird in Kap. 5 die Vielfalt innerhalb dieser Welt in Augenschein genommen. Dabei werden Geschichten, Handlungsabläufe und die darin vorkommenden Figuren in Bezug auf ihre Funktion und Stellung innerhalb der Werkwelt, ihre körperlichen und charakterlichen Eigenschaften sowie ihr Verhalten verglichen. Darüber hinaus wird auch die Erzählperspektive und die Erzählhaltung24 daraufhin betrachtet, inwiefern hier weitere Multiplikatoren zum Einsatz kommen, um die Variation von Elementen innerhalb einer einheitlich zu denkenden Werkwelt noch weiter zu erhöhen. Kap. 6 fasst die bis hierhin erarbeiteten Ergebnisse in einem Zwischenfazit zusammen. Schließlich werden in Kap. 7–15 exemplarische Einzelerzählungen oder Themen unter der Fragestellung untersucht, inwiefern Intertextualität als ein Element fungiert, das die dargestellte Werkwelt über den vorliegenden Text hinaus erweitert. Dies kann, so wird sich zeigen, einerseits auf der Handlungs- und Figurenebene erfolgen, indem durch die intertextuellen Bezüge weitere unerzählte Geschichten widerspruchsfrei in die Einheit der Metamorphosen integriert werden. Andererseits können Textbezüge auch jenseits der Handlungsebene die Facettenvielfalt der dargestellten Werkwelt erhöhen, indem parallele oder kontrastive Elemente als Folie in Erinnerung gerufen werden, wodurch sich neben der unmittelbar erzählten Begebenheit noch weitere mögliche Typen, Situationen, Perspektiven oder Erzählhaltungen auffächern. Bei einem Großwerk, das aus 250 unterschiedlichen Einzelerzählungen besteht, muss für tiefergehende Untersuchungen zwangsläufig eine Textauswahl getroffen werden. Als Instrumentarium für das erste Auffinden von auffälligen Textbezügen dienen philologische Kommentare, allen voran von Franz Bömer, William S. Anderson, Neil Hopkinson, Lee Fratantuono und K. Sara Myers. Nun besteht bei dem Ansatz, induktiv von Einzelerzählungen auf das Gesamtwerk der 21 Vgl. zu einer Übersicht solcher Marker und ihren Funktionen in den Metamorphosen Wheeler 1999, 101–115 sowie Horstmann 2014, 81–95 und 212–223; zur alexandrinischen Fußnote s.o. Kap. 2.2. 22 Auch dieser fiktive Adressat ist vom realen Rezipienten zu unterscheiden, vgl. Horstmann 2014, 15 mit Fn. 53. 23 Vgl. zur Bedeutung der homerischen Epen und weiterer Werke für den Schulunterricht in Rom etwa Horstmann 2014, 26f. mit Belegen und weiteren Literaturverweisen. 24 Vgl. z.B. Horstmann 2014, 135f.
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Metamorphosen zu schließen, stets die Gefahr, aufgrund einer zu einseitigen Auswahl zu einem undifferenzierten Ergebnis zu gelangen, indem beispielsweise von einzelnen elegischen, pathetischen oder humoristischen Erzählhaltungen auf die Haltung im Werkganzen geschlossen wird. Bei der Untersuchung von Intertextualität besteht speziell die Gefahr, dass einzelne subversiv angelegte (oder im Gegenteil: einzelne ehrerbietige) Passagen als repräsentativ für den Umgang mit literarischen Vorgängern angenommen werden. Die Textauswahl erfolgt daher für diese Arbeit nicht nur mit Blick auf die darin enthaltene Dichte offensichtlicher intertextueller Bezüge und ihrer Variation, sondern auch nach den Kriterien der Repräsentativität möglichst unterschiedlicher Stoffe und Erzählhaltungen. Die auf dieser Grundlage ausgewählten Erzählungen werden jeweils unter Berücksichtigung weiterer Spezialliteratur untersucht. Der Betrachtung von intertextuellen Bezügen wird dabei die rezeptionsästhetische Annahme zugrunde gelegt, dass die Bedeutung eines Textes nicht vom Autor bestimmt wird bzw. dass die Frage danach, was der Künstler „eigentlich meinte“, zumindest nicht im Aufgabenbereich der hier vorliegenden Fragestellung liegt. Bedeutung soll stattdessen als etwas angenommen werden, was sich im Prozess des Lesens konstituiert. Hierfür wird auf der Grundlage dieses Werks und anderer Texte der Erwartungshorizont eines in den Text eingeschriebenen fiktiven Adressaten rekonstruiert. Diese Leserfigur soll im Folgenden zur Vereinfachung als „der Leser“ bezeichnet werden, wobei natürlich vom realen Autor Ovid als historisches Lesepublikum alle Geschlechter angesprochen wurden. Treten auffällige Leerstellen, Intertextualitätssignale oder „alexandrinische Fußnoten“ auf, wird im Wesentlichen Hindsʼ und Papaioannous Ansatz gefolgt, diese zunächst als wertfreie Aufforderung zum vergleichenden Mitlesen eines ähnlichen Vorgängertextes zu deuten. Die Funktion für den Textsinn oder die Haltung dem Vorgängertext gegenüber kann erst in einem weiteren Schritt die genaue Textanalyse zeigen. Im Zuge dieser Analysen wird Döpps Beobachtung, dass bei Textbezügen zu vergilischen Werken häufig entweder Leerstellen in der Handlung gefüllt oder neue Schwerpunkte bzw. Facetten betont werden, daraufhin geprüft werden, inwieweit dies auch für andere Vorgängerwerke zutrifft. In einem abschließenden Fazit (Kapitel 16) werden die Beobachtungen und Ergebnisse dieser verschiedenen Untersuchungsstränge zusammengefasst. Dabei wird geprüft, inwiefern sich für Ovids Metamorphosen tatsächlich Funktionen von Intertextualität zeigen ließen, welche noch über den vorliegenden Text hinaus die Darstellung einer einheitlich konzipierten, vielfältigen Weltgeschichte und ihrer Erzählung bewirken.
Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte Während sich Epen für gewöhnlich auf einen Helden und wenige Hauptfiguren konzentrieren, fällt an der Erzählung der Metamorphosen die Vielzahl der Protagonisten und ihrer Geschichten auf, die in allen Zeiten und Regionen der Welt verortet sind. Da die antiken Gattungsgrenzen zwischen Lehrdichtung und erzählenden Epen fließend sind, schuf Ovid mit seinem Opus Magnum keine radikale literarische Neuheit. Diese teilweise lang tradierten, teilweise neuen oder angepassten Erzählungen explizit als miteinander korrespondierende Handlungsstränge derselben Weltgeschichte darzustellen, bildete dennoch eine dichterische Herausforderung. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, dass die Handlungen der Einzelepisoden tatsächlich werkimmanent kohärent konzipiert sind. Mit ‚Widerspruchsfreiheit‘ ist dabei stets nur die werkimmanente Handlungslogik gemeint, nicht die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. 1 In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass im Metamorphosentext im Wesentlichen die gleichen erzählerischen Strategien die Werkwelt mit all ihren Einzelteilen in ihrem Inneren zusammenhalten, wie sie darüber hinaus auch weitere Elemente aus Vorgängertexten darin integrieren. Die Erläuterung und Analyse intratextueller Verbindungsstrategien in Kap. 4 legt somit die Grundlage für die Untersuchungen der intertextuellen und intermedialen Strategien als Multiplikationsfaktoren des Weltgedichts in Kap. 5. Im folgenden Teil werden daher die wichtigsten Strategien zur Erzeugung von werkimmanenter Handlungskohärenz vorgestellt. Die Unterteilung der Beispiele in die Kategorien Zeit, Raum und Figureninventar dient der Übersichtlichkeit in der Darstellung. Da allerdings jede Erzählung sowohl in Zeit und Raum eingebettet ist als auch Figuren enthält, lassen sich diese Kategorien niemals scharf voneinander trennen. Die Kapitelüberschriften bezeichnen daher nur den jeweiligen Fokus bei der Betrachtung der vorgestellten Erzählstrategie.
1 Dies betont Ovid sogar selbst in einem Brief an Augustus, trist. 2,63f.: inspice maius opus [...], / in non credendos corpora versa modos – „Sieh hinein in das größere Werk [...], die Gestalten, die auf Arten verwandelt wurden, die man nicht glauben kann“. Zur topischen Unglaubwürdigkeit von dichterischer Überlieferung aus Ovids Sicht vgl. auch trist. 4,7,11–20 und Am. 3,12. Vgl. allgemein zum Thema Feddern 2018. https://doi.org/10.1515/9783110785005-004
Zeitkohärenz 41
. Zeitkohärenz .. Das Nacheinander Die chronologische Widerspruchsfreiheit auf Handlungsebene wird im Werk der Metamorphosen vielfach explizit gemacht. Hierzu kommen verschiedene Strategien zum Einsatz wie die Verwendung von Temporaladverbien zur Einordnung der Geschichten in den chronologischen Ablauf,2 die Ausrichtung der Primärerzählung an Biographien von Figuren, die mehrere aufeinander aufbauende Geschichten erleben; Begegnungen älterer und jüngerer Figuren und die Darstellung von Alterungsprozessen; Ahnenreihen; Aitien oder andere Verwandlungen mit sichtbar bleibenden Ergebnissen; Figurenwissen übereinander über lange Zeiträume hinweg u.v.m.
.. Erzählzeit und erzählte Zeit Die Weltgeschichte, die in den Metamorphosen erzählt wird, berichtet retrospektiv ein Erzähler, der selbst in der augusteischen Zeit zu verorten ist.3 Die Geschichte beginnt gewissermaßen noch vor (met. 1,5: ante) Anbeginn der messbaren Zeit mit ihren regelmäßigen Abfolgen von Sonnen- und Mondumläufen4 mit dem Chaos und endet in der Zeit des Augustus, des Erzählers und seines Publikums zur Abfassungszeit – im zeitgenössischen Rom, dem caput rerum (met. 15,736). In einer Prolepse5 reicht die Erzählzeit sogar bis in eine unbestimmte Zukunft, per [...] omnia saecula, hinaus, indem in den Schlussversen prophezeit wird, dass das Werk so lang gelesen werde, wie Rom die Welt beherrsche. 6 Wie 2 Vgl. Wheeler 2000, 2; Tsioutsiou 1999, 286 und 293; Horstmann 2014, 62 und 216f. 3 Horstmann 2014, 39–52; 61f. 4 Met. 10f.: nullus adhuc mundo praebebat lumina Titan, / nec nova crescendo reparabat cornua Phoebe – „Noch bot kein Titan der Welt das Licht, und auch Phoebe brachte noch nicht ihre durch Wachstum immer wieder erneuerten Hörner hervor“. 5 Vgl. zum Begriff der Prolepse Genette 32010, 39–47. 6 Ov. met. 15,871–879; Zitat 878, mit deutlichem Bezug auf Horaz carm. 3,30. Durch die fast zitierende Wiederholung der horazischen Wendung in Vers 1–5: Exegi monumentum, [...] quod non imber edax […] possit diruere aut innumerabilis annorum series et fuga temporum („Ich habe ein Denkmal erschaffen, [...] das nicht der gefräßige Regen [...] zerstören kann oder eine unzählbare Reihe von Jahren und der Lauf der Zeit“) in der knapperen Formulierung Opus exegi, quod [...] nec poterit [...] edax abolere vetustas („Ich habe ein Werk erschaffen, das nicht das gefräßige Alter vernichten kann“) werden dem Leser auch die anderen bei Horaz genannten Beispiele und Assoziationen von unsterblichem Dichterruhm vor Augen gerufen, die Ovids Werk ebenfalls für
42 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte im Proömium unter dem Terminus carmen perpetuum angekündigt wird, handelt es sich dabei um ein zusammenhängendes, ununterbrochen fortlaufendes Gedicht. Das bedeutet für dieses Werk konkret, dass erstens eine Kohärenz aller Handlungsstränge vorliegt und dass zweitens keine allzu großen Zeitsprünge auf der Ebene der primären Erzählung zu erwarten sind, weil kontinuierlich eine Geschichte in die nächste übergeht.7 Dennoch enthält die Erzählung viele weitreichende Analepsen8 und Prolepsen, die die Primärhandlung unterbrechen. Auch wenn diese Erzählweise in Ovids Epos keinesfalls ein Novum für die Literaturgeschichte darstellte, sondern seit Homer eine lange Tradition besaß und in verschiedenen Funktionen eingesetzt wurde,9 macht die Verschachtelung von Zeitebenen eine der Hauptauffälligkeiten
sich beansprucht, ohne sie einzeln zu wiederholen. – Ein solcher Epilog findet sich auch am Ende der Argonautika von Apollonios von Rhodos und nimmt zudem Bezug auf Enniusʼ Kenotaph (Cic. Tusc. 1,34: volito vivos per ora virum – „Ich fliege lebendig von Mund zu Mund der Männer“). Ganz anders verfährt Vergil, der seine Aeneis so abrupt, gewissermaßen ‚mediis in rebus‘, enden ließ wie die homerischen Epen. Vgl. hierzu Polleichtner 2009, 158–160 mit Fn. 131. – Eine weitere, wenn auch natürlich adressatenbezogen augustusfreundliche Aussage über die chronologische Sukzession und den Gegenwartsbezug des Werkes gibt Ovid in trist. 2,559–563 an Augustus: pauca, quibus prima surgens ab origine mundi / in tua deduxi tempora, Caesar, opus: / aspicies, quantum dederis mihi pectoris ipse, quoque favore animi teque tuosque canam – „...ein wenig [Lektüre], worin ich, beginnend mit dem Ursprung der Welt, das Werk in deine Gegenwart führte: Du wirst sehen, wie viel Begeisterung du selbst in mir ausgelöst hast und mit welchem Wohlwollen meines Herzens ich dich und die Deinen besinge.“ 7 Vgl. zum Thema der Zeit in den Metamorphosen darüber hinaus auch Heath 2012. Heath zufolge erzeugt ein Dichter traditionell die Illusion, eine Geschichte entwickele sich innerhalb der Erzählzeit vor den Augen bzw. Ohren der Zuhörerschaft. Diese literarische Konvention einer „poetic simultaneity“ unterminiere Ovid jedoch bereits durch seinen Götteranruf im Proöm, indem die Götter als Mitschöpfer sowohl des Werkes als auch des Gegenstandes angesprochen werden. 8 Vgl. Genette 32010, 27–39 und Tsitsiou-Chelidoni 1999, 287. 9 Z.B. erzählt in Hom. Il. 1,590–594 Hephaistos von der lang zurückliegenden Begebenheit, wie Zeus ihn vom Olymp stürzte, als er seine Mutter Hera vor ihm schützen wollte; Il. 2,301–330 berichtet Odysseus vom Sperlingsprodigium vor dem Aufbruch nach Troja, bei dem ausdrücklich sowohl er als auch die Zuhörer selbst dabei waren (301f.) und so mehr rhetorisches Mittel als neue Information bedeuten; Phoenix erzählt in Il. 9,527–599 dem zürnenden Achill die lang vergangene (527f.) und ihm möglicherweise schon bekannte Geschichte von Meleager, um ihn zur Versöhnung mit Agamemnon zu bewegen – dieser Held war bereits von der höchsten Erzählinstanz als ‚historischer Hintergrund‘ im Schiffskatalog in Il. 2,641–643 erwähnt worden und verknüpft so die Erzählung mit der Primärebene des Epos. Weite Teile der Odyssee, nämlich der neunte bis zwölfte Gesang, sind der Figurenrede des Odysseus in Ich-Perspektive untergeordnet und lassen den Leser die Rahmenhandlung durch ihre Länge womöglich über weite Textstrecken vergessen und ganz in das geschilderte Geschehen eintauchen. Ebenso verfährt Vergil bei der Konzeption der Aeneis, wenn das zweite und dritte Buch aus Aeneasʼ Schilderung des
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der Erzählweise von Ovids Metamorphosen aus.10 Hierbei erzählen Personen in Figurenreden,11 seltener auch der Primärerzähler selbst,12 lang vergangene Geschichten oder künden in Prophezeiungen aus Figurensicht oder auf der Erzählerebene von Ereignissen in der vom aktuellen Zeitpunkt der Handlung noch entfernten Zukunft. Durch solche Strategien wird die fortschreitende Chronologie an manchen Stellen nicht bloß durch die Komplexität der Erzählung unklar, sondern bisweilen sogar regelrecht verschleiert.13 Dies führt so weit, dass das Werk dem Leser – modern wie antik – ohne genauen analytischen Blick zunächst den Eindruck eines zusammenhanglosen Kollektivgedichts vermittelt.14 Daher sollte zwar bei der Deutung einzelner Passagen oder auch des Gesamtwerkes das Hauptaugenmerk nicht auf der Chronologie liegen. Um jedoch das Gesamtwerk in seiner Funktion als Erzählung einer Weltgeschichte zu verstehen, muss ihr kohärentes Fortschreiten im Hintergrund genauer betrachtet werden.15 Der Handlungszusammenhang der primären Erzählung bewegt sich also trotz aller Komplexität sukzessive vorwärts. Exemplarisch und gewissermaßen
Kampfes in Troja und den Irrfahrten bis zum Seesturm vor Libyens Küste besteht. Aen. 1,341– 368 wiederum erzählt Venus ihrem Sohn Aeneas in einer kürzeren Rede die ihm noch unbekannte Geschichte von Sychaeusʼ Ermordung und Didos Flucht aus Phönizien und gibt ihm so für seine Handlungen relevante Informationen auf den Weg. Apoll. Rhod. 2,311–407 bietet die Prophezeiung des Phineus einen Ausblick in Zukunft, ebenso die Romprophezeiungen in Aen. 1,257–296; Aen. 6,756–892 u.a. 10 So ist Schmidt 1991, 79–89 in diesem Punkt zuzustimmen, dass die ‚gefühlte‘ Chronologie keiner streng dreigeteilten Epocheneinteilung entspricht und die ‚Oberfläche‘ des Textes eine solche Einteilung, zumindest auf den ersten Eindruck hin, nicht zur Leseempfindung bringt. 11 Vgl. Kap. 4.1.3. 12 Z.B. die Scyllaerzählung met. 13,732–14,74, wo der Erzähler die zweifelhafte Überlieferung der Dichter aus lang vergangenen, aber nicht mehr näher bestimmbaren Zeiten wiedergibt (13,744f.: si non omnia vates / ficta reliquerunt, aliquo [...] tempore – „Zu irgendeiner Zeit, wenn nicht alles, was uns die Dichter überliefert haben, erfunden ist“); eine Prolepse des Erzählers findet sich u.a. met. 365f. Hier heißt es über den noch jungen Nestor, der knapp einer lebensgefährlichen Situation während der calydonischen Eberjagd entrinnt: forsitan et Pylius citra Troiana perisset / tempora – „Vielleicht hätte auch der Pylier schon vor den trojanischen Zeiten sein Leben verloren“. 13 Tsitsiou-Chelidoni 1999, 272 mit Diskussion in Fn. 7 und 278 mit Fn. 17. Für die biographische Einordnung einzelner Episoden um König Numa zeigt Granobs 1996, 28f. sprachliche Verschleierungsstrategien im Erzähltempus auf. Vgl. auch Horstmann 2014, 62. 14 Kenney 1973, 116f.: „[A]nd whatever thematic architecture Ovid’s ingenuity might devise or the percipience of modern critics detect, the poem is bound to appeal to most readers as a collection of stories“; wörtlich wiederholt in Kenney, E.J.: Ovid’s Language and Style, in: Boyd, Barbara Weiden (Hrsg.): Brill’s Companion to Ovid, Leiden/Boston/Köln 2002, 27–90, hier 57. 15 Vgl. hierzu die Diskussion in Tsitsiou-Chelidoni 1999, 272f.
44 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte programmatisch verdeutlicht dies eine sehr frühe Metamorphosenerzählung im ersten Buch: Kurz nach Ende der deukalischen Flut, also gewissermaßen ganz zu Beginn der „aktuellsten“ Schöpfungsversion der mehrfach neu überarbeiteten Welt (vgl. Kap. 4.1.3), wird Apolls erste Liebe Daphne in einen Lorbeerbaum verwandelt. Diesen küsst Apoll und beschreibt met. 1,556–565 in einer proleptischen Figurenrede in der Zeitform des Futur, dass der Lorbeer immer (semper) sein Haar, seine Cithara und seinen Köcher schmücken, in der – zur Erzählzeit ja noch gar nicht gegründeten! – Region Latium duces zieren, zukünftige Triumphe auf dem noch unbenannten Kapitol (Capitolia) begleiten und die Türpfosten des hier namentlich genannten, aber noch ungeborenen Augustus bewachen werde.16 All dies weiß Apoll, der gleich zu Beginn dieser Episode durch ironische Kontrastierung als Orakelgott eingeführt worden ist,17 also bereits zu Beginn der Welt im mythischen Zeitalter. Hierdurch erhält sein Charakter neben seiner Liebe zur Bogenkunst eine weitere Facette und bestätigt außerdem den Wahrheitsgehalt seiner eigenen Figurenrede über seine Genealogie und Zuständigkeitsbereiche. 18 Nachdem Daphne durch ein Nicken des Wipfels ihre Zustimmung erklärt zu haben scheint,19 wechselt der Erzählfokus abrupt von der Figur Apoll über eine kurze Landschaftsbeschreibung zurück zu Jupiter, der seinerseits beginnt, der Flussgotttochter Io nachzustellen. Diese Erzählung ist durch die Darstellungsweise also als zeitgleich oder kurze Zeit später geschehend einzuordnen. Die eingelegte Zukunftsvision ist lediglich als eine Figurenrede des Apoll zu verstehen und bedeutet keine Unterbrechung der fortlaufenden Handlungszeit. Werkimmanent wird der Lorbeer als Attribut des Apoll noch einmal erwähnt, wenn Apoll in met. 2,600 in einer anderen Situation vor Schreck der Lorbeer aus der Hand gleitet.20 Doch noch wichtiger als die erneute spätere Erwähnung auf der Handlungsebene ist: Auch der Leser kennt die Lorbeerbäume, die durch 16 Vgl. Waldner 2014, 50 zu dieser Episode in ihrer Funktion als Kultaition und der Verbindung von Literatur und Religion. 17 Met. 1,491: quodque cupit, sperat, suaque illum oracula fallunt – „Und was er begehrt, das erhofft er sich, und seine eigene Orakelkunst täuscht ihn.“ 18 Met. 1,515–518: mihi Delphica tellus / et Claros et Tenedos Patareaque regia servit; / Iuppiter est genitor; per me, quod eritque fuitque / estque, patet; per me concordant carmina nervis – „Mir dient das delphische Land und Claros und Tenedos und das patareische Reich; Jupiter ist mein Vater; durch mich besteht Einsicht in alles, was sein wird und war und ist; durch mich erklingen harmonisch die Lieder auf den Saiten.“ 19 Der Leser betrachtet sie durch die Augen des Apoll und so kann nicht eindeutig entschieden werden, ob sie tatsächlich zustimmt oder dies nur seine Deutung aus Tätersicht ist. Wahrscheinlich ist die Geste allerdings so zu verstehen, denn auf gleiche Weise drückt auch in met. 6,780 eine Dryade Bejahung aus. 20 Vgl. Tsitsiou-Chelidoni 1999, 291f.
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einen Senatsbeschluss vom 16. Januar 27 vor die Tore des Palasts des Augustus gepflanzt worden sind,21 aus seiner eigenen Lebenswelt und wird bereits zu Beginn des Werkes darauf eingestimmt, die Mythen als frühen Teil ebenderselben Welt zu verstehen, in der er sich selbst bewegt und deren lang vergangene Ereignisse ihm daher in ihren Folgen noch immer sichtbar sind, bzw. sich dieses damals selbstverständliche Mythenverständnis für den vorliegenden Text explizit zu vergegenwärtigen.
.. Metamorphosen und ihre Konsequenzen Um die zahlreichen Verwandlungsschilderungen in den Metamorphosen tatsächlich als Geschehnisse und Ergebnisse in einer kohärenten Werkwelt verstehen zu können, darf auf der Handlungsebene kein Bruch geschehen, der diese Zeugnisse wieder komplett zerstört. Aus diesem Grund ist es plausibel, warum sich schon kurz nach der Schöpfungserzählung im ersten Buch die Zeitalter in einer stark gerafften Erzählzeit abwechseln, Jupiter bereits unmittelbar nach der Einführung der ersten namentlich genannten menschlichen Protagonisten die ganze Menschheit und Schöpfung schon wieder in einer Sintflut vernichtet und sogleich eine erneute Schöpfung der Welt in die Wege leitet. Geschähe die Sintflut erst im späteren Werkverlauf und erst nach der Schilderung verschiedener Mythen, so wären zumindest die fragileren, nicht wasserfesten Ergebnisse aus der Welt wieder ausgelöscht und würden keinen Teil der Weltordnung hinterlassen, deren Darstellung doch gerade daraus ihren Reiz gewinnt, dass jede Erzählung wieder auf den Spuren vorangegangener Ereignisse aufbaut. Dennoch enthalten bereits diese Schöpfungserzählungen – trotz ihrer partiellen Aufhebung und Nachkorrektur durch schöpfende Personen auf der Handlungsebene wie Jupiter22 und Prometheus (met. 1,76–88), die Entstehung von Menschen aus dem Gemisch von Erde und Gigantenblut (met. 1,154–162), die Steinwürfe von Pyrrha und Deucalion zur Neuschöpfung der Menschheit (met. 1,375–415) in Kombination mit der gleichzeitigen Urschöpfung aus Erdschlamm
21 Ludwig 1965, 20. Vgl. Cassius Dio 53,16,4 und für weitere Belege Bömer zur Stelle sowie Tsitsiou-Chelidoni 1999, 281 mit Diskussion in Fn. 22. 22 Met. 2,401–403 über Jupiter nach dem Weltenbrand durch Phaetons Absturz: At pater omnipotens ingentia moenia caeli / circuit et, ne quid labefactum viribus ignis / corruat, explorat – „Aber der allmächtige Vater geht die gewaltigen Mauern des Himmels ab und untersucht sie, damit nicht irgendetwas, was durch die Feuersbrunst brüchig geworden ist, einstürzt.“
46 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte für alle weiteren Lebewesen23 und die Erdschöpfung des Echion24 – ‚echte‘ Metamorphosen der Weltgeschichte im Sinne einer nachhaltigen und auseinander folgenden Veränderung vom Vorher zum Nachher.25 Dies zeigt sich sprachlich z.B. an Formulierungen wie Iuppiter antiqui contraxit tempora veris (met. 1,116).26 Strukturelle Veränderungen der Welt wie die Jahreszeitenaufteilung oder die Neuordnung in Klimazonen (met. 1,61–68) werden auch durch die vollständige Flutung der Welt und die Vernichtung (fast)27 aller Lebewesen nicht wieder 23 Met. 1,416–137. – In Wortlaut und Inhalt sehr ähnlich ist die Beschreibung der Urzeugung bei Apoll. Rhod. 4,676–680. Dort hält sich Circe Mischwesen, die, so der Erzähler der Argonautika, solchen schlammgeborenen Wesen ähneln. 24 Vgl. zur Bedeutung der rückblickenden Erwähnung dieser Genealogie im Kontext von Pentheusʼ Charakterisierung Tsitsiou-Chelidoni 1999, 300f. 25 Dies bestreitet Schmidt 1991, 20–24. Auch Wheeler 2000, 21f. sieht zumindest vereinzelt Widersprüche wie bei der Darstellung der Menschenschöpfung. Diese entstehen seiner Ansicht nach bei der Umsetzung von Ovids Versuch, auf verschiedene Traditionen zu verweisen, die nebeneinanderstehen, wobei aber unklar werde, welche Version nun als auf Handlungsebene gültig angenommen werden solle. Vgl. dagegen aber Kap. 3 und 4.1.3 zur Markierung der Unzuverlässigkeit des werkimmanenten Primärerzählers sowie Horstmann 2014, passim und ferner Michael von Albrecht 2016, 98. 26 „Jupiter zog die Zeiten des vormaligen Frühlings zusammen“. Wolkenhauer 2012, 221–235, hier 232, deutet diesen durch Jupiter vorgenommenen „Wurf in die Zeit“ als „Tat mit all ihren schmerzlichen Folgen“ wie etwa der Unkalkulierbarkeit von Lebenszeit: „Der Frühling ist immer zu kurz.“ 27 Selbst die Sintflut führt womöglich zu keiner vollständigen Auslöschung aller bisheriger Wesen. Einzelne Kreaturen können auch die Sintflut überlebt haben und somit im späteren Werkverlauf als weiterhin existent und sogar genealogisch relevant angenommen werden; zumindest wird im Gegensatz zur Auslöschung der Menschen (bis auf Deucalion und Pyrrha, met. 1,324– 326.: Iuppiter ut [...] superesse virum de tot milibus unum / et superesse vidit de tot modo milibus unam – „Als Jupiter sah, dass aus so vielen Tausend nur ein Mann übrig war und aus so vielen Tausend nur eine Frau“) nicht aufgelöst, ob die schwimmend oder auf erhöhten Positionen verharrend dargestellten Tiere (met. 1,299–308) in der Folge alle sterben oder ob sie sich retten und später wieder die Erde bevölkern können. – Weitere Wesen werden neu oder von Neuem (met. 1,436f.: partimque figuras / rettulit antiquas, partim nova monstra creavit – „Die Erde brachte teilweise alte Gestalten hervor, teilweise erschuf sie neue Wunderwesen“) im warmen Schlamm erzeugt – eine Schöpfungsart, die an sehr viel späterer Stelle vom Philosophen Pythagoras referiert wird und auch dem Leser aus anderen naturwissenschaftlichen Lehren (vgl. Ludwig 1965, 16f. mit Verweis auf Diod. 1,7) bekannt ist. Diese Art der von Gaia ungewollten (met. 1,437) Zeugung aus dem Schlamm der Sintflut ist etymologisch gut vereinbar mit dem „Fäulnisdrachen“ Python (Ludwig 1965, 17, der die Schilderung der Erdzeugung auch damit erklärt, dass so ein „würdiges Gegenstück“ zu Jupiters Sieg über die erdgeborenen Giganten geschildert werde). Interessant ist auch, dass diese Art der Zoogenese nicht nur dem Erzähler und später Pythagoras bekannt ist (met. 1,416–437), sondern dass Jupiter sie bereits zum Zeitpunkt dieses Phänomens als Ausrede verwendet: So lügt er Juno an, dass die in eine Kuh verwandelte Io spontan, also ohne Zutun
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aufgehoben und sind somit als Teil der prähistorischen Weltgeschichte zu lesen. Kurz vor der Flutung der Erde verspricht Jupiter den besorgten Mitgöttern, die nach der Gestaltung der in Zukunft menschenleeren Erde fragen (terrae mortalibus orbae / forma futura, met. 1,247f.), „eine Nachkommenschaft, die dem vorherigen Volk aufgrund ihres wundersamen Ursprungs unähnlich“ sei (met. 1,251f.: subolem [...] priori / dissimilem populo promittit origine mira). Es handelt sich also zwar um neue Menschen, aber um suboles, also um artverwandte, aus dem alten Geschlecht hervorgehende Nachkommen – und nicht bloß um einen Ersatz, eine Ablösung oder Vertreterschaft einer völlig neuen Qualität.28 Obwohl es also mehrere Anläufe gibt, die Welt zu erschaffen, wieder auszulöschen und wieder zu erschaffen, bauen sie auf der Handlungsebene fortlaufend, gewissermaßen ‚perpetuierend‘, aufeinander auf als Neuordnung bereits erwähnter Teile. 29 Liest man auch die anderen Verwandlungserzählungen so, dass ihre Ergebnisse im weiteren Werkverlauf bestehen bleiben und ggf. noch einmal handlungsrelevant werden oder zumindest als Teil der jeweiligen Handlungshintergründe mitgedacht werden, mag sich ein besonders spitzfindiger Leser 30 rückblickend eine Frage zur Kosmogonie stellen: War diese erste Schöpfung eine vollständige oder fehlten noch einige Kreaturen wie z.B. Frösche, Spinnen und Narzissen, die erst im Laufe der Geschichte durch die Bestrafungen der lykischen Bauern (met. 6,370–381) und Arachne (met. 6,139–145)31 oder den irgendeines Schöpfers, aus Schlamm entstanden sei, met. 1,615f.: Iuppiter e terra genitam mentitur, ut auctor / desinat inquiri – „Jupiter erzählt die Lüge, dass sie aus der Erde gezeugt worden sei, damit sie aufhört, nach ihrem Schöpfer zu suchen.“ 28 Anders versteht die Schöpfungserzählungen Schmidt 1991, 15. Ihm zufolge bezeichnen die Formulierungen subiit, successit und ultima im Unterschied zu anderen Metamorphosenschilderungen keine Wandlung eines Zustands in einen anderen unter Beibehaltung von zentralen Eigenschaften, sondern vielmehr eine Ablösung eines Zustands durch einen davon qualitativ grundverschiedenen. 29 Dies zeigt auch mit Blick auf die Repetition und Variation von Motiven Wheeler 2000, 32–47, zur Kosmogonie und Sintflut besonders 32–37. Beispielsweise mischt Prometheus wieder genau die Elemente zum Menschen zusammen, die vorher vom ersten Schöpfergott feinsäuberlich getrennt worden waren (met. 1,82f.). Solche Repetitionen fallen allerdings meist nicht mit der hier gezeigten Kohärenz auf der Handlungsebene zusammen. Vgl. zu den anthopologischen Konsequenzen dieser Elementmischung Schmidt 2021, 54–59 und passim. 30 Schmidt 1991, 21 schreibt hierzu: „[W]ir hätten uns den Schöpfergott mit dem Register der Metamorphosen zu denken, welche Naturwesen noch nicht bei der Weltschöpfung ins Sein kommen durften, nicht der Lorbeer und nicht die Hyazinthe, nicht die Spinne und nicht der Wolf.“ 31 Auch in einer Geschichte, deren Handlung zeitlich vor der Verwandlung der Arachne spielt, wurde in met. 4,178f. eine Spinne erwähnt. Dies geschieht allerdings innerhalb der Figurenrede der Minyastochter Leuconoe, die – mit dem gleichen Bild wie der Herold am Phäakenhof in Hom. Od. 8,279–281 – das kunstvoll geschmiedete Netz beschreibt, mit dem Vulcanus das Liebespaar
48 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte „Selbstliebeskummer“ des Narcissus (met. 3,40–493) hinzukommen? Wenn zweiteres, wieso erläutert der Pythagoras des 15. Buches ausgerechnet die Entstehung von Fröschen aus Schlamm und weitere bereits erzählte Metamorphosen noch einmal auf andere Weise? Soll er damit als uninformierter oder gar lügnerischer Gelehrter bloßgestellt werden oder sollen beide Schöpfungsarten als gleichwertig charakterisiert werden?32 Tatsächlich gibt der Text auf diese Frage – nämlich nach der Originalität von Metamorphosen – keine eindeutige Antwort bzw. es scheint sogar so, als sei die Frage von Verwandlung zu Verwandlung verschieden zu beantworten.33 Über die erste Menschenmetamorphose, Lycaons Verwandlung, heißt es zunächst noch recht deutungsoffen fit lupus (met. 1,237), also nicht etwa fit primus lupus.34 Allein dass die Betonung der Erstmaligkeit und Ursprünglichkeit fehlt, kann jedoch keine Auskunft geben, ob es sich bei ihm um den allerersten Wolf handelt oder bloß um einen neuen unter vielen etablierten. Noch im gleichen Buch schwimmt dann in der Sintflutschilderung ein einzelner Wolf zwischen Schafen in den Fluten. Noch immer bleibt dabei unklar, ob es sich hierbei um Lycaon persönlich handelt, und wenn ja, ob er noch der einzige Wolf auf Erden ist und ob er überleben wird. Doch selbst wenn man diese Darstellung so versteht, dass ausgerechnet er als Auslöser für die Kollektivstrafe für das eiserne Zeitalter die Sintflut überlebt und ungesühnt bleibt,35 so erklärt sich dadurch immer noch nicht plausibel, wie ein einzelner männlicher Wolf Nachkommen zeugen kann, die in der Folge die Welt bevölkern.
Venus und Mars auf frischer Tat im Bett ertappt. Die Sprecherin kann also Spinnen kennen und als Gleichnis heranziehen, selbst wenn es zur Zeit der Handlung tatsächlich noch keine Spinnen gegeben haben sollte. Tsitsiou-Chelidoni 1999, 279f. weist darauf hin, dass die erste Erwähnung einer sprichwörtlich kunstfertigen Weberin und nicht zuletzt auch der Kontext des Gleichnisses, dass mit einem Werk selbst Götter besiegt werden, der Leser bereits auf die Arachnegeschichte voreingestimmt wird. 32 Eine „ironische Relativierung [der] Entstehungsmythen“, die erst im Gesamtkontext des Werkes verstanden werden kann, sieht in der Pythagorasrede beispielsweise Tsitsiou-Chelidoni 1999, 292. 33 Schmidt 1991, 20f. schätzt Widersprüche sogar generell als unvermeidlich, aber irrelevant ein, 21: „Die Verarbeitung verschiedener Quellen und poetisches Spiel führten leicht zu solchen ‚Widersprüchen‘, die aber den Dichter nicht kümmerten und den unbefangenen Leser nicht störten.“ 34 „Er wird zum [ersten] Wolf.“ 35 Anderson 1989, 98. Da an anderen Stellen tragische Ironie selbst kleinerer Schicksale weit deutlicher betont wird, scheint es jedoch unwahrscheinlich, dass ausgerechnet der Kontrast von Weltvernichtung als Kollektivstrafe, beschlossen durch ein Göttergericht, und einem ihr nur zufällig entwischenden nassen Wolf, so beiläufig zur Darstellung kommt.
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Im zweiten Buch finden sich diese Fragen deutlicher beantwortet. Nach Callistos Verwandlung in einen Bären im zweiten Metamorphosenbuch heißt es (met. 2,494f.): ursaque conspectos in montibus horruit ursos / pertimuitque lupos, quamvis pater esset in illis.36 Callisto ist nach ihrer Verwandlung also nicht die erste Bärin der Weltgeschichte, wenn sie bereits direkt nach ihrer Mutation Furcht vor weiteren Bären, die in den Bergen leben, verspürt und diese also in ihrer Figurenperspektive auf die sie umgebene Werkwelt bereits aus eigener Erfahrung kennt. Da zudem Callisto und ihr Sohn gleich nach ihrer Verwandlung in Bären als Sternbilder an den Himmel erhoben werden, ist es handlungslogisch auch wieder gar nicht möglich, dass sie die Vorfahren aller Bären auf Erden bilden. Sie, eine Nachfahrin des Lycaon (vermutlich noch zu seinen Menschseinszeiten gezeugt, wobei sich da aber wieder die Frage stellt, wie die Genealogie über die Sintflut aufrechterhalten werden konnte),37 kennt außerdem weitere Wölfe, unter denen er ein Rudelmitglied ist.38 Auch die Wölfe, so kann man rückblickend schließen, haben offenbar nicht nur den einzigen Ahnherren Lycaon. Analog hierzu sind die lykischen Bauern also auch nicht die ersten Frösche der Welt, sondern wurden zu neuen Fröschen unter vielen verwandelt, die bereits die Tümpel bevölkerten. Die Verwandlung von Männern in Hyazinthen soll sogar gleich zweimal erzählt werden (vgl. Kap. 12.4).39 Auch die Verwandlung junger Männer in Schwäne gibt es zweimal (met. 2,267–280; met. 12,143–145); bei der zweiten Verwandlung kommentiert der Primärerzähler, dass Cycnus durch den Meergott in den weißen Vogel verwandelt werde, dessen Namen er schon vorher trug (met. 12,144f.: corpus deus aequoris albam / contulit in volucrem, cuius modo nomen habebat). Nicht zuletzt gab es schon vor der Verwandlung von Niobe in einen Felsen40 bereits andere Steine auf der Welt. Doch es finden sich auch Beispiele ‚echter‘ Neuschöpfungen wie in den Versen in met. 10,307–310. Hier leitet die Erwähnung von der Neuheit verschiedener Bäume (met. 10,310: nova [...] arbor) die Erzählung von Myrrha ein. Und wie auch
36 „Und die Bärin erschauderte beim Anblick der Bären in den Bergen, und sie fürchtete die Wölfe, obwohl doch ihr Vater unter diesen war.“ 37 Diese Frage bleibt entsprechend auch bei Wheeler 1999, 128–130 sowie Horstfall 2014, 190 unbeantwortet. 38 Schmidt 1991, 21 schlägt vor, dass in illis hier bedeutet, dass ihr Vater Lycaon „in ihnen“ als metaphorische kollektive Eigenschaft erhalten geblieben war, so wie auch Tugenden und Laster mit „in“ und Ablativ einer Person zugeordnet werden können. Möglicherweise sei dies als Zweideutigkeit beabsichtigt gewesen. 39 Da diese Dopplung allerdings eigens thematisiert wird, scheint sie nicht selbstverständlich zu sein. 40 Met. 6,303–312.
50 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte der Rabe neu dunkel gefärbt wird, haben auch die Federn von Pfauen erst durch Argusʼ Tod ihre augenähnliche, bunte Farbe erhalten, wie der Leser in met. 2,533–535 rückblickend für die Arguserzählung in met. 1,722f. erfährt. Es muss vom Leser offenbar fallweise entschieden werden, ob es sich jeweils um eine Ursprungsverwandlungssage handelt oder um die Schilderung einer Verwandlung in etwas bereits Bekanntes. Wenn also explizite Markierungen wie tum primus o.ä. fehlen und überhaupt mit keinem Wort erwähnt wird, dass es sich bei einer geschilderten Verwandlung um eine Urschöpfung handelt, darf der Leser davon ausgehen, dass es die neue Art in ähnlicher Form bereits vorher gab und in der zukünftigen Erzählzeit in größerer Zahl geben wird, als es fortpflanzungslogisch betrachtet nach einer erstmaligen Schöpfung plausibel wäre. Ob nun ursprünglich oder nicht: Ergebnisse aitiologischer Metamorphosen, die andere Figuren oder sogar die Leser selbst später als Teil ihrer Welt erleben, gibt es zuhauf.41 Im Folgenden sollen nur einige wenige vorgestellt werden, um einen Eindruck ihrer Vielfalt zu geben. So sehen die Trojaner die erst kurz vor ihrem Passieren in einen Felsen verwandelte Scylla 14,73–74: [...] ni prius in scopulum, qui nunc quoque saxeus exstat / transformata foret; scopulum quoque navita vitat.42 Dieser Felsen ist also den Trojanern, aber auch dem Leser aus seiner eigenen Lebenswelt an der Meerenge von Sizilien bekannt, ebenso der Felsen, der aus der Versteinerung des Lichas entstanden ist. 43 Auch der sogenannte „Indexstein“ aus der Erzählung über Battus ist zur Zeit des angesprochenen Publikums noch zu sehen (met. 2,706: nunc quoque).44
41 Vgl. auch Tsitsiou-Chelidoni 1999, 298: „In manchen Fällen erfolgt die Einstimmung des Lesers allerdings nicht ausschließlich durch die Vergegenwärtigung einer in einem früheren Buch erzählten Geschichte, sondern (auch) durch die Aktivierung der eigenen Vorkenntnisse und Erfahrungen.“ 42 „Wenn sie nicht vorher in einen Felsen verwandelt worden wäre, der auch heute noch steinern aufragt; den Felsen meidet der Seefahrer auch jetzt noch.“ 43 Met. 9,226–229: nunc quoque in Euboico scopulus brevis eminet alto / gurgite [...], quem [...] nautae calcare verentur / appellantque Lichan – „Auch jetzt noch ragt eine kurze Klippe im euboischen Meer in einem Strudel hervor, den die Seeleute aus Furcht nicht betreten und den sie Lichas nennen“. Hier und auch an anderen Stellen äußern sich die erzählenden Figuren allerdings skeptisch, ob ihre eigene Erzählung angesichts einer unsicheren Überlieferung überhaupt stimmt, vgl. Horstmann 2014, 217: „[Die Erzählerfigur] zeigt [...] sich speziell gegenüber dem Versuch, eine Kontinuitätslinie zwischen Mythos und Gegenwart aufzustellen, zurückhaltend und skeptisch“, oder Anderson 1972, 288: „Since, however,[Ovid] seems to express his skepticism about the whole tale, he here also implies his doubts in the etymology: only rustics would be that simple-minded.“ 44 „Auch jetzt noch“. Solche Ergebnisse der dargestellten Ereignisse bis in die Zeit des Adressaten finden sich auch bei Apollonios recht oft, z.B. Apoll. Rhod. 1,953–960 und 1019f.
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Der Flussgott Achelous trägt zur Zeit der Primärerzählung in met. 8,881–9,3 sowie 9,96f. ein abgebrochenes Horn und erzählt seinem Zuhörer Theseus in met. 9,4–88 rückblickend,45 wie es dazu kam. Als das Horn im Kampf gegen Hercules abgebrochen sei, haben Najaden es mit Früchten und duftenden Blumen gefüllt (met. 9,82–88). So ist das symbolische Füllhorn Bona Copia entstanden, das dem Leser aus anderen Kontexten der eigenen Lebenswelt bekannt ist und das direkt im Anschluss an die rückblickende Figurenerzählung auch in der Handlung der Primärerzählung gegenwärtig wird:46 Eine Dienerin des Flussgottes serviert in eben diesem Füllhorn Früchte (met. 9,89–92), wodurch das Horn innerhalb weniger Verse in insgesamt drei Zeitebenen präsentiert wird.
.. Vor- und Rückverweise Oftmals bauen die Erzählungen in den Metamorphosen nicht bloß rückblickend aufeinander auf, sondern es werden auch Verweise auf Geschichten vorweggenommen, die auf der Handlungsebene erst später vorkommen und den Figuren zum aktuellen Erzählzeitpunkt entweder gar nicht oder nur in Form von noch unverständlichen Prophezeiungen bekannt sind. Diese Prolepsen verleihen dem Leser in vielen Fällen einen Wissensvorsprung gegenüber den Figuren und haben oft die Funktion von Ironie oder Tragik. Wenn Narcissusʼ Eltern die Prophezeiung, ihr Sohn werde glücklich sein, solange er sich nicht selbst erkenne, aus ihrer Figurensicht noch nicht verstehen können, empfindet der Leser, der den Ausgang der Erzählungen aus anderen Werken kennt (oder nach der erstmaligen Lektüre die Prophezeiung rückblickend verstehen wird), die Tragik des Geschehens. Ebenso fungiert die für Polyphem und die Erzählerin Galatea noch unverständliche und daher nicht ernst
(Ankersteine bzw. Anlegepoller noch heute erhalten); 1,1061f. (das Grab des Kyzikos bleibt sichtbar); 1,1075–1077 (weitere Gräber bleiben erhalten); 2,841–857; 1,1138f., 2,524–530; 2,694–719 u.a. (Entstehung von Riten wird geschildert); 1,1065–1069 (Verwandlungsmythos als Quellenaition). In Verg. Aen. 8,190–192 macht der Erzähler Euander seinen Zuhörer Aeneas auf die verstreuten Felsbrocken aufmerksam, die seit dem Kampf des Hercules gegen Cacus und der Sprengung von dessen Höhle zu bestaunen sind. – Vgl. zu sichtbaren Ergebnissen von Aitienerzählungen auch Waldner 2014. 45 Dass er in diesem Rückblick etwas unsystematisch mit der Chronologie umgeht, ohne sich dabei aber in wirkliche Widersprüche zu verwickeln, bemerkt Tsitsiou-Chelidoni 1999, 287. 46 Ähnlich geht der Gastgeber Euander in Verg. Aen. 8,273–275 nach seiner Erzählung von Hercules Kampf mit Cacus direkt zum Auftragen eines Trankopfers über – hier allerdings, um Hercules anschließend in noch weiteren Kulthandlungen zu preisen.
52 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte genommene Prophezeiung des Telemus (Met. 13,771–777), ein Odysseus werde dem Cyclopen sein Augenlicht rauben, erst durch ihr Unverständnis tragisch. Erzählt wird der Akt seiner Blendung innerhalb des Werkes gar nicht mehr, doch der Anblick der Wunde wird aus Sicht des Augenzeugen Achaemenides in met. 14,189 und 200 beschrieben.47 Met. 8,309 (magni creator Achillis) kündigt Achills Zeugung durch Peleus an, während dieser zur Handlungszeit noch Seite an Seite mit seinem aktuellen Schwiegervater Eurythion kämpft und eine erneute Vermählung für die Protagonisten selbst noch nicht erahnbar ist. Die Verbindung von Thetis und Peleus wird erst im elften Buch auf Ebene der Primärhandlung erzählt. Umgekehrt wird Caenisʼ Verwandlung in einen Mann im achten Buch bereits als vollzogen bemerkt (met. 8,305: et iam non femina Caeneus – „und Caeneus, keine Frau mehr“), doch rückblickend von Nestor erst in met. 12,171–535 erzählt. Die in met. 3,97f prophezeite Verwandlung des Cadmus wird met. 4,571–575 auserzählt,48 doch die in met. 8,372 angekündigte Apotheose der Dioskuren (gemini, nondum caelestia sidera, fratres) wird im Laufe der gesamten Erzählung unaufgelöst bleiben. 49 Manche Andeutungen werden also aufgelöst, an anderen Stellen bleiben einzelne Fäden der Erzählung offen. Diese Erzählstrategie wird in der Forschung verschiedentlich zu erklären versucht. Während Little 1972 sie für ein Zeichen der „verhältnismäßig lockeren Struktur“ der Metamorphosen ansieht, 50 schlägt Tsitsiou-Chelidoni 1999 als Erklärung vor, dass durch das gelegentliche Einflechten solcher unaufgelöster Andeutungen die Spannung der Erzählung erhöht werde, da sich der Leser nicht darauf verlassen könne, dass jede Erzählung auch wirklich zu ihrem Ende geführt werde. Tatsächlich wiederaufgegriffene Erzählstränge profitieren ihrer Ansicht nach dadurch, da sie mit einer größeren Ungewissheit erwartet und als Überraschung bemerkt werden. An diesen Stellen kann auch intertextuelles Vorwissen des Lesers dazu führen, dass er die Voraussetzungen oder Leerstellen einer Erzählung selbst schließt.51
47 Vgl. Kap. 13.3 und 15. 48 Vgl. hierzu auch Wheeler 2000, 50f. 49 „Die Zwillingsbrüder, noch keine Sterne am Himmel“. Auserzählt kann der Leser diese Erzählung kennen u.a. aus Theokrit id. 22,137–211; Ov, fast. 5,697–720; met. 12,210–241, ferner met. 5,1–12; 30–37. Vgl. Tsitsiou-Chelidoni 1999, 286 mit Fn. 36. 50 Little 1972, 75. 51 Vgl. Tsitsiou-Chelidoni 1999, 280; 282–284; 291 mit Fn. 47 und 298f.: Spannung werde demnach durch Vorausdeutungen nicht nur für unkundigen, sondern auch für die vornehmlich literarisch gebildeten Leser erzeugt, die den Ausgang einer Erzählung bereits kennen (mit Bezug auf Duckworth 1933, 44). Oft bleibe dabei unklar, womit der Dichter mehr rechne: mit mythologischen Vorkenntnissen oder einer kontinuierlichen, aufmerksamen Lektüre des vorliegenden
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Rom mit seinen Geschichten bildet einen explizit erzählten Teil der späten Metamorphosenwelt, doch Bezüge auf das spätere mythische oder auch zeitgeschichtlich-aktuelle Rom finden sich auch schon zu frühen Zeitpunkten der Primärhandlung. Ähnlich wie der Lorbeer laut Apolls Prophezeiung einmal für Augustus bedeutsam sein soll (met. 1,562f.), so entstehen auch Bernsteine, so der Kommentar des Primärerzählers, bereits mit der Bestimmung, einmal latinische Frauen zu schmücken (met. 2,364–366: stillata [...] electra [...] nuribus gestanda Latinis. – „Bernsteintropfen, den latinische Frauen tragen sollen“). Bereits in met. 2,259, zur Zeit des Phaethon, wird der Tiber als späterer Weltenherrscher genannt. In met. 15,746–761 wird als Caesars größte Leistung gelobt, dass er seinen Nachkommen Augustus hervorgebracht habe (met. 15,750: sua progenies).52 Mancherorts werden in Gleichnissen Vergleichsgegenstände genannt, die auf der Ebene der Handlung noch nicht existieren und einen gedanklichen Zeitsprung in die Zukunft bedeuten. In diesem Sinne handelt es sich bei dem Größenvergleich des calydonischen Ebers zu epirotischen und sizilischen Stieren um einen Anachronismus, weil diese Stiere erst zu Augustusʼ Zeit gezüchtet wurden.53 Dasselbe Prinzip liegt bei dem Vergleich ehemals weißer Rabenfedern mit den kapitolinischen Gänsen beim Galliersturm vor,54 in den Vergleichen zwischen dem Olymp und dem augusteischen Rom (met. 1,176 und 1,200–205) oder im Vergleich von aus dem Boden wachsenden thebanischen Männern mit einem in römischer Art hochgezogenen Theatervorhang (met. 3,111–114). Doch selbst, wenn die Figuren innerhalb der Erzählung die Vergleiche nicht verstehen würden,
Werkes (Tsitsiou-Chelidoni 1999, 291, vgl. auch 293f.; 296 und 298). Tsitsiou-Chelidoni tendiert in den meisten von ihr untersuchten Fällen dazu, dass der Autor auf eine aufmerksame Lektüre und das Bemerken intratextueller Bezüge zähle (291 mit Fn. 48 und 196 mit Belegen für wörtliche Anklänge vorheriger Passagen in Fn. 59). Weitere Vergleiche von Ovids spezifischer Darstellungsart von Kohärenzen „unter dem Aspekt dieser Technik zu der früheren literarischen Tradition“ (302) konnte Tsitsiou-Chelidoni im Rahmen ihrer Arbeit leider nicht vornehmen. An dieser Stelle sei hierzu angemerkt, dass auch Apollonios in der Art einer Praeteritio Geschichten lediglich andeutet und nicht mehr selbst auserzählt, z.B. in Apoll. Rhod. 1,919–921 und 1,1220. 52 Ähnlich würdigt auch der Primärerzähler der Aeneis bereits zum Handlungszeitpunkt von Aeneasʼ Irrfahrt seine labores als gelungene Leistung einer früheren Zeit mit dem Ziel, Rom zu gründen, und stellt dies sogar grammatisch im Imperfekt als Rückschau dar, Verg. Aen. 1,43: tantae molis erat Romanam condere gentem – „So große Mühe kostete es, das römische Volk zu gründen“. 53 Met. 8,281–283. Vgl. Anderson 1972, 360; Bömer 1977, 103; Hill 1992, 227, Tsitsiou-Chelidoni 2003, 189f. Mit Anm. 476. Vgl. Horstmann 2014, 266 mit Fn. 535. Setzt man die sizilischen Stiere allerdings mit den thrinakischen Heliosrindern gleich, stammt auch dieses Bild aus der mythischen Zeit (Hom. Od. 12,127–141; Apoll. Rhod. 4,965). 54 Met. 5,538f. vgl. Livius 5,47,4.
54 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte bestünde hier kein Widerspruch in der Handlungs- und Wissenslogik: Der Primärerzähler selbst besitzt schließlich Einblicke in die Lebenswelt eines augusteischen Römers und somit einen Wissensvorsprung gegenüber den Figuren zur jeweils erzählten Zeit, der alle diese Diskrepanzen erklärt. Dies gilt ebenso für ‚anachronistische‘ Gleichnisse in den Erzählungen anderer Figuren wie etwa im Spinnengleichnis in der Figurenrede der Minyastochter Leuconoe.55
.. Epochen und Zäsuren In einem Gedicht über Verwandlungen spielt der Faktor Zeit als Voraussetzung für Veränderungen eine bedeutende Rolle, und so kommt er gleich in den ersten Versen zur Darstellung und wird abschließend in der Rede des Pythagoras noch einmal aus seiner Figurensicht als Philosoph behandelt.56 Im Vorzustand des Chaos gibt es noch keine Zeitenfolge im Wechsel von Tag und Nacht (met. 1,10f.).57 Als übergeordnete Einteilung der Zeit werden erst im Laufe der Zeitalter 58 zunächst die Jahreszeiten geschaffen und immer weiter ausdifferenziert (met. 1,107f.: 116–118). Auch in der Ekphrasis in Sols Sonnenpalast bestaunt Phaethon Darstellungen der Zeiteinteilung in Jahre und ihre Jahreszeiten, in Jahrhunderte, Monate, Tage und Stunden59 (met. 2,25–30); alle diese Zeiteinheiten kommen im Laufe des Werkes auch als Hintergrund der einzelnen Erzählungen vor. Am Proömium und an Daphnes Beispiel wurde gezeigt, dass die narrativen Zeitsprünge in Prolepsen und Analepsen gewaltige Dimensionen in einem fließenden, kohärenten Zeitkontinuum einnehmen können. Es gab allerdings zugleich auch die Vorstellung von Zäsuren und Epochen innerhalb dieser kontinuierlich verlaufenden Zeit. In der Forschung wurde vielfach eine grobe Einteilung in die Epochen der Götterzeit, der Heldenzeit und der historischen Zeit festgestellt
55 Met. 4,178f., vgl. Kap. 9.2 und Tsitsiou-Chelidoni 1999, 279f. 56 Vgl. Hopkinson 2000, 3. 57 Wheeler 2000, 12–23 zeigt, wie im Metamorphosentext einzelne „‚Snapshots‘ or ‚sudden moments in time“ bei der Schöpfung dargestellt werden, statt wie bei Lukrez als evolutionäre Sequenz auserzählt zu werden – Lücken zwischen den Ereignissen kann ein Leser sich bei Kenntnis des epikureischen Lehrgedichts aus diesem ergänzen. 58 Inwiefern das Fehlen zeitlicher Abfolge bzw. die „Aufhebung der Zeit“ im Fall der Zeitalter in den Metamorphosen sogar die Bedingung der Möglichkeit des utopischen Zustandes darstellt, zeigt Wolkenhauer 2012, 221–235, hier 230–233. 59 Die Horen werden als handelnde Personen u.a. als besonders flink agierende Stallmägde in Diensten des Sol dargestellt, met. 2,118.
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und im Einzelnen verschieden strukturiert und ausdifferenziert.60 Nach Varro beginnt die Epoche, in der die Überlieferung von Ereignissen „glaubhaft“ bzw. „wahrscheinlich“ ist, etwa mit der ersten Olympiade und Roms Stadtgründung,61 und selbst der ältere Cato, der sich selbst als hellenophob inszeniert, nimmt bei seiner Datierung der Gründung Roms auf den – seinerzeit vornehmlich in griechischen Texten dokumentierten – Fall Trojas Bezug.62 Trojas Fall als Zäsur und Beginn der eigenen römischen Geschichte zu sehen, hatte also zu Ovids Zeiten bereits eine lange Tradition.63 Diskussionen darüber, ob diese Zeit ab der Gründung Trojas entsprechend als „historische Zeit“ oder lediglich deskriptiv als „Troja und Rom“ betitelt werden sollte,64 sowie darüber, ob Rom nur den chronologischen Endpunkt oder vielmehr das Ziel der Erzählung darstellt,65 sind für die hier vorliegende Fragestellung allerdings müßig. Stattdessen soll der Fokus auf der Beobachtung liegen, dass diese Epochen in der damaligen Lebenswelt als ein ineinanderfließendes, durch Zäsuren lediglich andeutungsweise geordnetes Kontinuum wahrgenommen66 und in verschiedenen Kunstformen auch so zur Darstellung gebracht
60 Vgl. z.B. Wheeler 2000, 1–3 mit Fn. 5. Auch für den strukturellen Aufbau der Metamorphosen wird im Längsschnitt immer wieder nach einem Einteilungsprinzip in chronologische Abschnitte gesucht. Ludwig 1965 nimmt eine Dreiteilung in Urzeit, mythische Zeit und historische Zeit an. Zu diesem Schluss kommt er einerseits durch eine Strukturanalyse des Werks selbst, andererseits nimmt er an, dass Ovid bei seiner Werkkonzeption diese Dreiteilung analog zu den Weltgeschichten, die zur Entstehungszeit der Metamorphosen populär waren, in origineller Weise auf die Dichtung überträgt. Dieser Einteilung in drei Epochen widerspricht, leider ohne weitere Belege als dem Verweis auf das „Leseerlebnis“, Schmidt 1991, 80–82. Auch Fränkel 1970 (11945) und Galinsky 1975 sehen in Ovids erzählerischer Anordnung eher Anarchie als eine Chronologie. Ein gewisses Ordnungsprinzip nach Epochen sieht Otis 1966. 61 Bei Censor, de die nat. 30,1, vgl. Ludwig 1965, 79f. und Granobs 1996, 13f. 62 Vgl. Goldberg 2020, 167–184, hier 176. 63 Vgl. hierzu auch Myers 2009, 2; Coleman 1971, 472; Kenney 1986, 439; Feeney 1999, 15 und 19; Feeney 2007, 81–83. 64 Vgl. z.B. Granobs 1996, 10 mit Verweis auf Otis 1966, 278, Little 1972, 395 u.a. 65 So Ludwig 1965, 81; Little 1972, 393 ist der Ansicht, dass in Ovids Werk die Zeit Roms und des Augustus zwar Endpunkt, aber nicht Ziel und Zweck der Erzählungen ausmachen. Ähnlich Schmidt 1991, 82 und Granobs 1996, 12: so treffe dies auf Vergils Aeneis in höherem Maße zu aufgrund ihres „durchgehend sagenhistorische[n] Kontext“. Auch Andrae 2003, 256 kommt zu dem Schluss, dass „die in den Metamorphosen behandelte Zeitspanne lediglich zufällig mit dem augusteischen Prinzipat endet“ und damit einen bewussten Gegensatz bildet zu Vergils Aeneis, bei dem die augusteische Zeit „der intendierte Zielpunkt, das eigentliche Telos der epischen Handlung“ sei. Vgl. hierzu auch Rieks 1981; Kenney 2000, 114 sowie Schade 2001, 527. 66 Vgl. über die antike Vorstellung eines „linear gerichteten, gleichmäßig verlaufenden Zeitflusses“ Wolkenhauer 2012, 223.
56 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte wurden: Ahnenreihen zierten in Form von Wachsmasken die privaten Atria der Nobilität, um die Verbindung von Personen und Taten der Vergangenheit und der Gegenwart zu betonen. Horaz ehrt werkeinleitend seinen Förderer Maecenas, indem er ihn als Nachkommen altehrwürdiger Könige anspricht. 67 Dabei wurde keine Rücksicht auf große Zeitsprünge genommen: So standen auf dem im Jahre 2 v. Chr. fertiggestellten Augustusforum die summi viri verschiedener Zeiten in einer chronologischen Anordnung mit großen zeitlichen Lücken gleichberechtigt nebeneinander, von Aeneas über Romulus und die Könige von Alba Longa bis hin zu Mitgliedern der Gens Iulia und anderen zeitgeschichtlichen Prominenten.68 Vor Vergils Aeneis war es außerdem bereits jahrzehntelang in Mode, Epen auf Familiengeschichten zu verfassen und rückblickend ihre mythischen Vorfahren einzubeziehen.69 Uneinig ist sich die Ovidforschung nur darin, wie die ovidische hexametrische Weltgeschichte genau aufgebaut ist und ob sie in ihrem Aufbau harte Zäsuren erfährt oder nicht. Dass eine kausal möglichst widerspruchsfrei gehaltene, zusammenhängende Welt- oder Menschheitsgeschichte von Anbeginn der Zeit bis in die Ewigkeit vorliegt (so verschleiert die Chronologie durch Kunstgriffe dann wiederum auch gestaltet sein mag), steht, wie gezeigt wurde, außer Frage.
. Raumkohärenz .. Das Nebeneinander Dass die Geschichten in ihrer Chronologie kohärent auf- und auseinander folgen, wurde im vorangehenden Kapitel gezeigt. Zugleich wird an vielen Stellen des Textes deutlich, dass man sich die Welt auch als ein gleichzeitiges Nebeneinander von vielfältigen Orten vorzustellen hat, die teils relativ unabhängig voneinander existieren, öfter aber durch die darin spielenden Handlungen als miteinander verbunden dargestellt werden. Die meisten Erzählungen spielen auf griechischem Boden und einige auf italischem Grund, andere Erzählungen sind wiederum in dem Leser historisch 67 Hor. carm. 1,1,1. 68 Granobs 1996, 13 mit Fn. 21. Wie im augusteischen Zeitalter griechische Kunstwerke, sowohl in Bild als auch in Literatur, vielfach mit einer neuen politischen Symbolik aufgeladen wurden, untersucht mit einem Blick auf die historische Dimension von Intertextualität Alessandro Barchiesi im Jahr 2005. Zum Stil der öffentlichen Statuen als Repräsentationen verschiedener Epochen und zum Einfluss dieser Darstellungen auf Ovid vgl. Barchiesi 2005, z.B. 292f. und 301f. 69 Galinsky 2005, 344; Goldberg 2020.
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bekannten, aber ferneren Regionen wie Ägypten, Babylonien, Indien u.a. verortet. Wie in einem Epos mit Götterapparat zu erwarten, spielen viele Handlungen auch in übermenschlichen Gebieten wie dem Olymp, der Unterwelt, unter Wasser oder an anderen phantastischen, nicht näher lokalisierbaren Orten wie in den Wohnräumen von allegorischen Figuren oder Gottheiten. In diesem Kapitel wird gezeigt, durch welche Strategien in den Metamorphosen all diese Orte als kohärente Teile ein und derselben Welt dargestellt werden.
.. Die Weltregionen: Olymp, Erde, Meer, Sternenhimmel und Unterwelt Im Urzustand, der zeitlich noch vor der Weltgeschichte liegt, gibt es noch keine räumliche oder qualitative Verschiedenheit. Bei der ersten Schöpfung aus dem Chaos wird die Welt dann von „irgendeinem Gott oder der besseren Natur“ zunächst in die drei Bereiche Himmel, Erde und Wasser, das wiederum an den Himmel angrenzt, unterteilt (met. 1,21–23) und im Anschluss noch genauer ausdifferenziert. Diese grundsätzliche Dreifaltigkeit der Weltregionen wird im Laufe des Werkes noch häufig betont. Es gibt statische Orte, von denen aus man all diese drei Gefilde überblicken kann. So wird das Haus der Fama explizit als mittlerer Grenzpunkt zwischen den drei Regionen (confinia) Erde, Meer und Himmel beschrieben.70 Licht und Schall erreichen den Ort aus allen Richtungen, doch selbst ist er keinem Bereich zuzuordnen (met. 12,39–42): Orbe locus medio est inter terrasque fretumque / caelestesque plagas, triplicis confinia mundi; / unde quod est usquam, quamvis regionibus absit, / inspicitur, penetratque cavas vox omnis ad aures. 71 Der Olymp wiederum ist ein Teil des Himmels und bietet zugleich einen Überblick über die Geschehnisse auf der Erde.72 Sol entdeckt von seinem Wagen aus die Affäre von Mars und Venus,73 und auch Phaethon sieht vom Wagen aus alle
70 Dass ausgerechnet der allegorische Ort der unzuverlässigen Erzählung als Mittel- und Brennpunkt der Welt dargestellt wird, spricht in einem Werk, das im Wesentlichen aus Figurenreden konzipiert ist, für sich. – Darstellungen des zentralen Ortes, wo alle Regionen Erde und Meer, Himmel und Unterwelt angrenzen, finden sich schon bei Hes. Theog., 736–445 und 807–815; hier ist es im Gegensatz zur Metamorphosendarstellung ein grausiger, entlegener Ort, an dem die gestürzten Titanen gefangen gehalten werden. 71 „In der Mitte der Welt zwischen den Ländern und dem Meer und den himmlischen Gebieten gibt es einen Ort, den Grenzpunkt der dreifaltigen Welt; von dort kann man alles sehen, was irgendwo ist, auch wenn es sich woanders befindet, und jeder Laut dringt zu den Ohrmuscheln.“ 72 Z.B. met. 1,163. 73 Met. 4,171f.
58 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte Regionen der Erde zugleich – was ihn allerdings mehr erschreckt als freut.74 Allsehend ist man allerdings auch vom Himmel aus nicht, denn Wolken können die Sicht auf die Erde versperren.75 Darauf vertraut Jupiter, wenn er sich und Io vor Junos misstrauischem Blick unter Nebel verbirgt – was ironischerweise ihr Misstrauen überhaupt erst weckt (met. 1,559–606).76 Auch Mercur kann nur deswegen einen Blick auf Herse erhaschen, weil er unter der Wolkendecke fliegt (met. 1,729). Die Erde ist zwischen den Meeren zu lokalisieren.77 Erde und Unterwelt sind mit Blick auf ihre Regierungen zwar zwei verschiedene Verwaltungsbezirke,78 doch sie gehen fließend ineinander über. An den Grenzen schlägt Pluto mit seinem Zepter ein klaffendes Loch in den Boden (met. 5,420–424) und befährt so mit der entführten Proserpina einen Weg, den Arethusa in ihrer unterirdischen, aber wohl doch eher zur Erde gehörenden Quelle beobachten kann (met. 5,501–503). Eingänge zur Unterwelt gibt es traditionell mehrere an der Erdoberfläche, die zwar unwegsam, aber unter gewissen Umständen auch für Heroen begehbar sind.79 Das Meer grenzt sowohl an Himmel als auch an Erde an. Juno spricht in met. 2,514–517 davon, dass Oceanus und Thetys auch vom Meer aus den Sternenhimmel erblicken können. In Hom. Il. 1,348–351 setzt sich Achill vor Troja ans Ufer und betet zu seiner Mutter Thetis, die ihn tatsächlich sofort erhört und antwortet – doch eine so spontan gelingende Kommunikation über Regionsgrenzen hinweg ist auch in antiken Epen eher ein Ausnahmefall: In Vergils Aeneis bemerkt Neptun erst spät den Aufruhr der Sturmgötter und muss zunächst auftauchen, um sich eine Übersicht über die Geschehnisse zu verschaffen (Verg. Aen.1,124–130). In Hom. Il. 1,423–427 berichtet Thetis von der Reise der Götter vom Olymp zum Ozean in Äthiopien und zurück, die insgesamt zwölf Tage in Anspruch nimmt; 74 Met. 2,178f. und 227f. 75 Auch Lucifer verbirgt deswegen am Tag seinen Anblick durch Wolken, da er sonst immer am Himmel zu sehen wäre, met. 11,570–572. Somnusʼ Behausung ist unter Wolken verborgen, met. 11,591–586 76 Dies erinnert wiederum an Verg. Aen. 7,286–291, wo Juno ebenfalls von einem anderen Berggipfel aus, allerdings gerade aus ebendieser Flussgegend kommend (Inachiis [...] ab Argis), selbst in Wolken gehüllt und voll Wut die Flotte des Aeneas beäugt, und zugleich an Hom. Il. 14,342–345, wo Zeus Hera erklärt, dass nicht einmal Helios durch diese Wolke hindurchschauen könne. 77 Met. 1,23f.; 30f.; met. 2,272f. 78 Met. 5,379; 10,15; zum Meer als eigenem Machtbereich außerhalb von Jupiters Einfluss met. 1,274f. 79 In den Metamorphosen werden mehrere Eingänge in die Unterwelt genannt; vgl. zu den Katabaseis in den Metamorphosen Janka 2007.
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daher muss sie ihre Bitte an Zeus so lange aufschieben. Wäre er von überallher jederzeit erreichbar, wie sie es gerade für Achill war, müsste sie nicht auf die Rückkehr des Gottvaters warten. Hera wiederum hält Zeus im 14. Gesang der Ilias auf den Gipfeln des Idagebirges auf, um unbemerkt hinter seinem Rücken ins Kampfgeschehen einzugreifen, und hat damit auch Erfolg; im homerischen Demeter-Hymnos kann Helios die Hilferufe der entführten Persephone hören, aber ihren Vater Zeus nicht kontaktieren, da dieser entfernt von ihm in einem Tempel weilte. In vielen Vorgängerepen und -texten werden also Konflikte und die daraus resultierenden Handlungen erst durch dieses Nebeneinander und die begrenzte Übersicht nicht allwissender Protagonisten über verschiedene Handlungsräume möglich. Dies trifft auch auf die Metamorphosenerzählungen zu. Um handeln zu können, müssen sich alle Protagonisten – auch die Götter – durch den Raum von Weltregion zu Weltregion bewegen.80 Dies nimmt jeweils erzählte Zeit in Anspruch und erfordert bisweilen die Organisation von Gehilfen oder Hilfsmitteln. Recht einfach gestaltet sich dabei für Götter das Herabgleiten vom Himmel oder der Weg hinauf, häufig mithilfe eines Gefährts81 oder eines anderen Hilfsmittels.82 Manche Wege sind allerdings auch im Himmel schwerer zu meistern; so fürchtet Thetys jeden Tag von Neuem, dass Sol beim steilen Übergang vom Himmel ins Wasser abstürzt (met. 2,67–69). Auch der Himmel selbst bewegt sich, sodass Reisende dort die Drehbewegung der Pole ausgleichen müssen (met. 2,70– 75). Für Menschen oder andere Nichtgottheiten ist der Weg in den Himmel im Normalfall unmöglich.83 Doch nicht nur die Sonnengötter und Sterne auf ihren 80 In Il. 13,10–37 wird Poseidons Reise über Land, Meeresoberfläche und Meerestiefe zu Fuß und mit seinem Wagen ausführlich geschildert; sogar seine erderschütternden Schritte werden gezählt. Vgl. allgemein zum Motiv der Götterreisen auch von Albrecht 2014a, 95102 sowie von Albrecht 2016, 96–99. 81 Z.B. Juno ohne nähere Erläuterung ihrer Mittel in met. 1,607–609; in 2,531–533 fährt sie einen Wagen, der von Pfauen gezogen wird und der sie vermutlich auch den Rest ihres Reiseweges in die Tiefen des Meeres und zurück geführt hat. Ceres fährt einen von Schlangen gezogenen Wagen (met. 5,511f. und 642–647). Mercur erblickt Herse im Flug auf seinen Flügelschuhen, wendet in der Luft, verlässt dann den Himmel und landet bei ihr auf der Erde (met. 2,726–730, bes. 730: vertit iter caeloque petit terrena relicto). 82 Dazu zählen als bekannte Mittel Mercurs Flügelschuhe und auch der Pegasus (4,665–667). Minerva benutzt in met. 2,786 ihre Lanze, um sich vom Boden abzustoßen. 83 Dies macht den Versuch der Giganten, den Olymp zu stürmen, so frevelhaft (met. 1,151–162) und Phaethons Versuch, den Sonnenwagen zu lenken, so aussichtslos (met. 2,49–328). Auch Icarus kann – im Gegensatz zu Daedalus – seine Flügel nicht besonnen genug einsetzen (met. 8,183–235). Perseus kann allerdings auf dem Pegasus reiten und unter sich die Länder und Meere sehen, wobei er sogar die Sterne streift (met. 4,785–789). Die Entführung Ganymeds erfolgt
60 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte festen Bahnen,84 sondern auch andere himmlische Götter können spontan ins Meer eintauchen. Dies geschieht z.B. bei Junos Besuch bei ihren Zieheltern Thetys und Oceanos.85 Beschwerlicher gestalten sich Abstiege in die Unterwelt und hinauf. Die Hauptschwierigkeit liegt darin, dass die Unterwelt nicht direkt vom Himmel oder Meer aus betreten werden kann, sondern dass immer ein aufwendiger Umweg über und durch die Erde vonnöten ist.86 Reisen von Göttern in die Unterwelt sind in der antiken Literatur eher Ausnahmen,87 doch in den Metamorphosen nimmt Juno freiwillig, wenn auch angeekelt,88 den Weg auf sich (met. 4,447–480). Im Anschluss nimmt sie zur Vorbereitung auf das Betreten des Himmels mit Irisʼ Hilfe eine rituelle Reinigung vor (met. 4,479f.). Ob dies bloß ihrem eigenen Wohlbefinden dient, dem Beseitigen von Spuren ihrer Reise, um ihre intrigante Tat vor den anderen Göttern zu verschleiern, oder ob ihr der Weg in den Himmel ansonsten versperrt wäre, geht aus dem Text nicht hervor. Ceresʼ und Jupiters gemeinsame Tochter Proserpina wird von Pluto auf seinem Wagen in die Unterwelt entführt, wobei Pluto neben seinem Gefährt noch ein weiteres Instrument verwendet, indem er mit seinem Zepter einen Weg in die Erde schlägt (met. 5,420–424). Aeneas benötigt, wie in Vergils Aeneis,89 zumindest für die Rückkehr
fliegend (met. 10,159: percusso mendacibus aere pennis), und sofern er seine Dienste als Mundschenk nicht auf der Erde, sondern auf dem Olymp verrichtet, so ist er auch ohne Vergöttlichung durch einen reinen Ortswechsel zum Himmelsbewohner aufgestiegen (met. 10,155–161). Da er die Bewegung aber nicht aktiv vornimmt, sondern entführt wird, ist dies kein Widerspruch zur Grundannahme, dass Reisen von Sterblichen in den Himmel grundsätzlich ausgeschlossen sind. 84 Z.B. met. 15,30f. 85 Met. 2,509f. und 2,531–533. 86 Vgl. zu einer ausführlichen Analyse der Darstellungen in verschiedenen Werken und ihren Bezügen in den Metamorphosen Janka 2007. 87 Janka 2007, 201 mit Fn. 23 referiert mehrere Forschungsmeinungen, dass Junos Unterweltsbesuch ohne Vorbild „im älteren Epos“ (Bömer zur Stelle, 144) sei. Allerdings besucht dieselbe Göttin zumindest in Verg. Aen. 7,323–340 sehr wohl die Unterwelt, so dass eine solche Szene keinesfalls eine Neuheit bei Ovid ist. Womöglich bildet aber tatsächlich Juno eine besondere Ausnahme, da sie offenbar einen besonderen Bezug zur Unterwelt hat. So ist in Verg. Aen. 6,138 im Kontext des Hains bei Cumae von der Schutzgottheit Iuno inferna die Rede. 88 Ähnlich unwohl fühlt sich Minerva bei ihrem Besuch im Haus der Invidia in met. 2,760–786; in dieser Erzählung heißt es explizit, dass Götter gemäß dem fas das Haus nicht betreten dürfen, so dass sie vor der Türschwelle stehen bleibt und sogar die Augen abwendet, während sie von draußen mit der Gottheit spricht (765–770), vgl. zur Distanz von Besuchern gegenüber Gottheiten auch Kap. 11.2. 89 Verg. Aen. 6,136–148.
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einen goldenen Zweig aus dem avernischen Hain als Hilfsmittel. 90 Orpheusʼ Abstieg ohne eigens erwähnte Hilfsmittel und sein beschwerlicher Aufstieg zu Fuß, an dessen Ende Eurydica wieder hinabgleitet, werden in met. 10,13–16 und 10,53–63 geschildert. Einen erneuten Abstieg verhindert ein zuvor nicht erwähnter Türsteher (met. 10,72f.). Aeneas und Sibylle gehen auch zu Fuß und heben ihre Stimmung beim düsteren Aufstieg durch ein Gespräch über Sibylles Jugend (met. 14,120–157). Wie Juno, so vollzieht jetzt auch Aeneas nach seinem Weg aus der Unterwelt rituelle Handlungen (met. 14,156); diese gehören offenbar zur Nachbereitung einer Katabasis dazu. Auch Orpheus verbringt nach seiner Reise sieben Tage ungewaschen, ohne Nahrung und weinend an einem Flussufer. Dies wird in den Metamorphosen als Verzweiflung über den Verlust der Eurydica dargestellt, doch kann es zugleich auch als eine sühnende oder reinigende Kulthandlung aufgefasst werden und so die Notwendigkeit von Reinigungsritualen oder Opfern aus anderen Unterweltsreisen bestätigen. Phaethon vollzieht eine Reise durch alle Weltregionen, nämlich von der Erde zu den Sternen durch die Lüfte, und nach seinem unkontrollierten Kontakt mit den Meeren und Ländern landet er in einem Fluss. Sein Weg beginnt zunächst bei seiner Mutter Clymene in Äthiopien. Von dort geht er zu Fuß durch indisches Gebiet zum Sonnenpalast am östlichen Rand der Erde (met. 2,773–779). Auf dem Sonnenwagen selbst nehmen die Pferde zunächst ihren gewohnten Weg auf den ausgefahrenen Spuren der vorherigen Fahrten auf (met. 2,133); die genaue Route referiert Sol seinem Sohn in warnendem Tonfall und nennt als Gefahren neben der Hitze des Wagens selbst auch die Drehbewegung der Himmelsachse und die Nähe der wilden Sternbilder (met. 2,63–102 und met. 2,126–149). Ab met. 2,161 und besonders ab met. 2,202–207 wird das Schlingern des Wagens zwischen Meer,91 Erde92 und Sternen93 beschrieben. Sogar die Unterwelt als sonst sonnenfernster Ort ist von der Feuersbrunst betroffen.94 Schließlich stürzt Phaethon brennend vom Himmel durch die Luft und landet im italischen Fluss Eridanus, dem Po, also an einem weit von seiner Heimat entfernten Ort auf der Erde (met. 2,319–324). Der Himmel bildet also auch hier einen schnellen (wenn in diesem Fall auch tödlich endenden) Reiseweg von einer Erdregion in eine andere. Doch dies ist offenbar nicht die einzige mögliche Reiseroute: Clymene geht den Weg 90 Sowohl in den Metamorphosen als auch in der Aeneis ist der Baum der Juno heilig: met. 14,113–115 und Aen. 6,138. 91 Met. 2,164; 172; 162–271. 92 Met. 2,210–226; Länder mit ihren Flüssen verbrennt er in met. 2,235–259. Die Erde als Person klagt über ihre Verbrennungen in met. 2,272–304. 93 Met. 2,173–177; 193–200; 204f. 94 Met. 2,260f.
62 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte auf der Erde noch einmal zu Fuß ab, um nach ihm zu suchen, und kann daher den Leichnam ihres Sohnes schließlich noch ehrenvoll bestatten (met. 2,333– 339). Einen Sonderfall von Reisebewegungen zwischen Weltregionen bilden Apotheosen.95 Diese stellen nicht lediglich einen Weg von Erde zum Himmel dar, sondern sind eine Aufwertung eines Sterblichen zu einer Gottheit. Eine vergleichbare Sonderform bilden Verwandlungen zu Sternbildern wie die der Callisto in met. 2,505–507: Auch hier findet sowohl eine Reisebewegung96 als auch, offenbar durch den Ortwechsel, eine Aufwertung97 statt. Manche Figuren (und damit auch ihre Erzählungen) sind gerade dadurch charakterisiert, dass sie sich ungewöhnlich viel oder wenig bewegen können. So kann Lucifer als einziger Stern nie den Himmel verlassen (met. 11,570–572); das gleiche offenbar unangenehme Schicksal beschert Juno als Rache auch der Callisto und ihrem Sohn Arcas, die zu den Sternbildern der Bären wurden. 98 Mercur dagegen ist traditionell ein Bote zwischen Himmel, Erde und Unterwelt, und auch Iris reist auf ihrem Regenbogen zwischen allen Regionen der Welt umher. 99 Die Nymphe Arethusa dagegen gleitet unter der Erde nicht nur zwischen verschiedenen Ländern, sondern auch zwischen dem Anblick der Sterne und den Wassern des Styx hin und her (met. 5,503f.). Sie gibt sich als heimatlos und doch überall zu Gast (met. 5,493–500 und 572–642) und fungiert im Text als eine genau
95 Vgl. Granobs 1996, 14 mit Fn. 28 dazu, dass Apotheosen in historischer Zeit durch ihre politische Symbolik glaubwürdiger erschienen und eine „tiefere Wahrheit“ beigemessen bekamen als andere phantastische Ereignisse in derselben Zeit. Vgl. hierzu Liv. 1,16 und Cic. rep. 2,17.) Zur Apotheose Caesars in den met. vgl. Granobs 1996, 37f. 96 Met. 2,505–507.: omnipotens [...] ipsosque nefasque / sustulit et pariter raptos per inania vento / inposuit caelo – „Der Allmächtige hob sie zugleich mit den Freveln auf, und indem sie zugleich in einem Sturm durch die Luft gerissen wurden, versetzte er sie an den Himmel.“ 97 Hierüber ist Juno besonders wütend, da die Aufhebung zum Sternbild Callisto zu einer göttlichen Himmelsbewohnerin macht, met. 2,513–521, besonders 513: pro me tenet altera caelum; 515f.: honoratas summo [...] caelo / stellas; 521: facta est dea – „An meiner statt besetzt eine andere den Himmel“; „geehrte Sterne hoch oben am Himmel“; „Sie wurde zur Göttin“. 98 Met. 2,527–530. 99 Der Bogen als Irisʼ Reisemittel met. 11,589f. und 632. Ihr Besuch in der lichtlosen Werkstatt des Somnus met. 11,583–632. Diese ist vermutlich als Teil der Unterwelt zu verorten, wie die Stille, die ewige Nacht und nicht zuletzt ihre Lage am Lethefluss (602–604) andeuten. Iris als Botin der Götter zwischen Unterwelt und Olymp findet sich schon in Hes. Theogonie 780–789; dass dort, fernab von Helios, der menschenfreundliche Schlaf haust, in 578–763.
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beobachtende und berichtende, nicht aber selbst handelnde Reisende zwischen den Weltgegenden (met. 5,493–508).100 Die Kohärenz von Orten wird allerdings nicht bloß durch das zeitliche Nebeneinander von Figurenhandlungen und ihren Bewegungen durch den Raum zur Darstellung gebracht. Als Verbindungselemente können auch Schilderungen dienen, die zeigen, dass Handlungen in der einen Region auch Konsequenzen für die anderen haben. Wenn Jupiter, selbst statisch auf dem Olymp thronend, seine Blitze schleudert, so erreicht er mit nur einer Handbewegung Erde und Sternenhimmel (met. 2,304–313), und sein bloßes Kopfnicken erschüttert die Welt (met. 2,849). Phaethons Unfähigkeit, die Sonnenrosse am Himmel unter seine Kontrolle zu bringen, lässt Meerwesen (met. 2,262–271) und die Unterweltgötter (met. 2,260f.) leiden und Tellus verdorren, was wiederum das Eingreifen Jupiters vom Olymp aus erfordert (met. 2,272–318). Wenn Typhoeus sich unter seinen Erdmassen im Tartaros bewegt, bebt die Insel Sizilien und der Aetna speit Feuer (met. 5,346– 358); dies bereitet wiederum Pluto solche Sorgen um die Stabilität der Unterweltswände, dass er persönlich an der Oberfläche die Erdfundamente (fundamina terrae) abgeht und auf Schäden überprüft (met. 5,356–363).101
.. Irdische Länder und Regionen Noch detaillierter als die übermenschlichen Gefilde werden die Erdenregionen und Seewege unterschieden, die der Leser aus seiner eigenen Lebenswelt kennt oder von denen er gehört hat. Viele Regionen Griechenlands und Italiens sind Handlungsorte von Erzählungen. In der Erzählung von Pyramus und Thisbe findet sich, eingelegt in die Figurenerzählungen der in Theben ansässigen Minyastöchter, ein babylonischer Schauplatz (met. 4,55–166). Phaethon wandert nach Indien (met. 1,773–779), und auch die zur augusteischen Zeit so beliebte ägyptische Götterwelt findet im Werk Erwähnung.102 Die Kohärenz dieser fernen Orte als 100 Auch in Verg. georg. 4,351–353 taucht sie als erste Nymphe auf, um ihren Schwestern, welche die Rufe von Aristaeus am Ufer vernommen haben, zu berichten, was über Wasser geschieht. 101 Dies ist natürlich keine spezifisch ovidische Neuheit in der Darstellung von räumlicher Kohärenz: Auch Vergil lässt in der Aeneis bei Herculesʼ gewaltsamem Eindringen in die Cacushöhle den Äther dröhnen, die Flüsse rückwärts fließen und die Unterweltsmanen vor dem einfallenden Licht zurückschaudern, Aen. 8,239–246. 102 Dies wird besonders in der Iphiserzählung mehrfach deutlich, indem sowohl ägyptische als auch griechische Gottheiten eine Rolle spielen: In der Traumszene met. 9,686–695 erscheint eine Reihe ägyptischer Gottheiten; Iphis ruft Juno und Hymenaeus und schließlich Isis an (762f.;
64 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte Teile derselben Welt wird vielfach explizit gemacht, beispielsweise flattert im Übergang vom neunten zum zehnten Buch Hymenaeus so selbstverständlich von Iphis und Ianthe in Ägypten zum griechischen Orpheus herüber, dass dem Leser deutlich wird, wie untrennbar verbunden in der Welt dieses Werks auch alle irdischen Zeiten und Kulturen nebeneinander existieren.103 Zudem gibt es einige Reisebewegungen von Figuren innerhalb der Welt, die Kohärenz erzeugen. Diese können schnell sein und so in einer kurzen erzählten Zeit viele Orte als gleichzeitig existent präsentieren. So fungieren etwa Arethusas Flucht, Ios Verfolgung und Perseusʼ, Medeas oder Hymenaeusʼ Flugreisen als Verbindungselemente zwischen verschiedenen Handlungsorten. Manche Reisebewegungen wie Herculesʼ Lebensweg oder die ‚kleine Aeneis‘ ziehen sich aber auch über Monate oder Jahre hinweg und erstrecken sich über weite Teile des Textes.104 Häufig werden mehrere Orte erzählerisch anhand einer Biographie miteinander verbunden, sowohl anhand von Götterfiguren als auch durch sterbliche Figuren. Hierzu zählen u.a. Medeas, Herculesʼ, Theseusʼ oder Daedalusʼ unstete und von Reisen bestimmte Lebenswege. Auch Nestor hat in seinem langen Leben viele Orte bereist, wie auf der Ebene der Primärerzählung und in seinem eigenen Figurenwissen zusammengetragen wird, wodurch all diese Orte miteinander verbunden scheinen. Dies trifft auch z.B. auf Circe zu, die in ihrer Unsterblichkeit die Handlungen über weite Zeitspannen hinweg miteinander verbindet (vgl. Kap. 13 und 14). Umgekehrt kann auch ein und derselbe Ort von verschiedenen Helden bereist werden und so ihre Geschichten miteinander verbinden, z.B. wird die Höhle des Aeolus erstmals in met. 1,262 im Kontext der Sintflut genannt. Zur Lebenszeit von Hercules, also etwa ein bis zwei Generationen vor dem Krieg um Troja, nennt
773f); bei der Vermählung tritt als weitere römische Gottheit Venus hinzu (796). Vgl. zur positiven Darstellung der Göttin Isis auch Horstmann 2014, 165f. 103 Vgl. zur Darstellung des Orients als geographischen, mythischen und kulturellen Teil der Metamorphosenwelt Labate 2018. 104 Dies ist keine Neuheit bei Ovid; auch bei Apollonios 1,553–558 sieht Cheiron mit dem kleinem Achill auf dem Arm die Argo auslaufen, was ihre Besatzung und Achill als Figuren derselben Welt charakterisiert und auch ihre Anordnung in der Zeit verdeutlicht. Die Argo passiert dann in 2,649–660, 2,936–1045 und 2,1230–1270 in beiläufiger Schilderung des Primärerzählers weitere Orte, an denen Dinge bereits geschehen sind, gerade zeitgleich geschehen oder zu einem späteren Zeitpunkt geschehen werden; unter anderem hören sie von ihrem Schiff aus das Stöhnen des Prometheus, dem gerade der Adler die Leber herausreißt (Apoll. Rhod. 1256–1259) – da dies bereits zu Lebzeiten des Hercules geschieht, ist, wie ein Leser mit entsprechenden Vorkenntnissen weiß, seine Rettung durch den Helden nicht mehr fern.
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die Aeolustochter Alcynoe dieselbe Höhle als ihre Kindheitserinnerung (met. 11,431–338, bes. 338f.: nam novi et saepe paterna / parva domo vidi),105 und kurz nach Trojas Fall berichtet wiederum Odysseusʼ ehemaliger Gefährte Macareus von seinem Besuch am selben Ort (met. 14,2223f.). Auf diese unterschiedlichen Weisen werden die verschiedenen nebeneinander existierenden Handlungsorte durch die Zeiten hinweg als Teile derselben einheitlichen Werkwelt zur Darstellung gebracht.
. Figurenkohärenz .. Das Mit-, Gegen- und Wegen-Einander Erzählungen beinhalten für gewöhnlich Begegnungen von Einzelfiguren, die mit-, gegen- oder auch wegen einander agieren. In diesem Kapitel wird gezeigt, wie diese Verknüpfungen zwischen Figuren dazu genutzt werden, die Einzelerzählungen der Metamorphosen als inhaltlich kohärent darzustellen und ihre Hintergrundwelt über das Werkganze hinweg durch Zeit und Raum zu verbinden.
.. Diachrone Kohärenz: Genealogien Jede Erwähnung einer genealogischen Abfolge zeigt bereits, dass die einzelnen Figuren und ihre Handlungen innerhalb derselben Welt stattfinden – wenn auch nicht mit-, sondern nacheinander.106 Da in Epen Fehden, die Gunst oder der Hass einer Gottheit oder Familienflüche oft eine Rolle für ganze Stammbäume spielen, hat Verwandtschaft bisweilen nicht bloß die Funktion einer chronologischen Einordnung von Einzelfiguren, sondern setzt über Generationen erzählter Zeit hinweg ganze Figurennetzwerke und ihre Sagenkreise miteinander in eine inhaltliche Beziehung. Ein Element, das häufig in der Dichtung und speziell in Epen zu finden ist, sind Patronymika zusätzlich zu oder anstelle von Figurennamen.107 In den 105 „Denn ich kenne [die Stürme] und habe sie, als ich klein war, oft in meinem Elternhaus gesehen.“ 106 Vgl. dazu auch Tsitsiou-Chelidoni 1999, 287f. mit ihrer Kritik der bisher nur unsystematischen Forschung dieser werkimmanenten Genealogien in Fn. 39. 107 Diese können verschiedene Funktionen haben. Einen Sonderfall bildet z.B. im Fall des Hermaphroditus sein Patronymikon als Rätselname, der im Verlauf der Geschichte gelöst wird (met. 4,288–291). Verrätselungen führen einerseits zu einer größeren sprachlichen Variation und
66 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte homerischen Dichtungen werden Patronymika bei den ersten Nennungen einer Person zusätzlich zum Klarnamen verwendet, der erst später weggelassen wird. Nur an wenigen Stellen und nur bei besonders bekannten Helden wird schon beim ersten Auftreten die väterliche Herkunft allein genannt.108 Diese deutliche Hilfestellung zur Entschlüsselung von Vatersnamen fehlt häufig in späteren Dichtungen, die vornehmlich an ein literarisch vorgebildetes Publikum gerichtet sind, wie bei Apollonios von Rhodos und insbesondere in der augusteischen Dichtung.109 Auch in den Metamorphosen werden die Auflösungen von Verwandtschaftsumschreibungen erst spät oder sogar gar nicht nachgereicht. Vom Leser wird also erwartet, dass ihm aus anderen Darstellungen die Verwandtschaftsverhältnisse der Figuren bekannt sind und er zu einer Auflösung von teilweise mehrfach verschlüsselten Verwandtschaftsangaben fähig ist. Oft sind die Patronymika dem Leser durch die häufige Verwendung so geläufig, dass sich durch die Ersetzung des Namens durch einen Verwandten keine bedeutsame Sinnverschiebung ergibt, doch bisweilen schwingen auch Assoziationen mit, die in der Figurenzeichnung einen bestimmten Aspekt hervorheben. Gerade in Heldenkatalogen findet sich eine große Dichte an Patronymika oder anderen Antonomasien, so z.B. im Truppenkatalog der Helden um Meleager bei der Jagd auf den calydonischen Eber.110 Wenn im selben Katalog Peleus vorgreifend als späterer Vater von Achill bezeichnet wird (met. 8,309) und Laertes als (ebenfalls später zu denkender) Schwiegervater der Penelope (met. 8,315), so wird das in die Vergangenheit weisende Prinzip eines Patronyms gewissermaßen umgedreht. Im Nebeneinander von Patronymika und Prolepsen werden so auf engstem Raum drei oder mehr Generationen miteinander verknüpft – und mit ihnen ihre Erzählungen als Teil derselben kohärenten Werkwelt markiert. In den Werken von Ennius und Naevius, die zu Ovids Zeit noch viel gelesen wurden, gilt Romulus noch als direkter Enkel von Aeneas. Die Namensliste der zwischen ihnen liegenden Ahnenreihe des Königshauses von Alba Longa aus met. 14,609–622 ist vermutlich kurz darauf zum Ende des dritten oder Anfang des zweiten Jahrhunderts entstanden und wurde schnell kanonisch; durch die
heben dadurch den künstlerischen Anspruch eines Werkes gegenüber immer gleichen und daher metrisch leicht einfügbaren Formelnamen. Andererseits fordern sie auch den Leser intellektuell und lassen ihn jeweils für einige Verse mitraten, welche Figur gerade eingeführt wird, indem er zunächst aus seinen Vorkenntnissen heraus eine eigene Erwartung entwickelt, die dann enttäuscht oder bestätigt wird. 108 Bernbeck 1967, 45. 109 Bernbeck 1967, 45f.; Schollmeyer 2017. 110 Met. 8,299–323; vgl. dazu Reitz 1999.
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Einführung dieser neuen Figuren wurden unter anderem die chronologischen Schwierigkeiten beseitigt.111 Vergils Aeneis führt an verschiedenen Stellen Genealogien vom Mythos bis zur historischen Zeit an. So wird Hannibal und die von ihm ausgehende Gefahr für Rom als direkte Folge von Didos Fluch auf Aeneas dargestellt, indem sie ewige Feindschaft und einen Rächer verspricht (Aen. 4,622–629); in der Heldenschau des Anchises werden spätere römische Persönlichkeiten in ihrem Seelenstadium des Vorlebens gezeigt, wobei ihre Taten wiederum teilweise rückverbunden werden, z.B. mit dem Raub des Palladiums im trojanischen Krieg (Aen. 6,756–886, hier 840). Häufig werden Patronymika oder Ahnenreihen auch als Erweiterung anderer Kohärenzstrategien eingesetzt, indem beispielsweise die Figur Asclepius viele Generationen später noch in der erzählten Zeit römischer Geschichte als Coronides bezeichnet wird. Diese Angabe seiner Abstammung verbindet seine Figur mit der noch früher zurückliegenden Geschichte der Coronis.112 Auch Niobe nennt Atlas, Sisyphus und Tantalus unter ihren Vorfahren (met. 6,172–179), was zusätzlich zur Darstellung ihres Stolzes und der Neigung ihrer Familie zu Frevel und Strafe auch die Funktion erfüllt, die Kohärenz ihrer Genealogie durch Zeit und Raum der Werkwelt hinweg zu verdeutlichen.
.. Synchrone Kohärenz: Begegnungen Vielfach werden in den Metamorphosen die Handlungen von unabhängig überlieferten Erzählungen oder thematisch nur locker miteinander verbundenen Namen in eine Beziehung zueinander gesetzt, um so ein Kohärenznetzwerk über das Werk hinweg herzustellen.113 Die einfachste Möglichkeit hierfür ist wieder eine Namensliste in einem Truppenkatalog:114 Selbst ohne eine weitere Darstellung einer Interaktion wird so auf knappem Raum deutlich, dass zwei Figuren als chronologisch gleichzeitig am selben Ort handelnd und – zumindest für eine kurze 111 Granobs 1996, 24f. mit einer Analyse der freien Variation oder „eher spielerisch anmutende[r] Verstöße“ gegen die Vorlagen durch Ovid in den Metamorphosen und den Fasten. 112 Met. 15,624, vgl. Tsitsiou-Chelidoni 1999, 297. 113 Einen Nachweis, dass es sich hierbei um bewusst eingesetzte Mechanismen im Sinne einer „künstlerische[n] Intention“ des Autors Ovid handelt, versucht Tsitsiou-Chelidoni 1999, 300– 303. Obwohl ihre Argumentation überzeugend ist, möchte die vorliegende Arbeit dennoch von der Suche nach historischen Autorenintentionen Abstand nehmen und lediglich die Funktionen der Darstellungsweisen innerhalb der Texte nachweisen. 114 Vgl. auch Ludwig 1965, 44.
68 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte Zeitdauer – als verbündet zu denken sind. Von diesem gedanklichen Fixpunkt ausgehend sind auch alle weiteren Geschichten der einzelnen Figuren als etwa zeitgleich und möglicherweise auch auf andere Weise kohärent vorzustellen; zwischen den Kriegskameraden kann beispielsweise eine Freundschaft und Loyalität entstanden sein, die, wenn auch selbst unerzählt, bei späteren Entscheidungen in ihren Leben mitschwingt. Komplexere Verbindungen von Handlungssträngen bilden die Schilderungen von Interaktionen zwischen traditionell getrennt agierenden Figuren.115 Dies ist etwa der Fall, wenn Scylla und Galatea sich persönlich begegnen. Während vor den Metamorphosen nicht einmal ihre Namen zusammen genannt wurden, sind sie in den Metamorphosen so vertraut miteinander, dass sie sich gegenseitig die Haare kämmen und sich ihre Erfahrungen in der Liebe berichten. 116 Noch enger werden im Zuge derselben Episode verschiedene Figuren verbunden, indem der eher unbekannte sizilische Flussgott Acis in den Metamorphosen als Rivale zwischen Polyphem und Galatea eine prominente Rolle erfährt. Auch die Figuren Narcissus und Echo werden bei Ovid erstmals miteinander verknüpft, indem eine Begegnung zwischen ihnen eine plotrelevante Funktion erfährt: Da Narcissus nur sich selbst lieben kann, ist Echos Annäherungsversuch zum Scheitern verurteilt. Ihr daraus resultierender Liebeskummer führt wiederum dazu, dass sie sich zum körperlosen „Echo“ verzehrt, das noch heute zu hören ist – und damit beide Erzählungen mit der Lebenswelt der Leserschaft verbindet.117 Mit dem Rest der Werkwelt sind die zwei Erzählungen wiederum einerseits durch die Begegnung der Echo mit Juno (met. 3,362–239) und andererseits durch die Prophezeiung des Tiresias gegenüber Narcissusʼ Eltern verbunden, die seine Erzählung mit dem thebanischen Sagenkreis verknüpft (met. 3,339–350). Solche Verknüpfungen finden sich häufig auch in einer beiläufigen Überleitung von einer Erzählung zur nächsten.118 Wenn Hymenaeus direkt von der ägyptischen Hochzeit von Iphis und Ianthe zu Orpheus und Eurydica ins Gebiet der Ciconen hinüberfliegt (met. 10,1: inde), werden durch seine Reisebewegung nicht nur die Orte und Zeiten der Handlungen miteinander verbunden (vgl. Kap. 4.1.2), sondern auch die jeweils vermählten Figuren vermittelt durch die Figur des Hochzeitsgottes als zeitgleich innerhalb derselben Welt agierend dargestellt. Ios 115 Vgl. hierzu ausführlich Ludwig 1965, 39–47. 116 Met. 13,736–749, vgl. Kap. 14. 117 Met. 3,400f. Vgl. zum Bezug zwischen der Echoerzählung, der Famadarstellung im zwölften Buch sowie der ewig fortlebenden Fama des Werks und Dichters Kelly 2014, 80 mit Fn. 29. 118 Vgl. zur Unterscheidung zwischen „meanwhile“-, „post hoc“- und „propter hoc“-Übergängen zwischen Einzelerzählungen innerhalb einer kohärent gedachten Werkwelt Wheeler 2000, 1–3.
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Jupitersohn Epaphus und der Sohn des Sol und der Clymene Phaethon werden als gleichaltrig und miteinander bekannt genannt, was hier sogar eine handlungsrelevante Funktion erfüllt: Aus einem jugendlichen Streitgespräch zwischen ihnen entsteht Phaethons Wunsch, Sols Vaterschaft zu überprüfen (met. 2,750–756), woraufhin es zu seiner fatalen Bitte um den Sonnenwagen kommt. Ganze Sagenkreise werden in innovativer Weise119 in den Büchern 6–8 verbunden, indem die zuvor getrennten Genealogien des attischen und kretischen Hauses sowie des Aeolidengeschlechts an verschiedenen Punkten der Erzählungen auf der Handlungsebene in eine Verbindung zueinander gesetzt werden. 120 Bei der Darstellung der römischen Geschichte wiederum erfolgt in den Metamorphosen erstmals der Versuch einer Kombination von zwei in der Überlieferung voneinander unabhängigen Episoden zum Sabinerkrieg.121 Einen Sonderfall bildet in den Metamorphosen die Erzählung von Numa und Pythagoras im 15. Buch. Diese in Bildungskreisen offenbar viel diskutierte Begegnung des Königs und des Philosophen wurde schon von Cic. rep. 2,28f., Liv. 1,18 und weiteren Gelehrten122 als chronologisch unmöglich ausgeschlossen; über zweihundert Jahre trennen ihre Leben voneinander, und der früher lebende Numa konnte die Lehren des Philosophen noch gar nicht kennen. Dennoch kursierten seit dem Fund einer Kiste mit der Inschrift „Numa Pompilius“ im Jahr 181 v. Chr., in der pythagoreische Schriften enthalten waren, Berichte über ihre Bekanntschaft.123 Auch Ovid integriert eine erzählerische Verbindung zwischen beiden Männern in sein Weltgedicht – ohne jedoch an irgendeiner Stelle direkt von einem Treffen der beiden auf Handlungsebene zu berichten. 124 Im Gegenteil 119 Ludwig 1965, 47, deutet die Verknüpfung der genealogischen Linien als notwendige Konsequenz aus Ovids „Versuch, das Heroenzeitalter in seiner gleichzeitigen Vielfalt darzustellen“. Diese Deutung entspringt Ludwigs Fragestellung, nach der er den Aufbau der Metamorphosen in seiner Chronologie systematisieren möchte; im Zuge dieser Arbeit soll deutlich werden, dass die Verknüpfungen einzeln tradierter Sagenkreise nicht etwa einer dichterischen Not entsprungen sind, sondern vielmehr ein Hauptziel des Werkes darstellen. 120 Ludwig 1965, 39–47, besonders 46: „Vielmehr sind mehrere genealogische Komplexe zusammengestellt, ineinander verschachtelt und miteinander verknüpft, in erster Linie die attischen Sagen von Pandion bis Theseus und die Aeolidensagen; dazu kommen die Geschichten um Minos und Aeacus. Früher getrennte Stränge sind zusammengeführt und verflochten“. 121 Granobs 1996, 26f. und 93–97. 122 Dion. Hal. 2,59; Plut. Numa 8,4ff. 123 So führte der Kistenfund möglicherweise schon zu einer Verbindung in sagenhistorischen Werken wie den Annalen des Ennius. Vgl. Granobs 1996, 29 und 31. 124 Granobs 1996, 28–31 versucht zunächst zu zeigen, dass im Metamorphosentext nie eindeutig von einem Treffen berichtet wird und dass es sich auch um eine erzählerische Rückblende ohne Dialogsituation handeln könnte. Im darauffolgenden Kapitel schreibt er aber
70 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte werden beide Figurengeschichten unverbunden nebeneinanderher erzählt, ohne irgendeinen Hinweis auf eine chronologische oder gar kausale Verbindung zu geben. Möglicherweise, so lässt sich spekulieren, befand Ovid eine kombinierte Darstellung von Pythagorasʼ Lehre mit Numas Bildung aufgrund der langen Tradition dieser Verbindung als erzählenswerten, wenn auch handlungsbezogen unzusammenhängenden Teil der römischen Geschichte. Vielleicht wollte er auch mit diesem geschickt ausweichenden Hantieren mit einem populären ‚Geschichtsirrtum‘ am Werkende besonders plakativ zur Schau stellen, dass Dichtung dies eben darf.
.. Biographische Kohärenz Nicht jede erwähnte Figur erfüllt in jeder Erzählung eine handlungsrelevante Funktion. So tauchen in den Metamorphosen Personen oft zunächst als Nebenfigur um einen anderen Helden auf, doch erst an späterer Stelle wird ihre ‚eigene‘ Geschichte erzählt und/oder sie werden später noch einmal rückblickend als bedeutsam für ein anderes Ereignis erwähnt.125 Ihr ‚Namedropping‘ dient bei der ersten Erwähnung vor allem der Herstellung von chronologischer, aber auch kausaler Kohärenz über weite Passagen des carmen perpetuum hinweg, indem die
ausweichend, Numa dürfe „auch als Zuhörer des Pythagoras gedacht werden“ (33); im Schluss ist dann sogar wieder von „Numa Pompiliusʼ Unterricht bei Pythagoras“ (151) die Rede, vgl. auch 158. Zur Figur des Numa vgl. auch Garnobs 1996, 112–117. 125 Für kurz hintereinander erzählte Episoden bemerkt dies Due 1974, 187; ausführlicher und systematisch auch über Buchgrenzen hinweg untersucht dieses Phänomen Tsitsiou-Chelidoni 1999, passim, besonders 288f., 293f., 296, 302 sowie 301: „Mythenerzählungen tragen also oft ‚Keime‘ einer konkreten Handlung in sich, von der erst in einem, häufig entfernten, späteren Buch erzählt wird. Andere gewinnen an Sinn im Rückblick auf in einem früheren Buch erzählte Geschichten. [...] Durch die Schaffung von solchen Verbindungen wird die Kohärenz und Kontinuität der Erzählung erreicht und bewahrt; das Programm des carmen perpetuum ab origine mundi ad mea tempora wird erfüllt.“ Vgl. auch Galinsky 1999, 96, der dieses Phänomen der kohärenten Primärhandlung allerdings mit der Wiedererwähnung auf anderen Erzählebenen vermischt, z.B. wenn im ersten Buch Jupiter mit Caesar/Augustus verglichen wird (met. 1,199–205) und im 15. Buch wiederum Augustus mit Jupiter (met. 15,858–860). Galinsky betont zudem die Seltenheit dieser Technik und deutet die vielen Gelegenheiten, in denen Ovid derartige Verweise trotz passender Gelegenheit nicht vornimmt, als Beweis dafür, dass im Gegenteil die Kohärenz der Geschichten strategisch in den Hintergrund gerückt wird bzw. nicht sein Hauptanliegen war, diese darzustellen: „Instances like these demonstrate that Ovid was not overly concerned to give a great degree of formal unity to the whole poem“, Galinky 1999, 97.
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erzählten Ereignisse als Stationen in ein und derselben Figurenbiographie dargestellt werden.126 Einige Biographien werden chronologisch erzählt, doch oft verläuft die Erzählzeit durch Prolepsen und Analepsen quasi rückwärts oder ganz durcheinander:127 So wird beispielsweise erst Herculesʼ Apotheose geschildert, dann seine Geburt und danach erst Details aus seinem Leben:128 Der Flussgott Achelous berichtet im 8. und 9. Buch dem jüngeren Theseus von seinem lang vergangenen Kampf gegen den älteren Helden und kommentiert met. 8,17 proleptisch: nondum erat ille deus.129 Hercules prahlt wiederum während desselben Kampfes – indirekt durch Achelous referiert – von seinem ersten Schlangenkampf schon in der Wiege und dem Sieg über die lernaeische Hydra (met. 9,67–74). Sein Kampf gegen Cerberus wird erstmals in met. 7,408–415 erzählt, indem berichtet wird, wie Medea über Umwege an das Gift aus den Zähnen des Höllenhundes gelangt ist – hierdurch wird wiederum ihre Figur (noch anders als ohnehin schon durch Erzählungen der Argonautenfahrt) mit der Figur des Hercules verbunden und als chronologisch später agierend verortet. Dieselbe Tat im Zuge seiner Katabasis erzählt auch Hercules selbst in seiner Figurenrede met. 9,185, wenn er sterbend Rückschau auf sein Leben hält. Ebenso kennt Orpheus, der bekanntlich zusammen mit Hercules auf Argonautenfahrt geht,130 zum Zeitpunkt seiner Heirat bereits dessen Begegnung mit Cerberus und versichert den Unterweltsgöttern, er selbst sei (im Gegensatz zu diesem Helden) nicht gekommen, um den Höllenhund 126 Vgl. zu diesen und weiteren Funktionen wiederholter Auftritte von Einzelfiguren TsitsiouChelidoni 1999, 277–280, 289, 295 und 301. Die Kohärenz der Erzählung wird dabei häufig durch wörtliche Anklänge der Figurenbeschreibung unterstrichen; um diese zu bemerken, helfen dem Leser neben einer aufmerksamen Lektüre des Werkes selbst darüber hinaus auch tiefere Mythenkenntnisse, Tsitsiou-Chelidoni 1999, 288 mit Fn. 40. 127 So verfährt auch schon Hesiod in seiner Theogonie, indem er erst Prometheusʼ Geburt, dann seine Bestrafung und Befreiung durch den sehr viel später lebenden Hercules und zuletzt erst seine Taten selbst berichtet: Hes. Theogonie 507–570. 128 Einen Vergleich des vergilischen und ovidischen Hercules in Hinsicht auf die Bewertung des Charakters nach Sympathie bietet Andrae 2003, 148–153. Sie kommt zu dem Schluss, dass der vergilische „göttliche Triumphator über das Böse“ bei Ovid zu einem „hirnlosen, brutalen Schläger [verkommt], der seine Affekte nicht beherrscht“ (257). Möglicherweise ist ihre Deutung stark von ihrer verengten Sicht auf Vergil als einzigen Vergleichsautor gelenkt worden und vielleicht hätte ein Einbezug weiterer und auch griechischer Vorgängerwerke und eine stärkere Berücksichtigung der jeweiligen internen Erzählinstanzen ihre Untersuchung zu einem differenzierteren Ergebnis geführt. 129 „Dieser war noch kein Gott.“ 130 Z.B. in Apolloniosʼ Argonautika. Ludwig 1965, 56 findet es wohl deswegen erwähnenswert, dass Ovid Orpheus erst nach Hercules einordnet. Ein wirklicher Widerspruch ist darin allerdings nicht zu erkennen.
72 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte zu entführen. Nestor spricht schließlich Herculesʼ Sohn gegenüber von Herculesʼ Kriegstaten, die er in seiner eigenen lang vergangenen Jugend erfahren musste. 131 Im Zuge der Trojaerzählung gibt es eine weitere kurze, chronologisch schwierig einzuordnende Erwähnung einer Tat des Hercules.132 Im elften Buch beobachtet Apoll den Bau der „neuen Mauern“ Trojas (met. 11,199–201): Inde novae primum moliri moenia Troiae / Laomedonta videt susceptaque magna labore / crescere difficili.133 Der Bau und dessen Umstände werden auch in den folgenden Ausführungen weiter im historischen Präsens dargestellt. In Vers 205 heißt es dann im Imperfekt: stabat opus,134 und im direkten Anschluss wird in einer Mischung aus historischem Präsens und Perfekt geschildert, wie erst eine Flutwelle und dann ein Angriff durch Hercules die Stadt wieder zerstört haben. Hercules ist allerdings im neunten Buch in der Primärerzählung bereits gestorben und kann bei einer fortlaufenden Chronologie nicht mehr als Zerstörer der Mauern Trojas auftauchen. Diese Ungereimtheit in der Chronologie lässt sich, soweit ich sehe, nicht anders erklären als durch einen Fehler des Dichters. Dass es beim Zusammenführen so vieler Handlungsstränge und Biographien nicht häufiger zu solchen Fehlern gekommen ist, spricht für die große Sorgfalt bei der Werkkonzeption. Zuletzt erscheint Hercules einige Jahrhunderte später dem ‚historischen‘ Stadtgründer von Kroton, Myscelus, als ‚mythischer‘ Gründer im Traum135 und hinterlässt so noch in späteren Epochen neue Spuren in der Weltgeschichte. 136 Die Erzählelemente seines Lebens verbinden dabei vielfältige Zeiten und auch Räume der Werkwelt, indem er viele Länder, Meere und sogar die Unterwelt bereist und zuletzt den Olymp bewohnt. Auch Asclepiusʼ Leben und Werk überbrückt im Text eine lange Strecke erzählter Zeit und Raum, angefangen mit dem Leben seiner Ahnin Coronis in mythischen Zeiten bis hin zur historischen Überführung seines Heiligtums nach
131 Zu weiteren mit Blick auf die Erzählperspektive auflösbaren Wirrnissen um die Chronologie von Herculesʼ Leben vgl. Tsitsiou-Chelidoni 1999, 287. 132 Met. 11,194–215. Vgl. zur Diskussion dieser Stelle ausführlich Tsitsiou-Chelidoni 1999, 286f. mit Fn. 38. 133 „Daraufhin sieht er, dass Laomedon zunächst die Mauern des neuen Troja errichtet und sein großes Vorhaben unter schweren Mühen wächst.“ 134 „Das Werk stand“. 135 Met. 15, 21ff; vgl. Granobs 1996, 28f. 136 Dies auch, wenn man davon ausgeht, dass in der Metamorphosenwelt Traumerscheinungen nicht wirkliche Erscheinungen der Figur selbst sind, sondern schauspielende Gottheiten wie Morpheus aus dem Traumgefolge des Schlafes sie bloß künstlich nachbilden, vgl. met. 11,633– 658.
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Rom und der anhaltenden Verehrung in augusteischer Zeit.137 Gottheiten wie Jupiter durchwirken die Welt als beobachtende, mitgestaltende oder miterzählende Figuren durch alle Zeiten von der Schöpfung bis in die jüngste Zeitgeschichte mit Cäsars Ermordung. Eine ebenso lange Rolle in der Weltgeschichte wird der Figur des Augustus zuteil: Schon in der Erzählung von Daphne kurz nach der Sintflut und somit zu Beginn der Welt wird er in der Figurenrede des Apoll genannt. Hier wird Augustus’ späterer Wohnsitz in Rom auf der Handlungsebene mit Daphnes Biographie verknüpft, während Augustus selbst als handelnde Figur erst im 15. Buch die Weltbühne betritt. Für ovidische Werke wird häufig die psychologische Tiefe und Authentizität ihrer Charaktere betont.138 Dies betrifft in den meisten Texten Momentaufnahmen von Gefühlszuständen oder Passagen, die Unsicherheit und Stimmungsschwankungen innerhalb weniger erzählter Minuten darstellen. Auch in den Metamorphosen gibt es solche kurzzeitigen Einblicke in die Köpfe zweifelnder Charaktere, wie z.B. in den Monologen der Medea (met. 7,11–71), der Byblis (met. 9,474–563) oder der Myrrha (met. 10,320–355).139 Erst im Verlauf ihrer kontroversen Gedankengänge fassen sie einen Entschluss, den sie direkt im Anschluss in der Handlung ausführen. Da das Werk ein carmen perpetuum über lange Zeit darstellt und auch sehr langlebige oder gar unsterbliche Figuren darin vorkommen, finden sich Wandel in Charakter und Handlungsmotivation auch in größerem Maßstab und durch die Kohärenz ihres Erlebens und Dazulernens140 über große Zeiträume hinweg. Auch facettenreiche Charaktere mit vielen unterschiedlichen Auftritten in der Werkwelt werden dabei als widerspruchsfrei einheitliche Figuren gezeichnet. Dies soll im Folgenden exemplarisch gezeigt werden.
137 Hier greift die Bezeichnung Coronides (met. 15,624) den Anfang seiner Figurengeschichte wieder auf. Vgl. zu Asclepius im Kontext des Gesamtwerkes Tsitsiou-Chelidoni 1999, 297. Granobs 1996, 142–151, 23 sieht einen Grund von Reisebewegungen in den letzten Büchern auch darin, dass auf römischem Boden nicht genug Verwandlungssagen für den entsprechenden Zeitraum vorlagen, um ein Buch zu füllen. So musste z.B. Numa Pompilius von Rom und Latium nach Unteritalien reisen, um dort griechische Einwanderer zu treffen, die ihm von Verwandlungsgeschichten in ihrer alten Heimat berichten können. 138 Vgl. hierzu etwa Janka 2013, 86; von Albrecht 2016, 100f. 139 Vgl. zur Darstellung dieser zwiespältigen Figuren auch Horstmann 2014, 68 sowie 193–202. 140 Auch Apollonios stellt in 2,1046–1067 die Lernfähigkeit eines Charakters aus dem Beobachten von Taten früherer Figuren dar: So erinnert sich Amphidamas an Herculesʼ Sieg über die Aresvögel, den er selbst miterlebt hat (Apoll. Rhod. 2,1054), und ermuntert seine Gefährten dazu, die gleiche Taktik anzuwenden wie der Heros.
74 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte Anhand von sprachlichen und motivischen Kontinuitätssignalen und Wiederholungsstrategien wird in Jupiters Figurenauftritten seine charakterliche Kohärenz immer wieder explizit gemacht.141 Nachdem der allmächtige Göttervater (met. 1,154; 163) und zeptertragende Herrscher über die himmelsbewohnende plebs (met. 1,173; 178) die Frevel des eisernen Zeitalters „gesehen“ hat (met. 1,163: vidit), nimmt er zu ihrer Prüfung an Lycaons Gastmahl teil und spricht schließlich in einer Götterversammlung gleich mehrfach von der irdischen Wildheit (met. 185: ferus hostis; 198: notus feritate Lycaon; 241: fera regnat Erinys), vor der er die Mitgötter beschützen möchte (met. 196).142 Er berichtet, wie er Lycaon in einen Wolf verwandelt hat (met. 1,232–239), und löst die reinigende Sintflut aus. Als er nach der Neuschöpfung der Menschheit die Erde besucht, hat er wiederum Io „gesehen“ (met. 1,588: viderat) und versucht sie nun zu verführen, indem er zu Werbezwecken auf eben diese bisher genannten Aspekte seiner eigenen Figur zurückverweist (met. 1,595f.: [praeside tuta] nec de plebe deo, sed qui caelestia magna / sceptra manu teneo, sed qui vaga fulmina mitto).143 Wie zuvor den Mitgöttern, so verspricht er nun auch Io Schutz vor wilden Tieren (met. 1,593f.). Dass Io die Anzüglichkeit seiner Worte durchschaut und den Gott durch ihren Fluchtversuch zurückweist, stellt einen ironischen Kontrast zur vorherigen Darstellung seiner Allmacht dar, in der ihm zu denselben Argumenten seiner Selbstinszenierung noch applaudiert wurde. Als Jupiter später durch seinen Schwur gezwungen ist, sich Semele in seiner glanzvollen Allmacht zu zeigen, wählt er einen besonderen Blitz als Attribut (met. 3,298–308). Dieser ist, so erläutert der Erzähler, in derselben Cyclopenschmiede hergestellt wie der Blitz, mit dem Jupiter zuvor den hundertarmigen Typhoeus getroffen habe, dabei aber leichter und weniger gefährlich. Abgesehen von den teils komischen, teils tragischen Funktionen solcher Kontrastierungen zeigen diese Rückbezüge auf bereits dargestellte Charakterfacetten auch, dass im ‚Kollektivgedicht‘ der Metamorphosen die Einzelerzählungen um Jupiter tatsächlich mehrere aufeinander aufbauende Episoden um einen kohärent zu denkenden Protagonisten darstellen. Dennoch: Eine wirkliche Entwicklung seines
141 Wheeler 2000, 63–69 in Widerlegung zu Little 1976, 28: „Logic, consistency, organic unity – these were not the things that Ovid cared about. His characters, especially his gods, are not complex. They come ready-made; they are not changed or developed by what happens to them.“ 142 „ein wilder Feind“; „Lycaeon, bekannt für seine Wildheit“; „Es herrscht die wilde Erinys“; vgl. Wheeler 2000, 64f. 143 „Und sicher unter dem Schutz nicht eines Gottes aus dem einfachen Volk, sondern ich bin es, der ich mit gewaltiger Hand die Himmelszepter halte, und ich bin es, der ich die zuckenden Blitze schleudere.“
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Charakters im Laufe der erzählten Zeit ist im Text der Metamorphosen nicht festzustellen. Einen Wechsel von einer Charakterfacette zu einer anderen verfolgt der Leser mit, wenn der siegreiche Bogenschütze und Stifter der Pythischen Spiele Apoll von Amors Bogen getroffen und innerhalb eines Augenblicks zum wortreich werbenden und närrischen Amator transformiert wird. In einer so motivierten Figurenrede schildert er in einer Art Hymnos an sich selbst 144 seine – über die bisherige Darstellung hinausreichenden und dadurch die Werkwelt erweiternden – Zuständigkeitsbereiche und Taten (met. 1,504–524). Auch seine Verbindung zu Lorbeerkränzen für Sänger und Triumphatoren sowie zu Augustus selbst wird innerhalb derselben Episode als die Facettenvielfalt eines einzelnen kohärenten Charakters geschildert. Ähnlich explizit wird der Wechsel in Plutos Verfassung gezeigt, wenn Cupidos Pfeil ihn inmitten pflichtbewusster Regierungsaufgaben und Wartungsarbeiten trifft (met. 5,361: ambibat Siculae cautus fundamina terrae). Die so erweckte jähe Leidenschlaft (met. 5,396: usque adeo est properatus amor) treibt ihn zu Proserpinas Entführung und gibt ihm unbändigen Zorn ein (met. 5,420: haud ultra tenuit Saturnius iram). Dass Cupido diese Macht bereits auch über Jupiter, mehrere Meeresgottheiten und sogar Neptun selbst bewiesen habe, erklärt Venus explizit in einer Figurenrede (met. 5,369f.).145 Junos erster Auftritt in den Metamorphosen zeigt sie in einer für ihre Darstellung typischen Situation und geht dabei gleich medias in res: Sie ertappt Jupiter nur deswegen bei seinem Treffen mit Io, weil sie ihren Gatten bereits zuvor viele Male erwischt hat und daher besonders vorsichtig ist.146 Diese vorangegangen Begebenheiten werden nicht explizit erzählt, und so können diese Leerstellen vom Leser nur mit Inhalt gefüllt werden, wenn ihm aus anderen Texten diese Liebschaften des Jupiter noch vor der deukalischen Flut bekannt sind.147 Nun macht 144 Weitere Funktionen dieser hymnisch konzipierten Prahlrede zeigt Fuhrer 1999. 145 Vgl. auch Wheeler 2000, 63f. 146 Met. 1,605f.: atque suus coniunx ubi sit circumspicit, ut quae / deprensi totiens iam nosset furta mariti – „Und sie blickt sich um, wo ihr Gatte sei, da sie ja die Schliche ihres so oft ertappten Ehemannes schon kannte“. Dass umgekehrt auch Jupiter seine Rolle in diesem „Versteckspiel“ seiner Seitensprünge kennt, zeigt die wörtliche Anspielung darauf in seiner Figurenrede in 2,423f.: „hoc certe furtum coniunx mea nesciet“, inquit, / „aut si rescierit, sunt, o sunt iurgia tanti!“ – „Von dieser Affäre wird meine Gattin sicherlich nicht erfahren“, sagt er, „oder wenn sie davon erfährt, oh, dann ist sie mir den Ärger wert!“ – Auch der Primärerzähler nimmt in met. 3,6f. auf Junos erfolgreichen Argwohn Bezug: Quis enim deprendere possit / furta Iovis? – „Wer könnte wohl die Schliche des Jupiter entlarven?“ – Vgl. Tsitsiou-Chelidoni 1999, 300 und Wheeler 1992, 129. 147 Derartige intertextuelle Strategien, die Fülle an Erzählungen noch über den vorliegenden Text hinaus auszuweiten, sollen allerdings erst in Kap. 7–15 dieser Arbeit untersucht werden.
76 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte Juno innerhalb der erzählten Zeit an Ios Beispiel die Erfahrung, dass zu heiß servierte Rache auch zum Vorteil der Bestraften gereichen kann: Da Jupiters Leidenschaft noch frisch ist, als Juno ihre Rivalin jagen lässt, beschützt und rettet er Io, indem er ihr die Ehre der Vergöttlichung verleiht. Womöglich daraus hat Juno also wiederum gelernt, wenn es an späterer Stelle heißt, dass sie „die harte Bestrafung auf passendere Zeiten verschiebt“ (met. 2,166f.–469).148 Ein Beleg dafür, dass Juno hier als lernfähiger Charakter geschildert wird, dessen Entscheidungen aufeinander aufbauen, findet sich direkt im Anschluss an Callistos Verstirnung. Hier äußert sich Juno in einem Monolog über ihre erfahrungsgemäß begrenzten Rachemöglichkeiten (met. 2,512–524) und verweist rückblickend auf ihre vergebliche Rache gegenüber „der argolischen Io Phoronis“ (met. 2,523f.), also auf eine schon länger zurückliegende Begebenheit aus der Primärerzählung, die sie nun noch einmal aus ihrer eigenen Sicht schildert.149 Durch die Figur der Juno wird so erstens eine Verbindung zwischen den Geschichten geschaffen und zweitens die Frage ganz genau nachfragender Leser vorweg geklärt, wieso der Sohn Arcas überhaupt geboren werden und unbehelligt von der Göttin aufwachsen durfte. Ähnlich wird auch Junos Motivation, das thebanische Königshaus zu verfolgen, durch ihre Erinnerung an zurückliegende Ereignisse erklärt. Mit Actaeon, der in der Metamorphosendarstellung ganz und gar unschuldig eine grausame Bestrafung erfährt, zeigt sie kein Mitleid, weil sie ihren bereits zuvor geweckten Hass gegenüber Semele auf das restliche thebanische Geschlecht projiziert. 150 Diese Bemerkung dient als Überleitung zur Erzählung, wie Juno die schwangere Semele bestraft, was wiederum dazu führt, dass Jupiter das Kind nach Semeles Tod im eigenen Körper austrägt und für seinen Kindersegen weder auf Juno noch auf eine weitere Frau angewiesen ist. In diesem Kontext erwähnt Juno außerdem explizit ihre allgemeine Unzufriedenheit darüber, dass sie selbst nur wenige Kinder geboren habe und dies als Mangel empfinde.151 Es ist daher sicher kein Zufall, dass hier direkt im Anschluss der Ehestreit zwischen Juno und Jupiter über die Frage erzählt wird, ob Männer oder Frauen mehr Freude am Sex empfinden. Die 148 Tsitsiou-Chelidoni 1999, 289 erklärt, Juno habe an Ios Beispiel die „traumatische Erfahrung“ gemacht, dass eine vorschnelle Rache der Rivalin mehr hilft als schadet. Wheeler 1992, 121 stellt zudem fest, dass gerade diese Verzögerung die Bestrafung umso härter gemacht hat; ähnlich Wheeler 2000, 121–125. Vgl. auch Ludwig 1965, 22. 149 So auch Tsitsiou-Chelidoni 1999, 289f. Die Fokalisation und Erzählhaltung in dieser Episode untersucht Horstmann 2014, 188–192 unter den Gesichtspunkten des „Gesteigerten Mitgefühls mit Callisto“, der „Kritik an Juno“ sowie der „subtilen Unterwanderung von Junos Autorität“. 150 Met. 3,256–259. 151 Met. 3,268–270.
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überraschende Eskalation dieser doch eigentlich harmlosen und aus guter Laune heraus entstandenen Neckerei unter Liebenden (met. 3,318: Iovem [...] diffusum; 319f.: agitasse remissos / cum Junone iocos; 332: de lite iocosa)152 resultiert aus Junos erst kurz zuvor thematisierter Unsicherheit darüber, ob sie selbst eigentlich von Jupiter auch als Frau oder nur als Schwester wahrgenommen wird (met. 3,365f.: sum regina Iovisque / et soror et coniunx, certe soror),153 und plausibilisiert so ihre unverhältnismäßig große154 Wut auf den Schiedsrichter Tiresias. Insgesamt zeigt die Figur der Juno und ihre Handlungsmotivation im Laufe des Werks nicht bloß viele schillernde Facetten innerhalb eines einheitlichen Charakters, sondern sie vollzieht einen kontinuierlichen, zielgerichtet erzählten Wandel, der schließlich im Verlauf der römischen Geschichte in ihrer Versöhnung endet. Diese geschieht sichtbar auf der Handlungsebene mit der Apotheose der Hersilia (met. 14,829–851).155 Venus fungiert in der Figurenerzählung der Minyade Leuconoe als kausales Kohärenzglied zwischen mehreren Ereignissen der Weltgeschichte. Nachdem sie dem sogenannten ‚homerischen Gelächter‘ ausgesetzt worden ist, also der
152 „den gut gelaunten Jupiter“; „er habe sich mit Juno ausgelassen im Bett vergnügt“; „über den erotischen Streit“. 153 „Ich bin die Königin und Jupiters Schwester und Ehefrau, zumindest sicher seine Schwester“. Dieses wörtliche Zitat ihrer Rede aus Verg. Aen. 1,46–48 (Ast ego, quae divom incedo regina, Iovisque / et soror et coniunx, una cum gente tot annos / bella gero! – „Aber ich, die ich als Königin der Götter auftrete und als Jupiters Schwester und Ehefrau, ich führe als schon so viele Jahre mit einem einzigen Volk einen Krieg!“) verbindet ihre Handlungsmotivation zudem assoziativ mit der Rachsucht im Aeneistext – und wertet umgekehrt womöglich beim wiederholten Lesen des Aeneistextes den Faktor „Eifersucht“, z.B. auf den trojanischen Prinzen Ganymed, indirekt zu einem wichtigeren Motiv ihres Hasses auf Aeneas auf. – Auch in met. 13,574 wird Juno im Kontext von Trojas Fall erneut als ipsa Iovis coniunxque sororque („selbst Jupiters Ehefrau und Schwester“) bezeichnet, wodurch alle drei Passagen miteinander verbunden werden. 154 So heißt es explizit in met. 3,333f.: gravius Saturnia iusto / nec pro materia fertur doluisse – „Es heißt, dass Juno schwerer darunter gelitten habe, als es angesichts der Umstände angemessen wäre“. Vgl. zur Einordnung dieser Erzählung in den Kontext der Bedeutsamkeit von Liebe und Sexualität für Frauen innerhalb der Metamorphosen und dem Rom zur Entstehungszeit z.B. von Albrecht 2016, 99f. 155 Weitere Zusammenhänge der Handlungen anhand der Figur Juno nennt Tsitsiou-Chelidoni 1999, 289f.; weitere aufeinander aufbauende Erzählungen um Junos Hass auf Jupiters uneheliche Kinder bis hin zu ihrer Versöhnung analysiert Wheeler 2000, 97–106 und passim. Die Rolle und Funktion der Juno speziell in der Metamorphosendarstellung der römischen Geschichte untersucht Granobs 1996, 97–108 und 152 und 158f. und widerlegt die Forschungsmeinung, die Junokonzeption sei an dieser Stelle widersprüchlich; Ovid folge hier zudem Vergil und Ennius. – Einen Vergleich von Junos Rolle in Theben und ihrer Rolle in Vergils Aeneis bietet Hardie 1990, 231–235.
78 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte Schadenfreude der gesamten Götterschaft, die sie und Mars in einem Netz verstrickt im Bett umstellt hat, will sie diesen beschämenden Verrat des Sonnengottes (met. 4,171–174) rächen.156 Hierfür weckt sie seine tragische Liebe zu Leucothoe (met. 4,190–197). In einem Katalog von fünf Versen (met. 4,204–208) werden an dieser Stelle verflossene Liebschaften des Sol aufgezählt, die er nun über seine neueste Verliebtheit vergisst.157 Darunter wird rückblickend die aus der Primärhandlung bereits bekannte Clymene, Phaethons Mutter, genannt und zudem „die wunderschöne Mutter der Circe von Aeaea“. Circe selbst soll wiederum noch mehrere eigene Auftritte im letzten Werkdrittel haben, die wiederum anhand ihrer Figur mehrere Episoden miteinander verbinden. Auch diese Erzählungen werden an Circe die Entwicklung eines kohärenten und dabei auch lernfähigen158 Charakters darstellen: als Rivalin der Scylla und indirekte Verursacherin deren späteren Hasses auf ihren Geliebten Odysseus (met. 13,967–met. 14,71), als Verehrerin des Gottes Glaucus (met. 14,25–69), als Tante der Medea und später als Werberin um den italischen Königssohn Picus von Laurentum, als Gastfreundin des Odysseus und als ferne Wegmarke des Aeneas. Sie verbindet so als Figur die griechischen mit den italischen Mythen.159 Dass hier anhand einer lernfähigen Figur die Kohärenz der Gesamthandlung über zehn chronologisch fortschreitende Bücher hinweg bestätig wird, zeigt auch die explizite Wiederaufnahme des Themas ‚Rache der Venus‘: In einer Rückverbindung zur Leucothoeerzählung wird auch Circes unglückliche Liebe zu Glaucus als eine von mehreren möglichen Ursachen mit Venusʼ Rache an Sols damaligem Verrat erklärt (met. 14,27: seu Venus indicio facit hoc offensa paterno).160 Dies stellt zugleich die Erzählung der Minyastochter auf eine Ebene mit der des Primärerzählers des 14. Buches, der also 156 Tsitsiou-Chelidoni 1999, 276f. und 293; hier weist sie darauf hin, dass eine literarische Quelle für diese Handlungsmotivation nicht bekannt ist und von Ovid selbst erfunden sein kann, eben um diese Erzählungen miteinander zu verknüpfen. Anders Myers 2009, 60, deren angeführtes Beispiel diese These allerdings nicht stichhaltig belegt (Verg. Ecl. 6,46f.: Pasiphaen nivei solatur amore iuuenci. / A! uirgo infelix, quae te dementia cepit! – „Er ließ Pasiphae Befriedigung suchen in der Liebe zum weißen Stier. Ah, unglückliche Frau, welch Wahn hat dich ergriffen!“). 157 In einem ähnlichen Katalog zählt in Hom. Il. 14,315–328 Zeus Hera gegenüber seinen verflossenen Liebschaften auf – interessanterweise scheint der Umstand, dass er dies genau in dem Moment tut, als seine Frau ihn hübsch zurechtgemacht überraschen und verführen möchte, diese hier gar nicht zu stören. 158 Dies zeigt anhand von Circes gewandeltem Rollenverhalten in Vergewaltigungsszenen in idyllischen Landschaften Mower 2016. 159 Vgl. Myers 2009, 6f. Die gleiche Bedeutung misst Barchiesi 2005, 296 bereits der Darstellung von Circe als Frau des italischen Königs Picus in Aen. 7,187–191 zu. 160 „Möglicherweise handelt Venus auch deswegen so, weil sie beleidigt darüber ist, dass ihr [= Circes] Vater sie verraten hatte.“
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entweder ihre Version bestätigt oder aber dadurch anzeigt, dass er eine ähnlich unsichere Quelle darstellt wie die redenden Figuren innerhalb seiner eigenen Erzählung.161
.. Figurenwissen ... Begründung und Quantität der Geschichtskenntnisse Dichter legen häufig sichtbar Wert auf eine plausible Erklärung, woher Figuren ihr jeweiliges Wissen zu dem gegebenen Zeitpunkt haben.162 Der vergilische Aeneas kann Dido deswegen so genau über Details von Cassandras Raub oder dem Ende des Priamus berichten, weil er in griechischer Verkleidung unbemerkt nah an die Begebenheiten herantreten und als Augenzeuge davon berichten konnte (Aen. 2,386–558; 499: vidi ipse; 501: vidi).163 In seinem Bericht legt Aeneas wiederum Priamus eine Rede in den Mund, die er dabei gehört haben will, und innerhalb dieser Rede legt schließlich der sterbende Priamus rückblickend seine eigene Perspektive auf Pyrrhusʼ Vater Achill dar. Diese komplizierte Konstruktion einer Rede eines Ohrenzeugen eines Augenzeugenberichts ermöglicht sogar die Schilderung des geheimen nächtlichen Treffens des trojanischen Königs mit Achill in dessen Zelt durch den Erzähler Aeneas (Aen. 2,535–543). Aen. 2,604–623 lüftet Venus einige Momente lang für ihren Sohn den Schleier seiner beschränkten sterblichen Sicht auf die Welt, sodass er an Didos Hof sogar die Erscheinungen der Götter aus seiner Augenzeugenperspektive schildern kann, ohne dass ein handlungslogischer Widerspruch vorliegt. Ebenso sorgfältig konstruiert lässt Ovid im ersten Heroidenbrief Penelope erklären, dass sie ihre Kenntnisse über Einzelheiten aus dem trojanischen Krieg durch einen Bericht des Nestor kenne, den wiederum Telemachus ihr zugetragen habe (epist. 1,37f.: Omnia namque tuo senior te quaerere misso / rettulerat nato Nestor, at ille mihi).164 Auch in den Metamorphosen erzählen Figuren stets passend zu ihrem handlungslogisch möglichen Wissen und Charakter, und ihr impliziertes Weltbild
161 Vgl. auch Tsitsiou-Chelidoni 1999, 277. 162 Z.B. berichtet Helena Telemachus in Od. 4,235–264 davon, wie Odysseus ihr schon zur Zeit der Belagerung heimlich in Gestalt eines Bettlers die Pläne der Griechen verraten habe. Wie detailliert Penelope in Ovids Heroides über jeden Schritt ihren abwesenden Gatten informiert ist, referiert Wesselmann 2021, 28f. 163 „Ich sah selbst“; „Ich sah“. 164 „Das hatte nämlich alles der alte Nestor deinem Sohn erzählt, der losgeschickt worden war, um dich zu suchen, und dieser [= der Sohn] hat es mir erzählt.“
80 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte passt zum jeweiligen Erzähler.165 Ihr Redeanteil macht dabei mit 52% knapp über die Hälfte des Gesamttextes aus.166 Bei der Deutung der jeweiligen Erzählung ist der Blick auf die erzählende Figur, ihre Zuhörer und die Erzählsituation daher unerlässlich. Die Minyaden und Orpheus bevorzugen Liebesgeschichten, die griechischen Kämpfer vor Troja lehnen explizit Lyrik in Form und Inhalt ab und erzählen sich lieber aktuelle oder lang vergangene Kriegsgeschichten (met. 12,157–163). Calliope und Minerva folgen den formalen Regeln der Kunst, für die sie persönlich stehen, während die einfache Arachne als ‚Naturtalent‘ schon in ihrem Werkaufbau freier assoziiert und Orpheus vor seinem Baumpublikum etwas weniger formell vorgeht, um sich selbst über seinen Liebeskummer hinwegzuhelfen. Auch olympische Götter tratschen über himmlische wie irdische Begebenheiten.167 Orpheusʼ Kenntnisse vergangener Erzählungen sind für einen Sterblichen enorm. Dies macht nicht nur in diesem Werk, sondern auch in weiteren Texten eine wichtige Facette seines Charakters aus.168 Als Sänger und vates und als Sohn einer Muse und eines Sängergottes bringt er nach antikem Verständnis ohnehin eine angeborene natürliche Begabung mit. Dennoch räumt sogar Orpheus bescheidene Zweifel am Wahrheitsgehalt der Tradition ein (met. 10,28: famaque si veteris non est mentita rapinae).169 Diese fama könnte er von seiner Mutter Calliope vernommen haben, die zuvor in met. 5,337 im Wettbewerb gegen die Pieriden vom Raub der Proserpina erzählt hat und diese Geschichte auch ihrem Sohn erzählt haben kann.170 Dafür spricht, dass er mehrere wörtliche Anklänge aus ihrer Erzählung entlehnt.171 165 Dies zeigt von Albrecht 2016, 96–99 am Beispiel von Minerva und Arachne. – Da die Anpassung stets sowohl die erzählende Figur und ihren Stil als auch ihr Publikum und die Erzählsituation betrifft und außerdem Ovid eine rhetorische Ausbildung durchlaufen hat, ist es naheliegend, dass Ovid bei der Konzeption seiner Figurenerzählungen bewusst die rhetorische Kategorie des Aptum beachtete. Vgl. von Albrecht 2003, 978f. 166 Wheeler 1999, 207–210. 167 met. 3,253–255: rumor in ambiguo est – „Das Gerede geht in zwei Richtungen“; met. 4,189: haec fuit in toto notissima fabula caelo – „Dies war der bekannteste Klatsch im ganzen Himmel“. 168 Der Orpheus in Apolloniosʼ Argonautika 1,496–515 singt eine Kosmogonie; unter Orpheusʼ Namen kursierten in der Antike einige Theogonien und Kosmogonien, vgl. Schönberger 22018, 158. 169 „Wenn nicht die Kunde von der damaligen Entführung [der Proserpina] hierin lügt“. 170 Tsitsiou-Chelidoni 1999, 294 mit Fn. 52 erwähnt diesen „[b]emerkenswert [...] wörtliche[n] Anklang“, ohne ihn aber mit der persönlichen Vertrautheit beider interner Erzähler und einen möglichen Informationsaustausch als Erzählhintergrund zu erklären. 171 Met. 5,379 in Calliopes Erzählung sagt Venus zu Amor: iunge deam patruo – „Vereinige die Göttin mit ihrem Onkel“. Orpheus formuliert in met. 10,28f.: famaque si veteris non est mentita
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Auch Figuren, die sich nicht beruflich oder genealogisch mit Geschichten aus vergangenen Zeiten befassen, glänzen mit einem großen Schatz an Erzählungen und liefern ihre eigene Erklärung für ihre Kenntnisse: Die Minyaden kennen viele Geschichten, weil sie diese zum bloßen Zeitvertreib bei der Handarbeit am Webstuhl miteinander austauschen – aus diesem reichen Fundus wählen sie aus Gründen der besten Unterhaltung bevorzugt besonders unbekannte Geschichten (met. 4,36–54). Nestor kann aufgrund seines hohen Alters und seines eigenen Erfahrungsschatzes die Geschichten vieler vorangegangener Helden erzählen. Byblis fragt sich selbstkritisch, woher sie die Geschichte überhaupt kennt, die sie als Exempel aufführt, um sich von der Rechtmäßigkeit ihres Frevels zu überzeugen (met. 9,508: unde sed hos novi? cur haec exempla paravi?).172 In met. 2,569–571 betont Cornix ihre eigene Berühmtheit – ihre Geschichte ist allerdings neben dieser einen Erwähnung aus ihrer eigenen Figurenrede vor und auch nach Ovid nirgends belegt, sodass ihre Behauptung, berühmt zu sein, womöglich als Darstellung ihrer Selbstüberschätzung fungiert. Die Gefährten des Odysseus berichten als Augenzeugen ihre eigenen Geschichten, wobei Macareus eine Erzählung einfügt, die ihm eine Magd der Circe berichtet hat (vgl. Kap. 13.3). Vertumnus kennt als wandlungsfähige und langlebige Gottheit sowohl die ihn umgebenden Naturgottheiten in den „albanischen Bergen“ (met. 14,674) als auch griechische Sagen über die Lapithen und Odysseus (met. 14,670f.), und er kann sogar die ‚exotische‘ Geschichte von Iphis und der zypriotischen Anaxarete erzählen (met. 14,698–764). In seiner Tarnung als alte Frau wählt er, wieder passend zu seiner Erzählergestalt, diese moralisch-tragische Liebesgeschichte aus, um so seine einfache Zuhörerin Pomona als Zuhörerin zu gewinnen und zu überzeugen. Auch Arachnes Erzählfokus passt zu ihrer Figur: So stellt das Mädchen in ihrem Gewebe vor allem die Verzweiflung und Angst Europas während ihrer Entführung in den Vordergrund (met. 6,103–107), während der Primärerzähler im zweiten Metamorphosenbuch ganz andere Schwerpunkte setzte.173 rapinae / vos quoque iunxit Amor – „Wenn nicht die Kunde von der damaligen Entführung [der Proserpina] hierin lügt, so hat auch euch Amor vereinigt“. Calliopes Venus bezeichnet in met. 5,368 Pluto als Unterweltsherrscher durch die fortuna novissima regni („das jüngste Los über die Herrschaftbereiche“); Orpheus spricht ihn und Proserpina in met. 10,35 als die Gebieter über die humani generis longissima regna („die am längsten währenden Herrschaftsbereiche über das Menschengeschlecht“) an, worin sich auch sprachlich die lange Zeit widerspiegelt, die zwischen der von Venus erwähnten Zulosung und ihrer Erzählung vergangen ist. 172 „Aber woher kenne ich diese? Warum habe ich diese Beispiele parat?“ 173 Tsitsiou-Chelidoni 1999, 295 erklärt mit diesem intendierten Rückbezug auf met. 2,386–875 „die Auslassung näherer Angaben zu der Erzählung der Entführung Europas, die man Ovid öfter
82 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte Figurenreden bilden so Fenster in die Vergangenheit oder, durch Prophezeiungen, auch in die Zukunft und verbinden die Hintergrundwelt zu einer kohärenten Einheit, in der sich Erzählungen erhalten und verbreiten können (vgl. zur Rolle der Fama im Gesamtwerk Kap. 11.6). Doch nicht nur die erzählenden Figuren der Werkwelt, auch der Primärerzähler selbst ist nicht bloß ein null-fokalisierender Erzähler, der sich vollständig ausblenden lässt, während sich die Geschichte quasi von selbst vor dem Leser ausbreitet. Gerade im Text der Metamorphosen lässt sich eine eigene Erzählfigur mit Eigenschaften und Unzuverlässigkeiten herausarbeiten.174 Dabei wird die Fiktion aufgebaut, dass dieser Erzähler einem ebenfalls fiktiven Leser oder Publikum die Weltgeschichte in einem fortlaufenden kontinuierlichen Vortrag ausbreitet. Der Primärerzähler stellt sich dabei als über dem Text stehend dar und kommentiert an verschiedenen Stellen seinen produktiven Umgang mit dem Sagenstoff als Erzähler.175 ... Zuverlässigkeit und Qualität der Geschichtskenntnisse Die Unzuverlässigkeit der Erzählungen wird vielfach markiert. So wird durch ihre Wissenslücken oder abweichende Informationen der Kontext einer nicht-allwissenden Figurenrede verdeutlicht176 oder durch den Hinweis auf den zeitlichen Abstand zwischen Ereignis und Erzählung die lange Überlieferungsgeschichte einer Information betont.177 Bisweilen äußern verschiedene Figuren auch selbst ihre vorgeworfen hat.“ – Eine solche Kombination von Erzähler- und Figurenrede, die sich gegenseitig wiederaufgreifen und fortführen, findet sich auch in Vorgängertexten wie z.B. bei Apollonioss: Das Ende der Boreaden durch Herakles wird vom Erzähler vorweggenommen und in kausaler Verknüpfung zum gerade Erzählten in 1,1302–1309 fortgesetzt. Auch die Rede des Glaucus über die Zukunft der bereits aus der Handlung ausgeschiedenen Figuren Polyphemus und Herakles wird gleich darauf vom Erzähler wiederholt in 1,1345–1348 und fortgeführt bis 1,1357. 174 Vgl. Kap. 3. 175 Solodow 1988, 72; Wheeler 1999, 34: „fiction of viva-voce performance“; 101–115 mit einer Sammlung von Signalen und fiktionalen Dialogmitteln wie die Verwendung der 1. Person Plural, rhetorische Fragen, Apostrophen uvm.; Nikolopoulos 2004, 105 und Horstmann 2014, 8–10; 39– 52. Vgl. Kap. 3. 176 In der homerischen Odyssee dagegen wird der erzählende Odysseus eher einem allwissenden Erzähler angeglichen bzw. strukturiert er seine eigene Darstellung vergangener Erlebnisse nach dem Prinzip auktorialen Erzählens, vgl. Baier 1999, 440–444; Suerbaum 1968, 154 sowie Guthmüller 1964, 305. In Vergils Aeneis werden aus der Handlungslogik folgende Wissenslücken häufiger zur Darstellung gebracht, z.B. lässt Euander in seiner Schilderung des Kampfes von Hercules gegen Cacus (Aen. 8,185–267) alle Kampfdetails aus, die im Inneren der Höhle oder verhüllt von Rauchschwaden stattfinden und ihm als Augenzeugen verborgen geblieben waren. 177 Tsitsiou-Chelidoni 1999, 295. – In met. 1,400 wird dieses Motiv variiert, indem der Primärerzähler die Zuverlässigkeit seiner Überlieferung gerade mit ihrem Alter erklärt: quis hoc credat,
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unsicheren Quellen,178 Zweifel an der Zuverlässigkeit der Überlieferung179 oder auch an ihrem eigenen Erinnerungsvermögen.180 Nestor gibt auf Nachfrage des Herculessohn Tlepolemus ganz offen zu, dass er aus persönlicher Abneigung gegenüber seinem früheren Feind Hercules absichtlich Geschichtsverfälschung betreibe, indem er dessen Ruhmestaten aus seinen Erzählungen einfach auslässt (met. 12,536–548) – hier wird die Strategie der bewusst praktizierten damnatio memoriae thematisiert. Als eine andere Art der unzuverlässigen Erzählung fungiert auch Pythagorasʼ Rede. Hier bilden seine naturwissenschaftlichen Erklärungen in großer Dichte abweichende Versionen bereits erzählter Geschichten, was ebenfalls auf die lediglich in Abstufungen gegebene und niemals absolute Glaubwürdigkeit verschiedener Überlieferungen aufmerksam macht. Niobe kennt Arachnes abschreckendes Beispiel zwar, lernt aber nichts daraus für ihre eigenen Handlungen (met. 6,146–151). An anderer Stelle referiert sie ihre Ahnenreihe, wodurch ihr Stolz zur Darstellung gebracht wird (met. 6,172– 179). Gleichzeitig wird dem Leser aber auch in Erinnerung gerufen, dass sie sich zu einem späteren Zeitpunkt in derselben Werkwelt bewegt wie die an anderen Stellen des Werkes dargestellten und hier angeführten Figuren Tantalos oder Atlas.181 Tantalus wird als Frevler in der Unterwelt in met. 4,458f. und met. 10,41f. gezeigt – Niobes stolze Formulierung, dass es Tantalus erlaubt gewesen sei, „die göttlichen Speisen anzurühren“ (met. 6,173: cui licuit soli superorum tangere mensas),182 erinnert den Leser daran, dass er Tantalus zumeist im Kontext seiner kontrastierenden Bestrafung kennt, nach der er die ihm vorgesetzten Speisen nicht anrühren darf – doch dies ist Niobe aus ihrer begrenzten Figurenperspektive natürlich nicht bekannt. Entsprechend fungiert ihre Wortwahl, die sich auf die olympischen Götter beschränkt (superi), auch in ironischer Weise, da der Leser im Gegensatz zu Niobe ja weiß, dass es bei den Unterweltsgöttern (inferi) bereits ganz anders aussieht.
nisi sit pro teste vetustas? – „Wer könnte dies glauben, wenn nicht das Alter der Überlieferung einen Augenzeugen überflüssig machte?“ 178 Perseus über einen nicht näher bestimmten Augenzeugen der einstigen Schönheit von Medusas Haar in met. 4,797: inveni, qui se vidisse referret! – „Ich habe jemanden getroffen, der berichtete, er habe sie selbst gesehen!“ 179 So z.B. Orpheus met. 10,27–29. 180 Nestor entschuldigt dies vorweg mit seinem Alter, met. 12,182–188. 181 Tsitsiou-Chelidoni 1999, 291 führt dies in dem Kontext aus, dass der Leser sich durch die Erwähnung an das gesamte vierte Buch zurückerinnert und dass so ein Verständnis von tragischer Ironie erzeugt werde, met. 6,174f. und 4,639–662). 182 „Dieser allein durfte die Speisen der Götter anrühren.“
84 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte Handlungslogisch ist es erklärungbedürftig, dass Tellus (oder irgendeine andere Figur) vom Urzustand der Welt als Chaos berichten kann (met. 2,299: In chaos antiquum confundimur),183 wenn es damals noch keine sprechende Beobachterfigur und somit keine Möglichkeit der Informationsüberlieferung aus dieser Zeit gibt. Vielleicht lässt dieses ansonsten unerklärbare Figurenwissen rückblickend darauf schließen, dass er selbst der zunächst unbekannte Gott war, der die erste Ordnung geschaffen hat? Andererseits zeigt die Formulierung quem dixere chaos (met. 1,7) an,184 dass auf irgendeine unerklärliche Weise bereits vor der Schöpfung von Himmel, Erde, Meer und Göttern die Möglichkeit gegeben war, von einem höheren Standpunkt aus vom Weltgeschehen zu berichten (vgl. Einleitung). Die interne Erzählerin Urania behauptet, dass die Version vom Gigantenkrieg, wie sie die Pieriden gesungen haben, falsch sei (met. 5,319–331), und zieht offenbar die Version ihrer Schwester Calliope vor (met. 5,346–355). Augenzeugin war sie allerdings selbst auch nicht – doch vielleicht kann man ihr als Muse tatsächlich eine gewisse Allwissenheit zugestehen; zudem kennt der Leser noch eine weitere Version auf Ebene der Primärerzählung aus met. 1,151–162.185 Doch ist nun diese Version wirklich glaubwürdig? Zweifel an der Richtigkeit seiner Erzählung formuliert schließlich sogar die höchste Erzählinstanz des Primärerzählers selbst.186 Dabei geht er so weit, dass sogar seine Unsicherheit über die Identität einer eingeschobenen Erzählerfigur formuliert wird, die Geschichten aus Troja berichtet (met. 11,749–751).187 Dieser Gedanke soll an späterer Stelle im Kontext der Famadarstellungen (Kap. 11.6) weitergeführt werden. All diese Beispiele verdeutlichen, wie omnipräsent und sorgfältig im Metamorphosentext mit der Konzeption von plausiblen Erzählfiguren, ihren Erzählerinteressen und ihrem überhaupt möglichen Figurenwissen verfahren wird. Einzelepisoden dürfen daher niemals separat betrachtet werden, stets muss der Kontext der Erzählsituation im Gesamtwerk bedacht werden. Scheinbare Widersprüche zwischen Einzelerzählungen lassen sich so mit einem Blick auf die 183 „Wir vermengen uns wieder mit dem alten Chaos.“ 184 „Dies nannten sie ‚Chaos‘.“ 185 Vgl. Tsitsiou-Chelidoni 1999, 295. 186 Vgl. Horstmann 2014, 18–21 und Kap. 3. 187 Zu einigen angeblichen Logikfehlern in der Kohärenz, die sich jedoch mit Blick auf das Wissen des internen Erzählers lösen lassen, vgl. Tsitsiou-Chelidoni 1999, 278f. und 287. Sie weist darauf hin, dass sich zudem in Katalogen bisweilen auch Vermischungen aus dem Wissen der Figur und dem des Primärerzählers gibt (279). Eine ähnliche Beobachtung zur gelegentlichen Ununterscheidbarkeit von interner Fokalisierung oder externer Erzählperspektive macht auch Horstmann 2014, 59 und 73 zur Funktion der ‚erlebten Rede‘ in den Metamorphosen.
Fazit 85
jeweils erzählende Figur leicht auflösen. Bei aller Unzuverlässigkeit im Einzelnen machen die eingeschobenen Erzählungen also einen Großteil des Werkes aus und sind grundsätzlich als kohärent mit der sie hervorbringenden und sie rezipierenden Welt zu verstehen.
. Fazit Es konnte gezeigt werden, dass mithilfe verschiedener Erzählstrategien eine kohärente Werkwelt dargestellt wird. Diese umfasst die Zeit vom Chaos bis zum augusteischen Rom und noch darüber hinaus. Sie verbindet Räume von der Unterwelt bis zu den Sternen und die ganze bekannte irdische und nautische Welt als Handlungsorte miteinander und beherbergt eine Vielzahl von Figuren als Bevölkerung dieser kohärenten Welt. Diese zeigen wiederum Interesse an ihrer Lebenswelt und erzählen sich daher, stets passend zu ihrem Figurenwissen, ihrem Charakter, ihrer Situation und ihrem Adressaten, Geschichten über andere Figuren der sie umgebenden Werkwelt. Im jeweiligen Kontext der Einzelerzählung erfüllt die Darstellung von Kohärenz unterschiedliche Funktionen. Narratologisch legt Kohärenz zwischen einzelnen Erzählungen beispielsweise die Grundlage für Tragik oder Ironie.188 Philosophisch kann erst auf der Grundlage der Darstellung von weltumfassender Kohärenz ein Grundprinzip konzipiert bzw., aus Perspektive des Rezipienten, erkannt werden. Beispielsweise kann Amor/Cupido nur innerhalb eines einheitlichen Kosmos eine zentrale Figur bilden, die über die gesamte Geschichte hinweg weitreichende Kettenreaktionen auslöst und so insgeheim die ganze Welt beherrscht.189 Die Darstellung dieser widerspruchsfreien Kohärenz einer gesamten 188 Vgl. etwa Tsitsiou-Chelidoni 1999, 299, die eine „[t]ragische Ironie“ in den Worten der Deianira (met. 9,149ff.) erst durch eine Vergegenwärtigung der Meleagerepisode met. 8,270–525 gegeben sieht, oder Galinsky 1999, 101f., der die Tragik von Venusʼ Liebe zu Adonis darin erkennt, dass dieser ihrem Amor ähnele, während doch Venus dessen Mutter Myrrha kürzlich für ihren Inzest bestraft habe (met. 10,515–518). 189 Dies besonders durch den intertextuellen Bezug zu Lucr. 1,1–53, indem die darin als Weltprinzip gepriesene Venus in der Metamorphosenwelt als eng mit Cupido zusammenarbeitend oder ihm gar unterlegen dargestellt wird. Der Gedanke, dass Eros als Urgottheit vom Rang und Alter der Gaia alle weiteren Schöpfungen, Genealogien und Veränderungen bewirkt, wird schon in Hes. Theogonie 120 dargestellt. Auch das dritte Buch von Apoll. Rhod. beginnt mit einem Musenanruf an Erato in ihrer Funktion als Kypris-affine Liebesmuse; in 3,111–160 zeigt dann auf der Handlungsebene die untereinander komplizierte, aber nach außen hin gut funktionierende Beziehung zwischen der intriganten Mutter und dem ebenso manipulativen Sohn. Vgl. auch Ovid in trist. 2,317–338 selbst zu dem Thema „Liebe in Epen“ und hierzu Polleichtner 2009, 158. Zu
86 Die Metamorphosen als kohärente Weltgeschichte Welt erfordert einen immensen konzeptuellen Aufwand und bildet in ihrer Gesamtheit die Grundlage dafür, dass das Werk nicht bloß als lose Geschichtensammlung, sondern als eine einzige, einheitliche Weltgeschichte gelesen werden kann.
Amor und Venus als herrschende Prinzipien in den Metamorphosen vgl. von Albrecht 2016, 92f., bes. 93: „Ovid zeigt sich somit sogar in der vorliegenden mythologischen Großdichtung konsequent als Liebesdichter. [...] Mythologisch gesprochen: Venus erobert die dreigeschossige Welt“.
Die Metamorphosen als Variationensammlung Ovids Metamorphosen enthalten neben ihrer zeitlichen Grundstruktur als zweites Ordnungsprinzip eine Strukturierung nach Grundthemen. Hierbei ist sich die Forschung über das genaue Kompositionsprinzip uneinig, und jeder Blick auf die einzelnen „Fadenführungen“ im Gewebe des Gesamttextes bringt neue Details ans Licht. Einig ist sich die Forschung vor allem darin, dass Ovids thematische Anordnung des Stoffes – ob sie nun als symmetrisch oder im Gegenteil als bewusst chaotisch verstanden wird1 – eine beachtliche originelle Eigenleistung war. Die Leistung der systematischen Neuanordnung des Stoffes so vieler Erzählungen nach Themen soll hier keineswegs herabgewürdigt werden – bedenkt man, wie penibel die Kohärenz zwischen inhaltlichen Aspekten in Zeit, Raum und Handlungslogik bis hin zu plausiblen Erzählhaltungen und Figurenwissen in eingeschobenen Narrationen gewahrt wurde (vgl. Kap. 4.1), wird deutlich, welch große Herausforderung hierbei die gleichzeitige Beachtung eines weiteren Kompositionsprinzips darstellt. Bei der Sortierung der Einzelerzählungen nach Grundthemen musste Ovid dennoch nicht das Rad völlig neu erfinden, indem er etwa Originalwerke nach Themen durchforstete, die jeweils passenden Teilmythen herausklaubte und diese völlig neu auf 12.000 Verse verteilte. Für die Konzeption seiner Themenfäden konnte er als gut vernetzter und dazu noch rhetorisch geschulter Dichter im augusteischen Rom bereits auf einen breiten Fundus an Hilfsmitteln zurückgreifen, die ihm eine solche Neuordnung des Stoffes erleichtert haben. Diese Hilfsmittel bestanden einmal in den sogenannten hellenistischen Handbüchern, den systematischen prosaischen Nachschlagewerken von Erzählungen, die den Poetinnen und Poeten für ihre Arbeit zur Verfügung standen. Im Rom des ersten Jh. fanden sich Mythenerzählungen außerdem auch zu rhetorischen Ausbildungszwecken, gewissermaßen zu pragmatischen Exempla- bzw. Typensammlungen für den praktischen Gebrauch als Redenschreiber geordnet. 2 Dies traf insbesondere auf römische Exempla zu, anhand derer man sich auf die mores maiorum berufen konnte; es wurden aber auch griechische Mythen nach Themen und Typen systematisiert, deren Erwähnung einer Rede argumentatives Gewicht verleihen konnte. Häufig wurden diese Exempla lexikalisch so gestaltet, 1 Während u.a. Schmidt 1991 und Andrae 2003 einen bewusst chaotisch anmutenden Aufbau im Gegensatz zum augusteisch-architektonischen Aufbau zu sehen meinen, erkennen Guthmüller 1964, Ludwig 1965, Otis 1970, Coleman 1971 u.a. ein mehr oder weniger klar geordnetes Aufbauprinzip. 2 Vgl. hierzu Waldner 2014, 47f. und Hopman 2012, 216–220; ferner Myers 1994, 96. https://doi.org/10.1515/9783110785005-005
88 Die Metamorphosen als Variationensammlung dass der Bezug zum Primärtext nicht verschleiert, sondern im Gegenteil dem Zuhörer offenbar wird.3 Die kunstvoll angeordnete Struktur der Metamorphosen nach Figuren- und Erzählungstypen ließe sich möglicherweise viel besser erklären, wenn uns einige dieser Exemplasammlungen überliefert wären. Doch schon das bloße Wissen darum, dass es sie gab und sowohl Ovid als auch sein Publikum sie im Rhetorikunterricht kennengelernt hatten und weiterhin einsehen konnten, hilft dabei, die Anordnung der Metamorphosenerzählungen nach Typen und Themen besser nachzuvollziehen. Nichtsdestoweniger wäre es natürlich verfehlt, die Metamorphosen lediglich als hexametrische Aufbereitung systematischer Mythensammlungen zu verstehen. Da gerade Dichter um Ovid in ihren Werken solche Exempla gerne originell und vielfach auch subversiv bearbeiten,4 ist es nicht verwunderlich, dass auch Ovids Versionen die überlieferten Mythen nicht bloß nacherzählen, sondern stets eine Facette herausgreifen und pointiert, bisweilen auch unerwartet, zuspitzen – oder auch verändern, um sie ins Kompositionsprinzip des Gesamtwerkes einzupassen.5 Auch hier baut er auf einer langen Tradition auf; so war der kunstvolle Umgang mit der Variatio eines Themas „das sine qua non“ im hellenistischen Griechenland und im augusteischen Rom.6 Doch in der Dichte der Erzählungen und ihrer fast erschöpfend scheinenden Vielzahl – gerade in Kombination mit ihrer grundsätzlichen inhaltlichen Kohärenz innerhalb einer einheitlichen Weltgeschichte – liegt die eigentliche originelle Herausforderung, der sich Ovid gestellt hat. Statt eine einzige Erzählung zu einem Thema auszuführen und eine einzelne Facette hervorzuheben,7 bearbeitet er jeweils gleich mehrere Erzählungen pro Typ oder Thema und passt sie kompositorisch aneinander an. In diesem Punkt heben sich die Metamorphosen von allem ab, was seine Vorgänger und Dichterkollegen bisher geschaffen haben. Im vorherigen Kapitel wurde gezeigt, wie die kohärente Darstellung der Welt auf der Handlungsebene in der Konzeption von Zeit, Raum und Figureninventar möglichst erschöpfend gestaltet ist. Im folgenden Kapitel soll nun der Blick von der Handlungsebene gelöst und auf die allgemeinere narrative Ebene der Thematik gerichtet werden. Hierfür wird gezeigt, inwiefern der Anspruch auf eine erschöpfende Stoffbehandlung auch die Variation von Themen und Typen der
3 Hopman 2012, 222 am Beispiel von Scylla. 4 Hopman 2012, 222 mit Fn. 12 und Waldner 2014, 49. 5 Diese Beobachtung macht Ludwig 1965, 27; 31; 39–47; 53; 71. 6 Wheeler 2000, 7; vgl. hierzu auch Otis 1970, 78. 7 So empfiehlt es etwa Hor. ars 23 u.a.: Denique sit quod vis, simplex dumtaxat et unum – „Es sei kurzum, was man will, solange es aus einem Teil besteht und einheitlich ist.“
Vielfalt der Handlungsorte und -gegenstände 89
Erzählungen und ihrer Figuren betrifft, sodass schließlich nicht bloß der Versuch vorliegt, ein umfassendes Werk über Verwandlungen zu schaffen, sondern dass tatsächlich von einem allumfassenden, universalen Weltgedicht gesprochen werden kann. Ein wichtiges Thema, wenn nicht sogar das Grundthema der Metamorphosen, ist der Facettenreichtum menschlicher Emotionen, Charaktere und Schicksale. 8 Zur systematischeren Betrachtung dieser Vielfalt innerhalb der einheitlichen Welt sollen einige Beispiele im Metamorphosentext anhand verschiedener Kategorien vorgestellt werden, innerhalb derer variiert wird. So bevölkert die Welt der Metamorphosen einerseits eine beachtliche Vielfalt von verschiedenen Gegenstandsoder Figurentypen neben- bzw. nacheinander (vgl. auch Kap. 4.1.3), andererseits zeigt sich ein breites Spektrum an Facetten innerhalb ein- und derselben Gegenstände oder Figuren. Dieser Facettenreichtum von Einzelcharakteren wird oft dadurch zur Darstellung gebracht, dass die Figur im Laufe ihrer Biographie verschiedene Situationen und Emotionen durchläuft, bisweilen wird aber auch lediglich eine einzige Seite in einer Momentaufnahme gezeigt. Figuren tauchen selten isoliert auf, sondern werden meist in Interaktion mit anderen Figuren dargestellt. Die Kombination der verschiedenen Figurentypen mit ihren vielfältigen Charakterfacetten in unterschiedlichen Situationen führt wiederum zu einer fast unerschöpflichen Kombinationsmöglichkeit von Handlungsabläufen. Diese Mengen an verschiedenen möglichen Geschichten werden obendrein noch aus den Perspektiven verschiedener Figuren erzählt, was als weiterer Multiplikationsfaktor zu unterschiedlichen Erzählstrukturen, Themenschwerpunkten, Erzählhaltungen und Bewertungen führt.9
. Vielfalt der Handlungsorte und -gegenstände Wie in Kap. 4.1.2 gezeigt wurde, werden innerhalb der Werkwelt sehr unterschiedliche Orte der Welt als kohärent in Zeit und Raum dargestellt. Auch diese
8 Galinsky 1975, 45: „anthology of human conflicts“; „depiction of the whole range of human nature“ und Schmidt 1991, 17; vgl. auch 18: „Statt des einen epischen Helden [...] als des Brennpunkts einer großen Handlung [...] präsentieren die Metamorphosen eine nicht abreißende Kette von Menschen ungewöhnlicher Schicksale, die, zusammengenommen, den Menschen als ‚Helden‘ des epischen Gedichts ergeben.“ 9 Achelochous in met. 9,1–88 etwa „lässt Hercules als plumpen, bösartigen Schläger erscheinen“, Horstmann 2014, 20 mit Fn. 71. Ähnlich geht schon Apollonios von Rhodos 4,1406–1451 vor, wenn seine Hesperiden Orpheus empört von dem Apfelraub eines wilden Mannes berichten, den die Gefährten erfreut als ihren verlorenen Kameraden Hercules erkennen.
90 Die Metamorphosen als Variationensammlung einzelnen Handlungsorte selbst werden im Metamorphosentext in hohem Maße und systematisch variiert. Dies soll am Beispiel der Darstellung einer Höhle – sachlich betrachtet nichts als ein Hohlraum in einem Stein – illustriert werden. Eine Höhle wird bisweilen idyllisch-erotisch dargestellt wie die Badegrotte der Diana (met. 3,155–162, bes. 161f: fons sonat a dextra tenui perlucidus unda, / margine gramineo patulos incinctus hiatus); sie kann einladend und prunkvoll wirken wie beim Gastmahl des Flussgottes Achelous (met. 8,562–573; 562–564: pumice multicavo nec levibus atria tophis / structa subit: molli tellus erat umida musco, / summa lacunabant alterno murice conchae).10 Sie kann gewaltig und übersinnlich als Kerker für Windgötter dienen wie die Höhle des Aeolus (met. 14,224: Aeolon Hippotaden, cohibentem carcere ventos; met. 4,663: Clauserat Hippotades Aetnaeo carcere ventos; met. 11,431f.: Hippotades [...], qui carcere fortes / contineat ventos) oder, unter Variation derselben Erzählemente, naturwissenschaftlich als ein von Winden aufgeblähter Hohlraum erklärt werden wie in der Pythagorasrede (met. 15,296–306, bes. 305f.: tumor ille loci permansit et alti / collis habet speciem longoque induruit aevo).11 Ein- und dieselbe Höhle wird aus zwei verschiedenen Figurenperspektiven sogar gegensätzlich wahrgenommen: Polyphems Höhle ist aus seiner eigenen Sicht ein gemütliches Heim (met. 13,810–812: sunt mihi, pars montis, vivo pendentia saxo / antra, quibus nec sol medio sentitur in aestu, / nec sentitur hiems) und ein Schreckensort aus Sicht des Achaemenides in met. 14,167–222.12 Ebenso ist Scyllas Felsen zunächst ein geschützter und idyllisch gezeichneter Ort für sie als Mädchen (met. 14,51f.: parvus erat gurges, curvos sinuatus in arcus, / grata quies Scyllae) und später, nach ihrer Verwandlung in ein Ungeheuer, eine Gefahr für alle Seeleute.13 10 „Von rechts hört man eine klare Quelle mit sanften Wellen, am Rande des breiten Beckens von Gras umrahmt“; „Er trat in die Hallen [atria] ein, die aus viellöchrigem Bimsstein und rauem Tuff erbaut waren. Der Boden war feucht von weichem Moos und die Decke war im Wechsel mit Muscheln und Schnecken getäfelt.“ 11 „Aeolus, Sohn des Hippotes, der die Winde im Kerker gefangen hält“; „Der Sohn des Hippotes hatte die Winde im Kerker beim Aetna eingeschlossen“; „Der Sohn des Hippotes, der die kraftvollen Winde im Kerker festhält“; „Diese lokale Schwellung bestand fort, hat das Aussehen eines hohen Hügels und ist im langen Laufe der Zeit versteinert.“ 12 „Ich besitze einen Teil des Berges, hochgelegene Höhlen in bewuchertem Felsen, in denen man weder die Sonne in der Mittagshitze spürt noch die Winterkälte.“ Die Höhle selbst wird im Metamorphosentext von Achaemenides allerdings nicht genannt. Erst bei Kenntnis der Erzählung aus anderen Werken weiß der Leser, dass die geschilderten blutigen Bilder und der Boden, auf dem er seine Gefährten zerschmettert sehen musste, innerhalb der Höhle zu verorten sind. 13 „Es gab eine kleine Bucht, zu runden Bögen gekrümmt, eine willkommene Erholung für Scylla“. Dies wird vor allem durch intertextuelle Bezüge erzählt und im Werk selbst nur kurz zusammengefasst, vgl. Kap. 14.
Vielfalt der Figurentypen 91
. Vielfalt der Figurentypen Die Vielzahl, aber auch die Vielfalt der im Vordergrund handelnden Figuren in den Metamorphosen hebt das Werk von allen uns zuvor bekannten Texten ab. Die meisten Protagonisten sind, wie in Epen üblich, Heroen, Götter oder Adelige, doch es finden sich neben diesen traditionellen Figuren auch diverse ‚kleinere‘ Figuren.14 Das Auftreten von Personen mit einem niedrigen Sozialstatus bildet wieder kein Novum, denn Ammen,15 Hirten,16 Bettler17 und Mägde18 finden sich auch in früheren Epen, wo sie teilweise nur atmosphärisches Nebenpersonal darstellen wie etwa beim Auftragen eines Gastmahls, bisweilen aber auch plotrelevante Funktionen erfüllen. Dennoch bildet die Vielzahl der verschiedenen ‚kleinen Leute‘ in den Metamorphosen wie von Fischern,19 Bauern20 oder anderen mittellosen Volksleuten21 eine 14 Vgl. zu diesem Thema auch Fleischmann 2007. 15 Z.B. Caietas Bestattung in Verg. Aen. 7,1–4 oder Sychaeusʼ alte Amme Barce in Aen. 4,632– 641. 16 Z.B. der Sauhirte Eumaios in Hom. Od. 14 und der Hirte Parabaios bei Apoll. Rhod. 2,450– 489. Doch Eumaios und Parabaios sind beide nur im Gegensatz zu den edleren Protagonisten arme Leute und leben nicht in wirklich ärmlichen Verhältnissen: Eumaios bewohnt ein eigenes Haus, trägt die Verantwortung über die Güter und hat Unterhirten unter sich, die selbst weder mit Namen noch Figurenreden in Erscheinung treten. Zudem gibt es Erzählungen, nach denen er eigentlich ein Königssohn ist und lediglich durch den Verrat einer Magd in die Sklaverei verkauft wurde, vgl. Nünlist 2006. Parabaios ist wiederum bloß durch einen Fluch in Armut geraten und hat durch seine Leistung inzwischen wieder eine eigene Herde in seinen Besitz gebracht. 17 Z.B. Iros in Od. 18,1–110. 18 Z.B. Eurykleia in Hom. Od. 1,428–435; 19,15–25 u.a. 19 Z.B. Acoetes, ehe er zum Piraten wurde (met. 3,582–591: Acoetes, / [...] humili de plebe parentes. [...] / moriensque mihi nihil ille reliquit / praeter aquas: unum hoc possum adpellare paternum – „Acoetes, [...] die Eltern stammten aus dem einfachen Volk. [...] Als er starb, hinterließ er mir nichts als Wasser: nur dieses eine kann ich mein Erbe nennen“), Glaucus vor seiner Gottwerdung (met. 13,920–923); Erysichtons Tochter verwandelt sich in die Gestalt eines Fischers in met. 8,852–868, ebenso Vertumnus in met. 14,651. Fischer werden als Quelle einer Erzählung in met. 9,228f. angeführt. 20 Z.B. die lykischen Bauern met. 6,344–381; Landarbeiter im Handlungshintergrund in met. 11,31–36; Vertumnus in met. 14,643–650. Bauern werden als Referenz für eine Erzählung in met. 9,456 genannt: ut referunt tardi nunc denique agrestes – „Wie auch jetzt noch die trägen Bauern berichten.“ 21 Odysseusʼ ehemalige Gefährten Achaemenides und Macareus (met. 14,159–440); die einfache Dienerin Galanthis (met. 9,306: una ministrarum, media de plebe – „Eine der Dienerinnen mitten aus dem Volk“) überlistet die Göttin Lucina, die Alcmenes Geburt verzögert. Auch Arachne wird als Kind aus einfachen Verhältnissen beschrieben (met. 6,7–11: non illa loco nec origine gentis / clara, sed arte fuit: pater huic Colophonius Idmon / Phocaico bibulas tinguebat murice
92 Die Metamorphosen als Variationensammlung auffallend große Variationsbreite über die verschiedenen Status der Figuren. Neben dem Status wird auch die Vielfalt von charakterlicher Güte zur Darstellung gebracht, die von höchster Tugend wie etwa am Beispiel von Philemons und Baucisʼ vollendeter Gastfreundschaft (met. 8,611–724) bis zum niedrigsten Frevel wie durch Lycaons Gegenbild eines schlechtestmöglichen Gastgebers durch das Auftischen von Menschenfleisch und Anheuern eines Meuchelmörders reicht (met. 1,163–167; 216–231). Die Metamorphosen arbeiten aber nicht nur mit Extremen. Auch die Zwischentöne zwischen Edelmut und Frevel werden gezeigt bzw. sogar reflektiert, wenn etwa Medea oder Byblis vor ihrer Untat in ihren Gefühlen schwanken, wenn Arachne kurz errötet, als sie sich von Minerva ertappt fühlt (met. 6,45–59), wenn Pyramus oder Aesacus Reue über ihr unvorsichtiges Handeln empfinden (met. 4,105–119; met. 11,778–782) oder wenn Anius den mangelnden Mut seines Sohnes, seine Schwestern gegen Agamemnon zu verteidigen, damit rechtfertigt, dass er eben „kein Aeneas oder Hektor“ sei (met. 13,663–666).
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Facettenvielfalt der Einzelfiguren
In jeder Geschichte durchleben Figuren unterschiedliche Situationen und zeigen verschiedene Facetten ihres Charakters, und häufig machen sie dabei zudem einen grundlegenden Wandel durch, der auf ein Ziel hinführt. Gerade in antiken Epen ist der Wandel von Figuren, die äußere wie innere Heldenreise und die Metamorphose eines Charakters ein bedeutendes Thema. So erzählt die homerische Ilias von Achills Wandel vom Jähzorn zur Versöhnung. Odysseus, der πολύτροπος (Hom. Od. 1,1), durchlebt die Rollen vom Anführer zum Irrfahrer, vom Bettler zum König.22 Auch Apolloniosʼ Jason und der vergilische Aeneas23 vollziehen durch ihre verschiedenen Rollen als Vertriebene, Geworfene, Liebende und Abenteurer jeweils eine Metamorphose im Charakter. Die Konzeption wandelbarer Charaktere hat bei einer solchen Vielzahl von sich jeweils wandelnden Protagonisten, die zeitgleich die Werkwelt der Metamorphosen bevölkern und in Figurenreden ihren jeweils eigenen Blick auf ihre Umwelt darbieten, eine ganz eigene Dynamik von Kohärenzen zur Folge. Wie in den lanas; / occiderat mater, sed et haec de plebe suoque / aequa viro fuerat – „Diese war nicht durch ihren Stand oder die Herkunft ihrer Familie berühmt, sondern durch ihre Kunstfertigkeit: Ihr Vater Idmon von Colophon färbte durstige Wolle mit der phocaischen Purpurschnecke; ihre Mutter war gestorben, auch diese stammte aus dem einfachen Volk und war ihrem Mann ebenbürtig gewesen“; uvm. 22 Etwa: „der vielgewandte“. Hopkinson 2000, 1. 23 Schauer 2007, 125–155.
Vielfalt von Geschichten 93
Metamorphosen anhand der Biographien facettenreicher Charaktere die Kohärenz der Gesamthandlung zur Darstellung kommt, wurde bereits in Kap. 4.1.3 gezeigt. Im folgenden Kapitel soll der Fokus darauf liegen, wie umgekehrt die Vielfalt der Charaktere selbst betont wird. Dabei dienen die schillernden Biographien einzelner Figuren auch dazu, die Vielfalt der Facetten einer Figur mit dem Ziel einer erschöpfenden Auffächerung von möglichen menschlichen (bzw. anthropologisiert-göttlichen) Eigenschaften darzustellen.
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Vielfalt von Geschichten
„Geschichte wiederholt sich“. Was für die reale Welt so nicht zutrifft, gilt für die poetische Konzeption der Metamorphosen umso mehr. In immer neuen Variationen werden einander ähnliche Situationen geschildert, wobei immer nur kleine Elemente in der Figurenzeichnung, Figurenkonstellation, der Ausgangssituation, des Handlungsverlaufs oder der Erzählperspektive und Erzählhaltung verändert werden. Die vielfältige Variation dieser immergleichen Elemente soll im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden, um das Konzept der Vielfalt innerhalb der insgesamt einheitlichen Werkwelt zu veranschaulichen. Als Beispiel ließe sich jede beliebige Erzählung im Metamorphosentext herausgreifen, um davon ausgehend nach Parallelen oder auch Kontrasten im Gesamtwerk zu suchen. Es böten sich als repräsentative Untersuchungsgegenstände etwa Erzählungen über Frevel und Strafe, über gute und schlechte Herrscher, über Gastfreundschaft und Feindschaft oder der Vergleich von Darstellungen verschiedener Künstlerfiguren an. Den Anfang einer solchen Suche nach parallelen Erzählmustern soll hier allerdings nicht der Zufall auswählen, sondern ein Hinweis im Metamorphosentext selbst: Zu Beginn des zweiten Buches lobt der Primärerzähler an einem Kunstwerk im Palast des Sonnengottes, das wie der Metamorphosentext selbst die ganze Welt darstellt,24 die Variation bei der Darstellung der Najaden, deren Schwesternähnlichkeit und Verschiedenheit gleichermaßen zur Darstellung kommt (met. 2,13f.: facies non omnibus una, / non diversa tamen, qualem decet esse sororum).25 Da so im Text selbst die Variation 24 Met. 2,5–7: materiam superabat opus: nam Mulciber illic / aequora caelarat medias cingentia terras / terrarumque orbem caelumque, quod imminet orbi – „Das Werk übertraf noch das Material: Denn Vulcan hatte darin die Meere ziseliert, welche in ihrer Mitte die Länder umgürten, und auch den Erdkreis und den Himmel, der über der Welt schwebt“. Vgl. zu diesen Versen auch Bernsdorff 2000, 18. 25 „Das Gesicht war nicht bei allen gleich, aber auch nicht verschieden, so wie es bei Schwestern passend ist.“
94 Die Metamorphosen als Variationensammlung von Figurendarstellungen in einem weltumfassenden Kunstwerk am Beispiel von Nymphen metaliterarisch thematisiert wird, soll dieser Figurentyp hier auch zur Illustration von praktisch umgesetzter Variation dienen. Im Metamorphosentext begegnen uns Nymphen zumeist im erotischen Kontext und besonders oft in Erzählungen von Begegnungen zwischen der jungen Frau und einer männlichen Gottheit, von denen jeweils eine Figur als Aggressor und eine als fliehende Figur auftritt. Im Folgenden wird gezeigt, inwiefern hier mit nur kleinen Verschiebungen einzelner Elemente große Veränderungen im Gesamtmuster der Erzählungen entstehen. Dabei werden teilweise auch Erzählungen berücksichtigt, in denen Figuren nicht Nymphen im eigentlichen genealogischen Sinne sind, aber aufgrund einer parallel gestalteten Darstellung in entsprechenden Rollen agieren, wie z.B. Proserpina, Europa und andere Königstöchter. Die Figur einer Nymphe scheint auf den ersten Blick nur wenig Variation zuzulassen: Nymphen sind jung, weiblich und grundsätzlich schön. 26 Bei der Darstellung ihrer Jugend wird in den Metamorphosen tatsächlich wenig variiert, zumal genaue Altersangaben ohnehin sehr selten, und wenn, dann nur für männliche Figuren vorkommen.27 Auch die Schönheit von Nymphen ist stets herausragend, wobei abgesehen von der Beschreibung ihres cultus wenig konkrete Angaben zum Aussehen gemacht werden. Doch das Verhältnis der jeweiligen Figur zu ihrer eigenen naturgegebenen Schönheit variiert in hohem Maße und reicht von extremer Eitelkeit28 über eine ungekünstelte Natürlichkeit29 bis hin zur regelrechten Körperscham.30 Eine besondere Kombination dieser Elemente bildet die dianagefällige Nymphe Crocale, die der Göttin – selbst unfrisiert – als ihre 26 Dies lässt sich werkimmanent etwa aus met. 6,451–454 schließen, wonach Philomelas Schönheit mit der von Najaden und Dryaden verglichen wird. 27 Narcissus in met. 3,351f.; Hermaphroditus in met. 4,292; Picus in met. 14,324f. 28 Z.B. Salmacis in met. 4,310–314 (vgl. hierzu auch Kap. 9). Stolz auf ihre Schönheit und Zahl ihrer Verehrer gibt sich rückblickend auch die inzwischen in eine Krähe verwandelte Königstochter Cornix in met. 2,569–572. 29 Daphne (met. 1,477; 497f.), Syrinx (met. 1,695–698) 30 Z.B. Daphne (met. 1,483f.: illa velut crimen taedas exosa iugales / pulchra verecundo suffuderat ora rubore – „Diese verabscheute die Ehefackeln, als wären sie etwas Schuldhaftes, und Schamesröte überzog ihr schönes Gesicht“) und Arethusa (met. 5,582–584: nec mea me facies nimium laudata iuvabat, / quaque aliae gaudere solent, ego rustica dote / corporis erubui crimenque placere putavi – „Mich freute es nicht, wenn man mein Aussehen zu sehr lobte, und über das Geschenk eines schönen Körpers, worüber sich andere Frauen für gewöhnlich freuen, errötete ich in meiner Einfachheit und hielt es für ein Vergehen, jemandem zu gefallen“). Callisto empfindet keine Scham für ihren Körper, sondern für ihre ungewollte Schwangerschaft (met. 2,447– 464).
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persönliche Friseurin dient (met. 3,168–170: nam doctior illis / Ismenis Crocale sparsos per colla capillos / colligit in nodum, quamvis erat ipsa solutis).31 In Korrelation dazu, aber nicht ganz deckungsgleich zu diesen Variablen, finden sich außerdem verschiedene Formen von einer passiven Furcht vor jedweder Sexualität bis hin zu aktivem, aufdringlich sexualisiertem Verhalten – hier nimmt dann die männliche Figur die Opferrolle in der Erzählung ein. 32 Eine weitere Form von Sexualität neben einer mit allen Mitteln verteidigten Jungfräulichkeit33 und dem koketten Spiel mit einer Vielzahl von Verehrern34 zeigen diejenigen Nymphen, die in einer monogamen Ehe leben.35 Eine davon wieder unterschiedliche Variable ist die generelle Schüchternheit oder Aufdringlichkeit einer Figur, denn trotz ihrer Scheu vor Sexualität tritt beispielsweise Arethusa der Göttin Ceres gegenüber keineswegs als ein introvertierter Charakter auf. Bei Echo ist dagegen eine Übereinstimmung in ihrem Verhalten Frauen und Männern gegenüber festzustellen, denn sie tritt erst Juno gegenüber forsch auf, um ihren Schwestern die Gelegenheit zu geben, sich mit Jupiter für erotische Abenteuer zu treffen, und auch in ihren eigenen Liebesinteressen wagt sie später Narcissus gegenüber den ersten Schritt.36 Manche Nymphen werden müßig bis faul, Reigen tanzend oder kindlich-verspielt dargestellt,37 andere wiederum sind sportlich, leistungsstark oder ehrgeizig auf ihre Arbeit fokussiert.38 31 „Denn geschickter als diese fasste die thebanische Crocale die Haare, die über ihren Nacken wallten, zu einem Knoten zusammen, obwohl sie selbst ihr Haar offen trug.“ 32 Salmacis und – Narcissusʼ Empfinden nach – Echo; sexuell-aggressiv tritt wiederholt auch Circe auf. 33 Daphne (met. 1,478), Syrinx (met. 1,694f.), Callisto (met. 2,434–438); Pomona (met. 14,634– 636) u.a. 34 Viele Verehrer haben Syrinx (met. 1,692–694, Cornix (met. 2,571), Narcissus (met. 3,353); Medusa (met. 4,795), Deianira (met. 9,10), Myrrha (met. 10,315f.), Chiona (met. 11,301f.), Caenis (met. 12,192), Cyllarus (met. 12,404), Pomona (met. 14,635–643) und Scylla in met. 13,735–737: hanc multi petiere proci, quibus illa repulsis / [...] elusos iuvenum narrabat amores – „Viele Bewerber waren an ihr interessiert, und wenn sie diese abgewiesen hatte, erzählte sie davon, wie sie mit den Gefühlen der jungen Männer ihr Spiel getrieben hatte“. – Grundsätzlich ist allein anhand der Zahl der Verehrer nicht zu entscheiden, ob es sich im Einzelfall um eine überzeugte Verteidigung der Jungfräulichkeit oder um ein frivoles Spiel zum Aussortieren unpassender Partner bei gleichzeitigem Warten auf den „richtigen“ Bewerber handelt. Als tatsächlich ausgelebte Polyamorie lässt sich keine dieser Stellen deuten. 35 Canens (met. 14,335f.), Eurydica (met. 10 und 11); Galatea (met. 13,752). 36 Met. 3,362–365 und 3,370–389. 37 Salmacis met. 4,310–314; Galatea in met. 13,736–738, vgl. auch Europa in met. 2,844–869; Proserpina met. 5,391–401; Cornix in met. 2,572–577. 38 Arethusa als jagdeifrige Nymphe und Köcherträgerin der Diana (met. 5,619f.), die Zofen und Friseurin der Diana (met. 3,165–172), Nereiden als kräutermischende Gehilfinnen der Circe
96 Die Metamorphosen als Variationensammlung All diese Nymphen mit ihren vielfältigen Kombinationen von Charaktereigenschaften begegnen im Metamorphosentext Männern, woraus sich eine erotische Konfliktsituation entspinnt, die zumeist mit einer oder mehreren Verwandlungen endet. Die männlichen Figuren selbst variieren ebenfalls in ihrem Figurentyp und ihrer Kombination von Einzelfacetten. Sie besitzen einen Status vom unkultivierten Hirten39 bis hin zur strahlenden Gottheit40 mit vielen Zwischenfacetten wie niederen Gottheiten41 oder Königssöhnen,42 was wiederum in einer variablen Korrelation zu ihrer Gesinnung, Feinfühligkeit, Kunstfertigkeit im Reden oder Wildheit dargestellt wird. Diese Kontrastierungen werden teilweise sogar von den Figuren selbst betont, die allerdings aus ihrer eigenen Perspektive nur die Beispiele einiger ihnen bekannter Personen vergleichen und dabei nicht wie der Leser das gesamte Figureninventar der Weltgeschichte als weitere Vergleichspunkte vor sich ausgebreitet sehen. So lobt etwa Galatea dem Mädchen Scylla gegenüber die vergleichsweise Friedfertigkeit von deren Verehrern, um vor dieser Folie ihren eigenen Verfolger, den Cyclopen Polyphem, als besonders wild hervorzuheben (met. 13,740; met. 13,759). Den verschiedenen Figurencharakteren entsprechend verlaufen auch die Handlungsabläufe bei der stets ähnlichen Ausgangsituation einer Begegnung zweier Figuren in einer idyllischen Umgebung unterschiedlich. 43 Redegewandte Gottheiten wie etwa Apoll oder Jupiter44 versuchen es zunächst mit einer Ansprache, in der sie sich selbst und ihre eigenen Vorteile wie Herkunft, Status, Vermögen und Fertigkeiten anpreisen und der Angebeteten blanditiae entgegenbringen45 – was ihnen allerdings selten Erfolg einbringt, da es nun meist zu Flucht, Verfolgung und einer (versuchten oder ausgeführten) Vergewaltigung kommt. Diesen Weg versuchen zunächst auch ganz unpassend zu ihrer eigentlichen Wildheit Boreas in met. 6,682–689 und Polyphem in met. 13,689–858, bevor sie zur Gewalt gegen die Frau oder den Rivalen greifen. Dass diese Vorgehensweise
(met. 14,264–267), die musisch begabte Canens (met. 14,337–341), die Hamadryade Pomona in ihrem Garten (met. 14,623–633). 39 Polyphem in met. 13,789–869. 40 Jupiter, Apoll, Neptun, Pluto, auch Sol und Vertumnus. 41 Pan, Alpheus, Boreas uvm. 42 Aesacus (met. 11,761–770) uvm. 43 Zur Variation der Vergewaltigungserzählungen der Figurenkostellationen Alpheus-Arethusa, Jupiter-Europa und Apollo-Daphne vgl. Stirrup 1977. 44 Eine Untersuchung von Repetition und Variation in den aufeinanderfolgenden Erzählungen über Daphne und Io bietet Wheeler 2000, 58–63. 45 Apoll in met. 1,504–524, Iupiter in met. 1,589–597, Pan in 1,698–701; Vertumnus in gewandelter Gestalt in met. 14,663–764.
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nicht zu seinem Charakter passt, kommentiert Boreas auch selbst in met. 6,687– 690: quid [...] admovi [...] preces, quarum me dedecet usus? / apta mihi vis est.46 Andere Gottheiten überspringen diesen ersten Schritt der Rede ganz und nehmen gleich die Verfolgung auf. Im Laufe des Werkes variiert der Erzähler auch hier, indem bisweilen eine Rede zwar erwähnt, aber nicht ausgeführt wird.47 In Caenisʼ Fall bringt Neptun die Rede sogar erst nach der Vergewaltigung vor, indem er ihr nachträglich anbietet, ihr als Gegenleistung einen beliebigen Wunsch zu erfüllen (met. 12,196–200). Der Grund der Flucht der Frau wird oft explizit genannt oder er ergibt sich aus der vorherigen Einführung der Figuren, indem z.B. Daphne ihrem Vater gegenüber den Wunsch nach ewiger Jungfräulichkeit äußert, Galatea von ihrer Liebesbeziehung zu einer dritten Person berichtet oder Scylla vor dem unheimlichen Aussehen des Glaucus erschrickt. In manchen Fällen wird die Charaktereinführung wiederum so kurz gehalten, dass dem Leser der genaue Grund für die Flucht unklar bleibt.48 Weibliche Figuren und insbesondere Nymphen scheinen im Metamorphosentext bei der Begegnung mit einer männlichen Figur grundsätzlich damit zu rechnen, dass sie vor einer spontanen Gewalttat fliehen müssen, sodass die Schilderung eines konkreten Anlasses hierfür nicht zwingend nötig ist. In met. 3,362–365 verschafft jedoch Echo den anderen Nymphen Zeit, damit sie sich mit Jupiter treffen können, ohne von Juno erwischt zu werden (met. 3,363: sub Iove saepe suo nymphas in monte iacentis).49 Gelegentlich scheinen Nymphen in der Werkwelt der Metamorphosen also auch einvernehmlich und unter Eigeninitiative mit männlichen Gottheiten zu verkehren. Dennoch gehören diese Geschichten offensichtlich nicht zu den Mustererzählungen, anhand derer die Vielfältigkeit ähnlicher Ereignisse innerhalb der Weltgeschichte demonstriert wird, sodass diese harmonische Art von Handlungsverlauf mit wenigen Ausnahmen nicht zur Darstellung kommt. Im Gegenteil, es bewirkt sogar einen überraschenden Effekt, wenn gegen Werkende Pomona dem Gewalteinsatz des Vertumnus anders als in allen vorherigen parallel gestalteten Erzählungen keine Flucht oder 46 „Wozu [...] habe ich Bitten vorgetragen, deren Gebrauch so entehrend für mich ist? Zu mir passt Gewalt.“ 47 Mercurs Erzählung gegenüber Argus bricht an dieser Stelle ab, wie der Primärerzähler kommentiert, met. 1,700f.: ‚talia verba refert...‘ – restabat verba referre / et precibus spretis fugisse per avia nympham – „‚Solche Worte sprach Pan‘ – es stand aus, die Worte zu berichten und dass die Nymphe die Werberede zurückgewiesen und durch die Wildnis geflohen sei“; met. 13,907f. über Glaucus: quaecumque [...] refert – „und was er sonst noch vorträgt“, vgl. Hopkinson 2000, 231: Ovid has already had such a speach [...] and jokingly implies that he will not quote another.“ 48 Z.B. Io in met. 1,597. 49 „Nymphen, die oft unter Jupiter [= unter freiem Himmel] auf ihrem Berg lagen“.
98 Die Metamorphosen als Variationensammlung Gegenwehr entgegensetzt, sondern sich spontan in ihn verliebt und sich ihm freiwillig hingibt (met. 14,770: vimque parat; sed vi non est opus).50 Diese Vielfältigkeit von Geschichten zeigt sich also in den Figuren selbst und in der davon abhängigen Art ihrer Aktionen und Reaktionen, was zu immer unterschiedlichen Handlungsabläufen führt. Ein weiterer Multiplikationsfaktor ist die Erzählperspektive, der Erzählzeitpunkt und die Fokalisierung des Erzählers, was jeweils eng verbunden ist mit der Erzählhaltung. Allein die Bewertung gleicher Handlungsabläufe durch den Primärerzähler kann dabei unterschiedliche Färbungen annehmen: Während er die Vergewaltigung der Io wie eine amüsante Episode im Leben des Jupiter erzählt, stellt derselbe Erzähler ein Buch später den fast gleichen Handlungsablauf in Callistos Leben als grausam, ungerecht und bemitleidenswert dar.51 Andere Erzählungen über verfolgte Nymphen variieren, indem sie entweder aus Opfersicht,52 aus Tätersicht,53 aus der Sicht unbeteiligter Augenzeugen54 oder eifersüchtiger Dritter55 berichtet werden oder aber aus der Perspektive von Künstlern, 56 die in ihrer Darstellung bestimmte Facetten des Ereignisses betonen, um sie als Teilfacette in ihr eigenes Gesamtwerk einzufügen. Besonders deutlich zeigt sich die Variation von Erzählungen, die allein durch eine veränderte Haltung der Erzählfigur zustande kommt, dann, wenn ein- und dieselbe Begebenheit im Laufe des Gesamttextes gleich mehrfach berichtet wird. So kommt es, dass Jupiters Begegnungen mit Io und Callisto nach ihrer ohnehin schon so unterschiedlichen Erzählhaltung durch den Primärerzähler später noch ein weiteres Mal mit einer wieder variierten Erzählhaltung, nämlich empört aus Sicht der beleidigten Ehefrau Juno, erwähnt werden.57 Europas Raub durch Iupiter wird einmal nüchtern vom Primärerzähler erzählt und später noch einmal in 50 „Er bereitet sich darauf vor, Gewalt anzuwenden; aber Gewalt ist nicht nötig“. Vgl. Horstmann 2014, 154f. 51 Zur Tragik wechselt die Io-Erzählung erst im Zuge ihrer Bestrafung, z.B. anhand der Rede ihres Vaters Inachos, Met. 1,651–667, der über seine eigenen Leiden und verlorenen Hoffnungen klagt: 651: 'me miserum!' exclamat pater Inachus; 654f.: tu non inventa reperta / luctus eras levior! („Ich Armer!“ rief der Vater Inachus“; „Als ich dich noch nicht wiedergefunden hatte, warst du ein geringerer Leidensgrund!“) u.a. Zum Vergleich der Erzählhaltung siehe Wheeler 2000, 58– 106, insb. 72 und 99, und Horstmann 2014, 183–192. 52 Cornix in met. 2,552–595; Arethusa in met. 5,577–641; 53 Achelous in met. 8,590–610, bes. 592: huic ego virgineum dilectae nomen ademi – „Dieser nahm ich aus Liebe ihren Ruf als Jungfrau.“ 54 Z.B. Arethusa über Proserpina in met. 5,504–508. 55 Z.B. Juno über Callisto in met. 2,471–475. 56 Z.B. Arachne in met. 6,103–107. 57 Met. 2,512–530.
Fazit 99
Arachnes Kunstwerk zur Darstellung gebracht, indem der Fokus verurteilend auf die Gewalt eines Gottes einer schwächeren Frau gegenüber gelegt wird (met. 6,103–107). Calliope, Arethusa und Orpheus berichten jeweils einmal vom Raub der Proserpina.58 Die Muse Calliope mit ihrem künstlerischen Sinn für episches und elegisches Erzählen59 legt den Fokus detailliert auf den Schrecken und das Unverständnis des kindlichen Mädchens gegenüber der Situation (met. 5,385–408). So stellt sie beispielsweise dar, wie das Mädchen in ihrer Naivität noch über den Verlust ihrer gepflückten Blumen weint, während ihr Entführer ihr Kleid zerreißt. Arethusa, die als Nymphe auf der Flucht vor Alpheus selbst einmal eine ähnliche Situation erlebt hat, berichtet stattdessen als Augenzeugin (met. 5,505: visa tua est oculis illic Proserpina nostris)60 nachträglich davon, wie Proserpina ihre Entführung inzwischen verarbeitet habe und nun, mit noch sichtbaren Spuren von Traurigkeit und Angst in ihrem Gesicht, als Königin und geachtete Gemahlin in der Unterwelt ihren neuen Platz gefunden habe (met. 5,506–508). Orpheus übergeht lange Zeit später im Kontext seines Plädoyers für die Rückgabe seiner verstorbenen Frau fast alle Details der alten Legende und nennt im Sinne eines rhetorischen Exemplums nur den Aspekt von Plutos Verliebtheit als Auslöser ihrer Vereinigung (met. 10,28f.: famaque si veteris non est mentita rapinae, / vos quoque iunxit Amor).61 Ein weiteres Element, das der Text vielfach variiert, bilden die immer unterschiedlichen Arten der Verknüpfungen zwischen den Einzelerzählungen selbst.62
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Fazit
Die Untersuchung hat gezeigt, inwiefern innerhalb der einheitlich konzipierten Werkwelt als weitere Dimension die Vielheit innerhalb dieser Welt zur Darstellung gebracht wird. Wie bei der exemplarisch vorgestellten Variation der individuellen Höhlen, Nymphen, Verfolger, Werbereden und Handlungsabläufe, so werden über den Werkverlauf auch andere Erzählelemente in vielfacher 58 Calliopes und Arethusas Erzählungen sind wiederum eingelegt in den Gesang der Muse Urania. 59 Prop. 3,3; Ov. trist. 2,1,568. 60 „Dort habe ich deine Proserpina mit meinen eigenen Augen gesehen.“ 61 „Wenn nicht die Kunde von der damaligen Entführung [der Proserpina] erfunden ist, so hat auch euch Amor vereinigt.“ 62 Vgl. Wilkinson 1955; Wheeler 2000, 24f.; 58f.; 131f.; 137f. Holzberg 2007, 25–28, der diese Variation u.a. an den erzählten Reisebewegungen über Buchgrenzen hinweg illustriert.
100 Die Metamorphosen als Variationensammlung Wiederholung parallelisiert und kontrastiert. Dies geschieht vor allem durch eine Variation der verschiedenen Stellschrauben vom Figurentyp und seiner spezifischen Charakterzeichnung, der Figurenkonstellation, der Erzählperspektive und der Erzählhaltung sowie der Einbettung der Erzählung durch unterschiedliche Erzählebenen und Überleitungen, woraus sich jeweils dynamische Veränderungen für die Gesamtkonstellation dieser Elemente und den Handlungsverlauf ergeben. Im jeweiligen Kontext erfüllen die einzelnen Elemente in den Darstellungen eine jeweils unterschiedliche erzählerische Funktion, die auch ohne den Gesamtkontext des Werkes verständlich ist.63 Mit Blick auf das Gesamtwerk und im Vergleich mit den parallelen oder kontrastierten Variationen werden hierdurch bei einer kontinuierlichen Lesart außerdem weitere bedeutungskonstituierende Elemente erzeugt. Dieser Gedanke wird in Kap. 11.2 und 13.3 anhand des Vergleichs verschiedener parallel gestalteter Darstellungen von göttlichen, monströsen oder menschlichen Wohnstätten erneut aufgegriffen und weitergeführt.
63 Vgl. z.B. Little 1972 und 1976; Myers 2009, 64 und Gibson 2002, 351f.
Zwischenfazit Im vorangegangenen Teil der Arbeit konnte gezeigt werden, dass im Zuge der kontinuierlichen Erzählung viele dargestellte Zeiten, Räume und Figuren miteinander zu einer widerspruchsfreien, einheitlichen, kohärenten Werkwelt verflochten werden. Weiterhin werden innerhalb dieser Einheit nicht nur zahlreiche, sondern auch ausgesprochen vielfältige Figurentypen und Facetten ihrer jeweiligen Charaktere gezeigt sowie unterschiedliche Situationen, in denen sich variationsreiche Figurenkonstellationen auf verschiedene Weise zueinander verhalten. Dabei werden unterschiedliche Perspektiven und Erzählhaltungen auf diese Figuren und ihre Geschichten eingenommen, was den Blick auf diese Vielfalt und ihre Bewertungsmöglichkeiten noch weiter auffächert. Das Bild eines Kaleidoskops, das in der Forschung vielfach gewählt wurde, ist daher zweifellos ein treffender Vergleich.1 Im Laufe der Arbeit wurden außerdem Erzählfäden bemerkt, die zunächst offenbleiben und dann an späterer Stelle des Werkes wieder aufgegriffen und weitergeführt werden. Einige Fäden scheinen aber auch lose in der Luft zu enden. Die Untersuchungen im folgenden Teil der Arbeit gehen von der Annahme aus, dass solche unaufgelösten Andeutungen unerzählter Geschichten keine Ausnahme darstellen, sondern eine vielfach, bewusst und systematisch angewendete Erzählstrategie. So können intertextuelle Verweise auf werkfremde Erzählungen oder gar konkrete Vorgängerwerke dazu dienen, die Werkwelt der Metamorphosen auf der Handlungsebene über die dargestellte Vielfalt in der Einheit hinaus noch um weitere Zeiten, Räume, Figuren und ihre Geschichten zu erweitern. Die Werkwelt wird durch das Integrieren anderer Werke gewissermaßen über die geschilderten Weltanteile hinaus „vervollständigt“. Auch der Variationsreichtum in seiner kaleidoskopartigen Form innerhalb der Darstellung ist zwar ausgesprochen vielfältig, aber angesichts der Begrenztheit des Werkes auf 12.000 Verse natürlich nicht erschöpfend. In den Darstellungen von Typen, aber auch von Handlungsverläufen wurden häufig parallelisierende oder kontrastierende Darstellungen zu anderen Erzählungen bemerkt. Wie die Vielzahl an konkreten Figuren und Handlungen, so wird womöglich auch die Vielfalt von Figurentypen und ihren Facetten durch solche intertextuellen Verweise auf weitere bekannte Werke noch weiter – und möglichst erschöpfend – gestaltet: Indem eine ähnliche Darstellung in einem weiteren Werk mit in Erinnerung gerufen wird, verdoppelt sich die Facettenzahl des Erzählelements, z.B. 1 Döpp 1991, 345; Galinsky 1999, 307; Galinsky 2005, 352. https://doi.org/10.1515/9783110785005-006
102 Zwischenfazit einer Figur, im Prozess des Lesens. Sollte diese Verdopplungsstrategie durch intertextuelle Kontrastierung tatsächlich systematisch angewendet werden, vervielfacht sich dadurch die Anzahl der Figuren vor dem inneren Auge des Lesers über das Metamorphosenwerk hinweg schließlich wie in einem Spiegelkabinett geradezu ins Unendliche. Im folgenden Teil der Arbeit sollen diese beiden Arten der Werkwelterweiterung durch Intertextualität exemplarisch daraufhin untersucht werden, inwiefern weitere nicht erzählte, aber aus anderen Werken bekannte Orte, Figuren oder Handlungen angedeutet werden, sodass die damit verbundenen Erzählungen als über die Werkgrenzen hinausgehende Teile derselben Werkwelt hinzuzudenken sind. Zugleich wird die Strategie, die Menge von Figurentypen und ihren Handlungen durch intertextuelle Parallelen oder Kontrastierungen noch weiter zu vervielfältigen, in den Blick genommen und geprüft, ob sich tatsächlich Tendenzen zeigen lassen, dass diese intertextuellen Werkerweiterungen als Versuch einer erschöpfenden Erzähltechnik fungieren.
Intertextualität und Intermaterialität als Multiplikationsfaktoren Bei der Vielzahl der Orte, der Figuren und ihrer Geschichten erscheinen, wie in der antiken Literatur üblich, die wenigsten als Neuerfindungen nur für das vorliegende Werk. Fast alle Figuren sind dem Leser bereits aus der Tradition, d.h. Überlieferungen und Ausarbeitungen vorheriger Künstlerinnen und Künstler, bekannt und erhalten lediglich eine neue Inszenierung.1 Allein die Nennung eines bekannten Figurennamens bildet also keinen Anlass, eine funktionale Intertextualität zu einem anderen Werk zu vermuten. Die Übergänge zwischen der Referenz auf ein konkretes Einzelwerk und das allgemeine Einreihen in die Tradition sind dabei fließend. Dies gilt in besonderem Maße, wenn ein bestimmter Text – wie z.B. die homerische Odyssee, Enniusʼ Annalen oder Vergils Aeneis – die Tradition eines Mythos zur Publikationszeit der Metamorphosen dominierte und als allgemeines Vorwissen oder gar erste Assoziation der Lesenden angenommen werden kann. Die einzelnen intertextuellen Verbindungen sind aufgrund der literarischen Tradition, auf die Ovids Metamorphosen gründen, ausgesprochen komplex.2 Bereits im Proömium finden sich auf engstem Raum Hinweise auf mehrere Großwerke oder Gattungen, sodass der Leser in programmatischer Weise darauf vorbereitet wird, im Laufe des Werkes Referenzen zu unterschiedlichsten literarischen Vorgängerwerken zu entdecken. 3 Neben einfachen linearen Bezügen finden sich window references und weitere Arten von Dreiecksbeziehungen zwischen Texten. 1 Vgl. etwa Hor. ars 119–135 mit Beispielen von traditionell bekanntem literarischen Stoff, der zur neuen Bearbeitung dienen kann. Umgekehrt weisen moderne Kommentare besonders darauf hin, wenn eine Figur nur selten oder gar nicht zuvor belegt ist. 2 Vgl. Farrell 1997, 229: „(T)he relationship between Virgil and Homer is not unique, and an understanding of Virgilian intertextuality that does not go beyond Homer is far from sufficient“. 3 Sie werden in der Forschung im Wesentlichen wie folgt gedeutet: nova und fert animus kündige Ovids eigene „postklassische“ Originalität und einen spielerischen Umgang mit der Tradition an, carmen perpetuum sowie der Götteranruf stehe für Epik bzw. Lehrdichtung, deductum werde mit alexandrinischer oder speziell kallimacheischer Dichtung assoziiert. Der Anklang der eigenen Person in Kombination mit dem Anruf unbestimmter Götter sowie die Formulierung primaque ab origine mundi erinnere wiederum an Apollonios (1,2) und die Wendung ad mea tempora deute an, dass der Erzähler das Werk inhaltlich in seine Gegenwart führen wolle – oder auch bis zu dem Punkt, wo „sein“ Werk der Fasti beginne. Die Forschungsliteratur allein zu diesen vier Versen kann hier aufgrund ihrer Masse nicht im Einzelnen diskutiert werden. Vgl. z.B. Knox 1986, 10; Hofmann 1986, 224; Myers 1994, 4; Galinsky 1999, 306f.; Tsitsiou-Chelidoni 1999, Tsitsiou-Chelidoni 1999, 273 und 301 mit Fn. 73; Andrae 2003, 35–38; Holzberg 2007, 12. https://doi.org/10.1515/9783110785005-007
104 Intertextualität und Intermaterialität als Multiplikationsfaktoren Häufig finden sich vor intertextuellen Bezügen Autoritäts- und Quellenverweise anhand von Formeln wie dicunt, fertur, fama est, ut memorant4 etc. Dies erfüllt zwei Funktionen: Innerhalb der Werkwelt möchte sich die jeweilige Erzählfigur – auch der Primärerzähler – auf diese Weise von der Verantwortlichkeit für den Wahrheitsgehalt ihres Stoffs distanzieren.5 Für den Leser bilden diese „alexandrinischen Fußnoten“ außerdem ein Signal dafür, die Aufmerksamkeit für Referenzen auf Vorgängertexte zu erhöhen. Jedes Element innerhalb der Metamorphosen, ob nun Ort, Figurentyp, individuelle Figur oder Charakterfacette, ist, dies wird als Grundthese angenommen, sowohl innerhalb der Werkwelt selbst als auch in einem intertextuellen Bezugssystem in ein Netzwerk von parallelen und kontrastierenden Darstellungen eingebettet. Im Folgenden soll erstens geprüft werden, inwiefern intertextuelle Bezüge die Funktion erfüllen, das Inventar von Figuren und Orten auf der Handlungsebene quantitativ noch über den Text hinaus zu erweitern und inwiefern sie zweitens weitere unerzählte Facetten von Figuren oder Situationen anklingen lassen und sie somit um neue, vielfältigere Qualitäten ergänzen. Im Einzelnen sollen bei der Identifikation und Deutung von Referenzen besonders strukturelle, inhaltliche und lexikalisch-semantische Ähnlichkeiten in den Blick genommen werden: Sind die Erzählungen parallel aufgebaut, sind die Figurenzeichnungen bzw. -konstellationen gleich oder auffällig kontrastiv gestaltet? Fallen Wortjunkturen auf, die an bestimmte Passagen in einem Vorgängerwerk erinnern, und in welchem Kontext und in welcher Funktion werden diese Worte jeweils verwendet? Was bewirken diese Bezüge für den Textsinn in der jeweiligen Passage, und inwiefern ändert sich das Verständnis des vorliegenden Metamorphosentextes, wenn ein Leser den Vorgängertext im Hinterkopf mitliest? Und umgekehrt, ändert sich durch die Kenntnis des Metamorphosentextes auch die Neulektüre des vorherigen Referenztextes? Mithilfe dieser Leitfragen sollen die Bezüge im Einzelnen gedeutet werden, um schlussendlich die Ausgangsfrage zu klären: Inwiefern wird Intertextualität in den Metamorphosen eingesetzt, um Kohärenz über die dargestellte Werkwelt hinaus zu erzeugen und um die Vielheit in dieser Einheit zu erweitern? Ein mögliches Ordnungssystem für die Untersuchung von Einzelpassagen auf intertextuelle Bezüge wäre eine Übernahme der Gliederung nach den Kategorien „Raum“, „Zeit“, „Figurengestaltung“ und „Facettenvielfalt“ aus den Kapiteln 4 und 5. Dies würde einen Vergleich der Strategien zur werkimmanenten Kohärenz mit denen für intertextuelle Kohärenzstrategien erleichtern. Zudem sind 4 „Sie sagen“, „man berichtet“, „es geht die Rede“, „wie sie überliefern“. 5 Vgl. hierzu ausführlich Horstmann 2014, 84–95, 179f. und 209–223.
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in Ekphraseis von Orten häufig besonders viele Referenzen angelegt, sodass die Methode, Ortsbeschreibungen unabhängig von den darin spielenden Handlungen auf Intertextualität zu untersuchen, im Material selbst angelegt scheint.6 Dennoch werden, wie in Kap. 4 gezeigt wurde, die Figuren stets als in ein und derselben Welt agierende, teilweise auch als chronologisch gleichzeitig sich im gleichen Raum bewegende und sich begegnende oder knapp verpassende Individuen dargestellt. Die Technik, mittels Figurenbegegnungen oder -wissen vormals getrennt überlieferte Erzählungen und Sagenkreise miteinander zu verknüpfen, wird über das gesamte Werk angewendet.7 Zeiten und Räume bilden wiederum stets die Hintergründe für Figurenhandlungen, und erst in ihrer Verwobenheit bilden all diese Elemente eine fortlaufende Erzählung. Deswegen ist eine strikte Trennung der Analyse nach Raum, Zeit und Figur gerade im Falle der Metamorphosen als carmen perpetuum nicht möglich. Besonders deutlich zeigt sich dies an Scylla: Sie ist eine Figur mit einer wechselhaften Biographie vom Mädchen bis zum Seeungeheuer, die statisch an einem Ort über einen sehr langen Zeitraum verharrt und schon durch ihre bloße Präsenz das Bindeglied für weitere Erzählungen bildet: Seereisende Figuren wie Medea, Odysseus oder Aeneas werden mit ihr konfrontiert. So wird Scylla sowohl im Kapitel 8 zum Handlungsort Sizilien im Laufe der erzählten Zeit als auch im Kapitel 14 als facettenreiche Figur selbst betrachtet; im Kapitel 15 zu Polyphem erfüllt ihre Interaktion mit Galatea wiederum eine verbindende Funktion für verschiedene erotische Geschichten. Aufgrund dieser Überlegungen werden die folgenden Einzelpassagen mit dem Fokus auf sehr unterschiedliche Elemente ausgewählt. Zunächst wird am Beispiel der Insel Sizilien gezeigt, wie die Darstellung eines statischen Ortes über eine lange Dauer der erzählten Zeit auch über die Grenzen des Metamorphosenwerks hinweg Textelemente in die Werkwelt integriert. Die Erzählung von Hermaphroditus und Salmacis (met. 4,285–388) parallelisiert und kontrastiert die Begegnung des homerischen Odysseus mit Nausikaa aus dem 8. Gesang der homerischen Odyssee; die Untersuchung dieser Passage dient vornehmlich als Beispiel für die Funktion intertextueller Bezüge, die Vielfalt von Figurentypen über den Text hinaus zu erweitern. Danach soll eine Untersuchung der Sage von
6 Vgl. etwa Barchiesi 2005, bes. 298f. 7 Vgl. zur Verbindung vormals getrennt überlieferter Sagenkreise auch Ludwig 1965, 39–47, vgl. Kap. 4.3; Galinsky 1975, 221f. Zur getrennten Darstellung aber auch Döpp 1991, 337: „Mit Polyphem und Circe wird dabei die märchenhafte Welt der Homerischen Odyssee evoziert. Diese Welt bleibt freilich für sich – es kommt ebensowenig zu unmittelbarer Berührung mit dem Bereich der Aeneaden, wie dies im dritten Vergilbuch der Fall ist.“
106 Intertextualität und Intermaterialität als Multiplikationsfaktoren Orpheus und Eurydica klären, inwiefern die Parallelgestaltung zur Behandlung des auffällig ähnlich strukturierten Stoffes in Vergils Georgica (georg. 4,453–527) den Metamorphosentext mit seiner Werkwelt und den darin dargestellten Figuren um weitere Aspekte erweitert. Anhand von Figurenreden oder -handlungen in Erinnerung gerufene weitere Erzählungen müssen nicht immer eigens ausgeführt werden, um Teil der kohärenten Metamorphosenwelt zu werden. Für den gebildeten Leser genügt die Nennung einzelner Stichworte oder Zitate, also gewissermaßen eines ‚losen Erzählfadens‘, um die Geschichte eines konkreten Vorgängertextes in Erinnerung zu rufen und als Teil der erzählten Welt zu begreifen.8 Somit fungieren Figuren häufig auch als Verbindungselemente zwischen dem vorliegenden Text und einem Vorgängerwerk. Die so aus anderen Werken in Erinnerung gerufenen Elemente können die Werkwelt der Metamorphosen wieder entweder in ihrer Einheit quantitativ um weitere Figuren oder Handlungen oder hinsichtlich ihrer Vielfalt um weitere qualitative Facetten erweitern. Es folgen daher mehrere Kapitel, die dieser Annahme nachgehen. Der Untersuchungsfokus liegt hierbei auf Einzelfiguren, die dem Leser auch aus anderen Werken bekannt sind oder auf veränderte Weise in die Erzählung eingebettet sind. So nimmt auch die Untersuchung der Figur der Fama im 9. und 12. Metamorphosenbuch ihren Ausgang bei einer konkreten vergilischen Textpassage um eine Figur gleichen Namens, nämlich beim personifizierten Gerücht in Nordafrika in Aen. 4,173–190. Dieser und weitere Vorgängertexte werden auf Ähnlichkeiten zur Famadarstellung in met. 12,39–66 sowie im gesamten Metamorphosentext untersucht, um die Funktionen dieser Bezüge für die Werkwelt zu erklären. Insbesondere wird geprüft, ob die Figur der Fama als identisch mit der Fama der Aeneis angenommen werden kann und so ein Verbindungselement zwischen den Werkwelten bildet, das diese als kohärente Einheit darstellt; doch auch Famas Verhältnis zu weiteren Kriegsfurien sowie zu den homerischen Musen wird in den Blick genommen. Im 13. Buch der Metamorphosen erzählen Odysseus und Ajax in ihrem Rededuell um Achills Waffen die Ereignisse, die dem Leser durch den Primärerzähler der Ilias bekannt sind, noch einmal rückblickend aus ihrer jeweils eigenen Figurenperspektive. Aufgrund der hohen Dichte eindeutiger Bezüge zum Iliastext bietet sich auch hier eine Untersuchung dieser Passage unter der Fragestellung an, inwiefern die Figuren und ihre Erlebnisse mit denen der Ilias oder auch weiterer Epen und Tragödien mit demselben Figureninventar gleichgesetzt werden und
8 Vgl. Tsitsiou-Chelidoni 1999, 298–301 und Andrae 2003, 77f.
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über dieses Verbindungselement weitere nur angedeutete Handlungen in die Einheit der Werkwelt integrieren. Nach den bekannten Helden Odysseus und Ajax kommen im 14. Buch der Metamorphosen auch bislang namenlose Nebenfiguren der homerischen Epen zu Wort. Zwei mittlerweile aus der Mission ausgeschiedene Gefährten des Odysseus berichten in met. 14,158–441 rückblickend von ihren Erlebnissen unter seiner Führung. Auch eine Dienerin der Circe, die der Odysseetext nur beiläufig erwähnt, betritt die Bühne des Geschehens und öffnet durch ihre Figurenrede eine neue Perspektive auf ihre Herrin Circe. Wieder soll einerseits geprüft werden, ob sich die geschilderten Erinnerungen der Figuren mit den Handlungen der Odyssee gleichsetzen lassen, sodass die Figuren als Verbindungselemente der Werkwelten dienen; andererseits wird untersucht, wie die Vielfalt innerhalb der einheitlichen Werkwelt durch ihre neuen Blickwinkel auf die bekannten Ereignisse erweitert wird. Dass die Reiseroute der vergilischen Aeneaden auf der Handlungsebene fast widerspruchsfrei mit der Darstellung der gleichen Reise im Metamorphosentext vereinbar ist, wurde in der Forschung bereits wiederholt gezeigt.9 Aus diesem Grund soll auf eine neue Untersuchung der ‚kleinen Aeneis‘ verzichtet werden. Stattdessen wird aufbauend auf diesen Ergebnissen der Blick vertiefend auf einzelne Figuren im 13. und 14. Buch gelegt, die für diese Gleichsetzung besonders ausschlaggebend sind. Anhand der aus Epen vornehmlich als bösartig bekannten Figuren Scylla und Polyphem wird gezeigt, wie in den Metamorphosen mithilfe intertextueller Bezüge unvereinbar scheinende Facetten aus verschiedenen 9 Es handelt sich dabei um die seit Vergil kanonische Version der Route, die möglicherweise bereits bei Varro in derselben Weise festgehalten worden war. Otis 1966, 314; Segal 1969, 270; Galinsky 1975, 221f.; Bömer 1982, 361: „Abweichungen wesentlicher Art hätte ihm weder die Mitwelt noch die Nachwelt verziehen“. Ellsworth 1988, 334. Döpp 1991, 331 u.a. arbeitet heraus, wie Ovid bei unverändertem Handlungsverlauf einerseits die Akzente anders legt, andererseits aber im Wesentlichen die Atmosphäre und den Werkcharakter der Aeneis trotz aller verschobener Proportionen bewahrt hat: „Hier handelt es sich gewissermaßen um Paraphrasen des Vergiltexts; sie sind [...] stets höchst pointiert formuliert“; Hinds 1998, 104: „annexing the whole Aeneid to the Metamorphoses“; vergilische Hauptpunkte geraten in den „Background“. Die Hauptcharaktere wie Dido und Turnus werden zu Nebenfiguren, während z.B. Circe und Scylla zu Hauptfiguren werden (105); 106: „He tracks the narrative line of the Aeneid closely; but whereever Virgil is elaborate, Ovid is brief, and wherever Virgil is brief, Ovid elaborates...“; „Rather than construct himself as an epigonal reader of the Aeneid, Ovid is constructing Virgil as a hesitant precursor of the Metamorphoses“; Ovids Metamorphosen zeigen sich nicht als Nachfolgewerk der Aeneis, sondern konstruieren die Aeneis zum Vor-Text der Metamorphosen, vgl. 107: „Is this super-episode a tale of centrifugal Ovidian response to the Aeneid, or is it a tale of centripetal Virgilian anticipation of the Metamorphoses?“
108 Intertextualität und Intermaterialität als Multiplikationsfaktoren Traditionen zu einheitlichen und zugleich vielfältigen Figuren zusammengeführt werden. Hierbei wird gezeigt, dass ihre Beziehung zueinander über die dritte Figur Circe als ein eigenständig fungierendes Netzwerk dargestellt wird, das auch unabhängig von Odysseusʼ Abenteuern biographisch miteinander verbunden ist. Diese Auswahl von Einzelpassagen und Figurendarstellungen soll ein möglichst vollständiges Gesamtbild der intertextuellen Bezüge gewährleisten, um zu untersuchen, inwiefern sie als Multiplikationsfaktoren für die Einheit und Vielfalt der dargestellten Werkwelt innerhalb des Weltgedichts bzw. der „Erzählung von der Erzählung der Weltgeschichte“ dienen.
Sizilien . Einleitung Sizilien bildet in den Metamorphosen den Handlungsort mehrerer Erzählungen; darüber hinaus spielt die Insel auch im Figurenwissen mehrerer Protagonisten eine Rolle. Während durch die wiederholte Nennung desselben Ortes innerhalb des Werkes Kohärenz erzeugt wird, verknüpft der Ort Sizilien die Metamorphosenwelt außerdem mit den Handlungsräumen anderer Werke. Das Beispiel der Insel Sizilien soll daher zeigen, wie anhand einer Raumdarstellung die Werkwelt durch intertextuelle Mittel über den vorliegenden Text hinaus um Elemente weiterer Werkwelten erweitert wird, indem sie als ein fixer Handlungsort in der sich stets wandelnden Welt auch als Verbindungselement zu anderen Werken fungiert.
. Sizilien als Fixpunkt innerhalb der Metamorphosenwelt Erstmals wird der Ort im fünften Buch genannt. Die Muse Calliope nennt, eingebettet in die Figurenrede der Muse Urania, die insula [...] Trinacris (met. 5, 346f.) und weitere sizilische Regionen wie den Aetna (met. 5,352) als die Landmassen, die nach dem Gigantenkrieg auf Typhoeusʼ Leib geworfen werden. Hiermit nimmt sie direkt Bezug auf den vorausgegangenen Gesang der Pereiden, welche die Flucht der Götter vor Typhoeus in herabsetzender Weise besungen hatten (met. 5,319–325) – ohne allerdings explizit Sizilien als Handlungsort zu nennen. Calliope nennt für diesen Ort nun auch den Namen Sicula und erzählt, wie – lange Zeit nach diesem Sieg über Typhoeus – Pluto die Insel mit seinem Wagen besucht und die Grenzen zur Unterwelt auf Erdbebenschäden untersucht, die durch Typhoeusʼ Bewegungen entstehen (met. 5,359–561), und wie er dort, von Amors Pfeil getroffen, Proserpina entführt. Sie führt weiter aus, wie Ceres vergeblich ihre Tochter sucht und aus Zorn über den Verlust vor allem in Sizilien eine Hungersnot auslöst (met. 5,474–486). In diesem Kontext wird Siziliens normalerweise „weltberühmte Fruchtbarkeit“ gerühmt (481: fertilitas terrae latum vulgata per orbem), was den Ort auch mit dem historischen Sizilien als bedeutenden landwirtschaftlichen Standort des römischen Reiches gleichsetzt. Calliope erzählt dann, wie Ceres auf Sizilien gleich zweimal der Quellnymphe Arethusa begegnet, die sie einerseits darüber informiert, dass Proserpina nun als Königin die Unterwelt regiert, und andererseits Geschichten über weitere Orte und Zeiten zu erzählen weiß. Unter anderem durch Arethusas und Ceresʼ https://doi.org/10.1515/9783110785005-008
110 Sizilien Reisebewegungen wird der Ort dabei im fünften Buch innerhalb kurzer Erzählzeit gleich mehrfach topographisch mit dem Rest der Metamorphosenwelt verbunden.1 Über das Figurenwissen der Medea erscheint Sizilien zwei Bücher später, wieder namentlich genannt, in seiner Facette als Ort einer gefährlichen Meerenge, wo Scylla und Charybdis auf Seeleute lauern (met. 7,62–65; vgl. Kap. 14). Wiederum ein Buch später wird die Insel nicht als Teil der Werkwelt genannt, sondern innerhalb eines Gleichnisses: Der Primärerzähler wählt ein anachronistisches Beispiel aus der Lebenswelt der Leserschaft, indem er die Größe des calydonischen Ebers mit zeitgenössischen (oder vielmehr: zeitlosen) sizilischen Stieren vergleicht (met. 8,282f: [Diana] misit aprum, quanto maiores herbida tauros / non habet Epiros, sed habent Sicula arva minores).2 Als Teil der mythischen Handlungswelt fungiert Sizilien erst im 13.–15. Buch wieder. Die Figur Scylla war bereits in Medeas Rede sechs Bücher zuvor als nahe bei Sizilien lebend lokalisiert worden, und über die Verbindung der Scylla zu Galatea wird die Insel nun wiederum indirekt mit der Cyclopeninsel gleichgesetzt. In der Schilderung von Glaucusʼ Route (met. 14,1–7), der bei seiner Reise zu Circe als eine der ersten Figuren der gesamten Erzählung italischen Boden betritt,3 wird erneut der Name Sicula genannt und in wenigen Versen in geraffter Form erneut inhaltlich zum Gigantenkrieg und zu den cyclopischen Bewohnern der Insel rückverbunden. Nachdem also im fünften Buch die Grenzen Siziliens von einem Unterweltsgott mit einem Wagen abgefahren werden (met. 5, 361: ambibat Siculae cautus fundamina terrae)4 und Ceres vom sizilischen Boden aus in den Äther hinaufgeflogen ist (met. 5,511f.), werden nun die Grenzen zum Meer von einem Seegott abgeschwommen (met. 14,6f: navifragumque fretum, gemino quod litore pressum / Ausoniae Siculaeque tenet confinia terrae).5 Auf diese Weise wird die in drei Spitzen zulaufende Insel Trinacria auch als Mittelpunkt zwischen allen drei Bereichen der Welt dargestellt. Als Teil von Aeneasʼ Route, die auf der Ebene der Geschichte wieder sehr viel später stattfindet, wird Sizilien in met. 15,706 genannt. Den Bogen zum 1 Met. 5,494–504; 607–609. 2 „Diana schickte einen Eber; selbst das grasreiche Epiros bewohnen keine größeren Stiere, aber die sizilischen Äcker bewohnen kleinere.“ 3 Myers 2009, 6. Doch schon im ersten Buch wurden in Apolls Prophezeiung über den Lorbeer italische Orte und Kulte genannt, und auf der Handlungsebene ist Phaeton die erste Figur, die, wenn auch unfreiwillig und tot, auf italischem Boden landet (met. 2,319–324). 4 „Aufmerksam ging er den Grund des sizilischen Landes ab.“ 5 „Und das schiffbruchreiche Meer, das zwischen zwei Küsten gedrängt liegt und die Grenzlinien zwischen dem ausonischen und sizilischen Land bildet.“
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zeitgeschichtlichen Sizilien schlägt schließlich eine Figurenrede des Gottvaters Jupiter in met. 15,807–842. Er ordnet die auf Handlungsebene kurz bevorstehende Ermordung Cäsars in das unentrinnbare Schicksal der Welt ein (met. 15,807: insuperabile fatum), das selbst die Götter nicht beeinflussen können und von dem er selbst nur lesen und es akzeptieren kann, statt es zu verändern. Jupiter nennt Sizilien (met. 15,825: et magnum Siculis nomen superabitur undis)6 hier als einen von mehreren Orten, an denen bedeutsame Ereignisse zu Cäsars Zeiten und in den Bürgerkriegen danach stattgefunden haben – bzw. zum Zeitpunkt seiner Rede noch stattfinden werden7 – und über die Augustus am Ende in Frieden und Gerechtigkeit herrschen solle. Diese Passagen erzeugen also eine Kohärenz innerhalb der Werkwelt und der historischen Welt des Lesers. Die Welt wird anhand von Reiserouten verschiedener Figuren mit der räumlichen Dimension anderer Länder und auch mit dem Himmel, dem Meer und der Unterwelt verbunden. Nicht nur die räumliche, auch die zeitliche Dimension der Insel wird mehrfach betont, indem Sizilien von den Gigantenkriegen bis hin zum augusteischen Rom und darüber hinaus einen Fixpunkt in der sich wandelnden Welt darstellt und im Figurenwissen zu unterschiedlichen Zeiten und mit vielfältigen Facetten bekannt ist.
. Sizilien als Kreuzungspunkt von Werkwelten Neben diesen Querverbindungen im Werk selbst finden sich auch intertextuelle Elemente, die all diese Passagen darüber hinaus mit weiteren Werkwelten verbinden. Dass etwa die Landmassen, die auf Typhoeusʼ Leib lasten, im Zusammenhang mit Erdbeben stehen, ist aus verschiedenen Vorgängerwerken bekannt (z.B. Hes. theog. 820–868). Dieses Element verknüpft der Metamorphosentext nun mit einem weiteren auf Sizilien lokalisierten Mythos: Wie der homerische Demeterhymnos8 erzählt der Metamorphosentext die Entführung der Proserpina und die Suche ihrer Mutter. Im homerischen Hymnos stellt sich Demeter in Begleitung von Hekate, der einzigen Augenzeugin der Entführung, vor das Pferdegespann des Helios (Hom. h. 2,63). Demeter erklärt ihm, dass ihre Tochter verschwunden und vermutlich gewaltsam entführt worden sei und bittet um Auskunft (Hom. h. 2,64–73). Helios hält an und gibt höflich die gewünschten Informationen. Im 6 „Und ein großer Name [= Sextus Pompeius] wird in den sizilischen Wellen untergehen.“ 7 So finden sich in dieser Reihe unter anderem Philippi, Mutina, Pharsalos und Anspielungen auf Pompeius sowie auf Kleopatra. 8 Für das Verhältnis zum homerischen Hymnos vgl. insbesondere Hinds 1987 sowie Barchiesi 1999, 114–116.
112 Sizilien Metamorphosentext stellt sich, ebenfalls als Augenzeugin (met. 5,414: adgnovitque deam)9, die Nymphe Cyane den Pferden des Pluto in den Weg. Dieser hält jedoch nicht an. Cyane wird von den Pferden niedergetrampelt und aus Gram darüber in Wasser verwandelt. Neben der Wiederholung des Handlungsablaufes besteht eine weitere Ähnlichkeit der Texte darin, dass die Nymphe nicht auf ihr eigenes Mitleid oder das Leid der Proserpina verweist, mit deren Schicksal Cyane im Folgenden ihr eigenes kontrastiert. Stattdessen beruft sie sich explizit auf das fehlende Einverständnis der Mutter Ceres (5,415f.: non potes invitae Cereris gener esse! Roganda, non rapienda fuit).10 Da sie auf der Ebene der Handlung bislang nur mit der Tochter, nicht aber mit der Mutter in Kontakt war, ist dieser Gedanke aus ihrer Figurenperspektive wenig naheliegend und vielmehr mit der Parallelität zum Homertext zu erklären, den sich der Leser vergleichend und kontrastierend in Erinnerung ruft. Durch diesen interfiguralen Kontrast zu der besonnenen Helferfigur Helios wird Plutos Rolle als unkontrolliert aggressiver Amator betont. Die Darstellung der Suche der Ceres wird in einer Präteritio übergangen: Es würde zu lang dauern, alle Orte zu nennen, an denen sie gesucht habe (met. 5,462f.: Quas dea per terras et quas erraverit undas, / dicere longa mora est).11 Doch bei Vorkenntnis anderer Texte kennt man diese Orte: Kallimachos führt in seinem Demeterhymnos in V. 9–16 ebendiese Reiseroute auf der Suche nach ihrer Tochter aus. Auch Ovid selbst nennt in den Fasti genau diese Länder, die in den Metamorphosen in dieser Transitio übergangen werden (fast. 4,461–580), sodass auch deren Vorkenntnis die hier aufgetane Leerstelle schließen kann. In Übereinstimmungen mit der sizilischen Geographie im kallimacheischen Demeterhymnos werden die Wohnorte der Palici (met. 5,406), der Cyane und Arethusa genannt (met. 5,409).12 Diese beiden Quellnymphen werden später im Text als sprechende, handelnde Figuren dargestellt und ihre Entstehungsgeschichten erzählt (ab met. 5,425 und 487). So wird eine Leerstelle des Vorgängertextes gefüllt. Sampson 2012 zeigt, mit welchen Techniken der Metamorphosentext Elemente aus dem kallimacheischen Demeterhymnos, seinen Aitia sowie weiteren Fragmenten wiederholt. Wie Hymn. 6,17–22 beginnt auch der Gesang der 9 „Und sie erkannte die Göttin.“ 10 „Du kannst nicht der Schwiegersohn der Ceres sein, wenn sie nicht zustimmt! Du hättest sie fragen sollen, statt sie zu rauben!“ – Weitere Bezüge zur homerischen Demeterhymne, Nikanders Heteroioumena, Ciceros Verresreden und Diodors Werken untersucht Hinds 1987; Barchiesi 1999, 114–116 zeigt zudem Bezüge zum homerischen Aphroditehymnos. Sampson 2012 ergänzt deren Arbeiten um die Analysen von Bezügen zu Callimachosʼ Hymnen und Aitia. 11 „Es würde zu lang dauern, zu erzählen, durch welche Länder und welche Gewässer die Göttin umherreiste.“ 12 Sampson 2012, 84; 89
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Calliope im Metamorphosentext mit einer dreifachen Preisung der Ceres als Erfinderin von Pflug, Dünger und Gesetzen:13 μὴ μὴ ταῦτα λέγωμες ἃ δάκρυον ἄγαγε Δηοῖ· κάλλιον, ὡς πολίεσσιν ἑαδότα τέθμια δῶκε· κάλλιον, ὡς καλάμαν τε καὶ ἱερὰ δράγματα πράτα ἀσταχύων ἀπέκοψε καὶ ἐν βόας ἧκε πατῆσαι, ἁνίκα Τριπτόλεμος ἀγαθὰν ἐδιδάσκετο τέχναν· κάλλιον, ὡς (ἵνα καί τις ὑπερβασίας ἀλέηται)... Nein, lasst uns nicht davon reden, was Deo Tränen gebracht hat! Lieber davon, wie sie den Städten anerkannte Satzungen gegeben hat; lieber davon, wie sie als Erste Getreidehalme und heilige Garben des Korns geschnitten hat und Rinder sie hat dreschen lassen, als Triptolemos diese hohe Kunst erlernte; lieber, damit man Selbstüberschätzung zu meiden lerne, davon, wie sie [Erysichthon bestrafte]…14 (Kall. Hymn. 6,17–22) Prima Ceres unco glaebam dimovit aratro, prima dedit fruges alimentaque mitia terris, prima dedit leges: Cereris sunt omnia munus. illa canenda mihi est. Als Erste zerteilte Ceres mit gebogener Pflugschar die Erdscholle, als Erste verlieh sie der Erde die Früchte und milde Nahrungsmittel. Als Erste gab sie Gesetze; all das sind Gaben der Ceres. Sie will ich besingen. (met. 5,341–344).
Während der Demeterhymnos nun aber eine Behandlung der traurigen Entführungserzählung zurückweist (Hymn. 6,17), spiegelt der Metamorphosentext die Recusatio in der Ankündigung illa canenda mihi est und leitet damit zu eben dem Thema über, das der Kallimachostext explizit nicht behandelt: Proserpinas Entührung. Eine Bearbeitung der so ersetzten Erzählung von Erysichton (Hymn. 6,24–117) bietet der Metamorphosentext drei Bücher später in 8,738–878 in der Figurenrede des Achelous.15 Strukturell und inhaltlich werden mit der Figurerede einer Muse und mit dem Katalog sizilischer Städte weitere Elemente aus kallimacheischen Texten wiederholt,16 was dem Leser insbesondere über die Erzählerin Kalliope eine Gleichsetzung der Figuren und ihrer Werkwelten nahelegt.
13 Sampson 2012, 85–87. 14 Übersetzung von Markus Asper, 2004. 15 Hierzu ausführlich Hollis 1970, Bömer zur Stelle, Barchiesi 2001, 50–55 u.a. 16 Sampson 2012, 89–94.
114 Sizilien Wie Hinds 1987 zeigt, sind die Behandlungem des Proserpinastoffes in met. 5 und in den Fasti so konzipiert, dass sie gemeinsam mit Ciceros Verrinen ein Referenzdreieck bilden. Dabei scheint jeder der drei Texte ein Verweis auf die jeweils anderen zu sein:17 Henna autem, ubi ea quae dico gesta esse memorantur, est loco perexcelso atque edito, quo in summo est aequata agri planities et aquae perennes, tota vero ab omni aditu circumcisa atque directa est; quam circa lacus lucique sunt plurimi atque laetissimi flores omni tempore anni, locus ut ipse raptum illum virginis, quem iam a pueris accepimus, declarare videatur. „Die Stadt Henna aber, wo das, wovon ich berichte, passiert sein soll, liegt an einer hohen und herausragenden Stelle, an deren höchstem Punkt sich eine plane Ackerfläche und ganzjährige Gewässer befinden, wobei die Stadt aber ringsum steil von jedem Zugang abgeschnitten ist; um sie herum liegen zahlreiche Seen und Haine und zu jeder Jahreszeit die prächtigsten Blumen, sodass der Ort selbst jenen Raub der Jungfrau zu erzählen scheint, den man uns seit unserer Kindheit erzählt.“ (Cic. Verr. 2,4,107) Haud procul Hennaeis lacus est a moenibus altae, nomine Pergus, aquae. […] perpetuum ver est. quo dum Proserpina luco ludit… Ganz in der Nähe von Hennas Stadtmauern gibt es einen See mit tiefem Wasser mit Namen Pergus. (…) Ewiger Frühling herrscht hier. Während Proserpina in diesem Hain spielte… (Ov. met. 5,385–392). Exigit ipse locus, raptus ut virginis edam: plura recognosces, pauca docendus eris. Der Ort selbst fordert, dass ich vom Raub der Jungfrau erzähle: Mehr wirst du erfahren und musst danach weniger belehrt werden. (Ov. Fast. 4,417f.)
Wie in Ciceros Verrinen wird die Entführung am Henna lokalisiert. 18 Der Metamorphosentext wiederholt weiter mit den Motiven des ewigen Frühlings und der Unzugänglichkeit des Ortes sowie mit der Wiederholung von lacus, lucus, aquae 17 Hinds 1987, 38–44, bes. 43f. 18 Met. 5,385; Cic. Verr. 2,4,107 und 2,5,188; bei Henna lokalisiert den Mythos auch Diod. 5,3,2. Vgl. zur jeweiligen Darstellung der Landschaft und einem Vergleich mit Liv. 24,38,8 Hinds 1987, 25–48. Zur antiken Diskussion der Lokalisation des Mythos auf Sizilien allgemein und speziell am Henna vgl. Sampson 2012, 88–94.
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und quo Elemente aus den Verrinen und ruft diese damit in Erinnerung. 19 In den Fasti „fordert der Ort selbst dazu auf“, von der Entführung der Proserpina zu erzählen. Bei Cicero „scheint der Ort selbst zu erzählen“, wie es zu der Entführung, deren Geschichten schon Kinder kennen, gekommen sei. Die Fasti wiederholen somit erst wörtliche Elemente aus dem Cicerotext und verweisen dann auf weitere Quellen, mit deren Hilfe man seine Wissenslücken zu diesem Thema schließen könne – dem Leser werden hier vermutlich Ciceros Ausführungen, aber auch Ovids Metamorphosen in den Sinn kommen. Der frühere Cicerotext wiederum erweckt mit der Formulierung raptum illum virginis, quem iam a pueris accepimus bei Kenntnis der Ovidtexte nun den – natürlich nicht von Cicero intendierten – Anschein, er spiele mit dem Verweis auf die dichterische Behandlung des Mythos auf die beiden eigentlich später verfassten Texte an und referiere sie gerafft unter Verwendung derselben Formulierungen. Die Geschichte von Arethusas Verfolgungsjagd durch den Flussgott Alpheus ist dem Leser bereits aus Vergils Aeneis bekannt, wo sie im Kontext von Aeneasʼ Reise an der Südküste entlang kurz erwähnt wird: Hier markiert der Erzähler Aeneas die Sage mit den Formeln dixere priores sowie fama est als alte und dadurch unsichere Überlieferung (Aen. 3,694–696: nomen dixere priores / Ortygiam. Alpheum fama est huc Elidis amnem / occultas egisse vias subter mare, qui nunc / ore, Arethusa, tuo Siculis confunditur undis).20 Der Metamorphosentext schmückt nun diese fama in einer gleich vier- bis fünffach verschachtelten Erzählebene in insgesamt 86 Versen aus (met. 5,487–501; 572–642). Der Prozess der Narration selbst wird dabei betont, indem Arethusa zunächst selbstreflektiert ankündigt, die Erzählung auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, wenn ihre Zuhörerin Ceres wieder den Kopf für eine solche Anekdote frei habe (met. 5,499– 501: veniet narratibus hora / tempestiva meis, cum tu curaque levata / et vultus melioris eris),21 und Ceres später tatsächlich noch einmal eigens zu ihr zurückreist, um noch einmal nach der angekündigten Erzählung nachzufragen (met. 5,572–576), die nach dieser umständlichen Einleitung dann auch endlich ausgeführt wird. Die alte Sage, die der vergilische Aeneas also Dido gegenüber beiläufig erwähnt, wird aus dem Mund der betroffenen Figur selbst wiedergegeben. Durch 19 Hinds 1987, 27; 38–44. Die immerblühenden Blumen am Henna werden auch in Diodor 5,3,2f. genannt. 20 „Die Vorfahren nannten sie Ortygia, und es geht die Sage, dass sich der Fluss Alpheus aus Elis bis hierher unter dem Meer einen verborgenen Weg gebahnt habe, der sich nun aus deiner Mündung, Arethusa, in die sizilischen Wellen ergießt.“ 21 „Es wird der passende Zeitpunkt für meine Erzählung kommen, wenn du von deiner Sorge befreit bist und eine bessere Miene machst.“
116 Sizilien die Überbetonung des Überlieferungs- und Erzählprozesses wird die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, diese Erzählung tatsächlich als Erzählung zu erkennen und mit der im Aeneistext zu identifizieren – bloß zu einem anderen Punkt in Zeit und Raum tradiert. Dadurch werden die Werkwelten für einen Moment gleichgesetzt, was die Einheit der Werkwelt um Teile der Aeneis erweitert. Der Beginn von Arethusas Erzählung lässt außerdem Topoi aus epischen Reden und insbesondere Irrfahrtenerzählungen anklingen: So reihen Motive wie ihr eigenes vorbereitendes Aufrichten vor der Rede und die damit verbundene Darstellung der körperlichen Präsenz der redenden Figur, das Verstummen der Zuhörer und lexikalische Ähnlichkeiten zu weiteren epischen Redeanfängen ihre Rede außerdem intertextuell in die Vielfalt von Rückblicken auf Heldenreisen ein. 22 Das Figurenwissen der Medea23 lässt sich auf der Handlungsebene noch nicht mit dem der Medea aus Apolloniosʼ Argonautika gleichsetzen, da sie zu diesem Zeitpunkt die Meerenge am Scyllafelsen noch nicht passiert hat.24 Wer allerdings ihre spätere Reiseroute aus diesem hellenistischen Epos kennt, weiß bereits, dass sie diese Gefahr mit Heras Hilfe mühelos überstehen wird und letztendlich ganz anderen Problemen ausgesetzt sein wird, von denen die Seereise an Sizilien entlang noch die geringste Herausforderung ist (vgl. zu Medeas Figurenwissen über Scylla auch Kap. 14). Mit Sizilien verbunden werden auch die Figuren der Sirenen. 25 Calliope erzählt, dass sie als Mädchen unter den Freundinnen der Proserpina waren und auf eigenen Wunsch Flügel bekamen, um auch das Meer nach ihr abzusuchen (met. 5,552–563). Dem Leser ist diese vorherige Lebensstation als Proserpinas Freundinnen aus Apoll. Rhod. 4,896–898 bekannt, wobei dort die Verwandlung selbst 22 Met. 5,574–576: conticuere undae, quarum dea sustulit alto / fonte caput viridesque manu siccata capillos / fluminis Elei veteres narravit amores. – „Die Wellen verstummten, als die Göttin ihr Haupt aus ihrer tiefen Quelle erhob, und als sie mit ihrer Hand ihre grünen Haare ausgewrungen hatte, berichtete sie von der alten Leidenschaft des Flussgottes aus Elis.“ 23 Medea in met. 7,62–65: quid quod nescio qui mediis occurrere in undis / dicuntur montes ratibusque inimica Charybdis / nunc sorbere fretum, nunc reddere, cinctaque saevis / Scylla rapax canibus Siculo latrare profundo? – „Was ist damit, dass man sagt, dass irgendwelche Berge mitten im Meer zusammenstoßen und dass die Charybdis, feindlich gegenüber Schiffen, mal das Meer einsaugt und mal ausspeit und dass die räuberische Scylla, umgürtet von wütenden Hunden, im sizilischen Gewässer bellt?“ 24 Von den symplegadischen Malmfelsen, die sie im gleichen Gedankengang in Vers 62 erwähnt, kann ihr dagegen Jason berichtet haben, der ihre Gefährlichkeit in Apoll. Rhod. 2,549– 611 selbst erlebt hat. 25 Sampson 2012, 92 weist darauf hin, dass in Kall. Hymn. 6,13–15 durch die Nennung der Flüsse Callichorus und des Sirenenvaters Achelous im Kontext der Proserpina-Erzählung auch die Sirenen selbst und ihre Lokalisation auf Sizilien in Erinnerung gerufen werden.
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nicht erzählt wird. Calliope markiert die Glaubwürdigkeit dieses Berichts als unsicher, indem sie die Sirenen mit der Frage nach ihrer Herkunft direkt adressiert und die Antwort mit an quia einleitet, was sie wie eine vage, unbestätigte Vermutung wirken lässt. Die Sirenen werden hier durchweg positiv dargestellt, als sangeskundige, schöne und um ihre Freundin besorgte Mädchen. Innerhalb der Werkwelt werden sie als Acheloides (met. 5,552) genealogisch mit dem Flussgott Achelous verbunden, dessen Geschichte im achten und neunten Buch in den Vordergrund rücken wird. Damit der Nutzen ihrer Stimme, die „Ohren erweichen lässt“, nicht verloren geht, werden ihnen ihre mädchenhaften Gesichter und ihre menschlichen Stimmen gelassen. Mit den aus anderen Werken bekannten menschenfressenden Ungetümen, die Seeleute in den Schiffbruch locken (z.B. Hom. 12,39–54; 158–299 oder Apoll. Rhod. 4,891–919), scheinen sie zum Zeitpunkt dieser Erzählung durch Calliope bzw. zum Zeitpunkt der Geschichte kurz nach Proserpinas Entführung noch nichts gemein zu haben; hier wird gewissermaßen die Vorgeschichte dieser Figuren erzählt, die noch nichts von ihrer späteren Mordlust erahnen lässt. In der Wendung canor mulcendas natus ad aures (met. 5,561)26 klingt allerdings die spätere Strategie des Odysseus an, seinen Gefährten – auf Rat der Circe hin – die Ohren mit geschmolzenem Wachs zu verkleben (Od. 12,48f.; 173–177) – diese Doppeldeutigkeit ist allerdings nur dem Leser, nicht der singenden Figur selbst bekannt. Auch Orpheus, der Sohn der Erzählerin Calliope, wird etwa anderthalb Generationen früher als Odysseus den Sirenen auf der Argonautenfahrt begegnen (Apoll. Rhod. 4,891–911). Da er sie durch seinen eigenen Gesang übertönt, wird er sicher an ihnen vorüberfahren, doch da er zunächst ihrer Gefahr ausgesetzt ist, hätte Calliope einen Grund, die Sirenen schlechter darzustellen, als sie es tut. Vermutlich ist also der Zeitpunkt von Calliopes Erzählung so früh einzuordnen, dass sie von der weiteren Entwicklung noch gar nichts wissen kann: Der Metamorphosentext erzählt nur die Vorgeschichte der Sirenen, doch durch die Vorkenntnisse des Lesers, welche hier sogar die der musischen Erzählerin übertreffen, und insbesondere durch den intertextuellen Anklang des „ohrenerweichenden Gesanges“, wird auch der spätere, unerzählte Teil ihrer monströseren Lebensphasen in die Werkwelt integriert. Während aber der Argonautika-Text ihre frühere Mädchengestalt als Proserpinas Freundinnen ihre spätere Form als Halbvögel lediglich chronologisch gegenüberstellt, bietet der Metamorphosentext nun eine kausale Verknüpfung und leitet ihre Verwandlung logisch aus ihrer Freundschaft und Sorge für Proserpina her. Der Wohnort der Cyclopen wird auch in Vorgängerorten mit einem Teil Siziliens in der Nähe des Aetna identifiziert. Diese Information wird im 26 „Ihr ohrenerweichender Gesang“.
118 Sizilien Metamorphosentext allgemein bestätigt, ohne dass ein konkreter Vorgängertext prominent anklingt.27 Im Übergang vom 13. zum 14. Buch verlässt Glaucus Scylla, um Hilfe bei Circe zu suchen. Hier schildert der Erzähler beiläufig die Reise an der Cyclopenküste entlang. Zunächst wird mit der Nennung des Aetna als Giganteis iniecta [...] faucibus (met. 14,1)28 durch die Wiederholung bereits genannter Elemente bestätigt, dass die aktuelle Liebesgeschichte im bukolisch-idyllischen Rahmen am selben Ort der Werkwelt stattfindet, den Calliope im fünften Buch besungen hat: Auch hier wurde erwähnt, dass die Massen des Aetna die Mäuler des Giganten Typhoeus niederdrücken.29 Zudem wird hier, über den bisherigen Metamorphosentext hinausgehend, die Unkenntnis der Bewohner, Harke und Pflug richtig zu gebrauchen, angeführt.30 Dies dürfte weder dem landwirtschaftlich unbedarften Protagonisten Glaucus auffallen und dient also nicht seiner Fokalisation, noch besitzt diese Erwähnung eine Relevanz für die aktuelle Erzählung von Scylla und Circe. Stattdessen wird hier zunächst bestätigt, dass dieselbe Landschaft beschrieben wird, in der Polyphem lebt, denn über diesen hatte Galatea erzählt, dass er sich sein Haupt- und Barthaar mit Ackerwerkzeug gekämmt habe.31 Darüber hinaus verweisen diese beiden Stellen auf den Odysseetext: Dort beschreibt Odysseus in 9,122–124 die Landschaft der Cyclopeninsel als eine, die niemals gepflügt und beackert worden ist. In derselben Erzählung sagt Odysseus, kein menschlicher Schritt (Od. 9,119: πάτος) habe je das Dickicht durchdrungen, und die Cyclopen selbst wohnen in hochgelegenen Felsenhöhlen.32 Der Metamorphosentext wiederum nennt eben diese zwei möglichen Aufenthaltsorte des Polyphem in met. 13, 776f.: aut gradiens ingenti litora passu / degravat, aut fessus
27 Z.B. Verg. Aen. 3,569; 588–654; 8,416–453; Thuc. 6,2,1; Eur. Cycl. 95, vgl. Myers 2009, 53. 28 „auf die gigantischen Schlünde geworfen.“ 29 Met. 5,346–358, bes. 346–353: Vasta giganteis ingesta est insula membris / Trinacris et magnis subiectum molibus urguet / aetherias ausum sperare Typhoea sedes. [...] / degravat Aetna caput, sub qua resupinus harenas / eiectat flammamque ferox vomit ore Typhoeus. – „Die riesige Insel Trinacris wurde auf die Glieder des Giganten gelegt und drückt mit ihren großen Massen auf den darunter geworfenen Typhoeus, der es gewagt hatte, auf die himmlischen Wohnsitze zu hoffen. [...] Schwer lastet der Aetna auf seinem Haupt; rücklings unter diesem liegend speit der wütende Typhoeus aus seinem Maul Sand und Feuer empor.“ 30 Met. 14,2f; Homer, Od. 9,107–111 und 123. 31 Met. 13, 765f.: iam rigidos pectis rastris, Polypheme, capillos, / iam libet hirsutam tibi falce recidere barbam. – „Mal kämmst du mit einer Harke deine störrischen Haare, mal willst du dir mit einer Sichel deinen struppigen Bart stutzen.“ 32 Od. 9,113f.: ἀλλ' οἵ γ' ὑψηλῶν ὀρέων ναίουσι κάρηνα / ἐν σπέεσι γλαφυροῖσι – „sondern sie wohnen auf Gipfeln der hohen Berge in hohlen Grotten“; die Übersetzung der Odysseeverse folgt Roland Hampe 11979/22010.
Fazit 119
sub opaca revertitur antra und 13,810f.: pars montis, vivo pendentia saxo / antra.33 Die Anlegestelle für Seeleute beschreibt der homerische Odysseus als ausgesprochen sicher hinsichtlich Landschaft, Wind und Wetter (Od. 9,136–139), so auch Aen. 3,570: Portus ab accessu ventorum immotus, und auch in met. 13,769 heißt es: tutae veniuntque abeuntque carinae.34
. Fazit Die hier erfolgte Betrachtung konnte zeigen, dass schon die Darstellung des Raumes, in dem die Handlungen spielen, Referenzen zum Odyssee- und zum Aeneistext aufweist und so Sizilien mit dem Handlungsort weiterer bekannter Werke gleichsetzt. Inwiefern auch die ortsansässigen Figuren Polyphem und Scylla selbst als identisch mit den homerischen Figuren inszeniert werden, soll in Fortführung dieses Gedankens in Kapitel 14 und 15 untersucht werden.
33 „Entweder er lastete schwer mit gewaltigem Schritt auf dem Strand oder er kehrte erschöpft in seine schattigen Höhlen zurück“; „ein Teil des Berges und hochgelegene Höhlen in bewuchertem Felsen.“ 34 „Der Hafen war abgeschirmt und windstill“; „Die Schiffe kommen und gehen in Sicherheit.“
Salmacis und Hermaphroditus . Einleitung Im vierten Buch der Metamorphosen erzählt die Minyastochter Alcithoe ihren Schwestern die Geschichte von Hermaphroditus, der in einem See von der Nymphe Salmacis vergewaltigt wird und auf ihr Gebet hin mit ihr unauflösbar zu einem Zwitter1 verschmilzt. Er erbittet von den Göttern, dass das Wasser des Sees auch in Zukunft alle männlichen Badenden „weich machen“ solle.2 Im met. 15,319 wird Pythagoras denselben See mit ebendieser Wirkung nennen: 3 Die Kohärenz von Raum und Zeit in der Metamorphosenwelt bewirkt, dass das Resultat der Erzählung bis hin in die nahe Vergangenheit fortbesteht. Innerhalb der Erzählung entspricht die Figurenrede, mit der die Nymphe den Knaben bei ihrer ersten Begegnung anspricht (met. 4,320-328), beinahe vollständig der Rede, mit der Homer Odysseus die Tochter des Königs Alkinoos, Nausikaa, bei ihrer ersten Begegnung anreden lässt (Od. 6,149-161). Dass hier eine auffällige Ähnlichkeit zum Odysseetext vorliegt, wurde in der Forschung zur Kenntnis genommen.4 Bisher wurde jedoch noch nicht der Versuch unternommen, diese Textbeziehungen auf ihre Struktur und ihre Funktion hin zu
1 Der Begriff „Zwitter“ ist dabei ausdrücklich nicht gleichzusetzen mit Bezeichnungen für intersexuelle, nicht-binäre oder genderfluide Personen der historischen und realen Welt: Hermaphroditus hat nicht bereits mit uneindeutigen Geschlechtseigenschaften die fiktive Weltbühne betreten, sondern wird erst im Laufe der Erzählung durch eine Metamorphose aus zwei eindeutig(er) lesbaren Figuren zu einer vieldeutigen verschmolzen. Inwiefern bereits die Ausgangsfiguren genderfluide Eigenschaften besitzen, zeigt die folgende Untersuchung. 2 Met. 4,385f.: quisquis in hos fontes vir venerit, exeat inde / semivir et tactis subito mollescat in undis!" – Wer auch immer als Mann in diese Quelle kommt, soll als halber Mann wieder hinausgehen und sofort, wenn er mit dem Wasser in Berührung kommt, verweichlichen!“ 3 Met. 15,317–319: quodque magis mirum est, sunt, qui non corpora tantum, / verum animos etiam valeant mutare liquores: / cui non audita est obscenae Salmacis undae? – „Aber noch mehr erstaunt, dass es Gewässer gibt, die nicht nur die Körper, sondern auch das Wesen verändern können. Wer hat noch nicht von der Salmacisquelle mit ihren obszönen Wellen gehört?“, ähnlich bereits die Minyastochter in met. 4,285–277: Unde sit infamis, quare male fortibus undis / Salmacis enervet tactosque remolliat artus, discite. causa latet, vis est notissima fontis – „Erfahrt, woher der schlechte Ruf stammt, wieso Salmacis mit ihren kraftlosen Wellen die Kräfte raubt und bei Berührung die Glieder verweichlicht. Der Grund ist in Vergessenheit geraten, die Wirkung der Quelle allseits bekannt.“ Vgl. außerdem Heinze 2006 zum „Aition der Eigenschaft, die man der Quelle zuschrieb“. 4 Bömer 1976, 115. Andere Schwerpunkte legen in ihren Untersuchungen dieser Passage Stirrup 1976; Viarre 1985; Ajootian 1997 und Hershkowitz 1998. https://doi.org/10.1515/9783110785005-009
Einbettung der Narration in die Haupthandlung 121
analysieren. Im Folgenden soll die Erzählung von Salmacis und Hermaphroditus daraufhin untersucht werden, wie sie sich einerseits in das Weltganze des Werkes fügt und sie in ihrer Einheitlichkeit bestätigt oder ihr Facettenreichtum ergänzt. Weiterhin wird geprüft, wie mithilfe von Intertextualität die Werkwelt über den vorliegenden Text hinaus erweitert wird, indem etwa Raum, Zeit, Figureninventar oder auch die Facettenvielfalt von möglichen Handlungen und Situationen um weitere Elemente erweitert werden. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet der Vergleich der Figurenrede des Odysseus mit der parallel gestalteten Rede der Salmacis. Dabei wird geprüft, in welchem Handlungskontext diese Reden jeweils gehalten werden, also welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei den Sprechern, der Sprechsituation und in den Reden selbst bestehen. Anschließend sollen die weiteren Handlungsverläufe und deren Darstellungen und Erzählstrukturen verglichen und dabei weitere Textbezüge aufgezeigt werden. Eine Analyse der Dynamik der Intertextualitäten untereinander sowie der Wirkweisen, die sich aus diesen Ähnlichkeiten oder Kontrastierungen mit Texten der Tradition und insbesondere mit dem Odysseetext ergeben, soll Aufschluss über ihre Funktion für die Werkwelt geben.
. Einbettung der Narration in die Haupthandlung In den Erzählungen des dritten Buches der Metamorphosen dominieren Themen und Figuren des thebanischen Sagenkreises sowie Mythen um die Entstehung des Bacchuskultes. Ovid bietet an dieser Stelle im Kontext des thebanischen Sagenkreises keine Bearbeitung von Sophoklesʼ Ödipus, obwohl es sich inhaltich angeboten hätte.5 Ödipusʼ Lösung des Sphinxrätsels wird in met. 7,759-761 unter dem Patronym Laiades rückblickend von Phocus erwähnt, um ein anderes Ereignis zu datieren; sein Name wird erst rückblickend von Pythagoras als Epitheton für Theben als ein Beispiel für den Untergang großer Städte genannt. 6 Auf der Grundlage der Beobachtung, dass im Metamorphosentext häufig Ersatzelemente
5 Holzberg 2007, 47 schlägt vor, dass er an dieser Stelle „stattdessen“ seine Bearbeitung von Euripidesʼ Bacchen bietet. An anderen Stellen im Werk fungieren dagegen häufiger Erzählungen als eine solche Art von Ersatz, die keine Verwandtschaftsverbindungen, sondern vielmehr eine strukturelle Ähnlichkeit zur ausgelassenen Erzählung aufweisen. 6 Met. 15,429: Oedipodioniae quid sunt, nisi nomina, Thebae? – „Was ist schon das Theben des Ödipus außer ein bloßer Name?“
122 Salmacis und Hermaphroditus in der gleichen Thematik anstelle von erwarteten Erzählungen gegeben werden,7 wird hier die Erzählung um Narziss und Echo als ein solches Ersatzelement für die ausgelassene Ödipussage erkennbar:8 Die strukturelle Ähnlichkeit zwischen beiden Erzählungen besteht darin, dass dieselbe Figur Tiresias beidemal Selbsterkenntnis prophezeit und dass die Handlung in dem Moment, wenn diese tatsächlich eintritt, die Handlung in Tragik umschlägt. Am Ende des Buches erzählt der Primärerzähler – mit zahlreichen Bezügen zu Euripidesʼ Bacchae und auch zu Turnusʼ Tod in Vergils Aeneis9 – von der Bestrafung des Pentheus, der die Kultbildung verhindern will und schließlich zur Strafe von rasenden Frauen zerrissen wird. Damit ist der Sagenkreis um das Haus des Cadmus wieder in den Hintergrund getreten (von ‚Abgeschlossenheit‘ kann in der Erzählstruktur der Metamorphosen schließlich nie vollends die Rede sein). Das Thema der Konflikte um den Bacchuskult wird dagegen über die Buchgrenze hinaus weitergeführt, indem zu Beginn des vierten Buches eine Bacchusfeier in Theben dargestellt wird. Ein kurzer Hymnus, der in die Beschreibung der Kulthandlungen eingelegt ist, hebt dabei seinen Einfluss in allen Regionen der Werkwelt hervor, von Etrurien bis in den Orient und Indien, und bringt so eine globale Kohärenz des Kultes zum Ausdruck. Allein die in Theben lebenden Töchter des Minyas, so der Primärerzähler weiter, weigern sich, am Bacchuskult teilzunehmen. Stattdessen führen sie demonstrativ ihre Webarbeiten fort und erzählen sich zum Zeitvertreib Geschichten. In diesen Themen- und Handlungszusammenhang ist die Figurenerzählung der Alcithoe eingebettet. Das Motiv des Webens im Kontext von Freveltaten und ihrer Bestrafung wird innerhalb des Werkes in verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten der Einzelelemente dargestellt: Während die lydische Arachne (met. 6,5-145) für den Frevel bestraft wird, der im Fabrizieren des Werkes selbst liegt,10 und Philomela die
7 Z.B. Ludwig 1965, 63; Smith 1990, 88f.; Döpp 1991, 337 über den Mischkrug des Anius in 13,675–704, dessen Motiv atmosphärisch analog zum Leid der Trojanerinnen steht; Tsitsiou-Chelidoni 1999, 284; 286. 8 Zu diesem Ergebnis kommen bei ihrer Untersuchung intertextueller Bezüge dieser Episode auch Gildenhard / Zissos 2000. 9 Vgl. hierzu Bömer 1969 sowie Maciver 2017, der außerdem werkimmanente Ähnlichkeiten zu den Darstellungen der Tode von Actaeon und Orpheus sowie intertextuelle Bezüge zu Homers Blättergleichnis in Il. 6,145–149 untersucht. 10 Es bleibt dabei unklar, was genau Minervas Zorn verursacht hat: Arachnes Hybris, in den Wettbewerb getreten zu sein; ihr übermütiges Abweichen von klaren Aufbaustrukturen; ihr tatsächlicher Erfolg durch ihre künstlerische Überlegenheit oder das Motiv über unsittlich handelnde Götter.
Die Figuren 123
Webkunst als Medium einsetzt, um ihrer Schwester trotz herausgeschnittener Zunge über die Distanz von Thrakien nach Athen von einer Freveltat zu berichten und während der Bacchanalien Strafe dafür einzufordern,11 so ist es hier der ostentative Vorgang des Webens während der Bacchanalien, der den strafwürdigen Frevel bildet. Der Erzählsituation einer Gruppe junger Frauen entsprechend, welche die Teilnahme an einer Religionsausübung verweigern, wählen sie dabei aus einem reichen Fundus an eher unbekannten Sagen aus aller Welt 12 aus, die sich einerseits um heitere oder tragische Liebesgeschichten, andererseits um verspottete Götter drehen. Das Motiv von webenden Frauen, die Klatsch und Tratsch über die Götter austauschen, ist u.a. aus Vergils Georgica bekannt: Die Erzählung vom Ehebruch der Venus mit Mars und weitere dulcia furta („süße Fehltritte“) der Götter a Chao („vom Chaos an“) erzählt auch Clymene in Verg. georg. 4,345-347 einer Schar von Nymphen während der Spinnarbeiten. Die Erzählungen selbst bilden daher nicht direkt ein Problem für Bacchus, wohl aber die Weigerung, an seinem Kult teilzunehmen: Am Ende ihrer Erzählungen werden die Minyaden zur Strafe in Fledermäuse verwandelt. Erst die Verbreitung dieser Tat wird die endgültige Akzeptanz des Bacchuskultes in Theben zur Folge haben (met. 4,416f.: Tum vero totis Bacchi memorabile Thebis / numen erat).13 Die Haupthandlung wird schließlich der einzig verschont gebliebenen weiblichen Verwandten Ino folgen, die Bacchus als Zögling aufgenommen hat und dafür der Eifersucht Junos ausgesetzt ist.
. Die Figuren Als Sohn der Venus und des Mercur ist Hermaphroditus erstmals seit Diod. 4,6,5 belegt, die Figur selbst seit dem 4. Jh. Der Name „Hermaphroditus“ war in der 11 Met. 6,576–586; im Metamorphosentext bildet erstmals eine Bacchusfeier die Gelegenheit für die Schwestern, um gemeinschaftlich für Strafe zu sorgen, so dass auch dieses Element von einer verschworenen Schwestergemeinschaft bei einer Bacchusfeier in der Erzählung in anderer Funktion wiederholt wird, met. 6,587f.: Tempus erat, quo sacra solent trieterica Bacchi / Sithoniae celebrare nurus – „Es begab sich zu der Zeit, als die sithonischen Frauen das heilige Dreijahresfest des Bacchus zu feiern pflegten“. Die im vierten Buch noch als neuartig beschriebenen Kulte werden hier also bereits als eingespielte Tradition genannt, was einen kontinuierlichen Zeitverlauf der Werkwelt zum Ausdruck bringt. 12 Die Handlungsorte befinden sich u.a. in Babylonien, Persien, Indien und Karien (met. 4,43– 54). Da es sich hierbei um vor Ovid unbekannte Geschichten im östlichen Raum handelt, wird eine gemeinsame, uns unbekannte hellenistische Sagensammlung als Referenztext für das vierte Buch angenommen, vgl. Bömer 1976, 12f. 13 „Daraufhin aber behielt man in ganz Theben Bacchusʼ Göttlichkeit in Erinnerung.“
124 Salmacis und Hermaphroditus römischen Antike dreifach konnotiert und bezeichnet einerseits die Gottheit Hermaphroditus, welche in dieser Erzählung die männliche Hauptrolle einnimmt. Zweitens wurden intersexuelle Personen mit dem Wort hermaphroditus bezeichnet,14 und drittens wurde dieser Begriff abwertend oder in komischen Kontexten für „effeminierte“ und vom traditionellen Rollenbild abweichende Männer verwendet.15 Statuen oder Abbildungen der Gottheit waren häufig derartig gestaltet, dass sie auf den ersten Blick für die Darstellung einer Frau gehalten werden konnten und die Entdeckung, dass es sich um eine Person mit Penis und Brüsten handelt, mit einem überraschenden Effekt verbunden war.16 Die Erzählerin Alcithoe nennt Hermaphroditus vor seiner Metamorphose kein Mal bei seinem Namen, stattdessen führt sie ihn betont rätselhaft über seine Herkunft ein (met. 4,288-291): Mercurio puer [...] diva Cythereide natu[s...] / cuius erat facies, in qua materque paterque / cognosci possent; nomen quoque traxit ab illis.17 An dieser Stelle kann der Leser leicht den Namen entschlüsseln, wenn er die Antonomasie Cythereis auflöst und die griechischen Götternamen einsetzt. Trotzdem bleiben noch mehrere Eigenschaften des Jungen ungeklärt. Die Bemerkung, dass er sowohl seinem Vater als auch seiner Mutter in seiner facies ähnele, kann sich entweder nur auf sein Gesicht18 oder auf seinen ganzen Körper und damit auch auf sein Geschlecht beziehen. Der Leser weiß an dieser Stelle daher noch nicht, ob der Junge in dieser Sagenversion bereits als intersexuelle Person auf die Welt gekommen ist oder ob ihm, wie mit der einleitenden Bemerkung zum See
14 Plin. nat. 1,33; 7,34; 11,262f. 15 Vgl. Robinson 1999, 214 und 216, der u.a. ein Komödienfragment aus der Setina des Titinius als Beleg anführt: quasi hermaphroditus fimbriatum frontem gestas feminae – „Du trägst die weibischen Fimbriae auf deiner Stirn, als wärst du ein Hermaphrodit“, und bemerkt, dass auch Cicero (in Pis. 25) dem Gabinius diese sonst nur selten belegten fimbriae zuschreibt, als er ihn als unmännlich und effeminiert verspottet. 16 Robinson 1999, 215 beschreibt eine pompeianische Wandmalerei, in der Hermaphroditus sein Frauengewand hebt und einem Silen seine männlichen Genitalien zeigt. Im sog. „Dresdner Symplegma“ wehrt sich Hermaphroditus in einer verdrehten Körperhaltung gegen einen Satyr; je nach Blickwinkel sind seine entblößten Brüste oder sein Penis zu sehen, jedoch nie beides zugleich, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Skulpturensammlung Inv. hm 155, vgl. Boschung u.a 2011, Nr. 221, 922–929. 17 „Der Sohn des Mercurius und der Göttin Venus, an dessen Aussehen man sowohl Mutter als auch Vater erkennen konnte; auch seinen Namen erhielt er von beiden“. 18 Knabenhafte Gesichtszüge an einer Frau werden im späteren Werkverlauf an Atalante als Eigenschaft von Schönheit dargestellt, ohne sie dadurch als weniger weiblich zu charakterisieren, vgl. met. 8,322f.: talis erat cultu, facies, quam dicere vere / virgineam in puero, puerilem in virgine possis – „Ihre Kleidung und ihr Aussehen waren so, dass man es gleichermaßen als mädchenhaft bei einem Knaben oder als knabenhaft bei einem Mädchen bezeichnen könnte.“
Die Figuren 125
namens Salmacis mit seiner verweichlichenden Wirkung angedeutet wurde, 19 noch eine Verwandlung bevorsteht. Gleich im nächsten Vers wird das Alter des gerade Fünfzehnjährigen genannt, sodass dem Leser die Erklärung, dass nur sein Gesicht wegen seines jungen Alters noch keine eindeutig männlichen Züge angenommen hat, näher gelegt wird. Hier wird also gewissermaßen mit der Erwartungshaltung des Lesers gespielt, die sich aus dessen Vertrautheit mit anderen künstlerischen Darstellungen dieser Gottheit ergeben. Die Nymphe Salmacis wird ab met. 4,302 eingeführt. Sie wird explizit als Gegenbild zu den jagenden und stets unfrisierten Nymphen im Gefolge der Diana beschrieben, deren Bild traditionell eng verbunden ist mit dem selbstgewählten Vorsatz einer jungfräulichen Lebensweise.20 Im Gesamttext der Metamorphosen finden sich zahlreiche junge Frauen, die charakterlich jeweils den Extremen von Eitelkeit oder Körperscham, Sportlichkeit oder Müßiggang zuzuordnen sind (vgl. Kap. 5.4). So wird ein Buch später Arethusa berichten, dass sie ein Wertlegen auf Schönheit als unpassend zu ihrem Jagdeifer verstanden hätte21 und dass sie allein schon für Komplimente für ihr schönes Aussehen Scham empfunden habe.22 Salmacis nimmt nun das gegenteilige und für eine Nymphe höchst ungewöhnliche Extrem ein. So wird geschildert, dass sie als einzige Nymphe der Göttin Diana nicht persönlich bekannt sei23 und dass die jagdeifrigen Nymphen sie häufig auffordern, ihre „Mußezeit mit Jagd zu vermischen“, was sie aber jedes Mal ablehnt.24 Die untypische Art ihrer Lebensweise wird also auf der Handlungsebene von den Figuren selbst reflektiert und problematisiert. Für den Leser ist dies überdies auch ein Hinweis, sie als Kontrastfigur zur gewohnten Figurengestaltung einer Nymphe zu verstehen. Sie jagt nicht, sie schwimmt – anders als andere 19 Vgl. Kap. 9. Fn. 3. 20 Vgl. zum unfrisierten Haar etwa Daphne (met. 1,477; 497; 542), die sich der kultivierte Apoll gleich mit einer schönen Frisur vorstellen möchte (met. 1,498); Callisto (met. 2,413) und Aen. 1,318f. über die als Jägerin verkleidete Venus. Auf den gewöhnlich schlicht gehaltenen Kleidungsstil weist im Zuge der Philomela-Episode kontrastierend met. 6,452–454 zurück. 21 Met. 5,580f.: Sed quamvis formae numquam mihi fama petita est, / quamvis fortis eram, formosae nomen habebam – „Aber obwohl ich niemals wollte, dass man meine Schönheit lobt, und obwohl ich stark war, hatte ich doch den Ruf einer Schönheit“. 22 Met. 5,582–584: nec mea me facies nimium laudata iuvabat, / quaque aliae gaudere solent, ego rustica dote / corporis erubui crimenque placere putavi – „Mich freute es nicht, wenn man mein Aussehen zu sehr lobte, und über das Geschenk eines schönen Körpers, worüber sich andere Frauen für gewöhnlich freuen, errötete ich in meiner Einfachheit und hielt es für ein Vergehen, jemandem zu gefallen.“ 23 Met. 4,304: solaque Naiadum celeri non nota Dianae – „Und als einzige Najade der schnellen Diana unbekannt“. 24 Met. 4,305–309.
126 Salmacis und Hermaphroditus Nymphen – nicht bloß, um sich von der anstrengenden Jagd zu erholen,25 sondern zum reinen Vergnügen anstelle der Jagd, und sie probiert vor ihrem Spiegelbild verschiedene Frisuren aus (met. 4,310-312). Hierbei ist die Formulierung fast identisch mit den Ratschlägen, die Ovid selbst in der ars amatoria der kultivierten römischen Frauenwelt gegeben hat (met. 4,312: quid se deceat, spectatas consulit undas; ars 3,135-137: quod quamque decebit, / eligat et speculum consulat ante suum).26 Durch den Bezug zur ars amatoria wird Salmacis gleich bei ihrer Einführung sexualisiert, denn die Leserschaft „weiß“ ja aus diesem zeitgenössischen Flirt- und Beziehungsratgeber desselben Dichters, dass die Wahl einer passenden Frisur für eine Frau stets nur dem einzigen Zwecke dient, Männern aufzufallen und ihr Gefallen zu erregen. Auch ihr perlucens amictus (met. 4,313), ihr „halbdurchsichtiges Gewand“, lässt an die sogenannten koischen Gewänder denken, die an römischen Frauen zu Ovids Zeit als zu aufreizend getadelt wurden.27 Durch ihre überkultivierte (und dadurch bereits hier sexuell aktiv konnotierte) Rolle passt Salmacis nicht so recht in die rustikale und abstinente Lebenswelt der anderen Nymphen. Während Salmacis sich so innerhalb des Gesamttextes in die Vielzahl unterschiedlicher Frauentypen zur mythischen Zeit einreiht und dabei mit dem Figurentyp der dianagefälligen Nymphe kontrastiert, wird sie zugleich durch intertextuelle Mittel mit römischen, kultivierten Frauen parallelisiert. Das Interesse am eigenen Aussehen wird so als eine Eigenschaft dargestellt, die es gewissermaßen ‚schon immer‘ gegeben hat – und die, so lässt sich weiterdenken, allem Wandel zum Trotz auch immer als Konstante bestehen wird.
. Die Handlung und die Reden Neben Salmacisʼ Abneigung gegenüber der anstrengenden Jagd und neben ihrer Eitelkeit wird noch eine dritte Eigenschaft genannt. Salmacis pflückt gern Blumen, und sie tut es auch in dem Moment, als Hermaphroditus die Bühne des Geschehens betritt. Das Blumenpflücken ist einerseits ein Merkmal noch sehr kindlicher Mädchen. Mehrfach werden im Metamorphosentext Mädchen beim 25 So etwa Arethusa in met. 5,585–587: lassa revertebar (memini) Stymphalide silva. / Aestus erat, magnumque labor geminaverat aestum. / Invenio sine vertice aquas – „Erschöpft kehrte ich (das weiß ich noch) aus dem stymphalischen Wald zurück. Es war heiß, und die Anstrengung verdoppelte die Hitze noch. Ich entdecke ein Gewässer ohne Strömung.“ 26 „Sie fragt mit einem Blick in die Wellen um Rat, was ihr stehe“; „jede soll wählen, was ihr steht, und zuvor ihren Spiegel um Rat fragen.“ 27 Z.B. Prop. 1,2,2; 2,1,5f.
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Pflücken oder Flechten von Blumen dargestellt, ehe sie von männlichen Göttern geraubt werden.28 Das Motiv des Blumenpflückens wird allerdings auch in dem Kontext der Knabenliebe verwendet29 und metaphorisch für sexuelle Handlungen Erwachsener mit Jungen im Alter der Pubertät gebraucht. Diese zweite Deutungsmöglichkeit liegt zunächst nicht nahe, wenn der Metamorphosentext eine schöne Nymphe beschreibt, die gleich auf einer einsamen Lichtung mit einem männlichen Charakter zusammentreffen wird. Der Erzählung von Salmacis sind immerhin schon mehrere Geschichten vorangegangen, die eine versuchte oder vollzogene Vergewaltigung einer jungfräulichen Nymphe durch einen männlichen Gott zum Gegenstand hatten,30 sodass der Leser nun einen vergleichbaren Fortgang der Geschichte erwarten kann. Zudem gibt es Darstellungen des Hermaphroditus, in denen er selbst als Aggressor einer Vergewaltigungsszene auftritt, weshalb ein derartiger Fortgang der Geschichte an dieser Textstelle durchaus denkbar wäre.31 Zwei Bücher zuvor ist außerdem der Königstochter Cornix ihre Unsportlichkeit auf der Flucht vor einem Gott zum Verhängnis geworden, sodass eine Wiederholung dieses Motivs möglich wäre.32 Auch die Beschreibung eines Locus amoenus wie die eines klaren Sees bereitet in vielen Texten darauf vor, dass in diesem Setting eine sexualisierte Gewalttat geschehen wird.33 Das Erinnern an diese vorausgegangenen Darstellungen und ähnliche Texte in anderen Werken bewirkt ein Überraschungsmoment beim Leser, wenn diese Erwartung zwar nicht enttäuscht, aber in unerwarteter Rollenverteilung erfüllt wird. Ovids Hermaphroditus gelangt bei einer Reise an das Ufer eines klaren Sees. Seinen Weg hat er zwar ausdrücklich freiwillig und gern auf sich genommen, um 28 Proserpina vor ihrem Raub durch Pluto: 5,398–401 und 5,554. Vgl. auch Europa met. 2,861. 29 Vgl. Orpheus’ Knabenliebe met. 10,83–85: amorem / in teneros transferre mares citraque iuventam / aetatis breve ver et primos carpere flores – „die Liebe auf zarte Knaben übertragen und noch vor der Jugend den kurzen Frühling dieses Alters und die ersten Blüten zu pflücken.“ 30 Daphne (met. 1,452–567), Io (met. 1,568–688), Syrinx (met. 1,689–712), Callisto (met. 2,401– 532); vgl. auch Cornix (met. 2,569–580) und Europa (met. 2,836–3,1f.). 31 Vgl. in LIMC 5,1, 279 die Beschreibungen italischer Darstellungen ab Mitte des 2. Jh. v. Chr. Robinson 1999, 217 schlägt als mögliche Lesererwartung vor, dass sein weiblich wirkendes Gesicht die Nymphe zunächst in falscher Sicherheit wiegen könnte, wie es Jupiter in Callistos Fall getan hat, als er sie in der Gestalt der Diana überwältigt, oder Sol, der als Leucothoes Mutter auftritt (4,218–233), oder Vertumnus, der sich Pomonas Vertrauen in der Gestalt einer alten Frau erschleichen will (met. 14,658f.; 765f.). 32 Met. 2,572–577. 33 Vgl. etwa Myers 2009, 64 und Gibson 2002, 351f. Gibson warnt allerdings davor, aufgrund einer solchen intertextuellen Beobachtung die spezifische Darstellung des Locus amoenus bei der Deutung der jeweiligen Textstelle aus den Augen zu verlieren.
128 Salmacis und Hermaphroditus die Welt kennenzulernen, dennoch wird die Reise mit den typischen Bezeichnungen aus dem Irrfahrtstopos charakterisiert, die gerade an den Anfang der Odyssee erinnern.34 Der Irrfahrtskontext ist für die Geschichte selbst nicht vonnöten und wird daher eine Funktion besitzen, die nicht im Inhalt der Erzählung selbst liegt: Er bereitet so den Leser schon an dieser Stelle darauf vor, sich an den Text der Odyssee erinnert zu fühlen und so intertextuelle Bezüge leichter wahrzunehmen. Hermaphroditus trifft am Ufer eines Sees auf Salmacis. Auch der homerische Odysseus trifft auf seiner Irrfahrt an einem Strand auf Nausikaa; nackt und schmutzbedeckt von seinem Schiffbruch wagt er nicht, sich der Gruppe von Mädchen zu offensiv zu nähern. Stattdessen hält sich der männliche Reisende zunächst in einem Gebüsch versteckt, um die Situation zu beobachten, und sucht sich dann einen belaubten Ast, um zumindest notdürftig den Anstand zu wahren. Dann tritt er zögernd vor die einheimische Frau Nausikaa, um sie anzusprechen. Der Ovidtext wiederholt all diese Elemente, verkehrt dabei aber teilweise die Rollen und kontrastiert einige Motive. Die einheimische Frau, die Nymphe Salmacis, verliebt sich beim ersten Anblick in den fremden Reisenden und hält sich zunächst vor ihm verborgen, bis sie sich, anders als Odysseus, nicht schamhaft, sondern im Gegenteil möglichst aufreizend zurechtgemacht hat.35 Odysseus beginnt seine Rede folgendermaßen: γουνοῦμαί σε, ἄνασσα, θεός νύ τις ἦ βροτός ἐσσι; εἰ μέν τις θεός ἐσσι, τοὶ οὐρανὸν εὐρὺν ἔχουσιν, Ἀρτέμιδί σε ἐγώ γε, Διὸς κούρῃ μεγάλοιο, εἶδός τε μέγεθός τε φυήν τ' ἄγχιστα ἐΐσκω· εἰ δέ τίς ἐσσι βροτῶν, οἳ ἐπὶ χθονὶ ναιετάουσι, τρὶς μάκαρες μὲν σοί γε πατὴρ καὶ πότνια μήτηρ, τρὶς μάκαρες δὲ κασίγνητοι· μάλα πού σφισι θυμὸς αἰὲν ἐϋφροσύνῃσιν ἰαίνεται εἵνεκα σεῖο,
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34 Met. 4,292–295: is tria cum primum fecit quinquennia, montes / deseruit patrios [...] / ignotis errare locis, ignota videre / flumina gaudebat studio minuente laborem – „Als er gerade 15 Jahre alt wurde, verließ er die heimatlichen Berge. [...] Er freute sich daran, durch unbekannte Gegenden zu schweifen [errare] und unbekannte Flüsse zu sehen, wobei sein Eifer die Anstrengung verringerte“; Od. 1,1–4: Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον, ὃς μάλα πολλὰ / πλάγχθη, ἐπεὶ Τροίης ἱερὸν πτολίεθρον ἔπερσε· / πολλῶν δ’ ἀνθρώπων ἴδεν ἄστεα καὶ νόον ἔγνω, / πολλὰ δ’ ὅ γ’ ἐν πόντῳ πάθεν ἄλγεα ὃν κατὰ θυμόν – „Nenne mir, Muse, den Mann, den vielgewandten, der vielfach wurde verschlagen, seit Trojas heilige Burg er zerstörte. Vieler Menschen Siedlungen sah er und lernte ihr Wesen kennen und litt auf dem Meer viel Schmerzen in seinem Gemüte.“ Vgl. auch Verg. Aen. 1,1–11; Od. 4,81–96; Apoll. Rhod. 4,1359f.; met. 14,478 sowie Kap. 12.4. 35 Dieses Aufputzen vor einem Annäherungsversuch ist einem kontinuierlichen Leser nicht nur als Geste weiblicher Eitelkeit, sondern auch als Teil einer männlichen und aktiven Verführerrolle bekannt aus met. 2,731–736 (Mercur) sowie später met. 13,764–767 (Polyphem).
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λευσσόντων τοιόνδε θάλος χορὸν εἰσοιχνεῦσαν. κεῖνος δ' αὖ περὶ κῆρι μακάρτατος ἔξοχον ἄλλων, ὅς κέ σ' ἐέδνοισι βρίσας οἶκόνδ' ἀγάγηται. οὐ γάρ πω τοιοῦτον ἴδον βροτὸν ὀφθαλμοῖσιν, οὔτ' ἄνδρ' οὔτε γυναῖκα· σέβας μ' ἔχει εἰσορόωντα.
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„Herrin, ich flehe dich an, bist Göttin du oder sterblich? / Falls eine Göttin du bist, die den weiten Himmel bewohnen, / möcht ich der Artemis dich, der Tochter des Zeus, des großen, / wohl an Aussehen, Größe und Wuchs am meisten vergleichen. / Bist du der Sterblichen eine, welche die Erde bewohnen, / dreimal selig der Vater dir dann und die Mutter, die hehre, / dreimal selig die leiblichen Brüder! Muß sich ihr Herz doch / immerzu deinetwegen in Wohlgefallen erwärmen, / wenn sie dich sehn, wie ein solches Reis hin schreitet zum Reigen. / Der aber wird von Herzen der seligste, weit vor den andern, / der in sein Haus dich führt und mit Brautgeschenken dich aufwiegt. / Denn noch nie einen solchen Sterblichen sah ich mit Augen, / weder Mann noch Frau; ich staune bei deinem Anblick.“ (Hom. Od. 6,149-161)
Auch Salmacis verlässt schließlich ihr Versteck und spricht Hermaphroditus mit beinahe denselben Worten an wie in der Homerrede Odysseus die Königstochter: tum sic orsa loqui: „puer o dignissime credi 320 esse deus, seu tu deus es, potes esse Cupido, sive es mortalis, qui te genuere, beati et frater felix et fortunata profecto, siqua tibi soror est, et quae dedit ubera nutrix; sed longe cunctis longeque beatior illa, 325 siqua tibi sponsa est, siquam dignabere taeda. haec tibi sive aliqua est, mea sit furtiva voluptas; seu nulla est, ego sim, thalamumque ineamus eundem.“ Dann begann sie so zu sprechen: „O Knabe, der du höchst würdig bist, für einen Gott gehalten zu werden; wenn du ein Gott bist, kannst du Cupido sein, oder wenn du ein Mensch bist, sind deine Eltern glückselig und dein Bruder glücklich, und reich gesegnet sicherlich deine Schwester, wenn du eine hast, und die Amme, die dir die Brust gab; aber weitaus, ja weitaus glücklicher als alle ist, falls du eine Verlobte hast, falls du eine für heiratswürdig hältst, jene. Wenn es eine gibt, soll meine Lust geheim bleiben. Oder, wenn es keine gibt, möchte ich es sein, und wir wollen in das gleiche Ehebett steigen.“ (met. 4,320-328)
In der Rede selbst werden die Geschlechter der glücklich gepriesenen Personen verkehrt und die Person der Amme ergänzt. Da nicht ein Mann eine Frau, sondern eine weibliche Nymphe einen Knaben anspricht, vergleicht Salmacis Hermaphroditus statt mit einer weiblichen Gottheit (Artemis) mit dem männlichen Gott Cupido. Dass sie einleitend den Jungen ausgerechnet mit dem Liebesgott Cupido vergleicht – im Gegensatz zu Odysseus, der Nausikaa mit der ewig jungfräulichen
130 Salmacis und Hermaphroditus Artemis parallelisiert –, macht ihr erotisches Anliegen schon zu Beginn der Rede deutlich. Wie der homerische Odysseus nun den zukünftigen Bräutigam der Nausikaa am allerglücklichsten preist, so spricht Salmacis an dieser Stelle von einer Braut. Im Unterschied zu Odysseus formuliert Salmacis diese Aussage allerdings beinahe als Frage, ob es denn bereits eine solche Verlobte gebe. Ohne Hermaphroditusʼ Antwort hierauf abzuwarten, macht sie ihm sogleich das Angebot, in diesem Falle gern seine heimliche Geliebte zu sein;36 erst nach diesem Vorschlag bittet sie ihn, sie in dem Fall, dass er noch nicht in festen Händen sei, selbst als rechtmäßige Braut zu heiraten. Dass sie eine Affäre noch vor einer Ehe vorschlägt, lässt ihr Werben umso schamloser wirken. Nausikaa reagiert auf die Rede des Odysseus tugendhaft, pflichtbewusst und gastfreundlich, indem sie ihm ein Bad und Kleidung anbietet. Hermaphroditus dagegen errötet, was in den Metamorphosen häufig der Darstellung von jungfräulicher und meist weiblicher Unschuld dient,37 und schickt Salmacis fort (met. 4,336). In beiden Erzählungen kommt es nun zu einer Badeszene des reisenden männlichen Charakters. In der Odyssee liegt durch den Schiffbruch und die zuvor mehrfach erwähnte brennende Salzkruste an Körper und Augen (Od. 6,131f.; 137) ein Grund für ein Bad vor. Odysseus bittet vor dem Baden darum, dass sich die anwesenden Mädchen abwenden, da er sich laut eigener Aussage schäme, nackt vor den Mädchen zu stehen (Od. 6,221f.). Erst als Odysseus nach seinem Bad in neuer Kleidung und mit Hilfe der Göttin Athene in attraktiverer Gestalt zu ihr zurückkehrt, verliebt sich Nausikaa in Odysseus. Sie hält diese Gefühle jedoch geheim und wird dadurch als äußerst schamhafte Frau charakterisiert. Hermaphroditus dagegen taucht eher zufällig und aus spielerischer, kindlich wirkender Neugierde ins Wasser.38 Die bereits sexuell interessierte Salmacis hat sich gegen seine ausdrückliche Aufforderung in einem Gebüsch versteckt und beobachtet heimlich die Badeszene. Diese Darstellung lässt wieder Erzählungen innerhalb desselben Werkes anklingen, die ähnliche Situationen und Figuren in immer neuen Konstellationen zeigen: Im dritten Buch wird der Jäger Actaeon hart 36 Mea sit furtiva voluptas. Zwar kann furtivus auch bedeuten, dass Salmacis den Knaben lediglich bittet, ihre Begierde, die sie nun ja schon angesprochen hat, geheim zu halten – ohne dass es tatsächlich zu einem Ehebruch kommt. Aber selbst, wenn der Leser in dieser Zweideutigkeit ihrer Frage die anständigere Version verstehen will, was bei Kenntnis des weiteren Handlungsverlaufs kaum möglich erscheint, bleibt die Zweideutigkeit dennoch bestehen und bildet einen Kontrast zu der Aussage des homerischen Odysseus. 37 So errötet Daphne bei der Erwähnung einer Ehe: met. 1,484; Callisto bei der Erinnerung an ihre Vergewaltigung durch Jupiter: met. 2,450; Arethusa bei Komplimenten für ihre Schönheit, met. 5,584. 38 Dies verbindet die Erzählung wieder mit Arethusas Badeszene in met. 5,592–596.
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dafür bestraft, dass er Diana heimlich beim Bad an einem idyllischen Ort beobachtet hat; im fünften Buch wird die dianagefällige Jägernymphe Arethusa berichten, wie sie beim Bad in einem sehr ähnlichen klaren See von Alpheus beobachtet und angegriffen wurde.39 Wie diese Szene wird auch Hermaphroditusʼ Bad in typisch erotischer Motivik beschrieben. Der Erzähler lässt den Leser gewissermaßen durch die Augen der Nymphe blicken. Beispielsweise werden die schneeweißen Arme, die häufig schöne Frauen charakterisieren und die auch der homerische Erzähler an Nausikaa hervorhebt,40 nun dem badenden Jungen zugeschrieben (met. 4,352-355). Helle Haut wird auch in der Erzählung über die Geschlechtsumwandlung der Iphis als typisch weibliche Eigenschaft genannt, indem sie sich während ihrer Metamorphose zu einem dunkleren Teint ändert (met. 9,787f.). Ovid erzeugt hier so ein mehrfaches Wechselspiel von Geschlechtervertauschungen auf verschiedenen Ebenen. Schon vor ihrer Verschmelzung sind weder Salmacis noch Hermaphroditus eindeutig als männlich oder weiblich bestimmt und führen jeweils typische Rollen beider Geschlechter aus:41 Salmacis erinnert in ihrer beobachtenden Rolle an meist männliche Götter oder Helden, die vor einer geplanten Gewalttat das noch ahnungslose Opfer beobachten. 42 Dies ist ein Kontrast zur unbeobachteten und ausschließlich nützlichen Körperpflege des schiffbrüchigen Odysseus. Mit diesem mehrfach verwobenen Tausch der Geschlechterrollen bereitet die Erzählinstanz kunstvoll auf das folgende 39 Arethusas Flucht wird wiederum mittels Irrfahrtstopoi beschrieben und endet damit, dass sie sich versteckt hält und schließlich von Diana gerettet wird – auch hier finden sich also weitere Elemente der Salmacisepisode in veränderter Funktion. 40 Od. 6,186; 239 über ihre Dienerinnen. Doch auch sehr junge Männer oder Knaben werden im erotischen Kontext als besonders hellhäutig beschrieben, z.B. Narcissus in met. 3,422f.: eburnea colla decusque / oris et in niveo mixtum candore ruborem – „der elfenbeinerne Hals und die Schönheit des Gesichts und das Erröten, das sich in die schneeweiße Blässe mischte“, vgl. auch Hor. carm. 1,13,2f. die cerea bracchia („wachsweiße Arme“), die Lydia an dem puer Telephos als attraktiv beschreibt und den Erzähler damit zur Eifersucht reizt. In Catull. 63 wird nach Attis‘ Kastration eine helle Hautfarbe erwähnt (63,8: niveis manibus – „mit schneeweißen Händen“), während sich grammatikalisch weibliche, männliche und uneindeutige Bezeichnungen abwechseln, vgl. Wesselmann 2021b. 41 Diese Beobachtung macht auch Robinson 1999, 218. 42 Über Salmacis heißt es met. 359: vixque moram patitur, vix iam sua gaudia differt – „Kaum erträgt sie das Warten, kaum kann sie ihre Freuden aufschieben“; über Jupiter, der in Gestalt eines Stiers von Europa geliebkost wird, met. 2,863: vix iam, vix cetera differt – „kaum, kaum kann er das, was noch folgen soll, aufschieben“; über Tereus, als er Philomela auf seinem Schiff weiß (met. 6,514): exultatque et vix animo sua gaudia differt – „Und er jubelt und kann in seinen Gedanken seine Freuden kaum aufschieben“; dieser ruft außerdem wie Salamcis triumphierend „vicimus!“ – „gewonnen!“, met. 6,513.
132 Salmacis und Hermaphroditus Verschmelzen der beiden Geschlechter zu einer Person mit männlichen und weiblichen Eigenschaften vor.43 Schließlich springt Salmacis aus dem Gebüsch und umklammert den erschrockenen Knaben – es wird eine Vergewaltigung in unerwarteter Rollenverteilung dargestellt. Im Verlauf dieser Darstellung werden in Form eines Krakengleichnisses Elemente aus der Odyssee wiederholt, die den Helden während der Schiffbruchszene, die seiner Begegnung mit Nausikaa vorangeht, in seiner höchsten Not im Wasser zeigen.44 Doch während im Anschluss an dieses Gleichnis das Meer Odysseus freigibt und eben die Szene am Strand beginnt, mit deren Parallelisierung die Metamorphosenerzählung begonnen hat, endet im Ovidtext der Kampf im Wasser wieder konträr. Salmacis lässt Hermaphroditus nicht wieder los, sondern verschmilzt auf ihr Gebet hin (met. 4,370-372) mit ihm zu einer unauflösbaren Gestalt. Zugleich wird der Leser an eine Szene in Apoll. 1,1228-1239 erinnert: Auch Hylas, der Geliebte des Hercules, wird auf einer Reise von einer Nymphe in eine Quelle gezogen, als er sich ihr unwissentlich beim Wasserholen nähert. Sie wird von dem Anblick gereizt, wie seine schöne Gestalt im Mondlicht rötlich scheint.45 Das Erröten des Hermaphroditus, das auch Salmacis besonders gefällt, wird dagegen nicht auf der Handlungsebene mit dem Mondschein begründet, sondern in einem Gleichnis mit dem Rot einer Mondfinsternis verglichen (met. 4,332f.). Auf die Hylasszene wird auch in der hier schon mehrfach anklingenden Arethusaerzählung46 im folgenden Buch auf andere Weise erneut Bezug genommen. Der von der Nymphe entführte Hylas wird in den Argonautika von seinem Gefährten Polyphemos gesucht, der den Ort umkreist und immer wieder seinen 43 Die Nymphe ist allerdings im Verlauf des Metamorphosentextes nicht das einzige Beispiel für eine weibliche Aggressorin in einer erotischen Szene. Auch Echo, Circe, Myrrha, Scylla und Phaedra fungieren als weibliche Figuren, die Männer gegen ihren Willen, mal mehr und mal weniger erfolgreich und mal in komischem oder idyllischem, mal in tragischem Kontext, zu sexuellen Handlungen nötigen. 44 Met. 4,366f. und Od. 5,430–435: καὶ τὸ μὲν ὣς ὑπάλυξε, παλιρρόθιον δέ μιν αὖτις / πλῆξεν ἐπεσσύμενον, τηλοῦ δέ μιν ἔμβαλε πόντῳ. / ὡς δ' ὅτε πουλύποδος θαλάμης ἐξελκομένοιο / πρὸς κοτυληδονόφιν πυκιναὶ λάιγγες ἔχονται, / ὣς τοῦ πρὸς πέτρῃσι θρασειάων ἀπὸ χειρῶν / ῥινοὶ ἀπέδρυφθεν· τὸν δὲ μέγα κῦμ' ἐκάλυψεν. – „So entging er ihr [= der Woge] jetzt; rückbrandend schlug sie von neuem / wieder im Sturm auf ihn ein und warf ihn weit in das Meer hin. / Wie wenn man einen Polypen aus seinem Schlupfloch herauszieht / und an jedem Saugnapf hängt eine Menge von Steinchen, / also ward auch ihm von den kühnen Armen am Felsen / abgeschunden die Haut, und die große Welle umfing ihn.“ 45 Apoll. Rhod. 1,1229–1231. 46 Zur parallelen Gestaltung des ganzen Musengesangs, in den die Arethusaerzählung eingelegt ist, mit der gesamten ersten Pentade der Metamorphosen, vgl. Holzberg 2007, 57.
Dynamik und Funktion der Intertextualität 133
Namen ruft.47 Die ovidische Jägerin Arethusa dagegen wird sich nach ihrem Bad in der Quelle an anderer Stelle vor Alpheus verstecken, der ihr Versteck ebenfalls umkreist und dabei ihren Namen ruft – woraufhin sie vor Angst ‚zerfließt‘ und sich in eine Quellnymphe verwandelt. An dieser Stelle nimmt der Ovidtext nicht nur neue Themen aus anderen Vorgängertexten auf und bereitet Elemente späterer Erzählungen vor, sondern trennt sich gleichzeitig vollends von der Homererzählung, die sich bis zu diesem Punkt parallel mitlesen ließ. Die Erzählung endet pointiert damit, dass alle drei Bedeutungsfelder von hermaphroditus bestätigt werden: Die Person Hermaphroditus wird zu einem effeminierten (met. 4,381f.: mollita / membra) Zwitter (met. 4,387: biformis). Ab diesem Zeitpunkt tritt Hermaphroditus nicht mehr handelnd in Erscheinung und wird auch bis zum Ende des Werks nicht mehr die Weltbühne betreten. Zugleich wird hier wird erstmals, exponiert am Versanfang (met. 4,383), sein Name genannt. An dieser Stelle schlägt auch die Bedeutung des Motivs des Blumenpflückens, mit dem Salmacis eingeführt wurde, in ihr Gegenteil um: Es symbolisiert nicht, wie anfänglich angenommen, das kindliche Spiel eines jungen Mädchens vor seiner Verführung oder Vergewaltigung, sondern das Verführen oder Vergewaltigen eines Knaben durch eine erwachsene Person.
. Dynamik und Funktion der Intertextualität Wie gezeigt wurde, besteht eine deutliche Ähnlichkeit sowohl zwischen den Reden von Odysseus und Salmacis selbst als auch zwischen den Handlungen und Situationen, in welche die Rede jeweils eingebettet ist. Die einzelnen Elemente der jeweiligen Erzählungen werden dabei in paralleler und entgegengesetzter Darstellung in neuer Funktion wiederholt. Durch diese Verkehrung erscheint beispielsweise der Wunsch des badenden männlichen Reisenden Hermaphroditus unter einem gegenteiligen Gesichtspunkt – hier will der Mann mit der Bitte um Unbeobachtetheit nicht den Anstand der Frauen schützen, sondern seinen eigenen. Der Metamorphosentext verkehrt so einerseits die erwarteten Geschlechterrollen und kontrastiert andererseits Elemente der homerischen Vorlage dadurch, 47 Vgl. Verg. ecl. 6,43f.: His adiungit Hylan nautae quo fonte relictum / clamassent, ut litus Hyla, Hyla, omne sonaret – „Er erzählt weiter, an welcher Quelle die Argonauten Hylas verloren hatten und nach ihm riefen, so dass am ganzen Strand ihr ‚Hyla, Hyla‘ ertönte“. Diese Darstellungen fungieren als Aitien für einen Kult, vgl. Dräger 2006: „Die Einheimischen opfern dem H. an der Quelle und streifen in Wäldern umher, wobei der Priester dreimal H. ruft und das Echo antwortet (Strab. 12,4,3). Daher ist Ὕλαν κραυγάζειν [...] sprichwörtlich für vergebliches Suchen“.
134 Salmacis und Hermaphroditus dass er der epischen Irrfahrt eine idyllische Reise, dem Schiffbruch eine erotische Badeszene, dem tapferen Odysseus einen schüchternen Knaben und der sittsamen Nausikaa eine lüsterne, eitle und aggressiv werbende Nymphe entgegensetzt – eine Frauenrolle, die im nicht-tragischen Kontext als komisch empfunden werden konnte.48 Der tapfere Odysseus wird mit einem schüchternen Knaben, die tugendhafte Nausikaa mit einer lüsternen Liebhaberin kontrastiert, und die literarisch-traditionelle Rollenverteilung des männlichen Werbens eines Gottes und weiblichen Umworbenwerdens einer Nymphe wird umgekehrt. Es werden in diesem Text dadurch, dass der ovidische Text erkennbar Handlungsverläufe aus der Odyssee und eine Textpassage aus demselben Kontext im Wortlaut nachahmt und in Teilen kontrastiert, parodistische Effekte auf den Odysseetext erzeugt. Der Homertext wird dabei aber nicht etwa herabgesetzt, 49 sondern dient vielmehr als Folie dafür, den Facettenreichtum von Figuren durch das Mitlesen ihrer jeweiligen Gegenentwürfe noch über den dargestellten Text hinaus zu erweitern.
. Fazit Die Erzählung über Hermaphroditus und Salmacis verbindet auf der Handlungsebene die Werkwelt des carmen perpetuum durch das Figurenwissen der Minyastöchter, das mit dem Figurenwissen des Pythagoras zwölf Bücher und viele Generationen später übereinstimmt. Der Philosoph kann noch die angeblich schädliche Wirkung des Wassers auf Fruchtbarkeit und Geschlecht benennen – die Mädchen in Theben kennen dagegen die erotische Geschichte um ihren Ursprung, der zugleich mit der Verwandlung des Hermaphroditus in einen Zwitter verknüpft ist. Hierdurch wird auch die Vielfalt von Figurentypen und ihrer jeweiligen Interessen zum Ausdruck gebracht: An ein und demselben See interessieren
48 Vgl. Konstan 1994, 180 und 182, der auf Frauenrollen in Mimenspielen wie die der sexuell aggressiven Bitinna in Herodas 5 verweist. Auch in Petrons Satyrica wirkt es komisch, wenn die Frau Tryphaena um den Knaben Giton buhlt (100,7–114,7). Zur Bestimmung dessen, was für den impliziten Leser komisch wirkt, wird eine Komikdefinition aus der Inkongruenz- oder Kontrasttheorie zugrunde gelegt, die heute am häufigsten vertreten wird. Diese geht davon aus, dass es als komisch empfunden wird, wenn eine unerwartete und ungewöhnliche Zusammenstellung von nicht zueinander passenden Teilen wahrgenommen wird. Hierbei steigert sich die komische Wirkung in dem Maße, in dem der Kontrast verstärkt wird. 49 Verweyen / Witting 2010, 54: „Parodie: Verfahren, bei dem charakteristische Konstitutionsmerkmale der Vorlage übernommen werden und die Vorlage durch Komisierungsstrategien (Unterfüllung und/oder Überfüllung) herabgesetzt wird.“
Fazit 135
die Figuren unterschiedliche Aspekte, nämlich den Gelehrten die naturwissenschaftlichen Wirkungen und die Mädchen die idyllische Atmosphäre sowie die erotischen Skandale, die sich hier abgespielt haben sollen. Dass Alcithoe ausgerechnet diese Sage für ihre Schwester ausgewählt hat, liegt sicher auch in der Thematik von versteckter Luxuskritik und der Warnung vor Verweichlichung begründet. So fungiert die Erzählung vom lustwandelnden Hermaphroditus, der von einer trägen, eitlen Nymphe an einem Locus amoenus überwältigt wird, als warnende Allegorie, auch anderen Einflüssen von Luxus Widerstand zu leisten. Dass dieses Motiv, dass zu viel Luxus zur Entmannung führe, dem römischen Leser zum Ende des 1. Jh. v. Chr. aus verschiedenen Textgattungen geläufig war, ist der internen Erzählerin natürlich nicht bewusst. Sie warnt durch ihre Erzählung lediglich ihre Schwestern vor dem neuen Bacchuskult, dem schon innerhalb ihrer eigenen Lebenswelt eine verweichlichende Wirkung zugeschrieben wurde, wie etwa die Pentheusrede in met. 3,531-563 zeigt.50 Dass im Zuge des Bacchushymnus dessen Einfluss auf die ganze bekannte Welt aufgezählt wurde, parallelisiert diese Warnung wieder mit den zeitgenössischen Warnungen, die ebenfalls gerade die wachsende Globalisierung als Bedrohung für die römische virtus ansahen.51 Damit verbunden ist eine weitere unveränderliche Eigenschaft, die ebenfalls erst durch einen intertextuellen Bezug zu einem zeitgenössischen Werk betont wird. Salmacis befolgt bereits in mythischer Zeit die Hinweise, die Ovid selbst der Frauenwelt Roms in seiner Ars Amatoria geben wird. Seine Ratgeber, so lässt sich für den Bezugstext entsprechend wieder zurückschließen, verführen nicht zu einer neuen Form der Eitelkeit, sondern sie sprechen eine Facette an, die es schon immer und auch ohne sein Zutun bei Frauen in aller Welt gegeben hat. Durch die Querbezüge zu Arethusas Geschichte wird zugleich aber auch daran erinnert, dass es unterschiedliche Figurentypen gibt und nicht alle gleich empfänglich für Luxus und die dazugehörige Ratgeberliteratur sind. Durch die intertextuellen Bezüge zum Odysseetext im Handlungsablauf und in den Figurenreden werden keine neuen Elemente in die Einheit der Werkwelt eingefügt, indem etwa neue Verwandtschaftsverbindungen oder Handlungsorte 50 Vgl. etwa met. 3,547f.: vos pellite molles / et patrium retinete decus! – „Vertreibt ihr die Verweichlichten und bewahrt den Anstand eurer Heimat!“; met. 3,553–556: at nunc a puero Thebae capientur inermi, / quem neque bella iuvant nec tela nec usus equorum, / sed madidus murra crinis mollesque coronae / purpuraque et pictis intextum vestibus aurum – „Aber jetzt wird Theben von einem unbewaffneten Jungen erobert werden, der weder an Kriegen Gefallen findet noch an Wurfgeschossen oder am Umgang mit Pferden, sondern an myrrhetriefendem Haar und weichen Kränzen und Purpur und Goldfäden in bunten Gewändern.“ 51 Z.B. Sall. Cat. 10–13.
136 Salmacis und Hermaphroditus anklingen. Dafür konnte mehrfach gezeigt werden, wie der Einsatz intertextueller Bezüge auf einer Vergleichsebene Folien und Kontraste zu den dargestellten Figurenkonstellationen aufruft und ihre mitgedachte Vielfalt so noch weiter auffächert: Der schüchterne schönwetterreisende Jugendliche Hermaphroditus mit seiner abwehrenden Haltung gegenüber den Avancen eines Mädchens wird vor der Folie des forschen, leiderprobten Mannes Odysseus gelesen, der einer ranghohen Frau mit stilvoller Hochachtung begegnet. Gleichzeitig wird auch der tapfere, duldsame Held Odysseus der luxusverwöhnten Nymphe Salmacis gegenübergestellt. Intertextualität ruft hier also einerseits zum vergleichenden Mitlesen der idealisierenden Rollenbilder eines tapferen, heldenmutigen Mannes im Umgang mit einer pflichtbewussten, sittsamen Frau auf – und andererseits zum Erinnern an aktuelle Luxusdiskurse sowie zeitgenössische Liebeskunstratgeber. Auf diese Weise zeigt sich hier sowohl das Streben nach Annehmlichkeit wie das von Salmacis und Hermaphroditus als auch die davor warnende Luxuskritik wie die der Minyastöchter als Konstante inmitten einer sich ständig wandelnden Welt.
Orpheus und Eurydica . Einleitung Die Erzählung von Orpheus, dem mythischen Sänger, der mit seinem Gesang Steine bewegen, wilde Tiere besänftigen und sogar die Götter der Unterwelt erweichen kann, hatte zur Entstehungszeit der Metamorphosen bereits eine lange Tradition. Es existierten viele widersprüchliche Einzelerzählungen nebeneinander. Die heute bekannteste Geschichte, wie er seine jungverstorbene Geliebte Eurydica aus dem Reich der Toten zurückholen will, indem er die Totengötter mit seinem Gesang rührt, war im augusteischen Rom nur eine selten behandelte unter vielen. Umso auffälliger ist es daher, dass nur dreißig Jahre, nachdem Vergil diese spezielle Orpheuserzählung im letzten Buch der Georgica darstellt, Ovid um die Zeitenwende herum genau die gleiche Episode in seinen Metamorphosen behandelt. Das Publikum, für das der Ovidtext verfasst wurde, kannte also die vergilische Version und wurde mit der gleichen Erzählung nun ein zweites Mal konfrontiert. Die Parallelen im Handlungsablauf (Story) und -aufbau (Plot) sind auffällig. Die Frage, wie die Erzählung in den Metamorphosen vor dem Hintergrund der bekannten Georgicaerzählung zu verstehen ist und ob z.B. Ovids Behandlung der Orpheus-Eurydica-Geschichte als Parodie des vergilischen Epyllions zu verstehen ist oder auf ganz andere Weise, ist in der modernen Forschung viel diskutiert worden.1 Während etwa Christoff Neumeister beinahe die ganze Orpheuserzählung des Ovid als reine Parodie liest2 und zahlreiche klamaukige Scherze darin finden will, sagt Michael von Albrecht ganz im Gegenteil, dass humoristische Passagen erst nach der Erzählung von Orpheusʼ Tod wieder einsetzen.3 Bömer enthält sich in dieser Frage einer eindeutigen Meinung, spricht sich aber tendenziell eher gegen eine Deutung als Demontage des Vergiltextes aus. 4
1 Eine parodistische Deutung vertreten Neumeister 1986; Anderson 1982; Makowski 1997; Janka 2007; teilweise parodistisch deutet die Erzählung Segal 1972. 2 Neumeister 1986. Dass er hierbei Orpheus’ Aufstieg aus der Unterwelt (10,50–71) als einzig ernsten Teil der Episode sieht, diese Unterbrechung der parodistischen Schreibweise aber nicht erklärt, macht seinen Ansatz wenig überzeugend. 3 Von Albrecht 1968, 415; einzelne Bilder in dem Text bezeichnet er an anderer Stelle dennoch als „witzig“: von Albrecht 2000, 105; vgl. auch von Albrecht 2014b. 4 Bömer 1980, 12: „An dieser Stelle läuft die Interpretation Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Kein Zweifel, daß Ovid vom augusteischen Staatsethos nicht viel hielt [...], und zugegeben auch, daß man diese Orpheus-Geschichte als einen Affront verstehen kann, wenn man https://doi.org/10.1515/9783110785005-010
138 Orpheus und Eurydica Im Folgenden sollen die intertextuellen Strukturen in der Episode zum Georgicatext und zu weiteren Vorgängertexten einer erneuten Prüfung unterzogen und ihre Bedeutung für das Verständnis des Ovidtextes erläutert werden. Der Schwerpunkt liegt dabei wieder auf der Frage, wie sich der Text innerhalb der Werkwelt der Metamorphosen eingliedert und wie die Einheit und Vielheit der Welt durch intertextuelle Mittel über die unmittelbar dargestellten Vorgänge hinaus erweitert wird.
. Einbettung der Erzählung in der Haupthandlung Die Erzählung beginnt auf der Ebene der Primärerzählung zu Beginn des zehnten Buches der Metamorphosen mit der Reisebewegung des Hymenaeus von Ägypten nach Böotien.5 Dadurch wird die Geschichte von Iphis und Ianthe, von deren glücklichen Vermählung aus der Hochzeitsgott losfliegt, innerhalb der einheitlichen Werkwelt als zeitgleich zum griechischen Orpheus verortet und damit auch zu allen anderen bekannten Erzählungen, die innerhalb seiner Lebenszeit spielen. Den Großteil des zehnten Buches nimmt eine Figurenrede des Orpheus ein, der insgesamt sieben Sagen vorträgt, ehe sein Gesang mit der Grenze zum elften Buch auf der Handlungsebene unterbrochen wird: Ab dem ersten Vers von met. 11 berichtet der Primärerzähler vom tödlichen Angriff der Bacchantinnen sowie den weiteren Ereignissen um Orpheusʼ Leib und seine Seele. In Vergils Georgicatext, mit dem die Passage aufgrund der auffälligen Parallelgestaltung hier vornehmlich verglichen wird, bildet die Erzählung den Abschluss des vierten Buches über die Bienenzucht und damit auch des gesamten Lehrgedichts über verschiedene landwirtschaftliche Bereiche. Die Erzählung nimmt 71 Verse ein. Der Meeresgott Proteus führt die Sage als Orakelspruch Aristaeus gegenüber an, der um Rat für seine sterbenden Bienenvölker sucht, und springt direkt nach ihrem Ende ohne Abschiedsgruß zurück in die Fluten. Den thematischen Kontext bildet also die Auseinandersetzung der Naturgottheit Aristaeus mit den Themen von Schuld, Tod und Sühne. Aristaeus ist dabei sowohl Adressat als auch die handlungsauslösende Figur selbst innerhalb der Erzählung. Mithilfe der Erkenntnis aus der allegorischen Erzählung um Orpheus und Eurydica und dank der praktischen Unterstützung seiner Mutter Cyrene
will: [...] Die Weltliteratur jedenfalls hat anders entschieden, sie sah in der Geschichte Ovids ein Hohelied der Liebe (nicht der Demontage Vergils) und hat deswegen Ovid den Vorzug gegeben.“ 5 Vgl. allgemein zu den Reisebewegungen an Buchgrenzen der Metamorphosen und in Vorgängerepen Holzberg 2007, 27 und Myers 2009, 52.
Der Handlungsablauf 139
gelingt Aristaeus zum Werkende die Sühne seiner Schuld, sodass der Kreislauf des Lebens wieder seinen ungestörten Lauf gehen kann.
. Der Handlungsablauf In met. 10,1–85 erzählt der Text die Hochzeit, den Tod der Eurydica und Orpheusʼ Versuch, sie aus der Unterwelt zurückzuholen. Sowohl der Metamorphosenerzähler als auch der interne Erzähler Proteus in den Georgica lassen Orpheusʼ Versuch, seine Gattin ins Leben zurückzuholen, letztendlich misslingen. Auch Platons Symposion erzählt eine Version der Geschichte, nach der Orpheus seine Gattin nicht zurückholen kann – hier wird dem Sänger allerdings stattdessen ein Trugbild der Frau gegeben (symp. 179d). Admetos in Euripidesʼ Alcestis 357–364 dagegen erzählt die Geschichte so, dass auf ein glückliches Ende geschlossen werden kann, ebnso wie Vergils Zeitgenosse Diodor (4,25,4). Weitere Schilderungen über Orpheusʼ Unterweltsfahrt, aus denen ein glücklicher Ausgang wahrscheinlich scheint, finden sich auch noch, nachdem Vergils und Ovids Behandlung des Stoffes bereits bekannt sind (Manil. 5,327; Lucian mort. dial. 23,3). Sogar Vergil selbst lässt in der nach den Georgica verfassten Aeneis seinen Aeneas vor Sibylle für Einlass in die Unterwelt plädieren, indem er auf Orpheus verweist (Aen. 6,117–120: alma, precor, miserere [...], si potuit manis arcessere coniugis Orpheus / Threicia fretus cithara fidibusque canoris).6 Offenbar wird zumindest in Aeneas’ Fall das unglückliche Ende verschwiegen, weil es für die Argumentation, in welcher der Präzedenzfall ‚Orpheus und Eurydica‘ angeführt wird, irrelevant ist, dass es Orpheus letztendlich nicht gelingt, Eurydica bis an die Oberfläche zu führen. Es geht ihm einzig darum, dass es dem Sänger erlaubt worden ist, es zu v e r s u c h e n . Wenn frühere Autoren das unglückliche Ende der Geschichte verschweigen, muss das also nicht zwingend bedeuten, dass sie es nicht kannten, sondern es kann auch darauf hinweisen, dass Eurydicas zweiter Tod nicht als Kerngedanke der Geschichte empfunden wurde. Als Hauptpunkt gilt offenbar meist, dass sich das Totenreich mit seinen sonst so strengen und unumkehrbaren Gesetzen Orpheus gegenüber milde gezeigt hat. Weniger wichtig scheint der Grund und das Misslingen seiner Reise selbst, geschweige denn seine persönliche Beziehung zu Eurydica und sein emotionaler Umgang mit ihrem Verlust. 7
6 „Ich bitte dich, du Gütige, hab Erbarmen [...], wenn Orpheus den Totengeist seiner Gattin zurückholen durfte im Vertrauen auf seine thrakische Leier und deren wohlklingende Saiten.“ 7 Zum Problem einer Rekonstruktion des „originalen Ausgangs“ der Geschichte vgl. auch Heath 1994.
140 Orpheus und Eurydica Umso auffälliger ist es also, wie detailgetreu der Metamorphosentext den speziell tragischen Verlauf im Georgicatext in Thematik, Handlung, Motiven und lexikalischen Details wiederholt. Zunächst fällt die detaillierte Übereinstimmung des Handlungsaufbaus beider Schilderungen auf. Zuerst wird Eurydica von der Schlange gebissen (georg. 4,457–459; met. 10,8–10), im Anschluss wird ihr Tod beweint (georg. 4,460–466; met. 10,11–12a) – es wäre Ovid ja auch möglich gewesen, medias in res zu gehen, indem beispielsweise eine dritte Person auf den trauernden Orpheus trifft und sich seine Geschichte erzählen lässt. Dann begibt sich Orpheus in die Unterwelt (georg. 4,467–470; met. 10,12b–16a) und spricht vor dem König bzw. dem Königspaar der Unterwelt, woraufhin exemplarisch einige Reaktionen der gerührten Unterweltsbewohner geschildert werden (georg. 4,471–484; met. 10,16b–47). Es folgt die Rückgabe der Eurydica mit einem Hinweis auf ihren verletzten Fuß, dann der Aufstieg des Orpheus, dem Eurydica folgt (georg. 4,485–487; met. 10,48–55). Hier blickt sich, als die Erdoberfläche schon nah ist, Orpheus nach Eurydica um, die daraufhin sofort wieder zurück in die Unterwelt sinkt (georg. 488–493; met. 10,56–59). Sowohl Vergil als auch Ovid schildern an dieser Stelle Eurydicas Reaktion auf das Fehlverhalten ihres Geliebten (georg. 4,494–499a; met. 10,60–62a), bevor sie endgültig aus dem Sichtfeld des Orpheus (und des Lesers) entschwindet und Orpheus jeder wiederholte Zugang zur Unterwelt verweigert wird (georg. 4,499b–503; met. 10,62b–73a). In georg. 4,510–515 und von met. 10,86 bis zum Ende des Buches in met. 10,739 singt Orpheus in der Natur über das Thema Liebesleid, wobei er wilde Tiere besänftigt und Bäume herbeiführt. Der Metamorphosentext gestaltet dies dahingehend aus, dass der Sänger für die Natur als Publikum über verschiedene Liebesgeschichten singt, die meist einen nicht-heterosexuellen Inhalt haben. Diese Themenwahl wird explizit begründet, indem der Sänger nach einer Recusatio ankündigt, von Knaben zu singen, die von Göttern geliebt werden, und über frevelhaft liebende Frauen (met. 10,148–154). So zählen zu seinen Gesängen die homoerotischen Erzählungen von Ganymed, Hyacinthus8 und Adonis, Pygmalions objektophile Liebe zu einer selbsterschaffenen Elfenbeinstatue und Myrrhas frevelhafte Begierde nach ihrem eigenen Vater. Mit dem elften Buch setzt wieder die Primärerzählung über Orpheus selbst ein. Vers 1–66 erzählt den Tod des Sängers, wobei der Episode 45-mal so viel Raum gewidmet wird wie im Vergiltext mit gerade einmal zweieinhalb Versen. In met. 11, 67–84 schließt die Behandlung der 8 Hierbei kann Orpheus, der ja als vates hellseherische Fähigkeiten besitzt, bereits in einer Prolepse zum Selbstmord des Ajax eine Heldengeneration später vorausdeuten, dessen Blut ein zweites Mal innerhalb der Weltgeschichte zur Entstehung einer Hyazinthe beitragen wird, vgl. Kap. 12.
Tod der Eurydica 141
Bestrafung der Bacchantinnen und der Wiedervereinigung der Liebenden in der Unterwelt an – beides Handlungselemente, die der Georgicatext nicht erzählt.
. Tod der Eurydica Die Erzählung in den Metamorphosen beginnt mit Orpheusʼ vergeblichem Anruf des Hochzeitsgottes und lässt den Leser damit sofort erkennen, dass hier aus dem reichen Fundus an Orpheuserzählungen erneut die Geschichte über Eurydicas Tod erzählt werden soll, die ihm insbesondere aus den Georgica bekannt ist: Wenn Orpheusʼ ansonsten so übermächtige Stimme ausgerechnet gegenüber dem Hochzeitsgott versagt (met. 10,2f.: Hymenaeus […] / Orphea nequiquam voce vocatur),9 erinnert dies hier schon an die Tragik seiner Liebe. Neben mehreren unglücklichen Omina wird der Ausgang der Geschichte – zumindest, soweit sie die Hochzeit betrifft – auch explizit angekündigt: exitus auspicio gravior (met. 10,8).10 So wirkt der kontrastiv und knapp11 dargestellte Tod durch einen Schlangenbiss während eines Hochzeitsspazierganges im Kreise der Freundinnen der Braut (met. 10,8–10) zwar antithetisch, aber keinesfalls überraschend oder gar komisch.12 Der Schlangenbiss als Todesursache der Eurydica findet sich für diese Erzählung zuerst bei Vergil überliefert,13 kann dem Leser aber auch aus älteren, uns nicht erhaltenen Überlieferungen bekannt sein. Die Nymphen, die in beiden Texten um Eurydica trauern, lassen sich mit denjenigen im Georgicatext gleichsetzen, die Aristaeus und seine Bienen verfluchen und damit überhaupt erst den Auslöser für seinen Besuch beim Orakel bieten; dafür spricht ihre inhaltlich gleiche Eigenschaft, dass sie mit Eurydica gemeinsam durch die Natur streifen, was durch die klangliche Ähnlichkeit der Versbeginne cum/dum und der Hexameterschlüsse durch auffällig viele a-Laute noch weiter betont wird (georg. 4,532–536, bes. 532f.: nymphae, / cum quibus illa choros lucis agitabat in altis; met. 10,8f.: sponsa per herbas / dum nova Naiadum turba comitata vagatur).14 Das Motiv, dass eine Frau auf der Flucht vor einem aufdringlichen Mann an einem Schlangenbiss stirbt, wird allerdings im Gesamttext der Metamorphosen 9 „Vergeblich ruft Orpheus’ Stimme Hymenaeus an.“ 10 „Das Ende ist noch schrecklicher als seine Vorankündigung“. 11 Hierzu Döring 1966, 11: „So kurz wie die Liebe selbst währt auch deren Erzählung.“ 12 Ein „humorous twist“, den Segal 1972, 478 an dieser Stelle finden will, ist nicht ersichtlich. 13 Bömer 1980, 17. 14 „Die Nymphen, mit denen diese auf hohen Lichtungen ihre Reigen tanzte“; „Als die Frischvermählte in Begleitung einer Gruppe von Najaden auf den Wiesen umherschweifte“.
142 Orpheus und Eurydica nicht völlig ersatzlos ‚gestrichen‘, sondern findet sich an nur wenig späterer Stelle in der Erzählung über Hesperie (met. 11,749–795) wieder. Diese Sage berichtet wiederum „ein unbestimmter alter Mann“ (aliquis senior) einem ebenfalls unbestimmten Zuhörer. Er erzählt die Sage von Aesacus, der bei seinem Versuch, sich zu ertränken, von einer Meeresgottheit in eine Möwe verwandelt wird, als Mischform der Themen „ewige Liebe“ und „Schuld“. Diese Einordnung wird daraus erkennbar, dass er beim Anblick auf die glücklich gemeinsam verwandelten Wasservögel Ceyx und Alcyone zunächst mit dem Lob ihrer unsterblichen Liebe zu Aesacus überleitet (met. 11,250f.: ad finem servatos laudat amores. / [...] „Hic quoque...“)15 und dann im späteren Verlauf seiner Narration das Schuldthema betont, was die Erzählung wieder thematisch mit der Georgicaerzählung von Eurydicas Flucht vor Aristaeus verbindet. Aesacus wird dabei als deutliches Gegenbild zur traditionell unkultivierten Landgottheit Aristaeus eingeführt. met. 11,764–768 nennt Aesacusʼ Abwendung vom höfischen und politischen Leben in Troja und seine Liebe zur Ruhe auf dem Land, was ihn zunächst mit Aristaeus parallelisiert, betont dann aber seine urbanen, feinsinnigen Charakterzüge insbesondere in Liebesdingen (met. 11,767f.: non agreste tamen nec inexpugnabile amori / pectus habens).16 Entsprechend nimmt die Geschichte bei gleicher Ausgangslage auch einen gegensätzlichen Verlauf (vgl. Kap. 5.4). Während Aristaeus nach Eurydicas Tod keine weiteren Gedanken an den Vorfall zu verschwenden scheint, den Verlust seiner Bienenstöcke durch Orpheusʼ Rachefluch nicht einordnen kann und die Hilfe gleich zweier Wassergottheiten benötigt, um sich seine Schuld und ein Sühnemittel erklären zu lassen, begreift der kultivierte Aesacus sofort die Konsequenz seiner Verfolgung (piget, piget esse secutum!),17 noch während er die sterbende Frau in seinen Armen hält (met. 11,777f.), und reflektiert auch gleich, dass er die Folgen seiner Tat nicht hätte voraussehen können und er dieses Risiko ansonsten nicht eingegangen wäre (met. 11,779: sed non hoc timui, neque erat mihi vincere tanti).18 Dennoch versucht er sich aus Schuldgefühl das Leben zu nehmen, was durch das Eingreifen einer mitleidigen Wassergottheit verhindert wird. Diese Erzählung wiederum wiederholt Handlungselemente aus der Pyramus-Erzählung im 4. Buch, der sich ebenfalls aus Schuldgefühl am vermeintlichen Tod der Thisbe das
15 „Er preist ihre Liebe, die bis zum Ende bewahrt wurde. [...]‚ auch dieser hier...‘“. 16 „Er besaß allerdings kein bäuerliches Herz und keines, das unzugänglich für Liebe wäre.“ 17 „Ich bereue, bereue, sie verfolgt zu haben!“ 18 „Aber das habe ich nicht kommen sehen, und so viel wäre es mir nicht wert gewesen, sie zu erobern.“
Trauer des Orpheus 143
Leben nimmt, weil er sie schutzlos der Verfolgung durch eine Löwin ausgesetzt hat.19 Ein zweiter Bezug zu Aristaeus findet sich bereits im ersten Metamorphosenbuch. Apoll, also der Vater von Aristaeus (georg. 4,322f.), verliebt sich beim ersten Anblick in die Nymphe Daphne und verfolgt sie. Dabei betont er in seiner Rede, dass er selbst kein incola montis oder pastor sei,20 und warnt die Verfolgte davor, sich auf ihrer Flucht vor ihm zu verletzen (met. 1,507–514). Beides stellt auch ihn als eine Art Anti-Aristaeus dar. Daphne verletzt sich auf ihrer Flucht tatsächlich nicht, sondern wird auf ihren eigenen Wunsch in einen Lorbeerbaum verwandelt. Dennoch stimmt sie durch ihr Wipfelnicken Apolls Bitte um eine ewige Verbindung nachträglich zu (met. 1,566f.), was die Erzählung glücklich und ohne Schuldfrage enden lässt.21 Die Eurydica im Metamorphosentext muss im Gegensatz zu Daphne, Hesperie, Thisbe und auch der vergilischen Eurydica vor keinem Verfolger fliehen und ist während ihres Todes auch nicht allein. So trifft den Orpheus im Metamorphosentext im Gegensatz zu Hesperies Verfolger Aesacus und Pyramus – und, so kann davon rückgeschlossen werden, auch zum Orpheus im Georgicatext – keine Schuld an Eurydicas Tod, da er sie ja nicht allein gelassen hat. Die Umstände von Eurydicas Tod werden also anders als im Georgicatext gestaltet, um die Erzählung im Gesamtwerk der Metamorphosen an thematisch parallel gestaltete Erzählungen anzupassen:22 Hier geht es nicht um die Themenreihe von Schuld des Überlebenden, sondern um die der Trauer des zurückgelassenen Liebenden. Dieser Gedanke soll in Kap. 13,3 bei der Untersuchung der Canens-Erzählung erneut aufgegriffen werden.
. Trauer des Orpheus Der Vergiltext schildert an dieser Stelle der Handlung eine lange Klage der Natur, die emotionserzeugende Mittel enthält; unter anderem wird Eurydica in einer vierfachen Apostrophe namentlich angerufen (georg. 4,465f.). Der Ovidtext schildert ebenfalls ausführlich eine Klage der Natur, jedoch erst später. Zu diesem 19 Met. 4,105–119, bes. 110–112: nostra nocens anima est. Ego te, miseranda, peremi, / in loca plena metus qui iussi nocte venires / nec prior huc veni. – „Unsere Seele ist schuldig. Ich habe dich, Unglückliche, umgebracht, da ich dich aufgefordert habe, bei Nacht zu einem Schreckensort zu kommen, und dort nicht vor dir ankam.“ 20 „Bergbewohner“, „Hirte“. 21 Vgl. Kap. 4 Fn. 19. 22 Vgl. zu dieser Strategie auch Ludwig 1965, 27.
144 Orpheus und Eurydica Punkt der Handlung fällt seine Trauer, zumindest was die erzählte Zeit angeht, kurz aus (met. 10,11f.: Quam satis ad superas postquam Rhodopeius auras / deflevit vates).23 Über die Wahl des Wortes satis ist in der modernen Forschung viel spekuliert worden. Vorwiegend wurde es so gedeutet, dass die Oviddarstellung dadurch gerade vor dem Hintergrund der bekannten Vergildarstellung Orpheus als umso liebloser zeichne; dafür spreche auch die Kürze der Darstellung seiner Trauer und das Fehlen pathossteigernder Mittel.24 Der Ausdruck wurde auch in der Weise gedeutet, dass sich satis einerseits auf der Erzählebene auf Orpheusʼ Trauerprozess bezieht, allerdings auf einer anderen Ebene als voraussetzungsreiche Botschaft an einen Leser gerichtet sei, dem noch in der pathetischen vergilischen Version die lange Klage der Natur vorschwebt: Ovid scheine hier die vergilische Vorlage in einer Weise zusammenzufassen, in der er dem Leser auf einer höheren Ebene signalisiere, dass er ihn nicht mit einer Erzählung langweilen möchte, die anderweitig schon treffend ausgeführt worden ist.25 Doch auch in homerischen Texten findet sich das Motiv von der Sättigung durch Weinen.26 Odysseus weint ausgiebig, ehe er seine Unterweltsreise antritt;27 der Gedanke daran, in die Unterwelt hinabzusteigen, erfüllt ihn mit solchem Schmerz, dass er nicht sprechen kann, nicht mehr leben oder die Sonne sehen will. Die Formulierung satis deflevit ist somit topisch zu verstehen28 und lässt vor der Unterweltsdarstellung homerische Sprache anklingen. Somit liegt hier keine saloppe, sondern im Gegenteil eine besonders erhabene Formulierung vor, die den Leser an die Ungeheuerlichkeit eines Unterweltsbesuchs erinnert. Der Entschluss des Orpheus, nicht nur zu trauern, sondern auch in der Unterwelt noch einen Versuch zu unternehmen, wirkt im Ovidtext dennoch geradezu pragmatisch nüchtern;29 er will nichts unversucht lassen und begibt sich 23 „Als der rhodopeische Sänger lang zum freien Himmel um sie geklagt hatte“. 24 Segal 1972, 478f. vergleicht gegenüber diesen ‚unterkühlten‘ Versen das Pathos Vergils (georg. 4,464–466), speziell zu satis: „suggests a human limit and measure lacking in the wild grief of Virgil’s hero.“ 25 Primmer 1979, 128: „Der ideale Ovid-Leser [muß] ja die [...] Vergil-Verse im Ohr haben, so daß ihm das Gefühlsdefizit von satis deflevit um so deutlicher bewußt wird.“ 26 Hom. Od. 19,213;251 und 21,57 über Penelope: ἡ δ’ ἐπεὶ οὖν τάρφθη πολυδακρύτοιο γόοιο – „und nachdem sie sich nun am Weinen und Klagen gesättigt“; Hom. Od. 20,59: αὐτὰρ ἐπεὶ κλαίουσα κορέσσατο ὃν κατὰ θυμόν – „als sie sich aber am Weinen gesättigt in ihrem Gemüte“. 27 Hom. Od. 10,496–500. 28 So auch Bömer 1980, 18, wenn auch ohne Verweis auf die homerische Sprache: „satis, formelhaft, etwa ‚lange‘“. 29 Auch von Albrecht 2000, 98 spricht von den „Nützlichkeitsabwägungen“ des ovidischen Orpheus. Vgl. ähnlich Deucalion und Pyrrha in met. 1,397 und die Interpretation durch von
Der Gesang in der Unterwelt 145
daher in die Unterwelt. Die Antithese, in der Orpheusʼ Entschluss im gleichen Atemzug abgehandelt wird wie der eigentlich so gewaltige Szenenwechsel zwischen Oberwelt und Unterwelt, mit dem parallelen Versschluss auras / [...] umbras (met. 10,11f.), betont wieder den starken Kontrast im Erzähltempo zwischen Vergil- und Ovidtext.30 Hier finden sich weitere Bezüge zur homerischen Unterweltsschilderung der Odyssee. Darin wird das Totenreich als ἄτερπος bezeichnet (Hom. Od. 11,94). Dieses Wort findet sich anders ins Lateinische übertragen auch in Verg. Georg. 4,479, wo der Cocytus als palus inamabilis („unliebsamer Sumpf“) bezeichnet wird, und klingt an in der Wortwahl immitis tyrannus („unfreundlicher Tyrann“) in 492. Beide Texte beziehen sich damit intertextuell auf die Odyssee oder griechische Unterweltsschilderungen im Allgemeinen. Der Ovidtext bietet, geradezu konkurrierend zum Georgicatext, mit inamoena („unangenehm“, met. 10,15) eine alternative Übersetzung für denselben griechischen Begriff und stellt auch in seiner Darstellung einen Bezug zur homerischen Unterwelt her. Die Bezeichnung der Manen als leves populi („leichtes Volk“, met. 10,14) bildet sowohl einen direkten Bezug zu Hom. Od. 11,206–208 als auch eine window reference über Verg. Aen. 6,700–702 zur selben Stelle. Hier versuchen Odysseus bzw. Aeneas seine Mutter Antikleia bzw. seinen Vater Anchises zu umarmen, die jedoch entschweben. Antikleia erklärt an dieser Stelle, dass Tote ihren Körper und somit auch ihr Gewicht verlieren (216–223), was im leves populi als allgemeine Eigenschaft der Totenvölker aufgegriffen und somit auch für diese Werkwelt übernommen wird.
. Der Gesang in der Unterwelt Der Ovidtext gibt das Plädoyer des Orpheus in wörtlicher Ausführlichkeit wieder. Dies ist ein auffälliger Kontrast zum Vergiltext, der weder die Trauer der Natur im Detail ausführt noch die beste Rede des größten aller Sänger. Vergil stellt die Qualität des Gesangs bloß indirekt dar, indem er erst darauf hinweist, dass der Herrscher der Unterwelt sich bisher niemals durch die Bitten eines Menschen habe Albrecht 1968, 423: „Selbst Deucalion und Pyrrha, bestimmt die gottesfürchtigsten der Menschen, schwingen sich vor dem gottbefohlenen Steinewerfen, aus dem das neue Menschengeschlecht entstehen soll, als echt römische (!) Pragmatiker zu keinem erhabeneren Gedanken auf als ‚sed quid temptare nocebit?‘ [ = „aber was schadetʼs, es zu versuchen?“]“ 30 Janka 2007, 212 vergleicht Orpheusʼ Descensus mit dem von Juno met. 4,432–438 und bemerkt zur kurzen Schilderung im zehnten Buch: „Den Weg kennt der kontinuierliche Ovidleser ja schon, könnte man sagen“ – diese Erklärung überzeugt allerdings nicht, insbesondere da Ovid den Aufstieg ja wieder ausführlich schildern wird.
146 Orpheus und Eurydica erweichen lassen (georg. 4,470: nescia humanis precibus mansuescere corda), dann die Bitte selbst attributlos cantus nennt und dann im direkten Anschluss die Reaktionen der Unterweltbewohner beschreibt, woraus der Leser indirekt schließen kann, wie herzerweichend der Gesang gewesen sein muss. Diese Auslassung ist für Vergils Version charakteristisch und kann für seinen Text durchaus als konstituierendes Merkmal gelten, das jedem Leser bewusst ist oder zumindest im Kontrast zu Ovids Ausführlichkeit rückblickend bewusst wird. Der Orpheus der Metamorphosen bietet statt einer solchen Leerstelle ein rhetorisch ausgefeiltes Plädoyer – ohne allerdings das Thema „Liebe“ zu verfehlen oder gar abzuwerten. Dennoch wurde der ovidische Orpheus fälschlicherweise als lieblose Witzfigur gedeutet, die statt eines gesungenen Liebesbeweises einen trockenen Vortrag hält,31 oder dem Autor Ovid wurde hier zu Unrecht eine parodistische Absicht unterstellt.32 In der Forschung wird hierfür häufig auf die rhetorisch geschult wirkende Argumentationsführung verwiesen, bei der juristische Termini33 verwendet werden und die man sich eher aus dem Mund eines Anwalts als aus dem des rührendsten aller Sänger vorstellen könne. 34 Hierfür wird oft auf den Begriff usus verwiesen, der in diesem Kontext als „Nießbrauch“ und als
31 So Neumeister 1986, 173f., der aus der ovidischen Orpheusrede herauslesen will, dass Orpheus Eurydica in dieser Version nicht liebe und dass seine Rede daher nur argumentativ überzeugen könne, ohne irgendwelche Affekte evozieren zu können. Die heftigen Reaktionen der Zuhörer versteht er daher als Witz (175): „Wenn es nämlich nach der prosaischen, mehr argumentierenden als affektischen und noch dazu mit einer komischen Pointe endenden Rede des Orpheus heißt (X 41): exsangues flebant animae..., so wirkt das komisch.“ Auch Anderson 1972, 475 schreibt: „Whereas Vergil prudently avoided the challenge of reproducing the ineffable song by which Orpheus conquered death, Ovid deliberatley contrives a pompous, unconvincing speech, full of witty sophistication, devoid a true emotion.“ 32 Diesen Weg schlagen ein: Otis 21970, 184: „What he wrote was parody and comedy, not tragedy“; Galinsky 1975, 250: „Ovid’s most obvious and sustaint parody of a Vergilian passage“ und Neumeister 1986, 175. 33 Met. 10,36f.: haec quoque, cum iustos matura peregerit annos, / iuris erit vestri: pro munere poscimus usum – „Auch diese Frau wird eurem Recht unterliegen, sobald sie zeitgemäß ihre rechtmäßigen Jahre vollendet hat. Anstelle von einer Schenkung erbitte ich den Umgang mit ihr.“ Von Albrecht 1994, 873 deutet die Rede so, dass Orpheus nicht um eine Schenkung, sondern um den Nießbrauch bitte. 34 Eine ausführliche rhetorische Analyse nimmt von Albrecht 2000, 99–104 vor und zeigt sowohl Ovids Beitrag als „Rhetorisierung der Poesie“ (102) als auch, dass sich Musik und Rhetorik nicht ausschließen müssen. – Primmer 1979, ist hingegen der Meinung, dass Orpheus‘ Rede durch mehrere logische und rhetorische Fehler geradezu „antirhetorisch“ (134) deformiert werde und der Sänger so „vor den Mächten des Todes und der Liebe seine Redegewandtheit“ verliere (131); um dies zu zeigen, fertigt Primmer zunächst eine mögliche ideale Argumentation des Orpheus an und vergleicht diese Folie mit der tatsächlich ausgeführten Rede.
Der Gesang in der Unterwelt 147
unpassend pragmatisch gedeutet wird. Doch usus kann auch schlicht ‚Umgang‘ bedeuten, und so muss die Wortwahl auch hier zweideutig gedeutet werden: Orpheus will Eurydica nicht aus dem Totenreich zurückholen, um ihr ein unsterbliches Leben zu verschaffen. Den Tod endgültig zu überlisten, wäre schließlich ein Frevel, für den schon andere Heroen büßen mussten – das Beispiel des Sisyphus hat Orpheus während seines Gesangs ja selbst vor Augen. Daher betont er, dass Eurydica nur für die kurze Dauer seines eigenen Lebens auf die Erde zurückkehren solle. Wie also ein amator in einer römischen Liebeselegie seine Geliebte oder ihren Türwächter mit Argumenten zu überzeugen versucht, überzeugt auch Orpheus die Unterweltsgötter, ihn und Eurydica wieder zusammenzuführen. Auf diese Weise wird hier die Leerstelle im Georgicatext als Gelegenheit genutzt, eine Mischung aus elegischer Werberede und Deklamation zu präsentieren. Eine schöne Stimme zu haben, so mag man die durchrhetorisierte Schreibweise hier deuten, reicht eben nicht aus, um alles und jeden mit der Macht der Stimme in den Bann zu ziehen; man muss seine Gabe mit der Kunstfertigkeit verbinden, sein Anliegen in überzeugende Worte zu fassen. Orpheusʼ Gesang beginnt mit einem hymnischen Lob seiner göttlichen Adressaten. Im Folgenden preist Orpheus nicht bloß seine eigene Liebe zu Eurydica, sondern er verfolgt vielmehr eine tua-res-agitur-Strategie. Nach der Anrede trägt er den Grund seines Kommens vor. Der Leser mag sich hier an die Szene im sechsten Aeneasbuch erinnert fühlen, in der Aeneas und Sibylle von Charon aufgehalten werden, da jeder Besucher den Grund seines Kommens angeben müsse: Aen. 6,388f.: quisquis es, / fare age, quid venias.35 Auch Odysseus wird vom Schatten des Tiresias lexikalisch ähnlich hierüber befragt.36 Orpheus erinnert seine Zuhörer daran, wie das Götterpaar sich selbst verliebt hat. Der Verweis auf die alte Sage von Proserpinas Entführung erfüllt rhetorisch neben diesem conciliare außerdem die Funktion eines mythischen Exempels, wobei hier die Adressaten und die Protagonisten der Geschichte ein und dieselben Personen sind (met.10,28f.: famaque si veteris non est mentita rapinae, / vos quoque iunxit amor).37 Die gleiche Struktur einer Verknüpfung bekannter Topoi mit der Handlung und ihren Protagonisten liegt vor, wenn Orpheus direkt im nächsten Satz seine Bitte bei den 35 „Wer immer du bist, sag an, warum du kommst.“ 36 Hom. Od. 11,92–94: διογενὲς Λαερτιάδη, πολυμήχαν' Ὀδυσσεῦ, / τίπτ' αὖτ', ὦ δύστηνε, λιπὼν φάος ἠελίοιο / ἤλυθες, ὄφρα ἴδῃ νέκυας καὶ ἀτερπέα χῶρον – „Göttlicher Laertiade, erfindungsreicher Odysseus, oh unseliger, weshalb das Licht der Sonne verlassend kamst du, die Toten zu sehen und die unerfreuliche Stätte.“ 37 „Wenn nicht die Kunde von der damaligen Entführung [der Proserpina] erfunden ist, so hat auch euch Amor vereinigt.“
148 Orpheus und Eurydica Wassern des Styx und bei dem Totenreich beschwört, in dem er sich ja gerade selbst befindet und deren Herrscher er als Adressaten anspricht. Indem Orpheus die Entführung der Proserpina als uralten Mythos anführt und dabei auf die Kupplerrolle von Amor hinweist, erinnert der Text den Leser zudem daran, dass im fünften Buch der Metamorphosen selbst diese Geschichte erzählt worden ist (met. 5,362–408).38 Bis zum Beginn von Orpheusʼ Rede bzw. Gesang lässt sich Ovids Vorgehen als eine knappe Nacherzählung der vergilischen Version beschreiben. Die Metamorphosenerzählung stellt dabei hinsichtlich des Erzähltempos vom Tod der Eurydica bis zum Ende von Orpheusʼ Rede geradezu ein Negativ von Vergils Version dar: Die Stellen, die Vergil ausführlich behandelt, fasst Ovid knapp zusammen, und was Vergil in wenigen Worten be- oder umschreibt, breitet er ausführlich aus.
. Die Wirkung des Gesangs In Vorkenntnis der Tradition und auch der omnipräsenten Vergilerzählung erwartet der Leser an dieser Stelle schon, dass der Gesang zunächst erfolgreich war. Doch statt gleich zur Rückgabe der Eurydica überzugehen, wiederholt der Metamorphosentext auch hier Inhalte und Motive des vergilischen Texts, indem er zuerst exemplarisch und detailliert die Reaktionen der Unterweltsbewohner beschreibt. Wie der Vergiltext beginnt er, inhaltlich entsprechend, mit den namenlosen verstorbenen Schatten (met.10,41a): exsangues flebant animae.39 Im Vergiltext heißt es an entsprechender Stelle der Handlung (471f.): At cantu commotae Erebi de sedibus imis / umbrae ibant tenues simulacraque luce carentum.40 Diese Verse und die anschließende Aufzählung erinnert deutlich an die Darstellung der grausig schreienden Schar, die Homers Odysseus in Od. 11,36–44 mit einem Schwert von seinen Opfergaben abwehren muss. Dort drängen sich die
38 So schlägt auch Fratantuono 2014, 59, vor: „Perhaps Orpheus has read Book 5 of the epic.“ Ein solches abstraktes Heraustreten einer Figur aus seiner Werkwelt anzunehmen, ist allerdings gar nicht nötig; schließlich hatte Orpheusʼ Mutter Calliope diese Erzählung im fünften Buch vorgetragen, so dass Orpheus sie auch innerhalb der Werkwelt von ihr erzählt bekommen haben kann. 39 „Die blutleeren Seelen weinten“; von Albrecht 2000, 105 nennt dies eine „witzige Paradoxie“, was die Sache nicht ganz trifft, da die animae ja Tränen und kein Blut weinen. Hier liegt eine Antithese vor, welche die Tragische Wirkung verstärkt. 40 „Aber angelockt von dem Gesang kamen aus den tiefsten Winkeln des Erebus die zarten Schatten und die Abbilder der lichtlosen Wesen.“
Die Wirkung des Gesangs 149
Manen um seine blutgefüllte Opfergrube, in den Georgica um den schwarzen Sumpf; ansonsten entsprechen sich die Darstellungen inhaltlich, lexikalisch und motivisch in deutlich auffälliger Weise; beispielsweise werden sowohl im Odysseetext als auch im Georgicatext die Seelen verschiedenen Alters und Geschlechts genannt.41 Im Kontrast zum Odysseetext und auch zur Aeneisdarstellung42 werden die Seelen nicht von Blut, sondern durch den Gesang aus den Tiefen des Erebus gelockt. Sie schreien oder jammern auch nicht, sondern bewundern stumm den Gesang. Die Kontrastierung dieses inhaltlichen Details zwischen dem Vergil- und dem Homertext betont die Wirkung des Gesangs, welche die Schrecken der Unterwelt kurzzeitig aufhebt. Im Ovidtext finden sich bei aller sonstigen Ähnlichkeit zum Vergiltext keine vergleichbaren Bezüge zu dieser Homerstelle, sodass hier keine echte window reference vorliegt. Das ovidische Totenreich ist zwar düster und blass, aber es klingen nicht die Schrecken und Leiden der Manen an, die in der Odyssee geschildert werden. Dies ist für den späteren Verlauf der Erzählung bedeutsam, denn nur so kann die Wiedervereinigung des Liebespaars im Totenreich als wirklich glückliches Ende erscheinen. Im Georgica- und im Metamorphosentext werden die Reaktionen der büßenden Frevler dargestellt. Der Metamorphosentext übernimmt mit den Eumeniden (unter derselben Bezeichnung) und Ixion teilweise die beschriebenen Figuren aus dem Georgicatext und ergänzt mit den Beliden, Sisyphus und Tantalus den traditionellen Büßerkatalog, wie er in der gelehrten zeitgenössischen Dichtung häufig zu finden ist.43 Die Verkehrung der Schrecken zu einer friedvollen Unterwelt ist keine Erfindung von Vergil und Ovid. Das Bild der Beliden, die in der Unterwelt einem Lied lauschen und so lange ihre undichten Krüge austrocknen lassen, ist dem Leser aus der Horazode 3,11,22–24 bekannt. Dort singt Mercur ihnen ein Lied und bringt auch Ixion und Tityos „wider Willen“ zum Lächeln (21f.). In Prop. 4,11,23–28 wird
41 Od. 11,36–39: ῥέε δ' αἷμα κελαινεφές· αἱ δ' ἀγέροντο / ψυχαὶ ὑπὲξ Ἐρέβευς νεκύων κατατεθνηώτων· / νύμφαι τ' ἠίθεοί τε πολύτλητοί τε γέροντες / παρθενικαί τ' ἀταλαὶ νεοπενθέα θυμὸν ἔχουσαι – „Das Blut, das schwarze, floss. Da versammelten sich aus der Tiefe des Erebusdie Seelen der Toten, junge Frauen und junge Männer und Greise, die vieles erlitten, und jungfräuliche Mädchen, die frische Trauer im Herzen“; georg. 4,475–477: matres atque viri defunctaque corpora vita / magnanimum heroum, pueri innuptaeque puellae, / impositique rogis iuvenes ante ora parentum – „Mütter und Männer und die körperlichen Hüllen großer Helden, deren Leben nun verwirkt war, und Knaben und unverheiratete Mädchen und junge Männer, die man vor den Augen ihrer Eltern auf die Scheiterhaufen gelegt hatte.“ Auch in Aen. 6,305–312 wird diese Passage in fast wörtlicher Übereinstimmung wiederholt. 42 Aen. 6,426f.; 492f; 557. 43 Z.B. Hor. carm. 3,11,21–24; Prop. 4,11,22–28; Tib. 1,3,69–80.
150 Orpheus und Eurydica eine Unterwelt mit einem friedlichen Cerberus dargestellt, in der die Frevler, ebenfalls in einem Katalog aufgelistet, ihren Strafen entkommen. Eine derartige Darstellung in den Metamorphosen wirkt auf den Leser daher im Metamorphosentext nicht neu, überraschend oder provokant, sondern ist ihm bereits als literarischer Topos bekannt, der hier variiert wird. Diese Variation wird durch inhaltliche, aber vor allen Dingen durch sprachliche Mittel betont, insbesondere durch eine pointierte Veränderung der Verben, die Vergil und Properz verwendet haben.44
. Eurydica in der Unterwelt In der Darstellung der Eurydica wird nun an einen anderen Vergiltext erinnert, indem lexikalisch, klanglich und motivisch die Aeneis-Darstellung von Dido in der Unterwelt anklingt. Hier findet sich das gleiche Intertextualitätsgeflecht zwischen dem Ovid-, dem Vergil- und dem Homertext wie zuvor in der Darstellung der namenlosen Manen: In Hom. Od. 11,550–564 trifft Odysseus auf den toten Aiax, der sich seinetwegen das Leben genommen hat. Der lebende Odysseus spricht den Schatten des Verstorbenen an, hält eine Rede zur eigenen (Nicht-)Schuld an dessen Tod und muss erleben, wie Aiax eine Weile schweigt, sich dann umdreht und fort zu den anderen Schatten geht. Die vergilische Szene, in der Aeneas Dido auf ihren Selbstmord anspricht, sich von der Schuld an ihrem Tod freispricht und diese sich nach einer Weile schweigend abwendet und zu den anderen Schatten geht, wiederholt wieder deutlich und fast unverändert strukturelle, inhaltliche, motivische und lexikalische Elemente. Doch wie schon bei der Beschreibung der Totenschar wiederholt die Metamorphosenerzählung in ihrer Eurydicadarstellung nur die Elemente des Vergiltextes, die nicht zurück zu schrecklichen Homerdarstellungen verweisen (Verg. Aen. 6,450f.: inter quas Phoenissa recens a vulnere Dido / errabat silva in magna; Ov. met. 10,48f.: Umbras erat illa recentes / inter et incessit passu de vulnere tardo).45 Innerhalb der jeweils anderthalb Verse findet sich in verschiedenen Flexionsformen und Bezügen das 44 Über Ixions stillstehendes Rad heißt es in met. 10,42 geradezu psychologisierend stupet, während georg. 4,484 constitit und Prop. 4,11,23 taceant Ixionis orbes wählt. Sisyphus wird nicht bloß wie im Properztext von der Last seines Steins befreit (Prop. 4,11,23: Sisyphe, mole vaces), sondern er setzt sich – ebenfalls in der 2. Person direkt angesprochen – pragmatisch auf ihn, so dass sich die Strafe antithetisch in ihre kurzzeitige Linderung verwandelt. 45 „Unter diesen wandelte auch die phönizische Dido mit ihrer frischen Verwundung in einem großen Wald umher“; „Diese befand sich unter den erst kürzlich hinzugekommenen Schatten und ging wegen ihrer Verwundung mit langsamen Schritten.“
Der erneute Verlust der Eurydica 151
Wort recens. Eurydica wie Dido finden sich „zwischen anderen Schatten“, wobei inter jeweils zum Versbeginn steht. Dies wird im Ovidtext durch die ungewöhnliche Wortstellung als Postposition betont und lenkt so die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Ähnlichkeit der Darstellungen, zumal der Vers klanglich und lexikalisch nicht nur sehr ähnlich beginnt, sondern auch schließt mit a vulnere Dido bzw. de vulnere tardo. Im Ovidtext wird so das Motiv, dass eine kürzlich verstorbene Frau in der Unterwelt ihren noch lebenden Geliebten trifft und ihre tödliche Wunde für ihn sichtbar behält, wiederholt und die Ähnlichkeit mit lexikalischen und klanglichen Übereinstimmungen betont. Im Gegensatz zum Vergiltext erhält das Detail der Wunde hier eine Funktion, indem die Verstorbene dadurch auch im Totenreich hinkt und Orpheus sich aus diesem Grund besorgt zu ihr umblicken wird. Eine weitere Parallele zur Unterweltsdido der Aeneis wird darin bestehen, dass dort wie hier in vergleichbarer Länge und Darstellungsform ein glückliches Wiedertreffen der Ehefrau mit ihrem liebevollen Gatten im Totenreich geschildert wird (Aen. 6,472–474 und met. 11,63–66). Die Rückkehr zum ersten Gatten durch Selbstmord war in allen bekannten vor- und auch noch nachvergilischen Didoerzählungen ein wichtiges Element, das auch in der Aeneis ihre Figuren‚bio‘graphie nach ihrem Tode abschließt. Ebenso zeigt sich die Dido des siebten Heroidenbriefes trotz langer Rechtfertigungen ihrer Beziehung zu Aeneas insgesamt zuversichtlich, Sychaeus im Tod wiederzufinden, wenn sie schreibt: Nulla mora est: venio, venio tibi debita coniunx. / Sum tamen admisso tarda pudore meo!46 (epist. 106f.). Dieses traditionell wichtige inhaltliche Element aus der Didoerzählung wird sich im Handlungsverlauf der ovidischen Orpheus- und Eurydicaerzählung wiederfinden: Orpheus wird sich im Leben zwar anderen Liebschaften zuwenden, aber dennoch im Tod wieder mit Eurydica vereinigt sein, als habe es niemals eine Abkehr von ihr gegeben.
. Der erneute Verlust der Eurydica In der Gestaltung vom Aufstieg und dem erneuten Verlust der geliebten Eurydica erzeugt der Metamorphosentext nun an dieser Stelle die dunkle, unheimliche Unterweltsstimmung, die zuvor nur kurz angedeutet wurde. Der Aufstieg ist, wie der
46 „Es gibt keinen Aufschub mehr: Ich komme, ich komme als dir verbundene Gattin. Ich bin allerdings verspätet, weil ich Schande über mich zugelassen habe.“
152 Orpheus und Eurydica Leser aus Vergils Aeneis weiß,47 steil und beschwerlich, und so heißt es an dieser Stelle auch im Metamorphosentext (met. 10,53f.): carpitur adclivis per muta silentia trames / arduus, obscurus, caligine densus opaca.48 Neben der unheilvollen Atmosphäre, die diese gedrängten düsteren Ausdrücke erzeugen und damit den Leser in Spannung auf das erwartete traurige Ende halten, erfüllt diese Beschreibung des beschwerlichen und steilen Weges auch die Funktion, den weiteren Verlauf der Handlung und die Handlungsmotivation seiner Figuren zu plausibilisieren. So dreht sich der ovidische Sänger trotz des Verbots nur angesichts des anstrengenden steilen Weges aus liebevoller Rücksicht nach Eurydica um.49 Neben seiner Sorge um die am Fuß verletzte und geschwächte Frau wird als zweiter Grund angegeben, Orpheus sei avidus videndi („begierig, sie zu sehen“, met. 10,56). Diese Mischung aus der beinahe vernünftig wirkenden Rücksicht und dem irrationalen Verlangen, seine geliebte Frau anzusehen, lässt den ovidischen Orpheus menschlich nachvollziehbar und damit besonders mitleiderregend handeln. Dies wird umso deutlicher vor der Folie des Georgicatextes, der Orpheus als incautus amans beschreibt und ihn von einer dementia, ignoscenda quidem ergreifen lässt.50 Die ovidische Eurydica reagiert ebenso rücksichtsvoll ihrem Gatten gegenüber, indem sie schweigend bzw. mit einem kaum hörbaren vale Abschied nimmt (met. 10,62), ohne ihn mit seinem Fehlverhalten zu konfrontieren – anders Vergil, der Eurydica in fünf Versen seinen Fehler tadeln und ihrem Gatten als letzte Worte Vorwürfe (wenn auch in seiner Version berechtigte) hinterherrufen lässt.51
47 Verg. Aen. 6,126–9: facilis descensus Averno: / noctes atque dies patet atri ianua Ditis; sed revocare gradum superasque evadere ad auras, / hoc opus, hic labor est – „Leicht ist der Abstieg in die Unterwelt: Tag und Nacht steht die Tür des düsteren Dis offen; aber den Schritt wieder zu wenden und an den freien Himmel zu entkommen, das ist die Herausforderung, das ist die Schwierigkeit.“ 48 „Der steile Pfad durch die stumme Stille wird erklommen, mühevoll, düster und voll von undurchdringlicher Dunkelheit.“ 49 So auch von Albrecht 2000, 196. – Hill 1992, 125 deutet das Umdrehen des Orpheus sehr negativ als aus „fear and excessive eagerness“ motiviert und übersieht dabei, dass sich metuens auf ne deficeret [scil. Eurydica] bezieht. 50 „Leichtsinniger Liebender“; „Wahnsinn, wenn auch verzeihlich“. 51 Ebenso stellt es der Culex-Dichter dar, bei dem Orpheus zwar nicht von Eurydica, wohl aber vom Erzähler Vorwürfe für sein Fehlverhalten gemacht werden (Cul. 292–295: sed tu crudelis, crudelis tu magis, Orpheu; / oscula cara petens rupisti iussa deorum. / dignus amor venia, veniam si Tartara nossent. / peccatum meminisse grave est – „Aber du grausamer, du mehr noch als grausamer Orpheus; du hast, weil du liebe Küsse begehrtest, die Gebote der Götter gebrochen. Deine Liebe würde wohl Gnade verdienen, wenn die Unterwelt Gnade kennte. Es ist hart, sich zu erinnern, wenn man Schuld trägt.“
Der erneute Verlust der Eurydica 153
Auch in dieser gegenteiligen Darstellung finden sich mit dem vale (georg. 4,497) und dem iamque jeweils zum Versbeginn (georg. 4,487; met. 10,60) lexikalische Elemente der entsprechenden Stelle des Vergiltextes, die zu einem direkten Vergleich beider Texte auffordern. Diese inhaltliche Änderung im Metamorphosentext bei gleichzeitiger Wiederholung lexikalischer Elemente bildet eine Umdeutung des Fehlers, den Orpheus mit seinem Verhalten begeht. So lässt der Metamorphosentext den Leser erstens durch Fokalisation Einblick in die innere Gefühlswelt seines Orpheus nehmen, zweitens stellt sich die Liebe des Sängers zu Eurydica als eine fürsorgliche dar; denn dass sich Orpheus nicht wie in den Georgica aus Unvorsichtigkeit und ‚Wahnsinn‘, sondern gerade aus Liebe und Sorge umdreht, bildet die eigentliche Tragik seines Verlustes. Dass Eurydica den Grund für sein Umdrehen wortlos versteht und verzeiht, betont wiederum im Kontrast zum Vergiltext das starke Band ihrer Beziehung. Diesen Unterschied der Darstellung kommentiert der Metamorphosentext sogar explizit in zwei Versen (met. 10,60f.: iamque iterum moriens non est de coniuge quicquam / questa suo (quid enim nisi se quereretur amatam?).52 So wird der Leser durch eine metaliterarische Botschaft an die vergilische Version erinnert, in der Eurydica ihren Mann sehr wohl tadelt, und dazu aufgefordert, das darin dargestellte Verhalten kritisch zu bewerten. Im Vergleich der beiden Schilderungen bemerkt der Leser, dass die Metamorphosen-Eurydica sowohl liebevoller als auch geliebter wirkt. Zudem klingt in der Darstellung von Eurydicas klaglosem Weg ins Totenreich motivisch und lexikalisch eine häufige Grabinschrift für römische Frauen an: vixit sine querela,53 was das Verhalten der ovidischen Eurydica umso idealer erscheinen lässt – und wieder rückwirkend das der vergilischen als vergleichsweise unangemessen. Orpheus erstarrt angesichts seines neuerlichen Verlusts wie jemand, der beim Anblick des Höllenhundes versteinert (met. 10,64–66) – ein zuvor ausgelassenes Element der Unterwelt wird so nicht auf Handlungsebene, sondern in Form eines Gleichnisses nachgereicht. Ebenso klingt im zweiten Gleichnis mit dem Namen Lethaea der Unterweltsfluss der Lethe an, wobei dieselbe Vokabel im Georgicatext wenige Verse später in georg. 4,445 als Attribut des „vergessenmachenden Mohns“ genannt wird, den Aristaeus laut seiner Mutter den Manen von
52 „Und schon wieder sterbend beklagte sie sich mit keinem Wort über ihren Ehemann (was sollte sie nämlich auch beklagen, außer, dass sie geliebt wurde?).“ 53 „Sie lebte ohne Klage“; Bömer 1980, 32, mit Verweis auf eine Vielzahl von Beispielen.
154 Orpheus und Eurydica Orpheus und Eurydica opfern solle, um sich mit ihnen auszusühnen. 54 Im Metamorphosentext dagegen fungiert derselbe Name als Figur in einer zuvor nicht belegten Sage, der zufolge ein ebenfalls unbekannter Olenos die Schuld seiner Frau Lethaea auf sich nimmt, die sich – vermutlich einer Göttin gegenüber – frevelhaft für ihre Schönheit gerühmt hatte. Das Paar wird gemeinsam in Stein verwandelt. Dies ist der Vergleichspunkt mit dem erstarrten Orpheus, an den die Sage anknüpft. So steht das Gleichnis mit der Orpheus-Eurydica-Erzählung auch durch die Thematik des aufopferungsvollen Ehemanns und der Vereinigung noch über den Tod hinaus in inhaltlicher Beziehung. Als weitere Intertextualität lässt sich auch hier wieder Didos Verhalten in der Unterwelt anführen (Aen. 6,469–471: illa solo fixos oculos aversa tenebat / nec magis incepto vultum sermone movetur / quam si dura silex aut stet Marpesia cautes),55 wobei diese allerdings nicht über Sychäusʼ Verlust, sondern über Aeneasʼ Erscheinen versteinert, sodass bei inhaltlicher und motivischer Entsprechung die Einbettung in die Handlung eine andere ist. Didos Erstarren wird mit einem Marmorfels verglichen, was jeweils zum Versbeginn sprachlich ähnlich eingeleitet wird wie der Vergleich des Orpheus mit Steinen des Idagebirges (Aen. 6,501f.: nec magis... / quam und met. 10,64f.: nec aliter... / quam).
. Orpheusʼ Leben nach Eurydicas Verlust Nach dem zweiten Verlust seiner Gattin sitzt Orpheus für eine lange Zeit am Ufer eines Flusses. In den Georgica ist es der Stymon (georg. 4,508), in den Metamorphosen wird der Name des Flusses nicht genannt. Bei Gleichsetzung mit dem Georgicatext mag ein Leser nach den vielen bisher aufgetretenen Parallelen annehmen, dass ebenfalls der Stymon gemeint ist.56 In den Georgica trauert Orpheus dort sieben Monate (georg. 4,597), bei Ovid sieben Tage (met. 10,73). Die Zahl Sieben zählt in anderen epischen Trauerschilderungen und auch im orphisch-
54 Georg. 4,544–547: Post ubi nona suos Aurora ostenderit ortus, / inferias Orphei Lethaea papavera mittes / et nigram mactabis ovem lucumque revises: / placatam Eurydican vitula venerabere caesa – „Nachdem die Sonne neunmal aufgegangen ist, sollst du als Totenopfer für Orpheus lethäischen Mohn darbringen und ein schwarzes Schaf schlachten und den Hain wieder aufsuchen. Ehre Eurydica mit der Schlachtung einer jungen Kuh, um sie zu besänftigen.“ 55 „Jene hielt abgewandt ihre Augen auf den Boden gerichtet und ihre Miene bewegte sich nicht mehr zu dem Beginn seiner Rede, als wenn ein harter Stein oder eine marpesische Klippe dastünde.“ 56 So auch Bömer 1980, 35.
Orpheusʼ Leben nach Eurydicas Verlust 155
rituellen Fasten keine Rolle und lässt sich lediglich durch die literarische Intertextualität zum Vergiltext erklären.57 Während dieser Trauerzeit fasst Orpheus den Entschluss, von nun an keine Liebe mehr zu empfinden. Während er im Georgicatext schlicht keine Liebe mehr empfindet (georg. 4,516: nulla Venus, non ulli animum flexere hymenaei), so ist es in den Metamorphosen ausdrücklich nur keine Liebe zu Frauen (met. 10,79–80a: omnemque refugerat Orpheus / femineam Venerem), und hier werden auch mögliche Gründe für diesen Entschluss genannt (met. 10,80bf.: seu quod male cesserat illi / sive fidem dederat).58 Die Gründe entsprechen denen, die Dido ihrer Schwester Anna gegenüber in Aen. 4,15–18 und 28f. nennt: Auch sie möchte ihrem ersten Mann gegenüber das Treueversprechen halten – und fühlt sich zudem durch seinen verfrühten Tod zu enttäuscht für einen neuen Versuch (Aen. 4,17: primus amor deceptam morte fefellit).59 Durch den Zweifel des Primärerzählers der Metamorphosen an dieser Stelle, was nun der ausschlaggebende Grund war, zeigt sich wieder einmal, dass er nicht von einem allwissenden Standpunkt aus berichtet, sondern auf das kritische Abwägen verschiedener Nachrichten und ihre Plausibilität angewiesen ist und den Leser dazu auffordert, es ihm gleichzutun.60 Im Georgicatext wird Eurydica ausführlich von der Natur betrauert, in den Metamorphosen wird dagegen nicht einmal mehr ihr Name als Grund für Orpheusʼ Rückzug vor der Frauenliebe genannt. Wieder verändert Ovid hier die vergilische Vorlage, um das folgende Geschehen zu plausibilisieren, denn nun kann er begründet Orpheus als thrakischen Erfinder der Knabenliebe darstellen und ihn nach seiner Ankündigung: Nunc opus est leviore lyra61 (met. 10,152) als Erzähler über ein ganzes Buch eine Reihe von Geschichten über unterschiedliche 57 Auch dieser Kontrast wurde allein aufgrund der kürzeren Trauerzeit teilweise als komisch gedeutet, z.B. Neumeister 1986, 177. Ähnlich Holzberg 2007, 85: „In den Metamorphosen begnügt der Sänger sich mit sieben Tagen“. Da ansonsten kein Grund erkennbar ist, weshalb die Darstellung von einer siebentägigen Trauer in dieser Situation Komik erzeugen sollte, wirkt die realistischere Anpassung der Fastenzeit in der Metamorphosendarstellung im Gegenteil vielmehr glaubwürdig und nachvollziehbar, so auch Segal 1972, 486f. 58 „Ihn stimmten keine Liebesgöttin/ kein Sex und auch keine Hochzeitspläne um“; „Orpheus hatte sich vor aller Frauenliebe zurückgezogen“; „sei es, weil es schlecht für ihn ausgegangen war, sei es, weil er sein Wort gegeben hatte.“ 59 „Ihre erste Liebe [Sychaeus] hatte sie durch seinen Tod enttäuscht.“ 60 Vgl. Horstmann 2014, 90f. zu met. 8,522; hier weiß der Erzähler, der zuvor alle Empfindungen Meleagers wiedergeben konnte, auf einmal nicht mehr, ob der Held zum Zeitpunkt seines Todes nun an seine Mutter gedacht hat oder nicht. Vgl. ähnlich met. 14,27 zur unklaren Handlungsmotivation der Venus, als sie Circes Liebe zu Glaucus weckt. 61 „Nun brauchen wir Lyramusik, die eine leichtere Kost ist.“
156 Orpheus und Eurydica von der normativen Heterosexualität abweichende Begebenheiten singen lassen.62 Der Metamorphosentext verknüpft so zwei zunächst widersprüchlich erscheinende biographische Nachrichten über Orpheus, nämlich einerseits seine endlose Liebe zu Eurydica und andererseits seine Funktion als auctor der Knabenliebe,63 zu einem kausal kohärenten Bild.64 Der Begriff auctor bedeutet hierbei nicht „Erfinder“ oder „Urheber“. Auf der Handlungsebene der Werkwelt haben ja bereits weitere Beispiele für erotische Handlungen zwischen Männern und männlichen Jugendlichen stattgefunden, wie etwa die Liebe zwischen Apoll und Cyparissus (met. 10,106–142). Orpheus wird hier nicht als Erfinder, sondern als ein erotisch-didaktischer Lehrdichter der Knabenliebe vorgestellt. Ob er die Praxis selbst auch körperlich ausübt, lässt der Text offen, doch der Sänger widmet in jedem Fall sein künstlerisches Schaffen und seine verbleibende Lebenszeit ganz der Knabenliebe. Dies steht jedoch in keinerlei Widerspruch zu seiner heterosexuellen Neigung: Orpheus liebt Eurydica noch immer und er möchte sich, so die Vermutung des Erzählers, aus zweierlei möglichen Gründen nicht neu in eine Frau verlieben. Er hat erstens Angst vor einer neuerlichen Enttäuschung und zweitens möchte er ihr auch über den Tod hinaus die Treue halten. Der Wandel von Orpheusʼ Liebesleben wird so lückenlos begründet und liefert damit dem Leser eine Erklärung für den bislang unstimmigen Kontrast der Erzählungen: Orpheus wird nicht homosexuell bzw. pädophil in dem Sinne, dass er Knaben in einer gleichwertigen Weise liebt, wie er Eurydica geliebt hat. Im Gegenteil, er ü b e r t r ä g t seine Liebe, die eigentlich auf ein anderes Ziel gerichtet war, auf die Knaben (met. 10,83f.: amorem / [...] transferre). Diese Metamorphose seiner sexuellen Interessen ist kein „schlauer Ausweg, der es ihm erlaubt, trotz des gegebenen Treuversprechens sich seine sexuelle Befriedigung zu verschaffen“.65 Vielmehr erfordert sein zweiter Versuch,66 ohne Eurydica zu leben, eine neuartige künstliche und infolge ihrer Künstlichkeit auch lehrbare (met. 10,83: a u c t o r amorem / in teneros transferre mares) Metamorphose seiner Liebe. Seine Liebe und Kunst widmet er nach dem Liebesgeständnis in der Unterwelt keiner anderen „nicht-frevelhaft“ liebenden Frau mehr.67 Aus diesen Gründen wird nach seiner Rückkehr aus der Totenwelt in seinem Lied kein Mal 62 Ähnlich auch von Albrecht 2000, 27. 63 Phan. fr. 1,9f. nach Powell. Für weitere Belegstellen vgl. Bömer 1980, 238. 64 Er setzt damit gleich beide Optionen der Anweisung aus Hor. Ars 119 um: aut famam sequere aut sibi convenientia finge! – „Folge entweder der Sage oder erfinde etwas, was zusammenpasst!“ 65 Neumeister 1986, 177. 66 Denn dass er es einmal vergeblich versucht hatte, berichtete er in seiner Rede vor den Totengöttern 10,25. 67 Vgl. hierzu Döring 1966, 37f.
Orpheusʼ Leben nach Eurydicas Verlust 157
Eurydicas Name erwähnt, und auch sein abgerissenes Haupt wird nicht wie bei Vergil (georg. 4,525–527) dreimal „Eurydica“ sagen, sondern flebile nescio quid.68 Dass Orpheus nach seinem Tod wieder mit Eurydica vereint wird, ist allerdings Beweis genug für seine andauernde Liebe: Diese hat Orpheus in den drei Jahren, die er ohne Eurydice leben muss, nicht aufgegeben und durch eine neue Liebe ersetzt, sondern sie wurde lediglich vorübergehend transformiert. Orpheus kündigt in seinem Gesang an, er werde ab Iove (met. 10,148) singen, und nimmt diese traditionelle Ankündigung wörtlich, indem er Jupiter zum Protagonisten seiner ersten Erzählung macht. Dass er die Erzählung von dessen Raub des jungen Ganymed mit den Worten cedunt Iovis omnia regno69 (met. 10,147) einleitet, gibt dieser zunächst literarisch vertraut klingenden Preisung in einem epischen Proem einen provokant-doppelbödigen Sinn.70 Innerhalb des Gesangs wird der Leser mit einer selbstreflexiven Ankündigung daran erinnert, dass ihm erstens ein Gesang in einer Figurenrede vorliegt und dass die Erzählungen zweitens als fiktive und möglicherweise unwahre Erzählungen verstanden werden müssen, die zu bestimmten Zwecken an bestimmte Zielgruppen 71 gerichtet werden: met. 10,300–302: Dira canam: procul hinc natae, procul este parentes! / aut, mea si vestras mulcebunt carmina mentes, / desit in hac mihi parte fides, nec credite factum.72 Es liegt hier im Vergleich mit Vergil eine auffällig kontrastierende Version der Erzählung vor, die damit erklärt worden ist, dass Ovid hier die augusteische Sexualmoralisierung angreife;73 seine Rolle als Lehrer der Knabenliebe
68 „Irgendetwas Klagendes“, met. 11,52f. Henneböhl 2005 deutet diese Stelle und Teile des Gesangs des Orpheus als Erzählung von der Erfindung der Liebeselegie; nach der antiken Etymologie glaubte man ja, der Name leite sich von den griechischen Klagelauten ab. 69 „Alles folgt Jupiters Macht.“ 70 Vgl. hierzu auch Barchiesi 1989 = 22001, 56. 71 Hierfür zieht Barchiesi 1989, 61 auch heran, dass Orpheus vor seinem tierischen Publikum Byblis darüber sinnieren lässt, dass Tiere inzestiösen Beziehungen zu ihren Eltern eingehen und dies keineswegs widernatürlich sei (met. 10,324–329). Dass sie allerdings als Beispiele Pferde und andere Nutztiere nennt und nicht die wilden Tiere, die Orpheusʼ Publikum bilden, lässt diese Beobachtung doch eher zufällig wirken. 72 „Ich werde von scheußlichen Themen singen: Bleibt fern von hier, Töchter, bleibt fern von hier, Eltern! Oder, wenn euch meine Lieder Genuss bereiten, so soll mir in dieser Hinsicht euer Glauben fehlen und ihr sollt nicht meinen, dass dies wirklich geschehen sei.“ 73 Segal 1972, 492; Barchiesi 2001, 57 (der zum Vergleich Hor. ars 391–198 heranzieht, der Orpheus und andere vates in einem askendenten Kulturmodell als Begründer der Zivilisation preist und hierbei auch auf Ehegesetze eingeht (ars 398): concubito prohibere vago, dare iura maritis – „promiskuitiven Verkehr zu verbieten und den Ehegatten Gesetze zu geben“); Neumeister 1986, 170; Makowski 1997, 26. Zweifelnd Bömer 1980, 12f.
158 Orpheus und Eurydica kontrastiert zudem Horazʼ Darstellung, nach der Orpheus der promiskuitiven Liebe ein Ende bereitet, indem er die Ehe einführt.74 Über Ovids politische oder gesellschaftskritische Absichten oder gar über seine persönliche Einstellung gegenüber Homosexualität75 oder Päderastie soll an dieser Stelle jedoch nicht spekuliert werden.
. Orpheusʼ Tod Parallelen zum Georgicatext liegen also weiterhin im Handlungsaufbau und in den jeweiligen Szenerien vor, indem Orpheus nun am Ufer eines Flusses trauert (georg. 4,504–515; met. 10,73b–75)76 und dann seine Enthaltsamkeit, zu der sich Orpheus entschließt, geschildert wird (georg. 4,516–520a; met. 10,76–85). Der nächste Szenenwechsel schwenkt in beiden Texten zu der Lichtung, auf der Orpheus von rasenden Bacchanten getötet wird. Die Schilderung ist im Georgicatext zweieinhalb Verse lang (georg. 4,520b–522), während sie in den Metamorphosen dadurch, dass Orpheus an diesem Ort in friedlicher Atmosphäre mehrere Geschichten singt,77 bevor ihn die ciconischen Frauen entdecken und angreifen, noch um beinahe ein ganzes Buch hinausgezögert wird78 und erst in met. 11,66 ganz abgeschlossen ist. Dennoch stimmt die Reihenfolge im Handlungsablauf auch hier überein. Wieder weicht der Metamorphosentext nicht inhaltlich,
74 Hor. Ars 391–398, bes. 398. 75 Vgl. hierzu Makowski 1997, 30f., der für seine Spekulationen mehrere Stellen aus Ovids Ars amatoria und den Heroides aufführt. 76 Wörtlich bis met. 10,75; in met. 10,76–77 (esse deos Erebi crudeles questus in altam / se recipit Rhodopen pulsumque aquilonibus Haemum – „Darüber klagend, dass die Götter des Erebus grausam seien, zieht er sich auf die hohe Rhodope zurück und auf den sturmgepeitschten Haemus“) liegt allerdings ein Hysteron Proteron vor: Orpheus klagt nicht erst und zieht sich dann auf die Rhodope und den Haemus zurück, sondern er klagt wohl auch bei der Bergbesteigung und oben auf den einsamen Berggipfeln, daher zählen die Verse 76–77 schon zur Schilderung seiner selbstauferlegten Enthaltsamkeit. 77 Dazu, wie der Orpheusgesang als eine verkleinerte Form der Metamorphosen zu deuten sei, vgl. u.a. Knox 1986, 48–64; Spahlinger 1996, 139–142; Galinsky 1999, 311 und Andrae, 2003, 75– 77. 78 Dass Ovid auch hier keine weitere Handlung an einem neuen Ort einfügt, sondern dass sein Orpheus seine Gesänge schon an eben dem Ort, an dem er im Anschluss sterben wird, darbringt, lässt sich deutlich in met. 11,1–5 sehen: Carmine dum tali silvas animosque ferarum / Threicius vates et saxa sequentia ducit, / ecce nurus Ciconum [...] cernunt / Orphea. – „Während der thrakische Sänger mit solch einem Lied die Wälder und Herzen der Wildtiere und die folgsamen Steine lenkte, siehe, da erblicken die Frauen der Ciconen Orpheus.“
Orpheusʼ Tod 159
sondern nur in der Länge der Ausschmückung der einzelnen Handlungselemente von der Georgicadarstellung ab. Die erste uns bekannte literarische Darstellung, nach der Orpheus von Frauen zerrissen wird, ist Aischylosʼ Tragödie Βασσάραι oder Βασσαρίδες; hier werden sie von Dionysos geschickt, um Orpheus dafür zu bestrafen, dass er sich nach seiner Rückkehr aus der Unterwelt aus uns unbekannten Gründen ganz der Verehrung des Sonnengottes widmet: Orpheus wird also aus religiösen Gründen für eine Schuld bestraft. Bei Vergil und Ovid dagegen scheinen die Frauen eher aus eigenem Interesse zu handeln, nämlich aus Rache dafür, dass Orpheus sie verschmäht, doch die Todesumstände einer Dionysosfeier werden in gleicher Weise wiederholt. In den Metamorphosen bietet sie lediglich eine Gelegenheit, in der dem Sänger lärmende und rasende Frauen in der freien Natur begegnen. Dass die Frauen selbst als Frevlerinnen bezeichnet (met. 11,41: sacrilegae) und nach dem Mord dafür von höheren Mächten bestraft werden (met. 11,68: non impune (...) scelus hoc sinit esse Lyaeus; 70: nefas),79 zeigt, dass sie nicht selbst einen göttlichen Willen ausgeführt, sondern aus eigenem Antrieb gegen den göttlichen Plan gehandelt haben. Der Metamorphosentext wiederholt die Feier also als Motiv und als Handlungselement, aber in einem veränderten kausalen und thematischen Zusammenhang. Die Schilderung nimmt bei Vergil nur zweieinhalb Verse ein (georg. 4,520– 522: spretae Ciconum quo munere matres / inter sacra deum nocturnique orgia Bacchi / discerptum latos iuvenem sparsere per agros).80 Der Mord wird bei Ovid dagegen in aller Ausführlichkeit geschildert. Wie bei Vergil (spretae) wird als Grund für das Wüten der Bacchanten Orpheusʼ Enthaltsamkeit Frauen gegenüber genannt (V. 7: nostri contemptor)81. Als zweiter Grund neben Orpheusʼ eigener ‚Frauenfeindlichkeit‘ kann aus diesen Worten geschlossen werden, dass die Frauen ihm die Erfindung und vor allen Dingen die Verbreitung der Knabenliebe auch unter anderen thrakischen Männern übelnehmen. Als Erstes wirft eine der Maenaden den Thyrsosstab, der allerdings wirkungslos abprallt und lediglich einen blauen Fleck hinterlässt.82 Ovid erklärt diese 79 „Bacchus lässt dieses Verbrechen nicht ungesühnt“; „Frevel“. 80 Die Mütter der Ciconen, die er bei diesem Dienst zurückwies, zerrissen den jungen Mann während der heiligen Handlungen der Götter, den nächtlichen Bacchusorgien, und zerstreuten ihn weithin über die Felder “ 81 „Unser Verächter“. 82 Dies kann eine Anspielung auf die aitiologische Erklärung für die thrakische Sitte sein, nach der die thrakischen Männer ihre Frauen nach dem Mord an Orpheus mit blauen Malen gezeichnet haben, damit sie Erinnerungsmale an ihre Greueltat am Leibe tragen, vgl. Ziegler 1939, Sp. 1289.
160 Orpheus und Eurydica Wirkungslosigkeit geradezu naturwissenschaftlich damit, dass der Stab vorn mit Efeu umwickelt und so als Wurfspeer ungeeignet ist (met. 11,9).83 Auch der Stein, den die zweite Angreiferin wirft, kann Orpheus nicht schaden; da Orpheus bekanntlich mit seinem Gesang Steine bezaubern kann und der Sänger während einer Vorstellung überrascht wurde, fällt der Stein wirkungslos zu Boden. Hinter dieser Darstellung steht wieder eine konsequente Schlussfolgerung: Steine als Wurfgeschosse sind für gewöhnlich Gegenstände ohne Gefühle oder Absichten. Orpheus allerdings ist in der Lage, die Natur und auch Steine durch seinen Gesang zu beeinflussen, wie Ovid eigens am Anfang seiner Erzählung betont hat (met. 11,1f.). Eine solche Fähigkeit setzt genau genommen voraus, dass die beeinflussten Gegenstände empfänglich für musikalische Botschaften sind. Folgerichtig schreibt Ovid dem Stein in dieser Szene anthropomorphisierend ein Innenleben mit Empfindungen zu bzw. weist darauf hin, dass der Stein zumindest von außen betrachtet (met. 11,12: veluti) ein Empfindungsvermögen zu haben scheint (met. 11,10–13: alterius telum lapis est, qui missus in ipso / aere concentu victus vocisque lyraeque est, / ac veluti supplex pro tam furialibus ausis / ante pedes iacuit).84 Ovid ist aufgefallen, dass es sich, wenn man die Auswirkungen von Orpheusʼ Fähigkeit konsequent zu Ende denkt, sehr schwierig gestalten muss, den so begabten Sänger mit Hilfe von Gegenständen zu töten (met. 11,15: cunctaque tela forent cantu mollita).85 Er findet eine Erklärung, wie Orpheus dennoch überwältigt werden konnte: Geworfene Gegenstände können ihn nur dann treffen, wenn sie seinen Gesang nicht hören können.86 Dies ist nur durch Übertönung möglich, und traditionell haben Bacchantinnen bei ihren Orgien stets Musikinstrumente bei sich, mit denen ebendies bewerkstelligt werden kann. So können sie ihm schließlich doch mit Steinen und später auch mit Erdklumpen und
83 Bömer 1980, 246: „Daß die Bakchanten auf wirkliche oder vermeintliche Gegner den Thyrsus werfen, der ihnen als hasta gilt [...], ist die Regel.“ – Allerdings heißt es auch in Vers 28: Coniciunt thyrsos n o n h a e c i n m u n e r a f a c t o s – „Sie schleudern die Thyrsusstäbe, die nicht für diese Funktion gemacht wurden“. Vgl. andererseits Pentheusʼ Tötung mithilfe ebendieses Werkzeugs in met. 3,710–713. 84 „Eine andere schleuderte als Waffe einen Stein, der im Flug mitten in der Luft von der Harmonie aus Gesang und Saitenspiel überwältigt wurde und geradezu demütig angesichts der wahnsinnigen Angriffe vor seinen Füßen zum Liegen kam.“ 85 „Und alle Wurfgeschosse würden durch seinen Gesang besänftigt.“ 86 Ganz ähnlich löst Odysseus das Problem des Sirenengesangs, indem er seiner Mannschaft mit Wachs die Ohren verstopft, damit sie nicht auf die magischen Klänge reagieren.
Orpheusʼ Tod 161
Ästen blutige Verletzungen zufügen (met.11,18f.: Tum denique saxa / non exauditi rubuerunt sanguine vatis).87 Die ausführliche Darstellung der einzelnen Angriffe zeigt einen möglichen Plausibilitätsmangel der Vorgängertexte auf und glättet sie, indem die phantastischen Spielregeln der Magiedarstellung konsequent zu Ende gedacht werden. Hierfür wiederholt der Text aus Vorgängerwerken bekannte Attribute der Figuren und setzt sie in einen kausalen Zusammenhang zur Handlung.88 Nachdem Orpheus so erste Verletzungen zugefügt wurden, lassen die Maenaden zunächst von ihm ab und zerreißen die Tiere, die ihm zugehört haben. Wieder wird die Handlung konsequent damit begründet, dass sie noch betäubt von der Musik und dadurch fluchtunfähig sind (met. 11,20: attonitae etiamnum voce canentis). Mitten in der ereignisreichen Darstellung der rasenden Maenaden wird der Blick nun überraschend für drei Verse (met. 11,31–33) auf eine ruhige, landwirtschaftliche idyllische Szene gerichtet, in der fleißige Bauern in schweißtreibender Arbeit ihre Felder bestellen. Als die Arbeitenden die rasende Schar bemerken, fliehen sie (met. 11,34–36: operisque relinquunt / arma sui, vacuosque iacent dispersa per agros / sarculaque rastrique graves longique ligones).89 Sieben Verse lang ruht also der Blick des Lesers auf einmal auf der Thematik von Landwirtschaft und Ackerbau, bis die Bacchantinnen diese Werkzeuge ergreifen und als Waffen gegen Orpheus richten. Dass der Sänger ausgerechnet mit Hilfe von landwirtschaftlichen Werkzeugen erschlagen wird, ist auffällig. Denn erstens ist die ganze vorangegangenen Orpheuserzählung fast durchgehend der Schilderung aus den Georgica gefolgt, sodass jede Abweichung besonders ins Auge fällt. Zweitens findet sich diese Todesart zuvor in keiner anderen literarischen oder bildlichen Darstellung und kann als Neuerfindung Ovids gelten.90 Die Geräte werden in den Metamorphosen in einem kleinen Katalog aufgeführt, ebenso in georg. 1,160–166, wo die Landwirtschaftsgeräte wie im Metamorphosentext ebenfalls als arma bezeichnet
87 „Dann schließlich färbten sich die Steine rot vom Blut des Sängers, der nicht mehr erhört wurde.“ 88 Derartige phantastische, aber logisch lückenlos plausible Herleitungen finden sich in Ovids Metamorphosen häufig, vgl. hierzu auch von Albrecht 2000, 287: „Die ‚unrealistischen‘ Prämissen und Spielregeln geben dem Dichter also paradoxerweise Gelegenheit, durchaus ‚realistische‘ Fähigkeiten walten zu lassen.“ Zu derartigen Gedankenspielen in Ovids Humor vgl. von Albrecht 1968, 420f. 89 „Und sie lassen ihre Arbeitswerkzeuge zurück, und diese liegen verstreut auf den leeren Feldern, die Jäthacken und schweren Harken und langen Hacken.“ 90 Eisler 1925, 342. Bömer 1980, 246 erklärt das Bild des „harten [...], aber friedlichen Landlebens“ allein als stilistisches Mittel der „Verzögerung des letzten Angriffs“.
162 Orpheus und Eurydica werden. Es werden mit diesem Katalog und dem Verwenden der Landwirtschaftsgeräte als arma typische Motive, narrative und lexikalische Elemente aus anderen Stellen des Gesamtwerkes der Georgica verwendet und in die Handlung der Erzählung, die demselben Werk entnommen ist, eingebunden. Man hat bis zu dieser Stelle viele Gemeinsamkeiten mit der Orpheusschilderung aus den Georgica entdecken können und daher auch weitere erwartet, sodass auch diese ungewöhnliche Form einer Intertextualität bemerkt werden kann: die Einbeziehung typischer Motive eines Lehrgedichts über Landwirtschaft in die Handlung einer Erzählung, die innerhalb dieses Werkes (in einer Figurenrede des Proteus) erzählt worden ist. Bei Vergil heißt es zudem über den toten Orpheus (georg. 4,522): discerptum latos iuvenem sparsere per agros. Das Ende von Vers met. 11,35 klingt laut gelesen auffallend ähnlich:91 arma sui, vacuosque iacent dispersa per agros. Wenn ein idealer Leser noch Vergils Version der Erzählung im Ohr hat, kann er hier, obwohl inhaltlich eine idyllische Landschaftsbeschreibung vorliegt, schon aus klanglichen Gründen den daraus resultierenden Tod des Sängers und das damit verbundene Bild des zerrissenen Körpers assoziieren. Es liegt an derselben Stelle noch ein weiterer intertextuell verwobener Bezug vor. Etwa zum selben Zeitpunkt der Handlung, als im Ovidtext unerwartet Bauern und ihre Pflugwerkzeuge auftauchen, wird auch im Vergiltext ein Pflüger genannt: Der trauernde Orpheus wird hier in einem Gleichnis mit einer klagenden Nachtigall verglichen, der ein arator das Nest geplündert hat. Wir sehen also an den Beispielen der Lethaea (georg. 4,445; met. 10,70), der Ackergeräte (georg. 4,522; met. 11,35) und des Pflügers (georg. 4,512; met. 11,31–36), dass die Hinweise auf den Referenztext sehr unterschiedlich strukturierte und bisweilen sehr gesuchte Formen annehmen. In hoher Dichte werden Szenenbilder, Themenkomplexe oder auch nur einzelne Wörter aus dem ganzen Vorgängerwerk in einem neuen Zusammenhang wiederholt. Wie im Georgicatext die Natur den Tod der Eurydica beweint hat, beweint sie nun Orpheusʼ Tod. Die Klage der Natur ist ein verbreitetes poetisches Motiv.92 Es fallen an dieser Stelle dennoch wieder besondere Ähnlichkeiten mit Vergils Version in seiner Orpheuserzählung auf: Wie Eurydica vierfach mit te angesprochen wurde,93 wird in der Klage um Orpheus dieser viermal in gleicher Weise angesprochen.94 Mit den Bildern von Bäumen, die aus Trauer ihr Laub scheren,95 und
91 Bömer 1980, 247 zufolge verwendet Ovid dispergere nur hier. 92 Vgl. für zahlreiche Belegstellen Bömer 1980, 248. 93 Georg. 4,465f. 94 Met. 11,44–46. 95 So verleihen auch in met. 3,506 die Naiaden ihrer Trauer um Narcissus Ausdruck.
Das Haupt des Orpheus 163
Flüssen, die von ihren eigenen Tränen anschwellen,96 bietet die Klagedarstellung im Metamorphosentext ausgefallenere und pointiertere Motive und überbietet die vergleichend mitgelesene Georgicaerzählung mit dem gleichen Verfahren wie zuvor bei der Darstellung der Unterweltsbewohner.
. Das Haupt des Orpheus Das abgerissene Haupt des Orpheus wird sowohl bei Vergil (georg. 4,523–527) als auch bei Ovid (met. 11,50–53) vom Hebrus fortgespült, wobei die Zunge noch in den Wellen Laute von sich gibt. Bei Vergil ruft sie dreimal den Namen Eurydicen, bei Ovid unbestimmter „irgendetwas Klagendes“ (flebile nescio quid): auch das flebile wird zwei weitere Male wiederholt, sodass wie im Georgicatext ein dreimaliger Klageruf geschildert wird. Dass der inzwischen zum Knabenliebhaber gewordene Orpheus an einer Stelle, an der ein Leser den Namen seiner Frau erwartet, nur etwas Unverständliches klagt, hat wieder zu einigen parodistischen Deutungsversuchen geführt.97 Dass Ovid bisweilen auch einen sehr makaberen Humor besitzt, soll auch nicht bestritten werden; an dieser tragischen Stelle fehlt allerdings eindeutig die Distanz des Lesers, um aus dem Unterschied, dass die tote Zunge des eben ermordeten Orpheus etwas Klagendes murmelt statt des Namens seiner verstorbenen Frau, Komik empfunden werden könnte. Man kann es umgekehrt auch ebenso gut als pietätsvoller betrachten, ein totes Körperteil schweigen bzw. ungehört zu lassen, statt ihm klar artikulierte Worte in den Mund zu legen. Das fortdauernde Singen vom Orpheus Haupt bis zu seiner Ankunft auf der Insel Lesbos wird als aitiologische Erklärung dafür gedeutet, dass Lesbos als besonders gesangsnaher Ort gilt.98 Auch diser Gedanken wird an späterer Stelle im Kontext der Canens-Erzählung weitergeführt werden (vgl. Kap. 13,3). Auch im weiteren Handlungsverlauf ist also die Übereinstimmung beider Schilderungen aufgefallen, bis hin zu der Szene, in der das abgerissene Haupt des Orpheus vom Hebrus fortgetragen wird und einen dreifachen Klagelaut von sich gibt. Abweichungen bestehen nur in inhaltlichen Details. Nach diesem Handlungselement schließt die Erzählung des Proteus in den Georgica, und die Meeresgöttin Cyrene gibt in einer weiteren Figurenrede Anweisungen an Aristaeus, wie mit den neuen Informationen weiter zu verfahren sei, um sich zu 96 Met. 11,46–48. Das Bild eines vor Tränen anschwellenden Flusses findet sich auch in met. 1,584, als Inachus um seine verloren geglaubte Tochter Io trauert. 97 Otis 1966, 185; ohne Begründung Neumeister 1986, 180. 98 Diese Deutung gilt dabei sowohl für den Vergil- und Ovidtext und auch für den Phanoklestext: Barchiesi 1989, 56f. mit Fn. 20 auf S. 174f. mit Verweis auf Hopkinson 1988, 178.
164 Orpheus und Eurydica entsühnen. Im Metamorphosentext schließt die Verwandlung einer Schlange zu Stein an, als sie in den Kopf beißen will, und Orpheusʼ letzter Gang in die Unterwelt.
. Das Wiedersehen in der Unterwelt Ein Unterschied zu der Georgicaversion besteht nun darin, dass der Metamorphosentext die bisher so tragische Orpheuserzählung überraschend mit einem heiteren und hoffnungsfrohen Ende abschließt. Orpheus sucht und findet Eurydica in der Unterwelt wieder (met. 11,62–66). Ihre Schatten können sich nun wieder greifen und umarmen, sie können sich ansehen und gemeinsam laufen, in welcher Reihenfolge es ihnen gefällt – hier wird gewissermaßen das Happy End der Geschichte dreißig Jahre später der vergilischen Version nachgeliefert, und gerade bei Kenntnis der vergilischen tragischen Vorlage wird wohl die heitere Rührung bei der Ovidlektüre verstärkt werden. Dies ist eine inhaltliche Ähnlichkeit zur Erzählung von Dido und Sychaeus, die jedoch nicht mit weiteren intertextuellen Bezügen wie etwa lexikalischen oder motivischen Elementen betont wird. In den Metamorphosen folgt zudem eine Bestrafung der Bacchantinnen für ihren Mord an Orpheus – etwas, was im Georgicatext ebenfalls nicht vorkommt und damit die Thematik von Schuld und Sühne in eine andere Richtung verlagert.
. Dynamik und Intertextualität für die Werkwelt Die Orpheuserzählung in den Metamorphosen ist von Beginn bis fast zum Ende so dicht mit intertextuellen Bezügen zur Darstellung der gleichen Sage in Vergils vierten Georgicabuch durchzogen, dass sie den Leser diesen Text durchgehend vergleichend mitlesen lässt. Die auffälligste Ähnlichkeit ist dabei die Parallelität der Handlung sowohl in der Story als auch im Plot. Insgesamt fällt außerdem auf, dass der Metamorphosentext tendenziell die Handlungen, die im Georgicatext lang ausfallen, kurz gestaltet und umgekehrt die Elemente, die Vergil kurz hält, länger ausschmückt. Das teilweise geraffte Erzähltempo anstelle ausgeschmückter Passagen wurde bisweilen als Zeichen einer besonders saloppen oder ironischen Erzählhaltung gedeutet. Das Erzähltempo allein sagt allerdings nichts über Pathos, Flapsigkeit oder Abwertung aus – umgekehrt gestaltet der Metamorphosentext schließlich auch Passagen länger aus, die der Georgicatext kurz hält, ohne dass die dortige Darstellung durch Vergil je als flapsig oder abwertend beurteilt wurde. Ohne Ausnahme stimmen außerdem die Orte der Handlungen überein. Gerade in der augusteischen Dichtung ist ein Leser jedoch eigentlich
Dynamik und Intertextualität für die Werkwelt 165
gewohnt, dass Texte individuelle Neuerungen bieten und zu enge Imitationen vermeiden.99 Die deutliche Gleichsetzung der Handlung zum Georgicatext weckt daher die Aufmerksamkeit umso mehr für die wenigen Unterschiede in Handlung, Darstellung und Erzählhaltung. So bemerkt ein Leser gleich zu Beginn der Metamorphosenerzählung den Unterschied, dass Eurydica in der Welt der Metamorphosen von der Hochzeitsschar der niederen Naturgottheiten begleitet wird, statt wie im Vergiltext allein auf der Flucht vor Aristaeus zu sterben. Die Erzählungen lassen sich daher auf der Ebene der Werkwelt nicht gleichsetzen, und der Widerspruch lässt sich auch nicht mit Blick auf die unterschiedlichen Erzähler und ihr möglicherweise abweichendes Figurenwissen auflösen. Der Zuhörer Aristaeus, dem Proteus in den Georgica die Sage erzählt, war schließlich selbst an der Handlung beteiligt und kann ihren Wahrheitsgehalt daher prüfen. Der Primärerzähler der Metamorphosen dagegen gibt hier keine Signale für seine generelle Unzuverlässigkeit, wie es gelegentlich durch Hinweise wie fama est o.ä. der Fall ist (vgl. Kap. 5.1.3), und gibt hier darum keinen Anlass, an der Richtigkeit seiner Erzählung zu zweifeln. Die Erzählungen sind so von Anfang an als ähnliche, aber nicht identische Darstellungen erkennbar, und laden zum Blick auf die Unterschiede ein. Im direkten Vergleich wirkt dabei die Beziehung der Figuren und ihre Charakterzeichnung im Metamorphosentext an mehreren Stellen fürsorglicher und liebevoller. Anders als im Georgicatext und in ähnlichen Erzählungen innerhalb der Metamorphosen trifft hier den männlichen Liebenden selbst keine Schuld am Tod der Geliebten, und er muss dafür auch keine Sühne leisten. 100 Die gleiche Funktion von Intertextualität liegt vor, wenn sich Orpheus betont anders als im Georgicatext nicht aus Wahnsinn, sondern aus Sorge zu Eurydica umdreht und wenn sie ihm daraufhin, wie der Erzähler explizit kommentiert, nicht mit Vorwürfen antwortet, sondern mit einem klaglosen letzten vale entschwindet. Diese Klaglosigkeit der Eurydica an derselben Stelle der Handlung wird im Metamorphosentext zudem durch den hier platzierten Erzählerkommentar hervorgehoben (met. 10,60f.: iamque iterum moriens non est de coniuge quicquam / questa suo (quid enim nisi se quereretur amatam?).101 Dieser verweist nicht nur inhaltlich auf den Kontrast zum Georgicatext, sondern er enthält dabei selbst sprachliche und stilistische Elemente aus eben diesen Versen der Eurydicaklage, auf deren Auslassung in dieser Erzählung er aufmerksam macht. So werden lexikalische, 99 Explizit rät Hor. ars 131–135 von einer zu engen Imitation ab. 100 Pyramus und Thisbe (met. 4,105–119); Aesacus und Hesperie (met. 11,749–795). 101 „Und als sie schon zum zweiten Male starb, klagte sie nicht ein Wort über ihren Mann (was hätte sie auch beklagen können, außer dass sie geliebt wurde?“
166 Orpheus und Eurydica syntaktische und inhaltliche Intertextualitäten eingesetzt, um den Kontrast in der Figurendarstellung zu betonen. Im direkten Vergleich zur bekannten Version erscheint die Liebe der beiden Figuren so noch größer und selbstloser. Keine Abweichung im so penibel nachgeahmten Handlungsablauf ist hingegen das Füllen der Leerstelle, die der Georgicatext bei der Darstellung von Orpheusʼ Gesang vor den Totengöttern lässt, denn auch ohne wörtliche Ausgestaltung bildet der Gesang dort einen plotrelevanten Teil der Handlung. Innerhalb dieser Figurenrede finden sich einige Verbindungen innerhalb der Werkwelt der Metamorphosen selbst. So kann Orpheus in seinem gesungenen Plädoyer für die Wiedergabe Eurydicas von einer alten (und daher möglicherweise unzuverlässig überlieferten) Sage berichten, wie seine Adressaten Pluto und Proserpina selbst durch Amor verbunden wurden. Dieselbe Begebenheit erzählt fünf Bücher zuvor seine Mutter Calliope der Zuhörerin Minerva im Kontext eines Sangeswettstreits und darin eingelegt ein weiteres Mal Arethusa in met. 5,504–508. Auf der Ebene der Primärerzählung kommt dieses Ereignis nicht vor, dennoch ist das gemeinsame Auftreten der beiden Gottheiten an dieser Stelle gewissermaßen Beweis genug für die Richtigkeit aller drei Überlieferungen. Der Metamorphosentext wiederholt außerdem in der Unterweltsdarstellung mehrfach Elemente aus Passagen des Aeneistextes, die wiederum selbst deutlich motivische, lexikalische und handlungsbezogene Elemente aus der Odyssee wiederholen. Doch die homerischen Elemente werden in der Wiederholung im Ovidtext nicht mitübernommen, sondern gewissermaßen herausgefiltert. Eine dieser Szenen ist die Darstellung der namenlosen, ewig leidenden Manen, sodass die Unterwelt in den Metamorphosen hier eine weniger schreckliche Region darstellt. Die zweite window-reference-Szene ist die Begegnung von Aeneas und Dido in der Unterwelt im sechsten Aeneisbuch, wobei auch hier die homerischen Elemente, die den Leser dort die Begegnung von Odysseus und Ajax mitlesen lassen, im Ovidtext nicht mit wiederholt werden. Dadurch klingt das Thema der Schuld am Tod nicht an, das die Dido-Aeneas-Begegnung mit der von Ajax und Odysseus gemeinsam hat, aber in der Metamorphosenerzählung keine Rolle spielt. Stattdessen wird im Metamorphosentext ein anderes Thema betont, das Dido mit Orpheus verbindet, nämlich ihre unvergängliche Liebe zu ihrem ersten Partner Sychaeus, die sie bis über den Tod hinaus bewahrt. Orpheus’ lebenslange Treue wird in der Georgicaerzählung in der Handlung dargestellt: Hier streift er für den Rest seines Lebens einsam durch die Natur und beklagt den Verlust der Eurydica; seine Zurückweisung einer neuen Eheschließung veranlasst die ciconischen Frauen dazu, ihn zu töten. Ein weiteres Motiv für seine unsterbliche Liebe bildet die Zunge in seinem abgetrennten Kopf, die noch immer den Namen seiner Geliebten murmelt. Diese beiden Handlungselemente
Dynamik und Intertextualität für die Werkwelt 167
werden nun im Metamorphosentext auffällig abgeändert. Statt den Rest seines Lebens im Wahn zu verleben, zieht Orpheus einen bewussten Schlussstrich. Er sucht sich eine neue Lebensaufgabe und ‚transferiert‘ seine Gefühle auf ein anderes Ziel, nämlich indem er auf künstlerische Weise die Liebe zu Knaben behandelt, besingt und lehrt. Auf diese Weise verknüpft der Text zwei Traditionen zu einer biographisch kohärenten Figur: Orpheus bewahrt seine unsterbliche Liebe zur Frau Eurydica, die er nach dem Tod wiederfindet und weiterhin liebt, und er ist der Erfinder und Lehrer der Knabenliebe, der erotischen Didaktik sowie der lyrischen Gesänge über diese Liebschaften. Mehrere Erzählelemente aus Vorgängertexten erhalten im Metamorphosentext eine neuartige plotrelevante Funktion. So ist die frische Wunde an Eurydicas Fuß nicht nur bloß sichtbar wie die der Dido in Aen. 6,450, an deren Darstellung mit lexikalisch-syntaktischen Mitteln erinnert wird, sondern sie bildet gemeinsam mit dem ebenfalls traditionell sehr schwierig dargestellten Aufstieg aus der Unterwelt den Grund für Orpheusʼ fatales Umdrehen (met. 10,56f.). Der Katalog landwirtschaftlicher Werkzeuge (met. 11,35f.), der den Gesamtkontext der Georgica anklingen lässt, wird zum Waffenarsenal der Bacchantinnen und führt unmittelbar zu Orpheusʼ Tod. Die Zauberkräfte des Orpheus werden von neuen Seiten beleuchtet: So versetzt sein Gesang nicht nur die Bewohner der Unterwelt in starres Staunen, sondern dank seiner telekinetischen Wirkung auch das Rad des Ixion. Er kann sich den Schatten mitsamt den Bäumen selbst herbeisingen, und die Spielregeln seiner Zauberkräfte werden im Kampf gegen die Maeneaden detailliert ausgeführt, indem Steine ihn zunächst nicht treffen können – bis die Frauen mit ihren ebenfalls traditionell mitgeführten Musikinstrumenten seinen Gesang übertönt haben. Diese Darstellungen seiner Kräfte sind allesamt auch ohne literarisches Vorwissen verständlich, doch sie gewinnen vor allem dadurch ihren Reiz, dass dem Leser diese Fähigkeiten und Attribute aus den traditionellen Darstellungen bekannt sind und er sie in einer plausiblen neuen Verknüpfung dargestellt sieht. Die wohl deutlichste Änderung der bisher so parallel verlaufenden Handlung ist die Ergänzung eines liebevoll-heiteren Wiedersehens in der Unterwelt. Gerade im Vergleich mit dem Georgicatext, der mit der schaurigen Darstellung seines abgerissenen und immer noch nach Eurydica rufenden Kopfes endet, empfindet ein Leser diese glückliche Auflösung der Handlung als erleichternd. Auch dass Orpheusʼ Mörderinnen in den Metamorphosen eine gerechte Strafe erhalten, verstärkt den Eindruck eines Happy Ends im Gegensatz zum tragischen Ende der Georgicaerzählung. Beide Änderungen stehen in keinem Widerspruch zum Georgicatext und können vom dortigen Erzähler Proteus einfach verschwiegen worden sein, da sie nichts mit dem erbetenen Orakelspruch zu tun haben.
168 Orpheus und Eurydica
. Fazit An der Figur des Orpheus zeigt sich die kohärente Darstellung seiner Charakterentwicklung, indem verschiedene Facetten aus Vorgängertexten widerspruchsfrei zusammengefügt werden. So verbindet die Erzählung einerseits seine unsterbliche Liebe zu Eurydica, andererseits die dazu zunächst widersprüchlich anmutende Nachricht darüber, dass er ein singender Lehrer der Knabenliebe sei: gerade weil seine Liebe zu Eurydica unsterblich währt, widmet er sich nach ihrem Tod nur noch in erotisch-didaktischer Weise der Beziehung zwischen Männern und männlichen Jugendlichen (met. 10,79–85). Aus dieser Facette seines Charakters folgt schließlich auch seine Tötung durch rasende Mänaden, die sich dafür rächen wollten, dass sie sich von ihm verschmäht fühlen (met. 10,81f. und met. 11,7).102 Ovid setzt so gewissermaßen gleich beide Optionen der Anweisung aus Hor. Ars 119 um: aut famam sequere aut sibi convenientia finge:103 Hier – wie auch an weiteren Stellen – ‚fingiert‘ er Stategien, mit denen er verschiedene Überlieferungen widerspruchsfrei miteinander ‚konvenieren‘ lässt. Die Darstellung der Unterwelt im ‚Normalzustand‘ vor Einsetzen seines Gesanges, der alles auf den Kopf stellt, ist sehr kurz gehalten. Auf diese Weise gibt es keine Widersprüche zur Darstellung der homerischen Unterwelt in Od. 11, die sich als Erzählhintergrund mit den Darstellungen in den Metamorphosen vereinbaren lässt – während die Atmosphäre insgesamt weniger schrecklich wirkt. Doch die Frage, ob sich die Darstellung in den Georgica ebenso nahtlos in die Werkwelt einfügt, muss verneint werden. Rein theoretisch wäre es durchaus möglich, dass sowohl die Handlung aus dem Georgicatext als auch die Nachricht aus dem Metamorphosentext zutrifft, wenn Eurydica ausgerechnet auf ihrem Hochzeitsspaziergang vor Aristaeus geflohen ist, was der Primärerzähler einfach nur nicht berichtet. Dass der Metamorphosentext dies aber nicht einmal andeutet, lässt auf eine Unvereinbarkeit auf der Ebene der Handlung schließen. Eine weitere Unvereinbarkeit besteht, wenn Eurydica in dem Moment, als sich Orpheus zu ihr umdreht, schweigend zurück in die Unterwelt entgleitet, statt ihm Vorwürfe hinterherzurufen. Beide Abweichungen vom Vorgängertext stellen die Liebe der beiden explizit als schuldloser und reiner dar als im Georgicatext und bereiten so die Erzählung für das ergänzte neue Ende vom glücklichen Wiedersehen in der Unterwelt vor. So liegt hier keine Parodie oder Demontage vor, sondern durch die teilweise 102 Diese Begründung führt auch schon Verg. georg. 4,520–522 an: spretae Ciconum [...] matres etc. 103 Vgl. zu dieser Forderung des Horaz auch Feddern 2018, 475.
Fazit 169
Kontrastierung wird der Schwerpunkt vom Themenkomplex „Schuld und Sühne“ zum Thema „unsterbliche, reine Liebe“ verschoben. Dies ist wiederum ein Thema, das innerhalb der Metamorphosen mehrfach begegnet104 und so – gerade durch die Hervorhebung der entscheidenden Kriterien vor der Folie des Georgicatextes – in der Dimension der Vielfalt um eine weitere Facette bereichert wird.
104 Ein ähnliches Happy End der Liebe über den tragischen Tod hinaus bietet etwa die Erzählung von Pyramus und Thisbe in met. 4,55–166, bes. 166: quodque rogis superest, una requiescit in urna („und was von der Brandbestattung übrigbleibt, ruht gemeinsam in einer Urne“), oder die von Alcyone und Ceyx in met. 11,410–748, bes. 742–744: fatis obnoxius isdem / tunc quoque mansit amor nec coniugiale solutum / foedus in alitibus: coeunt fiuntque parentes („und obwohl ihre Liebe demselben Schicksal unterworfen war, blieb sie auch dann noch erhalten, und ihr Ehebund wurde auch in ihrer Vogelgestalt nicht gelöst“). Vgl. hierzu auch Horstmann 2014, 173–175.
Fama . Einleitung Vergil lässt die Figur Fama im vierten Buch der Aeneis auftreten (Aen. 4,173–190), als sich das folgenreiche Gerücht verbreitet, dass Dido mit Aeneas eine Liebesbeziehung eingegangen ist. Vergils Text ist der erste uns überlieferte lateinische Text, in dem eine Darstellung von Fama in dieser Breite belegt ist. Umso auffälliger ist es, dass Ovid gerade zwanzig Jahre später eine Darstellung derselben Gottheit in ähnlicher Länge darstellt (met. 12,39–63) und so den Leser, so eine häufige Deutung, zu einem direkten Vergleich einlädt.1 Ovid beschreibt den Wohnsitz der Figur, lässt den Leser an dieser Stelle jedoch über ihre Gestalt im Unklaren. Der Vergiltext beschreibt dagegen ausführlich das Aussehen der Fama, aber keinen Wohnort. Es liegt daher zunächst die Vermutung nahe, dass Ovid auf der Ebene der Handlung und Figurenkonzeption Leerstellen im Vergiltext sucht und ausfüllt, ohne dass er in einen inhaltlichen Widerspruch zu ihm tritt, und Vergils Fama so als Teil seiner kohärenten Werkwelt integriert. Um zu prüfen, ob diese Vermutung zutrifft, werden neben den Eigenschaften von Gestalt und Wohnsitz der Fama weitere Aspekte gesammelt, die beide Werke nennen, und einander gegenübergestellt. Auch die Darstellung der Weise, wie Gerüchte entstehen, wachsen und sich verbreiten, wird verglichen, um zu prüfen, ob sich die Fama-Figuren durch ihre Handlungsweise als ein- und dieselbe Figur identifizieren lassen. Die auffällige Namensgleichheit der beiden Fama-Figuren darf den Blick allerdings nicht zu sehr auf den Vergiltext verengen und von der Einbettung im Gesamttext ablenken. Die Kohärenz des Gesamtwerkes, insbesondere bei parallel gestalteten Erzählelementen, ist im Metamorphosenwerk häufig sinnstiftend, wie bereits vielfach gezeigt wurde.2 In den vorausgehenden Büchern werden in weiteren Darstellungen auf sehr ähnliche Weise der Wohnraum und das Gefolge von Gottheiten beschrieben. Diese können bei einem kontinuierlichen Leser als bekannt vorausgesetzt werden und den Sinn dieser parallel gestalteten Darstellung mitbestimmen. Aus diesem Grund sollen sie kurz einleitend als Hintergrund der Famadarstellung vorgestellt werden. Doch nicht nur die Wiederholung von Topoi und die Parallelität narrativer Strukturen, sondern auch die Einbettung in die Handlung der Weltgeschichte 1 Vgl. Ludwig 1965, 62; Fauth 1965; Braun 1991, 118; Wunderlich 2004; Hardie 2008; Guastella 2017, 182. 2 Vgl. hierzu auch allgemein Tsitsiou-Chelidoni 1999 und Wheeler 2000. https://doi.org/10.1515/9783110785005-011
Fama im Kontext weiterer Personifikationen 171
muss bei der Deutung beachtet werden, anstatt die Erzählung für sich allein zu betrachten. Im Ovidtext wird Fama mehrfach und über die Erzählung hinweg zu verschiedenen Orten und Zeiten als handelnde Figur oder als abstraktes Hintergrundkonzept dargestellt oder vom Primärerzähler und in Figurenreden als Quelle oder Tradierungsinstrument von Informationen genannt. Aufgrund der Beobachtung, dass auch andere Metamorphosenfiguren eine kohärente und widerspruchsfreie Biographie besitzen, die auf verschiedenen Erzählebenen referiert wird (vgl. Kap. 5.1), wird auch Fama als einheitliche und kohärente Figur angenommen. Daher soll jede Erwähnung von Fama an anderen Stellen des Werkes bei der Deutung der Passage des zwölften Buches einbezogen werden. Zu dieser Famadarstellung wird recht unvermittelt übergeleitet, als die griechische Flotte nach Troja aufbricht. Dieser Zeitpunkt bildet nach der antiken Epocheneinteilung in unzuverlässige, frühe Tradition und historisch glaubwürdiger gedachte Tradition eine wichtige Marke, die bei der Deutung beachtet werden sollte.3 Die Einbettung in den trojanischen Sagenkreis legt inhaltlich einen Vergleich mit den homerischen Werken nahe. Wegen der allgemeineren strukturellen Ähnlichkeit von Famas Auftreten zu Beginn einer Kriegshandlung soll die Darstellung auch mit denen der vergilischen Allecto, der ennianischen Discordia und Homers Ossa und Eris verglichen werden. Abschließend sollen alle so aufgefundenen intertextuellen Elemente zur Vergildarstellung und anderen Prätexten zusammengeführt und daraufhin untersucht werden, ob und wie sie Vorgängertexte in die Metamorphosenwelt integrieren und inwiefern dies Funktionen für die Konzeption eines Weltgedichts erfüllt.
. Fama im Kontext weiterer Personifikationen In der Darstellung der Fama und ihres Wohnsitzes im zwölften Metamorphosenbuch finden sich Parallelen zu weiteren Götter- und Wohnsitzdarstellungen im Gesamttext. Als Vergleichsgrundlage sollen diese zunächst in ihrer Reihenfolge im Werk vorgestellt werden. Im ersten Metamorphosenbuch findet ein consilium deorum statt. Einleitend werden die Wege und Gebäude des Himmels beschrieben, dann die Bewohner
3 Z.B. Varro bei Censor, de die nat. 30,1. Vgl. auch Kelly 2014, 66f., der darauf hinweist, dass diese zeitliche Zäsur zwischen göttlicher und menschlicher Geschichte zusammenfällt mit der Darstellung der räumlichen Lokalisierung den Grenzpositionen der Welt; Ludwig 1965, 79f.; Zumwalt 1977, 212; Granobs 1996, 10 und 13f. sowie Goldberg 2020, 176.
172 Fama mit ihren jeweiligen Wohnregionen und zuletzt Jupiter selbst, wie er in einem marmornen Gebäude auf einem erhöhten, elfenbeinernen Sitz thront, ein Zepter in der Hand hält und mit seinem Kopfnicken die drei Weltbereiche Erde, Meer und Sterne lenkt bzw. erschüttert (met. 1,180: movet). Die Bezüge zur römischen Stadt- und Gesellschaftsstruktur, die sich hier u.a. durch die Termini plebs (met. 1,173), Palatia caeli (met. 1,176) und auch durch das Gleichnis um den Aufruhr nach einem Anschlagsversuch auf Augustus bzw. den Mord an Cäsar finden, wurden vielfach untersucht.4 Eine ausführliche Analyse des textimmanenten Bezugs zu den weiteren Ekphraseis, deren Aufbau und Struktur sich hier erstmals angelegt findet (z.B. durch die Formel hic locus est in met. 1,175), steht derzeit leider noch aus. In der nächsten großen Ekphrasis zu Beginn des zweiten Metamorphosenbuches (met. 2,1–30) wird die Burg des Sol beschrieben. Sie besteht aus Gold, Silber und Elfenbein. Als Gefolge des Sol werden Zeitmaße wie Dies, Annus und die Horae genannt, zudem die vier Jahreszeiten (met. 2,25–30).5 In den Kunstwerken an der Wand sind von Vulcanus die drei Weltenregionen Himmel, Erde und Wasser abgebildet worden und können von Phaethon bestaunt werden – eben die Regionen, die Jupiter in der Darstellung in met. 1,180 durch sein Kopfnicken in Bewegung versetzt und die auch in der Famadarstellung auf Erzählerebene genannt werden. Während Sol diese Gefilde in der Form eines Kunstwerkes betrachtet, liegen sie Fama bei einem Blick aus dem Fenster zunächst unverfälscht vor Augen (met. 12,62f.: ipsa, quid in caelo rerum pelagoque geratur / et tellure, videt totumque inquirit in orbem)6, und sie werden erst im Verlauf ihres Wirkens zum Stoff ihrer verzerrten Überlieferungen. Phaethon kann wegen der Helligkeit nicht nah an Sol herantreten, bis dieser seinen Strahlenhelm abgenommen hat und seinen Sohn in die Arme schließt. Hier wird der Leser durch die Ähnlichkeit der Motive an Hektors letzte Begegnung mit seinem Sohn Astyanax erinnert, was ihn den tragischen Ausgang der Erzählung vorausdeuten lässt. Hektors kleiner Sohn fürchtet sich vor dem Helmbusch seines Vaters; daher nimmt dieser seinen Helm ab und kann seinen Sohn so ein letztes Mal in den Arm nehmen (Il. 6,466–475). Hier erweitert ein intertextueller Bezug die Werkwelt dadurch, dass der Leser die tragische Geschichte eines anderen berühmten Jungen mitdenkt, dessen edle Herkunft zu seinem frühen Tod
4 Vgl. mit ausführlicher Diskussion Tsitsiou-Chelidoni 1999, 278 mit Fn. 16 sowie von Albrecht 2016, 93. 5 Vgl. zur Darstellung dieser Figuren auch Kapitel 5,1,5. 6 „Sie selbst sieht, was im Himmel, im Meer und zu Lande geschieht, und erforscht den ganzen Erdkreis.“
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führen soll.7 Ein Kontrast wird gleichzeitig dadurch erzeugt, dass nach Hektors und Astyanaxʼ Abschied zunächst der Vater, in Phaethons und Sols Fall jedoch der Sohn sterben wird. Zugleich wirkt das Motiv der Distanz zwischen Besucher und Gottheit aber auch intratextuell im Verlauf des Gesamtwerkes, wie sich im Folgenden zeigen wird: auch Invidia, Fames, Somnus und Fama halten ihre Besucher auf ihre jeweils eigene Weise auf Distanz. Diese doppelte Funktion auf inter- und intratextueller Ebene begegnet uns ähnlich an vielen weiteren Stellen des Werkes. Ebenfalls im zweiten Buch findet sich die Invidia-Darstellung. Die Ekphrasis ihres Hauses enthält die Worte domus est (met. 2,761), die intratextuell der Formel locus est in der Himmelsekphrasis in met. 1,175, in der späteren Famadarstellung (met. 12,39) und intertextuell der vergilische Allectodarstellung (Aen. 7,563) ähneln. Invidias Behausung ist durch ihre Abgelegenheit und das Fehlen von Zugängen zur Belüftung gekennzeichnet (domus est imis in vallibus huius / abdita, sole carens, non ulli pervia vento),8 was sich intratextuell in zwei Leserichtungen auswirkt: Sie selbst wirkt vor dem Hintergrund der Himmelsdarstellung und der gerade vorangegangenen Darstellung des lichtdurchfluteten Solpalastes besonders kalt und düster, die Fama-Behausung zehn Bücher später wird vor ihrem Hintergrund als kontrastierend besonders offener Ort charakterisiert (z.B. met. 12,46: nocte dieque patet)9. Auch das Motiv der distanzhaltenden Wirkung der Gottheit auf den Besucher wird in neuer Weise wiederholt. Invidias Besucherin Minerva kann sich nur von der Türschwelle aus mit ihr unterhalten und hält sich daher mit einer Göttinnenrede von anderthalb Versen betont kurz:10 Während bei 7 Auf der Handlungsebene wird Astyanaxʼ Tod in met. 13,415–417 auserzählt (mittitur Astyanax illis de turribus, unde / pugnantem pro se proavitaque regna tuentem / saepe videre patrem monstratum a matre solebat – „Astyanax wird von denselben Türmen geworfen, von denen aus er so oft seinen Vater sah, den seine Mutter ihm zeigte, wie er für ihn selbst und für sein altväterliches Königreich kämpfte“), wobei wiederum intertextuell inhaltliche und lexikalische Elemente aus der Aeneis wiederholt und in neuer Funktion angeordnet werden (Verg. Aen. 2,453–457: limen erat caecaeque fores et pervius usus / tectorum inter se Priami, [...] qua se, dum regna manebant, / saepius Andromache ferre incomitata solebat / ad soceros et avo puerum Astyanacta trahebat – „Es gab eine Türschwelle und verborgene Pforten und eine Durchgangsverbindung zwischen den Häusern des Priamus, mittels der sich, als das Reich noch bestand, Andromache oft unbegleitet zu ihren Schwiegereltern begab und den Jungen Astyanax zum Großvater brachte“). 8 „Ihr Haus ist tiefsten Schluchten verborgen, ohne Sonne, kein Wind wehte hier hindurch.“ 9 „Tag und Nacht steht es offen.“ 10 Die Göttinenrede der Juno, die Hilfe gegen ihre „Rivalin“ Callisto erbittet, ist im Kontrast hierzu dagegen auffällig lang (met. 2,512–530), was implizit durch ihre Vertrautheit mit ihren Zieheltern Thetys und Oceanus begründet ist (alumna, met. 2,527). Heras enge Beziehung zu Oceanus und Thetys findet sich bereits in Hom. Il. 14,201ff.
174 Fama Sol seine Helligkeit dafür verantwortlich war, schreibt diesen Abstand zur Invidia erstens das fas vor (met. 2,766f.), und zweitens empfindet Minerva ihren Anblick als zu abstoßend, um näher zu kommen (met. 2,782–786). Hier klingt auch wieder intertextuell die vergilische Allectodarstellung an, nach der die Furie allen Göttern verhasst ist.11 Die Fames-Darstellung (met. 8,788–813) beginnt wieder mit der Formel est locus. Diese Gottheit bewohnt allerdings ausnahmsweise kein Haus, sondern sitzt auf einem kargen Acker, wo sie mit bloßen Nägeln und Zähnen Grashalme herausreißt (met. 8,799f.). Dass sie als einzige Gottheit in allen sechs Darstellungen kein Haus bewohnt, fällt vor dem Hintergrund der parallelen Erzählstrukturen als ‚Armutszeugnis‘ besonders ins Gewicht. Ceres hat eine niedere landwirtschaftliche Gottheit zu ihr gesandt, um einen Auftrag zu überbringen, da sie ihr selbst nicht entgegentreten kann. Spitzfindig begründet wird dies damit, dass sich Hunger und Ceres nicht am selben Ort befinden können; dies verbieten, wie schon in Minervas und Invidias Fall, die fata (met. 8,785f.). Doch die Wirkung der Fames ist auch für die Botin spürbar, und wie Phaethon von der Helligkeit des Sonnengottes auf Distanz gehalten wird (met. 2,21–23) oder Minerva aus Abscheu nur mit der äußersten Speerspitze an Invidias Tür klopfen mag (met. 2,766f.), so spürt sie auch auf Distanz ein Hungergefühl (met. 8,809–812). Die Somnus-Darstellung met. 11,592–615 leitet wieder ein ähnlicher Vers ein: est […] longo spelunca recessu.12 Wie für Invidias Haus, so wird auch für sein Heim gleich mehrfach die Unzugänglichkeit für Sol beschrieben.13 Noch ein weiteres Element lässt Invidias Darstellung neun Bücher zuvor anklingen: Während diese auf ihrem Weg beiläufig Kräuter zertreten und Blumen die Köpfe abgeschlagen hat (met. 2,792), gedeihen hier ungestört zahllose Kräuter und Mohnblumen mit berauschender oder betäubender Wirkung.14 Die Betonung der Stille und Abwesenheit jedes Lauts (met. 11,597–602 und met. 608) lässt ein Buch später das permanente Stimmengewirr in Famas Burg (met. 12,47–52) besonders deutlich hervortreten. Zugleich hat die Offenheit für Besucher ganz ohne Türen und Wächter (met. 11,609) Ähnlichkeit zur ebenfalls türlosen Burg der Fama (met. 12,44f.). Somnus selbst ruht würdevoll, wie es auch Fama – zumindest innerhalb ihres 11 Verg. Aen. 7,327f.; ähnlich über Fama Verg. Aen. 4,178. 12 „Tief verborgen befindet sich eine Höhle.“ 13 Met. 11,594f.: quo numquam radiis oriens mediusve cadensve / Phoebus adire potest; met. 11,591: tecta [...] sub nube latentia. – „Hierhin kann niemals Phoebus mit seinen Strahlen gelangen, weder aufgehend noch hoch am Himmel noch sinkend“; „die Häuser, versteckt unter einer Wolke“. 14 Met. 11,605f.: ante fores antri fecunda papavera florent / innumeraeque herbae etc. – „Vor den Toren der Höhle blühte üppig der Mohn und wuchsen zahllose Kräuter.“
Fama im Kontext weiterer Personifikationen 175
Hauses –15 im zwölften Buch tun wird. Dies verbindet beide Figuren mit dem thronenden Jupiter sowie Sol und unterscheidet sie kontrastiv von den am Boden kauernden Figuren Invidia und Fames. In Somnusʼ Fall erhält dieses ruhende Element allerdings komische Züge, indem ihm während des Gesprächs immer wieder die Augen zufallen, was zweideutig durch seine oder ihre „träge (machende) Schwerfälligkeit“ (met. 11,618: tarda gravitas) erklärt wird, – bis sich schließlich der Schlaf „von sich selbst abschüttelt“ (met. 11,621). Wie alle Besucher zuvor, so kann auch Iris die Anwesenheit des Schlafes nicht lang ertragen, da sie selbst schläfrig wird (met. 11,630–632). Erst vor dem Hintergrund all dieser fünf Schilderungen fällt auf, dass Fama trotz der offenen Architektur und zentralen Lage ihres Hauses als einzige dieser Figuren keine Gottheit oder ihre Botin mit einem konkreten Auftrag empfängt: Sie vollführt einfach in einer Momentaufnahme ihr tägliches Geschäft und handelt aus eigenem Antrieb. Ihre permanente Distanz macht sie ungreifbar, und niemand kommt ihr jemals so nah, dass er ihre Arbeit und damit ihre Glaubwürdigkeit überprüfen kann. Alle Figuren werden auch außerhalb dieser Passagen im Werk genannt. Somnus wird häufig im Kontext mit Mercurs Stab oder anderen Zaubermitteln genannt, die ein klug-listiges oder auch hinterhältiges Überwältigen eines eigentlich überlegenen Gegners ermöglichen.16 Doch der Schlaf ist häufig einfach notwendig und erholsam für alle Lebewesen.17 Vielerorts werden hilfreiche, gutgemeinte oder auch tückische Traumerscheinungen auf Handlungsebene beschrieben.18 Indivia ist für viele Figurenhandlungen die treibende Kraft im Hintergrund, zumeist im tragischen Kontext.19 Unter Fames leidet auch Midas in met. 15 Vgl. dagegen ihre Mobilität außerhalb des Hauses in met. 9,137–139. 16 Z.B. met. 1,672; 685; 712; met. 2,735; met. 4,784 über Mercurs Stab; met. 5,858; 7,213; 7,253 und 329 zum Zaubergesang der Medea; met. 11,238 zur Überwältigung von Thetis u.a. 17 Met. 6,589; met. 10,368 u.a. 18 Met. 7,634–643; 13,216 Jupiters falsche Mahnung an Agamemnon, hier aus Odysseusʼ Sicht erzählt; met. 15,21–25 befiehlt Hercules eine Stadtgründung; met. 15,658–664 gibt Asclepius in einer Traumerscheinung an, dass er nach Rom gebracht werden will. – Auch hier finden sich intertextuelle Elemente, z.B. zur Ilias und Aeneis. Während in der Ilias die Menschen zunächst annehmen, dass Träume von Zeus geschickt werden (Hom. Il. 1,63), sendet Zeus selbst ein Buch später auf Ebene der Primärerzählung einen Lügentraum an Agamemnon, und zwar in Gestalt des Nestor: Il. 2,5–41. Wörtliche Anklänge erinnern zudem an Aen. 2,268–270 vor Hektors Traumerscheinung, wobei eine kontrastierende Verkehrung der Elemente stattfindet. 19 Z.B. im achten Buch über Dädalus met. 8,250f.: Daedalus invidit sacraque ex arce Minervae / praecipitem misit, lapsum mentitus – „Dädalus packte der Neid und er stieß Perdix jählings von Minervas heiliger Burg, einen Unfall vortäuschend.“ – Invidia ist der Grund für den tragischen Ausgang der calydonischen Eberjagd, met. 8,631: invidere alii, totoque erat agmine murmur –
176 Fama 11,127–129, zudem wird sie mehrfach beiläufig im Kontext von Nöten oder auch in Gleichnissen genannt. Der Naturphilosoph Pythagoras schließlich versteht in seiner reflektierenden Figurenperspektive auf die ihn umgebende Werkwelt Fames (met. 15,234; 352–355) und Invidia (met.15,234) nicht nur als Gefühl von Menschen und empfindsamen Lebewesen, sondern darüber hinaus auch als treibende Prinzipien von Naturgewalten und chemischen Reaktionen (met. 15,352– 355). Im Verlauf des Werks werden diese Konzepte zudem mehrfach zueinander in Bezug gesetzt: Die Rosse des Sol benötigen Schlaf, um seinen Wagen zu ziehen (met. 6,589). Die Figur Invidia ist sowohl von der Sonne als auch vom Schlaf abgeschnitten.20 Somnus und Sol bzw. Schlaf und Sonnenlicht werden als Gegensätze genannt, indem Sols Erscheinen den Schlaf beendet und umgekehrt. 21 Erysichthon wird eine kurze Ruhe vor Fames gewährt, indem er im Traum Speisen zu sich nimmt (met. 8,823–829), uvm. Die Konzepte bzw. ihre Figuren stehen also nicht nur topisch und strukturell hinsichtlich ihrer Darstellungen, sondern auch inhaltlich über den Verlauf der gesamten Erzählung auf allen Ebenen der Werkwelt in einem Verhältnis zueinander.22 Als letzte Darstellung erfolgt die der Fama, die zeitlich und räumlich als übergeordnet über allen bisher genannten Gefilden beschrieben wird. Sie enthält Aspekte aller anderen Personifikationen wie den Blick auf die ganze Welt (Jupiter und Sol), das Verbreiten von Missgunst (Invidia), die Unersättlichkeit (Fames) sowie Lug und Trug (Somnus).23 Wie die anderen Figuren wird auch sie über das Werkganze hinweg in verschiedenen Funktionen genannt, sodass der Fokus auf ihren Wohnort im zwölften Buch nur einen kleinen Teil ihrer gesamten Darstellung ausmacht und nicht für sich allein steht.
„Die anderen waren neidisch und im ganzen Heerzug wurde gemurrt“. Sie beherrscht auch die Nisustochter Scylla in met. 8,144; in met. 14,229 verleitet sie Odysseusʼ Gefährten dazu, den Windbeutel zu öffnen, uvm. 20 Met. 2,779 über Invidia: nec fruitur somno – „und sie genießt keinen Schlaf“; 2,762 über Invidias Haus: sole carens „ohne Sonne“. 21 Met. 7,662f. und met. 15,30. 22 Auch in der Erzählung von Philemon und Baucis finden sich in met. 8,622–702 zahlreiche Elemente aus diesen Darstellungen von göttlichen Wohnstätten, indem ihre ärmliche und fromme Lebensweise mithilfe von Parallelisierungen und Kontrastierungen betont wird. Hier müssen die Götter beim Betreten ihrer strohgedeckten Hütte ihre Köpfe einziehen, als einzigen Wächter gibt es hier eine Gans und die Gastgeber selbst nehmen auf wackeligen Möbeln aus Sumpfschilf Platz. 23 Vgl. Hardie 2012, 171–174.
Vergils Fama und Ovids Fama als dieselbe Figur? 177
Die Analyse dieser so figurierten Konzepte lässt weiter darauf schließen, dass der detaillierte Fokus auf die Figuren über mehrere Verse jeweils nur exemplarisch dafür zu lesen ist, dass solche Abstrakta auch für alle weiteren, ungenannten Gefühle und Konzepte denkbar sind. Ähnliches gilt beispielsweise auch für Cupido, der sowohl als Figur als auch als Gefühl und Prinzip das gesamte Werk durchzieht; Jupiter erscheint als Figur mit seinen vielfältigen Facetten (vgl. Kap. 5.1.3), aber auch metaphorisch (met. 3,363: sub Iove – „unter freiem Himmel“; met. 10,148: ab Iove – „von Anfang an“, u.a.), und auch Venus, Ceres, Bacchus und viele weitere Gottheiten werden sowohl als Figuren als auch metonymisch für ihren Zuständigkeitsbereich aufgeführt. Die Ausgestaltung einiger Konzepte als Figuren und umgekehrt die Nennung einiger Gottheiten als Metonyme lässt also den Leser einen exemplarischen Einblick in die generelle Vielfalt der Figurenwelt und ihrer Darstellungsweisen gewinnen und fordert ihn auf, sich eine derartige vertiefende Ausgestaltung auch für weitere, nicht auserzählte Abstracta hinzuzudenken.
. Vergils Fama und Ovids Fama als dieselbe Figur? Als plotrelevant handelnde Figur auf direkter Handlungsebene im Kontakt mit anderen Figuren hat Fama ihren wichtigsten Auftritt in met. 9,137–140: cum Fama loquax praecessit ad aures, / Deianira, tuas, quae veris addere falsa / gaudet, et e minimo sua per mendacia crescit, / Amphitryoniaden Ioles ardore teneri.24 Hier wächst sie durch das Vermischen von Wahrem und Falschem und weckt dabei Deianiras Eifersucht, die schließlich zu Herculesʼ Tod führen soll. Im zwölften Buch verbreitet Ovids Fama – noch vor dem Kriegsbeginn – ihre Nachricht zwischen Griechenland und Troja. Vergils Fama dagegen wird erst wenige Jahre nach Trojas Fall an Afrikas Nordküste ihre Gerüchte streuen, deren Folgen im weiteren Handlungsverlauf schließlich zu Didos Wahn und Tod führen. Sie handeln also zu verschiedenen Zeiten und Orten in ähnlicher Weise, und sofern es ansonsten keine Widersprüche zwischen den Figuren gibt, wäre ihre Handlung innerhalb einer kohärent gedachten Biographie und durch die Gleichsetzung ihrer Figur als eine schlichte Erweiterung der Werkwelt der Metamorphosen lesbar, wie etwa am Beispiel der Sirenen in Kap. 8 erläutert wurde. Im Folgenden soll geprüft werden, ob die
24 „Als dir, Deianira, zu Ohren kam die geschwätzige Fama, die sich daran erfreut, Falsches unter Wahres zu mischen und durch ihre Lügen auch aus dem Kleinsten wächst, [das Gerücht, ] dass Hercules die Liebe zu Iole im Bann halte.“
178 Fama beiden Figuren der vergilischen und ovidischen Fama tatsächlich widerspruchslos miteinander gleichgesetzt werden können.
.. Haus, Erscheinung und Gefolge Die ovidische Famadarstellung beginnt, wie bei Jupiter, Sol, Invidia, Fames und Somnus sowie der vergilischen Allecto auch, mit der Ekphrasis ihres Wohnortes. Famas Burg befindet sich an einem nicht näher bestimmbaren Ort in der Mitte zwischen den drei Weltenregionen Erde, Meer und Himmel – eine phantastische Beschreibung, deren übergeordnete Lokalisierung nach der Nennung vieler konkreter irdischer Ortsangaben in den vorangegangenen 38 Versen im Kontrast umso stärker hervorgehoben wird. Zudem werden so im Kontext der zeitlichen Grenzposition zu Beginn des Trojanischen Krieges auch räumliche Scheidepunkte der Welt thematisiert.25 Die Funktion der Architektur wird nüchtern, ja geradezu naturwissenschaftlich begründet: Durch tausend türlose Öffnungen gelangt aufgrund der zentralen Lage Tag und Nacht jeder Laut in das Haus hinein,26 und da es ganz aus Erz ist, wird die Akustik verstärkt und jeder Laut wiederholt. Der konstante Geräuschpegel wird in einem Gleichnis mit fernem Donnergrollen verglichen. Ab met. 12,53–61 wird Famas turba dargestellt, die geschäftig umhereilt, Gerüchte umwälzt, vermischt und wieder mittels Gesprächen in andere Ohren einfüllt. Die turba der Fama wird namentlich genannt als Credulitas, temerarius Error, vana Laetitia, consternati Timores, Seditio recens und dubio auctore Susurri (met. 12,59–61).27 25 Vgl. hierzu auch Tissol 1997, 86 und Kelly 2014, 66. Gladhill 2013 vergleicht Famas Haus mit einem schwarzen Loch, das außerhalb vom physikalischen Raum der Welt steht. 26 Dies berücksichtigt die epikureische Annahme, dass Schall körperlich sei (Lucr. 4,526–541) und bildet zugleich eine Anspielung auf Lukrezʼ Schilderung, dass Stimmen bei geschlossenen Türen nur noch gedämpft und verschwommen wahrnehmbar werden, 4,595–614. Eine detaillierte Analyse des Verhältnisses zwischen der Famadarstellung und dem Lukreztext bietet Kelly 2014, 70–73 und 78–81 und stellt zudem 77f. und 82 fest, dass sich in der Darstellung des Hauses bei Ovids Fama viele Elemente aus ihrer körperlichen Beschreibung bei Vergil finden. Dies deutet er damit, dass die Beschreibung des Hauses ihre Körperlichkeit völlig ersetze. Weiterhin untersucht er Bezüge zwischen Famas Haus in den Metamorphosen und Sibylles Höhle in Verg. Aen. 6, wonach die Gerüchte mit den Geistern der Unterwelt gleichgesetzt werden (83f.). 27 Credulitas, temerarius Error, vana Laetitia, consternati Timores, Seditio recens und dubio auctore Susurri „Naivität“; „Flüchtigkeitsfehler“, „Freude, der Enttäuschung droht“, „panische Ängste“, „plötzlicher Aufruhr“ und „Getuschel ohne verlässliche Quelle“. Kelly 2014, 69f. hält es für unklar, ob es sich hier um körperlose Wesen oder um echte Personen handelt, die das Haus betreten. Vor dem Hintergrund der anderen Beschreibungen von allegorischem Personal ist
Vergils Fama und Ovids Fama als dieselbe Figur? 179
Famas Aussehen wird an dieser Stelle im Metamorphosentext mit keinem Wort auch nur angedeutet. Doch der Grund für ein Fehlen einer solchen Schilderung liegt nicht darin, dass Fama nicht für sich allein existiert und bloß „in den Zungen und Sinnesorganen anderer“ wirkt, wie es in der Forschung mehrfach vorgeschlagen wurde.28 Auch Missgunst, Hunger und Schlaf kann man schwer unabhängig von einer diesen Zustand erleidenden Person denken – genau diese künstlerische Herausforderung macht ja den Reiz einer Personifikation aus. Schon im 9. Buch wurden neben der Fähigkeit, in ihrer Bewegung zu wachsen, keine greifbaren äußeren Eigenschaften genannt. Dies fällt besonders vor dem intratextuellen Hintergrund auf, dass die ansonsten so ähnlichen Darstellungen von Jupiter, Sol, Invidia, Fames und des Somnus mit vier, zwei, drei, acht und wieder vier Versen detailliert auf deren äußerliche Erscheinung eingehen. Die vergilische Famadarstellung im vierten Aeneisbuch entspricht ihrer direkten griechischen Entsprechung φήμη, die Hesiod in Tage und Werke 760–764 als schreckliche, unsterbliche Gottheit charakterisiert:29 Sie ist am Anfang leicht, doch schließlich schwer zu ertragen. Zudem weist Vergils Fama mit der Aufzählung der äußeren Eigenschaften in Aen. 4,181–183 selbst sinnstiftende intertextuelle Elemente auf: Sie wiederholt viele der Wesenszüge, die in Homers Ilias die Göttin Eris kennzeichnen, als sie die Griechen dazu reizt, den Kampf gegen die Trojaner neu aufzunehmen (Il. 4,440–443).30 In beiden Darstellungen und auch im neunten Metamorphosenbuch ist das streitverursachende Ungetüm zunächst klein und wächst dann, wobei es bei Homer und Vergil mit den Füßen auf der Erde geht und den Kopf in den Himmel hebt. An äußeren Eigenschaften ergänzt Vergil ihre Flügel und ihr Gefieder, ihre Augen, Münder, Zungen und Ohren. Dabei unterscheidet sich die Darstellung der vielen Münder lexikalisch deutlich von dem Zehn- bzw. Hundert-Zungen-Motiv aus Musenanrufen.31 Die Ähnlichkeit zur Erisdarstellung ist in der vergilischen Famadarstellung stark präsent. Im Metamorphosentext wirkt sich dies in der Darstellung ihrer aktiven Gestalt im neunten
jedoch anzunehmen, dass es sich hier um auf Handlungsebene ebenso figürliches Personal handelt wie etwa im Haus des Somnus oder bei der himmlischen plebs (met. 1,173) auch. 28 Braun 1991, 116–119, 118. Vgl. zu weiteren Erklärungsversuchen ihrer Körperlosigkeit Tissol 1997, 85; Gianni 2017, 183 und Kelly 2014, 74–76 sowie dort Fn. 13–14 mit der Diskussion weiterer Deutungsversuche, wobei auch hierbei niemand die Famadarstellung im neunten Buch berücksichtigt. 29 Vgl. Kelly 2014, 68 mit Fn. 5 und 75 mit Fn. 17. 30 Vgl. hierzu Hardie 1986, 173. 31 Vgl. Kelly 2014, 81 mit Fn. 30 und 31.; Hardie 2009a, 117f.; Zumwalt 1977, 222 mit Fn. 28. Vgl. das Motiv selbst etwa in Hom. Il. 2,488–490; Enn. frg. inc. 469 (561); Verg. georg. 2,43f.; Aen. 6,625–627.
180 Fama Buch als Dreiecksreferenz aus, wodurch die kriegstreibenden Elemente der Fama in Vorkenntnis der beiden Vorgängerkenntnisse betont werden. Sowohl der Ovidtext im zwölften Buch als auch der Vergiltext nennen die Familie der Fama, und die Verwandtschaftsverhältnisse stehen in keinem inhaltlichen Konflikt. Bei Vergil werden mit Terra, Coeus und Enceladus Famas Mutter und ihre Geschwister genannt (Aen. 4,178f.); das Nennen ihrer Geschwister wiederholt wieder ein Element aus der iliadischen Erisdarstellung, die als Schwester des Ares eingeführt wird (Il. 4,441). Im Ovidtext wird die Familia dagegen im weiteren Sinne als turba im Atrium beschrieben, also als Klientel, die für sie arbeitet (met. 12,60f.). Mit der Nennung ihres Personals werden auch Elemente aus der homerischen Erisdarstellung wiederholt, in der Deimos, Phobos und Eris gleichberechtigt miteinander im Gefolge des Ares die Kämpfer vor Troja aufhetzen und die im Lateinischen den consternati Timores und der Seditio recens entsprechen. So ruft der Ovidtext auch ohne die Vermittlung des Vergiltextes direkt Erinnerungen an die homerische Eris ab, vor deren Hintergrund der Ovidtext gelesen werden muss; zugleich wird aber eine figürliche Gleichsetzung der ovidischen Fama mit der homerischen Eris ausgeschlossen, da diese ja als Seditio recens bereits an anderer Stelle auf derselben Handlungsebene genannt wird.
.. Handlungsweise und Charakter Die ovidische Famadarstellung lässt an dieser Stelle, anders als noch im neunten Buch (met. 9,138f.: veris addere falsa / gaudet), keinen Einblick in ihr Innenleben zu. Sie bewohnt ihre Burg und sieht und erforscht alles, was sich in der Welt zuträgt, doch weder empfindet noch erzeugt sie Gefühle darüber. Stattdessen sind die Gefühle ihr Gefolge, das ihre Geschäfte verwaltet und ausführt. Ihr Geschäftsgegenstand, der Stoff der Gerüchte, strömt von allein in ihr Haus. Ovids Fama hockt hier nicht wie Vergils Fama selbst aktiv lauernd und verschlagen auf Dächern,32 obwohl sie sich dazu im neunten Buch durchaus in der Lage gezeigt hat (met. 9,137: fama loquax praecessit ad aures). Sie scheint also, vergleichbar mit Sol, Invidia und Fames, nur für einzelne Missionen ihr Heim zu verlassen und die Welt zu bereisen. In ihrer eigenen Wohnstatt ruht sie, vollführt ihre Missionen wie Somnus im elften Buch allein durch ihre Gehilfen und wirkt dabei so passiv wie ein epikureischer Gott33 oder auch so ehrenhaft und würdevoll wie ein 32 Hardie 1986, 277 und Hardie 2009a, 82 diskutiert die Möglichkeiten der vergilischen Fama, auch Gerüchte aus Himmel und Unterwelt zu beeinflussen. Vgl. Kelly 2014, 66 und 84 mit Fn. 35. 33 Vgl. Hardie 2012, 152.
Vergils Fama und Ovids Fama als dieselbe Figur? 181
römischer Patronus. Diese Assoziation wird durch die lexikalischen Anklänge zur römischen Lebenswelt atrium und turba (met. 12,53) nahegelegt.34 Fama bleibt als Drahtzieherin aufmerksam, aber zunächst passiv und unsichtbar (met. 12,62f.: ipsa, quid in caelo rerum pelagoque geratur / et tellure, videt totumque inquirit in orbem), was die Unüberprüfbarkeit ihres Geschäfts unterstreicht. Teil ihrer Turba ist auch die vana Laetitia. Hiermit wird das Element der Freude aus der Darstellung in Verg. Aen. 4,190 und Ov. met. 9,138f. wiederholt, worin Fama sich jeweils daran freut, Halbwahrheiten zu verbreiten. Schadenfreude ist zudem ein lexikalisches und inhaltliches Element aus einer zweiten Erisdarstellung des Iliastexts.35 Somit klingt mit dem Nennen der Freude direkt neben dem Aufruhr auch in Ovids Famadarstellung im zwölften Buch – durch die Vermittlung der anderen zwei Passagen – atmosphärisch Erisʼ Rolle im Trojakrieg mit an, der ja auf der Handlungsebene gerade beginnt. Credulitas36 und susurrus sind nicht eindeutig negativ konnotiert. Sich etwas ins Ohr zu flüstern, schließt zwar Dritte verschwörerisch aus, aber dennoch ist Flüstern etwas Vertrautes und Verbindendes, das Menschen tun, die sich nahestehen. Neben der Furcht und bewussten Intrigen sind es also auch sehr lebensnahe und, wenn auch nicht gute, so doch zumindest nicht böswillige Gefühle, die das Wachstum von Gerüchten betreiben. In der Vergildarstellung ist Fama ausschließlich ein Unwesen, das über die ansonsten unbeteiligten Städte fliegt, gegen den Willen der Bewohner Informationen sammelt und immer größer wird. Sie ist ein schreckliches Wesen, gegen das man sich nicht wehren kann. Zwar ist sie durch die Nennung von Städten und Hausdächern bildlich vorstellbar, lokalisierbar und dadurch ebenfalls lebensnah, dabei aber getrennt von dem, worauf das menschliche Handeln Einfluss hat. Die vergilische Fama kann bewusst handeln und fühlen, sie empfindet selbst Schadenfreude und sie verbreitet Furcht. Sie ist eine göttliche, grausame Plage von außen.
34 So auch Gladhill 2013. Dieser identifiziert Famas domus als kosmologisches Forum nach dem Modell des Forum Romanum und Famas turba als Analogon zum os populi der römischen Gesellschaft, die letztlich für seinen im Epilog angekündigten Ruhm sorgen wird. Gleichzeitig deutet er das Haus aber auch als Symbol für das Ego des Dichters Ovids selbst sowie für einen allwissenden Erzähler. Vgl. Hardie 2012, 108 zur Übertragung dieses Gedankens auf Vergils Fama sowie 167, wo er den Dichter Ovid selbst als Teil des leve vulgus in Famas Haus identifiziert. – Zur Rolle der Fama in Ov. pont. 4,4 vgl. Kelly 2014, 88f.; nur durch sie sei dem verbannten Ovid noch eine Teilhabe am römischen Leben möglich. 35 Il, 11,73: Ἔρις δ' ἄρ' ἔχαιρε πολύστονος εἰσορόωσα – „Eris, die seufzererregende, sah es mit Freude.“ 36 Vgl. zu ihrer Deutung an dieser Stelle Zumwalt 1977, 220; Kelly 2014, 86 und Hardie 2012, 157.
182 Fama Bei Ovid wird in den zwei Darstellungen der Fama, also in ihrer aktiveren Darstellung im neunten Buch und in der späteren Schilderung ihres Geschäfts, keine Wertung der Figur selbst vorgenommen.37 Pejorative Wörter, wie sie in Vergils Darstellung in großer Fülle auftreten,38 fehlen beinahe vollständig. Ovid beschreibt nicht nur die Funktion der Behausung, sondern auch die Gerüchteentstehung selbst so neutral und beobachtend wie ein naturwissenschaftliches Phänomen und stellt die Produktion von Gerede wie ein geradezu römisch verwaltetes – notwendiges? – Geschäft dar.39 Dies zeigt sich auch andernorts im Metamorphosentext: In met. 9,666–668 verbreitet Fama eine Geschichte weniger effizient, weil eine andere gerade im Umlauf ist (met. 9,666–668: Fama novi centum Cretaeas forsitan urbes / implesset monstri, si non miracula nuper / Iphide mutata Crete propiora tulisset).40 Wie andere figürlich vorgestellte Gottheiten verfügt Fama also über beschränkte, beschreibbare Handlungskapazitäten. Durch diese abweichende Darstellung von der bekannten vergilischen Schreckensdarstellung erhöht sich beim Leser die persönliche Betroffenheit und Nähe zu Fama und auch das Gefühl, ihrem Einfluss nicht entrinnen zu können. Obwohl Ovid die Fama also an einem betont fiktiven Ort lokalisiert, abstrakte Personifikationen als ihr Gefolge darstellt und dabei die homerische Eris anklingt, lässt sich die Gerüchteproduktion leicht auf den lebensweltlichen Alltag des Lesers beziehen, in der er an der Verbreitung von Gerüchten beteiligt und daran mitverantwortlich ist. Der einzelne Mensch ist bisweilen Opfer, meist aber auch – durch ihren Unterhaltungswert – Nutznießer von Gerüchten, die er daher gern und freiwillig verbreitet. Das Walten der Fama gerät nicht zum Ausnahmefall vor Kriegen, sondern gewissermaßen zur Normalität41 – so wie das von Somnus, Indivia, Fames, Cupido etc. eben auch.
37 Diesen Kontrast betont auch Kelly 2014, 68. 38 Verg. Aen. 4,174: malum; 178: ira inritata deorum; 180: pernicibus alis; 180: monstrum horrendum; 187: territat. Wertende Formulierungen finden sich auch in der indirekten Wiedergabe ihrer Rede in Aen. 4,193: luxus; 194: turpis cupido; 195: foeda. 39 Vgl. zur Deutung der Gerüchteproduktion mit dem Informationsaustausch auf dem Forum Romanum Gladhill 2013. 40 „Vielleicht hätte das Gerede über das neue Wunder die hundert kretischen Städte erfüllt, wenn Kreta nicht den Mirakeln über die kürzlich verwandelte Iphis den Vorzug gegeben hätte.“ 41 Hardie 2012, 109 mit Fn. 103 deutet dagegen Fama als „a dark double of the poet, twinned in rivalry with the epic poetʼs own expansionist ambitions“.
Fama und die Kriegsfurien 183
.. Kohärenz der Figuren Inhaltlich lassen sich die Famadarstellungen des vierten Aeneisbuches und der Metamoprhosen miteinander vereinbaren, wenn man für sie, wie für andere Figuren des Werkes auch, alle Darstellung im Gesamtwerk als Teile derselben kohärenten Werkwelt annimmt.42 Wie die anderen Gottheiten im Metamorphosentext verlässt die ovidische Figur Fama für wichtige Aufträge bisweilen ihr Haus, sodass der vergilische Text als eine damit vereinbare Momentaufnahme einer solchen Situation verstanden werden kann. Die Gerüchteproduktion besteht daher in ihren aktiven Phasen darin, dass Fama selbst wächst (Aen. 4,175–177; met. 9,137–139: e minimo sua per mendacia crescit). In Ruhephasen, wie im zwölften Metamorphosenbuch geschildert, sorgt sie dagegen in heimischer Verwaltungsarbeit dafür, dass ihre Klientel die Nachrichten wie Gegenstände herumträgt und zusammenfügt, während sie selbst aus dem Fenster blickt. Tatsächlich konnte somit bestätigt werden, dass Ovid Leerstellen auf der Handlungsebene ausfüllt und die Figur der vergilischen und der eigenen Fama, zu verschiedenen Zeiten ihrer „Biographie“ beobachtet, gleichsetzt. Ovid wiederholt mit den Elementen der Furcht und der Freude Teile der Gerüchteproduktion aus dem Vergiltext und in einer window reference auch aus Homers Erisdarstellung. Er löst sie aus dem Kontext der Handlung des Vergiltextes und setzt sie wieder wie im Homertext in den Zusammenhang der Ilias. Zugleich ergänzt der Metamophosentext die Figur der Fama um Aspekte, die nicht bloß grausam, sondern lebensnah und gewissermaßen normal erscheinen.
. Fama und die Kriegsfurien Ovids Darstellung der Fama ist, am Anfangs- und Schlusspunkt formal deutlich von der fortlaufenden Erzählung getrennt,43 in den Kontext des trojanischen Krieges eingebettet. Famas Nachricht eilt den griechischen Schiffen bei ihrer Überfahrt voraus und erreicht Troja noch vor der Flotte selbst (met. 12,64–66). Die Darstellung einer gerüchteschaffenden und Gemüter anstachelnden Gottheit als Rahmung von Kriegshandlungen ist dem Leser aus verschiedenen Epen bekannt; 42 Diese Möglichkeit übersieht u.a. Kelly 2014, 74f., der sie aufgrund seiner Beschränkung auf die kurze Passage im zwölften Buch als Gegenportrait der vergilischen Fama deutet. 43 Andrae 2003, 156 benennt hierfür die rahmende Anfangs- und Schlussstellung von orbis in den Versen 39 und 63 sowie die gespiegelte Abfolge der doppelt aufgelisteten Weltbereiche Erde, Meer und Himmel in den Versen 39f. und 62f.
184 Fama dass Vergils Famadarstellung intertextuelle Elemente aus der iliadischen Erisdarstellung aufweist, die auch im neunten Metamophosenbuch im ersten Auftritt der personifizierten Fama wiederholt werden, wurde bereits gezeigt. Aufgrund der ähnlichen Platzierung innerhalb der Handlung und der engen Verbindung zur Erisdarstellung durch die Vermittlung des Vergiltextes soll die Darstellung der Fama nun auch mit denen von anderen kriegstreibenden Gottheiten verglichen werden. In Homers Ilias 2,93f. treibt Ossa, das personifizierte Gerede göttlichen Ursprungs,44 auf Zeusʼ Auftrag hin die Griechen zu einer Versammlung, an deren Darstellung der Schiffskatalog Il. 2,484–877 anschließt. Die Gemüter der Kämpfer erregen im Anschluss Athene, Ares und in dessen Gefolge wiederum Deimos, Phobos und Eris.45 Den folgenden Angriff der Griechen auf Troja im zehnten Kriegsjahr meldet schließlich Iris im Auftrag von Zeus nach Troja (Il. 2,787f.), sodass die Informationsvermittlung über die bevorstehenden Kriegshandlungen der Griechen nach Troja in der Ilias hier auf insgesamt sieben Gottheiten verteilt ist, die in klarer hierarchischer Ordnung allesamt Zeusʼ Weisung folgen. Ennius wiederholt dieses Motiv einer göttlichen Meldung oder sogar Verursachung eines Kriegsbeginns schließlich in der lateinischen Epik. Er stellt die motivisch ähnliche Discordia als Erregerin der punischen Kriege dar, wobei auch sie – wie Homers Ossa – nicht selbstständig, sondern auf Befehl höherer Gottheiten handelt.46 Zur ennianischen Discordia besitzt wiederum Ovids Fama – neben der ähnlichen Platzierung im Handlungsverlauf – lexikalische und motivische, nicht aber auf Handlungsebene identische Ähnlichkeit: Discordia sorgt dafür, dass die Menschen untereinander Feindschaften stiften und mit uninformierten Aussagen und Schmähungen streiten (Enn. ann. 8,250f.: Haud doctis dictis certantes, sed maledictis / miscent inter sese inimicitiam agitantes).47 In Famas Diensten wird dagegen Wahres mit Falschem und Hinzugedichtetem vermischt, ohne dass hier direkt die Feindschaft als Folge genannt wird (met. 12,54: mixtaque cum veris passim commenta vagantur)48. Viele dieser Gottheiten tauchen aber auch friedensstiftend zum Ende eines Streits auf. Das Ende eines Konflikts zum friedlichen Schluss des Gesamtwerkes 44 Hom. Od. 1,282; Hom. Od. 2,216 und Hom. Od. 24,413. Vgl. zum Verhältnis von göttlichem und menschlichem Ursprung bei Ossa und Kleos etwa Collins 1999. 45 Il. 2,445–454; 339–445. 46 Dies zeigt Norden 1966, 42. 47 „Sie kämpfen mit haltlosen Aussagen und säen so in ihrem Treiben Zwietracht untereinander“. Diesen Lügen wird der orator bonus (Ann. 8,249) gegenübergestellt, der „keine Wertschätzung erfährt“ (spernitur). 48 „Mit Wahrem vermischt schweifen überall die Lügen umher.“
Fama und die Kriegsfurien 185
vermeldet Ossa in Hom. Od. 24,413. Auch Vergils Fama, deren Figur bereits als mit der ovidischen Fama identifiziert worden ist, wird im ersten Buch der Aeneis zunächst in einem friedlichen Kontext erwähnt. Nach seinem Schiffbruch bestaunt Aeneas in Karthago in aller Ruhe eine bildliche Darstellung von Trojas Fall, die entstanden war, weil Fama bereits den Krieg und die Schicksale großer Männer verbreitet hatte (Verg. Aen. 1,457f.: [videt] bellaque iam fama totum volgata per orbem, / Atridas, Priamumque, et saevum ambobus Achillem).49 Aeneas deutet diesen Fund so, dass Fama noch im Nachhinein Sinn für Gräuel stiften kann, und schöpft aus diesem Gedanken Trost (Verg. Aen. 1,459–463, bes. 463: Solve metus! Feret haec aliquam tibi fama salutem).50 Der Primärerzähler dagegen kommentiert seinen Monolog darüber mit der Bemerkung, dass er seinen Trost aus einem nichtssagenden Bild schöpfe (Verg. Aen. 1,464: animum pictura pascit inani),51 und deutet damit den weiteren tragischen Verlauf voraus. Denn Fama bereitet ihm zwar auf diese Weise zunächst die freundliche Aufnahme durch die Königin Dido vor, doch schon ein Jahr später ist es wiederum Fama, die mitverantwortlich für die Feindseligkeit beim Abschied ist. Im vierten Aeneisbuch lässt sie die Bevölkerung Karthagos und auch der Nachbarländer in Aufruhr über Didos Beziehung zu Aeneas geraten. Indem sie aus eigenem Antrieb die Gemüter mit Worten reizt und zu Zorn anstachelt (Aen. 4,197: incenditque animum dictis atque aggerat iras), geht ihr Einflussbereich über den einer bloßen Botin hinaus.52 Vergils Fama wird so motivisch, wie schon Hesiods φήμη (Hes. op. 760–764), eher einer Furie oder Kriegsgottheit angenähert als einer Botin.53 Sie löst zwar keine direkte Kriegshandlung aus, doch Dido gerät durch Famas Handeln persönlich und politisch unter Druck.54 Erst über Jarbas zornige Gebete erfährt schließlich auch Jupiter von der Verzögerung des großen Planes und entsendet Mercur, um Aeneas zu ermahnen, sich wieder auf das Finden einer neuen Heimat zu konzentrieren, was schließlich auf die Gründung und den Aufstieg
49 „Und er sieht, wie sich schon durch mündliche Überlieferung (die Nachrichten über) die Kriege auf der ganzen Welt verbreitet hatte, über den Atriden und Priamus und Achill, der beiden zürnte.“ 50 „Leg deine Furcht ab. Diese Kunde wird dir irgendeine Heilung bringen.“ 51 „Er weidet seinen Geist an dem eitlen Bild.“ 52 In Hom. Od. 24,413 hat Ossa zum Ende des Epos einen kurzen Auftrag als Botin, die den Tod der Freier in der Stadt vermeldet, und löst damit keine neue Handlung aus. 53 In Aen. 2,336–338 findet sich in Aeneasʼ Figurenrede wiederum die Schilderung von Erynis, die ihn mit einem Schrei in die Schlacht ruft, der bis in den Himmel steigt (Aen. 2,338: sublatus ad aethera clamor). 54 Hardie 2012, 171 untersucht, in welchem Verhältnis hierzu wiederum die Invidia-Darstellung der Metamorphosen steht.
186 Fama Roms hinauslaufen soll. Famas Auftritt treibt in der Vergildarstellung also die Handlung voran,55 anstatt sie bloß auf göttliches Geheiß hin zu vermitteln; ja sie löst sogar Handlungsketten aus, die Jupiter selbst lange verborgen bleiben. Auch in Didos Fall trägt u.a. der Umstand, dass sie von Aeneasʼ Abreise wieder zuerst durch Fama erfährt (Aen. 4,299f.), dazu bei, dass ihr Missverständnis über ihre (Nicht-)Beziehung zur Raserei führt und letztendlich zu ihrem Fluch ewiger Feindschaft und damit schließlich zum Krieg gegen Hannibal in späterer, historischer Zeit. Der Göttervater ist somit durch Famas Eigenmächtigkeit von der Verantwortung der kriegerischen Folgen, z.B. in Form der punischen Kriege, 56 freigesprochen und greift lediglich ordnend und friedensstiftend ein. Im siebten Aeneisbuch wird ein ähnlicher Handlungsmechanismus anhand einer anderen Figur geschildert. Hier ist es die Furie Allecto als personifizierter Furor, die auf Betreiben Junos u.a. die latinische Bevölkerung über einen verwundeten Lieblingshirsch dermaßen in Wut geraten lässt, dass die zunächst freundlich aufgenommenen Trojaner zu Feinden erklärt werden. Allectos Darstellung wiederholt verschiedene Elemente der vergilischen Famadarstellung drei Bücher zuvor, wie z.B. in ihrer abstoßenden Gestalt, der Verhasstheit unter anderen Gottheiten,57 der Vielzahl an Mündern58 und der Rastlosigkeit beim Unheilstiften.59 Nachdem Allecto auf Junos Verlangen hin Zorn erregt hat, erklärt sie in einer Art Vollzugsmeldung, sie habe discordia erregt (Aen. 7,545), und erinnert den Vergilleser so an die verwandte Darstellung in Enniusʼ Annalen zu einem ähnlichen Punkt der Handlung. Aufgrund der Intertextualität zwischen dem Vergiltext und dem Homer- und Enniustext und aufgrund der Ähnlichkeit dieser Motive und Wortwahl erinnert Ovids Famadarstellung so wieder in einem ganzen Geflecht von Referenzen nicht nur an die gleichnamige vergilische Fama, sondern auch an Eris, Discordia und Allecto. Während aber die homerische Eris, die ennianische Discordia und die vergilische Fama und Allecto die Tatsachen verdrehen und die Emotionen der Menschen über ein Missverständnis hochkochen lassen, bis aus göttlicher Veranlassung ein Krieg entsteht, führt Ovids Fama eine andere Rolle aus. Die Griechen haben sich bereits aus eigenem menschlichen Entschluss 55 Fauth 1965, 138, und Andrae 2003, 156f. 56 Diese sind ja die Folge des Fluchs der Dido in Aen. 4,621–629. 57 Fama: Verg. Aen. 4,178: ira inritata deorum – „der gereizte Götterzorn“. 58 Fama: Verg. Aen. 4,182f. und Allecto 7,328f. 59 Fama in Verg. Aen. 4,173: magnas Libyae it Fama per urbes – „Fama geht durch Libyens große Städte“ – und Allecto in Verg. Aen. 7,549–550: finitimas in bella feram rumoribus urbes, / accendamque animos insani Martis amore / undique ut auxilio veniant. – „Ich werde mithilfe von Gerüchten Krieg in die Nachbarstädte tragen und die Gemüter mit einer kranken Kriegsgier in Brand stecken, damit sie von überallher zu Hilfe kommen.“
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zum Krieg entschieden (met. 12,7f.: coniurataeque sequuntur / mille rates gentisque simul commune Pelasgae),60 Fama überbringt lediglich die Botschaft. Über die Art der erwähnten griechischen Verschwörung existierten zu Ovids Zeit verschiedene Erzählungen. Die Formulierung coniuratae ist im Kontext des Sagenkreises wohl bereits zu einer festen Redewendung geworden, die an keine konkrete Erzählung erinnert61 und kaum eine bedeutungsrelevantere intertextuelle Funktion erfüllt als ein Epitheton. Dennoch erweitert sie die Metamorphosenwelt dadurch, dass durch dieses eine Wort ein ganzer Sagenkreis als unerzählter Teil der Handlungswelt integriert wird. Auf gleiche Weise fungieren die Formulierung mille carinae / multaque perpessae (12,38f.), die dem Leser den iliadischen Schiffskatalog und Darstellungen der Abenteuer in Erinnerung ruft, die die Griechen auf ihrer Überfahrt erlebt haben, sowie die kurzen Andeutungen weiterer Erzählungen in den Versen met. 12,8–36.62 Verschiedene Gottheiten müssen besänftigt werden, damit der geplante Krieg endlich beginnen kann, wobei diese göttlichen Interaktionen den Krieg nicht getrieben, sondern im Gegenteil verzögert haben. Diese Hindernisse mussten die Menschen erst überwinden, um den Krieg zu beginnen. Die Figur der Fama ist also gleich zweifach mit verschiedenen Darstellungen von Kriegsfurien assoziiert: einerseits durch die Vermittlung von Vergils Darstellung, in met. 9,137–140 sehr ähnlich wiederholt und dadurch als Teil der Metamorphosenwelt bestätigt, und andererseits durch die Platzierung an dieser Stelle der Handlung im Metamorphosentext kurz vor dem Ausbruch eines epischen Krieges. So mag es überraschen und die Erwartung des Lesers enttäuschen, wie sie an dieser Stelle dargestellt wird. Denn ganz anders als diese Kriegsgottheiten und ähnlich wie Homers Ossa überbringt sie den Trojanern keine kriegstreibend verzerrte Darstellung, sondern lediglich einen nüchternen Tatsachenbericht über die Truppenstärke, sodass sie sich auf den Angriff vorbereiten können (met. 12,64–66 Fecerat haec notum Graias cum milite forti / adventare ratas, nec
60 „Tausend verschworene Schiffe folgen dem Ruf zusammen mit der vereinten Streitmacht der Pelasger.“ 61 Vgl. Bömer zur Stelle. 62 Met. 12,8: nec dilata foret vindicta – „und die Rache wäre nicht aufgeschoben worden“; 24– 26: permanet Aoniis Nereus violentus in undis / bellaque non transfert, et sunt, qui parcere Troiae / Neptunum credant – „Nereus bleibt stürmisch in den aonischen Wellen und trägt den Krieg nicht hinüber, und es gibt bei einigen die Meinung, Neptun wolle Troja verschonen“; 35f.: lenita est caede Diana / et pariter Phoebes, pariter maris ira recessit – „Diana wurde durch das Blutopfer besänftigt und ihr Zorn und der des Meeres legten sich zugleich.“
188 Fama inexspectatus in armis / hostis adest).63 Auf diesen Informationsvorsprung durch Famas Vorauseilen vor den Griechen selbst verweist kurze Zeit später auch die Figur Cycnus (met. 12,86: nate dea, nam te fama praenovimus).64 Für die Handlung der Trojaerzählung bedeutet Ovids Famadarstellung also zunächst nur, dass die Trojaner nicht von dem Angriff überrumpelt werden; wäre sie nicht den Schiffen vorausgeeilt, wäre der Krieg vielleicht anders verlaufen.65
. Fama, Kleos und die Musen Einen weiteren Aufschluss zur Funktion der Famadarstellung an dieser Textstelle kann eine bisher weitgehend unbeachtet gebliebene Intertextualität bieten, die sich durch einen Blick auf die Einbettung in die Struktur und den Handlungsaufbau im Gesamttext zeigt. Die ovidische Famadarstellung findet sich zum Beginn eines neuen Epenbuches. Zuvor wurden in 38 Versen die Kriegsvorbereitungen geschildert, der Blick wechselt nun zum Schauplatz der Kämpfe. Andere epische Texte bieten an etwa dieser Stelle häufig einen Musenanruf,66 sodass ein solcher auch hier erwartet werden kann. Im Zusammenhang mit dieser Erwartung fällt ein lexikalisches Element besonders auf: Nur einen Vers vor Beginn der Famadarstellung werden mille carinae, die tausend Schiffe der Griechen genannt, die, so der Ort in der Handlung, zum Krieg nach Troja aufbrechen. Diese drei Hinweise (strukturell: Erwartung eines Musenanrufs, Handlung: Aufbruch nach Troja, lexikalisch: mille carinae) lassen den Leser den Musenanruf im zweiten Buch der Ilias vergleichend in Erinnerung rufen, mit dem der Erzähler der Ilias die bedeutende Passage des Schiffskatalogs einsetzen lässt:67 ὑμεῖς γὰρ θεαί ἐστε πάρεστέ τε ἴστέ τε πάντα, ἡμεῖς δὲ κλέος οἶον ἀκούομεν οὐδέ τι ἴδμεν·
63 „Diese hatte bekannt gemacht, dass zusammen mit den tapferen Soldaten die griechischen Schiffe anrücken, und der Feind mit seinen Waffen trifft nicht unerwartet ein.“ 64 „Sohn einer Göttin, denn von dir haben wir schon vorab Kunde vernommen.“ 65 Dennoch wurde die Relevanz der Famadarstellung für die Handlung teilweise übersehen und lediglich als rhetorische Übung betrachtet (vgl. Friedrich 1968, 381) oder als bloß retardierendes Element zur Spannungssteigerung vor Beginn der Kampfhandlungen gedeutet (Ludwig 1965, 62). 66 Diesen wichtigen Hinweis hierfür liefert – gestützt auf Dippel 1990, 30 – Andrae, 2003, 158. Beide ziehen jedoch zum Vergleich nicht die Ilias, sondern das erste bzw. das siebte Buch der Aeneis heran. 67 Übersetzung der Iliaszitate hier und im Folgenden nach Roland Hampe 2005.
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οἵ τινες ἡγεμόνες Δαναῶν καὶ κοίρανοι ἦσαν· πληθὺν δ’ οὐκ ἂν ἐγὼ μυθήσομαι οὐδ’ ὀνομήνω, οὐδ’ εἴ μοι δέκα μὲν γλῶσσαι, δέκα δὲ στόματ’ εἶεν, φωνὴ δ’ ἄρρηκτος, χάλκεον δέ μοι ἦτορ ἐνείη, εἰ μὴ Ὀλυμπιάδες Μοῦσαι Διὸς αἰγιόχοιο θυγατέρες μνησαίαθ’ ὅσοι ὑπὸ Ἴλιον ἦλθον· ἀρχοὺς αὖ νηῶν ἐρέω νῆάς τε προπάσας. Denn ihr seid Göttinnen, und wart bei allem, und wisst es; / Unser Wissen ist nichts, wir horchen allein dem Gerüchte [κλέος]: / Welche waren die Fürsten der Danaer und die Gebieter? / Nie vermöcht' ich das Volk zu verkündigen oder zu nennen. / Wären mir auch zehn Kehlen zugleich, zehn redende Zungen, / Wär unzerbrechlicher Laut, und ein ehernes Herz mir gewähret: / Wenn die olympischen Musen mir nicht, des Aigiserschüttrers / Töchter, die Zahl ansagten, wie viel vor Ilios kamen. / Drum die Ordner der Schiffe genannt, und die sämtlichen Schiffe. (Hom. Il. 2,484–493)
Hier finden sich zahlreiche motivische und lexikalische Ähnlichkeiten zur Darstellung der ovidischen Fama. Der Iliastext nennt die Musen „allgegenwärtig und alles erkennend“ (Il. 2,485: πάρεστέ τε ἴστέ τε πάντα). Diese Eigenschaft wird in der Darstellung der Fama im Ovidtext gleich zweifach genannt. Über den Ort heißt es in met. 12,41f.: unde, quod est usquam, quamvis regionibus absit / inspicitur, einige Verse später über Fama: quid […] rerum [...] geratur [...] videt totumque inquirit in orbem (met. 12,62f.). 68 Im Vergleich zu den Musen der Ilias wird dadurch der Kontrast zwischen Abwesenheit und Allwissen, der durch die Antithese in met. 12,41 schon stilistisch-sprachlich im Ovidtext angelegt ist, noch stärker betont. Weiter nennt das griechische Epos in einem Unmöglichkeitstopos zehn Kehlen und Zungen, eine unzerstörbare Stimme und ein ehernes Herz, die nötig wären, um die Schiffe der Griechen ohne Hilfe der Musen zu benennen. Als ehern beschreibt der Ovidtext Famas Behausung und unzählig sind die Eingänge der Höhle, durch die Stimmen gelangen. Auch die Anrede der Musen als Zeustöchter (Il. 2,491f.) findet sich in einer neuen Einbettung wieder, indem Jupiters Name und auch das Zeusepitheton αἰγιόχος im Donnergleichnis ausgeführt wird (met. 12,51f.: qualem sonum, cum Iuppiter atras / increpuit nubes, extrema tonitrua reddunt).69 Der Ovidtext wiederholt so fast vollständig die inhaltlichen Motive aus 68 „Von hier aus erhält man Einblick auf alles, was es irgendwo gibt, ganz gleich, in welchen entfernten Gegenden“; „Sie sieht alles, was getan wird, und erforscht die ganze Welt.“ 69 „Wie das Geräusch von weit entferntem Grollen, wenn Jupiter die schwarzen Wolken donnern lässt.“
190 Fama dem Iliastext und setzt sie in einen neuen Zusammenhang. Haben diese Elemente im Iliastext noch die Glaubwürdigkeit der Musen bestätigt, werden sie in der Famadarstellung Instrumente der Wahrheitsverfälschung.70 Musen und Fama führen auf der Handlungsebene die gleiche Funktion aus: Sie geben Auskunft über die Ankunft und Truppenstärke der griechischen Flotte vor Troja. In Verg. Aen. 2,17 taucht Fama ebenfalls in einem sehr ähnlichen Handlungszusammenhang auf: Im Kontext mit dem Holzpferd verbreitet sie unter den Trojanern die falsche Nachricht, die griechische Flotte sei nun wieder abgereist (Verg. Aen. 2,17: votum pro reditu simulant; ea fama vagatur).71 Vergleichspunkte sind also die Figuren Fama, Griechen und Trojaner, der Ort (nämlich die Route zwischen der griechischen und der trojanischen Küste), der Informationsgegenstand (Aufbruch der griechischen Flotte) und im Kontrast der Kontext von Kriegsbeginn und Kriegsende. Nur die Zeit macht zehn Jahre Unterschied aus. Die Parallelität, in der die Fama im Metamorphosentext zu der im zweiten Aeneisbuch gestaltet ist, lässt darauf schließen, dass sie als ein und dieselbe Figur gelesen werden sollen – wobei diese wiederum die gleiche Funktion ausführen wie die Musen vor dem Schiffskatalog im Iliastext. Der Bogen zwischen Vergils Fama im zweiten Aeneisbuch und den Musen zu Beginn des zweiten Iliasgesangs wird erst durch das Verbindungselement im Metamorphosentext nachträglich geschlagen und beeinflusst so den Sinn des Vergiltextes bei seiner Neulektüre. Im iliadischen Musenanruf wird das Kleos als gewöhnliche Informationsquelle nicht-inspirierter Menschen genannt. τό κλέος ist in archaischen Texten wie den homerischen Epen die Kunde, die Nachricht, die sich von allein verbreitet und auf die sich Menschen in ihren Entscheidungen verlassen (müssen); so können Protagonisten dem allgemeinen Kleos als Aufruf in den Krieg folgen.72 Kleos kann aber auch gezielt eingeholt werden, wenn sich etwa Telemachos in der homerischen Odyssee nach Kleos über seinen Vater oder aus Ithaka erkundigt, (Od. 13,415; 16,461), und Odysseus berät mit seinem Sohn, wie man im
70 Hardie 2012, 107 bemerkt auch für die vergilische Fama der Aeneis eine konzeptionelle Ähnlichkeit mit den Musen bei Hesiod, Theog. 27f. sowie mit Horazʼ Reflexion über gelungene dichterische Funktion in ars 151f.: atque ita mentitur, sic veris falsa remiscet, / primo ne medium, medio ne discrepet imum – „Und Homer erfindet so, dass sie Falsches unter Wahres mischt und dass die Mitte nicht mit dem Anfang und der Schluss nicht mit der Mitte in Widerspruch steht“. Auch Zumwalt 1977, 222 mit Fn. 118 bemerkt einen Bezug zwischen der Beschreibung von Famas Haus und den homerischen Musen und deutet ihn als Kontrastierung der Allwissenheit der Musen und dem unsicheren Kleos, ohne jedoch diesen Gedanken mit Blick auf die Rolle in der Handlung weiterzuverfolgen. 71 „Sie täuschen vor, dass das Geschenk für die Heimkehr geweiht sei; dieses Gerücht kursierte.“ 72 Il. 11,227; 13,364.
Zur Bedeutung der Fama für die Metamorphosen 191
geschwätzigen Volk das Kleos über den Freiermord eine Weile aufhalten könne (Od. 23,137–139). Auch Fama verbreitet sich von selbst, wobei ihre Herkunft unklar bleibt, und sie lässt sich nur durch das gleichzeitige Kursieren einer anderen Kunde für eine Weile aufhalten.73 An allen Stellen, an denen Famas Wirken im Metamorphosenwerk genannt wird, gibt es niemals eine Erzählung, in der eine Figur an ihr zweifelt oder sich dagegen entscheidet, ihr zu folgen. Sie entspricht offenbar in den Metamorphosen – nicht aber andernorts!74 – dem Konzept des homerischen Kleos. Wenn man die Rolle der Fama nun auch an dieser Stelle mit der Rolle des im Musenanruf genannten Kleos gleichsetzen möchte, ergibt sich daraus ein neuer Gedanke: Der Sänger der Ilias äußert, dass Menschen ihr Wissen nur indirekt über Fama/Kleos beziehen, während die Musen selbst dabei waren und die Wahrheit kennen. Dass hier auf der Erzählebene der Metamorphosen nur die unzuverlässige Fama und nicht die göttlichen Musen die Nachricht überbringt, lässt den Wahrheitsanspruch von Epen – und auch jüngeren historischen Berichten – in einem kritischen Licht erscheinen. Die Funktion der Famadarstellung als Aufruf zum kritischen Hinterfragen der Zuverlässigkeit epischen Erzählens wurde aufgrund des narratologischen Umstandes, dass Fama zu Beginn der drei großen Komplexe der Ilias, Odyssee und Aeneis dargestellt wird, bereits mehrfach vorgeschlagen.75 Eine weitere Stütze für diese Deutung konnte nun die intertextuelle Lesart vor dem Hintergrund des Musenanruf im homerisch-iliadischen Schiffskatalog liefern.
. Zur Bedeutung der Fama für die Metamorphosen Fama durchwirkt alle Zeiten und alle Bereiche der Metamorphosenwelt, und es können an dieser Stelle nur wenige Beispiele genannt werden. Nachdem bei ihrer
73 So in Od. 23,137–139 und met. 9,666–668. 74 So zeigt Hardie 1986, 275 mit Fn. 118, inwiefern die Fama der Aeneis sogar als Gegenteil des homerischen Kleos zu lesen sei, das eine Synthese aus dem wohlverdienten Ruhm des Helden selbst als auch dem des Dichters bezeichne, der die Tat besinge (vgl. die Übertragung dieses Gedanken in die elegische Gattung in Ov. Am. 1,10,62 zum unsterblichen Ruhm der besungenen puella). Diese Definition trifft auf Vergils personifizierte Fama nicht zu. Wenn die Fama der Metamorphosen als dieselbe Figur zu lesen ist, schließt dies (und natürlich auch weitere in den Metamorphosen selbst genannte Aspekte ihrer Figur, wie z.B. ihre Lügenhaftigkeit) eine gleichzeitige Identität mit Kleos aus. 75 Vgl. z.B. Zumwalt 1977, 212; Feeney 1991, 248; Tissol 1997, 87; Dippel 1990, 30f. und Andrae 2003, 158.
192 Fama ersten Nennung Jupiter die Menschheit aufgrund ihrer Infamia76 geprüft, ausgelöscht und neu geschaffen hat, taucht Fama selbst in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auf. Ein Beispiel für Famas Omnipräsenz im friedlich-häuslichen Kontext bilden die Minyastöchter. Sie erzählen sich recht willkürlich ausgewählt wirkende Geschichten, allein, „um ihre Ohren zu beschäftigen“ (met. 4,41: in medium vacuas referamus ad aures). Die Erwähnung von Fama oder davon abgeleiteten Wörtern dienen ihnen innerhalb ihrer Erzählungen als Redeschmuck oder haben handlungsrelevante Funktion.77 Doch nicht nur junge Frauen bei der Handarbeit im eigenen Hause, auch kriegerische Männer fernab ihrer Heimat haben das Bedürfnis nach dem Wirken der Fama, wenn sich die griechischen Soldaten vor Troja am Abend nach einer Schlacht zu bloßen Unterhaltungszwecken die Zeit mit thematisch passenden Geschichten (12,157–162) vertreiben. Eine dieser Geschichten erzählt Nestor und gibt als Quelle Fama an (met. 12,197: ita fama ferebat und drei Verse später: eadem hoc quoque fama ferebat).78 Auch die Figur Cycnus hat kurz zuvor im selben Buch der Metamorphosen und am selben Tag der erzählten Zeit Achill direkt angesprochen und sein Wissen über dessen Herkunft mit Famas Wirken begründet.79 Apoll errichtet den Pythienkult, damit die vetustas nicht mehr die Fama seiner Heldentat zerstören könne (met. 1,445). Der Seher Tiresias erlangt durch sie Berühmtheit und Erfolg (met. 3,339 und met. 3,511f.). Pentheus fordert seine Bürger auf, für ihre Fama gegen Bacchus zu kämpfen (met. 3,546), doch es ist wiederum Fama, die von Bacchusʼ Wundertaten berichtet (met. 3,700). Fama bestimmt auch den italischen König Numa zu seiner Herrschaft (met. 15,3f.) und sie bewegt Minerva zu ihrer Reise zur Musenquelle, um den Wahrheitsgehalt zu überprüfen (met. 5,256; met. 5,262). Dieser Auslöser wird schließlich zu einem langen 76 Met. 1,211–215: contigerat nostras infamia temporis aures; / quam cupiens falsam summo delabor Olympo et deus humana lustro sub imagine terras. / longa mora est, quantum noxae sit ubique repertum, / enumerare: minor fuit ipsa infamia vero. – „Mir war der schlechte Ruf der Zeit zu Ohren gekommen; im Wunsch, er möge falsch sein, glitt ich vom hohen Olymp und wandelte als Gott in menschlicher Gestalt über die Erde. Zu lang würde es dauern, aufzuzählen, wie viel Sittenlosigkeit ich überall vorgefunden habe: Der schlechte Ruf war selbst noch eine Kleinigkeit im Vergleich zur Wirklichkeit.“ 77 Met. 4,235–237: stimulataque paelicis ira / vulgat adulterium diffamatamque parenti / indicat. – „Von Eifersucht getrieben macht Clytie Leucothoes Schande der Vergewaltigung öffentlich und weist ihren Vater auf ihre Entehrung hin“; met. 4,285: infamis – „schamlos“; met. 4,505: fama est – „es gibt die Kunde“. 78 „So trug es die Kunde zu“; „Auch das trug dieselbe Kunde zu.“ 79 Met. 12,86: Nate dea, nam te fama praenovimus – „Sohn einer Göttin, denn von dir haben wir schon vorab Kunde vernommen“.
Zur Bedeutung der Fama für die Metamorphosen 193
Erzählstrang mit der tiefsten Verschachtelung von Erzählerebenen im ganzen Werk führen. Und sicher ist es kein Zufall, dass der Gedanke an Fama zur Reflexion über den Wahrheitsanspruch von Dichtern und Propheten über sie sogar das Gesamtwerk abschließt.80 Dass das Wirken der Fama und die damit verbundene Unzuverlässigkeit historischer Überlieferung ein Hauptthema gerade des zwölften Metamorphosenbuches ausmachen, wird im Folgenden an den Erzählungen gezeigt, in deren Zentrum die Famadarstellung als Manifestation dieses Gedankens eingebettet ist. Als Überleitung zwischen dem elften und zwölften Metamorphosenbuch fungiert die Metamorphose des Priamussohnes Aesacus und die Trauer seiner Familie über sein Verschwinden. Dies lenkt den Blick des Lesers auf den Schauplatz Troja, hiervon auf Parisʼ Raub der Helena und die daraus folgenden Kriegsvorbereitungen der Griechen. Sprachlich wie inhaltlich fällt der beiläufig gestaltete und ausnahmsweise nicht eigens gekennzeichnete Übergang von Figurenrede zur Erzählerrede an der Grenze zwischen dem elften und zwölften Buch auf. Der Leser muss selbst erkennen bzw. ohne Signal dazu selbst entscheiden, dass nun wieder ‚subjektivere‘ Erzählerrede vorliegt. Ebenso gut kann er aber auch davon ausgehen, dass die letzten vier Bücher des Werks die Rede des nicht näher bestimmten alten Mannes sind, der seit met. 11,749–751 als Erzähler an einen sogar noch unbestimmteren Zuhörer fungierte (met. 11,749: Hos aliquis senior iunctim freta lata volantes / spectat et ad finem servatos laudat amores. / Proximus, aut idem, si fors tulit, […] dixit...: „...“).81
80 Met. 15,878f.: ore legar populi, perque omnia saecula fama, / siquid habent veri vatum praesagia, vivam – „Ich werde im Volksmund gelesen werden und durch die Überlieferung werde ich durch alle Zeiten hindurch lebendig sein, wenn an den Vorhersagen der Dichter etwas Wahres ist.“ Vgl. Hardie 1995; Gladhill 2013; Kelly 2014, 84–87 sowie 90: „The epilogue shows Ovid’s fear of his own presence being subsumed by Fama in her role as his book.“ 81 „Als diese vereint über die weiten Meere flogen, betrachtete sie irgendein alter Mann und lobte, wie ihre Liebe bis zum Tode bewahrt wurde. Jemand, der neben ihm stand, oder vielleicht war es auch zufällig derselbe, sagte…“ So auch Andrae 2003, 62. – Latacz 1979, 149 äußert sich nicht zur fehlenden Kennzeichnung des Übergangs zur Erzählerrede und deutet den „grotesk beiläufig[en] und zufällig[en] Übergang von der Metamorphose des Aesacus zum Trojazyklus“ dennoch ähnlich als Aufforderung, die epische Darstellung des Trojamythos speziell bei Homer „in dasselbe Reich mythologischer Phantasie einzureihen wie alles zuvor Erzählte“. – Die Urschöpfung der Welt in met. 1,32 erfolgt ebenfalls durch eine unbenannte Götterfigur: quisquis fuit ille deorum – „Wer auch immer es war von den Göttern“ (vgl. zu dem hier „referiert[en] Schulwissen“ über diesen „abstrakte[n] Gott der meisten Philosophenschulen“ Michael von Albrecht 2016, 94); ebenso anonym bleibt der schuldige Akteur hinter der Verfluchung des Narcissus in met. 3,404f.: inde manus aliquis despectus ad aethera tollens / „sic amet ipse licet, sic non potiatur
194 Fama Da diese Erzählfigur außerdem schon rückblickend von Trojas Ende zu berichten weiß, kurz bevor der Krieg um Troja überhaupt zu Beginn des nächsten Buches anfängt (met. 11,757f.), liegt tatsächlich die Deutung näher, dass der alte Mann zeitlich später in die Werkwelt einzuordnen ist als die nachfolgenden Erzählungen – und ihr übergeordneter Erzähler sein kann. Auch stilistisch wird ein identischer Erzähler angedeutet, indem beide Erzählungen – die bukolisch-erotische Erzählung vom Trojaprinzen Aesacus und Hesperie und die epische Erzählung vom Krieg um Troja – mit einer ähnlichen Was-wäre-wenn-Formulierung82 beginnen: met. 11,759f: qui nisi sensisset prima nova fata iuventa, / forsitan inferius non Hectore nomen haberet und met. 12,8f.: nec dilata foret vindicta, nisi aequora saevi / invia fecissent venti.83 Klar entscheiden lässt sich darüber allerdings nicht. So bereitet der Text den Leser durch die narratologische Struktur der ungekennzeichneten Erzählebenen auf das Thema vor, das gerade in der Famaerzählung, aber auch im weiteren Werk auf verschiedenen Ebenen mehrfach wiederkehren wird, nämlich auf die Problematik, subjektive Figurenreden von Tatsachenberichten in den Metamorphosen zu unterscheiden.84 Der Aufbruch der Flotte wird durch Meeresstürme verzögert, was die Erzählungen zu einem Prodigium und der Besänftigung der Diana durch das Iphigenieopfer einleitet. Das Vogelnestprodigium ist dem Leser aus dem zweiten Buch der Ilias bekannt. Der Ovidtext gibt diese Homerstelle Il. 2,303–320 in beinahe wörtlicher Übersetzung wieder. Inhaltlich unterscheidet er sich nur darin, dass die Griechen schon beim Auftauchen der Schlange erschrecken, in der Ilias erst bei ihrer Verwandlung zu Stein.85 Die größte Abweichung liegt jedoch im Wechsel der Perspektive. Im Iliastext berichtet Odysseus im zehnten Kriegsjahr rückblickend vom Prodigium und motiviert die Griechen damit, den Kampf erneut amato!“ – „Daher erhob irgendjemand, der von Narcissus verschmäht worden war, seine Hände zum Himmel und rief: ‚So soll er bitteschön selbst lieben, so soll er nicht erlangen, was er liebt!‘“ 82 Für derartige Erzählstrategien prägte Nesselrath 1992 die Termini „Beinahe-Episode“ und „ungeschehenes Geschehen“, vgl. auch Horstmann 2014, 5f. 83 „Hätte dieser nicht in seiner frühen Jugend ein neuartiges Schicksal zu spüren bekommen, so wäre sein Ruf vielleicht nicht geringer gewesen als der von Hector“; „Und die Rache wäre nicht verschoben worden, wenn nicht wilde Winde das Meer unbefahrbar gemacht hätten.“ 84 Hinzu kommt, dass der Anteil von Erzählerrede im Gegensatz zur Figurenrede im Verlaufe des Werkes kontinuierlich abnimmt. Während in den ersten drei Büchern der Primärerzähler noch 70% Redeanteil innehat, sind es in den letzten drei Büchern nur noch 34% des Textes. Wheeler 1999, 162 vermutet, dass Ovid dadurch gerade am römisch-historischen Werkende zunehmend den Rezipienten dazu auffordert, kritisch die Glaubwürdigkeit der einzelnen Erzählungen und ihrer Tradierung zu beurteilen. Vgl. Horstmann 2014, 10. 85 So erzählt die Geschichte auch Cicero, div. 2,63f.; dass Ovid diese Darstellung gekannt hat, zeigt u.a Conte 1970, 137.
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aufzunehmen; dies ist das Ziel seiner beratenden Rede vor der militärischen Vollversammlung der Griechen. Die Oviddarstellung dagegen spielt auf der primären Erzählebene. Durch die Deckung mit der Darstellung aus Odysseusʼ Figurenrede bis ins wörtliche Detail hinein wird die Handlung des Homertextes über das Verbindungsglied dieser Passage in die Welt der Metamorphosen integriert. Zugleich wird auch die Glaubwürdigkeit des Odysseus in dieser Sache rückblickend oder bei einer Neulektüre auch für den Homertext bestätigt (vgl. zur Figur des Odysseus auch Kapitel 12 und 13). Als letzte Erzählung vor der Famadarstellung wird die Opferung der Iphigenie paraphrasiert. Auch diese Erzählung wird keiner Figur in den Mund gelegt. Sie wird dennoch nicht aus einer allwissenden Perspektive berichtet, denn sie wird mit fertur eingeleitet und in Form eines NcI wiedergegeben, wobei die Perspektive der Griechen eingenommen wird und der Verbleib der verwandelten Iphigenie unerzählt bleibt. Ein Buch später in met. 13,181–195 wird dieselbe Handlung ein weiteres Mal referiert; diesmal in der Figurenrede des Odysseus, der seine eigene nützliche Rolle darin hervorhebt. Indem die erste Erzählung im zwölften Buch durch das fertur und den NcI betont neutral wirkt und Odysseusʼ Teilnahme völlig verschweigt, während die zweite Darstellung in seiner eigenen Figurenrede und Ich-Perspektive ihn als bedeutsamsten Protagonisten darstellt, wird in der späteren Darstellung Odysseusʼ Eigenschaft betont, Tatsachen stets zu seinen Gunsten darzulegen. Obwohl Odysseus als Figur mit der wörtlichen Wiedergabe seines Rededuells mit Ajax um die Waffen des getöteten Achill erst in met. 12,625 direkt eingeführt wird, klingt seine Figur durch die Intertextualität zu Vorgängerwerken bereits hier mehrfach an. Stets wird dabei seine Sicht der Kriegsereignisse denen auf der Erzählerebene anderer Werke gegenübergestellt, was durch unterschiedliche Intertextualitätssignale betont wird. Hierbei decken sich die Darstellungen auffällig exakt; als wirklicher Lügner stellen die Metamorphosen Odysseus niemals dar (vgl. Kap. 12,5). Die Zweifel an der Glaubwürdigkeit epischer Erzählungen, die durch die intertextuellen Bezüge angelegt und mit der Famadarstellung präziser thematisiert werden, nährt der weitere Verlauf des Textes auch außerhalb der Odysseusreden mit verschiedenen Kunstgriffen immer wieder. Beispielsweise wird ein halbes Buch später Nestor selbst erklären, dass er – der wichtigste Berater der Griechen und Kenner unzähliger historischer Begebenheiten – nicht nur aufgrund seines enormen Alters viele Details vergessen habe,86 sondern auch mal absichtlich verschweige, wenn er jemandem aus persönlicher Abneigung seinen Ruhm verwehren möchte. Die zunächst topisch erscheinende Weigerung eines Helden, sein 86 Met. 12,182f.
196 Fama Leid zu schildern,87 verläuft anders, als ein Leser erwarten mag. Denn während z.B. der homerische Odysseus am Phäakenhof und Aeneas in Karthago den Bitten schließlich nachgeben und ganze Bücher mit ihren Erzählungen füllen,88 bleibt Nestor bei seiner Weigerung, Hercules zum eigenen Nachteil zu rühmen bzw. erklärt ausdrücklich, dass er seine Brüder durch das Verschweigen der Herculestaten rächen wolle (met. 12,536–548).89 Dass Nestor nicht gut auf Hercules zu sprechen ist, ist dem Leser u.a. implizit aus Il. 11,690–695 bekannt. Dort erzählt er vom Tod seiner elf Brüder bei Pylosʼ Eroberung durch Hercules und die Epeier. Im Ovidtext führt Nestor diese Schilderung inhaltlich ähnlich und in vergleichbarer Länge, jedoch in pathetischerer Rede und mit weit drastischeren Details aus (12,549–555). Dass hieraus ein traumatischer Hass auf Hercules erwachsen ist, der wiederum Nestor dazu bringt, seine bedeutendsten Gaben – seine Redekunst und seine Autorität als Berater – noch post mortem gegen diesen einzusetzen, ist eine charakter- und handlungsrelevante Konsequenz, die Ovid mit dieser Intertextualität herstellt und die sich auf die Neulektüre jeder Erzählung durch die Figur Nestor auswirkt. Auffällig ist dabei auch, dass das Phänomen der unglaubwürdigen Rede ausgerechnet am Beispiel eines Centaurenkampfes thematisiert wird – dienen diese doch in poetologischen Diskursen als Beispiel für die Darstellung unmöglicher Fiktionen (met. 15,282–284: nisi vatibus omnis / eripienda fides, illic lavere bimembres / vulnera).90 Diese Strategie, ein Thema auch anhand von Elementen auf der Ebene der Handlung darzustellen, wird uns in der Erzählung von Scylla und Glaucus erneut begegnen. Auch hier fungieren ihre ‚unglaubwürdigen‘ oder gar ‚unmöglichen‘ Körper sowie ihre eigene ‚Ungläubigkeit‘ über ihre jeweilige Verwandlung in doppelter Weise; einerseits als Element der Handlung,
87 Met. 12,542–544: Tristis ad haec Pylius: „Quid me meminisse malorum / cogis et obductos annis restringere luctus / inque tuum genitorem odium offensasque fateri?“ – Dazu sagte Pylius traurig: „Was zwingst du mich, mich an schlimme Dinge zu erinnern und mit den Jahren verheilte Trauerwunden wieder aufzureißen und meinen Hass auf deinen Vater und seine feindlichen Taten beim Namen zu nennen?“ 88 Hom. Od. 9,2–12,453; Verg. Aen. 2,3–3,715; vgl. auch Jason am Hof des Lykos in Apoll. Rhod. 2,760–811, der die Handlung der Primärerzählung noch einmal kurz zusammenfasst. 89 Dies kontrastiert seine Erzählerfigur mit Lykos in Apoll. Rhod. 2,774–791 und dem greisen Euander in Verg. Aen. 8,184–275; diese berichten beide, ebenfalls bei einem Gastmahl, rückblickend von ihrer jugendlichen Begegnung mit Hercules und von dessen ruhmreichen Taten, deren Augenzeugen sie waren. Zu Nestors Hass auf Hercules und seiner indirekten Rache durch das Verschweigen seiner Heldentaten vgl. auch Horstmann 2014, 20 mit Fn. 72. 90 „Wenn man den Dichtern nicht alle Glaubwürdigkeit absprechen muss, wuschen dort die Centauren ihre Wunden.“
Fazit 197
andererseits als Veranschaulichung des Themas der Unglaubwürdigkeit von Dichtung (vgl. Ov. am. 3,12 und Kap. 11,6). An anderer Stelle zeigt sich in einem Dialog zwischen den Griechen und Nestor, dass manche Taten nur so lang bedeutsam und ruhmvoll erscheinen, bis man erfährt, dass solche Dinge sich schon öfter zugetragen haben.91 Die griechischen Helden erzählen sich, ausdrücklich zu Zwecken der Unterhaltung und des Zeitvertreibs, Kriegsanekdoten (met. 12,157–165).92 Dabei bewundern sie vor allem Achills jüngsten Sieg über Cycnus. Das tun sie allerdings nur so lang, bis Nestor ihnen eine noch ungewöhnlichere, noch spannendere Geschichte mit ähnlichem Thema verspricht. Von seinem Publikum zum Erzählen gedrängt (met. 12,175– 181), bietet er ihnen die Geschichte über Caenus, die Achills neueste Kriegsanekdote an Unterhaltsamkeit sogar überbietet, indem er zahlreiche skurril-brutale Kampfschilderungen ergänzt – darunter seine eigenen Heldentaten – und zwei erotische Erzählungen einflicht.93 Achills Sieg über Cycnus ist damit vergessen. Ruhm lässt sich also auch im Nachhinein wieder für eine Person mindern, wenn man ihn mit anderen Helden teilen muss.94 Famas Darstellung bildet somit an dieser Stelle den Auftakt zu einem Thema, das im ganzen zwölften Buch und darüber hinaus vorherrschend ist: Tradierung von variierenden Erzählungen, Legenden, Ruhm und insbesondere Heldenruhm in Kriegstaten wird so in verschiedener Weise beleuchtet und hinterfragt.
. Fazit Fama wird über alle Bücher der Metamorphosen hinweg wiederholt in ihren unterschiedlichen Facetten und Funktionen dargestellt und bildet dabei eine einheitliche Figur. Dies verbindet sie etwa mit Figuren wie Sol, Somnus, Invidia, Venus, Cupido, Jupiter oder Ceres, die ebenfalls sowohl als handelnde Figuren als auch als Prinzipien oder Konzepte die Erzählungen durchziehen. Fama ist als handelnde Figur zugleich mit der vergilischen Fama in der Aeneis identifizierbar und erweitert die Werkwelt durch ihre Gleichsetzung um die Werkwelt der Aeneis. In der personifizierten Fama-Allegorie wird die Entstehung, das Wachstum 91 Met. 12,168–172. 92 Die allgemein formulierte Aussage, dass junge Männer sich beim Mahl gerne gegenseitig Geschichten erzählen, findet sich als Überleitung zu einer konkreten Erzählung ähnlich in Apoll. Rhod. 1,457–459. 93 Über Caenis, die in ihrer ursprünglichen Mädchengestalt von Neptun vergewaltigt wird, met. 12,189–203, und über das Centaurenpaar Cyllarus und Hylonome in met. 12,393–428. 94 So deutet den Text Papaioannou 2002.
198 Fama und auch das Fälschen von Ruhmesberichten in geradezu naturwissenschaftlicher Weise erläutert. Gerade in direktem Vergleich mit der Vergildarstellung oder anderen Kriegsfurien fällt die Wertfreiheit auf, mit der die Gerüchteproduktion beschrieben wird. Zudem finden sich, teilweise direkt und teilweise durch Vermittlung des Vergiltextes, motivische und lexikalische Anklänge von Eris, Allecto und Discordia. Die Assoziation mit diesen Figuren, die schon strukturell durch den Platz in der Handlung zu Beginn einer Kriegsschilderung angelegt ist, wirkt sich einerseits auf das Facettenreichtum der Figur aus und hat andererseits Auswirkung auf das Verständnis der Handlungsebene. Denn während diese furiosen, als abscheulich geschilderten Gottheiten in menschliche Kriege eingreifen und Leid verursachen, stellt sich die ovidische Fama gerade vor dieser Folie als eher wertfrei beschrieben dar. Sie ist zwar eine unzuverlässige Botin, handelt dabei aber nicht selbst bösartig. In der vorliegenden Erzählung ist ihr Bericht über die Ankunft der griechischen Flotte sogar richtig, was hier ihre Nähe zu den homerischen Musen und ihre Rolle als homerisches Kleos betont und einen inhaltlichen und atmosphärischen Kontrast bildet. Die Famadarstellung findet sich zu Beginn des Themenkomplexes des trojanischen Krieges. Strukturell mag der Leser hier, nach Vorbild anderer Epen, zu Beginn eines neuen Buches und dem Schauplatzwechsel zu einer neuen Kriegsdarstellung einen Musenanruf erwarten. Die bei Homer genannten Eigenschaften der Musen und des unmöglich wahrhaftigen Dichters finden sich lexikalisch in der Beschreibung von Famas Burg wieder, werden dabei jedoch in einen anderen Zusammenhang gesetzt. Denn statt dass das eherne Herz und die zehn Kehlen und Zungen des Dichters eine besonders wahre Wiedergabe von Fakten garantieren, sorgt das Metall der Famaburg mit den unzähligen Eingängen im Gegenteil für eine besonders unsichere Überlieferung. Die Darstellung einer Figur an dieser Stelle, die den (homerischen, d.h. nicht lügenden)95 Musen in vielen Elementen kontrastiv entgegengesetzt ist, regt den Leser zum Vergleich zwischen der Glaubwürdigkeit einer Überlieferung durch die Musen und einer durch das personifizierte Gerücht an. Als handelnde Person führt Fama hier die gleiche Rolle aus wie die homerischen Musen und ihre Rolle wird dadurch zugleich mit der des homerischen Kleos identifizierbar, das im Musenanruf als niedere Informationsquelle der Menschen genannt wird: Auch Fama gibt Informationen über die Flottenstärke der 95 Im Gegensatz zu den „lügenden“ Musen bei Hesiod, 26–28 – diese sind allerdings auch in der Lage, die Wahrheit zu sagen, wenn sie möchten! Vgl. zur möglichen Plausibilität von Fiktion am Beispiel der hesiodischen Musen auch Stroh 1976, bes. 109.
Fazit 199
Griechen. Ein struktureller Unterschied besteht darin, dass im Homertext nur der Leser der Adressat dieser Information ist, indem der Erzähler den Truppenkatalog wiedergibt. Zu dem Zeitpunkt ist der trojanische Krieg längst entschieden und bereits Legende. Die Fama der Metamorphosen dagegen fungiert selbst als Protagonistin in der Handlung der Trojaerzählung, indem sie die Trojaner warnt und ihnen die Möglichkeit verschafft, sich auf den Angriff vorzubereiten; dass sie dies auch tatsächlich auf ihre Kunde hin getan haben, erklärt Cycnus aus seiner Figurenperspektive der Trojaner gegenüber Achill auf dem Schlachtfeld. Im direkten Vergleich mit dem Konzept der homerischen Musen und auch mit den Darstellungen von Kriegsfurien wird damit einerseits wieder die Glaubwürdigkeit von Epen, andererseits auch die Wirkungsmacht von Informationsflüssen auf Kriegsverläufe thematisiert. Die Passage schließt an zwei kurze Erzählungen aus dem trojanischen Sagenkreis an. Durch die deutliche Ähnlichkeit des Metamorphosentextes zum Iliastext bei einer Perspektivenverschiebung von der Figurenerzählung des Odysseus zum Primärerzähler der Metamorphosen werden beide Werkwelten zunächst gleichgesetzt und bestätigen sich gewissermaßen gegenseitig in ihrer Überlieferung. Doch im selben Buch wird die Glaubwürdigkeit epischer Erzählungen anhand der Figur des Nestor auch mehrfach wieder hinterfragt. Dieses Thema der unzuverlässigen Tradierung wird anhand der Iphigenieerzählung im 13. Buch weitergeführt, indem Odysseus die Erzählung deutlich an seine eigenen Interessen anpassen wird. Der Leser wird insbesondere durch die Famadarstellung und durch Nestors ausdrückliches Betonen seiner Fama-geschuldeten Unzuverlässigkeit darauf vorbereitet, auch diese Erzählungen kritisch auf Variationen zu überprüfen. Die Untersuchung hat gezeigt, dass Sinn und Thema der ovidischen Famadarstellung in den Metamorphosen nicht die Personifikation einer Kriegstreiberin und ihre Rolle für Handlung und Atmosphäre einer Schlachtdarstellung sind, wie es bei Homers Eris, Enniusʼ Discordia, Vergils Fama und Allecto der Fall ist. Stattdessen thematisiert der Text durch seine intertextuelle Kontrastierung mit all diesen Figuren sowie mit den homerischen Musen und ihre Gleichsetzung mit dem dort erwähnten Kleos das Problem der Glaubwürdigkeit von Epen und erzählender Dichtung im Allgemeinen. Die Glaubwürdigkeit von Heldenerzählungen und damit auch die des vorliegenden Textes selbst werden hier dadurch vorbereitend infrage gestellt – ein Thema, das im weiteren Verlauf mehrfach wieder aufgegriffen werden soll.
Odysseus und Ajax . Einleitung So vielfältig verwoben die Themen der Einzelerzählungen über das ganze Werk hindurch auch sind, so lassen sich doch einzelne Hauptthemen1 benennen. Ein Hauptthema des zwölften bis 14. Metamorphosenbuches bilden die Figuren aus dem Trojanischen Sagenkreis und ihre jeweiligen Heimkehrerabenteuer. 2 Während im zwölften Metamorphosenbuch der trojanische Krieg auf der Handlungsebene nur kurz und mit großen Lücken abgehandelt wird, nehmen Rückblenden und Figurenreden längere Passagen ein. Sie beinhalten Schlachtenschilderungen epischer Helden und stimmen in Thema und Atmosphäre mit dem kriegerischen Kontext der Rahmenhandlung überein.3 Erst im Rückblick wird der Ablauf der zehn Jahre Belagerung im Zuge des Rededuells zwischen Ajax und Odysseus geschildert, die in ihrer Rede jeweils Anspruch auf die Erbschaft von Achills Waffen erheben. In diesem sogenannten Iudicium Armorum, welches die erste Hälfte des 13. Buches füllt, werden zahlreiche Details des homerischen Ilias-Textes angeführt. Im Metamorphosentext handelt es sich um zwei parteiische Figurenreden, während der Großteil des Iliastextes vom Primärerzähler erzählt wird. Aus diesem Grund können Abweichungen und Widersprüche auf der Handlungsebene generell dadurch erklärt werden, dass die sterblichen und nicht-allwissenden Figuren Ajax und Odysseus erstens eine beschränkte Perspektive auf die sie umgebende 1 Ludwig 1965; Otis 1970; Schmidt 1991, 92–95 spricht hier von Dominanzthemen, um den Wandel von leiserem und prominenterem Anklingen ein und desselben Themas über den Werkverlauf zu beschreiben. 2 Diese beschreibt unter anderem Ludwig 1965, 65–88. – In verschiedener Form und Struktur ausgeführt sind die Irrfahrten der Helden Aeneas, Odysseus und Diomedes: Auf der Ebene der Primärhandlung vollzieht sich die Reise der Aeneaden. In Figurenreden werden die Irrfahrten des Odysseus in der dritten Person sowie die des Diomedes in der ersten Person referiert. Janka 2010, 126: „[D]ie privilegierte Stellung des Architextes Ilias und ihrer Heroen in den Metamorphosen verweist auf ein durchgängiges Streben dieses Dichters, sich die gesamte Tradition von den Wurzeln her anzuverwandeln und, viel radikaler noch als Vergil in seiner Aeneis, in einer „Nachkriegszeit“, in der er lebte, die ästhetischen Spielräume des Epischen insgesamt auszureizen. Unter ständiger mehr oder minder latenter Gegenwart des Überkommenen schafft er eine völlig neue und eigene, in vieler Hinsicht inkommensurable Form mythologischen Dichtens“. 3 Vgl. zu Ersatzelementen in neuer Funktion als Intertextualität in Ovids Metamorphosen auch Ludwig 1965, 63; Smith 1990, 88f.; Döpp 1991, 337; Tsitsiou-Chelidoni 1999, 284; 286; Hopkinson 2000, 10 über die Passage von met. 12,1 bis 13,622: „Ovids equivalent of the Homeric poems. He avoids direct comparision.“ https://doi.org/10.1515/9783110785005-012
Einleitung 201
Welt haben. Zweitens kann die Erinnerung getrübt sein und die Erzählerzuverlässigkeit darunter leiden, wie im Werkverlauf, insbesondere in direkt vorangegangenen Passagen, einige Male thematisiert worden ist (vgl. Kap. 4.3). Drittens können die Figuren in ihren Reden auch ganz bewusst die Tatsachen verdrehen bzw. an ihre rhetorischen Ziele anpassen – dieses Thema klang in der Fama-Episode das erste Mal und in Nestors Diskussion mit dem Herculessohn Tlepolemus das zweite Mal prominent an (vgl. Kap. 11.6). So kommt es durch den Kontext des Rededuells zur retrospektiven Schilderung der einzelnen Handlungen der Ilias „in einer doppelten und zwar gegensätzlichen, subjektiven Spiegelung, gesehen von zwei Augenzeugen, den beiden Helden Ajas und Odysseus.“4 Als Figuren der Metamorphosenwelt sind Odysseus und Ajax im vorherigen Werkverlauf jeweils nur einmal und nur indirekt erwähnt worden: Odysseusʼ Vater Laertes wird als Jagdteilnehmer gegen den calydonischen Eber als zukünftiger Schwiegervater der Penelope bezeichnet (met. 8,315). Ajaxʼ Vater Telamon dagegen wird in der Erzählung dieser Jagd zwar als aktiv handelnde Figur genannt (met. 8,309; 378), aber anders als Laertes und Peleus (met. 8,309: magni [...] creator Achillis)5 nicht proleptisch mit dem späteren Heldensohn vor Troja in Verbindung gebracht.6 Stattdessen wird Ajaxʼ Tod und die damit verbundene Verwandlung in met. 10,208 in Apolls Prophezeiung an den sterbenden Hyacinthus angedeutet, indem auf einen zukünftigen fortissimus heros vorausverwiesen wird.7 Dieser Erzählfaden wird im Anschluss an das Rededuell und den Selbstmord des rhetorisch unterlegenen Ajax in met. 13,394–398 wieder aufgenommen
4 Ludwig 1965, 65. 5 „Der Erzeuger des großes Achilles“. 6 Ajax selbst, der Primärerzähler und auch Odysseus werden den Helden dagegen mehrfach unter seinem Patronym oder in anderen Umschreibungen mit Telemon rückverbinden und auch Ajax selbst wird Telemon und dessen Taten als die seines Vaters nennen, z.B. met. 13,21f.: ego [...], Telamone creatus – „ich, Sohn des Telamon“; 223: Finierat Telamone satus – „Beendet hatte seine Rede der Spross des Telamon““; 194, 266 und 321: Telamonius; 231: Telamoniades; met. 12,624 und 13,346: Telamone creatus – „Sohn des Telamon“. 7 Met. 10,205–208: te lyra pulsa manu, te carmina nostra sonabunt, / flosque novus scripto gemitus imitabere nostros. / tempus et illud erit, quo se fortissimus heros / addat in hunc florem folioque legatur eodem – „Dich wird die Lyra besingen, gespielt von meiner Hand, über dich werden meine Lieder erklingen, und du, neue Blume, wirst mit deinem Schriftzeichen unsere Seufzer erkennen lassen. Es wird eine Zeit kommen, da sich der tapferste Held ebenfalls in diese Blume verwandelt und sein Name auf demselben Blatt zu lesen sein wird“. Schade 2001, 527 übersieht die sorgfältige Vorbereitung der Parallelgestaltung und tut die Wiederholung als ein nachlässiges Zufallsprodukt einer chaotischen Dichtungsweise ab: „Zu allem Überdruß ist die Geschichte bereits schon einmal im zehnten Buch der Metamorphosen untergebracht [...]. Bei einer solchen tour de force wie Ovid’s Metamorphosen nicht weiter verwunderlich [...].“
202 Odysseus und Ajax und zu seinem Ende geführt. Ajaxʼ Erwähnung im zehnten Buch dient damit einerseits dazu, durch die Prolepse und spätere Analepse die Einheit der Erzählung durch die fortlaufende Zeit dazustellen; andererseits dazu, Vielheit und Facettenvielfalt zu schildern, indem im Gegenstand derselben Blume die konträren8 Eigenschaften eines unschuldigen apollinischen Jünglings und eines rasenden Kriegshelden aufgehoben werden. Odysseusʼ Figur wird im 13. und 14. Buch in den Figurenreden des Macareus und Achaemenides weiter eine prominente Rolle spielen. Der Primärerzähler erwähnt seinen Namen außerdem in einer Ortsangabe (met. 13,712f: regnum fallacis Ulixis / praeter erant vecti)9 und zur Exemplifizierung von Scyllas wütendem Charakter (met. 14,71: In Circes odium sociis spoliavit Ulixen).10 In der Episode um Galatea und Polyphem wird sein Name in einer eingelegten prophetischen Figurenrede des Sehers Telemus genannt (met. 13,326). Zuletzt führt Vertumnus in seiner werbenden Rede an Pomona im erotischen Kontext in einer Reihe verschiedener Exempel auch Odysseusʼ Namen auf (met. 14,671). Beide Figuren spielen also bis zum Ende des zwölften Buches der Metamorphosen auf der Handlungsebene keine Rolle und erhalten dann plötzlich jeweils mehrere hundert Verse Redezeit über die eigenen Heldentaten. Gerade der Umstand, dass jede Erwähnung dieser iliadischen Haupthelden ausgerechnet in dem Buch fehlt, das als Rahmenerzählung den Krieg um Troja behandelt, scheint auffällig. In ihrer ersten Nennung wird das vorherige Fehlen der Helden auch strukturell betont: Sie schließen kontrastiv einen Katalog von Helden, die keinen Anspruch auf Achills Waffen erheben (met. 12,622–625), als die zwei Helden ab, die diese Forderung schließlich doch wagen (met. 12,624f.): solis Telamone creatis / Laertaque fuit tantae fiducia laudis.11 Auch die auffällige Platzierung der Episode über eine Buchgrenze hinaus hebt die Bedeutung der Episode und ihrer überzeitlich bedeutsamen Thematik für das Werkganze hervor.12 Um die Darstellung der Figuren Ajax und Odysseus auf ihre Funktion für die Einheit und Vielfalt der Werkwelt zu untersuchen, soll daher zunächst betrachtet werden, ob sie im zwölften Buch mit der Iliasthematik auch ohne namentliche Nennung bereits eine versteckte Funktion für die Schilderung von Einheit und Vielheit der 8 So ist auch die erwähnte Abneigung der griechischen Kämpfer vor Troja gegen das Lyraspiel in met. 12, 157f. eine vorbereitende Wiederaufnahme dieses Themas um den apollinischen Geliebten. 9 „Sie waren am Königreich des lügnerischen Odysseus vorbeigefahren.“ 10 „Aus Hass auf Circe raubte sie Odysseus seine Gefährten.“ 11 „Allein die Söhne des Telamon und des Laertes hatten das Selbstvertrauen, so großen Ruhm zu suchen.“ 12 Vgl. Hopkinson 2000, 6f.
Unerwähnt und doch präsent – Ajax und Odysseus in met. 12 203
Werkwelt erfüllen und inwiefern dabei intertextuelle Strukturen zum Tragen kommen. Erst im Anschluss wird das Iudicium Armorum selbst auf diese Fragen hin untersucht. Wenngleich die Behandlung des trojanischen Krieges durch den Iliasdichter Homer‚ den „‚Urdichter‘ auch für die Römer“, für Ovids Dichtung und sein Publikum als bekannt vorausgesetzt werden kann,13 so ist die Ilias nach siebenhundert Jahren literarischer Tradition natürlich nicht das einzige Werk zu diesem Thema, dessen Stoff Ovid hier neu inszeniert hat. Einleitend alle Autoren und Werke in griechischer und lateinischer Sprache zu benennen, die sich mit Homers Werken und einer Neubehandlung des Themas beschäftigt haben, würde daher zu weit führen. Stattdessen soll vom Metamorphosentext ausgehend fallweise geprüft werden, auf welche Vorgängertexte konkret in welcher Weise und Funktion Bezug genommen wird.
. Unerwähnt und doch präsent – Ajax und Odysseus in met. 12 Auf die Landung der griechischen Schiffe vor Troja und die Fama-Episode (vgl. Kap. 11) folgt als einzige Schlachtschilderung des trojanischen Krieges aus der Instanz des Primärerzählers die Darstellung des Kampfes zwischen Achill und Cycnus. Im Zuge eines Gelages am Abend danach berichtet Nestor sehr ausführlich von der Schlacht zwischen den Lapithen und den Centauren, an der er selbst als junger Mann teilgenommen hat. Diese Begebenheit erwähnt Nestor auch kurz in Hom. Il. 1,268–272, um die kämpferische Überlegenheit der Vorgängergenerationen zu illustrieren. In einer leichten Veränderung dieser Funktion dient die Erzählung im Metamorphosentext der Figur Nestor dazu, den zuhörenden Soldaten seine eigene kämpferische Überlegenheit zu seinen Jugendzeiten zu veranschaulichen.14 Da Nestor in beiden Werken zu unterschiedlichen Zeiten spricht, liegt in den abweichenden Narrationen kein Widerspruch auf der
13 Polleichtner 2009, 153, mit Bezug auf Hezle 1989, 72 und McKeown 1989, 395. Vgl. auch Bömer 1982, 214. 14 Met. 12,445–448: tunc ego debueram capienda ad Pergama mitti; / tum poteram magni, si non superare, morari / Hectoris arma meis! illo sed tempore nullus, / aut puer, Hector erat, nunc me mea deficit aetas. – „Damals hätte man mich zur Eroberung nach Troja schicken sollen, damals hätte ich Hectors Waffen mit meinen zwar nicht besiegen, aber doch zumindest für eine Weile aufhalten können! Allerdings gab es zu dieser Zeit noch gar keinen Hector beziehungsweise er war noch ein Kind, und jetzt schwächt mich mein Alter.“
204 Odysseus und Ajax Handlungsebene vor; er kann ja dieselbe Begebenheit nach zehn Jahren noch ein zweites Mal in unterschiedlicher Weise erzählt haben. Im Metamorphosentext wird Nestors Centaurenerzählung durch den Hinweis des Primärerzählers eingeleitet, dass Nestor und seine Zuhörer keine Freude an citharae, carmina vocum oder der tibia empfinden (met. 12,157f.), sondern nur an Kampferzählungen (met. 12,159–163).15 Diese Ankündigung bestätigt sich in der folgenden Erzählung des Veteranen, der zudem mehrmals geradezu als miles gloriosus16 in Erscheinung tritt. Insbesondere an Nestors Schilderungen seiner eigenen Heldentaten, die mit lässigen Sprüchen begleitet (met. 12,383f.) und besonders grotesk und blutig gestaltet sind, zeigt sich deutlich, dass hier nicht ein unbeteiligter Erzähler spricht, sondern dass der Erzählstil an den internen Erzähler selbst, also an den alten Krieger Nestor in dieser bestimmten Erzählsituation vor seiner speziellen Zielgruppe, angepasst ist: Dass den Centauren, dem Nestor kurz zuvor mit einem Speerwurf die Hand an die Stirn genagelt hatte, nicht er selbst, sondern Peleus töten konnte, erklärt er durch den schnell eingeschobenen Hinweis, dass dieser dem verwundeten Feind eben zufällig näher gestanden habe (met. 12,389 stabat enim propior). Für seine Heldentaten führt er einmal den Vater eines anwesenden jungen Soldaten als Zeugen an (met. 12,440) – ein rhetorisch geschickter Schachzug, denn wer würde die Glaubwürdigkeit eines berühmten Helden anzweifeln, dessen Sohn noch dazu bewaffnet anwesend ist und einen Zweifel an der Glaubwürdigkeit seines Vaters als persönlichen Angriff verstehen könnte! Einmal fordert Nestor seine Zuhörer sogar auf, sich eine Narbe anzusehen, die er sich in diesem Kampf zugezogen hat (met. 12,443f.). So wird der Leser immer wieder daran erinnert, wer gerade die Erzählerrolle einnimmt. Nestor stellt Aristien, Kettenkämpfe und „homerisches Verfehlen“17 noch blutiger und detaillierter dar als der Erzähler in der Ilias oder Aeneis. Mit 24 menschlichen Kämpfern und 56 Centauren hat Ovid hier die „größte, blutigste und grausamste Centaurenschlacht ‚aller Zeiten‘“ geschaffen.18 Bei einer Zählung
15 Dies ist ein Rückverweis zur Erzählung von Apolls Prophezeiung angesichts seines sterbenden Geliebten Hyacinthus, vgl. Fn. 721. 16 „Prahlerischer Soldat“. 17 A will B angreifen, der weicht aus, so dass stattdessen C getroffen wird. Nun will D den Tod von C rächen und greift A an, verfehlt ihn aber und tötet versehentlich E etc. Vgl. Latacz 1979, 43f. mit Verweis auf: Fenik 1968. Kettenkämpfe finden sich auch in Apolloniosʼ Argonautika, z.B. 2,98–117. Den Kettenkampf beschreibt auch Holzberg 2007, 55, wiederholt dabei allerdings nur Lataczʼ Ausführungen. Vgl. auch met. 5,89–96. 18 Diese Zahl an Kämpfern nennt Bömer, Franz: Metamorphosen. Kommentar, Bd. 6, 1982, 78f., und erläutert die große Zahl dadurch, dass Ovid sich „des zu seiner Zeit durchaus üblichen Mittels“ bedient, „bekannte Kataloge durch Namen aus anderen Katalogen oder frei erfundene
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von Gewaltdarstellungen pro Verszahl zeigt sich zudem, dass die Dichte an detailliert geschilderten individuellen Todesszenen in Ovids Darstellung des Centaurenkampfes mehr als zehnmal so hoch ist wie in der Freiermordszene der Odyssee19 und mehr als viermal so hoch wie in Vergils Kampfdarstellungen:
Abb. 1: Ov. met. 12,226–448.
Abb. 2: Verg. Aen. 10,308–605.
Abb. 3: Hom. Od. 22,1–389. Legende zu Abb. 1–3: Gewaltdarstellungen pro Verszahl in Kampfschilderungen bei Homer, Vergil und Ovid. Weiß: Keine Tötung oder Verwundung Hellrot: Tötung oder Verwundung ohne sichtbares oder hörbares Blut / Hirn / Erbrochenes / Knochen oder unkontrollierte Körperzuckungen oder feststeckende Waffe Dunkelrot: Tötung oder Verwundung mit sichtbarem oder hörbarem Blut / Hirn / Erbrochenem / Knochen oder unkontrollierten Körperzuckungen oder feststeckender Waffe Grün: Abwendung vom Kampfgeschehen: Gleichnis, Götterreaktion außerhalb der Kampfhandlung, größerer Exkurs
Namen nahezu nach Belieben zu ergänzen, ohne dabei bestimmte Regeln zu beachten“, wobei es zu Ovids Eigenart gehöre, unter anderem typische Sklavennamen seiner Zeit zu verwenden. 19 In die Statistik zum Freiermord wurde auch die erste Folter des Melantheus aufgenommen.
206 Odysseus und Ajax Ovids Erzählstil im zwölften Buch wurde aus diesem Grund bisweilen in der Forschung in abwertender Weise beurteilt20 oder es bereitete zumindest Schwierigkeiten, ihn mit dem Charakter anderer ovidischer Texte zu vereinbaren.21 Möglicherweise lenkt die Übertreibung grotesker Gewaltdarstellungen den Blick des Lesers vom Inhalt fort zu einer genaueren Betrachtung der Darstellungsart und lädt so zu ihrer Reflexion ein.22 Auch hörbare Phänomene werden übertrieben, was einerseits den Ekel der Kampfszene steigert und andererseits ihre Glaubwürdigkeit relativiert.23 Einzelne Motive aus epischen Kämpfen übertreibt oder verändert Ovid mit komischer Wirkung, andere allerdings mit verstärkt tragischer 20 Fränkel 1945, 101: „His genius was slackening [...]. The decline has begun“; 221 erklärt Fränkel den Umstand, dass die letzten vier Bücher seinem Urteil nach schlechter geschrieben seien als die ersten elf, daraus, dass Ovid sich in mit seinem Hinweis auf die Unvollendetheit der Metamorphosen in Trist. 1,7,22 (vgl. Anm. 11) auf diese Bücher beziehe und nicht mehr dazu gekommen sei, sie zu verbessern. – Bömer 1982, 78: „Was den Katalog der Teilnehmer am Kampf und die Einzelheiten der Kampfschilderungen angeht, so macht der Dichter, im Rahmen des ‚historisch‘ Gegebenen, von der größten Freiheit Gebrauch, und dabei zeigen sich in besonders deutlicher Weise nicht nur die Charakteristika, sondern auch die Grenzen seiner Kunst.“ 21 Vgl. Fränkel 1945, 102: „The narrative sound is more like Lucan than Ovid. [...] That Ovid [...] should have catered to that lurid curiosity for novel kinds of agony, cannot be explained unless we suppose that at present he was willing to buy at any price variety of manner and heroic grimness of subject matter. – von Albrecht 1968, 410, empfindet sichtlich Unbehagen, die „hochepischen Hohnreden oder bittere Ironie des Schicksals“ in Ovids ‚Humor‘ einzuordnen, und spricht 434 von einem „heroischen Tenor“. 22 Hopkins 1988, 178 weist darauf hin, wie sich hier verschiedene Stimmungen und Eindrücke derselben Handlung übereinanderlagern und gleichzeitig Grauen und Komik im Leser hervorrufen. Bömer 1982, 89 erklärt die Grausamkeit des Katalogs „oft geradezu genüßlich und präzise dargestellter Todesarten, Verwundungen und Brutalitäten“ durch den Geschmack der augusteischen Zeit und verweist darauf, dass es bereits bei Vergil „grausige Kampfszenen [...], wenn auch nicht in ovidischen Dimensionen, in nicht geringer Zahl“ gebe. Anders z.B. Latacz 1979, 45: „Was Ovid durch solche ekelhaften Abstrusitäten erreichen will, ist doch wohl eine gründliche Verunsicherung des Lesers in seiner gewohnten Haltung gegenüber dem Heldenepos. Ovid zeigt durch übertreibende Verlängerung epischer Modelle, wie inhuman im Grunde die Kampfwelt des Heldenepos ist. Die Parodie wirkt – man soll nicht sagen: entlarvend (das hätte Ovid selbst nicht gewollt, glaube ich), aber: desillusionierend.“ Allerdings ist nicht erkennbar, warum genau ein antiker Leser sich in dieser langen Schlachtszene aufgefordert gefühlt haben soll, seine Vorliebe für blutige Darstellungen zu überdenken und „die große Welt des Heldenhaften gegen die kleine Welt des unheldisch Privaten“ zu setzen, wie Latacz 1979, 46 behauptet. 23 Ähnliche Beispiele werden bei Ovid auch an anderen Stellen angeführt: met. 5,103–106 lallt die Zunge eines abgeschlagenen Hauptes noch letzte Flüche; met. 5,114–118 greift ein tödlich getroffener Leierspieler im Fall in seine Leier und bringt zufällig ein Klagelied zustande. Diese distanzierende Funktion unwahrscheinlicher hörbarer Phänomene in epischen oder tragischen Todesszenen führt Fuhrmann 1968, 37 an.
Unerwähnt und doch präsent – Ajax und Odysseus in met. 12 207
Wirkung.24 Nach Ende der Figurenrede folgt eine kurze Diskussion der Zuhörer über Nestors Zuverlässigkeit als Erzähler. Hierbei gibt Nestor offen zu, dass er die Taten des verhassten Hercules absichtlich verschweigt, um seinen Ruhm zu mindern (vgl. Kap. 11.6). Es folgt ein Zeitsprung von beinahe zehn Jahren (met. 12,580–585), in die der gesamte trojanische Krieg inklusive dem Tod Hektors fällt, und der Primärerzähler berichtet als nächstes das Ende des Achill. Die lange Erzählung des Lapithen- und Centaurenkampfes steht damit stellvertretend für eine Schilderung des trojanischen Krieges, die eigentlich an dieser Stelle zu erwarten gewesen wäre.25 Auf diese Weise werden im Kontext der Ilias Elemente einer erwarteten Atmosphäre an erwarteter Stelle aus einem erwarteten Vorgängerwerk in unerwarteter Auswahl und Kontext erzählt. Sie dient zudem der Charakterisierung des uralten Nestor, der so umständlich eine andere, von seinen Zuhörern geforderte Geschichte vorbereitet und hinauszögert. Die Geschichte ist also zunächst ein „eher zufälliges Nebenprodukt der etwas vergeßlichen Redseligkeit“.26 Die Figur des Nestor ist als Erzähler der gleichen biographischen Begebenheit aus dem Iliastext bekannt und dient so als Verbindungselement der Integration der iliadischen Werkwelt in die des Metamorphosentextes. Die Erzählsituation im zwölften Metamorphosenbuch lässt eine weitere eingelegte Erzählung aus der Ilias anklingen: Unter Nestors Zuhörern wird besonders Achill27 hervorgehoben, der zu diesem Zeitpunkt noch aktiv am Schlachtgeschehen teilnimmt und mit seinem Kampf gegen Cycnus den Anlass der
24 Von einer durchgängigen komischen Parodie kann jedoch nicht gesprochen werden. Vgl. Bömer 1982 zur Stelle; Otis 1966, 283: „[These examples] are all typically Ovidian additions to the cliché killings of his epic predecessors. There are amusing bits, but there ist no consistent parody. “ Vier Jahre später äußert sich Otis 1970, 142 jedoch anders in seiner Rezension zu Bernbeck: „The burlesque of epic in the Perseus, Meleager and Centaurs-Lapiths narratives seems to me clear.“ Vgl. auch Latacz 1979, 154f. 25 Ludwig 1965, 63: „Indem sich Ovid auf den Stoff der Kyprien beschränkt, spart er die Ilias gewissermaßen aus und tritt durch die Darstellung von parallelen Aktionen doch auch wieder in Wettstreit mit seinem großen Vorbild.“ 63f.: „Zwischen Kyprien und Aithiopis, zwischen dem ersten Sieg und dem Tod des Achill, ist die Ilias von Ovid übergangen worden [...], weil Ovid nicht mit einer direkten Darstellung von Achills Zorn und Hectors Tod durch Homer konkurrieren wollten.“ Vgl. auch Hopkinson 2000, 10, der die Schilderung von der Tötung des unverwundbaren Caenus als Äquivalent zur unerzählten Tötung Hectors deutet. 26 Latacz 1979, 39. 27 Die Umschreibung des zuhörenden Achill als Aeacides (met. 12,168) kann auch Ajax als Anwesenden in Erinnerung rufen, da er ebenfalls ein Enkel des Aiacos ist; da das Patronym aber ansonsten nur für Peleus und Achill verwendet wird, ist eine solche Assoziation allerdings unwahrscheinlich.
208 Odysseus und Ajax Erzählung bildet. Als Zuhörer einer altehrwürdigen Autorität ist Achill auch aus Hom. Il. 9,527–599 bekannt, wo der greise Phoenix ihm die Geschichte von Meleagers Jähzorn erzählt.28 Der Rahmen der eingelegten Erzählung ist parallel gestaltet. In beiden Texten verzehren die redenden und lauschenden Helden gemeinsam Fleisch und Wein (Il. 9,201–224; met. 12,156). Einleitend wird im Iliastext Achills Lyraspiel und seine Freude an den schönen Künsten erwähnt (Il. 9,185– 190). Erst, als die Gesandtschaft mit Odysseus, Ajax und Phoenix eintrifft, legt er das Instrument fort und stellt sich so auf das ‚unmusische‘ Gespräch mit den Kameraden ein. Der Hintergrund des Iliastextes lässt, wenn man die Figuren beider Texte gleichsetzt, die kontrastierende einleitende Formulierung des Metamorphosentextes über die Abneigung der Soldaten gegen Gesang und Lyraspiel in einem anderen Licht erscheinen, als es ohne diesen intertextuellen Hintergrund der Fall wäre (met. 12,157–163): Achill und die anderen griechischen Soldaten lehnen die schöne Musik demnach nicht grundsätzlich ab, sondern nur in Gesellschaft anderer Kameraden (met. 12,162f.): quid enim loqueretur Achilles, / aut quid apud magnum potius loquerentur Achillem?29 Dies bildet eine weitere Facette des wiederkehrenden Themas, dass Erzählungen stets an die Situation, den Redner und das Publikum anzupassen sind (vgl. Kap. 4.3 und Kap. 11.6) und dass selbst ein- und dieselbe Figur – je nach ihrem Gegenüber – verschiedene Rollen einnimmt.30 Sowohl Phoenix als auch Meleager waren, wie der Leser aus dem achten Metamorphosenbuch weiß, Nestors gemeinsame Kampfkameraden bei der calydonischen Eberjagd (met. 8,307). Eine Querverbindung von Nestors 28 Vgl. auch Hopkinson 2000, 11. 29 „Was hätte Achill nämlich sonst erzählen können oder was hätten sie sonst erzählen können in Gesellschaft des großen Achill?“ 30 Hor. Ars 119–122 fordert für die angemessene Darstellung eines Achill: Aut famam sequere aut sibi convenientia finge / scriptor. Honoratum si forte reponis Achillem, / impiger, iracundus, inexorabilis, acer iura neget sibi nata, nihil non arroget armis – „Folge als Dichter entweder der traditionellen Überlieferung oder erfinde etwas neu, was in sich kohärent ist. Wenn du etwa den vielgeehrten Achill neu auf die Bühne bringst, soll er rastlos, jähzornig, unerbittlich und energisch jede Regel für sich ablehnen und alles mit Gewalt beanspruchen“. Horstmann 2014, 102 zufolge „greift sich der Erzähler hier [...] in reduktionistischer Weise die bekanntesten Attribute Achills heraus – Krieger, Triumphe, Mut – und leitet aus diesen Stereotypen ein vermeintlich allseits bekanntes ‚Faktum‘ über die favorisierten Gesprächsthemen des mythischen Helden ab“, was den Sachverhalt und darüber den Erzähler schließlich als unglaubwürdig kennzeichne. Auf der Ebene allein des Metamorphosentextes mag dies richtig sein, doch das Mitlesen des Iliastextes führt zum gegenteiligen Ergebnis, dass Achill so wie jede andere Figur viele Facetten habe – schließlich singt er auch gern zu einer im Krieg erbeuteten Lyra – und nur die Konstellation der Figuren führt dazu, dass hier nur Kriegsthemen angemessen scheinen.
Unerwähnt und doch präsent – Ajax und Odysseus in met. 12 209
Centaurenerzählung zu Phoenixʼ Figur auf der Handlungsebene liegt in der Erwähnung von dessen Vater Amyntor in met. 12,364 als ehemaligem Herrn eines der Kämpfer. Verbunden sind die beiden Erzählungen – Nestors Centaurenerzählung in met. 12 und Phoenixʼ Ebererzählung in Il. 9 – also auch dadurch, dass zwei greise Ich-Erzähler von Abenteuern einander bekannter Figuren aus derselben Heldengeneration berichten. Ein charakterlicher Unterschied der redenden Figuren liegt allerdings darin, dass Nestor seine eigenen Heldentaten innerhalb der Geschichte mehrfach rühmt und die seines verhassten einstigen Kameraden Hercules absichtlich unter den Tisch fallen lässt.31 Phoenix dagegen erwähnt nicht einmal, dass er selbst dabei war. Bei Kenntnis des Metamorphosentextes fällt daher bei einer Neulektüre von Il. 9,527f. die Bescheidenheit des Phoenix auf, der seinen eigenen Ruhm unerwähnt lässt – vor dieser Folie wirkt Nestors eigennützig eingesetzte Rhetorik in beiden Werken umso unglaubwürdiger. Parallel ist auch die Konstellation von Erzähler und Zuhörerschaft, indem ein alter Veteran dem Zuhörer Achill vor Trojas Mauern von Abenteuern aus seiner eigenen Jugend berichtet. Im Iliastext gehören zum kleinen Kreis der Zuhörer auch Odysseus und Ajax. Beide halten bei dieser Gelegenheit selbst lange Reden vor Achill mit dem gemeinsamen Ziel, ihn zur Rückkehr ins Kriegsgeschehen zu überreden. Dabei gestalten Odysseus und Ajax ihre Reden sehr unterschiedlich und werden von Achill entsprechend verschieden beurteilt. Die ausgefeilte Rede des Odysseus verstärkt Achills Zorn nur noch mehr. Er hasse es, wenn jemand das eine denke und das andere rede (Il. 9,312f.: ἐχθρὸς γάρ μοι κεῖνος ὁμῶς Ἀίδαο πύλῃσιν / ὅς χ' ἕτερον μὲν κεύθῃ ἐνὶ φρεσίν, ἄλλο δὲ εἴπῃ).32 Dagegen will er Ajaxʼ direkten, schroffen Worten zwar nicht zustimmen, aber er reagiert deutlich freundlicher und wertschätzender auf die Worte des ehrlichen Kriegers. 33 Im Laufe des Kapitels konnten zwei Funktionen beschrieben werden, welche die Figuren Ajax und Odysseus im zwölften Metamorphosenbuch bereits ohne eigene namentliche Nennung einnehmen. Nestors Erzählung von den Centauren ruft erstens durch intertextuelle Mittel Phoenixʼ Erzählung, das damit verbundene Rededuell zwischen Odysseus und Ajax sowie Achills Reaktion als Zuhörer der beiden Redner in Erinnerung. Wenn man die drei Figuren aus der so erinnerten Iliaserzählung mit denjenigen der Metamorphosen charakterlich gleichsetzt,
31 Met. 12,542–576; vgl. Kap. 11.6. 32 „Denn der Mann ist mir so verhasst wie die Pforten des Hades, der das eine birgt im Sinn und das andere ausspricht.“ 33 Hom. Il. 9,644f.: Αἶαν διογενὲς Τελαμώνιε κοίρανε λαῶν / πάντά τί μοι κατὰ θυμὸν ἐείσαο μυθήσασθαι – „Ajax, göttlicher Telamonsohn, Gebieter der Krieger, alles scheinst du mir aus der Seele gesprochen zu haben.“
210 Odysseus und Ajax hat das bei der anschließenden Lektüre des Iudicium Armorum weitreichende Folgen: Hätten nicht vulgus und duces, sondern der einstige Waffenbesitzer Achill selbst über sein Erbe entscheiden dürfen,34 so wäre das Iudicium vermutlich anders ausgegangen. Zweitens bereitet die Passage allgemein einen reflektierten Blick des Lesers auf Redner, Zuhörer und den Wahrheitsgehalt von Reden über Taten – und vor allen Dingen Reden über die eigenen Taten und die ihrer Gegner – vor. Nestor gelingt es durch seine wortreiche und aufgefeilte Rede, sich selbst als einflussreichen Helden, Hercules aber als völlig unbedeutend in der Centaurenschlacht zu inszenieren. Der gleiche Zug gelingt nur wenige Zeilen bzw. zehn Jahre später dem Redner Odysseus dem Krieger Ajax gegenüber, was die beiden Passagen parallelisiert. Das Thema des zwölften Buches ist somit erst in Verbindung mit dem Iudicium Armorum und den Figuren Ajax und Odysseus abgeschlossen, wobei beide Passagen aufeinander verweisen. Somit beleuchten alle drei Episoden – die zwei werkkohärenten Figurenreden im zwölften und 13. Buch und die intertextuell mit beiden verbundene Phoenixrede in der Ilias – in ihrer Verbindung ein und denselben Gedanken von der Macht der verba über die facta: Taten überlegener Kämpfer führen zu nichts, wenn ein rhetorisch geschickterer Redner sie hinterher der Nachwelt absichtlich verzerrt überliefert, oder kurz gesagt: Wer handelt, der handelt. Wer darüber redet, der lügt.
. Das Iudicium Armorum Im Folgenden soll das Rededuell zwischen Ajax und Odysseus im 13. Metamorphosenbuch daraufhin untersucht werden, wie die Figuren die Ereignisse der Ilias aus ihrer rückblickenden Figurensicht wahrnehmen, bewerten und im Kreise der Griechen schildern, um ihren maßgeblichen Anteil am Sieg herauszustellen und somit den höheren Anspruch auf Achills Waffen dem anderen gegenüber zu behaupten. Dabei wird erstens geprüft, inwiefern das Wiedererkennen und Assoziieren von Details des Vorgängertextes die Welt der Metamorphosen über den vorliegenden Text hinaus erweitert, d.h.: in seine Einheit integriert, und
34 Hopkinson 2000, 14 und 17 dagegen meint, dass im Metamorphosentext nur die duces entscheidungsberechtigt seien und deswegen Odysseus gewinne, der sie in seiner Rede direkt adressiert. met. 13,382 stellt eine offene Abstimmung dar, während andere Versionen geheime Abstimmungen schildern.
Das Iudicium Armorum 211
zweitens, wie intertextuelle Mittel dazu eingesetzt werden, über die Erzählung hinaus weitere Vielfalt anklingen zu lassen. Die Strategie, bekannte Geschichten aus Sicht einer beteiligten Figur nachzuerzählen, ist dem Leser bereits aus zahlreichen Beispielen bekannt (vgl. Kap. 4.3). Ein Unterschied zu vorherigen Reden besteht nun darin, dass hier gleich zwei Reden über dieselben Ereignisse in Konkurrenz treten – diese Besonderheit wurde bereits durch Nestors Rede und die kritische Nachfrage seines Zuhörers Tlepolemus, der die Geschichte anders kannte, vorbereitet und tritt nun als dominanteres Thema erneut auf. Doch so vertraut und geradezu ‚typisch‘ sich das rückblickende Rededuell aus dem Munde zweier bekannter Helden in das Gesamtwerk auch fügt, so ist das Iudicium Armorum doch keineswegs Ovids eigene Erfindung. Das Rededuell der beiden griechischen Helden war dem Dichter und seinen Lesern aus den griechischen Tragikern, den philosophischen Reden des Gorgiasschülers Antisthenes und den Werken weiterer griechischer Dichter wie z.B. Pindar bekannt.35 Belege für Darstellungen dieses Rededuells finden sich außerdem in den Fragmenten früher lateinischer Dichter wie Ennius. 36 Pacuvius und Accius.37 Aus den Werken des Rhetors Latro, der auch ein Iudicium Armorum verfasst hat, übertrug Ovid, wie Seneca d.Ä. berichtet, als sein Bewunderer „vieles in seine Verse“ (Sen. contr. 2,2,8) und hat vermutlich auch seine Ausarbeitung des Iudicium Armorum gekannt. Abseits der Literaturproduktion wurden auch in Rhetorikschulen die Argumente beider Seiten im Zuge von Übungsreden als bekannter commonplace behandelt38 und waren Ovids gebildetem Publikum nicht nur aus der Rezeption, sondern aus den eigenen aktiv bearbeiteten Übungsaufgaben bekannt. Die Aufgabe für den Dichter und der Reiz für die Leserschaft bestand daher nicht (nur) im Auffinden neuer Argumente, sondern vor allem in der Inszenierung, Variation und Ausschmückung bekannter Argumente,39 wobei ihm auch der Einsatz intertextueller Bezüge als Instrument zur Verfügung stand. Odysseus ist traditionell verknüpft mit seiner Eigenschaft als begabter, wandelbarer Rhetor, Ajax dagegen mit seiner Rolle als Mann der Tat, und auch der Gegensatz dieses Heldenpaares als Repräsentanten von Wort und Tat war ein bekannter Topos. 40
35 Vgl. im Einzelnen Hopkinson 2000, 14–16. 36 Vgl. Bömer 1982, 209; Hopkinson 2000, 15f. 37 In seinem Iudicium Armorum, insb. Acc. carm. frg. 145–163. 38 Hopkinson 2000, 10; 14f. 39 So auch Casanova-Robin 2003, 413. 40 Vgl. zum Kontrast von verba und facta/res gestae im Iudicium Armorum im 13. Metamorphosenbuch etwa Casanova-Robin 2003, 412–416.
212 Odysseus und Ajax
. Die redenden Figuren Im ersten Vers wird das Verstummen aller griechischen Fürsten geschildert. Das Volk steht rings um die Rivalen herum und Ajax erhebt sich zu seiner Rede. Nicht nur inhaltlich, sondern auch klanglich und metrisch erinnert die Formulierung (met. 13,1f.: Consedere duces et vulgi stante corona / surgit ad hos clipei dominus septemplicis Aiax)41 an den Anfang des zweiten Aeneisbuches (Verg. Aen. 2,1f.: Conticuere omnes intentique ora tenebant. / Inde toro pater Aeneas sic orsus ab alto)42: In beiden Versen erhebt sich ein großer Kämpfer und Anführer, um nach Ende des Kriegs um Troja einem aufmerksamen Publikum seine eigene Sicht auf die Kriegsereignisse zu schildern. Der vergilische Aeneas wiederum beginnt seine Rede in Aen. 2,6–8 mit dem Hinweis, dass selbst ein Soldat der Myrmidonen, der Doloper oder des Odysseus als Zuhörer seiner trojanischen Schilderung zu Tränen gerührt wäre; ebendiese Soldaten vernehmen nun in den Metamorphosen die griechische Perspektive des Ajax und Odysseus. Der Leser wird so auf vielfältige Weise zum Vergleich zwischen Aeneasʼ trojanischer Sicht auf die Dinge und derjenigen der beiden Griechen aufgefordert. Werkimmanent wiederum erinnern Vers und Situation sowohl an die erste dargestellte Götterversammlung (met. 1,199f.: Confremuere omnes studiisque ardentibus ausum / talia deposcunt)43 als auch an den Beginn von Arethusas Rede, die ebenfalls ansetzt, um rückblickend ihre eigenen labores (met. 5,586; 611; 618) und ihre lange Flucht auf der Suche nach der Erlösung in einer neuen Heimat zu schildern (met. 5,574–576: conticuere undae, quarum dea sustulit alto / fonte caput viridesque manu siccata capillos / fluminis Elei veteres narravit amores).44 Wie alle Figuren der Metamorphosen erzählt sie passend zu ihrem Typ und Charakter (vgl. Kap. 4.3): Sie erhebt sich nicht wie Aeneas in einem Schloss von einem Kissen und nicht wie Ajax vor den stehenden Reihen der Krieger draußen bei den 41 „Die Fürsten setzten sich nieder, und während ringsum das Publikum des Volkes stand, erhob sich in ihre Richtung Ajax, der Herr des Schildes aus sieben Rinderhäuten.“ 42 „Alle verstummten und schwiegen erwartungsvoll. Daraufhin hob Vater Aeneas vom hohen Polster an, so zu sprechen.“ 43 „Alle begannen empört zu murren und voll Leidenschaft forderten sie Strafe für den, der so etwas gewagt hatte.“ 44 „Die Wellen verstummten, als die Göttin ihr Haupt aus ihrer tiefen Quelle erhob, und als sie mit ihrer Hand ihre grünen Haare ausgewrungen hatte, berichtete sie von den alten Leidenschaften des Flussgottes aus Elis“. Vgl. ferner ähnlich den Beginn der Erzählung einer Minyastochter (met. 4,274–276): Poscitur Alcithoe, postquam siluere sorores. / quae radio stantis percurrens stamina telae / [...] dixit: […]. – „Alcithoe wurde nun aufgefordert, als ihre Schwestern verstummt waren. Während sie das Webschiffchen durch die Fäden des stehenden Webstuhls fahren ließ, sprach sie: […].“
Die redenden Figuren 213
Schiffen, sondern sie hebt ihren Kopf aus ihrer Quelle und wringt ihre nassen Haare aus. Ihre Zuhörer sind neben Ceres ihre eigenen Wellen. Die Umgebung ist idyllisch, ihr Verfolger ist durch erotische statt durch kriegerische Absichten motiviert. In ihrer Rede selbst wiederum finden sich zahlreiche Bezüge zum zweiten Buch der Aeneis, die dort auf den erotischen Kontext übertragen werden und im 13. Buch schließlich in ihrer indirekten zweiten Wiederholung zum Kriegsschauplatz zurückgeführt werden.45 Der Beginn des Iudicium Armorum stilisiert die Reden durch diese kontrastierende Wiederholung so zu einer Situation, die in der Welt vielfach in stets gewandelter Form zu beobachten ist. Durch die Parallelisierung ihrer Geschichten wird erneut verdeutlicht, dass zum Weltganzen der Metamorphosen das Schicksal eines heroischen Kriegers genauso dazugehört wie die erotische Verfolgung einer jungfräulichen Nymphe durch einen Flussgott. 46 Im Metamorphosentext beginnt Ajax mit seiner Rede (met. 13,5–122). Sie ist trotz des unproportional kurzen Proömiums und Epilogs formal korrekt angelegt und entspricht, wie moderne Analysen zeigen, allen Erwartungen an einen guten augusteischen Redner.47 Ajax beginnt direkt mit den üblichen Beleidigungen des
45 Z.B. Aen. 2,5f.: quaeque ipse miserrima vidi / et quorum pars magna fui – „Und das, was ich Unglücklichste mit eigenen Augen sah und woran ich selbst maßgeblich beteiligt war“ und met. 5,577f: pars ego nympharum, quae sunt in Achaide, dixit / una fui – „‚Ich gehörte zu den Nymphen‘, sagte sie, ‚die in Achaia lebten‘“; in Aen. 2,355–360 vergleicht Aeneas seine Kampfeslust und Jagd auf die Griechen im Schatten der Nacht mit der Mordlust durstiger Wölfe, und in derselben Rede (Aen. 2,496–499) führt er für Pyrrhus, der gewaltsam in die Frauengemächer der trojanischen Burg eindringt, das Bild eines reißenden Flusses an, der Viehställe mit sich reißt. Arethusa dagegen vergleicht sich in met. 5,625–629 in ihrer eigenen Situation als Gejagte vor einem Flussgott, versteckt in einer dunklen Wolke, mit einem verängstigten Lamm in einem Stall, den ein Wolf umkreist. 46 Dies wird auch in der Zusammenführung dieser beiden Themenwelten in der verwandelten Hyazinthe nach Ende dieser Erzählung gezeigt – und ebenso darin, dass der Schwan sowohl Spuren der Verwandlung eines trauernden Jünglings (met. 2,267–280) als auch eines unverwundbaren Kriegers (met. 12,143–145) enthält. 47 Bömer 1982, 199 mit einer Diskussion gegenteiliger Deutungen sowie 206f. mit einer formalen Analyse der Rede: „[...] läßt deutlich die Absicht erkennen, den Redner als einen Mann zu charakterisieren, der sich, bei aller menschlichen und speziell soldatischen Integrität, eher durch geradlinige Haudegen-Mentalität als durch urbane Gewandtheit auszeichnete“; vgl. ähnlich Hopkinson 2000, 17: „Ajaxʼ speech is good of its kind, but its kind is the wrong kind.“ – Man hat Versuche unternommen, Ajaxʼ Unterlegenheit an stilistischen und sogar metrischen Kriterien zu zeigen. So trete bei Vergil häufig eine Elision vor dem einsilbigen et auf, wenn dies den dritten Daktylus eines Hexameters eröffne. Bei Ovid finde sich dies „extrem selten, in den Metamorphosen fast ausschließlich nur [...] in einer Passage (der Rede des Ajax, der mit Odysseus um die Waffen des Achill streitet). Nahe liegt die Erklärung, daß eben Ajaxʼ Rede stilistisch von der des Odysseus unterschieden werden soll, mithin ein Fall von Charakterisierung des Sprechers
214 Odysseus und Ajax Gegners, den er als wortgewandten Feigling darstellt und so seine eigene Tatkraft hervorhebt,48 und wendet nach einer einleitenden Handgeste auf die Schiffe weiter keine explizit genannte Gestik und Mimik an. Die Figurenrede charakterisiert Ajax grundsätzlich als solide gebildet, jedoch eher geradlinig als gewandt. Seine beliebtesten Stilmittel sind die Beleidigung und Übertreibung. Auf seine Rede folgt Beifall aus den Reihen des vulgus (met. 13,123f.). Darauf folgt die zweimal so lange Rede des Odysseus (met. 13,128–381). Diese beginnt der Mann der Worte ausgerechnet mit einer wirkungsvollen Kunstpause und setzt neben seiner Eloquenz noch weitere körperliche Mittel aus. So presst er Tränen hervor (met. 13,132f.), präsentiert seine eigenen Taten nacherzählend wie ein Theaterschauspieler in verschiedenen fiktionalen Situationen (met. 13,165– 171; 225–229), er entblößt seine Brust und stellt seine Narben zur Schau (met. 13,264f.) und schließt die Rede mit einer großen Geste auf das Palladium (met. 13,380f.). Weiterhin setzt er in schnellem Wechsel Beleidigungen, Spott und Zynismus ein, stellt rhetorische Fragen, zeigt abwechselnd höchstes Selbstbewusstsein und extreme Bescheidenheit. Mehrfach wiederholt er Ajaxʼ Argumente fast wörtlich in leicht verändertem Kontext und dreht sie so seinem Vorredner gleichsam im Munde herum. Die Bewertung von Odysseusʼ Charakter fiel im Laufe der Literaturgeschichte sehr verschieden aus. Während er in der homerischen Ilias noch als ehrwürdig und bewundernswert dargestellt wird,49 gilt er später als windig, hinterlistig, feige und sogar verräterisch.50 Insbesondere in Tragödien wird er oft als zynisch und skrupellos dargestellt. Cic. off. 3,97–99 zitiert Verse des Ajax aus einem lateinischen Iudicium Armorum, vermutlich aus dem des Accius,51 um Odysseusʼ aus Tragödien bekannte Eigenschaft zu belegen, das utile vor das honestum zu stellen. durch seine Sprache vorliegt: Diagnose Ethopoiie“, Schade 2001, 532 mit Verweis auf Führer 1991, 249: „So wie der raffinierte Rhetoriker Odysseus über den geradlinigen Haudegen Ajax triumphiert, so möchte ovidische Eleganz vergilische Schlichtheit überstrahlen“. Casanova-Robin 2003, 421f. vertritt die These, dass Ajax in einem archaischen Stil redet, während Odysseusʼ Rhetorik hellenistisch geprägt ist. 48 Met. 13,9–11: tutius est igitur fictis contendere verbis, / quam pugnare manu, sed nec mihi dicere promptum / nec facere est isti – „Sicherer ist es also, mit erfundenen Reden zu streiten als mit der Faust zu kämpfen, aber ich weder fällt es mir leicht, zu reden, noch dem da, zu handeln.“ 49 Janka 2013, 69 bemerkt etwa, dass die Polyphemerzählung der Odyssee, die „erste eigentliche Prüfung des Helden“, die „archetypische Strahlkraft der für Odysseus prägenden Eigenschaften von Vorwitz, Entdeckungsdrang, Gewinnstreben, überragendem Intellekt, Skrupellosigkeit und Unverzagtheit in schier auswegloser Not“ in jeder Hinsicht hervorhebe. 50 Vgl. Hopkinson 2000, 13–15; 34–42; 38; 105f. 51 Acc. 112 W; trag. inc. 58R, vgl. Hopkinson 2000, 87.
Die Figurenreden 215
Der Metamorphosentext lässt durch die Gestaltung der Figurenreden alle aus den Vorgängertexten überlieferten Facetten der Charaktere von Ajax und Odysseus anklingen und verbindet sie zu kohärent gezeichneten Figuren. Insbesondere Odysseus wird damit seiner Bezeichnung als polytropos gerecht. Im weiteren Textverlauf soll dieser ohnehin schon vielseitige Charakter außerdem durch die Augen enttäuschter ehemaliger Gefährten geschildert und so noch weiter gespiegelt und aufgespalten werden (vgl. Kap. 13).
. Die Figurenreden Ajax und Odysseus schildern ihre gemeinsamen Erlebnisse sehr unterschiedlich und passen die Tatenberichte so ihrer jeweiligen Argumentation an. Sämtliche Ereignisse sind dem Leser bereits aus der Ilias, den griechischen und römischen Tragikern, der Aeneis oder anderen Vorgängertexten bekannt, sodass sie die Schilderungen mit diesen Hintergrundkenntnissen abgleichen können. Aufgrund der Länge der Reden von über 350 Versen, die in großer Dichte – teilweise in Katalogform52 – eine Vielzahl von Geschichten auflisten, kann hier nur eine Auswahl weniger Beispiele untersucht werden, auf die beide Redner in unterschiedlicher Weise eingehen. Ein wiederkehrendes Thema in beiden Reden ist der Kampf bei den Schiffen. Dieser wird im 13. und 15. Buch der Ilias wie folgt geschildert: Hector versucht, angestachelt von Jupiter, im Schiffslager der Griechen Feuer zu legen. Es kommt zu großen Verlusten und Verwundungen auf Seiten der Griechen. Die Griechen schöpfen wiederum Mut und Kraft durch Neptuns Eingreifen (Il. 14,135–152), sodass insbesondere Ajax die Brandstiftung mit aller Kraft zu verhindern sucht und dabei eine große Zahl von Gegnern tötet. Odysseus lagert in der ersten Hälfte der Schlacht verwundet von einem vorherigen Kampf (Il. 11,435–440; 456–460; 661) bei seinem entfernt gelegenen Schiff. Erst spät begibt er sich gemeinsam mit den ebenfalls verletzten Fürsten Agamemnon und Diomedes in die Schlacht (Il. 14,27–40; 127–134) und unterstützt dort die aktiv Kämpfenden, indem er im Hintergrund ihre Ausrüstung verwaltet (Il. 14,379–382). Ajax kämpft ohne Verwundungen und hat großen Einfluss auf das Schlachtgeschehen. Sein erstes Zusammentreffen mit Hector bei den Schiffen geschieht Il. 13,190–194, es folgt ein weiterer in Il. 13,802–837 – hier nennt Hector Ajax, in den Metamorphosen der Inbegriff von Tatkraft, ausgerechnet einen Schwätzer und Prahler (Il. 13,824). In 52 So z.B. die Nennung der Männer, die Odysseus in der Schlacht getötet hat (met. 13,255–262) oder der Städte, die mit seiner Hilfe erobert wurden (met. 13,173–178).
216 Odysseus und Ajax einem späteren Zweikampf mit Hector gelingt es Ajax in Il. 14,402–420, den trojanischen Helden schwer zu verwunden; dieser wird von seinen Kameraden gerettet und aus der Gefahrenzone getragen. Nach Hectors Ausscheiden, das nach einvernehmlicher Aussage der Griechen, Trojaner und Götter allein Ajaxʼ Kraft zu verdanken ist (Il. 14,440f.; Il. 15,9–11; 246–252; 286–289), gelingt es den Griechen, die Angreifer von den Schiffen zu vertreiben. Nur durch den Einsatz mehrerer Götter, darunter der Heilgott Apoll, wird Hector neue Kraft für die Rückkehr in den Kampf gegeben (Il. 15,59–270; 637), was schließlich indirekt Patroklosʼ Tötung und damit Achills Entschluss, wieder in den Krieg einzugreifen, auslöst. Es handelt sich daher aus der Sicht eines Lesers, der die Darstellung durch den allwissenden Erzähler der Ilias kennt, um eine bedeutende Passage des Werkes. Auch in anderen Kontexten dient sie als Exempel; in Ciceros Tusculanen etwa ist ein Vers eines unbekannten Tragikers überliefert, der Ajaxʼ furor und insania als sein größtes Verdienst in dieser Schlacht bezeichnet (Cic. Tusc. 4,23,52).53 Aber auch aus Sicht der einzelnen Figuren, die anders als der Leser nicht alle Hintergründe und göttlichen Dialoge kennen, ist die Wichtigkeit dieser gewaltigen Schlacht offenkundig; der vergilische Aeneas etwa betont seiner Zuhörerin Dido gegenüber Hectors Großartigkeit zu Lebzeiten anhand dieser Kriegsleistung im Kampf um die Schiffe.54 Im Rededuell in den Metamorphosen leitet Ajax seine Rede mit dem Verweis auf ebendiesen Kampf um die Schiffe ein. Er spricht von Odysseusʼ Fernbleiben von Hectors Brandschatzungen im Gegensatz zu seinem eigenen mutigen Einsatz (met. 13,7f.: at non Hectoreis dubitavit cedere flammis, / quas ego sustinui, quas hac a classe fugavi).55 So hebt er gleich zu Beginn in programmatischer Weise seine bedeutende Tatkraft im Gegensatz zur nutzlosen Wortkunst des Odysseus hervor (met. 13,7–10). Zum Ende seiner Rede kommt er erneut auf diese Schlacht zu sprechen (met. 13,82–94, bes. 91f: ecce ferunt Troes ferrumque ignesque Iovemque / in Danaas classes).56 Odysseus dagegen greift erst zu einem späten Punkt seiner Rede Ajaxʼ Argumente zum Schiffskampf auf. Er referiert Ajaxʼ Schilderung von dessen Taten in der indirekten Rede und stimmt ihnen zwar inhaltlich zu, spielt ihre Bedeutung 53 Bömer 1982, 225 ordnet denselben Vers dagegen unverständlicherweise als Zitat aus Ajaxʼ Munde selbst ein, der diesen Kampf „voller Ironie“ darstelle. 54 Aen. 2,274–276: ei mihi, qualis erat, quantum mutatus ab illo / Hectore, qui [...] Danaum Phrygios iaculatus puppibus ignis! 55 „Aber er hat sich, ohne zu zögern, Hectors Flammen entzogen, denen ich mich gestellt habe, die ich von dieser Flotte hier vertrieben habe.“ 56 „Sieh, die Trojaner tragen Schwerter, Feuer und [die Gewalt des] Jupiter gegen die griechischen Schiffe!“
Die Figurenreden 217
aber herunter (met. 13,268–270: Quid tamen hoc refert, si se pro classe Pelasga / arma tulisse refert contra Troasque Iovemque? / confiteorque, tulit):57 Neben Ajax seien schließlich noch weitere Griechen am Kampf beteiligt gewesen, und erst Patroclusʼ Eingreifen in der Rüstung des Achill habe die wirkliche Wendung in der Schlacht gebracht (met. 13,271–274). Beide Redner nennen zum Schiffskampf nur Details, die sie aus ihrer jeweiligen Figurenperspektive tatsächlich wissen können. Dass Jupiter selbst hinter Hectors neuer, übermenschlich aufflammender Kampfkraft steckt, ist nicht bloß eine vage Ahnung, sondern Ajax erfährt in Il. 13,57f. durch Neptun davon, der die Gestalt des Calchas angenommen hat. Wegen dessen Berufung als Seher wären die Worte allein schon glaubwürdig genug, dass Ajax sich hier auf ihren Wahrheitsanspruch berufen könnte, doch darüber hinaus erkennen die beiden Ajanten auch, dass sich unter der menschlichen Gestalt ein Gott verbirgt, und zweifeln daher nicht an Jupiters tatsächlicher Rolle als Hectors Anstifter zum Kampf um die Schiffe (Il. 13,66–82). Weiterhin führen Ajax und Odysseus jeweils die nächtliche Expedition des Odysseus gegen Dolon und zum Diebstahl des Palladiums an, eines heiligen Bildes der Athene, dessen Besitz den Trojanern die Uneinnehmbarkeit ihrer Stadt garantiert.58 Die sogenannte Dolonie und das damit verbundene Schicksal des Rhesus war ein viel rezipiertes literarisches Thema und ist dem Leser neben dem zehnten Gesang der Ilias (10,254–571) auch aus Accius und weiteren Texten, darunter dem ersten Heroidesbrief, vielfach bekannt:59 In der Nacht nach der vergeblichen Gesandtschaft zu Achill schleichen Diomedes und Odysseus gemeinsam aus dem griechischen Lager, um die Trojaner auszukundschaften. Auf dem Weg begegnen sie Dolon, einem feigen und listigen Trojaner, der auf der Gegenseite die gleiche Mission übernommen hat.60 Von ihm erfahren sie allerhand nützliche Informationen und töten ihn sowie den Thrakerkönig Rhesus, den sie mit seinem Gefolge im Schlaf überraschen. Der Diebstahl des Palladiums, das zum
57 „Was tut es zur Sache, wenn er jetzt anführt, dass er für die griechische Flotte zu den Waffen gegriffen habe gegen die Troer und [die Gewalt des] Jupiter?“ 58 Das Palladium ist nicht identisch mit dem Gegenstand, den die Trojaner in Vergils Aeneis auf Geheiß der Götter in die neue Heimat Italien überführen; hierbei handelt es sich um die Penaten der Vesta (Aen. 2,293–297; als sacra erwähnt in met. 13,624). Es gibt allerdings andere antike Berichte darüber, wie das Palladium durch Diomedes oder Aeneas schließlich nach Rom gelangt sei (Cassius Hemina fr. 7 Peter; Serv. Aen. 2,166; Sil. 13,51–78; Paus. 2,23,5; Dion. Hal. ant. 1,68f.), vgl. Prescendi 2006. 59 Vgl. ausführlich Bömer 1982, 229. 60 Diese Erzählung stellt Aen. 12,346–352 rückblickend als Hintergrund für Dolons Enkel Eumedes in positiver Weise dar.
218 Odysseus und Ajax Zeitpunkt der Reden in Sichtweite von Rednern und Zuhörern steht, 61 wird in der Ilias nicht geschildert. Nach anderen Überlieferungen war das Bildnis einst vom Himmel gefallen62 und dann als Schutzzeichen der Stadt Troja überbracht worden,63 wo es schließlich später von Odysseus und Diomedes gestohlen wird. 64 Vergil lässt Aeneas an Didos Hof vom Diebstahl des Palladiums berichten, allerdings mehrfach gebrochen: Er gibt die Figurenrede des lügenden Sinon wieder, der als Gefangener vor einem trojanischen Publikum spricht und die Sicht der Griechen entsprechend verzerrt trojagefällig darstellt (Aen. 2,163–194).65 Diese Darstellung stimmt daher wohl auch mit der Erinnerung des übergeordneten Erzählers Aeneas überein bzw. scheint ihm auch ohne eine Möglichkeit der Überprüfung plausibel zu sein. So wird die Tat durch die nächtliche Ermordung der Tempelwächter und den Raub des heiligen Bildes der Jungfrau Minerva noch mit blutbefleckten Händen als äußerst brutal geschildert. Ajax betont den Umstand, dass es bei den nächtlichen Taten keine Zeugen gegeben habe und Odysseusʼ eigene Worte darüber – im Gegensatz zu seinen eigenen Taten, bei denen die Zuhörer selbst Augenzeugen waren – unglaubwürdig seien (met. 13,13–15). In einem späteren Argument gegen Odysseus kommt er noch einmal auf diesen Punkt zurück und verweist auf Diomedesʼ bedeutsameren Anteil an beiden Expeditionen (met. 13,98–102). Odysseus kontert wie folgt (met. 13,240–248): Diomedes habe aus allen Griechen ausgerechnet ihn ausgewählt, um in einer gemeinsamen nächtlichen Expedition Dolon zu verhören. Tatsächlich wird in Il. 10,226–247 eine Reihe von motivierten Helden und darunter auch Ajax genannt, aus denen Diomedes schließlich Odysseus als Gefährten auswählt mit der Begründung, dass dessen Mut, seine Schutzgottheit Athene und sein Erfindungsgeist ihn auszeichnen; all diese Facetten seines Charakters, die im Iliastext an dieser Stelle genannt werden, können so auch ohne ihre eigene Erwähnung für den Odysseus der Metamorphosen als Pro-Argument für seine Eignung mitgedacht werden.
61 So kann Odysseus seine Rede wirkungsvoll mit einer Geste auf das signum fatale Minervae („das schicksalsentscheidene Bild der Minerva“) schließen, met. 13,381. 62 Pherekydes FGrH 3 F 179; Dion. Hal. ant. 2,66,5; Ov. fast. 6,421f. 63 Durch Dardanos als Gabe der Athene, Dion. Hal. ant. 1,68f., oder als Geschenk des Zeus, Iliupersis PEG I fr. 1. 64 Zu den unterschiedlichen Versionen, ob dieser Diebstahl vor oder erst nach Trojas Einnahme geschah, und bereits antiken Versuchen zur Auflösung dieses Widerspruchs vgl. Prescendi 2006. 65 Als Cousin des Odysseus erhält er hier von Vergil dazu passende Eigenschaften. Zur Figur vgl. Zimmermann 2006. Papaioannou 2005, 108 schlägt vor, dass ihm Odysseus das Skript für seine halbwahre Lügenrede selbst vorgegeben haben könnte.
Die Figurenreden 219
Nur wenige Minuten zuvor hat Ajax auf Diomedesʼ größeren Anteil an diesem Erfolg verwiesen (met. 13,100–102: luce nihil gestum, nihil est Diomede remoto / si semel ista datis meritis tam vilibus arma, / dividite, et pars sit maior Diomedis in illis).66 Da hier eine Abwertung von Odysseusʼ Leistung erfolgt und der Hinweis, ohne die Hilfe des Diomedes wäre sie nicht gelungen, fällt der Name „Diomedes“ vermutlich im Kontext einer dazu passenden aufgebrachten Mimik und Gestik. Auch jetzt, so kann man aus Odysseusʼ Worten schließen, nimmt Ajax nicht die Rolle eines stillen Zuhörers ein, sondern begleitet die Rede des Rivalen mit einem regen Mienenspiel und hörbarem Gemurre. Diese Untermalung kommentiert nun Odysseus, stellt sie im verzerrten Kontext verzerrt dar und missdeutet sie absichtlich (met. 13,350f.: Desine Tydiden vultuque et murmure nobis / ostentare meum: pars est sua laudis in illo!).67 So formuliert wirkt es, als missgönne Ajax mit seinem Tonfall, seinem Gesichtsausdruck und seiner Handgeste auch Odysseusʼ Gefährten Diomedes seinen Erfolg – wobei er ja genau das Gegenteil gemeint hatte! Odysseus dagegen wirkt dadurch wie ein Verteidiger von Diomedesʼ Ehre gegen Ajaxʼ Missgunst. So erlebt der Leser ein Beispiel, wie Odysseus nur wenige Augenblicke zurückliegende Ereignisse durch seine Darstellung verdreht und umdeutet, und kann dieses Verfahren leicht auf die anderen dargestellten Ereignisse im Vergleich mit anderen Textüberlieferungen übertragen. Auch den Vorwurf, dass eine Mission bei Nacht weniger mutig sei, verkehrt Odysseus: Gerade die Nacht und auch der Feind sei als besondere Gefahr zu werten (met. 13,242), und dennoch, nachdem die Zielperson Dolon im Verhör vollständig alles preisgegeben habe und getötet worden sei, habe er darüber hinaus noch die Zelte des Rhesus angegriffen und viele Gegner getötet. Der Diebstahl des Palladiums sei dabei allein sein Verdienst und nützlicher für den Sieg über Troja als alle Waffengewalt des Ajax (met. 13,335–349). Er stellt den nächtlichen Diebstahl als besonders schwierig dar und verwendet zahlreiche Formulierungen, welche seinen Mut angesichts der Gefahr herausheben: So sei er bei Nacht an Wachposten mit gefährlichen Schwertern vorbei durch die Mauern bis in ein Gebäude an der höchsten Stelle der Stadt gegangen, um das Bild aus der Mitte der Feinde zu stehlen und wieder an den Feinden vorbei hinauszutragen.68 Von blutigen Kämpfen oder Meuchelmorden spricht er nicht. 66 „Nichts hat er bei Tageslicht zustande gebracht, nichts ohne Diomedesʼ Beistand, und wenn ihr jetzt tatsächlich diese Waffen für so billige Verdienste hergebt, dann teilt sie zumindest auf, und Diomedes soll den größeren Anteil erhalten.“ 67 „Jetzt hör schon auf, uns mit Blicken und Gemurmel meinen lieben Diomedes vorzuhalten. Er erhält hierbei seinen gebührenden Anteil an Ruhm!“ 68 Met. 13,340–345: hostibus e mediis [...]. cur audet Odysseus / ire per excubias et se committere nocti / perque feros enses non tantum moenia Troum, / verum etiam summas arces intrare suaque
220 Odysseus und Ajax Die Erzählung, wie Odysseus Wahnsinn vortäuscht, um dem Kriegsdienst zu entgehen, ist jünger als die homerischen Epen, wie schon Cicero reflektiert bemerkt.69 Doch bereits bei den griechischen und auch römischen Tragikern und in der sophistischen Rhetorik ist diese Begebenheit als Beispiel für die schlaue Feigheit des Odysseus geläufig70 und war vermutlich daher als fester Bestandteil der Argumentensammlung in den Rhetorikschulen auch der Leserschaft der Metamorphosen wohlbekannt. Laut diesen Erzählungen täuscht Odysseus, um dem Kriegsdienst zu entgehen, Wahn vor, indem er mit einem Ochsen und einem Pferd einen Acker pflügte.71 Der erfindungsreiche Palamedes prüft ihn, indem er den kleinen Telemachus vor den Pflug wirft. Als Odysseus stehen bleibt, um seinen Sohn nicht zu gefährden, wird seine Täuschung aufgedeckt und er muss mit nach Troja ziehen. Unter anderem dafür gilt Palamedes als sollers.72 Als Rache sorgt Odysseus dafür, dass Palamedes stirbt – über die Art und Weise gibt es verschiedene Erzählungen. Während einige Quellen von einer Ermordung durch Diomedes und Odysseus beim Fischfang sprechen,73 berichten vor allem tragische Quellen davon, dass Palamedes nach einer Falschanklage durch Odysseus vom griechischen Heer hingerichtet worden sei.74 Der vergilische Sinon schildert den Vorfall in seiner trojafreundlichen und von Lügen durchzogenen Rede etwas anders: Palamedes sei durch Odysseus fälschlich beschuldigt worden – aber nicht, weil er ihn für den Krieg gewinnen wollte, sondern im Gegenteil, weil er den Krieg verhindern wollte (Aen. 2,81–93, bes. 84: quia bella vetabat). Ajax kommt auf dieses Ereignis in met. 13,37–43 zu sprechen und führt Odysseusʼ Verweigerung des Dienstes an der Waffe als Grund an, ihm jetzt als Konsequenz auch Achills Waffen zu verweigern. Palamedesʼ daraus resultierendes
/ eripere aede deam raptamque adferre per hostes. – „… aus den Mitten der Feinde. Warum wagt es Odysseus, an den Wachposten vorbeizugelangen und sich der Nacht anzuvertrauen und an den feindlichen Schwertern vorbei nicht nur die Mauern der Troer, sondern sogar die höchsten Punkte der Burg zu betreten und das Bildnis der Göttin aus ihrem Tempel zu stehlen und die Beute an den Feinden vorbei herzubringen.“ 69 Cic. off. 3,97: apud Homerum [...] talis de Ulixe nulla suspicio est – „Bei Homer gibt es keinen solchen Verdacht gegen Odysseus.“ 70 Bömer 1982, 215. 71 Kypria, EpGF p. 31, 41–43; PEG I p. 40, 30–33; Hyg. fab. 95; Plin. nat. 35,129; Serv. Aen. 2,81. 72 Verg. Aen. 2,82f.; für Beispiele in griechischer Zeit vgl. Bömer 1982, 215. Palamedes wurden verschiedene Erfindungen von Schrift-, Maß- und Signalzeichen und auch von Würfel- und Brettspielen zugeschrieben, vgl. Käppel / Matthaios 2006. 73 EpGF fr. 20; PEG I fr. 30. 74 Eur. Palamedes, TGF fr. 578–590; vgl. Aristoph. Thesm. 769–784; Apollod. epit. 3,8; Hyg. fab. 105; Plat. apol. 41b; Xen. apol. 26; Cic. Tusc. 1,98.
Die Figurenreden 221
Verderben deutet er hier bereits an75 und kommt wenig später auf die Falschanschuldigung zu sprechen (met. 13,56–62): Odysseus habe aus Rache einen falschen Vorwurf gegen Palamedes erfunden und dessen Verrat ‚bewiesen‘, indem er Gold zeigte, das er selbst zuvor vergraben habe. Odysseus verteidigt sich zunächst gegen den Vorwurf der Kriegsverweigerung, indem er seinen Fall mit Achills Versuch, durch eine Verkleidung als Mädchen dem Krieg zu entgehen, gleichsetzt und beide Versuche, so lang wie möglich bei einer pia coniunx oder einer pia mater zu bleiben, parallelisiert (met. 13,301). Odysseus stellt seine Tat also als eine Facette eines vielfältig auftretenden Falles dar – deren andere Facetten der Leser aus anderen Texten kennt76 – und entlastet sich damit von dem Vorwurf, etwas Ungehöriges, Seltenes gewagt zu haben. Würde man ihn dafür verurteilen, würde schließlich Achill mitverurteilt. Ob er Palamedes tatsächlich falsch angeklagt hat oder nicht, lässt er dagegen sprachlich durch seine rhetorische Frage uneindeutig. Indem er erneut auf die Beweislage und Indizien der vergangenen Verhandlung verweist, weicht er einer direkten Aussage aus, was denn nun wirklich geschehen sei – und widerspricht Ajaxʼ Darstellung damit nicht.77 Stattdessen dreht er den Blick auf die allen bekannten Tatsachen so, dass eine Annahme einer falschen Anklage seine Zuhörer automatisch zu Mitschuldigen macht, da sie Palamedes dann ja auch zu Unrecht verurteilt hätten (met. 13,308–312). Wieder stellt er seine Tat als nur eine Facette eines vielfältig zu betrachtenden Falles mit mehreren gleichwertigen Mitwirkenden dar und relativiert damit seine eigene Schuld. Ein weiteres Argument ist die Aussetzung des Philoktet auf Lemnos; diese ist aus Homers Ilias sowie weiteren Werken griechischer und lateinischer Dichtern bekannt.78 In Hom. Il. 2,716–726 heißt es, dass das achäische Heer ihn, den Anführer einer Truppe von Bogenschützen, wegen eines schwärenden
75 Met. 13,37–39: donec sollertior isto / et sibi inutilior timidi commenta retexit / Naupliades animi vitataque traxit ad arma – „bis schließlich, klüger als Odysseus selbst und sich selbst zum Nachteil, der Sohn des Nauplius die Lügen seines feigen Herzens aufdeckte und ihn zum Kriegsdienst zerrte, den er umgehen wollte.“ 76 Die Erzählung über Achills Verkleidung und deren Aufdeckung durch Odysseus ist dem Leser aus einer Tragödie des Euripides und einer römischen Tragödie, die in Ov. trist. 2,409–412 erwähnt wird, bekannt. 77 Bömer 1982, 215 irrt daher, wenn er schreibt: „Odysseus weist [...] jeden Vorwurf mit eherner Stirn zurück.“ 78 Hom. Il. 2,716–726; in den Kyprien; Soph. Phil. 260–275; in verlorenen Tragödien des Euripides und Aischylos; Apollod. epit. 3,27; Accius; Pacuvius. Vgl. Bömer 1982, 217, Hopkinson 2000, 89 und Stenger 2006, leider ohne Erwähnung der lateinischen Tragödien.
222 Odysseus und Ajax Schlangenbisses allein auf der Insel zurückgelassen habe, wo er unter Qualen weiterlebte – und dass das Heer später noch an ihn denken sollte. Wer genau diesen Entschluss gefasst hat und welche Auswirkung sein Fehlen auf den weiteren Handlungsverlauf hat, dass das Heer noch an ihn denken sollte, bleibt unerwähnt. Erst in nachhomerischen Darstellungen wird den Griechen eine Prophezeiung bekannt, nach der ohne ihn und die Pfeile des Hercules, die mit ihm auf Lemnos gelassen worden sind, Troja nicht erobert werden könne. Innerhalb der Metamorphosen tauchten diese Pfeile schon zweimal auf: In met. 9,231–23 schildert der Primärerzähler (in Übereinstimmung mit Soph. Phil. 801–803), wie der sterbende Hercules die Waffe an Philoktet überreicht, und kündigt an, dass diese Waffen noch einmal Troja besuchen werden. Eine weitere Prophezeiung über dieselben Waffe und eine andere Person schildert Nestor in seiner Rede über den Centaurenkampf, indem er den Augur Asbolus dem verletzten Centauren Nessus zurufen lässt (met. 12,309): ne fuge! ad Herculeos, inquit, servaberis arcus.79 So wird im zwölften Buch auch dieser handlungsrelevante Gegenstand im Krieg um Troja in einem anderen Kontext erwähnt. Zudem stellt der ovidische Ajax Philoktet sehr ähnlich dar, wie der vergilische Aeneas Sinon darstellt: Auch der habe (so Sinons Selbstbeschreibung) lange auf Odysseus geflucht und auf Rache gehofft (Aen. 2,90–96), bis er sich schließlich vor Odysseusʼ Plan, die Griechen zu überzeugen, Sinon als Einzelperson dem Wohl aller Griechen zu opfern, in der Natur habe verbergen müssen (Aen. 2,124– 136). Eine in der Aeneis wiederum zu Sinon und Philoktet parallel gestaltete Figur ist die des aufrichtigen Achaemenides, den die Trojaner verwahrlost von der Cyclopeninsel retten – auch diese Figur wird der Metamorphosentext ein Buch später in seine Welt auf der Figurenebene integrieren, wodurch die Figur des Philoktet auf vielfältige Weise rezipiert wird (vgl. Kap. 13). Der Ajax des Metamorphosentextes schildert diesen Vorfall in der Art, dass das griechische Heer mit der Aussetzung eine gemeinsame Schuld 80 zu tragen habe, die es, so sagt es der irreale Konjunktiv non haberet, ohne Odysseus nicht trüge. In Ajaxʼ Vorstellung lebt Philoktet zum Zeitpunkt seiner Rede (met. 13,47: nunc), also bereits seit zehn Jahren, in Waldhöhlen, jammert und stöhnt in einer felsigen Landschaft und verflucht Odysseus für seine Tat. Mit den Pfeilen des Hercules, die das Schicksal für Trojas Untergang bestimmt habe, gehe er auf Vogeljagd und er hülle sich in Federkleider, gebrochen (met. 13,52: fractus) von Krankheit und Hunger. Diese für ihn nicht nachprüfbaren Phantasien leitet Ajax mit der Formel ut memorant (met. 13,47) ein – für ihn als Figur und seine Zuhörer 79 „Flieh nicht! Dein Leben wird verschont bleiben bis zu den Bogenschüssen des Hercules!“ 80 Met. 13,45–55, bes. 13,46: nostro cum crimine – „mit unserer Schuld“.
Die Figurenreden 223
kann dies nur entweder eine nichtssagende Floskel sein oder ein Verweis auf das Gerede im restlichen Heer. Für die Leserschaft der Metamorphosen dagegen ist diese Formel ein Intertextualitätssignal, das Aufmerksamkeit für Bezüge zu Vorgängertexten erzeugt: Auch Sophokles und Accius schildern Philoktets Leben in Waldhöhlen zwischen Felsen und seine Jagd auf Vögel, deren Federn er zu Kleidung verarbeitet.81 In Ciceros Dialogen werden Acciusʼ Verse über Philoktets Schicksal zweimal als Beispiele für besonderes Leid und Tapferkeit angeführt.82 Was für Ajax also eine bloße Vermutung und ausgeschmückte Phantasie ist, weiß der Leser aus anderen Überlieferungen bestätigt. Die Prophezeiung, nach der diese Waffe für die Eroberung Trojas vonnöten ist, kennt Ajax zum Zeitpunkt dieser Rede bereits und kann sie daher als Argument anführen (met. 13,54: debita Troianis [...] spicula fatis):83 Odysseus hat den Seher Helenus in dieser Version, wie sie in den Metamorphosen erzählt wird, bereits während seines Diebstahls des Palladiums gefangen genommen und die Kunde von ihm erfahren. Diesen Hergang bestätigt wenig später auch Odysseus selbst.84 Odysseus führt im Metamorphosentext zunächst sein aus Sophokles und Rhetorenschulen geläufiges Gegenargument an,85 die Aussetzung sei eine gemeinsame Entscheidung auch der zuhörenden Griechen gewesen. Lediglich der Vorschlag sei von ihm selbst vorgebracht worden, nicht aber die Entscheidung – hierin stimmt er inhaltlich mit Ajax überein. Aus der Überlieferung ansonsten nicht bekannt86 und möglicherweise neu ist seine Behauptung, Philoktet habe seiner Aussetzung selbst zugestimmt, weil in diesem Moment die Ruhe auf der Insel das Beste für ihn war (met. 13,315–317). So sei sein Vorschlag nicht verurteilungswürdig, sondern im Gegenteil als sententia fida, felix und fidelis zu werten (met. 13, 318f.).87
81 Sowohl in der Perspektive des Chors als auch in seiner eigenen Rede, Soph. Phil. 16; 27; 159f.; 185f; 287f.; 272; 308f.; 1081; 1263 und Acc. trag. 5,39f.: Pro veste textis contegit; 549–557. Vermutlich weitere Darstellungen in Tragödien des Euripides und Aischylos. Vgl. Hopkinson 2000, 91 und Stenger 2006. 82 Cic. fin. 2,29,94; 5,11,32; Tusc. 2,14,33. Als Exempel für Leid fungiert die Erwähnung auch in Ov. Trist. 5,4,12. 83 „Die Pfeile, zu Trojas Verderben bestimmt“. 84 Met. 13,98f.: conferat his Ithacus Rhesum inbellemque Dolona / Priamidenque Helenum rapta cum Pallade captum und met. 13,333–339, vgl. Hopkinson 2000, 91 und 100. 85 Soph. Phil. 263ff.; 314f.; 405f.; 791ff.; 1027f.; Apollod. epit. 3,27. Vgl. Bömer 1982, 217. 86 Bömer 1982, 217. 87 „Ein ehrlicher Rat zum Besten“; „verlässlich“.
224 Odysseus und Ajax Interessant ist nun, dass Odysseus diese Deutung nicht als Gegenentwurf zu Ajaxʼ unüberprüfbarer Vermutung stehen und wirken lässt, was angesichts des begrenzten Figurenwissens auf Redner- und Zuhörerseite zu diesem Zeitpunkt ja möglich und für ihn nützlich wäre. Stattdessen greift er ohne handlungslogisch gegebenen Grund das Bild eines zürnenden und auf ihn fluchenden Philoktet, das er gerade erfolgreich aus den Köpfen gestrichen hat, wieder auf: Selbst wenn Philoktet den Gefährten, Agamemnon und – erst an letzter Stelle genannt – auch Odysseus selbst möglicherweise tatsächlich gleichermaßen feindlich gesonnen sei (met. 13,328: sis licet infestus sociis regique mihique),88 so könne er ihn durch seine Redekunst und Klugheit – im Gegensatz zu Ajax – dennoch beschwichtigen und überzeugen, die Insel mit den Griechen zu verlassen und mithilfe der Pfeile des Hercules die Prophezeiung zu erfüllen (met. 13,320–334). Der Sinn dieser Worte, die auf der Ebene der Handlungslogik schwer erklärlich sind, ist in einer intertextuellen Strategie zu finden. Ein Leser, der – anders als die Figuren selbst – aus anderen Überlieferungen von Philoktets Zorn ‚weiß‘ und eine Leugnung dieser ‚Tatsache‘ nicht als angemessen valides Argument für den besten aller mythischen Redner akzeptiert hätte, muss von Odysseus noch anderweitig von seiner Leistung überzeugt werden. Mit seinem Verweis darauf, dass er Philoktet auch dann durch kluge Reden umstimmen könnte, wenn dieser zornig wäre, ruft er dem Leser bereits vorausdeutend sein Vorgehen z.B. in der Sophoklestragödie in Erinnerung. Hier überredet er Achills Sohn Pyrrhus auf Lemnos dazu, Philoktet durch List und Lügen zur Rückkehr zu überzeugen (Soph. Phil. 48–134). So integriert er auch dieses Werk als unerzählte spätere Begebenheit in die Metamorphosenwelt mit ein. Ajax schildert ein weiteres Ereignis, um zu belegen, dass Odysseus die charakterliche Eignung fehlt, um die Waffen des Achill zu verdienen: Odysseus flieht aus dem Kampf und lässt Nestor im Stich. Auch in Il. 8,80–98 wird dieses Ereignis vom Primärerzähler geschildert. Nach einem Götterzeichen des Zeus breitet sich Panik im griechischen Heer aus. Alle Kämpfer, auch die Ajanten (Il. 8,79), fliehen zurück zu den Schiffen. Nur Nestor wird durch die Verletzung eines seiner Pferde an der Flucht gehindert. Diomedes bemerkt dessen Not. Er ruft Odysseus mahnende Worte hinterher, dass dieser seinen Rücken dem Feind zuwende und feige mit der Masse fliehe, fordert ihn vergeblich zur Mithilfe bei Nestors Rettung auf und rettet den Greis schließlich allein. Diesen Vorgang stellt Ajax etwas anders dar. Nach seinen Worten hat nämlich Nestor Odysseus selbst um Hilfe angefleht, statt wie im Iliastext zu schweigen – allerdings vergeblich, was Ajax nicht nur als Zeichen von Feigheit bewertet, 88 „Magst du auch den Gefährten und dem König und mir feindlich gesinnt sein.“
Die Figurenreden 225
sondern sogar zum Verrat umdeutet.89 Die Beschreibung von Nestors verletztem Pferd und seiner Altersschwäche entspricht fast wörtlich derjenigen, mit der Diomedes Nestor in der Ilias anspricht.90 Diese Ähnlichkeit fungiert für den Leser als Aufforderung, die Darstellung der Texte miteinander zu vergleichen. Doch auch innerhalb der Handlungslogik des Figurenwissens selbst ist die Übereinstimmung erklärbar. Ajax kann diese Worte aus Diomedesʼ Mund gehört haben und sie deswegen hier als Beweis so wortgetreu zitieren, denn dessen scheltende Rede an Odysseus wenige Augenblicke später hat er schließlich auch mitgehört (met. 13,67–69). Ein inhaltlicher Unterschied zwischen der Darstellung im Iliastext und Ajaxʼ Bericht besteht außerdem darin, dass Diomedes dort Odysseus bloß einmal beim Namen gerufen hat, der Metamorphosenajax aber von einer mehrmaligen Namensnennung spricht (met. 13,68: nomine saepe vocatum). Ajax spricht Diomedes im Publikum hier direkt an und beruft sich auf dessen Augenzeugenschaft, um den Vorwurf gegen Odysseus zu belegen. Dass er die Zahl der Anrufe übertreibt und auch dem stummen Nestor selbst einen Hilferuf in den Mund legt, der vom Erzähler der Ilias nicht geschildert wird, ist kein Widerspruch zwischen den Werkwelten selbst, sondern lässt sich für die Figurenrede aus der rhetorischen Übertreibung des Berichts erklären; grundsätzlich stimmen die ‚Tatsachen‘, die der Metamorphosen-Ajax berichtet, mit dem Iliastext überein. Ein Leser mit Kenntnis des Iliastextes erkennt Ajaxʼ Abweichungen in Details im Kontext eines Rededuells als plausible rhetorische Mittel zur Diffamierung. 89 Met. 13,64–66: Haud tamen efficiet, desertum ut Nestora crimen / esse rear nullum. Qui cum inploraret Ulixem / vulnere tardus equi fessusque senilibus annis, / proditus a socio est. Non haec mihi crimina fingi / scit bene Tydides – „Er wird mich nicht dazu bringen, es für keine schlimme Tat zu halten, dass er Nestor im Stich ließ. Als der Odysseus um Hilfe anflehte, langsam durch die Verwundung seines Pferdes und erschöpft durch sein hohes Alter, da wurde er von seinem Kameraden verraten. Dass ich mir diese Vorwürfe nicht ausdenke, kann auch Diomedes bestätigen“. – Hier klingt außerdem lexikalisch Verg. Aen. 2,435f. an, wo Aeneas mit ähnlichen Worten aus trojanischer Sicht eine Wunde beschreibt, die Odysseus einem greisen Gegner selbst zugefügt habe: quorum Iphitus aevo / iam gravior, Pelias et vulnere tardus Ulixi, / protinus ad sedes Priami clamore vocati – „Unter diesen war Iphitus, der schon beschwert durch sein Alter war und langsam durch eine Verwundung durch den Griechen Odysseus, sie wurden geradewegs vom Geschrei zum Haus des Priamus gerufen“. In Ajaxʼ Rede unterlässt Odysseus es, einem verwundeten greisen Kameraden Hilfe zu leisten. Auf diese Weise wird die Grausamkeit des Odysseus gegenüber alternden Freunden und Feinden parallelisiert und als zwei korrespondierende Facetten desselben Charakters betont. 90 Hom. Il. 8,103f.: σὴ δὲ βίη λέλυται, χαλεπὸν δέ σε γῆρας ὀπάζει, / ἠπεδανὸς δέ νύ τοι θεράπων, βραδέες δέ τοι ἵπποι – „Deine Kraft ist dahin und schwer bedrückt dich das Alter. Schwächlich ist dein Wagenlenker, und langsam sind deine Pferde“ und met. 13,66: vulnere tardus equi fessusque senilibus annis – „langsam durch die Verwundung seines Pferdes und erschöpft durch sein hohes Alter.“
226 Odysseus und Ajax Als weiterer Punkt wird Odysseusʼ Verhalten nach seiner eigenen Verwundung angeführt. Dies ist dem Leser aus der Ilias bekannt: In Il. 11,434–458 wird Odysseus, nachdem er eine Vielzahl von Gegnern getötet hat, schließlich vom Hippasiden Sokos verwundet, wobei Athene eine tödliche Verletzung knapp abwenden kann. Seinen Gegner kann er mit letzter Kraft noch töten. Erst im Anschluss ruft er dreimal Menelaos um Hilfe an und wird von ihm und Ajax mithilfe von dessen Schild beschirmt und aus dem Kampf gerettet (Il. 11,461–488). Der anschließende Fokus der Erzählung liegt auf Ajaxʼ Rückkehr in den Kampf und seinen dortigen Taten. Ajax schildert aus seiner Perspektive als beteiligter Augenzeuge, wie er den um Hilfe rufenden Odysseus zitternd und bleich vor Todesfurcht daliegen gesehen habe, ihn mit seinem Schild beschützt und ihm so das Leben gerettet habe. Das Mitwirken des Menelaus erwähnt er zwar nicht, er behauptet allerdings auch nicht explizit, allein an der Rettung beteiligt gewesen zu sein, sodass es kein Widerspruch zum Iliastext ist.91 Im direkten Anschluss an die Rettung sei Odysseus, der eben nicht einmal mehr stehen konnte, gleich wieder zu Fuß geflohen, als sei er völlig unverletzt (met. 13,80f.: at postquam eripui, cui standi vulnera vires / non dederant, nullo tardatus vulnere fugit).92 Eine solche Begebenheit schildert der homerische Text nicht, allerdings liegt der Fokus der Erzählung auch auf Ajax und seinen weiteren Kämpfen, während die Figur des Odysseus aus dem Blick gerät und in den nächsten Büchern stets als verwundet und kampfunfähig dargestellt wird (Il. 11,661; 14,27–39; 379–382). Dafür, dass Odysseus also tatsächlich verwundet war, gab es zahlreiche Zeugen im Publikum, sodass Ajax die Verwundung zwar durchaus als erlogen darstellen kann, aber unter den Zuhörern kaum 91 Met. 13,73–76: conclamat socios: adsum videoque trementem / pallentemque metu et trepidantem morte futura. / Opposui molem clipei texique iacentem / servavique animam (minimum est hoc laudis) inertem. – „Er ruft die Gefährten herbei. Ich stehe schon bereit und sehe, wie er zittert und bleich ist vor Furcht und schlottert im Angesicht des drohenden Todes. Ich schirmte ihn mit meinem breiten Schild ab, schützte den am Boden Liegenden und rettete seine nutzlose Seele (das ist kaum eines Lobes wert).“ 92 „Aber nachdem ich ihn dort herausgezogen hatte, ihn, der wegen seiner Wunden nicht einmal die Kraft zum Stehen hatte, da lief er fort, ohne dass ihn eine Verwundung aufhielt.“ – Bömer 1982, 224 sieht eine Abweichung in der Formulierung eripui (met. 13,80), da im Iliastext nicht Ajax, sondern Menelaos Odysseus den Feinden entrissen habe. Doch da Ajax gerade einmal fünf Verse zuvor beschreibt, wie er schützend seinen massigen Schild zwischen den Gegner und den Verletzten hält (vgl. ähnlich Il. 11,485f.: Αἴας δ' ἐγγύθεν ἦλθε φέρων σάκος ἠύτε πύργον / στῆ δὲ παρέξ. Τρῶες δὲ διέτρεσαν ἄλλυδις ἄλλος. – „Ajax kam nun heran und trug den Schild, einem Turm gleich, und trat zu ihm; und die Troer zerstoben hierhin und dorthin“) ist der Vers hier wohl nicht wörtlich zu verstehen: Er hat Odysseus nicht direkt, sondern indirekt durch sein Eingreifen dem Tode entrissen.
Die Figurenreden 227
Glauben finden wird. Eben diesen Umstand macht sich Odysseus in seiner Antwort dann auch zunutze, indem er sein Gewand öffnet und stolz seine Wunden präsentiert als Widerlegung des Vorwurfs (met. 13,264f.) – und er nutzt die Gelegenheit gleich dazu, um Ajax aus dem Umstand, dass dieser selbst in all den Jahren nicht verwundet wurde, seinerseits einen Vorwurf zu machen (met. 13,266f.). Auf die gleich doppelt vorgebrachte Behauptung, er sei zu diesen zwei Zeitpunkten aus der Schlacht geflohen, geht Odysseus nicht ein, sondern wirft stattdessen den entsprechenden Gegenvorwurf in die Waagschale. Dafür verweist er auf eine Begebenheit, die dem Leser aus dem zweiten Gesang der Ilias bekannt ist. Dort prüft Agamemnon in Abstimmung mit dem Ältestenrat sein Heer, indem er bei einer morgendlichen Heeresversammlung behauptet, Zeus habe ihm in einem Traumbild zum Abbruch des langen Krieges und zur eiligen Heimkehr geraten. Auf diese Weise möchte er die Loyalität seiner Soldaten prüfen und sie im Zweifelsfall mithilfe der Alten wieder zum Kampf bewegen (Il. 2,53–143). Tatsächlich stößt der Vorschlag zur Heimreise auf Begeisterung, und alle Griechen, die zuvor nicht an der geheimen Beratung beteiligt waren, stürmen los, um Abreisevorbereitungen zu treffen. Auch in Aen. 2,18f. erwähnt Sinon den häufig diskutierten Wunsch der Griechen, die Mission abzubrechen und heimzukehren. Der Erzähler der Ilias berichtet, dass Odysseus sich aus eigenem Antrieb nicht an den Vorbereitungen beteiligt und unzufrieden über dieses Treiben ist. Doch erst Heras und Athenes Intervention führt dazu, dass er aktiv eingreift und die abreisebereiten Griechen, je nach Titel und Stand, mit Worten oder Schlägen zurück zur Heeresversammlung treibt (Il. 2,169–211), wo sich die Soldaten ruhig auf ihre Plätze begeben. Dort bringt Odysseus den lästernden Thersites, der als einziger noch Zweifel ausspricht, zum Schweigen; im Gegensatz zu diesem scheinen alle anderen durch ihr Schweigen ihre Zustimmung und ihre zurückgekehrte Kampfbereitschaft auszudrücken (Il. 2,211). Odysseus stellt diese Begebenheit nun inhaltlich deckungsgleich, aber in einem ganz anderen Licht dar: Er schildert, Ajax sei mit der Masse geflohen, er selbst sei Augenzeuge gewesen, wie dieser ihm den Rücken zugekehrt habe und geflohen sei (met. 13,223f.: quid, quod et ipse fugit? vidi, puduitque videre, / cum tu terga dares inhonestaque vela parares).93 Zwar steht die Behauptung wörtlich genommen in keinem direkten Widerspruch zur Schilderung im Iliastext, denn tatsächlich wendet jemand, der aufsteht und fortläuft, um dem Befehl zum Aufbruch zu folgen, seinem ursprünglichen Ort zunächst den Rücken zu. Und doch, auch wenn Odysseus es nicht explizit behauptet, wirken die Formulierungen in 93 „Was ist damit, dass er selbst weggelaufen ist? Ich habe es gesehen, und ich schämte mich, das zu sehen, als du geflohen bist und ehrlos die Segel [zur Abreise] vorbereitet hast.“
228 Odysseus und Ajax ihrer Wortwahl (223: fugit; 224: terga dare [...]; inhonesta; 229: aversos profuga de classe reduxi)94 so, als sei Ajax gegen einen Befehl mitten aus einem Kampfgeschehen geflohen. Auch das anschließende zustimmende Schweigen in der Versammlung legt Odysseus zulasten des Gegners aus: Ajax habe vor Angst zitternd nicht einmal gewagt, nach Luft zu schnappen (met. 13,230–232: convocat Atrides socios terrore paventes. / Nec Telamoniades etiamnunc hiscere quicquam / audet).95 Da Odysseus den fliehenden Ajax in den Kampf zurückgeschleift habe, seien seitdem all dessen spätere Taten ihm selbst zuzuschreiben (met. 13,216– 237). Mit der Erwähnung von Ajaxʼ Schweigen klingt die Darstellung der späteren Begegnung zwischen Odysseus und Ajax in der Unterwelt an, die Od. 11,543–564 erzählt.96 Hier spricht Odysseus Ajax an und fordert ihn auf, seine Schuldlosigkeit an dessen Tod nach dem Streit um die Waffen anzuerkennen und seinen Zorn zumindest nach seinem Tod aufzugeben – Ajax antwortet nicht und wendet sich schweigend ab.97 Von dieser späteren Begegnung können die Figuren natürlich noch nichts wissen. Eine Verbindung der Werkwelten findet daher nicht innerhalb der Handlungsebene, vermittelt durch das Figurenwissen, statt, sondern rein assoziativ durch den Leser. Auf der Handlungsebene stimmt der Metamorphosentext in den Figurenreden des Iudicium Armorum mit dem Iliastext überein, sodass dieses Werkganze als nichterzählter Teil der Metamorphosenwelt in ihre Einheit integriert wird. Auf der Ebene der Deutung und Bewertung innerhalb einer parteiischen Figurenrede reizen Ajax und mehr noch Odysseus allerdings den Spielraum aus, der ihnen angesichts der vielen selbst an den Ereignissen beteiligten Augenzeugen unter den Zuhörern gegeben ist. So wird durch die unterschiedlichen Perspektiven, Deutung- und Darstellungsweisen derselben Taten, die aus dem Vorgängertext bekannt sind, Vielheit erzeugt.
94 „Er ist weggelaufen“; „fliehen“; „ehrlos“, „ich zog die Fliehenden von der fluchtbereiten Flotte zurück.“ 95 „Agamemnon ruft die Gefährten zusammen, die vor Angst zitterten. Ajax wagt es nicht einmal jetzt, nach Luft zu schnappen.“ 96 Casanova-Robin 2003, 413f. 97 Diese Szene hat Vergil mit der Schilderung von Aeneasʼ und Didos Begegnung in der Unterwelt in Aen. 6,540–476 auf den Bereich von Liebeskummer und Beziehungen übertragen, indem Dido ihn anschweigt, ihre Augen senkt und sich schließlich wieder ihrem ersten Mann Sychaeus zuwendet. Dieses Motiv wiederum greift Ovid kontrastierend auf, indem Orpheus und Eurydica erst durch Blickkontakt in der Unterwelt in Schweigen getrennt (met. 10,56–63) und nach Orpheusʼ eigenem Tod wieder glücklich vereint werden (met. 11,61–66), vgl. Kap. 10.3.
Fazit 229
. Fazit Anhand der Figuren des Odysseus und des Ajax werden Kohärenzen innerhalb der Metamorphosenwelt in Zeit und Raum dargestellt. Beide Redner führen die traditionell bekannten Argumente an, inwiefern sie näher mit Achill verwandt und daher erbberechtigt seien.98 Zeitlich reichen die Erzählungen ihrer Beziehungen und Verwandtschaften – zumindest gerüchteweise99 – bis zu Sisyphus und Zeus zurück. Dabei verbinden sie auch die Räume von der Unterwelt (mit Sisyphus und dem Totenrichter Aeacus unter ihren Ahnen), vielen Gebieten der Erde (mit Telamons Teilnahme an der Argonautenfahrt) bis hin zum Olymp (mit Zeus, auf den beide letztendlich ihre Abstammung zurückführen). Beide Figuren sind außerdem mit dem Sagenkreis um die Figur Hercules verbunden; Ajax durch die Kameradschaft des Vaters Telamon auf der Argo, Odysseus durch seine Rolle im Schicksal um Philoktets Pfeile. Mit Herculesʼ Erwähnung durch die beiden Helden werden gleich zwei lose Erzählfäden aus dem Gesamtwerk der Metamorphosen wieder aufgegriffen und zusammengeführt: Philoktets Erbschaft der Pfeile am Scheiterhaufen deutet im neunten Buch proleptisch die Erzählung im 13. Buch an100 und Trojas erste Eroberung durch Hercules wird in der kurzen Passage met. 11,211–215 erzählt. So fungieren die Erwähnungen durch die später lebenden Figuren Ajax und Odysseus wieder auch als Verbindungselemente der einzelnen Stationen in Herculesʼ Leben, die so als Episoden einer kohärenten Figur zu lesen sind. Nicht alle angedeuteten Erzählungen sind ohne literarisches Vorwissen verständlich. Mithilfe intertextueller Elemente werden die aus Figurensicht geschilderten Ereignisse gleichgesetzt mit Ereignissen aus der Ilias, griechischen und lateinischen Tragödien und der Aeneis – Werkwelten werden so verknüpft. Doch bei der Neulektüre dieser Werke werden wiederum manche dort aufgefundenen
98 Z.B. Acc. 106–108: me est aequum frui / fraternis armis mihique adiudicarier / vel quod propinquus vel quod virtuti aemulus – „Es ist angemessen, dass ich die Waffen meines Vetters erhalte und sie mir zugesprochen werden, weil wir verwandt sind und weil ich seinem Vorbild an Tapferkeit folge“; met. 13,21f.: si virtus in me dubitabilis esset, nobilitate potens essem – „wenn man meine Leistung anzweifeln könnte, so wäre ich noch im Besitz einer vornehmen Herkunft“ und 31: frater erat, fraterna peto! – „Er war mein Bruder und ich fordere, was einem Bruder gebührt.“ 99 Ajax wirft Odysseus in met. 13,31–33 als übliche Art der Beleidigung vor, eigentlich von Sisyphus abzustammen. Dass dieser Anticleia noch vor der Hochzeit mit Laertes verführt und dabei Odysseus gezeugt haben soll, ist dem Leser – ebenfalls in der Funktion einer nicht vom Primärerzähler bestätigten Verleumdung – aus Aischyl. fr. 175 TrGF; Soph. Phil. 1311 und Eur. Iph. A. 524 bekannt. 100 Met. 9,231–23.
230 Odysseus und Ajax Leerstellen anders gelesen: In welchem Tempo bewegt sich Odysseus nach seiner Rettung vom Schlachtgeschehen fort und ist sein Fortbewegen als Flucht zu bewerten? Warum schweigt Ajax im Rat, statt die Kriegshandlungen gegen den Zweifler Thersites aktiv zu verteidigen? Warum erwähnt Phoenix in seiner Erzählung Achill gegenüber nicht, dass er an der calydonischen Eberjagd selbst teilgenommen hat – und warum ist es wiederum Nestor in anderen Werken so wichtig, immer wieder seine Teilnahme an diversen Exkursionen zu betonen? Die Figur Diomedes wird hier erstmalig und gleich mehrfach in beiden Figurenreden erwähnt, was die Weiterführung seiner Biographie in met. 14,457–511 vorbereitet. Während seine Figur hier noch als Verbindungselement zur Ilias fungiert, wird sie dort die Aeneis in die Werkwelt der Metamorphosen integrieren (Verg. Aen. 11,225–295). Auch anhand seiner Figur werden also die Werkwelten vor allem anhand von Figurenbiographien miteinander verzahnt bzw. als Hintergrundwelten miteinander zu einer Einheit verwoben.101 Nicht nur zur Vereinheitlichung von Werkwelten, auch zur Darstellung der Vielheit innerhalb dieser Einheit tragen die Figuren Ajax und Odysseus bei. Sie haben schließlich nicht nur verschiedene Ereignisse an unterschiedlichen Orten zur selben Zeit erlebt, die sie als Augenzeugen anstelle des Primärerzählers tatsachengerecht wiedergeben können; sie haben auch gleiche Ereignisse in verschiedener Weise erlebt, empfunden, gedeutet und, angepasst an ihre Ziele und Zuhörer, unterschiedlich dargestellt. Dass hiermit Vielheit dargestellt wird, zeigt
101 In wenigen Versen fasst Diomedes seine „so großen Strapazen“ (met. 14,478: tantos [...] labores) zusammen, die er in Kriegen zu Lande und umherirrend auf dem Meer erdulden musste. Inhaltlich, lexikalisch und strukturell auf die Figurenrede eines Helden des trojanischen Krieges bezogen wird ein Mythos aus der Gattung der Heimkehrersagen evoziert (so berichtet auch Menelaos in der Odyssee mit ähnlichen Worten von seinen Irrfahrten, Od. 4,81–96, und auch Jason in Apoll. Rhod. 4,1359f. spricht von „vielen Leiden zu Land und zu Wasser“, um seine Rückfahrt aus Kolchis zu beschreiben). Es ist ausgerechnet Aeneasʼ Mutter und Beschützerin Venus, die Diomedes ganz Ähnliches antut wie Juno ihrem Sohn, also eben das, was Venus nur wenig später in den Metamorphosen selbst verurteilt (met. 15,771–775). Durch die Erzählung der Leiden des iliadischen Helden Diomedes in vermittelten vergilischen Worten innerhalb der Metamorphosenwelt werden daher drei Funktionen erfüllt: Erstens werden die Welten dreier Werke auf Handlungsebene verbunden, zweitens wird dabei die Perspektive einer vergilischen Nebenfigur geschildert bzw. eine nicht-erzählte spätere Station der Biographie einer homerischen Hauptfigur hinzugefügt. Drittens wird durch das Parallelisieren seiner Geschichte mit der des Aeneas und das gleichzeitige Kontrastieren der Rolle der Figur Venus in beiden Erzählungen die Vielfalt der Facetten von Handlungen und Figuren innerhalb der Werkwelt betont. Vgl. hierzu und zu weiteren Anklängen Hinds 1998, 116–119, der insbesondere Diomedesʼ Klagerede so deutet, dass durch sie die berühmte Klage in Verg. Aen. 1,198f. bei einer Neulektüre zum Prequel des Metamorphosentextes werde (119).
Fazit 231
sich besonders deutlich an Odysseusʼ Strategie, gerade vernommene Ausführungen des Ajax zu wiederholen und dabei leicht zu verzerren und umzuwerten. Odysseus passt nicht nur seine Worte, sondern mit vollem Körpereinsatz auch seine ganze Rolle als Redner an seine Zuhörer an.102 Hinzu kommt, dass er in seiner Rede seine eigenen vergangenen Reden zu Taten oder sogar zu bedeutsameren Handlungen als die Taten, die aus ihnen folgen, umdeutet. 103 So wird das Thema ‚Unzuverlässigkeit der Überlieferung‘, das im zwölften Buch eine dominante Rolle gespielt hat (vgl. Kap. 11), wieder aufgegriffen und in leicht gewandelter Thematik als ‚Vielfalt der Darstellung von Überliefertem‘ weitergeführt.104 Aus Sicht der Redner liegt der Fokus ihrer Argumentation auf der Dualität von verba und facta, welche die Leserschaft aufgrund ihrer literarischen und rhetorischen Vorbildung traditionell mit den Figuren Ajax und Odysseus verbunden weiß und vielleicht schon selbst als Übungsrede in einer Schulaufgabe bearbeiten durfte. Doch darüber hinaus wird durch intertextuelle Bezüge auch die Vielfältigkeit (und Parteilichkeit) ihrer Sicht auf die Dinge, ihrer Rhetorik und insbesondere auch die charakterliche Wandelbarkeit des polytropen Odysseus thematisiert – auf der Ebene der Handlung und auch in ihrer wandlungsfähigen Darstellung in der Literatur. Eine weitere Beobachtung zum Schluss: Die Figur des homerischen Aeneas der Ilias wird weder im zwölften Buch in der Primärerzählung noch im Iudicium Armorum auf der von Figuren erzählten Handlungsebene mit dem ovidischen (und so in Form einer Dreiecksreferent im späteren Werkverlauf auch mit dem vergilischen) Aeneas gleichgesetzt. Dies wäre aufgrund seiner mehrfachen Erwähnung im Iliastext als Figur gut möglich:105 Hier prophezeit Poseidon dem 102 So fungiert im Aeneistext auch Sinon, dessen vergilische Darstellung in den Reden mit anklingt. 103 Z.B. met. 13,200f.: accusoque Parin praedamque Helenamque reposco / et moveo Priamum Priamoque Antenora iunctum – „ich klage Paris an und fordere die Beute und Helena zurück und rühre Priamus und zusammen mit ihm auch Antenor“; 213: consolor socios – „ich stärke den Mut meiner Kameraden“; 234f: erigor et trepidos cives exhortor in hostem / amissamque mea virtutem voce repono – „Ich richte mich auf, spreche den furchtsamen Bürgern Mut gegenüber dem Feind zu und gebe ihnen mit meiner Stimme die Tapferkeit zurück, die sie verloren haben“; 333–336. Vgl. zu diesem Gedanken Casanova-Robin 2003, 416–419. 104 Zu einem ähnlichen Schluss kommt in ihrer Untersuchung derselben Passage auch Casanova-Robin 2003, 411–423. 105 Z.B. erzählt Il. 20,307–317 von seiner Bestimmung, das Fortbestehen Trojas nach seinem Fall zu sichern und dabei von Hera verfolgt zu werden. Il. 5,334–354 wird Aphrodite von Diomedes verwundet, während sie mithilfe weiterer Götter Aeneas rettet. Dieser Erzählfaden wird in den Metamorphosen aufgegriffen und fortgeführt: In met. 14,457–511 schildert Diomedes die Leiden, die er aus ihrem Zorn darüber erdulden muss.
232 Odysseus und Ajax Aeneas das Schicksal, die Nachfahren der Trojaner zu beherrschen und das Volk fortzuführen, damit es nicht vollständig augelöscht werde (Il. 20,300–308).106 Eine Wiederaufnahme dieses Themas und eine direkte Gleichsetzung der Götterprophezeiung mit dem Fatum der Aeneasfigur bei Vergil (und evtl. auch Ennius und Naevius) hätte die Welten all dieser Werke aufs Deutlichste miteinander verbunden, und mithilfe einer nacherzählten Götterprophezeiung wäre es auch innerhalb der Figurenreden von Ajax und Odysseus durchaus möglich, übermenschliches Wissen aus dem Mund einer Figurenrede einzubringen. Warum Ovid auf diesen Zug verzichtet hat, bleibt unklar. Vielleicht reichte ihm das schwache Anklingen der Figur seines Vaters Anchises als Geliebtem der Venus im neunten Buch bereits aus, um das zukünftige Schicksal des Aeneas mit den späteren Erzählungen zu verknüpfen: Hier versucht Venus in einem Tumult von Göttern mit ihren jeweiligen Eigeninteressen, ihm ewige Jugend zu verschaffen. Jupiter dagegen lehnt ab und verweist auf das Fatum. Die Erzählung endet damit, dass Miletus von seinen patriae penates (met. 9,446) von Creta flieht, um in Asien eine neue Stadt zu gründen. So klingt Aeneasʼ Bestimmung, aus Asien zu fliehen und unter anderem auf Creta neue Städte zu gründen, im Kontext seiner Zeugung anhand einer kontrastierenden Erzählung bereits vier Bücher zuvor an.
106 Ähnlich auch der homerische Aphroditehymnos 196f. Vgl. Heckel/Burckhardt/Hadot 2006.
Die Gefährten des Odysseus .
Einleitung
Im 14. Buch der Metamorphosen berichten sich zwei ehemalige Gefährten des Odysseus gegenseitig von ihren Erlebnissen, die sie nach ihrer Trennung auf der Cyclopeninsel ohne den jeweils anderen Kameraden erlebt haben. All diese Abenteuer sind dem Leser bereits aus dem neunten und zehnten Gesang der Odyssee bekannt, werden nun aber aus einem neuen Blickwinkel erzählt. Einer der Gefährten ist die Figur Achaemenides, die von Vergil neu in die lateinische Literatur eingeführt wurde. Wie zur Bestätigung dieser Neuerfindung des Vergiltextes und deren Handlungslogik, dass die Aeneaden hierdurch die Gefahren der Cyclopeninsel umgangen sind,1 ist dieselbe Figur auch in den Metamorphosen durch die Trojaner von dort gerettet und freundlich aufgenommen worden. Nun trifft er an der latinischen Küste auf einen weiteren Überlebenden aus Odysseusʼ Gefolge, den jetzt von Ovid neu eingeführten ehemaligen Gefährten Macareus.2 Grundsätzlich folgen ihre Berichte dem Aufbau der homerischen Erzählung und geben sie passagenweise fast wörtlich wieder. Nicht alle Etappen der Reise werden erzählt; der Kampf gegen die Ciconen wird in den Metamorphosen nicht geschildert3 und auch der Besuch bei den Lotophagen interessiert im Gespräch zwischen Macareus und Achaemenides nicht – diese Erlebnisse haben sie ja noch gemeinsam erlebt, sodass es aus Figurensicht unsinnig wäre, sie zu wiederholen. Die Trennung des Achaemenides von der Gruppe – und damit des Figurenwissens der beiden Erzähler – entspricht den Schlussversen des neunten Gesanges der Odyssee – nicht der Buchgrenze selbst! –, sodass ihre Erzählungen folgerichtig auch erst hier einsetzen. In der Forschung lange Zeit als „Kurzzusammenfassung“ der vergilischen und homerischen Erzählungen marginalisiert4 und in der Folge wenig beachtet, 1 Papaioannou 2005, 80. 2 Zur Erfindung des Macareus durch Ovid vgl. Ellsworth 1988, 335 mit Verweis auf LaFaye 1904, 125; Ludwig 1965, 67; Otis 1966, 289; Bernbeck 1967, 119; Due 1974, 84 und 230; Hinds 1998, 111f.; Schade 2001, 529. 3 Die Ciconen selbst werden jedoch an anderen Stellen erwähnt. In met. 10 und 11 dient das Land der Ciconen als Hintergrund für die Erzählungen um Orpheus (vgl. met. 11,3); in der Rede des Pythagoras berichtet er aus seiner gelehrten, aber nicht allwissenden Perspektive von einem Fluss bei den Ciconen mit versteinernder Wirkung (met. 15,313f.). 4 Guthmüller 1964, 114–119; Ludwig 1965, 67; Bernbeck 1967, 117 und 120f.; Döpp 1968, 136f.; Lamacchia 1969, 14–18; Otis 1970, 286–291; Coleman 1971, 472; Due 1974, 84; Galinsky 1975, 229– 235; Ellsworth 1988, 335: „summarizes what happened“; „summary form“; 336: „the verbal https://doi.org/10.1515/9783110785005-013
234 Die Gefährten des Odysseus erfüllen diese homernahen Textpassagen mehr als eine nacherzählende Funktion. Doch erst in den letzten Jahren gibt es vermehrt Versuche, das komplexe Verhältnis zwischen Ovids Aeneis-Episode und den Vorgängertexten – insbesondere der Aeneis und der Odyssee – auch in ihren narratologischen Makro- und Mikrostrukturen zu analysieren. Damit verbunden ist vornehmlich die Frage, inwiefern dem Leser das Verhältnis zu den Vorgängertexten durch narrative Mittel transparent gemacht oder gar ‚kommentiert‘ wird und wie sich dies auf die Bedeutung der Erzählung, etwa auf die Bewertung der Figuren, ihrer Handlungen, Weltbilder oder Motive, auswirkt.5 Im Folgenden soll auf diesen Untersuchungen aufbauend geprüft werden, inwiefern mittels der Figuren Achaemenides und Macareus und ihrer internen Erzählungen Textbezüge hergestellt werden, welche die Metamorphosenwelt über den vorliegenden Text hinaus erweitern, indem etwa weitere Texte als Hintergründe in die Einheit der Welt mit aufgenommen werden. Zudem werden intertextuelle und interfigurale Bezüge auf ihre Funktion hin betrachtet, die Vielheit der Werkwelt zu multiplizieren.
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Die redenden Figuren
Im vergilischen Epos bildet die Erfindung der Figur des Achaemenides (von Ἀχαιός, „Grieche“ und μένω, „zurückbleiben“,6 oder auch von ἄχος, „Leid“) im dritten Buch das einzige narrative Verbindungselement, das die Werkwelt auf der Handlungsebene direkt mit der Welt der homerischen Odyssee gleichsetzt. 7 Er fungiert außerdem werkimmanent als Kontrastfigur zum ‚Schädling‘ Sinon im zweiten Buch.8 Zugleich bietet er eine Gelegenheit, die Charaktere von Anchises und Aeneas als offen, freundlich und milde gegenüber ehemaligen Feinden zu echoes occasionally found“ mit Verweis auf LaFaye 1904, 125–129; Schade 2001, 525–527; vgl. dagegen z.B. Papaioannou 2005, 10 mit Fn. 28. 5 Papaioannou 2005, 110: „[A]s he recalls Vergilʼs Achaemenides episode, Ovid emulates the poet of the Aeneid by engaging in a dialogue intended to highlight his mastery over the governing rules of textuality.“; Krause 2010, 7–32, 25: „Ovid [...] kommentiert auch die Art und Weise, wie Vergil seinen Prätext verarbeitet hat“; Janka 2013, 61: „Nicht von ungefähr [...] hat Ovid die metapoetische Bewusstheit auch insofern auf die Spitze getrieben, als er in seiner sogenannten ‚Kleinen Aeneis‘ [...] das trianguläre Beziehungsmodell Homer – Vergil – Ovid nicht bloß implizit ständig transparent werden lässt, sondern sogar in den narrativen Strukturen spiegelt“. 6 Papaioannou 2005, 80: „traditionally interpreted ‚the Greek who was left behind’“. 7 Hinds 1998, 111; Barchiesi 2001, 16f. 8 Papaioannou 2005, 81: „Initially, and before his identity is revealed, he is pictured as a duplicate Sinon, the other Greek that was left behind earlier in Aeneid 2“; vgl. auch 93.
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zeichnen.9 Intertextuell ist Achaemenides in der Aeneis und auch in den Metamorphosen als Parallelfigur des Philoktet aus den griechischen und römischen Tragödien gestaltet:10 Beide Figuren wurden von Odysseus schutzlos auf einer Insel zurückgelassen und haben sich aus enttäuschtem Zorn von diesem abgewendet. Seine Neuschöpfung durch Vergil wurde in der Forschung vielfach zur Kenntnis genommen.11 Welche Folgen seine Neuerfindung auf der Ebene der homerisch-vergilischen Werkdiegese auch für die Homerlektüre hatte, bleibt dabei jedoch erstaunlich unerwähnt:12 Die bloße Existenz eines überlebenden Gefährten musste zu einer Neulesung des Prooemiums der Odyssee führen, nach dem seine „Gefährten verloren gingen aus eigener Torheit“ (Hom. Od. 1,7f.); bei Kenntnis des Vergiltextes weiß man nun, dass einige der verlorenen Gefährten ihm zwar tatsächlich als Gefährten verloren gingen, aber dabei zumindest noch ihr Leben retten konnten. Ebenso lässt sich Odysseusʼ Kommentar am Phäakenhof, er habe auf seiner Flucht von der Cyclopeninsel seine lieben Gefährten verloren (Od. 9,566), nach der Vergillektüre rückblickend nicht nur als auf die Toten bezogen lesen, sondern auch auf den Verlust des noch lebenden Achaemenides. Vergil hatte Achaemenides innerhalb der Figurenrede des Aeneas an Didos Hof als einen verwahrlosten, ausgezehrten Mann dargestellt, der sich den Trojanern hilfesuchend am Strand der Cyclopeninsel nähert: subito e silvis macie confecta suprema ignoti nova forma viri miserandaque cultu procedit supplexque manus ad litora tendit. respicimus. dira illuvies immissaque barba, consertum tegimen spinis: at cetera Graius, et quondam patriis ad Troiam missus in armis.
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Plötzlich trat aus den Wäldern, von äußerstem Hunger ausgezehrt, die neuartige Gestalt eines unbekannten Mannes hervor – ihr Erscheinungsbild war bemitleidenswert – und streckte unterwürfig ihre Hände zum Strand aus. Wir blicken hin: Der Dreck war scheußlich
9 Eine ähnliche Konstellation findet sich in Apoll. Rhod. 3,299–366, indem die Phrixossöhne ihrem Großvater Aietes lobend von ihrer Rettung und den edlen Charakteren der Argonauten berichten. Vgl. zur Darstellung des Odysseus/Odysseus als Gegenfolie zum positiv gezeichneten Aeneas in Vergils Aeneis Papaioannou 2005, 81, 89 und 110. 10 Vgl. Kap. 12.5. 11 Ellsworth 1988, 334f.; Hinds 1998, 111–115; Schade 2001, 529 u.a. 12 Ausnahmen bilden Papaioannou 2005, 109f. – sie schlägt vor, seinen Namen etymologisch vom glücklichen Ausgang seines Schicksals abzuleiten, den es durch seinen freiwilligen Ausstieg genommen hat – und Janka 2013, 73 und 75.
236 Die Gefährten des Odysseus und der Bart war gewuchert, die Kleidung mit Dornen gespickt – aber ansonsten war er ein Grieche und zu einer anderen Zeit in den Waffen seiner Heimat nach Troja gesandt. (Aen. 3,590–595)
Seinen Zustand wird er noch innerhalb derselben Gesprächssituation – und daher auch noch in derselben Erscheinung – damit erklären, dass er von Odysseus und den anderen griechischen Gefährten auf der Flucht vor dem Cyclopen zurückgelassen worden sei. Im Metamorphosentext dagegen wird eine Figur desselben Namens, welche kurz darauf die gleiche Geschichte aus ihrer Ich-Perspektive erzählen soll – und daher mit der vergilischen Figur auf der Ebene der Handlung gleichzusetzen ist –, vom Primärerzähler mit der Information eingeführt, dass seine dreckige und verwahrloste Erscheinung zu diesem Zeitpunkt der Erzählung „nicht mehr“ vorliege, d.h. vorher auch hier vorgelegen habe: desertum quondam mediis qui rupibus Aetnae noscit Achaemeniden inprovisoque repertum vivere miratus, 'qui te casusve deusve servat, Achaemenide? cur' inquit 'barbara Graium prora vehit? petitur vestra quae terra carina?' talia quaerenti, iam non hirsutus amictu, iam suus et spinis conserto tegmine nullis, fatur Achaemenides:
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Er erkannte Achaemenides, den er damals zwischen den Felsen des Aetna im Stich gelassen hatte, und staunend darüber, dass dieser unerwartet wiedergefundene [Kamerad] am Leben war, fragte er: „Welches Schicksal und welcher Gott rettet dich, Achaemenides? Warum fährst du als Grieche auf einem barbarischen Schiff? Zu welchem Land führt eure Seereise?“ Ihm, der solche Fragen stellte, antwortete Achaemenides, nicht mehr schmutzstarrend in seinem Gewand, schon ganz er selbst und die Kleidung nicht mehr mit Dornen gespickt: (met. 14,160–167)
Macareus erkennt Achaemenides und staunt über sein unerwartetes Auftauchen. Das Erstaunen über das Wiedererkennen liegt auf der Handlungsebene darin begründet, dass er nach ihrer Trennung auf der Cyclopeninsel nicht damit gerechnet hat, den zurückgelassenen Gefährten noch einmal wiederzusehen – schon gar nicht in gepflegter Erscheinung auf einem trojanischen Schiff. Doch darüber hinaus fungieren die Formulierungen auch als intertextuelle Signale.13 Zunächst 13 Baier 1999, 438, der die Formulierung miratus (met. 14,162) bemerkt, deutet dies und die folgenden Verse lediglich auf Handlungsebene als „erstaunte[...] Begrüßung der beiden, die es nicht erwartet hatten, sich an diesem Ort und unter solchen Umständen wiederzutreffen“. Dagegen Papaioannou 2005, 87; Janka 2013, 83f. und Myers 2009, 91: „Macareusʼ recognition of Achaemenides [...] may signal another intertextual reference to Virgilʼs earlier treatment“.
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einmal kann sich in den Worten inproviso und miratus auch das Staunen des Lesers widerspiegeln, der die vergilische Neuerfindung innerhalb des Weltgedichts der Metamorphosen mit aufgenommen findet. Die Wörter noscit,14 repertum und servat bilden eine assoziative Kommentierung des Umstandes, dass auch der Leser „erkennt“, dass hier eine aus einem konkreten Werk stammende Figur „wieder-erzeugt“ und so in die Werkwelt aufgenommen wird, die ihn literarisch weiter „bewahrt“. Die Betonung des Erstaunens während der Wiedererkennungsszene ruft dem Leser außerdem in Erinnerung, mit welchem Überraschungseffekt der vergilische Achaemenides eingeführt wurde. Hier baut der Text zunächst die Erwartung auf, dass die Trojaner auf dieser Insel direkt auf den Cyclopen treffen.15 Stattdessen entpuppt sich die plötzlich aus dem Wald stürmende Schreckensgestalt als verwahrloster Grieche, der – überraschend unproblematisch und herzlich – von den Trojanern, seinen ehemaligen Todfeinden, aufgenommen wird.16 Vergil hatte seinen Achaemenides in Aen. 3,591 als ignoti nova forma viri eingeführt und damit seine verdreckte, von Hunger und Leid ausgezehrte Gestalt auf Handlungsebene gemeint, z.B. 594: consertum tegimen spinis. Seine Einführung in der Metamorphosenerzählung als iam non hirsutus amictu, / iam suus et spinis conserto tegmine nullis (met. 14,165f.) lässt sich so deuten, dass hier eine zweifache Anspielung auf die Chronologie vorliegt, nämlich einerseits auf der Handlungsebene und andererseits über die Erzählung hinaus auch bezogen auf die Literaturgeschichte.17 Nach Kenntnis des Ovidtextes kann man auch die vergilische Formulierung ignoti nova forma viri neu lesen und sie als Kommentierung seiner literarischen Neuerfindung der noch stark homerisch eingebundenen und darum nicht ‚eigenen‘ Figur verstehen. Nun aber, nach einer gewissen Zeit der literarischen Rezeption bis hin zur Erscheinung der Metamorphosen, hat er sich als eigene Figur (iam suus) und unabhängig vom früheren homerischen Werk behaupten können.18 In gleicher Weise lassen sich die direkt folgenden Worte am Anfang seiner Rede iterum Polyphemon (met. 14,167)19 und seine Betonung einer bewusst erlebten Erinnerung (met. 14,204f.: mentique haerebat imago / temporis 14 Dies greift direkt kontrastierend Verg. Aen. 3,391 ignoti [...] viri auf, Vgl. Janka 2013, 83. 15 Aen. 3,568f.: interea fessos ventus cum sole reliquit, / ignarique viae Cyclopum adlabimur oris – „Inzwischen verließen uns Erschöpfte der Wind und das Tageslicht und wir näherten uns ohne Orientierung den Küsten der Cyclopen“. 16 Vgl. Papaioannou 2005, 89 und 92f. und Janka 2013, 81f., der außerdem zeigt, inwiefern der Vergiltext Achaemenides zu einer Gegenfigur zu Polyphem zeichnet, indem anhand seiner Figur u.a. Elemente zur Aufrichtigkeit und Gastfreundschaft kontrastiert werden. 17 Hinds 1998, 113f.; Papaioannou 2005, 104; 109; Krause 2010, 12; 16 und passim. 18 Hinds 1998, 111–114 und Papaioannou 2005, 92f. 19 „Erneut den Polyphem“.
238 Die Gefährten des Odysseus illius, quo vidi)20 als solche intertextuellen Kommentare darauf lesen, dass hier eine Wiederholung einer Wiederholung bzw. eine Anspielung auf eine Anspielung stattfindet und womöglich noch weitere zu erwarten sind.21 Dies erfolgt wieder durch die Kombination mit einer wörtlichen und metrischen Wiederholung aus dem Vergiltext, der selbst auf Homer referiert, und zudem aus dem Munde derselben Figur, die von derselben Begebenheit erzählt.22 Macareus (von μάκαρ, „glücklich“) ist wiederum eine Neuschöpfung Ovids. Bezogen auf die intratextuelle Einordnung im Gesamtwerk bildet er durch seinen bescheiden gestalteten Tatenbericht eine Gegenfigur zu Nestor, Odysseus und anderen heroischen Erzählfiguren, die sich stets im besten Licht darstellen. Seine Perspektive bildet exemplarisch die Sicht einer kleineren Gefährtenfigur auf die Welt und die darin stattfindenden Geschichten ab und bereichert damit auf der Handlungsebene die dargestellte Vielheit innerhalb der Werkwelt. Jenseits der Handlungsebene liegt eine Funktion der Figur Maraceus darin, dass Ovid damit Vergils Strategie wiederholt (und damit betont offenlegt), die Figur Achaemenides neu einzuführen. Indem er so dessen Umgang mit dem homerischen Text repetiert, thematisiert er seinen intertextuellen Dialog mit dem Vorgänger.23 Für die hier untersuchte Fragestellung bedeutet dies, dass die Erweiterung der Werkwelt der Metamorphosen um vergilische und homerische Elemente anhand der Figuren von Achaemenides und Macareus nicht bloß implizit durchgeführt, sondern dem Leser als Erzählstrategie explizit offengelegt wird.
20 „Und im Geist haftet mir das Bild von dem Moment, als ich ansah“. 21 Hinds 1998, 114f., hier 115: „a cue for still more allusions to Virgil and to Homer“; Papaioannou 2005, 92–94; Krause 2010, 19: „Der Dichter kommentiert nicht nur die Wiederholung innerhalb der Geschichte, sondern auch die Wiederholung innerhalb des Erzählvorgangs“. 22 Ovid, met. 14,196: [cuius] et elisi trepident sub dentibus artus – „und unter dessen Zähnen die zerquetschten Glieder zuckten“; Verg. Aen. 3,627: [cum] et tepidi tremerent sub dentibus artus – „und als die noch warmen Glieder unter seinen Zähnen zitterten“; Hom. Od. 9,289–293; der Polyphem in der Rede des homerischen Odysseus tötet und zerstückelt die Gefährten allerdings, ehe er sie am Tisch verspeist. Es liegen also inhaltliche Unterschiede zur Erzählung des vergilisch-ovidischen Achaemenides vor – diese ließe sich aber durch die unzuverlässige Widergabe derselben Handlungen durch die jeweilige Erzählerfigur erklären (dass Lügen oder Irrtümer bei ovidischen Figuren vorkommen und sogar als solche erläutert werden, wurde in Kap. 5 und in Kap. 11.6 und 13 an verschiedenen Beispielen gezeigt), so dass die drei Werkwelten trotzdem für diese Passage gleichgesetzt werden können. 23 Hinds 1998, 111–115. – Dass ihm diese Strategie niemand nachmachte, um wiederum Macareus als Figur erneut darzustellen und ihm ein literarisches Fortleben zu verschaffen, wussten Autor und Leserschaft zur Zeit der Publikation natürlich noch nicht – doch der Grundstein und die Möglichkeit dafür waren zumindest gelegt, vgl. zu diesem Gedanken Papaioannou 2005, 80.
Die Figurenreden 239
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Die Figurenreden
.. Achaemenides Erstmals im Aeneistext und zum zweiten Mal in den Metamorphosen tritt Achaemenides als Grieche unter den irrfahrenden Trojanern auf. Er berichtet beidemal rückblickend von seinen eigenen Erlebnissen unter Odysseus auf der Cyclopeninsel, die dem Leser wiederum aus dem neunten Gesang der Odyssee aus der rückblickenden Rede des Odysseus am Phäakenhof vertraut sind. Alle drei Texte behandeln also das gleiche Erlebnis, zwei davon aus der Perspektive derselben Figur mit einem Abstand von etwas über einem Jahr der Handlungszeit. In den Erzählsituationen dieser beiden Achaemenidesreden finden sich dabei bedeutsame Unterschiede: Seine Erzählung im Aeneistext – referiert durch Aeneas an Didos Hof24 – findet noch auf der Insel und in unmittelbarer Gefahr für Erzähler und Adressaten statt. Es besteht zudem ein Machtgefälle zwischen den gut ausgerüsteten, befeindeten Trojanern als Zuhörern und dem griechischen Erzähler, der sich hilflos, verängstigt und bittflehend aus einer Gefahrensituation heraus nähert.25 Von den Trojanern sofort gastfreundlich aufgenommen und im klassischen Fragenkanon26 nach Namen, Herkunft und seinem Schicksal befragt,27 formuliert er seine Erzählung trotz der drohenden Gefahr artig der Reihenfolge dieser Leitfragen entlang. Der epischen Tradition entsprechend nennt er also sein Vaterland Ithaca, seinen Namen, seinen literarisch ansonsten nicht belegten und auch innerhalb der Werkwelt unbedeutenden Vater Adamastus (Aen. 3,614f.: nomine Achaemenides [...] genitore Adamasto / pauper)28 und erst zuletzt seine Erlebnisse, deren 24 Vgl. zu den Konsequenzen, die hierdurch für die jeweiligen „focalizer“, „narrators“ und „audiences“ ergeben, weiterführend auch Papaioannou 2005, 98–107. 25 Aen. 3, 596–599: isque ubi Dardanios habitus et Troia vidit / arma procul, paulum aspectu conterritus haesit / continuitque gradum. Mox sese ad litora praeceps / cum fletu precibusque tulit. – „Und als er von Weitem den trojanischen Kleidungsstil und troische Waffen sah, geriet er bei unserem Anblick kurz ins Stocken und blieb stehen. Doch bald stürzte er unter Tränen und Bitten zum Strand“. 26 Papaioannou 2005, 90. 27 Aen. 3,608f.: qui sit fari, quo sanguine cretus, / hortamur, quae deinde agitet fortuna fateri. – „Wir fordern ihn auf, zu sagen, wer er sei, von welcher Abstammung und auch, welches Schicksal ihn treibe“. 28 „Mit dem Namen Achaemenides, aus einfachen Verhältnissen, der Vater heißt Adamastus.“ – Auf gleiche Weise erhält der Steuermann der Piraten, der im homerischen Dionysoshymnos namenlos bleibt, im Metamorphosentext von Pentheus befragt die Gelegenheit, Namen und Herkunft anzugeben (met. 3,580–583): „ede tuum nomen nomenque parentum / et patriam […]! /
240 Die Gefährten des Odysseus Schilderung angesichts der Gefahr eigentlich so drängt: Er habe unter Odysseus vor Troja gekämpft und sei auf der Rückfahrt in höchster Gefahr von diesem und auch von den anderen Gefährten in der bluttriefenden Höhle eines Cyclopen zurückgelassen worden. Von den Schreckbildnissen der Höhle ausgehend erzählt er in einem schaudererregenden Augenzeugenbericht,29 wie der Cyclop seine Kameraden gefressen habe und wie Odysseus und die Mannschaft ihn als Rache für die getöteten Gefährten betrunken gemacht und mit einem glühenden Baumstamm geblendet haben. Die zweite Hälfte der Rede berichtet sein eigenes Leid über die vergangenen drei Monate, die er allein, hungrig und in ständiger Bedrohung durch die Cyclopen zugebracht habe. Er warnt die Trojaner vor dieser Gefahr und drängt sie, ihn zu retten (Aen. 3,640–654). Tatsächlich erscheinen direkt im Anschluss an seine Rede in der Ferne der geblendete Cyclop, der die Trojaner vergeblich mit Felsen attackiert, und schließlich noch weitere Cyclopen. Der Cyclop erhebt ein Geschrei, das anders als gegenüber den Griechen im Odysseetext hier unartikuliert oder gar sprachlos bleibt.30 Die Trojaner können in einer eiligen Flucht entkommen und fahren die Reiseroute des Odysseus in umgekehrter Reihenfolge ab (Aen. 3,690f.: talia monstrabat relegens errata retrorsus / litora Achaemenides, comes infelicis Ulixi).31 Der Ovidtext lässt Achaemenides im Gegensatz dazu seine Erlebnisse in wieder gepflegter Erscheinung im sicheren Hafen von Caieta erzählen, womit die Erzählsituation der des Odysseus am Phäakenhof entspricht32 – wenn auch unter einfacheren Leuten. Die Figurengruppe um Aeneas hat gerade das Ende ihrer Irrfahrten über das Mittelmeer erreicht, den Unterweltsbesuch abgeschlossen und im Hafen von Caieta angelegt. Dieser Zeitpunkt in der Handlung entspricht bei einer Gleichsetzung der Werkwelten mit dem Aeneistext dort der Buchgrenze
„Nomen mihi“, dixit, „Acoetes, patria Maeonia est, humili de plebe parentes“ – „Gib deinen Namen an und den Namen deiner Eltern und deine Heimat […]!“ – „Mein Name ist Acoetes, meine Heimat ist Mäonien, meine Eltern sind aus dem einfachen Volk“. 29 Vgl. zu seiner Augenzeugenschaft und die entsprechenden „markers of allusion“, die sich aus der Darstellung seiner Wahrnehmung ergeben, etwa Papaioannou 2005, 98–107. 30 Aen. 3,672–674, bes. 672: clamorem immensum tollit. – „Er ließ unermessliches Gebrüll ertönen“. Vgl. zum sprachlosen Cyclopen bei Vergil, der mehr der Naturgewalt des Aetna ähnele als einer Figur, Galinsky 1975, 232 31 „Solches berichtete Achaemenides, der Gefährte des unglücksseligen Odysseus, während er in umgekehrter Reihenfolge an den Küsten seiner Irrfahrt vorbeisegelte“. 32 Janka 2013, 80 findet diesen „entscheidenden Unterschied in der Fokalisation seiner Cyclopenerzählung im Vergleich zu Vergil“ auch sprachlich ausgedrückt, indem der verglische Achaemenides hilfesuchend ‚auf sie zugeht‘ (Aen. 3,592: procedit), während im Ovidtext sein Zuhörer und späterer Erzähler Macareus sich schon längst niedergelassen (met. 14,158: substiterat).
Die Figurenreden 241
zwischen dem sechsten und siebten Buch und damit der ersten und zweiten Werkhälfte, nämlich dem „Odyssee-“ und dem „Ilias-Teil“ der Aeneis. Hinds bemerkt, dass in Vergils Text eine Prolepse vorliegt, da die Küste hier bei ihrer namentlichen Nennung in den letzten zwei Versen des sechsten Buches (Aen. 6,900f.) auf der Ebene der Handlung noch gar nicht Caieta heißt; die Amme, nach der sie benannt wird, soll hier erst in den ersten Versen des siebten Buches bestattet werden, sodass der Ort bei der Landung der Trojaner eigentlich noch zu Unrecht so benannt wird. Auf eben diese Unstimmigkeit habe Ovid mit einer intertextuellen „Glosse“ hinweisen wollen, wenn er die Region ausdrücklich als „die noch nicht nach der Amme benannte Küste“ nennt (met. 14,157: litora adit nondum nutricis habentia nomen).33 Der Leser erinnert sich durch die Ähnlichkeit in Handlung, Figureninventar und Lexik an den Beginn des siebten Aeneisbuches und sieht die Identität des darin dargestellten Orts und somit auch der restlichen Werkwelten bestätigt. Die Bestattung der Amme wird im Anschluss an die Figurenreden in met. 14,441–444 erzählt. Achaemenidesʼ Publikum bilden auch im Metamorphosentext Aeneas und die Trojaner, denen er den Bericht dem Vergiltext zufolge bereits erstattet hat. Als neuer Zuhörer kommt Macareus hinzu, sein langjähriger Kamerad, der die Schrecken in der Cyclopenhöhle mit ihm gemeinsam erlebt und dabei ebenfalls als Augenzeuge dieselben Gefährten verloren hat.34 Bei der Flucht aus der Höhle überließ die Gefolgschaft des Odysseus Achaemenides seinem Schicksal auf der Insel (Aen. 3,616–619: hic me, dum trepidi crudelia limina linquunt, / immemores socii vasto Cyclopis in antro / deseruere).35 Da die Trennung durch eine rücksichtlose Tat der Mannschaft unter Leitung des Odysseus verursacht wurde, an der Macareus eine Mitschuld trägt, ist dies zunächst eine unangenehme Situation für beide Kameraden. In der literarischen Tradition ist das Zurücklassen eines hilflosen Kameraden in der Wildnis anhand der Erzählungen um Philoktet ein Thema, das in Epen, Tragödien und auch in philosophischen Texten als Beispiel für unsagbares Leid
33 „Er betritt das Gestade, das noch nicht den Namen der Amme trägt.“ – Hinds 1998, 108–111; 109 nennt er Ovids nondum eine „mock-pedantic correction“ der Prolepse im Aeneistext. 34 So auch Papaioannou 2005, 107: „[B]oth accounts are set in a posterior narrative time. The reason for this discrepancy is self-evident. Macareus was also present in the Cyclopsʼ Cave when the tragedy took place“; vgl. ebenso Krause 2010, 26, die so die Phantasie von möglichen zukünftigen Morden (met. 14,203) als Ersatz für eine unsinnige erneute Schilderung der gemeinsam erlebten Höhlenszene erklärt. 35 „In diesem Moment nun, als sie zitternd die grauenhafte Behausung verließen, vergaßen mich meine Gefährten und ließen mich in der schrecklichen Höhle des Cyclopen zurück“.
242 Die Gefährten des Odysseus behandelt wurde.36 Vor dieser Folie, die eigentlich topisch für das grausamst denkbare Leid überhaupt steht, ergeht es Achaemenides sogar noch schlechter, da Philoktet zumindest noch bewaffnet war und sich so Vögel als Nahrung und Material für warme Kleidung erlegen konnte. Achaemenides dagegen war der Bedrohung durch feindliche Monster völlig wehrlos ausgeliefert. Zwei Blickweisen auf den Umgang mit einer solchen Schuld aus der Sicht der duces Ajax und Odysseus hat ein kontinuierlicher Leser bereits ein Buch zuvor über Philoktets Aussetzung gelesen. Nun kommen mit Achaemenidesʼ Rede als der eines betroffenen Opfers und Macareusʼ direkter Konfrontation mit seiner Schuld weitere Facetten dieser Thematik hinzu, was die Vielfalt einander ähnlicher Situationen innerhalb der Metamorphosenwelt erweitert. Macareus fragt Achaemenides anders als die vergilischen Trojaner nicht nach seiner Herkunft, seinem Namen oder seinen Abenteuern, die er ja bereits kennt, sondern nur nach den Umständen seiner Rettung aus dieser Lage (in der er ihn ja selbst gebracht hat); dann, warum ausgerechnet Trojaner ihn als Griechen auf ihrem Schiff aufgenommen haben und wie seine weiteren Pläne aussehen (met. 14,162–164: „Qui te casusve deusve / servat, Achaemenide? Cur“, inquit, „barbara Graium / prora vehit? petitur vestra quae terra carina?“).37 Dem Adressaten und den Fragen entsprechend fällt auch seine Rede im Metamorphosentext anders aus als in den Vorgängertexten. Statt seine Herkunft oder noch einmal die Erkundung der Insel zu schildern wie Odysseus am Phäakenhof (Od. 9,106– 9,566) oder aber die gemeinschaftliche Blendung des Cyclopen wie der vergilische Achaemenides ein Jahr zuvor den Trojanern gegenüber, drehen sich all seine Ausführungen um die Gefahren und Schreckensbilder, denen er allein überlassen wurde, während die Gefährten ohne ihn die Flucht ergriffen haben – und seine Dankbarkeit seinen Rettern gegenüber. Die ständige Betonung der grauenhaften Erinnerungen fungieren dabei rhetorisch als Vorwurf des enttäuschten Achaemenides, dass sein Zuhörer Macareus ihn in dieser Situation im Stich lassen konnte – diese ‚barbarischen‘ Trojaner, die ihn so freundlich aufgenommen haben, seien ihm nun lieber als jegliche Gesellschaft von Ithakern, „egal ob nun auf See oder in der Heimat selbst“ (met. 14,169).
36 Vgl. Kap. 12.5. 37 „Welcher Zufall oder welcher Gott hat sich gerettet, Achaemenides?“, fragte er, „Warum fährst du als Grieche auf einem barbarischen Schiff mit? Welches Land ist das Ziel eures Schiffes?“
Die Figurenreden 243
Achaemenides zeigt sich damit als anpassungsfähiger Charakter, der sich vom Griechen zum Nicht-Griechen gewandelt hat.38 Dieser Wandel geht so weit, dass er, der sich ein Jahr zuvor noch mit seinem Heimatort und seinem Vatersnamen vorgestellt hat (Aen. 3,613–615), nun sogar seinen Vater „verleugnet“,39 obwohl der ihm – anders als sein nachlässiger Anführer Odysseus – nie etwas Böses getan hat. Seine Metamorphose vom Griechen im Vergiltext zum troischen Mitläufer im Ovidtext wird intertextuell in der stilistischen Wiederaufnahme der Charakterisierung betont, welche die Figurenrede jeweils einrahmt: 40 Aen. 3,613f.: sum patria ex Ithaca, comes infelicis Ulixi, / nomine Achaemenides […] / genitore Adamasto; 691: Achaemenides, comes infelicis Ulixi und met. 14,163f.: „Achaemenide? cur“ inquit „barbara Graium / prora vehit?“ 220: „Graiumque ratis Troiana recepit!“41 Heroisch ist diese schnelle Aufgabe von patria und genitor nicht. Vielmehr wird Achaemenides hier als unheroische Gegenfigur zum pius Aeneas konzipiert. Dieser ist schließlich in vergilischen, ovidischen und vielen weiteren Darstellungen gerade durch das Bild geprägt, wie er seinen Vater, seinen Sohn als Garant für den Fortbestand seiner Familie und die Penaten als Teil der patriotischen Identität durch alle labores hindurch loyal bewahrt. Achaemenides ist damit seiner Identität und seinem Verhalten nach weder Grieche noch Trojaner. Er ist, wie met. 14,166 treffend beschreibt, iam suus.
38 Vgl. dazu auch Papaioannou 2005, 82: „An attentive student of Odysseusʼ protean performance, Achaemenides adjusts his behavior to conform to a variety of shapes, yet unlike Proteus he eventually shuns his original form, a gesture that readily translates as expression of eagerness to embrace Vergilʼs poetology of redefining epic“; 108: „Indeed, the way in which Achaemenides refers to his motives for joining the Trojan campaign suggest that his participation in the expedition as Odysseusʼ companion was a role he had to play, against his will, under the direction of his father (and the constraints of poverty).“ met. 14,166: iam suus ließe sich so auch als Endergebnis seines Selbstfindungs- oder Emanzipationsprozesses verstehen. 39 met. 14,167–170: iterum Polyphemon et illos / adspiciam fluidos humano sanguine rictus, / hac mihi si potior domus est Ithacique carina, / si minus Aenean veneror genitore. – „Eher will ich ein weiteres Mal Polyphem vor mir sehen und dieses Maul, das trieft von Menschenblut, als dass mir das Schiff des Odysseus ein besseres Zuhause bietet als dieses und als dass ich zu Aeneas weniger aufblicke als zu meinem Vater“. 40 Papaioannou 2005, 84f. 41 Aen. 3,613f.: „Ich komme aus der Heimatstadt Ithaka, als ein Gefährte des unglückseligen Odysseus, mit dem Namen Achaemenides, mein Vater heißt Adamastus“; 691: Achaemenides, Gefährte des unglücksseligen Odysseus“ und met. 14,163f.: „Achaemenides?“, fragte er, „Warum fährst du als Grieche auf einem barbarischen Schiff mit?“ 220: „Und das trojanische Schiff nahm einen Griechen auf!“
244 Die Gefährten des Odysseus Die wiederholte Schilderung der blutigen Bilder, die Achaemenides seit dem Erlebnis in der Höhle im Kopf kreisen, wurde so gedeutet, dass sie ihn als Antihelden darstellen, indem er diese traumatischen Schrecken nicht zur eigenen Selbststilisierung als tragischer Held zu nutzen weiß wie etwa der homerische Odysseus am Phäakenhof oder ein vergilischer Aeneas, der an Didos Hof seine Leiden referiert.42 Ob in den Erzählungen des Achamenides und Macareus tatsächlich in Kontrast zur heroischen Sicht zusätzlich die Perspektive eine kleinen, unheldischen Mannes auf dieselben Erlebnisse geschildert wird, wird im weiteren Verlauf der Untersuchung zu überprüfen sein. Im Aeneistext betont der vergilische Achaemenides in seiner Schilderung, wie der Cyclop überwältigt wird, besonders die Gemeinschaftlichkeit der Tat (Aen. 3,633: nos; 634: una; 635: terebramus; 635: ulciscimur). Dies ist ein Kontrast zum Homertext, wo der Erzähler Odysseus dreimal ἐγώ sagt (Od. 9,375; 380; 383) und die Gefährten in den Hintergrund drängt. Der Metamorphosentext wiederum lässt diese Episode völlig aus. Das Fehlen von Details zur Blendung des Cyclopen oder zu Odysseusʼ führender Rolle dabei sind nicht etwa als implizite Herrscherkritik zu verstehen,43 sondern lediglich dem Vorwissen des Adressaten Macareus geschuldet, an den die Figurenrede gerichtet ist. Viel wichtiger sind der erzählenden Figur angesichts seines schuldtragenden Zuhörers die Ereignisse der folgenden drei Monate allein auf der Insel. Der Cyclop, der im Aeneistext aus der Perspektive des Aeneas nur sprachlos brüllend dargestellt wird, als er vergeblich versucht, die Schiffe, die sich bereits außer seiner Reichweite befinden, zu attackieren, erhält in der Figurenrede des ovidischen Achaemenides wieder eine Sprache. Und nicht nur das, seine Fähigkeit, zu sprechen, wird für den Leser mit seiner Sprachlosigkeit im Vergiltext betont kontrastiert, indem seine Rede besonders reich an Vergilzitaten ist. 44 Achaemenides berichtet, dass er hören konnte, wie der Cyclop selbst spricht, und gibt
42 Vgl. zu seiner Selbstdarstellung als „typical, Achilles-like epic hero“ und Vergils Wiederholung seiner Darstellung als „Homeric prototype“ Papaioannou 2005, 81–84 und 110. Baier 1999, 446: „[Achaemenides] weist sich [...] geradezu als Anti-Odysseus aus. Sein Benehmen könnte nicht unheldischer sein“. 43 Papaioannou 2005, 88: „Mentioning the plan that enabled the Greek to escape from the Cyclopsʼ cave would have also entailed recalling the motivation that led them to enter the cave in the first place: Odysseusʼ irresponsibility and reckless curiosity.“ – Janka 2013, 85: „Rekurs auf die Fokalisierung durch Vergils Achaemenides: Ihm ist nicht danach zumute, die Heldentat seines Befehlshabers zu preisen, sondern diesen als einen der immemores socii (617) anzuklagen, die selbst der Höhlenhölle entrinnen (linquunt, 616), während sie ihn eben dort zurücklassen und damit verraten (deseruere, 618).“ 44 Krause 2010, 17; 29f.
Die Figurenreden 245
dessen Rede direkt wieder. Dass hier die Innensicht des Cyclopen wiedergegeben wird, betont wiederum auch hier stilistisch der Einsatz besonders vieler Pronomina und Personalendungen in der ersten Person (met. 14,192: mihi; 193: mea ira; 194: edam; 194f.: dextra mea; 195: laniem; mihi; 197: mihi).45 Diese Änderung in der Darstellung von einem sprachlosen zu einem sprechenden Monster bildet keinen Widerspruch dazu, dass man beide Erzählungen auf der Handlungsebene gleichsetzen kann, sondern ist wieder durch den Blick auf die Perspektive der jeweils redenden Figur zu erklären.46 Während der homerische Odysseus direkt in der Höhle und später auf dem Schiff nur einen Steinwurf entfernt mit Polyphem gesprochen hat, sehen die Trojaner im Vergiltext ihn nur in der Ferne bzw. befinden sich mit ihren Schiffen bereits außer seiner Reichund nur noch knapp innerhalb seiner Hörweite (Aen. 3,669: sensit, et ad sonitum vocis vestigia torsit)47. Entsprechend dumpf und wortlos vernehmen sie sein Gebrüll. Im Metamorphosentext bzw. in der der Handlung, die man aus der Analepse in seiner Rede erschließen kann, befindet sich zur selben Zeit, in der Odysseus auf seinem Fluchtschiff noch in Hörweite Schmähungen mit Polyphem austauscht, Achaemenides wiederum in einer dritten Position auf der Insel. Von hier aus kann er zwar den Cyclopen gut hören (und entsprechend auch von ihm gehört werden), die Worte des Odysseus kann er dagegen nur als dumpfes Geschrei vernehmen.48 Die Ausformulierung der Cyclopenrede zu diesem Zeitpunkt der Handlung ist dem Leser aus dem Homertext (Od. 9,507–535) und, bei Gleichsetzung der Werkwelten, Macareus aus seiner eigenen Erinnerung als einer derjenigen Gefährten auf dem fliehenden Schiff bekannt, die vergeblich versuchen, Odysseus zum Schweigen zu bringen.49 Achaemenides muss sie daher nicht wiederholen. Stattdessen referiert er ebenso klar artikuliert die Rede, die er belauschen konnte, nachdem auch die Griechen schon außer Hörweite gelangt waren 45 Papaioannou 2005, 103–106. 46 Krause 2010, 18: „Ovid bleibt damit der linearen Erzählabfolge Homers treu, wechselt aber den Blickwinkel: In der Erzählung des Odysseus blicken die Zuhörer mit den Flüchtenden zum Ufer zurück, in der Erzählung des Achaemenides blicken sie mit dem Zurückbleibenden aufs Meer“. 47 „Er hörte es und wendete seine Schritte in die Richtung, aus der die Stimme erklang“. 48 met. 14,179–181: volui inclamare, sed hosti / prodere me timui. Vestrae quoque clamor Ulixis / paene rati nocuit. – „Ich wollte nach euch rufen, aber ich hatte Angst, mich dem Feind damit preiszugeben. Auch das Geschrei des Odysseus hätte ja beinahe Leid über euer Schiff gebracht“. 49 Od. 9,491–500. Achaemenides fühlt sich als Augenzeuge des Fluchtvorgangs selbst emotional so involviert, dass er sich wiederum in die Lage der Fliehenden versetzt; Krause 2010, 19f.: „Hier wird ein Rezeptionsvorgang ironisch kommentiert. [...] Der ovidische Achaemenides ist so vom Geschehen beeindruckt, dass er seine eigene Flucht vergisst – ein Tribut an die Erzählkunst Homers“.
246 Die Gefährten des Odysseus und die Macareus daher erstens neu ist – und die ihm zweitens noch einmal vorwurfsvoll die Gefahr in Erinnerung rufen sollen, in der er seinen Kameraden vergessen hat, während dieser sich selbst sogar noch um seine erfolgreich fliehenden Gefährten sorgte.50 Auch diese Darstellung des verletzt zurückgelassenen Polyphem, der durch die Wildnis streift und einen langfristigen Hass auf Odysseus bewahrt, ruft intertextuell die Figur des Philoktet in Erinnerung, den der Leser aus verschiedenen Epen, Tragödien und als Exemplum in anderen Gattungen kennt. So wird innerhalb ein und derselben Werkwelt gezeigt, wie die gleiche Art von Schicksal vielfältige Figuren vom Fürsten über einen einfachen Mann bis hin zum gottlosen Monster treffen kann – und wie verschieden die jeweiligen Täter und Opfer damit umgehen.
.. Macareus Die Figurenrede des Macareus im Metamorphosentext ist die direkte Antwort im Anschluss an Achaemenidesʼ Rede. Er geht weder auf das Leid ein, das ihm Achaemenides gerade geschildert hat, noch auf dessen Rettung und seine selbstgewählte Nähe zu den Trojanern – und auch seine Mitschuld an diesem Schicksal erwähnt oder rechtfertigt er mit keinem Wort. Seine Erzählung beinhaltet stattdessen alle Abenteuer des zehnten Odysseegesangs, die Odysseus am Phäakenhof aus seiner eigenen Perspektive berichtet: Den Besuch bei König Aeolus, bei den Laestrygonen und schließlich bei Circe, die ihre Gäste nach einem Jahr der Gastfreundschaft mit Instruktionen für ihre Katabasis entlässt. Über weite Passagen stimmt die Figurenrede des Macareus inhaltlich, über viele Verse wörtlich und teilweise sogar klanglich mit der Erzählung des homerischen Odysseus am Phäakenhof überein. Wenn Achaemenides im Metamorphosentext metaliterarisch iam suus genannt wird, so müsste man Macareus entsprechend als etiamnunc Ulixis bezeichnen – und tatsächlich kann man seine Einführung in met. 14,159 als comes experientis Ulixis im Kontrast zu Achaemenides so verstehen. Jede Übereinstimmung zwischen dem Metamorphosen- und Odysseetext aufzuführen, würde im Folgenden zu weit führen. Im Sinne der Fragestellung soll vielmehr geprüft werden, welche Funktion die Intertextualität dafür einnimmt, die Einheit oder Vielheit in der Werkwelt der Metamorphosen über den vorliegenden Text hinaus zu erweitern. Aufgrund der enormen Textähnlichkeit über weite Passagen wird der Fokus dabei nicht auf den Ähnlichkeiten, sondern vielmehr 50 Met. 14,185f.
Die Figurenreden 247
auf den Unterschieden und der Dynamik liegen, die sich aus diesen wenigen Abweichungen ergibt. Macareusʼ Geschichte setzt zu dem Zeitpunkt ein, als Achaemenides die Gruppe der Protagonisten aus der Odyssee des Homertextes verlassen hat – also mit dem Verlassen der Cyclopeninsel, die am Ende des neunten Odysseegesanges erzählt wird. Den daran anschließenden Besuch bei dem König der Winde Aeolus und die dortige Schenkung des ledernen Windbeutels referiert der Metamorphosenerzähler knapp in der indirekten Rede (met. 14,223–232). Der Beutel wird als memorabile munus bezeichnet (met. 14,225) – aus Macareusʼ Figurensicht einfach eine Umschreibung für ein „besonderes Erinnerungsgeschenk“ oder auch mit Blick auf die daraus folgenden Konsequenzen „ein Geschenk, an das wir noch zurückdenken sollten“ – für den Leser jedoch darüber hinaus auch ein Hinweis, dass ihm dieses Geschenk bereits aus anderen Werken bekannt ist.51 Die Beschreibung von Aeolus als König, der in seiner Höhle die Winde bändigt, enthält wörtliche Anklänge sowohl aus der Odyssee-Darstellung als auch aus der Darstellung in Vergils Aeneis, wo Juno den König aufsucht, damit er einen Seesturm für sie entfesselt.52 Diese Vergilpassage enthält wiederum andere Elemente der homerischen Erzählung, die Macareus nur stark gekürzt wiedergibt.53 Bereits der erste 51 So auch Myers 2009, 103. 52 Hom. Od. 10,1–2: Αἰολίην δ’ ἐς νῆσον ἀφικόμεθ’· ἔνθα δ’ ἔναιεν / Αἴολος Ἱπποτάδης, φίλος ἀθανάτοισι θεοῖσι – „Und wir gelangen zur Äolos-Insel; es wohnte dort aber Äolos, Sohn des Hippotes, ein Freund den unsterblichen Göttern“; Aen. 1,53f.: Hic vasto rex Aeolus antro / luctantes ventos tempestatesque sonoras / imperio premit ac vinclis et carcere frenat. – „Hier hält König Aeolus in einer gewaltigen Höhle die miteinander ringenden Winde und tosenden Stürme unter Kontrolle und bändigt sie mit Fesseln und dem Kerker.“ Aen. 1,141: Aeolus […] clauso ventorum carcere regnet! – „Aelolus soll König spielen, wenn der Kerker der Winde verschlossen ist!“ und met. 14,223f.: Aeolon ille refert Tusco regnare profundo, / Aeolon Hippotaden, cohibentem carcere ventos – „Er berichtet, dass im Tyrrhenischen Meer Aeolus herrsche, Aeolus, Sohn des Hippotes, der in einem Kerker die Winde gefangen halte“. Ähnlich Apoll. Rhod. 4,764f.: τάσγε παρεξελάσῃσιν. ἀτὰρ καὶ ἐς Αἴολον ἐλθεῖν, / Αἴολον, ὅς τ᾽ ἀνέμοις αἰθρηγενέεσσιν ἀνάσσει; dies wiederholt Verg. Aen. 6,162–164: atque illi Misenum in litore sicco, / ut venere, vident indigna morte peremptum, / Misenum Aeoliden. Vgl. außerdem innerhalb der Metamorphosen 4,663: Clauserat Hippotades Aetnaeo carcere ventos – „Der Sohn des Hippotes hatte die Winde in seinem Kerker beim Aetna eingeschlossen“ und 11,431f.: Hippotades [...], qui carcere fortes / contineat ventos – „Der Sohn des Hippotes […], der die stürmischen Winde in seinem Kerker gefangen hält“. 53 So etwa die Erwähnung seines prachtvollen Wohnsitzes in Od. 10,5; 10; 60 und Aen. 1,56f.: celsa sedet Aeolus arce / sceptra tenens, wobei der Vergiltext ausführlicher noch die Höhle mit den eingesperrten Winden beschreibt (Aen. 1,52–56; 60–63; 81–83). Der homerische Odysseus, der Erzähler der Aeneis und die redende Figur Juno berichten alle drei in einer Rückblende von der Entscheidung des Zeus/Jupiter, Aeolus mit dieser Ausgabe zu betrauen (Od. 10,21f.; Aen.
248 Die Gefährten des Odysseus vom Primärerzähler in der indirekten Rede referierte Vers beginnt wörtlich wie der zehnte Gesang der Odyssee aus der Rede des Odysseus (Od. 10,2: Αἴολος Ἱπποτάδης; met. 224: Aeolon Hippotaden). Die Höhle selbst wurde wiederum im elften Buch in einer Figurenrede der Aeolustochter Alcyone als Teil ihrer eigenen Kindheitserinnerung erwähnt. Diese Figur verbindet durch ihr Wissen verschiedene Erzählungen und ihre Zeiten, Räume und Figuren innerhalb der Metamorphosen miteinander (met. 11,431–338, vgl. Kap. 5.1.3). Bei Gleichsetzung aller drei Werkwelten und ihrer Figuren sowie der sich teilweise überlagernden Handlungsorte stellt sich die Frage nach der zeitlichen Reihenfolge der Ereignisse. Da Odysseus Aeolus erst besucht, nachdem er Achaemenides auf der Cyclopeninsel zurückgelassen hat, dieser von Aeneas nach drei Monate aufgesammelt wird und Juno in der Aeneis erst danach den Seesturm entfesselt und die trojanische Flotte in Libyen stranden lässt, ist es wahrscheinlich, dass Odysseusʼ Besuch bei Aeolus und der von den Griechen verursachte Sturm 40 Tage später (Od. 10,14 und 29) noch vor Junos Besuch beim selben Windgott stattgefunden hat – sonst hätte ja auch Odysseus ihre Bekanntschaft gemacht. Vielleicht haben Aeneas und seine Gefährten mit Glück gerade an einem Ufer Fuß gefasst und nichts von der Katastrophe auf See mitbekommen. Es ist allerdings auch möglich, dass beide Stürme – der von Juno angeregte Sturm, der die Trojaner nach Libyen weht, und der von den Griechen entfesselte Sturm aus dem Windsack – exakt zeitgleich standfanden. Ein Kenner all dieser Werke weiß dann um die zwei Ursachen, doch aus der Sicht der menschlichen Figuren kann der Ausbruch „aller Winde“ als ein- und derselbe Sturm wahrgenommen worden sein. So würde das Problem gelöst, warum die Abenteurer nichts vom Sturm der jeweils anderen Gruppe mitbekommen, wenn doch beide Stürme das ganze Mittelmeer von Europa bis Afrika betreffen. Als Grund für das Öffnen des Beutels wird in Übereinstimmung mit Odysseusʼ Erzählung54 Missgunst und Goldgier angeführt. Soweit aus der gerafften indirekten Rede erkennbar ist, stellt Macareus keine andere Version dar, in der er oder alle Gefährten besser dagestanden hätten, obwohl er das durchaus gekonnt hätte; seine Zuhörer Achaemenides und Aeneas haben ja keine Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt seiner Aussage zu überprüfen, und auf seinen ehemaligen Herrn Odysseus ist auch keiner seiner Zuhörer gut zu sprechen, sodass es ihm ein
3,60–63; 65f.). Hiervon sagt Macareus nichts, doch wie der Erzähler der Aeneis konzentriert sich seine Beschreibung auf die Höhle, wobei er den königlichen Wohnsitz nur indirekt erwähnt (met. 14,223: regnare). 54 Od. 10,34–45 und met. 14,229: invidia und praedaeque cupidine victos – „aus Neid“; „und von der Gier nach Beute überwältigt“.
Die Figurenreden 249
Leichtes wäre, diesem die Schuld zuzuschreiben. Möglicherweise wird dadurch, dass er seine eigene Habgier offen zugibt, sein Charakter im Gegensatz zum Rhetoriker Odysseus, der sich stets im besten Licht darstellt, als schlicht und ehrlich dargestellt. Ein weiteres Beispiel einer ungeschönt ehrlichen Selbstdarstellung des Macareus findet sich am Ende seiner Figurenrede, als er seinen freiwilligen Austritt aus der Reisegruppe geradeheraus mit seiner Ängstlichkeit begründet (met. 14,436–440, bes. 440: pertimui, fateor).55 Das setzt die Figur in Kontrast zu Nestors Erzählerrolle und Odysseusʼ Rede im Iudicium Armorum und fügt so der seit dem zwölften Buch immer wieder anklingenden Grundthematik über das Reden und Darstellen von fremden und eigenen Taten eine weitere Facette hinzu. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass Macareus nur deswegen so „ehrlich“ die Habgier der Gefährten anführt, weil seine Erzählung eben generell in Übereinstimmung zur homerischen Odysseusrede steht und dies nur eins von vielen wiederholten Details ist. Hier werden also keineswegs neue Figuren mit Tiefe und dem Weltbild der „kleinen Leute“ geschaffen oder gar ihre Eigeninteressen und Hintergründe beleuchtet, sondern lediglich Darstellungen unverändert wiederholt. Sollte es also tatsächlich Ovids Ziel gewesen sein, in seine literarische Welt neue Sichtweisen auf den Stoff der Odyssee einzuschreiben, so ist er hier bei Macareus’ Selbstbeschreibung schlichtweg nicht weit genug gegangen. Möglicherweise war dies aber auch gar nicht sein Ziel: Auch in der Erzählung dieser „kleinen Männer“ steht ihr Anführer Odysseus im Mittelpunkt und nur seine Geschichte wird erzählt. Der Besuch bei den Laestrygonen56 wird schließlich in direkter Figurenrede erzählt. Er sei, so berichtet Macareus, ausgewählt worden, in Begleitung von zwei Männern die Stadt auszukundschaften. Durch die fast wörtliche Entsprechung in Od. 10,10–102 wird er schnell identifiziert mit dem Herold, den Odysseus als Dritten neben zwei Männern aussendet, dessen Namen er aber am Phäakenhof ungenannt lässt. Besonders die lexikalische Wiederholung des ἐγὼν / ego stellt die Erzähler-Ichs von Odysseus und Macareus einander gegenüber, was den Perspektivenwechsel deutlich betont: δὴ τότ’ ἐγὼν ἑτάρους προίην πεύθεσθαι ἰόντας, […] ἄνδρε δύω κρίνας, τρίτατον κήρυχ’ ἅμ’ ὀπάσσας.
55 „Ich hatte große Angst, das gebe ich zu“. 56 Der Wohnort der Laestrygonen wurde zu Ovids Zeiten in Formiae lokalisiert, vgl. Cic. Att. 2,13,3 und Hor. Car. 2,17,1–9.
250 Die Gefährten des Odysseus Da entsandt ich Gefährten, die sollten gehen und erkunden, [...], zwei Mann wählte ich aus, dazu einen dritten als Herold. (Od. 10,100–102) Missus ad hunc ego sum numero comitante duorum. Zu diesem wurde ich gesandt in Begleitung von zwei Männern
(met. 14,235)
Auch die nächsten Verse seiner Erzählung gleichen dem Bericht des homerischen Odysseus inhaltlich bis ins Detail:57 αὐτίχ’ ἕνα μάρψας ἑτάρων ὁπλίσσατο δεῖπνον. τὼ δὲ δύ’ ἀίξαντε φυγῇ ἐπὶ νῆας ἱκέσθην. αὐτὰρ ὁ τεῦχε βοὴν διὰ ἄστεος· οἱ δ’ ἀίοντες φοίτων ἴφθιμοι Λαιστρυγόνες ἄλλοθεν ἄλλος, μυρίοι, οὐκ ἄνδρεσσιν ἐοικότες, ἀλλὰ Γίγασιν. οἵ ῥ’ ἀπὸ πετράων ἀνδραχθέσι χερμαδίοισι βάλλον· ἄφαρ δὲ κακὸς κόναβος κατὰ νῆας ὀρώρει ἀνδρῶν τ’ ὀλλυμένων νηῶν θ’ ἅμα ἀγνυμενάων·
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Alsbald packte er einen Gefährten und fraß ihn zur Mahlzeit. / Die zwei anderen kamen in stürmischer Flucht zu den Schiffen. / Aber er ließ seinen Ruf durch die Stadt ertönen; ihn hörend / kamen die kräftigen Lästrygonen von hier und von dort her, / viele Tausende, Männern nicht gleichend, sondern Giganten. / Und herab von den Felsen mit männerzermalmenden Steinen / warfen sie; unter den Schiffen entstand da ein schreckliches Krachen / von zugrunde gehenden Menschen und berstenden Schiffen. (Od. 10,116–123) vixque fuga quaesita salus comitique mihique, tertius e nobis Laestrygonis inpia tinxit ora cruore suo. fugientibus instat et agmen concitat Antiphates; coeunt et saxa trabesque coniciunt merguntque viros merguntque carinas. Nur mit Mühe gelang es meinem Gefährten und mir, die Flucht zu ergreifen; der Dritte von uns befleckte das Maul des Laestrygonen mit seinem Blut. Er setzt uns Fliehenden nach und ruft eine Meute zusammen: Sie versammeln sich und werfen Steine und Balken und versenken die Männer mit ihren Schiffen. (met. 14,236–240)
57 Dass Ovids Macareus den Namen des Königs des Laestrygonen schon als Ziel des Weges nennt, ehe die Erzählung ihn dort ankommen lässt, ist kein Widerspruch; die Figur Macareus kennt zum Zeitpunkt seines Rückblicks den Namen ja schon und kann ihn daher vorwegnehmen.
Die Figurenreden 251
Odysseus selbst hat, wie der Leser bei Kenntnis der Odyssee weiß (Od. 10,95–97 und 125–132), auf dem einzigen Schiff außerhalb der Bucht auf den Bericht seiner Kundschafter gewartet und konnte so dem Schicksal der Eingeschlossenen entgehen. Der homerische Odysseus hat am Phäakenhof also nicht einen eigenen Augenzeugenbericht, sondern nur den Bericht ebendieses Herolds, der bei Ovid 700 Jahre später den Namen Macareus erhalten soll, wiederholt. Daher ist die nicht bloß inhaltliche, sondern teilweise wörtliche Übereinstimmung der Berichte mit Blick auf das Figurenwissen plausibel. Die Formulierung über die Rettung eines Schiffes (met. 14,241f.: una tamen, quae nos ipsumque vehebat Ulixem, / effugit) kontrastiert wiederum eine Formulierung aus Vergils Aeneis über den Verlust eines Schiffes nur 50 Verse nach einem angeklungenen Aeolus-Zitat (Aen. 1,113–115: Unam, quae Lycios fidumque vehebat Oronten, / [...] in puppim ferit).58 Nicht nur Formulierung und Inhalt, auch die Konsequenzen für die jeweiligen Figuren im weiteren Handlungsverlauf stehen im Kontrast zueinander: Orontes wird Aeneas in der Unterwelt (Aen. 6,334) erscheinen, sodass die Trennung nicht endgültig ist; Macareus wird dagegen Odysseus noch vor der Katabasis verlassen und daher keinen der verlorenen Gefährten von elf Schiffen jemals wiedersehen. Die parallele Gestaltung, die Vergil mit Blick auf den Odysseetext gewählt hat, um diesen Kontrast auszudrücken, wiederholt Ovid im Metamorphosentext. Das hat zur Folge, dass auch die Ähnlichkeit der griechischen und troischen Irrfahrten und ihrer Leiden in drei Werken als vielfältige Schicksale in einer einheitlichen Welt wiederholt wird. Als Macareus die nächste Station der Reise schildert, befindet sich der Schauplatz seiner Erzählung zufällig gerade im Sichtfeld: Am Horizont ist die Küste der Insel Aeaea zu sehen, vor der er den mithörenden Aeneas sofort eindringlich warnt (met. 14,244–247). Auch in der vergilischen Erzählung segeln die Trojaner nach dem Besuch der Sibylle und direkt nach der Beerdigung der Amme Caieta von Cumae fort (diese Route wird gleich nach Macareusʼ Rede in met. 14,444 vom Primärerzähler genannt) und befinden sich gleich im nächsten Vers in so unmittelbarer Nähe von Circes Insel, dass sie die unheimlichen Geräusche dort hören können (Aen. 7,8–10). Die Nähe beider Orte in beiden Erzählungen bestätigt wieder die Gleichsetzung der ovidischen und vergilischen Welt. In Vergils Primärerzählung bewahrt Neptun die Trojaner vor der Gefahr, indem er durch sein göttliches Eingreifen ihre Weiterreise beschleunigt (Aen. 7,21–24). In den Metamorphosen ist es Aeneasʼ eigene Entscheidung, die Warnung des Macareus zu befolgen und ohne eine Landung weiterzusegeln. Diese zwei Erklärungen der 58 Met. 14,241f.: „Doch ein Schiff, das uns und Odysseus selbst trug, entkam“; Aen. 1,113–115: „[Die Welle] trifft ein Schiff, das die Lycier und den loyalen Orontes trug“.
252 Die Gefährten des Odysseus beiden Werke für die Wahl der Route sind inhaltlich miteinander vereinbar, da Götter ja Menschen auch Ideen eingeben können, ohne dass diese davon Kenntnis haben. Vergil lässt in seiner Praeteritio die Erzählung, die aus dem Homertext bekannt ist, lediglich anklingen und zum Hintergrund seiner eigenen Erzählung werden, ohne sie selbst auszuführen.59 Ovid dagegen fügt an genau dieser Stelle von Handlung, Zeit, Ort und Figureninventar ebendiese ausgelassene Erzählung wieder ein: Macareus erzählt ausführlich von seinen Erlebnissen im Gefolge des Odysseus auf dieser Insel. Die Passage ist weiterhin homernah gestaltet und integriert zusätzlich Elemente aus dem Aeneistext. So ergänzt Ovid in seiner Schilderung die Bären aus dem Vergiltext, die Homer nicht nennt (Aen. 7,18 und met. 14,255); zudem schmückt er die von Vergil angedeutete Duft- und Kräuterthematik aus, indem er Circes Dienerinnen in einer Art Laboratorium mit verschiedenen Pflanzen werkeln lässt (Verg. Aen. 7,12f.: tectisque superbis / urit odoratam nocturna in lumina cedrum; 19: potentibus herbis;60 met. 14,266–270). Diese bestätigende Wiederholung der vergilischen Elemente im ansonsten homerisch gestalteten Text erzeugt eine Dreieckskohärenz mit beiden Vorgängern. Wie schon bei der Schilderung der Laestrygonenbegegnung entspricht seine gesamte Erzählung in Inhalt und Aufbau – abgesehen von dem Perspektivenwechsel – der des homerischen Odysseus. Unterschiede im Tenor resultieren aus der veränderten Erzählsituation. Während Odysseus am Phäakenhof in höfischer Atmosphäre von seinen vergangenen Abenteuern berichtet, um Mitleid und Bewunderung zu erlangen, will Macareus als Betroffener den Aeneas an seinen Erfahrungen teilhaben lassen und so den verantwortungsvollen Anführer vor den Gefahren warnen, die noch in ihrer Sichtweite auf der weiteren Reiseroute lauern.61 Dies parallelisiert seine Erzählsituation mit der des vergilischen Achaemenides, der noch in Sichtweite der Cyclopen von ihrer Gefahr berichtet – bloß, dass Macareus allein seine Zuhörer warnt, sich selbst aber bereits in Sicherheit befindet. Das Abenteuer beginnt jeweils mit der Weigerung der Gefährten, die Insel auszukundschaften, begründet durch die traumatisierende Erinnerung an Antiphates und den Cyclopen (Od. 10,199f.: μνησαμένοισ’ ἔργων Λαιστρυγόνος
59 Aen. 7,10–20 mit Details wie ihrem Gesang (12), dem prächtigen Palast (12), dem Webstuhl (14) und gefangen gehaltenen Löwen, Wölfen, Schweinen und als bei Homer ungenannte Tiere Bären, in welche Circe mithilfe magischer Kräuter Menschen verwandelt hat (15–20). 60 Verg. Aen. 7,12f.: „Und aus den stolzen Dächern lässt sie den Rauch von duftendem Zedernholz zu den Sternen aufsteigen“; 19: „mit wirkungsvollen Kräutern“. 61 Met. 14,244–247.
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Ἀντιφάταο / Κύκλωπός τε βίης μεγαλήτορος ἀνδροφάγοιο und met. 14,249: Antiphatae memores inmansuetique Cyclopis),62 und ihrer Umstimmung durch Odysseus. Es folgt die Auslosung einer Gesandtschaft von 23 Gefährten (Od. 10,206– 209). In met. 250–253 beläuft sich die Zahl auf nur 22 Gefährten; vielleicht hat sich Ovid verzählt. Vielleicht hat er aber auch ganz im Gegenteil Macareus absichtlich einen Kameraden weniger beim Namen nennen lassen als der homerische Odysseus am Phäakenhof als namenlose Zahl angibt. So bringt er subtil zur Darstellung, dass Odysseus – anders als der rangniedere Macareus – das Fehlen von Achaemenides seit dem Verlassen der Cyclopeninsel noch immer nicht bemerkt hat.63 Sowohl der homerische Odysseus als auch der ovidische Macareus nennen als Teil der Gruppe namentlich Eurylochos, Polites und Elpenor. Bei dieser Gelegenheit charakterisiert Macareus den jungen Elpenor mit Worten, die dem Leser aus der Odyssee bekannt sind (met. 14,252: nimiique Elpenora vini; Od. 11,61: ἀθέσφατος οἶνος).64 Dieser Seitenhieb auf die Trunksucht seines Gefährten enthält eine tragische Ironie. Seine Zuhörer Achaemenides und Aeneas und auch der Sprecher Macareus selbst können es noch nicht wissen, der mythenkundige Leser dagegen schon: Elpenor wird im Laufe des Besuchs bei Circe an ebendiesem Laster zugrunde gehen, indem er betrunken von einem Dach stürzt. Doch das Unglück bleibt bis zur Abreise ins Totenreich, bei dessen Besuch Macareus nicht mehr teilgenommen hat, unbemerkt. Erst in der Unterwelt wird Elpenors Geist Odysseus erscheinen und von seinem Schicksal berichten; bei der Rückkehr der Griechen zu Circe werden sie ihn bestatten.65 Aus Sicht des Macareus, der von alledem nichts weiß, ist die Funktion der Bemerkung also bloß ein nostalgisch-kameradschaftliches Erinnern an die Macken eines gemeinsamen Gefährten, den er wohlauf hofft. Erst aus der Sicht eines homerkundigen Lesers wird die tragische Bedeutung dieser beiläufigen Bemerkung erkennbar – und in ihrer ganzen Tragweise sogar erst beim zweiten Lesen des Metamorphosentextes, wenn man weiß, dass der Erzähler Macareus gar nicht wieder zu Circe zurückkehren und von dem Alkoholtod erfahren wird. Das Antreffen ungefährlicher und schwanzwedelnder wilder Tiere und die erste Begegnung mit der Zauberin schildert Macareus ähnlich wie Odysseus am 62 Od. 10,199f.: „an des Antiphates, des Lästrygonen, schreckliche Taten dachten sie und die Gewalt des Menschenfressers, des stolzen Cyclopen“ und met. 14,249: „in Gedanken an Antiphates und an den unkultivierten Cyclopen“. 63 Auch in Apolloniosʼ Argonautika bemerkt die Mannschaft ja erst erstaunlich spät das Fehlen ihres stärksten Ruderers Hercules (Apoll. Rhod. 1,1280–1286). 64 Met. 14,252: „und Elpenor mit seinem Übermaß an Wein“; Od. 11,61: „Übermaß an Wein“. 65 Sein Sturz wird in Od. 10,552–560 erzählt, seine Erscheinung im Totenreich 11,51 und seine Bestattung 12,10.
254 Die Gefährten des Odysseus Phäakenhof (Od. 10,210–231; met. 14,254–261). Das ist handlungslogisch plausibel, da Odysseus aus seiner Figurensicht das Haus, die Herrin und die Tiere aus eigener Erfahrung kennt und die erste Begegnung im Palast selbst, bei der er nicht dabei war, zumindest anhand der Schilderungen seiner Gefährten nacherzählen kann. Sein Figurenwissen kann daher auch Begebenheiten beinhalten, die er nicht selbst miterlebt hat. Unterschiede in den Erzählungen bestehen darin, dass die Männer laut Macareus nicht von einer webenden Circe persönlich hereingebeten, sondern von einer Schar Dienerinnen hineingeführt werden. Später im Text (Od. 10,348) spricht Odysseus explizit von vier Dienerinnen; diese Zahl bestätigt auch Macareus in seiner Erzählung (14,311).66 Die Mägde spinnen keine Wolle,67 sondern sortieren unter Circes Aufsicht Kräuter, während diese auf einem Thron sitzt (met. 14,260–270). In Odysseusʼ Bericht dagegen singt Circe beim Eintreffen der Gefährten am „ambrosischen Webstuhl“. Dieser Widerspruch lässt sich auf der Handlungsebene aus den verschiedenen Erzählerperspektiven erklären. Während Macareus als Augenzeuge berichtet, wiederholt Odysseus am Phäakenhof bloß den Bericht des Eurylochos (Od. 10,251–260), der das Haus im Odysseetext nicht mit den Gefährten betreten und Circe selbst gar nicht am Webstuhl gesehen hat, sondern nur den Bericht kennt, den Eurylochus aufgrund der Mutmaßungen des Polites wiederholt: Dieser hatte noch bei verschlossener Tür hinter dem Frauengesang Webarbeiten vermutet (Od. 19,226–228). Und doch beantwortet dies nicht vollständig die Frage, warum Ovid nicht einfach dem Homer- und Vergiltext gefolgt ist und Circe beim Weben dargestellt hat. In der Forschung wurde zudem viel spekuliert, warum Ovid die Zauberin hier in einer Art farbenfrohem duftenden Laboratorium leben lässt; warum Nymphen und Nereiden unter Circes Aufsicht darin bunt durcheinander werkeln, warum der Marmor als Material ihrer Decke erwähnt wird und ob die Nennung ihres Pallas und ihr Thronen in einem Atrium sie als römische Matrona kennzeichnen solle68 oder lediglich die Darstellung im Homertext wiederholt. Eine Erklärung findet sich mit Blick auf das Gesamtwerk der Metamorphosen: Wie in Kap. 5.2 und 11.2 vorgestellt, erzeugt die Parallelität einiger Passagen den Eindruck von der Vielheit innerhalb der einheitlichen Werkwelt. Circes 66 Die Zahl vier für webende Dienerinnen ist dabei nicht allzu häufig und daher nicht bloß topisch zu verstehen, so dass die Übereinstimmung der genauen Zahl als Referenz auf dieselbe Szene fungiert; so auch Myers 2009, 113: „A discret hint that Homer is still in the background.“ Als beispielsweise Sol in met. 4,217–221 in einer sehr ähnlich geschilderten Szene das Gemach der Leucothoe betrifft, trifft er auf zwölf Dienerinnen am Webstuhl. 67 Dies betont Macareus in met. 14,264–267. 68 Vgl. etwa die Diskussion bei Bömer 1986, 94–97; Myers 2009, 106f.
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Palast reiht sich in die Zahl der Ekphraseis von Jupiter, Sol, Invidia, Fames, Somnus, Philemon und Baucis sowie zuletzt Fama ein: Das Baumaterial, die Dienerschaft im Empfangsbereich, welche der Gottheit auf ihre jeweilige Weise zuarbeiten, und die passend gekleidete Figur selbst, die auf einem ihr angemessenen Sitz den Besuch empfängt, weisen diese Passage schlichtweg als Teil dieser Szenengruppe aus. Wie an vielen weiteren Stellen passt Ovid auch hier einzelne Details seiner Erzählung an, um sie auf die Makrostrukturen im thematischen Gesamtaufbau seines Großwerks abzustimmen.69 Beide Erzähler lassen nun Circe sehr schnell als Zauberin zur Tat schreiten und die Gäste mit einem vergifteten Begrüßungstrunk in Schweine verwandeln. Die Zutaten (neben den Säften von Zauberkräutern Getreide, Quark und Honig) sind in beiden Schilderungen identisch, wobei Macareus zusätzlich Wein erwähnt. Auch der Einsatz der Zauberrute und die Aufzählung der verwandelten Körperbereiche, nämlich Kopf, Stimme, Borsten und Gestalt, sind gleich (Od. 10,237–243; met. 14,277–286). Dass das Bewusstsein unverändert geblieben sei, betont Odysseus am Phäakenhof in Od. 10,240 – dies bildet auch im Metamorphosentext die Voraussetzung dafür, dass Ovids Erzählung aus der Sicht eines Verwandelten überhaupt möglich wird. Nur die Perspektive unterscheidet sich zwischen der sachlichen Nacherzählung durch Odysseus und der anteilnehmenden Innenansicht des betroffenen Macareus. Daher kann dieser auch sein Gefühl sowie seine Scham über die Verwandlung erwähnen (met. 14,279: et pudet et referam; 282: sensi).70 Das Zögern, von den eigenen schlimmen Erlebnissen zu erzählen, ist aus diesem und anderen Werken bekannt, 71 doch im intertextuellen Vergleich besteht hier ein Unterschied in der Motivation: Andere Helden zögern, weil sie ihren Schmerz nicht erneut wiederholt durchleben wollen. Macareus äußert als Grund Schamgefühle. So wird hier durch eine leicht abweichende Darstellung der Erzählsituation Vielheit erzeugt, je nachdem, welcher Erzähler dieselbe Begebenheit erinnert und referiert. Dennoch: Dass hier pudor als Selbstbeschreibung des Macareus angeführt wird, spricht wieder gegen die Deutung, ihn als kleinmütigen Antihelden zu lesen. In beiden Schilderungen weigert sich allein der misstrauische Eurylochus, am Trunk teilzunehmen, und flieht, um Odysseus zu Hilfe zu holen (Od. 10,233– 245; met. 14,271–290). Nach Macareusʼ Darstellung hat Eurylochus das Haus noch mitbetreten, statt wie in Odysseusʼ homerischem Bericht draußen zu warten (Od. 10,232), von wo aus er nichts sehen und dem Helden entsprechend nur Vages 69 Vgl. etwa Ludwig 1965, 27; 31; 39–42; 45–47; 71. 70 Met. 14,279: „Ich schäme mich zwar dafür, aber ich erzähle es dennoch“; 282: „Ich fühlte“. 71 Vgl. Kap. 11.6.
256 Die Gefährten des Odysseus über ein allzu langes Verschwinden der Gefährten berichten kann (Od. 10,259– 260). Der ovidische Macareus verwendet auf die Schilderung, wie Eurylochus im Haus Augenzeuge der Verwandlung wurde und erst floh, nachdem ihm der Becher angeboten worden sei, ganze fünf Verse (met. 14,286–290) und betont, dass andernfalls Odysseus ja gar nicht von der Tat hätte erfahren und zu Hilfe kommen können.72 Diese Überbetonung spricht dafür, dass Ovid die Anpassung der Darstellung in seinem Perspektivenwechsel nicht verschweigen bzw. unauffällig glätten, sondern für den Leser deutlich korrigieren wollte. Informationen zur Verwandlung und Hilfsmittel, um ihr selbst zu entgehen, erhält der homerische Odysseus erst kurz vor Betreten des Hauses durch Hermes (so schildert er es am Phäakenhof, Od. 10,275–309). Von Mercurs Hilfe weiß auch Macareus im Metamorphosentext, offenbar durch einen späteren Bericht des Odysseus. Das genaue Aussehen der Schutzpflanze Moly kann er wiederum aus eigener Augenzeugenschaft beschreiben (Od. 10,302–306 und met. 14,291–292). Der homerische Odysseus berichtet in seiner eigenen Erzählung vor königlichem Publikum, dass er zuerst mit Circe das Bett geteilt und im Anschluss ein Bad genommen habe, ehe die Gefährten gerettet wurden – doch das bereits aufgetischte Abendmahl im Anschluss habe er dann empört verweigert mit Verweis auf seine eigene Rechtschaffenheit (Od. 10,373–387), die eine weitere Verzögerung der Rückverwandlung nicht zulasse. Auch aus Macareusʼ Perspektive erfolgt erst der Gang ins Schlafzimmer und dann, als Lohn und Mitgift, die Rückverwandlung seiner Gefährten (met. 14 297f.). Das lange moralisierende Gespräch im Nebengemach über die Wahl der Reihenfolge von Mahlzeit oder Rückverwandlung haben die Gefährten, die Circe erst im Anschluss hinzutreibt (Od. 10,388f.), gar nicht selbst mitgehört. Deswegen, und auch, weil er anders als Odysseus am Phäakenhof nicht dessen Rechtschaffenheit betonen muss, hält sich Macareus hier kürzer als der homerische Odysseus. Auch Spekulationen darüber, warum Ovid die Gelegenheit ausgelassen habe, eine Bettszene zu verfassen, inwiefern er hier „Rücksicht auf die augusteisch-vergilische Version genommen hat, die von dieser Genealogie nichts wissen wollte“ und warum Macareus von einer geforderten dos spricht, während der homerische Odysseus die Rückverwandlung „mehr oder weniger gleichberechtigt ‚ausgehandelt‘“ habe (Bömer 72 Bömer 1986, 103 deutet met. 14,286f. (solumque suis caruisse figura / vidimus Eurylochum: solus data pocula fugit – „Wir sahen, dass allein Eurylochus nicht die Gestalt eines Schweins hatte: Er allein ist vor den Bechern, die Circe uns reichte, zurückgescheut“) dagegen so, dass Eurylochus die ganze Situation, einen Becher gereicht zu bekommen, von Vornherein gemieden habe, indem er wie im Homertext vor der Tür gewartet habe. Dies passt jedoch nicht mit dem vidimus zusammen: Wie sollten die verwandelten Gefährten sehen, dass Eurylochus keine Schweinegestalt hatte, wenn er noch draußen vor der Tür stand?
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1986, 105f.), erübrigen sich somit mit einem Blick auf die Erzählfigur und was sie überhaupt zu erzählen weiß. Die Rückverwandlung inklusive Details wie abfallenden Borsten und auch die Danksagung für die Rettung schildern der Augenzeuge Odysseus und der selbst betroffene Macareus wieder ähnlich (Od. 10,388–399; met. 14,299–307).73 Als neue Besonderheit des Zauberrituals führt der Ovidtext die entgegengesetzten Worte, evtl. sogar die rückwärts gesprochene Wiederholung des Zauberverses an (met. 14,301: verbaque dicuntur dictis contraria verbis).74 Dies ergänzt das Thema von Reden und ihrer Wirkmacht auf das Faktische, das seit dem zwölften Buch in seinen verschiedenen Facetten den Text durchzieht.75 Beide Erzähler stimmen darin überein, dass die Griechen nun ein ganzes Jahr in Circes Haus verbracht haben und Odysseus mit Circe über diesen Zeitraum eine Beziehung geführt habe.76 Entsprechend berichtet Odysseus am Phäakenhof von seinen eigenen Gesprächen mit der Zauberin, während Macareus zur selben Zeit (met. 14,312: cum duce namque meo Circe dum sola moratur),77 von deren Zweisamkeit ausgeschlossen, andere Dinge „gesehen und angehört“78 hat. Er habe sich unter anderem mit einer der vier Dienerinnen angefreundet.79 Diese habe ihm ein bekränztes marmornes Kultbild eines Jugendlichen80 mit einem Specht auf dem Kopf gezeigt und vom darin dargestellten Picus berichtet, den Circe aus Wut über ihre unerwiderte Liebe und aus Eifersucht auf dessen Gattin Canens in 73 Dass dies eine direkte Wiederholung des Homertextes und keineswegs eine Neuerfindung Ovids ist, übersieht Döpp 1991, 338f., wenn er schreibt: „Der besondere Reiz der Ovidischen Gestaltung liegt darin, daß die Verwandlungsvorgänge aus der Perspektive eines der Betroffenen erzählt werden, der die Details weidlich auskostet. Der spielerische Charakter hat bei Vergil keine Entsprechung“. 74 „Und Worte werden gesprochen in Umkehrung der zuvor gesprochenen Worte“. 75 Eine Analyse, wie die Wirkung des Gegenzaubers auch stilistisch ausgedrückt wird, bietet Myers 2009, 110f. 76 Der dabei gezeugte Sohn Telegonus, den Ovid in anderen Werken erwähnt, wird weder in der homerischen Odyssee noch im weiteren Verlauf des Metamorphosentextes genannt. 77 „Denn während Circe mit unserem Anführer allein die Zeit verbrachte“. 78 Met. 14,308f.: multaque praesens / tempore tam longo vidi, multa auribus hausi – „und vieles habe ich in dieser langen Zeit mit eigenen Augen gesehen, vieles ist mir zu Ohren gekommen“; met. 14,435f.: Talia multa mihi longum narrata per annum / visaque sunt – „Solcherlei wurde mir vieles über das lange Jahr hinweg erzählt oder habe ich gesehen“. Die Dienerin versucht wiederholt, die Glaubwürdigkeit ihrer Geschichte zu bestätigen, indem sie etwa die Statue als Ersatz für eine Augenzeugenschaft heranzieht (met. 14,322f.) und indem sie auf die alte Überlieferung ihrer Geschichte verweist (met. 14,433f.). 79 Myers 2009, 111: „Ovidʼs focus stays on lesser characters: while waiting for Odysseus to leave Circeʼs Island, his crew evidently socialized with her housemaids“. 80 Die Magd gibt Macareus gegenüber an, Picus sei zu dem Zeitpunkt 15 Jahre alt gewesen.
258 Die Gefährten des Odysseus einen Specht verwandelt habe. Canens sei aus Kummer durch Italien gerast und schließlich am Tiberufer zu einer körperlosen Sangesstimme geworden; diesen Ort haben die veteres Camenae nach ihr benannt. Woher die Dienerin diese Geschichte über ihre erfolglos werbende und rachsüchtige Herrin kennt, in der sie zudem viele Details über die italische Kultur anklingen lässt – diese sollen im späteren Werkverlauf vom Primärerzähler weiter vertieft werden –,81 erwähnt sie nicht. Darstellungen von politisch bedeutenden Männern mit glücksbringenden Spechten oder anderen Vögeln auf dem Kopf sind zumindest literarisch mehrfach belegt.82 In Vergils Aeneis bewundert Aeneas eine andere Statue des Picus (Aen. 7,187–191), welche die lange Ahnengalerie des schlichten Thronsaals abschließt, in dem der schon betagte König Latinus (also Picusʼ Enkelsohn) den Fremden empfängt.83 Hier trägt er eine trabea (eine auffällig purpurrot gefärbte Festtoga) und in der Linken ein ancile (einen rituellen Bronzeschild der Salii).84 Das Material der Statue wird wie das der anderen Ahnenstatuen als Zedernholz angegeben (Aen. 7,178). In augusteischer Zeit war es üblich, Statuen in unterschiedlichen Materialien zu kopieren und dabei auch in ihrer Ausgestaltung verschieden anzupassen. Bei Gleichsetzung der Werkwelten von Aeneis und Metamorphosen liegt daher für einen Leser, der diese Praxis aus seiner eigenen Lebenswelt kennt, nahe, dass es sich bei Circes kultisch verehrtem Bild um eine Kopie der gleichen schlichten und politisch-religiös85 konnotierten Statue handelt, welche die verliebte Magierin für ihren Privatgebrauch in prunkvollem Marmor und ohne die salischen Kultgegenstände, dafür aber mit einem Specht, hat nachbilden lassen.86 Insofern ist die Beobachtung, Ovid habe „das vergilische Motiv vollständig 81 Z.B. met. 14,331: Quaeque colunt Scythiae stagnum nemorale Dianae – „und die Nymphen, die am waldumwachsenen See der skythischen Diana wohnen“ und met. 15,489f.: sacra [...] Oresteae [...] Dianae. […] Nymphae nemorisque lacusque – „die Heiligtümer der orestischen Diana. […] Die Nymphen des Hains und des Sees“, vgl. Bömer 1986, 117 und Myers 2009, 116. 82 Bömer 1986, 111 nennt Varro bei Non. 518; Val. Max. 5,6,4; Plin. nat. 10,41; Frontin. strat. 4,5,14 u.a. 83 Diese vergilische Szene ist, wie andere Empfangsszenen in der Aeneis auch (etwa bei Allecto oder Euander), wiederum ähnlich gestaltet wie die Empfangsszenen, die in Kap. 11.2 verglichen werden. Möglicherweise soll die Ekphrasis von Circes prunkvollem Palast als Ort der Picusstatue zu einem Vergleich mit dem bescheidenen Latinergebäude anregen. 84 Enn. ann. 2,114 (120); Liv. 1,20,2; Ov. fast. 3,365–392 u.a. 85 Papaioannou 2005, 117. 86 Dies ist eine von vielen Parallelen zur vergilischen Dido – ebenfalls der Zauberei kundig, leidenschaftlich und zur Rachsucht neigend –, die ein Marmorbild ihres ersten Gatten Sychaeus kultisch verehrt. Auch dieses kann ihr fremdländischer Gast und – so ihre Interpretation der Beziehung – zweiter Ehegemahl Aeneas in ihren Hallen sehen, Aen. 4,457: praeterea fuit in tectis
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profanisiert und erotisiert“,87 dahingehend zu differenzieren, dass nicht Ovid das mit dem Motiv des Vergiltextes, sondern die von Ovid dargestellte Figur Circe ebendies mit der in Italien erworbenen Statue getan hat. Die hiervon ausgehende Erzählung der aeaeischen Magd über den ausonischen Königssohn Picus und der Entstehung des ansonsten nicht belegten Ortsnamens ‚Canens‘ bildet nach der Erzählung von Phaethons Tod auf italischem Boden den ersten wirklich italischen Mythos des Werkes. Picus ist dem Leser als bedeutende Gestalt der italischen Mythologie und Religion bekannt. So spielt er etwa eine Rolle als Numas Lehrer bei der sogenannten Blitzsühne und anderen Ritualen (Ov. fast. 3,285–360). In Vergils Aeneis werden erstmals Saturn als sein Vater (Aen. 7,48f.) und Circe als Picusʼ coniunx genannt (Aen. 7,189),88 an späterer Stelle wird Latinus indirekt über seinen avus Sol als ihr gemeinsamer Enkelsohn angegeben.89 Seine Verwandlung in einen Specht, verursacht durch die leidenschaftliche Circe (cupidine capta, vgl. Kap. 14), erzählt Vergil in Aen. 7,189–192. Auch Aemilius Macer hat womöglich in seiner verlorenen, aber Ovid, Vergil und vielen Lesern bekannten Ornithogonia die Verwandlung des Picus bzw.
de marmore templum / coniugis antiqui, miro quod honore colebat, / velleribus niveis et festa fronde revinctum – „Zudem gab es unter ihren Dächern ein Heiligtum aus Marmor für ihren einstigen Gatten, das sie mit bemerkenswerter Hochachtung verehrte. Mit schneeweißen Wollbändern und mit festlichen grünen Zweigen war es umwunden“. Papaioannou 2005, 117–126 widmet der Analyse dieser Parallelgestaltung von Ovids Circe und der vergilischen Dido ein ganzes Kapitel. Eine weitere intertextuell bzw. interfigural gestaltete Facette der vergilischen Dido nennt Janka 2013, 72: „Das Verweilen des Aeneas bei seiner ‚phäakischen‘ Calypso“. 87 Guthmüller, 121. 88 Aen. 7,189–191: Picus, equum domitor, quem capta cupidine coniunx / aurea percussum virga versumque venenis / fecit avem Circe sparsitque coloribus alas – „Picus, der Pferdebändiger, den seine Ehefrau Circe, von Leidenschaft ergriffen, mit einer goldenen Rute schlug, ihn mit Gift in einen Vogel verwandelte und seine Flügel bunt färbte“. Diese Ehe wurde schon in der Antike angezweifelt (Servius zur Stelle: coniunx vero non quae erat, sed quae esse cupiebat – „allerdings war sie nicht wirklich seine Frau, sondern wollte es nur sein“). 89 Aen. 12,161–164: Interea reges ingenti mole, Latinus / quadriiugo vehitur curru, cui tempora circum / aurati bis sex radii fulgentia cingunt, / Solis avi specimen. – „Inzwischen treffen die Fürsten mit einem gewaltigen Aufzug ein, Latinus fährt auf einem Viergespann. Seine Schläfen leuchten, denn zwölf vergoldete Sonnenstrahlen umrahmen sie als Hinweis auf seinen Großvater Sol“. Diese Bezeichnung als Sol-Enkel kann auch Hesiods Theogonie 1011–1013 folgen, wo Latinus als Sohn der Circe und des Odysseus genannt wird – dann allerdings passt es wieder nicht zur Handlungslogik, dass Aeneas nur wenige Jahre nach Ende des trojanischen Krieges Latinus als alten Mann antrifft.
260 Die Gefährten des Odysseus Picumnus in einen Specht dargestellt.90 Dieser Specht war wiederum dem Mars heilig und für Auguren bedeutsam.91 Anders als Picus könnte jedoch die Nymphe Canens oder zumindest ihre Rolle als Ehefrau92 des Picus (met. 14,417) eine Erfindung Ovids sein. Die Nymphe an Circes Hof erzählt ihrem Zuhörer Macareus die Geschichte nun wie folgt: Circe verliebt sich auf den ersten Blick in den schönen Saturnsohn Picus, den sie auf einem Jagdausflug sieht. Sie lockt ihn in den Wald und versucht ihn zu verführen93 – dies lehnt er entrüstet mit dem Verweis auf seine eheliche Treue zu Canens ab. Circe wird wütend und bestraft ihn durch ihre Magie. Nachdem sie ihn in einen Specht verwandelt hat und dieser davongeflogen ist, stellen 90 Ov. trist. 4,10,43f.: saepe suas volucres legit mihi grandior aevo […] Macer – „oft trägt mir Macer, älter als ich, aus seinem Werk über Vögel vor“. Vgl. zur Bekanntheit des Werkes Bömer 1986, 109 und Myers 2009, 112. 91 Ov. fasti 3,37: Martia, picus, avis; Plin. Nat. 10,41. 92 Das Thema coniugium und seine jeweiligen Voraussetzungen, Komplikationen, Konflikte und Konsequenzen für alle Beteiligten scheint ab dem Betreten des italischen Handlungsraums im 14. Metamorphosenbuch stets präsent zu sein; auch in der Verbindung von Odysseus und Circe klingt das Thema deutlich an (met. 14,297f.: inde fides dextraeque datae thalamoque receptus / coniugii dotem sociorum corpora poscit – „als sie sich dann die Hände darauf gegeben hatten, sich nichts anzutun, und er mit ihr das Bett geteilt hatte, fordert er als Mitgift die Rückverwandlung seiner Gefährten“). So könnte sich eine Untersuchung lohnen, ob hier tatsächlich ein dominantes Thema vorliegt und inwiefern sich die Darstellungen von Ehe hier von denen der vergangenen Erzählungen auf griechischem Boden unterscheiden. In dieser Erzählung klingt mit Picusʼ Begründung seiner Ablehnung (met. 14,381: nec Venere externa socialia foedera laedam – „ich werde nicht durch Fremdgehen mein Eheversprechen brechen“), in der er aus seiner Figurensicht nur außerehelichen Sex meint, die Ankündigung der externi generi in Aen. 7,98 an, welche für Lavinias Familie erwartet werden. Für weiterführende Beobachtungen zu interepischen Anspielungen in der Picus-Canens-Episode, insbesondere zu Parallelen zwischen dem Beziehungsdreieck Picus-Canens-Circe und Lavinia-Turnus-Aeneas vgl. Myers 1994, 98– 113, Myers 2009, 114 sowie Aresi 2018, 25–124; 310f. 93 Ihre Werberede und die daraus folgende Handlungsdarstellung enthält einige Bezüge zu Prop. 1,1, so etwa Prop. 1,1,1: suis miserum me cepit ocellis – „sie zog mich Unglückseligen mit ihren Augen in ihren Bann!“ und met. 14,372f.: „per, o, tua lumina“, dixit / „quae mea ceperunt“ – „‚Bei deinen Augen‘, sagte sie, ‚die mich in ihren Bann zogen‘“; 1,1,7: iam toto furor hic non deficit anno – „schon ein ganzes Jahr lässt dieser Liebeswahn nicht nach“ und Picus in met. 14,378f.: altera captum / me tenet et teneat per longum, conprecor, aevum – „eine andere hält mich in ihrem Bann und soll mich dort noch für eine sehr lange Zeit, das ist mein inniger Wunsch, gebannt halten“; 1,1,8: adversos cogor habere deos – „ich bin gezwungen, feindliche Götter zu haben“ und met. 14,366: ignotosque deos ignoto carmine adorat – „und sie betet zu nie gehörten Göttern mit ihrem nie gehörten Lied“. Dass Picus wie Properzʼ Cynthia passim topisch als durus und ferox bezeichnet wird (met. 14,376f.), während sie ihm selbst supplex begegnet (374), versetzt sie in die Rolle eines männlichen elegischen Amators und bereitet so die spätere Kontrastierung ihrer Rolle zur treuen Ehefrau Canens vor.
Die Figurenreden 261
seine Gefährten sie zur Rede. Sie verwandelt auch diese unter Anrufung der Unterweltsgötter in Tiere und lässt zugleich einen schaudererregenden Wald aus dem Boden sprießen (met. 14,403–415). Womöglich bezeichnet der Hinweis auf die blassen Baumstämme einen bestimmten Wald, der dem Leser als italische Region bekannt ist und somit den Mythos mit seiner eigenen Lebenswelt verknüpft. Sicher wird eine solche Verbindung durch weitere regionale Details geschaffen wie durch die Nennung der teilweise sehr kleinen Flüsse Albula,94 Numicus, Anaio, Almo, Nar und Farfarus (met. 14,326–332), die hier als Väter der Quellnymphen genannt werden, die sich in Picus verliebt haben. Einige Details der Landschaft werden auch in Verg. 7,148–169 als direkte Umgebung von Latinusʼ – und damit vormals Picusʼ – Herrschaftssitz genannt, was eine weitere Verbindung zwischen den Texten herstellt und ihre Werkwelten gleichsetzt. Alle weiteren Flüsse dieses Nymphenkatalogs kennt der Leser aus Truppenkatalogen der zweiten Aeneishälfte. So werden diese Elemente zur selben Zeit und am fast gleichen Ort der Handlung und im Beisein der Hauptfigur Aeneas, jedoch in einem veränderten – nämlich erotischen – Kontext wiederholt. Canensʼ Heimatort ist laut dem Metamorphosentext der Palatin, 95 der Ort ihres Umherirrens sind Felder in Latium (met. 14,422) und ihr Todesort das Tiberufer (met. 14,427). Ihre Eltern sind die italischen Gottheiten Venilia und Ianus (met. 14,334; 381), der ebenfalls in der vergilischen Ahnengalerie geführt wird und nun als Schwiegervater des Picus und Großvater des Latinus eine weitere Verwandtschaftsfunktion erhält. Canens wird dieser Erzählung zufolge als Namensgeberin eines Ortes genannt, der in einem nicht näher erklärten und auch anderweitig nirgends belegtem Zusammenhang mit den italischen Musen, den Camenae,96 steht. Circes Dienerin ‚bestätigt‘ die Richtigkeit dieser Namensgebung des Ortes oder sogar der Camenae selbst mit Verweis auf die Überlieferungstradition (met. 14,433f.: fama tamen signata loco est, quem rite Canentem / nomine de nymphae veteres dixere Camenae).97 Aus ihrer Sicht mag das Alter der Überlieferung für die 94 Albula gilt als der ursprüngliche Name des Tibers, vgl. Varro ling. 5,29f. und Verg. Aen. 8,332. 95 Zum Anachronismus dieses Namens, der erst nach Pallas’ Tod durch Euander eingeführt wird und daher Macareus noch nicht bekannt sein kann, vgl. Myers 2009, 116. 96 Vgl. etwa Ennius, frg. inc. 487 (2): Musas, quas memorant, nosce nos esse Camenas – „wisse, dass wir Camenae die sogenannten Musen sind“. Eine Camena ruft bereits Livius Andronicus analog zum Musenanruf in Hom. Od. 1,1 im ersten Vers seines lateinischsprachigen Werkes an. Seit Varro ling. 6,75 wurde in der antiken Etymologie eine Herleitung des Namens Camenae aus carmen angenommen. 97 Met. 14,433f.: „Die Erinnerung an sie ist dennoch diesem Ort eingeschrieben, den die alten Camenae zu Recht nach dem Namen der Nymphe Canens nannten“.
262 Die Gefährten des Odysseus Richtigkeit bürgen, gleichzeitig wird allerdings dem Metamorphosenleser gerade dadurch die zweifelhafte Überlieferungslage dieser Etymologie kritisch in Erinnerung gerufen: Schließlich wird diese Information nicht vom Erzähler selbst, sondern in einer Figurenrede in der vierten Erzählebene gegeben (Erzähler, Macareus, namenlose Dienerin, „die Alten“). Die Darstellungen der Figuren greifen einige bereits behandelte Themen der Metamorphosen oder anderer Werke auf und ergänzen sie um weitere Facetten. Der jugendlich-schöne Picus wird in seinem berittenen Jagdausflug in roten Kleidern mit einer goldenen Fibel beschrieben. Auf der Handlungsebene fungieren die roten Kleider des Picus in der Weise, dass sie nach seiner Metamorphose zum farbenfrohen Gefieder eines Spechts werden. Die bunten Federn des verwandelten Picus werden auch in Vergils Erzählung genannt (Aen. 7,191: facit avem Circe sparsitque coloribus alas) und erhalten so nachträglich einen vertiefenden Hintergrund; auch die Statue im Aeneistext mit der purpurroten Festtoga (trabea) kann man sich rot bemalt vorstellen. Zugleich erinnert die Schilderung an Didos pompöse Aufmachung in der Aeneis vor ihrem Jagdausflug, der dort zum fatalen Missverständnis über ihren eheähnlichen Beziehungsstatus führen wird (Aen. 4,129–139). Diese Darstellung der Dido war innerhalb der Metamorphosen bereits mit Atalantes androgyn-schlichtem Auftreten bei der calydonischen Eberjagd kontrastiert worden (met. 8,318–323), worin wiederum Elemente aus Camillas Darstellung im Truppenkatalog der Aeneis wiederholt wurden (Aen. 7,803–817). Auch Actaeons Erzählung klingt vielfach an, in der wiederum Elemente aus der vergilischen Dido-Episode zu finden sind. Der Jagdausflug als Kontext von Picusʼ Verwandlung scheint eine Erfindung von Ovid zu sein98 und erfordert die Konstruktion eines komplizierten Handlungsablaufs. Da der Text einerseits Vergils Darstellung von Picusʼ Reiterei bestätigt,99 indem er ihn auf der Jagd beritten darstellt, und Circe ihn andererseits von seinen Gefährten separiert ins Dickicht locken möchte, um ihn dort anzusprechen, muss sie ihn zunächst durch eine List dazu bewegen, vom Pferd absteigen.100 Die aufwendige Gestaltung des Handlungshintergrundes als eine Kombination aus Jagd-, Prunkkleidungs- und Reiterszenario zeichnet Picus wieder parallel zu der vergilischen Dido.101 So wird mit vielfach verwobenen intra- und intertextuellen Bezügen, die Elemente entweder
98 Papaioannou 2005, 115. 99 Verg. Aen. 7,189: Picus, equum domitor – „Picus, der Pferdebändiger“; met. 14,320f.: Picus in Ausoniis, proles Saturnia, terris / rex fuit, utilium bello studiosus equorum – „Picus, ein Nachfahre des Saturn, war König in ausonischen Landen, begeistert von Schlachtrössern“. 100 Met. 14,353f.; 361–364. 101 Papaioannou 2005, 123.
Die Figurenreden 263
wiederholen oder kontrastieren, die ästhetische Vielfältigkeit von Jägerinnen oder jugendlichen Jägern zwischen Schlichtheit und Prunk zur Darstellung gebracht. Möglicherweise soll dem Leser angesichts der Jagdszene mit Purpur und Goldspange noch eine weitere Szene aus der homerischen Odyssee in den Sinn kommen:102 Bei Odysseusʼ erstem Wiedersehen mit Penelope kommt er als Bettler verkleidet in ihr Haus und wird nicht von ihr erkannt. Stattdessen gibt sich der Held als ein Fremder aus, der Odysseus einmal bewirtet hat, und kann ihr auf diese Weise Einblicke in seine Irrfahrten geben, ohne sich zu erkennen zu geben. Der Primärerzähler kommentiert Odysseusʼ Rede mit der Anmerkung, dass er Lügen/Fiktionen (ψεύδεα) erzähle, die Wahrheiten ähneln (ἐτύμοισιν ὁμοῖα).103 Dieser Gedanke vom Verhältnis zwischen ficta und verum findet sich auch in der Rede der Magd bei der Statue über das Verhältnis des Kunstbildes zum echten Aussehen des Picus104 und an weiteren Stellen im Metamorphosentext.105 Penelope fragt Odysseus nun zur Probe nach Odysseusʼ Aussehen, als er ihn das letzte Mal gesehen habe, und er beschreibt wie in Picusʼ Fall einen Purpurmantel mit einer Goldspange, auf der wiederum eine Jagdszene abgebildet gewesen sei. 106 Odysseus berichtet, dass viele Frauen ihre Blicke auf den so gekleideten Mann gerichtet hätten107 – dieses Element wiederholt der Metamorphosentext und nimmt es als Ausgangspunkt für einen Katalog verliebter Nymphen, der ihre Flussväter in Latium auflistet. Diese wiederum bilden die Wiederholung von Katalogen aus dem Aeneistext im politischen oder kriegerischen Kontext. So
102 Papaioannou 2005, 123 beobachtet hier eine window reference nach dem Modell von Thomas 1986, 171–198, bes. 188f. 103 Od. 19,203: ἴσκε ψεύδεα πολλὰ λέγων ἐτύμοισιν ὁμοῖα – „Sprach’s und erzählte ihr viele der Wahrheit ähnlich Lügen“. Vgl. zur Auseinandersetzung mit diesem Vers im Fiktionalitätsdiskurs bei Polybios auch Feddern 2018, 259f. 104 met. 14,322f.: licet ipse decorem / adspicias fictaque probes ab imagine verum – „Du darfst seine Schönheit selbst betrachten und von der in seinem künstlichen Abbild auf die wirkliche schließen“. 105 So ist dies die Arbeitsweise der Fama: met. 12,54. Papaioannou 2005, 108 beschreibt auch den vergilischen Charakter Sinon als jemanden, der seine Rede durch Halbwahrheiten glaubwürdig macht, und vermutet wegen dieser typischen Strategie, dass Odysseus als eine Art Ghostwriter hinter seinen Worten steht. 106 Od. 19,225–231 und met. 14,345: poeniceam fulvo chlamydem contractus ab auro – „Seinen purpurroten Mantel hielt er geschlossen mit einer Spange aus Gold“. 107 Od. 19,235: ἦ μὲν πολλαί γ’αὐτὸν ἐθηήσαντο γυναῖκες – „Wahrlich, viele Frauen betrachteten ihn voller Staunen“ und met. 14,326f.: ille suos dryadas Latiis in montibus ortas / verterat in vultus – „Zu seinem Anblick drehten sich die Dryaden um, die in den Latinischen Bergen heimisch waren“.
264 Die Gefährten des Odysseus verbindet die Beschreibung von Picusʼ Jagdkleidung die Themen von Odysseusʼ und Aeneasʼ erster Ankunft in der alten oder neuen Heimat, das Thema von Lügenrede/Wahrheit bzw. Fiktion/Fakt und leitet hiervon ausgehend immer weiter zum Themenbereich des coniugium über. Mit der Erzählung von Vertumnus und Pomona wird ein weiterer Übergang zwischen diesen beiden Themenbereichen gegeben, ehe das Thema der Lügenrede zugunsten der Themenbereiche von Ehe, Apotheose und weiteren römischen Themenfeldern in den Hintergrund treten wird. Die italische Nymphe Canens wird als schöne, dem König rechtmäßig angetraute Gattin108 und als naturverbundene Zaubersängerin dargestellt. Werkimmanent bildet sie einerseits den Auftakt einer Reihe von Erzählungen über trauernde italische Witwen (Canens, Herselie, Egeria) und ergänzt andererseits den Themenkreis ‚Zaubergesang‘ (Musen, Amphion, Medea, Orpheus, Circe, Camenae) um eine weitere Figur. Durch ihre Metamorphose zu einer körperlosen Stimme wiederholt sie außerdem Elemente der Figur Echo, deren Gegenpart Narcissus wiederum in Picusʼ Darstellung bereits anklingt,109 und Elemente der gerade kurz zuvor dargestellten Sibylle, deren Figur mit dem Musengott Apoll durch unerwiderte Liebe, seinen Fluch und ihre kultischen Dienste verbunden ist.110 Wie Orpheus ist Canens naturverbunden und ihrem Ehepartner bis über den Tod hinaus treu; wie Circe ist sie magiebegabt und weiblich. Die Weiblichkeit beider Figuren wird mehrfach betont und fordert so zu einem Vergleich ihrer Handlungen als weibliche Figuren auf.111 Während Canens an einem anderen Ort ihren „Frauengesang“ anstimmt (met. 14,341: quae dum feminea modulatur carmina voce) und damit die Natur und wilde Tiere besänftigt, erzeugt Circe zeitgleich durch ihren Gesang künstliche Tiere (met. 14,358f.: effigiem nullo cum corpore
108 Met. 14,333–338, bes. 335f.: haec ubi nubilibus primum maturuit annis, / praeposito cunctis Laurenti tradita Pico est – „als sie gerade das heiratsfähige Alter erreicht hatte, vertraute man sie dem laurentinischen Picus an, den sie allen anderen vorzog“. 109 Met. 3,353: multi illum iuvenes, multae cupiere puellae – „ihn begehrten viele Jünglinge und viele Mädchen“; met. 14,327f: illum fontana petebant / numina, Naiades – „um ihn warben die Quellgottheiten, die Najaden“. Parallel gestaltet ist auch der strukturelle Handlungsablauf, dass ein junger, vielumworbener Jäger am Fluch einer abgewiesenen Verehrerfigur zugrunde geht. 110 met. 14,132f.: lux aeterna mihi carituraque fine dabatur, / si mea virginitas Phoebo patuisset amanti und 152f.: usque adeo mutata ferar nullique videnda, / voce tamen noscar; vocem mihi fata relinquent – „Ewiges Leben ohne ein Ende bot Apoll mir an, hätte er als Liebhaber über meine Jungfräulichkeit verfügen dürfen“; „so verändert schwebe ich dahin und für niemanden sichtbar, und doch erkennt man mich an meiner Stimme; meine Stimme wird das Schicksal mir lassen.“ 111 Met. 14,341 und 384f.
Die Figurenreden 265
falsi / finxit apri).112 Canens hält selbst oft flüchtige Vögel durch ihre Stimme zurück (met. 14,340: ore suo volucresque vagas retinere solebat), Circe dagegen verwandelt den flüchtenden Picus in einen Vogel (met. 14,388f.). Circe bewirkt allerhand widernatürliche Effekte und öffnet schließlich sogar die Unterwelt. Dass sie dies wiederum aus Zorn über eine beendete Liebe und Rachsucht tut, kontrastiert sie mit dem naturverbundenen Orpheus, der Effekte auf die Unterwelt aus Liebe und aus Hoffnung auf ihre Fortsetzung bewirkte. Orpheusʼ Geschichte wird im weiteren Verlauf anhand der Figur der Canens mit vielen wörtlichen Anklängen nachgebildet. Wie er streift sie nach dem Verlust ihres Gemahls tagelang trauernd durch die Natur.113 Wie Orpheus tröstet sie sich durch ihren Gesang und geht schließlich an ihrer Trauer zugrunde (met. 14,416–433). Wie Orpheusʼ abgerissenes Haupt am Ufer von Lesbos angespült wird (met. 11,54f.), um dort einen Kultort zu begründen, wird schließlich das Tiberufer die erschöpfte Canens aufnehmen (met. 14,426f.), wo die Erzählung um den entschwundenen Körper der Canens den Kultort für die italischen Musen mit einem neugeschaffenen Aition begründet. So wird nach dem Vorbild der Legenden um Orpheus – genauer: nach einer Nacherzählung der Version aus Vergils Georgica, vgl. Kap. 10 – eine Erzählung modelliert, um dem Camenenkult eine legendär und alt anmutende Gründungssage zuzuschreiben – möglicherweise in origineller Weise. Diese Einlage in Macareusʼ Erzählung endet an dieser Stelle und er berichtet Achaemenides und Aeneas weiter von seinem eigenen Schicksal. Nach einem Jahr Verweildauer auf Aeaea fordert Odysseus die Gefährten auf, wieder in See zu stechen. In der Figurenrede des homerischen Odysseus geschieht dies zwar zunächst auf eigenen Wunsch der Gefährten, doch als er ihnen die genauen Pläne für das nächste Reiseziel, die Unterwelt, nennt, verlieren sie den Mut und beginnen zu weinen, sodass er sie zum Aufbruch überreden muss (Od. 10,566–570). Auch der ovidische Macareus gibt in seiner eigenen Rede offen zu, dass er einer dieser verzweifelnden Männer gewesen sei und zudem im Laufe des Jahres zu 112 Met. 14,341: „Während sie diese Lieder mit ihrer Frauenstimme sang“; met. 14,358f.: „Sie erschuf das körperlose Bild eines falschen Ebers“. Der Trick eines Phantombildes, das im Schlachtgetümmel verschwindet und so den Gegner fortlockt, ist wieder durch zwei andere weibliche Gottheiten bekannt, die ihre Lieblinge schützen wollen. Aphrodite wendet ihn in der Ilias an, um Aeneas vor Diomedes zu retten (Il. 5,449f.). In der Aeneis wird Aeneas durch denselben Kniff durch Juno getäuscht, die so Turnus vor ihm rettet (Aen. 10,636–664). Nun handelt Circe in den Metamorphosen in derselben Weise, um ihre eigenen erotischen Interessen einem Mann gegenüber zu verfolgen. 113 Allerdings geht sie dabei auf italischem Boden denselben Weg, wie im späteren Zeitverlauf Aeneas gehen wird, vgl. Ludwig 1965, 68.
266 Die Gefährten des Odysseus träge geworden sei, um wieder in See zu stechen (met. 14,436–440). So wird rahmend wieder die Übereinstimmung von Odysseusʼ und seinen eigenen Erlebnissen aus verschiedener Perspektive bestätigt.
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Fazit
In der Figurenrede des Macareus werden aus seiner Perspektive die Erlebnisse erzählt, die der homerische Odysseus am Phäakenhof vorträgt. Hierbei beschränken sich seine Erzählungen auf die Details, die er wissen kann. Neue Aspekte, die seiner Figur eigene Interessen, Erfahrungen und damit mehr Tiefe verleihen würden, werden jedoch keine ergänzt. Achaemenides erzählt dagegen nur solche Erlebnisse, die Odysseus in diesem Text nicht referieren konnte, und berichtet von den drei parallel verlaufenden Monaten allein auf der Insel. Da er darin auch das verwundete Auge des Polyphem und dessen monologischen Umgang mit seiner nachhaltigen Wut auf Odysseus miterlebt hat, lassen sich aus diesen geschilderten zeitlich späteren Konsequenzen Einzelheiten des homerischen Abenteuers indirekt als Voraussetzung seiner Erzählung erschließen. Sie sind aber kein Teil der Handlung selbst, sondern nur durch intertextuelle Bezüge zum Aeneis- und Homertext für einen Leser mit entsprechenden Vorkenntnissen verstehbar. Leichte Abweichungen zwischen der Odyssee- und der Metamorphosenerzählung lassen sich mit der unterschiedlichen Figurensicht und Erzählsituation erklären. Der homerische Odysseus stellt sich selbst als hilfsbedürftiger Schiffbrüchiger an einem fremden Königshof als besonders ehrenwert dar, im Kontrast dazu und um seine Beschützerrolle zu betonen die Gefährten als ängstlich (Od. 10,261–274; 408–448). Macareus dagegen berichtet einem ehemaligen Kameraden, der Odysseus gut kennt und der ihm zudem gerade seinen eigenen Unmut über den ehemaligen Anführer und auch die Gefährten kundgetan hat, und dem Trojaner Aeneas von seinen Erlebnissen. Er muss die Handlungen des Odysseus also nicht beschönigen. Die Deckungsgleichheit der Handlungsabläufe bewirkt, dass die Ereignisse der Odyssee von der Erforschung der Cyclopeninsel bis hin zum Aufenthalt bei Circe als Teil der kohärenten Welt in der Metamorphosenerzählung akzeptiert werden. Damit verbunden werden auch die nicht-erzählten Episoden der Odyssee als Hintergrundgeschehen mitgedacht. Zudem werden die Odyssee-Erzählungen auf der Ebene der Handlung und des Figurenwissens mit dem italischen Raum und darauf verorteten Sagenkreisen, insbesondere auch der zweiten Hälfte der vergilischen Aeneis, verbunden. Das Verbindungselement besteht darin, dass ein Gefährte des Odysseus einen Augenzeugenbericht über eine Statue wiedergibt, deren hölzernes Pendant sein aktueller Zuhörer Aeneas in der Aeneis nur wenig später in Latinusʼ schlichter
Fazit 267
Thronhalle bestaunen wird. Wenn dieser Komplex aus Werkwelten wiederum an verschiedenen Stellen mit der historischen Welt des Lesers gleichgesetzt wird, bestätigt dies zugleich die Identifizierung der Odyssee- und Aeneiswelt mit der eigenen. Da dabei die Unzuverlässigkeit von Überlieferung immer wieder thematisiert wird, ist mit „Gleichsetzen“ keineswegs ein absoluter Wahrheitsanspruch gemeint. Thema ist vielmehr gerade dies: Wie die Geschichten seit Trojas Fall durch die Augen vieler verschiedener Figuren mit jeweils eigenen Interessen bis hin zum Leser gebrochen, verzerrt und schließlich als Gemisch aus Wahrheit und und Dichtungen gewandelt wurden. Die Neuschöpfung der Figur Canens als Verbindung zwischen dem italischen und dem griechischen Mythenkreis ist nicht zufällig gewählt, sondern fungiert in programmatischer Weise. Hier modelliert Ovid nach dem alten Vorbild des von Vergil übernommenen Orpheusmythos einen neuen Gründungsmythos über einen Kultort als Pendant zum italischen Musenkult, dem der Camenae.114 Die Werkwelt wird wieder nicht bloß durch die Integration weiterer Ereignisse hinsichtlich der Einheit erweitert, sondern auch vielfältig aufgefächert, indem neue Perspektiven auf die Figur des Odysseus und seine Taten eröffnet werden. Macareus hat zum Zeitpunkt seiner rückblickenden Erzählung die Irrfahrt aus eigenem Entschluss aufgrund seiner mangelnden Frustrationstoleranz verlassen. Seine Sicht auf die Geschichten ist daher einerseits kontrastiert mit der Sicht des topisch leiderprobten Odysseus, andererseits aber neutral bis freundlich in seinem Urteil über diese Figur. Achaemenides hat dagegen eine Metamorphose vollzogen – auf der Handlungsebene vom Griechen zum Philoktet-ähnlichen Barbaren und dann zum heimatlosen Trojanerfreund – und auf metaliterarischer Ebene vom namenlosen homerischen Charakter zur vergilischen Neuerfindung zur Figur in der Metamorphosenwelt.115 Die Sicht auf Odysseus und seine Taten in unterschiedlichen Vorgängerwerken wird noch weiter aufgespalten, indem auch die Figurenrede des vergilischen Aeneas in Aen. 3 und auch 2 in Erinnerung gerufen werden, die wieder weitere Facetten und Deutungen eröffnen.116 114 Die genaue Bedeutung der Verse met. 14,433f. (fama tamen signata loco est, quem rite Canentem / nomine de nymphae veteres dixere Camenae) lässt sich heute wegen fehlender Referenztexte leider nicht mehr klären. 115 Papaioannou 2005, 82f. 116 Papaioannou 2005, 87–89 untersucht unter dieser Fragestellung mögliche Neulesungen von zweideutigen Epitheta zu Odysseus, wie z.B. infelix und experiens, und zeigt 91, wie der über zwei Bücher erzählende Aeneas den Cyclopen als Opfer des Odysseus mit der Stadt Troja parallelisiert, z.B. Aen. 2,261–265: duces et dirus Odysseus / [...] invadunt urbem somno vinoque sepultam – „die Fürsten und der grausame Odysseus betreten die Stadt, die betäubt daliegt vom Schlaf
268 Die Gefährten des Odysseus Die Berichte aus dem Mund von Odysseusʼ bislang namenlos gebliebenen Gefährten aus seiner Rudermannschaft, Achaemenides und Macareus, geben in gewisser Weise die Perspektive der „kleinen Leute“ auf die erlebten Abenteuer wieder. Dies zeigt sich an ihrem kontrastiv unheldenhaften Charakter, der schlicht, unpatriotisch und wenig abenteuerlustig ist. Auch Circes Magd erhält, wiedergegeben durch Macareus, die Gelegenheit, ihre Sicht auf ihre Herrin kundzutun, und selbst Polyphem schildert in acht Versen direkter Rede seine Wahrnehmung von Odysseus und dessen Taten. Dennoch ginge es zu weit, hier etwa von einem mythologischen „Spin-off“ der Nebenfiguren aus der Odyssee zu sprechen.117 Anders als in einem Spin-off erleben und berichten diese Figuren schließlich nicht ihre eigenen Geschichten, sondern erzählen nur die des Helden aus ihrer eigenen Perspektive nach.118 Sie bilden somit eine Folie zum heldenhaften Erzähler, bleiben dabei selbst aber ungreifbar.
und vom Wein“; Aen. 3,630–633: expletus dapibus vinoque sepultus [...] iacuit [...] per antrum [...] per somnum – „vollgefressen und betäubt vom Wein lag er da in seiner Höhle, im Schlaf“. 117 Laut Dudendefinition (https://www.duden.de/suchen/dudenonline/spin-off, Zugriff 10.3.2023): „4. Fernsehproduktion, die aus einer anderen, erfolgreichen Fernsehserie hervorgegangen ist und bei der Randfiguren der Serie nun die Hauptpersonen sind“. 118 Es ist bezeichnend, dass Michael von Albrecht in seiner Übersetzung als Überschrift der Macareus-Erzählung nicht dessen Figurennamen, sondern die Formulierung „Odysseusʼ Abenteuer“ gewählt hat. Die sind es schließlich, die der Leser sehr viel deutlicher wahrnimmt als Macareusʼ eigene Rolle darin. Daher führt auch die Deutung durch Janka 2013, 92 in diesem Punkt deutlich zu weit: „Zugleich ist das individuell-subjektive Moment des intern Erzählenden und Fokalisierenden bei Ovid entsprechend gesteigert gegenüber Vergil, der diesen Zug schon plastisch herausgearbeitet hatte. Ganz anders als Vergil geht Ovid aber in seiner Überwindung der archaischen epischen Tradition so weit, dass er die bei seinem Vorgänger bereits angelegte Entwertung der Führungssicht auf das heldische Geschehen in der Höhle in letzter Konsequenz vollzieht. [...] Wenn Ovid Vergils literarisches Verfahren hier radikalisiert und Odysseusʼ Meisterleistungen aus den Erzählungen seiner „kleinen Odyssee“ verbannt, seinen im Stich gelassenen Kameraden aber als Erzählern und eigentlichen Duldern Stimme und Gesicht verleiht, so ist die mythische Tradition geradezu auf den Kopf gestellt“.
Scylla . Einleitung Scylla, oft gemeinsam mit Charybdis genannt, gehört zu den gefürchtetsten Wesen der mythischen Seefahrt und ist literarisch seit den homerischen Epen bekannt. Zur Entstehungszeit der Metamorphosen wurden die beiden Fabelwesen an der Meerenge von Messina verortet, wo ein Felsen als Scyllas versteinerte Gestalt identifiziert wurde.1 Belege für Erzählungen über Scyllas Vergangenheit als junge Menschenfrau oder Nymphe sowie die Erzählung, dass der Seegott Glaucus sich in die schöne Scylla verliebt, die wiederum von einer eifersüchtigen Rivalin in ein Ungeheuer verwandelt wird, finden sich seit dem 3. Jh. Diese sind uns jedoch nicht überliefert.2 Doch Scylla war nicht nur als Figur innerhalb von Erzählungen bekannt, sondern war gleichzeitig ein oft angeführtes Beispiel in poetologischen Diskursen über authentische Figurengestaltung oder Fiktionalität von Dichtung. Auch der Erzähler der Metamorphosen beginnt seine Darstellung dieser Figur mit einem Verweis auf die Glaubwürdigkeit der Dichter (met. 13,733f.: si non omnia vates / ficta reliquerunt),3 ehe er davon berichtet, wie Scylla von einem jungen, begehrten Mädchen zu dem gefürchteten Seemonster und schließlich zu dem Felsgestein wurde, das auch in der Gegenwart des Erzählers und Lesers noch von Seefahrern gefürchtet wird. Im Folgenden wird untersucht, wie die Erzählung ihrer Verwandlungen in met. 13,900–14,74 all diese unvereinbar scheinenden biographischen Stationen dieser Figur verknüpft und darüber hinaus aus ihrer Kombination sogar eine sinnvolle Motivation für ihre feindliche Haltung dem homerischen Odysseus gegenüber erwachsen lässt. Die Untersuchung soll zeigen, welche Rolle der Einsatz intertextueller Bezüge für ihre Verortung innerhalb der Werkwelt und insbesondere für deren Einheit und Vielfalt noch über den vorliegenden Text hinaus spielt.
1 Vgl. zur Verortung der Orte aus der homerischen Odyssee und deren Einordnung zwischen Wahrheit und Fiktionalität Feddern 2018, 259–262 sowie 287–297, der u.a. Aussagen von Polybios und Erathostenes diskutiert. 2 Hedyle Suppl. Hell. 456,1–6. 3 Met. 13,733f.: „Wenn nicht alles erfunden ist, was Dichter überliefern.“ https://doi.org/10.1515/9783110785005-014
270 Scylla
. Scylla in Vorgängerwerken Als plotrelevantes Handlungselement bzw. als Figur ist Scylla besonders aus Homers Odyssee bekannt. In Odysseusʼ rückblickender Erzählung berichtet der Held am Phäakenhof in chronologischer Reihenfolge seine abenteuerlichen Erlebnisse seit dem Aufbruch aus Troja. Dabei erzählt er auch von seinem zweifachen Besuch bei der Zauberin Circe, die ihm verschiedene Anweisungen und Warnungen auf seinen Weg gibt. Darunter befindet sich eine Warnung vor Scylla und Charybdis mitsamt einer Anleitung, wie er mit dieser Gefahr umgehen solle (Od. 12,78–126). Zuvor habe nur „die Argo, die von allen besungen wird“ (Ἀργὼ πᾶσι μέλουσα), also eine zu Odysseusʼ Zeit bereits zur künstlerisch aufgearbeiteten Legende gewordene Heldengruppe, auf ihrer Rückreise von Aietes die Felsen schadlos passiert (Od. 12,69–72). Circe beschreibt Scylla als ein Ungeheuer mit der Stimme von winselnden und bellenden Hunden. Sie habe hoch oben in einem Felsen eine Höhle, in der sie bis zum Bauch stecke, und sechs schreckliche Köpfe auf langen Hälsen, mit denen sie jedem vorbeifahrenden Schiff unvermeidlich ebensoviele Besatzungsmitglieder raube. Da der Strudel Charybdis aber das ganze Schiff mitsamt der Mannschaft zerstöre, sei es dennoch besser, das Opfer von sechs Männern in Kauf zu nehmen. Von Kämpfen solle Odysseus ganz absehen und stattdessen nach der Vorbeifahrt Scyllas Mutter Crataiis anrufen, die sie von weiteren Taten abhalten werde (Od. 12,124–126). Noch im selben Gesang erzählt Odysseus den Phäaken auch von seiner eigentlichen direkten Begegnung mit Scylla. Seinen Gefährten habe er bei der Heranfahrt die Gefahr zunächst verschwiegen, um sie nicht in untätige Angst zu versetzen (Od. 12,217–225). Er gibt auch offen zu, dass er Circes Rat, Kämpfe gar nicht erst zu versuchen, vergessen und stattdessen den Angriff mit Waffen vorbereitet habe (Od. 12,226–234); doch während er und der Rest der Mannschaft vom Anblick der Charybdis abgelenkt waren, packte Scylla sechs Männer und verschlang sie in Sicht-, aber außerhalb seiner Reichweite, während sie zappelten und seinen Namen schrien (Od. 12,244–255). Dies wird mit einem Polypengleichnis illustriert.4 Nach seinem Schiffbruch treibt Odysseus noch ein weiteres Mal allein an Scyllas Felsen vorbei, ohne dass er sie erneut zu Gesicht bekommt (Od. 12,430– 444), und wird nach neun Tagen Seenot bei der Nymphe Calypso aufgenommen. In Apolloniosʼ Argonautika befahren die Helden auf ihrer Rückreise von Colchis im Wesentlichen die gleiche Reiseroute wie der homerische Odysseus: Sie fahren als Pioniere, Odysseus wird ihrer Route erst später folgen. In den Argonautika wird Scylla in einer Figurenrede der Hera an Thetis als große Gefahr mit 4 Vgl. das Gleichnis zum Angriff der Salmacis auf Hermaphroditus, Kap. 9.4.
Scylla in Vorgängerwerken 271
schrecklichen Mäulern angekündigt, die in einer Felshöhle lauert (Apoll. 4,783– 790 und 825–832), aber dank der Hilfe von Meeresnymphen wird das Schiff sicher an ihr vorbeigetragen, ohne dass die Helden überhaupt etwas von ihr mitbekommen (Apoll. 4,920–964). In Vergils Aeneis findet kein direkter Kontakt mit Scylla statt. Die Schiffe reisen in sicherer Entfernung, jedoch noch in Hörweite vorüber. In Aen. 1,200–202 ruft Aeneas seinen Gefährten das Passieren des Ungeheuers rückblickend als eine von mehreren Gefahren in Erinnerung, die sie bereits gemeinsam überstanden haben. Zwei Bücher später berichtet er Dido, wie Helenus die Aeneaden zuvor eindringlich vor Scylla gewarnt und zu einer alternativen Reiseroute durch eine Umfahrung Siziliens geraten habe. Der Apollpriester beschreibt dabei ihre Höhle, ihre Gestalt und ihr Jagdverhalten (Aen. 3,420–432):5 Sie hause in einer dunklen Höhle, ihr Gesicht und Oberkörper sei der einer jungen Frau, ihr Unterleib eine Mischung aus Meerungeheuer (pistrix), Delphin und Wölfen – und mit ihren Mäulern ziehe sie ganze Schiffe auf die Felsen. Diese Warnung gibt Aeneas – ebenfalls rückblickend – in seiner Figurenrede an Didos Hof wieder und berichtet in gerafftem Erzähltempo, wie Anchises die Flotte angeleitet habe, an Scylla und Charybdis ohne Verluste vorbei- und nicht zwischen ihnen hindurchzurudern. Hier ruft Anchises nur den Vorgang der warnenden Prophezeiung ohne inhaltliche Details über Scylla selbst in Erinnerung (Aen. 3,559: Hos Helenus scopulos, haec saxa horrenda canebat).6 Epische Darstellungen der Scylla als Figur auf der Ebene der Handlung werden also narratologisch vor allem in zwei Strukturen gegeben: Weise Helferfiguren warnen in einer Figurenrede den Helden vor der Gefahr7 oder der Held berichtet nach seiner erfolgreichen Vorbeifahrt selbst in der Rückschau von seiner Begegnung.8
5 Die Intertextualität zwischen Helenus’ Prophezeiung, der homerischen Circerede und der Darstellung in Apollonios von Rhodos untersucht Horsfall 2006, 374–462. 6 Aen. 3,559: „Von diesen schaudererregenden Klippen und Felsen hat Helenus in seiner Prophezeiung gekündet.“ 7 Circe in Od. 12,72–126; Hera in Apoll. Rhod. 4,783–790; 825–832; Helenus in Verg. Aen. 3,420– 432. 8 Od. 12,208–221 und Aen. Verg. 1,119–203; vgl. zur Ähnlichkeit der Erzählstruktur der Odyssee, Aeneis und Metamorphosen sowie Argonautika auch Myers 2009, 51: „The narrative delay of Scyllaʼs own story may acknowledge a similar structure in both Homer and Virgil, where Scylla and Charybdis are also twice presented, once in foretelling, and once in actual encounter.“
272 Scylla Über ihre einst menschliche, bisweilen aber auch von vornherein monströse Identität gab es dabei unterschiedliche Versionen:9 Homers Circe führt sie als Tochter der Crataiis ein, was möglicherweise ein Beiname der Hecate war, die in anderen Werken als Scyllas Mutter genannt wird,10 und lässt mit der Angabe, sie sei den Sterblichen als Plage geboren, nicht an eine ursprünglich menschliche Gestalt denken (Od. 12,124f.). Apollonios von Rhodos setzt schließlich Hecate und Crataiis explizit gleich.11 Servius wird später Vergils Aeneis-Scylla als Tochter einer Nymphe Crateis identifizieren,12 während Vergil in den Eklogen (6,74f.) und Properz (4,4,39f.) sie mit der ursprünglich menschlichen Königstochter des Nisus von Megara gleichsetzen wird, die ihrem Vater seine magische Locke raubt und ihn dadurch an seine Feinde verrät. In anderen Werken setzt auch Ovid diese Figuren gleich (Ars 1,331f.; Am. 3,12,21f.; Rem. 737; Fast. 4,500).13 Es finden sich außerdem Hinweise auf hellenistische Erzählungen über die Liebe des Glaucus zur Nymphe Scylla, die schließlich zu ihrer Verwandlung in das Ungeheuer führten.14 Von Circes Rolle als Rivalin in einem Beziehungsdreieck ist vor Ovid jedoch nichts bekannt.15 Die verschiedenen Identifikationen der Scylla sind nicht erst von modernen Philologen betrachtet worden. Auch einem poetologisch geschulten augusteischen Leser war Scylla als Beispiel für eine Figur bekannt, die von Dichtern teilweise mit einer anderen Figur gleichgesetzt, teilweise aber von ihr unterschieden wird, so z.B. explizit in Ciris 54–91.16 Diese Reflektionen und auch Versuche, widersprüchliche Überlieferungen zu klären, setzten ungewöhnlich früh schon im 5. Jh. ein17 und wurden dann in unterschiedlichen Literaturgattungen ab dem 3. Jh. bis zu Ovid immer stärker an die Darstellungsform der Figur selbst geknüpft. Bei Apollonios von Rhodos (4,825–831) sinniert die Protagonistin Hera selbst in ihrer Figurenrede darüber, dass Scyllas Mutter Hecate von Menschen ja auch Crataiis genannt werde. Ihre Zuhörerin Thetis wird diese Information wohl
9 Eine erschöpfende Analyse der jeweiligen Geneaologie und ihrer Veränderungen im Laufe der Tradition bietet Hopman 2012, 201–203. 10 Hes. Frg. 262 M.-W.; Akusilaos FGrHist 2 F 42; beide bei Schol. Apoll. Rhod. 4,828. 11 Hyg. fab. 199 dagegen nennt Scyllas Elternteil Crataeis als Flussnamen – wenn man annimmt, dass Flüsse immer männlich sind, ist dies ein Gegensatz zur Mutterschaft bei Homer. 12 Serv. Verg. Aen. 3,420. 13 Vgl. zur teilweisen Gleichsetzung beider Scyllae auch Feddern 2018, 484 mit Fn. 201. 14 Insbesondere Hedyle Suppl. Hell. 456,1–6; weitere Belege diskutieren Hopkinson 2000, 41f.; Myers 2009, 52; Hopman 2012, 196 mit Fn. 5. 15 Myers 2009, 52. 16 Vgl. Myers 2009, 57f. und Hardie 2009b, 121 und Cowan 2017. 17 Hopman 2012, 201f.
Scylla in Vorgängerwerken 273
wenig interessieren, sodass diese genealogische Spitzfindigkeit den Handlungsverlauf eher stört als plausibilisiert – der Gedanke ist mehr an den Leser als an die interne Zuhörerin gerichtet. Neben diesem ersten literaturkritischen Themenbereich des Problems verschiedener Genealogien ist die Figur auch für weitere Probleme als Beispiel bekannt: Scylla wird zweitens häufig als Beispiel für ein hybrides Monster und die poetica licentia,18 Mischwesen aus nicht zusammenpassenden Teilen darzustellen, angeführt, z.B., wenn auch ohne namentliche Nennung, in Hor. Ars poetica 3f. und in Lukrez 5,894. Zum Dritten dient die Figur Scylla in der Literatur und auch in früheren Ovidwerken (Ov. Am. 3,12) als ein Beispiel für credulitas bei den Lesern und für poetische Fiktion, die man nicht für wahr halten darf. 19 Nicht nur Dichter, auch Historiographen versuchten auf immer neue Weise am Beispiel der Scylla zu zeigen, wie der wahre Kern in einem Mythos rational herauszuarbeiten sei.20 Die Figur Scylla steht damit einerseits verbunden mit dem Leserwunsch, den wahren Kern in Mythen zu erfahren, und andererseits für die dichterische Strategie, seinen neugierigen Leser über den Wahrheitsanspruch einer Erzählung im Unklaren zu lassen.21 Die Verknüpfung des Namens „Scylla“ mit der Diskussion über genealogische Widersprüche schlägt sich in den hellenistischen Darstellungen nieder, die Ovid und seine Leser zur augusteischen Zeit vorlagen. Sie hinterlassen daher 18 Etwa: „Dichterische Freiheit“; Hardie 2009b, 119–121. 19 Etwa: „Leichtgläubigkeit“, z.B. in Lucr. de rer. nat. 5,892f. Hopman 2012, 178–180 versucht anhand sprachlicher Indizien zu zeigen, dass Lukrez eine Schlüsselrolle dabei spielte, Scylla auch bei Sallust, Pseudo-Vergil und Seneca eine solch prominente Rolle als Beispiel für poetische Fiktion einzuräumen, dass sie schließlich als „rhetorical trope“ fungiert. Vgl. auch Hardie 2009, 121: „In Amores 3,12 Ovid highlights a further notorious hybridity in the myth of Scylla, the poetic licence that consists in the conflation of two Scyllas, Scylla the daughter of Nisus and Scylla the sea-monster, a knowing ‚error‘ which in surviving texts is first found in Eclogue 6, but very possibly with Hellenistic precedent, perhaps in Callimachus“. Vgl. außerdem Feddern 2018, 261; 289–293; 352; 482f.; 492 und 521. 20 So z.B. die Annahme, dass Scylla der Name eines Schiffswracks sei, das an gefährlichen Klippen zu sehen ist und für die Seeleute symbolisch die Gefahren des Meeres zeige, Hopman 2012. In epischen Texten wie später ja auch in Vergils Aeneis (Aen. 5,114–123) wurden Schiffe nach mythischen Mischwesen benannt, was wiederum von den Historiographen umgekehrt als Beleg dafür herangezogen wurde, dass in mythischer Vorzeit Schiffe so hießen. Ähnlich fungiert im Erklärungsversuch des Palaephatus (vermutlich ein Aristotelesschüler) Odysseus und seine Figurenrede am Hofe der Phäaken gewissermaßen als Missing Link zwischen mythischer Vorzeit und historischer Zeit, aus der reale Begebenheiten missverständlich überliefert werden. Vgl. Hopman 180–194, bes. 182f. und 203: „Ancient discussions of Scylla’s genealogy show, that the genetic link between historiography and mythography extends to their methodology.“ 21 Hardie 2009b, 121: „In other words, a hybrid response“, mit Verweis auf Alter 1975, 29.
274 Scylla auch ihre Spuren in der Art, wie ein Dichter an diese Darstellungstradition anknüpfen konnte – ein Problem, das auffällig häufig in der Dichtung selbst thematisiert wird.22 Auch Vergil spielte dieses gelehrte Spiel um Scyllas Fiktionalität mit: Sein Aeneas begegnet Scylla nicht einmal direkt und stellt doch in seiner Figurenrede in Aussicht, dass seine Begegnung mit ihr oder dem Cyclopen vielleicht später einmal Gegenstand unterhaltsamer Erzählungen sein werde (Verg. Aen. 1,199–203, bes. 203: forsan et haec olim meminisse iuvabit),23 Helenus dagegen schließt an seine Informationen zu Scylla weitere Hinweise mit einer Dichterkritik an (Aen. 3,433f.: praeterea, si qua est Heleno prudentia vati, / si qua fides, animum si veris implet Apollo...).24 Rhetorisch gebildeten Lesern ist Scylla zudem als Exemplum bekannt, mit dem in Reden verschiedene Argumente illustriert werden können. So ist Scylla in der römischen Rhetorik vor allem mit dem Aspekt der gefährlichen Seefahrt und mit der unmöglichen Zusammensetzung verschiedener Körperteile verknüpft, zudem aber auch – wenn auch weit weniger als in der griechischen Literatur – mit verderblichen Formen der weiblichen Sexualität.25 Weiterhin findet sich Scylla als Beispiel für besonders herzlose Handlungen. In Euripidesʼ Medea 1343 beschimpft beispielsweise Jason die Kindsmörderin mit diesem Namen, sie wiederholt diese Beschuldigung zustimmend 1359.26 Dass sie beide gemeinsam dieses Monstrum auf ihrer Seereise selbst zu Gesicht kommen haben, erwähnen sie nicht – Scyllas Nennung ist hier also rein topisch zu verstehen.
22 So auch Hopman 2012, 196, 205. 23 Verg. Aen. 1,203: „Vielleicht wird es uns irgendwann sogar Freude bereiten, sich daran zu erinnern“. Auch den Wahrheitsanspruch zu Hercules’ Rolle bei der Stadtgründung von Tarent stellt Vergils Aeneas infrage (Aen. 3,551: si vera est fama – „wenn die Kunde wahr ist“), und Anchises kommentiert Aen. 3,558f. die Sichtung der Charybdis mit den Worten nimirum hic illa Charybdis: / hos Helenus scopulos haec saxa horrenda canebat – „Ohne Zweifel ist hier diese Charybdis: Von diesen schaudererregenden Klippen und Felsen hat Helenus in seiner Prophezeiung gekündet“. Horsfall 2006 zu Aen. 3,553 geht so weit, dass er annimmt, Vergil schreibe Scylla komplett rationalisiert zu einer geographischen Begebenheit, einer gefährlichen Klippe um und personifiziere sie allein durch Anspielungen auf Homer, nicht aber auf der Handlungsebene selbst. Vgl. Hopman 2012, 193. 24 Aen. 3,433f.: „Wenn außerdem Helenus als Seher etwas Weisheit besitzt, wenn etwas Glaubwürdigkeit, wenn Apoll seinen Geist mit Wahrheit erfüllt…“. 25 Vgl. Ciris 69; Myers 2009, 65; Hopman 2012, 230–232. 26 Ähnliche topische Verwendung für Grausamkeit in Cat. carm. 60,2; 64,156.
Scylla in den Metamorphosen 275
. Scylla in den Metamorphosen Als Teil der Metamorphosenwelt wird die Figur Scylla erstmals im siebten Buch erwähnt: Auch hier spricht Medea über Scylla. Die Zauberin assoziiert Scylla dabei als ein hundeartiges Ungeheuer, das als eine Gefahr unter vielen einem Seefahrer gefährlich werden kann (met. 7,64f.: [dicitur] cinctaque saevis / Scylla rapax canibus Siculo latrare profundo).27 Wer Medeas weitere Biographie kennt, weiß, dass sie auf ihrer Rückreise von Colchis nach Iolcos auf der Argo tatsächlich noch ebendiesen Scyllafelsen passieren wird und er dann zum Teil ihres eigenen Erfahrungsschatzes wird.28 Ihre Darstellung zum Zeitpunkt ihres Monologs in Colchis folgt jedoch nur dem Muster einer topischen Warnung vor der Seefahrt29 – wenn hier auch eher unkonventionell an sich selbst und nicht etwa an ihren Gastfreund Jason gerichtet. Auf der Handlungsebene der Primärerzählung erscheint Scylla als Figur erstmals im dreizehnten Buch, als Aeneas nach dem Fall Trojas die Felsen in der Ferne sichtet (met. 13,728–733). Wenn Circes sehr viel jüngere Nichte Medea30 Scylla bereits in ihrer Monstergestalt kannte und sie auch fast zwei Generationen später nach Trojas Fall noch für Odysseus und Aeneas sicht- und hörbar ist, währt ihre Lebensdauer offenbar übermenschlich lang:31 Als Teil der Metamorphosenwelt hat Scylla zu diesem Zeitpunkt schon mindestens zwei Menschengenerationen lang auf ein und demselben Felsen ausgeharrt und die Seefahrt geprägt (met. 14,70: Scylla loco mansit).32 Als sich die Schiffe der Trojaner zum ersten Mal der gefährlichen Meerenge nähern (met. 13,730), erwähnt der Erzähler auch hier kurz die Gefahr, die von dem Ungetüm auf die Seefahrer ausgeht. Dann weist er mit einem Hinweis auf die kritische Glaubwürdigkeit von Dichtern überraschend auf ihre jungfräuliche Vergangenheit hin33 – von der er mit einem 27 Met. 7,64f.: „Und es heißt, dass die räuberische Scylla, umgürtet mit wütenden Hunden, im sizilischen Meer bellt.“ 28 Apoll. Rhod. 4,920–964. 29 Scylla als Gefahr für Seeleute, meist in Verbindung mit Charybdis oder den Syrten genannt, in Verg. Aen. 7,302; Ov. Am. 2,11,18–20; 2,16,21; Ov. Rem. 737–740; Fast. 4,495–502; Cat. 64,154– 157 u.a. 30 Chalkiope konnte laut Apoll. Rhod. 3 ihre jüngere Schwester Medea bereits mit Muttermilch säugen – der gemeinsame Vater Aietes, Circes Bruder, ist also so viel älter als Medea, dass er ebenso gut ihr Großvater sein könnte. 31 In der Odyssee nennt Circe sie sogar unsterblich (Od. 12,118f.). 32 Met. 14,70: „Scylla bleibt an ihrem Ort.“ 33 Darauf, dass die Formulierung im Wortlaut an Venusʼ Auftritt in Verg. Aen. 1,315f. erinnert, ist gelegentlich hingewiesen worden. Plausibel scheint hierbei die Erklärung, dass die Erinnerung an die Liebesgöttin in der Verkleidung einer Jungfrau den hybrid-paradoxen Aspekt der
276 Scylla Zeitsprung sofort zu erzählen beginnt. Der Ort, den die Trojaner hier passieren, ist also derselbe, der schon Medea mitsamt der Scylla in Monstergestalt vorschwebte, und auch derselbe, den kurz darauf auch die Griechen unter Odysseus aus nächster Distanz und unter Verlusten passieren werden (met. 14,70f.). Gleichzeitig ist er auch der Schauplatz einer sehr viel früheren Begegnung, die nun, immer noch auf der Ebene der Primärerzählung, erzählt wird. Scylla war demnach in dieser unbestimmten Vorzeit noch eine junge Frau, und die Atmosphäre der Erzählung schlägt mit dem Blick in die Vergangenheit von einer epischen in eine idyllische Erzählweise um. Scylla tauscht sich mit der Nymphe Galatea über ihre abgewiesenen Verehrer aus (met. 13,737: elusos iuvenum narrabat amores),34 während Galatea sich von ihrer Freundin ihr Haar kämmen lässt.35 Als Galatea den Verlust ihres Freundes Acis erzählen will und zu weinen beginnt, wischt Scylla ihr „mit marmorweißem Daumen“36 die Tränen fort und ermutigt sie, weiterzusprechen (745–748). Der szenische Gegensatz zwischen einem männermordenden Tentakelwesen zu Odysseusʼ und Aeneasʼ Lebzeiten und einer schönen, Freundinnen gegenüber verständnisvollen, Männern gegenüber schüchternen Frau am selben Ort zu früheren Zeiten könnte also kaum größer sein. Scyllas Charakterisierung als vielfach begehrte junge Frau, die all ihre Verehrer abweist, erinnert zudem an eine Reihe vorangegangener Darstellungen von Frauen- und Jünglingsfiguren, die im Zusammenhang mit einem
Scyllafigur betonen soll, die zur Hälfte ein schönes junges Mädchen, zur anderen Hälfte ein männermordendes abstoßendes Ungeheuer ist. Scyllas Deutung als hypersexualisierte Frau ist schon antik, vgl. u.a. den Cirisprolog. Auffällig differenziert schlägt sich Scyllas Ablehnung von sexuellen Kontakten in der Metamorphosenerzählung in ihrer Verwandlung nieder: Hier ist sie nicht nur körperlich, sondern auch psychisch zwiegespalten zwischen einer jungfräulichen Gestalt und einer kläffenden Hundemeute als einem (auto-)aggressiven Teil ihrer selbst, dem sie zunächst zu entfliehen versucht. Vgl. Hardie 2009, 123, der diesen Aspekt der Scyllaerzählung als Gegenentwurf zur Narziss-Erzählung liest. 34 Met. 13,737: „Sie erzählte von der enttäuschten Liebe junger Männer.“ 35 Met. 13,730–741. Auch Aphrodite in Apoll. Rhod. 3,45–50 wird beim Kämmen ihrer Haare dargestellt, als sie Hera und Athene zu einem Beratungsgespräch über männliche Heldenschicksale empfängt; Klatschgeschichten über Liebesthemen tauschen auch die Nymphen in Verg. georg. 4,334–347 aus. 36 Vgl. zur weißen Haut als Schönheitsideal von Frauen oder Knaben Kap. 9.4 mit Fn. 40. Hopkinson 2000, 211 versteht met. 13,746 so, dass es sich um Galateas eigenen Daumen handele, und erklärt die weiße Farbe ihrer Haut unter Bezug auf Theokrits Idyll 6,37f. mit ihrer Namensbedeutung als „die Milchweiße“. Es scheint jedoch handlungslogisch unplausibel, warum Scylla (als grammatikalisches Subjekt des Satzes) Galateas Tränen mit deren eigenem Daumen fortwischen sollte, statt naheliegender ihren eigenen zu verwenden.
Scylla in den Metamorphosen 277
abgewiesenen Verehrer verflucht oder verwandelt werden. 37 Bereits hier wird dadurch die Lesererwartung geweckt, dass im weiteren Handlungsverlauf Scyllas desaströse Gestalt in einem narrativen Zusammenhang zu ihrer einstigen Sprödigkeit stehen werde. Galatea berichtet ihrer Freundin Scylla von der verliebten und eifersüchtigen Seite ihres Verehrers Polyphem und der Ermordung ihres Freundes Acis durch ihn.38 Nach dem Ende dieser Erzählung bricht Scylla zu Fuß auf und trifft allein auf den Meergott Glaucus. Dieser verliebt sich sofort in sie und berichtet seinerseits von seiner einstigen menschlichen Gestalt, die durch Zauberkräuter und eine Reihe göttlich angeleiteter Sühnerituale zu der einer Meeresgottheit verwandelt wurde (met. 13,917–965).39 Scylla hört seine Rede nicht bis zum Ende an und flieht vor ihm.40 Hier wird das bereits aus vielen Parallelerzählungen bekannte Handlungsschema (vgl. Kap. 5.2.4) begonnen und pausiert zunächst über eine Buchgrenze hinweg, mitten zwischen der Schilderung von Flucht und Verwandlung. Glaucus begibt sich zur Zauberin Circe und bittet sie um Hilfe, um Scylla für sich zu gewinnen. Circe dagegen zeigt sich selbst interessiert an dem Meergott. An dieser Stelle wird mit einem weiteren Blick in die Vergangenheit an die aufgedeckte Affäre zwischen Venus und Mars erinnert, für die Venus möglicherweise noch immer Rachegelüste gegenüber Circes Vater Sol hegt und deshalb nun ihre 37 Met. 13,735: hanc multi petiere proci – „um diese warben viele Freier“, ähnlich wie zu Daphne (met. 1,478), Coronis (met. 2,571), Narcissus (met. 3,353); Medusa (met. 4,795), Deianira (met. 9,10), Myrrha (met. 10,315f.), Chiona met. (11,301f.), Caenis (met. 12,192), Cyllarus (met. 12,404); vgl. Kap. 5.2.4 sowie Hopman 2012, 236 mit Fn. 8. Diese Wendung findet sich auch bei abweisenden Mädchen in Theokrits Idyllen, z.B. 27,23f. 38 Met. 13,740–899; hierauf wird im Kapitel 15 näher eingegangen. 39 Diese vervollständigt die Reihe der Zuständigkeitsbereiche verschiedener Apotheosen, indem Proserpina zu einer Unterweltsgöttin, Hercules zu einer Himmelsgottheit und Glaucus zu einer Meeresgottheit wird. – Wann genau Glaucus verwandelt wurde, lässt sich nicht klar rekonstruieren: In met. 7,232f. pflückt Medea Zauberkräuter, von denen der Erzähler erklärt, sie seien zu diesem Zeitpunkt noch nicht allgemein bekannt für seine Verwandlung von Glaucusʼ Körper (carpsit et Euboica vivax Anthedone gramen, / nondum mutato vulgatum corpore Glauci – „Sie pflückte auch in Anthedon bei Euboea das Gras voll Lebenskraft, das noch nicht durch seine Verwandlung von Glaucusʼ Körper berühmt geworden war“). Doch da Glaucus Scylla als bereits verwandelter Seegott anspricht, noch ehe sie in ein Monster verwandelt wurde, und Medea wiederum Scylla bereits als Ungeheuer kennt (und auch in Apollonios 1,1310–1329 Glaucus den Helden schon zeitlich früher, nämlich auf ihrer Hinreise nach Colchis erscheint), bezieht sich dieser Kommentar offenbar nicht auf einen noch bevorstehenden Zeitpunkt von Glaucusʼ Verwandlung, sondern lediglich auf die Verbreitung (nondum [...] vulgatum) ihrer Hintergrundgeschichte. 40 Falsch dagegen Döpp 1968, 133, der von einer umgekehrten Rollenverteilung ausgeht, nach der Scylla Glaucus nachstellt und sie selbst Circe um Hilfe bittet.
278 Scylla unglückliche Liebe zu Glaucus entfacht (met. 14,27: seu Venus indicio facit hoc offensa paterno).41 Circe erteilt daher Glaucus den Rat, nur nach erwiderter Leidenschaft zu suchen und sich Scylla aus dem Kopf zu schlagen, die ihn offensichtlich nicht will – doch Circes Angebot wird wiederum von Glaucus abgelehnt. Circe vergiftet daraufhin aus Eifersucht in einem magischen Ritual, zu dem unter anderem Zaubersprüche der Hecate gehören (met. 14,44: Hecateia carmina), Scyllas idyllischen Badeort oben auf einem Felsen. Beim Eintauchen in das Wasser verwandelt sich Scyllas Körper bis zum Bauch in eine rasende Hundemeute. Glaucus weint darüber und wendet sich sowohl von ihr als auch von Circe ab. Ein Buch später – und innerhalb der erzählten Zeit nur kurz nach Aeneasʼ Annäherung, die der Erzähler zum Anlass für seinen Bericht aus der früheren Vergangenheit der Scylla genommen hat, und seiner erfolgreichen Vorbeifahrt an Charybdisʼ Seite – wird Odysseus unter Verlusten (met. 14,70f.) an ihrem Felsen direkt vorbeisegeln. Als kurz darauf Aeneas ein weiteres Mal, wieder ohne Verluste, dieselbe Stelle passiert, ist Scylla in der Zwischenzeit in einen Felsen verwandelt worden und bildet keine Gefahr mehr für ihn (met. 14,72). Doch auch dieser Felsen, so berichtet der Erzähler, werde seitdem von Seefahrern gemieden.42 Die Figur Scylla fungiert so innerhalb der Werkwelt als Verbindungselement zwischen weit auseinanderliegenden Zeitpunkten und zeigt so die Kohärenz der Erzählungen vom „homerischen Gelächter“ über die Affäre von Mars und Venus bis hin zu den Irrfahrtensagen der Odyssee und der Aeneis. Für das Figureninventar der Metamorphosenwelt bildet Scylla ein Verbindungselement, das Galatea und Polyphem auf Sizilien mit Circe verknüpft und vermittelt über diese mit allen anderen Figuren, mit denen wiederum die Zauberin an anderer Stelle in Zeit und Raum der Werkwelt interagiert. Neben der Einheitlichkeit der Werkwelt wird an Scylla – aufgrund ihres Mischwesendaseins sogar mehr noch als an jeder anderen Figur – die Facettenvielfalt innerhalb einer sich wandelnden Biographie gezeigt. Teile dieser Vielfalt werden wiederum eingeordnet in die Facettenvielfalt der Erzählungstypen „eine schöne Nymphe flieht vor göttlichem Verehrer und wird verwandelt“ sowie „eine
41 „Möglicherweise handelt Venus auch deswegen so, weil sie beleidigt darüber ist, dass ihr Circes Vater sie verraten hatte“; vgl. Kap. 5,1.3. 42 Met. 14,72–74: Mox eadem Teucras fuerat mersura carinas, / ni prius in scopulum, qui nunc quoque saxeus exstat, / transformata foret. Scopulum quoque navita vitat – „bald darauf hätte sie auch die trojanischen Schiffe versenkt, wenn sie sich nicht zuvor in einen Felsen verwandelt hätte, der auch heute noch steinern aufragt. Auch den Felsen umfährt der Seemann.“
Intertextualität und ihre Funktion für die Werkwelt 279
Gottheit fühlt sich (zu Recht oder zu Unrecht) herausgefordert und bestraft die Hybris“.
. Intertextualität und ihre Funktion für die Werkwelt Auf der Handlungsebene werden die Vorbeifahrten der Trojaner und von Odysseus am Scyllafelsen (met. 13,728–731; 14,70–76) gleichgesetzt mit den Erzählungen aus der homerischen Odyssee und gleichzeitig mit denen aus Vergils Aeneis. Dies verdeutlichen die wörtlichen Ähnlichkeiten der Beschreibung der Primärerzählung der Metamorphosen zur Aeneispassage in der Warnung des Helenus, die Aeneas an Didos Hof wiedergibt (met. 13,730f.: Scylla latus dextrum, laevum inrequieta Charybdis / infestat; Aen. 3,420f.: dextrum Scylla latus, laevum implacata Charybdis / obsidet),43 die Vereinbarkeit der Scyllapassagen aller drei Werke sowie weitere Ähnlichkeiten, die im Folgenden gezeigt werden. Während im Aeneistext der Seher Helenus neben der Mischform aus Jungfrau und Tierwesen auch die Höhle der Scylla beschreibt,44 nennt der Metamorphosentext nur die halb-mädchenhafte und halb hündische Gestalt (met. 13,732f.: illa feris atram canibus succingitur alvum, / virginis ora gerens).45 Die Darstellung der Höhle lässt der Metamorphosenerzähler jedoch nicht völlig aus, sondern beschreibt aus einem anderen Blickwinkel denselben Ort in seiner einstigen Gestalt – denn nicht nur das Mädchen, auch ihre Lieblingsstelle an einem kleinen, schattigen Badesee inmitten von hohen Felsen46 hat sich erst mit ihr gemeinsam zu 43 Met. 13,730f.: „Die rechte Seite macht Scylla unsicher, die linke die rastlose Charybdis“; Aen. 3,420f.: „An der rechten Seite lauert Scylla, an der linken die unstillbare Charybdis.“ 44 Die ganze Beschreibung in Aen. 3,424–432 lautet: At Scyllam caecis cohibet spelunca latebris / ora exsertantem et navis in saxa trahentem. / prima hominis facies et pulchro pectore virgo / pube tenus, postrema immani corpore pistrix / delphinum caudas utero commissa luporum. / praestat Trinacrii metas lustrare Pachyni / cessantem, longos et circumflectere cursus, / quam semel informem vasto vidisse sub antro / Scyllam et caeruleis canibus resonantia saxa. – „Aber Scylla umschließt eine Höhle mit finsteren Schlupfwinkeln. Sie streckt ihren Kopf heraus und zieht Schiffe auf die Felsen. Zuerst ist da ein Menschenkopf und bis zur Körpermitte eine Jungfrau mit schönem Oberkörper – schließlich aber ein Meerungeheuer mit gewaltigem Körper, das an seinen Delphinschwänzen übergeht in einen Unterleib aus Wölfen. Es ist besser, vorsichtig die Ausläufer des trinacrischen Vorgebirges Pachynum zu passieren und in einem weiten Umweg zu umfahren, als nur einmal die monströse Scylla in ihrer Höhle zu sehen und ihre Felsen, die vom Gebell ihrer meerschwarzen Hunde widerhallen.“ 45 Met. 13,732f.: „Diese hat am dunklen Unterleib ringsum wilde Hunde, während sie gleichzeitig das Antlitz einer jungen Frau trägt.“ 46 Met. 13,902f.: ubi lassata est, seductos nacta recessus / gurgitis inclusa sua membra refrigerat unda. – „Wenn sie erschöpft war, suchte sie die verborgenen Rückzugsorte eines Strudels auf
280 Scylla einem Schreckensort verwandelt und war zuvor noch ein Locus amoenus (met. 14,51–54). Der Odysseetext sagt nichts von Scyllas halbem Frauenkörper, sondern spricht nur von ihren Tatzen und den Monsterköpfen. Mit Blick auf das Figurenwissen des Erzählers Odysseus und die Motivation der Erzählerin Circe, von der er seine Informationen erhalten hat, könnte diese Abweichung damit erklärbar sein, dass Odysseus nur einen flüchtigen Blick auf das Monster erhaschen kann, das hoch über ihm mit sechs Hälsen und zwölf Klauen aus einer Höhle ragt. Der im Homertext beschriebene Teil würde dann lediglich Scyllas verwandelten Unterleib darstellen, während oben innerhalb der Höhle noch der kleinere Mädchenteil verborgen ist. Odysseusʼ Informantin Circe wiederum, die ja, so weiß man rückblickend aus dem Metamorphosentext, selbst an der Verwandlung schuldig war, kann ihm dieses Detail des Ungeheuers bewusst verschwiegen haben. Diese Auslassung muss also auf der Handlungsebene nicht zwingend im Widerspruch zum Metamorphosentext stehen, wenn man als augusteischer Metamorphosenleser auch den Odysseetext nachträglich als Hintergrund oder Vorgeschichte in die Werkwelt des jüngeren Textes integrieren möchte. Insgesamt ist es eher unwahrscheinlich, dass ein Metamorphosenleser bei einer erneuten Homerlektüre tatsächlich auch dort eine Scylla mit menschlichem Oberleib vor dem inneren Auge sah. Letztendlich ist jedoch diese Frage, in welche Richtung die Vorstellung desselben Monsters durch die abwechselnde Lektüre der beiden Texte im Einzelnen mehr beeinflusst wurde, nicht zu beantworten. Scyllas ursprünglich menschliche Herkunft wird im Metamorphosentext mit den Worten kommentiert: si non omnia vates / ficta reliquerunt, aliquo quoque tempore virgo (met. 13,733f.).47 Mit dieser Einleitung reiht sich der Text in die Tradition der Vorgängertexte ein, die Darstellung der Scylla mit einer Dichterkritik zu verbinden. 48 Über das Werk und seinen Erzähler hinaus lassen sich auch über
und kühlte ihre Glieder in den abgeschirmten Wellen“; met. 14,51–54: parvus erat gurges, curvos sinuatus in arcus, / grata quies Scyllae. Quo se referebat ab aestu / et maris et caeli, medio cum plurimus orbe / sol erat et minimas a vertice fecerat umbras – „Es gab eine kleine Bucht, die sich zu einem Bogen krümmte, die Scylla als Ruheort schätzte. Dorthin zog sie sich vor der Brandung des Meeres und der Glut des Himmels zurück, wenn die Sonne in der Mitte ihrer Bahn am stärksten schien und von ihrem Höhepunkt aus die wenigsten Schatten zuließ.“ 47 Met. 13,733f.: „Wenn nicht alles erfunden ist, was Dichter überliefern, war sie irgendwann einmal auch wirklich eine junge Frau.“ 48 Hier wurde darüber hinaus die Deutung vorgeschlagen, der Primärerzähler nehme für die Erzählung über Scylla die Haltung als „kritischer, souveräner und desillusionierter Historiker“ ein, welcher die Zuverlässigkeit der Berichte der Dichter generell anzweifelt und auch den Leser dazu auffordert, der Glaubwürdigkeit von Dichtung – auch seiner eigenen! – mit Skepsis zu
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die spezifische Identität der genannten vates Vermutungen anstellen. Innerhalb der Werkwelt kann damit Helenus gemeint sein, der wenige Verse zuvor den Trojanern die Zukunft vorausgesagt hat und der – bei Gleichsetzung der Werkwelten von Aeneis und Metamorphosen – auch über Scylla gesprochen hat (met. 13,722– 724: Inde futurorum certi, quae cuncta fideli / Priamides Helenus monitu praedixerat, intrant / Sicaniam)49 und der sich auch in der Aeneis selbst als unzuverlässigen vates dargestellt hat (Aen. 3,433f.: si qua est Heleno prudentia vati, / si qua fides, animum si veris implet Apollo).50 Wenn man aber von einem Metamorphosenerzähler und Adressaten mit einem römisch-gebildeten Lebenshintergrund ausgeht (vgl. Kap. 3; 5.1.3), so kann er an dieser Stelle auch Vergil, Homer oder andere Dichter meinen, deren Darstellungen der Scylla dem Leser besonders präsent sind. So wird dem Leser in Erinnerung gerufen, dass es noch weitere literarische Versionen über Scyllas Identität über die Ependichtung hinaus gibt, und seine Aufmerksamkeit wird durch diese Dichterkritik auf die Bedeutung von Ovids Entscheidung für die in augusteischer Zeit eher ungewöhnliche51 Genealogie gelenkt: Das Meeresungeheuer Scylla der Metamorphosen an der messinischen Meerenge ist, wie die Scylla in Homers Odyssee und in Apolloniosʼ Argonautika, die Tochter der Crataeis (met. 13,749).52 begegnen, so Horstmann 2014, 209; vgl. auch Solodow 1988, 69f. und Galinsky 1975, 176f. Genau genommen stellt der Erzähler hier allerdings nur die Vergangenheit des Monsters als junge Frau, nicht aber seine generelle Existenz infrage, vgl. auch Horstmann 2014, 210 mit Verweis auf Feeney 1991, 227. 49 Met. 13,722–724: „Nachdem sie die Zukunft erfahren hatten, die ihnen in Gänze der Priamossohn Helenus in seiner glaubwürdigen Warnung prophezeite, betraten sie Sicania“; Aen. 3,420– 432; 684–686; 559. 50 Aen. 3,433f.: „Wenn außerdem Helenus als Seher etwas Weisheit besitzt, wenn etwas Glaubwürdigkeit, wenn Apoll seinen Geist mit Wahrheit erfüllt…“ 51 Vor Ovid nennt außer Homer einzig noch Apoll. Rhod. 4,828 auch Crataeis als Scyllas Mutter, wobei er den Namen mit Hecate gleichsetzt. Diese Gleichsetzung findet sich auch in den Scholien einer ins 5. Jh. verorteten Autorengruppe der sogenannten „Magoi“ zur Odyssee und ist womöglich ein Versuch, den Widerspruch zwischen Homers und Hesiods Versionen aufzulösen, vgl. Hopman 2012, 202 mit Bezug auf Felix Jacoby zu FGrH 396 F22. 52 Der Namensvetterin Scylla aus Megara ist dagegen im achten Buch eine eigene Erzählung gewidmet, worin diese Scylla in den Meeresvogel Ciris verwandelt und damit eindeutig von der Scylla auf dem Felsen unterschieden dargestellt wird (vgl. Pseudo-Vergils Ciris, 54–91, die allerdings für gewöhnlich erst nach Ovid datiert wird und daher hier keine Rolle spielt). In dieser Erzählung spielt der Text wiederum dreimal indirekt auf die dem Leser bekannte Verschmelzung der Figuren an, indem er die Nisustochter trotz ihrer menschlichen Gestalt aufgrund ihres schlechten Charakters und ihrer Verfolgungsjagd über das Meer ähnlich darstellt wie das Meeresungetüm (met. 8,97f. tellusque [...] pontusque; 100: monstrum, 144: haeret comes invidiosa carinae); vgl. auch Hopman 2012, 207.
282 Scylla Die Darstellung des Mädchens Scylla ist von Parallelen und Kontrastierungen zu den homerischen Darstellungen ihres monströsen Daseins geprägt. Wie das spätere Ungeheuer meidet auch das Mädchen Scylla das offene Meer. Sie geht lieber zu Fuß, als zu schwimmen (met. 13,900f.), und kühlt ihre (noch menschlichen) Gliedmaßen bevorzugt in verborgenen Schlupfwinkeln (met. 13,902f.: seductos nacta recessus / gurgitis inclusa sua membra refrigerat unda).53 Dass sie vor dem offenen Meer zurückschreckt (met. 900f.: neque enim medio se credere ponto / audet)54 und später selbst zum Schrecken der Seefahrt wird, bildet eine tragische Ironie. Galatea spricht Scylla als virgo direkt an und erklärt, sie könne sich Männern ungestraft verweigern, wenn diese sie erobern wollen (met. 13,740f.: Te tamen, o virgo, genus haud inmite virorum / expetit, utque facis, potes his inpune negare).55 Aus ihrer eigenen Figurensicht zeichnet Galatea mit diesen Worten Scyllas Verehrer erstens als Gegenbild zu ihrem eigenen cyclopischen Verfolger (met. 13,759: ille inmitis; 760f.: visus ab hospite nullo / inpune).56 Zweitens reiht sie Scylla damit, was sie als Figur natürlich nicht weiß, werkimmanent in die Weltgeschichte von vielfältigen spröden Mädchen ein.57 Drittens kontrastiert sie damit intertextuell auch Circes chronologisch spätere Erklärung in der Odyssee, dass der Held Scyllas schreckliche Angriffe auf seine Gefährten nicht „abwehren“ bzw. „bestrafen“ könne (Od. 12,114: ἀμύνεσθαί), sondern dass man unbedingt vor ihr fliehen müsse (Od. 12,120: φυγέειν κάρτιστον ἀπ' αὐτῆς). Galatea und die anderen anwesenden Nymphen können als die Nereiden identifiziert werden, die später das Schiff das Argo an ihrer jetzigen Freundin Scylla vorbeitragen werden. So wie in Apolloniosʼ Text mehrfach die leibliche Schwesternschaft der Nereiden genannt wird, die Jason gegen Scylla helfen sollen,58 betont auch Galatea Scylla gegenüber die Blutsverwandtschaft mit ihrer Schwesternschar und den gemeinsamen Vater Nereus (met. 13,742f.: at mihi, cui pater est Nereus, quam caerula Doris / enixa est, quae sum turba quoque tuta sororum ...).59 So wird erst vor dem Hintergrund des Apolloniostextes deutlich, welch
53 Met. 13,902f.: „Wenn sie erschöpft ist, suchte sie die verborgene Rückzugsorte eines Strudels auf und kühlte ihre Glieder in den abgeschirmten Wellen.“ 54 Met. 900f.: „Sie wagt es nämlich nicht, sich dem offenen Meer anzuvertrauen.“ 55 Met. 13,740f.: „Doch dich, junge Frau, begehrt keine ungehobelte Art von Männern, und du kannst – was du auch tust! – sie ungestraft zurückweisen.“ 56 Met. 13,759: „dieser ungehobelte Kerl“; 760f.: „von keinem Gast ungestraft erblickt“. Zur Ironie zwischen dieser Gratulation und der späteren Bestrafung durch Circe vgl. Myers 2009, 65. 57 Vgl. Kap. 5.2.4. 58 Apoll. Rhod. 4,839; 844. 59 Met. 13,742f.: „aber ich, die ich Nereus zum Vater habe und von der meerblauen Doris geboren wurde und die ich in meiner Schwesternschar stets sicher bin.“
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weitreichende tragische Konsequenzen die Metamorphose der Scylla auch für sie persönlich hat: Nicht nur ihr Körper verändert sich, sondern auch das Verhältnis all dieser Mädchen gegenüber Scylla wird von inniger Freundschaft (met. 13,736: pelagi gratissima nymphis) zu Ignoranz oder gar Feindschaft umschlagen.60 Scylla wird, wie viele Figuren im Werk vor ihr, beim einsamen Nacktbaden von einem männlichen Gott überrascht und flieht beim Anblick des Glaucus auf eine Stelle hoch oben auf einen Fels mit einer steil abfallenden Wand, von dem aus sie das ganze Meer sehen kann (met. 13,911–915). Der Leser erkennt die Gleichsetzung des idyllischen Ortes61 mit dem Scyllafelsen in den Vorgängertexten, den die gleichen Eigenschaften als schrecklich darstellen:62 Die Wärme der Sonne dringt nicht zu dem Felsengipfel durch (Od. 12,73–76; met. 13,52–54) und kein Mann kann den steilen Felsen erklimmen (Od. 12,77–79; met. 13,909–912). Durch die Parallelisierung wird erstens Spannung auf die bevorstehende Verwandlung erzeugt und zweitens durch den Kontrast des sicheren 63 Locus Amoenus ihrer Mädchenzeit zum zukünftig topischen Schreckensort die Tragik verstärkt. Von hier aus betrachtet Scylla die schillernde Mischform aus Monster und Gottheit (met. 13,912f.: monstrumne deusne / ille sit, ignorans),64 die in ihr das gleiche Staunen über die nicht zusammenpassende oder unmögliche Gestalt auslöst, für das sie selbst als Symbol stehen wird. Glaucus spricht das Mädchen an und berichtet von seiner eigenen Verwandlung vom Mann zum Mischwesen. Auch er streut in seine Werberede eine Dichterkritik ein und verwendet gegenüber der Adressatin Scylla Wendungen, die der Leser über die monströse Gestalt der Scylla kennt, z.B. 935: res similis fictae, sed quid mihi fingere prodest?; 956f.: hactenus acta tibi possum memoranda referre, / hactenus haec memini, nec mens mea cetera sensit.65 Möglicherweise ist auch die Beschreibung der ordentlich aufgereihten Fische, die ihm durch ihre credulitas ins Netz gegangen sind, mit Wortspielen
60 „Bei den Meeresnymphen herzlich willkommen“. – In bildlichen Darstellungen wird Scylla bisweilen im Kampf gegen Triton und andere Meeresbewohner dargestellt, vgl. Walter-Karydi 1997, 176f. Ovids Betonung ihrer Beliebtheit zu früheren Zeiten (gratissima) bildet eine Kontrastierung ihrer verschiedenen Lebensstationen. 61 Hier wird davon ausgegangen, dass ihr Fluchtort oben auf dem Felsen derselbe Felsgipfel ist, an den sie sich später erneut zum Baden zurückziehen wird. 62 Od. 12,73–84; Verg. Aen. 3,424f.; 431f. Vgl. Hopkinson 2000, 231; Myers 2009, 63f. 63 Met. 13,912: tuta loco. 64 Met. 13,912f.: „Ohne zu wissen, ob er ein Ungeheuer oder ein Gott ist.“ 65 Met. 13,935: „Die Tatsache gleicht einer Lüge, aber was nützt es mir, etwas auszudenken?“; 956f.: „Bis hierhin kann ich dir die erinnerungswürdigen Ereignisse berichten, bis hierhin reicht meine Erinnerung, aber alles darüber hinaus habe ich nicht bewusst miterlebt.“
284 Scylla über poetische Einfälle gespickt, die wir heute nicht mehr verstehen. 66 Zugleich greift die Schilderung seiner früheren Arbeit als Fischer Elemente aus dem Fischergleichnis auf, mit dem Scyllas Menschenjagd in der homerischen Odyssee illustriert wird (Od. 12,251–255). Die Ironie kann Glaucus selbst allerdings nicht ahnen, da er – trotz seiner Orakelgabe – ja noch ahnungslos über den weiteren Verlauf der Geschichte ist. Wütend über Scyllas Zurückweisung schwimmt er von der Cyclopeninsel fort, die durch intra- und intertextuelle Mittel mit dem mythischen sowie historischen Sizilien und auch mit der homerischen Cyclopeninsel gleichgesetzt wird (vgl. Kap. 8), und gelangt zur Zauberin Circe. Bereits jetzt ist ihr Atrium67 voll von variae ferae (met. 14,9f.), was einerseits die Artenvielfalt der Tiere bezeichnet, aber auch auf Scyllas Mischform aus menschlichem Geist und tierischem Körper und den Hintergrund ihrer Verwandlung anspielt. Met. 14,45f. wird die Zauberin durch ein ferarum / agmen adulantum68 schreiten, was den Ort wiederum mit Macareusʼ viel späterem Augenzeugenbericht in met. 14,255–259 sowie zu dem in Hom. Od. 10,212–219 und Verg. Aen. 7,15–20 gleichsetzt. Glaucus erzählt der Zauberin von Scylla. Er lokalisiert diese topographisch genau (met. 14,17f.: litore in Italico, Messenia moenia contra, / Scylla mihi visa est)69 – eine dem Leser aus anderen Gattungen geläufige Übung in Bezug auf Scylla –70 und bittet Circe ausdrücklich nicht darum, dass sie ihn „von seinen Wunden heile“, sondern dass die Zauberin dafür sorgen solle, dass Scylla den calor mit ihm teile. Was er metaphorisch auf seine Liebesgefühle bezieht, wird Circe wörtlich auf seine Mischwesengestalt übertragen und seinen „Wunsch“ entsprechend tragisch erfüllen, indem sie auch Scylla vom Bauch abwärts in ein Seeungeheuer verwandelt. Circe will Glaucus zunächst für sich gewinnen und rät ihm, seine unerwiderte Liebe zu vergessen und sich stattdessen auf Personen zu konzentrieren, die ihn zurücklieben. Sie hält ihm ein erotisch-didaktisches Plädoyer wie ein elegischer Sprecher, insbesondere wie der lehrende Erzähler der
66 Vgl. Plin. epist. 1,6, worin die Jagd mit Netzen auf Wildschweine vermutlich als ein Gleichnis für geistige Arbeit und gute Einfälle zu lesen ist. 67 Met. 13,968; 14,9f.; 260. Zur Lokalisation von Circes Wohnort vgl. die Diskussion zu verschiedenen Belegstellen in Myers 2009, 55. 68 Met. 14,45f., etwa: „ein Rudel von Wildtieren, das sie unterwürfig umstrich“. 69 Met. 14,17f.: „An der italischen Küste, gegenüber den Mauern von Messina, kam mir Scylla zu Gesicht.“ 70 Z.B. Sall. Hist. 4,27; Pomp. Mela 2,7,115. So auch Hardie 2009b, 120. Die Lokalisierung der Scylla als Teil der Route des Odysseus beschäftigte antike Gelehrte schon früh; vgl. hierzu Hopmann 186f. Vgl. auch Fn. 901.
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Ars Amatoria oder die Figur einer lena.71 Dabei bezeichnet sie sich selbst als cupidine capta.72 Diese Wendung wiederum charakterisiert ihre Figur im siebten Buch der vergilischen Aeneis, hier im Kontext der Picuserzählung, die noch im selben Metamorphosenbuch von Macareus erzählt werden soll (vgl. Kap. 13.3). Auch dies setzt einerseits die Figuren der zwei Werkwelten gleich und erzeugt zweitens einen ironischen Kontrast zu der vergilischen Circe, die ebendiesem Rat zuwiderhandeln wird, wenn sie König Picus capta cupidine in einen Specht verwandelt .73 Glaucus weist Circe ab und formuliert seinen Korb als ein Adynaton, das sich auf unzusammenpassende Teile bezieht. Ein gelehrter Leser hat möglicherweise in seiner rhetorischen Ausbildung ebenfalls eine Reihe solcher Adynata gelernt und bemerkt, dass in eine solche Auflistung auch die Figur der Scylla passen würde74 – allerdings noch nicht zu diesem Zeitpunkt der Erzählung und nicht aus Figurensicht des Glaucus, da eine verwandelte Scylla in seiner Lebenswelt noch nicht existiert. Die Wortwahl des Glaucus gibt dem Leser also in tragischer Weise eine Vorahnung bzw. das Vorwissen für das, was nun auf der Handlungsebene folgt: Circe verwandelt ihre Konkurrentin Scylla durch magisches Gift75 in das Ungetüm aus unmöglich zusammenpassenden Teilen, als das sie gemeinhin bekannt ist. Ihre Verwandlung kann diese zunächst selbst nicht glauben. Die Figur 71 „Kupplerin“, eine erfahrene Mentorin oder Ratgeberin für Frauen, Männer in Liebesbeziehungen finanziell auszunutzen, z.B. der Rat der lena in Am. 1,8. Ähnlich sind auch der Rat zur fiducia in ars 1,269; 707 und in Circes Rede in met. 14,32 sowie die Wendung mihi crede (met. 14,31) und am. 1,8,62; 1,9,2; 2,2,9; 2,2,51; 3,4,11; 3,6,21; ars 1,66; 2,259; 464; 717; 3,439; 653; 664. Vgl. zu weiteren Ähnlichkeiten Ellsworth 1988, 338 und Myers 2009, 59. 72 „Von Begierde ergriffen“. 73 Aen. 7, 189–191: Picus [...], quem capta cupidine [...] fecit avem Circe – „Picus, den Circe, von Begierde ergriffen, in einen Vogel verwandelte“. 74 Vgl. Myers 2009, 62: „The confusion of land and water also resonates with Glaucusʼ and Scyllaʼs own metamorphosed hybrid forms“; Hopman 2012, 226: „In terms of narrative causality, the monster created by Circe parallels the paradoxes conjured up by Glaucus“ und 240f.: „Through Circe’s magic, Scylla’s transformation grotesquely fulfills the rhetoric of her would-belover“; Scylla als rhetorisches Adynaton führt z.B. später Iuvenal 15,13–22 an. – Glaucusʼ Adynatareihe in met. 14,37–39. Tragisch bewahrheiten werden sich in met. 14,68f. seine Worte, dass seine Liebe zu Scylla erst dann schwinden werde, wenn die Unmöglichkeit einer solchen Erscheinung wahr werde – nämlich hier in der Gestalt ihrer eigenen Mischform. 75 Hierdurch wird wieder die eigene Verwandlung des Glaucus, die er Scylla in seiner Werberede 13,917–965 geschildert hat, in Art und Weise und bezüglich des Ergebnisses in transformierter Form an Scylla wiederholt. Scylla erhält durch ihre Verwandlung außerdem Eigenschaften von Glaucus und Circe selbst. Vgl. Hopman 2012, 242–246, die sogar so weit geht, dass sie die verwandelte Scylla als gefährliches Mischwesen aus diesen beiden Figurentypen, denen sie zum Opfer gefallen ist, deutet: zur Hälfte ein aggressiv-sexueller Mann, zur Hälfte eine eifersüchtige Frau.
286 Scylla Scylla, den Lesern als Beispiel für poetische Fiktion bekannt, der man kritisch gegenüber sein sollte, ist also ihrer eigenen Fiktion gegenüber kritisch. 76 Wenn man bei der Lektüre der Metamorphosen erneut Rückschau auf den Odysseetext hält, verändert sich dadurch teilweise auch der Sinn der homerischen Verse. Als Circe hier ihrem Gast Odysseus von Scylla berichtet und vor dem unausweichlichen Verlust seiner Männer warnt, verschweigt sie ihm das Detail ihrer eigenen Schuld an dieser Verwandlung zu einem Ungetüm.77 Auch ihre Worte, wenn sie in Od. 12,87f. sagt, niemand werde durch Scyllas Anblick Freude empfinden – selbst ein Gott nicht! (αὐτὴ δ' αὖτε πέλωρ κακόν· οὐδέ κέ τίς μιν / γηθήσειεν ἰδών, οὐδ' εἰ θεὸς ἀντιάσειε) –, erhalten beim erneuten Lesen nach Ovids Version einen veränderten Sinn, denn wenn man die Schilderung von met. 14,17–24 und 37–39 als Teil ein und derselben Biographie versteht, so weiß Circe sehr wohl, dass der Gott Glaucus einmal Freude an Scyllas ursprünglicher Gestalt empfunden hat.78 Indem die homerische Circe betont, dass Scylla (nun) so scheußlich sei, dass nicht einmal ein Gott Gefallen an ihr finden könne, spricht sie also nicht bloß eine Warnung an Odysseus aus, sondern drückt zudem eine Genugtuung über ihre eigene gelungene Rachetat aus. Auch Scyllas Wüten gegen Odysseus wirkt nach Kenntnis der Metamorphosen nicht mehr so zufällig durch generelle Wildheit motiviert, wie Circe es darstellt, sondern es handelt sich um einen zielgerichteten Angriff auf Odysseus als Reaktion auf Circes vorausgegangene Aggression ihr gegenüber. 79 Dieses Motiv 76 Vgl. Myers 2009, 66; Hardie 2009b, 121f.: „[C]redulitas is transferred from the poet’s readers to the subject of metamorphosis herself (14,61–2), ac primo credens non corporis illas / esse sui partes [‚und zunächst konnte sie nicht glauben, dass dies Teile ihres eigenen Körpers waren‘]. [...] incredulity, a state of mind particulary appropriate for Scylla, given that by the time of the Metamorphoses she had become a touchstone for poetic fictiveness“. Vgl. zum Begriff der credulitas als Kontaktelement zwischen Dichter und Leser auch Hardie 2012, 157. 77 Dass Circe hier die Schuld an Scyllas Verwandlung zugeschrieben wird, bemerkt auch Hinds 1998, 105, ohne den Gedanken jedoch bis zu den Konsequenzen für eine Neulektüre des Homertextes weiterzuführen. 78 So auch Hopkinson 2000, 231 zum haeret in met. 13,906: „he is rooted to the spot. This is a convential reaction to beauty [...], but there may be an ironical reference to Homerʼs grim description of Scylla: ‚nobody could look at her with delight, not even a god if he passed that way‘ (Od. 12,87–8).“ 79 Der Gedanke, dass Scylla nach langer Zeit für irgendein Unrecht blutige Rache nehmen kann, findet sich auch in Ciris 74–76. Myers 2009, 67: „The attribution of this motive for Scyllaʼs attack on Odysseus seems original.“ – So auch Hopman 2012, 200: „Furthermore, the story also aetiologizes Scylla’s traditional animosity towards Odysseus“ und 238: „Here, by contrast, Circe becomes the cause of Odysseus‘ woes since Scylla seizes his men in resentment against the magician. The Odyssean chain of causes and effects is revisited, questioned, and challenged.“ – Ähnlich wird den Nymphen, zu denen die trojanischen Schiffe in Verg. Aen. 9,107–122 (vgl. auch
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für ihren Angriff auf Odysseus wird in met. 14,70f. sogar explizit genannt: In Circes odium sociis spoliavit Ulixen.80 Gewissermaßen trägt die Zauberin also eine Mitschuld an Odysseusʼ Verlust, die sie ihm gegenüber durch eine diffamierende Darstellung ihrer früheren Konkurrentin zu verschleiern versucht. Der Metamorphosenerzähler berichtet, dass zum Zeitpunkt der zweiten Vorbeifahrt des Aeneas Scylla die Gefährten des Odysseus bereits gefressen habe, nun aber zu Stein verwandelt und damit für die Trojaner ungefährlich sei. Dieser Stein ist den Lesern der Metamorphosen aus ihrer eigenen Lebenswelt bekannt, wie der Erzähler herausstellt (met. 14,73f.: ni prius in scopulum, qui nunc quoque saxeus exstat / transformata foret; scopulum quoque navita vitat),81 und symbolisiert so die Identifizierung der vergangenen Mythenwelt mit der realen Welt. Auch der homerische Odysseus treibt noch ein zweites Mal unbehelligt am Felsen vorbei, ohne etwas von Scylla mitzubekommen. Vielleicht ist, bei nachträglicher Gleichsetzung der Werkwelten, auch hier bereits nur ein ungefährlicher Felsen anzunehmen. Davon ahnt allerdings die Figur Odysseus selbst nichts und schreibt daher dem Gottvater sein Glück zu, unbehelligt entkommen zu sein (Od. 12,445f.). Was in der Zwischenzeit passiert ist, das diese Verwandlung eines Monsters zu einer noch dem Leser bekannten Steinformation bewirkt hat, ist uns nicht bekannt. Wegen der Dichte und Deutlichkeit anderer intertextueller Bezüge scheint mir jedoch unwahrscheinlich, dass das antike Zielpublikum ebenfalls zu dieser Frage im Dunkeln tappen musste; wahrscheinlicher ist wohl, dass ihm eine Verwandlungsgeschichte bekannt war, die uns nicht mehr überliefert ist.82 Eine mögliche, wenn auch spekulative Erklärung könnte eine Intervention durch Scyllas Mutter sein. In Homers Odyssee war Odysseus schließlich von Circe aufgefordert worden, nach einer kampflosen Durchfahrt Crataiis anzurufen, die ihre Tochter an weiteren Mordtaten hindern sollte (Od. 12,124–126) – oder
Aen. 10,219) verwandelt werden, in den Metamorphosen nachträglich eine bleibende Abneigung gegenüber Griechen angedichtet und sogar ihre schadenfrohe Untätigkeit bei Odysseusʼ Schiffbruch geschildert, met. 14,559–565; vgl. hierzu auch Ellsworth 1988, 335. 80 „Aus Hass auf Circe raubte sie Odysseus seine Gefährten.“ 81 „Wenn sie sich nicht zuvor in einen Felsen verwandelt hätte, der auch heute noch steinern aufragt. Auch den Felsen umfährt der Seemann.“ 82 Anders deutet diese Stelle Horstmann 2014, 211f. als funktional angelegte Charakterisierung des proteushaften Erzählers, der damit hier als unzuverlässig erzählender Pseudo-Historiker ausgezeichnet werden soll: „Wie genau sie zum Felsen wurde oder wer sie verwandelt hat, kann er freilich auch nicht sagen – damit allerdings bleibt gerade der Hauptaspekt des Epos, die eigentliche Metamorphose, hier im Unklaren. Weil hierüber alle relevanten Informationen fehlen, liegt quantitative Unzuverlässigkeit vor, die Ovid zum Zweck der Erzeugung eines pseudo-historiographischen Erzählers angelegt hat.“
288 Scylla genauer: sie daran hindern sollte, „sich zu bewegen“ (ὁρμηθῆναι). Falls Odysseus diesen Rat befolgt hat und daraufhin irgendetwas geschah, das zu Scyllas Versteinerung geführt hat, so ist es uns nicht überliefert. Der homerische Odysseus verschweigt ein solches Erlebnis rückblickend am Hof der Phäaken, als er von der Begegnung berichtet, und betont stattdessen seine Kampfbereitschaft gegenüber Scylla. Auch aus anderen Quellen ist uns keine Version seiner Durchfahrt bekannt, nach der er Circes Rat noch umsetzt. Zudem wäre die Erzählung einer dauerhaften Versteinerung in vorhellenistischer Zeit ungewöhnlich: Verwandlungen sind in Erzählungen in archaischer und klassischer Zeit für gewöhnlich reversibel (Io, Circes Zauber), nicht aber dauerhaft und somit aitiologisch.83 Dies spricht auch inhaltlich gegen eine Datierung der verloren gegangenen Versteinerungserzählung der Scylla auf vorhomerische Zeit. Da jedoch zwischen der Durchfahrt des Odysseus und dem Ausweichmanöver des Aeneas nur wenig Zeit vergangen ist, in der eine Verwandlung auf andere Weise hätte stattfinden können, kann eine solche dem Leser bekannte Begebenheit nicht völlig ausgeschlossen werden, zumal die Referenzen auf den Homertext hier derart gehäuft auftauchen. Möglicherweise hat sie sich auch in einer Art Erlösungsmoment von selbst in Stein verwandelt, nachdem sie ihr Lebensziel, Rache gegenüber Circe zu nehmen, endlich erfüllen konnte. Die Metamorphosenerzählung ist hier aber letztendlich auch ohne Klärung dieses Missing Link inhaltlich vereinbar mit der homerischen Version: Scylla wurde kurz vor Aeneasʼ, aber erst nach Odysseusʼ erster Vorbeifahrt in Stein verwandelt. Ist nun Scyllas Verwandlung in Stein innerhalb dieser Zeitspanne – wie auch immer sie vonstattenging – auch vereinbar mit der Erzählung in Vergils Aeneis? Hier waren die Trojaner zunächst von Helenus vor der Gefahr, die von Scylla ausgeht, gewarnt worden (Aen. 3,420–432); der Seher geht also davon aus, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Durchfahrt noch leben werde. Zudem hören die vergilischen Trojaner, so fasst zumindest Aeneas seinen Gefährten gegenüber glaubwürdig die vergangenen gemeinsam erlebten Gefahren zusammen, beim Vorbeifahren von Weitem das hundeartige Getöse der Scylla (Aen. 1,200f.: vos et Scyllaeam rabiem penitusque sonantis / accestis scopulos).84 Hier scheint sie also, auch wenn es in der Aeneis keine eindeutigen Augenzeugen gibt, noch aus Fleisch und Blut zu bestehen.
83 So Hopman 2012, 197. 84 Aen. 1,200f.: „Ihr kamt auch Scyllas Toben zu nahe und ihren Klippen, die davon widerdröhnten.“
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In den Metamorphosen segeln die Trojaner – zur Verwunderung der modernen Kommentatoren85 – nicht bloß einmal, sondern gleich zweimal an Scylla vorbei! In met. 13,728f. gehen sie an der Zanclaea harena an Land, wobei sie teilweise durch Ruderkraft die Gefahr überstehen, aber auch eine günstige Strömung und einen passenden Zeitpunkt auswählen (remis aestuque secundo / sub noctem).86 Helenusʼ Worte (Aen. 3,420–423: ter [...] vastos sorbet [...] fluctus)87 lassen sich auch so verstehen, dass Charybdis nicht dauerhaft das Meer einsaugt, sondern dass man einen günstigen Zeitpunkt für die Vorbeifahrt abpassen kann. Bei dieser Landung haben sie, wenn man ihre Route weiterhin mit der vergilischen Erzählung im dritten Aeneisbuch gleichsetzt, Achaemenides auf Sizilien aufgelesen und sind dem herannahenden blinden Cyclopen knapp entkommen. Von dieser Begebenheit wird später im 14. Buch Achaemenides selbst dem Macareus berichten (vgl. Kap. 13.2–3). Ihr kurzfristiger Landeort „am zankleischen Gestade“ (met. 13,729: potitur Zanclaea classis harena), wo sie Achaemenides bei den Cyclopen aufsammeln, befindet sich noch im Süden der Meerenge. Von dort aus findet im Metamorphosentext anders als in der Aeneis eine Durchfahrt an Scylla vorbei statt, eh sie sofort wieder vom Nordwind in südliche Richtung nach Libyen getrieben werden (met. 14,75–77: Hunc [= scopulum] ubi Troianae remis avidamque Charybdin / evicere rates, cum iam prope litus adessent / Ausonium, Libycas vento referuntur ad oras).88 Diese Abweichung vom Aeneistext ist umso verwunderlicher, da an die sich hieraus neu ergebenden Handlungsräume keine weiteren Erzählungen angeknüpft werden. Nicht einmal die Spannung wird hier gesteigert, da Durchfahrt und Rückweg innerhalb von nur drei aufeinanderfolgenden Versen abgehandelt werden. Eine Erklärung für diesen umständlichen und ohne Not veränderten Handlungsablauf kann der Blick auf die intertextuellen Verbindungen bieten: In der verglischen Aeneis haben die Trojaner bei ihrer Hinfahrt die lebendige Scylla am anderen Ufer wüten gehört, wie Aeneas rückblickend an Karthagos Küste berichtet. Diese Begebenheit integriert der Metamorphosentext durch die erste Durchfahrt. Aus der realen Lebenswelt ist dem Leser eine Steinformation als „Scylla“ bekannt. Der Metamorphosentext nimmt eine abweichende Route in Kauf, um 85 Vgl. Bömer 1986, 29: „Bei Ovid durchfährt Aeneas die Meerenge nach Norden und wird dann wieder zurück, noch einmal durch die Meerenge, zu Dido getrieben“, und Myers 2009, 68: „Ovid instead has Aeneas travel through the straits northwards towards Italy.“ 86 Met. 13,728f.: „mit Rudern und günstiger Strömung bei Anbruch der Nacht“. 87 Aen. 3,420–423: „Dreimal […] saugt sie die unermesslichen Fluten ein“. 88 Met. 14,75–77: „Als die trojanischen Schiffe mit ihren Rudern diesen Felsen und die gierige Charybdis überwunden hatten, als sie schon nah bei der ausonischen Küste waren, da trug sie ein Wind zurück an die libyschen Küsten.“
290 Scylla auch auf Handlungsebene Scyllas Metamorphose in diesen Felsen erfahrbar zu machen und damit ein Verbindungsstück zu dem aus der realen Welt bekannten „Zeugen“ der Steinformation herzustellen: Bei der Rückfahrt in met. 14,72–76 passieren die Trojaner bereits einen Felsen. Die doppelte Vorbeifahrt an Scylla, die seltsam konstruiert erscheint, wenn man allein den Metamorphosentext liest, fungiert also als intertextuelles Erzählelement, um das Dreieck zwischen Homertext, Vergiltext und der eigenen Lebenswelt zu schließen.
. Fazit Scyllas Dasein vollzieht sich in den Metamorphosen in drei Etappen über einen langen Zeitraum, aber dabei an ein und demselben Ort. Zunächst ist sie eine junge Frau, deren Charaktereigenschaften einerseits in Kontrast zum späteren Ungetüm stehen, andererseits teilweise beibehalten werden: Ihre Scheu vor dem offenen Meer,89 ihre Vorliebe für geschützte Schlupfwinkel und ihre Flucht zu einem hoch über dem Meer gelegenen Ort mit einer steilen Klippe 90 deuten bereits auf ihr späteres verborgenes Hausen in einer Höhle oben auf dieser Felsenklippe voraus. Scylla ist zu ihrer Lebensphase als Mädchen über Galatea mit Polyphem bekannt, der offenbar eine ähnlich übermenschlich lange Lebensdauer hat wie Circe und sie. Nach ihrer Verwandlung durch ihre (vermutlich erst durch Glaucus auf sie aufmerksam gewordene) Bekannte Circe werden sich ihre einstigen Freundinnen gegen sie richten, wenn die Nereiden bei Apollonios die Argo an ihrem Felsen vorbeitragen. Bei einer erneuten Homerlektüre mit dem aktualisierten „Hintergrundwissen“ aus dem jüngeren Ovidtext verschiebt sich für einen (nach)augusteischen Leser nun teilweise der Sinn des älteren Textes: Bei Gleichsetzung der Werkwelt von Odyssee und Metamorphosentext tötet Scylla nun Odysseusʼ Gefährten nicht völlig unmotiviert, sondern aus handlungsintern motivierter Wut als langersehnte Rache gegenüber der Zauberin. Ihre Verwandlung in Stein geschieht kurz nach Odysseusʼ und kurz vor Aeneasʼ Vorbeifahrt und könnte womöglich in Zusammenhang mit ihrer Mutter stehen, auf deren hilfreiches Eingreifen die homerische Circe verweist. Der Felsen an der Meerenge, mit dem sie identifiziert wird, ist den mythischen Figuren Medea, Circe, Odysseus, Helenus, Aeneas u.a. sowie
89 Met. 13,900f.: Scylla redit, neque enim medio se credere ponto / audet – „Scylla kehrt zurück und wagt dabei allerdings nicht, sich dem offenen Meer anzuvertrauen.“ 90 Met. 13,909–912.
Fazit 291
auch dem Leser gleichermaßen bekannt und verbindet alle mythischen Erzählungen, die von diesen Figuren handeln, mit der realen Welt des Lesers. Der Metamorphosentext greift mit Scylla ein feindliches Ungeheuer aus Homers Odyssee auf, verleiht ihr zu einem früheren biographischen Zeitpunkt eine Stimme und lässt aus ihrer Figurenperspektive oder Fokalisation zahlreiche Anklänge auf den Homertext, zudem in einer Dreieckskonstellation der Texte auch auf Vergil anklingen. Durch den Zeitsprung am selben Erzählort und die Scyllaerzählung schafft Ovid eine kohärente Darstellung der Figur, die dem Leser literarisch aus Homers, Vergils und anderen Texten bekannt ist,91 als auch für die real bekannte Landschaftsformation. Zusätzlich zur Handlungsebene finden sich außerdem zahlreiche ironische Kontraste und wortspielreiche Bezüge zu Scyllas Beispielfunktion in verschiedenen rhetorischen und poetologischen Diskursen. So wird ausgerechnet an Scylla, dem topischen Inbegriff für zu viel fiktionale Vielfalt und unzusammenhängende Figurenzeichnung, demonstriert, wie viele Facetten an einer Figur durchaus kohärent verbunden werden können.
91 Hopman 2012, 236 und 238.
Polyphem . Einleitung Gleich zweimal finden sich im Metamorphosentext längere Passagen über den Cyclopen Polyphem, beidemal ist sein Bild vermittelt durch die Figurenerzählung eines Zeitgenossen und Augenzeugen. Seine Facetten könnten kaum gegensätzlicher sein, wenn er erst als rührend-bemühter Amator und Hirtensänger um die Nymphe Galatea wirbt und dann, ein halbes Buch später, Achaemenides noch in seiner Erinnerung zu Tode ängstigt, wenn dieser daran zurückdenkt, wie Polyphem als gottloses Monster seine Gefährten verschlingt.1 Der Metamorphosentext fügt die verschiedenen Rollen des Cyclopen, die der Leser aus unterschiedlichen Kunst- und Literaturgattungen kennt, zu einer kohärenten Figur zusammen. Während so innerhalb der Werkwelt die vielfältigen Facetten zu einer einheitlich konzipierten Figur verbunden werden, fungieren darüber hinaus intertextuelle Bezüge in der Art, dass sie die Werkwelt über den Text hinaus um weitere Elemente erweitern. Eine umfassende Analyse der übereinandergelegten und zu einer neuen Einheit verschmolzenen Vorgängertexte, kategorisiert nach Struktur, Setting und Vokabular sowie Kommentierung des Rezeptionsvorgangs selbst bietet Krause 2010. In ihrer Untersuchung werden allerdings nur die epischen Vorgängertexte von Homer und Vergil und nur die Achaemenides-Passage im 14. Metamorphosenbuch betrachtet. Im Folgenden werden außerdem die bukolischen Darstellungen bei Theokrit, Vergil und dem 13. Metamorphosenbuch einbezogen. Wider soll der Blick darauf liegen, welche Funktion diese Bezüge für die Einheit und Vielfalt der dargestellten Welt und ihrer Figuren erfüllen.
. Polyphem in Vorgängerwerken Im Wesentlichen ist Polyphem dem augusteischen Leser in zwei verschiedenen Rollen bekannt, die gegensätzlicher kaum sein könnten: Als menschenfressender Riese bedroht er vor allem in epischen Texten wie der Odyssee und der Aeneis
1 Die Herausforderung für den Leser, diese so unterschiedlichen Rollen derselben Figur innerhalb eines Werkganzen zu vereinbaren, benennt Hinds 1998, 112 als „intratextual ‚doubling‘ [...] of the Cyclops and Circe, whose roles in the Achaemenides-Macareus complex ask to be read against their roles in the Galatea-Scylla complex earlier in Ovid’s Aeneid.“ https://doi.org/10.1515/9783110785005-015
Polyphem in Vorgängerwerken 293
die Heldengruppen.2 In Philoxenosʼ Dithyramben sowie in bukolischen, lyrischen oder elegischen Texten (Theokrit, Kallimachos und Vergil) umwirbt er mal mehr und mal weniger erfolgreich die Meeresnymphe Galatea. 3 Der Kontrastreichtum dieser beiden Polyphemfacetten wurde bereits vor den Metamorphosen theoretisch reflektiert und u.a. in der bildenden Kunst praktisch in Szene gesetzt. 4 Zudem ist Polyphem aus herrscherkritischen attischen Komödien bekannt.5 Lucilius führt ihn in seinen Satiren als Beispiel für fiktive Ungeheuer an.6 Prop. 3,12,26 nennt ihn als Exemplum für die Schädlichkeit von Wein und ruft in Erinnerung, wie dem betrunkenen Cyclopen sein Auge ausgebrannt wird (Od. 9,345– 398). In der homerischen Odyssee berichtet Odysseus rückblickend am Phäakenhof von seiner Begegnung mit dem Ungeheuer. Er erzählt vor einem Publikum, das seine Ausführungen nicht nachprüfen kann, und er folgt dabei seinem Interesse, sich seinen Gastgebern gegenüber positiv darzustellen. Dabei inszeniert er sich als mutigen, wortgewandten und klugen Anführer, der seine weniger tapferen Gefährten zu lenken versteht und der im Zweifelsfall seinen eigenen Forscherdrang über das allgemeine Sicherheitsbedürfnis stellt (vgl. Kap. 12 und 13). Im Zuge seiner Irrfahrt landet Odysseus mit seiner Flotte an einer Küste, die er seinen Zuhörern als Wohnort der Cyclopen benennt (Od. 9,106f.). Er referiert einleitend einen kurzen Exkurs über deren allgemeine Lebensweise und ihre Gesetzlosigkeit. Woher er all diese Details kennt, wird aus dem Text selbst nicht
2 Hom. Od. 9,105–564; Verg. Aen. 3,616–683. In anderen Gattungen findet sich diese Facette häufig in der Funktion intertextueller Bezüge zu epischen Texten: Prop. 2,33B,32 nennt Polyphems gefährlich-bedrohliche Rolle in der Odyssee, um Penelopes Treue zu illustrieren. 3 Theokrit 6,6–20; Theokrit 11; Kallimachosʼ Galateia (Kall. fr. 378f.), Verg. Ecl. 9,39–43; Prop. 3,2,7f. 4 Für eine Übersicht vgl. Hopkinson 2000, 35–38 sowie Papaioannou 2005, 95f. Diese bezieht neben literarischen Traditionen auch die bildende Kunst in ihre Untersuchung ein und führt hierfür (mit Verweis auf Leach 1988, 339) zwei Wandbilder in der Villa Boscotrecase an. In diesen werden direkt nebeneinander der rasende Cyclop aus der Odyssee-Erzählung und der verliebte Cyclop mit Galatea in der bukolischen Tradition dargestellt. Wie dieses Kunstwerk verbindet auch der Metamorphosentext die beiden Gesichter derselben Figur in den Metamorphosen literarisch zu einer charakterlichen Facettenschau (97f.). 5 Epicharmos; Kratinos; Euripides; vgl. Käppel 2006. 6 Saturarum fragmenta 480–483 (Marx): multa homines portenta in Homeri versibus ficta / monstra putant, quorum in primis Polyphemus ducentos / Cyclops longus pedes. et porro huic maius bacillum / quam malus navi e corbita maximus ullast – „Die Menschen meinen, dass viele Wunderwesen in Homers Dichtung erfundene Ungetüme sind, besonders der Cyclop Polyphem mit seiner Länge von zweihundert Fuß. Und weiter, dieser hatte einen Wanderstab, größer als der größte Mast, den es je bei einem Transportschiff gab.“
294 Polyphem deutlich, und die Zuhörer fragen auch nicht nach. Vermutlich schließt Odysseus aus seinen kurzen Erfahrungen mit dem einzelnen Cyclopen Polyphem auf die Sitten des gesamten Cyclopenvolkes, wobei er andererseits aber auch angibt, dass sich Polyphems einsiedlerische Lebensweise von der üblichen Cyclopenkultur unterscheide (Od. 9,187–189). Möglicherweise sind einer Figur in der mythischen Lebenswelt eines Heros Informationen über übermenschliche Wesen allgemein bekannt; in Od. 21,295–304 setzt Odysseus auch voraus, dass seine Zuhörer wissen, was Centauren sind. Aus den landschaftlichen Begebenheiten kann der Inselbesucher außerdem erkennen, dass im Cyclopenland allgemein keine Landwirtschaft betrieben wird und dennoch sehr viele Nutzpflanzen wie Wein und Gerste von allein wachsen (Od. 9,106–111; 357f.). Der Schiffsbau ist Cyclopen ebenfalls fremd (Od. 9,125–129), doch Schiffe und ihre Funktion sind Polyphem bekannt, wie seine Figurenrede in Od. 9,252–255 und 279f. zeigt. Von fern ist Rauch von Häusern und die Stimmen von Cyclopen und ihren Ziegen und Schafen vernehmbar, was Odysseus als Zeichen für eine Zivilisation sieht, mit der eine Kontaktaufnahme lohnt (Od. 9,166f.). So macht sich Odysseus mit einer kleinen Gruppe von Männern auf Erkundungstour. Sie stoßen auf eine sehr hoch gelegene, abgeschiedene, lorbeerbedeckte Höhle nah am Meer (Od. 9,181–186), die von Odysseus als dunkel empfunden wird (Od. 9,476), in welcher der derzeit noch abwesende Polyphem seine Schafe hält (Od. 9,183–189). Nach Polyphems Rückkehr verschließt der Riese die Höhle mit einem Felsbrocken und sperrt Odysseus und die Gefährten ein. Er spricht über die Dauer von zwei Tagen mehrfach mit Odysseus, der angibt, sei Name sei Οὖτις („Niemand“). Polyphem verwehrt ihm in Worten und Taten jedes Gastrecht, lästert über die Götter und verschlingt insgesamt sechs Gefährten des Odysseus in drei sorgfältig zubereiteten Mahlzeiten (Od. 9,288–293; 311; 344). Am zweiten Tag lässt er die Griechen allein in der Höhle, um seine Schafe zu weiden. In dieser Zeit bereitet Odysseus einen Baumstamm und eine Gruppentaktik mit vier Gefährten vor, mit denen er gemeinsam den Riesen anzugreifen plant (Od. 9,312–335). Am Abend bietet Odysseus dem Riesen so viel ungewohnt starken Wein an, dass dieser schließlich betäubt in seinem eigenen Erbrochenen aus Wein und Menschenfleisch einschläft (Od. 9,371–374). Nun erhitzen die Griechen den bereits angespitzten Baumstamm und brennen Polyphem das Auge aus. Dieser brüllt laut auf, sodass andere Cyclopen von draußen sofort hilfsbereit nach dem Grund fragen. Auf dessen Auskunft hin, „Niemand“ tue ihm Gewalt an (Od. 9,408), gehen sie von einer schmerzhaften Krankheit als Grund für seine Schreie aus, bei der sie ihm nicht helfen können, und lassen ihn daher wieder allein. Odysseus versteckt sich und seine Gefährten unter den Schafen, die der blinde Cyclop hinaustreibt, wobei er ihre Rücken abtastet, ob die Griechen mit
Polyphem in Vorgängerwerken 295
hinausschleichen (Od. 9,420–463). Draußen treiben Odysseus und seine Gefährten viele der Schafe auf das Schiff, darunter auch den Lieblingswidder (Od. 9,550–553). Während sie fortsegeln, ruft Odysseus dem Cyclopen provozierende Worte zu. Aus dieser Rede erkennt Polyphem, dass Odysseus der gefährliche Feind ist, den ihm einst der Seher Telemus in einer Prophezeiung angekündigt hat. Polyphem reißt vor Wut Teile aus dem Berg, wirft sie mehrfach vergebens nach dem Schiff (Od. 9,481–486; 537–541) und verflucht Odysseus. Polyphem wird durch Odysseus und durch seine eigene, von Odysseus wiedergegebene Figurenrede als groß (Od. 9,9,214) und einem bewaldeten Berggipfel ähnlich beschrieben (Od. 9,190–192), zudem als wild (Od. 9,215: ἄγριος), mit einer schrecklich lauten Stimme (Od. 9,256f.; 399; 401–404), gesetzlos (Od. 9,215) und gotteslästerlich (Od. 9,275–278; 477–479). Seine Viehhaltung führt er auch in Ausnahmesituationen – wie unter der schweren Verletzung am Auge – stets routiniert und gewissenhaft aus7 und legt auch in seiner sonstigen Haushaltsarbeit, wozu u.a. ein Herdfeuer gehört (Od. 9,233f.; 251), eine ruhige Sorgfalt an den Tag. Ein gewaltiger Widder ist sein Lieblingstier. Polyphem kennt seine Gewohnheiten und spricht ihn im Augenblick höchster Not in freundlichem Tonfall an. Dabei wünscht er, das Tier könne ihm antworten und sagen, wo Odysseus und seine Gefährten seien, damit er sie zerschmettern und sich daran trösten könne (Od. 9,446–461). All dies kann Odysseus am Phäakenhof wiedergeben, da er sich zum Zeitpunkt der Rede selbst unter dem Widder versteckt hält, um mitsamt seinen Gefährten aus der Höhle zu entkommen. In Vergils Aeneis wird Polyphem an Didos Hof rückblickend von Aeneas beschrieben, der hierfür wiederum die Worte des Achaemenides, eines von Vergil neu eingeführten ehemaligen Gefährten des Odysseus, wiedergibt (vgl. Kap. 13). Die Erzählsituation ist eine ähnliche wie im neunten Gesang der Odyssee: Der erzählende Held wurde nach seinem Schiffbruch gastfreundlich aufgenommen, befindet sich kurzzeitig in einer sicheren und komfortablen Situation und möchte sich seinen Gastgebern gegenüber bei der Nacherzählung seiner Abenteuer in einem positiven Licht darstellen. Anders als Odysseus inszeniert sich der vergilische Aeneas allerdings nicht als kluger, neugieriger Draufgänger, der sich regelmäßig gegen seine weniger mutige Gefolgschaft durchsetzen muss, sondern als ein verantwortungsvoller Anführer unter respektierten Kameraden. Auch die neu eingeführte Figur des Achaemenides ändert durch seine Interfiguralität zum verwahrlosten, beinahe entmenschlichten Philoktet (vgl. Kap. 12 und 13) das Gesamtthema der Polyphempassage, indem das Leid eines von Kameraden Ausgesetzten im Vordergrund steht, der schließlich in höchster Not ausgerechnet von 7 Od. 9,181–189; 237–249; 308–316; 336–342; 437–466.
296 Polyphem seinen ehemaligen Feinden aufgenommen und Vergebung zuteil wird. So bringt der verantwortungsbewusste Aeneas seine Mannschaft nach Achaemenidesʼ Warnung auch nicht weiter ins Landinnere, das mit Sizilien gleichgesetzt wird (vgl. Kap. 8), und erforscht auch nicht selbst die Cyclopenhöhle oder ihren Bewohner. Stattdessen hören sich Aeneas, Anchises und die anderen Trojaner seinen Bericht über den Cyclopen und seine traumatisierenden Erlebnisse in der Höhle an und fliehen dann, als die Cyclopen herannahen. Aus diesen Gründen kann Aeneas nur aus größerer Entfernung von der riesigen und schrecklichen Gestalt des Polyphem (Aen. 3,619–621; 658; 665) und von dessen dröhnender Stimme berichten (Aen. 3,672–676). Vom Inneren der Höhle, vom Verlust der griechischen Gefährten durch die Menschenfresserei sowie von der Überwältigung des Cyclopen mithilfe des ausgebrannten Auges erzählt er nur in der eingelegten Rede des Achaemenides (vgl. Kap. 13.3). Die Höhle beschreibt dieser wiederum so wie der homerische Odysseus als dunkel, unzivilisiert und blutverschmiert von der Fleischfresserei (Aen. 3,616–618: crudelia limina; vasto Cyclopis in antro; domus sanie dapibusque cruentis, / intus opaca, ingens).8 Den Fraß von mindestens zwei Gefährten nennt er auch in Aen. 3,622–633 und erzählt ebenfalls, dass Odysseus und weitere Gefährten dem Cyclopen das Auge ausgebrannt haben, als er betrunken in seinem Erbrochenen schlief. Von der List mit dem falschen Namen erzählt er nichts, doch er weiß zu berichten, dass es noch weitere Cyclopen von derselben Größe und Gefährlichkeit gebe, vor denen Aeneas sich ebenso hüten müsse; deren Schritte und Stimmen habe er über die drei Monate auf der Insel genauer beobachten können (Aen. 3,641–648). Der Text der Aeneis bietet also anders als der Odysseetext eine handlungslogisch plausible Erklärung darüber, woher im Figurenwissen die wenigen Informationen über das Cyclopenvolk stammen. Nach dem Ende dieser Rede erscheint den Trojanern Polyphem summo [...] monte9 – also da, wo er im homerischen Text seine Höhle bewohnt. Aeneas beschreibt Polyphems verletztes Auge, seine daraus resultierende Blindheit und seine Wundpflege im Meer (Aen. 3,658; 662). Zwar wurde das Ausbrennen des Auges ebenfalls im Aeneistext selbst erzählt, sodass sich hierin keine grundlegend neuen, über den Text hinausgehenden Informationen ergeben; dennoch ruft dieser Verweis auf das ausgebrannte Auge erneut auch den Odysseetext als chronologisch frühere Hintergrundgeschichte in Erinnerung.
8 Aen. 3,616–618: „die grauenvollen Türschwellen“; „in der schrecklichen Höhle des Cyclopen“; „die riesige Behausung, innen mit fauligen Säften und blutigen Fraßresten bedeckt.“ 9 Aen. 3,655: „ganz oben auf dem Berg“.
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Polyphem wird als pastor mit einer riesigen Pinie als Wanderstab (Aen. 3,659) beschrieben, den seine Schafe begleiten (Aen. 3,656–661); diese seien, so deutet Aeneas gegenüber Dido seine Beobachtung, seine einzige Freude und Trost in seinem Leid (660f.: lanigerae comitantur oves. Ea sola voluptas / solamenque mali).10 Hier erinnert sich der Vergilleser an die Tierliebe des Polyphem, die ihm aus dem Homertext und insbesondere aus seinem Monolog an den Lieblingswidder bekannt ist. So kann er Aeneasʼ Vermutung über eine besondere emotionale Bindung zwischen Moster und Widdern, was aus Didos Zuhörerperspektive ohne Kenntnis des Homertextes doch eher seltsam klingen muss, als richtig bestätigen. Als der Cyclop die Aeneaden im Meer bemerkt und so laut brüllt, dass das Meer und der Aetna erzittern, erscheinen die anderen Cyclopen und gesellen sich zu ihm (Aen. 3,672–679); ganz sich selbst überlassen scheint der Cyclop also auch in der Werkwelt der Aeneis nicht zu sein. Anders als Odysseus drei Monate zuvor11 reizen die Trojaner das wütende Ungeheuer nicht weiter mit Worten, und Polyphem erhält auch keine Gelegenheit, die Trojaner direkt anzureden. Wenn Achaemenides nicht den Eigennamen Polyphem nennen würde, den Aeneas wiederholt (Aen. 3,641; 657), müsste man aus den Informationen im Aeneistext allein sogar schließen, dass die Cyclopen gänzlich sprachunfähig seien. 12 Abgesehen von der Viehhaltung werden sonst keine Kennzeichen einer zivilisierten Gesellschaft genannt. Nicht erst in der Aeneis (Aen. 3,655–661) werden die in der Odyssee bereits angedeuteten bukolischen Facetten des Polyphem betont und ausgeschmückt. Zuerst stellt der Dihyrambendichter Philoxenos Polyphem als verliebten, unbeholfenen Waldschrat dar. Später griff der hellenistische Bukoliker Theokrit die ländlich-idyllischen Aspekte aus der philoxenischen, aber auch aus der homerischen Figurendarstellung auf und vereint sie in seinem sechsten und elften Idyll als eine Art Vorgeschichte zum schrecklichen Menschenfresser der Odyssee. 13
10 Aen. 3,660f.: „Wollige Schafe leisten ihm Gesellschaft. Das ist seine einzige Freude und sein einziger Trost in diesem Leid.“ 11 Aen. 3,645: Tertia iam lunae se cornua lumine complent – „Schon die dritte Sichel füllten die Monde mit ihrem Licht.“ 12 So auch Krause 2010, 17, 29f. und Galinsky 1975, 232. Vgl. zur Perspektive des Achaemenides und Aeneas auf den Cyclopen in den zwei Texten der Aeneis und der Metamorphosen Kap. 13.3. 13 Vor Theokrit findet sich dieses Thema außerdem bereits im Dithyrambos des Philoxenos (PMG 815–824). Höschele 2016, 295 setzt Theokrits Verfahren, zur Odyssee eine Vorgeschichte über den jugendlichen, verliebten Polyphem zu verfassen, mit Apolloniosʼ Verfahren gleich, mit den Argonautika die Jugendliebe zwischen Medea und Jason als Vorgeschichte zu den Schrecken in Euripidesʼ Medea zu schaffen.
298 Polyphem Im sechsten Idyll singen die zwei junge Hirten Damoitas und Daphnis darüber, wie die Nymphe Galatea ihren Verehrer Polyphem reizt, während er am Meer auf seiner Panflöte spielt, indem sie seine Tiere mit Äpfeln bewirft und ihn mit Schmähworten neckt. Polyphems Sicht dazu wird in Ich-Form wiedergegeben. Er macht sich Hoffnungen, will keine schlechten Nachrichten des Propheten Telemus über den zukünftigen Verlust seines Auges hören (Id. 6,23f.) und überlegt sich Strategien, wie er Galatea eifersüchtig machen und so für sich gewinnen könne. Sein Spiegelbild im Meer mit seinem Auge, seinen marmorweißen Zähnen und seinem Bart habe ihm gezeigt, dass er „ja in Wirklichkeit gar nicht so übel aus[sehe], wie die Leute sagen“ (Theokr. Id. 6,34).14 Auch in Theokrits elftem Idyll wird der noch jugendliche Polyphem dargestellt, dem gerade der erste Bartflaum wächst (Id. 11,9) und der auf dem Land selbst von jungen, ihn spielerisch neckenden Mädchen umworben wird (Id. 11,77–79). Der Text stellt dar, wie er, aufgrund seiner gewandelten Einstellung offenbar chronologisch später als in Id. 6, mit seinem inzwischen hoffnungslos erscheinenden Kummer über seine unerwiderte Liebe zur Nymphe Galatea umgeht. Der Sänger der Ekloge führt diese Sage seinem Adressaten, einem Arzt namens Nikias, als Exemplum dafür an, dass allein Musik gegen Liebeskummer helfe (Id. 11,1–6). Er bezeichnet Polyphem als seinen Landsmann (Id. 11,7) und erwähnt den Aetna (Id. 11,47). Damit setzt er die Cyclopeninsel mit dem bukolischen Sizilien gleich. Polyphem habe vor Liebeskummer seine Schafe vernachlässigt (Id. 11,12f.) und stattdessen allein am Strand (Id. 11,13–15) oder hoch auf einem Felsen am Meer (Id. 11,17f.) gesessen, auf der Hirtenflöte gespielt (Id. 11,38) und von Galatea gesungen. Es wird auch eine durch Kypris verursachte schwelende Wunde in der Leber, also eine Eifersucht angedeutet, deren Hintergrund jedoch nicht weiter ausgeführt wird (Id. 11,5f.). In seinem wörtlich wiedergegebenen Lied an Galatea erzählt er von ihrer ersten Begegnung, als die Nymphe zum Blumenpflücken mit Polyphems Mutter zusammen das Land besucht habe. Seitdem sei Polyphem verliebt, doch Galatea fliehe vor ihm ins Wasser, wohin er ihr nicht folgen könne (Id. 11,4; 30; 54f.; 60–64; 75). Um Galatea für sich zu gewinnen, spricht der Cyclop sie direkt an und hebt rühmend Einzelheiten aus seiner Lebenswelt hervor, die der Leser aus dem homerischen Epos bereits kennt: seine erfolgreiche Viehzucht und Käseproduktion (Id. 11,34–37; 65f.), die Lorbeerbäume auf seiner Höhle (Id. 11,45), seinen Zugang zu Wein und sein Holz am Herdfeuer (Id. 11,46; 50f.). Hiervon ausgehend beteuert er, die umworbene Galatea dürfe ihm sogar sein einziges Auge ausbrennen (Id. 11,50–53). Dies bildet eine tragische Ironie, da der Leser – im Gegensatz zur Figur 14 Übersetzung aus Höschele 2016.
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selbst – bereits weiß, dass Odysseus später genau das mit dem zuletzt genannten Holz und Herdfeuer tun wird. Ebenso fungiert sein Wunsch, ein Schiff würde anlegen, damit ein Fremder darauf ihm das Schwimmen beibringen könne (Id. 11,60–62), als tragische Vorausdeutung auf seine spätere Begegnung mit Odysseus. Vergils Eklogen rezipieren verschiedene Elemente aus Theokrits Idyllen. Besonders viele Bezüge zum elften Idyll finden sich in der zweiten Ekloge, die das Thema von Polyphems Liebeskummer für eine andere Figurenkonstellation aufgreift. Hier ist es der Hirte Corydon, der in seiner unerwiderten Liebe zum weißhäutigen Alexis (Ecl. 2,16–18) seine Schafe vernachlässigt und auf plumpe Weise Käse und Wildtiere als Reichtum und mögliche Geschenke anpreist (Ecl. 2,20–22; 40–42). Die Ekloge über Corydon endet wie Theokrits elftes Idyll mit dem Vorsatz, die unglückliche Liebe zu vergessen und sich anderen Themen zuzuwenden.
. Polyphem in den Metamorphosen Cyclopen werden mehrfach als Schmiede des Vulcan erwähnt, die u.a. die Blitze des Jupiter anfertigen (met. 1,259; 3,305). Die erste Erwähnung der Figur Polyphem findet sich im 13. Buch in der Figurenrede der Nymphe Galatea. Sie schildert Scylla rückblickend und unter Tränen, wie sich der verliebte Hirtencyclop Polyphem mit einem langen Werbegesang und Geschenken um sie bemüht habe und wie er schließlich, rasend vor Eifersucht, ihren Freund Acis erschlagen habe, der wiederum in einen Fluss verwandelt worden sei. Die nächste kurze Erwähnung des Cyclopenvolkes als Teil der Werkwelt erfolgt im Metamorphosentext im Zuge der Glaucusgeschichte etwa 70 Verse später (met. 14,1–4). Der Meeresgott schwimmt an einer Gegend vorbei, die namentlich als Cyclopenlandschaft ausgewiesen wird. Hierbei wird die Landschaft Siziliens, wie auch in der Aeneis, der mythischen Cyclopeninsel gleichgesetzt und als Teil der Reiseroute nach Italien und der benachbarten Insel der Circe beschrieben (met. 14,5–10; vgl. Kap. 8). Eine ausführliche Erzählung über die Figur Polyphem bietet wieder die Rede des Achaemenides im 14. Buch, der die gefährliche Seite des menschenfressenden, steinewerfenden Riesen gegenüber Odysseus und seinen Gefährten schildert.
300 Polyphem
. Intertextualität und ihre Funktion für das Weltgedicht Galatea erzählt von der bukolisch-verliebten Seite des Polyphem, welche dem Leser literarisch vor allem aus der bukolischen Literatur bekannt ist. Ihre Rede enthält insbesondere intertextuelle Bezüge zu Theokrits elftem Idyll. Dieses erzählt von derselben Begebenheit, wie der jüngere Cyclop am Meer sitzend musiziert und singend um Galatea wirbt. So kann diese Begebenheit auf der Handlungsebene mit den geschilderten Ereignissen in den Metamorphosen gleichgesetzt werden. Achaemenidesʼ Rede über die episch-grauenvolle Seite derselben Figur wurde bereits in Kap. 13.3 auf die Funktionen intertextueller Bezüge zur Odyssee, zur Aeneis und weiteren Werken untersucht. Hierbei wurde festgestellt, dass sich die Figur des ovidischen Achaemenides, der rückblickend von seinen Erlebnissen berichtet, mit der des vergilischen Achaemenides gleichsetzen lässt und so ein Scharnierstück zur Verbindung der beiden Werkwelten bildet. Da sich hier teilweise Überschneidungen mit den Bezügen finden, welche die Figur des Cyclopen Polyphem zu einer noch über den vorliegenden Text hinaus facettenreichen und zugleich einheitlichen Figur zeichnen, werden einige der Ergebnisse an entsprechender Stelle in gebotener Kürze wiederholt. Im 13. Metamorphosenbuch richtet die Meernymphe Galatea ihre Erzählung an Scylla, die derzeit noch kein Ungeheuer, sondern ein Mädchen ist (vgl. Kap. 14), und weist einleitend darauf hin, dass Scylla selbst ja sehr freundliche Verehrer habe, die ihr Nein unaggressiv akzeptieren: ein genus haud immite virorum (…); potes his impune negare (met. 13,740f.).15 Wenn sie hiervon ausgehend ihren eigenen Verfolger als immitis kontrastiert (met. 13,759), so stellt sie ihn aus ihrer eigenen Figurensicht lediglich Scyllas Bekanntschaften sowie einigen weiteren Figuren, die sie persönlich oder aus Erzählungen kennt, gegenüber. Ohne es aus ihrer beschränkten Figurensicht ahnen zu können, ordnet sie dabei aber auch ihre eigene Erzählung ins Gesamtwerk der Metamorphosen ein, indem sie diese in der vielfältigen Reihe von Erzählungen über aufdringliche Männer und fliehende Mädchen oder Knaben verortet (vgl. Kap. 5.2.4). Außerdem bildet ihre Charakterisierung des Polyphem als immitis einen intertextuellen Bezug zum Odysseetext: Odysseus nennt dort Polyphem für seine Eigenschaft als gottloser Menschenfresser οὐδ' [...] ἐρατεινὸς (Od. 9,230). Die gleiche Bezeichnung verwendet nun Galatea, um ihn im erotischen Kontext als abstoßenden Liebhaber
15 „[…] keine ungehobelte Art von Männern. Du kannst sie ungestraft zurückweisen.“
Intertextualität und ihre Funktion für das Weltgedicht 301
zu beschreiben (met. 13,758f.: pro, quanta potentia regni / est, Venus alma, tui! nempe ille inmitis...).16 Zunächst charakterisiert die Nymphe ihren Geliebten Acis, dann auf 13 Versen ihren cyclopischen Verehrer (met. 13,755–767). Den ersten Bartwuchs des Acis, der ihn als attraktiven Jüngling auszeichnet, beschreibt Galatea ausgerechnet mit den Worten, die der Leser aus Theokrits elftem Idyll zur Beschreibung des verliebten Polyphem kennt (Id. 11,8f.); Polyphem dagegen schreibt sie einen zottigen Bart zu (met. 13,766: hirsutus): Aus ihrer jugendlicher Erzählperspektive erscheint ihr, gerade im Vergleich mit dem Jüngling Acis, der Bart des jungen Polyphem „struppig“, während derselbe dem Sänger in Theokrits elftem Idyll, der als Vergleichswert den älteren, „altehrwürdigen“ Cyclopen vor Augen hat (Id. 11,8), noch wie ein zarter Flaum erscheint.17 In Polyphems Beschreibung aus Galateas Perspektive finden sich zahlreiche wörtliche und topische Bezüge zu Homer und Vergil, wenn er als besonders schrecklich,18 als Verächter der Gastrechte19 und der Götter20 dargestellt wird. Wie später der blinde Cyclop in Aen. 3,659 verwendet schon der junge Polyphem eine Pinie als Wanderstab, was ihre Gleichsetzung nahelegt (met. 13,782f.).21 Auch Lucilius nennt bereits den gewaltigen Wanderstab als Attribut des Cyclopen (Sat. 482f.: maius bacillum / quam malus navi e corbita maximus ullast).22 Zum 16 Met. 13,758f.: „Ach, wie groß ist die Macht deiner Herrschaft, holde Venus! Ja, sogar dieser ungehobelte Kerl…“ 17 Interessant ist hierzu, dass Ovid rückblickend seine eigenen dichterischen Anfänge ebenfalls vage mit seinem ersten Bartwuchs umschreibt und sich damit selbst in die Tradition fiktiver jugendlicher Dichter einreiht (trist. 4,10,57f.: carmina cum primum populo iuvenilia legi, / barba resecta mihi bisve semelve fuit – „als ich zum ersten Mal meine Jugendgedichte öffentlich vortrug, war mir der Bart erst ein- oder zweimal rasiert worden“). Vgl. zum ersten Bartwuchs junger Künstler etwa auch Theokr. Id. 6,2f sowie Lykosʼ rückblickende Selbstbeschreibung als Jüngling in Apoll. Rhod. 2,779. 18 Od. 9,215; Od. 9,272–278; 368; 477–47913,760; Aen. 3,658: monstrum horrendum – „ein schauererregendes Ungetüm“; Aen. 3,679: concilium horrendum – „eine schreckliche Versammlung“. 19 Od. 9,373–377; 368–370; met. 13,760f.: visus ab hospite nullo / impune – „von keinem Gast ungestraft erblickt“; Verg. Aen. 3,626–628 der Bericht von Odysseusʼ Gefährten: Vidi […] haud impune quidem – „Ich sah, wie Polyphem (allerdings nicht ungestraft) …“ 20 Met. 13,761: magni cum dis contemptor Olympi – „ein Verächter des großen Olymps und der Götter“; 842–844; 857; Hom. Od. 9,275f., auch Euripides Cycl. 30f. 21 Diese früheren Erwähnungen der Pinie im Metamorphosentext übersieht Krause 2010, 22 mit Fn. 41, wenn sie schreibt: „Ovid füllt gleichsam die Lücke zwischen Homers und Vergils Schilderung: Polyphem muss sich so lange tastend fortbewegen, bis er eine andere Lösung gefunden hat, die trunca pinus Vergils.“ 22 Sat. 482f. (Marx): „einen Wanderstab, größer als der größte Mast, den es je bei einem Frachtschiff gab“.
302 Polyphem Musizieren mit dem Blick aufs Meer hat der Polyphem gleich hundert Schilfhalme zusammengefügt, was – in Kombination mit der aus Vorgängerwerken bekannten lauten Stimme – dazu führt, dass die Nymphe auch aus großer Entfernung und in den Armen ihres geliebten Acis den genauen Wortlaut seiner Rede verstehen, sich einprägen und nun genau wiedergeben kann.23 Sein Flötenspiel am Wasser erwähnen auch der Sänger Daphnis in Theokr. Id. 6,8f. und Polyphem selbst in Id. 11,38–40. Das von Galatea in den Metamorphosen erwähnte Erdröhnen von Bergen und Wasser, wenn der Cyclop seine Stimme erhebt, ist eine Eigenschaft des Polyphem, die dem Leser aus Homer und Vergil bekannt sind.24 In met. 13,762–767 schildert Galatea die lächerlichen Auswüchse von Polyphems Verliebtheit. Der Cyclop kämmt sich die Haare mit einer Harke (met. 13,765), schneidet seinen Bart mit einer Sichel (met. 13,766) und übt vor dem Spiegelbild im Wasser weniger wilde Gesichtsausdrücke ein (met. 13,767). Dies reiht ihn innerhalb der Metamorphosen ein neben Mercur, der vor seiner Ansprache an Herse sein Haar frisiert und seine Schuhe zum Glänzen bringt (met. 2,732– 736), oder die Nymphe Salmacis (met. 4,308–315), die wie er ihre Jagdpflichten völlig vergisst, wenn sie sich im Spiegelbild ihres Sees schön macht, und erweitert die Werkwelt hinsichtlich ihrer Vielfalt um eine weitere Facette eitler Verführerfiguren. Zugleich liegt auch hier wieder ein intertextueller Bezug vor: Da aus Homers Odyssee oder anderen Texten bekannt ist, dass Cyclopen keine Landwirtschaft betreiben, und er den wahren Sinn dieser Werkzeuge also gar nicht kennt, gewinnt die Wahl ausgerechnet dieser Werkzeuge vor dem Hintergrund der Vorgängertexte einen weiteren komischen Aspekt.25 Der Cyclop hebt eigene Eigenschaften als lobenswert hervor, die der homerische Odysseus als Beispiel für seine Scheußlichkeit genannt hat, z.B. seine Ähnlichkeit mit einem bewaldeten
23 Met. 13,784–788: sumptaque harundinibus conpacta est fistula centum, / senserunt toti pastoria sibila montes, / senserunt undae. Latitans ego rupe meique / Acidis in gremio residens procul auribus hausi / talia dicta meis auditaque mente notavi – „und als er seine Flöte nahm, gefügt aus hundert Schilfrohren, hörten alle Berge, hörten alle Wellen sein gepfiffenes Hirtenlied. Ich hörte, unter einer Klippe versteckt und auf den Schoß meines Acis geschmiegt, von fern, wie er Folgendes sprach, und prägte es mir im Geiste ein.“ 24 Od. 9,395; Aen. 3,672–674: clamorem immensum tollit, quo pontus et omnes / contremuere undae, penitusque exterrita tellus / Italiae curvisque immugiit Aetna cavernis. – „Er erhob ein unermessliches Gebrüll bis zum Himmel. Das Meer und alle Wellen erzitterten davon, Italiens Erde wurde in ihren Tiefen erschüttert und der Aetna erdröhnte mit seinen verwinkelten Höhlen“; met. 13,877: clamore perhorruit Aetne .– „Sein Geschrei ließ den Aetna erzittern.“ 25 Hom. Od. 9,107–111; 122f.; Auch met. 14,2f.: arvaque Cyclopum, quid rastra, quid usus aratri, / nescia – „und die Äcker der Cyclopen, die keine Hacken oder den Umgang mit dem Pflug kannten.“
Intertextualität und ihre Funktion für das Weltgedicht 303
Berg.26 Zudem wird Polyphem gleichgesetzt mit dem Cyclopen im sechsten und elften Idyll, der ebenfalls sein Auge und sein monströses Gesicht wohlgefällig im spiegelnden Wasser bewundert (Id. 6,35–38) oder aber selbstkritisch darüber spricht, dass sich die optischen Makel doch durch seinen Reichtum an Käse und Vieh aufwiegen lassen (Id. 11,30–35). Hier unterbricht Galatea zunächst ihre eigentliche Erzählung – nämlich den Bericht, warum sie um ihren Geliebten Acis trauert – und leitet anhand des Stichworts „Liebestollheit“ zu einem Thema über, das aus ihrer Figurenperspektive und angesichts ihrer Zuhörerin Scylla eigentlich unpassend ist. Sie berichtet vom Besuch des Sehers Telemus, der Polyphem vor dem zukünftigen Besuch des Odysseus warnt. Durch diese Intertextualität bestätigt der Text die inhaltliche Anknüpfung und Gleichsetzung zur Welt im Odysseetext, in dem Polyphem rückblickend von ebendiesem Besuch des Telemus berichtet (Od. 9,507–516), und die Werkwelt wird zudem mit Theokrits sechstem und elftem Idyll verbunden. In Id. 6,21–24 schwört Polyphem bei seinem einen Auge, dass er Galateas Interesse bemerkt habe, und verlacht Telemus dafür, dass dieser seinem Auge ein vorzeitiges Ende prophezeit habe.27 Die Metamorphosen-Galatea sagt, der Cyclop habe aus Verliebtheit nicht die Besonnenheit besessen, diese Warnung ernst zu nehmen. Ihr zufolge verlachte er den Propheten mit dem Wortspiel, kein anderer könne ihm sein Auge rauben, da bereits eine andere es ihm „geraubt“ habe. 28 Auch in Id. 11,52 bietet Polyphem der Nymphe Galatea sein einziges Auge als Geschenk an. Dem homerischen Odysseus gegenüber behauptet Polyphem, er habe die Warnung des Sehers nicht ernst genommen, da er mit einem Riesen als Widersacher gerechnet habe und nicht mit einem Winzling wie Odysseus (Od. 9,513–516). Doch dies stellt keinen inhaltlichen Widerspruch zu Galateas Version in den 26 Met. 13,844f.: coma plurima [...] umerosque, ut lucus, obumbrat – „Ganz viel Haar wuchert über meine Schultern wie ein schattiger Wald“; Od. 9,190–192: καὶ γὰρ θαῦμ' ἐτέτυκτο πελώριον, οὐδὲ ἐῴκει / ἀνδρί γε σιτοφάγῳ, ἀλλὰ ῥίῳ ὑλήεντι / ὑψηλῶν ὀρέων, ὅ τε φαίνεται οἶον ἀπ' ἄλλων – „Wie ein gewaltiges Wunder war er geschaffen, er glich nicht brotverzehrendem Mann, vielmehr dem bewaldeten Gipfel hoher Berge, der sichtbar ist allein von den anderen.“ 27 Auch in Id. 11,61 phantasiert Polyphem von der Ankunft eines Fremden auf einem Schiff, der ihm das Schwimmen beibringen soll. Es wird aus den Versen nicht klar, ob dies einen Bezug zu Odysseusʼ oder Telemusʼ Besuch darstellt. Da Polyphem bei Odysseusʼ Flucht (und später im Aeneistext bei der Flucht der Trojaner) darüber verärgert sein wird, dass er den Schiffen nicht folgen kann, und da der Ovidtext der erste ist, in dem Telemus im Kontext einer Seereise genannt wird, ist es wahrscheinlicher, dass hierunter eine Anspielung auf Odysseus verstanden wurde, doch rückblickend bei Kenntnis des Metamorphosentextes lässt sich Id. 11,61 auf beide Besuche beziehen. 28 Er bezeichnet sie gewissermaßen als sein „Augenlicht“.
304 Polyphem Metamorphosen dar; beide Rückblicke werden schließlich nicht auf der Erzählerebene, sondern aus einer jeweils verschiedenen Figurenperspektive mit einer eigenen Sicht auf die Dinge geschildert. Galatea stellt daher in ihrer Erzählung sich selbst als Objekt der wahnhaften Cyclopenliebe in den Vordergrund, während Polyphem seinen Peiniger Odysseus nicht sachlich informieren will, sondern ihm dies als Beleidigung hinterherbrüllt, während er ihn – bereits geblendet und betrogen – fortsegeln hört. Auf diese Weise will er ihn zur Rückkehr provozieren oder zumindest im Gedächtnis bleiben. Dies stellt Odysseus entsprechend auch am Phäakenhof dar – und hat außerdem selbst keinerlei Kenntnis darüber, dass Polyphem damals beim Erhalt dieser Prophezeiung in eine Nymphe namens Galatea verliebt war, sodass er einen solchen Zusammenhang auch gar nicht wiedergeben kann. Sollte Polyphem außerdem seinen Vorsatz, den er in Theokrits elftem Idyll fasst, umgesetzt haben, sich Galatea langfristig aus dem Kopf zu schlagen, so ist es plausibel, dass er bei seiner viel späteren Begegnung mit Odysseus tatsächlich nicht mehr an sie denkt, sondern die Prophezeiung bloß noch aus inhaltlichen Gründen nicht auf den körperlich sichtlich unterlegenen Menschen Odysseus bezieht. Die Telemusepisode fungiert außerdem als kausale Verknüpfung der verschiedenen Facetten der Figur. Dass Telemus mit dem Cyclopen sprechen und unbeschadet wieder fortsegeln konnte, scheint beim Lesen der Odyssee mit seinem mordlustigen und für seine Ungastlichkeit bekannten Wesen schwer vereinbar. In Vergils Aeneis beschreibt Achaemenides den Cyclopen sogar ausdrücklich als „für niemanden ansprechbar“ (Aen. 3,621: nec dictu adfabilis ulli), dieselbe Figur beschreibt ihn im Metamorphosentext an späterer Stelle wie ein blutrünstiges Tier.29 Der Metamorphosentext bietet eine Erklärung, wie der Besuch des Telemus dennoch möglich war, indem er erläutert, dass aufgrund von Polyphems Verliebtheit und fehlender Wildheit für eine kurze Dauer Schiffe ungefährdet an- und ablegen konnten (met. 13,768–770: caedis amor feritasque sitisque inmensa cruoris / cessant, et tutae veniuntque abeuntque carinae. / Telemus interea Siculam delatus ad Aetnen).30 Nur wegen Galateas Bekanntschaft mit dem Cyclopen konnte der Seher also die Insel betreten und wieder verlassen. Die 29 Met. 14,167: fluidos humano sanguine rictus – „das Maul, das trieft von Menschenblut“. Janka 2013, 86f. erklärt, dass die wiederholten Verweise auf diese Bilder in seinem Kopf Achaemenides als nachhaltig traumatisiert darstellen. Krause 2010 zeigt, wie das mehrfache Einfühlen in die Situation während der Morde den Rezeptionsvorgang des Homer- und Aeneistextes kommentiert und den Leser auf das intertextuelle Verfahren selbst aufmerksam macht. 30 Met. 13,768–770: „Seine Mordgier, seine Wildheit und sein unstillbarer Blutdurst lassen nach und unbehelligt kommen und gehen die Schiffe. Zu dieser Zeit verschlug es Telemus zum sizilischen Aetna.“
Intertextualität und ihre Funktion für das Weltgedicht 305
Begebenheit des Odysseetextes ist damit inhaltlich überhaupt erst möglich durch die Begebenheiten, die im Metamorphosentext erzählt werden. Beim erneuten Lesen des Homertextes kann ein Leser die leichte Schiefheit der Handlungslogik – dass der wilde Cyclop einmal einem menschlichen31 Seher zugehört hat – nun mit dem Bindescharnier dieses „Prequels“ aus dem Metamorphosentext glatt zusammenfügen. Ab met. 13,789 gibt Galatea die Werberede ihres Verehrers wörtlich wieder. Innerhalb der Werkwelt reiht sich die Rede teilweise parallelisierend, teilweise kontrastierend in die Reihe der facettenreich gestalteten Werbereden von Apoll an Daphne (met. 1,504–524), Glaucus an Scylla (met. 13,917–965), Circe an Picus (met. 14,372–276), Vertumnus an Pomona (met. 14,657–764) uvm. ein (vgl. Kap. 5.1.4). Intertextuell wiederum ist Polyphems Rede gleichzusetzen mit der Werberede Polyphems gegenüber Galatea, die der Sänger in Theokrits elftem Idyll wörtlich wiedergibt. Dass sie nicht als wörtliche Übersetzung völlig deckungsgleich, sondern teilweise variabel gestaltet ist, bildet keinen Widerspruch zu der grundsätzlichen Annahme, dass die beiden Gesänge auf der Handlungsebene gleichzusetzen sind: Sowohl die Referentin Galatea als auch der Sänger des elften Idylls können schließlich in ihrer Wiedergabe einige Details abgeändert haben. Die Ähnlichkeiten überwiegen jedoch, so etwa Polyphems Schwärmerei, dass Galatea weißer sei als Käse (Id. 11,20; met. 13,796), zarter als ein Lamm (Id. met. 11,20; met. 13,791), lebendiger als ein Kalb (Id. met. 11,21; met. 13,791) und glänzender bzw. süßer als eine Traube (Id. 11,21; met. 13,795). Die Erzählerin Galatea ergänzt im Metamorphosentext noch etwa doppelt so viele weitere Vergleiche und übertreibt so die rührend plumpe Ausdrucksweise im Theokritidyll ins Maßlose und Lächerliche. Der gleiche Effekt liegt vor, wenn Polyphem zusätzlich zu Hirschkälbern und im Wald gefundenen Bärenjungen (Id. 11,40f.) – ohnehin schon unpassenden Geschenke für eine Meeresnymphe – über acht Verse hinweg einen ganzen Zoo an verschiedenen weiteren Wildtieren anbietet (met. 13,831–837). Galatea reiht sich damit intratextuell in die Reihe tratschender Frauen ein. 32
31 Dass Telemus ein menschlicher Seher war, ist vor Ovid nicht eindeutig belegt. Er kann im Odysseetext auch selbst als Cyclop gedacht werden (Od. 9,508–510: ἔσκε τις ἐνθάδε μάντις ἀνὴρ ἠύς τε μέγας τε, / Τήλεμος Εὐρυμίδης, ὃς μαντοσύνῃ ἐκέκαστο / καὶ μαντευόμενος κατεγήρα Κυκλώπεσσιν. – „Einst war hier am Ort ein Seher, ein tüchtiger, großer, Temelos, Eurymosʼ Sohn, in der Seherkunst unübertrefflich, der wahrsagend ins Alter gelangte bei den Kyklopen“). 32 Vgl. Kap. 9.2. Tratschende Wassernymphen stellt Vergil dar in Verg. georg. 4,345–347.
306 Polyphem Außerdem finden sich einige Details aus Vergils zweiter Ekloge, die wiederum selbst viele Bezüge zu Theokrits elftem Idyll enthält.33 Der Metamorphosentext kombiniert auf diese Weise Elemente aus beiden bereits aufeinander bezogenen Texten zu einem dritten.34 Die Bezüge zum Vergiltext bewirken dabei keine Kohärenz der Figurenwelt, sondern sie parallelisieren die Situation des unbeholfenen, leidenschaftlichen Cyclopen mit der des kunstfertigen, besonnenen Sängers Corydon und bewirken durch die Kontrastierung der Rede einen weiteren Facettenreichtum – und auch einen komischen Effekt. Vor allen Dingen wird ihr jeweiliger Umgang mit den eigenen Gefühlen gegenübergestellt: Die dementia des Corydon richtet sich gegen sich selbst, indem er an seinen Tod denkt und seine Arbeit und Gesundheit vernachlässigt,35 doch er ruft sich am Ende des Gesangs selbst wieder zur Besinnung und fordert sich auf, einen neuen Geliebten zu suchen. Die Reihe an Kontrastierungen im Metamorphosentext gipfelt entsprechend darin, dass der so anders geartete Polyphem nach Ende des Liedes gerade nicht zur Vernunft kommt, sondern rastlos durch die Wälder streift, seinen Rivalen aufspürt und im barbarischen Jähzorn mit einem Felsen erschlägt. Die Liebe zwischen Acis und Galatea ist erstmals bei Ovid belegt und stellt möglicherweise seine eigene Erfindung dar. Die Figur Acis hat er allerdings bereits als sizilische Sagengestalt vorgefunden36 und, ganz im Sinne seines Plans, ein kohärentes Weltgedicht zu schreiben, auf der Handlungsebene mit dem sizilischen Figurennetzwerk verbunden. Hierfür wiederholt der Text verschiedene Elemente aus Polyphems Darstellung aus Vorgängertexten und fügt sie im neuen Zusammenhang mit dem Beziehungsdreieck zusammen. Zunächst wird eine Leerstelle in Id. 11,15f. aufgegriffen, welche eine schwelende Eifersucht des Cyclopen im Kontext mit seiner wahnhaften Liebe zu Galatea andeutet, und füllt sie mit der konkreten Figurenkonstellation und Liebesgeschichte von Galatea und Acis. Aus epischen Texten wird das Handlungselement des Steinwurfs
33 Im Vergiltext werden u.a. folgende Elemente wiederholt: Klage, Verweis auf die eigene Gestalt, Reichtum mit der Aufzählung von Gütern, das Lob des eigenen Wohnortes, die Einladung und die Selbstanrede, vgl. von Albrecht 2001, 111. 34 Vgl. zur window reference Thomas 1986, 171–198, bes. 188f. und Farell 1991. 35 Ecl. 2,7; 69–72. 36 Der Fluss Acis wird in Id. 1,69 als möglicher Aufenthaltsort für Nymphen genannt. Am Ufer des historischen Flusses fand sich ein Tempel aus augusteischer Zeit und ein griechisches Epigramm in Flussnähe weist auf einen Zusammenhang mit der Verehrung des Priapus hin, vgl. Manganaro 2006. Den möglichen Beleg einer Münzabbildung eines Flussgottes namens Akis diskutiert Salzmann 1990.
Intertextualität und ihre Funktion für das Weltgedicht 307
wiederholt, 37 der hier nicht Odysseusʼ Schiff, sondern dem (Liebes-)Rivalen Acis gilt. Sein wütendes Gebrüll, das Meer und Berge erschüttern lässt, erfolgt hier aus Liebeskummer. Seine Rachephantasie, Acis bei lebendigem Leibe auszuweiden, erinnert intertextuell an seine Phantasie in Od. 9,458–460 gegenüber dem mitlauschenden Odysseus sowie werkimmanent an diejenige, welche in met. 14,192– 197 durch Achaemenides referiert wird. Durch diese Übertragung seiner epischen Charaktereigenschaften auf seine bukolische Rolle wird seine Figur als einheitlicher, kohärenter Charakter dargestellt. Die Verwandlung von Acisʼ Blut in einen Fluss, der an steilen Felswänden entspringt (13,882–897), ist zudem ein Aition, das den gesamten Sagenkreis wieder mit der Lebenswelt des Lesers verbindet und den Raum mit dem historischen Sizilien gleichsetzt. Die Polyphemerzählung im 13. Metamorphosenbuch lässt sich allerdings nicht derart als Prequel des Homertextes verstehen, dass der generell bei anderen jungen Frauen beliebte junge Cyclop (Theokr. Id. 11,77f.) erst durch seine Enttäuschung durch Galatea zum zynischen Einsiedler wird und erst seine unglückliche Liebe die Metamorphose vom schöngeistigen Riesenhirten zu dem menschenfressenden, gottlosen Ungetüm bewirkt, das der Leser aus der Odyssee kennt und das im 14. Buch aus Sicht des Achaemenides bestätigt wird. Nein, seine Mordlust und seinen Blutdurst nennt Galatea bereits in met. 13,768f. und gibt an, dass diese Eigenschaften bereits vor ihrer Bekanntschaft vorhanden und durch seinen Zustand der Verliebtheit nur kurz gewichen seien (caedis amor feritasque sitisque inmensa cruoris / cessant).38 Zu Beginn des 14. Buches schwimmt Glaucus an Siziliens Küste entlang nach Italien zu Circe. Die Landschaftsbeschreibung der Cyclopenfelder, die von Landwirtschaft unberührt sind, setzt dabei intertextuell den Handlungsort mit der 37 Od. 9,480–483, bes. 481: ἧκε δ' ἀπορρήξας κορυφὴν ὄρεος μεγάλοιο – „er riss ab eines großen Berges Gipfel und warf ihn“; 536–540; met. 13,882f.: Insequitur Cyclops partemque e monte revulsam / mittit – „der Cyclop verfolgte ihn und warf ein Stück, das er aus einem Berg gerissen hatte“; met. 14,181–184: vidi, cum monte revulsum / immanem scopulum medias permisit in undas; / vidi iterum veluti tormenti viribus acta / vasta Giganteo iaculantem saxa lacerto – „ich sah zu, als er eine gewaltige Klippe, die er vom Berg gerissen hatte, in die Wellen warf; ich sah, wie er wieder, wie mit den Kräften eines Katapults geschleudert, mit seinen gigantischen Armen riesige Felsen warf“. Vgl. hierzu Ellsworth 1988, 336f. und Papaioannou 2005, 96. – Das Werfen von Felsbrocken als primitive, aber eindrucksvolle Waffe stellt auch Apoll. Rhod. 1,995 dar, der die sechsarmigen wilden Gegeneen mit Steinwürfen die Argonauten angreifen lässt. Scylla wird in manchen bildlichen Darstellungen, z.B. auf Münzen, als Steinewerferin dargestellt, vgl. WalterKarydi 1997, 176f. mit Abb. 14. Doch auch menschliche Heroen wie die Kämpfer der Ilias werfen vielfach mit Felsbrocken und setzen sie sogar in Zweikämpfen ein – es handelt sich also um eine eindrucksvolle, aber nicht grundsätzlich kulturlose Waffenwahl. 38 Vgl. Fn. 30.
308 Polyphem Cyclopeninsel der Odyssee und der Aeneis gleich, wie bereits in Kap. 8 gezeigt wurde. Der ehemalige Gefährte des Odysseus Achaemenides berichtet zu einem späteren Zeitpunkt nach Ende des trojanischen Krieges – von seinen Erlebnissen mit derselben Figur Polyphem am selben Ort. Wie Galatea innerhalb desselben Werkes und wie der homerische Odysseus und der vergilische Aeneas bzw. Achaemenides nennt auch er Polyphems Wildheit und seine Eigenart, im Jähzorn gewaltige Felsen nach seinen Gegnern zu werfen (met. 14,181–186). Während der Nymphe Galatea all diese Eigenschaften des Polyphem als Beispiele für seine abstoßend plumpe Art, seine Aufdringlichkeit ihr gegenüber und seine rasende Eifersucht auf ihren Freund erzählenswert schienen, führt Achaemenides sie in seiner Erzählung als Beispiele für seine Gefährlichkeit und die Schrecken an, die er selbst während seiner dreimonatigen Aussetzung auf der Insel durchleben musste. Als neuen Aspekt führt Achaemenides eine Eigenschaft des Cyclopen ein, die er wieder und wieder erwähnt: Polyphem frisst Menschen (met. 14,168; 176; 194–196; 199–201; 203–209). Die Menschenfresserei erwähnen die Odyssee, die Aeneis und auch die Annalen des Ennius (Ann. 9,321f.: Cyclopis venter velut olim turserat alte / carnibus humanis distentus),39 doch im Metamorphosentext war diese Eigenschaft bisher noch gänzlich unerwähnt geblieben. Nun schildert Achaemenides die Szene ebenso wie der homerische Odysseus am Phäakenhof, was sie als Augenzeugen derselben Szene und damit als Figuren darstellt, die gemeinsame Erinnerungen und damit auch eine einheitlich zu denkende Werkwelt teilen.40 Was Odysseus im Homertext über Polyphem berichtet, lässt sich so für den Metamorphosentext mitdenken. In Achaemenidesʼ Schreckensbild eines Cyclopen, der eine Mischung aus Menschenfleisch und starkem Wein erbricht (met. 14,212), klingt nun erstmals auch sein Hang zum unkontrollierten Weinrausch an, der Polyphem in verschiedenen Vorgängertexten zugeschrieben wird.41 In die Erzählung des Ithakers Achaemenides ist weiterhin ein Monolog des Cyclopen selbst eingelegt, der hier nach Galateas Referat seiner Werbe- und Drohrede ein zweites Mal eine Stimme erhält (met. 14,192–197). So vermittelt stößt der verletzt zurückgelassene Cyclop Flüche und Rachephantasien gegen
39 Enn., ann. 9,319f. (321f.): „Wie einst der Bauch des Cyclopen dick aufgebläht war und vollgestopft mit Menschenfleisch.“ 40 Z.B. Od. 9,288–293 wie 205–209. In dieser „homerischen Szene“ im Metamorphosentext finden sich wiederum wörtliche Anklänge aus der Schilderung des vergilischen Achaemenides, was ihn als eine einheitliche Figur in drei Werkwelten charakterisiert, vgl. Krause 2010, 24. 41 Od. 9,345–398; Prop. 3,12,26; Verg. Aen. 3,630–633.
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Odysseus aus, die er in der Einsamkeit der Natur ungehört glaubt. Dies parallelisiert ihn innerhalb der Werkwelt mit seinem Zuhörer Achaemenides selbst und auch mit Philoktet, der über zehn Jahre zuvor mit einer schwelenden Wunde auf Lesbos ausgesetzt wurde: Von diesem vermutet Odysseus in met. 13,328–332, dass er ihn nach seiner Aussetzung verwünscht habe (vgl. Kap. 12.5). Die Darstellung davon, wie Polyphem vor Schmerzen stöhnend und mit den Händen tastend Drohreden vorbringt, wiederholt außerdem Elemente aus dem Odysseetext; hier betastet er kurz nach seiner Blendung seine Schafe und erzählt seinem Lieblingswidder, was er mit den Griechen anstellen würde, wenn er sie fängt. Seine doch recht spezifische Phantasie, die Männer zu zerschmettern, dass ihre Körperflüssigkeiten umherspritzen, entspricht der, die der homerische Odysseus zum etwas früheren Zeitpunkt seiner Flucht aus der Höhle aus Polyphems Munde belauschen kann.42 Schon am Ende seiner Werberede an Galatea darüber phantasiert Polyphem, dass er seinem Rivalen Acis die Eingeweide herausreißen und in ihr Wasser werfen wolle (met. 865f.: viscera viva traham divulsaque membra per agros / perque tuas spargam – sic se tibi misceat! – undas).43 So wird die Cyclopenfigur beider Werke nicht bloß durch seine Eigenschaften und Handlungen, sondern auch aufgrund derselben Rachephantasie gleichgesetzt. Zudem wird in met. 14,189 und 197 die Augenverletzung des Cyclopen genannt, die ihm die Helden in der Odyssee zugefügt haben. Die mittlerweile drei Monate alte Verletzung sehen auch die Figuren im Aeneistext, während der Cyclop seine Wunde im Meer wäscht (Aen. 3,662–665) und dabei gefährlich nah an die trojanischen Schiffe herankommt. Durch die verschiedenen (Rück-)Blicke auf die Blendungsszene zu verschiedenen Zeitpunkten aus verschiedenen Perspektiven werden einerseits die Werkwelten wieder gleichgesetzt und die Erzählung wird um unerzählte Elemente über den vorliegenden Text hinaus erweitert.44 Indem außerdem ein und dasselbe Auge zu verschiedenen Zeitpunkten aus Polyphems eigener Sicht als wertvoll oder gar schön,45 aus Galateas Sicht als
42 Od. 9,415–419 und 9,453–460 sowie met. 14,192–197; vgl. hierzu Krause 2010, 22–24. 43 Met. 865f.: „Ich will ihm lebendig die Gedärme herausreißen und seine zerfetzten Glieder über die Felder und – so soll er sich mit dir vereinigen! – über deine Wellen verteilen.“ 44 Vgl. Papaioannou 2005, 106: „Achaemenidesʼ playwright wit accomplishes a recast mini-Cyclopedia, seen from Polyphemusʼ point of view, all the while hardly straying from the text of the original Homeric (and Vergilian) script“; vgl. ähnlich Krause 2010, 29. 45 Met. 13,775; met. 13,851–853; Id. 6,36.
310 Polyphem scheußlich,46 aus Telemusʼ Sicht als Gegenstand einer Prophezeiung,47 aus Odysseusʼ Sicht als Schwachstelle,48 aus Achaemenidesʼ Sicht als Erinnerung an traumatische Erlebnisse49 und aus Aeneasʼ Sicht als exotisch und gruselig erscheint,50 wird außerdem eine Vielheit erzeugt, die in ihrem ganzen Ausmaß erst durch die intertextuellen Bezüge zum Homer-, Vergil- und Theokrittext erkennbar wird.
. Fazit Ähnlich wie die Figur Scylla fungiert im Metamorphosentext auch der Cyclop Polyphem mit seinen unterschiedlichen Lebensstationen als Scharnier zwischen verschiedenen Vorgängertexten. In Epen ist Polyphem vor allem als das gottlose, unzivilisierte Ungeheuer bekannt, das Odysseus entgegen allen frommen Gebräuchen einsperrt und mehrere seiner Gefährten auffrisst; dem durch die List der Griechen das Auge ausgebrannt wird und der schließlich in blinder Wut mit Felsen nach dem fliehenden Schiff wirft. In der Bukolik wirbt er liebestoll um die Nymphe Galatea und musiziert für und über sie. Im Text der Metamorphosen werden all diese Stationen seines Lebens nicht nur widerspruchsfrei miteinander verknüpft, sondern – insbesondere über die Figur des Telemus und des Acis – kausal auseinander hergeleitet. Diese vielfältigen Facetten werden noch weiter aufgefächert, indem sie jeweils aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden. Jeweils verschachtelt in eine andere Figurenrede werden seine Selbstdarstellungen zum Zeitpunkt verschiedener Lebensphasen in der direkten Rede in der ersten Person wiedergegeben. Eingelegt in Galateas Rede stellt er sich als Amator dar, in Achaemenidesʼ Erzählung wird seine Wutrede auf Odysseus und seine Gefährten referiert. Bereits innerhalb der Metamorphosen als abgeschlossener Texteinheit stellt Polyphem also einen vielseitigen, aber auch kohärenten Charakter dar. Die intertextuellen Bezüge rufen weitere unerzählte Details in Erinnerung, die ebenfalls als Hintergrund hinzugedacht werden und so die Werkwelt der Metamorphosen hinsichtlich Einheit und Facettenvielfalt erweitern.
46 Wenn sie dies auch nirgends spezifisch über das Auge sagt, so wird dies daraus deutlich, dass sie Polyphems Selbstlob seiner Eigenschaften ja zu dem Zweck referiert, seine eigentliche Abscheulichkeit zu charakterisieren. 47 Met. 13,772f.; Od. 9,512 und Id. 6,23f. 48 Od. 9,331–333 und 382–394 und Aen. 3,635–638. 49 Met. 14,197; 200. 50 Aen. 3,663; 677.
Schlussbetrachtung Die Untersuchung nahm ihren Ausgang mit der Frage, inwiefern es sich bei Ovids Metamorphosen mit ihrer chaotisch anmutenden Vielzahl einzelner Themen, Figuren und ihren jeweils eigenen Geschichten um den Versuch eines Weltgedichts handelt und wie dabei Intertextualität als ein Multiplikationsfaktor fungiert (Kapitel 1–3). Hierfür wurde zunächst in Kapitel 4 gezeigt, dass die Vielfalt von verschiedenen Handlungszeiten, -orten und Figuren tatsächlich als eine widerspruchsfreie und kohärente Einheit, als eine in sich plausible Werkwelt konzipiert ist. Obwohl die Kontinuität der erzählten Zeit dieses carmen perpetuum vielfach durch Prolepsen und Analepsen in Figurenreden und auch den Primärerzähler selbst durchbrochen wird, führt, so wurde gezeigt, das Handlungsgeflecht der Erzählung kontinuierlich und (von wenigen Ausnahmen abgesehen1) ohne chronologische Widersprüche vom Anbeginn der Zeit bis in die augusteische Zeitgeschichte bzw. noch darüber hinaus. Auch in der Dimension des Raumes werden dabei alle Handlungsorte durch Reisebewegungen und andere Verknüpfungsstrategien als kohärent dargestellt. Das individuell ausgestaltete Figureninventar ist wiederum durch Verwandtschaften, Begegnungen oder das Wissen übereinander als Bevölkerung derselben einheitlichen Werkwelt konzipiert. Weiter wurde in Kapitel 5 exemplarisch die nahezu erschöpfend gestaltete Variation der Figurentypen, ihrer Handlungen und Facetten vorgestellt und gezeigt, wie diese Vielfalt durch unterschiedliche Erzählperspektiven, Atmosphären und Erzählhaltungen noch weiter aufgefächert wird. Auf der Grundlage dieser Erläuterungen zur Einheit und zur Vielfalt in der Werkwelt wurde schließlich in Kapitel 8 bis 15 an acht Beispielen untersucht, inwiefern Intertextualität und Intermaterialität in den Metamorphosen als Strategie fungieren, um die Werkwelt noch über den vorliegenden Text hinaus um weitere Elemente aus Vorgängerwerken zu erweitern. Dieser Versuch eines Weltgedichts erfolgt, so konnte gezeigt werden, durch eine Erzählstrategie, die auf dem scheinbaren Chaotismus eines „Kollektivgedichts“ aufbaut. Diese Erzählweise, nach der ein Primärerzähler vielfältige Geschichten facettenreicher Figuren zu verschiedenen Zeitpunkten und Handlungsorten zu einem kohärenten Ganzen verknüpft und dabei seine variationsreichen Figuren über mehr als die Hälfte des Textes selbst ihre Sicht auf die Geschehnisse in ihrer Umwelt kundtun lässt, führt zur Darstellung einer nahezu erschöpfenden 1 Vgl. die Zerstörung von Troja durch Hercules in met. 11,205–215. https://doi.org/10.1515/9783110785005-016
312 Schlussbetrachtung Vielheit innerhalb einer einheitlichen Werkwelt. Die einzelnen Erzählelemente wiederum werden immer wieder neu aufgegriffen und parallelisierend oder kontrastierend zu einem Muster angeordnet. Diese einheitliche Werkwelt und die sie konstituierende Vielfalt von Einzelelementen wird durch intertextuelle Strategien noch weiter ausgeführt, indem einzelne Erzählfäden über den vorliegenden Gesamttext hinausreichen und durch die Aufnahme dortiger Elemente weitere Werke mit dem Textgewebe verbinden. Diese Fäden führen in bisweilen mitineinander verflochtener Weise zu anderen Geweben, die so als konstituierende Bestandteile in das Gesamtwerk des Weltgedichts mit integriert werden. Hierbei folgt Ovid auffällig traditionsbewusst, ja geradezu konservativ der Überlieferung durch Vorgänger, die er miteinander in Bezug und Verbindung setzt. Im Laufe der Arbeit wurden verschiedene Strategien herausgearbeitet, die hierbei als Multiplikatoren dienen. Eine Strategie für einen intertextuellen Multiplikator liegt vor, wenn der Metamorphosentext Leerstellen aus anderen Werken durch Ausführungen füllt und damit umgekehrt die nicht wiederholten Ausführungen dieser Werke zu Leerstellen der vorliegenden Metamorphosenerzählung macht. Insbesondere Ovids Bearbeitung des Mythos über Orpheus und Eurydica orientiert sich auffällig nah an der vergilischen Version in den Georgica. Die Metamorphosenversion wiederholt die Makrostruktur des Vergiltextes vollständig. Die Erzählung führt dabei die Leerstellen detailliert aus und fasst umgekehrt Details, die im Vergiltext ausführlich behandelt werden, derart knapp zusammen, dass sie wiederum selbst Leerstellen aufweist, die der ältere Vergiltext zu füllen scheint. Geringe Abweichungen im Inhalt führen dazu, den Fokus vom Thema „Schuld und Sühne“ zum Thema „reine Liebe“ zu verschieben – bis hin zum neu ergänzten Ende eines harmonischen Wiedersehens in der Unterwelt. Ein weiteres Beispiel für ein solches Verbindungselement zur Gleichsetzung der Werkwelten wurde in Kap. 8 zu Sizilien als Fixpunkt der Werkwelt und mit der Erzählung der Arethusa gezeigt. Hier wird ein durch die Figurenrede des vergilischen Aeneas in zweieinhalb Versen kurz angesprochenes Ereignis aus Aen. 3,694–696 aufgegriffen und aus Arethusas eigener rückblickender Perspektive – unter mehrfacher Betonung des Erzählvorganges selbst – wortreich ausgeschmückt. Ein anderer intertextueller Multiplikator zur Erweiterung der einheitlichen Werkwelt liegt vor, wenn eine seltener behandelte Station in der Biographie einer Figur erzählt wird, die vornehmlich aus einem (oder auch mehreren) anderen Werk(en) bekannt ist. So werden den Lesenden die weiteren Lebensstationen und damit verbundenen Handlungen und Figuren aus anderen Werken mit in Erinnerung gerufen, was die Erzählung indirekt um diese Elemente erweitert. Dies geschieht häufig in kontrastierender Weise. Beispielsweise wird anhand der
Schlussbetrachtung 313
Vorgeschichte der Scylla mittels ihrer Charakterisierung als ein Mädchen, das die offene See, die Sonne und Männer meidet, ein solches Verbindungselement zu weiteren Texten über ihre Figur geschaffen, indem darin in Umkehrung Eigenschaften des späteren männerschreckenden Meerungeheuers und Schreckensortes anklingen. Diese Erzählung fungiert somit als Vorgeschichten zu den Versionen in Vorgängertexten.2 Ein weiteres solches Beispiel bildet die Erzählung von der Verwandlung der Sirenen in met. 5,552–563. Diese erfolgt zu einem Zeitpunkt, zu dem die Erzählerin Calliope noch nichts von deren späterer Heimtücke und Monstrosität ahnt, und stellt so eine Facette ihrer Biographie dar, als sie noch freundliche, schön singende Mädchen sind, die durch ihre Verwandlung in Halbvögel lediglich einen Weg sehen, auch das Meer nach ihrer entführten Freundin Proserpina abzusuchen. Die Charakterisierung ihres Gesangs als „ohrenerweichend“ (met. 5,561: canor mulcendas natus ad aures) lässt den Leser jedoch bereits hier proleptisch an ihre spätere Gefährlichkeit denken, gegen die Odysseus seinen Gefährten weiches Wachs in die Ohren gibt. Dies erweitert die Darstellung der Sirenenfiguren um später einzuordnende Erzählungen, die zwar über den vorliegenden Text hinausweisen, aber für dieselbe Welt als Fortsetzung der individuellen Figurenschicksale hinzuzudenken sind. Diese beiden Strategien treten auch kombiniert auf. Die Darstellung der Figur Achaemenides über ein Jahr nach seiner Rettung von der Cyclopeninsel ist eine Fortsetzung seiner Biographie, deren Fiktion Vergil im dritten Aeneisbuch begonnen hat. Dies wendet Ovid auch bei der Neuerfindung seines Kameraden Macareus an, den Achaemenides nun wiedertrifft. Macareus bietet neben seiner persönlichen Nachgeschichte zu der bekannten Odyssee zudem einen Bericht aus seiner eigenen Perspektive über dieselben Abenteuer, die dem Leser aus der Sicht des homerischen Odysseus bekannt sind und die dieser am Phäakenhof berichtet.3 Macareus und die Magd, deren Figurenrede er im 14. Metamorphosenbuch referiert, berichten die Geschichten ihrer Vorgesetzten Odysseus und Circe aus der Sicht kleinerer Nebenfiguren, die selbst gar kein Interesse an Heldentaten
2 Vgl. zu „Prequels“ in Ovids Metamorphosen Hinds 1998, 115f. oder auch Höschele 2016, 295, die Apolls Argonautika ebenfalls als Vorgeschichte zur Medea in Tragödien liest. 3 Dieser Bericht kann allerdings nicht exakt zeitgleich aus verschiedenen Perspektiven stattfinden; Aeneas wird erst nach Macareusʼ Bericht in Latium landen, und wiederum erst danach werden seine Schiffe in Nymphen verwandelt. Diese Verwandlung ist laut met. 14,559–565 bereits geschehen, als Odysseus seinen Schiffbruch erleidet, der ihn erst an den Phäakenhof führen soll, wo er seinen Bericht vorträgt.
314 Schlussbetrachtung haben.4 Die nachträgliche Ausführung der Geschichte einer Figur, die aus einem anderen Werk als Nebenfigur bekannt ist, wird bei Filmen und Serien als Spinoff bezeichnet. Für die ebenso strukturierten Erzählungen in den Metamorphosen trifft diese Bezeichnung allerdings lediglich in dem Sinne zu, dass Nebenfiguren zu Wort kommen und ihre Sicht auf die Handlungen des Haupthelden schildern. Macareus, die nach wie vor namenlose Magd der Circe und weitere Figuren dieser Art erhalten allerdings keine eigene Geschichte oder eine Charaktertiefe, welche in der Erzählung die des Haupthelden übertrifft, und sie treffen, auch anders als die Protagonisten in Spin-offs, keine eigenen handlungsrelevanten Entscheidungen, sodass sie in den Metamorphosen trotz ihrer Innenansichten unbedeutende Nebenfiguren der Haupthelden aus dem Referenztext bleiben. Dennoch fungieren sie als Multiplikatoren für das Figureninventar der Werkwelt: Die – wenn auch geringe – Ausschmückung von Figuren, die mit den Nebenfiguren aus Vorgängerwerken gleichgesetzt werden, lässt die daraus bekannten, aber hier unerzählt bleibenden Elemente wiederum zum Teil der insgesamt einheitlichen Metamorphosenwelt werden. Auch Galatea lässt durch ihre Perspektive auf den verliebt-jähzornigen Cyclopen im 13. Buch sowohl weitere Details aus den Theokritidyllen als auch aus dem Odysseetext mitlesen – und darüber hinaus in window references wieder weitere Facetten aus Vergils Eklogen und dem dritten Aeneisbuch. Ihre Erzählung ist somit einerseits ein Prequel zum Homertext, andererseits eine Wiederholung des auf der Handlungsebene zeitgleich zu verortenden Idyllenstoffes aus der Perspektive einer anderen Figur. Eine weitere intertextuelle Strategie zur Erweiterung der Werkwelt über den vorliegenden Text hinaus wurde an der Figur Fama herausgearbeitet. Ihre Darstellung in ihrem ehernen Haus im Mittelpunkt der Welt zeigt diese aus anderen Werken bekannte Figur zunächst in vertrauter Form und dann zusätzlich von einer bislang unbekannten Seite: Wird sie in der homerischen Odyssee und Vergils Aeneis als wandelndes, wachsendes Ungetüm gezeigt, so wiederholt der Metamorphosentext zunächst im neunten Buch diese Darstellung und lässt sie wie die vergilische Fama durch das Land rasen und furienartig Halbwahrheiten und Schrecken verbreiten. Zunächst werden die Figuren also einander gleichgesetzt. Das zwölfte Buch bietet dann zusätzlich einen Einblick in ihren Ruheort, den sie außerhalb ihrer Missionen aufsucht. Auf der Handlungsebene führt Fama die gleiche Rolle aus wie die homerischen Musen in Il. 2, indem sie wie diese im Schiffskatalog Auskunft über die griechische Flotte erteilt, die nach Troja 4 So funktioniert auch die Nachgeschichte des tyrrhenischen Seeräubers, der aus seiner eigenen Sicht die Erzählung aus dem homerischen Dionysoshymnos wiederholt und dabei die Namen und Eigenschaften seiner Mannschaft ergänzt.
Schlussbetrachtung 315
aufbricht. In der Beschreibung ihres ehernen Hauses mit zahllosen Öffnungen klingen viele Elemente des mit homerischen mit den Musen verbundenen Unmöglichkeitstopos an, was zu einem intertextuellen Vergleich einlädt. Auf diese Weise wird die Unzuverlässigkeit ihrer Überlieferung im Gegensatz zu der Inspiration durch zuverlässig(er) erzählende Musen zum Ausdruck gebracht. Dabei wird Fama exemplarisch in die variationsreiche Reihe der verschiedenen personifizierten Abstrakta Invidia, Fames und Somnus eingeordnet, die wiederum intratextuell verbunden sind mit den Darstellungen grundverschiedener Hausherrinnen und Herren wie Jupiter, Sol, Philemon und Baucis oder Circe. Diese Vielfalt des intratextuellen „Gewebemusters“ wird durch intertextuelle Bezüge um weitere Motive ergänzt, indem in der Darstellung eines Figurentyps eine ähnliche Darstellung in einem anderen Text anklingt. Dadurch ist im Metamorphosentext jede Erzählung mit ihren individuellen Figuren und deren Handlungen sowohl innerhalb der Werkwelt und ihrer Geschichte selbst als auch in ein Netzwerk weiterer Werkwelten in ein intertextuelles Bezugssystem von weiterführenden, parallelen oder kontrastierenden Darstellungen eingebettet. Durch dieses doppelte Bezugssystem wird nicht nur die vorliegende Textstelle, sondern die ganze Sammlung von Variationen mit einem weiteren Text (bzw. bei Dreiecksreferenzen sogar mit mehreren weiteren Texten) verglichen. Dies führt dazu, dass die Werkwelt nicht bloß anhand weniger Anspielungen oder Leerstellen um einzelne Elemente ergänzt wird, sondern dass durch intertextuelle Bezüge jedes anklingende Element wie bei einem Kaleidoskop5 gewissermaßen ins Unendliche multipliziert und in alle Dimensionen von Zeit, Raum und Figureninventar um weitere Facetten erweitert wird. An der Figur der Nymphe Salmacis ließ sich weiter zeigen, wie eine einzelne Figur vielfältig als Mittelpunkt eines sowohl intra- als auch intertextuellen Bezugsgeflechts von Einheit und Vielfalt fungiert: Über das Figurenwissen der Minyaden wurde ihre Geschichte bis ins Theben zur Zeit der Institution des Bacchuskultes überliefert. Zu diesem Zeitpunkt gilt ihr Schicksal bereits als lang vergangene, unbekannte Legende, die sich Frauen beim Weben erzählen. Als Figur der Weltgeschichte lange Zeit zuvor ist sie als Bewohnerin der Region bei dem lycischen Caras und als Zeitgenossin des derzeit 15-jährigen Hermaphroditus zu verorten. Das Resultat ihrer Verwandlung, ein See mit entmannender Wirkung, ist noch später auch dem Philosophen Pythagoras in seiner eigenen naturwissenschaftlichen Perspektive auf die Werkwelt bekannt. Als Figurentyp, also gewissermaßen als Element im Muster des Textgewebes der Metamorphosen, variiert Salmacis werkimmanent sowohl Elemente von männlichen sexuellen 5 Diesen Begriff verwenden auch z.B. Döpp 1991, 345; Galinsky 1999, 307; 2005, 352.
316 Schlussbetrachtung Gewalttätern als auch von ihren zumeist weiblichen Opfern, die sich an einem Locus Amoenus begegnen. Salmacisʼ Eitelkeit wird unter anderem mit der des verliebten Cyclopen in met. 13,840f. kontrastiert, der wie sie sein Spiegelbild im Wasser betrachtet. Dies erinnert zudem an Narcissusʼ Verliebtheit in sein eigenes Spiegelbild im dritten Metamorphosenbuch – wie er und sein begehrtes Abbild sind auch Salmacis und Hermaphroditus am Ende nicht mehr voneinander trennbar. Intertextuell wiederum variiert Salmacisʼ Figur Elemente der homerischen Nausikaa und des homerischen Odysseus und ihrer Interaktion miteinander. Darüber hinaus wird sie mit römischen kultivierten Mädchen parallelisiert, die Schönheitstipps aus der Ars Amatoria konsultieren. Der indirekt durch ihre Eitelkeit anklingende verliebte Polyphem, der wie sie sein Spiegelbild im Wasser betrachtet, lässt sich wiederum weiter mit dem Polyphem in Theokritidyllen identifizieren, die auf diese Weise mitsamt ihrer bukolischen Atmosphäre hier schwach mit anklingen, und so lässt sich die Einbettung ihrer Darstellung in ein inter- und intratextuelles Bezugssystem immer weiter und in immer blasser werdende, entferntere Assoziationen nachzeichnen. So konnte auch hier die Annahme, dass intertextuelle Strategien als Multiplikatoren zur Darstellung eines allumfassenden Weltgedichts fungieren, bestätigt werden. Abschließend sei auf der Grundlage dieser Ergebnisse ein Deutungsversuch des Gesamtwerks erlaubt. Ovids Metamorphosen bringen im Text selbst oder mithilfe intertextueller Bezüge als Multiplikationsfaktoren die Einheit und Vielheit der gesamten Welt zur Darstellung – bzw. der Welt, wie sie einem augusteischen Römer als erschöpfend dargelegt erscheint. Ein Hauptthema der Metamorphosen ist dabei der Vorgang des Überlieferns, Erzählens, Umdeutens, Vergessens, Auslassens und Verschweigens. Diese Thematik zeigt sich in der rahmenden Nennung in Proöm und den Schlussversen und wurde im Laufe der Arbeit insbesondere anhand der Figur Fama, aber auch an den Figuren Orpheus, Nestor, Odysseus und Scylla gezeigt. In der Weltgeschichte der Metamorphosen wird exemplarisch jede literarisch darstellbare Zeit, jeder Ort, jeder Status vom Sklaven bis zum Gott, jede Charakterfacette, jedes Geschlecht und jede erdenkliche Interaktion von Figuren von allen Blickwinkeln und Zeitpunkten aus erzählt – oder klingt durch Bezüge in anderen Erzählungen mit an. So wurde durch die Vielfalt der Erzählfiguren, Erzählsituationen und Erzählhaltung auch die literarische Tradition mit ihrer Gattungs-, Stoff-, Themen- und Figurenvielfalt in die Weltgeschichte der Metamorphosen integriert. Die jeweils unterschiedlichen Ausformungen und Überlieferungen der Sagen mit all ihren letztendlich unvereinbar bleibenden Widersprüchen werden dabei nicht geleugnet, verschleiert oder negiert, sondern im Gegenteil zum eigenen Thema gemacht: Im Laufe des Weltgeschehens verändern sich Überlieferungen. Figuren, Dichter und sogar
Schlussbetrachtung 317
Musen, auch der Primärerzähler eines Epos vergessen und verändern Überlieferungen oder lügen bewusst. So kommt es im Wandel der Zeit zu Widersprüchen in den Erzählungen über Taten, die niemals aufgeklärt werden können. Diese Variationen und Zweifel in der Überlieferungsgeschichte gehören genauso zur Weltgeschichte der Metamorphosen wie die Taten selbst. Das Ziel dieser vielfältigen Darstellung einer immer weiter aufgefächerten und im Laufe der erzählten Zeit immer variationsreicher und unsicherer überlieferten Weltgeschichte ist jedoch nicht, das ungreifbare Chaos der Welt zu zeigen oder gar den Leser in eine nihilistische Haltung dem Weltgeschehen gegenüber zu führen. Die Weltgeschichte der Metamorphosen ist im Gegenteil in all ihrer Verwoben- und Verworrenheit, die für die Figuren und auch den Erzähler selbst undurchschaubar und von Überlieferungslücken geprägt ist, letztendlich teleologisch ausgerichtet. Wenn die Dichter Ennius, Naevius oder Vergil in ihren Epen die Welt ab einem bestimmten historischen Ereignis an als kohärent darstellen und in der Herrschaft der Römer gipfeln lassen, so folgt Ovid diesem Konzept und setzt noch früher an. Er zeigt, welch ein kleines Puzzleteil im Laufe der Weltgeschichte selbst Aeneas mit seinem Fatum war und dass man einen Startpunkt, der die Dinge ins Rollen brachte und letztendlich zur Herrschaft Roms führte und in weitere, bislang niemandem bekannte Zeiten weiterführen wird,6 noch viel früher ansetzen muss – letztendlich, das hat sich im Laufe dieser Arbeit gezeigt, bereits beim Chaos.
6 Dass Rom möglicherweise, aber eben nicht sicher als Endpunkt der Weltgeschichte gilt, wird etwa in der Pythagorasrede deutlich, die den Fall großer Städte behandelt und mit dem Wachstum Roms und der Prophezeiung seiner Weltherrschaft endet (met. 15.420–452), insbesondere in Kombination mit Jupiters eigener Unterworfenheit unter das Fatum der Parzen in Bezug auf Roms Schicksal (met. 15,807–815).
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auctor 47, 156, 178 Augustinus 16 Augustus 1, 5ff., 10, 13, 15f., 29ff., 36f., 40ff., 44f., 53f., 55f., 63, 66, 70, 73, 75, 85, 87f., 111, 137, 157, 164, 172, 206, 213, 257f., 272f., 280f., 290, 292, 306, 311, 316 Bacchantin 138, 141, 158f., 160f., 164, 167f. Bacchus 2, 16, 121–123, 135, 159, 177, 192, 239, 314, 315 Babylon 2, 57, 63, 123 Baucis 92, 176, 255, 315 Bukolik 23, 118, 194, 292f., 297–300, 307, 310, 316 Cäsar 1f., 36f., 42, 53, 62, 70, 73, 111, 172 Caenis 52, 95, 97, 197, 207, 277 Callimachos 112, 273 Calliope 80f., 84, 99, 109, 113, 116ff., 148, 166, 313 Callisto 49, 62, 76, 94f., 98, 125, 127, 130, 173 Camenen 258, 261f., 264f., 267 Camilla 262 Canens 2, 95f., 143, 163, 258–262, 264f., 267 carmen perpetuum 1, 6, 10ff., 34, 42, 70, 73, 103, 105, 134, 311 Centaur 196f., 203ff., 207, 209f., 222, 294 Ceres 16, 59f., 95, 109f., 112f., 115, 174, 177, 197, 213 Circe 2, 24, 46, 64, 78, 81, 95, 105, 107f., 110, 117f., 132, 155, 202, 246, 251–266, 268, 270ff., 275, 277f., 280, 282, 284–288, 290ff., 299, 305, 307, 313ff. Chaos 1, 3, 14, 35, 41, 54, 57, 84f., 123, 317 Charybdis 110, 116, 269ff., 274f., 278f., 289 Chronologie 1, 5–12, 14f., 34f., 41ff., 51, 55f., 65, 67, 69–72, 78, 105, 117, 237, 270, 282, 296, 298, 311 Cleopatra 24 Crocale 2, 94f. cultus 94, 124, 235
332 Index Cupido 6, 8, 75, 80f., 85f., 99, 109, 129, 147f., 166, 177, 182, 197 Cyclop 52, 74, 96, 110, 117f., 222, 233, 235ff., 239–242, 244f., 247f., 252f., 266, 268, 274, 282, 284, 289, 292–310, 313f., 316 Cyparissus 156 Daphne 8, 44, 54, 73, 94–97, 125, 127, 130, 143, 277, 298, 302, 305 Demontage 30, 137f., 168 Deukalische Flut vgl. Sintflut Diana 2, 90, 94f., 110, 125ff., 131, 187, 194, 258 Diomedes 13, 200, 215, 217–220, 224f., 230, 232, 265 Dryade vgl. Nymphe Elpenor 253 Eros vgl. Cupido Erzählhaltung 3, 34, 36–39, 76, 88f., 93, 98, 100f., 164f., 311, 316 Eurydica 61, 68, 95, 106, 137–143, 146ff., 150–157, 162–168, 228, 312 Eurylochos 253f., 256 exemplary model 23 Fama 57, 68, 82, 84, 106, 170–195, 197ff., 201, 203, 255, 263, 314ff. Fames 173–176, 178ff., 182, 255, 315 fatum 111, 232, 317, vgl. auch Schicksal Fokalisation 76, 118, 153, 240, 291 Furie 106, 174, 183, 185f., 187, 198f., 314 Galatea 51, 68, 95ff., 105, 110, 118, 202, 276ff., 282, 290, 292f., 298–310, 314 Genealogie 2, 6, 41, 44, 46, 49, 56, 65ff., 69, 81, 83, 85, 94, 117, 257, 273, 281 Glaubwürdigkeit vgl. Unzuverlässigkeit des Erzählers Glaucus 78, 82, 91, 97, 110, 118, 155, 196, 269, 272, 277f., 283–286, 290, 299, 305, 307 Gründung 55, 175, 185, 265, 267, 274 Helena 79, 193, 231 Helenus 223, 271, 274, 279, 281, 288f., 291
Hercules 2, 51, 63f., 71ff., 82f., 89, 132, 175, 177, 196, 201, 207, 209f., 222ff., 229f., 253, 274, 277, 311 Hermaphroditus 65, 94, 105, 120f., 123f., 126–136, 270, 315f. Höhle 51, 63ff., 82, 90, 99, 118f., 174, 178, 189, 222f., 240f., 244f., 247f., 268, 270f., 279f., 290, 294ff., 298, 302, 309 Hymenaeus 63f., 68, 138, 141 Idyll 78, 90, 96, 118, 131f., 134f., 161f., 213, 276ff., 283, 297–301, 303–306, 314, 316 Indien 2, 57, 63, 122f. Ino 123 Interfiguralität 27, 112, 234, 259, 295 inventor vgl. auctor Indivia 60, 173–176, 178ff., 185, 197, 248, 255, 315 iudicium armorum 200, 203, 210f., 213f., 228, 231, 249 Iuno 46, 58–63, 68, 75ff., 94f., 97f., 123, 145, 173, 186, 230, 247f., 265 Iuppiter 16, 44–47, 58, 60, 63, 69f., 73–77, 84, 95–98, 111, 127, 130f., 157, 172, 175– 179, 185f., 189, 192, 197, 215ff., 232, 248, 255, 299, 315, 317 Katalog 6, 13, 31, 42, 66f., 78, 84, 113, 149f., 161f., 167, 184, 187f., 190f., 199, 202, 204, 206, 215, 261f., 264, 314 Kollektivgedicht 12, 43, 74, 311 Komik 134, 155, 163, 206 Kosmogonie 15, 47, 80 Laestrygonen 246, 249f., 252f. Latinus 258–261, 267 locus amoenus 127, 135, 280, 283, 316 Macareus 65, 81, 91, 202, 233f., 236, 238, 240ff., 244–258, 260ff., 265–268, 284f., 289, 292, 313f. Mänade vgl. Bacchantin Mars 48, 57, 77, 123, 260, 277f. Mercur 58f., 62, 97, 123f., 128, 149, 175, 185, 256, 302 model reader 23, 26 model author 26
Index 333
mos maiorum 87 Muse 80, 84f., 99, 106, 109, 113, 128, 132, 179, 188–192, 198f., 261, 264f., 267, 314f., 317 Najade vgl. Nymphe Narcissus 30, 48, 51, 68, 94f., 122, 131, 162, 193f., 264, 276f., 316 Nausikaa 24, 105, 120, 128–132, 134, 316 Naturphilosophie vgl. Naturwissenschaft Naturwissenschaft 15, 46, 83, 90, 135, 160, 176, 178, 182, 198, 315 Neptun 58, 75, 96f., 187, 197, 215, 217, 251 Nestor 43, 52, 64, 72, 79, 81, 83, 175, 192, 195ff., 199, 201, 203f., 207–211, 222, 224f., 230, 238, 249, 316 Niobe 49, 67, 83 Numa 7, 10, 43, 69f., 73, 192, 259 Nymphe 2, 44, 51, 62f., 93–99, 109, 112, 120, 123, 125–129, 131–136, 141, 143, 162, 213, 254, 258, 260ff., 264, 269–272, 276, 278, 282f., 287, 292f., 298–306, 308, 310, 313, 315 Odysseus 2, 42, 52, 65, 78f., 81f., 91f., 105– 108, 117–121, 128–134, 136, 144f., 147f., 150, 160, 166, 175f., 190, 194ff., 199– 202, 208–233, 235f., 238–258, 260, 263–270, 273, 275f., 278ff., 284, 286ff., 290f., 293–297, 299–304, 307–310, 313, 316 Olymp 2, 42, 53, 55, 57–60, 62f., 72, 80, 83, 189, 192, 229, 301 Orontes 251 Orpheus 13, 61, 64, 68, 71, 80f., 83, 89, 99, 106, 117, 122, 127, 137–148, 151–168, 228, 233, 264f., 267, 312, 316 Palladium 67, 214, 217ff., 223 Panegyrik 7 Paris 193, 231 Parodie 18, 20, 30, 134, 137, 146, 163, 168, 206f. Patronymikon 11, 65ff., 121, 201, 207 Penelope 24, 66, 79, 144, 201, 263, 293 Pentheus 2, 46, 122, 135, 260, 192, 239 Personifikation 171, 176, 179, 182, 199
Phäaken 47, 196, 235, 239f., 242, 244, 246, 249, 251–257, 266, 270, 273, 288, 293, 295, 304, 308, 313 Philemon 92, 176, 255, 315 Philoktet 221–224, 229, 235, 241f., 246, 267, 295, 309 Picus 78, 94, 258–265, 285, 305 plebs 74, 172, 179 Pluto 58, 60, 63, 75, 81, 96, 99, 109, 112, 127, 166 Polites 253f. Polyphem 51, 68, 82, 90, 96, 105, 107, 118f., 128, 132, 202, 214, 237f., 243, 245f., 266, 268, 277f., 290, 292–310, 316 Primärerzähler 3, 36f., 43, 46, 49, 53f., 64, 75, 78, 81f., 84, 93, 97f., 104, 106, 110, 122, 138, 155, 165, 168, 171, 185, 194, 199–204, 207, 222, 224, 229, 231, 236, 248, 251, 258, 263, 280, 311, 317 prodigium 42, 194 Prolepse 35, 41ff., 51, 54, 66, 71, 140, 202, 241, 311 Proöm 1, 3, 8, 13, 42, 54, 103, 213, 235, 316 Prophezeiung 1, 11, 41, 43, 51ff., 68, 82, 110, 122, 201, 204, 222ff., 232, 271, 281, 295, 303f., 310, 317 Proserpina 58, 60, 75, 80f., 94f., 98f., 109, 111–117, 127, 147f., 166, 277, 313 pudor 94, 125, 128, 130, 151, 192, 255 Pyramus 2, 63, 92, 142f., 165, 169 Pythagoras 7, 12f., 46, 48, 54, 69f., 83, 90, 120f., 134, 176, 233, 315, 317 Rache 6–9, 48, 62, 67, 75f., 78, 93, 122f., 142, 150, 159, 167, 187, 194, 196, 220ff., 240, 277, 282, 286, 288, 290, 307ff. Regenbogen 62 Rezeptionsästhetik 17, 19, 25, 39 Rhetorik 12, 15, 88, 146, 209, 211, 214, 220, 231, 249, 274 Rom 7f., 10, 13, 29, 37f., 41, 43, 53, 55, 67, 73, 77, 85, 87f., 111, 135, 137, 175, 185, 217, 317 Salmacis 94f., 105, 120f., 125–136, 270, 302, 315f. Scham vgl. pudor
334 Index Schicksal 1f., 7, 48, 62, 89, 111f., 169, 185, 194, 206, 213, 217f., 223, 229, 232, 235f., 239, 241, 246, 251, 253, 265, 276, 313, 315, 317 Schuld 94, 138f., 142f., 150, 154, 159, 164ff., 169, 193, 199, 220ff., 241f., 144, 146, 249, 280, 286f., 312 Scylla 43, 50, 68, 78, 88, 90, 95ff., 105, 107, 110, 116, 118f., 132, 176, 196, 202, 269– 292, 299f., 303, 305, 307, 310, 313, 316 Seher 3, 140, 192, 202, 217, 223, 274, 279, 281, 288, 295, 303ff., vgl. auch vates Semele 74, 76 Sibylle 61, 139, 147, 178, 251, 264 Sinfonietheorie 9 Sintflut 6, 44–49, 64, 72–75, 138, 289 Sirenen 116f., 160, 177, 313 Sisyphus 67, 147, 149f., 229 Sizilien 2, 13, 50, 53, 63, 68, 105, 109–117, 119, 271, 275, 278, 284, 289, 296, 298f., 304, 306f., 312 Sol 54, 57, 59, 61, 69, 78, 96, 127, 172–176, 178ff., 197, 254f., 259f., 277, 315 Somnus 58, 62, 173ff., 176, 178ff., 182, 197, 255, 315 Strafe vgl. Rache Styx 62, 148 Tantalus 67, 83, 149 Thisbe 2, 63, 142f., 165, 169 Tragik 51, 85, 98, 122, 141, 153, 211, 215f., 220, 283 Tratsch 80, 123, 305 Troja 6, 13, 42f., 50, 55, 58, 64f., 67, 72, 77, 79f., 84, 122, 128, 142, 171, 177–181, 183–188, 190, 192ff., 198–203, 207, 209, 212f., 216–220, 222f., 225, 229f., 232f., 235ff., 239–243, 245f., 248, 251, 260, 266ff., 270, 275f., 278f., 281, 287– 290, 296f., 303, 308f., 311, 314 Truppenkatalog 13, 66f., 199, 261f. Ulixes vgl. Odysseus Unmöglichkeitstopos vgl. Adynaton Unterwelt 2, 57f., 60–63, 71f., 81, 83, 85, 99, 109ff., 137, 139ff., 144–154, 156, 159,
163f., 166ff., 178, 180, 228f., 240, 251, 253, 261, 265f., 277, 312 Unzuverlässigkeit des Erzählers 3, 7–10, 19, 35f., 43, 45f., 48, 50, 57, 62, 73, 77, 79, 80, 82–85, 87, 117, 137, 152, 155, 157, 161, 165ff., 171, 175, 191, 193, 195, 198ff., 194–199, 204, 206, 208f., 217f., 226f., 229, 231, 238, 251, 254, 257, 259, 262f., 266f., 269, 273ff., 280f., 287f., 293, 296, 304, 312, 315, 317 Urzeugung 46, 50 vates 37, 43, 80, 140, 144, 157f., 269, 280f. Venus 43, 48, 57, 64, 75, 77–81, 85f., 112, 123ff., 155, 177, 197, 230, 232, 265, 275– 278, 301 Vesta 217 vergessen 42, 120, 153, 195, 197, 246, 270, 285, 299, 316f. vulgus 181, 210, 214 Vulcan 42, 47, 93, 172, 299 Weben 25, 27, 48, 81, 87, 122f., 145, 154, 212, 252, 254, 312, 315 Werberede 74f., 78, 96f., 99, 130, 134, 147, 202, 258, 260, 283, 285, 299, 305, 308f. window reference 24, 103, 145, 149, 183, 263, 306, 314